Arbeit ist das halbe Leben …: Erzählungen vom Wandel der Arbeitswelten seit 1945
 9783205791973, 9783205787037

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Damit es nicht verlorengeht … 65

Begründet von Michael Mitterauer. Herausgegeben vom Verein „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien

Sabine Lichtenberger / Günter Müller (Hg.)

Arbeit ist das halbe Leben … Erzählungen vom Wandel der Arbeitswelten seit 1945

BÖHLAU VERLAG WIEN · KÖLN · WEIMAR

Gedruckt mit Unterstützung durch das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung und das Institut für Gewerkschafts- und AK-Geschichte

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Inhalt

Geleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einführung und editorische Anmerkungen . . . . . . . .

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Erich Weinmüller „Die Arbeit musste nur meinen Zielen dienen …“ . . . . 17 Friedrich Faulhammer „Nach etwa vier Wochen war der Schutt aus dem Keller …“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Hubert Schmiedbauer „Sie haben ihre Muttersprache gelernt wie wenige andere …“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Josef Ladstätter „Ohne Matura wollte ich nicht in den Staatsdienst zurückkehren“ . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Eduard Giffinger „Der wird sicher einmal Betriebsrat …“ . . . . . . . . . . 82 Hans Königsberger „Mein Berufswunsch war Elektriker …“ . . . . . . . . . 94 Peter Ulrich Lehner „Meine berufliche Lektüre waren Versicherungsbedingungen …“ . . . . . . . . . . . . . . 100 5

Stefan Reitgruber „Am Schraubstock wollte ich nicht in Pension gehen …“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Karl Schmutz „Meine Frau fürchtete die Übersiedlerei immer besonders …“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Peter Lhotzky Aus dem Alltag eines „Budelhupfers“ . . . . . . . . . . . 153 Hans Nusbaumer „Man war einfach dem Wetter ausgesetzt“ . . . . . . . . 171 Gertrud Jagob „Als Autodidakt und unter vielen Demütigungen …“ . 187 Gertrude Litschauer „In meinem Kalender zeichnete ich das sogenannte ‚Radl‘ …“ . . . . . . . . . . . . . . . 195 Aloisia Käferböck „Freizeit gab es für mich so gut wie nie …“ . . . . . . . . 222 Helene Schreivogl „Wir lernten auch noch Stanitzel drehen“ . . . . . . . . . 227 Therese Schwarz „Aus der Schweiz hingegen hatte ich vielversprechende Angebote“ . . . . . . . . . . . . . 231 Elisabeth Coveos „Unvorstellbar, dass ich 43 Jahre in einem Ministerium gesessen wäre …“ . . . . . . . . . . 241 6

Elfriede Hochher „Als einzige Berufskrankheit eine Ärzteallergie …“ . . . 257 Gerlinde Krasser-Weinberger „Wieder galt es, Neues zu lernen …“ . . . . . . . . . . . 288 Stefanie Eveline Rossmanith „Mein Vater hielt ganz einfach nichts von den brotlosen Künsten“ . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305

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Geleitwort

Arbeit ist Grundlage für die materielle und soziale Existenzsicherung. Die hier im Rahmen der Schriftenreihe „Damit es nicht verlorengeht …“ veröffentlichten Beiträge zeigen sehr eindrücklich, wie wichtig es ist, Arbeit und eine gute Berufsausbildung zu haben. Es wird sichtbar, welche Bedeutung die ständige Weiterbildung im Laufe der Jahrzehnte bekommen und welchen Stellenwert Arbeit für die gesamte Lebensgestaltung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hat. Viele Beiträge zeigen auch das hohe Engagement und die Bereitschaft zur Mobilität auf, wenn es darum geht, bessere Berufsaussichten und Verdienstmöglichkeiten zu erlangen. „Arbeit schaffen und Arbeit sichern“ ist seit jeher eine zentrale Forderung des ÖGB und der AK. Als Basis dafür müssen entsprechende Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten vorhanden sein. Denn je besser die Ausbildung, desto höher die Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind – wie die autobiographischen Aufzeichnungen zeigen – dazu bereit. Aufgabe der Politik ist es, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen. Dabei gilt es vor allem, auch jene zu unterstützen, die über den schwierigen Zweiten Bildungsweg versuchen, Versäumtes nachzuholen und so ihrem Leben eine andere Wendung zu geben. Besondere Aufmerksamkeit muss natürlich auf Menschen mit besonderen Bedürfnissen gerichtet werden, 9

wie etwa auf Jugendliche ohne Berufsausbildung, Ältere, Frauen oder Niedrigqualifizierte. Eine fundierte Aus- und Weiterbildung sind die besten ­Garanten für mehr Arbeitsplatzsicherheit und bessere Aufstiegschancen. Wien, im Jänner 2012 Erich Foglar

Herbert Tumpel

Präsident des

Präsident der Kammer

Österreichischen

für Arbeiter und Angestellte für

Gewerkschaftsbundes

Wien und der Bundesarbeitskammer

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Einführung und editorische Anmerkungen In einer immer stärker auf Finanzgeschäfte und Konsummöglichkeiten konzentrierten Gesellschaft ist die Sphäre der produktiven Erwerbsarbeit in den vergangenen Jahrzehnten etwas aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit geraten. Sowohl in medialen Repräsentationen als auch in privaten Erinnerungstexten, wie sie seit fast drei Jahrzehnten in der Dokumenta­ tion lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen an der Universität Wien gesammelt und exemplarisch in dieser Buchreihe ver­ öffentlicht werden, spielen modernere Arbeitswelten bzw. der Bereich der materiellen Existenzsicherung abseits von Kriegs- und Krisenzeiten keine große Rolle. Diesem eigentümlichen Desinteresse an den elementaren Produktionsverhältnissen und ihren historischen Veränderungen in jüngerer Zeit will diese Publikation entgegenwirken. Um die besagte „Schwachstelle“ im Geflecht gesellschaftlicher wie individueller Erinnerungskultur etwas zu erhellen, wurde im Sommer 2009 – in Kooperation zwischen dem Institut für AK- und Gewerkschaftsgeschichte an der Arbeiterkammer Wien und der Dokumentation lebensgeschicht­ licher Aufzeichnungen am Institut für Wirtschafts- und Sozial­geschichte der Universität Wien – ein Schreibaufruf unter dem Motto „Arbeit ist das halbe Leben“ konzipiert und auf verschiedenen Wegen an mögliche Interessentenkreise ­herangetragen. Einerseits wurde der Appell zum schrift­ lichen Festhalten persönlicher Berufserfahrungen im Rahmen von Veranstaltungen, Zeitschriften und auf Internetseiten der österreichischen Gewerkschaftsbewegung verbreitet; andererseits wurde jener Kreis von vorwiegend älteren Menschen 11

angeschrieben, die bereits in der Vergangenheit autobiographische Texte verfasst und der Dokumentationsstelle an der Universität Wien für Forschungs- und Bildungszwecke zur Verfügung gestellt hatten. Das Echo von beiden Seiten war so groß, dass nur ein Bruchteil, nämlich rund ein Viertel aller eingegangenen Beiträge, in diesem Sammelband Aufnahme finden konnte, und auch dies zum Teil nur in gekürzter Form. Rund ein Drittel aller Einsender/innen konzentrierte sich auf relativ klar umrissene Abschnitte aus den Anfängen der eigenen Erwerbsbiographie, insbesondere auf die Lehrzeit in zum Teil ganz anderen Berufen, als später ausgeübt wurden. Dies hängt vermutlich damit zusammen, dass weiter zurückliegende, längst abgeschlossene lebensgeschichtliche Episoden aus der Perspektive des Alters im Allgemeinen detaillierter erinnert, leichter in eine schriftliche Ordnung gebracht und zudem subjektiv meist als historisch bedeutsamer erachtet werden als Erlebnisse der jüngeren Vergangenheit. Für jene, die über eine längere Zeitspanne hinweg erzählen, scheint wiederum ein eher abwechslungsreiches, von Eigeninitiative, Lernbereitschaft, Mobilität und einem gewissen Maß an Selbstbestimmung geprägtes Erwerbsleben eher berichtenswert zu sein als langjährige Beschäftigungsverhältnisse an ein und demselben Arbeitsplatz. Höchstwahrscheinlich können auch Menschen, die auf eine einigermaßen erfolgreiche, befriedigende berufliche Laufbahn zurückblicken können, grundsätzlich leichter für ein solches Schreibprojekt gewonnen werden. Dementsprechend sind die hier gesammelten Erfahrungsberichte insgesamt eher von einer Grundstimmung des „gelungenen Lebens“ gezeichnet, wobei aus einer solchen Haltung heraus manche Probleme, Hindernisse und negative Begleiterscheinungen bisweilen umso besser zur Sprache gebracht werden können. Und nicht zuletzt ist in Betracht zu ziehen, dass Menschen, die sich zur Teilnahme an einem solchen Schreibaufruf ent12

scheiden, einerseits eine besondere Neigung zum Schreiben und andererseits ein spezifisches persönliches Interesse an dem gestellten Thema mitbringen. Letzteres manifestiert sich beispielsweise darin, dass vor allem unter den männlichen Beiträgern zu diesem Schreibaufruf mehrere ehemalige Betriebsräte und gewerkschaftlich engagierte Personen zu finden sind, die sich bereits über Jahrzehnte ihres Lebens für die aktive Mitgestaltung betrieblicher Arbeitsverhältnisse eingesetzt haben und dieses persönliche Engagement auch in ihren Erinnerungstexten zur Geltung bringen. Aus all diesen Überlegungen wird deutlich, dass die hier vorgelegte Sammlung von Erinnerungstexten zweifellos nur eine selektive und in mehrfacher Hinsicht unvollständige „Bestandsaufnahme“ historischer Arbeitswirklichkeiten bieten kann. Zugleich soll jedoch betont werden, dass in diesen Erzähltexten mehr zum Ausdruck kommt als schlichte Abbilder oder subjektive Impressionen vom „Wandel der Arbeitswelten“. Vielmehr noch als sie reale historische Verhältnisse und Entwicklungen nachzeichnen, geben sie Zeugnis von der individuellen Auseinandersetzung mit diesen. So betrachtet sind viele dieser Erzählungen umfassender als persönliche Bilanzen über meist jahrzehntelange Erfahrungsprozesse im Umgang mit wirtschaftlichen und beruflichen ­Herausforderungen zu verstehen. Grundsätzlich war es uns ein Anliegen, aus dem Spektrum von knapp 80 eingegangenen Erfahrungsberichten solche vorzustellen, die besonders differenzierte, originelle oder pointierte Einblicke in unterschiedliche berufliche Milieus oder Karrieren eröffnen. Dies scheint uns in Manuskripten, die eine etwas umfassendere Rückschau auf die Arbeitsbiographie eines Menschen bieten, eher gegeben. Knapper gefasste Erzählungen, die sich auf die Darstellung eines bestimmten Abschnitts der Erwerbstätigkeit beschränken, sind deshalb in geringerer Zahl vertreten. Unabhängig davon 13

wurde auf eine Streuung über möglichst viele verschiedene Felder nicht-selbständiger Erwerbsarbeit und eine annähernd gleich starke Präsenz von weiblichen und männlichen Erfahrungsberichten geachtet. Eine Anzahl von besonders ausführlichen Erzählungen von Frauen, die weniger eine kontinuierliche Erwerbs­ biographie als vielmehr das Verhältnis (bzw. den wiederholten Wechsel) zwischen Beruf, Haushalt und Kinderbetreuung thematisieren, bleibt hier jedoch ausgegliedert. Solche Erzählungen sollen in einem geplanten Folgeband in dieser Buchreihe dokumentiert werden, der genau das Spannungsfeld zwischen produktiven und reproduktiven Arbeitssphären aus der Sicht von Frauen in den Mittelpunkt stellen wird. Die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes wurden zwischen 1923 und 1951 geboren. Ihre Lebens- bzw. Arbeitserzählungen sind schwerpunktmäßig im ostösterreichischen Raum, in Wien und Niederösterreich sowie in Oberösterreich und der Steiermark angesiedelt und führen in mehreren Fällen auch über die österreichischen Grenzen hinaus. In zeitlicher Perspektive werden die Jahre zwischen 1950 und 1980 insgesamt etwas stärker beleuchtet als die Zeiträume davor und danach. Genauere Angaben zur Lebensgeschichte der Schreiber/ innen wurden jeweils in einem biographischen Vorspann den Erinnerungstexten vorangestellt. Die Zitattitel der Beiträge sind den einzelnen Erzählungen entnommen und greifen jeweils ein persönliches Leitmotiv bzw. eine charakteristische Aussage der Verfasser/innen auf. Die Beiträge sind nach dem Geschlecht der Verfasser/innen und innerhalb dieser Zweiteilung chronologisch in Hinblick auf die Erzählzeiträume geordnet. Diese Anordnung der insgesamt 20 Beiträge soll den Blick auf Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Erwerbsbiographien wie auch auf andere Besonderheiten in 14

den persönlichen Erzählungen von Männern und Frauen lenken. An erster Stelle steht bei den männlichen wie bei den weiblichen Erfahrungsberichten jeweils eine Geschichte aus Wien, die mit Kriegsende im Jahr 1945 ihren Anfang nimmt und in eher knapper Erzählform die Stationen der beruflichen Laufbahn Revue passieren lässt. Das Nebeneinander ähnlich gelagerter Geschichten soll jedenfalls zu vergleichenden Reflexionen einladen – nicht zuletzt auch in Bezug auf eigene berufliche Erfahrungen. Parallelen in Form oder Inhalt lassen sich durchaus öfter in den nachfolgenden Erinnerungstexten entdecken, etwa wenn mehrere Personen über ihre Erfahrungen als kaufmännische Lehrlinge in verschiedenen Einzelhandelsunternehmen erzählen oder persönliche Motive für berufliche Wechsel oder Neuorientierungen artikuliert werden. Eine ganze Reihe von Beiträgen skizziert aber auch singulär und aus jahrzehntelanger Binnensicht die zum Teil epochalen Veränderungen in einzelnen beruflichen Arbeitsfeldern, etwa im Schriftsetzergewerbe, in der Automobilindustrie oder im Pflegebereich. Verschiedene fachspezifische, umgangssprachliche oder bereits historische und deshalb nicht mehr allgemein verständliche Begriffe oder Abkürzungen, die in den Erinnerungstexten mit nachgestellten Sternchen versehen sind, werden in einem Glossar im Anschluss an den Textteil kurz erläutert. Ebenso finden sich dort ergänzende Informationen über manche erwähnte Einrichtungen oder Personen. Weitere Beiträge zum Schreibaufruf „Arbeit ist das halbe Leben“ können auf der Internetseite www.MenschenSchreibenGeschichte.at (Rubrik Schreibaufrufe) nachgelesen werden.

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„Damit es nicht verlorengeht ...“ ist ein Leitmotiv vieler Menschen, die sich im fortgeschrittenen ­Alter verstärkt mit ihrer Lebensgeschichte beschäftigen und selbst Erlebtes in der einen oder anderen Form zu dokumentieren versuchen. Daran orientiert sich der Titel dieser Buchreihe, die seit 1983 besteht und vom Verein „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ herausgegeben wird. Persönliche Erinnerungstexte bieten vielfältige Einblicke in vergangene Lebens-, Arbeits- und Beziehungsverhältnisse und können das Verständnis für historischen Wandel sowie für unterschiedliche Denkweisen und Traditionen erweitern. Über den privaten Familienkreis hinaus haben solche Lebensaufzeichnungen in den letzten Jahrzehnten in vielen gesellschaftlichen Bereichen als sozial-, kultur- und zeitgeschichtliche Dokumente Aufmerksamkeit gefunden. Aus diesem Grund wurde am Institut für Wirtschafts- und ­S ozialgeschichte der Universität Wien die „Dokumentation ­lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ eingerichtet, ein Text­ archiv, in dem schriftliche Lebensaufzeichnungen aller Art (Autobiographien, kürzere Erinnerungstexte, Tagebücher, Familiengeschichten, Chroniken usw.) gesammelt, wissenschaftlich genutzt und für fachlich Interessierte bereitgestellt werden. Die Leserinnen und Leser sind eingeladen, Beiträge zu dieser Textsammlung zu leisten, indem sie eigene lebensgeschichtliche Texte oder überlieferte Aufzeichnungen von Vorfahren zur Verfügung stellen oder uns auf entsprechende Materialien in Privat­besitz aufmerksam machen. Ebenso freuen wir uns über Kontakte zu schreibfreudigen Menschen, die sich durch das Motto der Buchreihe angesprochen fühlen. Kontaktadresse: Institut für Wirtschafts- u. Sozialgeschichte, Universität Wien „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ Dr.-Karl-Lueger-Ring 1, 1010 Wien (z. H. Mag. Günter Müller) Tel. +43 (0)1/4277-41306 E-mail: [email protected] http://lebensgeschichten.univie.ac.at http://www.MenschenSchreibenGeschichte.at

„Die Arbeit musste nur meinen Zielen dienen …“ Erich Weinmüller wurde am 22. Mai 1931 als einziges Kind einer Arbeiterfamilie geboren und wuchs aufgrund der langjährigen Arbeitslosigkeit seines Vaters unter materiell sehr beengten Verhältnissen in Wien-Favoriten auf. Seine erste Berufsentscheidung für einen Lehrplatz im Lebensmittel­handel war deutlich von diesen familiären Umständen in der unmittelbaren Nachkriegszeit beeinflusst. Die weitere, besonders in jungen Jahren sehr abwechslungsreiche berufliche Laufbahn skizziert der Autor im nachfolgenden Beitrag selbst. Zuletzt war er 35 Jahre, wiederum in recht unterschiedlichen Aufgabenbereichen, bei der ÖGUSSA (Österreichische Gold- und Silber-Scheideanstalt Gesmbh, vor 1962 G. A. Scheid’sche Affinerie) beschäftigt. Erich Weinmüller ist verheiratet und Vater von zwei Söhnen aus erster Ehe. Seit seiner Pensionierung im Jahr 1990 beschäftigt sich der Autor neben anderen Hobbys verstärkt mit dem Schreiben. In den letzten Jahren verfasste er zahlreiche Erinnerungstexte, Kurzgeschichten und Erzählungen, die er gerne selbst in Schulen und Pensionistenheimen vorträgt. Einige Kurztexte sind auf der Website www. MenschenSchreibenGeschichte.at veröffentlicht. Im Frühjahr 2011 erschien sein Buch „Wir vom Jahrgang 1931“. Es war Ende April 1945. Es gab keinen Strom, nichts zu essen, und es war kalt. Meine Eltern und ich hatten uns daher in die Betten verkrochen. Unter der Tuchent war der Hunger leichter zu ertragen. Es war bereits spätabends und finster. Da begann mein Vater ein Gespräch über meine Zukunft. Ich musste ­einen Beruf erlernen. Damals begann man bereits im 17

Alter von 14 Jahren zu arbeiten. Es wurden mehrere Berufe durchbesprochen. An ein Studium war nicht zu denken, weil mein Vater bereits 64, meine Mutter 46 Jahre alt und beide sehr krank waren. In die Rente konnte man erst mit 65 gehen. Das Krankengeld, das meine Eltern erhielten, war sehr gering. Ich sollte daher auch Geld verdienen. Schließlich kamen wir alle drei zu der Auffassung, dass es kein Handwerk sein sollte, sondern „etwas Besseres“. Es sollte auch mit Lebensmitteln zu tun haben. Wer an der Quelle sitzt, wird nicht verdursten. Tatsächlich bewahrte uns während meiner Lehrzeit ein monatliches Lebensmittelpaket vor dem buchstäblichen Verhungern. Es gab drei große Lebensmittelkonzerne: Konsumverein, Gebrüder Kunz und Julius Meinl AG. Wir fanden, dass auf Grund seines Rufes Meinl das Beste für mich wäre. Am nächsten Tag verfasste ich ein Bewerbungsschreiben und einen Lebenslauf. Erst vier Monate später erhielt ich eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch in der Meinl-Zentrale in Ottakring in der Nauseagasse, der heutigen JuliusMeinl-Gasse. Es war einer der aufregendsten Tage in meinem Leben. Ein elegant gekleideter Herr in einem auf mich kahl wirkendem Büro sprach ein paar Minuten mit mir. Enttäuscht und erleichtert zugleich fuhr ich nach Hause. Nach einigen Wochen erhielt ich eine Einladung zur Teilnahme an einer schriftlichen Aufnahmeprüfung in der privaten Berufsschule der Julius Meinl AG in der Neustiftgasse 28. Es wurden uns einfache Aufgaben gestellt, die nur zeigen sollten, dass wir die vier Grundrechnungsarten beherrschten. Ab 1. September 1945 lernte ich bei der Firma Julius Meinl und wurde Kaufmannsgehilfe. In meiner ersten Filiale hatte ich anfangs einen sehr netten Filialleiter, der mich immer mit Herr Weinmüller ansprach. Nach wenigen Wochen kam ein neuer Filialleiter, ein gewesener Fliegeroffizier im blaugrauen Militärledermantel. Ich war nur mehr ein „Du“. Seine ersten 18

Worte zu mir waren: „Also merke dir, Laufschritt ist bei mir die langsamste Gangart!“ An manchen Tagen saß ich weinend im Vorzimmer unserer Wohnung. Die Arbeit mit diesem ExOffizier war eine seelische Qual. Bei Meinl herrschte eine strenge Hierarchie. Zuoberst der Präsident Julius Meinl. Er besuchte nur selten eine Filiale, und wenn überhaupt, nur ausgewählte Elitefilialen, die von älteren Frauen geleitet wurden. Dann kam der Filialdirektor mit den gleichen Besuchsgewohnheiten. Häufig kamen Inspektoren. Es soll auch noch einen Oberinspektor gegeben haben, den ich jedoch nie gesehen habe. Ein Inspektor war eine ganz große Respektsperson, vor der alle Bauchweh hatten. Er teilte Prämien für gute Auslagen aus. Die weitere Rangordnung von oben nach unten lautete: Filialeiter, Erster Verkäufer, Verkäufer, Lehrling und Geschäftsdiener. Die firmeneigene Berufsschule hatte ein sehr hohes Niveau. Man erzog uns zu einem Elitedenken. Mit Geringschätzung sahen wir auf Greißler-, Delikatessen- und Konsumlehrlinge herab. Ich war immer der Klassenbeste und erhielt nach dem ersten Lehrjahr als Preis eine Windjacke, nach dem zweiten Lehrjahr ein Puch-Tourenfahrrad. 1947 wurde ich in der Rasenstadt* um dieses Rad mehr beneidet, als wenn ich heute mit einem neuen Auto auftauche. Was ich bei Meinl noch lernte, war, dass man auch im Sommer Socken tragen muss. Ich verlebte viele herrliche freie Tage und Nachmittage im luxuriös eingerichteten Meinlbad mit firmeneigenen Zillen, Liegestühlen und Tischtennis­ tischen. Die Arbeitszeit in der Filiale war von 7 bis 12.30 Uhr und von 16 bis 18.30 Uhr, Mittwoch von 7 bis 14 Uhr und Samstag von 7 bis 16 Uhr. Meine erste Berufswahl war also von der Notwendigkeit diktiert: erstens, Lebensmittel zu beschaffen, zweitens, Geld zu verdienen. Dass ich meinen Lohn zu Hause abliefern musste, war für mich eine Selbstverständlichkeit. Wenn mein 19

Vater Arbeit hatte, brachte er am Samstag den ganzen Lohn nach Hause, legte ihn auf den Tisch, und dann wurde „Kassa gemacht“. Das heißt, es wurde gemeinsam beraten, was mit dem Geld zu geschehen hat. Bis zu meiner Pensionierung habe ich insgesamt in neun unterschiedlichen Berufen an zwölf verschiedenen Stellen gearbeitet. Die jeweilige Berufswahl wurde nicht von meinen Neigungen inspiriert, sondern ich nutzte einfach die Gelegenheiten, die sich mir boten. Ich wollte so viel verdienen, dass ich meinen Eltern helfen und eine eigene Familie gründen konnte. Außerdem wollte ich neben dem Beruf studieren, um meine Chancen weiter zu verbessern. Die heute von Arbeitsuchenden geforderte Flexibilität war für mich schon vor Jahrzehnten eine Selbstverständlichkeit. Was, wann und wo ich arbeitete, war mir egal. Die Arbeit musste nur meinen Zielen dienen. Die letzten 25 Jahre meines Erwerbslebens hatte ich das Glück, dass mir das Schicksal die Gelegenheit bot, durch viel Studieren und Lernen einen Beruf ausüben zu können, der mir Freiheit und Verdienst in ausreichendem Maße bot. Als ich 1948 als Kaufmannsgehilfe freigesprochen wurde, verdiente ich 517 Schilling brutto. Prämien für gut arrangierte Auslagen betrugen zwischen 3 und 25 Schilling. Netto erhielt ich circa 428 Schilling. Davon gab ich zu Hause 200 Schilling als Kostgeld her, vom Rest bestritt ich Kleidung und Vergnügen wie Tanzschule, Kino, Stehplätze in Theatern und Konzertsälen, Volkshochschulkurse usw. Als um 1950 die Lebensmittelbewirtschaftung* zu Ende ging, fehlte mir bei Meinl jeder Anreiz. Die Bezahlung war mäßig bis schwach. Wenn alles gut ging, konnte ich Filialleiter werden. Meinl hatte damals in Wien und in den Bundesländern rund 200 Filialen. Das heißt, wenn eine Filialleiterstelle frei wurde, so warteten 200 „Erste Verkäufer“ auf diesen Posten. Sollte ein neuer Inspektor gebraucht werden, so warteten 20

200 Filialleiter auf seine Stelle. Bei Meinl war es eine Ehre, auf der Frühjahrs- und Herbstmesse in Wien arbeiten zu dürfen. Es gab ein Messegeld von 300 Schilling. Man stand acht Tage lang auf dem Messestand und rief: „Kaffee, Meinl-Kaffee!“ Es war furchtbar. Nach den acht Tagen Messe grüßte ich Vater und Mutter mit einem sehr lauten „Kaffee, Meinl-Kaffee!“. Auf dem Meinl-Stand wurde die erste Espressomaschine von Gaggia gezeigt. Da mir grenzenlos fad war, bat ich den Kaffeekoch, mir die Maschine zu erklären und mich damit arbeiten zu lassen. Es wurde alles händisch geregelt: die Heizung mit Gas, das Portionieren des Kaffees, die Wasserzufuhr. Es war keine Elektronik im Spiel. Für je zwei Tassen Espresso musste man einen Hebel herunterziehen und dabei einen Widerstand von einigen Kilo überwinden. Ein Freund, der vor mir Meinl verlassen hatte, arbeitete im Kaffeeverkauf im Espresso „Europe“. Er erzählte mir, dass ein Posten für einen Kaffeekoch frei sei und die Köche hohe Trinkgelder erhielten. Ich bewarb mich – mit meinen Erfahrungen von der Messe konnte ich ruhig behaupten, Kaffeekoch zu sein – und erhielt den Posten. Probehalber machte ich eine Nacht Dienst. Das Trinkgeld war gut. Ich wurde Kaffeekoch im Europe. Es war sicher keine Endstation für mich. Aber einmal viel Geld nach Hause zu tragen, so viel, dass ich nicht nur Kostgeld zahlen, sondern meinen Eltern noch ein kleines Taschengeld geben konnte, war ein tolles Gefühl. Meinem Chef machte ich klar, dass er unbedingt einen zweiten Barmixer brauche. Der Gute sah das ein und bezahlte mir bei der Genfer Barkeeper-Union in Wien einen Kurs für alkoholische Mischgetränke. Auch einen Kurs für Milchmixgetränke bezahlte er. Ich wurde auf Grund meiner Kenntnisse verliehen. So arbeitete ich einige Tage an der Bar im Hotel Ambassador und kurze Zeit im Moulin Rouge. Meine Hoffnung, das Pro21

gramm des Varietés zu sehen, erfüllte sich nicht, denn mein Arbeitsplatz war irgendwo hinten in einer dunklen Ecke. Allerdings, wenn die Künstler zu ihrem Auftritt liefen oder von ihrem Auftritt kamen, mussten sie an mir vorbei. Fast ein Jahr lang arbeitete ich gleichzeitig im Europe und im Haas-Haus*. Täglich von 10 Uhr Vormittag bis 2 oder 4 Uhr Früh. In der ungesunden, rauchigen Atmosphäre zu sein, hielt ich nicht aus. Als ein Büro für Gebäudeverwaltung und Realitätenvermittlung einen Mitarbeiter suchte, bewarb ich mich erfolgreich. Ich fand, dass es für dieses Büro von Vorteil wäre, wenn ein zweiter Mitarbeiter eine Konzessionsberechtigung hätte. Der Chef bezahlte mir die notwendigen Kurse, und nach einem Jahr machte ich beim Amt der Niederösterreichischen Landesregierung die Konzessionsprüfung als Realitätenvermittler und Gebäudeverwalter. Die Frau des Chefs nannte mich einen Erbschleicher. Ich schlich mich, wie von der Dame empfohlen. Denn ich wusste, dass für das dem Non-Stop-Kino am Graben angeschlossene Espresso ein Geschäftsführer gesucht wurde. Als Geschäftsführer war ich aber zu sozial, und das begab sich so: An einem heißen Sommersonntag – nur wenige Menschen gingen in die Innere Stadt – hatten mit mir zwei Mädchen Tagdienst. Ich schlug ihnen vor, an die Alte Donau baden zu gehen. Jeder gewährte ich zwei Stunden Freizeit. Kaum war die Erste weg, da erschien die Gattin von einem der Eigentümer und machte Krach. Ich kündigte, denn nun suchte man im Europe einen Geschäftsführer. Ich wurde es. In einer Zeitung fand ich eine Anzeige, dass man in der G. A. Scheid’schen Affinerie* für die Statistik in der Abteilung für Buchhaltung einen Mitarbeiter suche. 1956 wurde ich Statistiker. Nach einigem Erinnern und Nachforschen bei meiner Mutter und den Tanten bekam ich heraus, dass mein Großvater in der G. A. Scheid’schen Affinerie Goldschmied gelernt hatte. 22

Am 1. Februar 1956 saß ich an der Schmalseite des Schreibtisches des Abteilungsleiters. Ein Schreibtisch für mich war noch nicht vorhanden. Die Abteilung sollte in den ausgebauten Dachboden übersiedeln. Als gewesenem Hausverwalter wurde mir die Bauaufsicht übertragen. Wenn ich nicht auf der Baustelle war und dort mit den Maurern und dem Baumeister sprach, saß ich an meinem Schreibtisch und produzierte endlos lange Rechenstreifen. Das wurde mir schon am ersten Tag langweilig. An diesem ersten Tag bekam ich ein Rundschreiben zu Gesicht, in dem der Belegschaft mitgeteilt wurde, dass der Hauptkassier Ende des Jahres in Pension gehe. Man hätte als Nachfolger gerne einen Jüngeren aus dem Personal im Haus. Meinem direkten Vorgesetzten in der Buchhaltung teilte ich mit, dass ich mich um diese Stelle bewerben wolle. Der war dagegen, weil er meinte, es sei unmöglich, sich schon am ersten Tag um einen neuen Posten zu bewerben. Ich tat es trotzdem und bekam die Zusage, in die engere Auswahl aufgenommen zu werden. Personalfragen entschied einer der vier geschäftsführenden Teilhaber. Ich konnte ihn überzeugen, dass es für die Firma gut wäre, wenn sie einen zweiten Bilanzbuchhalter hätte. Da ich bei Meinl schon Buchhaltung gelernt hatte, müsse er mir nur einige Kurse an der Volkshochschule bezahlen. Mein Abteilungsleiter war dagegen, dass ich Hauptkassier werde. Doch als er hörte, dass ich Bilanzbuchhalter werden wollte, unterstützte er meine Bewerbung um den Posten des Hauptkassiers und wurde so einen Konkurrenten los. Mein Ziel war es, einen Posten zu erreichen, auf dem ich so viel verdienen würde, dass ich eine Familie erhalten könnte und zum Studieren genügend Zeit hätte. Zwei Jahre blieb ich Hauptkassier. Dann ging der Verkaufsleiter zum Bundesheer als Berufsoffizier. Der Einkäufer wurde mit der Verkaufsleitung betraut, und ich wurde Ein23

käufer. Meinem vorgesetzten Geschäftsführer teilte ich mit, dass ich in den nächsten viereinhalb Jahren keine Überstunden machen könne, weil ich im zweiten Bildungsweg die Matura machen wolle. Mein Chef erteilte mir die Erlaubnis, aus dem Fuhrpark der Firma jedes beliebige Fahrzeug zu benützen, um rasch in die Schule und nach Hause zu kommen. Nach neun Semestern hatte ich Matura und begann ein Jusstudium an der Universität. Mein Geschäftsführer ließ mich eines Tages rufen. „Was studierst du?“ – „Jus.“ – „Das ist nichts. In der Abteilung Löttechnik geht in zwei Jahren ein Diplomingenieur in Pension, und du wirst sein Nachfolger.“ Also hieß es jetzt schnell, schnell lernen. Am Technologischen Gewerbemuseum gab es einen technisch-kaufmännischen Abiturientenlehrgang. Man konnte im ersten Halbjahr Montag, Mittwoch und Freitag das erste Semester belegen und Dienstag, Freitag und Samstag das zweite. Im zweiten Halbjahr konnte man auf diese Weise das dritte und das vierte Semester inskribieren. So machte ich in einem Jahr vier Semester. Danach belegte ich alle Kurse, die die Schweißtechnische Zentralanstalt in Wien anbot. Praktische und theoretische Kurse, auch Lehrgänge in Deutschland. Bei einer schweißtechnischen Messe in Celje* fand ich, dass es in Jugoslawien einen Mangel an Kenntnissen der Löttechnologie gab. Während einige ältere Herren theoretische Probleme wälzten, besorgte ich mir gegen Geld und gute Worte einen transportablen Schweißtisch und einige Stücke Kupferblech aus der Abfallkiste des Hausspenglers. Da ich auf Slowenisch nichts als grüßen konnte, begann ich schweigend, Kupferbleche ohne Flussmittel zusammenzu­ löten. Erst blieben einzelne Männer stehen und sahen mir zu. Bald war die Menschenmenge so groß, dass die Polizei die Halle wegen Überfüllung sperren ließ. Am nächsten Tag organisierte ich eine ältere Dame als Dolmetscherin. 24

Ich kam mit einem vollen Auftragsbuch nach Hause. Ich hatte richtig getippt, dass das gezeigte Lötverfahren in Slowenien wenig bekannt sein würde. Ich hatte eine Markt- und Wissenslücke entdeckt. So begann ich das Land zu bereisen. Ich erwarb mir Grundkenntnisse der wichtigsten Sprachen in Jugoslawien: Slowenisch und Serbokroatisch. Die einfachen Kenntnisse genügten, um zu erklären, woher ich käme und dass ich den technischen Direktor sprechen wolle. Ich hatte stets einen Schlosseranzug und einen Koffer voll Muster mit, sodass ich fast alle löttechnischen Probleme gleich vor Ort praktisch lösen konnte. Der Exportumsatz stieg sprunghaft an. Mein Bekanntheitsgrad auch. Bald erhielt ich Einladungen zu Vorträgen an gewerblichen Schulen und technischen Universitäten. Mehrere Wirtschaftsförderungsinstitute in Österreich beriefen mich als Lehrbeauftragten. Jeden Monat verbrachte ich eine Woche auf einer Dienstreise im Ausland. Ich lernte Ungarisch und Polnisch, um auch diese Länder zu bearbeiten. In Polen hatte ich den größten Erfolg, denn ich konnte eine junge polnische Frau Diplomingenieur überzeugen, dass es am besten wäre, mich zu heiraten – was sie auch tat. Sie studierte in Wien weiter, wurde Doktor der Technik und eine international geachtete Mathematikerin und Professorin an der Technischen Universität in Wien. Als die kommunistischen Systeme zusammenbrachen, fiel meiner Firmenleitung nichts Besseres ein, als mich zu kündigen. Da ich inzwischen 59 Jahre alt war, war mir das ganz recht. So wurde ich Pensionist. Ich widme mich meiner Familie, meinem Garten, wo ich mich mit der Veredelung meiner Obstbäume befasse. Gerne reise ich, meist nur mit meiner Frau zusammen. All-inclusiveCamps sind nichts für uns. Wir suchen die Kontakte mit den Einheimischen und versuchen auch, ihre Sprache zu lernen. 25

Da meine Frau wesentlich jünger ist und noch einige Jahre zu arbeiten hat, ehe auch sie in Pension gehen kann, führe ich den Haushalt. Ich male, schreibe Kurzgeschichten, die ich den Bewohnern eines Altersheimes vorlese. Ebenso lese ich an einer Volksschule und habe mich auch schon an einem PoetrySlam in Wien beteiligt, das ist eine Art von Dichterwettbewerb. Daneben gehe ich mit meiner Frau tanzen, bergsteigen und klettern – „via ferrata“*. Es ist von Vorteil, durchgehend gesichert zu sein. Das sportliche Ereignis, der Sieg über das eigene Ich und den Berg ist wie beim Freiklettern. Aber das Risiko ist minimiert. Im Rückblick stelle ich fest, dass man, um im Leben Erfolg zu haben, vor allem Glück haben muss. Außer Glück muss man den Wagemut zu Neuem haben. Der Tüchtige versteht es, die ihm gebotenen Möglichkeiten zu nutzen. Es gilt, mit offenen Augen durch das Leben zu gehen. Das heute gesehene, kleinste Ereignis, kann schon morgen, jenes Wissenspartikel sein, das man braucht, um in einem Wettbewerb siegreich zu sein. Im Berufsleben steht man ständig in einem Verdrängungswettkampf, den man nur dann gewinnen kann, wenn man ein bisschen mehr weiß und kann als die Mitbewerber.

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„Nach etwa vier Wochen war der Schutt aus dem Keller …“ Friedrich Faulhammer wurde am 30. Jänner 1923 als einziges Kind einer Angestelltenfamilie in Wien geboren und wuchs im zweiten Bezirk auf. Sein Vater war Verkäufer im Kleiderhaus Esders, seine Mutter Hausfrau. 1941 legte der Autor die Matura ab, wurde zum Kriegsdienst eingezogen, 1943 jedoch wegen eines jüdischen Großvaters als „wehrunwürdig“ entlassen. Über Vermittlung des Arbeitsamtes war er anschließend bei einer Vermessungsfirma tätig und kam dadurch sowohl mit dem Bau unterirdischer Rüstungsbetriebe wie auch mit dem Bergbau in Kontakt. Zu Kriegsende stand er im Kohlebergwerk Grünbach am Schneeberg in einem Lehrverhältnis. Sein anschließendes Studium an der Montanistischen Hochschule in Leoben brach er ab, um 1947 bis 1949 die im folgenden Beitrag beschriebene Maurerlehre zu absolvieren. Schließlich war er mehr als drei Jahrzehnte als technischer Angestellter und Bauleiter bei der Firma Universale Hoch- und Tiefbau tätig. Friedrich Faulhammer ist Vater von zwei Kindern. Nach dem Tod seiner Frau begann er ab Mitte der 1990er Jahre damit, Erinnerungen und Episoden aus seiner Familiengeschichte aufzuschreiben, um sie für seine Nachkommen zu erhalten. Ein Erinnerungstext über sein Erleben des Kriegsendes ist in dem von Karl Kalisch 2011 herausgegebenen Sammelband „Grünbacher G’schichten. Ostern 1945“ dokumentiert. Gegen Ende des Jahres 1946, es war ein strenger Winter, beschloss ich, mein Studium in Leoben abzubrechen und in Wien den Einstieg ins Baugewerbe zu wagen. Dazu bot sich eine zweijährige Lehrzeit an, mit der Möglichkeit, nach wei27

teren Schulungen Polier bzw. Baumeister zu werden. Außerdem wollte ich meinen Eltern die Wiederherstellung unserer halb zerstörten Wohnung ermöglichen und vor allem eigenes Geld verdienen. Also, auf zum Arbeitsamt! Die Jobsuche für einen gesunden jungen Mann war damals kein Problem: Eine Baufirma namens Stiassnys Witwe war bereit, einen älteren Lehrling aufzunehmen. Adresse im neunten Bezirk; ein etwas merkwürdig aussehender Herr empfing mich in einem altmodischen Zimmer, und am Esstisch wurde der Lehrvertrag aufgesetzt. „Die Lehrstelle ist gleich ums Eck, melden Sie sich beim Polier Storm, Währinger Gürtel Nr. 122!“ Ich ging also ums Eck und traf auf ein etwa zur Hälfte zerstörtes Wohnhaus. Der rechte Nachbar nahezu unversehrt, der linke lag total in Trümmern. Herr Storm war schnell gefunden. Er begrüßte mich freundlich, belehrte mich über notwendiges Arbeitsgewand und vor allem ordentliches Privatwerkzeug: Hammer, Kelle, Pfandl. Arbeitsbeginn: morgen. Der Nachmittag verging schnell mit den notwendigen Einkäufen. 6.45 Uhr: Eintreffen auf der Baustelle; ein einigermaßen erhaltenes Zimmer diente als Bude zum Umziehen, raue Bretter als Tische und Bänke, Nägel zum Aufhängen der Straßenkleider. Der Polier war schon da, nach und nach kamen einige Männer, eher Herren mittleren Alters, die sich schon kannten. Mit meinem nagelneuen, weißen G’wandl fiel ich auf, denn meine Kollegen hatten alte Klamotten zur Arbeit angezogen. Nun wurden wir vom Polier an die einzelnen Arbeitsorte geschickt. Ich kam mit einem der jüngeren Kollegen in ein Kabinett, wo ein Haufen Bauschutt lag und ein alter Betteinsatz an der Wand lehnte. Es galt nun, das Grobe vom Feinen zu trennen, das hieß „durchgattern“. Damals wurde nämlich möglichst viel Abbruchmaterial wiederverwertet, und nur das absolut Unbrauchbare mit Hilfe einer Holzrutsche auf die Straße befördert. 28

Beim Tratschen erfuhr ich alles „Wichtige“ über die Firma. Die Witwe Stiassny war eine alte jüdische Dame, die den Betrieb zurückgestellt erhalten hatte. Der Geschäftsführer war ein hoher Rathausbeamter, der relegiert* worden war, und die Hilfsarbeiter waren Polizisten und kleinere Beamte, die ihren Beruf nicht mehr ausüben durften. Nur der Polier Storm war „unbelastet“, wie das damals hieß. Den Chef, Herrn Oberbaurat Mischek, lernte ich noch am ersten Tag kennen: ein Herr von etwa 60 Jahren mit etwas geneigtem Kopf, dessen Name auch heute noch – in dritter Generation – in der Bauwirtschaft einen guten Klang hat. Von der alten Firma Stiassny war durch die Kriegswirren außer der Konzession kaum etwas übrig geblieben, und so wurde jede Neuanschaffung, die der Chef oft selbst mit dem PKW brachte, freudig begrüßt: Scheibtruhen, Mörtelkästen, Kübel usw. Besonders bestaunt wurde ein stabiles Handwagerl, das ein Kollege aus Siebenhirten bis zum Währinger Gürtel schleppte. Damit konnten dann zahlreiche Kleintransporte von einer Baustelle zur anderen abgewickelt werden. Baustoffe wurden von den Firmen schon per LKW angeliefert. Wegen Diebstahlsgefahr musste alles sofort in das Magazin im Erdgeschoß getragen werden. Dabei waren mit den 50-Kilo-Säcken am Buckel* sieben Stufen zu überwinden – für mich Ungeübten nicht so ohne. Mit Schrecken denke ich an den Transport der Dachziegel in den vierten Stock, der noch nach Ende der normalen Arbeitszeit am Abend durchzuführen war. Es gab aber immerhin eine Sonderzahlung. Nachdem der Schutt beseitigt war, kamen zwei wirkliche Maurer zu uns „Amateuren“. Sie hießen Reinagl – ein echter Wiener – und Pichler, mehr provinziell. Auf Grund ihrer vormaligen Tüchtigkeit waren sie zu Werkmeistern der Gemeinde Wien aufgestiegen, mussten jetzt aber wieder Hammer und Kelle in die Hand nehmen. Nun war das Team komplett, und die Arbeit schritt rüstig voran. 29

Im späteren Herbst erschien der zukünftige Mieter einer Wohnung bei uns, nachdem er einige Sachen dort abgelegt hatte. Er hielt eine Flasche Eierkognac in der Hand und machte ein schiefes Gesicht dazu: „Ich weiß nicht, da muss ein strebliches* Ei dabei sein. Kostets einmal!“ Nachdem alle zehn durchgekostet hatten, war die Flasche beinahe leer, und er schenkte uns den Rest. Es wurde noch heiter bis zum Abend. Beim Verlassen der doch irgendwie liebgewonnenen Baustelle im Spätherbst 1947 erfasste uns leise Wehmut, aber nicht lange: Die nächste Adresse hieß Ottakringer Straße Nr. 10. Dort war eine Fliegerbombe hofseitig in Erdgeschoßhöhe in einen Pfeiler gefahren und hatte ein Loch bis in die Höhe des zweiten Stockwerks gerissen. Bis dorthin waren natürlich auch die Decken eingestürzt, das dritte Geschoß hing mit dem Rest des Pfeilers frei in der Luft. Das Haus war von den Bewohnern verlassen und notdürftig gepölzt worden. Zuerst mussten Berge von Schutt aus dem Keller auf die Straße befördert werden. Dies geschah mit einer Scheibtruhe über eine hölzerne Rampe durch ein ausgeweitetes Kellerfenster. Zum Glück gesellte sich ein bärenstarker, echter Bauhilfsarbeiter zu uns, der Ederl, der diese schwere Arbeit übernahm. Er war geistig leicht behindert und wurde von einer älteren Frau zur Arbeit gebracht und auch abgeholt. Die übernahm am Samstag auch den Lohn und lebte mit ihm wahrscheinlich zusammen. Manchmal kam es mit dem Hausmeister des Nachbarhauses wegen Schutt und Staub zu Auseinandersetzungen. Der Ederl wollte sich da vordrängen, denn: „Mir kann nix passieren, i war scho in Staahof*.“ Er ließ sich aber schnell beruhigen. In der Hosentasche führte er stets einen kleinen Magneten mit sich, um gefundene Eisenteile von anderen Metallen unterscheiden zu können. Kupfer, Messing, Blei waren auch mir bekannt, aber von „Spiauter“* hatte ich noch nichts gehört. 30

Das war eine Zinklegierung, aus der die alten Straßen- und Hausnummerntafeln gegossen wurden. Man konnte also auch vom Ederl etwas lernen. Für Spott war leider auch gesorgt: Die Kassierin vom Kaffeehaus soll mit der Geldtasche im Schutt begraben liegen, sagte man. Ob er’s glaubte, weiß ich nicht. Jedenfalls tauchte ein Relikt auf, das einer Hirnschale zumindest ähnlich sah. Auch ein Brief aus dem Jahre 1910 wurde gefunden. Das Detektivbüro Argus teilte einem Herrn im Hause mit, dass seine Frau mit einem Mann in ein Hotel gegangen sei. Diese Ungewissheit! Nach etwa vier Wochen war der Schutt aus dem Keller, und der Wiederaufbau begann. Als der hängende Pfeiler nach drei Tagen endlich unterfangen war, fiel allen ein Stein vom Herzen, besonders Herrn Oberbaurat Mischek, denn er war für alles verantwortlich. Im Frühjahr 1948 hatte ich noch das Glück, beim Einwölben des Kellers mitarbeiten zu können. Dann ging’s zur nächsten Arbeitsstelle, Schumanngasse Nr. 35. Dort war das zerbombte Vorderhaus bis auf die Kellermauern bereits abgetragen, der Schutt weggeräumt. Im einstöckigen Hofgebäude arbeitete die alteingesessene Firma Kraus & Naimer an der Produktion von Anlassern und anderen elektrischen Schaltgeräten. Während wir die Baustelle einrichteten, arbeitete bereits eine andere Firma an der Neuherstellung des Kanalanschlusses. Der Arbeiter war ein umgeschulter Zuckerbäcker! Nach etwa einer Woche ging’s an die Herstellung der Kellerdecke aus Stahlbeton. Ein Zimmermann war von einer anderen Firma ausgeborgt worden, wir Mischek-Leute leisteten Hilfsdienste und schleppten das erforderliche Material. Überhaupt das Baumaterial: Damals war alles nur auf Bezugsschein erhältlich, und oft mussten die Geschäftsbeziehungen des Bauherrn Kraus & Naimer aushelfen. Der Verbindungs31

mann war dann der Betriebsleiter, Herr Rambousek. Öfter sah man auch den Herrn Kraus, mit schneeweißem Haar und Bart sowie schwarzem Arbeitsmantel. Der zweite Teil des Firmenduos blieb lange unsichtbar, bis ein junger Herr Naimer erschien, der später eine Wohnung im neuen Hause beziehen sollte. Bis dahin war aber noch lange Zeit. Ungefähr zu dieser Zeit musste ich energisch meinen ­Eltern bei der Fertigstellung unserer Wohnung unter die Arme greifen. Der Rohbau war glücklicherweise bereits fertiggestellt, als das Haus Thugutstraße 2 als deutsches Eigentum* deklariert wurde und der Hausherr alle Arbeiten sofort einstellen ließ. Ich hatte nun genügend gelernt bzw. anderen Handwerkern abgeschaut und Beziehungen geknüpft, so dass ich weitermachen konnte. Das Handwagerl der Firma leistete gute Dienste, aber die Schlepperei in den dritten Stock blieb doch mir allein erhalten. In der Schumanngasse wuchs das Haus in den dritten Stock, und während wir oben an den Kaminen mauerten, arbeitete ein blondes Bürofräulein in einem fertiggestellten Kabinett. Plötzlich ertönte laute Schreierei, und das von oben bis unten weiß angestaubte Mädchen stürzte auf die Straße. Die Ursache war bald gefunden: Ein halber Ziegelstein war in einen Kamin gerutscht und langsam nach unten geglitten. Dabei wurde der angesammelte Staub beim unteren Putztürl, das nicht verschlossen war, ausgeblasen. Alles lachte, die Fabrik mit eingeschlossen, bis auf eine Person ... Das Kaminprofil war jedenfalls vorzüglich maßhaltig und entstaubt. Das Jahr 1948 neigte sich dem Ende zu. Irgendwann an einem Samstag kam der Chef mit den nagelneuen Schilling­ noten, und die Restbestände auf den Sparbüchern wurden teilweise in Schuldverschreibungen getauscht bzw. entwertet. Ein bitterkalter Winter bot eine besondere Überraschung: einen Messestand für Poschachers Granitwerke aus Schär32

ding im Prater. So gefroren habe ich seitdem nie wieder. Ein in der Nähe befindliches Fertighaus war mit Kokskörben* beheizt und bot in der Mittagspause notdürftigen Schutz für alle armen Hunde, die es in der Umgebung im Freien aushalten mussten. An einem Sonntag – Terminschwierigkeiten – kam meine Mutter mit heißem Tee und frischen Krapfen für uns alle. Das waren halt noch Zeiten! Ein Renovierungsauftrag, den ich über einen Schulkollegen der Firma vermittelte, führte uns in den dritten Bezirk, Landstraßer Hauptstraße Nr. 106. Dort waren in einem Biedermeierhaus seit alters ein Wäsche- und ein Schuhgeschäft untergebracht. Das Wäschegeschäft wollte nun einige rückwärtige, verwahrloste Lagerräume für die Kunden öffnen und ließ den lockeren Putz erneuern. Dabei zeigte es sich, dass es sich um ehemalige Rauchkuchln mit offenen Feuerstellen handelte. In der Ecke waren die Wände mit Holzteer imprägniert und dementsprechend schwer zu verputzen. Der Geschäftsinhaber verlor darauf den Mut und ließ die Arbeit abbrechen. Sozusagen als Trost durfte ich mir ein Hemd – ohne Bezugsschein – kaufen. Wie im Fluge waren die beiden Lehrjahre vergangen, und eines Tages brachte der Chef das Gesellenzeugnis. Als ich ihm daraufhin mitteilte, dass ich die Firma verlassen möchte, zeigte er offen seinen Unmut. Schließlich meinte er, er wolle meinem Glück nicht im Wege stehen und entließ mich in Gnaden. Ich wechselte zu einer Großfirma, der ich dann 34 Jahre treu blieb.

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„Sie haben ihre Muttersprache gelernt wie wenige andere …“ Hubert Schmiedbauer wurde am 17. Oktober 1933 in Graz in eine „polygraphische Dynastie“ hineingeboren, wie er selbst seine Herkunftsfamilie bezeichnet, aus der zahlreiche Mitglieder in verschiedenen Berufen des Drucker-, Schriftsetzer- oder Buchbindereigewerbes tätig waren. Die Geschichte dieser Familie im Lichte des rasanten Wandels der Arbeitsbedingungen in diesen Branchen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat der Autor in einem Manuskript mit dem Titel „Bleiwürmer und Datenviren. Geschichte(n) einer letzten Dynastie“ festgehalten, welchem der hier wiedergegebene autobiographische Teil entnommen ist. Eine weitere durchgängige Familientradition ist das gewerkschaftliche und politische Engagement für die Arbeiterbewegung, das die Eltern des Verfassers nach den Erfahrungen des Bürgerkriegs im Februar 1934 weg von der Sozialdemokratie und zur Mitarbeit in der damals verbotenen kommunistischen Partei führte. Hubert Schmiedbauer wuchs daher in einem politisch bewussten Umfeld auf und arbeitete schon in den ersten Nachkriegsjahren als Kindergruppenleiter in der kommunistischen Jugendorganisation „Junge Garde – Kinderland“ mit. Seine beruflichen Anfänge und Erfahrungen aus mehr als zwei Jahrzehnten im Schriftsetzerberuf stehen im Mittelpunkt des folgenden Beitrags. Im Anschluss daran war der Autor ab 1973 in der Redaktion der Zeitung „Volksstimme“ und für andere Zeitschriften der KPÖ journalistisch tätig. Darüber hinaus übte er verschiedene politische und gewerkschaftliche Funktionen in Wien und der Steiermark aus. 34

Lehrjahre, Lernjahre Mit sechzehn Jahren war ich in eine neue Welt eingetreten: Aus dem Mittelschüler wurde ein Lehrling. Meine ursprünglich angedachten Berufsfelder – etwa Germanistik, Lehrer, Arzt – habe ich mir selbst vermasselt. Na ja, in der vierten Klasse in Latein ein Gut, ein Jahr später bei einem befehlsgewohnten Ex-Wehrmachtsoffizier aus pubertärem Trotz ein Totalabsturz; das soll keine Ausrede sein, da waren noch einige andere Probleme, die meine Eltern zuletzt radikal durchgreifen ließen. Gespräche über eine mögliche Berufslehre drehten sich – was sonst inmitten einer polygraphischen Dynastie? – um das Druckerei- und Zeitungswesen. Anfängliches Zögern legte ich rasch ab, als sich herausstellte, dass ich in Graz keine passende Lehrstelle finden würde, wohl aber in Wien. Als Sechzehnjähriger weg von der elterlichen Gewalt – das wog alles auf … Im September 1949 landete ich also am bombenzerstörten Wiener Südbahnhof, um mich in einer Wohngemeinschaft in der Leopoldstadt, dem zweiten Bezirk, einzuquartieren, im Karmeliterviertel. Anders als meine Freunde oder Arbeitskollegen, die bei ihren Eltern lebten, war ich auf mich allein gestellt, lebte von einem nicht allzu üppigen Betrag, den mir meine Eltern aus Graz monatlich zukommen lassen konnten, und von der anfangs noch spärlichen Lehrlingsentschädigung. Miete musste ich auch zahlen. Das hieß in der ersten Zeit Hunger, bis wir Lehrlinge das Werkküchenessen in der Druckerei gratis bekamen. Wir waren in diesem Betrieb, der ehemaligen TagblattDruckerei am Fleischmarkt, zwei Setzerlehrlinge, und zwar in einer eigenen kleinen Abteilung, in der nur Geschäftsdrucksachen hergestellt wurden, denn reine Zeitungsbetriebe durften damals keine Lehrlinge ausbilden. Der Abteilungsleiter Franz Kubelka war ein legendärer Typographiker der Zwanziger35

und Dreißigerjahre, hatte zwar fast nichts zu tun, diente aber die letzten Jahre seines unkündbaren Arbeitsvertrages ab. Als Übung mussten wir einige seiner kunstvollen Bleisatzarbeiten genau nachsetzen – lehrreich, aber in diesen Jahren wurden solche Arbeiten nicht mehr gesetzt, allein schon wegen des Zeitaufwandes. Rund um uns der große Zeitungsbetrieb des Globus-Verlages mit mehreren Tages- und Wochenblättern („Volksstimme“, „Abend“, „Tagblatt am Montag“, „Die Woche“, „Tagebuch“, dazu Betriebszeitungen wie „Der Erdölarbeiter“ usw.). Da standen noch viele Handsetzer in den Gassen zwischen den Regalen. „Huat oba!“, hallte es dutzendfach durch den Saal, wenn jemand sich erdreistete, beim Betreten der Setzerei nicht die Kopfbedeckung abzunehmen. Und musste einer niesen, wurde eifrig auf die Arbeitsplatte geklopft – Metall auf Metall, das kann jeden dösenden Lehrling arg erschrecken … Gearbeitet wurde damals noch am Samstag bis Mittag. Mein „Gspan“, wie man den unmittelbaren Kollegen nannte –, der ausbildende Setzer war der „Anführgspan“ – war ein Jahr älter als ich und ebenfalls Mittelschulaussteiger. Wir standen die erste Zeit acht Stunden täglich am Setzkasten oder an der Arbeitsplatte. Das war eine Qual, erst nach Wochen hatten wir uns an das fast unbewegliche Stehen gewöhnt. Unser Anführgspan, Josef Korinek, war ein ruhiger, einfühlsamer, fachlich hervorragender Setzer, der uns innerhalb eines Jahres alle notwendigen Vorgänge beim Handsatz beibrachte: als Erstes den richtigen „Griff“ in den Setzkasten, um eine der schmalen, dünnen Lettern so zu fassen, dass sie auf dem Wege zum Winkelhaken richtig gehalten und in die Reihe der anderen Lettern gesetzt werden konnte; zugleich mussten wir unsere Augen für das Material und dessen Maße trainieren, wobei es oft um wenige Zehntelmillimeter ging. Man stelle sich eine beliebige bedruckte Seite (oder eine Bildschirmseite) vor und ziehe eine gedachte Linie als Recht36

eck um den bedruckten Teil. Alles innerhalb dieser Linie sowie innerhalb der bedruckten Flächen musste mit Blindmaterial, also nicht sichtbarem Blei, ausgefüllt werden, und zwar genau nach dem typographischen Maßsystem. Der gesamte Satz musste so passen, dass er mit einem Spagat, der Ausbindschnur, umwickelt oder in einer Form fest geschlossen werden konnte, ohne dass beim Anheben ein Teil herausfiel. Wurde ein Stück von einer Farbwalze herausgezogen, weil es zu locker saß, war zumindest der Satz kaputt, wenn nicht auch die Druckwalze oder gar die Maschine. Eine Satzarbeit musste aber auch geplant werden, das Anfertigen von Skizzen oder gar genauen Entwürfen als Muster für Kunden war zu lernen. Eine andere Hürde war das spiegelverkehrte Lesen der Lettern und des ganzen Satzes. Dann ging es um das Gefühl für Schriftcharakter, Schriftgrößen, die Raumverteilung auf einem Blatt – etwa bei Geschäftsdrucksorten, gesetzten Plakaten usw. – oder die richtige „Konstruktion“ beim Tabellensatz, gar nicht zu reden von Spezialsätzen wie mathematischen oder chemischen Formeln. Und über allem der wichtigste Dressurakt: Rechtschreibung und Grammatik der deutschen Sprache, bis zum Training für das Lesen von Handschriften bzw. handschriftlichen Bemerkungen oder Korrekturen. Manches davon macht heute ein PC-Programm selbsttätig.

Fortschritte und Rückschritte Während ich in diesem Augenblick vor dem Computermonitor sitze, denke ich an all die langwierigen Arbeitsgänge bei der Satzherstellung im nunmehr vergangenen Bleizeitalter. Ich will gar nicht vom Handsatz reden, mit dem vor nicht einmal 150 Jahren noch jedes Buch hergestellt wurde. Wie der Siegeszug der Setzmaschinen ganze Heerscharen von Schriftsetzern überflüssig machte, sind heute die restlichen Berufe 37

der alten Druckkunst verschwunden: Setzer, Metteure, Korrektoren, Setzerei- und Druckmaschinenmechaniker, diverse Hilfsarbeiter, Stereotypeure (die Gießer und Fräser der Bleiplatten für die Rotationsmaschinen) und noch ein Dutzend mehr. Das schlägt sich auch in der Berufsausbildung nieder. Es gibt faktisch nur mehr zwei statt einem Dutzend Ausbildungsgänge: die Druckvorstufe und die Drucker. Mit den Arbeitsplätzen schrumpfte auch der Raumbedarf. Was früher an Schriften und Blindmaterial tonnenschwer einen ganzen Setzersaal füllte – für jede Schrift bis zu zehn Setzkästen, dazu Steckkästen für die großen Titelschriften, Laden für Plakatschriften, deren große Lettern aus Holz waren, die Kästen und Regale für Blindmaterial, für Linien, Sonderzeichen und Klischees, dazu viele Meter Arbeitsplatten, der Platz für Maschinen wie Setzmaschinen, Abziehpressen, Bleikreissägen usw., all das kann sich eine Druckerei heute sparen; es hat in einem einzigen Computer Platz. Dann die Logistik: Was gab es nicht innerhalb einer Druckerei für Transportwege! Manuskripte von AutorInnen oder von Redaktionen zur Bearbeitung und zum Satz, den Satz oder die Abzüge zur Korrektur, Tonnen von Bleisatz in die weiterverarbeitenden Abteilungen oder verpackt zum Bahnhof oder Flugplatz. Verzögerungen von Stunden oder Tagen, gar nicht zu reden vom Minutenstress der Tageszeitungen … Mit jedem einfachen PC kann man heute kompletten Satz herstellen und per Tastendruck in den daneben stehenden Drucker oder bei gleichem Zeitaufwand in die tausend Kilometer entfernte Druckerei senden, womöglich direkt in die Druckmaschine. Nach einem weiteren Tastendruck ist der Bildschirm wieder frei für die nächste Arbeit. Jeglicher Bleisatz musste aber wieder aufgeräumt – Handsatzschriften in die Setzkästen abgelegt, Blindmaterial sortiert und eingeordnet, alles zuvor natürlich gereinigt werden. Linotype*-Satz konnte man gleich 38

wieder zu Barren einschmelzen, auch Monotype*-Satz, bei dem die Maschine lochbandgesteuert nicht Zeilen, sondern Einzellettern goss. Aufgrund der Einsparungen durch geringeren Personalbedarf und den Wegfall vieler guter Löhne für qualifizierte Fachkräfte, durch den Kahlschlag bei Zulagen – speziell bei den Zeitungsarbeitern mit ihrer einst fünfzigprozentigen Schichtzulage ab 18 Uhr – und die Verlängerungen der täglichen Arbeitszeit waren die Kosten für die neuen Technologien bald amortisiert … Allerdings wanderte ein Teil der einst den Druckereien vorbehaltenen Produkte aus dieser Branche ab: PC, Kopiertechnologien, Gebrauchsgraphik mit Personal ohne spezielle Ausbildung decken einen großen Teil des Bedarfs direkt im ehemaligen Kundenbereich ab – nicht immer mit dem Qualitätsanspruch vormaliger Facharbeit, dafür billiger, rascher. Aber zur Ehre der Computerschriften sei festgestellt: Sie haben – gemessen an den ersten PC-Schriften – innerhalb weniger Jahre fast schon das höchste Niveau legendärer Schriftgießerkunst erreicht. Die gute Nachricht: Eine Reihe gesundheitsschädlicher Tätigkeiten gibt es nicht mehr. Das Heben und Schleppen schwerer Setzkästen, Umbruchrahmen, Satzschiffe (Stahlbleche für Bleisatzspalten und -seiten), der allgegenwärtige Umgang mit Bleistaub, -dämpfen und -spänen, die chemischen Belastungen durch Farben, Fette, Lösungs- und Reinigungsmittel für eingefärbte Sätze und Farbwalzen, durch Säuren usw. Noch nicht verschwunden oder neu hinzugekommen sind vor allem chemische Einflüsse im Druckbereich durch völlig neue, längst nicht auf ihre mögliche Schädlichkeit für Haut und Atmungsorgane bei Langzeitbelastung überprüfte Substanzen. Das gilt übrigens für die meisten Branchen. Auch die Arbeit an Bildschirmen ist nur oberflächlich auf mögliche schädliche Wirkungen erforscht. Und ganz an vorderster Stelle: Wie in den meisten Berufsgruppen stehen auch 39

die Beschäftigten im Druckereiwesen unter einem noch nie dagewesenen psychischen Druck durch ein unmenschliches Zeitregime.

Der Weg in die Arbeiterbewegung Das erste Lehrjahr brachte für mich und Karl, meinen Wiener ­Gspan, nahezu täglich neue Eindrücke und Schritte auf dem Weg in unseren Beruf. Schon nach ein paar Tagen stand einer vor uns, der sich als unser Vertrauensmann der Gewerkschaft der Arbeiter im graphischen und papierverarbeitenden Gewerbe vorstellte. So wurden wir am 1. 10. 1949 Mitglieder des ÖGB. Gleich darauf stand wieder einer vor uns und stellte sich als unser Vertrauensmann der KPÖ vor. Also wurden wir – ebenfalls am 1. Oktober 1949 – Mitglieder der KPÖ. Wir kamen beide aus Familien, die im Widerstand aktiv­ gewesen waren. So war es für uns nach dem Kriegsende schon selbstverständlich, uns Jugendgruppen anzuschließen und uns mit dem Ziel einer friedlichen, solidarischen, sozialistischen Menschheit zu identifizieren. Für das Kennenlernen der Schwierigkeiten, Probleme und möglichen Irrtümer auf diesem Weg hatten wir später genügend Zeit … Einmal wöchentlich war Schultag in der Hütteldorfer Straße. Alle paar Wochen wurde dort zweieinhalb Tage in der Lehrwerkstätte unterrichtet. Neben dem Satz-Unterricht war natürlich Deutsch ein Schwerpunkt. Was uns in der Berufsschule an Rechtschreibung und Grammatik beigebracht wurde, stellte den Deutschunterricht jedes Oberstufengymnasiums in den Schatten. Dass wir den Unterricht mit bestenfalls anderthalb Ohren über uns ergehen lassen, wäre unmöglich gewesen – wir wurden hart geprüft. Bei den Übungen in Korrekturlesen durften wir uns ebenfalls keine Flüchtigkeit leisten. In diese Zeit fielen heftige politische Auseinandersetzungen. Wir erlebten bei Betriebsversammlungen zum Thema Lohn40

politik erstmals den Kern des Problems: Die praktizierte Wirtschaftspolitik ließ die Preise steigen und die Löhne mit Abstand nachhinken. Die sozialdemokratischen Kollegen verteidigten diese Politik, die linken Kräfte in ihrer eigenen Fraktion und natürlich die Fraktion der Gewerkschaftlichen Einheit (heute Gewerkschaftlicher Linksblock) sprachen aus, was die Arbeiter forderten, und plädierten immer heftiger für Streik. Nach dem vierten sogenannten Lohn-Preis-Pakt ging es los, und ausgerechnet einige Großbetriebe mit sozialdemokratischer Mehrheit (darunter Puch Graz) legten als Erste die Arbeit nieder. An einem Berufsschultag wollte unsere Setzerklasse mittags den üblichen Spaziergang im gegenüberliegenden Park machen, stand aber einer Polizeisperre gegenüber. Übermütig wollten wir den Zugang erzwingen, aber ein höherer Beamter reckte seinen beachtlichen Bauch vor und schob uns vor sich her, während rund um ihn ein Dutzend Polizisten drohend ihre Holzknüppel schwangen. Wir zogen uns zurück. Lehrlinge vieler Betriebe beteiligten sich in diesen Tagen am Flugblattverteilen. Karl und ich bezogen Position beim nächsten Eck am Fleischmarkt. Karl schlenderte Richtung Schwedenplatz, und ich stand plötzlich vor zwei Polizisten. Einer packte mich am Arm – er war mehr als einen Kopf größer als ich mit meinen siebzehn Jahren – und versuchte mich in ein offenes Haustor zu zerren. Der andere hatte meinen Packen Flugblätter an sich gerissen. Ich versuchte mich zu wehren, aber mein Arm war verdreht, und ich konnte nicht viel ausrichten. Nun begann auch der Holzknüppel über meinen Rücken und meinen Kopf zu tanzen, und ich rief um Hilfe. Die Hilfe war auch schon da: Ein Kollege aus der Druckerei hatte die Sache beobachtet und Verstärkung geholt. Bald hatten die Knüppel Besitzerwechsel, und die Polizisten ergriffen die Flucht … Diese Streikbewegung – immer wieder als versuchter KPPutsch verleumdet – war für mich als junger Arbeiter die erste und größte Erfahrung, verbunden mit einem Bewusstwerden 41

der Kraft, die in der Arbeiterbewegung steckt. Gelesen hatte ich schon viel von den Bewegungen, Siegen und Niederlagen während hundert Jahren, und nun befand ich mich selbst mittendrin in der Demonstration von Zehntausenden, die zum Rathausplatz marschiert waren. Ich hatte das Gefühl von Kraft und Stolz und fühlte mich als Teil dieser kämpferischen, solidarischen Masse sicher und wohl. Solche Massenerlebnisse mit dem Bewusstsein, nicht nur dabei, sondern aktiver Teil zu sein, hatte ich später bei einigen großen gewerkschaftlichen Kundgebungen oder bei den Demonstrationen der Friedensbewegung, und ich bin überzeugt, dass vor allem die Gewerkschaftsbewegung solche Akzente setzen muss, wenn sie eine ernstzunehmende Bewegung auch in den Köpfen und Herzen ihrer Mitglieder bleiben soll. So bald wie möglich zog uns unser Anführgspan zu konkreten praktischen Arbeiten heran. Zeit spielte nicht die wichtigste Rolle – die Satzarbeit musste brauchbar sein. Übungsarbeiten waren keine richtige Herausforderung mehr. Den Abzug einer fertiggestellten, nützlichen Arbeit in der Hand zu halten, war immer ein neues, besonderes Erlebnis. Wir waren Arbeiter! Es war ein ähnliches Gefühl wie die erste Wahl, an der wir teilnehmen durften: Mit sechzehn Jahren war man für die Arbeiterkammer wahlberechtigt – es war ein Erlebnis, den Stimmzettel für den Wahlkörper Arbeiter einzuwerfen. (Es gab bei den AK-Wahlen noch die getrennten Wahlkörper Arbeiter, Angestellte und Verkehrsbedienstete.) Mein Anführgspan hatte Kurs auf sein nächstes Ziel genommen: sich an der Setzmaschine anlernen zu lassen. Das stand ihm mit über vierzig auch zu. Der Lohn war höher, und wenn einer für gut genug befunden wurde, konnte er in die Zeitungsschicht kommen. Das bedeutete durch die Nachtzuschläge allein schon ein gutes Stück mehr Lohn und weitere Vorteile wie zusätzliche freie Tage. 42

Ich arbeitete ziemlich selbständig, und mein neuer Anführgspan wusste nicht recht, was er mir noch beibringen sollte. Aus der Berufsschule brachte ich gute Zeugnisse, und durch meine Tätigkeit als Jugendfunktionär war mir selbst in kritischen Situationen ein zugedrücktes Auge sicher – und das hatte ich einmal dringend nötig. Im dritten Lehrjahr litt ich an einem kleinen gesundheitlichen und emotionalen Durchhänger und hatte nicht gleich den Biss, mich herauszuarbeiten. Es muss im Winter gewesen sein, es gab – wieder einmal – Probleme mit einer Zimmervermieterin, und ich stand auf der Straße. (Im Sommer konnte ich mich einmal zwei Wochen mit einem Zelt in der Lobau* behelfen, bis ich wieder ein brauchbares Quartier fand.) Nun aber war ich nach drei Wochen des Nächtigens auf Stühlen in Parteilokalen – als Jugendfunktionär hatte ich für einige die Schlüssel – wohl endlich wieder Untermieter, hatte mir aber eine Grippe eingehandelt. Krankgeschrieben war ich schnell. Den nächsten Arztbesuch zögerte ich jedoch hinaus, und nach drei Wochen verweigerte mir der Menschenfreund die Krankenstandsbestätigung. Auf diese Weise verlor mancher seinen Lehrplatz! Zerknirscht stand ich vor dem Setzereibetriebsleiter. Er schickte mich an meinen Arbeitsplatz. Niemand hat jemals mit mir über diese Sache gesprochen … Im Sommer, nach dem letzten Berufsschultag, präsentierte ich stolz mein Abschlusszeugnis mit der Auszeichnung als Klassenbester – samt „silbernem Löffel“, einem verchromten Winkelhaken mit eingraviertem Namen und Diplom des Stadtschulrates – und bekam abgesehen von einer Geldprämie unausgesprochen wohl die Absolution für manche Holprigkeiten während meiner Lehrjahre.

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Tiefer in die Arbeitswelt und näher der Verantwortung … Der Nachtzug nach Graz verließ eines Samstagabends im Sommer 1952 einen noch immer ruinenhaften Südbahnhof. Die letzten 30 Stunden hatte ich mit dem nicht ganz schmerzlosen Abschied von meinen FreundInnen (die man damals noch nicht so schreiben durfte) verbracht. Der heiße Sonntag trieb mich aus der Wohnung meiner Eltern über die Murbrücke ins Augartenbad, wo ich gleich wieder Anschluss an meinen alten Freundeskreis knüpfen konnte. Montag begann meine Arbeit in der Druckerei des Volksverlages, dessen Schwerpunkt die Zeitungsdruckerei für die Grazer „Wahrheit“ und den Kärntner „Volkswillen“ bildete. Die inzwischen eingerichtete Werksatzabteilung beschäftigte immerhin drei bis vier Handsetzer und mit mir zwei Lehrlinge. Bei der Einrichtung der vorerst reinen Zeitungsdruckerei hatte ich als damals Vierzehnjähriger mit meinen Jugendfreunden mitgeholfen. An Wochenenden waren im Herbst 1947 dutzende junge Leute am Werk – sie trugen zum Beispiel die Teile der Setzmaschinen vom Hof in den ersten Stock, wo die Maschinensetzerei eingerichtet werden sollte. Im März 1948 lief der Betrieb an, und ich war einer der jungen Leute, von denen die Zeitung an Wochenenden auf der Straße kolportiert wurde. Wir zwei Lehrlinge – ich war mittlerweile im vierten Lehrjahr, mein nunmehriger Gspan zwei Jahre jünger – hatten recht interessante Aufträge zu meistern. Im Werksatz wurden außer Geschäftsdrucksachen etliche Fachzeitschriften hergestellt, zum Beispiel ein Monatsblatt der Briefmarkensammler, eine Uhrmacherzeitung, die Mieterschutznachrichten, der bewusst billig gestaltete Katalog eines Modehauses, ein jährlich erscheinendes dubioses, dickes Firmen- und Amtsadressbuch usw. In diese Druckwerke verstreut waren stets viele Inserate, die uns knifflige Gestaltungsmöglichkeiten boten, denn viele 44

Schriftsetzer waren faktisch auch Werbegrafiker und hatten dafür Berufsschulunterricht in Fachzeichnen. Wie fast alle Lehrlinge in den verschiedenen Branchen waren die meisten Setzer nach spätestens zwei Lehrjahren für das Unternehmen eigentlich voll produktiv. (Später wurde diese Tatsache durch Studien der Arbeiterkammern wissenschaftlich untermauert.) Das merkten natürlich die jungen Setzer auch und mussten dennoch nach Abschluss der Berufsschulzeit ein viertes Lehrjahr dienen. Eine Ausnahme gab es: Wenn ein Lehrling aus der Mittelschule kam, sich mindestens im zwanzigsten Lebensjahr befand und die Berufsschule positiv abgeschlossen hatte, durfte er eine praktische und theoretische Prüfungsarbeit machen, zu der er in einer anderen Druckerei bei einem Mitglied der Innung bzw. einem Berufsschullehrer anzutreten hatte. Mein langjähriger Wiener Gspan und ich konnten diese Chance nutzen und wurden damit viel früher freigesprochen. Hauptgrund war natürlich der Gehilfenlohn, durch den die Abhängigkeit von unseren Eltern vorbei war. Die Arbeitereinkommen gingen in diesen Jahren noch in hohem Maße für die Deckung der elementarsten Lebensbedürfnisse auf. Viele soziale Errungenschaften wurden erst später erreicht. So hatten wir bis zum 18. Lebensjahr wohl einen Urlaubsanspruch von vier Wochen, dann aber nur zwei Wochen und erst nach fünfjähriger Betriebszugehörigkeit eine dritte Woche. Urlaubsgeld und Weihnachtsgeld erreichten noch lange nicht den Umfang eines dreizehnten und vierzehnten Monatslohnes. Die wöchentliche Arbeitszeit betrug 45, später 42 Stunden. Die Beschäftigten bei Tageszeitungen hatten bessere Bedingungen, dafür aber mussten sie an sechs Tagen von Nachmittag bis zum späten Abend arbeiten. Nur der Sonntag war frei (außer in Betrieben, die Montagsblätter herstellten und wo für Sonntagsarbeit der doppelte Stundenlohn bezahlt wurde). 45

Für mich begann nach der Freisprechung gleich die Ausbildung an der Linotype-Setzmaschine. Das Kennenlernen eines so differenzierten Mechanismus mit zahlreichen unterschiedlichen Bewegungsformen – ausgehend von einem E-Motor über Riemenscheiben, Exzenter, Rollen und Hebel, Zahnräder, Schneckenspindeln und Zahnstangen, Förderbänder, Gummiwalzen usw. – war wie eine abenteuerliche Expedition. Handhabung und Beherrschung der Maschine ließen den Menschen und die Technik immer mehr zusammenwachsen, da waren alle Sinne gefordert – der Setzer lernte die verschiedenen Geräusche kennen und sofort einordnen, wenn etwa an irgendeiner Stelle eine Störung auftrat. Man lernte die Behebung von technischen Problemen, die Reparatur kleiner Schäden, das exakte Einstellen von Abständen und Toleranzen, oftmals auch das Anpassen der Maschine an den eigenen Rhythmus. Die praktische Satzarbeit, sofern nicht Zeitungstexte oder zum Beispiel Tabellen für die Modekataloge zu setzen waren, empfand ich als äußerst fad: Für einen kleinen Verleger stellten wir billige Romanhefte her – Liebesschmöker, sogenannte Bauern- und Heimatromane –, die jeweils 32 oder 64 Seiten umfassten und (außer den Umschlägen) auf der Rotationsmaschine gedruckt wurden. Das waren grob gerechnet 1000 bzw. 2000 Zeilen Maschinensatz, wofür man in der Anlernzeit leicht zwei bis vier Schichten brauchte. Zwei oder gar vier Tage lang las man also an einem Heftl der Trivialliteratur … Die Sehnsucht nach der Zeitungsschicht wuchs aber auch aus finanziellen Gründen. Ein paar Jahre lang hatte ich auf den Einsatz in der Zeitungsschicht (Montag bis Samstag von 15.30 bis 22.30 Uhr) verzichtet, also auf den 50-prozentigen Nachtzuschlag ab 18 Uhr; mir war die Freizeit für die Jugendarbeit – wir hatten einen Chor bzw. spielten Kabarett – wichtiger. Nach Gründung einer Familie und der Geburt des zweiten Kindes war es mit dem Lohnverzicht und der abendlichen Freizeit vorbei, 46

und meine Arbeit in der Zeitungsschicht stellte mich vor neue Herausforderungen. Mit dem allmählichen Generationenwechsel stellte sich auch die Aufgabe, junge Kollegen für gewerkschaftliche Aktivität zu gewinnen. So wurde auch ich von einem Kollegen gefragt, ob ich nicht statt ihm in den Landesausschuss der Gewerkschaft (heute Landesvorstand Druck und Papier) delegiert werden wolle. Natürlich interessierte mich die Arbeit mit den Kollegen aus den anderen Betrieben, gab es doch viele Aufgaben zu lösen, ob es um einzelne Punkte im Kollektivvertrag oder um große Gesetzesvorhaben ging. Allmählich wurde das B-Team der jungen Kollegen zum A-Team am Arbeitsplatz und bei den gewerkschaftlichen Aktivitäten. Mit der Übernahme von Funktionen reifte das Bedürfnis nach weiterer Qualifizierung, und manchmal waren (zum Leidwesen der Betriebsleitung) auch mehrere Kolleginnen und Kollegen auf irgendeiner Schulung statt an ihrem Arbeitsplatz – es hatten sich ja auch die Anforderungen an Betriebsräte und Vertrauensleute weiterentwickelt. Erfahrungen kommen oft auf Umwegen. Erst nachdem ich schon jahrelang Beisitzer beim Berufungssenat des Arbeitsgerichtes war (diese Senate fielen später sogenannten Rechtsreformen zum Opfer, wie so manches andere Recht zugunsten der Lohnabhängigen und sozial Schwächeren) und erst nachdem ich Obmann des Arbeiterbetriebsrates gewesen war und nicht ganz fehlerfrei gearbeitet hatte, konnte ich die Möglichkeit einer längeren Schulung nutzen und verbrachte 1964 drei Monate im Internat der heutigen AK-Sozialakademie, der Otto-Möbes-Schule in Graz-Stifting, mit dem mir seit Jugendtagen bekannten Buchdruckersohn Rupert Gmoser* als Schulleiter. Nebenbei bemerkt: Ich war der erste Schüler, der nicht der sozialdemokratischen Fraktion angehörte. Auch in den fachlich-technischen Bereichen begann die Zuwendung zu Ausbildungsgängen. Wie sich Typographie 47

und Drucktechniken entwickeln würden, war noch nicht in dem Ausmaß zu erahnen, wie es sich dann rasant vollzog. In den Sechzigerjahren – der Graphische Bildungsverband bemühte sich um Information und Motivation – besuchten viele Kollegen subventionierte Maschinschreibkurse, später waren Film- und Fotosatz Orientierungspunkte, aber welche Technologie sich wirklich Bahn brechen würde, das war graue Zukunft. Jungen Menschen wurde abgeraten, eine Setzerlehre zu beginnen, Unsicherheit breitete sich aus. Viele Kollegen erkannten: Ohne grundlegende Ausbildung in Richtung neuer Technologien konnten schwere Zeiten auf die gute alte Typographie und die Drucktechniken zukommen. Ich selbst kann hier nur unzulänglich vom eigenen Horizont ausgehen. Es gab viel Information in Bruchstücken, aber zu wenige Möglichkeiten für bereits beruflich aktive Facharbeiter, eine sozial verträgliche Weiterbildung und -entwicklung durchzuziehen. Auch mich zog es in dieses Dilemma. Als Maschinensetzer mit fachlichem Selbstbewusstsein und als Korrektor, der jeweils als Springer für einen der beiden Stammkorrektoren eingesetzt wurde, hätte ich genügsam sein und mich gemütlich von den produktionsbedingt notwendigen Überstunden ausruhen können. Kann das einen qualifizierten Facharbeiter und aktiven Gewerkschafter befriedigen? Ein Berufswunsch aus meiner Jugend wurde wieder wach. Ich wollte mich als Berufsschullehrer für die Fächer Deutsch und Fachkunde qualifizieren.

Die Walz des 20. Jahrhunderts Auf der Walz hatte vor dem Ersten Weltkrieg mein Groß­vater seine Qualifikationen erworben. Unzählige Setzer, Drucker und andere Facharbeiter aus der Branche waren nach dem Zweiten Weltkrieg in anderen Ländern tätig, viele blieben 48

nach zusätzlichen Ausbildungen, manche kamen zurück und waren gefragte Fachkräfte. Die Schweiz und Deutschland, aber auch Südtirol boten stets die Möglichkeit, zumindest mehr zu verdienen als in irgendeiner österreichischen „Quetschn“, wie etwas abfällig eine kleine, fachlich nicht überragende Druckerei bezeichnet wurde. Neben der Chance auf Ausbildung war das bessere Einkommen für einen Familienvater aus Österreich die Voraussetzung, sich auf ein paar Jahre Auslandsarbeit einzulassen. Meine Wahl fiel auf Westberlin: eine Pädagogische Hochschule, eine Fachakademie mit großem Kursangebot, ein Lohnniveau, das mir die Existenz in Berlin und die Existenz der Familie in Graz sicherte – und vor allem eine Firma, die mir bei der Suche in den Fachmedien ins Auge stach. Spezialisiert auf die Lieferung von Lino- und Fotosatz; die Kunden waren Druckereien, die rasch viel Bleisatz brauchten, die Spezialaufträge in Fremdsprachen oder für komplizierte Katalogund Tabellentexte sowie druckfertigen Fremdsprachensatz vergaben, mit einem Wort: Spitzenqualität. Meine Bewerbung wurde umgehend positiv beantwortet – doch mir wurde mulmig: Würde ich den Anforderungen nach fast zwanzig Jahren simplem Zeitungssatz genügen können? Im Frühjahr 1970 teilte ich meinen Chefs in Graz mit, dass ich den Betrieb im Herbst verlassen würde. Die erste wichtige Frage meiner Kollegen in der Westberliner Firma Hagedorn nach einigem kollegialen Smalltalk lautete: „Und wie viel machst du so in der Stunde?“ Damit waren die Anschläge, also die rechnerische Satzmenge, gemeint. Das gab es ja auch bei uns in Österreich – mit der Grundlage einer Norm, die von einem Maschinensetzer unter durchschnittlichen Bedingungen erreicht werden konnte. Aha, dachte ich, das ist ein Betrieb, in dem eine gewisse Solidarität besteht, wo sich die rund 25 Maschinensetzer nicht gegeneinander ausspielen und aufhetzen lassen. „Na 49

ja“, meinte ich, „jetzt bin ich einmal froh, wenn ich die unterschiedlichen Anforderungen bewältigen kann. Aber ich werde mich sicher an eure eigene Norm halten. Wie viel macht ihr?“ Im Folgenden kam heraus, dass der Daumen auf die in sechs Stunden konzentrierter Arbeit erreichbare Satzmenge zeigte, die für acht Stunden Arbeitszeit genügen musste. Insgesamt lag das weit über den normalen Leistungserfordernissen, aber wir waren eben ein Spezialbetrieb bei entsprechenden Löhnen für besonders qualifiziertes Personal – und das Management wusste, dass es zum Vorteil des Unternehmens war, wenn wir in relativ kurzer Zeit eine große Menge Satz hinknallten und dann halt irgendetwas an der Maschine zu reparieren hatten. Oder wir teilten uns die Zeit eben so ein, dass es entsprechende Pausen gab. In der Spätschicht war es einfach, denn ab 20, 21 Uhr ließ sich kein Vorgesetzter mehr blicken, und wir hatten je nach vorangegangenem Satztempo reichlich Zeit zum Erfahrungsaustausch … Etwas großzügiger verhielten sich die Setzerkollegen bei den Überstunden, wenn wir zum Beispiel am Samstag von 6 bis 12 Uhr im Einsatz waren: Spätestens um 11 Uhr hatten wir unser Pensum, und zwar meist die Leistung für eine ganze Achtstundenschicht, erfüllt. Da kam zwischendurch noch der Abteilungsleiter und spendierte jedem eine Bockwurst, so froh war das Unternehmen, dass der verpackte Bleisatz schon um eine Stunde früher beim Kunden in Berlin oder im Flugzeug für eine Druckerei irgendwo in Westdeutschland lag. Diesem Detail habe ich deshalb so viel Aufmerksamkeit gewidmet, weil ich befürchte, dass diese Reste solidarischen Widerstands gegen Arbeitshetze und Entsolidarisierung mit den elektronischen Medien und der steten Kontrollierbarkeit am Arbeitsplatz ausgelöscht wurden. Die jüngsten Erhebungen und Analysen der Befindlichkeit in der Arbeitswelt, der Zunahme von stressbedingter Überlastung, von starker Zu50

nahme psychosomatischer Erkrankungen, von Existenzangst und Flucht in Ersatzbefindlichkeiten sind besorgniserregend. In diesem ersten Berliner Herbst traf mich wie ein Keulenschlag die Nachricht, dass „meine“ Druckerei in Graz Anfang 1971 geschlossen werde. Sie war mit all den KollegInnen immer noch meine berufliche Heimat, der Hafen, in den ich notfalls wieder zurückkehren könnte. Nun fühlte ich mich abgeschnitten. Aber ich hatte Arbeit, was für viele meiner früheren Kollegen ungewiss war. Manche kamen in anderen Grazer Druckereien unter, der eine oder andere konnte sich weiter qualifizieren. Einige wechselten den Beruf. Verbessern konnte es sich wohl niemand. Einige Setzer und Helfer wurden im Wiener Globus aufgenommen, darunter auch meine Korrektorenkollegen, die bis zur Pensionierung blieben. Ohne die Wahrung gewisser menschlicher Arbeitsbedingungen hätte ich es in Berlin nicht geschafft, nebenbei für Fernkurse (Disposition und Kalkulation) zu lernen, Kurse an der Fachakademie (diverse Fotosatztechnologien, elektronische Systeme im Bereich der Satzherstellung usw.), Vorlesungen auf der Pädagogischen Hochschule (Germanistik, Didaktik, pädagogische Psychologie usw.) zu besuchen, um mich auf eine Weiterentwicklung im Beruf vorzubereiten. So gut es ging, wollte ich auch die gewerkschaftlichen Aktivitäten meiner Kollegen nicht ignorieren, besuchte die Treffen in meiner jeweiligen Bezirksgruppe (Tempelhof bzw. Schöneberg) und erlebte 1972 die erste gewaltige gemeinsame Erste-MaiDemonstration von Studenten, Gewerkschaften und anderen Organisationen. Zu den schlimmsten Belastungen zählten die Wechselschichten – eine Woche von 6.30 Uhr bis 15 Uhr, die folgende von 15 Uhr bis 23.30 Uhr. Noch schlimmer: 12-Stunden-Wechsel jeweils von 6 bis 18 Uhr bzw. von 18 bis 6 Uhr. Manche Kollegen schafften es die ganze Woche nicht, einen halbwegs erträglichen Schlafrhythmus zu finden. Ich hatte Glück, mir 51

mit einem Kollegen die Maschine zu teilen, der aus Gesundheitsgründen keine Spätschicht machen konnte. So blieb ich monatelang in der Spätschicht, was zwar für die Vorlesungen auf der Pädagogischen Hochschule günstig war, die Abendkurse mussten jedoch gestrichen werden … Leider blieb es nicht aus, dass man sich manchmal den Gegebenheiten anzupassen hatte – etwa im Sommer bei Personalmangel und größeren Aufträgen für unseren Spezialbetrieb Zwölfstundenschichten zu leisten, dazu vielleicht noch Überstunden am Samstagvormittag. Für ein paar Wochen hatten wir genügend Kraft und Berufserfahrung, um die Verlockung von saftigen Löhnen anzunehmen. Aber nach einem Monat gab es keinen, der das noch länger machen wollte, und wer gerade nicht ganz fit war, überschritt trotz unserer nach wie vor eingehalten Bremse seine gesundheitlichen Barrieren. Heute werden von der Industrie und etlichen großen Unternehmen in unserem Lande Forderungen nach „flexibleren“ Arbeitszeiten erhoben, etwa eine neue Definition der Normal­arbeitszeit von acht bzw. eingeschränkt zehn Stunden auf generell zwölf Stunden – ohne Überstundenzuschläge, sondern mit einer Durchrechnung aller Arbeitszeiten innerhalb von zwei oder gar drei Jahren! Zur Belastung durch so lange ­Arbeitszeiten kommt außerdem noch die Abschaltung jeglicher sozialer und kultureller Lebensqualität. Der jahrzehntelange Kampf der Arbeiterbewegung bis zum Sieg des Achtstundentages hatte damals seine unwiderlegbaren Argumente und darf heute schon gar nicht als „heilige Kuh“ an die Kapitalprofite verschachert werden. Als mich die Kollegen im Satzbetrieb Hagedorn Ende 1972 fragten, ob ich bereit sei, als Betriebsrat zu kandidieren, war ich aus einem besonderen Grund stolz: Im Jahr zuvor hatte es eine heftige Diskussion darüber gegeben, ob das Weihnachtsgeld an alle gleich ausbezahlt oder ob Krankenstandszeiten abgezogen werden sollen. Nicht wenige Kollegen folgten die52

sen Wünschen der Firmenleitung. Auf der Seite der Kollegen, die eine solche Entsolidarisierung ablehnten, nahm ich sehr heftig gegen die Unternehmermethode Stellung – und wir setzten uns durch. Auf diese Weise Vertrauen zu gewinnen, fand ich ehrenvoll, weil ja doch ein kleiner Fleck Abschätzigkeit gegenüber den „gemütlichen Österreichern“ den Hauch von Distanz gegenüber Ausländern durchscheinen ließ. In höherem Maße traf das natürlich die Kollegen vom Balkan oder aus der Türkei, die jedoch in unserer Branche eher selten waren. Den Grund für meine dankende Ablehnung einer Kandidatur zum Betriebsrat nannte ich ihnen auch gleich: Mein Aufenthalt in Westberlin würde nicht mehr so lange wie die Funktionsperiode eines Betriebsrates dauern – und ich wolle mich nicht von den KollegInnen wählen lassen und mich dann vielleicht schon nach ein paar Monaten verabschieden. Für mich stand schon fest: Meine Zukunft war nicht mehr die eines (Berliner) Betriebsingenieurs oder eines (österreichischen) Berufsschullehrers. Für das Angebot einer großen Grazer Druckerei, die Lehrlingsausbildung zu übernehmen, dankte ich sehr, aber meine Neigung zur Journalistik war schon in Mittelschulzeiten wach – und ich hatte bereits die Zusage in der Tasche, im Mai 1973 als Redakteur in Wien ein neues Tätigkeitsfeld zu betreten. Am 1. Mai 1973 war ich noch mit meinen Westberliner KollegInnen und Freunden bei der Kundgebung und beim Ersten-Mai-Fest – aber dann bestieg ich meinen voll beladenen Kombi und meldete mich am Vormittag des 2. Mai an meinem neuen Arbeitsplatz in Wien.

Vom Absterben zum Wiederaufbau Der Rückblick auf mein Arbeitsleben spiegelt die Geschichte des historisch gesehen rasanten Absterbens einer jahrhundertealten Technologie, des Verschwindens einer ganzen 53

Berufsgruppe mit all den sozialen Folgen und persönlichen Tragödien. Wie fühlt sich ein Mensch, der nach vielen Jahren Berufslehre und Erfahrung plötzlich an ein Gerät verpflanzt wird, das er nicht mehr sehen, hören, fühlen kann und an dem er nicht mehr schöpferisch tätig, sondern nur mehr Bedienungselement ist? Oder dem bisherigen Beherrscher einer sensiblen Maschine, mit der er aber nicht mehr kommunizieren kann, weil elektronische Steuerelemente ihm seine schöpferische Arbeit abnehmen … Einen vielseitig qualifizierten Schriftsetzer traf ich eines Tages in Wien als Fahrdienstleiter an einer U-Bahn-Station. Er hatte in einem halbdunklen Kämmerchen ein paar Bildschirme und ein Dutzend Kontrolllämpchen vor sich. Seine wichtigste Aufgabe war der Blick auf die Menschen am Bahnsteig, ob sie sich wohl weit genug vom einfahrenden Zug aufhielten. Dabei hatte er Glück, überhaupt einen Platz in der Arbeitswelt zu finden, selbst wenn er statt früherer Teamarbeit und dafür nötiger Kommunikation stundenlang nur mehr Beobachter selbständiger Technologie sein durfte. Einige tausend Fachkräfte mussten und konnten sich auf die neuen Herausforderungen der veränderten Arbeitswelt einstellen. Einige tausend fielen heraus, einige tausend kamen neu in diese veränderte Berufswelt. In den Kollektivverträgen wurde zusätzlich zu den laufenden Verschlechterungen der Arbeitsrechtsgesetzgebung ausgejätet, was nur ging, um „nicht mehr zeitgemäße“ oder „produktivitätshemmende“ oder eben für die Beschäftigten positive Bestimmungen loszuwerden, aus qualifizierten Facharbeitern Hilfskräfte zu machen und vor allem ganze Berufe auszulöschen. Eine der Folgen ist ein Verfall der Sprachkultur. Mit dem Verschwinden der ausgebildeten Setzer und Korrektoren brach ein Damm, und was in Tagespresse, Zeitschriften, in der Massenliteratur, ja selbst in den Werken renommierter Verlage an Sprachschluderei und ignoranter Fließbandarbeit 54

bei Übersetzungen ins Deutsche (meist ins Norddeutsche) verbrochen wird, ist Kulturschande. Auf das Ende des Bleisatzes folgten einige Jahre Übergang mit Fotosatz, und wie sich heute Produktion und soziales Umfeld entwickeln, ist ein Kapitel, das andere schreiben müssen. Was sie heute lernen, werden sie noch lange brauchen. Die Generationen vor ihnen hatten Berufe gelernt und Technologien beherrscht, die niemand mehr braucht. Sie haben ihre Muttersprache gelernt wie wenige andere, doch deren Zerstörung wird „Reform“ genannt, so wie das Sozialsystem von „Reform“-Schritten zerstampft wird. Dieser Krieg ist noch lange nicht vorbei. Der Wiederaufbau wird mühevoll sein. Er wird die Erfahrungen der vorangegangenen schöpferischen Generationen für seine Fundamente heranziehen müssen – so wie die neuen Technologien ohne vorangegangene technologische Entwicklungen undenkbar wären.

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„Ohne Matura wollte ich nicht in den Staatsdienst zurückkehren“ Josef Ladstätter wurde am 23. Mai 1935 geboren und wuchs als Einzelkind in WienErdberg auf. Sein Vater war anfangs in verschiedenen Funktionen als Hilfsarbeiter in der Automobilfabrik Fross-Büssing beschäftigt, nach dem Krieg wurde ihm eine Ausbildung zum Dreher ermöglicht; die Mutter besorgte den Haushalt. Der Autor kann auf eine facettenreiche berufliche Laufbahn zurückblicken: Nach einem Lehrabschluss und Anstellungen in verschiedenen Bereichen des Schneidergewerbes versuchte er sich in den 1950er und 1960er Jahren als Gendarmerieschüler, als Jugendbetreuer in Erholungsheimen des ÖGB und als Kanzleibeamter des Landesarbeitsamtes Wien; fast zehn Jahre war er in der Wiener Magistratsabteilung 59 als Marktkommissär tätig. Ebenso vielfältig gestaltete sich in diesen Jahren sein zweiter Bildungsweg, der über diverse gewerkschaftsnahe Bildungsangebote und fachspezifische Ausbildungskurse zur Abendmatura und schließlich zu einem Universitätsabschluss als Dr. juris führte. Anschließend war er zwischen 1972 und 1999 als Minsterialbeamter im Bereich Konsumentenpolitik, auch auf Ebene des Europarats und der OECD, tätig. Josef Ladstätter ist seit 1970 verheiratet und Vater zweier Töchter. Im Jahr 2003 begann der Autor damit, Erinnerungen an die eigene Kindheit und Jugend in Alt-Erdberg schriftlich festzuhalten. Anlässlich des Schreibaufrufs „Arbeit ist das halbe Leben“ sandte er den zweiten Abschnitt seiner Autobiographie ein, in der seine berufliche Entwicklung einen Schwerpunkt der Erzählungen bildet. Thematisch entsprechende Passagen daraus sind im folgenden Beitrag wiedergegeben. 56

Lehrzeit Mein Berufsleben begann im September 1950 im Kleiderhaus Schönbrunn auf der Schönbrunner Straße Nr. 230 in Meidling. Roland Michel, einer aus unserer Gruppe in der Hainburger Straße, arbeitete dort bereits seit zwei Monaten als Verkäuferlehrling. Meistens trafen wir uns schon auf dem Weg in die Arbeit­ an der Straßenbahnhaltestelle und warteten dann gegen 8  Uhr früh gemeinsam vor dem Geschäft auf die Chefs. Wenn einer der beiden im Anmarsch war, hatte Roland die Angewohnheit, diesem entgegenzulaufen, um von ihm die Geschäftsschlüssel in Empfang zu nehmen. Dann lief er zum Portal zurück und sperrte zuerst die beiden Rollbalkenschlösser auf. Der Rollbalken wurde so weit hochgezogen, dass man durchschlüpfen und die Eingangstür aufsperren konnte. Dann wurden die weiteren fünf oder sechs Rollbalken der Auslagenfenster aufgesperrt und mit einer eigenen Stange hochgeschoben. Meine tägliche Frühaufgabe war es, frisches Bügelwasser in die Werkstätte und neues Waschwasser zum Händewaschen in ein Lavoir* auf eine Kiste im Lichthof zu stellen. Beides musste alle paar Stunden erneuert werden. Die Wasserleitung war etwas weiter weg im Gang des Hauses. Die Werkstätte befand sich hinter einem Verkaufspult neben dem großen und hohen Verkaufsraum, wo die Kleidungsstücke auf Regalen in zwei Etagen hingen. Zum Herunterholen musste man eine Stange mit einem Haken benützen. Vom Verkaufsraum gelangte man auch in den kleinen Lichthof mit einer Tür zum Gang mit dem Klo. Die offizielle Arbeitszeit dauerte von 8 bis 12 und von 14 bis 18 Uhr, an Samstagen von 8 bis 14 Uhr. Nach Arbeitsschluss musste noch die Werkstatt sauber gemacht werden. Da ich das nur ungern machte, kehrte ich so, dass sehr viel Staub aufwirbelte und 57

alle aus der Werkstatt flüchteten. Das war so meine Rache für die vielen Troubles, an denen ich tagsüber zu leiden hatte. Am Samstag wurde gründlich gereinigt und der Boden aufgewaschen. Währenddessen hatte Roland auf einer hohen Doppelleiter das Kleiderlager abzustauben. Das bedeutete, dass wir erst nach 15 Uhr heimkamen. Dennoch hörte ich von den „Alten“ immer wieder, wie gut es uns Lehrlingen ginge, mit den vier Wochen Urlaub und einem ganzen Arbeitstag in der Berufsschule. Früher hätten sie nur an Sonntagen Unterricht gehabt und für die Ausbildung sogar bezahlen müssen. Anfangs hatte ich vom langen, ungewohnten Sitzen Rückenschmerzen, und ich wartete nur darauf, bis der Tag wieder zu Ende war. Das änderte sich aber recht bald, denn es gab viele Tätigkeiten, die stehend zu verrichten waren, und nach und nach durfte ich auch bei Neuanfertigungen mithelfen. Als das Geschäft gut lief und für die Schneiderei neue Leute aufgenommen wurden, übersiedelten wir mit unserer Werkstätte ins Nebenhaus. Die Trennung empfand ich als äußerst wohltuend, und es war mir gar nicht recht, aus den vier Wänden der Werkstatt für irgendeine Erledigung ins Verkaufslokal gehen und meine Arbeit unterbrechen zu müssen. An meinem ersten Arbeitstag, dem 4.  September 1950, durfte ich zunächst auf einem Stoffrest ein paar Stiche nähen. Herr Ressel, ein 67-jähriger Schneidergeselle, quasi mein Lehrmeister (der offizielle mit Berechtigung zur Lehrlingsausbildung hatte einen eigenen Betrieb im ersten Bezirk), meinte, was ich genäht habe, schaue aus, „wie der Saubär brunzt“, und gab mir ein altes Sakko zum Auftrennen. Es sollte gewendet und zu einem Kindersakko umgeändert werden. Mit Hilfe von Rasierklingen musste ich alle Teile zerlegen, was länger als einen Tag dauerte. Das Wenden war damals noch eine verbreitete Methode, sich den Kauf eines neuen Stoffes für eine Neuanfertigung zu ersparen, vorausgesetzt, 58

Stoff und Schnitt waren dazu geeignet. Nicht nur der Stoff, sondern auch Futter und Taschen wurden zerlegt. Dann waren die alten Fadenreste zu entfernen und die Teile flach zu bügeln – eine ebenso heikle Sache wie das Zertrennen, denn es durfte keinesfalls Glanz eingebügelt werden. Ein bereits vorhandener Glanz konnte nur durch Dunst oder Aufrauen wieder entfernt werden. Auf die gebügelten Teile wurde ein neuer Schnitt gezeichnet, und es erfolgte ein neuer Zuschnitt. Neues Zubehör, bestehend aus Leinen, Kanevas* und Watte, wurde eingerichtet, und die Arbeit zur ersten Anprobe konnte beginnen. Für die zweite Anprobe kamen dann noch Innen- und Taschenfutter dazu. Die älteren Gehilfen erklärten, dass Bügeln noch wichtiger sei als Nähen. Es gab verschiedene Bügelgeräte. Wir arbeiteten mit einem elektrischen Bügeleisen von der Art, wie es aus Sicherheitsgründen heute nicht mehr verwendet werden darf. In feineren Herrensalons bügelte man nicht elektrisch, sondern mit Kolbeneisen. Gusseiserne Kolben wurden in einem Ofen erhitzt und dann in die Bügeleisen geschoben. Sie blieben einige Zeit gleichmäßig warm, während die elektrischen Eisen ständig aus- und eingeschaltet werden mussten. Das Bügelwasser in einem Kübel neben dem Arbeitstisch wurde mehrmals pro Tag erneuert. Anfangs verlangten die Herren Gesellen oft von mir, den Bügelfetzen für sie herzurichten. Ich musste darauf achten, dass das Bügelleinen immer feucht, aber nicht nass war. Das richtige Auswinden war gar nicht so einfach und musste gelernt werden. Im September 1950 gab es in der Werkstätte noch keine Heizung. Herr Ressel wollte einen alten gusseisernen Ofen zur Verfügung stellen. Dieser musste nur noch geholt werden. Irgendwann im November zogen Roland und ich mit einem kleinen Handwagen von Meidling zur Ressel-Wohnung in die Schiffamtsgasse bei der Augartenbrücke, luden den Ofen samt den Rohren auf den Wagen und schleppten das 59

Ganze wieder in die Schönbrunner Straße zurück. Im Winter war dieser Ofen bereits in Betrieb, und ich musste täglich einheizen, nachfüllen, ausräumen und so fort. Ein größerer Ofen stand im Geschäftslokal, aber dessen Bedienung war Sache des Verkäuferlehrlings. Als der Ofen im Verkaufsraum einmal nicht anbrennen wollte, bückte ich mich hinunter und blies hinein, aber er blies zurück, und das kostete mich meinen Oberlippenflaum samt Augenbrauen. Bei jedem Saisonwechsel waren die Schaufenster neu zu dekorieren. Dafür wurde ein eigener Auslagenarrangeur engagiert. Die Aufgabe des Verkäuferlehrlings war es, ihm zu helfen. Wenn dieser, was sehr häufig passierte, wegen anderer Aufgaben nicht da war, hatte ich einzuspringen. Das Auslagenarrangieren dauerte oft zwei bis drei Tage. Die Fenster waren seitlich zu öffnen und mussten mit einem eigenen Ständer abgestützt und von uns außerdem noch gehalten werden. Es war einerseits interessant zu sehen und dabei mitzuhelfen, wie die Kleidungsstücke so aufgelegt oder auf die Puppen drapiert wurden, dass sie für Kundenaugen gut aussahen. Dazu kamen noch Transparente und alle möglichen Dekorationen. Andererseits aber hatte ich das Gefühl, von meiner eigentlichen Arbeit abgehalten zu sein. Ebenso, wenn ich Besorgungen machen musste – Stoffe und Zubehör abholen, die Arbeit zu den Stückmeistern* bringen usw. Auch das waren eigentlich Aufgaben des Verkäuferlehrlings, doch ich musste oft für ihn einspringen. Manchmal war ich einige Stunden unterwegs, kam dafür aber viel herum und ersparte mir mit geschickten Umsteigemanövern viele Fahrscheine, die ich dann privat verwenden konnte. 1952 wurde die Beleuchtung im Geschäft und in der Werkstätte von Glühbirnen auf Neonröhren umgestellt. Das dauerte zwei bis drei Tage und wurde von einem Elektroinstallateur an einigen Abenden durchgeführt. Ich musste jedes Mal 60

bis etwa 22 Uhr dableiben und mithelfen, das heißt, die Kleiderständer verhängen und bei den Stemmarbeiten mit einer Schachtel über meinem Kopf auf der Leiter stehen und aufpassen, dass kein Schutt auf den Boden fiel. Als die Neonbeleuchtung eingeführt wurde, hieß es, dieses Licht werfe keinen Schatten und es gab tatsächlich einen Unterschied zum herkömmlichen Licht, besonders bei der Straßenbeleuchtung. Solange ich mir selbst nichts anfertigen konnte, lief ich meistens mit alter Kleidung aus der Judengasse* herum. Lange Zeit trug ich eine auf meine Größe abgeänderte Militärhose und eine weitere Hose und zwei Sakkos aus einer amerikanischen Altkleidersammlung. An dem einen Sakko änderte ich dann selbst noch einige Male herum, bis es nicht mehr zu tragen war und ich bereits mein Gesellenstück anziehen konnte. Je mehr ich das Schneidergewerbe und die Bekleidungsbranche kennenlernte, desto interessanter fand ich das alles, und je mehr ich dazulernte, desto mehr Spaß hatte ich an der Arbeit. Angeregt durch einen Freund aus dem Salesianum*, der sich nach dem ersten Lehrjahr bereits eine kurze Hose genäht hatte, wollte ich das nachmachen, und es ist mir tatsächlich gelungen. Ich durfte sie in unserer Werkstatt nähen, jedoch in meiner Freizeit. Anfangs musste ich nach jeder Naht fragen, wie es weitergeht, und es dauerte mehrere Wochen, bis ich damit fertig war. Die (lange) Hose bestand aus einem feinen braunen Baumwollstoff. Ich trug sie zum ersten Mal bei einer Sonntagsmatinee im Kapitol-Kino. Sie wurde von meinen Freunden sehr bewundert – trotz der vielen Fehler, die aber nur ich allein kannte. Außerdem musste ich immer so sitzen, dass sie möglichst wenig verknitterte, die Knie nicht herauskamen und der Bug erhalten blieb. Diese neue Hose hat mit dazu beigetragen, dass Roland, unser Verkäuferlehrling, nach einem Jahr die Berufsausbildung wechselte und in ­einem 61

renommierten Stadtbetrieb, beim Kolowrat an Kohlmarkt, ebenfalls Schneider lernte. Er und auch seine Mutter, Vertriebene aus dem Sudetenland, waren der Meinung, im Vergleich zu mir könne er als Verkäufer nichts. Er betrieb dann bis zum Jahr 2009 einen Modesalon im sechsten Bezirk. Nach dem Ende des zweiten Lehrjahres wagte ich mich an einen Wintermantel heran. Es dauerte bis zu seiner Fertig­ stellung mindestens zwei Monate, und das Werk ist, ebenfalls unter ständigen Anleitungen meiner Arbeitskollegen, gut gelungen. Ich trug ihn mehrere Jahre. Auf Anraten meiner Schneiderkollegen besorgte ich mir dann für den neuen Mantel beim Knopfkönig im ersten Bezirk teure, echte Büffelhornknöpfe. Zur Gesellenprüfung wählte ich einen hellgrünen Tweedstoff mit dem Hintergedanken, dass man bei einem dicken Stoff die Fehler, vor allem ungerade und verzogene Nähte, nicht bemerkt und auch heikle Stellen gut zu verbügeln sind. Anders sieht es bei dünnen Stoffen aus, wo praktisch nichts verborgen werden kann, und sich auf Streifen oder sonstige Muster zu verlassen, wäre zu riskant gewesen. Die Berufsschule besuchte ich sehr gerne. Das Schulgebäude befand sich in Fünfhaus in der Talgasse. Es gab acht erste Klassen. Ich war in der „h-Klasse“. Unsere Unterrichtsfächer waren neben Werkstättenunterricht und Warenkunde Schnittzeichnen, Fachrechnen (Buchhaltung) und Betriebswirtschaftslehre. Wir hatten viel Spaß miteinander und es gab keinen Druck wie bei der Arbeit. Außerdem endete der Schultag um 16 Uhr, was für mich beinahe einen freien Nachmittag bedeutete. In der Mittagspause saßen wir mit unseren Wurst- und Käsebroten im großen Speisesaal, und über Lautsprecher wurde Swingmusik gesendet – die neuesten Woody-Herman-Aufnahmen wie „Caldonia“, Harry James’ „Trumpet Blues“ und der „Dorsey Boogie“. Oft wurden auch alte Stummfilme aus 62

der Vorkriegszeit gezeigt, mit Chaplin, Stan Laurel & Oliver Hardy. Viele meiner Klassenkollegen hatten – angeblich für Schneider typisch – tschechische Namen wie Bednar, Halek, Lalak, Liska, Ptacek. Hingegen hatten die aus Südosteuropa­ Vertriebenen deutsche Namen wie etwa Zimmermann, Aschenbrenner, Scherbaum, Haidinger. Wir kamen aus unterschiedlichen Betrieben. Diejenigen, die in feinen Maßschneidereien arbeiteten, bedauerten oft, dass sie nur die einfachsten Arbeiten machen durften und zu wenig lernten. Außerdem waren sie langsam, da sie ja in erster Linie sorgfältig arbeiten mussten. Andere, wie ich, wurden viel bei Änderungsarbeiten eingesetzt und weniger bei Neuanfertigungen. Ein Mitschüler, den ich bereits aus der Volksschule kannte, hatte bereits ein Jahr lang Damenschneider gelernt. Nichts davon, nicht einmal das Werkzeug einschließlich Nadeln und Fingerhut, konnte er in der Herrenschneiderei brauchen. In unserer Klasse gab es auch drei Mädchen. In den folgenden Jahren wurden die Burschen immer weniger und heute gibt es für diesen Beruf kaum noch Nachwuchs. Nach Beendigung der Schulzeit, aber noch vor den Gesellenprüfungen wurde für die Absolventenklassen eine Abschlussreise veranstaltet. Sie führte mit Autobussen über Radstatt nach Ramsau zur Lodenwalke, in die Porzellan­ manufaktur nach Gmunden und nach Lenzing in die Kunst­ faserfabrik.

Gewerkschaftsjugend Als ich zu arbeiten begann, hatte ich für Ministranten und Pfadfinder keine Zeit mehr, besuchte aber noch die wöchentlichen Heimabende in der Baracke, wenn es interessante allgemeinbildende Vorträge gab. Einmal unterhielt ich mich darüber mit einem Freund aus der Berufsschule. Er erzählte 63

von den Heimabenden der Gewerkschaftsjugend der Textilarbeiter im Meidlinger Fuchsenfeldhof und nahm mich einmal mit. Von da an, ab April 1952, ging ich jede Woche hin. Es war zeitlich ideal, weil ich nach der Arbeit gerade zur rechten Zeit hinkommen konnte. Die Teilnehmer waren durchwegs Lehrlinge aus den Bereichen Bekleidung, Textil, Leder, entsprechend der Gliederung der Arbeitsämter und Gewerkschaften: Schneider/innen, Schuhmacher, Tapezierer und Sattler. An vorderster Stelle stand Allgemeinbildung, und die Vorträge gingen quer durch alle Wissensgebiete. Ich hatte keinerlei Anpassungsprobleme, da ich seit Beginn meiner Schulzeit an Heimabende und Jugendgruppen gewöhnt war. Es gab Tischtennistische und Wettbewerbe mit anderen Sektionen, an denen ich auch teilnahm. Als einer der Besseren im Tischtennis wurde ich nach kurzer Zeit zum Sportreferenten der Gruppe gewählt und von da an zu Funktionärsschulungen eingeladen. Diese fanden meistens im Bildungsheim Hueber-Haus in HadersdorfWeidling­au statt. Der damalige Verwalter dieses Heimes hieß Hugo Pepper*. Er war Bildungsreferent des ÖGB und ein beliebter und sehr gefragter Rhetoriklehrer und Referent für Zeitgeschichte. Dort erwartete uns immer ein Seminarprogramm mit ausgezeichneten Referenten und vor allem eine gute Küche.­ Zur Jause gab es Brote mit Sardinenaufstrich und Tee, am Samstagabend eine kalte Platte, ebenfalls mit Tee, und am Sonntag Schnitzel. Geraucht hat niemand. Alkohol gab es keinen. Zwischen 1953 und 1965 verbrachte ich dort viele ­Seminarwochenenden und einmal eine ganze Woche bei ­einem Rhetorikseminar. Es gab immer auch Abendprogramme. Ein TV-Apparat wurde erst Ende der Fünfzigerjahre aufgestellt. Als ich nach fast 40 Jahren selbst als Referent zu einem Lehrgang der Ge64

werkschaftsschule in das Hueber-Haus eingeladen wurde, musste ich erstaunt feststellen, dass den Teilnehmern die Spesen ersetzt werden und das Bildungsreferat dennoch Mühe hatte, das Haus voll zu kriegen. Für mich hatte eine Teilnahme noch als Privileg gegolten. In umgekehrtem Verhältnis zu den Fortschritten in politischer Bildung stand meine Fügsamkeit gegenüber cheflichen Anordnungen im Betrieb, deren Notwendigkeit und Dringlichkeit ich immer öfter in Zweifel zog, je näher die Gesellenprüfung und somit das Ende der Lehrzeit kam. Zwei Wochen vor der Gesellenprüfung – es war noch im Urlaub und ich war mitten in der Prüfungsvorbereitung – erhielt mein V ­ ater von meinen Chefs einen Brief, worin sie sich über mein „firmenschädigendes“ Verhalten beklagten. Nach meiner mit den Bestnoten bestandenen Prüfung – von den Chefs kommentiert mit: „Also hast bei uns ja doch was gelernt“ – und gestützt auf meine als Jugendfunktionär erworbenen arbeitsrechtlichen Kenntnisse wuchs auch mein Selbstbewusstsein, und bald erfolgte mein Hinauswurf wegen Arbeitsverweigerung, den ich aber mit Hilfe der Gewerkschaft erfolgreich gerichtlich bekämpfte. 1954 wurde von den Volkshochschulen gemeinsam mit dem ÖGB eine Institution geschaffen, der ich sehr viel verdanke – die Lebensschule. Ich besuchte einen dreijährigen Lehrgang von wöchentlich zwei Abenden in einem Lehrsaal in der ÖGB-Zentrale, Hohenstaufengasse Nr. 10. Ziel war es, Berufstätigen Allgemeinbildung auf Maturaniveau zu vermitteln. Das Bildungsangebot war gewaltig. Nicht nur im Lehrsaal, sondern auch mit Exkursionen, Konzert- und Theater­ besuchen und Wochenendseminaren im Hueber-Haus. Die Zuhörerschaft bestand aus Lehrlingen und jugendlichen Arbeitern und Angestellten. Wir waren mehr als zwanzig, sechs bis acht davon aus unserer Meidlinger ­Jugendgruppe. Wir kamen samt unserem Obmann und hat65

ten beschlossen, in die Lebensschule zu wechseln und unsere Funktionen in der Textilarbeiterjugend aufzugeben. Anfang 1957 hatte Hugo Pepper ein paar von uns zur Teilnahme an einer Jugenddiskussionsrunde eingeladen, die allerdings nicht von ihm selbst, sondern von einem jungen Lehrer geleitet wurde. Er hieß Helmut Zilk und war angeblich auch recht gut. Wir waren eine Gruppe von sechs oder sieben jugendlichen Arbeitern, die an Samstagen nachmittags in der Maxingstraße in einem provisorischen TV-Studio zusammenkamen und dort an prominente Schauspieler oder an Politiker Fragen stellten. Vorher wurden wir auch noch geschminkt. Für mich war das gar nicht gut, weil ich nun nicht nur aus Nervosität, sondern auch durch die Wärme des Scheinwerferlichts ins Schwitzen kam. Wie saßen auf Sesseln im Kreis. Zilk war der Diskussionsleiter, heute würde es Moderator heißen. Es wurde direkt übertragen, und wir konnten uns selbst auf dem Bildschirm sehen. Die jährliche Abschlussreise führte uns jedes Mal mit dem Bus nach Innsbruck, wo wir zwei Wochen im Bildungsheim Hungerburg verbrachten und täglich mit Exkursionen verbundene Ausflüge quer durch Tirol und bis Verona unternahmen. Nach meiner Matura durfte ich noch einmal an einem zweiten und dritten Jahrgang der Lebensschule teilnehmen. Die Abschlussreisen führten uns wieder nach Tirol, aber auch nach Griechenland, wo wir eine Woche in Athen und eine auf dem Peloponnes verbrachten. 1965 wurde die Lebensschule eingestellt. Sie hatte elf Jahre lang bestanden.

Veränderungen Nach meinem Abgang vom Kleiderhaus schickte mich der Vermittler des Arbeitsamtes zunächst in einen sogenannten Nachschulungskurs. Dort kamen alle hin, die nach der Gesellenprüfung ihre Lehrstelle verlassen hatten. Schon damals dachte 66

ich mir, ich möchte beim Arbeitsamt lieber hinter dem Schalter sitzen als vor ihm stehen und auf eine Stellenvermittlung warten. Die Nachschulung dauerte drei Monate. Anschließend arbeitete ich bei einem Schneidermeister auf der Meidlinger Hauptstraße und dann in einem Industriebetrieb in der Porzellangasse mit circa sechzig Arbeiterinnen am Laufband. Oft gab es dort an Freitagen nicht genug Geld für die Löhne, und wir erhielten Akontozahlungen. Der Rest folgte ein paar Tage später. Es war eine Laufbandarbeit mit für ­jeden Arbeitsplatz minutengenau gleich lang bemessenen ­Arbeitsgängen. Am Beginn des Bandes wurden die zugeschnittenen Stoff- und Zubehörteile in eine Schachtel gelegt und diese nach erfolgter Bearbeitung zum nächsten Arbeitsplatz weitergeschoben und so fort, bis am Ende der Schlange das fertige Kleidungsstück in der Schachtel lag. Die letzten Stiche erfolgten händisch von einer eigenen Gruppe von Näherinnen, dann ging’s in den Bügelraum und zuletzt zum Knopfannähen. Um Punkt 7 Uhr begannen die Maschinen zu rattern. Wenn einer zu spät kam, stand schon ein Stapel von Schachteln bei seinem Arbeitsplatz, und die Weitergabe stockte. Dann musste ein anderer die Arbeit machen, der meistens in diesem Arbeitsgang keine Übung hatte und daher langsamer war. Ähnlich war es auch bei Krankenständen. Daher gab es auch keinen individuellen, sondern nur einen Betriebsurlaub. Um 9 Uhr pfiff der Betriebsrat auf einer leeren Zwirnspule, und das hieß: Pause. In diesen zehn Minuten wurden Getränke und Essen herausgeholt, und an Stelle des Maschinengeratters ertönten die Jausengeräusche. Die beiden ­Klosetts waren immer besetzt. Nach einiger Zeit kannte man aber bereits die Handgriffe seines Arbeitsganges und konnte es sich leisten, auch während des Bandlaufes aufs Klo zu gehen. Nach ein paar Schachteln war das Versäumte wieder eingeholt. Wenn die Belegschaft brav war, das heißt, gut und viel 67

gearbeitet hatte, durfte das Radio aufgedreht und „Vergnügt um 11“ gehört werden. Um 12 Uhr wurde zur Mittagspause gepfiffen, und um 12.30 Uhr ging es wieder los bis 17 Uhr. Von der Arbeitszeit her war ich im Vergleich zu meiner Lehrzeit sehr zufrieden, weil ich um 17 Uhr aus dem Betrieb kam und Samstag frei hatte. Nur die Bezahlung gefiel mir nicht. Schließlich meldete das Unternehmen den Konkurs an, und den Arbeitern wurden an Stelle der ausstehenden Löhne Gegenstände wie Nähmaschinen angeboten. Aber da war ich bereits weg und über das Arbeitsamt im Kostümverleih Lambert Hofer gelandet, wo auch Theaterund Filmausstattungen hergestellt wurden. Die Arbeit war dort recht interessant und abwechslungsreich, und es gab ständig Kontakte zu Wiener Theatern und zum Filmatelier am Rosenhügel. Unter anderem wurden Kostüme und Uniformen für „Der Kongreß tanzt“, „Die Deutschmeister“, „Oberst Redl“ und für das Theaterstück „Der brave Soldat Schwejk“ hergestellt, ein anderes Mal für „Max und Moritz“. Die Chefschneider in einem renommierten Theater oder in der Staatsoper hießen Garderober. Unter den Schneidern galt das als Adelsprädikat. Sie waren verantwortlich für die Kleidung der Schauspieler und konnten viele Anekdoten erzählen. Es war gerade Fasching, und viele Leute borgten sich Ballkostüme – Fracks oder Kleider, die eine Schauspielerin als Gräfin Soundso oder eine Opernsängerin als Aida getragen hatte. Damals war das Sissi-Kostüm sehr gefragt. Nach der Rückgabe mussten die Kleidungsstücke gereinigt und für den Wiedergebrauch hergerichtet werden. Für die Beseitigung von Flecken wurde Trichloräthylen verwendet. Es brannte in den Augen, und ich drehte beim Putzen immer den Kopf weg. Der Juniorchef, Lambert Hofer, war ein enger Freund von Niki Lauda und anderen aus der damaligen Wiener Jeunesse*. Er bedauerte, dass ich den Betrieb verließ und in den öffentlichen Dienst abwanderte. 68

Staatsdienst Etliche Gleichaltrige hatten bereits ihren Lehrberuf aufgegeben und waren in den öffentlichen Dienst eingetreten. Da waren Bahn, Post, Polizei und Gendarmerie im Gespräch oder aber auch das Auswandern nach Kanada oder Australien. ­Allein aus Erdberg trugen bereits drei Burschen und einer aus meiner Berufschulklasse die Gendarmerie- oder Zolluniform. Zwei aus dem Salesianum waren bei der Straßenbahn. In der Schneiderei hätte mich nur noch die Meisterprüfung weitergebracht, aber ein Gewerbeantritt (oder auch eine Betriebsratsfunktion) war damals unter 24 Jahren nicht möglich, und es hätte noch einiger Praxisjahre bedurft. Der Einstieg für Nichtmaturanten bei der Bahn wäre der Oberbau gewesen, bei der Post der Zustelldienst und bei den beiden anderen die Ausbildung in der Kaserne, wobei es bei der Gendarmerie noch die Unterscheidung zwischen A und B gab. Die „A“ war der normale Sicherheitsdienst und wurde für Niederösterreich und das Burgenland in der Wiener Rennwegkaserne ausgebildet. Die „B“ sollte den Kader für das – bereits geplante – Bundesheer stellen und hatte Kasernen in Hörsching in Oberösterreich und Landeck in Tirol. Also schrieb ich Aufnahmegesuche, und die erste Zuschrift kam vom Innenministerium. Nach mündlichen und schriftlichen Prüfungen sowie einem umfangreichen gesundheitlichen Eignungstest wurde ich einberufen, und zwar zur A-Gendarmerie auf den Rennweg. Man sagte mir, dort würden nur diejenigen aufgenommen, die bei der Prüfung gute Ergebnisse gezeigt hätten. Für mich, der sich schon auf Landeck eingestellt hatte, war das optimal, da ich nicht weit nach Hause hatte und – wenn es die Zeit zuließ – weiterhin die Lebensschule besuchen und die Kontakte zu meinen Freunden aufrechterhalten konnte. Mein Gehalt betrug etwas über 1000 Schilling netto im Monat. 69

Kaum war ich in der Gendarmeriekaserne, erhielt ich auch eine Einladung zur Polizeischule in die Marokkanerkaserne, aber ich blieb am Rennweg. Nach einigen Wochen Probezeit wurden wir „pragmatisiert“ und trugen den Amtstitel „Provisorischer Gendarm“. Diesen mussten wir jedes Mal sagen, wenn wir Meldung zu erstatten hatten – immer in der dritten Person und in Habt-Acht-Stellung. Jeder Vorgesetzte, dem zu melden war, musste wissen, wer der Untergebene war und in welcher Eigenschaft oder mit welchem Auftrag er gerade unterwegs war. Wir waren ungefähr zehn bis zwölf Burschen, die am 14. April 1955 in der Kaserne neu eintrafen. In den folgenden Tagen kamen noch etliche dazu. Gleich nach unserem „Einrücken“ mussten wir in einer nahen Papierhandlung blaues Packpapier und Reißnägel kaufen und damit die Fächer unserer Spinde austapezieren. Dann wurden wir belehrt, wie die Betten zu machen sind. Die Friseure in der Umgebung der Kaserne waren ausgebucht. Wenn ein junger Mann ins Geschäft kann, wusste der Friseur schon, was zu machen war, noch bevor der irgendwas gesagt hatte. Der über 1,90 Meter lange Nowak ließ sich aus Protest fast kahl rasieren. Die Ausbildner waren Absolventen früherer Jahrgänge. Ihre unmittelbaren Vorgesetzten waren Rayonsinspektoren, ebenfalls eingeteilte* Beamte. Diese unterstanden den sogenannten dienstführenden Beamten, den Revierinspektoren, und diese wiederum den Bezirksinspektoren. Leiter unserer Schulabteilung war ein noch um einen Rang höherer Kontrollinspektor. Über allen standen die leitenden Beamten, die Offiziere. Kasernenkommandant war der ehemalige Widerstandskämpfer Major Käs*. Alle hatten bereits in der deutschen Wehrmacht oder noch vor dem Krieg im österreichischen Bundesheer gedient und setzten nun deren Drill auf die Gendarmerieschüler um. 70

Wochentags hatten wir um 22.00 Uhr in der Kaserne zu sein. Am Samstagnachmittag hatten wir – nach dem Zimmerdurchgang ohne Beanstandung – bis Sonntag, 22.00 Uhr, frei. Das mussten wir aber immer extra beantragen. Unangesagte Zimmerdurchgänge gab es manchmal auch am Abend. Nach etwa drei Monaten, als wir schon exerzieren und mit Gewehren umgehen konnten, wurden wir regelmäßig zu Wach- oder anderen Diensten eingeteilt. Diese dauerten 24 Stunden, von 13 bis 13 Uhr. Aber bis man draußen war, dauerte es noch bis zu eineinhalb Stunden, da wir uns noch mit gereinigten Gewehren und Uniformen einer Inspektion zu stellen hatten. Wenn der Ausbildner noch Schmutz im Gewehrlauf vermutete, konnte man den Nachmittag und manchmal sogar den kompletten Ausgang vergessen. Ich war meistens entweder an einem Samstag oder an einem Sonntag zum Wach- oder zum Inspektionsdienst eingeteilt. In diese Zeit fielen der Abschluss der Staatsvertragsverhandlungen und die Unterzeichnung am 15. Mai 1955. Diesen Tag verbrachte ich auf der Zweier-Wache hinter dem großen, eisernen Tor an der Kreuzung Schlachthausgasse Simmeringer Hauptstraße Rennweg. Die Einser-Wache war beim Haupteingang an der Ecke Rennweg Oberzellergasse. Eigentlich durften wir Neuen wegen der mangelnden ­militärischen Ausbildung noch nicht auf die Wache – da es aber kein österreichisches Bundesheer gab, musste die Gendarmerieschule am Rennweg die Ehrenkompanien für die eingeflogenen Staatsmänner beistellen. Die B-Gendarmerie war dafür nicht geeignet, weil sie erstens nicht in Wien stationiert und zweitens im Exerzieren nicht öffentlichkeitsreif war. Am Rennweg hingegen wurde täglich exerziert und gedrillt; eine Ehrenkompanie lief daher immer perfekt ab, ähnlich wie seinerzeit das Ministrieren im Salesianum. Einmal wurde beim Morgenappell verkündet, die Justizwache benötige dringend Personal und wer will, könne sich 71

dafür melden, zunächst sei eine Probezeit vorgesehen. Aus beiden Kompanien meldeten sich etwa zehn bis fünfzehn Leute und wurden sofort überstellt. Sie machten Dienst in Gefangenenhäusern. Die meisten waren nach einigen Wochen wieder da und meinten, bei einem solchen Dienst komme man sich selber vor wie ein Sträfling, und das sei auf die Dauer nicht auszuhalten. Das Exerzieren erinnerte mich sehr an das Tanzsporttraining und machte mir daher auch keine Schwierigkeiten. Da wie dort wurden die Körperhaltungen korrigiert, aber im Unterschied zum Tanzlehrer klangen die Kommandos der Ausbildner meistens wie Hundegebell. Aber bald wurde auch der Kasernenhof zur Routine, und ohne die anfängliche Verkrampfung ging alles viel leichter. Es wurde viel Sport betrieben, und beinahe die halbe Belegschaft erwarb das Sportabzeichen. Das konnte erreicht werden, wenn man in bestimmten Disziplinen, wie Speer- und Diskuswurf, Kugelstoßen, Laufen, Hoch- und Weitsprung, Schwimmen etc. die erforderlichen Leistungen erbrachte. Dazu fehlte mir aber der Ehrgeiz, und so kam ich zu keinem Sportabzeichen. In der Kaserne gab es auch eine Schneiderwerkstatt, in der ein Meister namens Scheidl alleine arbeitete. Manchmal brauchte er Hilfe, und ich wurde, wie andere ehemalige Berufskollegen auch, stundenweise zu ihm abkommandiert. Schneiderkenntnisse waren bei den häufigen Näharbeiten aller Art an den Uniformen meiner Kompaniekollegen sehr gefragt. Meine „Ausgehuniform“ trug ich drei Mal. Einmal zeigte ich mich damit meinen Eltern, es war an einem Winterabend und bereits finster. Das zweite Mal auf dem Gendarmerieball in den Sophiensälen und das dritte Mal beim Fotografen kurz vor meinem Austritt. Außer exerzieren – meistens mit Stahlhelm und gepacktem Tornister – sowie Wach- und Inspektionsdienst gab es viel an72

deres, darunter jede Menge Rechtskunde, Deutsch, Waffen-, Sanitäts- und Verkehrsunterricht. Der theoretische Unterricht war sehr vielfältig. Relevante Gesetzesstellen, zum Beispiel der Waffengebrauch aus der Gendarmeriedienstinstruktion (GDI) oder der Diebstahlparagraph aus dem Strafgesetz, waren auswendig zu lernen. Später, beim Jusstudium, musste ich das nicht mehr. Für die Schießübungen gab es eine eigene Anlage im Keller. Am einfachsten war es mit den Kleinkalibergewehren. Schießen mit unseren eigenen 95er-Gewehren* war wegen der Lautstärke, wegen des Rückstoßes und der anschließenden Reinigungsarbeit ziemlich unbeliebt. Schließlich übten wir auch mit Pistolen, mit denen man noch so gut zielen konnte, aber nie traf, weil die Waffen ziemlich schwer waren und es einem immer die Hand verriss. Die Waffen mussten wir in ihre Bestandteile zerlegen, diese auswendig lernen und wieder zusammenfügen. Es gab auch ein Maschinengewehr, aber hier wurden nur die Bedienung und das Zerlegen und Zusammenbauen gelernt, nicht das Schießen. Am unangenehmsten war dabei das Schleppen der schweren Munitionskisten. Jeden Samstag gab es den Zimmerdurchgang. Da mussten wir vorher den Boden, den Tisch und die Hocker abschrubben, Fenster putzen, die Ausrüstung bis zum Hochglanz reinigen, einschließlich der Schuhsohlen, an denen kein Nagel fehlen durfte. Die in den Spinden abgelegte Wäsche war lineal­genau gefaltet. Wurden Mängel festgestellt, so hieß das dableiben und sich nach der behobenen Beanstandung wieder melden. Die Spinde waren abzuwischen und alles, was darin aufbewahrt war, exakt hineinzulegen. Auch der Ofen war zu putzen. Nebenbei war auch auf den Hocker und Bettenbau zu achten. Um 11 Uhr begann die Inspektion, und jeder musste in Uniform neben seinem Bett stehen und warten, bis der Diensthabende, meistens ein Revierinspektor, etwa 73

mit einem Unteroffizier vergleichbar, eintrat. Dann wurde gemeldet, und er sah sich der Reihe nach alles an. Anfangs waren die Zimmerdurchgänge gefürchtet, denn eine Beanstandung bedeutete im geringsten Fall ein längeres Dableiben und schlimmstenfalls ein Ausgangsverbot am Wochenende. Wir schufteten mit viel Streiterei ununterbrochen bis 11 Uhr, wurden nie fertig, und es gab immer noch Mängel. Nach und nach aber erkannten wir, worauf es ankam, und konnten alles mit Ruhe, viel Spaß und in kürzester Zeit erledigen. Am wichtigsten war, dass Fußboden, Hocker und Tisch feucht waren und nach Gewaschenem rochen. Der Rest war dann nur noch Fensterputzen und Staubwischen. Ein jeder hatte eine Herzeigegarnitur im stets aufgeräumten Spind. Im Herbst 1955 beschloss ich, zusammen mit einem Zimmerkollegen einen Maschinschreibkurs zu besuchen. Wir meldeten uns in der Handelsschule Weiss an und fuhren einmal in der Woche in die Neubaugase. Das war zeitlich möglich, denn wir waren fast immer zu Wochenenddiensten eingeteilt. Zum Training im Blindschreiben saß ich in den nächtlichen Bereitschaftsdiensten immer hinter einer Schreibmaschine und klopfte Gesetzesstellen ab. Später kam mir diese Fertigkeit sehr zugute. Mit dem Staatsvertrag wurde die Schaffung eines Bundesheeres aktuell. Es gab eine Abteilung im Innenministerium mit der Bezeichnung „5/Sch“ (Sch = Schulen), die in unserer Kaserne ihre Büroräume hatte. Sie war offenbar für die Kadererstellung zuständig, denn oft, wenn ich ab Sommer 1955 auf Wache war, kamen Männer mittleren Alters mit und ohne Empfehlungsschreiben und fragten nach dieser Abteilung. Oft wiesen sie uns auch ihre Referenzen vor. Es waren offenbar Leute, die wussten, dass da ein neuer Verwaltungsapparat im Entstehen war, und nach neuen Posten unterwegs waren. Mir gefiel die Errichtung des Bundesheeres nicht. Ich trug auf meinem 74

selbstgemachten Sakko mit den Lederknöpfen ein Abzeichen mit der Aufschrift „Militär? – Nein!“. Einer aus der Lebensschule, die ich weiterhin besuchte, wenn es die Zeit zuließ, hatte es mir aus Berlin, wo es ähnliche Probleme gab, mitgebracht. Ich war der Meinung, ein Grenzschutz müsste ausreichen. „Das Bundesheer erobert Wien“, lautete die Schlagzeile einer Wiener Tageszeitung. Als im Frühjahr 1956 das Bundesheer in Wien einzog, wurde unsere Kompanie zum Absperrdienst in den Inneren Burghof abkommandiert, denn die Wiener Polizei samt ihren Schülern aus der Marokkanerkaserne war dafür zu wenig. Wir sahen den Burschen vom neuen Bundesheer beim Einzug sehr amüsiert zu. Von Marschieren, wie wir es vom Kasernenhof her gewohnt waren, konnte keine Rede sein. Gleiches galt für die Gewehrgriffe. Alles erinnerte mich ein wenig an den Einzug der russischen Frontsoldaten im Krieg. Aber die Zuschauer, aufgerufen von den Medien, applaudierten trotzdem. Wir bekamen jetzt keinen Nachwuchs mehr und wurden deshalb andauernd zum Wach- und Inspektionsdienst eingeteilt. Es begann eine Austrittswelle und unser Häuflein wurde immer kleiner. Dazu kam meine wachsende Abneigung gegen die Offiziere. Sie waren „Leitende Beamte“, und wir hatten den Eindruck, dass ihnen, im Gegensatz zu den anderen, den „Eingeteilten Beamten“, alles erlaubt war. Auch die „Dienstführenden Beamten“, grauhaarige Revier- und Bezirksinspektoren, mussten ihnen entgegenlaufen, salutieren und Meldung erstatten. So wollte ich keinesfalls alt werden, und daher beschloss ich, meinen ursprünglichen Beruf wieder aufzunehmen und ohne Matura nicht wieder in den Staatsdienst zurückzukehren. Ich habe damals ausschließlich Antikriegsliteratur, vor allem Kästner, Kraus, Remarque und Tucholsky gelesen. Das mag auch einiges zu meinem Entschluss beigetragen haben. Sprüche wie „Paragraph 1: Der Vorgesetzte hat immer Recht. Paragraph 2: 75

Sollte er einmal nicht Recht haben, siehe Paragraph 1“ oder „Subordination ist das von Erfolg gekrönte Bemühen, dümmer zu erscheinen, als der Vorgesetzte ist“ waren meine Leitsätze. Ungefähr die Hälfte unserer 70-Mann-Kompanie trat aus. Die älteren Gendarmeriebeamten, die in der Kaserne Dienst versahen, schüttelten den Kopf, als beinahe jeden Tag ein Schüler seine Klamotten abgab und mit seinem Laufzettel unterwegs war. Wir alle waren doch bereits „pragmatisiert“. Aber uns Jungen war das egal, und besser bezahlte Arbeit gab es überall. Einige gingen zum neuen Bundesheer, zur Justizwache, zu Versicherungsgesellschaften. Einer wurde Fahrlehrer, ein anderer Fahrdienstleiter bei der Bahn, ein Schulfreund aus Erdberg ging zur Flugsicherung nach Schwechat; zwei wurden Chauffeure bei Coca-Cola, denn da verdiente man gut. Der Kasernenchef, Major Käs, war wegen der vielen Austritte wütend und gab, wie ich später von den Verbliebenen hörte, dem Bundesheer die Schuld. Gründe gab es einige: Beim Heer gab es nur selten Wachdienst, bessere Bezahlung, keinen Gehaltsabzug für die Verpflegung, bessere und raschere Aufstiegschancen, ein besseres Verhältnis zu den höheren Chargen, Geländeübungen statt Exerzieren mit Stahlhelm und Tornister usw. Schließlich wurde der Übertritt zum Heer untersagt. Ab September war ich nicht mehr dabei. Als ich zu Hause meinen Austritt mitteilte, setzte sich meine Mutter aufs Bett und weinte. Ich fand bald eine Stelle in der Änderungswerkstatt der Firma Kleider Bauer auf der Mariahilfer Straße. Nach drei Monaten war ich Vertreter des Werkstättenleiters in der Produktion und hatte nur noch aufzupassen, dass alles fehlerlos ablief. In die Zeit um Allerheiligen des Jahres 1956 fiel der Ungarnaufstand. Als die russischen Truppen einmarschierten und es in Budapest zu Kämpfen kam, sah man auch in Wien viele Einsatzfahrzeuge in Richtung Osten fahren. Die am Rennweg verbliebenen Gendarmen mussten für mehrere Wochen zum Grenzeinsatz in die Auffanglager. 76

Auf dem Weg zu Matura und Studium Im Herbst 1956 besuchte ich einen Zuschneidekurs in der Schneiderinnung am Judenplatz. Ich besuchte nun auch wieder regelmäßig die Lebensschule und politische Veranstaltungen, die manchmal auch im Porrhaus, damals das Haus der Gastgewerbegewerkschaft, abgehalten wurden. Die ungarische Sozialistin Anna Kéthly war dort, Peter Strasser, damals Jungstar der SPÖ, und Wolfgang Leonhard, der lange Zeit in der Sowjetunion zugebracht hatte. Es gab eine breite Diskussion über die sowjetische Intervention in Ungarn und viele Austritte aus den europäischen kommunistischen Parteien. Ich wollte mich gewerkschaftlich betätigen und ging nach einem Vorschlag meines Vermittlers am Arbeitsamt, des Herrn Verosta – alle nannten ihn „der Weiße“, weil er weiße Haare hatte –, in die ÖGB-Sektion in der Otto-Bauer-Gasse. Dort fand einmal in der Woche eine sprechtagähnliche Zusammenkunft von interessierten Mitgliedern statt. Mit meinen 21 Jahren war ich um vieles jünger als die anderen Funktionäre, kannte bis auf den Betriebsratsobmann der Firma Kleider Bauer niemanden und durfte Kaffee kochen. Nach zwei bis drei Wochen gab ich das auf. Die Abschlussreise unseres Lebensschuljahrgangs sollte in den ersten beiden Juliwochen stattfinden. Betriebsurlaub bei Kleider Bauer war im August. Ich entschied mich für die Teilnahme an der Reise und kündigte. Gleichzeitig bewarb ich mich beim ÖGB um eine Stelle als Gruppenleiter in einem Erholungsheim der Jugendfürsorge und wurde aufgenommen. Von September bis Weihnachten war ich in Sigmundsberg bei Mariazell und anschließend in Moosham bei Tamsweg. Die Heime wurden in vierwöchigen Turnussen mit Lehrlingen (circa 100 in Sigmundsberg, circa 180 in Moosham) im Alter von 14 bis 19 Jahren belegt. Wir Gruppenleiter (drei in Sigmundsberg und fünf in Moosham) hatten Ausflüge und 77

Exkursionen zu organisieren, die Tages- und Abendprogramme zu gestalten und für die Einhaltung der Nachtruhe zu sorgen. Exzesse gab es während meiner Dienstzeit keine, obwohl gerade damals die Halbstarkenzeit ihre Hochblüte hatte. Einige meiner Burschen konnte ich sogar zum Besuch der Lebens- oder der Arbeitermittelschule* animieren. Immerhin gab es im November 1957 eine „asiatische“ Grippewelle, die circa die Hälfte der Belegschaft erfasste. Viele Schlafräume wurden zu Krankenzimmern umfunktioniert, und meine Arbeit bestand überwiegend aus Fiebermessen und sonstigen Pflegediensten. Allerdings war das auch der ruhigste Turnus von allen. Anfang September 1958 fuhr ich direkt vom Jugendheim in Moosham zur Aufnahmsprüfung für die Arbeitermittelschule am Henriettenplatz im 15. Wiener Bezirk. Den Koffer ließ ich in der Gepäcksaufbewahrung am Westbahnhof. Ich wohnte nun wieder bei meinen Eltern und musste noch ein paar Wochen warten, ehe ich meinen Dienst beim Landesarbeitsamt Wien antreten konnte. Damit war mein Vorhaben in Erfüllung gegangen, nicht mehr vor, sondern hinter dem Schalter zu sitzen. Ein Jahr lang war ich im Erhebungsdienst und hatte Arbeitslosengeld- und Notstandshilfebezieher in ihren Wohnungen aufzusuchen, die Meldekarten abzustempeln und Erkundigungen über ihre wirtschaftlichen Verhältnisse einzuholen. Mein Rayon war hauptsächlich der zweite Bezirk, wo ich bald jedes Haus samt Hausbesorger kannte. Ich kam in sehr viele Wohnungen zumeist sehr armer Leute. In manchen Wohnungen waren die Kommoden wie Hausaltäre hergerichtet, und es hingen dort Fotos von im Krieg gefallenen Vätern, Ehemännern und Söhnen. Es war auch die Zeit, in der Kühlschränke, Staubsauger und Fernseher ihren Einzug in die Konsumwelt hielten. Solche Geräte hatte ich im Hinblick auf allfällige Exekutionen in den Erhebungsberich78

ten immer anzugeben. Als ich dann ab 1960 im Arbeitsamt Bekleidung im Innendienst eingesetzt war, erlebte ich die Einführung des Karenzurlaubsgeldes. Die Bezieherinnen waren als arbeitslos gemeldet, und auf ihre Meldekarten wurden groß die Buchstaben KUG aufgestempelt. Wir nannten sie deshalb „die KUG-Weiber“. Bis dahin hatten wir auch noch am Samstagvormittag Dienst. Die Arbeitermittelschule (AMS) dauerte viereinhalb Jahre, das waren neun Semester. Sie begann täglich, Montag bis Freitag, um 17.45 Uhr und endete gegen 21 Uhr. Es war ein regulärer Schulunterricht mit Klassenbuch, Benotung, Hausaufgaben, Schularbeiten etc., aber halt erst am Abend. Ich kam immer erst gegen 22 Uhr nach Hause und ging üblicherweise erst nach Mitternacht schlafen, weil ich die Mitschriften in Hefte übertrug. Für mich war das gleichzeitig eine Stoffwiederholung, und Nachtdienste waren seit Gendarmerie und Jugendheim nichts Neues. Die Mitarbeit in der Gewerkschaft musste aufgegeben und Vergnügungen stark eingeschränkt werden. Da es jedes halbe Jahr eine Abschlussprüfung in einem Gegenstand gab, musste ich meine Urlaube immer für die Prüfungsvorbereitung verwenden. Von meinen zwei Wochen ergab das eine im Februar und eine im Juni. Aus diesem Grund hatte ich keine Winterurlaube, lernte nicht Schifahren und besuchte im Sommer keine Freibäder. Diese Einteilungen habe ich später bis zum Studienabschluss beibehalten. Das einzig Zielführende war, sich auf die Schule zu konzentrieren. Kino – ausgenommen englischsprachige Filme im Burgkino – war eine pure Zeitverschwendung und kam erst nach der Matura wieder in Frage. Nur das Tanzen am Wochenende hielt ich aufrecht. Um mehr Zeit zum Lernen zu haben, verabschiedete ich mich kurz vor der Reifeprüfung vom Arbeitsamt und trat somit zum zweiten Mal aus dem öffentlichen Dienst aus. Mit dem Maturazeugnis versuchte ich es zunächst in meiner früheren Berufsschule. Aber mein ehemaliger Fachlehrer 79

im Werkstättenunterricht, ebenfalls ein AMS-Absolvent, riet mir davon ab, Berufsschullehrer zu werden. Da hätte ich die Meisterprüfung ablegen und vorher noch ein Praxisjahr machen müssen. Also wendete ich mich an die Gemeinde Wien und wurde nach den üblichen Aufnahmeprüfungen und -gesprächen der MA 59, dem Marktamt, zugeteilt, wo ich dann neun Jahre tätig war. Maschinschreiben und Stenographie waren damals – 1963 – Voraussetzungen für einen Maturantenposten beim Magistrat. Ersteres konnte ich bereits, und Steno war eine willkommene Gelegenheit, etwas zu lernen, das ich später bei vielen Gelegenheiten gut brauchen konnte. Die Kurse, ein bis zwei Mal pro Woche, und die Prüfungen in Abständen von ein paar Monaten gingen somit weiter. Nach den bereits erwähnten Anstellungsvoraussetzungen war für meinen Posten ein Lebensmittelkurs mit einer Prüfung in den Fächern Lebensmittelrecht bis hin zu den einschlägigen Erlässen, Lebensmittelchemie, Pilzbeschau, Veterinärkunde mit Vieh- und Fleischbeschau erforderlich. Wer die Prüfung nicht bestand, wurde in eine andere Magistratsabteilung versetzt. Der Unterricht fand ganztägig in der Lebensmitteluntersuchungsanstalt statt und dauerte drei Monate. 1964 folgte ein erster Teil eines Verwaltungslehrganges mit Schwerpunkt Gewerbeordnung und 1965 ein zweiter Teil mit anderen Inhalten. Zwischendurch hatten wir noch Prüfungen über das Maß- und Eichwesen abzulegen und später über die neu eingeführten Qualitätsklassen. Als das alles vorüber war und ich mir vorgenommen hatte, nie wieder zu einer Prüfung anzutreten, wagte ich es 1966, ein Jusstudium zu beginnen. Anfangs wollte ich ohnehin bloß schnuppern. Das hatte uns ein Physikprofessor der AMS empfohlen. Er meinte, wir sollten uns den Universitätsbetrieb nur anschauen, es koste ja nichts. 80

Wie gewohnt, saß ich nun wieder zweimal wöchentlich in Kursen. Ganz im Gegensatz zu meiner vorgefassten Meinung, die Tagesstudenten wären bloß verwöhnte Kinder, die alles von ihren Eltern bezahlt bekommen, fühlte ich mich unter ihnen sehr wohl, war als Berufstätiger keinesfalls ein Außenseiter, gewann neue Freunde und baute meine Vorurteile sehr rasch ab. Ich hatte den Eindruck, dass auf der Universität unter Studenten mehr Solidarität anzutreffen war als in manchen Betrieben unter den Arbeitern und Angestellten. Als ich die erste Prüfung auf Anhieb – wenn auch nicht grandios – bestand, machte ich weiter. Das 68er-Jahr verbrachte ich beruflich am Marktamt und schulisch an der Universität. Ich war mitten im zweiten, dem juridischen Studienabschnitt. Ich las zwar Zeitung – auf der Uni war die Presse um einen Schilling zu bekommen – und hörte Radio, aber Berichte über Krawalle in Paris oder Berlin mit Jugendlichen interessierten mich nicht sonderlich, und in Wien habe ich Derartiges nicht wahrgenommen. Ich war der Meinung, dass es den Studenten doch ohnehin recht gut ging und sie daher keinen Wirbel zu machen brauchten. Mir ist keinerlei Mangel aufgefallen. Von irgendeiner revolutionären Stimmung hier in Wien, auch auf der Universität, verspürte ich nichts. Dennoch gab es im Hörsaal 2 der Philosophischen Fakultät mit viel Geschrei und Chaos einige „Protestversammlungen“. Wogegen sie sich gerichtet haben, ist mir immer schleierhaft geblieben. Anwesende Professoren wurden zu Stellungnahmen aufgefordert, wenn sie aber zu antworten versuchten, sofort wieder niedergebrüllt. Ich habe trotz oder wegen meiner politischen Vorbildung nicht verstanden, was, warum und ob überhaupt etwas gefordert wurde. Zweimal ging ich hin, dann war mir das alles zuwider, ich hielt es für eine Zeitvergeudung. Schließlich wollte ich ja lernen und zu einem Studienabschluss kommen. 81

„Der wird sicher einmal Betriebsrat …“ Eduard Giffinger wurde am 20. November 1940 als Sohn eines Werkzeugmachers und einer Hausfrau in Wien geboren. Nach dem Pflichtschulabschluss absolvierte er eine Schlosserlehre in einem kleineren metallverarbeitenden Betrieb, später die Werkmeisterschule der Arbeiterkammer. 1962 trat er als Maschinenbauer in einen Großbetrieb des niederländisch-britischen Unilever-Konzerns ein. Zwischen 1969 und 1987 war Eduard Giffinger in diesem Unternehmen als Betriebsrat und Zentralbetriebsrat tätig. 1987 übernahm der Autor im Österreichischen Gewerkschaftsbund die Leiterstelle im neu gegründeten Referat für Betriebsarbeit, das die Interessen von Klein- und Mittelbetrieben besser wahrnehmen sollte. In dieser Funktion war er bis 2001 tätig, zehn Jahre davon auch als Kammerrat in der Kammer für Arbeiter und Angestellte. Sein beruflicher Rückblick wird hier leicht gekürzt wiedergegeben. Eduard Giffinger ist zum zweiten Mal verheiratet, hat eine Tochter und einen Sohn aus erster Ehe. Seinen Erfahrungsbericht adressiert er unter anderem an seine eigenen Nachkommen, für die er außerdem schon die Lebensgeschichte seines Vaters in einer Broschüre festgehalten hat. Eine umfassendere Dokumentation seiner gewerkschaftlichen Arbeit im Unilever-Konzern ist in Vorbereitung. Eduard Giffinger engagiert sich auch im Ruhestand auf lokaler Ebene noch vielseitig politisch, etwa für Mieterinteressen oder für interkulturelle Zusammenarbeit im Rahmen der Agenda 21 in seinem Wohnbezirk Liesing.

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Die Lehre, mein erster Kontakt zur Gewerkschaft Ich wurde am 20. November 1940 geboren, schließlich winkte den Müttern damals das Mutterkreuz. Meine Mutter hat aber sicher nicht mit dieser Prämie geliebäugelt. Mein Vater war SJ*-Obmann, und einige von den geschulten Funktionären wussten genau, wohin der Weg der Nazis führen würde. Ich kam mit fünf Jahren und zehn Monaten in die erste Klasse. Man muss bedenken: Es gab noch kein neuntes Schuljahr, und man war bei der Aufnahme in die erste Klasse nicht so genau. Dies hatte zur Folge, dass ich mit dreizehneinhalb Jahren die Schule verließ. 1953: Ein Königreich für eine Lehrstelle! Der Jahrgang 1940 war ein starker Jahrgang. Lehrstellengesuche bei Bahn, Post etc. – nur Absagen. Nach einem kurzen Gastspiel bei „Jugend am Werk“* konnte ich mit 14 Jahren, im November 1954, meine Lehrstelle antreten. Der Vater meines Schulfreundes wusste Rat: Es gab da eine kleine Firma – man würde sagen eine „Quetschn“* – mit immerhin 14 Beschäftigten im 7. Bezirk, in der Apollogasse. Das Büro fein ausgestattet, mit einem Buchhalter und einem klingenden Namen: Transportgeräte. Das war’s dann schon. Aber wir, mein Schulfreund und ich, waren glücklich. Jahre später wurde ich gefragt: Wie war dein erster Arbeitstag in der Lehre? Erst dann wurde mir bewusst – er war schrecklich. Würde man heute einen jungen Menschen in einen Keller schicken, um eine Stellage für Räder zu bauen ... Ich war 14 Jahre alt. Doch ich hab’s gar nicht so schlimm gefunden, hab mir aber vorgenommen, die Arbeitswelt zu verändern. Eines Tages: Der Altgeselle ruft im Chefbüro an, er möchte den Chef sprechen. Der ist auf Geschäftsreise in Deutschland. „Das ist gut“, meinte mein Geselle, „da kannst du für mich zur Gewerkschaft gehen und meinen Mitgliedsbeitrag ein83

zahlen.“ Somit war ich der erste Gewerkschaftskassier, ohne selbst Mitglied zu sein. So war ich unterwegs in die Albertgasse zur ÖGB-Zahlstelle. Irgendein Funktionär muss mich dort geworben und mir gleich den neuesten Kollektivvertrag der Metallarbeiter mitgegeben haben. Damit nahm das Schicksal seinen Lauf. Wir, mein Lehrlingskollege und ich, gingen zum Buchhalter und verlangten die inzwischen von der Gewerkschaft ausgehandelte Erhöhung des Weihnachtsgeldes. Der schaute verdutzt – so was war ihm noch nicht untergekommen – und ging dann zum Chef. Dieser donnerte aus seinem Büro: Diese „Liesinger“ – gemeint war unser Heimatort Liesing – bringen mich noch in den Ruin. Nach ein paar Tagen hatten wir unser Geld. Unser Ansehen bei den Kollegen war gewachsen. Nach einigen Jahren erfuhr ich, dass dieser Firmenchef seine Existenz darauf aufgebaut hatte, als sogenannter „Ehemaliger“* mit anderen „Ehemaligen“ diese Firma zu gründen. Damit war mir klar, dass einige meiner Arbeitskollegen sich immer ruhig verhalten haben. Für mich war das Erlebnis prägend. Hatte doch mein Klassenlehrer einmal zu meiner Mutter in der Sprechstunde gesagt: „Schaun S’, Frau Giffinger, der Bub ist im Rechnen gut, der kann ein guter Handwerker werden. In Deutsch ist er nicht so gut. Aber er ist Klassensprecher, der wird sicher einmal Betriebsrat, und dann hat er eine Sekretärin.“ Meine Mutter hat mir dies erst viel später erzählt. Es hat auch noch ein paar Jahre gedauert, bis sich diese Prognose erfüllt hat. Aber meine spätere Sekretärin hat immer den Kopf geschüttelt zu meinen Formulierungen in Briefentwürfen. Heute ist meine Sekretärin Abteilungsleiterin, es gibt ein Schreibprogramm, und meine Frau liest noch immer meine Artikel. So ist das Leben. 84

Vier Jahre später bin ich Geselle, habe die Lehrabschlussprüfung geschafft. Der nächste Schritt: Ich wechsle zur Firma Wertheim und baue Rolltreppen. Das erste Mal werde ich von einem Betriebsrat vertreten. Es kommt zu einer Betriebsversammlung in einer großen Halle. Ich stimme mit bei der Forderung nach einer Lohnerhöhung. Ich besuche die Werkmeisterschule der Arbeiterkammer Wien. Die Werkmeisterschule war sicher ein Vorteil auf meinen beruflichen Lebensweg. Ich war gelernter Konstruktionsschlosser und wollte Maschinenbauer werden. Allerdings waren die Verhältnisse auch andere als heute. In Zeiten von drei Prozent Arbeitslosigkeit, in Zeiten, wo sich ein Bruno Kreisky keine Sorgen um die Staatsverschuldung, sondern um die Arbeitslosigkeit machte, haben auch Unternehmer den Arbeitnehmern die Möglichkeit gegeben, im Betrieb etwas zu lernen. Als bei meiner Aufnahme in der Unilever* der Meister meinte: „Ich hätte gerne einen Packmaschinenmechaniker an Stelle eines Konstruktionsschlossers“, meinte der Ingenieur: „Es gibt keinen am Markt, ich gebe Ihnen drei Monate Zeit, lernen S’ ihm was!“ Das hat sich in den nächsten Jahren stark verändert. Dann wollte man nur mehr voll ausgebildete Leute. Sollten doch die anderen – wer immer das ist: Schule, Staat, AMS* – die Facharbeiter ausbilden.

Betriebsrat Begonnen hat es damit, dass der Meister einmal die Bemerkung machte: „Was will denn dieser Neue, dieser Giffinger? Der redet wie ein Betriebsrat.“ – „Was nicht ist, kann ja noch werden“, dachte ich. Schon des Öfteren hatten auch Kollegen gemeint: „Du bist doch in einer Jugendorganisation gewesen.“ Ich war inzwischen 28, eigentlich zu alt für die Jugend85

organisation. Gut, also kandidiere ich bei der nächsten Betriebsratswahl. Es war gar nicht so einfach. Unilever – früher Schicht* – war nach dem Krieg deutsches Eigentum*, danach USIA-Betrieb*. Die sogenannten „Roten“ waren gar nicht so gern gesehen. „Du bist ja nur ein Roter, weil dein Vater einer war.“ Diese Bemerkung war noch das Freundlichste, was ich zu hören bekam. Schließlich habe ich kandidiert, wir haben die Wahl gewonnen – mit einer Namensliste, ohne Fraktionsbezeichnung, aber jeder im Betrieb wusste, wo wir hingehören. Wir erhielten fünf von sieben Mandaten. Es gäbe noch viel zu erzählen. Ich möchte mich auf das Wesentliche konzentrieren und nur zwei Begebenheiten erwähnen: 1. Erster Versuch einer Kündigung: Es verging kaum ein Monat. Ich ging über den Fabrikshof und traf den Direktor: „Haben sie sich ordnungsgemäß von ihrem Arbeitsplatz abgemeldet?“ Natürlich sagte ich ja, und ich rief den Meister an. Aber es war zu spät. Der Direktor war schneller. In der nächsten Stunde war ich in der Direktion. Mir gegenüber saßen zwei Juristen, ein Personalchef und ein Direktor und lasen mir meine Rechte vor – aus dem Arbeitverfassungsgesetz (Kommentar Strasser). Nicht mit mir: Ich hatte das Arbeitsverfassungsgesetz (Kommentar Cerny, späterer AK-Direktor) und las ihnen den Absatz vor: „In besonderen Fällen ist die Abmeldung zur Betriebsratstätigkeit auch im Nachhinein möglich.“ 2. Der Streik: Es wird um 1970 gewesen sein. Wir prüften gemeinsam mit der Arbeiterkammer Bilanzen und merkten: Diesem Unternehmen geht es nicht nur gut, es ist wie ein Goldbergwerk. Die geringe Lohnquote, der Profit alleine bei den Rohstoffen brachte viel ein – wobei uns bewusst war, dass Unilever bereits im Ausland ihre Abschöpfungen bei der Lieferung der Rohstoffe machte. 86

Nun sind Kapitalisten auch sehr einfallsreich, und eines schönen Tages unterbrach Unilever die Lohnverhandlungen und drohte zugleich der Regierung mit der Einstellung der Thea-Produktion. Thea* war im Warenkorb der Konsumentenorganisationen. Eine Doppelmühle für uns. Allerdings gab es schon damals ältere KollegInnen in der Gewerkschaft, die uns beraten haben. Kurzerhand veranstalteten wir Informationsversammlungen, um 6 Uhr früh für die Frühschicht, um 14 Uhr für die Nachmittagsschicht und um 22 Uhr für die Nachtschicht – und das einige Tage lang. Betrieb abstellen, wieder anfahren, wieder abstellen war für die Betriebsorganisation nicht einfach. Dann wechselten wir die Strategie und machten die Versammlungen nur im Auslieferungslager. Es brach das totale Chaos aus. „Lieferunfähig“, sagten die für das Lager Verantwortlichen. Kleine Bäcker stellten sich vor dem Betriebstor an, um einige Karton Fett einzukaufen. Wir haben die Kleinen unterstützt, die Großen blieben draußen. Das Ergebnis war zum einen zwar ein Vertrag, dass wir vor dem „Auslaufen“ der Kollektivvereinbarung keine Aktionen mehr setzen; zum anderen gab es aber eine dementsprechend kräftige Lohnerhöhung und die Bezahlung aller Ausfallsstunden. Ein Novum, welches den Unternehmern sehr schwer gefallen ist. Wir haben ihnen einen Weg angeboten: Wir zahlen die Gelder aus. Für uns erst recht eine Gelegenheit, den Kolleginnen und Kollegen unseren Erfolg zu verkaufen. So stand ich als Kassier des Betriebsrats mit einer Namensliste im Speisesaal. Vor mir die KollegInnen angestellt: „Kollege Maier, wie viele nicht bezahlte Ausfallsstunden?“ – 15, 20 oder 35, mal einen bestimmten Durchschnittsverdienst – auch das fördert die Solidarität! Wir brauchten keine Streikunterstützung des ÖGB, denn es war kein Streik. In den Jahren 1978/79 war ich auf der Sozialakademie*. Nach der Rückkehr in den Betrieb – Unilever war ein Unter87

nehmen mit 4000 Beschäftigten und einer dementsprechenden Betriebsratsdichte – widmete ich mich der Koordination, aber auch der Aus- und Weiterbildung der Betriebsräte. In den insgesamt fünf großen Betriebsstätten – Atzgersdorf (Lebensmittel und die angeschlossene Allpack-Druckerei), Simmering (Waschmittel/Kosmetik: Omo, Elida), Großenzersdorf (Tiefkühlwaren: Iglo, Eskimo), Erdberg (Fisch: Nordsee) – sowie in der Zentrale und einigen kleinen Betrieben werkten etwa 100 bis 120 Betriebsräte, Ersatzbetriebsräte und Sicherheitsvertrauenspersonen. Diese Betriebsräte waren aufgeteilt in zehn Betriebsratskörperschaften, fünf Betriebsausschüsse, drei Zentralbetriebsratskörperschaften. Durch die in die Konzernvertretung entsendeten Vertreter konnten wir gegenüber der Konzernleitung besser auftreten. Ich war Betriebsratsvorsitzender-Stellvertreter, und mein damaliger Vorsitzender war auch Konzernbetriebsratsvorsitzender. Es gab genug zu tun, und wir haben in dieser Zeit auch viel erreicht. Abgesehen von Lohnabschlüssen, Sonderzahlungen, Betriebspensionen konnten wir auch im Bereich Arbeitnehmerschutz, Arbeitsplatzgestaltung bis hin zu kulturellen und sportlichen Aktivitäten unseren KollegInnen alles bieten. Damals wusste ich bereits: Es wird meine Arbeit nie mehr so von Erfolg gekrönt sein wie in dieser Zeit der Hochkonjunktur. Es gab zwei Gründe, warum ich trotz allem den Sprung in den ÖGB wagte. Zum einen war ich damals 47. Einige KollegInnen waren jünger, gut ausgebildet und hatten somit eine Chance, mehr zu machen. Zum anderen war die Aufgabenstellung eine Herausforderung.

ÖGB – ein neuer Anfang Ich möchte mit dem Jahr 1987 beginnen. Es war ein neuer Anfang für mich. Es war aber auch das erste Mal, dass alle 88

Gewerkschaften die Möglichkeit hatten, Kolleginnen und Kollegen für Aufgaben in die Dachorganisation des ÖGB zu entsenden. Es war das erste Mal, dass man nicht Metaller oder Privatangestellter sein musste, um Referatsleiter zu werden. Das war ein Verdienst des damals neuen Präsidenten Fritz Verzetnitsch, der alle Gewerkschaften aufforderte, KollegInnen aus ihren Reihen für die Dachorganisation vorzuschlagen. Dieses Bestreben nach dem „Gemeinsamen“ setzte sich auch weiterhin fort. Es war Leitlinie und Auftrag – auch meines direkten Vorgesetzten, des damaligen leitenden Sekretärs, Karl Drochter –, acht Landesleitungen, dreizehn Gewerkschaften, die Frauen- und Jugendorganisation zu fragen, wie diese zu dem einen oder anderen Problem stehen. Es war ein Versuch des Miteinander. Ich war faktisch für die Organisation ein Quereinsteiger: direkt aus dem Betrieb kommend, Betriebsrat, Zentralbetriebsrat und auch im Konzernbetriebsrat eines multinationalen Unternehmens. Voll Verwunderung stellte ich fest, dass Arbeiter- und Angestelltengewerkschaften doch nicht so freundlich miteinander umgingen. Verwunderlich deshalb, weil es auch schon damals in den Betrieben anders aussah. Dort gab es das Problem nicht. Dort arbeiteten Angestellte und Arbeiter im Betriebsausschuss zusammen. Das Angestellten-Arbeiter-Problem war – und ist – aus meiner Sicht ein Problem der Funktionäre. Noch mehr merkte ich damals auch zum ersten Mal den Unterschied zwischen den Gewerkschaften und dem ÖGB als Dachorganisation. Der ÖGB – das waren auch die 80 Bezirkssekretäre und -sekretärinnen, die regionale Organisation. So spürte ich bei der Teilnahme an einem Seminar über Arbeitslosigkeit, dass ich hier mit Befremden empfangen wurde. Ein Kollege sagte zu mir: „Es wundert mich, dass der ÖGB auch hier ist.“ – „Ich hab nicht gewusst, dass ich der ÖGB bin“, war 89

meine Antwort. Dieses Phänomen zog sich durch meine ersten Erlebnisse in der Organisation.

Das Referat für Betriebsarbeit KMU, kleine und mittlere Unternehmen – damals und auch noch heute ein Begriff, den jeder anders auslegt. Ein Begriff, den jeder verwendet. „Wir müssen die Klein- und Mittelbetriebe fördern“, heißt es in allen Publikationen der Unternehmer, der Gewerkschaften und der Europäischen Union. Für mich hatten Klein- und Mittelbetriebe eine andere Bedeutung. Eine Bedeutung, die diese auch heute nicht verloren haben. Kleinbetriebe sind meist finanziell besser ausgestattet, vor allem mit Eigenkapital, tun mehr für die Ausbildung und sind daher auch krisensicherer als Großunternehmen. In vielen Bereichen sind Mitarbeiter aus Klein- und Mittelbetrieben aus gewerkschaftlicher Sicht benachteiligt, beginnend bei der Entlohnung bis hin zum Arbeitnehmerschutz etc. Ich nahm mir vor, dies zu ändern. Schon in der Zeit als Betriebsrat war die Arbeiterkammer (AK) für uns ein Begriff. Unsere Denkfabrik, wie wir sie nannten, stand uns für Hilfe, Beratung, Forschung bereit. So half die AK mit Informationen vor Lohnverhandlungen, bei der Überprüfung der Bilanzen. Wobei die AK und ihre Volkswirtschaftler damals in der Hochkonjunktur, bei Inflationsraten über vier Prozent, uns auch schon zur Mäßigung bei unseren Lohnforderungen geraten haben. Unilever war schließlich ein Lebensmittelbetrieb, und Lohnerhöhungen hatten unmittelbare Auswirkungen auf die Inflation bzw. auf den Warenkorb. Als Kammerrat vertiefte sich die Zusammenarbeit mit der AK noch mehr. Ich war im Ausschuss für Arbeitnehmerschutz. Nach der Novellierung des Arbeitnehmerschutzgesetzes änderte sich die Position der Sicherheitsvertrauens90

personen. Dies erforderte eine Veränderung der Ausbildung. Gemeinsam mit der AK nahmen wir dies in Angriff. Ebenso kümmerten wir uns um die Schulung von Behindertenvertrauenspersonen. Doch zurück zu den Kernaufgaben unseres Referats, den Kleinbetrieben. Mein Schlüsselerlebnis war einer meiner ersten Besuche bei einem Betriebsrat in einem Kleinbetrieb. Wir trafen uns im Hof des Betriebes. „Können wir irgendwo reden?“, war meine Frage. „Natürlich“, war die Antwort des Kollegen, „gehen wir in die Garderobe.“ Später stellte ich fest: Der Garderobekasten – Spind genannt – war Aufbewahrungsort von Kleidung, sowohl für die Arbeits- als auch für Privatkleidung, aber auch Aufbewahrungsort der Unterlagen für den Betriebsrat. Er war sein Betriebsratszimmer. In diesem Augenblick wusste ich: Alles was im Arbeitsverfassungsgesetz stand, gilt für diese Betriebe nicht. Wir müssen diesen KollegInnen andere Möglichkeiten bieten. Ich möchte hier nur zwei Beispiele nennen: Betriebsräte aus Kleinbetrieben können nur sehr schwer Bildungsfreistellung in Anspruch nehmen. Unser Angebot waren Schulungen am Wochenende und Schnupperkurse in den Volkshochschulen unter dem Motto „Deine Rechte im Betrieb“. Wir brachten ein Betriebsratshandbuch heraus und eine handliche Broschüre im Taschenbuchformat: „Was Sie unbedingt wissen sollten“. Diese Broschüre gibt es seit 1993. Wir versuchten aber auch, unsere Hilfe für neue Betriebsräte in maßgeschneiderten Seminaren anzubieten oder Hilfestellungen im Betrieb zu leisten. Immer wieder wurde dem ÖGB vorgeworfen, er kümmere sich nicht um die Kleinsten, um die „Schwächsten“. Dabei wurde immer wieder das Beispiel der Fahrradboten genannt. Eines Tages standen sie bei uns im Büro: zwei Kollegen einer bekannten Radbotenfirma. Wir besprachen Möglichkeiten zur Durchführung einer Betriebsratswahl. 91

Das Arbeitsverfassungsgesetz ist leider noch immer auf den Großbetrieb ausgerichtet. Es gibt zwar ein vereinfachtes Wahlverfahren, aber selbst dieses ist im Kleinbetrieb sehr schwer durchzuführen. Beschäftigte werden unter Druck gesetzt, Aushänge werden vom Schwarzen Brett entfernt. Wir haben zwei Aktionen gestartet: Zum einen haben wir eine nächtliche Betriebsversammlung in einem Gasthaus abgehalten, um die Solidarität der Beschäftigten sicherzustellen. Zum anderen wurde der Unternehmer aufgefordert, die gesetzlichen Bestimmungen einzuhalten – nicht nur von unserer Seite. Auch die Interessenvertretung der Unternehmer forderte nach Rücksprache mit uns dieses und in der Folge auch andere kleinere Unternehmen auf, den gesetzlichen Grundlagen zu entsprechen. Nicht alle haben sich daran gehalten, doch eines Tages war es so weit: Der erste gewählte Betriebsrat in einem Fahrradboten-Unternehmen war gegründet. In Krisenzeiten gewinnen Kurzarbeitszeitmodelle immer mehr an Bedeutung. Alle Maßnahmen, die zur Vermeidung bzw. zur Überbrückung von Arbeitslosigkeit beitragen können, müssen von Gewerkschaften gefördert werden. Das Schlimmste für Arbeitnehmer ist der Verlust des Arbeitsplatzes. Neben den finanziellen Problemen stellen sich auch psychische und physische Probleme ein. Das Problem ist nicht neu. Schon in früheren Zeiten gab es Arbeitslosigkeit. Wenn Betriebe in Konkurs gingen, blieben die Arbeitnehmer auf der Strecke. Neben dem Insolvenzrecht zur Absicherung der Arbeitnehmer haben Gewerkschaften schon früh begonnen, weiter zu denken. Wir haben daher schon sehr früh, so um 1996, gemeinsam mit der Arbeiterkammer mit einer Veranstaltung begonnen, auf das Instrument der Arbeitsstiftung* aufmerksam zu machen. Mit dem damaligen Mitarbeiter der Sozialpolitik der AK, Mag. Fritz Meißl, tourten wir durch Österreich und besichtigten verschiedene Stiftungsmodelle. Fritz Meißl ist heute Geschäfts92

führer im WAFF (Wiener ArbeitnehmerInnen Förderungsfonds) und kann somit vielen Arbeitnehmern helfen, in neuen Berufssparten Fuß zu fassen.

Schlusssatz: Ich werde heuer 70 Jahre alt. Ich werde meinen Geburtstag – in kleiner Runde – zu folgendem Resümee nutzen: Liebe Enkel, Neffen, eure Generation hat voraussichtlich noch 60 bis 70 Jahre vor sich. Wir können euch dann nicht mehr helfen. Ihr werdet in einer Welt stehen, an deren Entwicklung ihr nicht ganz unschuldig seid. Denn jene, die dann die Verantwortung tragen, leben heute auch schon. Ihr trefft sie vielleicht beim Besuch der nächsten Disco oder begegnet ihnen im nächsten Urlaub. Vielleicht waren sie am letzten Ball der rechtsradikalen Studentenverbindungen in der Hofburg – hoffentlich nicht. Eines ist aber von besonderer Wichtigkeit: Immer und überall muss man versuchen, mitzubestimmen, denn wie Gewerkschafter schon immer gesagt haben: Wenn wir nicht Politik in Form von Mitbestimmung machen, machen andere Politik – nicht für uns, sondern gegen uns.

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„Mein Berufswunsch war Elektriker …“ Hans Königsberger wurde am 24. Dezember 1941 als zweites Kind eines Bahnrichters und einer Hausfrau geboren und wuchs in einem Bahnwärterhäuschen bei Hainfeld im niederösterreichischen Mostviertel auf. Nach der Pflichtschule absolvierte er in einem Kleinbetrieb in seinem Heimatort eine Elektrikerlehre. Der Arbeitsalltag in seinem Lehrbetrieb von Mitte der 1950er bis Ende der 1970er Jahre steht im Mittelpunkt der folgenden Erzählung. Danach nahm er eine Stelle als Betriebselektriker in einem größeren Unternehmen an und beendete seine berufliche Laufbahn als Hauselektriker und Betriebsrat in einem Urlaubs- und Seminarhotel der Arbeiterkammer Wien im Annental nahe Hainfeld. Als Betriebsratsvor­sitzender war er zuletzt noch in die Verhandlungen um einen Sozialplan für die Beschäftigten der AK-Einrichtungen involviert, da diese 2001 aus Kostengründen geschlossen wurden. Hans Königsberger ist verheiratet, Vater von drei Kindern und lebt in Hainfeld. Ich bin Jahrgang 1941 und kam mit 14 Jahren aus der Schule; den Polytechnischen Lehrgang gab’s damals noch nicht. Mein Berufswunsch war Elektriker, und so fragten mein Vater und ich bei der NEWAG* (heute EVN) wegen eines Lehrplatzes. Dort sagte man uns, dass nur die vier, fünf Besten der Aufnahmeprüfung – 1955 war diese Prüfung Bedingung – aufgenommen werden. Ich traute mir diese Leistung nicht zu, und so wurde ich Lehrling in einem Elektroinstallationsbetrieb. (Die Prüfung schaffte ich später als Gruppenbester, aber da war es für die NEWAG schon zu spät.) 94

Die Arbeitsbedingungen zur damaligen Zeit könnten sich die Lehrlinge von heute nicht mehr vorstellen. So musste ich zum Beispiel mit dem Fahrrad, vollgepackt mit Material, Werkzeug und Installationsrohren, in einen zwölf Kilometer entfernten Ort zur Arbeit fahren. Natürlich noch auf einer Sandstraße und mit Steigungen, wo ich das Rad schieben musste, denn Gangschaltung hatte mein Rad nicht. Eine andere Baustelle – ein großes Wohnhaus – war zehn Kilometer entfernt. Auch hier bin ich drei Wochen lang hingefahren. In der Früh hin und am Abend retour, ebenfalls teilweise mit Sandstraße und Berg dazwischen. Später, als schon Sechzehnjähriger, kaufte ich mir ein Moped, welches zu dieser Zeit 3600 Schilling (rund 262 Euro) kostete. Meine Lehrlingsentschädigung betrug circa 202 Schilling netto monatlich (rund 15 Euro). Aber 1958 kam ein schwerer Rückschlag. Ich erkrankte an Kinderlähmung und hatte damals viel Glück, dass ich überlebte. Es gab noch keine Impfungen. Meine linke Hand wurde durch die Lähmungen stark beeinträchtigt, und so musste ich mein weiteres Berufsleben sehr umstellen. Mein Traum, später als E-Lokführer zur Bundesbahn zu kommen, war ausgeträumt. Aber es musste ja trotzdem weitergehen. Im Winter musste ich einmal bei minus zehn Grad und viel Schnee zu einem Landwirt fahren. Mit dem Moped. Dort angelangt, hatte ich im Freien beim Zählerkasten Installationsarbeiten durchzuführen. Ich bekam eine Jause und heißen Tee, was mich zu dem Zeitpunkt sehr freute. Leider sagte der Landwirt dann zu meinem Chef, er verlange einen Preisnachlass, weil ich ohne Tee nicht weiterarbeiten hätte können! Am Abend, beim Nachhausefahren, vereiste der Vergaser meines Mopeds mehrmals, sodass ich für eine Fahrtstrecke von elf Kilometern circa eineinhalb Stunden brauchte. Später kaufte der Chef ein Motorrad, mit dem ich dann Sommer wie Winter bei Sonne und Regen, Kälte, Schnee oder Glatteis unterwegs war. 95

Einmal fuhren ein Kollege und ich mit dem Motorrad, einer PUCH SG 250, zu einem 15 Kilometer entfernten Ort. Aufgrund von Regen war das letzte Stück Zufahrtsweg zum Haus, ein sogenannter Hohlweg, sehr aufgeweicht. Wir blieben mit dem Motorrad im Dreck stecken und mussten die letzten 500 Meter, bepackt mit Werkzeug und Material, zu Fuß zurücklegen. Speziell im Winter gab’s immer wieder Stürze mit Moped oder Motorrad, die aber Gott sei Dank glimpflich verlaufen sind. Als nächstes Fahrzeug kaufte der Chef einen PUCH Haflinger Allrad. Das war natürlich eine enorme Erleichterung beim Erreichen der oft 30 bis 40 Kilometer entfernten Baustellen. Trotzdem blieben manch widrige Umstände am Arbeitsplatz (Neubau, keine Fenster, Minusgrade). War man da nicht schnell, gefror der Gips beim Anheften der Leitungen. Ein anderes Mal bauten wir eine Straßenbeleuchtung im Winter. Was die Hygiene anbelangt, gab’s manchmal auch negative Erlebnisse, die erwähnenswert sind. Es kam öfter vor, dass wir bei Kundschaften verpflegt wurden und auch übernachteten. In Erinnerung geblieben sind mir stark verschmutzte Trinkgläser, einmal Mehlwürmer in der Schnitzelpanier, Maden in gekochtem Selchfleisch, stark verschmutztes Trinkwasser, weil der Brunnen neben dem Misthaufen war, muffige, feuchte Bettwäsche und als Krönung einmal sogar Wanzen, die meinem Kollegen arg zusetzten. Genauso zu erwähnen sind aber auch die vielen guten Plätze, wo wir bestens verpflegt wurden, gute Betten hatten und im Winter der Schlafraum geheizt wurde. Zu dieser Zeit waren die Sicherheitsbedingungen am Arbeitsplatz oft ganz schlecht bis gefährlich. Arbeitsgeräte ohne Schutzvorrichtungen, schlechte Absicherung gegen Stürze, mit Stricken zusammengebundene Holzleitern, keine Absaugung beim Stemmen und Fräsen von Mauerwerk, wackelige Gerüste usw. Eine „Meisterleistung“ war der Arbeitsbehelf 96

laut Skizze. Ein Kollege – der schwerere – stand innen am Pfosten als Gegengewicht und der leichtere Kollege machte außen Anschlussarbeiten an der Konsole:

Trotz aller geschilderten Unannehmlichkeiten gab’s natürlich auch immer wieder schöne Zeiten und Arbeiten, sodass ich meine Berufswahl nicht bereute. Ein Beispiel: In den Sechzigerjahren wurden von uns viele Häuser installiert, wo erst Stromnetze gebaut wurden (Freileitungen, Erdkabel). Im Winter diente dann ab 15 oder 16 Uhr Petroleumlicht als Beleuchtung bei unserer Arbeit. Nach Fertigstellung der Installation bauten wir manchmal einen (illegalen) provisorischen Stromanschluss, und es gab zum ersten Mal elektrische Beleuchtung. Das waren dann Stunden zum Feiern! Anfang 1970 lernte ich meine Frau kennen, und 1973 haben wir geheiratet. Das Kennenlernen war nicht sehr schwierig, denn wir arbeiteten beide in derselben Firma. 1974 und 1976 wurden unsere Kinder geboren (1974 ein Mädchen, 1976 ein Bub und ein Mädchen – Zwillinge). Obwohl ich 1980 die Firma verließ, möchte ich einen Punkt nicht unerwähnt lassen: Es gab immer wieder Zeiten, in denen keine oder fast keine Arbeitsaufträge da waren. Wir 97

wurden aber deshalb nicht – wie heute meist üblich – gleich gekündigt, sondern mehr oder weniger mitgezogen. Wir erledigten dann im Haus und Garten des Chefs andere Arbeiten, aber unser Arbeitsplatz und die Bezahlung blieben erhalten. Ich verließ also 1980 die Firma, wo ich so lange beschäftigt war, und ging in eine Fabrik als Betriebselektriker. Aber bereits Ende 1982 kamen Probleme. Der Firma ging es nicht gut, es wurden 70 von 400 Beschäftigten gekündigt. Ich musste von den Elektrikern in die Produktion wechseln; bleiben konnte ich nur, weil ich Alleinverdiener mit drei Kindern war. Aber hier war die körperliche Belastung für mich zu schwer (etwa wenn ich mit meiner behinderten Hand Schraubenkisten von bis zu 80 Kilogramm heben sollte). 1983 verließ ich die Fabrik und kam als Hausarbeiter und Hauselektriker in ein Urlaubshotel der Wiener Arbeiterkammer. Hier konnte ich meine beruflichen und andere handwerkliche Fähigkeiten voll einsetzen. Bereits 1984 wurde ich Kassier beim Betriebsrat und später dann Betriebsratsvorsitzender. Die Zeit im Annental* war der schönste Teil meines Berufslebens, obwohl es natürlich auch hier verschiedene Probleme gab (14 Kilometer Anfahrt von zu Hause, speziell im Winter oft eine schwierige Strecke, Sonn- und Feiertagsarbeit etc.). Finanziell war es in den beiden ersten Jahren ein spürbarer Rückschritt, aber das wurde aufgrund meiner beruflichen Qualifikation durch Umstufungen im Gehaltsschema ausgeglichen. 1987/88 wurde das Urlaubshaus gesperrt und völlig umgebaut. Das Personal wurde in dieser Zeit nicht entlassen, sondern nach Möglichkeit für Hilfsarbeiten beim Umbau eingesetzt. 1998 kam ein schweres gesundheitliches Problem auf mich zu. Ich musste mich einer Herzoperation unterziehen und bekam vier Bypässe. Obwohl mir von vielen Bekannten angeraten wurde, danach in Frühpension zu gehen, wollte ich unbedingt wieder arbeiten, und bereits sechs Monate später war 98

ich wieder im Einsatz. Die ersten drei Monate habe ich nur drei Tage pro Woche gearbeitet, und jeweils zwei Tage wurden vom alten Urlaubsanspruch abgebaut. Dadurch konnte ich mich anfangs mehr schonen. Im Jahr 2000 bis 2001 musste ich noch als Betriebsratsvorsitzender mit meinen Kolleginnen einen Sozialplan für unsere Belegschaft ausverhandeln, da die Arbeiterkammer Wien das Urlaubshaus 2001 sperrte. Ich konnte 2001 in Pension gehen und bin nun – wie es meine diversen „Wehwehchen“ zulassen – ein regsamer Pensionist.

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„Meine berufliche Lektüre waren Versicherungsbedingungen …“ Peter Ulrich Lehner geboren am 16. August 1941 und aufgewachsen als Sohn eines Gemeindebediensteten und einer Kindergärtnerin in Wien, beschreibt im Folgenden seine Eindrücke aus den ersten 20 von insgesamt 45 Dienstjahren bei der Wiener Städtischen Versicherung. Er war von 1956 bis 2001 in verschiedenen Abteilungen dieses Unternehmens tätig. Nach Absolvierung einer kaufmännischen Lehre und langjähriger Tätigkeit als Schadens­referent wechselte er Mitte der 1970er Jahre in die neu entstandene Presseabteilung, wo er persönliche Neigungen und Interessen besser mit betrieblichen Erfordernissen vereinbaren konnte. Er war Redakteur einer Betriebszeitung, veranstaltete Vortragsreihen für die Beschäftigten, begründete durch seine unternehmens- und versicherungsgeschichtlichen Studien eine eigene Abteilung für historische Grundlagenforschung und zeichnete in diesem Zusammenhang für mehrere umfassende Publi­ kationen zur Geschichte des österreichischen Versicherungswesens und der Gewerkschaft der Versicherungsangestellten verantwortlich. Zugleich engagierte er sich auch in gewerkschaftlichen und gemeinwirtschaftlichen Zusammenhängen, war eine Zeitlang Vorsitzender der Betriebsfraktion sozialistischer Gewerkschafter sowie Mitbegründer und Redakteur der Zeitschrift „mitbestimmung. zeitschrift für demokratisierung der arbeitswelt“. Als Mitglied des Bundes sozialistischer Freiheitskämpfer/innen, Opfer des Faschismus und aktiver Antifaschist/inn/en gab er 2009 eine Anthologie lyrischer Beiträge zum Thema „Widerstand und Freiheitskampf“ heraus. 100

Mit der Zurückdrängung des gemeinwirtschaftlichen Prinzips im Versicherungswesen und der zunehmenden Ausrichtung des Unternehmens nach neoliberalen Konzepten wurden die von Peter Ulrich Lehner initiierten innerbetrieblichen Arbeitsfelder ab Mitte der 1990er Jahre schrittweise wieder aufgelöst. Der folgende Beitrag gibt nur den Anfang bzw. etwa ein Drittel eines umfassenderen beruflichen Rückblicks des Autors wieder.

Berufseintritt Am 16. August 1941 in Wien geboren, trat ich am 1. Oktober 1956, nach fünf Klassen Gymnasium (in der fünften Klasse war ich im Fach Mathematik gescheitert) als kaufmännischer Lehrling in die Wiener Städtische Wechselseitige Versicherungsanstalt ein. Sie war damals ein gemeinwirtschaftliches Unternehmen und hatte (und hat heute noch) ihren Sitz am Schottenring 30 in Wien-Innere Stadt. Ihr Bürogebäude, der mit 20  Stockwerken und einem 20 Meter langen Wettersignalmast insgesamt 93 Meter hohe Ringturm, war das erste Bürohochhaus in Österreich. Mit seinem Bau war, glaube ich, im Juni 1953 begonnen worden, am 14. Juni 1955 wurde er feierlich eröffnet. Er war viele Jahre hindurch die Attraktion in Wien; einige Zeit hindurch gab es sogar eigene Publikumsführungen. An einer nahmen auch meine Eltern und ich teil, ohne zu ahnen, dass ich dort einmal meine 45 Jahre lange Dienstzeit zubringen würde. Rechtsgrundlage meiner Aufnahme war das Jugendeinstellungsgesetz. Es war 1953 vom Parlament beschlossen worden, weil die Geburtenjahrgänge des Zweiten Weltkriegs mittlerweile in das erwerbsfähige Alter gekommen waren. Damals befand sich Österreich noch unter der Oberhoheit der vier Befreiungsmächte England, Frankreich, Sowjetunion und USA, weshalb seine politische und wirtschaftliche Zukunft noch ungewiss war. Der Gesetzgeber musste aber dafür sorgen, 101

dass Großunternehmen die auf den Arbeitsmarkt strömenden jugendlichen Arbeitskräfte aufnahmen und ausbildeten. In die Städtische wurden „schubweise“ mehrere Jugendliche zugleich aufgenommen. Wir wurden zuerst einem Test unterzogen, und jene, die ihn bestanden, wurden später brieflich zum Dienstantritt eingeladen. Die erwachsenen Kolleginnen und Kollegen nahmen uns im Wesentlichen freundlich bis wohlwollend auf und an. Ich wurde der Schadensabteilung für den Kraftfahrzeugbereich zugewiesen (sie befand sich im zweiten Stock) und kam dort in eine Arbeitsgruppe, deren Aufgabe es war, für die Schadensfälle Akten anzulegen. Die Aktenanlage erfolgte aufgrund einer Schadensmeldung oder eines anderen Dokuments, etwa eines Forderungsschreibens. Dafür wurde ein Aktumschlag mit einer Nummer versehen und in einer Kartei registriert. Eine eigene Arbeitsgruppe sorgte für die händische Beschriftung sowohl des Aktes als auch seiner Karteikarte. In dieser Beschriftungsgruppe waren fast nur Kolleginnen tätig. Sie alle hatten eine leserliche Handschrift. Zusätzlich waren aus dem Zentralarchiv im Keller die betreffenden Polizzenakte auszuheben und aus der Inkassoabteilung Zahlungsauskünfte zu besorgen. Das versicherte Risiko musste überprüft werden, denn Versicherungsschutz wurde nur gewährt, wenn es keinen Prämienzahlungsverzug gab. Die für die Abwicklung benötigten Akte mussten aus den Aktenschränken ausgehoben werden oder waren, wenn sie nicht abgelegt waren, zu suchen. Wurden sie vorübergehend nicht gebraucht oder waren sie erledigt, so wurden sie in den Aktenschränken wieder numerisch abgelegt. Diese Tätigkeiten wurden uns Neuaufgenommenen zugewiesen. Vor allem durch die Aktensuche kam ich viel in der Abteilung und auch außerhalb davon herum und gewann erste Eindrücke vom gesamten Aufgabengebiet beziehungsweise darüber hinaus. Auch die Sozialkontakte zu den anderen Jugendlichen 102

konnten dadurch gepflogen werden. Die Mitarbeiter/innen in der Schadensabteilung waren im Wesentlichen die Sachbearbeiter/innen der Schadensfälle, die Schreibkräfte sowie Manipulations- und andere Hilfskräfte. Weiters gehörten eine Arbeitsgruppe, die die Schadensauszahlungen verrechnete, medizinische und einige Jahre später auch angestellte Kraftfahrzeug-Sachverständige sowie sogenannte Erhebungsbeamte dazu. (Die um diese Zeit noch vorherrschende Berufsbezeichnung „…beamte“ geht auf die Zeit der Monarchie zurück. In Abgrenzung von den Staatsbeamten wurden die in der Privatwirtschaft tätigen Angestellten als „Privatbeamte“ beziehungsweise differenzierend als „Bankbeamte“ oder „Versicherungsbeamte“ und Ähnliche bezeichnet.)

Büroalltag Die Schreibkräfte arbeiteten an mechanischen Schreibmaschinen, großteils noch an Modellen aus der Zwischenkriegszeit, und hatten große Schreibmengen zu bewältigen. Eine ältere Kollegin hatte sogar noch eine alte, klapprige Underwood mit einem dazugehörigen Holzkoffer, an die sie sich während der Jahrzehnte sehr gewöhnt hatte. Als einige Jahre nach meinem Eintritt im Zuge einer Neuorganisation des Schreibwesens moderne Schreibmaschinen zum Einsatz kamen, bedeutete dies für die Kollegin eine zu große Umstellung. Da sie nur mehr einige Monate bis zur Pensionierung hatte, wurde sie, unter Beibehaltung ihres Aufgabengebiets, gastfreundlich von einer anderen Arbeitsgruppe in deren Räumen aufgenommen. Eine solche Kollegialität war damals im Unternehmen noch verhältnismäßig stark verbreitet. Im Verlauf der 1960er Jahre kamen elektrische Schreibmaschinen und Kugelkopfschreibmaschinen zum Einsatz. Glaublich ab Anfang der 1980er Jahre wurden Schreibautomaten eingesetzt, Geräte, in die Texte eingegeben wurden, 103

die formatiert werden konnten, ehe sie ausgedruckt wurden. Standardisierte Briefe, in die individuelle Daten einzusetzen waren, gab es als Drucksorten. Für die individuelle Korrespondenz baten die Sachbearbeiter/innen Schreibkräfte zum Diktat. Es gab auch schon vereinzelt Diktiergeräte (die ersten wurden im Unternehmen ab 1931 verwendet), aber in größerem Rahmen dürften sie erst im Verlauf der 1960er Jahre zum Einsatz gekommen sein. (Die früher vorhandenen dürften im Zuge der Bombardierung des Unternehmenshauptsitzes Ende des Zweiten Weltkriegs zerstört worden sein). Diese persönlichen Diktate waren zwar „zeitraubend“ (zumal häufig Telefonate oder Interventionen aus dem Parteienverkehr dazwischenkamen), förderten aber den kollegialen Zusammenhalt. Der Einsatz von Diktiergeräten ersparte den Schreibkräften die Stenogrammaufnahme, „bannte“ sie dafür aber länger an die Schreibmaschine. Wenn ein Verkehrsunfall durch die Behörde aufgenommen wurde und zu Gericht kam, waren für die Schadensabwicklung die Abschriften der behördlichen und gerichtlichen Unterlagen notwendig. Diese besorgten externe Kräfte, die gegen Zeilenhonorar entlohnt wurden. Es waren dies meist Frauen mittleren Alters oder darüber, vielleicht auch Kriegerwitwen, die sich zu ihrem kargen (Witwen-)Einkommen – wenn sie überhaupt ein solches hatten – noch was dazuverdienen mussten. In den frühen 1960er Jahren nahm ich in verschiedenen Zimmern unserer Abteilung eine Zeitlang ältere weibliche Schreibkräfte wahr, die in einer vom ÖGB eingerichteten Schreibstube betreut wurden. Der ÖGB bemühte sich, sie in kommerziellen Bürobetrieben unterzubringen. Vielleicht waren das auch erste Aktivitäten des 1959 vom ÖGB ins Leben gerufenen Berufsförderungsinstituts. Die Vervielfältigungstechnologie war noch bescheiden und stand nur eingeschränkt zur Verfügung. Ich musste öf104

ters Schriftstücke zur Fotokopie tragen und von dort wieder abholen. Dies war mir willkommen, weil sich die Fotokopierstelle 13 Stockwerke höher befand. Da ich damals noch kein überzeugter Treppensteiger war wie heute, benutzte ich den Aufzug, auf den ich meistens länger warten musste. Es dauerte seine Zeit, bis er auf seiner 21 Stockwerke umfassenden „Fahrt“ alle Einstiegs- und Ausstiegshalte absolvierte. So ergab sich für mich sozusagen eine dienstliche Pause. Außerdem arbeitete im 15. Stock eine junge Kollegin, die mir sehr gefiel und der ich zufällig zu begegnen hoffte. Dies war aber eher selten der Fall. Die Fotokopierstelle bestand aus zwei Tischen. Auf der einen Tischfläche befanden sich das Belichtungs- und das Entwicklergerät, auf der anderen lagen die fertigen Kopien. Ein freundlicher älterer Kollege legte die Schriftstücke mit der Textseite nach unten auf die Glasplatte des Belichtungsgeräts, stellte die Belichtungszeit ein und drückte los. Nach Ablauf der Belichtungsphase entnahm er das Fotopapier, brachte es in eine Entwicklungslösung ein und trocknete dann diese Kopie mit einem Haarföhn. Da sich das Fotopapier durch den Trocknungsvorgang einzurollen begann, wurde es anschließend flach beschwert. Diese Kopien waren verhältnismäßig teuer, weshalb ein entsprechender Auftragsschein vorgelegt werden und von einem Vorgesetzten unterschrieben sein musste. Einmal wäre ein etwa 30 bis 40 Seiten umfassender Gerichtsakt zu kopieren gewesen. Weil das zu teuer gewesen wäre, musste eine Kollegin diesen Akt „abtippen“. Das hat natürlich mehrere Stunden gedauert, aber ihre anteiligen Gehaltskosten waren geringer als die Fotokopierkosten. Ab den frühen 1960er Jahren wurden immer leistungsstärkere Fotokopiergeräte zum Einsatz gebracht. Es begann mit einem, sodann zwei Geräten, die an verschiedenen Stellen im Ringturm aufgestellt wurden und an denen eigene 105

Kopierkräfte tätig waren. Die Fotokopien mussten zunächst weiterhin bewilligt werden. Erst im Laufe der 1970er, Anfang der 1980er Jahre wurden im Unternehmen in jeder Abteilung oder jedem Stockwerk zumindest ein Fotokopiergerät aufgestellt, das von den Angestellten selbst zu bedienen war. Die Telefonapparate waren in meinen frühen Berufsjahren ausschließlich mit Wählscheiben ausgestattet; Tastenapparate waren noch nicht entwickelt. Auf ihnen war – neben den Öffnungen für die Fingerkuppen – die Buchstabenfolge IFABRUMLYZ angebracht, die Öffnungen auf der Wählscheibe gaben den Blick auf die unter ihr befindlichen Ziffern 1 bis 0 frei. Die Telefonanschlüsse waren durch eine Kombination aus einem Buchstaben und fünf Ziffern charakterisiert, für die Städtische, glaube ich, U 28 590. Telekommunikationshistoriker können die Hintergründe dafür sicher kompetent erklären, als Laie vermute ich, dass diese Kombination das Merken der Anschlusscharakteristik erleichterte. In Wirklichkeit war es aber stets nur eine Ziffernkombination, weil sich unter jeder Öffnung für die Fingerkuppe eine Ziffer befand, so beim Buchstaben U die Ziffer 6. Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, lautete die Nummer der ­Städtischen nach der Umstellung auf ein rein numerisches Charakteristiksystem 63 97 50. Einige Jahre später ermöglichte die weiterentwickelte Technologie eine Verkürzung auf 63 39, und dann konnte zur gewünschten Nebenstelle direkt weitergewählt werden. Die telefonischen Fernverbindungen („Interurbangespräche“) unterlagen in meinen ersten Berufsjahren einer Genehmigungspflicht. Waren Telefonate in ein anderes Bundesland oder gar ins Ausland notwendig, so bedurfte es einer von einem Vorgesetzten unterfertigten Anforderung. Diese brachten wir Manipulationskräfte in eine andere Abteilung zu der Kollegin, die für die Abrechnung der Ferngespräche 106

verantwortlich war. Sie kontaktierte die Telefonzentrale und diese stellte daraufhin die Verbindung mit dem Besteller her. Dieser Modus wurde allmählich lockerer gehandhabt, so dass Ferngespräche gegen nachträgliche Zusendung des Anforderungszettels direkt bei der Telefonzentrale bestellt wurden. Die Weiterentwicklung der Telefontechnologie führte schließlich dazu, dass jede/r berechtigte Sachbearbeiter/in von ihrem/seinem Anschluss aus Fernverbindungen selbst herstellen konnte. Die Kollegin, die für die Abrechnung der Ferngespräche verantwortlich war, bediente auch den elektrischen Fernschreiber. Dieser war notwendig, weil auf schriftlichem Weg Informationen weiterzugeben waren, für die der traditionelle Postweg zu lange gedauert hätte. Das galt zum Beispiel für Entscheidungen bezüglich Berufungen gegen ein zivilgerichtliches Urteil knapp vor dem Ablauf der Berufungsfrist oder für Ermächtigungen zu einer Angebotserhöhung, um eine Klagseinbringung fristgerecht zu vermeiden. Eine bloß telefonische Weisung sollte wegen der Möglichkeit eines akustischen Missverständnisses vermieden werden. Die Fernschreibformulare mussten ebenfalls von einem Vorgesetzten gezeichnet werden. Noch in der Ersten Republik, glaublich Ende der 1920er Jahre, waren im Unternehmen Hollerithmaschinen* angeschafft worden. Die Städtische war nach der Verwaltung der Stadt Wien die zweite Institution in Österreich, die sich dieser Datenverarbeitungstechnologie bediente. Mit ihren näheren technischen Einzelheiten beziehungsweise mit der Typologie der eingesetzten Apparate und Aggregate war ich allerdings nicht vertraut. Ich nahm diese Entwicklungen nur durch Veränderungen in den eigenen Arbeitsabläufen wahr, etwa durch den Wegfall der Einholung händisch ausgefertigter Prämienzahlungsauskünfte und Ähnliches. Oder ich las in 107

den Unternehmenszeitschriften fallweise einen Beitrag über die Inbetriebnahme des neuesten Großrechners und andere technologische Neuerungen. Im Verlauf der 1960er Jahre wurde die Rolle der Programmierer immer bedeutsamer, so dass sie sogar ein eigenes Gehaltsschema durchsetzen konnten. Auch der eine oder andere Kollege aus der Schadensabteilung wechselte in die „Hollerithabteilung“ und konnte dort eine bessere Karriere einschlagen, als er sie an seinem bisherigen Arbeitsplatz gefunden hätte. In den 1980er Jahren dürfte ihre Bedeutung für die Datenbewältigung wieder zurückgegangen sein. Da ich mich aber für diese Technologie nicht so sehr interessierte, verknüpfe ich mit der diesbezüglichen Entwicklung auch keine besonderen Erinnerungen.

Betriebliche Atmosphäre Aufgrund der familiären Sozialisation war es für mich selbstverständlich, bei meinem Eintritt in die Wiener Städtische auch der Gewerkschaft beizutreten, ebenso der Österreichischen Gewerkschaftsjugend (ÖGJ) und der Sozialistischen Jugend Österreich (SJÖ), die in der Städtischen eine Betriebsgruppe hatte. Die Städtische beziehungsweise ihre jüngste Wurzel aus dem Jahr 1898 war von ihrer Gründungsgeschichte her eng mit der Stadt Wien (und daher ursprünglich mit den Christlich­ sozialen) verbunden. Da Wien seit 1918 von einer SP-Mehrheit geführt und verwaltet wurde, wurde sie zu einer Wirtschaftseinrichtung im Dienste dieses Roten Wiens und stand bei den Angehörigen der Arbeiter/innenbewegung in hohem Ansehen. Das war auch in der Zweiten Republik bis in die 1990er Jahre so. Viele Eltern wollten ihre Kinder dort unterbringen. Als ich zum Dienstantritt eingeladen wurde, stand im Brief, dass ich mich „beim Unterfertigten“ melden sollte, das 108

war der Betriebsratsobmann. Das mutete mir sympathisch an. Ebenso sympathisch empfand ich es, dass wir Jugendlichen von den Erwachsenen großteils mit „Du“ angesprochen wurden. Später boten uns viele das Du-Wort an. Viele von ihnen waren Genoss/inn/en, und das „Du“ war in der Arbeiter/innenbewegung damals selbstverständlich. Die Städtische war als gemeinwirtschaftliches und mit der Stadt Wien verbundenes Unternehmen innerhalb der Versicherungsbranche ein sozialpolitischer Spitzenreiter. Die nachfolgenden Einzelheiten gebe ich aus dem Gedächtnis wieder, sie sind daher unvollständig und vereinzelt vielleicht auch ungenau. Wir Jugendlichen erhielten neben unserer Lehrlingsentschädigung auch Sachleistungen in Form einer Wochenkarte (oder Fürsorgefahrscheine?) für die Straßenbahn, täglich einen Viertelliter Milch und eine Gratis-Essensmarke pro Arbeitstag. Eine Betriebsküche stellte qualitativ hochwertige Mittagessen in Normal- und Schonkostvariante her und hielt Menüs für Diabetiker/innen bereit. Die Angestellten konnten auch zu Hause gekochtes Essen mitbringen, das in der Betriebsküche gewärmt wurde. Es gab auch ein Betriebsambulatorium. Die Städtische hatte als erstes Versicherungsunternehmen die 40-Stunden-Woche und bald danach die 5-Tage-Woche eingeführt und blieb bei der weiteren Arbeitszeitverkürzung stets um eine Stunde vor der Gesamtbranche. Es gab 15 Monatsgehälter, später kam noch eine weitere Sonderzahlung in Höhe eines halben Monatsgehalts dazu. Eine von der Städtischen gemietete Pension am Semmering stand als Urlaubs- und Schulungsquartier zur Verfügung. Im Ringturm gab es einen Turnsaal, wo ein- oder zweimal die Woche unter Anleitung eines Vorturners Gymnastik geübt wurde. Ein Foto-Entwicklungslabor („Dunkelkammer“) ermöglichte den Angehörigen der Fotosektion die Herstellung ihrer Positive zu Selbstkosten. 109

Viele der zahlreichen Kultur- und Sportsektionen des Betriebsrats bestehen, neben neu gegründeten, heute noch. Zur Zeit meines Eintritts in die Städtische gab es einen Winter- und einen Sommer-Arbeitszeitbeginn, die eine halbe Stunde auseinanderlagen, jedoch noch keine Gleitarbeitszeit. Der neue Vorstand war dem Interesse der Angestellten gegenüber, den Sommer-Arbeitszeitbeginn das ganze Jahr hindurch einzuhalten, aufgeschlossen und veranstaltete im Betrieb eine demokratische Abstimmung darüber, die eine klare Mehrheit für die Beibehaltung ergab.

Berufliche Weiterentwicklung Neben der betrieblichen Ausbildung durch Anlernen und interne Schulungen erfolgte auch eine außerbetriebliche Berufsausbildung, damals noch durch eine Institution ohne Öffentlichkeitsrecht. Das waren vom Verband der Versicherungsunternehmen, der Unternehmerorganisation, gestaltete zweijährige Kursjahrgänge, in denen wir Lehrlinge mit dem kaufmännischen Schriftverkehr, dem kaufmännischen Rechnen und mit Grundbegriffen des Versicherungswesens vertraut gemacht sowie in Staatsbürgerkunde unterrichtet wurden. Auch Maschinschreiben und Stenographie gehörten dazu. Es gab eine Abschlussprüfung mit Zeugnis. Darüber hinaus bestanden in einigen Unternehmen, so auch in der Versicherungswirtschaft, sogenannte Scheinfirmen, unvollständige „Nachbildungen“ des Betriebs im Kleinen. Dabei dürfte es sich um eine Berufsbildungsinitiative der Gewerkschaft der Privatangestellten gehandelt haben, die damals in ihrer Zeitschrift „Der Privatangestellte“ regelmäßig darüber berichtete. Es wurden sogar Scheinfirmen-Messen abgehalten. In der Städtischen gab es ebenfalls eine Scheinfirma (der Kollege, der dazu den Anstoß gegeben hatte, war in der Scha110

densabteilung tätig). Ich hatte diese Einrichtung nicht sehr beachtet, weil ich mehr an politischen Themen interessiert war, und weiß daher nicht mehr, wie beziehungsweise wodurch ich eine Zeit lang in die betriebliche Scheinfirma involviert war. Jedenfalls war es so, dass ältere und berufserfahrene Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Abteilungen in der Scheinfirma jugendlichen Berufsangehörigen berufliches Wissen an Hand praktischer Beispiele aus ihrem jeweiligen Arbeitsgebiet vermittelten. Zwischen September 1960 und Juni 1961 studierte ich an der Sozialakademie* der Wiener Arbeiterkammer und war für diese zehn Monate vom Unternehmen freigestellt; die Arbeiterkammer hatte der Städtischen für diese Zeit meine Gehaltskosten rückvergütet. Anschließend war ich vom Oktober 1961 bis Juni 1962 Präsenzdiener beim österreichischen Bundesheer. Nach der Rückkehr in das Unternehmen wurde ich allmählich als Schadensreferent (Sachbearbeiter) eingeschult. Zunächst hatte ich für einige Zeit Korrespondenzarbeiten an der Schreibmaschine zu erledigen und dann einige Monate Erhebungen durchzuführen, ehe ich direkt in die Sachbearbeitungstätigkeit einbezogen wurde. In diesem Aufgabengebiet hatte ich laufend und hauptsächlich mit den Versicherungsnehmer/inne/n sowie mit den bei einem Verkehrsunfall Geschädigten beziehungsweise deren Rechtsanwält/inn/en zu tun. Durch diese Arbeit kam ich mit zahlreichen und vielfältigen Bereichen in Berührung. Sie umfassten vor allem juristische, aber auch technische, medizinische und betriebswirtschaftliche Gesichtspunkte. Meine berufliche Lektüre waren Versicherungsbedingungen, einschlägige Gesetze, Behördenakten, Gerichtsakten, Krankengeschichten, Sachverständigengutachten und Ähnliches. Das angelesene Wissen konnte ich im Laufe der Jahre durch Gespräche mit erfahrenen Kolleg/ 111

inn/en, Jurist/inn/en, Ärzt/inn/en, Techniker/inne/n und anderen Sachverständigen konsolidieren, so dass mich dieses Berufsfeld lange Zeit bereicherte. Bedrückt haben mich allerdings die menschlichen Schicksale, die aus den Schadensakten zu mir sprachen. Menschen, die durch einen Unfall ihr Leben verloren hatten oder deren weiteres Leben durch schwere Verletzungen und weitere Unfallfolgen in andere Bahnen gelenkt wurde. Oder die verzweifelten Hinterbliebenen von Unfallopfern, wo manchmal die zur Verfügung stehende Versicherungssumme nicht ausreichte, um alle materiellen Folgeschäden nachhaltig abzudecken. Im Zuge des damit verbundenen Parteienverkehrs lernte ich viele Einzelschicksale, aber auch zahlreiche interessante Menschen sowie Berufskolleg/inn/en aus anderen Versicherungsunternehmen kennen. Insgesamt vollzog sich in den ersten beiden Jahrzehnten meiner Berufstätigkeit eine anfangs ungeahnte Aufwärtsentwicklung der Motorisierung der österreichischen Bevölkerung, die sich unmittelbar auf mein Arbeitsgebiet auswirkte. Die damit zusammenhängende Kraftfahrzeugversicherung wurde zu einem Schlüsselzweig der Versicherungswirtschaft. Allein die Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung führte sowohl Halter/inne/n und Lenker/inne/n von Kraftfahrzeugen als auch Unfallopfern die Nützlichkeit einer Versicherung vor Augen. Sie ersparte Kraftfahrzeughalter/inne/n im Schadensfall die wirtschaftliche Belastung durch eine Entschädigungsverpflichtung gegenüber einem Unfallopfer und befreite das Unfallopfer von der Sorge, zwar einen Entschädigungsanspruch zu haben, diesen aber von der/dem Schädiger/in nicht erfüllt zu bekommen. Dieser grundsätzlich positive Wesenszug bewirkte längerfristig eine Einstellungsänderung in der Bevölkerung gegenüber einer Versicherung mit. (Die Versicherungswirtschaft war durch die Leibrentenprobleme nach dem Ersten Welt112

krieg und den Phönix-Krach* im Jahr 1936 nachhaltig in Misskredit geraten.) Da in den Haushalten die ersten Wohlstandsgüter angeschafft wurden, die wirtschaftlich schützenswert waren, erhöhte dies die Bereitschaft, auch eine Wohnungs-, Haushalts- oder Eigenheimversicherung beziehungsweise eine Zivilhaftpflichtversicherung abzuschließen. Beim Kauf eines fabrikneuen Kraftfahrzeuges wurde, zumindest für die ersten Jahre, eine Kaskoversicherung, vielleicht sogar eine Rechtsschutzversicherung oder eine Insassenunfallversicherung mit abgeschlossen. Erst nachdem die Motorisierungswelle ab der Mitte der 1970er Jahre eine gewisse Sättigung zu erreichen begann, wurde die Kraftfahrzeugversicherung in ihrer Bedeutung durch andere Versicherungszweige verdrängt, zuletzt durch die Lebensversicherung.

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„Am Schraubstock wollte ich nicht in Pension gehen …“ Stefan Reitgruber wurde am 12. Juli 1945 als einziges Kind eines burgenländischen Vaters und einer französischen Mutter geboren und wuchs in WienAlsergrund auf, wo die Eltern 1948 eine Hausbesorgerwohnung bezogen. Sein Vater war gelernter Maurer und arbeitete als Polier bei einem großen Bauunternehmen. Stefan Reitgruber begann 1960 eine Mechanikerlehre in der Automobilfabrik Gräf & Stift in Wien-Döbling und verbrachte sein gesamtes berufliches Leben bis zur Pensionierung im Jahr 2005 im gleichen Unternehmen, das nach mehreren Fusionen bzw. Übernahmen gegenwärtig unter dem Namen MAN Nutzfahrzeuge Österreich AG firmiert und seinen Hauptsitz in Steyr in Oberösterreich hat. Stefan Reitgruber war in dem Unternehmen anfangs als Arbeiter, ab 1974 als Angestellter, später als Mitglied des Angestelltenbetriebsrats und von 1989 bis zur Pensionierung als stellvertretender Vorsitzender desselben tätig. Sein ausführlicher beruflicher Rückblick kann hier nur in gekürzter Form wiedergegeben werden, vor allem die Ausführungen zur Arbeit als Betriebsrat sind nur in Ausschnitten dokumentiert. Ein besonderes persönliches Tätigkeitsfeld des Autors bis heute – die Betreuung des Firmenarchivs und der Aufbau einer Oldtimer-Sammlung unter der Trägerschaft des Vereins zur Förderung historischer Kraftfahrzeuge der Österreichischen Automobilfabriken ÖAF Gräf & Stift AG – muss gänzlich ausgeblendet bleiben (http://www.historische-fahrzeuge.at). Wissenswertes aus hundert Jahren Firmengeschichte wurde 2001 vom Autor gemeinsam mit Gerhard Bruner in dem Buch „Hundert Jahre 114

Fahrzeugbau in Wien“ veröffentlicht. Stefan Reitgruber ist verheiratet und Vater einer erwachsenen Tochter. Mein Vater hatte den Wunsch, dass ich die HTL* für Hochbau in der Schellinggasse besuchen und wie er ins Baugewerbe einsteigen sollte. Ich wusste eigentlich nicht so recht, was ich wirklich wollte, und ging eben zur Aufnahmsprüfung. Ich bestand und lernte Mauern zu berechnen. Bald erkannte ich aber, dass mich das überhaupt nicht interessierte. Aber wie bringe ich das meinem Vater bei? Der Fachvorstand nahm mir das ab. Er sagte meinem Vater, dass es wohl besser sei, ich verlasse die Schule freiwillig, bevor sie mich rauswerfen. Da fragte mich mein Vater, was ich eigentlich machen wolle. Das statische Bauen interessierte mich nicht, aber alles, was sich bewegte, also Mechanik, das wäre was. Höhere Schule kam für meinen Vater nicht mehr in Frage, also musste eine Lehrstelle gesucht werden. Die meisten Lehrstellen nahmen ihre Lehrlinge im September nach den Ferien auf. Bis dahin war aber ein halbes Jahr zu überbrücken. Dass ich zu Hause blieb, kam für meinen Vater nicht in Frage. Ich konnte die Zeit bis zum Lehrbeginn auf seiner Baustelle – es war dies der Flughafen Schwechat – als Hilfsarbeiter arbeiten. Ich hatte natürlich sehr wenig Begeisterung dafür, aber ich fügte mich. Ich radelte täglich mit dem Fahrrad aus dem 9. Bezirk zum Flughafen und abends wieder zurück. Bei jedem Wetter. Wenn ich mit dem Bus fahren wollte, hätte ich ihn von meinem Lohn bezahlen müssen. Von meinem Lohn musste ich auch Essgeld meiner Mutter geben. Ich weiß nicht mehr, wie viel das war, und ich wusste damals auch nicht, dass meine Eltern dieses Geld auf ein Sparbuch legten, um es mir später als Zuschuss für die erste eigene Wohnung wieder zu geben. Mein Vater kannte den Personalchef der Automobilfabrik Gräf & Stift*. Er sprach mit diesem über mich und löcherte 115

den Herrn so lange, bis der zusagte, mir eine Lehrstelle als Mechaniker zu geben. Bei seinem ersten Gespräch mit mir ließ dieser keinen Zweifel daran, dass er das nur für meinen Vater machen und diese Entscheidung wahrscheinlich bald bereuen würde. Ich könne am 2. September 1960 im Döblinger Werk meine Lehre beginnen. Ich erinnere mich noch sehr genau an meinen ersten Arbeitstag. Die Fabrik von Gräf & Stift kannte ich ja schon. Vis-à-vis war damals die Schokoladefabrik Bensdorp. Dort konnte man gesammelte Schokolade-Einwickelpapiere abgeben. Für 100 Papierschleifen vom Einschillingriegel bekam man drei solche Schokoriegel. Meine Mutter hat diese immer gesammelt, und ich konnte dann die Papiere gegen Schokolade eintauschen. Bei diesen Tauschaktionen war mir natürlich die Autofabrik auf der anderen Straßenseite aufgefallen, und ich hatte oft zugeschaut, wenn dort die Laster aus und einfuhren. Mir gefiel die Vorstellung, dort zu arbeiten, womöglich auch bald mit diesen imposanten Fahrzeugen zu fahren, oder zumindest wesentliche Bauteile dafür zusammenzustellen. Allerdings kam die Ernüchterung mit dem ersten Arbeitstag. In der Verständigung der Firma stand, dass ich mich pünktlich um 7 Uhr beim Werkseingang einzufinden habe. Ich war schon um halb sieben da, worauf mich der Portier anknurrte, ich solle dort nicht im Weg herumstehen. Alle Leute die in die Firma kamen, grüßten den Portier. Manchen nickte er hoheitsvoll mit dem Kopf zu, andere ignorierte er, aber es gab auch welche, da machte er in seiner Loge hinter der Glaswand eine Verbeugung, dass ich dachte, jetzt knallt er mit seinem rötlichen, knollenartigen Riechorgan aufs Pult. Um 7 Uhr war das Häufchen neuer Lehrlinge auf circa 15 angewachsen; wir wurden vom Lehrlingsausbildungsmeister abgeholt und zum Arbeiterbetriebsrat gebracht. Dort begrüßte uns mit launigen Worten der Vorsitzende (damals 116

noch der „Obmann“). Ich glaube, er gab uns auch gleich die Beitrittserklärungen zur Gewerkschaft zum Ausfüllen, aber da bin ich nicht mehr sicher. Vielleicht betonte er auch nur die Vorzüge der Gewerkschaft, und der Beitritt erfolgte erst später. Ich war jedenfalls beeindruckt vom Betriebsrat, weil er eine eigene Bibliothek für die Dienstnehmer unterhielt. Man konnte die unterschiedlichsten Dinge bei ihm billig kaufen, vom Arbeitsgewand – das gab es nicht von der Firma, sondern musste mitgebracht werden – bis zu Seifen, Waschpulver, Wein oder auch Socken. Der Betriebsrat unterhielt eine Dunkelkammer, und die Mitglieder der Fotosektion konnten dort nach der Arbeit Fotos selbst ausarbeiten. Es gab auch die Möglichkeit, billig Tennis zu spielen. Der Betriebsrat hatte bei einer Firma den Platz jede Woche für einige Stunden gemietet. Die Interessenten mussten sich schon Wochen vorher in eine Liste eintragen, dann konnte man dort spielen. Es war natürlich nicht leicht, Stunden am Platz zu bekommen, denn in der Sportsektion wurden die Tennisstunden schon vorher untereinander verteilt. Vom Betriebsrat ging es dann in die Lehrwerkstätte. Gleich daneben war die Lehrlingsgarderobe – also, Arbeitsgewand anziehen und in der Werkstätte versammeln! Nach einer Art Standeskontrolle, die wohl auch als Vorstellrunde gedacht war, wurden jedem ein eigener Schraubstock und eine Werkbank zugewiesen. Zu jedem Schraubstock gehörte eine Werkzeuglade, die schon mit Werkzeug bestückt war. Der Lehrlingsmeister erklärte uns den Ablauf der nächsten Wochen. Wir sollten drei Monate in der Lehrwerkstätte bleiben, dann auf alle Produktionsabteilungen verteilt werden und wieder nach einem vorgegebenen Plan wechseln. Am Ende der Lehrzeit war man durch das ganze Werk und hatte somit in allen Abteilungen, die für die eigene Ausbildung wichtig waren, gearbeitet. 117

In meiner Naivität dachte ich, dass wir nach dem ganzen theoretischen Kram nun endlich zu den Autos kommen würden. Die Enttäuschung war grenzenlos, als uns der Ausbildungsleiter je ein Stück U-Eisen gab, das rundherum stark angerostet war. Er zeigte uns, wie man eine Feile richtig handhabt und damit dieses hässliche Stück Eisen so lange bearbeitet, bis eine glatte, silbrig glänzende Fläche entsteht, mit einem Kreuzstrich darauf. Diesen bekommt man, wenn man die feinste Feile auch noch mit Kreide einstreicht und einmal schräg von links und dann wieder schräg von rechts leicht über das Werkstück feilt. Die Kreide macht einen besonders feinen Strich. Damals habe ich das Zeug zum Teufel gewünscht, aber wenn ich heute noch etwas feile, mache ich zum Schluss immer einen feinen Kreuzstrich drauf. Gelernt ist eben gelernt. Zu Beginn dieser Arbeit am U-Eisen wurde natürlich die Schruppfeile verwendet, um in groben Strichen die Rostnarben vom Metall wegzufeilen. Diese Feilen waren in meiner Erinnerung riesig und sauschwer. Wenn man das Ding hob und einige Feilstriche übers Werkstück führte, glaubte man, die Arme fallen ab. Nach ein paar Minuten rettete ich mich zum Trinkbrunnen am Gang, um Wasser zu schlürfen; das waren aber nur Sekunden, und ich musste wieder zurück zur Riesenfeile. Nach weiteren 20, 30 Feilstrichen fiel mir ein: Jetzt musst du unbedingt aufs Klo gehen. Dann wieder wurde die Feile einer gründlichen Reinigung unterzogen – wir hatten ja schon gelernt, dass man eine Feile mit einer eigenen Drahtbürste reinigen muss, damit sich nicht anhaftende Feilspäne ins Werkstück graben. Die Zeit bis zu meiner ersten Mittagspause wollte und wollte nicht vergehen. Dann endlich das erlösende Glockenläuten. Fluchtartig verließ ich das Werk und setzte mich bei der Bensdorp-Fabrik auf ein Metallgeländer. Ich fingerte mir eine Zigarette aus der Packung – ich Blödmann habe damals auch geraucht – und dachte über mein Schicksal nach. Gedan118

ken wie „Ich geh nach der Mittagspause gar nicht mehr zurück, da geh ich lieber in die Fremdenlegion … Was ist das für eine Firma, die unschuldige Lehrlinge blöde U-Eisen feilen lässt? Haben die denn keine Fräsmaschinen, die das machen können?“ gingen mir durch den Kopf. „Aber wenn ich nicht wieder hineingehe, muss ich im Arbeitsgewand nach Hause gehen. Was sage ich dann meinen Eltern?“ Apropos Eltern: Mein Auftritt in der HTL war ja nicht gerade ein Ruhmesblatt für mich gewesen, und jetzt schmeiß ich die Lehre hin, bevor sie richtig begonnen hat. Nein, das kann ich ihnen nicht auch noch antun. Meine Mutter hatte mich immer verteidigt: „Nicht jeder kann studieren, es muss auch gute Handwerker geben.“ –„Genau, Recht hat sie, ich werde ein guter Handwerker, dann mache ich das dämliche U-Eisen eben fertig, das kriegt mich nicht klein. Nicht so ein schiaches* U-Eisen!“ Das Endeläuten der Mittagspause riss mich aus meinen Gedanken. Ich sauste zurück in die Lehrwerkstätte in den dritten Stock und bekam meinen ersten Anschiss. Wenn das Glockenzeichen die Mittagspause beendet, hat der ordentliche Lehrling bereits am Arbeitsplatz zu sein und nicht erst mit hängender Zunge dahergehetzt zu kommen. Nachmittags ging ich es bedächtiger an. Während ich feilte, beobachtete ich meine Kollegen und unseren Meister, dachte an dies und das. Ich lenkte mich so von der stupiden Arbeit ab. Unser Meister ging alle Stunden durch unsere Reihen und sah sich an, wie wir unser U-Eisen vergewaltigten. Er gab uns so manchen Tipp, aber ließ auch einen von uns, ohne etwas zu sagen, einen massiven Fehler machen, nur um ein negatives Beispiel für den Anschauungsunterricht zu haben. Dann konnte mein Kollege mit einem neuen U-Eisen von vorne beginnen. In der Lehrwerkstätte hatten wir auch einige Maschinen: Drehbänke, Fräsmaschinen Hobelmaschinen und auch eine Schleifmaschine. Diese ging mir nicht aus dem Kopf. Wenn man an diese Maschine kommen könnte, ohne dass der Meis119

ter es bemerkte, wäre die Entfernung des gröbsten Rostes am U-Eisen ein Kinderspiel; dann noch ein bisschen mit der Feile darüberfahren, und die Arbeit wäre fertig. Irgendwann muss auch ein Lehrlingsmeister aus dem Raum gehen. U-Eisen ausspannen, hin zur Schleifmaschine, einschalten, Rost abschleifen, Maschine abschalten und auch die Schleifscheibe abstoppen, im Eiltempo zurück zu meinem Schraubstock, U-Eisen einspannen und im Blitztempo die Schleifspuren überfeilen – ich schaffte es, gerade bevor unser Meister wieder hereinkam. Kaum hatte er am nächsten Tag die Werkstätte verlassen, war um die Schleifmaschine ein Gedränge. Alle meine Kollegen wollten nun auch ihre U-Eisen abschleifen. Es kam, wie es kommen musste. Unser Meister kam zurück und hörte die Schleifmaschine noch nachlaufen; der letzte der Schleifer hatte sie nicht abgestoppt. Natürlich erkannte der Meister sofort, wer sein U-Eisen auf der Maschine bearbeitet und diese Spuren noch nicht beseitigt hatte. Alle durften mit einem schönen, noch rostigeren Eisen neu anfangen. Nur ich nicht. Eines Tages eröffnete mir unser Meister, dass meine Zeit in der Lehrwerkstätte zwar noch nicht vorbei, aber in der Schmiede der Lehrling durch einen Verkehrsunfall ausgefallen sei und dass er mich dort hinschicken möchte. Endlich aus der Lehrwerkstätte raus ins richtige Leben! Mit Begeisterung ging ich in die Schmiede. Dort arbeiteten nur drei Leute und besagter Lehrling. Der jüngste Schmied nahm sich meiner an und zeigte mir als Erstes, was ich alles beachten müsse, um Unfälle zu vermeiden und auch die Kollegen nicht zu gefährden. In einer Werkstätte, in der mit glühendem Eisen gearbeitet wurde, leuchtete mir das ein, und ich befolgte wirklich alle Ratschläge. Ja, ich lernte so, jeden Arbeitsschritt und seine Folgen vorher zu bedenken. Im Laufe meiner Lehrzeit wurde ich auch in die Aggre­ gatmontage versetzt. Dort wurden die Achsen und Motoren 120

zusammengebaut. Diese Abteilung wurde täglich von unserem Generaldirektor, Dipl. Ing. Josef Gräf, besucht. Es war immer das gleiche Ritual. Einige Minuten vor 8 Uhr wartete unser Abteilungsmeister vor dem Aufzug. Wenn die Anzeige auf den zweiten Stock schwenkte, nahm er Haltung an. Die Aufzugstür ging auf, und der „General“, wie er allgemein genannt wurde, erschien. Unser Meister begrüßte ihn mit einer devoten Verbeugung und begleitete ihn durch die Abteilung, immer einen halben Schritt hinter ihm. Der General ging zu den Achsmontageplätzen, sah einem einen Moment lang bei der jeweiligen Arbeit zu und ging mit einem wohlwollenden Kopfnicken weiter. Manchmal machte er den Meister auf einen Ölfleck am Boden oder – noch schlimmer – auf hinuntergefallenes Material, zum Beispiel einen Schrauben oder eine Mutter, aufmerksam. Der Meister bekam regelmäßig einen hochroten Kopf, stotterte irgendeine Ausrede, dass er das ohnehin schon bemerkt hätte, aber noch nicht dazugekommen sei, den bösen Verursacher auszuforschen und zu ermahnen oder Ähnliches. Irgendwie tat er mir leid, und ich schaute dann jeden Tag, dass zumindest an meinem Arbeitsplatz nichts auf dem Boden lag und auch sonst alles ordentlich war. Im Zusammenleben mit den Kollegen herrschten damals wesentlich klarer ausgeprägte Strukturen, als heute üblich sind. Ein Lehrling war das Letzte in der Hierarchie. In der Arbeiterschaft galt der Ältere mehr als der Junge, und Angestellte standen weit darüber. Es war üblich, dass der Lehrling von allen geduzt wurde. Er aber musste alle, auch Gesellen, die vielleicht gerade mal um drei, vier Jahre älter waren, per Sie anreden. Rauchen und Alkohol waren Lehrlingen verboten. Ich bin mir heute nicht mehr sicher, aber ich glaube, meine Lehrlingsentschädigung betrug damals 49 Schilling in der Woche. Aus allen Werksbereichen kamen die Lehrlinge am Freitagnachmittag in die Lehrwerkstätte zum Geldempfang. Die121

ses Weggehen vom Arbeitsplatz wurde natürlich auch dazu genutzt, die Firma ein wenig zu erforschen. Eine unversperrt gebliebene Tür zum Dachboden ermöglichte uns eines Tages den Zutritt, und wir sahen uns die „Schätze“ an, die da so herumstanden. Unter anderem fanden wir zwei offene Personenwagen aus alter Zeit mit dem Firmenschild Gräf & Stift. Das interessierte mich, und ich erkundigte mich bei älteren Kollegen, was es mit diesen Autos auf sich habe. Nach einigen Fehlversuchen sagte mir ein Kollege, der schon vor dem Krieg bei Gräf & Stift gearbeitet hatte: „Das werden die Rennautos vom General sein.“ Ich konnte mir das gar nicht vorstellen: Unser „General“ – immer im Nadelstreifanzug, immer im dunklen Mantel, immer den Homburg* und die Handschuhe in der Hand, der sollte Rennfahrer gewesen sein? Am nächsten Tag kam wie üblich der General mit unserem Meister in die Abteilung, und er kam auch zum Vorderachsmontageplatz, wo ich gerade arbeitete. Ich grüßte, er dankte wie immer sehr freundlich. Dann sprach ich ihn einfach an. Ich stellte mich vor und fragte ihn, ob es vielleicht ein Buch oder Ähnliches über unsere Firmengeschichte gäbe, in der auch etwas über seine Rennfahrerzeit nachzulesen wäre. Mein Meister schwankte zwischen In-den-Boden-Versinken und einer Ohnmacht. Der General sah mich überrascht an und fragte, wieso mich das interessiere. Ich antwortete ihm, wie mir der Schnabel gewachsen war: „Immerhin ist die Firma, in der ich arbeite, eine der ältesten Autofabriken Österreichs, und ich möchte eben mehr darüber wissen.“ Der General antwortete mir: „Sie hören von mir“, zupfte meinen Meister am Ärmel – der Ärmste schnappte noch immer nach Luft – und ging mit ihm weiter. Kaum hatte der General die Abteilung verlassen, kam mein Meister im Eiltempo angerauscht, und ich konnte mir eine Standpauke anhören. Den General kann doch nicht von ­einem Lehrling einfach angesprochen werden, der hat doch 122

nur wichtige Dinge im Kopf und auch nicht die Zeit, sich mit den Fragen von dummen Lehrbuben zu befassen. Na ja, er sah halt den Firmenchef auf einem Sockel wie ein Denkmal. Seine Unsicherheit quadrierte sich, als die Direktionssekretärin anrief und ihm sagte, er solle mich in die Direktion schicken. Ich wusch mir die Hände und rannte los. Die Sekretärin vom General händigte mir eine Festschrift über unsere Firma aus. Ich dürfe sie auch behalten, meinte sie. Ich war selig. Schon beim Abteilungseingang wartete mein Meister. „Was war?“ Genüsslich erzählte ich ihm, dass der General mir ein persönliches Exemplar der Firmenfestschrift gegeben und mit mir auch noch eine Weile geplaudert hätte. Das stimmte natürlich nicht – die Zeit hatte ich am Klosett verbracht, denn ich musste unbedingt einen Blick in das Heft werfen –, aber ich beeindruckte meinen Meister damit ungemein. Das erste Stück von meinem zukünftigen Firmenarchiv – ich habe dieses Heft heute noch – verschlang ich am Abend und fragte am nächsten Tag wieder den General um Details aus dem Heft. Er schlug vor, ich solle mir bei seiner Sekretärin einen Termin holen, und er würde sich etwa eine Stunde Zeit nehmen, um mir meine Fragen zur Firmengeschichte zu beantworten, aber natürlich nach der Arbeitszeit. Gesagt, getan – allerdings wurden dann aus der einen Stunde circa drei Stunden. Unser Generaldirektor zeigte mir, einem Lehrling, ein Album mit Fotos von Autorennen und erzählte mir aus seiner Rennfahrerzeit. Über meinen Meister ging das wie ein Lauffeuer durch die Firma, und jeder Zweite zeigte plötzlich Interesse an der Rennfahrerzeit des Generals. Es war aber so wie beim U-Eisen in der Lehrwerkstätte: Es funktionierte nur beim Ersten, die Nachahmer waren nicht gefragt. Einmal noch konnte ich beim General einen Termin bekommen, später klappte es nicht mehr, und wenn ich ehrlich bin, haben mich dann die Mädels auch mehr interessiert als der alte General mit seinen Rennwägen. 123

Durch mein Zwischenspiel in der HTL war ich ein Jahr älter als meine Kollegen, die zur gleichen Zeit in die Firma eingetreten waren. Somit hatte ich schon als Lehrling einen Führerschein. Ich war damals in der Reparatur. Eines Tages kam mein Meister und erzählte mir, dass ein LKW von einem guten Kunden auf der Triester Straße mit gebrochener Treibstoffleitung liegen geblieben war. Ob ich mit einem Servicewagen dorthin fahren könnte? Er betonte, dass er mir das natürlich nicht anschaffen könne, da ich noch Lehrling sei. Er sei aber überzeugt, dass ich das könne und ihm einen Gefallen erweisen würde; sonst müsse er selbst fahren, er hätte aber gerade heute etwas vor, und das ginge sich nicht aus usw. Natürlich tat ich ihm den Gefallen – ich, der Lehrling, wurde außer Haus zu einer Arbeit mit dem Firmenwagen geschickt! Meine Kollegen gaben mir gute Ratschläge: „Da kannst in ein Kaffeehaus gehen und bezahlte Pause machen, oder du setzt dich in einen Park und streckst so die Arbeitszeit.“ Denkste, genau das machte ich nicht. Ich fuhr zum Havaristen, erledigte die Treibstoffleitung im Handumdrehen und war schon wieder im Werk. Mein Meister sah mich, wollte mich zur Rede stellen, warum ich noch immer da sei, der Kunde warte ja. Als er hörte: „Alles erledigt, Kunde fährt schon wieder, ich bin schon wieder da“, war er mehr als überrascht. Von meinen Kollegen musste ich mir hämische Bemerkungen gefallen lassen. „Einmal hat er die Gelegenheit, die Arbeit angenehm zu gestalten, und dann ist er schneller, als wenn er die Arbeit hier im Werk gemacht hätte, der Streber!“ Das hielt ich aber locker aus. Ich hatte richtig kalkuliert. Mein Meister war durch mich im Einsatz seiner Mannen flexibler geworden, und ich wurde nun öfters für Arbeiten außer Haus eingesetzt. Dann war auch mal ein Kaffeehausbesuch oder eine zusätzliche Pause im Park drin. Ein Problem gab es mit der Entschädigung. Sie lösten es so, dass ich außergewöhnliche Leistungsprämien als Ab124

geltung und auch für angefallene Überstunden bekam. Das gefiel mir gut wie auch, dass es damals noch üblich war, dem Monteur, der das Auto auf der Straße wieder flottmachte, ein Trinkgeld zu geben. Trinkgeld und meine Leistungsprämie machten so manche Woche ein Zwei- bis Dreifaches meiner Lehrlingsentschädigung aus. Wer war jetzt der Dumme? Meine hämischen Kollegen oder ich? Eines Tages eröffnete mir mein Meister, dass ich auf Grund meiner Leistung für die Firma um ein halbes Jahr früher freigesprochen werde. Damals wurden die Gesellenprüfungen bei Saurer* und bei uns abgehalten. Ich musste aber zum ersten Prüfungstermin ins WIFI* am Währinger Gürtel, und noch dazu alleine, weil ja sonst vom „Gräf“ zu diesem Termin niemand zur Prüfung ging. Bei der Prüfung wurde noch ­einiges improvisiert, so hatte nicht jeder ein eigenes Werkzeug. Sie hatten Motore hergerichtet und Fehler eingebaut, so dass die Dinger nicht liefen. Diese Fehler sollten gefunden werden. Die Prüfer hatten das so eingeteilt, dass alle Lehrlinge aus Werkstätten, die Benzinmotoren reparierten, die Prüfung am Dieselmotor ablegen mussten und umgekehrt. Na toll, ich fand mich alleine vor einem Opel-Kapitän-Motor, während elf Kollegen beim Saurer-Diesel waren. Beim Werkzeugkasten trafen wir uns und gaben uns die Tipps, was man ansehen sollte und in welcher Reihenfolge. Nach circa einer Stunde hatten die Prüfer ein Einsehen, teilten die große Gruppe, und ich bekam somit Unterstützung. Allerdings sei zu erwähnen, dass einer der Fachlehrer, die dort Aufsicht hatten, schon vorher sehr oft bei mir stehen blieb und mir auf die Sprünge half, was ich als Nächstes ansehen sollte; er lenkte meine Gedanken zur richtigen Lösung. Ich bestand mit ausgezeichnetem Erfolg. Als junger Geselle verdiente ich natürlich um einiges mehr und träumte auch von einem eigenen Auto und – wohl wichtiger, aber wegen der ungleich höheren Kosten in weiter 125

Ferne – von einer eigenen Wohnung. Zuvor musste aber das Bundesheer absolviert werden. Nach dem Heer begann meine Tätigkeit bei Gräf & Stift zuerst wieder in der Reparatur. Ich fuhr für den Kundendienst auf Montage. Das spielte sich so ab: Am Montag wurde der Wagen eingeräumt. Über den Kundendienst war eine Fahrt­ route zusammengestellt worden, und die Reparaturen, die erledigt werden sollten, waren aufgelistet. Das dafür benötigte Material war schon aus dem Lager geholt. Ich räumte mir selbst den Wagen ein, kontrollierte das mitgegebene Material und machte mich am Nachmittag auf die Reise zum ersten Kunden, erledigte die Reparatur, weiter zum nächsten und am Abend ins Hotel. Das ging so weiter bis zum Freitag. Über jede Reparatur wurde genau Buch geführt, auch über die Fahrzeiten. Wir hatten keine vorgegebenen Arbeitszeiten für eine bestimmte Arbeit, sondern verrechneten genau die tatsächlich gebrauchte Zeit. Der Verdienst war gut, Trinkgeld gab es auch, aber ich war die ganze Woche unterwegs. Ich lernte damals ein Mädchen kennen und wollte natürlich mehr Zeit mit ihr als in der Firma verbringen. In der Neuanfertigung, das war die Montage der Neufahrzeuge, die am gleichen Gelände, aber in einer anderen Werkshalle untergebracht war, wurde für die Montage der Hinterachse ein Mann gesucht. Der bisherige Monteur wurde in absehbarer Zeit zum Meister ernannt und suchte einen Nachfolger. Ich überlegte nicht lange. In der Reparatur waren 13 Schilling der Spitzenlohn, den ich noch gar nicht erreicht hatte. In der Neuanfertigung konnte ich mit 13 Schilling beginnen. Dort wurde im Zeitakkord gearbeitet. Allerdings war der Akkord so, dass man bei vernünftiger Arbeitsweise locker in der Akkordvorgabe fertig wurde. Für mich waren wichtige Kriterien: Ich war die ganze Woche in Wien, und die Arbeit mit Neuteilen war viel sauberer. 126

Damals mussten wir selbst das Arbeitsgewand und auch die Reinigung bezahlen. Von der Firma bekamen wir nur ein Päckchen Waschsand im Monat. Das Päckchen war in einer Woche aufgebraucht, aber wir behalfen uns damit, dass wir aus der Tischlerei Sägespäne holten und diese mit Soda vermengten. Mit Wasser verwendet, war dieses Gemisch genauso gut wie der von der Firma gekaufte Waschsand. Wir hatten auf jedem Stockwerk in der WC-Anlage Waschwannen. Allerdings waren diese unter der direkten Einsicht vom Meisterbüro. Außerdem gab es dort auch nur Kaltwasser. Speziell im Winter war das äußerst unangenehm. Im Werk war es immer kalt. Das Gebäude war 1916 als erster Industriebau aus Stahlbeton gefertigt worden. Die Fenster waren nur einfach verglast, aus Holz gefertigt, alt und dementsprechend undicht. Als Heizung gab es nur ein circa zehn Zentimeter dickes Heizrohr mit aufgesetzten Lamellen. Das Rohr war über die ganze Montagehalle an der Fensterwand verlegt. An manchen Stellen war es auch doppelt geführt. Auch bei voller Heizleistung war es ohne weiteres möglich, das Heizrohr anzugreifen. Damit wir am Arbeitsplatz warmes Wasser zum Händewaschen bekamen, griffen wir zu folgendem Trick. In der Schmiede gab es eine Menge Abfallstücke von Schmiederohmaterial, die nicht verwertet wurden. Der Schmied legte sie immer zu den Stücken, die bearbeitet wurden, in den Ofen. Aus den einzelnen Abteilungen kamen die Lehrlinge mit einer Schmiedezange, das sind Zangen mit 50 bis 70 Zentimeter langen Griffen, und holten sich aus dem Ofen je ein Abfallstück. Dieses Teil war natürlich rotglühend. Mit der langen Zange war es kein Problem, das glühende Eisen in die Abteilung zu bringen und dort in einen Waschkübel mit kaltem Wasser zu geben – für heutige Begriffe: der Kübel war damals natürlich aus Blech. Das glühende Eisen gab die Wärme ans Wasser ab, und wir hatten zum Händewaschen warmes Was127

ser. Beim nächsten Mal nahm der Lehrling das erkaltete Eisen mit und gab es wieder in den Schmiedeofen. Richtig waschen konnten wir uns nur in der Garderobe. Die wurde aber erst nach Arbeitsschluss aufgesperrt. Es gab dort auch Waschwannen, außen herum an allen Wänden, nur die Duschen waren winzig. Es gab sieben oder acht Duschen in einem quadratischen Raum, ohne jede Trennwand. Nur an der Wand konnte man Seife und Shampoo ablegen. Drei, vier Mann kamen nach dem Arbeitsende auf eine Dusche. Hie und da konnte man vom Meister einen Badeschein bekommen. Das war ein normaler Passierschein, wie er auch zum Verlassen des Werkes unter der Arbeitszeit verwendet wurde, nur stand eben „Garderobe“ darauf. Damit durfte man 15 Minuten vor Arbeitsende in die Garderobe und somit auch ohne Gedränge duschen. Beim Verlassen des Werkes wurde unmittelbar vor dem Werkstor und in Sichtweite des Portiers mit einer Stempelkarte abgestempelt. Dann musste man so beim Portier vorbeigehen, dass er einen Blick in die, ihm hingehaltene und geöffnete Tasche werfen konnte. Seltsam berührt hat mich die Tatsache, dass freitags, also am Auszahlungstag, immer schon zehn bis fünfzehn Minuten vor dem Arbeitsende vor dem Werkstor Frauen auf ihre Männer warteten. Sie wollten verhindern, dass diese mit dem ganzen Wochenlohn bis zum nächsten Gasthaus kamen. Da spielten sich für meine Begriffe undenkbare Szenen ab, wenn die Frau zum Beispiel gleich an Ort und Stelle kontrollierte, ob der Mann ihr auch wirklich das ganze Geld im Sackerl gegeben und nicht vorher etwas abgezweigt hatte. Zwei Straßenblocks weiter war eine Gastwirtschaft, dort hatte der Wirt eine Liste an der Wand hängen, auf der stand, was so mancher „Gräfler“ schuldig geblieben war und wann er bezahlt hatte. Ich erinnere mich nicht mehr an das Datum, aber wir traten auch einmal in den Streik. Der Grund war die erste Ein128

reise von Otto Habsburg nach Österreich. Die Belegschaft – ich rede hier von den Arbeitern – ging dabei geschlossen vor. Der Betriebsratsobmann hielt eine Ansprache, in der er ausmalte, was an finanziellen Forderungen auf alle zukommen werde, wenn der Habsburger wieder nach Österreich darf. Ich hatte mich bis dahin noch nie mit der Monarchie und deren Geschichte befasst, aber ich fand das Gerede über Habsburgs Absichten überzogen und sagte das auch bei der Vollversammlung. Ich war damit im Widerspruch zum Betriebsrat. Herr Welz, der Betriebsratsobmann, nahm das zur Kenntnis und lud mich zu einem Gespräch ins Betriebsratszimmer ein. Mit vielen Argumenten versuchte er mich davon zu überzeugen, dass die Gewerkschaftslinie die richtige sei, aber er hörte mir auch zu und erklärte mir manche Zusammenhänge, die ich vorher nicht gekannt hatte. Er beeindruckte mich mit seiner Gabe zu argumentieren, dem anderen zuzuhören und auch dessen Meinung gelten zu lassen und trotz unterschiedlicher Meinung ein freundschaftliches Gespräch zu führen. Ich ging damals von ihm weg und fühlte mich erst von da an durch ihn wirklich als Arbeitnehmer vertreten. Immer wieder gab es Gerüchte, dass es mit der Firma bergab geht. Es waren fast immer Gerüchte, aber im Jahr 1970 merkten wir an den Produktionszahlen, die nach unten gingen, dass hier etwas nicht mehr stimmte. Eine Delegation von Daimler-Benz kam ins Haus, und es sickerte durch: Die bewerten die Firma. Nach drei Tagen war von den Deutschen keiner mehr da, und die Gerüchteküche brodelte. Von der durchgeführten Fusion mit der ÖAF* erfuhr ich im Radio. Der Betriebsrat informierte uns erst später darüber. Es wurde ja von niemandem genau gesagt, welche Auswirkung diese Fusion haben würde. Bald war aber klar, dass die LKW-Produktion im Döblinger Werk mit Jahresende zu Ende ging und nur die Busproduktion im Liesinger Werk weitergeführt würde. 129

Die Belegschaft wurde geteilt. Einige wenige konnten ins Liesinger Werk von Gräf & Stift übersiedeln und dann in der Busproduktion Arbeit finden. Der wesentlich größere Teil der Belegschaft wurde ins Floridsdorfer Werk der ÖAF übernommen. Alle konnten sich ihre zukünftigen Arbeitplätze im jeweiligen anderen Werk einmal ansehen, bevor sie der Versetzung zustimmten. Wir waren nur fünf Kollegen, die nach Liesing fuhren, unser Meister begleitete uns dabei, und der Werksleiter von Liesing empfing uns persönlich. Wir kannten ihn ja, da wir schon öfters im Buswerk auf Montage gewesen waren. Er erklärte uns unsere zukünftigen Arbeitsplätze. Ich sollte Druckluftanlagen anfertigen und einbauen. An und für sich kein Problem – ich hatte dies auch bei den LKWs in Döbling gemacht, aber es war wegen des wesentlich größeren Umfangs bei Bussen dennoch Neuland. Am Rande wurde auch erwähnt, dass wir den gleichen Stundenlohn wie im alten Werk bekommen würden. Ich war einverstanden, und mein Arbeitsbeginn wurde mit 1. Februar des Folgejahres festgelegt. Bis dahin sollte ich in Döbling noch die Werkstätte ausräumen. Unsere Kollegen, die ins ÖAF-Werk nach Floridsdorf sollten, berichteten nach ihrem Besuch nichts Gutes. Sie wurden damals zu den jeweiligen Abteilungen gebracht und vom dortigen Meister herumgeführt. Einige berichteten, dass sie aufmerksam gemacht wurden, sie mögen doch froh sein, dass sich das ÖAF-Werk mit ihnen belaste, nur um ihnen weiterhin Arbeit anbieten zu können. Sie kamen sich als die großen Verlierer vor, als die Bittsteller, die man gnadenhalber aufnahm. So gab es viele, die sich selbst eine andere Arbeit suchten und die Kündigung verlangten. Die Älteren mussten den Werkswechsel annehmen, sie bekamen auch damals, 1971/72, fast keine andere Stelle mehr. Ich war ja zu dieser Zeit noch relativ jung, und ich denke, da steckt man derartige Veränderungen leichter weg. Aber 130

ich erinnere mich noch sehr genau, wie deprimierend es war, nach dem letzten gebauten LKW alle Kollegen zu verabschieden, die ins ÖAF-Werk versetzt wurden oder die Kündigung angenommen hatten. Dann wurde das übrig gebliebene Material ins Reparaturmagazin gebracht und die Abteilungswerkzeuge in die Werkzeugausgabe zurückgegeben. In der großen Halle, in der hunderte Werkzeugmaschinen standen, dort wo immer ein gewaltiger Geräuschpegel war und die Luft immer diesen eigenen Geruch des Schneidöls hatte, dort herrschte auf einmal Stille. An manchen Maschinen werkten schon Leute vom Roigk*, um die Maschinen abzubauen, meine Kollegen waren weg, Zeichnungen der letzten Werkstücke lagen auf dem Boden herum. Bei manchen Maschinen standen noch die Materialkisten mit einigen Rohteilen, die nicht mehr fertig bearbeitet worden waren, und Maschinenwerkzeug lag herum. In der Halle, in der ich gearbeitet hatte, waren früher circa 40 Kollegen beschäftigt, die an einer lange Reihe von LKW-Fahrgestellen schraubten. Jetzt war die Halle leer, die Materialregale leer, unwillkürlich vermied man lautes, hallendes Reden, ähnlich wie in einer Kirche. Ein alter Hausschlosser sagte mir: „So hat’s, seit das Werk gebaut wurde, noch nie ausgesehen, jetzt stirbt das Werk.“ Für mich ging es im zweiten Werk der Firma Gräf & Stift in Liesing weiter. Dort stand ein Bus hinter dem anderen, man dachte an einen Ameisenhaufen, wenn man in die Hallen blickte, so viele Arbeiter wieselten herum. Die Materialregale waren voll, ja sogar neben den Regalen lag Material am Boden – es war das pure Leben eines vollbeschäftigten Produktionsbetriebes. Der Betriebsratsobmann begrüßte mich mit den Worten: „Bei uns kannst jetzt Überstunden machen, so viel wie du willst.“ Damals hat mir das gefallen, denn ich hatte eine neue Genossenschaftswohnung gekauft und war daher an jedem Mehrverdienst interessiert. 131

Im Liesinger Werk kümmerte sich niemand so recht um Arbeitsgestaltung. Sie hatten dort vor noch nicht allzu langer Zeit die komplette Arbeitsvorbereitung (AV) aufgelassen und diese Tätigkeiten den Meistern zugeordnet. Das funktionierte natürlich nicht auf Dauer, denn eine Vorgabezeit selbst festzulegen und dann in der Praxis mit dieser Zeit zu arbeiten, verleitet doch dazu, den Zeitrahmen nicht gerade eng zu wählen. Dass dadurch die Montagezeiten länger und somit teurer wurden, war dann auch den Verantwortlichen klar, und man bildete wieder eine Arbeitsvorbereitung unabhängig von den Meisterbereichen. Als ich ins Werk kam, war diese neue AV dabei, die Montagezeiten zu überarbeiten und in einem neuen System zu ordnen. Für Arbeitsplatzgestaltung war dabei aber keine Zeit, und dementsprechend waren die Arbeitsplätze. Was zu groß oder zu schwer war, um auf der Werkbank bearbeitet zu werden, ließ man eben am Boden liegen und arbeitete daran mit gekrümmtem Rücken, zum Beispiel eine Hinterachse, die mit den Anbauteilen gruppiert werden musste. Das passte mir überhaupt nicht. Ich ging zuerst zu meinem Meister und erntete ein Schulterzucken. Also ging ich zu meinem Betriebsrat und verlangte Abhilfe. Ich hörte aber: „Was soll ich da machen?“ Na toll, so einen Betriebsrat hab ich mir immer schon gewünscht! Ich dachte bei mir: „Die nächste Betriebsratswahl kommt sicher …“ Dann wurde ich beim Betriebsleiter vorstellig. Er hörte mich an und sagte, ich solle ihm bei Gelegenheit eine Skizze machen, wie ich mir einen Montageplatz für die Hinterachse vorstelle. Nicht „bei Gelegenheit“, sondern sofort machte ich ihm eine Skizze von einem Achsmontagetisch, so wie ich ihn im Döblinger Werk gehabt hatte. Er war sichtlich beeindruckt, holte meinen Meister und ordnete an, dass ich mir den Montagetisch selbst bauen und mein Meister mir das notwendige Material zur Verfügung stellen solle. Allerdings konnte diese 132

zusätzliche Arbeit nur in zusätzlichen Überstunden erledigt werden. Als das Ding fertig war, führte ich es dem Betriebsleiter vor. Der konnte es sich nicht verkneifen, die Kollegen in der Arbeitsvorbereitung damit zu ärgern, indem er ihnen vorhielt, dass das eigentlich ihre Arbeit gewesen wäre. Mir sagte er, ich solle mir auch die Vorgabezeit der Achsmontage ansehen, ob die nicht vielleicht auf Grund des neuen Montagetisches auch ein wenig zu reduzieren wäre. Bis dahin hatte ich mit den Akkordvorgaben nichts zu tun gehabt, denn im Liesinger Werk wurde die Zeitverrechnung von den Meistern gemacht. Als mich dann mein Meister in die Geheimnisse der Vorgabezeitverrechnung einweihte, kam ich aus dem Staunen nicht heraus. Die Zeitvorgaben waren noch aus alter Zeit (in der die Meister die Vorgabezeit selbst bestimmten) und dementsprechend hoch. Die Vorgabezeit auf wirklichkeitsnahe Höhe zu reduzieren, war gar nicht möglich. Sie hätte um mehr als die Hälfte reduziert werden müssen, dann wäre mein Meister aber nicht besonders gut dagestanden. Also machte ich den Vorschlag, die Zeit um 20 Prozent zu reduzieren. Mein Meister war zufrieden, ich hatte ihn nicht bloßgestellt, mein Betriebsleiter war zufrieden – er hatte bewiesen, dass seine Leute mehr draufhatten als die von der Arbeitsvorbereitung, mein Werksdirektor war zufrieden, weil er Arbeiter hatte, die selbst Vorgabezeiten reduzierten, wenn sie durch den Einsatz einer selbstgebauten Vorrichtung zu hoch geworden waren, und ich war zufrieden, weil ich eine Prämie und Einblick ins Verrechnungssystem bekommen hatte. Ich kümmerte mich auch noch um einige andere Mechanikerarbeitsplätze, übernahm vom Meister die Verrechnung, baute weitere Montagehilfen und reduzierte die Vorgabezeiten gerade um so viel, dass niemand wie am Fließband malochen musste und der Betriebsleiter dennoch eine messbare Größe der Einsparung vorweisen konnte. Ein Jahr nach meiner Übersiedelung vom Döblinger Werk wurde ich zum 133

Vorarbeiter und Meisterstellvertreter für den gesamten Mechanikerbereich ernannt. Bevor ich mir die Vorgabezeiten ansah, wurde ich beim damaligen Arbeiterbetriebsrat vorstellig und wollte mich grundsätzlich über das Akkordsystem und die Zeitverrechnung informieren. Seine Aussage, ich solle mich da am besten an den Meister wenden, brachte mich auf die Palme. Wozu hab ich denn einen Betriebsrat, wenn mich der dann zu meinem Vorgesetzten schickt? Das Gespräch bestärkte mich in meiner Meinung, dass der Betriebsrat selbst vom Verrechnungssystem wohl keine Ahnung hatte. Ich hatte im Döblinger Werk einen Obmann erlebt, der nicht nur kompetent war, sondern auch für seine Leute auf die Barrikaden ging. Genau das Gegenteil war nun im Liesinger Werk der Fall. Vor der nächsten Betriebsratswahl suchte ich mir aus der Liste der bisherigen Betriebsräte einen Kollegen aus, den ich für den besseren Mann hielt, machte für den bei all meinen Kollegen Reklame und stellte einen Wahlvorschlag zusammen, auf der mein Wunschkandidat die Liste anführte. Das wurde natürlich auch dem alten Betriebsratsobmann zugetragen, und er nahm mir den Wind aus den Segeln, indem er sich mit meinem Wunschkandidaten zusammensetzte und ihm so lange zusetzte, bis der einer gemeinsamen Liste zustimmte. Der alte Obmann blieb Nummer eins, aber sein Stellvertreter war mein Wunschkandidat. Der alte Obmann wusste natürlich, dass ich gegen ihn agierte, und lud mich zu einem Vieraugengespräch. Er stellte mir seine Sicht der Dinge dar und wie er die Tätigkeit als Betriebsrat sah. Ich merkte bald, dass er im Grunde Angst um seinen Job hatte. Er war seit über 20 Jahren hier im Werk Obmann, hatte nie Probleme, denn es gab ja einen Zentralbetriebsrat, und dort war der Obmann vom Döblinger Werk der Chef. Noch dazu fehlten ihm nur noch zwei Jahre bis zur Pensionierung. Am Ende unserer Aussprache hatte ich den Eindruck, dass er um seine Un134

zulänglichkeiten sehr wohl wusste, aber selbst nicht in Lage war, sich zu verändern. Er stand gewissermaßen mit dem Rücken an der Wand. Er tat mir leid. Ich unterstützte die neue gemeinsame Liste und trat bei meinen Kollegen für sie ein. Durch diese Begegnung dachte ich aber über den Betriebsrat intensiver nach. Da lässt sich ein Kollege auf eine Liste setzen, wird gewählt und hat dann zusätzlich zu seiner normalen Arbeit im Betrieb noch eine Tätigkeit zu erfüllen, von der er bis dahin keine Ahnung hatte. Okay, es gibt Schulungen von der Gewerkschaft, die dauern eine Woche, und mit dem dabei eingetrichterten Wissen kommt man zurück in den Betrieb und wird dennoch mit ganz anderen Problemen konfrontiert, als man gelernt hat. Erst mit den Jahren intensiver Beschäftigung mit der Materie kommt die Sicherheit in den Gesetzen und auch in den Verhandlungen mit der Geschäftsleitung. Wenn man nicht freigestellt ist, muss man natürlich auch in seiner betrieblichen Arbeit mit den anderen mithalten, und meist ist dann auch ein Familienalltag da, der seine täglichen Probleme mit sich bringt. Ein Betriebsrat übernimmt freiwillig eine nicht unbeträchtliche Doppelbelastung, für die es wahrscheinlich nie eine Danksagung gibt. Nach dieser Erkenntnis waren Betriebsräte für mich ganz besondere Kollegen, die auch besonders zu respektieren waren. Am Schraubstock wollte ich nicht in Pension gehen und besuchte Abendschulen, machte die Refa-*, Arbeitstechnikerund Meisterausbildung und bewarb mich um einen Angestelltenposten in der Arbeitsvorbereitung. Ich bekam den Posten und wurde Angestellter. Eine besondere Begebenheit ist mir in Erinnerung, die mit einer werksweiten Arbeitsniederlegung und später mit der Abberufung des Leiters der Arbeitsvorbereitung endete. Dieser hatte die Eigenheit, sich Arbeitspläne, die von einem seiner Mitarbeiter erstellt worden waren, anzusehen, sie mehr 135

oder weniger zu kontrollieren, und wenn ihm die Vorgabezeit zu hoch erschien, korrigierte er sie einfach nach seinem Gutdünken, oder er knallte diesen Arbeitsplan dem Verfasser auf den Tisch, meist begleitet von verbalen Ergüssen, was sich der Herr Kollege bei diesen Zeiten denn gedacht hätte. Wir wären eine Autofabrik und keine Versorgungsanstalt usw. Eines schönen Tages entdeckte er einen Arbeitsplan mit seiner Meinung nach viel zu vielen Vorgabeminuten. Kurzerhand reduzierte er die Zeit um ein Beträchtliches. Beim nächsten Auftrag bemerkte der Arbeiter natürlich die reduzierte Arbeitszeit und reklamierte in der Arbeitsvorbereitung. Es ging dabei um die Vorgabezeit für das Schweißen eines Trägers. Der Arbeiter begründete die längere Zeit damit, dass der Teil wegen des Schweißverzuges nicht in einem geschweißt werden dürfe, sondern abschnittsweise, wobei das Werkstück immer ein wenig abkühlen müsse. Der Arbeiter erklärte seine Weigerung erst mit fachlichen Argumenten. Als diese nicht anerkannt wurden, sagte er, er werde so lange am Träger schweißen, als er Vorgabezeit hätte; dann werde er aufhören, ob der Träger fertig sei oder nicht. Der AV-Chef konterte mit der Feststellung, wenn er, der Arbeiter, nicht mit der Vorgabe auskomme, dann möge er doch zum Arbeitsamt gehen und sich für einen Portierposten umschulen lassen. Das war dem Mann zu viel. Erwähnt sein sollte auch, dass dieser Arbeiter damals der einzige Schweißer in dieser Abteilung war, der eine staatliche Schweißprüfung abgelegt hatte. Der Mann empörte sich, weil seine fachliche Kompetenz derart abqualifiziert wurde, seine Kollegen unterstützten ihn, und eine Stunde später war die gesamte Belegschaft im Speisesaal versammelt und verweigerte die Wiederaufnahme der Arbeit. Erst wenn der Leiter der AV von seinem Posten entfernt sei, wollten sie wieder arbeiten. Der Werksdirektor sagte eine Lösung zu, musste aber den Verantwortlichen vorerst vom Dienst freistellen. Später wurde das Dienstverhältnis einvernehmlich gelöst. 136

Mich beeindruckte diese geschlossene Kollegialität der Belegschaft. Wenn sie eine Petition verfasst hätten und diese dem Personalchef gegeben hätten, hätte der wahrscheinlich vor sich hingekichert und sie im Mistkübel abgelegt. So aber wurde etwas bewegt, und zwar gleich, egal ob es rechtlich einwandfrei war oder nicht. Außerdem war ich im Endeffekt gar nicht so unglücklich darüber, dass ich meinen Chef verloren hatte, ich hatte ihn und seine ungute Art auch nicht leiden können. Wir hatten einen älteren Gruppenleiter, der auch im Angestelltenbetriebsrat war. Als sich sein Pensionstermin langsam, aber sicher näherte, wurde in den Abteilungen natürlich auch überlegt, wer ihm wohl im Betriebsrat nachfolgen würde. Die Neuwahl des Betriebsrats fand fast zeitgleich mit der Pensionierung dieses Kollegen statt. Unser damaliger Betriebsratsobmann rief mich an und lud mich zu einem Gespräch ein. Dabei eröffnete er mir, dass nicht nur Kollegen aus meiner Abteilung, sondern auch aus dem Konstruktionsbüro und der Kalkulation mit ihm gesprochen hätten und dabei mich als Nachfolger des Pensionsanwärters vorgeschlagen hätten. Er meinte, das sei außergewöhnlich und ihm noch nie vor einer Wahl passiert. Er möchte diesen Wünschen entsprechen und mich für den aktiven Betriebsrat gewinnen. Ein paar Wochen später war ich Mitglied des Angestelltenbetriebsrats. Mir war klar, dass ich dafür auch etwas leisten musste und begann mit meiner Ausbildung als Betriebsrat, damals noch Wochenkurse in Velm. Im Betriebsrat hatte ich keine besondere Aufgabe – ich fühlte mich auch noch als Betriebsratslehrling –, aber ich wollte die innerbetriebliche Information verbessern. Ich wusste ja noch, wie wir oft in der Abteilung darüber gemeckert hatten, dass wir von der Geschäftsleitung nicht oder unzureichend über Neuigkeiten informiert wurden, wobei der Betriebsrat auch nicht viel besser wegkam. Ich lag meinem Obmann damit in den Ohren, bis er 137

zustimmte, eine Informationszeitung für die Belegschaft zu machen. Mit Begeisterung ging ich ans Werk. Ich begann mit dem Betriebszeitungskurs bei der Gewerkschaft und entwarf dann die erste Ausgabe unserer eigenen Zeitung. Meine Kollegin im Büro bot mir an, die Zeitung seitenweise nach einer handgeschriebenen Vorlage neben ihrer normalen Tätigkeit in die Maschine zu tippen. Computer gab es noch nicht; sie schrieb auf der elektrischen Schreibmaschine, und wenn ich dann beim Lesen Änderungswünsche hatte, musste sie den Absatz neu schreiben, ich schnitt aus der Seite den alten Absatz heraus und fügte den neuen ein. Kompliziert wurde es, wenn damit der ganze Seitenumbruch verändert wurde. Aber die Mühe wurde mit dem positiven Echo, das wir nach Verteilen der Zeitung aus der Kollegenschaft erhielten, belohnt. Unser damaliger Direktor war ein Schlitzohr. Er bot uns an, dass seine eigene Sekretärin die Artikel für uns tippen und auch beim Seitenumbruch helfen solle. Das hätte er gerne gehabt, dass er über seine Sekretärin als Erster über den Inhalt informiert gewesen wäre. Als wir dankend ablehnten, wurde er grantig, wies auf die Kosten hin, die durch das Kopieren der Zeitung auf den Kopiergeräten der Firma entstanden. Wir wollten natürlich nicht unsere eigene Firma wegen unserer Zeitungskopien (150  Stück) ins finanzielle Desaster stürzen und kopierten die nächste Ausgabe über unseren Gewerkschaftssekretär in der Gewerkschaft. Irgendwann später meinte unser Direktor zu unserem Obmann, wir sollen doch nicht immer gleich so angerührt* sein, selbstverständlich könnten wir unsere Zeitung in der Firma kopieren. Na also, es geht ja! Die damalige ÖAF Gräf & Stift AG hatte in Wien zwei Werke: eines in Wien  21, Brünner Straße, und unseres in Liesing. Im Floridsdorfer Werk wurden die LKWs und bei uns die Busse gebaut. Das Liesinger Werk war ein ehemali138

ges Gräf-&-Stift-Werk, während Floridsdorf von der ÖAF stammte. Bei der Fusion hatten sich einige der leitenden Angestellten aus Floridsdorf gerne als diejenigen dargestellt, die alles besser wissen mussten, denn sie waren ja die auf­ nehmende Gesellschaft. Wir Liesinger nannten sie gerne ­etwas geringschätzig die „Flo’dorfer“. Auch im Betriebsrat gab es gravierende Unterschiede. In Liesing waren Arbeiter- und Angestelltenbetriebsrat sozialistisch, in Floridsdorf gab es den kommunistisch dominierten Arbeiterbetriebsrat, der Angestelltenbetriebsrat war mehrheitlich sozialistisch, aber ein bis zwei Mandate gingen immer an die christliche Fraktion. Die besetzten das Mandat immer mit einem Prokuristen. Bei der Zusammensetzung des Zentralbetriebsrats ergab sich folgende Situation. Der Arbeiterbetriebsrat aus Floridsdorf wurde nur von seinen kommunistischen Betriebsräten gewählt, während die sozialistischen Arbeiterbetriebsräte den Sozialisten der Angestellten wählten, der dann den Vorsitz im Zentralbetriebsrat übernahm. Als der Vorstand beschloss, das Liesinger Werk auszubauen, die gesamte Produktion nach Liesing zu verlagern und das Floridsdorfer Werk zu schließen, erfuhr die Belegschaft von diesem Plan an einem Wochenende durch eine Radiosendung. Der Arbeiterbetriebsrat in Floridsdorf schäumte, der Zentralbetriebsratsvorsitzende war fassungslos, und wir in Liesing sahen unsere Zukunft gemeinsam mit den „Flo’dorfern“ in einem Werk auch nicht als rosig an. Im Floridsdorfer Werk kam es am Montag darauf zu einer „Stiegenhausbesetzung“ durch aufgebrachte Arbeiter. Der Vorstand konnte seine Büros zwar betreten, dann besetzten Arbeiter das Stiegenhaus und forderten vom Vorstand Erklärungen zur Werksschließung. Die Vorstandsmitglieder bekamen es mit der Angst zu tun und trauten sich nicht aus ihren Büros. Über den genauen Ablauf dieser „spontanen“ Aktion kann ich nicht wirklich Auskunft geben, ich war nicht unmit139

telbar dabei. Der Liesinger Betriebsrat wurde von den Floridsdorfer Kollegen ja auch nicht über ihre Schritte informiert. Wir glaubten nur nicht an die „spontane“ Aktion, sondern für uns zog der kommunistische Arbeiterbetriebsrat die Fäden. In der Folge hörten wir von diesem immer nur, gegen welche Rechte der Vorstand durch die Nichtinformation des Betriebsrates verstoßen hätte, aber kaum etwas zur Sache einer gemeinsamen Vorgangsweise. Ich glaube aber, er war deshalb so sauer, weil er vorher wirklich keine Ahnung von diesen Plänen hatte. Er warb ja gemeinsam auf den Wahlplakaten der Kommunisten mit Muhri* – ich glaube, so hieß der Spitzenkandidat damals – mit seiner Fachkompetenz für die Belange der Arbeiter. Er musste erkennen, dass Planun­gen im eigenen Hause gemacht worden waren, vom Übersiedlungsplan bis zum Finanzplan, von denen er keine Ahnung hatte, und legte das als Verrat an der Arbeiterschaft aus. Wie auch immer, die Zusammenlegung der Werke in Liesing war zur Tatsache geworden, und wir mussten uns darauf einstellen. Die Befürchtung, dass viele Pendler aus dem nördlichen Niederösterreich die Übersiedelung nicht mitmachen würden, erwies sich als unrichtig. Allerdings konnten wir für sie drei Autobuslinien einrichten, von denen sie täglich an bestimmten Haltestellen abgeholt und nach Arbeitsschluss zurückgebracht wurden. Eine dieser Linien ging sogar bis Hollabrunn. Die Kosten dieser Autobusse wurden natürlich von der Firma getragen. Der Betriebsrat versuchte, bei der Lösung der betrieblichen Probleme immer seinen eigenen Weg zu gehen, oft auch abweichend von der Gewerkschaftslinie. Wir verhandelten für unsere Angestellten zum Beispiel die Gleitzeit zu einem frühen Zeitpunkt – ich glaube es war um 1983/84 – und bekamen über die Gewerkschaft einen einzigen Vertrag als Ansichtsmuster. Wir ergänzten diesen Vertrag noch mit einer fiktiven Arbeitszeit. Diese wurde bei Arztbesuch und dergleichen 140

verwendet. Wir hatten in der Folge mit diesem Vertrag keine Probleme. Die Erzeugung der LKWs und Busse ist leider kein kontinuierliches Produzieren, sondern unterliegt immer einem Auf und Ab, noch dazu sehr abhängig von unserer Konzernzentrale in München. Die Firmenleitung nahm bei guter Auftragslage gerne Leute auf, um sie dann bei Auftragsrückgang wieder zu kündigen. Die Gewerkschaft wollte damals von flexibler Arbeitszeit noch nichts hören, als wir schon eine Betriebsvereinbarung abschlossen, die eine Bandbreite von 35 bis 45 Stunden möglich machte, um Kündigungen hintanzuhalten. Die Belegschaft war einverstanden, und wir vereinbarten Stillschweigen darüber. Weder die Wirtschaftskammer noch die Gewerkschaft sollte informiert werden. Irgendwie bekam der ORF davon doch Kenntnis und wollte bei einer diesbezüglichen Sendung von uns dazu eine Stellungnahme. Wir erklärten dem Redakteur, warum wir nicht in die Sendung wollten, und er akzeptierte dies; sogar der Hinweis, dass es so etwas bei uns schon gebe, unterblieb. Wir sind mit diesem Vertrag in den nächsten Jahren gut gefahren, und unsere Belegschaft hat dies auch positiv vermerkt. Im Betrieb erlebten wir die Übernahme der Steyr-Nutzfahrzeuge in den MAN-Konzern. Zuerst wurden beide Marken ÖAF Gräf & Stift und Steyr als Konkurrenzbetriebe weitergeführt. Diese Zweimarkenstrategie wurde dann so nach und nach aufgeweicht. Zuerst wurde die Zuständigkeit der Vorstände auf beide Unternehmen ausgeweitet, dann wurden auch einzelne Bereichsleiter werksübergreifend eingesetzt, und in weiterer Folge kam es 2004 zur Fusion beider Werke zur MAN Nutzfahrzeuge Österreich AG. Auch im Werk Steyr ging es nach der Übernahme durch die MAN wieder bergauf. Immerhin kommt heute jeder dritte neue MAN aus den österreichischen Betrieben. 141

Unser Wiener Werk erlebte im Jahr 2004 einen gewaltigen Einschnitt. Die bisher gebaute Type (F 2000) lief aus und der neue TGA kam. Das wäre nicht unbedingt ein Problem, aber der Arbeitsanteil unseres Werkes an der neuen Type war um 18 Prozent niedriger als bisher. Gleichzeitig wurden die „Neuen“ nicht in der Stückzahl geordert, die wir bis dahin hatten. Es wurde hin und her gerechnet, aber es blieben 234 Kollegen auf der Strecke. Die Firmenleitung wollte erst so spät wie möglich mit der Liste der Namen der Betroffenen herausrücken. Das ging so weit, dass sie dem Betriebsrat vorerst nur eine Liste ohne Namen gab. Darauf waren nur das Alter und die Firmenzugehörigkeit der betreffenden Person erkennbar. Da ich damals der Einzige in unserer Firma mit 43 Dienstjahren war, konnte ich sehen, dass ich auch auf dieser Liste stand. Zwar war mir nicht ganz klar, wie sie den Vorsitzenden-Stellvertreter des Angestelltenbetriebsrats kündigen wollten, aber ein mulmiges Gefühl blieb doch zurück. Es wurde ein Sozialplan erstellt und eine Arbeitsstiftung* mit dem AMS* eingerichtet, aber das ändert für den Betroffenen nichts. Er kann mit dem Betriebsrat zwar darüber reden, wie es mit ihm weitergehen wird, aber mit seinen Ängsten vor der nun ungewissen Zukunft bleibt er trotzdem allein. Wir wussten von einigen Kollegen, die ohnehin schon überlegt hatten, die Firma zu verlassen, und versuchten, soweit es ging, darauf Einfluss zu nehmen, dass diese gegen andere ausgetauscht wurden. Einige Tage später erklärte mir der Werksleiter, wieso ich auch auf der Liste stand. Er musste an die Zentrale in München eine bestimmte Kopfzahl nennen. Dass sie mich nicht anbringen konnten, stand dort natürlich nicht drauf. Die geforderte Anzahl aber war erfüllt, die Personalplaner waren zufrieden. Hätte er mich nicht daraufgeschrieben, hätte er einen Kollegen nehmen müssen, der dann aber wirklich gekündigt worden wäre. Unser Werksleiter ging davon aus, dass in 142

einer großen Firma erst später erkennbare Unschärfen in der Ausführung des Personalplans eigentlich niemand mehr interessieren, da sich bis dahin die Gegebenheiten ohnehin schon wieder verändert haben. Es ist ja in Ordnung, dass er zu diesem Trick gegriffen hat, aber er hätte vorher mit mir darüber reden sollen. Interessant war der schwache Versuch unseres Personalchefs, mich doch noch wegzukriegen. Er schlug mir vor, ich möge ihm doch meine Bedingungen mitteilen, unten denen ich bereit wäre, einer Kündigung zuzustimmen. Ich rechnete ihm abgesehen von meiner Abfertigung die Nettodifferenz zwischen aktuellem Gehalt und Arbeitslosengeld vor, plus den Differenzbetrag zu jener Pension, die ich bekommen würde, wenn ich bis zum 65. Lebensjahr arbeiten würde. Diesen Differenzbetrag forderte ich für 25 Jahre. Das reichte ihm, und er redete nie mehr über eine Kündigung mit mir. Doch – einmal noch, aber das war dann anlässlich seiner eigenen Kündigung. Er hatte sich mit seinen Ideen, die Firma neu zu gestalten und alles neu zu organisieren – natürlich alles nur mit externen Beratern –, vergaloppiert, und unser Vorstand zog die Notbremse durch Austausch des Personalverantwortlichen. Im Jahr 2005 war für mich das Arbeitsleben zu Ende. Nach 45 Dienstjahren in meiner Firma ging ich in Frühpension – ­allerdings mit der Einschränkung, dass ich für Werksführungen und zur Betreuung des historischen Firmenarchivs im Rahmen eines geringfügigen Dienstverhältnisses weiterhin zur Verfügung stehe. Mich interessiert natürlich auch weiterhin, was da so in unserem Werk gebaut wird und wie die „Buam“ heute damit zurande kommen. Also bin ich nunmehr im 50. Jahr für die MAN tätig.

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„Meine Frau fürchtete die Übersiedlerei immer besonders …“ Karl Schmutz wurde am 25. September 1946 in Gmünd in Niederösterreich als einziger Sohn einer Kleinhäuslerfamilie geboren und von klein auf in die landwirtschaftlichen Arbeiten auf dem elterlichen Anwesen in Roßbruck bei St. Martin im westlichen Waldviertel eingebunden. Nach Abschluss der Pflichtschule absolvierte er eine Maurerlehre und die Bauhandwerker­schule, die ihn zur Arbeit als Baupolier und Bauzeichner befähigte. 1970 wechselte er zu den Österreichischen Bundesbahnen, wo er zuerst im Oberbau, nach entsprechenden Weiter­bildungen 25 Jahre lang als Bahnmeister an verschiedenen Orten in Niederösterreich tätig war. Aufgrund von betrieblichen Umstrukturierungen, aber auch aufgrund von gesundheit­lichen Problemen ging der Autor im Jahr 1997 in Pension. Da seine Frau früh verstarb, war Karl Schmutz über mehrere Jahre seiner ÖBBDienstzeit Alleinerzieher von zwei Töchtern. Nach seiner Pensionierung entdeckte der Autor seine Freude am Schreiben und brachte seit 2002 im Eigenverlag fünf Bücher, vorwiegend Lyrik in Waldviertler Mundart, sowie eine CD heraus. Seine Kindheits- und Jugenderinnerungen an die 1950er Jahre sind in dem Band „Aus dem Leben eines Waldviertler Kleinhäusler-Buben“ dokumentiert und zum Teil auch auf der Erinnerungsplattform www.MenschenSchreibenGeschichte.at wiedergegeben. Die Vielfalt an Begleitumständen und Veränderungen meiner Arbeitswelt lassen mich mein Arbeitsleben als ein bewegtes bezeichnen. Schon als Schüler wurde ich mit Arbeit konfrontiert, denn ich war ein Kleinhäuslerbub und musste früh im ärmli144

chen elterlichen Betrieb, welcher sich im oberen Waldviertel befand, mithelfen. Mein Vater hatte Kinderlähmung gehabt und konnte infolge seines um circa sechs Zentimeter kürzeren Beines in keine Arbeit gehen, da man diese starke Behinderung damals noch nicht so wirkungsvoll wie heute ausgleichen konnte. So mussten wir von den vier Hektar sehr kargen Bodens unser Leben fristen, und es war der Tüchtigkeit meiner Eltern zu verdanken, dass wir keine Not leiden mussten. Daher war es auch unbedingt erforderlich, dass ich nach Beendigung der Pflichtschulzeit sofort eine Lehre anzu­ streben hatte, um selbst Geld zu verdienen und auch die Eltern finanziell etwas zu unterstützen. So war es dann auch: Freitag war mein letzter Schultag, und bereits am Montag darauf trat ich, im Jahre 1961, die Maurerlehre bei einer nahe gelegenen Baufirma an. Ich kann mich noch genau daran erinnern: Mein Stundenlohn betrug 2,40 Schilling im ersten Lehrjahr, und ich war außerordentlich glücklich, selbst etwas zu verdienen. Es war sicher ein schwer verdienter Lohn, denn als Lehrling im Baugewerbe – noch dazu im ländlichen Raum – zu arbeiten, war seinerzeit harte Knochenarbeit. Wir Lehrbuben in den ersten beiden Jahren mussten oft mehr leisten und schwerer büffeln* als jeder erwachsene Bauhilfsarbeiter. Da hieß es Hohlblöcke schleppen und hochmächtig auf das Gerüst stemmen, stundenlang Mauerziegel über eine Geschoßhöhe schupfen* oder bis zum Rand mit Beton oder Mörtel gefüllte Scheibtruhen transportieren usw. – achteinhalb Stunden schwerste Arbeit, und das öfters tagelang. Was oft fast nicht zu bewältigen war, war das Zementausladen aus Eisenbahnwaggons an gewissen Samstagen. Das traf fast immer die Lehrlinge im ersten Lehrjahr; ich kann mich nicht erinnern, dass da einmal ein älterer Lehrbub dabei gewesen wäre. Zwei so kleine Burschen wie ich mussten einen ganzen Waggon entladen. Ich weiß nicht, wie viele hun145

dert Säcke das waren; damals war es noch fünfzig Kilogramm schweres Sackgut. Das war aber noch nicht die ganze Tortur. Nachdem die Säcke auf den LKW gestapelt waren, wurden sie zu den verschiedenen Baustellen transportiert und dort wieder von uns Lehrlingen abgeladen und in den Bauhütten gelagert. Wir wussten oft vor Mattigkeit, Gelenks- und Muskelschmerzen nicht mehr, wie wir die plumpen, schweren Säcke hochheben bzw. hochstemmen sollten. Es mussten manchmal bis zu zehn Säcke übereinandergeschlichtet werden, um die vorgeschriebene Anzahl in den meist sehr kleinen Bauhütten unterzubringen. In den ersten zwei Jahren unserer Lehrzeit hatten wir überwiegend nur harte Hilfsarbeiten zu verrichten. Erst im dritten Jahr unserer Lehre durften wir dann, zwar nur selten, beim Mauern und Verputzen oder Betonieren mithelfen. Man kann sagen, fast zweieinhalb Jahre, in denen wir uns eigentlich Fachwissen aneignen sollten, gingen verloren. Eine fürchterliche Zeit war für mich auch das Ende des dritten Lehrjahres, als ich mit zwei oder drei älteren Maurern bei den Bauern zur Errichtung von großen Stallungen eingeteilt war. Es war eine Schufterei*, tagelang, manchmal bei strömendem Regen, die schweren, 50 mal 25 mal 22 Zentimeter messenden Betonhohlblöcke oft bis über Schulterhöhe hochzuhieven und zu vermauern. Dabei dauerte so ein Arbeitstag im ländlichen Bereich mitunter bis zu elf Stunden, denn Jause und Mittagessen, welches meistens vom Bauherrn bereitgestellt wurde, mussten eingearbeitet werden. Davon schmerzte der junge Körper oft noch am nächsten Tag, obwohl es da schon wieder mit der gleichen Schinderei weiterging. An Samstagen war es manchmal der Fall, dass wir in der kleinen Landwirtschaft des Chefs mitarbeiten mussten, die er hobbymäßig betrieb und zu der auch einige Reitpferde gehörten. Da war dann Heuen, Kartoffel ernten und dergleichen angesagt. Da ich anscheinend ein williger Lehrbub war, fiel mir 146

auch einige Male das Stallausmisten zu. Gerade Stallausmisten, das schon seit meiner Kindheit zu den widerlichsten Arbeiten in unserer eigenen kleinen Landwirtschaft gehörte. Ja, und da mein Arbeitspotenzial noch nicht ausgelastet zu sein schien, war ich in der Freizeit auch noch zu Hause zur Arbeit eingeteilt. In meinem ersten Gesellenjahr ergab es sich, dass mein Chef plötzlich verstarb und man nicht genau wusste, wie es mit dem Witwenbetrieb weitergehen würde. Daher entschloss ich mich schon bald für eine Veränderung und wechselte zu einer Baufirma in der Bezirksstadt, wo ich neben meiner Tätigkeit als Maurer dann auch die bereits zwei Jahre zuvor begonnene Bauhandwerkerschule in der Leberstraße in Wien mit Erfolg abschloss. Aushilfsweise wurde ich in diesem Betrieb dank der erworbenen Kenntnisse in vorgenannter Schule und auch wegen meines Interesses am technischen Zeichnen als Bauzeichner eingesetzt. Ungefähr ab meinem 23. Lebensjahr durfte ich dann auf Grund der absolvierten Bauhandwerkerschule auch den Beruf eines Baupoliers ausüben. Das scheint mir nicht gegönnt worden zu sein, denn die Hinterhältigkeit eines alteingesessenen Poliers machte die Arbeit in diesem Betrieb immer nervenaufreibender. So sah ich mich nach einem anderen Tätigkeitsfeld um und kündigte schweren Herzens, obwohl ich das Baugeschäft liebte. Mein Vater erzählte mir immer, dass es als Kind eigentlich mein Wunsch gewesen war, später einmal Bauer zu werden. Die Arbeit bei den ÖBB hatte mir ein Freund, der ebenfalls vorher bei einer Baufirma als Maurer beschäftigt war, schmackhaft gemacht. Er war zur Bahn gegangen, so erklärte er mir, weil da trotz des geringeren Einkommens die gesicherte Anstellung für ihn verlockend war. So begann ich bei der ÖBB-Bahnmeisterstelle in Gmünd am Oberbau. Nach ein paar Wochen wurde ich wegen meines 147

guten Abschlusszeugnisses aus der Bauhandwerkerschule und der Vorkenntnisse im Bauzeichnen in das Zeichenbüro der dortigen Streckenleitung übernommen. Kurz darauf lud man mich zu einem Gespräch mit dem Personalbeamten ein, in dem dieser mich auf die Vorzüge des abgeschlossenen Bauhandwerkerkurses für die Weiterbildung bei den ÖBB aufmerksam machte. Er meinte insbesondere, da wäre die Eignung zur Ablegung der Bahnmeisterprüfung gegeben. Schon nach einigen Tagen Überzeugungsarbeit durch den Personalchef stimmte ich diesem Ausbildungsweg zu, und er meldete mich für den im Jahre 1971 stattfindenden praktischen Lehrgang eines Bahnmeisters beim Schulungsbauzug 102 in Wien an. Diese für mich als Hochbauer ganz neue Tätigkeit erstreckte sich auf Oberbau-Baustellen in ganz Niederösterreich. Nach diesem Praktikum wurde ich mit den übrigen, aus dem ganzen Bundesgebiet stammenden Kollegen zum technischen Teil des Bahnmeisterlehrganges in die Zentralschule St. Pölten, Werke Wörth*, einberufen. Nach der erfolgreich abgeschlossenen Prüfung zum Bahnmeister begann mein Wirken auf den verschiedensten Baudienststellen der ÖBB. Mein neues Aufgabengebiet führte mich von meiner Heimatdienststelle Gmünd nach Amstetten als Bauaufsicht auf der Westbahnstrecke und später als Nachwuchsbahnmeister nach Sigmundsherberg. Von dort kam ich zu einem kurzen Stelldichein nach Weitra und danach, im Jahr 1974, zu meiner ersten Stelle als selbständig arbeitender Bahnmeister, auf die Streckenbahnmeisterstelle nach Waidhofen an der Thaya. Dort erarbeitete ich mir – dank eines technisch und praktisch außergewöhnlich erfahrenen Gleismeisters – zu meiner vorhandenen Hochbaupraxis auch noch die fehlende oberbaumäßige Erfahrung. Diese Bahnmeisterei war eine kleine, leicht überschaubare Dienststelle, und so bekam ich, obwohl ein Neuling, bald 148

alles in den Griff. Doch dann kam unerwartet ein familiäres Problem auf mich zu. Meine Frau musste ein halbes Jahr nach der Geburt unserer zweiten Tochter kurzfristig ins Krankenhaus. So hatte ich neben meiner Arbeit auch noch ein Kinder­ gartenkind und ein Baby zu versorgen. Pflegeurlaub für ein Kind, wenn dessen Mutter in das Krankenhaus musste, gab es ja damals noch nicht. Verwandtschaft war für Kinderbetreuung und Haushaltsführung keine verfügbar, also musste ich Büroarbeit, Streckenbereisungen, Teilnahme an Bauverhandlungen und das Versorgen unserer Kleinsten am Vormittag irgendwie alleine durchstehen. Am Nachmittag konnte nach dem Kindergarten die fünfjährige Tochter die Betreuung ihrer jüngeren Schwester übernehmen. Das konnte nur durch das große Vertrauen und Verantwortungsgefühl von Vater und Tochter geschafft werden. Nach circa vier Jahren bewarb ich mich auf den höher dotierten Bahnmeisterposten in Sigmundsherberg, wo mich ein etwas vernachlässigter Arbeitsplatz erwartete, da diese Dienststelle den meisten meiner Vorgänger als sogenannter Durchgangsposten nur als Sprungbrett zur Erreichung eines höheren Ranges diente. Aber nach zwei aufopferungsreichen Jahren, in denen ich leider viele Stunden und Wochenenden, die meiner Familie gehört hätten, in die Arbeit investiert hatte, war diese Bahnmeisterstelle so weit, dass sie meinen Vorstellungen entsprach. So manche nervenaufreibende Stunde hatte ich dabei zu bewältigen, um die Mitarbeiter auf meinen, für sie ungewohnten, flotteren Arbeitsstil einzuschwören. Trotzdem muss ich dazu sagen: Es ist dies ein Menschenschlag im Grenzbereich zum Weinviertel, der mir wegen seiner Unkompliziertheit imponierte. Während dieser Dienstzeit in Sigmundsherberg wurde mir mehrmals ein sehr interessanter und lukrativer Dienstposten in Wien offeriert. Es wäre die Bauzugführerstelle beim Bauzug 102 gewesen, bei jenem großen Bautrupp, wo 149

ich vor zehn Jahren, als ich meine praktischen Erfahrungen für meine weitere Laufbahn gesammelt hatte, stationiert war. Aber ich konnte doch meinem Ziel, in Richtung Heimat zu kommen, nicht untreu werden ... Da wartete doch schon das bereits fertig umgebaute Elternhaus auf seine neuen Bewohner. Es fiel mir später dann sehr schwer, von Sigmundsherberg wegzugehen, als mich letztendlich doch der von Beginn an so ersehnte Ruf ereilte, die Bahnmeisterstelle Gmünd zu übernehmen. Als es dann wirklich so weit war, die Arbeit am neuen Dienstposten anzutreten – es war inzwischen das Jahr 1984 ins Land gezogen –, hieß es neuerlich, mit Kind und Kegel zu übersiedeln. Meine Frau fürchtete die Übersiedlerei immer besonders, aber als seelenguter Partner verlor sie nie ein Wort über mein dienstliches Nomadentum. Der Ordnung halber muss ich, weil es für die nachfolgende Erzählung wichtig ist, hier noch erwähnen, dass ich in den letzten zwei Jahren davor schon sehr unter schmerzvoller Arthrose litt und nur mit Injektionen und Therapien eine halbwegs akzeptable Lebensqualität beibehalten konnte. Nach einigen Jahren in Gmünd hatte ich die erforderlichen Kenntnisse über die zu betreuenden Strecken, Hochbauten und sonstigen Anlagen samt ihrer Besonderheiten erlangt, und schon kam eine neue Herausforderung auf mich zu. Eine kleinere Bahnmeisterstelle, deren Streckennetz an das unsere angrenzte, wurde in meinen Bereich integriert. Abermals hieß es, durch Freizeitopferung – natürlich auch so manches Wochenende – sich möglichst rasch das nötige Wissen, Streckenkenntnisse usw., anzueignen, um einen nahtlosen Übergang bei den Arbeitsprozessen zu gewährleisten. In der Zwischenzeit erkrankte meine Frau an Krebs, und wir mussten mit Ernährungs­umstellung, Therapiefahrten und verschiedenen ständigen Behandlungsterminen unser Leben neu planen. Natürlich hatte ich da auch das veränderte 150

Familienleben irgendwie mit meiner Arbeit zu koordinieren, ohne dass diese darunter litt. Mein Arthroseproblem wurde in der Zwischenzeit auch ärger, es hatte sich zur Polyarthrose entwickelt. Um nun dienstlich alles unter einen Hut zu bringen, verlegte ich meine Arztbesuche und Behandlungen in die Freizeit, also Abende, Wochenenden bzw. Urlaub, da nur für den regulären und schon lange Zeit im Voraus angemeldeten Urlaub eine Vertretung zur Verfügung stand. Nach einiger Zeit erreichte auch Gmünd die Umstrukturierung der ÖBB; unter anderem wurde dieser der Dienstposten meines zweiten Kollegen geopfert, und ich hatte dessen Arbeitspensum mit zu erledigen. In der Zwischenzeit verstarb meine Gattin unter erbarmungs­würdigen Umständen an den Folgen ihres Krebsleidens; wir schrieben das Frühjahr 1993. Die Umorganisation bei der Bahn ging immer weiter und trieb oft seltsame Blüten; es verging beinahe keine Woche, wo nicht eine neue Order kam, die eine Veränderung nach sich zog. Sehr häufig kam es in dieser unruhigen Zeit vor, dass Weisungen, die schon teilweise umgesetzt waren, wieder revidiert und durch neue ersetzt wurden – was natürlich Ärger bei den Mitarbeitern zur Folge hatte. So musste man als Vorgesetzter den Unmut der Kollegen mit halbwegs plausiblen Argumenten wieder auf ein erträgliches Maß herunterschrauben, um die an und für sich gute Arbeitsmoral, die es mir in den Jahren zuvor aufzubauen gelungen war, nicht in Gefahr zu bringen. Zu dieser Zeit verschlechterten sich meine Gelenksprobleme, wobei alle Großgelenke betroffen waren, rapide, und ich konnte nur mehr mit Hilfe von Infiltrationen und verschiedensten Behandlungen meinen Dienst versehen. Von meinen behandelnden Fachärzten wurde mir damals aufgrund meines sich drastisch verschlechternden Gebrechens geraten, ehestens um Pensionierung anzusuchen, um noch etwas an Lebensqualität zu retten. 151

Nun, so wurschtelte ich trotz meiner schmerzenden Glieder weiter – nachts fand ich nur mehr selten Schlaf –, bis eines Tages die vernichtende Order einer Umstrukturierungsmaßnahme in unserer Dienststelle eintraf, nämlich: Wir würden aufgelassen. Das bewog mich dann, sozusagen das Handtuch zu werfen, dem Rat meiner behandelnden Ärzte nachzugeben und vorzeitig um Pensionierung anzusuchen. So endete für mich nach einer Reihe von Jahren im Baugewerbe und einer 27-jährigen ÖBB-Dienstzeit mit sieben Übersiedlungen und insgesamt nur 15 Krankenstandstagen am 31. Oktober 1997, um eineinhalb Jahre früher als geplant, mein doch sehr bewegtes Arbeitsleben. In der Pension versuchte ich dann, an meinem Körper so manches zu flicken, was ich an ihm während der Lebensarbeitszeit „zerrissen“, also ruiniert, hatte. Doch es sind halt, wie man so sagt, nur Reparaturarbeiten, die einer Normalbeanspruchung nicht mehr standhalten würden. Die aus meinem Leben gewonnene Erkenntnis lautet: Zu viel Arbeit kann krank machen, aber Nichtstun würde dem Menschen seinen Lebenssinn rauben.

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Aus dem Alltag eines „Budelhupfers“* Peter Lhotzky wurde am 8. April 1947 in Wien geboren und wuchs als ältester von drei Söhnen einer Angestelltenfamilie in Wien-Brigittenau auf. Sein Vater war gelernter Wäschezuschneider und später als Lagerleiter beschäftigt, seine Mutter besorgte den Haushalt und die Kinderbetreuung. Im folgenden Beitrag blickt der Autor auf die Anfänge seiner beruflichen Tätigkeit in einem später nicht mehr ausgeübten Lehrberuf zurück. Seine Erzählung umspannt den Zeitraum von September 1961, als er eine Lehre als Einzelhandelskaufmann bei der Firma Julius Meinl begann, bis August 1968, als er mangels persönlicher Entwicklungsperspektiven diesem Unternehmen den ­Rücken kehrte. In der Folge wechselte er als Pensionsbearbeiter in die Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, wo er bis zum Jahr 2007 beschäftigt war. Peter Lhotzky engagierte sich über Jahrzehnte im Bildungsbereich der sozialdemokratischen Bewegung und wurde dafür kürzlich mit dem Bundesehrenzeichen 2011 für ehrenamtliches Engagement in der Erwachsenenbildung ausgezeichnet. Unter anderem ist er Mitverfasser mehrerer biographischer Arbeiten über wichtige Persönlichkeiten der Sozialdemokratie, zum Beispiel über Victor Adler, Friedrich Adler und Otto Bauer. In zahlreichen Volkshochschulkursen und Führungen (z. B. im KZ Mauthausen oder durch das Rote Wien) bemühte er sich um antifaschistische Aufklärung über die jüngere österreichische Geschichte. Von September 1953 bis Juni 1957 besuchte ich die Volksschule in der Gerhardusgasse und ab September 1957 die 153

Knabenhauptschule am Leipziger Platz; das dauerte dann bis Juni 1961. Da mein Vater Alleinverdiener war, konnten wir es uns trotz meiner halbwegs guten Schulleistungen einfach finanziell nicht leisten, dass ich eine Mittel- oder Realschule besuchte. Natürlich stellte sich in der letzten Klasse die Frage: Was will ich werden? Einige Betriebsbesuche im Bezirk führten auch nach Zwischenbrücken, wobei für mich ganz neu war, dass die Brigittenau aus zwei Teilen bestand, nämlich der „inneren“ Brigittenau und Zwischenbrücken. Ich war zwar schon in diesem Bezirksteil gewesen, hatte ihn aber eher in unangenehmer Erinnerung, denn dort befand sich die Schulzahnklinik. Ein Tischlereibetrieb, eine Dampfbäckerei und ein Schlosser wurden aufgesucht. Nichts gefiel mir so, dass ich es zu meinem Berufswunsch erwählt hätte. Noch dazu, wo mir von meiner Mutter immer wieder eingeredet wurde: „Du hast ja gar kein handwerkliches Geschick.“ Ich hatte absolut keinen Berufswunsch, keinen Traumberuf. Doch halt, nein, so war es nicht: Zwei Wünsche hatte ich und träumte auch oft davon, nämlich Berufsfußballer oder Koch zu werden. Nur, den Beruf des Profifußballers gab es damals noch nicht (ich habe mich auf der Mariahilfer Straße im Haus des ÖFB* danach erkundigt), und als ich zu Hause von meinem Traum, Koch zu werden, erzählte, fielen alle – Mutter, Großmutter mütterlicherseits und Großtante – über mich her. Mein Vater äußerte sich nicht dazu. Mein Mathematiklehrer, Fachlehrer Rudolf Beer, berichtete uns, dass ein Bekannter, der bei der Firma Julius Meinl beschäftigt war, ihn gefragt hätte, ob es nicht in seiner Schule „aufgeweckte Bürscherl“ gäbe, die den Beruf eines Kaufmannes erlernen wollten. Davon erzählte ich auch daheim, und sofort waren Mutter und Großmutter dafür, dass ich diesen Beruf – der ein „Traumberuf“ sei – erlernen müsse. Und das noch dazu bei der renommierten Firma Meinl! 154

Mir war der Meinl – dort einzukaufen konnten wir uns nicht leisten – nur als Geschäft bekannt, bei dem man sich die „Meinl-Post“, den „Jumei“*, erbitten konnte. Ich holte mir diese Firmenzeitung immer in der Meinl-Filiale auf der Wallensteinstraße. Dann erzählten Mutter und Großmutter mir noch, sie selber hätten auch als Verkäuferinnen gearbeitet, und das wäre ja „eine so schöne Zeit“ in ihrem Leben gewesen. Für einen Vierzehnjährigen, der noch dazu nicht zu widersprechen gelernt bzw. sich getraut hat, schien das also die richtige Entscheidung zu sein. Natürlich mussten mehrere Aufnahmeprüfungen gemacht werden. Ich glaube, dass es insgesamt drei Vormittage waren, es könnten auch vier gewesen sein. Ein eleganter jüngerer Herr erzählte uns am ersten Tag von den Vorzügen und Chancen, die einer hätte, „wenn er das Privileg bekäme, hier seine Ausbildung zu genießen“ und welches „Prestige“ es in der Umwelt bedeute, „beim Meinl“ arbeiten zu dürfen. Obwohl auch vier Mädchen anwesend waren, sprach er immer nur von männlichen Lehrlingen, daran erinnere ich mich ganz konkret. Es wurden aber nicht nur Lehrlinge für die Firma Meinl, sondern auch für die Firmen „Brüder Kunz“* und Artaker* aufgenommen. Auch hier ist mir der Tonfall noch in Erinnerung, wie abwertend eigentlich von Kunz und Artaker gesprochen wurde – „nur die Besten“ hätten Chancen, zu Julius Meinl aufgenommen zu werden. Später fiel mir auf, dass die meisten Mädchen in Brüder-Kunz-Geschäften landeten, obwohl sie großteils bessere Noten hatten als die Buben. Die Aufnahmsprüfungen hatte ich geschafft, und im Juli wurde mir schriftlich mitgeteilt, dass ich am Montag, den 4. September 1961, in der Filiale Heiligenstadt, Heiligenstädter Straße 81-89, zu erscheinen hätte. Aufgeregt gingen wir an einem Sonntag von der Treustraße, wo wir damals wohnten, nach Döbling. Die angegebene Hausnummer bzw. die Filiale 155

befand sich im Karl-Marx-Hof, einem Gemeindebau, der mir damals übrigens noch nicht in seiner historischen Bedeutung geläufig war. Knapp bevor meine Lehrzeit begann, stellte ich mich beim NAC, den Nußdorfer Athletikern, vor, denn der NAC-Platz befand sich am Ende des Karl-Marx-Hofes. Ich dachte noch immer daran, Berufsfußballer zu werden, und zum Training wäre es dann nach der Arbeit nicht so weit. Aber das blieb ein Traum, denn der NAC suchte damals keine „Knaben“, sondern „Junioren“. So näherte sich der 4. September. Von Tag zu Tag wurde ich unruhiger, war es doch, wie mir immer wieder erzählt wurde, der Tag, an dem „der Ernst des Lebens“ beginnen würde. Natürlich begleitete mich meine Mutter zur Arbeitsstelle und übergab mich. Mir war das Ganze eher peinlich, denn den „Ernst des Lebens“, den stellte ich mir eben ohne Aufsicht vor. Mein erster Lehrherr war ein kleinerer, aber sehr freundlich lächelnder Mann, damals vielleicht 35 Jahre alt. Mir kam er aber entsetzlich alt vor. Entgegen der Vorausinformation, die wir angehenden Lehrlinge erhalten hatten, waren in der Filiale Heiligenstadt neben zwei männlichen Angestellten, einem männlichen Lehrling, einem männlichen Geschäftsdiener – ja, so was gab es damals! – auch zwei Verkäuferinnen, anno 1961 eher eine Seltenheit. Der Lehrherr und Filialleiter, selber vor einigen Jahren durch die Meinl-Schule gegangen, bereitete mich auf die besondere Qualität der „Kaufmännischen Berufsschule der Julius Meinl AG“ vor. Gleich mit dem Hinweis, dass diese Schule „etwas Besonderes“ sei und ich nicht nur einmal, sondern sogar zweimal pro Woche in die Schule zu gehen habe. In Gesprächen mit einigen Hauptschulkameraden, die ebenfalls den Beruf des Einzelhandelskaufmannes erlernten, konnte ich schon feststellen, dass die schulische Ausbildung 156

in dieser Privatschule mit Öffentlichkeitsrecht eine wesentlich gründlichere war. Natürlich hatte sich auch meine Freizeit ziemlich eingeengt, waren doch die Öffnungszeiten der Geschäfte und die Wochenarbeitszeiten in den Sechzigerjahren andere, als wir sie aus der Gegenwart kennen. Noch dazu waren die öffentlichen Verkehrsmittel nicht so ausgebaut, und man musste oft, wie es so schön heißt, „mit der Kirche ums Kreuz“ fahren. Von meinem Wohnort in der Brigittenau bis zu meinem Arbeitsplatz in Heiligenstadt war ich zu Fuß schneller als mit der Straßenbahn – dabei war das immerhin ein Anmarschweg von mehr als einer halben Stunde. Die ersten zwei Lehrjahre führte mein täglicher Weg von der Pappenheimgasse über die sogenannte Schlägerwiese und die damals Adalbert-Stifter-Gasse genannte, später zur Adalbert-Stifter-Straße mutierte Verkehrsfläche weiter über den Döblinger Steg zur Heiligenstädter Straße. Das bei jedem Wetter und zunächst viermal pro Tag außer am Samstag – da ging ich diesen Weg nur zweimal. Ab und zu ging ich aber während der Badesaison mittags nicht nach Hause, sondern ins Hohe-Warte-Bad. Manchmal – meist im Frühjahr und im Herbst – setzte ich mich auch in der Mittagspause vor die Filiale, die sich im Karl-Marx-Hof gleich neben dem berühmt gewordenen blauen Bogen* befand. Die ersten sechs Monate hatte ich noch nichts mit den Kunden zu tun. Meine Tätigkeit umfasste neben dem „Sich-mitden-Waren-vertraut-Machen“ (die Firma Meinl hatte damals ein Warensortiment von etwa dreihundertfünfzig Artikeln, wenige Jahre später war dieses Angebot auf mehrere tausend angewachsen) auch Reinigungsarbeiten wie zum Beispiel Fensterputzen, und jeden Samstag nach Geschäftsschluss musste der Boden, ein Holzboden, mit Stauböl eingelassen werden. Noch heute habe ich den Duft dieses Mittels in der Nase und in angenehmer Erinnerung. Auch die Rollostreben 157

mussten geölt werden. Hier lernte mich der Geschäftsdiener an und erzählte mir dabei einiges aus seinem sehr interessanten Leben. Seine Tochter war so wie ich Lehrling, und wir beide gingen sogar in die gleiche Klasse der Berufsschule. Meinl war ja damals der Kaffee-, Tee-, und Kakao-Importeur Nummer eins in Österreich. Eigenerzeugung von Schokoladen, Keksen und Marmeladen gab es damals auch schon. Markenzeichen der Firma waren neben dem Meinl-Mohren mit seinem roten Fez das Segelschiff und die Farbkombination Braun-Gelb-Türkis. Und natürlich die Jahreszahl 1862 – das Gründungsjubiläum, 100 Jahre Meinl, sollte im darauffolgenden Jahr gebührend gefeiert werden. Da sich Meinl auch bei der Ausbildung auf die Firmentradition berief, war es folgerichtig, dass diese Firma eine eigene Berufsschule hatte. Diese befand sich bis zum ersten Halbjahr des Schuljahres 1963/64 in der Neustiftgasse 28 im 7. Wiener Gemeindebezirk, gleich beim Augustinbrunnen, und anschließend im 13. Bezirk, in der Hietzinger Hauptstraße 17. Der Schulunterricht war – rückblickend kann ich das behaupten – ein wirklich beeindruckender, es war ein Lern- und kein Drillunterricht. Es mag vielleicht daran gelegen sein, dass in der Zeit, in der ich die Berufsschule besuchte, Praktiker und Pädagogen den Unterricht gestalteten. So konnte etwa der Leiter der Filiale Arbeitergasse – er unterrichtete Warenkunde –, faszinierend erzählen. Er führte uns auf die Kaffeeplantagen Südamerikas und Afrikas, bereiste mit uns die Tee-Anbaugebiete am Fuße des Himalaja, erntete mit uns die Kakaobohnen in Mexiko, wo er uns immer wieder darauf hinwies, dass das Land „Mechiko“ auszusprechen sei und das Wort aus der Aztekensprache stamme. Ja, es war eine faszinierende Weltreise im Kopf. Eines tat er dabei aber nicht, er erzählte nichts von der Armut und der Ausbeutung in diesen Ländern. (In der ganzen Meinl-Berufsschule habe ich – trotz des im Klassenzeugnis ausgewiesenen Lehrgegenstandes Bürger- und 158

Steuerkunde – auch nichts von der Arbeiterkammer gehört, genauso wenig wie von der oder den Gewerkschaften.) Auch der Lehrer in Auslagengestaltung – „Ausbildung zum Auslagenarrangeur“, wie er immer betonte – war eine gewinnende und einnehmende Person. Durch seine Vortragsund vor allem Vorzeigetätigkeit weckte er auch in mir den Wunsch, „Auslagenarrangeur“ zu werden. In der Meinl-Schule war es üblich, dass vor Unterrichtsbeginn die Hände kontrolliert und die Frisur begutachtet wurden. Auf saubere Fingernägel wurde besonderer Wert gelegt und natürlich wurde auch erklärt, warum Meinl-Verkäufer braune Hosen, chamoisfarbene Hemden und ein Mascherl zu tragen hatten. Diese „Uniform“– zwei Hosen, vier Hemden und zwei Mascherln – wurde damals vom Dienstgeber allerdings nur an „Ausgelernte“ einmal im Jahr ausgefolgt. Lehrlinge bekamen das Mascherl und einen braunen Arbeitsmantel. Ein ganz wesentlicher Aspekt der Lehrzeit war für mich, dass ich endlich Geld in den Händen hatte. Taschengeld konnten sich meine Eltern, wie schon kurz angedeutet, für uns nicht leisten, und der Schulbesuch meines Bruders kostete auch eine Menge Geld. Mitten im zweiten Lehrjahr wurde mein Filialleiter und Lehrherr mit einer höheren Aufgabe betraut. Auch der „Erste Verkäufer“, mehr oder weniger der Stellvertreter des Filialleiters, wurde in eine andere Filiale versetzt, und so bekam ich einen neuen Lehrherrn und eine Frau als „Erste Verkäuferin“, für damals sicherlich eine Sensation. Mit dem neuen Filialleiter verbindet mich bis heute eine, ja, man kann es Freundschaft nennen. Er war geboren in Litschau, aber in Berlin aufgewachsen, hatte dort den Kaufmannsberuf erlernt und warb mich sofort nach seinem Dienst­antritt zur Gewerkschaft, nämlich zur GAP*, der nachmaligen GPA. Diese GAP/GPA sollte auch für mein weiteres berufliches Leben eine nicht unbedeutende Rolle spielen. 159

In der Zwischenzeit wurde ich dank dem neuen Filialleiter auch schon auf die Kunden losgelassen, obwohl das im Regelfall erst mit Beginn des dritten Lehrjahres vorgeschrieben war; damit begab sich mein Lehrherr auf unkonventionelles Terrain. Damals gab es sogenannte Inspektoren und „Überwachungskundschaften“, die in dem über ganz Österreich, Deutschland (vor allem Bayern) und Südtirol verbreiteten ­Filialnetz kontrollierten und beobachteten. Es war auch die Zeit, in der aus den USA die sogenannten „Selbstbedienungsläden“ usuell wurden. Man wehrte sich aber lange Zeit, auch bei Meinl Selbstbedienungsläden einzuführen. Als es dann doch zur Gründung derartiger Filialen kam, sollten die den Namen „Auswahlläden“ bekommen. Einer der ersten dieser „AWs“ wurde ebenfalls in Döbling, nämlich in Sievering, feierlich eröffnet. Ich durfte also schon früher als andere Kunden bedienen, und ich durfte auch etwas, was Lehrlinge damals absolut nicht durften, nämlich Auslagen gestalten – „arrangieren“ nannte man das –, und allem Anschein nach gelang mir das so gut, dass ich so manchen Auslagenwettbewerb für mich entscheiden konnte. Das bereitete meinem Filialleiter natürlich Kopfzerbrechen, denn offiziell durften Lehrlinge daran ja nicht teilnehmen – für die gab es eigene Lehrlingswettbewerbe. Aber wir lösten das Problem, indem als Arrangeur die Erste Verkäuferin firmierte. Die jeweiligen Geldprämien, die dabei ausgeschüttet wurden, bekam ich ausbezahlt. Damit konnte ich mir das alte Steyr-Waffenrad, das ich von meinem Großvater geschenkt bekommen hatte, fahrtüchtig herrichten lassen. Von nun an ging’s nicht mehr „per pedes“, sondern „per pedali“ in die Arbeit. Mit der Zeit kamen zum Warensortiment weitere Produkte bis hin zur Milch dazu, und das hieß, früher am Arbeitsplatz zu sein und am Abend länger Aufräumarbeiten zu machen. War es vormals ungeheuer wichtig, die sogenannten „Cha160

rakteristiken“ von Kaffee, Tee, Wein und firmeneigenen Produkten zu beherrschen, so ging dies mehr und mehr zurück. Auch die Inspektoren beschränkten sich darauf, nachzusehen, ob Sauberkeit herrschte, und Antworten auf Fragen wie zum Beispiel: „Wie ist die Charakteristik der Mischung III?“ – „Guter, angenehmer Geschmack“; „Was zeichnet den ‚Nußberger alte Lese‘ aus?“ – „Harmonischer, fruchtiger Geschmack, leicht spritzig“ standen nicht mehr an erster Stelle. Genauso gingen und gehen mir zwei Merksätze nicht aus dem Kopf. Der erste: „Zehn Minuten vor der Zeit ist des Verkäufers Pünktlichkeit“, der zweite: „Wirtschaftlich handeln heißt, mit dem geringsten Aufwand an Mitteln den größtmöglichen Erfolg erzielen.“ Beide sind meiner Meinung nach absoluter Schwachsinn. Der erste Spruch plädiert für unbezahlte Überstunden, und der zweite ist ökonomisch gesehen ein Unsinn. Das Verkaufen- und Anbieten-Dürfen hat mich eigentlich mit meiner nicht ganz freiwilligen Berufswahl versöhnt. Außerdem gab das Verkaufspult zwischen der Kundschaft und mir gewisse Sicherheit im Umgang mit fremden Leuten, aber auch die Gelegenheit, mit Menschen in Kontakt treten zu können, die man nur aus Radio und Fernsehen – das Fernsehen war ja damals noch ganz jung und nicht in allen Haushalten präsent – kannte. Ich erinnere mich an Guido Wieland, Helmut Senekowitsch, den späteren Fernsehdirektor Gerhard Freund, Günther Nenning, Willi Dirtl usw. Aber es gab auch äußerst einprägsame und sicher prägende Erlebnisse und Begegnungen. Wie bereits geschrieben, nützte ich manchmal die Mittagspause – sie dauerte von halb eins bis halb vier –, um mich auf eine Bank vor der ­Filiale oder im Karl-Marx-Hof zu setzen und zu lesen. Eines Tages setzte sich eine Kundin neben mich und begann mit mir zu plaudern. Nach einigen einleitenden Worten sagte sie zu mir: „Ich will dir gerne was von diesem Gemeindebau erzählen, 161

ich wohne mit einer kurzen Unterbrechung schon seit 1930 hier. Weißt du, dass wir zum Beispiel in der Waschküche in den Wäschekesseln Suppe gekocht haben?“ Natürlich wollte ich einfach lesen, aber da – wie gelernt – der Kunde immer König ist, muss man, selbst wenn es einem nicht passt, zuhören und freundlich bleiben. Und so hörte ich im Jahr 1962 zum ersten Mal in meinem Leben ausführlich, authentisch und sehr persönlich vom und über den 12. Februar 1934*. Weder bei den diversen Vorträgen in der SJ* noch im Familienverband hatte ich je davon gehört. Nun will ich mich mit den täglichen Aufgaben und den Veränderungen im Lebensmittelkleinhandel beschäftigen. Also, die Tätigkeiten eines Lehrlings waren ja vorgegeben und geregelt, und als ich mich später damit aus gewerkschaftlicher Sicht auseinanderzusetzen begann, musste ich anerkennen, dass bei der Lehrausbildung der Firma Meinl nichts gegen diese Vorgaben verstoßen hat. Zwar war beispielsweise für die gröberen und größeren Reinigungsarbeiten der Geschäftsdiener zuständig. Aber natürlich „motivierte“ er mich so, dass ich ihm gerne und freiwillig bei dieser Tätigkeit behilflich war, noch dazu, wo er immer so spannende Geschichten zu erzählen wusste. Eine Tätigkeit war dem Lehrling vorbehalten: die Kaffeedosen auf Hochglanz zu bringen. Diese Ungetüme, die circa eineinhalb Meter hoch waren, mussten tagtäglich außen und innen sauber sein, bevor die Kaffeebohnen in die Schütt­dosen kamen. (Die Kaffeebohnen wurden, täglich frisch, in Jutesäcken angeliefert, der Rest wurde abends abgeholt.) Innen mussten sie mit feinem Seidenpapier gereinigt und außen mit „Sidol“ und einem weichen Putzfetzen auf strahlenden Glanz hergerichtet werden. Kein Fingertapper, keine Putzschlieren durften sichtbar sein. Anfangs fiel mir diese Reinigungsarbeit genauso wie das Zusammenkehren und Fensterputzen nicht 162

leicht, hatte ich das doch zu Hause nie machen müssen, denn dazu war ja Mutter da, so meinte ich damals. Heute sehe ich das ein bisschen anders. Waren nachschlichten – auch ein Kapitel für sich, fast wäre ich geneigt, es eine „Wissenschaft“ zu nennen. Mussten doch die Regale ausgeräumt, geputzt und die Ware wieder neu eingeschlichtet werden, und zwar nach dem sogenannten „Ablaufdatum“. Das war vielleicht eine Plagerei, und beim ständigen Anwachsen des Warensortiments wurde es natürlich immer schwieriger. Damals gab es doch keine europaweit geltenden Normen und Regeln, wie Waren zu kennzeichnen sind. Die Sardinendosen zum Beispiel hatten kein einheitliches Ablaufdatum, und darüber hinaus war die Kennzeichnung in den diversen Herkunftsländern ganz unterschiedlich geregelt. Als dann noch die Milch und später auch Wurst und Käse dazukamen, natürlich auch aus eigenen Betrieben des Firmenimperiums wie zum Beispiel Köstlin oder aus den Meinl-Weingütern, waren dazu extra Einschulungen, auch für Filialleiter und Erste Verkäufer, erforderlich. Aber da gab es eben eine klare Trennung: Die Lehrlinge und Kaufmannsgehilfen besuchten andere Schulungsabende als die erste Gruppe. Ein weiteres Feld war die „Hauszustellung“ – in letzter Zeit wieder in Mode gekommen. Diese wurde bei Julius Meinl schon in den Zwanzigerjahren als Kundenservice eingeführt, war doch in den „verrückten Zwanzigerjahren“ die Grenze zwischen Arm und Reich noch wesentlich deutlicher sichtbar als in der Nachkriegszeit. Einen gewissen Eindruck von den sozialen Unterschieden aber bekam ich mit, gerade weil ich in der Filiale im Karl-Marx-Hof gelernt habe. Selbst unsere Stammkunden kauften wöchentlich nicht mehr als ein achtel Kilo Kaffee – „Bohnenkaffee“, wie sie immer ausdrücklich betonten. Nur wenn es zur Hauszustellung auf die Hohe Warte oder in die vornehmere Villengegend von Döbling 163

ging, wurde manchmal auch Kaffee im Viertel- oder Halbkilopaket bestellt. Für uns Lehrlinge gab es vierteljährlich den „KaffeewiegeWettbewerb“, und der ging so vor sich: Da wurde eine Kaffeeschüttdose nicht mit gerösteten Kaffeebohnen gefüllt, sondern mit Rohbohnen, denn der Kaffee war zu wertvoll, um ständig für Wettbewerbe verwendet zu werden. Dann wurden die Kaffeesackerln auf einen Stapel gelegt, daneben die Gewichte und dazu die Schalenwaage, die es heute wahrscheinlich nur mehr als Schauobjekt gibt; bis Ende der Sechzigerjahre war sie aber tagtägliches Werkzeug des MeinlVerkäufers. Zunächst musste Säckchen für Säckchen mit Rohkaffee gefüllt, dann gewogen und zuletzt verschlossen werden, und zwar in einer ganz bestimmten Art. Wer die meisten und vor allem richtig gewogenen Kaffeesäcke vorzuweisen hatte, wurde mit einer kleinen Prämie (meist war es ein firmeneigenes Schokoladeprodukt) ausgezeichnet. Diese Wettbewerbe wurden aber auch im Schulunterricht im Bereich „Praktische Übungen“ angewendet – da gab es keine Prämien, sondern nur Benotung. Der schon erwähnte zweite Lehrherr hatte nicht bei Meinl gelernt und hatte vielleicht deshalb manchmal nicht so gerne gesehene Methoden. Er gab zum Beispiel den Lehrlingen die Möglichkeit, schon nach wenigen Wochen in die „freie Wildbahn“ entlassen zu werden. Die freie Wildbahn, das war der Kontakt mit der Kundschaft, freundlich, höflich, mit „Gnädige Frau“ und „Küss die Hand“ usw. Er half auch bei den Hausaufgaben der Meinl-Schule, machte mit beim Dosenputzen oder Fenstersäubern. Er kontrollierte nicht ständig, sondern ließ Freiraum. Für mich war es eine der interessantesten Seiten meiner Arbeit als Verkäufer, mit den Kundinnen – Männer gingen damals nicht so häufig einkaufen – ins Gespräch zu kommen. 164

Im Dienstvertrag der Firma stand aber auch: „… die Firma behält sich vor, die Angestellten auch zu einer anderen angemessenen Arbeit oder an einem anderen Ort innerhalb des Bundesgebietes zu verwenden …“ So konnten unbotmäßige Freigeister unter Druck gesetzt werden. Ich selbst habe erlebt, wie ein gemaßregelter Kollege nach Salzburg versetzt wurde – und das, obwohl er hier in Wien verheiratet war. Der Kollege „schmiss das Handtuch“ und kündigte – was bei der damaligen Wirtschaftslage einfacher war als in Zeiten der Krise. Die Mittsechzigerjahre brachten auf einmal Konkurrenz auch im Lebensmittelbereich. Neben alten Konkurrenten wie dem Konsum entstanden neue Läden: Billa, Spar. Allein im einen Kilometer langen Karl-Marx-Hof gab es drei KonsumFilialen, und auf der gegenüberliegenden Straßenseite befanden sich einige weitere. Die „Wiener Fleischwerke“* (WFW) mit dem in Rot gehaltenen Logo eines Rindskopfes hatten ihren Filialbetrieb ebenso neben der Meinl-Filiale wie die Post, die Apotheke und ein Friseur. Heute sind eigentlich nur mehr die Apotheke und der Friseur übrig geblieben. Struppe*, Ditt­ rich* und andere wurden von Meinl aufgekauft, und das Filialnetz über Deutschland, Südtirol, Italien, später dann in den sogenannten Ostblock ausgedehnt. Mit dem Eindringen der Ketten Tchibo und Eduscho, aber auch der Firma Jacobs, entstanden dem größten Kaffee- und Tee-Importeur Konkurrenzunternehmen, wie sie die Arabia, Columbia oder die beim Konsum angesiedelte Kaffeerösterei (Zirkel-Kaffee) niemals darstellen konnten. Ich wurde von meinem Lehrherrn auch beauftragt, „Spionage“ zu betreiben, das heißt, ich wurde zu den umliegenden Lebensmittelgeschäften geschickt, um Preise zu vergleichen und allenfalls Produkte zu entdecken, die wir noch nicht hatten oder damals auch noch nicht „führen durften“, wie es in der Meinl-Sprache genannt wurde. Diese Erkundungstouren führten mich bis zum Markt bei der Kahlenberger Straße, 165

dem Sickenbergmarkt, wie er in Nußdorf und Heiligenstadt genannt wurde. Ich habe schon erwähnt, dass zu den Aufgaben des Geschäftsdieners unter anderem die Auslieferung von bestellten Waren gehörte. Ab und zu bat mich dieser, mit ihm mitzugehen. Der Filialleiter sagte mir, dass das nicht zu meinen Aufgaben gehöre, er würde es mir aber gestatten, wenn ich es gerne mache. Später, als ich bereits im dritten Lehrjahr war, hatten wir ein Lehrmädchen in die Filiale dazubekommen, und so entschloss ich mich, einen Teil meiner Agenden „großzügig“ an sie abzugeben. Kunden zu besuchen und dabei noch Trinkgeld zu bekommen, statt Kaffeedosen zu putzen und Waren einzurichten, war doch was ganz anderes, denn die Lehrlingsentschädigung war nicht gerade hoch. Dann näherte sich die Lehrzeit ihrem Ende, und es war Usus, dass ein ehemaliger Lehrling nicht an seiner Lehrstelle weitermachen durfte. So wanderte ich in verschiedene Filialen wie zum Beispiel Volkertmarkt, Gersthofer Straße, Grinzing und Wallensteinstraße. Zwischendurch musste ich noch einige Filialen als sogenannter Springer übernehmen. Diese Springertätigkeit war mit der Aufgabe verknüpft, dass für die Zeit der Übernahme der Leitung einer Filiale Inventur gemacht werden musste. Das hieß, sämtliche Waren mussten in Tabellen und Laufzettel eingetragen werden, bis dann gegen Ende der Sechzigerjahre das Lochkartensystem eingeführt wurde. Diese Tätigkeit sollte zur Vorbereitung auf eine Filialleiterkarriere dienen. Dazu sollte es aber nicht mehr kommen

Epilog oder das Ende einer Karriere Als ich im Jahr 1964 meinen Lehrabschluss mit der Kaufmannsgehilfenprüfung mit gutem Erfolg zu Ende brachte, stellte ich mir meinen weiteren Lebensweg vor: Nächstes Ziel war Erster Verkäufer und dann entweder Filialleiter oder 166

Auslagenarrangeur. Das Gehalt als Verkäufer war zwar nicht berauschend – ab 1. September 1964 für damals noch eine 48-Stunden-Woche mit Samstagsarbeit 1583 Schilling brutto, das bedeutete netto 1080 Schilling (wie ich einem Gehaltszettel vom November 1965 entnehme). Freunde und ehemalige Schulkameraden erhielten damals schon wesentlich mehr. Aber ich war in der Handelsbranche, und wir wurden kollektivvertraglich zuzüglich der sogenannten Verkaufsprämien bezahlt. Besonders beliebt waren damals die „Kaffeeverkostungen“. Es war zu diesem Zeitpunkt ja nicht üblich, und ich denke, auch vom Gesetzgeber her nicht gestattet, dass in einem Lebensmittelgeschäft Kaffee ausgeschenkt wurde. Diese Kaffeeverkostungen hoben den Kaffeeverkauf aber oft um 70 bis 100 Prozent! Diese Zeit war es auch, in der ein Arbeitskräftemangel im Kleinhandel herrschte und dafür viele Frauen und Männer aus noch schlechter bezahlten Berufen den „Aufstieg“ vom Arbeiter zum Angestellten wählten. Diese Berufe waren vor allem Friseurinnen, Schneiderinnen, aber auch Taglöhner aus der Landwirtschaft und den Gärtnereien. Die Zeit der „Stadtflucht“ hatte damals noch nicht eingesetzt, und es kamen viele aus dem Wiener Umland, meist aus dem Bereich, der bis 1954 noch zu „Groß-Wien“ gehört hatte. Dann noch in einem so renommierten Unternehmen wie der Julius Meinl AG zu arbeiten – das war schon ein Aufstieg. Die Verhältnisse hatten sich geändert, die ökonomischen Bedingungen waren andere geworden. Urlaubsreisen, meist nach Italien, lösten die sogenannte Sommerfrische ab. Mehr Menschen – das zeigte sich am Abend bei den täglichen Kassenkontrollen – gaben für Lebensmittel mehr Geld aus, und auch andere Käuferschichten gingen „zum Meinl“. Die Mobilität nahm rasant zu, und auch ich konnte mir mein erstes Moped, ein aus dem Fuhrpark der Firma ausgeschiedenes, karminrotes Moped der Marke Puch leisten. 167

Die ersten Unterweisungen im Mopedfahren erteilte mir mein Filialleiter auf dem damals noch bestehenden großen Parkplatz vor dem Vienna-Sportplatz auf der Hohen Warte. Natürlich war sein Hintergedanke, dass ich dann mehr und weitere Hauszustellungen übernehmen könne, denn motorisiert geht es ja schneller als zu Fuß. Das war knapp vor dem Ende meiner Lehrzeit und dem Beginn meiner Verkäufer­ tätigkeit. So im Rückblick sieht man dann doch einiges klarer, was im Augenblick des Geschehens zwar registriert, aber meist nicht beachtet wird. Als im Laufe der späten Sechzigerjahre immer mehr Verkäufer aufgenommen wurden, war doch ein – vielleicht auch mentaler – Wandel im Umgang mit den Kunden zu spüren. Die sprichwörtliche Meinl-Höflichkeit, um es einmal so auszudrücken, blieb auf der Strecke. Auch die Kundenbetreuung, die Aufklärung, die Vorstellung der Produkte wurde immer weniger. Manche unserer Kunden – ich war damals schon in der Filiale Grinzing in der Himmelstraße – wollten das Geschäft, das in einem kleinen Biedermeierhäuschen in der Nähe der Endstelle der Straßenbahnlinie 38 angesiedelt war, gar nicht mehr betreten, so zum Beispiel Paula Wessely, die sich den Einkauf nur mehr zustellen ließ. Als dann so nach und nach die meisten Bedienungsläden in Auswahlläden (AW) umgewandelt wurden, ging der individuelle, der persönliche Umgang fast völlig verloren. Dazu kam – und hier spricht wohl gekränkte Eitelkeit aus mir – dass diese neuen „Verkäufer“ keine Beratungsgespräche mehr führen konnten. Um dieses Beispiel verständlicher zu machen, möchte ich noch auf das tägliche „Kassa-Machen“ zu sprechen kommen. Bis Mitte der Sechzigerjahre wurde die Tageslosung – so hießen die Einnahmen – am nächsten Morgen vom Lieferwagen, der den frischen Kaffee brachte, mitgenommen. Ab dieser Zeit wurde die Tageslosung entweder in „Kassetten“ oder in 168

„Geldbomben“, die von den jeweiligen Sparkassen – „Bank­ institute“ wurden sie ja erst später – zur Verfügung gestellt wurden, abends in den sogenannten Nachttresor eingeworfen. Das durften Lehrlinge zwar tun, jedoch auf keinen Fall alleine; diese Sicherheitsregel wurde aber eher selten eingehalten. Nun grenzte es anfangs in der Filiale Heiligenstadt schon an ein Wunder, wenn einmal Einkäufe auf mehr als 50 Schilling kamen. Mit der Zeit und dem fortschreitendem Wohlstand wurden sowohl die Rechnungen als auch die Umsätze immer höher. So wuchs auch der Anreiz für die Verkäufer, dem Kunden etwas aufzuschwatzen, statt ihn zu beraten. Das kränkte und ärgerte mich, und ich machte daraus auch kein Hehl. Aber Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit scheinen keinen Platz in dieser unserer Gesellschaft zu haben. Warum mir das einfällt? Nun, als ich schon lange nicht mehr als Verkäufer tätig war, traf ich ab und zu bei meinen Spaziergängen, manchmal auch bei meinen Vorträgen, die ich an Volkshochschulen hielt, Menschen, die sich noch nach Jahren an mich – und das nicht in negativer Weise – erinnerten. Was sich noch sukzessive einstellte, war, dass der frühere Zusammenhalt zwischen den Angestellten in einen Konkurrenzkampf überging. Die Gemeinsamkeiten, die man etwa im Sommer im betriebseigenen Bad, dem „Meinl-Bad“ (in der Arbeiterstrandbadstraße an der Alten Donau) oder bei Betriebsausflügen empfand, gingen zurück. Betriebsausflüge wurden meist mit einer Exkursion in Betriebe der Zulieferer verbunden, wie zum Beispiel in manche Weingüter in der Wachau – beliebt vor allem wegen der Schifffahrt, aber natürlich auch wegen der Weinverkostung – oder in firmeneigene Produktionsstätten wie die Keksfabrik in Salzburg. Nur eine Anmerkung: Die Schiffsfahrten in die Wachau wurden dann zu Beginn der Siebzigerjahre eingestellt, weil – so die offizielle Sicht – zu viele Firmenangehörige dabei nicht gerade imagefördernd unterwegs waren. 169

Nun habe ich schon einen von zwei für mich wesentlichen Gründen aufgezählt, meine Tätigkeit bei Meinl zu beenden, die tatsächliche Senkung der Qualität im Umgang mit Kunden. Bis zu meiner Einziehung zum Präsenzdienst im Jahr 1967 kam noch dazu, dass mir immer wieder versprochen wurde: „Bei der nächsten Besetzung eines Ersten Verkäufers sind sie an der Reihe …“ Doch als dann immer wieder frisch eingetretene Kollegen vorgezogen wurden und noch dazu deren Inventuren meist nicht stimmten, während bei all meinen Vertretungen diese Inventuren plus minus null schlossen, wendete ich mich an den Betriebsrat. Dieser Kollege von der FCG* – eingesetzt von der Firmenleitung und nicht gewählt – konnte oder wollte nichts gegen die Firmenleitung tun. Einige Kollegen, vor allem aber Kolleginnen, setzten sich später als Betriebsräte durch, und der „firmentreue Betriebsrat“ gehörte der Vergangenheit an. Ein wenig stolz bin ich schon darauf, dass ich da ein klein wenig mit dazu beigetragen habe. Bevor ich zum Bundesheer ging, deponierte ich, dass ich nach meiner Ausmusterung* nur dann zurückkäme, wenn ich den Posten eines Ersten Verkäufers bekäme, der mir auf Grund meiner erbrachten Leistungen sicher zustehen würde. Schließlich hatte ich doch unzählige Auslagengestaltungswettbewerbe österreichweit für mich entschieden und auch bei Verkaufswettbewerben beachtliche Platzierungen errungen. Nachdem ich „abgerüstet“ hatte, ließ ich mir sofort einen Termin beim Personalchef geben. Außer schönen Worten, Vertröstungen und Hinhaltungen gab es nichts, worauf ich mich entschloss, meinen erlernten Beruf nicht mehr weiter auszuüben. Also endete mein Dienstverhältnis mit dem 31. August 1968. Wie heißt es in meinem Zeugnis: „Herr Lhotzky scheidet auf eigenes Verlangen aus unserem Unternehmen, und wir wünschen ihm für die Zukunft alles Gute.“ 170

„Man war einfach dem Wetter ausgesetzt“ Hans Nusbaumer wurde am 4. Dezember 1944 in Weyersdorf bei St. Pölten als ältestes von fünf Kindern einer Kleinbauernfamilie geboren. Nach der Grundschule absolvierte er eine Schlosserlehre und war anschließend etwas mehr als ein Jahrzehnt in verschiedenen Betrieben als Bau- und als Maschinenschlosser tätig. 1971 nützte er das Angebot, als LKW-Fahrer und Helfer in einer Dachdeckerfirma ein neues Metier kennenzulernen. Aufgrund der eher ernüchternden Erfahrungen wechselte er im Jahr darauf zu den Österreichischen Bundesbahnen und war bis 1998 in verschiedenen Abteilungen der auf Produkte des Bahnoberbaus spezialisierten Werke Wörth (heute Weichenwerk Wörth Gmbh, WWG) in St. Pölten beschäftigt. Hans Nusbaumer ist Vater von drei Kindern und bewohnt ein Eigenheim im Bezirk St. Pölten-Land. Seit der Pensionierung findet er ausreichend Zeit für Hobbys wie Reisen, Bergsteigen und Weitwanderungen, die er gern fotografisch dokumentiert und gelegentlich auch in Diavorträgen präsentiert. Bei den folgenden Ausführungen konnte der Autor auf Tagebuchnotizen zurückgreifen, die er in den Jahren 1971/72 angefertigt hatte. Seine Erzählungen werden hier in etwas gekürzter Form wiedergegeben. Es war der 1. März dieses für mich – trotz vieler negativer Erfahrungen – unvergesslichen Jahres. Ich trat bei einer Dach­ deckerfirma meinen Dienst als Steiger an. Damit lag ich in der Lohngruppe zwischen Dachdeckergesellen und Hilfsarbeiter. Nun, das hatten wir ja so ausgemacht. Erst später wurde mir 171

klar, dass ich als LKW-Fahrer viel mehr Verantwortung hatte als die besser entlohnten gelernten Dachdecker. Aber ich wollte es wissen. Vor sieben Jahren hatte ich Führerschein C und E gemacht, und ich wollte – zumindest für einige Zeit – auch mit einem LKW fahren. Es war nicht ideal, dass ich an jenem ersten Tag leicht krank war und einen dumpfen Kopf hatte, gab es doch gleich viel Neues zu merken. Um 6.45 Uhr kam ich in die Firma. Der Meister und der Juniorchef gaben mir die Hand, und sie händigten mir auch gleich die Schlüssel für den LKW samt Zulassungsschein aus. Wir fuhren mit dem VW-Pritschenwagen hinauf zur Halle. Drinnen stand ein alter Steyr 480. Der Juniorchef als einziger Besitzer eines Führerscheins mit Klasse C in der Firma erklärte mir verschiedene Einzelheiten am LKW, alles wusste er selbst nicht. Er erinnerte mich, dass ich erst wegfahren darf, wenn bei der Luftdruckbremse 3 atü* Druck angezeigt werden. Der erste Startversuch misslang; schuld daran war die Kälte in der Halle. Man musste lange vorglühen, bis der Motor endlich ansprang. Als es dann so weit war, musste ich gleich mit dem Rückwärtsgang losfahren und verkehrt aus der Halle schieben. Ich fuhr dann langsam los, der Meister neben mir. Er sollte sich als schlechter Beifahrer erweisen. Eine Hilfe war er mir fast nie, nur mit Kritik hielt er sich nie zurück, auch wenn sie nicht berechtigt war. Meine Erkenntnis, dass Leute, die von einer Sache nichts verstehen, beim Kritisieren am lästigsten sind, vertiefte sich hier. Er hatte ja keinen Führerschein. Wenn er eine Fahrt allein unternahm, fuhr er mit dem Moped. Mit dem Juniorchef war das Verhältnis viel besser, er hatte mehr Verständnis und konnte sich in meine Lage besser hineindenken. Noch dazu hatte der Meister – als Folge einer Krankheit – eine heisere Stimme, und ich verstand ihn schlecht. Da ich selbst nicht so gut höre, war dieses Problem 172

für mich größer als für die Kollegen. Ich konnte nicht immer nach­fragen, und gar manches, was ich hätte wissen sollen, überhörte ich. Das Fahren mit einem LKW war damals viel schwieriger als heutzutage. Es gab noch kein Synchrongetriebe bei LKWs. Beim Schalten auf den nächsthöheren Gang musste man zwei Mal kuppeln. Noch schlimmer war das Zurückschalten: kuppeln, Gang heraus, Zwischengas – da musste man abschätzen wie viel, je nach Geschwindigkeit –, den nächstniedrigeren Gang hinein und wieder kuppeln. Das Ganze durfte nicht zu lange dauern. Bergab hätte das Fahrzeug zu schnell werden können – womöglich mit voller Ladung –, weil doch etliche Sekunden kein Motor bremste, und bergauf hätte es passieren können, dass der LKW zum Stehen kommt. Man fuhr normal mit dem zweiten Gang weg. Die Erste war nur ein Kriechgang, mit der war man nicht schneller als ein Traktor unterwegs. Es war eine Art Reserve, wenn es der schwer beladene LKW auf einer steilen Straße nicht mehr mit der Zweiten schaffte. Es gab fünf Vorwärtsgänge und natürlich den Rückwärtsgang, den man oft brauchte. Wir fuhren erst zur Tankstelle, dann zum Bahnhof Statzendorf. Ich musste erst zur Rampe fahren und dann möglichst nah zum Waggon hinschieben. Das Rückwärtsschieben war für mich auch deshalb schwierig, weil der rechte Außenspiegel fehlte, ich sah praktisch nur links hinten genau, auf der anderen Seite musste ich schätzen. Mit Routine wäre es nicht so schlimm gewesen, aber die hatte ich nicht, schließlich war ich in den sieben Jahren seit der Prüfung in keinem LKW mehr gesessen. Mit einem guten Einweiser wäre es auch leichter gegangen, aber das konnte der Meister nicht. Er wusste nicht einmal, wo man sich beim Einweisen hinstellen muss, damit man ihn als Fahrer sieht. Sagen ließ er sich von mir, einem „Frischg’fangten“*, auch nichts. Wo mich der Juniorchef einwies, klappte es. 173

Das Ladegerät am Bahnhof funktionierte nicht, also wurde vom Sägewerk in der Nähe ein Stapler ausgeborgt. Mit den ersten drei Paletten fuhren wir nach Klein-Wien. Abgeladen musste immer händisch werden, die Firma besaß keinen Stapler. Nun, es war keine leichte Arbeit. An diesem Tag arbeiteten wir gerne schnell, damit uns warm wurde. Vor der nächsten Fuhre war Zeit zum Jausnen. Da wir dann noch auf den Stapler warten mussten, lud mich der Juniorchef auf ein Achterl im nahe gelegenen Gasthaus ein. Da waren die Chefleute relativ großzügig. Aber nur allzu bald merkte ich, dass ich in dieser Firma ausgenutzt wurde wie nie vorher. Schon bei der zweiten Fahrt wurde der LKW überladen – statt der erlaubten 3,5 Tonnen wurden 7 Tonnen aufgeladen. Es war problematisch: Als Anfänger hatte ich noch nicht das richtige Gefühl für gewisse Feinheiten, außerdem waren an manchen Stellen die Straßen glatt. An einer steilen Stelle wäre ich fast hängen geblieben. Für Mittag hatte ich mir ein belegtes Brot mitgenommen, welches ich gleich im Auto verzehrte. Ich war noch nicht fertig, als der Meister sagte, wir könnten schon weiterfahren. Gerade, dass ich das Brot noch hinunterschlingen konnte. Es sollte so eine Art Vorgeschmack darauf sein, was mir noch bevorstand. Von einer Stunde Mittagszeit war schon am ersten Tag keine Rede. Nun, ich wusste, dass die Zeit drängte. Am zweiten Tag luden wir Bretter und Latten auf den VW-Pritschenwagen. Sie wurden zu einem Haus in der Nähe transportiert, wo eine Wandverkleidung zu machen war. Diese Arbeit konnte bei winterlichen Verhältnissen noch am ehesten verrichtet werden. Der Wind war kein so großes Problem wie auf dem Dach und die Gefahr auch nicht so groß, wenn die Arbeit auch teilweise auf einem Gerüst verrichtet wurde. Mehr oder weniger Frieren war eingeplant. Am dritten Tag war wieder Eternit* vom Bahnhof Statzendorf zu holen. Das LKW-Fahren ging zwar schon besser, aber 174

für das Herumschieben brauchte ich noch Zeit. An diesem Tag wurde mir so richtig klar, was alles passieren konnte. Der Meister wollte alles, was noch da war, mitnehmen, aber drei Paletten nebeneinander waren zu breit. Sie wurden trotzdem aufgeladen, obwohl sich die Bordwand nicht schließen ließ. Ich glaubte nicht, dass es so gefährlich ist; schließlich taten die Chefs so, als wäre nichts dabei. Einerseits traute ich mich nicht recht, mich zu weigern, andererseits verließ ich mich auf die Chefs. Die hatten ja schon oft Eternit transportiert. Auf der Fahrt, nach einer Kurve, gab es einen lauten Krach. Der Meister wusste es sofort: „Es ist die Palette.“ Nun, er hatte nur allzu recht. Ich blieb natürlich gleich stehen, und wir sahen die Bescherung. Die Eternittrümmer lagen verstreut auf der Straße und im Graben. Ein Moped und ein Traktor waren in Mitleidenschaft gezogen worden. Es war im Ortgebiet. Ich wagte gar nicht, daran zu denken, was passieren hätte können, wenn sich in der Flugbahn Menschen aufgehalten hätten. Der Meister wusste es – in Nachhinein hatte ich natürlich die Schuld, weil ich in der Kurve zu schnell gefahren sei. Der Junior verteidigte mich und sagte, ihm wäre das auch passiert, weil er meist schneller fuhr als ich. Wir luden dann die Trümmer auf den Pritschenwagen. Bei der ersten Auszahlung war ich gleich enttäuscht, weil nicht alle Arbeitsstunden bezahlt wurden. Am Montag darauf fuhren wir mit zwei Fahrzeugen nach Statzendorf. Ich saß im LKW, der Junior fuhr mit dem VW, an dem der Aufzug angehängt war. Unser Ziel war ein Fleischhauer mit Gasthaus. Mit dem Aufzug wurde das Welleternit auf den Dachboden befördert. Von dort wurden die Platten von mir und einem Helfer dahin weiterbefördert, wo sie gebraucht wurden. Es stank von unten herauf, da war ein Schweinestall. Ich half dann auch beim Anschrauben. Erst um halb 11 Uhr wurden wir zur Jause gerufen. Es wurden uns ein Laib Brot und eine 175

Stange Wurst hingelegt, dazu gab es für jeden ein Bier. Für das Mittagessen wurden wir später in die Gaststube gebeten. Es gab erst eine Suppe, dann Krautfleisch und dazu wieder ein Bier. Mittags wurden wir oft großzügig bewirtet. Das gehörte zu den erfreulichen Seiten dieses Gewerbes. Die meisten Bauherrn waren nicht kleinlich. Vor allem auf dem Land gehörte es dazu, Handwerker gut zu verköstigen und auch nicht dursten zu lassen. An jeder Arbeitsstätte war es aber nicht so, vor allem in der Stadt war es eher selten. Ab und zu wurde uns da im Gasthaus ein Essen bezahlt, auch bei Neubauten, wo noch niemand wohnte und man den Bauherrn gar nicht zu Gesicht bekam. Die meisten Bauherren kannten sich aus, wenn einer der Arbeiter nebenbei erwähnte, dass es so staube. Dann wurden Getränke gebracht, aber oft nur Alkohol. Ich hatte meist keine rechte Freude damit. Besonders der Wein löschte bei mir den Durst nicht gut; die Gefahr am Dach wurde größer, und schließlich trug ich die Verantwortung, dass alle gut heimkamen. Um vier Uhr war dieses Dach fertig. Wir luden alles, was übrig geblieben war, aufs Auto. Bei der Heimfahrt machten wir einen Abstecher nach Schaubing; der Meister und ein Geselle maßen ein Dach aus. Im Gegensatz zu ihm war mein Arbeitstag noch nicht zu Ende. Ich musste mit dem LKW noch in die Halle schieben und abladen. Das wurde nicht als Arbeitszeit anerkannt. Es gab für mich immer wieder etwas Neues. Erstmals wurde ich beauftragt, in die Schottergrube zu fahren und Frostschutz zu holen. Nun, auch hier galt für mich: Aller Anfang ist schwer. Bei der ersten Fahrt hatte ich natürlich noch nicht den Bogen heraus. Bei den nächsten Fahrten war alles schon leichter. Ich wusste schon, wie ich hinschieben musste, dass es mit dem Beladen klappte. Und natürlich wurde ich 176

auch hier unter Druck gesetzt, dass ich mehr aufladen lasse, als erlaubt war. Solange man auf einer nicht zu steilen Straße fuhr, war es nicht so schlimm. Aber ich musste damit oft auch auf schlechten Wegen bergauf, bergab fahren. Einmal bekam ich Angst, dass ich umschmeiße, wie es Bauern mit Heufadeln* manchmal passiert. Der Feldweg war holprig, an einer Böschung gelegen und die Fahrspuren waren nicht in einer Ebene – ich kam ziemlich schief daher. Ich hatte damals zehn Tonnen geladen, und die Ladung war noch dazu sehr hoch, somit auch der Schwerpunkt. Ich fuhr auch in Sand- und Schottergruben, denn wir brauchten zum Beispiel Riesel* für geteerte Dächer. Beim Schotterführen wurde das Abkippen aktuell. Der Juniorchef erklärte es mir. Gesteuert wird die Richtung, in die man abkippt, durch die „Nägel“, das sind Stahlbolzen, welche in eine Buchse gesteckt wurden. Waren sie links, wurde der Schotter auf diese Seite abgeladen, dasselbe galt natürlich für die rechte Seite und hinten. Sehr wichtig war, dass man sich immer überzeugte, dass die Nägel richtig steckten. Wehe, sie waren „übers Kreuz“, da hätte die Hydraulik und die Ladefläche stark gelitten. Das Herumschieben mit der vollen Ladung, mit zwei-, ja dreifachem Gewicht, war besonders auf weichem Boden Schwerarbeit. Es gab noch keine Servolenkung, und man musste das Lenkrad sehr fest in die Hand nehmen. Ich transportierte alles Mögliche. Einmal fuhren wir zu einer Beton erzeugenden Firma an der Pielach. Dort wurden 26 Stück Rohre aufgeladen mit 40 Zentimeter Durchmesser. Sie waren ziemlich schwer, und die Rückfahrt war fast ein Abenteuer. Die Wege waren schlecht und die Brücken – ich war mir nicht sicher, ob sie der Belastung standhalten würden. Ich musste den LKW auch selbst reinigen und mich umschauen, dass immer rechtzeitig Motoröl nachgefüllt wurde. 177

Es waren oft mehr oder weniger große Reparaturen am alten Steyr notwendig. Es kam nicht selten vor, dass wir verdächtige Geräusche hörten, da musste ich natürlich stehen bleiben und der Sache auf den Grund gehen. Einmal war eine Lasche gebrochen, die den Ölkühler hält; bei der nächsten Tankstelle befestigten wir ihn provisorisch mit Draht. Ein andermal kam der Lärm von den „Nägeln“. Sie begannen in den ausgeleierten Buchsen plötzlich zu scheppern. Wir mussten in eine Werkstatt, dort wurde die ganze Welle heruntergenommen und neue Buchsen eingeschweißt. Besonders gefährlich wurde es, als der Kompressor nicht mehr wollte; es gab zu wenig Druck in der Bremsleitung. Bis ich beim Mechaniker einlangte, war der Tritt aufs Bremspedal schon fast wirkungslos. Der Meister ließ durchblicken, dass er von mir enttäuscht sei, weil ich den LKW nicht selbst reparieren konnte. Nun manchmal war es schon fast Dummheit, was er für Vorstellungen hatte. Ich bin gelernter Bauschlosser, und die Reparatur eines Lastwagens ist wohl etwas anderes, als ein Stiegengeländer zu schweißen. Es war der 1. April – leider war es kein Scherz, als der Meister sagte, dass wir um 3 Uhr früh ins Eternitwerk bei Vöcklabruck fahren. Für mich bedeutete es, um halb 3 Uhr aufzustehen; der Meister war schon bereit, und wir konnten losfahren. Erstmals war ich mit dem LKW auf der Autobahn, und das in der Nacht. Mehr als 70 Stundenkilometer gab er nicht her. Es war eine eintönige und lange Fahrt. Vor Linz gab es plötzlich dichten Nebel. Aber für mich tauchte ein anderes, schlimmeres Problem auf: Ich wurde plötzlich sehr schläfrig. Der Meister, der sonst überall seinen „Senf“ dazugab, war sehr ruhig und döste. Ein Gespräch hätte mir geholfen und mich etwas aufgemuntert … Ich war dann froh, als wir bei Regau die Autobahn verließen. Um 6 Uhr, also nach drei Stunden Fahrt, waren wir am Ziel. Wir 178

bekamen die Nummer 6 und mussten etwas warten. In der Zwischenzeit kaufte der Meister Würstel für uns beide. Die Schrauben besorgten wir selbst, das Eternit brauchten wir natürlich nicht selbst aufladen. Bei der Rückfahrt stoppten wir gleich in Vöcklabruck bei einer Tankstelle. Es wurde auch Öl nachgefüllt und die Luft in den Reifen überprüft. Bei Linz hielten wir bei einer Autobahnraststätte an. Ich gönnte mir einen Mokka, den ich auch beim Hinfahren gut vertragen hätte, aber da war keine Zeit dafür. Der Meister wünschte später noch eine weitere Einkehr, auf die war ich gar nicht mehr so neugierig. Es gab an diesem Tag eine längere Mittagspause, wir waren nicht mehr unter Druck. Es brauchte nur mehr abgeladen zu werden; dabei half die Frau des Meisters. Wir hatten eine Palette mit schwarzem Welleternit (70 Stück) und eine Palette mit grauem Well­ eternit sowie Rhombus- und Fassadeneternit auf der Ladefläche. Etwas später machte ich die Bekanntschaft mit dem Bramac-Alpendachstein. Er besteht aus Beton und ist dementsprechend schwer – nicht nur für den Dachstuhl, der stabil genug sein muss, sondern auch für den Helfer, der die Ziegel befördern muss. Wir werkten zu fünft. Unten waren zwei Helfer. Sie brachten die Ziegel zum Aufzug und bedienten diesen. Einer half mir beim Befördern vom Aufzug zum Dachdecker. Nun, an diesem Tag fror ich nicht, im Gegenteil – bald war ich total verschwitzt. Ich fuhr öfter nach Pöchlarn, um die Ziegel vom Werk zu holen. Als wir durch den Dunkelsteiner Wald fuhren, deutete der Meister auf einen Waldweg und fragte: „Würdest du da hineinfahren?“ Ich gab eine klare Antwort: „Nein.“ Dass ich auf diese Art punkten konnte, ahnte ich noch nicht. Ein paar Tage später erzählte der Meister, dass der Junior es riskiert hatte, mit dem LKW in den Wald gefahren und stecken ge179

blieben war. Drei Traktoren, sagte er, hätten sie gebraucht, um da wieder herauszukommen, und nun hielt er seinem Sohn vor: „Der Hans wäre da nicht hineingefahren ...“ Im Betonwerk mussten wir meistens warten, bis eine Ladepartie frei war. Das waren vier Mann mit Handschuhen, die darauf spezialisiert waren, einen LKW händisch, aber schnell zu beladen. Ich schaute manchmal anderen Brummi-Fahrern zu – das waren im Gegensatz zu mir echte Profis. Sie befestigten den Anhänger vorne und schoben genau dorthin, wo dieser gewünscht wurde, fast auf den Zentimeter genau. Natürlich wollte es der Meister ausnützen und so viel aufladen wie möglich. Am Aggsbacher Berg hätte es der alte Steyr mit der Zweiten fast nicht mehr geschafft, verdächtige Rußwolken kamen aus dem Auspuff – ein Zeichen der Überlastung. Viel hätte nicht gefehlt, und wir hätten mit der Ersten den Berg „hinaufkriechen“ müssen. Für etliche Wochen waren Karl, der Lehrling Rudolf und ich die „Welleternitpartie“. Wir hatten uns gut eingearbeitet und waren so effizient, dass wir billiger waren als Pfuscher. Rudolf war ein verlässlicher Partner beim Tragen der Well­ eternitplatten. Am Anfang mussten wir meist auf der Mauerbank damit balancieren. Da war jeder Windstoß gefährlich, man musste schwindelfrei sein, und wenn einer gestolpert wäre, hätte er den anderen mitgerissen. Manchmal mussten wir so auch über Sparren und Staffel* gehen, um den Werkstoff auf die andere Dachseite oder ein Nebendach zu bringen. Lag erst die untere Reihe, war das Tragen viel leichter. Karl nagelte die Platten provisorisch an und schnitt sie am Eck, wo vier zusammenkamen. Damals wussten wir noch nicht, dass der Staub sehr ungesund war, dass Asbest krebsfördernd ist. Lagen alle Platten, wurde „geschnürt“. Eine mit trockener Farbe eingefärbte Schnur wurde an den Enden befestigt und gespannt. Dann wurde sie losgelassen und hinterließ eine far180

bige Linie. Da konnte man dann bohren und traf, wenn genau gearbeitet worden war, auf das Holz des darunter liegenden Staffels. Dann ging es dahin: Einer bohrte, der Nächste setzte die Gestellschrauben an, und der Dritte kam mit der Schraubmaschine. Zuletzt waren dann noch Traufensteine, Reiter* und anderes anzubringen. Mit dieser Methode ging es auf relativ flachen Dächern schnell. Hatte das Dach eine Neigung von mehr als 27 Grad, war es mit dem freien Gehen da oben vorbei. Die Rutschgefahr war zu groß, es mussten Dachleitern aufgelegt werden. Ich lernte viel dazu, mauerte auch selbst Reiter ein. Ich plante selbst einen Hausbau und war dadurch motiviert, manches selbst verwerten zu können. Ein paar Tage später half ich bei der Reparatur eines Schornsteines. Karl erklärte mir, dass dieser die höchste Stelle eines Hauses sein soll, dann „zieht“ er gut. Regen, Schnee und Sturm setzen ihm von allen Seiten zu. Dazu kommen erhebliche Temperaturunterschiede durch die innere Erwärmung durch Heizgase und die äußere Abkühlung. War der Querschnitt zu groß, was besonders bei älteren Kaminen nicht selten der Fall war, kam es zu Versottungen*. Auch der, wo wir waren, hatte im Laufe der Jahre schon sehr gelitten. Die lockeren Ziegel wurden entfernt und neue eingemauert. Darüber kam Fassadeneternit. Im Gegensatz zu einer normalen Wand, darf da kein Holz verwendet werden; das Eternit muss direkt ans Mauerwerk gedübelt werden. Eine Kleinigkeit kann enorm aufhalten: Man hatte auf den Schlüssel für die Bohrmaschine vergessen (Schnellspannfutter gab es damals noch keines). Ich musste extra zurückfahren und einen holen, damit der Bohrer eingespannt werden konnte. Immer wieder wurde ich daran erinnert, dass die Dachdeckerei eine gefährliche Arbeit ist. Einmal übersah ich herumliegendes Werkzeug auf dem Welleternit. Ahnungslos stieg ich darauf und rutschte weg. Ich entwickelte dabei so viel 181

Schwung, dass ich mit dem Knie die Welleternitplatte durchstieß. Würde man das mit Absicht machen wollen, die wenigsten würden es schaffen – vielleicht die Shaolin-Mönche. Dabei spürte ich am Knie gar nichts, es schmerzte nicht, und ich sah auch keine Verletzung. Nicht so glimpflich verlief es, als Karl in der Dachrinne ausrutschte und sich mit dem Blech das Knie zerschnitt. Der Bauherr führte ihn in Krankenhaus. Er musste drinnen bleiben und bekam einen Liegegips. Kritisch war es für mich und einen Kollegen auch einmal auf dem Gerüst. Es dürften keine Fachleute gewesen sein, die es aufgestellt hatten. Die Bretter, auf denen die Pfosten auflagen, waren schwach und nicht durch ein zweites gesichert. Wir hatten großes Glück, dass wir es rechtzeitig bemerkten, als sie nachgaben, und uns anhalten konnten. Die Pfosten donnerten Sekunden später hinunter, auch die Bohrmaschine, mit der ich gearbeitet hatte. Im Winter lernte ich Welleternit auch von seiner tückischen Seite kennen. Die oberste Platte eines Stoßes wird bei Raureif sehr rutschig, aber man sieht es fast nicht. Wird sie verarbeitet und liegt „im Dach“, so macht man eine Rutschpartie, wenn man draufsteigt. Passiert das mitten auf dem Dach, hat es meist keine Folgen, aber am Rand kann es den Absturz bedeuten. Sicherheit wurde nicht so wichtig genommen in der Firma, die vorgeschriebenen Gitter wurden praktisch nie aufgestellt. Wir fuhren öfter ins Waldviertel, nach Purk. Dort war ein ganzes Kirchendach neu zu decken. Es hieß früh aufstehen, schon um halb 6 Uhr fuhren wir los. Aber gleich am ersten Tag gab es Schlechtwetter. Schon beim Hinfahren regnete es. Am Ziel angekommen, zogen wir das Gummigewand an. Erst wurde das Eternit – für das Kirchendach war gewöhnliches Rhombus oder eine Doppeldeckung nicht erlaubt, nur Schindeln – mit Hilfe des Aufzuges hinaufbefördert. Der Re182

gen ließ nicht nach. So gingen wir schon um halb 8 Uhr ins Gasthaus in der Nähe und hielten Jausenzeit. Nachher versuchten wir es nochmals, hatten aber kein Glück mit dem „Wettergott“. Wir gaben schließlich auf und fuhren schon mittags heim. Erst Wochen später kamen wir wieder. Wir fuhren nach 5 Uhr los. Diesmal „ging“ etwas. Wir nagelten erst die Dachpappe an. Ich konnte den Unterschied feststellen zwischen einem gewöhnlichem Hausdach und dem Kirchendach – man schaut da schon viel weiter hinunter! Es gab da einen Pfarrer, dieser war keine alltägliche Erscheinung. Er ging oft mit der kurzen Hose. Einmal besuchte er mich ganz oben, als ich auf dem Gerüst des Kirchturms arbeitete, wo manche gar nicht so gern hinaufsteigen. Bei der Einkehr im Gasthaus zahlte er uns oft ein Essen und ein paar Runden. Er verstand auch Spaß und erzählte Witze von Pfarrern und Köchinnen. Immer wieder das Einkehren nach der Arbeit – der Alkohol floss. Einmal blieben wir bis Mitternacht beim Heurigen sitzen, keiner wollte zurückstehen und jeder wollte eine Runde zahlen ... Und am nächsten Tag hatten wir schon um halb 7 Uhr auf dem Kirchendach zu sein. Ich brachte bei der „Purk-Partie“ fast jeden Tag 15 Arbeitsstunden zusammen und überlegte, ob ich etwas zurückstecken und nur 14 Stunden angeben soll. Da überraschte mich der Meister: Er hatte nur zehn Stunden notiert. Das war deutlich zu wenig; wenigstens eine elfte Stunde akzeptierte er dann. Aber was dann kam, war hässlich. Der Geselle Erich war immer schon auf mich losgegangen. Ich hatte ihm dazu nie einen Grund gegeben, aber oft sind ja Leute, denen man nichts getan hat, am gehässigsten. Er mischte sich ein und drohte dem Meister: „Wehe, wenn du dem die elfte Stunde gutschreibst …“ Er hätte sogar zu raufen begonnen. Ich ahnte, was hinter seinem Hass steckte. Er hatte mehrmals versucht, 183

den B-Führerschein zu machen und war immer durchgefallen – und ich komme daher mit Führerschein A, C, E. Dass es da nicht zählte, dass er mir am Dach Jahre Erfahrung voraushatte, kapierte er nicht. An einem Freitag lernte ich eine neue Arbeit kennen. Wir luden den Teerkessel auf und fuhren nach Ambach, wo ich mit dem LKW in eine schmale Einfahrt hineinschieben musste. Karl und ich schnitten die Dachpappe zu, das war die Unterlage. Der Meister bediente den Kessel. Etwas Erfahrung brauchte man dazu. Es gab keinen Thermometer oben, und der Teer sollte nicht heißer werden als 150 Grad Celsius. Sonst entstehen farbige Dämpfe und wertvolle Leichtöle entweichen in die Luft. Dass es für die Lunge nicht gut ist, dachte ich mir gleich, Genaues erfuhr ich später – in der schwarzen Masse sind nämlich krebserregende Stoffe enthalten. Mit der Bürste wurde eine Schicht Teer auf den Boden aufgetragen, darüber kam eine Schicht Dachpappe und dann wieder flüssiger Teer. Ich war froh, als die stinkende Arbeit erledigt war. Es war dann noch ein wenig Zeit, um mit der Hausfrau zu plaudern. Nachher hieß es wieder aufladen, zurückfahren und wieder abladen. Ab dieser Woche wurde mir auch das Kfz-Pauschale ausgezahlt, das bedeutete 15 Schilling mehr in der Woche. Tage später wurde ich schon zum Heizer befördert – darauf hätte ich verzichten können. Ich war voll im Einsatz, musste mich um den Nachschub kümmern und die heißen Kübel den Gesellen nachtragen. In den nächsten Tagen fuhren wir nach Gansbach, trotz Regens. Als wir hinkamen, hatte es aufgehört. Aber der Himmel im Westen blieb verdächtig dunkel, und man hatte das Gefühl, dass es jederzeit wieder zu schütten beginnen würde. Aber der Bauherr war ein Optimist, er gab uns trotzdem den Auftrag, das Dach abzudecken. Nun, er hatte Glück, und es blieb trocken. 184

Als wir am Nachmittag mit dem Eindecken begannen, war für mich keine Nageltasche da. Der Meister gab mir den Rat, mir einen alten Hut zu besorgen. Den durchlöcherte ich, fädelte ein Band durch, hängte es mir über und hatte so auch eine Hüfttasche. Da kein Hilfsarbeiter da war, musste ich den Aufzug bedienen und dann auch die Platten hinbringen, wo sie die Dachdecker gerade brauchten. Blieb etwas Zeit, durfte/ musste ich mitnageln. Der Meister kritisierte, dass ich mit dem Hammer zu wenig aushole. Er verstand es einfach nicht, dass ich keine Möglichkeit hatte, mir die nötige Routine zu erwerben. Holte man weiter aus, brauchte man nur ein bis zwei Schläge, aber dazu gehörte eine gewisse Treffsicherheit. Hat man die nicht, kann man danebenhauen, und die Platte kann einen Sprung kriegen. Ich gab ihm diesmal eine energische Antwort. Wahrscheinlich ließ er mich deshalb bei der Auszahlung warten. Um halb fünf war die Arbeitszeit vorbei, aber das bedeutete nur, dass wir vom Dach herabstiegen. Es wurde noch aufgeladen, zurück in die Halle gefahren und abgeladen. Für das nächste Jahr kündigte er eine weitere Verschlechterung an, da würde auch morgens die Arbeitszeit ab dem Zeitpunkt an­erkannt, wenn man auf dem Dach beginnt. Das hätte bedeutet, dass das Aufladen und Hin­fahren (wie bei der Heimfahrt) auch Freizeitbeschäftigungen gewesen wären. Nun, ich hatte mich inzwischen schon um eine andere Arbeit umgeschaut und regte mich nicht mehr auf. An etlichen Tagen des Jahres konnten wir feststellen, dass es auf dem Dach sehr warm sein kann. Im Sommer spielte es eine Rolle, dass es da oben meist keinen Schatten gab. Man war einfach dem Wetter ausgesetzt, und der Laie kann es sich nicht vorstellen, was oft nur zehn Meter Höhenunterschied ausmachen. Schon im Oktober dachten wir mit Sehnsucht zurück, denn ein wenig von der Wärme des Sommers hätten wir da an 185

manchen Tagen gut vertragen. Ende Oktober kamen nasskalte Tage, und im November war es manchmal sehr rau. Wir arbeiteten oft bei strömendem Regen, vor allem, wenn es etwas zu transportieren gab; zum Beispiel mussten wir einmal Material auf die andere Dachseite befördern, weil man drüben keinen Aufzug aufstellen konnte. Und im Winter musste oft zuerst der Schnee weggekehrt werden, oder alles war weiß von Raureif, kalt und glatt. Mit klammen Fingern zogen wir die Nägel aus der Tasche. Hier konnte man keine Handschuhe brauchen. Als wir um 8 Uhr anfingen, froren wir erbärmlich und zitterten fast. Wenn die Sonne emporstieg, wurde es für einige Stunden erträglich, und der heiße Tee zur Jause half uns schon. Nur ein warmes Mittagessen, welches uns sehr gut getan hätte, hat uns der Meister nicht gegönnt; er wollte die Tagesstunden nutzen. Man brachte ja kaum mehr die nötigen Stunden in der Woche zusammen. Allerdings, eines muss man ihm zugutehalten: Wenn er auch von seinen Arbeitern manches verlangte, was übertrieben war – er war selbst am Dach und tat mit und schaffte nicht von einer warmen Stube aus an. Endlich, nach 16 Uhr, als man nicht mehr viel sah, gab es dann ein warmes Essen. Als die Zeit des Frierens vorbei war, hatte ich schon einen anderen Arbeitsplatz gefunden, und beim Kündigen hörte ich dann doch vom Meister, was ich zu hören wünschte: „Ich wär froh, wenn du dableiben würdest …“

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„Als Autodidakt und unter vielen Demütigungen …“ Gertrud Jagob wurde am 27. Oktober 1930 als erstes und einziges Kind eines Maurers und einer Buchdruckereiarbeiterin geboren und wuchs, bedingt durch lange Arbeitslosigkeit des Vaters in den 1930er Jahren und später verschärft durch die Kriegsereignisse, unter prekären materiellen Verhältnissen in Wien-Ottakring auf. Die Autorin musste rascher als andere Vierzehnjährige selbständiges und eigenverantwortliches Handeln erlernen; ihr Wunsch nach einer soliden Berufsausbildung blieb unmittelbar nach Kriegsende aber unerfüllt. Wie aus der nachfolgenden Erzählung hervorgeht, konnte sie mit viel Lerneifer und persönlichem Einsatz eine Anstellung in einem Büro erreichen und sich in diesem Berufsfeld weiterentwickeln. In der Zeit seit ihrer Pensionierung im Jahr 1984 machte sich Gertrud Jagob durch zahlreiche Lesungen und einige im Eigenverlag herausgegebene Lyrikbände einen Namen als Wiener Mundartliteratin. Bereits Anfang der 1990er Jahre brachte sie, angeregt durch die Berichterstattung vom ersten Irakkrieg, Erinnerungen an ihre eigene Kriegskindheit und -jugend zu Papier und überließ das Manuskript der „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“. Ausschnitte daraus wurden seither in der Broschüre „1945 erinnern“ und auf der Erinnerungsplattform www.MenschenSchreibenGeschichte.at veröffentlicht. 1945 war für mich das Jahr des Schulabschlusses im A-Zug der Hauptschule, wobei man diese Schuljahre nicht mit normalen Schulzeiten vergleichen kann. Ein paar Wochen, nachdem Wien von fremden Soldaten erobert worden war, holte ich mir 187

mein Schulentlassungszeugnis ab. Zu der Zeit hatte ich bereits Lebenserfahrungen gesammelt, wie man sie nur in Kriegszeiten machen konnte. Vorher hatte meine Deutschlehrerin zweimal meine Mutter in die Schule gebeten, um mit ihr wegen meiner weiteren Ausbildung zu sprechen. Ich war sehr gut in Deutsch und konnte gut Wissen vermitteln; meine Lehrerin wollte mir den Weg für eine Ausbildung im Lehrerinnenseminar ebnen, doch meine Mutter wollte dem nicht zustimmen. Da mein Vater als vermisst galt und die Kriegsereignisse sie völlig überfordert hatten, war bald ich diejenige, die für meine Familie – Mutter, Großmutter und Großvater – sorgte. Ein Jahr Haushaltungsschule wurde mir zugestanden, dann musste ich selbst sehen, wie ich weiterkam. Ein befristeter Posten als Helferin in ­einem Privatkindergarten bewahrte mich die nächsten zwei Jahre vor dem Absacken. Die täglichen Reste des von Schweden für die Kindergartenkinder gespendeten Essens halfen mir dabei, mich und meine Familie vor dem Verhungern notdürftig zu bewahren. Ich wollte unbedingt etwas lernen, doch was? Und wovon die Ausbildung bezahlen? Im Kindergärtnerinnenseminar wurde ich trotz bestandener Aufnahme­prüfung nicht angenommen; es fehlte mir der nötige prominente Anschieber. Nun wollte ich etwas anderes machen. So landete ich vorerst in einer winzigen Firma mit vier Beschäftigten als Hilfsarbeiterin für die Produktion von weihnachtlichen Sternspuckern*. Das bedeutete, von 8 Uhr früh bis 17 Uhr abends am selben Platz stehen, eine hastige Mahlzeit zwischendurch. Da ich noch nicht 18 Jahre alt war, galt für mich diese Arbeitszeit, die anderen begannen um 7 Uhr und arbeiteten bis 18 Uhr. In der Zeit kam mein Vater von der Kriegsgefangenschaft nach Hause, doch meine Hoffnung, dass er mir Halt geben und mich in meinen Bemühungen unterstützen würde, erfüllte sich nicht, war er doch selbst ein hilfsbedürftiges Häuflein Elend. Bei einer Körpergröße von 186 Zentimetern wog er nur noch knappe 48 Kilo. 188

Mit meinem damaligen Chef hatte ich vereinbart, dass ich, damit ich eine Abendhandelsschule besuchen konnte, ohne ­finanziellen Nachteil schon eine halbe Stunde früher weggehen durfte. Das Geld, das ich tagsüber mühsam verdiente, investierte ich ins Schulgeld. Und so sah mit knapp achtzehn Jahren dann mein Leben folgendermaßen aus: Wochentags um 6.30 Uhr aufstehen, um 7 Uhr in die Arbeit fahren, ab 17 Uhr Unterricht für eine Büroausbildung bis 21 Uhr, um 22 Uhr war ich zu Hause, anschließend und am Sonntag lernen. Einige Monate später bekam ich eine Anstellung in einem Touristenverein. Es folgten dort bittere Lehrjahre, in denen mir bewusst wurde, wie groß mein Wissensmanko gegenüber jenen mit einer guten Schulausbildung war. Viele Demütigungen musste ich einstecken, doch eine mütterliche Kollegin baute mich immer wieder auf. Von Daheim bekam ich keinen Halt, Hauptsache, ich lieferte das vereinbarte Kostgeld ab. Mein Vater wurde nie wieder der, als der er in den Krieg gezogen war. Einmal darauf angesprochen, ob ich eine mehrjährige Ausbildung mit Meisterprüfung als Damenschneiderin machen dürfte, hieß es: „Nein, schau du, wie du deinen Lebensunterhalt verdienst – jetzt will auch ich leben.“ (Heute ist mir diese Haltung verständlich, doch damals versank für mich eine Welt.) Wieder ein Jahr später erkrankte ich lebensgefährlich an Tuberkulose. Jetzt reuten meinen Vater seine harten Worte, und er bemühte sich um jene Lebensmittel, die mein geschwächter Körper dringend brauchte. Die ganze Verwandtschaft half mit: Eine Tante brachte etwa einen Liter Milch, die andere ein Ei und ein paar Dekagramm* Butter, und sie unterstützten so die medikamentöse Behandlung. Ich überlebte. Meine Anstellung als Bürohelferin hatte ich nicht verloren, und so eignete ich mir doch etliches Wissen an. 1953 heiratete ich und bekam mein erstes Kind. Eines aber wusste ich genau: Sobald ich wieder einer bezahlten Arbeit 189

nachgehen würde, wollte ich mir auf jeden Fall solche Sparten aussuchen, die mich interessierten, wo ich dazulernen konnte. Und so geschah es dann auch – früher als es gut war. Denn uns wurde eine größere Wohnung versprochen, natürlich mit höherer Miete; auch unser Mobiliar reichte nicht, und unserem Kind sollte es doch gut gehen. Als mein Sohn eineinhalb Jahre alt war, begann ich daher via Zeitungsannoncen nach dem zu suchen, was mir vorschwebte. Ich landete fürs Erste in der ÖGB-Zentrale, wo mir eintönige Arbeit zugewiesen wurde. Wieder sammelte ich eine schmerzhafte Erfahrung, denn als ich im Zuge einer Nationalratswahl meinem damaligen Chef, einem Abgeordneten, eine damit zusammenhängende Frage stellte, die er nicht beantworten konnte, wagte ich es, ihm zu sagen: „Na, das müssten Sie doch wissen!“ Daraufhin sollte ich wegen mangelnder Kenntnisse in Steno und Maschinschreiben sofort entlassen werden. Doch dadurch lernte ich – tränenüberströmt – auch die andere Seite redlicher Gerechtigkeit kennen. Der Personalchef meinte, ich hätte doch bei dem Aufnahmetest entsprochen, also prüfte er selbst nochmals und fand, dass die Entlassung ungerechtfertigt wäre. Ich wurde in eine andere Abteilung versetzt, und als ich drei Jahre später, nach der Geburt meines zweiten Kindes, auf eigenen Wunsch ausschied, bot man mir, um mich zum Bleiben zu bewegen, einen Posten mit Eigenverantwortung an. Doch ich wollte eine mich befriedigende Arbeit, wo man nach der Leistung bewertet wird. Nach diesmal zweijähriger familienbedingter Berufspause suchte ich dann täglich im Inseratenteil nach einem Angebot, das meiner Familienkonstellation entsprach. Ich fand diesen Traumjob! In einem technischen Büro fing ich vorerst mit einigen Stunden wöchentlich an, während mein Mann, der zu der Zeit im Schichtdienst arbeitete, bei den Kindern sein konnte. Später arbeitete ich dreimal wöchentlich, dann täglich jeweils vier Stunden, und das fast zehn Jahre hindurch – eine 190

Woche vormittags, eine Woche nachmittags. Als die Ansprüche meiner Kinder stiegen – der Sohn besuchte inzwischen das Gymnasium –, versuchte ich mich kurzzeitig in einer Aufzugsfabrik in Wohnnähe, doch das trockene Ausfüllen von Frachtpapieren war nicht mein Fall. Ich suchte weiter und landete für die nächsten drei Monate bei Professor Koenig* und seiner Tierforschung am Wilhelminenberg. So interessant die Tätigkeit vom Thema her auch war, das Rundherum überforderte meine Anpassungswilligkeit. Eine pharmazeutische Firma bot sagenhafte Bezahlung, die Arbeit war interessant, mit dem mir zugeteilten Abteilungsleiter kam ich gut aus; doch leider, leider, der jungen Chefsekretärin gefiel dies nicht. Nach einem halben Jahr warf ich, des täglichen Mobbings müde – damals gab es noch kein Wort für Derartiges –, das Handtuch. Aber irgendwann musste ich doch das finden, wonach ich mich sehnte! Und das geschah dann auch wirklich: Eine Rechtsanwaltskanzlei suchte eine erfahrene Bürokraft. Ich war nun schon ziemlich sattelfest, bewarb mich und erhielt diese Stelle. Das war endlich etwas, das mir Spaß machte. Bald durfte ich selbst mit den Klienten Erstgespräche führen, alle anfallenden Schriftsätze, Korrespondenzen usw. ­schreiben. Man übertrug mir immer mehr Verantwortung, ich machte Ersttagsatzungen* bei Gericht und und und. Ja, bis zu einem Nervenzusammenbruch nach einigen Jahren. Diese Arbeit hatte mich zwar ausgefüllt, doch neben Haushalt und Familie war es auf längere Zeit nicht machbar. Spitalsaufenthalt und langsame Erholung veranlassten meinen Hausarzt, mir zu einem geruhsameren Job zu raten. „Gehen Sie zur Gemeinde oder zum Bund!“, riet er mir. Ich schrieb an beide Stellen Bewerbungen und landete im Rahmen der Bundesgebäudeverwaltung in der Personalkanzlei des Burgtheaters. Um es kurz zu machen: Das Beste daran waren die Freikarten, und ich genoss während meiner kur191

zen Beschäftigung dort das Theaterleben Wiens. Jedoch der Job selbst? Ich sollte die Nachfolge der in Pension gehenden Sekretärin des verantwortlichen Personalchefs antreten. Als ich nach einigen Tagen des „Einarbeitens“ zum Diktat gerufen wurde und noch vor der Mittagspause die Unterschriftsmappe mit den Schriftstücken vorlegte, sagte man mir klipp und klar, dass ich so nicht arbeiten könne. Ich müsste mir die Arbeit für den ganzen Tag aufteilen! Irgendwie brachte ich die endlosen Stunden hinter mich, doch das hielt ich nicht lange durch. Ich suchte um Versetzung an, und man staunte über meine Begründung, dass ich mir etwas mehr Anforderungen wünschte. Dies erfolgte dann auch prompt. Zu der Zeit wurde in Wien das AKH* erbaut, und ich wurde dem zuständigen Bauleiter des Bundes (es gab einen zweiten der Stadt Wien) als Sekretärin zugeteilt. Auch diese (Mehr-)Arbeit gefiel mir, wenngleich die Bezahlung nicht dem Pensum entsprach. Aber gegen des Geschickes Mächte … Ein Finanzskandal machte diesem Leben den Garaus, und alle Beschäftigten wurden auf andere Arbeitsstellen aufgeteilt. Ich landete als Letzte in der Finanzabteilung der Bundesgebäudeverwaltung. Wieder begann das gleiche Unbehagen, das ich schon von früher kannte. Nochmals wurde ich einer anderen Abteilung zugewiesen. Jetzt war ein Mann mein Vorgesetzter, der sich vor einem Jahr bei mir täglich wegen seiner laschen Dienstauffassung an- und abmelden musste. Ich quälte mich durch die Tage, bis es mir endgültig langte. Damals schrieb ich die Korrespondenz für zwei Abteilungen inklusive aller anfallenden Verwaltungsarbeiten. Da ich keine Matura vorweisen konnte, war ich sehr schlecht eingestuft im Gehaltsschema. Als sich nun der leitende Buchhalter eine lukrativere Stelle gefunden hatte, wurde sein Posten vakant. Man bot ihn mir an. Dazu gehörte unter anderem auch die Kontrolle des Arbeitsfortschritts auf den Baustellen, die man einerseits einer Frau nicht zutraute, andererseits könne ich „aber 192

gerne“ die Buchhaltung übernehmen, allerdings zusätzlich zu meiner jetzigen Arbeit(!), da für diese Stelle ein B-Posten, Voraussetzung Matura, vorgesehen sei. Dies schlug man mir allen Ernstes vor! Das schlug dem Fass den Boden aus! Ich kündigte auf der Stelle und war das letzte Mal auf Stellensuche (was ich aber dazumal nicht wusste). Wie das Schicksal so spielt – dies erwies sich einmal mehr als keine Floskel – sah ich mich bald darauf in jenem Haus sitzen, das einige Jahre vorher noch als zu errichtendes Gebäude der AKH-Bauleitung zu meinem Korrespondenzaufgabenbereich gezählt hatte. Für eine Forschungsabteilung wurde eine Sekretärin gesucht. Ich bewarb mich und saß nun hier, in einem notdürftig als Büroraum adaptierten Krankenzimmer. Nebenan, nur durch eine Glaswand getrennt, lag ein achtzehnjähriges Mädchen, das mit dem Tod rang. Wieder hatte mich das Schicksal in eine Situation gestellt, in der es nicht nur um das berufliche Können ging – nein, viel menschliche Einfühlungsgabe war diesmal vonnöten. Vorerst hieß es aber dennoch, einen total verfahrenen Karren aus dem Dreck zu ziehen. Man war von mir begeistert und ich von meiner Aufgabe. Viel Verständnis für mein administratives Engagement fand ich nicht, trotzdem, es war Arbeit mit Menschen, mit oft todkranken Kindern und deren verzweifelten Eltern. Es war eine derartige Vielfalt an Betätigungen, die mir Freude machte, noch dazu, wo mich bald Ärzte anderer Abteilungen baten, den einen oder anderen Schriftsatz für sie zu erledigen. Bald war ich wieder gesundheitlich dort, wo ich schon einmal war, nämlich total überlastet. In den ersten Jahren kam es des Öfteren vor, dass mein Chef, ein Arzt, mir Blumen auf den Schreibtisch stellte, doch je umfangreicher die Abteilung wurde und damit mein Aufgabenbereich, desto mehr verlor ich meinen Respekt vor den „Göttern in Weiß“. Ich musste mir eingestehen, dass auch sie nur Menschen mit (zum Teil gravierenden) Fehlern waren. 193

Leider sagte ich dies auch einmal. Dies führte zu massivem Imageverlust, und trotz meiner Verwendung für absolut nicht kanzleimäßige Dienste verschlechterte sich das Arbeitsklima. Dazu kam, dass ich mich einer Hüftoperation unterziehen musste und, da ich ein halbes Jahr nur mit Krücken gehen durfte, absolut nicht das Verständnis fand, wie es von medizinisch Gebildeten hätte sein sollen. Drei Monate vor meiner Pensionierung schließlich sollte ich noch die Umstellung meiner Karteien jeglicher Art auf Computererfassung erlernen. Letztendlich einigte sich mein Chef mit mir auf Kündigung in beiderseitigem Einverständnis. Mein Abschiedsgeschenk war ein großer Lorbeerstock für meinen Garten, doch einige Wochen davor äußerte sich eine Ärztin unserer Abteilung, für die ich in so mancher „verlängerten“ Dienstzeit noch „schnell“ etwas geschrieben hatte, dass ich auch nicht mehr das sei, was ich einmal war. Knapp zehn Jahre war ich in der Medizinischen Fakultät beschäftigt gewesen, und damit hatte ich die meisten Sparten der Geisteskunst durchlaufen. Im technischen Bereich einige Jahre; die juristische Seite hatte mir am besten gefallen; die naturwissenschaftliche Arbeit war sicher nicht das, wofür ich mich erwärmen konnte; letztendlich musste ich damals feststellen, dass in der Medizin oftmals vor lauter Fachwissen das Menschliche zu kurz kam – und daran hat sich bis heute meiner Erfahrung nach nicht viel geändert. Es war ein schwerer Weg – vom absoluten Niemand bis zur Sekretärin an einer Universitätsklinik. Als Autodidakt und unter vielen Demütigungen hatte ich schließlich das erreicht, was anderen mit besseren Voraussetzungen nicht gelungen war. Ich bin durch eine harte Schule gegangen. Meine Kinder habe ich in dem Sinn erzogen, dass sie lernen dürfen, nicht müssen! Beide haben studiert, und darauf bin ich stolz, denn ich habe ihnen somit auch das ermöglicht, was meinen Eltern, kriegsbedingt, nicht gelungen war. 194

„In meinem Kalender zeichnete ich das sogenannte ‚Radl‘ …“ Gertrude Litschauer wurde am 22. Juni 1926 als zweites Kind einer Arbeiterfamilie geboren und wuchs in Wien-Ottakring auf. Ihr Vater, Arbeiter in einer Automobilfabrik, war in den 1930er Jahren lange arbeitslos, die Mutter arbeitete als Büglerin in einer Wäscherei. Die Autorin besuchte Volks- und Hauptschule und arbeitete kurzzeitig im Büro, bevor sie zum Reichsarbeitsdienst eingezogen und später auch zum Kriegsdienst bei einer Luftabwehrstellung im Marchfeld verpflichtet wurde. Nach Kriegsende heiratete sie und wurde Mutter zweier Söhne. 2010, im Alter von 84 Jahren, blickte Gertrude Litschauer – ganz nach dem Motto „Arbeit ist das halbe Leben“ – zurück auf insgesamt 42 Arbeitsjahre, davon fast 40 Jahre in der „Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof“, später „Psychiatrisches Krankenhaus der Stadt Wien“ (heute Sozialmedizinisches Zentrum Baumgartner Höhe, Otto-Wagner-Spital). Ihr beruflicher Werdegang an dieser Anstalt führte von einer angelernten „provisorischen Irrenpflegerin“ zur klinischen Psychologin. Das handschriftliche Originalmanuskript der Autorin umfasst 147 A4-Seiten und eine Reihe von Beilagen, vor allem amtliche Dokumente und Zeitschriftenartikel über verschiedene Aspekte ihrer beruflichen Tätigkeit. Der folgende Beitrag gibt lediglich Ausschnitte aus diesem umfangreichen Erinnerungstext wieder, wobei vor allem die Darstellung einzelner Patientenkontakte und damit verbundene persönliche Reflexionen hier unberücksichtigt bleiben.

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Der Arbeitsbogen war doch etwas weit gespannt: Beginn 1951, an meinem 25. Geburtstag, bei der Gemeinde Wien, und zwar in der Heil- und Pflegeanstalt „Am Steinhof“ als „Aushilfs-Irrenpflegerin“. Beendigung der Tätigkeit bzw. „Versetzung in den Ruhestand“, wie es korrekt heißt, im Jahr 1990 als klinische Fachpsychologin mit Doktorat im Range eines Obermagistratsrates. Zwischen diesen Zeitpunkten habe nicht nur ich mich verändert, sondern die gesamte Psychiatrie hat sich total gewandelt, und ich bin gerne bereit, einige meiner vielen Erinnerungen festzuhalten. Die Arbeit in der Psychiatrie, die mein halbes Leben bestimmte, war jedoch keineswegs mein angestrebtes Ziel, sondern begann eher mit einem Zufall. Nach meiner Heirat, 1945, der Geburt meines Sohnes, 1946, dachte ich zu Beginn der Fünfzigerjahre daran, doch auch in einen Beruf einzusteigen, um das Familieneinkommen aufzubessern und eventuell, wie wahrscheinlich viele andere Familien auch, einmal ein kleines Haus im Grünen und ein Fahrzeug zu erwerben. Da ich nach dem Besuch der sechsklassigen Hauptschule – die gab es wenige Jahre in Wien und sie beinhaltete eine kleine Büroausbildung – zwei Jahre als Bürokraft, zuerst in der Hauptabteilung für Leibesübungen* und dann bei der DDSG (bekannt als „Erste Donaudampfschifffahrtsgesellschaft) gearbeitet hatte, bevor ich mit 18 Jahren zum Reichsarbeitsdienst* einberufen worden war, dachte ich natürlich an irgendeine Bürotätigkeit. Ich schrieb in der Folge etliche Bewerbungsschreiben an alle möglichen Stellen, aber leider – aus heutiger Sicht eher zum Glück – ohne den geringsten Erfolg. Eines Tages hatte mein Vater Besuch eines Freundes, der den Beruf eines Lastwagenfahrers im Fuhrpark der Heil- und Pflegeanstalt „Am Steinhof“ ausübte. Dieser erzählte, dass in der Anstalt immer wieder Hilfskräfte im Pflegebereich auf196

genommen würden, und dies war doch einer Überlegung wert. Bei seinem nächsten Besuch vereinbarten wir, dass er mir einen Termin für ein Vorstellungsgespräch beim Herrn Direktionssekretär erwirken würde, was er auch tatsächlich zustande brachte. Dieses Gespräch mit dem sympathischen Herrn Primarius verlief recht lebhaft, da wir draufkamen, dass wir beide begeisterte Faltbootfahrer auf den gleichen Donauabschnitten waren. Er notierte alle meine Angaben und versprach mich zu verständigen, sobald eine Stelle als Aushilfspflegerin frei werde. Nach circa dreimonatiger Wartezeit hatte ich die Hoffnung auf eine Stelle im Dienste der Gemeinde Wien schon aufgegeben, da bekam ich überraschend die Nachricht, ich möge mich am nächsten Morgen in der Direktion der Anstalt melden, denn man brauche dringend eine Hilfskraft. Diese Nacht war schon recht lang und voller Zweifel. Was würde mich erwarten? Aufgrund der vielen Gerüchte, was sich hinter den Mauern und Gittern dieses bekannten Areals abspiele, hatte ich plötzlich Angst. Aber ich wollte es wagen und war pünktlich zur Stelle. Mit einigen Schriftstücken wurde ich auf Pavillon 13 geschickt, dort sollte ich meinen Dienst antreten. Die Ausbildung sollte sowohl am Krankenbett als auch in der Schule erfolgen. Da es sich um einen unregelmäßigen Turnusdienst handelte, besuchte man die Schule teils an freien Tagen, teils auch während der Dienstzeit, da durfte man von der Station weggehen. Die Ausbildung war in mehrere Abschnitte gegliedert: zuerst sechs Wochen Einführung, nach einer Zeit zwei Monate Kurs, und dann hatte man noch die Möglichkeit einer zweijährigen Schule. Dadurch erlangte man die Chance, einmal einen Stationsschwesternposten zu bekommen. Ein wichtiger Faktor für mich war, dass man sofort ein Gehalt bekam, 197

dieses betrug monatlich circa 700 Schilling, also 50 Euro aus heutiger Sicht. Auf Pavillon 13 meldete ich mich bei einer älteren Oberschwester, diese empfing mich freundlich lächelnd. Sie stand kurz vor ihrer Pensionierung und war in 37 Arbeitsjahren an dieser Anstalt ergraut. Dann begrüßte mich eine – das Wort klang doch noch etwas fremd – „Kollegin“ und übergab mir einige wichtige Dinge, die mich jahrelang begleiten sollten. Allem voran einen Schlüsselbund, da jede einzelne Tür immer versperrt sein musste. Einen dicken Lederriemen, den man wie einen Gürtel um die Mitte legte und an den die drei Schlüssel gehängt wurden: ein Schlüssel für alle Türen, einer für die Fenstergitter – es waren ja alle Fenster im Haus vergittert – und ein normales Schlüsselchen für meinen Kleiderschrank im obersten Geschoß. Nach den Schlüsseln am derben Lederriemen beeindruckte mich ein Paar kompakte Holzpantoffeln. Relativ normal erschienen mir die drei Kleider: blau mit weißen Streifen, aus dickem Baumwollstoff; dazu gab es einen dünnen, weißen Halskragen, der immer ein bisschen gestärkt sein sollte, wie mir erklärt wurde. Außerdem bekam ich drei weiße und zwei blaue Schürzen sowie drei weiße Häubchen. Auch diese konnte man stärken beim Bügeln, damit sie voller auf dem Kopf saßen. Es war ein etwas seltsames weißes Gebilde: vorne eine doppelte Stoffleiste, und über dem ganzen Kopf prangte ein mit einem Bändchen zusammengezogener Teil. Ein bisschen eitel zupfte ich einige Haare hervor und zog ­alles zurecht. Der kurze Blick in den Spiegel zeigte eine junge, freundliche Krankenschwester: Schwester Gertrude – bereit für die Zukunft. Es wurde mir eine ältere, erfahrene Schwester zu meiner Einschulung zugeteilt – die eigentliche Ausbildung sollte erst später beginnen. Diese recht sympathische Kollegin, Schwes198

ter Josefa, nahm mich für einige Wochen unter ihre Fittiche. Ich durfte mich zuerst auf der Station umschauen. Es bot sich ein recht großes Gebäude mit Erdgeschoß, erstem und zweitem Stock und dem sogenannten „Aufbau“. Die einzelnen Säle waren sehr groß. Die Gesamtzahl der Patientinnen war 150, davon war etwa die Hälfte bettlägerig und verbrachte Tag und Nacht in den sogenannten Wachsälen im ersten Stock. Die zweite Hälfte waren Tagraumpatienten, die sich tagsüber im Erdgeschoß aufhielten und nur die Nacht in zwei großen Schlafsälen im zweiten Stock verbrachten. An Personal gab es eine Oberschwester, eine Stationsschwester, 20  Schwestern und einen Arzt. Dienstältere Schwestern mit entsprechender Schulung durften Oberschwester und Stationsschwester vertreten. Und so tat sich eine neue Welt für mich auf: Langsam betrete ich den sogenannten Tagraum, das heißt, es sind zwei riesige Säle, im rechten Winkel angeordnet und untereinander verbunden. Staunend und ein bisschen betroffen merke ich, dass zahlreiche Augenpaare auf mich gerichtet sind. Freundliche, abweisende, neugierige und auch stumpfe, die durch mich hindurch zu schauen scheinen. Da befinden sich 70 Menschen in diesen zwei Räumen, Frauen aller Altersstufen, aber vermehrt ältere. Eine junge Frau – später erfahre ich, dass wir fast am selben Tag geboren wurden – kommt auf mich zu. Sie spricht sehr undeutlich, umarmt mich und wiederholt mehrmals die Worte: „Pauli lieb, Pauli lieb.“ In der Ecke des Raumes sitzt eine ziemlich abgemagerte Patientin. Sie hat ihre Zeigefinger in die Ohren gesteckt und gibt wütende Sätze von sich. „Sie streitet mit ihren Stimmen“, flüstert mir meine Lehrschwester zu und erklärt mir später, dass diese Frau an Schizophrenie leidet. Dann schrie mich eine etwa 40 Jahre alte Frau plötzlich an: „Wo haben Sie meine Kinder versteckt?“ Meine Beteue199

rungen, das nicht getan zu haben, nützten nichts. „Sie sind im Keller, meine Kinder“, meinte sie. Ich ging mit ihr in den Keller, um sie zu überzeugen, doch obwohl sie keine Kinder sehen konnte, meinte sie: „Die Kinder sind aber trotzdem da, ich höre sie nach mir rufen.“ Nachdenklich betrachtete ich diese hübsche Frau – sie war Lehrerin gewesen, bevor sie erkrankte, war nie verheiratet und hatte auch keine Kinder. Sie hatte eine wunderbare Stimme – ich hörte ihr öfter andächtig zu, wenn sie das „Ave Maria“ von Schubert sang. Und was ging in diesen Momenten in mir vor? Eine Welle von Emotionen begleitete mich, ein Gefühl jagte das andere. Mitleid oder Anteilnahme, doch auch eine Art Ablehnung, Scheu oder Furcht vor dem Neuen, Fremden, das vielleicht zu meinem Alltag werden sollte. Doch freundlich versuchte ich, Kontakt aufzunehmen und mich vorzustellen, was mir auch zum Teil gelang. „Zur Arbeit!“, erinnert Schwester Josefa. Wir holen aus der Küche zwei große Servierwagen, beladen mit 70 Blechtassen und zwei Körben mit Brotschnitten. Das Brot war in der Küche schon von einer Kollegin, der sogenannten „Sperrschwester“, die auch für das Auf- und Zusperren der Eingangstüren zuständig ist, in Scheiben geschnitten worden. Außerdem gibt es zwei große Kessel – wir nennen sie „Kaps“* –, damit fahren wir von Tisch zu Tisch. Verwundert registriere ich, wie selbstverständlich ich zu jedem Sitzplatz eine Schnitte Brot lege, heißen Kaffee in die kleine Blechschale fülle und dazustelle. Kurz kommt mir zu Bewusstsein, dass ich noch nie in meinem Leben aus einer Blechschale getrunken habe. Auch nicht in meiner Volksschulzeit in den frühen Dreißigerjahren, als mein Vater arbeitslos und somit ohne Einkommen war. Man bekam damals nur einige Wochen Arbeitslosenunterstützung, dann einen kleinen Teil davon, und schließlich nichts mehr, egal, ob man Kinder hatte oder nicht. Dieser Zustand wurde 200

als „ausgesteuert“ bezeichnet. Das spärliche Geld, das meine Mutter in einer Wäscherei als Büglerin verdiente, reichte für ein Stück Brot und eine Schale Milch am Morgen. Wir waren dankbar dafür, und nichts war selbstverständlich. Aber zum Träumen ist nicht lange Zeit in diesem Tagraum. Flugs, da fliegt eine Schale mit Kaffee durch die Gegend; zwei der Patientinnen – ich kenne die Namen noch nicht und auch nicht ihre Eigenheiten – dürften Meinungsverschiedenheiten haben. Ich verspüre trotzdem tiefes Mitgefühl, dass sie hier in diesem Haus mit den vergitterten Fenstern und den versperrten Türen sowie den Blechnäpfen auf dem Tisch leben müssen, während ich am Abend nach dem Dienst noch ein bisschen den Wald durchstreifen und die würzige Sommerluft tief einatmen kann. Ich spüre an diesem Tag, dass es in meinen Gefühlen einiges zu ordnen geben wird. Vielleicht auch ein wenig Schuldbewusstsein, weil mein Leben gesund, glücklich und frei abläuft. Ich schaue hier auf einige Menschen, die anscheinend nie gelebt haben bzw. nie oder viel zu kurz das hatten, was wir Leben nennen; die zum Teil schon vom Aussehen her von der Natur in hohem Maße benachteiligt wurden. Da gibt es Frauen mit ganz dürren Armen und Beinen, die den total verbauten Körper kaum tragen können, und einem Gesicht, das auf einem steifen Hals gänzlich schief sitzt. Aber was bringt es, wenn ich im Mitleid ertrinke? Wie fühlt man sich, wenn man diese armen Wesen jahrelang zum Teil füttert und wäscht und dabei abstumpft, das heißt, sich mit einer Schutzschicht umgibt, um keine weiteren Emotionen an sich herankommen zu lassen? Doch in diesen ersten Stunden überwiegt ein Gedanke und ein Vorsatz: „Ich will helfen, so gut ich kann.“ Heute, nach 58 Jahren, ergibt es sich, dass ich Rechenschaft ablege und glücklich sagen kann: Das Versprechen von damals habe ich, so gut ich konnte, bis zur letzten Minute gehal201

ten, zumal sich während der jahrzehntelangen Tätigkeit im Kreise der damals als „geisteskrank“ bezeichneten Menschen die Bedingungen um Welten geändert haben. Doch dieser erste Tag, zu dem ich jetzt in meiner Erinnerung zurückblende, ist noch lange nicht zu Ende. Nach dem schon beschriebenen Frühstück im Tagraum folgt die medizinische Versorgung einiger Patientinnen. Ich verfolge aufmerksam, wie Schwester Josefa einige Verbände erneuert und einer Liste entsprechend Pulver und Tropfen in einer Blechschale mit Wasser verteilt. Viel Auswahl ist zu dieser Zeit jedoch nicht vorhanden. Die sechs insulinpflichtigen Patientinnen haben schon vorher im Ärztezimmer ihre Injektion bekommen. „Na fein“, denke ich, „jetzt habe ich sicher Zeit, um mich mit den einzelnen Personen näher zu befassen, mit ihnen zu sprechen und sie näher kennenzulernen.“ Doch da heißt es postwendend: „Blaue Schürze umbinden, Holzpantoffeln anziehen und ran an die Arbeit!“ Ich werde erinnert, dass ich in meinem Aufnahmevertrag unterschrieben habe, auch für verschiedene Reinigungsarbeiten auf der Station zuständig zu sein, wie zum Beispiel Stiegen reiben, Boden schrubben und wachseln, Tische und Bänke waschen und auch Fenster putzen. Es gab kein Hilfspersonal wie heute, keine Abteilungshilfen und keine Bedienerinnen (jetzt nennt man sie Raumpflegerinnen). Es wurde natürlich auch keine Reinigungsfirma in Anspruch genommen. So bemühe ich mich an meinem ersten Arbeitstag, die großen Tische und Bänke exakt zu reinigen und zwischendurch mit einigen der hier internierten Frauen zu sprechen. Zu genau vorgegebener Zeit wandere ich wie am Morgen mit einigen Essenkaps durch die beiden weitläufigen Tagräume und fülle die Blechnäpfe und Blechteller. Zu Mittag gibt es Suppe und Fleisch mit einer Beilage. Das Fleisch wurde vorher von einer Schwester in der Küche in kleine 202

Stücke geschnitten, da für Patienten ausschließlich Löffel zur Verfügung stehen. Messer und Gabel dürfen sie nicht verwenden. Am Nachmittag sitzen die Frauen noch immer Tisch an Tisch im Tagraum. Dieser erste Tag meines Dienstes war ein Dienstag, da war Besuchszeit von 15 bis 16 Uhr, so wie Donnerstag, Samstag und Sonntag. Eine Schwester saß an der Eingangstür des Pavillons an einem kleinen Tisch mit dem „Besuchsbuch“, wie wir es nannten. In dieses wurden alle Besucher eingetragen. Eine Schwester holte die jeweiligen Patientinnen vom Tagraum und führte sie mit ihrem Besuch in das Besuchszimmer, das sich neben den Tagräumen befand. Ich muss sagen, irgendwie ging mir das dauernde Auf- und Zusperren, wenn ich die einzelnen Frauen aus den verschlossenen Tagräumen holte, schon auf die Nerven, und ich war neugierig, wie sich das bei den bettlägerigen Patienten abspielen würde. Der Nachmittag verging eigentlich ziemlich rasch, und ich konnte endlich verschiedene hier internierte Menschen näher kennenlernen. Nachtmahlzeit ist gegen 17.30 Uhr und verläuft ähnlich wie das Mittagessen. Abends gibt es meistens kaltes, schon in der Küche aufbereitetes Essen, damit gehen wir von Tisch zu Tisch. Im Anschluss daran stellen sich die Frauen wieder an, um etwaige Pulver oder Tropfen in Empfang zu nehmen. Dann öffnen wir die stets versperrte Eingangstür zu den Tagräumen und trachten, die 70 Frauen vom Erdgeschoß in den zweiten Stock zu führen, wo sich die Schlafräume befinden. Es sind zwei riesige Räume und zwei kleine mit nur je vier Betten und dazwischen Nachtkästchen. Einen Kleiderschrank kann ich nirgends entdecken. Wie es die Frauen augenscheinlich schon gewohnt sind, ziehen sie – natürlich zum Teil mit unserer Hilfe – ihre Kleider, Schuhe und Strümpfe, die mit einfachen Gummibändern festgehalten sind, aus und bringen 203

diese Dinge in einen kleinen Nebenraum mit einem geräumigen Tisch und mehreren Regalen; die erinnern mich kurz an die Garderobe in der Oper oder in einem Theater. Nach Anleitung von Schwester Josefa schnüre ich die Kleidungsstücke der einzelnen Patientinnen auf Bündel zusammen – wir sagen Binkerl dazu – und stecke jeweils einen Zettel mit dem Namen hinein, damit am nächsten Morgen dieselbe Prozedur in umgekehrter Form stattfinden kann. Es gibt auch einen Waschraum im zweiten Stock, wo sich die Schlafräume befinden. Hier können sich die Frauen Hände und Gesicht waschen. Zwischen 18.30 und 19 Uhr liegen alle Patientinnen, bekleidet mit ihren Leinenhemden, die sie am Tag unter ihren Kleidern getragen haben, in den Betten. Für jede Frau gibt es eine normale Flanelldecke, überzogen mit dem sogenannten Deckensack aus Leinen, blau-weiß gemustert. Von einigen Patientinnen verlangt Schwester Josefa zu meiner Überraschung die Zahnprothesen und legt sie in eine Blechschale und diese dann in die Nachtkästchenlade, bzw. sie kontrolliert, ob das schon geschehen ist. Ich helfe auch mit und halte zum ersten Mal in meinem Leben ein künstliches Gebiss in meinen Händen. Mich fröstelt trotz der warmen Sommerluft plötzlich, als ich registriere, wie selbstverständlich dies alles vor sich geht. Wie kann man – oft jahrelang – so leben bzw. kann man das eigentlich als leben bezeichnen? Wohl ist Besitz nicht alles, aber ein Kleiderbinkerl und eventuell ein Tascherl oder Sackerl mit einigen Kleinigkeiten wie zum Beispiel ein Taschentuch, ein kleines Buch – manchmal ist es ein Gebetbuch –, ein Brief von Angehörigen oder ein Foto von den liebsten Menschen. Diese Sachen sind meist sehr abgegriffen; sie werden wohl sehr oft in die Hände genommen. Diese Dinge geben die Frauen nicht gerne in ihr Nachkästchen, da man dieses nicht versperren kann, und sie 204

fürchten, dass sich jemand anderer ihren „Besitz“ aneignen könnte. Das Sperren der Eingangstür bringt mich sofort in die Realität; das Eintreten der Oberschwester mit der Nachtdienstschwester zur Dienstübergabe signalisiert mir, dass sich mein erster Arbeitstag dem Ende zuneigt. Wir berichten alle Vorkommnisse des Tages – es gab laut Schwester Josefa keine Besonderheiten. Am Tag zwei in meinem neuen Leben ruft wieder die Pflicht. Ich trete um halb 7 Uhr abends meinen ersten Nachtdienst an. Ich betreue oder besser gesagt, ich bewache, natürlich gemeinsam mit meiner Lehrschwester, die 70 Frauen, die ich am Vortag in den zwei riesigen Tagräumen kennengelernt habe. Die Kleiderbinkerln sind in der Stellage aufgereiht, die Zahnprothesen in den Blechschalen oder auf einem Stück Zellstoff auf dem Nachtkästchen. Sehr viele Prothesen sind es allerdings nicht, die Mehrzahl der Frauen hat keine Zähne, und ich wundere mich, wie sie mit den bloßen Kiefern beißen können. Die vergitterten Fenster sind ordnungsgemäß versperrt und ebenso ordnungsgemäß liegen auch alle 70 Patientinnen in ihren einfachen weißen Rohrbetten. In der Nacht gibt es nicht viel an manueller Arbeit. Unser Dienstplatz ist ein Sessel in einem der beiden großen Schlafsäle, und wir gehen in kurzen Abständen herum und schauen, ob die Frauen in ihren Betten liegen. Manchmal kommt Unruhe auf. Einige Patientinnen streiten aus mir nicht nachvollziehbaren Gründen, andere gehen auf die Toilette und finden nicht mehr zurück in ihr Bett, oder sie legen sich in irgendein Bett, das gerade leer ist. Die eine oder andere Frau kann nicht ein- oder durchschlafen und kommt zu mir, um ein bisschen zu sprechen. Von ihrer Arbeit oder auch von ihrer Familie, wobei die Kinder meist den wichtigsten Teil ihres Lebens darstellen. In der Erinnerung, die es zum Teil noch gibt, kommen sowohl 205

wunderschöne als auch qualvolle Erlebnisse vor, aber es ist unwiderruflich vorbei. Ich höre jeder Patientin geduldig und mit Anteilnahme zu. Fast hätte ich vergessen, mit der kleinen Stechuhr die Runde zu machen. Schwester Josefa erklärt mir, dass man vor einigen Wochen noch viertelstündlich markieren musste; das heißt, an vier verschiedenen in den Räumen verteilten Stellen ein Wandkästchen zu öffnen und mit einem schlüsselähn­ lichen Gebilde die in der Uhr eingelegte dünne Kartonscheibe zu markieren. Jetzt sei es viel leichter, wir müssen nur mehr alle zwei Stunden „stechen“, wie die Schwestern es nennen. Aber wehe, die Abstände stimmen nicht genau. Die Oberschwester öffnet am Morgen die Stechuhr und ­kontrolliert. Bei Unregelmäßigkeiten gibt es dann den Weg zum ­„Rapport“ in die Kanzlei der Frau Vorsteherin. Ich stelle mich also darauf ein, im Nachtdienst pünktlich sechs Mal zu markieren, erstmals um 20 Uhr, das letzte Mal um 6 Uhr früh. Es fällt mir jetzt ein, wie wichtig damals viele Dinge genommen wurden. Einmal kam ich zum Dienst und wurde sofort von der Oberschwester und von fast allen Kolleginnen angesprochen, und zwar auf verschiedenste Weise. Teils vorwurfsvoll, neugierig und meiner Meinung nach auch mit einer Prise Schadenfreude. Der Befehl lautete: „Schwester Gertrude, sofort in die Vorsteherkanzlei!“ Es schien, ich hätte ein schreckliches Verbrechen begangen. Obwohl ich mich durchaus nicht schuldbeladen fühlte, stieg dennoch ein mulmiges Gefühl in meinem Magen auf, denn ich wollte doch diesen mir inzwischen lieb gewordenen Posten behalten. Der Empfang in der Vorsteherkanzlei war nicht unfreundlich. Außerdem mochte ich die Frau Vorsteherin sehr. Eine gütige Frau mit samtbraunen Augen, die jetzt etwas fragend unter der Brille mit den goldenen Rändern hervorschauten. Die Frage, ob ich die ganze Nacht während meines Diens206

tes geschlafen habe, verneinte ich wahrheitsgemäß. Ich hatte jedoch nur um 20 Uhr und um 6 Uhr früh ordnungsgemäß markiert. Es ergab sich dann, dass ich in dieser Nacht ziemlich viel auf den Beinen war und dabei die Markierungskästchen in verkehrter Reihenfolge angesteuert hatte. Nummeriert waren diese ja nicht. Also, diese Handlung des „Stechens“ war vom ersten Tag bzw. von der ersten Nacht an von großer Wichtigkeit. Vielleicht hatte es doch Sinn, denn so um 2 Uhr nachts stieg mein Schlafbedürfnis gewaltig, und ich habe damals erfahren, dass Schlafentzug richtig schmerzhaft sein kann. Am Morgen dokumentierten wir die Vorkommnisse der Nacht in einem „Rapportbuch“. Ich erinnere mich an eine für die Nachkriegszeit typische Eintragung, der man heute wohl ungläubig gegenüberstehen würde. Ich schrieb wörtlich: „Alle Patientinnen und auch die diensthabende Schwester haben während der Nacht entsetzlich gefroren. Temperatur: 8 Grad Celsius.“ Geheizt wurde grundsätzlich nur bis 16 Uhr, egal wie viele Minusgrade die Außentemperatur betrug. Es ist mir heute noch unerklärlich, wie relativ selten bei den Frauen Erkältungserscheinungen auftraten, obwohl sie barfuß und nur mit ihrem Leinenhemd bekleidet auf dem verfliesten Boden umhergingen. Langsam ging ich daran, mich mit meinem Dienstplan auseinanderzusetzen und auf alle Regeln genau zu achten. In meinem Kalender zeichnete ich das sogenannte „Radl“, wie wir sagten, auf. Es umfasste einen Zeitraum von 16 Tagen, und die einzelnen Dienstabläufe waren genau festgelegt. Dieses Radl umfasste Tag- und Nachtdienste sowohl bei Tagraumpatienten als auch bei den Bettlägerigen in den Wachsälen, einmal die sogenannte „Sperre“ und einmal Bereitschaftsdienst. Die Tagdienste dauerten von 6 bis 20 Uhr, die Nachtdienste von 19 Uhr bis 7 Uhr früh, der Bereitschaftsdienst jedoch von 6 Uhr früh bis zum nächsten Tag, 13 Uhr 207

Mittag. Die Wochenarbeitszeit umfasste 58 Stunden. Zusätzlich gab es im Radl noch einen Nacht-Bereitschaftsdienst, in dem wir schlafen durften und nur bei besonderen Vorkommnissen geweckt wurden, wie zum Beispiel Todesfall oder Raufereien. Dieser Dienst wurde jedoch nicht in die offizielle Arbeitszeit eingerechnet. Anfangs gab es zwei Wochen Urlaub, später drei Wochen. Die einzelnen Dienstarten waren völlig unterschiedlich gestaltet, und ich versuchte, für mich bzw. für mein Selbstbewusstsein womöglich etwas Positives herauszuholen, ohne nur Geld zu verdienen. So kam ich eines Tages auf die Idee, beim Tagraumdienst mein Akkordeon mitzunehmen. Nach anfänglich großem Erstaunen wuchs die Aufmerksamkeit einiger Patientinnen. Ich spielte einen Walzer, einige flotte Märsche und alte, bekannte Lieder und traute meinen Ohren und Augen nicht. Ich hörte, wie Frauen mitzusingen begannen, dann standen einige auf und tanzten doch tatsächlich. Es wurde gelacht und applaudiert, und meine Freude war riesengroß, als mir einige Patientinnen am späten Nachmittag sagten: „Danke, Schwester, das war heute ein schöner Tag.“ Die Oberschwester Maria sah das allerdings ganz anders und rügte mich bei der Abendübergabe. Sie kontrollierte, was sie sonst eher selten tat, alle Riegel an den Fenstern, und tatsächlich war einer nicht vollständig angezogen. Sie meinte, ich möge, anstatt Harmonika zu spielen, lieber meine Arbeit korrekt machen. Trotz ihrer anfänglichen Rügen ließ mich Oberschwester Maria im Tagraum gewähren, auch als ich ein Domino-Spiel, ein „Mensch ärgere dich nicht“ und Spielkarten mitbrachte, was bei mehreren Frauen ganz tollen Anklang fand. Leider hatte man aber nicht allzu oft Dienst im Tagraum. Am wenigsten mochte ich eigentlich den Dienst, den wir „Sperre“ nannten. Ich habe schon erwähnt, dass man zu Besuchszeiten mit dem großen Buch bei der Eingangstüre sitzen 208

und alle Besucher eintragen musste. Aber die anderen Arbeiten waren vielfältig. Man musste sich auch um Essen und Wäsche kümmern. Das Essen wurde ja mittels einer kleinen elektrischen Bahn – ähnlich der Liliputbahn im Wiener Prater – geliefert. Die Sperrschwester kontrollierte und übernahm die „Kaps“ und sorgte auch dafür, dass diese gereinigt zum Abholen vor dem Stationseingang bereitstanden. Wenn beim Überprüfen der Menge an Brot, Gebäck oder Mehlspeisen etwas fehlte, wanderte die „Sperre“ mit einem Korb in die Bäckerei, die in dem großen Küchengebäude untergebracht war, um diese Dinge abzuholen. Mit der kleinen Bahn wurde auch täglich die Schmutzwäsche abgeholt und zur Anstaltswäscherei gebracht; danach kam sie gereinigt in großen Bündeln wieder zurück in die Station. Die Aufgabe der Sperrschwester war es, die Wäsche auf der Station sorgfältig zu sortieren und mittels großer blauer Tücher Bündel zu machen. Dazu musste auch ein „Wäschezettel“ ausgefüllt werden, auf dem die Zahl der einzelnen Wäschestücke genau festgehalten war. Die Sperrschwester hatte auch die Aufgabe, am Morgen in die Wäscherei zu gehen und dort anhand dieser Liste alles vor den Augen einer Wäschereiangestellten genau vorzuzählen. Das dauerte oft schon ein Weilchen, da ja Schwestern und Pfleger aller Stationen dort waren – immerhin gab es 25 Stationen. Leicht schmunzelnd erinnere ich mich, dass ich mich eigentlich nie vordrängte, sondern bescheiden und geruhsam auf solch einem riesigen Wäschebündel sitzend gerne ein ­Vokabelheft aus meiner Schürze zauberte und Latein oder Englisch für die Externistenmatura lernte. Die Sperrschwester begleitete auch, gemeinsam mit einem Beidienst und Bereitschaftsdienst, Patienten, die das wollten und konnten, am Sonntagvormittag zur heiligen Messe in die berühmte Otto-Wagner-Kirche, die ich heute noch sehr liebe und manchmal besuche. 209

Am wenigsten liebte ich das Kommando „Blaue Schürze und Pantoffeln an!“ Das erfolgte meistens an Freitagen. Da wurde das Stiegenhaus gereinigt. Die Stationsschwester schüttete heiße Seifenlauge über die Stiegen, wir mussten mit Schrubbern reiben und nachwischen. Handschuhe wie heute gab es natürlich damals noch nicht. Auch Fenster putzten wir, und mehrmals im Jahr wurden die Tagräume gerieben. Die Wachsäle wuschen wir täglich auf. Außerdem war an jedem Mittwoch Tische- und Bänkereiben angesagt. Es ergab sich dann später, dass einige Patientinnen, die in körperlich gutem Zustand waren und es auch wollten, mithalfen; wir nannten sie „Hausarbeiterinnen“. Sie bekamen dafür Extrarationen Essen und Mehlspeisen und auch ein bisschen Geld. Das wurde auf einem Verrechnungsblatt, das wir für sie anlegten, eingetragen. Sie konnten darüber verfügen und sich kleine Wünsche erfüllen, wie zum Beispiel Süßigkeiten aus dem Konsum, den es in der Anstalt gab, oder Dinge aus der Trafik besorgen. Wir besuchten zu Beginn unserer Tätigkeit einen sechs­ wöchigen Einschulungskurs, der mich sehr interessierte, etwa die Fächer Anatomie, Physiologie, Psychiatrie, Verwaltungskunde und Krankenpflege; ein Primarius beantwortete geduldig unsere weiteren Fragen. Nach einiger Zeit folgte ein intensiverer Kurs von einem halben Jahr, und dann hatten wir noch freie Wahl, ein weiteres Jahr zu lernen, und erwarben nach positiver Abschlussprüfung die Chance, einen Stationsoder Oberschwesterposten zu bekommen. Lächelnd betrachte ich das auf meinem Schreibtisch liegende, total vergilbte kleine Dokument, auf dem geschrieben steht: „Die einfache Fachprüfung wurde abgelegt am 30. 6. 1953 mit sehr gutem Erfolg“, unterschrieben von Herrn Direktor, Prim. Dr. Podhajsky. Noch ein vergilbtes Dokument vom Magistrat der Stadt Wien, Magistratsabteilung 2, liegt hier, vom 7. Mai 1954. Das erhielt ich nach Abschluss aller 210

Schulungen. Der Herr Bürgermeister Jonas hat, wie es darin heißt, meine Aufnahme in den Beamtenstand genehmigt. Auch meinen Dienstausweis, ausgestellt am 23. Mai 1954, mit den Unterschriften von Prim. Dr. Podhajsky und Bürgermeister Jonas betrachte ich etwas gerührt. Die Bezeichnung „prov. Irrenpflegerin“ ist durchgestrichen und durch „Krankenschwester“ ersetzt. Die junge Frau auf dem Bild des Ausweises lächelt fröhlich. Mit diesem erworbenen Status der Krankenschwester verblieb ich neun Jahre auf Pavillon 13. Im Verlaufe dieser Zeit konnte ich einige meiner Ideen verwirklichen. So unternahm ich – mit Bewilligung der Frau Vorsteherin – kleine Ausflüge mit einigen gut gehfähigen und medikamentös gut eingestellten Patientinnen, was von diesen mit großer Freude angenommen wurde. Wir – drei Schwestern und ein Arzt – durften mit Erlaubnis der Direktion und Finanzierung der Verwaltung einen Autobus mieten und mit einer Gruppe von 20 Frauen einige wunderschöne Halbtagsausflüge unternehmen. So waren wir zum Beispiel in Stift Heiligenkreuz, in Klosterneuburg, im Lainzer Tiergarten und besuchten dort die Hermesvilla, im Haus des Meeres oder in Schönbrunn, einmal auch am Flughafen Schwechat. Diese Ausflüge brachten große Abwechslung und Freude in das Alltagsleben der Patientinnen, das bestätigten sie mir immer wieder. Ich hatte auch Kontakt mit unserem Betriebsrat und er­ ledigte auf seine Bitte hin manchmal Schreibarbeiten. Auf Anregung des Betriebsratsvorsitzenden betätigte ich mich später auch gewerkschaftlich und übernahm das Amt der Schriftführerin in der Redaktion der „Vereinigung der Diplomierten Krankenschwestern und Krankenpfleger Österreichs“, selbstverständlich ehrenamtlich. Die Sitzungen fanden einmal monatlich im Gewerkschaftshaus in der Maria-Theresien-Straße statt. Ich besitze auch noch ein Exemplar einer Zeitschrift vom Jänner 1953, in der ein Artikel von mir abgedruckt ist: „Nacht211

dienst in der Geisteskrankenpflege“. Diese Tätigkeit war sehr interessant. Ich lernte dabei viele prominente Menschen kennen, da ich immer wieder Gespräche mit Fachleuten führte, die dann in der Zeitschrift gebracht wurden. In den Jahren 1955/56 wurden Patientinnen ausgebildet, die als Hausarbeiterinnen nicht nur am Pavillon, sondern an verschiedenen Stellen der Anstalt mitarbeiteten, wie zum Beispiel in der Wäscherei, der Küche, der Buchbinderei oder in der Ökonomie*, die dem Krankenhaus angeschlossen war. Die Patientinnen und Patienten bekamen für ihre Mitarbeit auch Geld bezahlt, über das sie frei verfügen konnten. Im Rückblick kann ich sagen, dass sich um diese Zeit das Anstaltsleben positiv zu strukturieren begann. Das war auch die Meinung der Frau Vorsteherin und des Herrn Primarius Dr. Schmidt, die oft gemeinsam, meist um die Mittagszeit, zur Visite auf die Station kamen. In den späteren Fünfzigerjahren durfte ich auch schon die Stationsschwester vertreten. Das mochte ich aber weniger. Es fiel mir schwer, meine Kolleginnen zu rügen, wenn sie die Stechuhr in der Nacht nicht exakt markiert hatten. Rückblickend kann ich sagen: Diese neun Jahre am Krankenbett waren nicht nur Arbeit, sondern auch eine Bereicherung für mein Leben. Ich schätzte alles, was ich hatte, und erlebte ganz besonders, weil es ja nicht so hätte sein müssen. Von den medizinischen Einrichtungen gab es wohl eine ­Chirurgie, ein Röntgen und zwei chemische Labors. Es war aber öfters bei Patienten eine Untersuchung des Gehirns mittels EEG (Elektroenzephalograph) notwendig, und dazu wurden sie mit dem Sanitätsauto in Begleitung einer Pflegeperson in das EEG-Labor des Wilhelminenspitals gebracht. Schließlich kamen unsere Direktion und einige Primarärzte auf die Idee, ein eigenes EEG-Gerät installieren zu lassen. Man hatte bald eine Ärztin dazu gefunden, die schon Erfahrung damit hatte, 212

da sie vorher im Krankenhaus „Am Rosenhügel“ tätig war und dort eine EEG-Ausbildung gemacht hatte. Man suchte nun eine Person aus der Krankenpflege für das EEG-Labor, und als ich gefragt wurde, sagte ich spontan: „Ja, gerne!“ Die Ausbildung dauerte etwas über ein halbes Jahr und erfolgte im Neurologischen Krankenhaus „Am Rosenhügel“ (Prof. Reisner) und an der Psychiatrischen Universitäts­ klinik (Prof. Hoff). Ich hatte dort täglich Dienst von 7 Uhr bis 16.30 Uhr und wurde von Assistentinnen und Ärztinnen praktisch und theoretisch unterwiesen. Ich machte mir viele Notizen und las Krankengeschichten. Dieses EEG fand ich unglaublich interessant und freute mich schon auf meinen Einsatz in unserem Krankenhaus. Und dann ging es für mich los: Der Herr Direktor hatte mein Angebot, nachmittags irgendwelche zusätzlichen ­Arbeiten durchzuführen, weitergegeben, und es wurde angenommen. Zuletzt geriet ich dann schon in Zeitnot, aber das Positive daran war, dass ich meine Ausbildung verbreitern konnte. So wurde ich auf Pavillon 3 ins chemische Labor geholt und darin angelernt, Blutbilder auszuwerten. Dann gab es ein Labor in der Prosektur, das leitete Herr Primarius Dr. Hackl, den ich kannte, weil er im Schwesternkurs Anatomie und Physiologie unterrichtete. Ich arbeitete in beiden Labors gerne mit. Als einmal die Sekretärin des Herrn Primarius krank war, bat er mich, ihre Arbeit kurzfristig zu übernehmen, nämlich die Obduktionsprotokolle, die er diktierte, zu schreiben, zuerst in Stenographie und dann in die Maschine. Und zu allem Überfluss holte mich noch die Frau Vorsteherin in ihre Kanzlei, um Schreibarbeiten zu verrichten. Zeitweise war ich wohl ein bisschen überfordert, da auch meine Externistenmatura dem Ende zuging und ich für die Prüfungen lernen musste. Diese fanden im Wiener Stadtschulrat statt und erfolgten etappenweise. Zuerst kam die so213

genannte Zulassungsprüfung – schriftlich und mündlich – in den vier Hauptgegenständen Deutsch, Englisch, Mathematik und Latein. Diese Prüfung entsprach der vierten Stufe des Gymnasiums. Dann erfolgten in Abständen, die ich selbst bestimmen konnte, sechs Nebenprüfungen in mündlicher Form, und zwar: Geographie, Geschichte, Chemie, Physik, Naturgeschichte und Philosophie. Bei meiner Mathematik-Abschlussprüfung wendete ich eine kleine List an, indem ich zur Prüfung im Stadtschulrat – sie fand um 8 Uhr morgens statt – in meiner Schwesterntracht erschien und erklärte, ich käme direkt vom Nachtdienst am Steinhof. Das stimmte die Mitglieder der Kommission milde. Sie beschlossen, die Prüfung „kurz“ zu gestalten, und ich zog fröhlich und zufrieden mit meinem Genügend von dannen. Und einige Tage später hielt ich es freudig in der Hand: „Reifezeugnis“, ausgestellt von der „Prüfungskommission für Externistenprüfungen des Stadtschulrates für Wien“, mit dem Vermerk „hat sich privat vorbereitet“. Wenn ich jetzt mein Reifeprüfungszeugnis vom 8. Juli 1959 betrachte, bin ich nicht besonders stolz darauf, denn es tummeln sich darin die Noten Genügend und Befriedigend. Ich erinnere mich noch an das entsetzte Gesicht meines Mannes, eines Historikers, als er von meinem Genügend in diesem Gegenstand erfuhr. Aber ich wurde laut diesem Zeugnis trotzdem als „reif zum Besuche einer Hochschule“ erklärt. Im September 1959 war die Zeit für unser EEG gekommen; die EEG-Station wurde auf Pavillon 7 eingerichtet. Ein Ingenieur der Firma Schwarzer unterwies mich an diesem Gerät noch genau, da die Apparate am Rosenhügel und an der Klinik Hoff andere Marken und etwas anders gestaltet waren. Aber rasch lernte ich das neue Gerät kennen und lieben. Es dauerte jedoch einige Zeit – ich möchte sagen, einige Monate –, bis das EEG voll von unseren Stationen in Anspruch genommen wurde. Das war mir nicht so ganz ge214

heuer, und ich meldete in der Direktion, dass ich nicht ausgelastet sei. Eine Untersuchung mit Vorbereitung – das Anlegen von 19 Elektroden am Kopf – dauerte maximal eine Stunde. Die Ärztin, Frau Dr. Steininger, wertete die Aufnahmen, die ich zu einem heftförmigen Gebilde zusammenfügte und beschriftete, aus und diktierte mir den Befund. Ich tippte ihn gleich in die Schreibmaschine, ein Durchschlag blieb auf der Karteikarte, die ich vorher angelegt hatte. Die Befunde ließ ich von den einzelnen Stationen abholen; zu meiner Freude wurden auch schon Patienten, die sogenannten „Läufer“, dazu eingesetzt. Der EEG-Arbeit blieb ich bis zum Jahr 1967 treu. Ich liebte das EEG ganz besonders, ich prägte damals den Spruch: „Es ist wunderschön, wenn man sich das Hobby zum Beruf machen kann und die Arbeit Freude bereitet.“ Es war wie ein Wunder für mich: Jede Hirnregion hat ihr eigenes Bild, geprägt von Form und Rhythmus der Hirnströme, und man konnte die Gehirntätigkeit förmlich miterleben. Ich freute mich bei jeder Aufnahme – und bekam noch bezahlt dafür! Dann begann ich kleine Versuche, indem ich die Patienten während der Aufnahme zum Beispiel rechnen ließ, etwa 12 mal 15, und dabei beobachten konnte, wie sich in bestimmten Regionen Rhythmus und Höhe der Wellen veränderten. Oder ich klatschte in die Hände – auch da merkte man eine Veränderung. Am deutlichsten änderte sich das Bild, wenn ein Patient während der Aufnahme einschlief. Die EEG-Station war im Parterre, das war gut, da manche Patienten ja auch liegend mit dem Sanitätsauto der Anstalt gebracht wurden. Aufzug gab es damals keinen. Im Warteraum stand ein Bett. Außer dem Warteraum gab es den Untersuchungsraum mit dem EEG-Gerät und noch eine größere Räumlichkeit für Schreib- und Archivierungszwecke. 215

Im Oktober 1959, also im Wintersemester, inskribierte ich an der Universität Wien mit dem Hauptfach Psychologie und dem Nebenfach Volkskunde. Außerdem musste man noch Vorlesungen der Philosophie für das sogenannte Philosophikum belegen. Ich war mir natürlich im Klaren, dass das Studium länger dauern würde, da ich die Vorlesungen nicht regelmäßig besuchen konnte. Aber zum Glück gab es viele Vorlesungen außerhalb meiner Dienstzeit im Krankenhaus. Außerdem konnte man viel aus Skripten lernen, und zum Glück hatte ich einige Studienfreundinnen gefunden, die für mich mitschrieben; wir bereiteten uns gemeinsam vor. Ich musste keine einzige Prüfung wiederholen. Mein besonderes Interesse galt der Testpsychologie (Persönlichkeitsdiagnostik) bei Herrn Prof. Mittenecker. Diesen Bereich wollte ich ja später vermehrt in meinem Beruf nützen. Weniger begeistert war ich von dem Lehrfach Statistik, aber mit viel Geduld und Anstrengung brachte ich auch das hinter mich. So reihte sich Prüfung an Prüfung, und das Thema Dissertation kam langsam näher. Deshalb war ich zum Gespräch bei Prof. Rohracher angemeldet. Dieser galt als Pionier im EEGBereich und war Mitentwickler dieser damals noch nicht so alten Methode in der Hirnforschung. Ich schlug ein Thema im EEG-Bereich vor. Obwohl der Herr Professor interessiert aufhorchte, meinte er doch etwas gedämpft: „Das wäre ja ganz wunderbar, aber die Chance, an eines der wenigen Geräte in Wien heranzukommen, ist gleich null.“ Als ich sagte: „Für mich nicht. Ich arbeite als EEGSchwester am Steinhof“, war ihm Freude und Begeisterung anzusehen. Mein festgelegtes Thema für die Dissertation lautete schließlich „Untersuchungen über Zusammenhänge der Vigilanzleistung und des Elektroenzephalogramms mit Persönlichkeitsvariablen und Intelligenz“. Ich arbeitete mit 186 Versuchspersonen, die ich im Krankenhaus – vom Pri216

mararzt bis zu Hausarbeitern – und aus dem Familien- und Freundeskreis auftrieb. Ich bin heute noch allen dankbar, die sich einem Intelligenztest, einem Persönlichkeitstest und einer EEG-Aufnahme unter verschiedenen Testbedingungen unterzogen. Aus heutiger Sicht war der Zeit- und Arbeitsaufwand enorm, aber zu guter Letzt konnte ich unserem Herrn Direktor mitteilen, dass meine Promotion am 14. Juli 1967 erfolgen würde. Er gab mir diesen Tag frei und versprach mir eine Psychologenstelle in der Anstalt, die ohnehin dringend nötig war. Am 1. Oktober 1967 trat ich die Stelle als Psychologin im Krankenhaus an. Ich bekam ein schönes Zimmer, das gemütlich für die Patienten und für mich eingerichtet war und offiziell als „Psychologisches Labor“ bezeichnet wurde. Dieses liebte ich und behielt es bis 1. September 1980. Noch während des Studiums hatte ich mich besonders mit den verschiedensten Testmethoden beschäftigt und auch an mehreren Stellen praktiziert, wie zum Beispiel an der ehemaligen Klinik Hoff, dem Neurologischen Krankenhaus „Am Rosenhügel“, wo sich auch die Kinderabteilung des Primarius Rett befand. Die Diagnostik liebte ich ganz besonders in meinem Beruf, vorwiegend Persönlichkeits- und Demenztests oder die Untersuchung des Intelligenzgrades. Von allen Pavillons des Krankenhauses, auch von Pavillon 15, dem Kinderpavillon – diese Ausbildung hatte ich auch absolviert –, bekam ich die Zuweisungen mit den jeweiligen Fragestellungen. So lernte ich unendlich viele Menschen kennen – für mich waren es vorwiegend Menschen und nicht nur Patienten – und erfuhr ihre vielfachen Schicksale. Die Fragestellung war von der Station vorgegeben, wie zum Beispiel: „Hinweise auf psychotisches Geschehen?“; „neurotische Persönlichkeit?“ oder „Grad der Demenz?“. Vielfach fand sich auch die Frage nach dem Aggressionspotenzial. 217

Ich hatte im Verlauf der Tätigkeit aus einigen Tests und bestimmten zusätzlichen Komponenten den Grad der Aggression zu ermitteln gelernt und verarbeitete diese einzelnen Faktoren zu einem Wert, den ich keck „Aggressionspotenzial nach Litschauer“ nannte, und zu meiner Freude machten die Ärzte in ihren jeweiligen Fragestellungen auf der Zuweisung immer öfter Gebrauch davon. Manche Tests wurden in verschiedenen Abständen zum Vergleich wiederholt, und ich freute mich über jede Verbesserung bei den einzelnen Personen infolge der ärztlichen Behandlung. Die Patienten kamen auch zu therapeutischen Gesprächen zur Aufarbeitung ihrer Probleme, die oft zu Selbstmordversuchen geführt hatten. Zu dieser Zeit wurden alle Personen nach einem Selbstmordversuch mit dem sogenannten Parere* vom Amtsarzt in die Anstalt eingewiesen. In meinem „Testlabor“, wie es genannt wurde, legte ich für jeden Einzelnen eine Kartei an, auch mit einem Durchschlag des Befundes. Ich hatte dazu inzwischen wohl eine Sekretärin, schrieb jedoch die Befunde meist selbst auf der Schreibmaschine. Wenn die Patienten entlassen waren, konnten sie von zu Hause zur Testkontrolle oder zum Gespräch kommen, und sie machten auch Gebrauch davon. Inzwischen waren die Siebzigerjahre gekommen, und die Psychiatriereform begann voll zu greifen. In Wien entstand der „Psychosoziale Dienst“*, kurz PSD genannt, mit mehreren Stellen. Einen gewichtigen Anteil hatte über viele Jahre Herr Primarius Rudas* – ich arbeitete mit ihm auch gerne zusammen. Bedingt durch die mögliche Nachbetreuung, konnte erfreulicherweise der Patientenstand stark vermindert werden, von mehr als eineinhalbtausend auf circa 800. Und am 1. September 1980 begann eine Arbeit für mich, die meinen Vorstellungen voll entsprach. Ich wurde von unserem Herrn Direktor, Prim. Dr. Gabriel (den ich auch sehr 218

schätzte, da er sich für Neuerungen einsetzte), gefragt, ob ich in der Sozialpsychiatrischen Ambulanz des Krankenhauses, die eben am 1. September 1980 aus der Taufe gehoben wurde, mitarbeiten möchte. Meine Freude war groß. Das Team setzte sich zusammen aus acht Personen unterschiedlicher Professionen: ein Oberarzt bzw. eine Oberärztin, ein Arzt in Ausbildung, zwei Sozialarbeiterinnen, zwei Pflege­personen (eine Schwester, ein Pfleger), eine Psychologin und eine Sekretärin. Außerdem war uns eine Bedienerin zugeteilt, die verschiedene Wege und Besorgungen erledigte. Diese Zusammenarbeit genoss ich im wahrsten Sinne des Wortes über neun Jahre. Die einzelnen Patienten – wir nannten sie Klienten – konnten wirklich optimal betreut werden. Es waren sowohl Personen, die schon viele Jahre interniert waren, als auch Menschen, die nur kurz in die Aufnahmestation gebracht worden waren, zum Beispiel nach einer Kurzschlusshandlung. Viele von diesen konnten nach einer eingehenden Untersuchung durch den Arzt und den Psychologen, also durch mich, rasch wieder entlassen werden, wobei jedoch großer Wert auf nachgehende Hilfe bzw. Betreuung gelegt wurde. Wir Mitarbeiter der Ambulanz trafen uns täglich von 12 bis 13 Uhr in einem eigenen Raum, und jeder von uns berichtete von seiner Arbeit. Wir besprachen die Situation der einzelnen Klienten und gaben Neuzugänge bekannt. Dann berieten wir über das weitere Vorgehen. Unsere Raumpflegerin, die sympathische und immer fröhliche Frau Margit, sorgte für guten Kaffee, und wenn jemand von uns Geburtstag hatte, gab es meist auch eine feine Torte. Es fanden öfter Schulungen zur Weiterbildung des Personals an Vormittagen im kleinen Theatersaal des Krankenhauses mit anschließenden Diskussionen statt, wo auch ich einmal einen Vortrag über die Tätigkeit in der Ambulanz hielt und Fragen des anwesenden Personals beantwortete. 219

Auf Pavillon 24 entstand eine Außenstelle des Psychosozialen Diensts unter Leitung des Herrn Primarius Schindler. Hier fand wöchentlich an einem Vormittag ein Treffen von Sozialarbeiterinnen des PSD und unseres Krankenhauses statt. Außerdem kamen noch Mitarbeiter einiger Alkoholberatungsstellen, die in mehreren Wiener Bezirken installiert waren und zum Teil die Nachbetreuung von entlassenen alkoholkranken Menschen übernahmen. Diese Zusammenkünfte fanden zweimal wöchentlich am Abend statt. Es war auch sehr erfreulich zu sehen, wie die einzelnen Patienten, die oft schon mehrere Jahre in der Anstalt verbracht hatten, durch Mithilfe der Ambulanzmitglieder wieder voll integriert waren, außerhalb dieser Mauern. Die Sozialarbeiterinnen konnten ihnen eine Wohnung und auch ein Einkommen verschaffen, entweder durch eine Arbeitsstelle oder durch eine staatliche Zuwendung, ähnlich der heutigen Sozialhilfe. Es war so eingeführt, dass entlassene Patienten zumindest die erste Zeit in regelmäßigen Abständen in die Ambulanz kamen und mit ein oder zwei Betreuern sprachen. Der Arzt verschrieb nötige Medikamente, ich führte Gespräche über Probleme psychischer Art. Die Pflegepersonen und Sozialarbeiter besprachen nötige praktische Hilfestellungen. Erschien ein Klient nicht zum vereinbarten Termin, besuchten ihn zwei Ambulanzmitglieder zu Hause. Wir hatten mit den einzelnen Stationen vereinbart, dass sie Patienten, die zur Entlassung vorgesehen waren, zu uns in die Ambulanz schickten, und wir mit ihnen gemeinsam den Kontakt mit der Außenwelt aufnahmen. Für mich fanden diese Aktivitäten meistens am Donnerstagnachmittag statt. Meine Gruppe bestand aus sechs bis acht Personen, sowohl Frauen als auch Männer. Sie durften auch Vorschläge zur Gestaltung dieser Nachmittage machen, und ich muss sagen, diese Nachmittage gefielen mir sehr. 220

Wir benutzten die öffentlichen Verkehrsmittel. Die einzelnen Personen hatten ein bisschen Geld bekommen und lösten ihre Fahrscheine selbst beim Schaffner. Wir besuchten Postämter, manchmal gingen wir in Geschäfte oder auf Märkte und kauften einige Kleinigkeiten. Ich ließ die Gruppenmitglieder zahlen, um sie wieder an den selbständigen Umgang mit Geld zu gewöhnen. Wir spazierten zum Beispiel über die Mariahilfer Straße, schauten Auslagen an und sprachen über die Preise der einzelnen Waren. Zum Abschluss unserer Ausgänge besuchten wir meistens das Gasthaus „Zum goldenen Baum“ in der Waidhausenstraße im 14. Bezirk, in der Nähe des Krankenhauses, zu einem guten Schmaus. Dort kannte man uns schon und empfing uns sehr freundlich. Die Patienten wählten ihre Speisen nach der Menükarte aus und bestellten selbst. Dazu gab es mitunter auch ein Seiterl Bier, aber das erzählten wir nicht weiter. Wenn ich so zurückdenke, muss ich sagen: Die fast 40 Jahre verflogen so schnell – ich liebte meinen Beruf in jeder der verschiedenen Positionen, die ich innehatte. Wie meine Kolleginnen auch, habe ich nach bestem Wissen und Gewissen meine Pflicht getan – es war doch mein Beruf und meine Existenzgrundlage. Ohne ein „Gutmensch“ sein zu wollen, bin ich aber auch heute, im 84. Lebensjahr, der Meinung, dass ein liebes Wort und das bloße Halten einer Hand sehr viel Freude schenken können.

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„Freizeit gab es für mich so gut wie nie …“ Aloisia Käferböck wurde am 22. März 1936 in Walding nahe Ottensheim im Mühlviertel, Oberösterreich, als fünftes von sechs Kindern einer Häuslerfamilie geboren. Ihr Vater war Fassbinder, die Mutter betreute eine kleine Landwirtschaft zur Eigenversorgung. Da nach dem Schulaustritt keine passende Lehrstelle gefunden werden konnte, war die Autorin bis zu ihrer Heirat im Jahr 1954 als Hausgehilfin in mehreren Geschäftshaushalten tätig. Als Hausfrau und Mutter zog sie fünf Kinder groß, während ihr Mann als Metallarbeiter in der VOEST in Linz beschäftigt war. Seit dessen Tod Mitte der 1990er Jahre lebt Aloisia Käferböck alleinstehend in Ottensheim. In diesem Zeitraum war sie als ehrenamtliche Mitarbeiterin beim Roten Kreuz tätig und beteiligte sich öfter an Schreibaufrufen der „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“. Seit Jahrzehnten schreibt Aloisia Käferböck gern Mundartgedichte, die anlässlich ihres 70. Geburtstages für den Verwandten- und Bekanntenkreis in Buchform gefasst wurden. Ich, Aloisia Käferböck, geborene Lehner, habe von 1942 bis 1950 die Volksschule besucht. Ich wäre gerne in die Hauptschule gegangen, aber das war damals am Land fast unmöglich. Wir waren sechs Geschwister und hätten ins zehn Kilometer entfernte Linz fahren müssen. Das war im Jahr 1946 ausgeschlossen, weil die Fahrgelegenheiten nach Kriegsende sehr schlecht waren. Man war auch der Meinung, dass das für ein Mädchen nicht nötig wäre, da es ja bald heiraten und 222

Kinder haben wird und damit sowieso zu Hause bleiben muss. Ich wollte eigentlich immer gerne Lehrerin oder Kindergärtnerin werden, aber ohne Hauptschule war das unmöglich. Man musste damals das nehmen, was man bekam, ob es nun auch das war, was man gerne wollte oder nicht. Als ich im Jahr 1950 aus der Schule kam, suchte meine Mutter einen Posten als Hausgehilfin für mich, und ich hatte mich zu fügen. Das war dann meine Vorbereitung aufs spätere Hausfrauenleben. Ich kam in einen Geschäftshaushalt. Da gab es insgesamt sechs Personen. Ich hatte dort Kost und Quartier und musste bei allen Arbeiten helfen, die so anfielen. Ich half im Papiergeschäft im Verkauf, da konnte ich rechnen und ­schreiben, was ich immer gerne tat. Meine Hauptbeschäftigung aber war es, in der Küche und im ganzen Haushalt zu helfen. Der Tag begann für mich um 6 Uhr. Da hieß es Ofen einheizen, Kaffee kochen, für alle Schuhe putzen usw. Später kamen die alten Chefleute, dann die jungen und die Kinder. Wenn die Kinder in den Schulen waren, hieß es abwaschen, Zimmer aufräumen und daneben immer wieder im Geschäft helfen. Dann wurde gekocht für sieben Personen; nachher wieder abwaschen und aufräumen. Es gab für mich keine Mittagspause außer dem Essen. Am Nachmittag ging’s in die Werkstatt zum Helfen. Es gab eine eigene Linealerzeugung. Meistens war ich bei einer Schleifmaschine, wo die Holzlineale fein geschliffen wurden. Alles war voll Staub, aber Mundschutz gab es damals nicht. Alle vierzehn Tage kam eine Waschfrau, mit dieser musste ich zwei Tage lang Wäsche waschen, natürlich alles mit der Hand. Mit Bürste und Waschrumpel wurde alles fest bearbeitet und alles Weiße in einem großen Wasserkessel ausgekocht. Da gab es viel Dampf und große Hitze, und wir hatten ganz rote Hände vom heißen und dann beim Schwemmen wieder kalten Wasser. Dann wurde die Wäsche körbeweise auf einen 223

Wagen geladen und zu einem großen Trockenplatz gebracht. Stundenlang wurde am nächsten Tag genauestens gebügelt. Da mussten die aufgestickten Monogramme – sogar bei den Taschentüchern – auf der linken* Seite genau herausgebügelt werden; das hat mir die junge Chefin gezeigt. Ich war ein Jahr in diesem Haus. Mein Verdienst waren 80 Schilling im Monat. Dafür bekam man damals, im Jahr 1950, einen billigen Mantelstoff. Somit musste ich für meinen ersten selbstverdienten Mantel zwei Monate hart arbeiten, denn die Schneiderin verlangte auch 80 Schilling. Ich hatte nur sonntags nach dem Abwaschen einige Stunden frei, und da ging ich mit meiner älteren Schwester zu meinen Eltern nach Hause. Dort habe ich mich bei selbstgebackenem Brot und Ziegentopfen einmal richtig satt gegessen. Ich hatte immer Hunger, denn die Bauernbutter und das bessere Essen bekamen immer die Kinder der Chefleute. Dann hat mir meine Mutter eine Arbeit in einer Bäckerei gesucht, da ist es mir sehr gut gegangen. Ich musste zwar auch viel arbeiten, aber die Chefleute waren sehr nett, und ich hatte genug zu essen, was damals das Wichtigste war. Es gab eine Kuh zu melken, bis zu 15 Schweine zu füttern, und ich musste auch Brot ausführen und im Geschäft verkaufen. Verdient habe ich zuerst 150 und später 200 Schilling. Dort war ich vier Jahre, bis zu meiner Heirat, und das war auch eine gute Vorbereitung auf mein späteres Hausfrauen­ leben. Mein Mann und ich haben eine Zeitlang in einem kleinen Zimmer bei den Schwiegereltern gelebt, bis wir eine ­eigene kleine Wohnung gefunden haben, in einem Häuschen in jenem Ort, in dem ich aufgewachsen bin. Nun begann unser eigener Haushalt. Mein Mann war nun Alleinverdiener und überließ mir das Einteilen des Geldes. Er nahm sich das Geld, das er brauchte, aber das Übrige überließ er mir. Wir haben uns für unser bisschen Erspartes alte Möbel und das Nötigste für den Anfang ge224

kauft und waren verwundert, wie viel da schon draufgegangen ist, denn eigentlich wollten wir einmal ein Haus bauen. Das heißt, eigentlich wollte ich das, mein Mann weniger. Es gab in der Nähe einen Baugrund zu verkaufen, und da wir inzwischen eifrig gespart und einige tausend Schilling beisammen hatten, glaubten wir, es ginge sich wenigstens für den Baugrund aus. 500 Quadratmeter, die man zum Bauen haben musste, wären sich ausgegangen, denn wir hatten 15 000 Schilling. Der Grund hätte am Land damals, im Jahr 1959, 30 Schilling pro Quadratmeter gekostet. Aber es wurden 600 Quadratmeter und hätte 3000 Schilling mehr gekostet, und die bekamen wir nirgends. Weder auf der Sparkasse – wir hatten keine Bürgen mit Besitz – noch sonst irgendwo. Inzwischen hatten wir drei Kinder, und Baugrund wurde rasant teurer. Wir gaben also den Traum auf und kauften uns stattdessen eine Waschmaschine und mein Mann ein Moped, denn als Bäcker musste er immer in der Nacht zur Arbeit ­fahren. Beides hat jeweils circa 4000 Schilling gekostet, und das übrige Geld haben wir aufgespart. Mein Mann war froh über das Moped und ich über die Waschmaschine. Die Waschmaschine haben wir über einen Bekannten gekauft, der eine Vertretung hatte. Sie hatte keine Heizung und musste per Hand ein- oder ausgeschaltet werden. Man ließ sie je nach Verschmutzung der Wäsche länger oder kürzer laufen. Sie war mir trotzdem eine große Hilfe, denn inzwischen gab es fünf Kinder und dementsprechend viel Wäsche zum Waschen, obwohl man damals nur einmal die Woche Waschtag hatte und auch viel weniger Kleidung zum Wechseln. Ich war gerne Hausfrau für meine Familie, da ich auch gute Kochkenntnisse von früher hatte, aber Lob gab es keines. Es war einfach selbstverständlich, dass eine Frau zu Hause ­alles machte. Es kamen im Lauf der Jahre immer mehr Geräte auf den Markt, die einem die Arbeit erleichterten. Das erste war ein 225

Kühlschrank, damit konnte man das Gemüse aus dem Schrebergarten länger frisch halten und musste nicht mehr alles in den Keller tragen. Die Gartenarbeit war natürlich auch meine Arbeit, denn ich war ja sowieso zu Hause. Da wurde ein Wagerl mit Kindern, Flascherl und Jause vollgepackt, und so ging es circa einen Kilometer in den Garten. Zwischen der Gartenarbeit wurden auch die Kleinen gefüttert und gewickelt. So ging das Tag für Tag, Jahr für Jahr, bis die Kinder groß waren: Hausaufgaben überwachen, kochen, putzen, im Garten arbeiten usw. Zwischendurch sind wir drei Mal umgezogen, und ich habe auch gelernt, die Wohnung zu tapezieren, fast alles selbst zu nähen und war immer beschäftigt. Gebügelt habe ich immer abends, da hatte ich wenigstens Ruhe dabei. Meinen Kindern habe ich abends gern selbsterfundene Märchen erzählt, da sind sie gern zu Bett gegangen. Freizeit gab es für mich so gut wie nie, und ich war auch nie ernstlich krank. Man hat dem Mann das Leben so bequem wie möglich gemacht, denn der musste ja schwer arbeiten und das Geld nach Hause bringen, hieß es allgemein. Dass die Frau oft viel mehr leistete, war selbstverständlich, und man sprach nicht weiter drüber. Als die Kinder größer wurden, habe ich es bereut, keinen erlernten Beruf zu haben, denn da hätte ich Zeit gehabt, öfters einige Stunden zu arbeiten. Ich habe dann dort und da Hilfsarbeiten gemacht, war natürlich nicht angemeldet und habe daher heute auch keine eigene Pension. Ich komme zwar mit der Witwenpension aus, aber es ist sehr knapp. Ich bin trotzdem zufrieden mit meinem Leben. Ich lese sehr viel, habe auch nette Freunde und bin froh, mich alleine versorgen zu können. Heute jammere ich auch keinem Häuschen mehr nach und bin in meiner kleinen Wohnung glücklich und zufrieden. Aber wenn ich noch einmal anfangen könnte, würde ich sicher einen guten Beruf lernen. 226

„Wir lernten auch noch Stanitzel drehen“ Helene Schreivogl wurde am 16. Mai 1937 in Achau südlich von Wien als älteres von zwei Kindern einer Kleinbauernfamilie geboren. Nach Abschluss der Pflichtschule wurde sie 1951 im Konsum Österreich als Lehrling aufgenommen und in einer Wiener Filiale ausgebildet. Nach der Heirat im Jahr 1958 und der Geburt zweier Kinder war die Autorin nur noch kurze Zeit als Verkäuferin erwerbstätig. Helene Schreivogl ist lokal- und alltagshistorisch sehr interessiert und hat im Verlauf der letzten zwei Jahrzehnte in ihrer Heimatgemeinde Achau eine Sammlung von alten Fotos angelegt, eine Fotoausstellung organisiert und an einer Ortschronik mitgearbeitet. Eigene Kindheitserinnerungen an die Zeit um 1945 hat sie ebenso in Buchform dokumentiert wie eine Sammlung von Feldpostbriefen aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Von Kindheit an war es immer mein Wunsch, Verkäuferin zu werden. Nur, nach dem Krieg war es schwer, eine Lehrstelle zu finden. Meine Mutter ging im Konsum einkaufen und hörte dort, dass ab 1951 Lehrlinge aufgenommen werden. Wir schrieben an die Zentrale in der Wolfganggasse und bekamen als Antwort ein Datum für ein Vorstellungsgespräch. Viele Jugendliche waren eingeladen zur Aufnahmsprüfung. Wenn man die bestanden hatte, war der August 1951 Probemonat und der September Beginn der Lehrzeit. Wir waren die ersten Lehrlinge nach dem Krieg. Das Lehrlingsanfangsgehalt betrug 142 Schilling monatlich. Das Fahrgeld für Bahn und Straßenbahn musste ich selber bezahlen, 227

Arbeitskleidung und Schulgeld bezahlte die Firma. Man hatte Anspruch auf vier Wochen Urlaub. Den musste man im Juli oder August antreten, denn da war keine Berufsschule. Beim Eintritt in die Firma musste man der Gewerkschaft beitreten, und auch nach der Parteizugehörigkeit der Eltern wurde gefragt. Der Konsum war ein sozialistischer Betrieb. In der Firma gab es Betriebsräte für Arbeiter und Angestellte. Hatte man ein Problem, konnte man sich an sie wenden. Sie waren die Verbindungsglieder zwischen Angestellten und Firma. Die Lehre dauerte drei Jahre. Sie war für mich sehr hart, denn ich konnte in der Mittagspause, wenn die Filiale gesperrt hatte – das war von 12.30 bis 16 Uhr – nirgends hingehen, da ich ja außerhalb Wiens wohnte. So saß ich bei Wind und Regen auf einer Parkbank. Im Winter, wenn es besonders stark schneite, nahm mich eine Verkäuferin mit zu sich nach Hause. Die Arbeitszeit betrug für Lehrlinge 40 Stunden und 48 Stunden für Erwachsene. Berufsschule hatten wir zweimal in der Woche: Montag und Freitag nachmittags. Auch gab es eine Betriebsschule und Kurse im Firmenheim auf der Hohen Warte. Das erste Lehrjahr verbrachte ich mit putzen, putzen und „einwiegen“: Mehl in 1-Kilo-Packerln, Staubzucker in Viertelund Halbkilo-Sackerln, Zucker und Reis (vom Originalsack zu 90 Kilogramm) in 1-Kilo-Sackerln. Originalverpackt waren sehr wenige Waren. Wir lernten auch noch Stanitzel* drehen. Das zweite Lehrjahr war schon interessanter. Eine Kollegin, die in der Innenstadt lernte, durfte schon eine Auslage dekorieren. Die Häuser waren teilweise noch zerbombt und die Filialen desolat. Maria machte eine schöne Auslage mit Käse. Sie ging in das Geschäft und sah nach draußen. Die Leute blieben stehen und lachten. Maria dachte, sie lachten über die schöne Auslage. Nein, in der Auslage saßen Ratten und schmausten am Käse … Ich wohnte in der Nähe vom Postamt. Am Samstag durfte ich eine Stunde früher vom Geschäft weggehen und die Ein228

nahmen zur Post bringen, so an die 20 000 bis 25 000 Schilling – ein kleines Vermögen! Angst vor Überfällen hatte man nicht. Langsam durfte man auch mithelfen bei der Kundenbedienung. Im dritten Lehrjahr war man schon selbständig. Wenn man tüchtig war, wurde man auch „Springerin“. Wo in einer anderen Filiale jemand gebraucht wurde, musste man aushelfen. Ich brachte es auf neun Filialen. Sonntagvormittag war „Milchdienst“, von 6 bis 9  Uhr hatten die Milchfilialen offen. Für diesen Sonntagsdienst bekam man eine Zulage von 200 Prozent. Die Leute standen in Schlange angestellt zum Milchkaufen. Es gab nämlich noch keine Kühlschränke. Butter gab es im Geschäft in 5-Kilo-Blöcken. Wenn der Kunde fünf oder zehn Deka* kaufte, wurde diese Menge mit dem Butterdraht heruntergeschnitten. Die verpackten Achtel- und Viertelkilo gab es erst später. Einige Preise: 1 Brotwecken zu einem Kilo – 3,50 Schilling; ein Kilo Zucker – 6,40 Schilling; 10 Deka Butter – 3,52 Schilling. Auch am „Silbernen“ und „Goldenen Sonntag“* vor Weihnachten war offen. Das waren starke Umsatztage, überhaupt die Weihnachtszeit. Die Filiale wurde geschmückt, und ­besonders die Auslagen wurden schön gestaltet. Ab 1953 gab es keine Lebensmittelmarken mehr, und es gab schon allerhand Delikatessen zu kaufen. Am Heiligen Abend kam in der Früh ein Wagen, der brachte in einem Fass lebende Karpfen. Die Kunden konnten sich einen aussuchen, der wurde im Geschäft bratfertig hergerichtet. Die großen Eiskästen in den Filialen wurden noch mit Blockeis gefüllt. Die Kästen hatten oben eine Öffnung, in diese kam der zerhackte Eisblock. Diese Kühlung hielt bis Montag, dann wurde das Eiswasser abgelassen. In meiner letzten Filiale waren wir zwölf bis fünfzehn Angestellte, Verkäufer und Lehrlinge. Die Angestellten dieser Filiale waren wie eine große Familie. Wenn wir guten Umsatz 229

machten, ging der Filialleiter mit uns aus, einmal sogar ins Raimundtheater. Jeder musste seine Arbeit machen, das war schon klar. Es gab einen Rayonsinspektor. Der kam unangemeldet so alle 14 Tage und kontrollierte die Preisauszeichnungen, ob die Angestellten saubere Arbeitsmäntel trugen, ob die Filiale ordentlich aufgeräumt war und ob die Buchhaltung stimmte. Als der Konsum zusperren musste, gingen schon ein paar Tropfen „Herzblut“ mit. Die Idee der Weber aus Rochdale in England war dahin. (Sie gründeten um 1850 einen Verein namens „Consum“. Sie kauften Mehl in großen Mengen, bekamen es billiger und konnten es daher auch billiger verkaufen.) Als Andenken habe ich zu Hause am Balkon den Konsum-Schriftzug und das Unendlichzeichen hängen. Die Konsum-Jahre waren für mich eine schöne Zeit. Ich habe viel gelernt, und mit einigen Kolleginnen und Kollegen von damals treffe ich mich immer noch einmal im Jahr.

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„Aus der Schweiz hingegen hatte ich vielversprechende Angebote“ Therese Schwarz wurde am 15. März 1940 als Tochter einer Gastwirtsfamilie in dem wenige Kilometer östlich von Belgrad gelegenen Ort Brestowatz/ Banatski Brestovac im südlichen Banat, Serbien, geboren. Vor der Internierung und drohenden Deportation der deutschsprachigen Bevölkerung durch die Serben flüchtete sie 1945 mit ihrer Mutter, den Großeltern und ihrem neugeborenen Bruder nach Österreich und landete nach mehreren Zwischenstationen in einer Bara­cken­ siedlung nahe Kapfenberg in der Steiermark. Trotz der anfangs prekären Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Familie – der Vater wurde erst 1952 aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft entlassen und fand danach Arbeit im örtlichen Stahlwerk – konnte Therese Schwarz nach der Hauptschule die Handelsakademie in Graz besuchen und diese 1959 mit der Matura abschließen. In den Folgejahren verbesserte sie ihre Fremdsprachenkenntnisse durch längere Auslandsaufenthalte mit Sprachkursen in verschiedenen europäischen Ländern. Ab Mitte der 1960er Jahre fasste sie beruflich in der Schweiz Fuß und war als Direktionsassistentin, Privatsekretärin und zuletzt bis 1999 als Sachbearbeiterin in einer Zürcher Bank beschäftigt. Nach der Pensionierung kehrte die Autorin nach Kapfenberg zurück, wo sie heute alleinstehend lebt. Sie ist Mitglied des EuropaLiteraturkreises Kapfenberg und veröffentlicht gelegentlich in Literaturzeitschriften und Anthologien. Als Kriegs- und Flüchtlingskind waren die Jahre nach 1945 für mich und meine Familie besonders hart. Wir mussten zunächst 231

einmal aus unserer Heimat flüchten. Zu Fuß, in drei Anläufen. Die ersten beiden wären beinahe letal ausgegangen für meinen Großvater und meinen Onkel, denn wir wurden schon lange vor der Grenze erwischt und zurückgeschickt. Mein Vater war noch lange in Kriegsgefangenschaft in Stalingrad. Die Schuljahre empfand ich größtenteils als schön, mit Ausnahme der zweiten Schulklasse, wo mir vor der alten, bissigen Lehrerin immer die Sprache wegblieb. Aber den Jahresabschluss schaffte ich gut. Von der dritten Klasse an bis Ende der Hauptschule ging es mir wunderbar. Dann kam die Berufswahl. Eigentlich wollte ich Lehrerin werden, aber das ging nicht, weil wir zu dieser Zeit noch keine Staatsbürgerschaft hatten. So blieb also nur die Handelsakademie als ­höhere Schule. Die schaffte ich ganz gut, wenn auch mit viel Widerwillen. Ich mochte die kaufmännischen Fächer überhaupt nicht. Buchhaltung und Betriebskunde waren mir ein Graus. Sprachlich hingegen schlug ich mich sehr gut durch. Darauf habe ich dann auch mein ganzes Berufsleben aufgebaut. Aber so ganz gleich funktionierte das nicht. Ich habe 1959 maturiert. Danach bewarb ich mich bei den lokalen Banken, aber ich wurde nicht genommen. Ein Kind von Herrn und Frau Niemand kam damals nicht in eine Bank. Also wurde es die Post. Fünf Jahre lang saß ich hinter dem Kassenschalter mit den langen Menschenschlangen davor – ohne Rechenmaschinen, ohne Verlustausgleich und mit oft riesigen Tagessummen. Die Wirtschaft war gerade erst so richtig angelaufen, und man machte gute Geschäfte. Kaufleute brachten oft riesige Beträge, und manche Leute hatten es auch darauf abgesehen, den Kassenbeamten hineinzulegen. Ohne Rechenmaschinen war noch Kopfrechnen angesagt. Die langen Kolonnen mit den Erlagscheinen mussten alle paar Minuten addiert werden. So blieb auch mir einmal nicht erspart, dass mir abends dreihundert Schilling fehlten. Ich saß da und weinte, denn 232

mein Lohn betrug nur zwölfhundert. Aber der gütige Postdirektor kam zu mir, legte mir den Arm um die Schultern und sagte: „Wein net, Dirnderl, des zahl i dir. Mir is des a amol passiert, vül mehr hob i verlurn. Jung verheirat, und hintn und vurn nix.“ Er bezahlte für mich. Überhaupt war ich im Postamt sehr gut aufgehoben. Die Stimmung unter den Angestellten war fröhlich und unbeschwert. Wir hielten alle zusammen, und oft unternahmen wir auch Ausflüge miteinander. Wenn nur diese große Arbeits­ überlastung und die Verantwortung für so viel Geld nicht gewesen wären. Schlussendlich bekam ich Magengeschwüre, und mein Arzt sagte nur: „Fräulein, ihr Geschwür heißt ‚Post‘.“ Da ergab sich die Möglichkeit, als Hostess zum Postkongress nach Wien zu kommen. Das war ganz spannend. Über 400 Delegierte aus aller Herren Länder, die man zu betreuen hatte. So kam es, dass ich eines Tages bei einem Ausflug, an der Seite des Schweizer Postministers saß. Er erzählte mir er hätte gerne ein Austauschprogramm gestartet, aber das sei schier unmöglich, wegen des Währungsgefälles und der unterschiedlichen Bezahlung. Kein Schweizer würde für einen österreichischen Lohn arbeiten, und ein Österreicher könne schwer abschätzen, dass ein höherer Lohn auch sehr viel höhere Preise bedeutete. Ich sagte nur: „Schade, da hätt’ ich mich sofort gemeldet, für ein französischsprachiges Postamt.“ Daraufhin schlug er mir einen „Deal“ vor. Er würde mich höchstoffiziell einladen, und mit dieser Einladung müsste ich mich beim hiesigen Präsidenten in Graz anmelden. Das tat ich auch. Aber es dauerte sechs Monate, bis ich überhaupt vorsprechen durfte, und dann sagte mir der gute Herr, ich riskierte meine österreichische Staatsbürgerschaft, wenn ich für den Staatsdienst eines anderen Landes arbeitete. Darauf ich: „Aber ich bin ja nur im Austausch, das müssen Sie ja wohl nicht höchstoffiziell melden.“ Worauf er: „Gehen Sie in Gottes Namen, Sie sind mir zu hell.“ 233

Und so kam ich nach Lausanne, wo ich ein wunderbares Jahr verbrachte, nicht ohne Heimweh allerdings. Bei der Ankunft schon hatte ich mich nicht getraut, ein Taxi zu nehmen, das war ja nur für reiche Leute. So schleppte ich meine beiden Koffer an die zwei Kilometer bis zur Hauptpost. Dort wurde ich schon erwartet, und man lachte mich aus wegen meiner Bedenken. Taxis waren durchaus erschwinglich für Schweizer Begriffe, aber nicht für meine. Na, ich kam also auch dort sehr bald an den Schalter, zur Briefpost zunächst, dort musste man am wenigsten reden. Meine Französischkenntnisse aus der Handelsakademie waren nicht auf die Umgangssprache ausgerichtet, alles nur kaufmännisch. Aber man holte mich täglich für mindestens eine Stunde vom Schalter weg und gab mir Sprachunterricht: Zeitung lesen, übersetzen, erklären, andere Ausdrücke für einen Begriff finden usw. Die Leute waren einfach großherzig und nett, und die junge Generation war höchst unterhaltsam. Man trieb oft Scherze mit mir, so ungefähr: „Also, du bist jetzt still, dich haben wir schon im 13. Jahrhundert vertrieben!“ Ich liebte sie alle. Die Pausenverpflegung musste täglich ein anderer besorgen. So lernte ich sehr schnell, wie sämtliche Bäckereien hießen, welche Getränke es gab, und vieles mehr. Als dann auch noch König Faruk bei mir seine Briefe aufgab, war ich ganz im Himmel. Der war gerade im Exil in Lausanne. Es gab aber auch Pannen. So zum Beispiel, als man eine „Timbre poste du Saint Cervain“ verlangte. Ich schaute verängstigt in meine Mappe, welche Briefmarke das wohl sein könnte. Da meinte der Kunde auf ganz schön Schwyzerdütsch: „As Matterhorn isch das, Fröillein.“ Es tat mir leid, Lausanne zu verlassen, aber mein Jahr war um, und ich hatte ein gutes Zeugnis. So stand auch drin: „Ses connaissances de la langue française peuvent être considerées comme très bonnes.“ Meine Sprachkenntnisse waren also sehr gut. 234

Frohgemut kam ich zu Hause an. Ich hatte ja auch schon Heimweh, und Urlaub hatte ich mir in diesem Jahr keinen leisten können. Schlimm beim Abschied war nur die Schweizer Steuerrechung: 700 Franken musste ich bezahlen, denn in der Schweiz gibt es bis heute noch keine Nettolöhne. Die Steuern muss man von seinem Lohn selber bezahlen. Wieder in meinem alten Postamt, hoffte ich natürlich, dass ich nun eine Stelle mit Sprachkenntnissen bekommen würde, vielleicht im internationalen Telefonamt oder in der Generaldirektion. Aber weit entfernt davon: Mein lieber Direktor sagte nur: „Na ja, jetzt können S’ die Zeitung halt auf Französisch lesen.“ Das war alles. Es ging so weiter wie bisher, außer dass ich jetzt die Amtskasse zu verwalten hatte. Da traf ich eines Tages eine Schulkollegin, die gerade aus England zurückgekommen war. Ich fragte sie nach ihrer Agentur und schrieb kurzerhand meine Bewerbung. Postwendend bekam ich Antwort mit mehreren Vorschlägen. Ich entschied mich schließlich für eine Familie mit zwei kleinen Buben. Das war eine meiner besten Lebensentscheidungen. Ich habe diese Familie seither jedes Jahr in meinem Leben getroffen, und es sind schon 69! Aber zunächst einmal musste ich kündigen. Schließlich war ich schon zwei Jahre pragmatisiert, und so eine sichere Arbeit warf man doch nicht einfach hin. Aber ich hatte genug und fuhr kurzerhand nach England, wo ich neun sehr schöne Monate verbrachte. Nach meinen Sprachprüfungen brachte mich die Familie sogar noch bis Calais, wo ich den Zug bestieg. Vorher hatte ich mir aber noch Stellenannoncen nach England senden lassen, aus Wien und aus der Schweiz. Ich hatte an die UNO in Wien gedacht. Aber da bot man mir nur eine Stelle als Tippmamsell in einem Schreibpool an. Das interessierte mich natürlich nicht. Aus der Schweiz hingegen hatte ich vielversprechende Angebote. Eines davon war aus Luzern und gefiel mir besonders, weil dorthin 235

inzwischen schon meine Freundin aus Lausanne zurückgekehrt war. Eine amerikanisch-schweizerische Firma suchte eine Chefsekretärin. Man holte mich am Bahnhof ab, zeigte mir alles, ich durfte wählen, und man bezahlte meine gesamte Reise. Man denke nur, wie heute junge Stellenbewerber behandelt werden. Auch hier war das Arbeitsklima ausgezeichnet, weil es Menschen aus 24 Ländern gab. Man redete in allen Sprachen, und ich fühlte mich wirklich wohl. Ich durfte dreisprachig arbeiten. Doch dann wurde mein erster Chef versetzt und der zweite nach wenigen Monaten krank. Also sah ich mich nach einer anderen Stelle um. Im alten Betrieb herumgereicht werden wollte ich nicht. Damals fand man eine neue Stelle im Handumdrehen, und bei jedem Wechsel verdiente man mehr. Diesmal war es eine schwedische Firma, mit einem französischen Chef, von dem ich auch wieder viel lernte. Aber als ich eines Tages herausfand, dass er das Gehaltsbudget der ganzen Abteilung für sich alleine behalten hatte, stellte ich ihn zur Rede. Als er meinte, das ginge mich nichts an, knallte ich ihm den Ordner vor die Nase, packte meine Handtasche und wollte nach Hause gehen. Im Großraumbüro gab ich noch schnell Bescheid, was ich eben erlebt hatte. Der Personalchef rief mir noch nach, ich könne mein Zeugnis nach drei Tagen holen kommen. Das tat ich auch. Das Zeugnis war mickrig und allgemein, so ungefähr: „… hat die ihr aufgetragenen Arbeiten ordnungsgemäß erledigt“. Ich zerriss es gleich. Der Mann war wie vom Donner gerührt. Doch auf dem Weg hinaus rief mir ein Kollege zu: „Komm schnell her, ich hab schon eine Stelle für dich!“ Er war einer der vielen Familienväter, die sich aufgrund ihrer Verantwortung natürlich nicht so ver­ teidigen konnten wie ich. Mein Risiko war gering. Da las ich „Privatsekretärin im Tessin gesucht, eigene Wohnung, eigenes Auto, Weltreisen.“ 236

Das klang ja toll, wo war der Haken? Ich schrieb meine Bewerbung und hörte lange gar nichts. Erst als ich schon den Vertrag einer Autofirma auf dem Tisch hatte, bekam ich den Anruf. „Ach Frau X, wir waren lange verreist, aber Ihre Bewerbung interessiert uns. Wollen Sie nicht einmal vorbeikommen? Wir wohnen in Ascona.“ Also machte ich mich auf den Weg. Ein schönes Anwesen war das, aber kein Prunk und kein Schmock*. Ein schon alter Herr saß hinter dem Schreibtisch, ein bekannter Industriemagnat. Und schon war ich im Probediktat. Der Herr war zufrieden, und ich durfte einziehen. Der Haken oder die Haken wurden bald sichtbar: Man hatte keine Freizeit. Auf dem gleichen Grundstück, nur ein paar Meter vom Herrenhaus entfernt, war man leider immer erreichbar. Erst recht auf Reisen. Niederlassungen der Firma gab es damals in Deutschland, Holland, in den USA, Brasilien und Argentinien. Ich lernte viele bedeutende Menschen kennen. Behandelt wurde ich wie eine Tochter, aber das war nicht nur zu meinem Vorteil, zumindest nicht finanziell. Die Töchter wurden kürzer gehalten als manches Arbeiterkind. Auch mein Lohn war eher bescheiden, da ich ja gratis wohnte. Reisen war überhaupt das Schwierigste. Ich weiß nicht, wie viele Flüge ich umbuchen musste: Morgens war es zu früh, mittags wollte Madame sich ausruhen – sie fuhr meistens mit – und abends war es zu spät. Zudem waren jede Menge Koffer, eine schwere Reiseschreibmaschine, zwei schon gebrechliche Menschen zu transportieren. Es war erschöpfend. Zum Glück gab es damals noch Träger auf den Bahnhöfen, sonst hätten wir auch dort noch alle Anschlüsse verpasst. Auf Reisen sah ich oft außer meinem Hotelzimmer nur noch Unmengen von Konferenzräumen. Mein Büro war dann mein Hotelzimmer, und gearbeitet wurde fast rund um die Uhr. Die Abendessen fanden in denselben Kreisen statt: lauter Leute in hohem Alter mit sehr viel Macht und noch 237

mehr Geld. Ich war der Sklave vom Dienst, musste ständig notieren, telefonieren, herumrennen. Nach sieben Jahren war ich so erschöpft, dass ich schwer krank wurde. Der Arzt stellte mich vor die Wahl, zu bleiben – und monatlich mein Gehalt bei ihm abzugeben – oder wieder in normale Lebensverhältnisse zurückzukehren. Ich entschied mich für Letzteres. Nach langer Rekonvaleszenz wollte ich mir einen „gewöhnlichen“ Job suchen. Diesmal war es eine Firma für Indus­ trieelektronik, dort musste ich italienisch arbeiten. Meine anfänglichen Fehler korrigierte mein gutherziger Chef nicht nur, er erklärte mir bei jedem Fehler, welche Regel es dafür gab. Und so arbeitete ich nach sechs Monaten fehlerlos. Doch auch diese Firma kam in Schwierigkeiten, und meine Abteilung sollte weit weg verlegt werden. Ich wollte aber keinen Pendeljob. Also ging ich wieder auf die Suche. Diesmal wählte ich eine Bank, im guten Glauben, diese würde wohl nicht pleite gehen. Wie haben sich die Verhältnisse inzwischen verändert! Als Sachbearbeiterin wollte ich selbständig arbeiten. Auch diesmal war es gar nicht schwer, aufgenommen zu werden. Aber schon wieder hatte ich einen Dreifach-Job. Mein Chef war nicht nur Abteilungsleiter, sondern auch Oberst im Militär und führendes Mitglied einer Partei. Von selbständig Arbeiten war nur selten die Rede. Oft musste ich Einberufungen in drei Sprachen verfassen, die Parteiprotokolle schreiben und erst dann meine eigentliche Arbeit verrichten. Aber zumindest stimmte hier der Lohn einigermaßen. Einigermaßen wohlgemerkt, denn Männer in der gleichen Position bekamen automatisch um ein Drittel mehr – ohne die diversen Nebenaufgaben! So ist das heute noch. Leider wurde ich schon sehr früh zum absoluten Gehorsam erzogen. Man tat, was man befohlen bekommen hatte. Eine Arbeit nicht zu verrichten wäre zu dieser Zeit undenkbar gewesen. Alle Angestellten waren furchtbar brav und an238

gepasst, und eigentlich habe ich das Wort Nein, nach oben gerichtet, überhaupt nie gehört. Ich weiß nicht an wie vielen Abenden ich an der Bushaltestelle wartete und nicht wusste, wie ich stehen sollte, dermaßen tat mir der Rücken weh, und ich war immer todmüde. Drei Computer hatte ich auf dem Tisch, für intern, extern und für die Börse. Ich war eigentlich jeden Abend fix und fertig. 140 Folien an einem Tag zu zeichnen gehörte zur Norm. Zuhause angekommen, ließ ich mir oft nur noch ein heißes Bad ein, danach gab es eine Tasse Tee und ein Brot, und das war es dann. Oft fragte ich, wie lange ich das noch aushalten könne. Außerdem hatte mein Vater 1987 seinen ersten Schlag­ anfall, und meine Mutter konnte die Pflege nicht alleine bewältigen. So kam ich jedes Wochenende nach Hause, jeweils mit dem Nachtzug hin und retour, und montags ging ich vom Zug direkt ins Büro. Der Stellenwechsel war inzwischen erheblich schwerer geworden und der Ton unglaublich ruppig. Dazu kam, dass man ab vierzig eigentlich zum alten Eisen gehörte. Dann kamen die unzähligen Rationalisierungen, Umorganisationen, Sparmaßnahmen, fast jeden Monat war alles wieder neu umzustellen. Das Klima war total verpestet, der Druck unerträglich. Wir mussten schlussendlich auch noch eigene Wochenvorgaben abliefern und am Ende der Woche berichten, ob wir diese auch alle – wie und wo – erreicht hätten und ob es nicht auch anders gegangen wäre … Es war schrecklich. Schließlich kam die große Fusion, und ganze Abteilungen wurden geschlossen, weil doppelt vorhanden. Viele wurden vorzeitig entlassen, ohne Entschädigung, ohne Abfertigung. Das Wort Abfertigung gibt es in der Schweiz auch heute noch nicht. Zum Glück gehörte ich in die Altersgruppe, die man nicht mehr entlassen durfte. Ich kam in eine Art Vorpension. Im Notfall konnte ich noch eingesetzt werden, aber sonst war ich frei, allerdings mit einer fast um die Hälfte reduzierten 239

Pension. Ich dankte meinem Schicksal trotzdem. Ich kehrte nach Hause zurück und betreute meine Mutter noch einige Jahre lang, übernahm den Haushalt und fing an, alles Zerfallene zu renovieren. Einige Jahre las ich auch noch im Altenheim vor oder half aus, wo Not war. Endlich hatte mein Leben einen sozialen Sinn. Dafür war und bin ich noch heute dankbar.

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„Unvorstellbar, dass ich 43 Jahre in einem Ministerium gesessen wäre …“ Elisabeth Coveos wurde am 20. Februar 1941 in Thessaloniki, Griechenland, geboren. Ihre Mutter stammte aus Österreich und hatte in den 1920er Jahren als Kindermädchen in Griechenland Arbeit gefunden; der Vater war ein Flüchtling aus Kleinasien. Dank eines noch vor dem Zweiten Weltkrieg erworbenen Vermögens des Vaters wuchs die Autorin anfangs in wohlsituierten Verhältnissen auf. Sie besuchte wie ihre zwei jüngeren Brüder eine private Volksschule und lernte schon als Kind neben den Muttersprachen ihrer Eltern Französisch. Nach wirtschaftlichen Verlusten im Handelsunternehmen des Vaters war auch die Mutter erwerbstätig, und die Kinder wurden frühzeitig zu Besorgungen oder Hilfsdiensten angehalten. Nach der Trennung der Eltern kam die Autorin 1955 in ein Internat nach Wien, um hier vier Jahre später die Matura an einem Oberstufengymnasium zu absolvieren. Ihre berufliche Laufbahn begann wiederum in Griechenland und führte von einer einfachen Sekretariatsstelle in der Österreichischen Botschaft in Athen über Dolmetschaufgaben und gehobene Dienste im Außenministerium in Wien bis zu Führungspositionen im diplomatischen Dienst in verschiedenen Ländern. Bis heute ist sie als gerichtlich beeidete Dolmetscherin tätig. Elisabeth Coveos war verheiratet, ist Mutter von drei Kindern und lebt nach ihrer Scheidung alleinstehend in Wien und im Burgenland. Nach der Matura ging ich nach Griechenland zurück, weil die Jobchancen dort für mich besser waren. Vorerst arbeitete ich als Sekretärin bei der Niederlassung einer Speditions­firma 241

in Athen. Der Chef war herrisch und bildete sich ein, sehr gut Deutsch zu können. Er korrigierte die von mir verfassten Briefe so, dass dann ziemlich viel falsch war. Rechte hatte man keine, nur Pflichten. Als ich dann erfuhr, dass die Republik Österreich eine Sekretärin für die Botschaft in Athen suchte, bewarb ich mich. Der Beamte, der mich prüfte, war mit meinen Kenntnissen – vor allem in Steno und Maschinschreiben – nicht sehr zufrieden, meinte aber, man könnte es mit mir probieren. Ich wurde als VB/e (Hilfsdienst) eingestuft – dem Gesetz hat das nicht entsprochen, weil Maturanten mindestens in d eingestuft werden mussten, aber um diese Dinge scherte sich niemand, und ich hatte damals keine Ahnung, war froh, eine Arbeit zu haben, die mich zudem mehr und mehr interessierte. Das Gehalt betrug 1300 Schilling brutto, was vergleichsweise gut war, aber nicht reichte, um eine Wohnung zu mieten und davon zu leben. Ich wohnte in der Botschaft, in einem Zimmer im ersten Stock, zu einer sehr geringen Miete; möblieren musste ich es selbst. Bad und Küche teilte ich mit einer Kollegin und einer Stipendiatin des Österreichischen Ärchäologischen Instituts, dem das Haus gehörte, und war praktisch Tag und Nacht im Dienst. Die Arbeitszeit betrug 48 Stunden pro Woche, Überstundenabgeltung gab es keine, 14 Tage Urlaub im Jahr sowie Kranken- und Sozialversicherung. Das Telefon läutete auch am Gang vor unseren Zimmern, und mehr als einmal musste ich, weil ich ja so gut Griechisch konnte, mitten in der Nacht bei Unfällen, Krankheitsfällen usw. ausrücken. Die Vorgesetzten betrachteten uns als eine Art persönliche Bedienstete, die immer, auch spät abends und manchmal nachts, zur Verfügung stehen mussten. Als ich meinen Mann kennenlernte, durfte ich ihn nicht zu mir einladen – eine reine Schikane der Chefs, Sicherheitsbedenken gab es keine –, also entschlossen wir uns, gemeinsam 242

eine kleine Wohnung zu mieten. Man wollte es mir verbieten, so viel wusste ich aber inzwischen über meine Rechte, also weigerte ich mich zu bleiben. Im Jahr 1964 bekamen wir einen neuen Chef – und plötzlich war alles anders. Er sah zu, dass wir Mittagspause machen und auch einmal früher nach Hause gehen durften, wir wurden jedenfalls nicht mehr wie Arbeitssklaven behandelt oder mit „Anlassigkeiten“* belästigt. Er war es auch, der mich drängte, mich weiterzubilden und unterstützte mich dabei kräftig. Ich hatte mittlerweile zwei Kinder (mit je sechs Wochen Mutterschutz vor und nach der Geburt – keine Karenz, die hätten wir uns aber ohnedies nicht leisten können) und wohnte in einer Zwei-, später in einer Dreizimmerwohnung. Die war mit einem elektrischen Heißwasserboiler ausgestattet und mit ein paar Küchenkastln. Erst sechs Monate nach dem ersten Kind, gegen Ende 1963, kauften wir auf Raten einen Herd und einen Kühlschrank. Bis dahin hatten wir einen kleinen Elektrokocher für das Abkochen des Wassers für das Babyfläschchen. Die erste Waschmaschine konnten wir uns erst kurz vor der Geburt des dritten Kindes in den späten Sechzigerjahren leisten, auch unser erstes Auto – und einen Schwarz-WeißFernseher. Radio hatten wir schon, das hatten mir meine Eltern zur Hochzeit geschenkt; andere Verwandte und Freunde schenkten uns Geschirr, Essbesteck, Kochtöpfe usw., denn ich hatte in meinem Zimmer in der Botschaft kaum einen Haushalt. Wäsche waschen und Einkaufen waren die schwierigsten Aufgaben. Zu Beginn hatte ich ein Mädchen, das ausschließlich die Kinder betreute. Sehr bald kamen sie in einen Kindergarten bzw. Hort. Ich arbeitete nach wie vor ganztags, holte sie um vier (wenn ich denn pünktlich wegkam) aus der Schule, ging mit ihnen in den Park zum Auslüften und Aus243

toben, dann nach Hause; Kinder ab in die Badewanne, samt Kleidung; Essen zubereiten, Märchen vorlesen oder spielen, schlafen gehen. Dann begann das Wäschewaschen (für damals vier Personen): einweichen, am nächsten Tag in der Früh erste Wäsche, am Abend zweite Wäsche und Schwemmen, am nächsten Tag aufhängen am Balkon. Und irgendwann musste das alles ja auch gebügelt werden. Ich habe über Jahre praktisch rund um die Uhr gearbeitet, weil ich ja auch noch für die Prüfungen lernen musste – ich war schon damals sehr krank, wusste es aber nicht. Schlimm war es, wenn eines der Kinder krank war – Pflegeurlaub gab es nicht, da nahm ich sie mit ins Büro. Im obersten Stockwerk wohnte ein Kollege mit seiner Familie, und die versorgte dann die Kinder, bis ich nach Hause konnte. Die Schlepperei der Einkäufe zu Fuß war auch nicht ohne. Im Beruf habe ich mich kontinuierlich weiterentwickelt, weil es mich interessierte. Die sogenannte höherwertige Verwendung – ich arbeitete mittlerweile als Vizekonsul – wurde vom Arbeitgeber nicht honoriert. Die Gewerkschaft, der ich irgendwann beigetreten war, wollte klagen, ich wollte mit meinem Arbeitgeber aber nicht prozessieren – primär, weil ich glaubte, man könnte dem Gesetz Genüge tun, ohne zu Gericht zu gehen. Diese meine Einstellung hat aber gar nichts genützt. Natürlich hatte ich auch Angst um den Job. In der Botschaft hatten wir zwar jeder ein Arbeitszimmer für sich, die Ausstattung war aber auch nach damaligen Krite­ rien miserabel. Geheizt wurde in einem Koksofen, die Kohlen wurden vom Amtsdiener gebracht, meist musste man die Öfen aber selbst versorgen. Zum Putzen gab es eine Putzfrau. Es wurde fast alles mit der Hand geschrieben – Reisepässe, Protokollbücher für Akten und alle sonstigen Unter­ lagen, Einladungen für offizielle Veranstaltungen – und es wurde diktiert. Die Diktate wurden dann getippt – auf 244

­ dler-Schreibmaschinen, die nicht nur vom Gewicht her unA glaublich schwer waren, sondern auch in der Handhabung ungeheuer viel Kraft erforderten –, danach korrigiert und schließlich reingeschrieben. Radieren war bei Reinschriften verpönt, daher de facto auch das Vertippen. Der Korrekturlack kam erst viel später. Für jedes Dokument wurden Durchschläge mit Karbonpapier gemacht (die heutige Generation weiß nicht einmal mehr, was das ist), schon deswegen waren Korrekturen kaum möglich. Also wurde jedes Schriftstück mindestens zweimal geschrieben. Auch die gesamte Buchhaltung wurde händisch gemacht. Noch Anfang der Siebzigerjahre hatte ich einen Kollegen, der meinte, es sei zu viel verlangt, eine Rechenmaschine zu bedienen, er rechnete kolonnenweise im Kopf – es stimmte aber immer. Zwei der schwierigsten Bereiche waren das Archivieren und die Recherche. Es gab im Lauf meiner Berufstätigkeit Kanzlistinnen, denen man sagte: „Es gab da einmal einen Fall mit ...“, und die zog innerhalb von Minuten den richtigen Akt aus irgendeinem Fach. Natürlich gab es auch solche, die schlicht dazu nicht in der Lage waren oder nicht wollten; da war man dann stundenlang auf der Suche. Recherchen, die heute in Sekundenschnelle im Computer oder im Internet wenigstens zum Teil weiterbringen, waren damals wirklich mühselig – man musste wissen, wo suchen und wen fragen. Da ich mir sehr oft die Akten selbst suchen musste, habe ich mit der Zeit eigentlich alle Tätigkeiten gelernt, die in einem Amt nötig waren und sind. Es gab „moderne“ Wählscheibentelefone aus schwarzem Bakelit mit einer Möglichkeit, intern zu verbinden. Innerhalb der Stadt war Telefonieren kein Problem, mit dem Rest des Landes und mit dem Ausland musste man sich durch die Telefonfräulein der Fernmeldezentrale verbinden lassen, die 245

Inlandsverbindungen wurden aber bald automatisiert. Eine Verbindung mit Wien, die wir ja öfters brauchten, dauerte aber relativ lang. (Mit dem restlichen Ausland wurde schlicht nicht telefoniert, weil diese Leistungen ja noch sehr teuer waren.) Man konnte kopieren: Wir mussten zwei Arten von Flüssigkeit ansetzen; mit einer Art Kopiergerät machten wir ein richtiges Foto, das wurde dann entwickelt, das Negativ entfernt und die Fotokopie getrocknet. Es muss Ende der Sechziger-, Anfang der Siebzigerjahre gewesen sein, als wir vertraulich einen Vertrag bekamen, der innerhalb sehr kurzer Zeit kopiert werden musste. Es waren etwa dreihundert Seiten, und wir brauchten dazu zu dritt eine ganze Nacht. Damit das Ganze auch richtig trocknen konnte, spannten wir Wäscheleinen auf. Vervielfältigen war fast weniger aufwändig. Da gab es eine rotierende Trommel, auf die das auf Spezialpapier getippte Blatt gespannt wurde, und durch das Drehen der Trommel konnten dann – ebenfalls auf Spezialpapier – bis zu 100 Exemplare gedruckt werden. Stencil* nannte man es, glaub’ ich. In den späten Sechzigerjahren meinte der Chef, es gäbe da eine ganz neue Erfindung von IBM, eine elektrische Schreibmaschine mit austauschbarem Kugelkopf. Da sie sehr teuer sei, könnten wir nur eine beantragen, und diese würde ich bekommen. Ich sträubte mich zwar, doch besagter Chef meinte, ich wäre die Einzige, die griechisch und deutsch ­schreiben müsste, dafür wäre der austauschbare Kugelkopf doch ideal, und außerdem würde ich das sicher können. Also fügte ich mich. Es war ein Segen: Wollte man auf der deutschen Schreibmaschine in einen deutschen Text ein griechisches Wort einfügen (oder umgekehrt), musste man das ganze samt Karbonkopie ausspannen, in die griechische Schreibmaschine einspannen und das Gewünschte einfügen. In den meisten Fällen ging das schief, dann fing man von vorne an … 246

Abgesehen davon, dass die elektrische Schreibmaschine wesentlich leichter zu bedienen war, weil sie kaum physische Kraft erforderte, musste man nur mehr den jeweils passenden Kugelkopf aufsetzen – ein schier unglaublicher Fortschritt! Eine weitere bahnbrechende Neuerung war das Telexgerät, ein großer Holzkasten, der bei der Nachrichtenübermittlung höllischen Lärm machte. Er musste aber im Zimmer der Kanzlei stehen – aus Sicherheitsgründen, und damit man den Ein- und Ausgang von Depeschen gleich überprüfen konnte; die Kollegin war nicht zu beneiden. Ihre Rache war, dass sie sich weigerte, das Ding zu bedienen – erraten, es war wieder ich zuständig. Im Vergleich zu dem, was wir vorher taten, war das aber dennoch toll. Denn Telegramme per Post zu schicken war mühsam und teuer – man lernte dafür kurz und präzise zu formulieren, vor allem, weil verschlüsselt werden musste und dieser händische Prozess recht aufwändig war. Das Telexgerät hat das „automatisiert“ – war auch nicht einfach. Da musste man die dafür nötigen Lochstreifen erst einmal aus dem Safe holen, es musste schnell gehen, die Schlüssel hatten nur bestimmte Personen usw. Und die Texte wurden immer länger – wir nannten sie Leintücher. Später – da war ich längst nicht mehr in Athen – kamen dann Telexgeräte aus Metall, die sahen eher aus wie Schreibmaschinen, waren aber noch immer ziemlich laut. Nach und nach erfolgten auch hier die Verbindungen mit dem Ausland automatisch. Die Möglichkeiten der staatlichen Stellen, Verbindungen im In- und Ausland zu unterbrechen, waren gegeben. Ich selbst habe das zwei Mal erlebt – in Griechenland in den ersten Tagen des Militärputsches von 1967 und im ­November 1973. Da hatten wir praktische keine Verbindung zur Außenwelt. Um solches zu verhindern, wurden wir dann in einigen Staaten mit Funk ausgestattet. Eine halbe Stunde täglich 247

musste ein Mitarbeiter dabeisitzen und senden/empfangen; abschalten konnte man den aber nicht. Ich wusste zwar, wie es geht, habe es aber selbst nie gemacht. Erst 1989 wurde ich zum ersten Mal mit einem Computer konfrontiert: ein Commodore mit DOS-Betriebssystem. In Wahrheit war das eine bessere Schreibmaschine – ich hatte mir schon zu Beginn der Achtzigerjahre privat eine elektrische IBM-Schreibmaschine gekauft, da legte man für verschiedene Schriften eine Scheibe ein, und die hatte einen Speicher von 10 Seiten – großartig. Der Commodore hatte mehr Speicherplatz und – oh Wunder, copy and paste! (Die Auswüchse sind heute in allen Bereichen des Arbeits- und Privatlebens nur zu sichtbar; keiner liest mehr irgendetwas durch, da würde man nämlich draufkommen.) Niemand erklärte uns, wie das Ding funktionierte; „learning by doing“ war zwar immer meine Präferenz, doch interessierte mich, ob man da nicht mehr rausholen könnte. Also fuhr ich sechs Samstage hintereinander in eine nur 50 Kilometer entfernte Universität und machte einen Computerkurs. Es sollte nicht der letzte sein, nur habe ich all die folgenden nicht mehr selbst zahlen müssen. Dem dortigen Professor sagte ich gleich zu Beginn, dass ich mich nicht zum Computerfachmann ausbilden lassen wollte, ich wollte nur wissen, wie man ihn bedient. Er war ein weiser junger Mann, denn er erklärte mir, dass man mit diesen Dingen nur gut umgehen könne, wenn man wenigstens rudimentär verstünde, wie sie aufgebaut sind und was sie wann können. In Österreich kommt es zu technischen oder anderen Reformen nur, wenn wir – von außen oder durch die Umstände – zu diesen gezwungen werden. So begann die Ausstattung der Behörden mit modernen Computern erst sehr spät, und eine Ausbildung für diese war quasi inexistent (ich musste innerhalb von vier Tagen die Arbeit des Administrators und Word lernen – selbstverständlich neben der normalen Arbeit). 248

Für die Auslandsbehörden vereinfachte sich aber doch vieles und wurde auch schneller. Kurze Zeit vor unserer ersten EU-Präsidentschaft wurde aber klar, dass wir wieder einmal nicht genug vorausgeplant hatten. Das Außenministerium war die erste Zentralbehörde, die den elektronischen Akt einführte. Alles, was wir bislang konnten und gelernt hatten, war damit obsolet. Ein großer Teil meiner Kollegen und Kolleginnen weigerte sich (Zitat eines hohen Beamten: „Jetzt bin i mei eigene Kanzlistin und mei eigene Sekretärin“). Schrecklich war es vor allem für jene, die so niedere Tätigkeiten wie Maschinschreiben, Aktenbearbeitung, Verwaltung usw. nie gelernt hatten. Wir bekamen Kurse, die glücklicherweise obligatorisch waren, sonst hätte sie kaum jemand gemacht, und ich benützte die Gelegenheit, um auch Excel zu lernen. Arbeitsbedingungen hängen aber auch – damals wie heute – nicht so sehr von der technischen Infrastruktur, sondern vielmehr von Menschen ab, das heißt davon, ob und wie die Leitung des Unternehmens – in der Zentrale des Außenministeriums sind das der Minister und der Generalsekretär, in den Außenstellen, den Botschaften und Konsulaten der jeweilige Dienststellenleiter – ein Team schafft, welches das „Produkt“ kennt und auch bereit ist zuzugeben, dass eine Idee nicht deshalb a priori schlecht ist, weil sie von einem „Unterläufel“* stammt. Aber auch die Leitung muss die Grundlagen des Produkts kennen – vielleicht nicht im Detail, aber doch, sonst kann sie nicht helfend eingreifen und schon gar nicht kontrollieren. Zu oft habe ich erlebt, dass Vorgesetzte keine Ahnung hatten oder sich zu gut waren – Unregelmäßigkeiten wurden dann, wenn überhaupt, nur zu spät entdeckt. Ich glaube, dass es heute diesbezüglich doch etwas besser geworden ist. Die Angehörigen des Außenministeriums im Ausland waren­sehr lange Zeit der Willkür des jeweiligen Chefs ausgesetzt – Hilfe von der Zentrale konnte man nicht erwarten. Die 249

Personalvertretung bemühte sich zwar redlich, konnte aber relativ wenig erreichen. Als einer meiner Chefs mich in einer Art und Weise mobbte (das Wort gab’s aber damals nicht), die ich nicht mehr aushielt, überlegte ich ernstlich, mir eine andere Arbeit zu suchen und fast 20 Versicherungsjahre hinzuschmeißen. Es war die Personalvertretung, die mir schließlich die „freiwillige“ Rückkehr nach Wien ermöglichte – die Kosten dafür musste ich selbst berappen. Auch im Außenministerium selbst waren die Arbeitsbedingungen, was Räume und Ausstattung betrifft, noch in den späten Siebzigerjahren eigentlich haarsträubend. Es gab irgendwann einen Raum, der Massengrab genannt wurde, er diente sechs höheren Beamten als Arbeitsplatz. In den Sekretariaten saßen drei bis fünf junge Frauen (männliche Sekretariatskräfte gab es erst sehr viel später), die zwar zum Teil schon an elektrischen, dennoch aber sehr lauten Schreibmaschinen saßen, entweder von einem Tonband übertrugen oder ein Diktat aufnahmen. Der Raum war relativ klein, hatte keinen Teppich und keine Vorhänge; man verstand sein eigenes Wort nicht. Ich konnte die Situation sehr gut nachvollziehen, weil ich ja selbst einige Jahre Sekretariatskraft war. Ich kämpfte darum, dass Teppich und Vorhänge angeschafft wurden – und eine Kaffeemaschine! Das war eine Sensation – sogar die sehr hohen Beamten hatten sich bis dahin den Kaffee in der Thermosflasche mitgebracht. Allerdings war das schon eine Zeit, als sich die Sekretariatskräfte weigerten, Kaffee zu kochen. Ich habe das dann übernommen – so was wie eine Teeküche gab es erst einige Jahre später. Es gab also zweimal täglich Kaffee in meinem Büro, mit der Auflage, das Angebot eben nur zu den festgelegten Zeiten zu nutzen, weil man ansonsten ja nicht zum Arbeiten käme. Viele fanden zwar, das wäre unter der Würde einer höheren Beamtin, das war mir aber ziemlich egal. 250

Dieser Raum, den ich mit einer Kollegin teilte, diente in der Nacht und an Wochenenden auch als Bereitschaftsraum. Die schlechte Luft, um nicht zu sagen der Mief, der in der Früh herrschte, war kaum erträglich; wir mussten das Fenster fast ununterbrochen offen lassen. Der Bereitschaftsdienst war auch so eine Sache. Machen mussten ihn Beamte ab bzw. unter einer bestimmten Dienstklasse. Die Vergütung war lächerlich. Die Dienstzeiten waren wochentags von 19 bis 8 Uhr, ganztags an Samstagen und Sonntagen. Nach dem Nachtdienst hatten wir nicht etwa frei, sondern mussten übergangslos normalen Dienst machen. Wohl lag etwa eine Stunde dazwischen, die aber viel zu kurz war, um nach Hause zu gehen, zu duschen und sich umzuziehen, geschweige denn zu frühstücken. In späteren Jahren gab es dann einen anständigen Raum mit Waschgelegenheit und einer kleinen Teeküche. 1980 ließ ich mich karenzieren und arbeitete als „Mädchen für alles“ für einen meiner früheren Chefs, der inzwischen Abgeordneter war. Wir hatten ein kleines Büro im Parlament und ein größeres im dritten Bezirk – vom Parlament und auch von meiner Wohnung nicht gerade leicht zu erreichen. Die Art meiner Bezahlung, die meinem Beamtengehalt exakt entsprach, war abenteuerlich, das bekam ich aber leider erst viel später mit. Manche Kollegen stellten sich (und mir) die Frage, wieso ich denn als inzwischen schon höhere Beamtin „so was“ machen würde; die meisten vermuteten, ich bekäme da eben viel mehr Geld. Das stimmte nicht, für mich war immer wichtig, eine Arbeit zu haben, die mich erfüllte, wo ich glaubte, etwas erreichen zu können, und die ich so weit als möglich mit meinem Gewissen vereinbaren konnte. Und selbst verkaufen konnte ich mich eigentlich nie. Nach vier Jahren wusste ich: Wollte ich ins Außenministerium zurückkehren, müsste es entweder gleich sein oder gar 251

nicht. Ich hätte den Anschluss an meinen eigenen Beruf verloren, der zwar nicht mein Traumberuf gewesen, es jedoch im Laufe der Jahre geworden war. Außerdem war ich finanziell ziemlich unter Druck, weil die Kinder inzwischen älter und auch teurer waren. Ich hatte mittlerweile umfangreiche Kenntnisse in Verwaltungs- und internationalem Privatrecht, aber auch in zahlreichen anderen Rechtsbereichen erworben, hatte meine Dolmetschprüfungen gemacht und Spanisch gelernt, und so bewarb ich mich wieder für einen Posten im Ausland. In den Jahren 1984 bis 1997 war ich an mehreren Posten in verschiedenen Funktionen in fast allen Teilen der Welt. In den letzten Jahren vor meiner Pensionierung (keine Hacklerrelung* – 43 Dienstjahre!) und noch zwei Jahre danach habe ich die Aus- und Weiterbildung meiner Kollegen in der Zentrale betreut. An fast allen Auslandsposten habe ich zum Teil katastrophale Verhältnisse vorgefunden, die von schweren dienstlichen Verfehlungen bis zu desolaten Gebäuden und Einrichtungen oder administrativen Problemen reichten. In einigen Fällen wurde ich ausgeschickt, um „aufzuräumen“. Die baulichen und administrativen Schrecknisse konnte ich oft teilweise beheben, es ist mir aber nie gelungen, Konsequenzen für jene zu erreichen, die gefehlt hatten. Meine Arbeit umfasste über die Jahre politische, wirtschaftliche, administrative und konsularische sowie Presseangelegenheiten. Es ist für mich unvorstellbar, dass ich 43 Jahre in einem Ministerium gesessen wäre, mit immer den gleichen Kollegen, Vorgesetzten, Mitarbeitern und dem gleichen Aufgabenbereich. Die heute so vehement geforderte Flexibilität ist etwas, das wir im Außenministerium immer schon haben mussten und müssen. Die Angehörigen des Außenministeriums – im Ausland unterscheidet man zwischen Entsandten und Lokalkräften 252

– müssen nicht nur flexibel sein, auch das heute in Mode gekommene „lebenslange Lernen“ hat für uns schon immer gegolten. Selbst wenn man schon über viel Erfahrung verfügt, heißt es alle drei bis vier Jahre beruflich wie privat neu anfangen, und zwar radikal. Im neuen Land ist alles anders: der staatliche Aufbau, das Rechts- und Verwaltungssystem, gegebenenfalls die Religion und das öffentliche Leben. Im privaten Bereich muss mitunter die Berufstätigkeit der Partner unterbrochen, die Kinder müssen – häufig in komplett andere Systeme – umgeschult werden. Alles anders als zu Hause: Umgebung, Sprache, Sitten, Lebensverhältnisse, Lebensqualität, Klima, Sicherheitslage, ärztliche Versorgung usw. Von gewissen Ausnahmen abgesehen muss man sich in jedem Land nach gewissen Vorgaben eine neue Wohnung suchen und den eigenen Haushalt übersiedeln – da passen einmal die Möbel nicht, dann der Strom für die Elektrogeräte nicht, dann sind die Vorhänge zu kurz, zu lang, zu breit oder zu schmal. Man weiß in den ersten drei Monaten nicht, ob und wo man Milch, Brot oder Butter bekommt, ganz abgesehen davon, dass man sich nicht verständigen kann, man muss mitunter Linksverkehr lernen – die Liste ist beliebig verlängerbar. Außenstehende wie Kollegen fragen sich immer wieder, ob es dafürsteht: Ich habe die Frage immer mit ja beantwortet, weil für mich die positiven Aspekte schwerer wiegen. Man lernt Menschen und Situationen kennen, die man in einem „normalen“ Berufsleben vielleicht aus der Zeitung (oder später dem Fernsehen) kennt. Man sieht, dass wir im Westen nicht im Besitz der allein selig machenden Wahrheit sind – ich habe von einem serbischen und einem marokkanischen Chauffeur, die vielleicht, aber auch nur vielleicht in die Volksschule gegangen waren, mehr gelernt, als von vielen meiner Kollegen. Es gibt sehr viele Wahrheiten und sehr viele Möglichkeiten. Man lernt zu schätzen, was man zu Hause hat 253

– wie gut es uns geht, wie unsere Städte und unser Gemeinwesen funktionieren. Unsere Kinder müssen nicht acht Kilometer zu Fuß Wasser holen gehen und besitzen mehr als ein löchriges T-Shirt für die Schule – wenn denn eine verfügbar ist. Und sie können richtige Schulhefte haben und nicht Papierstücke, die von ihren Müttern mühsam zusammengenäht wurden. Ich habe, wie gesagt, in sehr vielen Bereichen meines Berufs gearbeitet, zwei stechen aber für mich klar hervor: die konsularische Tätigkeit und die Aus- und Weiterbildung der Kollegen. Die Tätigkeit der österreichischen konsularischen Behörden kann man insgesamt als vorbildlich betrachten – obwohl die Entwicklung, wie wahrscheinlich überall, von einem Extrem ins andere ging. Wir betreuen grundsätzlich die in den jeweiligen Ländern lebenden Österreicher ebenso wie die österreichischen Touristen (es gibt im Ausland Vertretungsbehörden, die bis zu sieben Länder betreuen müssen). In den Sechzigerjahren meinte der Chef der Konsularabteilung in Wien zum Thema Touristen, die Geld, Papiere oder sonst was verloren hatten oder bestohlen worden waren: „Olle außihaun!“ Unter Außenminister Kirchschläger wurden wir dann aufgefordert, jedem Österreicher „freundlich, rasch und unbürokratisch zu helfen“. Dass man sich heutzutage unter dem Druck der Boulevardpresse geradezu dabei überschlägt, leichtsinnigen Österreichern durch Entsendung von Sonderbeauftragten aus der Patsche zu helfen, ist meiner Meinung nach Unsinn; Hilfe in Katastrophen und unverschuldeten Notlagen muss aber sein. Ich habe unzählige Häftlinge betreut, Mörder, Drogenhändler und Drogensüchtige, Schmuggler, Räuber, Betrüger usw. Außerhalb der Gefängnisse Kranke, Alte, Prostituierte, Schizophrene oder sonst geistig Verwirrte und Unfallopfer – mit oder ohne Todesfolge. Obwohl bei Todesfällen, wel254

cher Art immer, die Angehörigen in der Regel von einem Geistlichen oder der Polizei vor Ort verständigt werden, ist es immer wieder vorgekommen, dass ich einer Mutter sagen musste, dass ihre beiden Kinder tot sind, oder einer Frau mitteilen musste, dass ihr Mann von der Dienstreise nicht mehr zurückkommt. Das waren die allerschwierigsten Momente. Hier hat die moderne Kommunikation enorme Erleichterungen und Verbesserungen gebracht. Vor 30 bis 40 Jahren haben wir oft zwei Wochen gebraucht, um Angehörige auszuforschen bzw. zu erreichen, heute geht das am gleichen Tag. Für Touristen wie für im Land ständig wohnhafte Österreicher sind wir eine Art Mädchen für alles in jeder Notsituation: Sozialhilfe, Ehe- und Lebensberatung, Sicherheit in Krisenfällen, Geiselnahmen, Dokumente- und Geldverlust. Außerdem sind wir Wahlbehörde – auch das mussten wir irgendwann lernen; die Möglichkeit, im Ausland zu wählen, gibt es ja noch nicht lang. Die konsularische Tätigkeit war für mich deshalb wichtig, weil ich vielen Menschen helfen und den Erfolg oder Misserfolg meines Bemühens ziemlich unmittelbar erleben konnte. Die Nützlichkeit der Arbeit in anderen Bereichen lässt sich hingegen oft erst nach Monaten oder gar Jahren erkennen. Die Aus- und Weiterbildung war etwas ganz anderes: Ich habe diese Einheit selbst aufgebaut und war in der Gestaltung vollkommen frei. Die „Kurse“ waren nicht obligatorisch, es sprach sich aber herum, dass es interessant, locker und mitunter auch lustig war; sie sind nie aus Mangel an „Kundschaft“ ausgefallen. Ich musste viel nachdenken über Dinge, die von jüngeren Kollegen in Frage gestellt wurden, weil wir auch über das Wesen und die Art der Ausübung des Berufs diskutierten. Und dabei war ich oft auch die „Kummernummer“. Ich habe mich pensionieren lassen, obwohl ich noch hätte bleiben können. Es gab immer Situationen, in denen ich Haltungen oder Vorgangsweisen als Ärgernis empfand. Am Ende 255

meiner Laufbahn wurde ich ziemlich gemobbt. Es war nicht leicht, aber das Unterrichten meiner Kollegen war mir wichtig, es war notwendig und machte Sinn; das half, das Mobben auszuhalten. Dann aber gab es zwei Fälle, wo ich mich schämte, dazuzugehören; da war eine gewisse Menschenverachtung gegenüber Kollegen/Kolleginnen, mit der ich mich nicht mehr abfinden wollte und konnte. Und da ging ich eben. Ich habe noch einige Zeit auf Werkvertragsbasis die Aus- und Weiterbildung gemacht, wusste aber bald, dass das ohne laufenden Kontakt zum Betrieb nicht aufrechtzuerhalten war. Mit welchen Hoffnungen und Erwartungen ich in Pension gegangen bin? Ich glaube, ich gehöre einer Generation an, die sich wenig Hoffnungen und Erwartungen leistete – man tat, was getan werden musste, und Schluss. Der Beruf war ein wesentlicher Teil meines Lebens, aber eben nur ein Teil. Man muss wissen, wann ein Kapitel abgeschlossen ist. Ich erkannte zum ersten Mal in meinem Leben, dass ich nichts mehr muss. Ich habe mich verstärkt dem Übersetzen und Dolmetschen in Theorie und Praxis gewidmet, hier vor allem dem Straf- und Wirtschaftsrecht, und habe einen Kurs in Betriebswirtschaft absolviert. Ich habe Zeit, mein Haus, meinen Obstgarten, meine Rosen und vor allem meine Paradeiser im südlichen Burgenland zu betreuen, koche mein eigenes Obst für meine Freunde ein, habe gelernt, wie man in einer noch sehr ländlichen Gegend lebt (im Ort haben wir weder ein Postamt noch eine Bank), und fröne exzessiv einer Leidenschaft, die ich seit meiner Kindheit habe: dem Lesen. Bis vor kurzem habe ich eine weitere Leidenschaft pflegen können, Studienreisen in die Schwerpunkte meiner Interessen (Geschichte, Philosophie und Psychologie, Religionen). Aus gesundheitlichen Gründen geht das wenigstens derzeit nicht mehr – aber irgendwann vielleicht wieder. 256

„Als einzige Berufskrankheit eine Ärzteallergie …“ Elfriede Hochher wurde am 13. Oktober 1948 im niederösterreichischen Mostviertel geboren. Über ihre familiäre Herkunft und ihren beruflichen Werdegang erzählt die Autorin selbst ausführlich im nachfolgenden Beitrag. Sie absolvierte im zweiten Bildungsweg eine Pflegehelferausbildung und verbrachte ab 1968 insgesamt 36 Jahre im Spitalsdienst in einer niederösterreichischen Krankenanstalt. Nebenher pflegte Elfriede Hochher immer ihr Interesse an Kunst und Kultur. Sie war besonders auf dem Gebiet der kunstgewerblichen und bildhauerischen Keramik künstlerisch tätig. In den letzten Jahren sind in Anthologien, zum Beispiel der Edition Schreiblöwe, auch literarische Veröffentlichungen von ihr erschienen. Mit Beiträgen vor allem fotografischer Art ist sie auf der volkskundlich-dokumentarisch orientierten Internetseite www.sagen.at vertreten. Zum ersten Mal veränderte die Arbeitswelt mein Leben, als ich zwanzig Monate alt war. Mein Vater, ein gelernter Autosattler, war nach dem Krieg von Wien als Erntehelfer ins niederösterreichische Mostviertel gekommen, und nachdem er hier eine Familie gegründet hatte, musste er den dafür nötigen Unterhalt als Hilfsarbeiter verdienen – zuerst mit dem Streichen von Starkstrommasten, später in einem Steinbruch, in dem er mit 25 Jahren verunglückte. Gleich nach seinem tödlichen Unfall, der auch in mir trotz meiner nicht einmal zwei Jahre eine gravierende Erinnerung hinterließ, wurde meiner Mutter gesagt, ein dreihundert Kilo schwerer Stein hätte ihn erschlagen. Kein Arbeitskollege 257

wollte darüber reden. Beim Begräbnis bemerkte sie einen Kollegen mit dicken Verbänden an beiden Händen. Viel später wurde bekannt, wie es zu dem Unfall gekommen war. Jener Kollege stand oben an der Geländekante und hielt das Seil, an dem mein Vater hing, mit beiden Händen fest. Er hatte es um einen Baumstamm geschlungen, und auf Zuruf konnte er es bei Bedarf nachlassen und damit verlängern. Durch das Bohren der Sprenglöcher, mit dem mein Vater beschäftigt war, oder einfach so löste sich ober ihm dieser Stein und schlug auf das gespannte Seil. Der Kollege hatte keine Chance, es festzuhalten. Beim Durchrutschen verbrannte es ihm beide Handflächen. Mein Vater stürzte die Felswand hinunter und kam unter dem Stein zu liegen. Nicht nur diese Arbeitsmethoden, auch die Tatsache, dass die Kollegen weiterarbeiten mussten, während die Leiche meines Vaters mit Sackleinen zugedeckt auf den Abtransport wartete, löste bei Bekanntwerden große Empörung aus. Das war 1950. Wir wohnten in einer Einzimmerwohnung, und nicht einmal dafür war jetzt die Miete gesichert. Der Gemeindearzt war Obmann des Fußballvereins, bei dem mein Vater gespielt hatte. Er zahlte aus eigener Tasche für ein Jahr im Voraus die Miete, das war eine unglaubliche Hilfe. Die Zieheltern meiner Mutter hatten ein kleines Häuschen mit Garten, eine Ziege, zwei Schweine und ein paar Hühner, so war für das Nötigste gesorgt. Drei Jahre später zog mein späterer Stiefvater zu uns. Er war der Sohn eines Bauern, der diese Verbindung verhindern wollte, indem er ihm mit dem Hinauswurf drohte. Darauf ging er sofort und arbeitete nun bei anderen Bauern als Knecht, später in einem Ziegelofen und schließlich auch im Steinbruch. Meine Mutter trug mit saisonbedingter Arbeit bei Bauern zum Haushaltsbudget bei. Anderes ließ ihr Mann nicht zu, vermutlich wollte er seinem Vater beweisen, dass er seine Familie ernähren konnte. Ende der Fünfzigerjahre be258

kam er eine besser bezahlte und vor allem ungefährlichere Arbeit bei einer Straßenbaufirma. Zum ersten Mal entspannte sich auch die finanzielle Situation. Vermutlich waren es diese ständig wechselnden und selten positiven Situationen, die ein richtiges Berufsbild in mir verhindert haben. Ohne Arbeit kein Geld, deshalb war sie wichtig. Irgendwie fand ich aber wenig Zusammenhang zwischen Geldverdienen und Berufswunsch. Werden will man doch etwas, das man gern macht, wobei man Freude hat. Arbeiten und Geldverdienen waren anscheinend leidige Angelegenheiten mit wenig Spaß und häufigem Kummer. Vermutlich wurde auf diese Weise der Grundstein für zweierlei gelegt: Nie konnte mich Geld dazu bewegen, etwas meiner Überzeugung Zuwiderlaufendes zu tun. Wenn ich aber etwas machen wollte, spielten Fragen wie „Was bringt es?“ und „Was kostet es?“ eine sehr untergeordnete Rolle. Die Frage „Was willst denn einmal werden?“ allerdings regte meine Phantasie genauso an wie die der meisten Kinder meines Alters. Krankenschwestern haben mir immer gefallen. Vielleicht war das hauptsächlich ihrer imposanten Verkleidung zuzuschreiben. Besonderes Kennzeichen jedenfalls war für mich die weiße Stirnbinde; dass dies mit ihrem Orden und nicht mit dem Beruf zu tun hatte, wusste ich nicht. Ja, und Kunst war schon ein Thema, als mir der Begriff noch unbekannt war. Bei den Großeltern gab es Märchenbücher mit wunderschönen Zeichnungen von Ludwig Richter, Michl-* und Mandlkalender*, Hefte mit Fotos von antiken Figurengruppen, Denkmälern und Ölbildern und nicht zuletzt Mutters „Funk und Film“. Dort gab es schöne Frauen mit herrlichen Kostümen, Spitzentänzerinnen und die berühmten Stars der damaligen Zeit, die Mutter alle mit Namen kannte. Darin vergrub ich mich, wenn die Erwachsenen Karten spielten und keiner bereit war, mir vorzulesen. Mit Anschauen allein war ich aber nicht zufrieden. Ich wollte selber 259

etwas machen und vergatschte Wasser mit Erde, um daraus Schwalben herzustellen. Dabei war das Wichtigste der Gabelschwanz, welcher beim Trocknen regelmäßig mitsamt den Flügeln abfiel. Später verwendete ich mein Taschengeld zum Kauf von Fensterkitt; auch daraus formte ich Figuren, die die Puppenmöbel besetzten und belagerten. Der Geruch des Leinöls war nicht wegzukriegen, und Mutter störte das mehr als mich. Auch eine dralle Schneefrau stand eines Tages in Omas Garten, sodass Oma schreiend aus dem Haus lief, ihr die Brüste abmontierte, mit dem Schnee stattdessen die schlanke Taille zerstörte und so endlich den üblichen Schneesack und damit die Ordnung wiederhergestellt hatte. „Was sollen denn die Nachbarn denken“, war ihr Argument. Warum Opa übers ganze Gesicht grinste, hab ich damals nicht verstanden. Den Künstlern redet keiner drein, warum also nicht Künstler werden? Der Garten der Großeltern war der Luxus meiner an der Armutsgrenze dahindümpelnden Kindheit – und er war ein toller Lehrmeister. Sehr bildend waren auch häufige Kinobesuche an Sonntagnachmittagen, die ich vermutlich der elterlichen Einzimmerwohnung verdankte. Wo hätte denn ein junges Paar ein aufgewecktes Kind, das alles sah und hörte, besser für zwei Stunden loswerden können? Meine Phantasie fand jedenfalls ständige Anregung. Zudem gab es im Ort einen durch den Krieg hierher verschlagenen Holzbildhauer, einen Franzosen, der mit seinen Kniebundhosen, seiner Baskenmütze über den langen, grauen Haaren und dem Akzent für die Gegend untypisch anmutete und von den „Eingeborenen“ verächtlich behandelt wurde, wie alles, was sie nicht verstanden. Schon deshalb war ich von ihm fasziniert. Mein Schönheitssinn ließ sich noch etwas einfallen: Visagistin. Ja, ich wollte Maskenbildnerin werden, wie beim Film. 260

Aber im Ort gab es nur einen Friseur, und der sah mir nicht so aus, als würde er davon etwas verstehen. Das nächste Hindernis war mein Geburtstag. Unter 14 konnte man nicht als Lehrling angemeldet werden, und bis Oktober wollte keiner auf einen warten. Das war mein Glück, denn Schneiderin oder Verkäuferin wollte ich nicht werden, die Schwesternschule ging frühestens mit 17 los, die Kunst war längst in Utopia gelandet. Als Überbrückung bot sich die Caritas-Schule* an. Schwestern, das war gut – aber nicht lange. Der Internatsbetrieb war anfangs interessant. Ich war ja Einzelkind, nicht verwöhnt – wir hatten Plumpsklo und Wasser vom Brunnen –, aber ich konnte meine Individualität entfalten. Zwar hatte ich gelernt, dass Erwachsene nichts verstehen und alles verbieten, aber ich fand die Lücken im System. Hier wurde man weder verstanden, noch gab es Freiraum. Die Post war geöffnet, die Kleidervorschriften pervers. Zu sechst im Schlafraum, der zwischen zwei anderen lag, und am Morgen musste man sich um einen Wasserhahn – mit Kaltwasser natürlich – raufen; eine Viertelstunde später war Frühstück. In Zweiwochenabständen die Eltern sehen, und Haushalt war auch nicht Meines, obwohl ich bei einer sehr netten Familie mit zwei Kindern war; ich durfte dort sogar baden. Wenn man Schule oder Lehrplatz wechselte, war man faul und untauglich, also schwieg ich. Aber bei den regelmäßig vorgeschriebenen Gebeten in der Hauskapelle flehte ich inbrünstig um ein Einsehen. Und Gott hatte eines. Er schickte einen Jahrhundertwinter, den Vater in die Arbeitslose und damit die Finanzen in den Keller. Als ich dann noch das schockierte Gesicht meiner Mutter sah, als sie dem Weihnachtsgrußschreiben der Heimleitung eine Schulgelderhöhung ab dem nächsten Jahr entnahm, war mein Moment gekommen. Die Lösung: abrüsten. 261

Lehrstellen waren immer schwer zu bekommen, im Winter gar nicht. Im März erfuhr meine Mutter, dass Minna, ein Mädchen im Ort, ihre Lehre abgebrochen hatte. Deren Mutter sprach nicht darüber, aber sie gab der meinen die Adresse des Geschäftes in der Bezirkshauptstadt. Also doch Verkäuferin. Es war ein Gemischtwarengeschäft – von Lebensmitteln bis zu Kleidern und Stoffen. Außerdem war es ein Tabakhauptlager, von wo alle Trafikanten des Bezirks ihren Bedarf abholten. Die „Frau Chef“ war der „Big Boss“. Mit durchdringendem Organ verteilte sie ihre Befehle, die den „Herrn Chef“ genau so trafen wie die Gesellin und das andere Lehrmädchen. Ich hatte noch keine Ahnung von Intrigen, den Schultratschereien glaubte ich in der Welt der Erwachsenen entkommen zu sein. Also nahm ich für bare Münze, was ich hörte, und sagte meine Meinung. Das war verkehrt, denn Gusti, die Gesellin, lebte sehr angenehm an der Seite der Frau Chef durch Zutragen entsprechend aufbereiteter Gerüchte und außerdem von der Hoffnung auf deren Nachfolge. Das Chefpaar war kinderlos. Den Letzten beißen die Hunde – jeder Fehler war automatisch meiner. Einige machte ich aus Unkenntnis der Gepflogenheiten, und ich täuschte mich nicht, wenn ich beim Geplärr der Frau Chef Gustis Häme zu spüren glaubte. Aber auch der Herr Chef bekam sein Fett ab, wenn er am Mittwoch zu Gunsten seines Schachabends das Geschäft eine halbe Stunde früher verlassen wollte. Je mehr Kunden im Geschäft waren, desto lauter war das Gejammer der Alleingelassenen, die doch einst so viel Geld von ihren reichen Kaufmanns­ eltern aus Oberösterreich mitgebracht hatte. Ich war gerne in den stillen Lagerräumen mit den großen Schachteln voller Zigarettenstangen. Zweimal die Woche war Ausgabe, dann verschwand ich mit den Anforderungslisten und füllte kleine und große Holztragerln* mit den gewünschten Sorten. 262

Gerne war ich auch in dem kleinen, alten Haus, welches durch den Hinterausgang des Geschäftes erreichbar war. Dort lebte eine liebe alte Dame um die neunzig, die Mutter des Chefs. Sie hatte ihr eigenes Mädchen, aber wenn dieses frei hatte, wurde eine von uns abgezogen, um sie zu betreuen. Nachdem ich nie gut machte, was mich nicht freute, war ich immer öfter bei der „Frau Mutter“. Doch die bevorstehende Berufsschule lag mir im Magen; ich kam kaum noch zu praktischer Erfahrung. Zudem wurde mir die Frau Chef immer unerträglicher. Nicht nur, weil ich ihre Beschimpfungen satthatte, sondern auch, weil sie die alte Frau als reinen Kostenfaktor verachtete. Für mich war die Frau Mutter der einzige Mensch hier – abgesehen vom Herrn Chef, dem armen ­Narren. Eines Tages fragte meine Mutter ziemlich verunsichert nach meinem Befinden. Ich hatte nie etwas verlauten lassen, aber sie war von Minnas Mutter danach gefragt worden, und diese machte die Bemerkung, ihre Tochter hätte es dort nicht mehr ausgehalten, nachdem ihr die Chefin das Telefonbuch auf den Kopf gehaut hatte, so dass sie den ganzen Tag mit Kopfweh im Bett lag. Zähneknirschend erzählte ich zum ersten Mal von der Frau Chef. Meine Mutter war entsetzt: „Na, wenn du willst …“ Und ob ich wollte. In der zweiten Maiwoche fuhr Frau Chef zu ihren Wurzeln nach Oberösterreich. Samstagmittag war ich noch besonders emsig, als die beiden anderen schon fertig waren. Ich wollte mich auch von ihnen nicht verabschieden. Dann ging ich ins Büro: „Herr Chef …“ – „Gell, du kommst Montag nicht mehr?“, meinte er nur lächelnd, gab mir die Lehrlingsentschädigung für den ganzen Monat und entließ mich mit guten Wünschen. Damit war ich zwar einer sehr unangenehmen Situation entkommen, aber in die nächste geraten: Es galt wieder, um Taschengeld zu betteln. Das nervte. Um weiter bei den Aus263

wärtsspielen unserer Fußballmannschaft dabei sein zu können, machte ich Kassa bei den Heimspielen. Dafür gab es Gratisfahrt. Gratiskino aber gab es nicht, und manchmal gefiel mir auch ein Paar Schuhe, obwohl ich welche hatte. Eines Tages traf ich Hermi, eine ehemalige Kollegin aus der Caritas-Schule. Auf meine Frage erzählte sie von ihrer Arbeit in der Fabrik. Dort gäbe es guten Lohn, man würde behandelt wie jeder andere Erwachsene und hätte nebenher noch eine Menge Spaß. Das hörte sich gut an. Endlich eigenes Geld, und daneben könnte ich mich in Ruhe um einen geeigneten Lehrplatz umschauen. Zwei Tage später fuhr ich mit ihr, und ich wurde sofort aufgenommen. Zum ersten Mal fühlte ich mich als selbständiger, freier Mensch. Das frühe Aufstehen störte mich nicht, ich war auch sonst nicht verwöhnt. Ich wurde der Bohrabteilung zugewiesen. In dieser Abteilung arbeiteten hauptsächlich Frauen. Nur zwei ältere Männer waren da und der Abteilungsleiter, Meister genannt, mit seinem Vorarbeiter. In einer Ecke stand ein großer Tisch, darauf sechs kleine Bohrmaschinen. Hier wurden Kleinteile gefertigt, und die Frauen mittleren Alters lachten den ganzen Tag. Vor allem Frau Kurzmann unterhielt den ganzen Tisch, gegen ihr Lachen hatte der Maschinenlärm keine Chance. Hermi hatte nicht zu viel versprochen. Wenn man sich an ein paar Regeln hielt, bekam man sein Geld und war ein freier Mensch. Und Spaß gab es immer. Kurz nach halb sechs ging der Zug. Gearbeitet wurde von halb sieben bis halb fünf. Um neun gab’s eine Viertelstunde Pause, um zwölf 45 Minuten. Das ergab neun Stunden, fünfmal die Woche; als Jugendliche musste ich nur 44 Wochenstunden machen. Wir hatten die Möglichkeit, mitgebrachtes Essen in einem Heißluftofen zu wärmen oder in der Betriebskantine zu essen. 264

Am Morgen mussten wir am Portier vorbei zur Stempeluhr, die Karten wurden einem Register an der Wand entnommen. Danach ging es in den für die jeweilige Abteilung zuständigen Umkleideraum. In meinem Fall bestand der aus einem großen Raum, durch den man wieder in andere Räume und in den ersten Stock gelangte. Die linke Wand war mit Holzzwischenwänden und Türen zu fünf Klos verbaut, die oben und unten offen waren und mich an die Schule erinnerten. An der Wand gegenüber der Eingangstür befanden sich eine Reihe von Kleiderspinden, mit Vorhängeschloss versehen, und rechts der Ausgang. Er führte in ein kleines Stiegenhaus, durch das man nach oben in den ersten Stock und nach unten in einen Waschraum gelangte. Der war ein Kellerraum mit durchgehender Blechwanne und Wasserhähnen in Meterabständen. Hier gab es Warmwasser und Seife, in den Abteilungen nur Kaltwasser und Waschsand, der besser mit den öligen Substanzen fertig wurde. Man kleidete sich also um, während hinten die anderen in ihre Abteilungen durchliefen und daneben die Spülung rauschte. Ja, und natürlich waren Männer und Frauen nicht getrennt. Meist wechselte man ohnehin nur die Oberbekleidung gegen den Arbeitskittel, und wer es gründlicher haben wollte, benutzte ein Klo als Kabine. Gestört hat das niemanden. Wer sollte einem schon was wegschauen? Wir waren ohnehin mit Gekicher und wichtigen Plänen beschäftigt, und wenn sich doch einer zum Gaffen verleiten ließ, hörte er ein lautes „Verschau di net!“, dann blickten ihn alle an, und er verschwand mit rotem Kopf. Hier erfuhr man auch Neuigkeiten aus anderen Abteilungen. „Habts scho g’hört?“ war die morgendliche Einleitung in den Arbeitstag. Der markanteste Morgen war jener des 22. November 1963, als ein Kollege, den ich heute noch in diesem Moment vor mir sehe, sagte: „Habts scho g’hört? 265

Den Kennedy hams erschoss’n.“ Obwohl Politik kein großes Thema war, hielt der Alltag einen Moment lang den Atem an. Wir hatten eine bestimmte Stückzahl pro Stunde vorgeschrieben. Ich landete von Beginn an bei einer Gewindeschneidemaschine und blieb dort. Der Meister, Herr Salzer, war ein kleiner, stämmiger, leicht brummiger Mann, der sich schnell als väterlicher Typ mit weichem Kern herausstellte. Die Arbeit war etwas heikler als das Bohren, weil das Gewinde gerade und ganz durchgeschnitten sein musste, sonst war das Stück unbrauchbar. Die Maschine war auf einen Anschlag eingestellt, man musste nur das Pedal durchtreten und draufbleiben. Dabei lief der Bohrer ganz schön tief durch und wieder hoch. Aber das kostete Zeit. Selber die Einstellung zu verringern war schnell gelernt, aber nicht erlaubt. Dann gab es noch die Möglichkeit, vom Pedal zu gehen, wenn der Bohrer tief genug war. Aber das erforderte Zehenspitzengefühl. Die Werkstücke waren auf einer sogenannten Lehre, einer präzisen Form, festgespannt oder wurden auch nur per Hand gehalten, was schneller ging. Die Lehre wurde von seitlichen Schienen geleitet, die sehr eng eingestellt waren, um keine Abweichung zu ermöglichen; allerdings musste der Zwischenraum immer sauber sein, sonst klemmte das Gefährt. Die beim Schneiden reichlich anfallenden Späne wegzuputzen, kostete ebenfalls Zeit. Mit der linken Hand hielt man also die Lehre fest, in der rechten hatte man ein Pinselchen, das verschiedene Funktionen erfüllte. Es wurde in die Bohrmilch, bei besonderen Stücken in teures Schneideöl getaucht, und man bestrich damit den Bohrer zur Schmierung und Kühlung; ohne Öl wurde damit auch der Tisch geputzt und außerdem die heißen Späne von der Hand gewischt – dies wieder mit Milch, zum Kühlen. An den Schmerz der mitunter entstehenden Brandbläschen gewöhnte man sich. Es gab eine Menge verschiedener Werkstücke, und es kamen laufend welche dazu. Bei solchen musste erst die Stück266

zahl eruiert werden. Dafür kamen ein Mann vom Büro und der Betriebsrat in die Abteilung, und gemeinsam mit dem Meister wurde eine Arbeiterin gestoppt, um zu sehen, was in einer Stunde zu schaffen sei. Nie wurde so genau gebohrt, geputzt und gemessen wie in diesen fünf Minuten, die dann hochgerechnet wurden. Große Stücke wurden gezählt, kleine gewogen. Schnell kam die Routine und damit die Fadesse. Also verwendete man brach liegende Intelligenz zum Ersinnen von Beschleunigungsmethoden, damit nicht nur die Stückzahl leichter erreicht werden konnte, sondern auch noch Zeit für innerbetriebliche Exkursionen blieb. Außer der schon beschriebenen Mani-, besser „Pedipulation“ an der Maschine war noch vieles möglich. Man konnte die Führungsplatten weiter stellen, dann galt es, die Lehre fester zu halten. Auch weglassen konnte man sie, dann ging es am schnellsten. Kein Pinselchen für das Schienenputzen – ein Wisch mit dem Ärmel, und der Tisch war sauber. Bei zunehmenden Einfällen gab es verschiedene Varianten von Eile mit Weile. Abgebrochene Bohrer – was ging, wurde wieder geschliffen, das kostete Zeit. Weggeflogene Lehren – danach brauchte man einen neuen Bohrer; und im Bohrer verfangene und von der Lehre abgehobene Werkstücke – da diese oft sehr dünn und scharfkantig waren, hielt das kein Finger aus. Es gab schnelle Pflaster in der Abteilung und auch Notverbände. Für schöne Verbände war der Portier zuständig, der hatte einen Erste-Hilfe-Kurs. Die wegfliegenden Blechteile zischten also über die Fingerspitzen, und weil meist die ganze Hand schwarz war – man hatte ja mit Öl und Maschinen zu tun –, war es ein spannender Moment, ob sich da was röten würde. War dies der Fall, ging einer offiziellen Bepflasterung eine schmerzhafte Waschung voraus; Herr Salzer wusste, was sich gehörte. Die Alternative war das Isolierband. Keines aus 267

Plastik, sondern ein Leinenband mit hervorragender Klebeeigenschaft, selbst Öl störte nicht. Tetanus? Ist das was zum Essen? Einen solchen Fall gab es: Ein Elektriker hatte sich mit einem Draht gestochen und nicht mal geblutet. Er hat überlebt. Jahre später lernte ich, dass diese Erreger unter Luftabschluss gedeihen. Deshalb bin ich wohl davongekommen und alle anderen Blutenden auch. Nie hatte ich auch nur eine einzige entzündete Wunde; dass dies die Ausnahme war, erfuhr ich auch im nächsten Beruf. Vermutlich verdankte ich das meiner rustikalen Kindheit. Wie sagte einst Hackethal*? Die Kinder weniger impfen und mehr mit Dreck spielen lassen! Instinktive Prophylaxe – die kennt die Medizin noch nicht. Einen Herbst später, sechzehn geworden, beschloss ich fürs nächste Frühjahr den Kauf eines Mopeds. Als Partner der KTM-Werke gab es für Firmenangehörige gute Prozente. „A Moped wüst?“, brummte Herr Salzer, „kauf da a Nah­ maschin!“ Es wurde doch ein Moped. Manchmal dachte ich an die Zukunft und einen richtigen Beruf. Und an die Kunst. Eines Tages saß auf der Heimfahrt jener Bildhauer im Abteil, der mich seit der Kindheit anzog. Er bat mich auf den Platz ihm gegenüber und wollte mich mit meinem Einverständnis zeichnen. Er hätte einen Auftrag für eine Madonna, meinte er erklärend. Zwar fehlte mir jegliche Madonnenhaftigkeit – ich hörte meine Freundin kichern –, aber ich folgte doch der Einladung in sein Haus, und es war der Beginn einer langjährigen Freundschaft. Mit siebzehn bezog ich in dieser alten Villa ein Zimmer, arbeitete bis zu seinem Tod und darüber hinaus in seiner Werkstatt, und meine Mutter unterstützte seine gehbehinderte Frau mit Gartenund sonstigen Arbeiten. Das eigene Zimmer brachte nicht nur Vorteile. Die Villa lag zwei Kilometer außerhalb des Ortes. Jetzt fuhr ich zwar mit dem Moped in die Arbeit; das war im Winter aber nicht 268

möglich, denn das Haus lag auf einem Hang, und das Gefährt war da nicht hinaufzukriegen. Der Umstieg aufs Fahrrad glückte nur bedingt, weil Dynamo und Schnee nicht zusammenpassen, und ohne Licht war die einzige Spur vom Auto des Nachbarn, der noch früher als ich rausmusste, nicht zu halten. Winter im Mostviertel waren schneereich. Meist ging ich eben zu Fuß um 4.30 Uhr, und der Frühling wurde sehnlichst erwartet. Im fünften Frühling beschloss ich einen Wechsel, schweren Herzens. Ich hatte in der Fabrik nicht nur gute Freunde gefunden, sondern auch einen bedeutenden Lebensabschnitt verbracht, wie eben der zwischen 15 und 20 Jahren einer ist. Mit der Lebenserfahrung verschiedener Generationen, Skandälchen und Tragödien, rauen Tönen und rustikalen Komplimenten, vor allem aber in völliger Selbständigkeit und finanzieller Unabhängigkeit. Doch ich fühlte mich unterfordert und wollte was lernen – im nächstgelegenen Krankenhaus. In der Freizeit klopfte ich weiter in der Werkstatt des inzwischen verstorbenen Jan auf Holz. Ich hatte in Erfahrung gebracht, dass man in diesem Spital als Stationshilfe angelernt werden und die Ausbildung neben der Arbeit machen konnte. Das kam mir entgegen, ich hatte ja mit Fahrzeug und Zimmer laufende Ausgaben und war an ­einen bescheidenen Standard gewöhnt. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwarten würde, weder was die Arbeit noch was die Menschen anging. Die fünf Jahre waren wie im Flug vergangen, ich war ein anderer Mensch geworden. Als ich hinkam, war ich unaufgeklärt und unwissend, also naiv und dumm. Doch das war nie ein Problem, es wurde weder ausgenutzt noch verspottet. Die Frauen übernahmen irgendwie die moralische Aufsicht über die Jugend. Es gab deftige Gespräche, derbe Witze und von vielem wusste ich nicht einmal, was gemeint war. Doch man stand nie außerhalb, wurde respektiert, wie man war, in Güte 269

eingebremst, wenn der jugendliche Übermut überzukochen drohte, und verständnisvoll getröstet, wenn der erste Liebeskummer vom Zaun brach. Man wurde schlau im Sich-schlauMachen; wenn jemand grinsend fallen ließ: „Verderbt mir die Jugend nicht!“, hieß es die Ohren spitzen. Vieles, mit dem ich später Bekanntschaft machen sollte, gab es nicht. Weder Sexismus noch sexuelle Belästigung. Auf das ganz normale Balzverhalten reagierte man. Wer abblitzte, zog sich schnell zurück – es musste ja nicht jeder wissen. Und wenn bei besonders Hartnäckigen Worte nicht reichten, wusste man sich auch zu helfen. Ging einer zu weit, war er kein Held. Im Vergleich mit den späteren Erfahrungen bin ich zur Überzeugung gekommen, dass sexuelle Belästigungen immer Machtausübung sind. Hier in der Fabrik war nichts auszuüben, es stand keinem eine solche zu. Alle begegneten sich auf Augenhöhe und hatten Respekt. Auch vor Jugend, Alter, Anderssein. Da waren die Arbeiter, dort die vom Büro, wie die Angestellten genannt wurden. Jeden Freitag kam eine Frau freundlich grüßend in die Abteilung, sofort wurde der Platz für die Karteibox unter ihrem Arm frei gemacht und geputzt, und wir stellten uns grinsend an. Dreimal gab es Vorschuss, am Monatsende Abrechnung. Bar auf die Hand in einem Sackerl, dabei ein schmaler Abrissstreifen voll mit Buchstabenkombinationen und darunter ein Betrag. Nur Langgediente konnten diese Geheimzeichen entschlüsseln. Und noch ein wichtiges Ereignis fiel in diese Zeit: die ersten Gastarbeiter. „Die Türken kommen“, hieß es scherzhaft, aber meist waren es Männer aus Jugoslawien, damals noch ohne „Ex-“. Eine vielbestaunte Baustelle war das türkische Klo, wie es genannt wurde. Es wurde in der freien Ecke unserer Umkleide-Klo-Durchgeh-Kabine installiert, und wir wunderten uns sehr über die eigenartige Tasse im Boden und den Wasserschlauch, den man daneben hinlegte. Zu dritt standen 270

wir da, und der Installateur meinte erklärend: „Die waschen sich immer nachher.“ – „Kalt?“, entfuhr es uns wie aus einem Mund, und wir waren heilfroh, Österreicher zu sein. Diese Männer waren anfangs sehr verunsichert, meist hinter ihren Maschinen verkrochen, ohne uns eine Blickes zu würdigen. Man sagte, dass es für sie undenkbar wäre, ihre Frauen in eine Fabrik mit anderen Männern zu schicken. Aber bald fühlten sie sich wohl, und die Verständigungsschwierigkeiten brachten viel Gelächter auf beiden Seiten. Und nun war diese Ära abgeschlossen. Am 1. April 1968 war es so weit. Der erste Tag am neuen Arbeitsplatz – eine Geschichte für sich. Ich landete in der chirurgischen Ambulanz – und in einer anderen Welt. Ich war die Hierarchie nicht gewohnt und den Umstand, dass innerhalb dieser alle aufs Engste zusammenarbeiten. Aus heutiger Sicht und mit dem Abstand von 40 Jahren kann man sagen: Es gab einige kabarettreife Umstände. Damals war das dramatisch ernst. Der Primar war das Höchste, und alle machten ihren Buckel. Das war nicht der normale Respekt vor einem Menschen, auch nicht die absolut notwendige Anerkennung einer Position, die doch die größte Verantwortung bedeutete und deren Inhaber daher die Entscheidungsgewalt haben musste. Nein, das war Demut und Ergebenheit. Ältere Kolleginnen sagten es nur im Flüsterton: „Der Chef kommt.“ Allerdings waren die den Vorgänger gewohnt, der auch bei allen Leuten, die ihn je als Patienten kennengelernt hatten, eine Legende war. Wollte man ihn brüllen hören, musste man nur den eigenen Gesundheitszustand erfragen wollen oder gar das Ende des Spitalsaufenthaltes. So ging die Sage. Dass er im Herzen „seiner“ Schwestern weiter seinen Platz hatte, erklärte sich vielleicht aus der kleinen, fast familiären Struktur des Hauses. Jeder kannte jeden, gut erzogen war 271

man auch – so ein Übervater wurde anerkannt. Und wenn es drauf ankam, hielt er die Hand schützend über die Köpfe der Seinen. Auch dafür gab es viele beweisführende Erzählungen. Der Neue war leise, Unmutsäußerungen liefen über die Körpersprache, und er ließ ebenfalls keinen Zweifel daran, was „Prim.“ bedeutete. Intern machte jedenfalls der Spruch die Runde: „Paragraph 1: Der Chef hat immer Recht. Paragraph 2: Wenn er einmal nicht Recht hat, tritt Paragraph 1 in Kraft.“ Die Ambulanz war die Drehscheibe der Chirurgie. Ein halbes Jahr zuvor war besagter alter Chef in Pension gegangen, und diese Gelegenheit wurde genutzt, um die interne Abteilung mit eigenem Primariat zu versehen. In anderen Häusern schon durchaus üblich, aber hier hatte es keine Bereitschaft gegeben, die Macht zu teilen. Wohlweislich machte ein Arzt inzwischen die Fachausbildung. Man muss ja nur Geduld ­haben. Bingo, die neue Stelle ist da! Aber allgemeiner Kranken­ hausdirektor wird später, als auch diese Stelle hier das Licht der Welt erblickt, der dienstjüngere chirurgische Chef. Der größeren Abteilung wegen. Fortan sollte der Hader über die persönliche Wichtigkeit anhalten, und die Gemeinde zahlte – für größere Büros, neuere Einrichtungen und sonstige dringende Bedürfnisse des einen wie des anderen – den Prestigekampf der nächsten Jahrzehnte. Der Neue war ausgebildeter Unfall- und Bauchchirurg, für damalige Verhältnisse ein großer Schritt. Dass man für beinahe jedes Organ einen eigenen Operateur braucht, war noch nicht üblich. Es war ja auch sehr vieles noch nicht möglich. Ich stand da, drei Tage nach Verlassen meiner Bohrmaschine, und wusste nicht, wo zuerst hinschauen. Die gesamte Ambulanz bestand aus zwei Räumen, wobei das Gipszimmer der größere war. Hier stand auch das mobile Röntgengerät, mit dem die Extremitäten-Röntgenuntersuchungen gemacht 272

wurden: von der Schulter bis zu den Fingern, von der Hüfte bis zum Zeh – und das auf Gipstisch, Schreibtisch, Fußschemel oder Patientenliege. Im Grunde lebten wir vom Improvisieren. Erfindungsgeist und Ideen waren gefragt. Praktischer Hausverstand, das war das Spannendste. Zu dieser Zeit gab es auch noch eine Werkstatt mit einem Tischler und einem Installateur. Letzterer war auch fürs Gipszimmer zuständig und für den Patiententransport. Das war für ihn sehr praktisch, denn je nachdem zog er den jeweils anderen Mantel – weiß oder grau – an und war leider unabkömmlich. Ein einzigartiges Kuriosum war die Verständigung des guten Mannes: Jede von uns war mit ­einer Trillerpfeife ausgestattet, und diejenige, die seiner bedurft hätte, stellte sich ins Stiegenhaus und pfiff kraftvoll in das Schiedsrichtergerät. Auch in den Hof hinaus, das erhöhte die Chancen. Oft liefen alle möglichen Menschen schon entnervt aus den Büros, Installateur Wolfi hatte meist die besseren Nerven. Später wurde aus der Werkstatt die Haustechnik, das Personal wurde verdreifacht, dem Ganzen stand ein Ingenieur vor, und die Anforderungen waren den Papierkram nicht wert. Wo man sich früher einen Schraubenzieher borgte, rang man jetzt mit Formulierungen. Aber noch war es zum Glück nicht so weit. Im Gipszimmer fand sich außerdem ein sogenannter Bildwandler, das war ein Röntgengerät für Durchleuchtungen beim Einrichten komplizierter Brüche oder bei der Fremdkörpersuche. Auf besagtem Allzweckschreibtisch wurden alle Protokolle, Arztbriefe, Eintragungen in diverse Archivbücher, Röntgenbeschriftungen mit zugehörigen Säcken und fortlaufenden Nummerierungen, kurz alle Schreibarbeiten, erledigt – von der Schwester. Man sollte es auch später noch lesen können, so begründete der Chef diese Anordnung. 273

Gleich daneben die Regale für die Röntgensäcke*, die Kontrollen passierten ebenfalls im Gipszimmer. Aber nicht nur diese. War im zweiten Raum der Ambulanz gerade eine Untersuchung, Aufnahme oder Wundversorgung im Gang, wurden auch Wundkontrollen ins Gipszimmer verlegt. Dafür gab es ein kleines Reserve-Verbandstischchen, und die Nahtentfernung fand auch mal an der Schreibtischkante statt. So waren die Wartezeiten der Patienten verkürzt, was diese natürlich freute, und wir arbeiteten ohnehin auf allen Seiten, zu zweit. Der zweite, kurz Ambulanz genannte Versorgungsraum war ein richtiger Allzweckplatz. Hier landete grundsätzlich jeder, der nicht auf die interne Abteilung gehörte. Und wenn sich Rettungsleute – so wurden die Rotkreuzmitarbeiter genannt –, die einen Patienten ohne Einweisung hatten, verschätzten, auch solche. Denn Notarzt gab es noch jahrzehntelang keinen. Mit einem Leidenden, der sichtlich nicht blutete und auch nicht verunfallt war, sich aber laut jammernd mit der Hand vom Hals bis zur Hüfte und retour fuhr, begab man sich schnurstracks in die Ambulanz, das war der schnellste Weg. Hier auf dem Tisch, der auch zu einem gynäkologischen umgebaut werden konnte, landeten also neben vielen anderen alle Blutenden, vom Schnitt im Haushalt bis zu den schwersten Verkehrsunfällen, die keine Seltenheit waren. Schließlich führte doch die Autobahn vorbei, und ohne Gurt und Sicherheitsglas in der Frontscheibe waren auch die Landstraßen gefährlich genug. Daher waren wir auch für jede Art der Versorgung gerüstet; ausgenommen waren offene Knochenbrüche, Bauch- und Brusthöhlen- oder schwere Gefäßverletzungen, die wurden im Operationssaal – kurz OP genannt – versorgt. Und dann war noch die Reihung nach Dringlichkeit. Das Problem war ja, dass in einem Auto fünf Platz hatten und 274

zum Crash noch oftmals ein zweites gehörte. Und dass ohnehin meist schon ein paar Wartende vor der Tür saßen. Es gab weder Handys noch Funkgeräte, nur das gute alte Telefon an der Wand. Das Rotkreuzhaus grenzte ans Spitalsgelände, eine dringende Ausfahrt war also nicht zu überhören. Ein Anruf bei der Dienststelle: intern oder chirurgisch? Verkehrsunfall war immer Stress, es gab ja keinen Arzt, der ständig da war. Autobahn bedeutete Alarmstufe Rot. Als ein paar Jahre später die ersten Funkgeräte kamen, konnten wir schon besser vorbereitet sein, denn vom Unfallort wurde zur Dienststelle gefunkt, was los war und ob man das Spital vorwarnen muss. Wir wollten aber auf jeden Fall Bescheid wissen, was der gute Telefondienst oft vergaß, und wir tanzten weiter auf den Nadelkissen. Da waren aber auch die Alltäglichkeiten: von kleinen Malheurs im Garten bis zu Arbeitsunfällen in Land- und Forstwirtschaft, Baustellen sowieso. Auf diesem Tisch fanden auch die Erstuntersuchungen der chirurgischen Aufnahmen statt und die septischen Operationen. Also Abszesse, vereiterte Wunden, auch Finger- und Zehennägel in vereiterten Betten wurden entfernt. Später wurden wir ein richtiges Krankenhaus mit Fachabteilungen. Leider wuchs der Platz nicht mit der Bedeutung. So kam es, dass der neue Gynäkologie-Primar seine Patientinnen hier untersuchte, nachuntersuchte und nachbehandelte, und dies war logischerweise zusätzlich mit Um- und Rückbau des Untersuchungstisches verbunden. Später kam auch noch ein Urologe, der eine Praxis in der Stadt eröffnete und seine Patienten auf einer chirurgischen Bettenstation versorgte. Untersuchungen und kleinere Operationen machte er in der Ambulanz. Nicht zu vergessen der Zahnarzt. Er kam jeden Dienstag, pünktlich um 7 Uhr, besah sich die Zahnröntgen vom ganzen Haus, die zuvor auf seine Anordnung hin gemacht worden waren. Richtig – in der Ambulanz. 275

Aber noch sind die Räume nicht zur Gänze beschrieben. Zwischen diesen beiden Allzweckräumen gab es einen etwa drei Meter breiten Streifen, der in drei kleine Räume unterteilt war. Der mittlere war die Dunkelkammer und eigentlich ein Durchgang. Wenn man am Nachmittag allein war, was oft vorkam, wenn die zuständige Röntgenschwester, die die Ambulanzkollegin um 15 Uhr ablösen sollte, noch im Zentralröntgen oder im OP beschäftigt war – auch das gehörte zu ihrem Aufgabenbereich –, dann also machte man im Gipszimmer ein Röntgenbild, ging damit in besagte Dunkelkammer und schloss hinter sich die Türe ab. Umsichtig schaute man noch zur anderen Türe hinaus beziehungsweise in die Ambulanz hinein, ob dem hier gerade eine Wunde versorgenden Arzt vielleicht die Tupfer, der Faden oder die Geduld auszugehen drohten, ergänzte schnell das Nötige oder vertröstete im letzteren Fall und schloss die zweite Türe ab. Da wir noch nass entwickelten, wurde der Film aus der Kassette genommen, nach Beschriftung in den Rahmen gespannt, dieser in den Entwickler gegeben und die Kassette neu befüllt. Das inzwischen gut (oder auch nichts) gewordene Bild wurde im Wasser gespült, in den Fixierer gehängt, und danach die Abdeckung zugemacht. Und es musste nachgeschaut werden, ob der einsame Patient wie auch der ohne Beistand gebliebene Doktor noch bei Laune waren. Ein zweites Drittel dieses Mittelstreifens war vom Gipszimmer her zugänglich und enthielt Regale mit Gipsvorräten und Behelfe für verschiedene Gipsverbände. Damals waren Knochenstabilisierungen per OP noch nicht so üblich, und es gab Gipsmieder, Beckenbeingipse und sogar Brustbeckenbeingipse. In einer großen Truhe waren Sets für die jeweiligen Gipsverbände mit Polsterungen, die wir nach genauen Angaben des Chefs selbst herzustellen und zu nähen hatten, per Hand. Diese Teile wurden von Neuzugängen, Ärzten und Schwestern gleichermaßen, am meisten bestaunt. Es gab zwar 276

eine Näherei im Haus, aber eine Maschinennaht wäre wegen der Dichte der Stiche für eine Polsterung zu hart geworden. Ja, und da stand noch ein Nachtkästchen, darüber ein alter, hölzerner Kleiderrechen*. Hier war nämlich auch unsere Garderobe, der Umkleideraum für drei Schwestern. Der letzte Abschnitt hatte den Eingang im Ambulanzraum und war mit Regalen verbaut; neben der Tür blieben 60 Zentimeter, das war die Regaltiefe. In den Regalen befanden sich Instrumentenkassetten, Wäschekapse*, einige Fächer dienten als Medikamentendepot. Weiters Wundkompressen, Abdecktücher, alles, wovon ein normaler Mensch nichts ahnt. Türbreit war frei bis zum Regal gegenüber, also circa zweieinhalb Meter. Genau darin bestand unser Aufenthaltsraum. Vor einem großen Fenster stand ein Nachtkästchen, mehr Tisch gab es nicht. Um dieses herum saßen bis zu fünf Personen; dazu kamen noch drei bis vier Stehplätze, unser Kaffee war ein guter! Generationen von Jungärzten wechselten – eine solche blieb grad mal drei Jahre. Irgendwann dazwischen, dreimal die Woche nachmittags, fuhr ich mit vier anderen in die nächstgelegene Schwesternschule zur Ausbildung. Den beiden, die ihre Prüfung mit Auszeichnung gemacht hatten, wurde angeboten, in den zweiten Lehrgang zum Diplom einzusteigen. Ich überlegte nur kurz; es hätte bedeutet, wieder mit einer Art Lehrlingsentschädigung auszukommen. Das wollte ich nicht. Noch oft, bis zum Jahr 1989, wo die Tätigkeit eine vollkommen gleiche war wie die der Diplomierten, dachte ich daran, wie bald dieser „Verlust“ ausgeglichen gewesen wäre. Später war ich froh, meinen Dienst am Krankenbett, in der Pflege, bei den Menschen zu machen. Aber das war noch alles Zukunftsmusik, der LainzSkandal* weit weg. Aller Anfang war auch hier nicht ganz leicht. Mir fehlte die hier übliche Unterwürfigkeit, und umgekehrt herrschte die Auffassung, die Jugend würde schon manches aushalten. 277

Planmäßig hatten wir in der Ambulanz nur Tagdienst von Montag bis Freitag. Als ich bei einer der vielen Gelegenheiten, wo ich wie einige andere gleichaltrige Kolleginnen am Wochenende wegen Personalnot auf Bettenstationen aushelfen musste, ohne dass wir die Zeit abgegolten bekamen, einmal die Gewerkschaft erwähnte, war ich endgültig zum Exoten gestempelt. Aber es hatte auch sein Gutes: Ich musste ­nirgendwo mehr hin, ohne dass gleich dazugesagt wurde, welcher Tag dafür frei war. Dass der Verwalter eines Montags nach einer Wahl daherkam und mir in den Nacken raunte, es wären plötzlich so viele rote Stimmen mehr gewesen und woher das wohl käme, fand ich auch erst Jahre später eine Frechheit. Und dumm obendrein – mehr als eine Stimme hätte ich ja nicht gehabt. Aber das war nur lächerlich. Richtig beeinträchtigend und aus heutiger Sicht unglaublich waren die sexuellen Belästigungen – eigentlich eines Einzigen, aber der hielt sich für den Platzhirsch. Er hatte eine gehobene Position, avancierte bald zum engsten Freund und Vertrauten des Chefs, war ein hervorragender Arzt mit einem einzigartigen Umgang mit Menschen, denen es schlecht ging – sie liebten ihn –, und diese leutselige Art machte ihn unantastbar. Die meisten verehrten ihn und sahen die Handgreiflichkeiten als liebenswerte Schwäche. Vermutlich waren früher die Frauen auch so konditioniert, dass sie diese Dinge sogar als Anerkennung wahrgenommen haben. Ein paar zu kurz Gekommenen machte es vielleicht echten Spaß, warum nicht, aber den Unterschied hätte er wohl merken müssen. Doch er hielt sich für einen allgemeinen Glücksbringer und ertrug keine Zurückweisung. Man musste sich diplomatisch aus der Affäre ziehen, bei Widerstand war mit Sanktionen zu rechen. Von kleinen Sticheleien in Anwesenheit des Chefs bis hin zu echten Verleumdungen. Das war das eigentlich Verwerfliche. 278

Als Jahre später auch bei uns eine Ombudsstelle für Beschwerden eingerichtet wurde und ich meinte, dort könnte „derjenige welcher“ gleich einen Meldezettel ausfüllen, wenn er nicht schon in Pension wäre, meinte eine Kollegin meiner Generation mit glänzenden Augen: „Mein Gott, der Leo!“ Auch das erklärt, warum manche Männer so lange tun konnten, was sie wollten. Und der Betriebsrat – damals waren noch mehr als drei Viertel des Personals weiblich, aber wir hatten einen männlichen – bemerkte zu besagter Ombudsstelle zynisch: „Ich bin noch nie sexuell belästigt worden“, und erntete Gelächter. Neben diesen hautnahen Erschwernissen gab es noch vieles, was zu bewältigen war. Am längsten wirkte ein Unfall in den Alltag hinein, der sich bei jedem Mal Tanken olfaktorisch in Erinnerung brachte – immer dann, wenn es nach Benzin roch; es gab ja keine Absauganlagen. Von den fünf Personen, die damals von der Autobahn kamen, waren zwei verbrannt. Sie lagen am Gang und warteten auf den Transport in die Hautabteilung des nächsten Krankenhauses. Einer lag im Koma, er trug einen Ring, dessen Fassung nur ein Loch war, der Stein – wohl aus Glas – war herausgebrannt. Der andere sagte unentwegt: „Meine Frau, meine Kinder …“ Seine Worte wurden immer leiser. Aber im Moment war keine Zeit für Erschütterung. Schnell immer wieder vorbeischauen, ein paar tröstende Worte, die nicht mehr ankamen, die innere Wut und Verzweiflung über die Verzögerung des Abtransportes hinunterschlucken und weiterlaufen. In den Laborräumen gegenüber der Ambulanz, die nach 16 Uhr leer standen, lagen der tote Mann und das Kind. Alles Augenmerk richtete sich auf die junge Frau – bei Bewusstsein, aber schwer verletzt. Sie war klatschnass, und ich wunderte mich noch, es war ein sonniger Nachmittag. Als wir sie mit vereinten Kräften von der Trage auf den Gipszimmertisch transferierten, reagierten meine Arme auf die Flüssigkeit 279

mit einem nesselnden Juckreiz. Es war Benzin. Durch den Geruch der beiden Verbrennungsopfer und deren verkohlte Kleidungsreste, die im Gipszimmer in einer Ecke lagen, war das nicht wahrzunehmen. Sie hatte nur deshalb nicht Feuer gefangen, weil sie weit genug weggeflogen war. Das war im Spätsommer, sie waren vom Urlaub nach Hause gefahren. Zu Weihnachten bat uns die Frau, über die Feiertage doch noch dableiben zu dürfen. Sie hatte Angst vor der leeren Wohnung. Ihre Eltern waren dabei, ihr eine neue einzurichten, die war noch nicht beziehbar. Das Spital war in dieser schweren Zeit über die vier Monate eine Ersatzfamilie geworden. Ich weiß heute noch ihren Namen. Sie muss um die siebzig sein und hat diesen Tag sicher nie vergessen. 1972, nach dem Unfalltod meiner Mutter, übersiedelte ich in die Nähe des Krankenhauses. Ein Jahr später begann ich, beim Roten Kreuz Freiwilligendienst zu machen. Damals gab es den Fahrer und den Beifahrer, das war es. Und es gab kein Fahrgestell an der Trage, das aufgeklappt und gefahren werden konnte, wie heute. Wir trugen und wir hoben. Ein ungeschriebenes Gesetz lautete: Der Fahrer trägt beim Kopf. Damals gab es noch kaum Frauen, die fuhren. Und später war man auf die Güte des Beifahrers angewiesen. Ich konnte nicht einfach sagen: „Du bist der Stärkere.“ Auch wenn man es nicht glauben sollte – selbst da gab es Rivalität und Neid, worauf auch immer. Manchmal sogar auf den einen Dienst mehr – und das „Butterbrot“, das man dafür bekam. Aber es entstanden auch schöne, langjährige Freundschaften. Und Verständnis. Zuvor war ich schon manchmal versucht gewesen, in den Chor derjenigen einzustimmen, die sich nicht gerade wohlwollend äußerten, wenn panische Sanitäter schauerliche Aktionen lieferten. Wie etwa bei jener Frau in – zwar stabiler, aber doch – Bauchlage mit eigenartigem Drumherum über ihrem Wintermantel, das sich dann als Gummidichtung der Frontscheibe herausstellte. Am Tod der 280

Frau bestand kein Zweifel, aber da waren noch vier andere, und da die Rettungsleute allein vor Ort waren, mussten sie alle mitnehmen. Die Autos hatten noch schlechte Heizungen; wenn der Weg nicht weit war, blieben die Menschen angezogen. Dann kamen sie in Mänteln und Stiefeln an den gebrochenen Beinen und Rippen. Man hätte zaubern mögen, um sie halbwegs schonend da herauszuschälen. Wenn dann die Sanitäter zwischendurch hereinschauen wollten, wurden sie oft schroff hinausgewiesen. Jetzt sah ich selber, dass einem ein Mensch, den man da irgendwo mühsam herausgezogen, dem man, bis die Feuerwehr das Wrack so weit zerlegt hatte, dass die Bergung möglich war, ewig lang Mut zugesprochen hatte, irgendwie am Herzen lag. Dass man wissen wollte, wie es ihm ging. Dass man sich vielleicht noch verabschieden wollte, alles Gute wünschen und sagen, wo das Gepäck geblieben war und das Auto. Nicht selten kam es vor, dass der Betroffene die Hand nicht loslassen wollte und „Bleiben Sie bei mir!“ flehte. Man war in dieser kurzen Zeit der Not so was wie ein Vertrauter geworden. Einfach zu gehen – da hatte man das Gefühl, man ließe ihn im Stich. Der Stress war der gleiche, ob man in der Ambulanz von einem Autobahnunfall hörte oder dorthin unterwegs war. Man wusste nie, was einen erwartete. Man war zu zweit und hatte die volle Verantwortung, der Fahrer entschied. Über die Fahrt und vielleicht über Schwerverletzte. Zwei konnten liegen, einer sitzen. Was, wenn es mehrere Verletzte waren, wenn der über Funk angeforderte zweite Wagen noch nicht da war und es für mehrere nicht gut ausschaute? Wen zurücklassen? Nachts sah man viele Zeichen nicht, und der Schock ließ manche mit schweren Verletzungen herumlaufen, als wäre nichts. Im Spital hatte ich auch ein paar Heimvorteile. Ich kannte 281

die Piepser-Nummern der Diensthabenden und machte bei Bedarf ein paar Röntgenbilder, bis der zuständige Arzt, der nachts und am Wochenende auch für die Bettenstationen und den OP zuständig war, kam. Acht Jahre später übersiedelte ich abermals, die Entfernung sowie Haus und Garten machten den Doppeldienst unmöglich. Mit einigen Sternchen versehen quittierte ich den Rotkreuzdienst. Ich war immer noch in der Ambulanz. Dann kam 1989 der Lainz-Skandal – und ein Aufschrei. Das Entsetzen über die „Todesschwestern von Lainz“, wie die Medien sie nannten, war berechtigt, aber nachdem jeder die Schuldigen nur im System suchte, so mancher auch seine politische Chance witterte, und die naheliegende Frage „Wie ist so was möglich?“ daher nicht immer eine vordergründige war, schlug man nach allen Seiten um sich. Nicht nur meine, auch die Meinung der Kolleginnen war: Keine Überlastung, kein Druck und keine fragwürdigen Zustände der Räumlichkeiten führen zu Mord. Und nichts anderes war es: Mehrfachmord. Psychische Belastung im Beruf kann sicher zu allen möglichen Überreaktionen führen, aber planen, Wetten abschließen, ein Spiel draus machen? Ich sag das deshalb so drastisch, weil es unglaubliche Folgen hatte. Patienten, die man lange kannte, fragten plötzlich, ob man ein Diplom habe, und ließen sich nicht mehr anrühren. Gott sei Dank wenige – jede Saat muss auch ihren fruchtbaren Boden finden. Trotzdem war jeder dieser Vorfälle ein Schock, und es herrschte gerade in einem Bereich, wo es doch um Vertrauen geht, Ausnahmezustand. Beinahe zeitgleich passierte in Wuppertal Ähnliches. Es war eine Einzeltäterin, und sie war diplomiert. Ganz klein kam es in den Medien, man wollte sich wohl den so schön aufgebauten Dauerbrenner nicht verschneiden lassen. Aber wir, die ohne Diplom, standen in der ersten Reihe. Wir waren keine anderen Menschen geworden. Wir machten nichts an282

deres als zuvor: unseren Dienst mit demselben Einsatz. Trotzdem waren wir kollektiv des Mordes verdächtig. Was hier die Öffentlichkeit und ihre Vertreter am Schreibtisch anstellten, davon haben sie bis heute keine Ahnung. Aber auch individuell gab es Unterschiede. Unser – also der chirurgische – Chef holte die Pflegedirektorin und sagte, er wolle keine Änderung. Er kenne seine Leute und würde für jeden persönlich bürgen. Das war eine schöne Geste, ich hab ihm das bis heute nicht vergessen, aber auch er stand nicht über den Gesetzen. Und die lauteten: Ab sofort darf keine Pflegehelferin allein und selbständig bestimmte Arbeiten verrichten. Der interne Chef fragte seine Stationsschwestern: „Wie viele von denen haben wir? Er sagte das in einem Ton, dass jeder der beiden fürs Erste die Antwort im Hals stecken blieb. Doch jede Katastrophe hat auch ihr Gutes. Ausbildung und Arbeitsbedingungen wurden besser, der Stress ein Thema, für den es Ansprechpartner gab. In der Ambulanz sollte insofern alles beim Alten bleiben, weil man ja, zumindest theoretisch, wenigstens im Beisein eines Arztes am Patienten arbeitete. Allerdings sollte dem Nachtdienst, der ja Ambulanz, Zentralröntgen und OP zu bedienen hatte, ein zweiter Dienst beigestellt werden. Gut Ding braucht Weile, und Zeit ist Geld. Manchmal auch im umgekehrten Sinn, denn je länger dieser Plan nicht verwirklicht wurde, umso später musste man das Doppel bezahlen. Nachdem ich im Röntgen eingearbeitet war, stand der OP bevor – zum Anlernen für vier Monate, wurde mir versichert. Doch der Doppelpack wollte nicht zustande kommen. Ich fragte schon immer ungeduldiger nach Erlösung vom Übel – OP war nicht mein Ding. Ich erfuhr von einer frei gewordenen Stelle auf der Station und lernte nach 24 Jahren Betten machen. Es war eine ganz neue Erfahrung. Abgesehen von der neuen Freizeit, die diese Zweimalzwölfstundentage mit sich brachten, nämlich zwei 283

freie Tage danach, gefiel mir der intensivere Kontakt mit den Patienten. Ihre Begleitung bis zur Entlassung. Bisher sah ich sie nur in ihrem persönlichen Ausnahmezustand, bei der Aufnahme – sehr oft mit Aussicht auf Operationen. Oder nach Unfällen, geschockt und voll Schmerzen. Jetzt sah ich sie auch wieder lachen. Wir waren zu zwölft im Team und verstanden uns gut. Es gab viel Arbeit, und Notbetten waren meist die Regel. Mit Teamgeist und Freude am Tun war es dennoch immer wieder zu schaffen. Schon seit ein paar Jahren drängte es mich wieder vermehrt auf die musische Seite. Ich hatte zu modellieren begonnen. Mit Erfolg. Ich nahm an Ausstellungen teil und genoss die Anerkennung, zumal es einige Tiefschläge gegeben hatte, die der anstrengende Beruf nicht kompensieren konnte. 1995 beschloss ich, auf Teilzeit zu gehen. Ich brauchte mehr Zeit als Geld – das entpuppte sich als gute Seite des SingleDaseins: Ich konnte alles selbst entscheiden, niemand hatte mir zu sagen, was ich tun oder lassen sollte. Über einige Umwege war ich vom Holz zu Ton und damit zur Keramik gekommen. Zu den anfänglichen Schalen und Vasen gesellten sich bald Lampen, Uhren und vor allem Brunnen. Ich hatte immer frei modelliert und besaß keine Töpferscheibe. Lampen und Brunnen waren bald mit figuralen Elementen verbunden. Geschrieben hatte ich ja immer, aber den Gefühlen mit Formen Ausdruck zu verleihen, war eine neue Herausforderung, der ich mich jetzt mit Hingabe widmen konnte. Damit kam zum Kunstgewerbe jetzt die bildhauerische Keramik dazu. Mit Einzelausstellungen, aber auch in Gruppen und Projekten mit einer Malerin und einer Lyrikerin. Das waren besondere Ereig­nisse, da ein Thema seinen Ausdruck in Wort, Bild und dreidimensionaler Interpretation fand. 284

Was ein schöner Ausgleich zum Beruf hätte sein können und es, solange es bei Gegenständen blieb, auch war, entwickelte nun seine Eigendynamik. Kunst lässt sich nicht in einen Stunden­plan pressen. Und das Pendeln zwischen zwei Welten – es waren doch sehr konträre – wurde zunehmend schwierig. Es gab auch zunehmend Probleme mit langfristigen Terminplanungen, wie es Ausstellungen erforderten. Spontan auf Angebote zu reagieren war unmöglich. Auch auf der Station hatte sich einiges verändert: eine schwierige Leitung, einige Zugänge, die das zu nutzen wussten, und das Team in zwei Lager spalteten. Mein unregelmäßiger Dienst und die häufige Abwesenheit waren dem Ganzen auch nicht gerade zuträglich. Zuletzt war es so, dass ich das Ende der Berufstätigkeit schon sehr herbeisehnte. Die schwere Arbeit hatte seit langem ihre Spuren an der Wirbelsäule hinterlassen. Sie wurde zwar durch die Teilzeitbeschäftigung entlastet, die Zusammenarbeit im Team und damit die persönliche Verfassung wurden jedoch nicht besser. Alles vergeht, und aufgrund dessen war ich auch in keiner Weise vom Pensionsschock bedroht. Oftmals führte noch der Dienstweg in die Ambulanz. Es war umgebaut worden. Die einstigen Laborräume von gegenüber gehörten jetzt dazu. Ein eigener Röntgenraum war dort entstanden. Zum Entwickeln – natürlich im Vollautomat – musste man zwar jetzt über den Gang, aber dafür machte das eine Röntgenassistentin. Es gab auch so etwas wie eine Empfangsdame. Sie saß am Fenster, nahm Anmeldungen und Zuweisungen entgegen, verteilte Karten, suchte die Röntgensäcke heraus und managte kurz und gut alles Administrative. Die auf Band diktierten Befunde werden seit Jahren im Sekretariat geschrieben. Aber es fremdelte, man gehörte nicht mehr hierher. Niemand würde die Zustände von damals zurückwünschen; 285

trotzdem hatte man das gelebt, und es war ein halbes Leben draus geworden. Seit einigen Jahren gab es einen neuen Chef. Einen der neuen Generation mit erfrischenden Ansichten und ebensolchem Umgang mit dem Personal. Chef – Arbeitgeber war ohnehin immer die Gemeinde – wollte er keiner sein und mit dem Namen angesprochen werden. Der Übervater hatte loslassen müssen. Die Devoten waren längst in Pension. Ein letzter Schüler seines Herrn war noch da, einer, der gelernt hatte, sich lautstark in Szene zu setzen – natürlich vor Publikum –, und der das vermutlich sogar für gut und nötig hielt. Ich wunderte mich oft, wie seltsam unberührt mich das zuletzt ließ. Eine neue Ära hatte begonnen. Ich fand mich irgendwo dazwischen, nachdem die Wut darüber, was man sich alles hatte gefallen lassen, auch vorbei war. Eine Wut, die erst hochkommen konnte, nachdem der Druck weg war. Nein, da war keine Nostalgie. Und nie mehr ein Besuch dort. Und als einzige Berufskrankheit eine Ärzteallergie, die mich bis heute gesund erhalten hat. Damit kann ich leben.

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„Wieder galt es, Neues zu lernen …“ Gerlinde Krasser-Weinberger wurde am 3. März 1949 in Pichl bei Wels im oberösterreichischen Hausruckviertel als ältestes von vier Kindern einer Arbeiterfamilie geboren. Ihr Vater war Betriebsschlosser, die Mutter war für Haushalt und Kinderbetreuung zuständig. Nach dem Besuch der Volks- und Hauptschule und dem Abschluss einer Lehre als Drogistin übersiedelte die Autorin 1968 nach Wien, wo sie zwar eine Ernüchterung in Bezug auf die Zukunftsperspektiven in ihrem erlernten Beruf erfuhr, jedoch persönliche wie berufliche Entwicklungsmöglichkeiten in viele andere Richtungen vorfand. In den 1970er und 1980er Jahren engagierte sie sich in der SPÖ wie auch in parteiunabhängigen linksalternativen Projekten und konnte von Erfahrungen aus beruflichen wie politischen Arbeitszusammenhängen gleichermaßen profitieren. Die einzelnen Stationen ihrer abwechslungsreichen Berufsbiographie beschreibt Gerlinde Krasser-Weinberger selbst im nachfolgenden Erinnerungstext. Ihre Pensionierung im Jahr 2004 brachte keine gänzliche Abkoppelung von der Erwerbssphäre; in Form einer geringfügigen Beschäftigung ist sie weiterhin als Organisationsassistentin an der Donau-Universität Krems tätig. Nach dem Tod ihres zweiten Mannes lebt die Autorin heute alleinstehend in Langenlois in Niederösterreich. Geboren wurde ich im Jahre 1949 in einem kleinen Dorf in Oberösterreich. Dort besuchte ich die Volksschule und dann die Hauptschule in Wels. Das konnten nur wenige Kinder aus meiner Klasse; die meisten meiner Mitschüler/innen besuchten acht Jahre lang die Volksschule. Meine Mutter bestand 287

aber darauf, dass wir, alle vier Geschwister, einen Beruf erlernten. Eine weitere schulische Ausbildung wie zum Beispiel Gymnasium oder gar Studium stand in dem ärmlichen ländlichen Milieu, in dem ich aufwuchs, nicht zur Debatte, wurde auch nicht angedacht. Also begann ich im Jahre 1963 mit einer Drogistenlehre und dem Besuch der Drogistenfachschule in Wels, die auch die kaufmännische Lehre beinhaltete. Die Ausbildung fand einerseits in einer alteingesessenen Drogerie, fünf Tage pro Woche, und andererseits durch den Besuch der Fachschule, einmal in der Woche, statt. Ich ging sehr gerne in die Schule, und einige Lehrgegenstände fanden mein Interesse. Wir lernten viel über Chemie, Physik, Botanik, und da vor allem die Inhaltsstoffe der Pflanzen und wie sie im medizinischen Bereich zu verwenden sind. Besonders gut erinnere ich mich an ein Herbarium mit über 200 Pflanzen, das ich selbst mit großer Akribie anlegte, dann aber leider verkaufte, weil ich immer Geldnot hatte. Die Lehrer/innen waren gut und kamen meist aus dem nahe gelegenen Gymnasium. An die Lehrzeit in der Drogerie selbst habe ich keine so guten Erinnerungen. Drogerien dieser Art gibt es, denke ich, heute gar nicht mehr. Meine Aufgabe in den ersten beiden Jahren war hauptsächlich die Lagerhaltung in den Lagerräumen. Urlaub gab es, wenn ich mich recht erinnere, zwei Wochen im Jahr, die Wochenarbeitszeit betrug 45 Stunden, also von Montag bis Samstagmittag. In einem großen Keller wurden die verschiedenen Säuren, Öle und alle möglichen flüssigen Substanzen in großen Gallonen gelagert. Kam eine Lieferung, so musste ich die Gallonen über die Stufen in den Keller transportieren und beispielsweise die Salzsäure in Halbliterflaschen umfüllen, was eine sehr unangenehme Arbeit war und die Schleimhäute ziemlich angriff. Besonders schlimm war es im Winter – kalt, feucht und schlecht beleuchtet. 288

Ein weiterer Lagerraum, gleich hinter dem Geschäft, war den Drogen und Chemikalien vorbehalten. Diesem galt mein besonderes Interesse, denn es gab dort hunderte Sorten von pflanzlichen Stoffen und chemischen Substanzen, die zur Herstellung verschiedenster Teemischungen, Parfums, Salben usw. Verwendung fanden. Sie mussten gepflegt werden, gesiebt und beobachtet, ob auch kein tierischer oder sonstiger Befall stattfand, der die Drogen unbrauchbar machen würde. Eine Besonderheit war der Giftschrank. Eine Art Tresor, in dem Zyankali, Arsen etc. aufbewahrt wurden und der nur mit zwei verschiedenen Schlüsseln zu öffnen war. Der dritte Lagerraum, der sich auf einer Art Zwischenboden oberhalb des Geschäftes befand, beherbergte die trivialen Dinge der Drogerie: Kosmetika, Kindernahrung etc. Diese Waren wurden zum Großteil per Bahn angeliefert, und ich musste sie mit einem Handwagen vom Bahnhof abholen, bei jeder Witterung. Meistens war der Wagen, auch wegen des hohen Gewichtes, schwer zu transportieren. Es war die unangenehmste Aufgabe für mich. Im dritten Lehrjahr durfte ich dann auch schon manchmal im Geschäft Kunden bedienen oder Parfums, Tees und Salben mischen. Es gab allerdings auch einige Kunden, die nur einen Zettel mit ihren Wünschen abgaben und die Waren ins Haus geliefert bekamen. Das musste ich nun auch tun, entweder mit dem Fahrrad oder, wenn das nicht ging, mit dem Handwagen – egal wie schwer die Lieferung, wie weit vom Geschäft entfernt das Ziel oder wie gerade das Wetter sein mochte. Dafür aber gab es dann manchmal Trinkgeld, was mir immer sehr peinlich war, und ich fand es auch entwürdigend. Damals wurde ich schon vom Vater einer Mitschülerin zur Gewerkschaft geworben und bin bis heute Mitglied. Allerdings hatte ich noch keine Ahnung von meinen Rechten und auch nicht von Politik, Gewerkschaft, Arbeiterbewegung etc., das wurde in den Schulen damals in keiner Weise unterrich289

tet. In meiner Freizeit habe ich viel für die Fachschule gelernt, gelesen und einen Tanzkurs besucht. Nach Abschluss der Drogistenfachschule und der kaufmännischen Lehre verließ ich dieses Unternehmen sofort und ging in eine Apotheke mit angeschlossener Drogerie, wieder aufs Land. Arbeitssuche war damals kein Problem, es wurden überall Leute gesucht. Da ging es mir, nun als ausgebildeter Drogistin, gleich viel besser, und nach kurzer Zeit konnte ich eine kleine Filiale in einem Dorf selbständig betreuen. Das hieß zwar, alles alleine zu machen: Verkauf, Lagerhaltung, Auslagengestaltung, das Geschäftslokal und das Lager putzen, Kassenabrechnung, die Waren abholen – allerdings nun schon mit einem Dienstauto. Den Führerschein habe ich gleich, sobald es möglich war, also im Alter von 18 Jahren, gemacht. Außer einer Registrierkassa gab es damals keine Maschinen, nicht einmal eine Rechenmaschine. Unter der Woche hatte ich ein Zimmer im Hause des Besitzers, und am Wochenende fuhr ich immer zu meiner Familie, wo ich auch die Urlaube – immer noch zwei Wochen – verbrachte. Der Verdienst war gering, da der Preis für das Zimmer, das ich bewohnte, gleich vom Gehalt abgezogen wurde. In diesem Ort hatte ich das Glück, auf eine Gruppe zu treffen, die aus dem dort ansässigen Gymnasium kam und politische Diskussionen veranstaltete. Es kamen viele Schüler aus den Kohlebergwerksgebieten, die in sehr bewussten sozialistischen Arbeiterfamilien aufgewachsen waren. Und so lernte ich ein völlig anderes Milieu kennen, das mich sehr faszinierte. Ich schloss mich dieser Gruppe an und musste vieles lesen und mich mit der jüngeren Geschichte, auch mit Philosophie beschäftigen, um mitdiskutieren zu können. Diese Begegnungen veränderten mein Leben nachhaltig, und ich bin sehr froh darüber. Mein politisches Interesse, das Interesse an Philosophie und Geschichte, habe ich bis heute nicht verloren. 290

1968 war es dann so weit: Ich ging mit einem Studenten aus dem Kohlebergwerksgebiet nach Wien. Dort wurde mir sofort klar, dass ich einen toten Beruf erlernt hatte, denn in Wien gab es Drogerien, wie ich sie auf dem Lande gewöhnt war, längst nicht mehr. Es waren eher Kosmetikgeschäfte. So war ich etwas ratlos, was ich denn nun weiter machen sollte, und probierte einiges aus. Zuerst ging ich als Verkäuferin in ein renommiertes Geschirrgeschäft in der Wiener Innenstadt. Fünfeinhalb Tage in der Woche die Füße in den Bauch stehen, nicht mit den Kolleginnen und Kollegen sprechen dürfen und immer vom Seniorchef, der in einem Glas­büro saß, beobachtet werden – das konnte ich mir auf Dauer nicht vorstellen. Jedenfalls lernte ich damals gut Englisch, denn es kam viel Kundschaft aus den USA und anderen Ländern. 1971 habe ich dann ganz umgesattelt und ging in ein Büro, in der Textilbranche. Dort merkte ich, dass mir organisatorische und verwaltungstechnische Arbeiten mehr liegen, und ich wurde Einkaufsdisponentin. Das Betriebsklima war gut, und woran ich mich später oft erinnerte, ist, dass es kaum Stress gab; die Arbeit konnte in Ruhe gemacht werden. Es war auch noch Zeit, mit den Kolleginnen und Kollegen Kontakt aufzunehmen und sie kennenzulernen. Das Geschäft ging gut, wir verdienten für damalige Verhältnisse nicht schlecht. In dieser Zeit kam es auch zu einer Arbeitszeitverkürzung, ich glaube, auf 42 Wochenstunden, und es wurde auch für verheiratete Frauen ein Haushaltstag pro Monat eingeführt. Der Urlaub erhöhte sich, wenn ich mich recht erinnere, auf drei Wochen. An Maschinen hatten wir Schreibmaschine, Rechenmaschine, und ein Fernschreiber kam – wie ein großes Wunder bestaunt – später dazu. Die diversen (elendsgroßen) Journale für Statistiken etc. wurden noch mit der Hand geschrieben oder ausgefüllt. 291

Meine Freizeit gehörte nun ganz der politischen Tätigkeit. Ich schloss mich einer Gruppe aus dem VSStÖ* an, wurde in meinem Wohnbezirk Meidling Vorsitzende der „Jungen Generation“* und in den Wiener Landesvorstand gewählt. Auch meine Reisen waren in diesem Zusammenhang. So besuchte ich nach dem Tode Francos Madrid und konnte die ersten Wahlen miterleben. Viele Reisen nach Deutschland zu den Jusos*, nach Athen, und schließlich auch eine beeindruckende Reise in den Irak, nach Bagdad und Basra. Besetzung der Arena*, Gründung einer WG*, Anti-AKW-Bewegung und Gründung der Zeitschrift „tribüne“*. Den „Otto-BauerKreis“*, einige internationale Treffen mit Genossen und Genossinnen aus Italien, Frankreich, Deutschland in Wien, organisierte ich mit. Als ich dann aber einen Betriebsrat im Unternehmen gründen wollte, wurde ich sofort gekündigt. Sicher, ich hatte noch keine Erfahrung darin und auch einiges falsch gemacht. 1979 gründete ich mit Freunden eine Galerie, und wir stellten damals Künstler aus, die sich in ihren Arbeiten mit der Gesellschaft und mit dem Menschen an sich auseinandersetzten. Ich war nun selbständig und kümmerte mich um die Verwaltung und die Öffentlichkeitsarbeit. An technischen Geräten kam nun zur Schreib- und Rechenmaschine ein Faxgerät dazu. Meine politischen Funktionen gab ich fast alle auf. Dafür beschäftigte ich mich eingehend mit Kunst und dem Kunstbetrieb und bildete mich weiter in Öffentlichkeitsarbeit und im Umgang mit Medien aus. Es war eine sehr interessante Zeit, ich lernte vieles, was ich für mein weiteres berufliches Fortkommen gut gebrauchen konnte. Dort traf ich auf meinen späteren Ehemann, einen Maler. Da unsere Einnahmen zum Leben nicht ausreichten, gaben wir dieses Experiment 1982 wieder auf. Jetzt galt es, neu zu überlegen, wie es weitergehen sollte. Ich beschloss, die Berufsreifeprüfung zu machen, um an292

schließend Psychologie studieren zu können. Da ich aber auch von etwas leben musste, begann ich in der Ordination eines praktischen Arztes zu arbeiten. Das war durchaus interessant, ich konnte das alles gut bewältigen, aber der Verdienst war so schlecht, dass ich es nicht lange durchhielt und dieses große Vorhaben wieder aufgeben musste. Nach einem kurzen Intermezzo in einem Marketingunternehmen war es dann so weit, und ich beschloss, mich auf den Bereich Verwaltung und Organisation zu konzentrieren. Ich besuchte jede Menge Kurse im WIFI* und in der Volkshochschule und versuchte, einen Job in dieser Richtung zu bekommen. Die Situation hatte sich nun aber verändert. Es gab Arbeit nicht mehr in Hülle und Fülle, wie ich es bisher gewohnt war. Ich brauchte etwas über ein halbes Jahr, um Arbeit zu finden. Diese Zeit nutzte ich, um mich mit Computer und den damals gängigen Programmen vertraut zu machen. Die Zeit der Arbeitslosigkeit habe ich als sehr unangenehm in Erinnerung. Es kratzte sehr am Selbstbewusstsein, immer wieder Absagen zu bekommen. 1988 war es so weit: Ich erhielt einen Job als Assistentin des Controllers in einem großen Bauunternehmen. Ich verdiente recht gut, in die Arbeit fand ich mich schnell und zur Zufriedenheit des Unternehmens ein. Laufend bildete ich mich weiter und lernte schnell und gut mit Programmen umzugehen, damals zum Beispiel noch dBase*. Dem Unternehmen ging es ausgezeichnet, und der Firmenbesitzer war bereit, ein großzügiges Budget für die Weiterbildung der Mitarbeiter zu veranschlagen. Ich habe mich gleich dafür beworben, diesen Organisationsentwicklungsprozess zu organisieren, und bekam auch die Aufgabe übertragen. Die laufenden Einschulungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die jeweils neuen Computerprogramme machte ich österreichweit selbst. Leider wurde das Budget dann nach zwei Jahren nicht mehr zur Verfügung gestellt, und es stand an, mich wieder umzuorientieren. 293

Da gerade die Assistenz der Werbung und Verkaufsförderung vakant war, bewarb ich mich dafür und bekam die Stelle. Wieder galt es einiges zu lernen. Diese Arbeit hat mir viel Spaß gemacht, und ich konnte die Mitarbeiterzeitung, eine Zeitung für Architekten, machen. (Meine Erfahrungen aus der Zeit, als wir eine politische Zeitung machten, waren hier von großem Vorteil.) Weiters gestaltete ich sämtliche Messestände österreichweit. Die Arbeitszeit wurde in diesen Jahren zuerst auf 40 und später auf 38,5  Stunden herabgesetzt, der Urlaub zuerst auf vier, dann auf fünf Wochen erhöht. Das bedeutete eine enorme Steigerung der Lebensqualität, weil sich auch die Arbeitsprozesse in dieser Zeit sehr veränderten, so dass alles schneller gehen musste und Personal immer mehr eingespart wurde. Immer weniger Mitarbeiter/innen mussten immer mehr Arbeit übernehmen. Dies nahm mich so in Anspruch, dass die Freizeit hauptsächlich zur Regeneration genutzt wurde und dazu, die persönlichen Kontakte aufrechtzuerhalten. Im Urlaub unternahmen wir schöne Reisen, zumeist mit Freundinnen und Freunden in einer Gruppe. Der Firmeneigentümer nützte die Osterweiterung und kaufte vieles, was zu haben war, auf. Der Atem wurde dann zu kurz, und 1999 war es vorbei. Das Unternehmen wurde in Einzelteile zerlegt, verkauft, und alle Mitarbeiter gekündigt. Mit der Gewerkschaft wurde ein Sozialplan ausgearbeitet, und so bekamen wir noch eine zusätzliche Abfertigung. Ich war nun schon 49 Jahre alt und hatte natürlich Sorge, wie es denn weitergehen soll. Mein Mann hatte sich im Jahre 1997 ein altes Bauernhaus, das er als Atelier benutzte, in der Nähe von Krems gekauft, und ich verbrachte auch die Wochenenden dort. Da kam mir die Idee, eventuell in einem Weingut Arbeit finden zu können, und ich beschloss, die Weinakademie in Krems zu machen. Wirklich bekam ich 294

e­ inen Verwaltungsjob in einem renommierten Weingut. Das Gehalt war in Ordnung, aber die Arbeitsbedingungen waren es nicht. Ein Familienbetrieb – jedes Mitglied der Familie ein Chef, eine Chefin, und auch untereinander waren sie sich nicht einig. Das hielt ich gerade mit Müh und Not ein halbes Jahr durch und kündigte dann – auch in dem Bewusstsein, vielleicht nie mehr Arbeit zu bekommen. Obwohl ich damit geliebäugelt hatte, einmal einen ganzen langen Sommer zu Hause verbringen zu können, ergab es sich, dass ich schon nach einem Monat erfuhr, dass ein ­Professor an der Donau-Universität in Krems dringendst eine Organisationsassistenz suchte. Ich bewarb mich und bekam den Job sofort. Diese Arbeit, Lehrgänge zu organisieren, lag mir gut und machte mir Freude. Wieder galt es, Neues zu lernen, aber ich schaffte es mit Erfolg. Das Gehalt war schlecht und die Arbeit ziemlich stressig – zu wenige Mitarbeiter/innen für die viele Arbeit. Dann kam es zu einer Unterbrechung von zwei Jahren. Ich ging in Frühpension, um bei meinem schwer erkrankten Mann bleiben zu können. Dies ging dank der „Hacklerregelung“* und meiner 41 Arbeitsjahre problemlos. Auch habe ich keine so schlechte Pension, weil noch die 15 einkommenshöchsten Arbeitsjahre zur Berechnung herangezogen wurden. Nachdem mein Mann 2006 verstorben war, begann ich wieder als geringfügig Beschäftigte an der Donau-Uni. Es ist mir wichtig, den Kontakt zur Jugend nicht zu verlieren und auf dem Laufenden zu bleiben; deshalb mache ich diese Arbeit immer noch gerne, obwohl sie schlecht bezahlt ist. Freizeit habe ich nun viel, und ich genieße es sehr, Zeit für Dinge zu haben, die früher zu kurz gekommen sind. Das sind noch immer Lesen, aber auch Kultur, die Pflege der Freundschaften und Reisen. Neu für mich ist meine Freude an der Gartenarbeit. Mein Interesse am politischen Geschehen ist nie verloren gegangen, und so beteilige ich mich an verschiede295

nen, mir sinnvoll erscheinenden Aktivitäten, vorwiegend in meinem näheren Lebensbereich. Das Allerschönste für mich ist, nicht mehr jeden Tag in der Frühe aufstehen zu müssen, wenn der Wecker läutet.

Resümee Die Ausbildungssituation hat sich sehr verändert. Heute gibt es in dem Dorf, in dem ich aufwuchs, zumindest eine Hauptschule, und es gibt den Schulbus. Früher mussten die Kinder oft stundenlange Fußmärsche auf sich nehmen. Die Kinder gehen ganz selbstverständlich auch auf weiterbildende Schulen oder ins Gymnasium und studieren. Das Arbeitsleben hat sich ebenso sehr verändert. Die Maschinen brachten zwar einiges an Erleichterung für viele mühsame Arbeitsvorgänge, allerdings muss nun alles viel schneller gehen, um Personal einzusparen, und Zeit für ein Gespräch mit den Arbeitskolleginnen und -kollegen bleibt kaum noch. Sogar das Mittagessen wird schnell eingenommen, um nicht zu viel Zeit zu verlieren. Dafür gab es früher lange Arbeitszeiten, wenig Urlaub, wenig Lohn und sehr ausgeprägte hierarchische Systeme. Meinen ursprünglichen Job an der Donau-Universität Krems hat nun ein Hochschulabsolvent, und er verdient kaum mehr als ich. Wie ich überhaupt meine, dass eine berufliche Karriere wie meine heute nicht mehr möglich ist. Ich bedauere die jungen Menschen auch dafür, dass sie kaum Zeit haben, bei der Ausbildung, im beruflichen und im privaten Bereich Experimente zu machen. Sie müssen beinhart darauf achten, irgendwie weiterzukommen. Die Konkurrenz ist groß, und die Arbeitsbedingungen werden wieder schlechter. Meine große Angst ist, dass alles, was wir erreicht haben, wieder zurückgenommen wird. 296

„Mein Vater hielt ganz einfach nichts von den brotlosen Künsten“ Stefanie Eveline Rossmanith wurde am 1. Oktober 1951 als Tochter eines Gendarmeriebeamten und einer Hauswirtschaftslehrerin in Fürstenfeld in der Steiermark geboren und verbrachte den Großteil ihres Lebens im obersteirischen Kindberg. Nach der Unterstufe des Gymnasiums besuchte sie die Lehrerbildungsanstalt in Graz und wurde Arbeitslehrerin bzw. zuletzt Lehrerin für Werkerziehung und Ernährung und Haushalt. Neben ihrer pädagogischen Tätigkeit war sie verheiratet und zog zwei Kinder groß. Seit ihrer gesundheitsbedingten vorzeitigen Pensionierung im Jahr 2007 widmet sich Stefanie Roßmanith verstärkt ihren Hobbys Malen und Schreiben. Sie absolvierte ein Fernstudium für literarisches Schreiben und ist Mitglied des Europa-Literaturkreises Kapfenberg. In den letzten Jahren veröffentlichte sie – zum Teil unter den Pseudonymen Eveli Mani und Hanna Roßmanith – Romane, Lyrik und Kurzprosa sowie Beiträge in Literaturzeitschriften. Die Geschichte ihrer Familie sowie Aspekte der eigenen Kindheit sind in ihrem 2009 erschienenen Buch „Geborgtes Paradies“ festgehalten. Im Frühjahr 2011 veröffentlichte sie das Erinnerungsbuch „Wir vom Jahrgang 1951“. http://www.evelimani.com Arbeit ist das halbe Leben, sagte man. Arbeit macht das Leben süß, meinte meine Mutter, wenn sie mit hochroten Wangen mit dem Schneebesen die Mayonnaise rührte oder auf dem Boden kniend den Parkettboden bohnerte. Wenn sie aus feinem Garn Strampelhöschen strickte und in Kalkmilch Eier für den Winter einlegte. Und sie lächelte dabei, freute sich. 297

Von Arbeitslosigkeit erzählte sie dann manches Mal. Von früher, als sie Kind war. Als ihr Vater sich und seine Familie mit Schuheflicken und mit dem Stricken an einer Handstrickmaschine für eine Sockenfirma über Wasser hielt – das Wasser sozusagen bis zum Hals stand. Als man aus dem Brunnen im Graben das Wasser holen musste und man abends um die Petroleumlampe saß. Meine Mutter durfte jedoch, als ihr Vater in der Stadt Graz als Magistratsangestellter Arbeit erhielt, eine Schneiderlehre absolvieren, für die man damals bezahlen musste, und auch die Meisterklasse an der Kunstgewerbeschule. Sie war talentiert und hätte bei einer angesehenen Modefirma einsteigen können. Aber – es macht mich jedes Mal traurig, wenn ich mir ihre tollen Modezeichnungen und Entwürfe ansehe – sie entschied sich für das damals gültige Frauenmodell: K-K-K – Kinder, Kirche, Küche. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete sie in einer Haushaltungsschule in Frohnleiten als Lehrerin. Mit einem offenen Wagen wurden sie und ihre Kolleginnen dorthin gefahren, was im Winter nicht gerade angenehm war. Dann verheiratete sie sich mit einem Gendarmen – meine Mutter liebte Uniformen, und damals trugen die Herren von der Gendarmerie zudem noch ihre Säbel … Sie zog mit meinem Vater nach Fürstenfeld, wo ich 1951 zur Welt kam. Einige Jahre später wurde mein Vater nach Kindberg versetzt, und ich begann hier meine Langzeit­ karriere einer Kindbergerin. Volksschule. Gymnasium in Mürzzuschlag, in welches ich nur unter vielen Tränen und dem Zuspruch meiner Lehrerin gehen durfte, denn ein Mädchen braucht doch nicht zu studieren! Und wie es damals ­üblich war, musste man sich trotz lauter Einser im Zeugnis einer Aufnahmsprüfung stellen. Nach vier Jahren – ich liebte die Fächer Deutsch, Zeichnen, Latein und Englisch – verkündete mir mein Vater: „Du hast doch immer beteuert, dass du gerne einmal Lehrerin wer298

den möchtest ... Nun wirst du in die Lehrerbildungsanstalt nach Graz gehen – nicht nach Wien, denn sonst wirst du uns eine Wienerin. Außerdem ist das zu gefährlich für ein Mädchen – ganz allein in der Großstadt … Und du kannst’s dir aussuchen: allgemeine Lehrerin oder Hauswirtschafts- und Werklehrerin. Schließlich und endlich hast du auch noch einen Bruder – der muss studieren, muss einmal eine Familie erhalten. Und für zwei Studenten reicht mein Gehalt nicht.“ Ich bestand in beiden Schulen die Aufnahmsprüfung und entschied mich für Hauswirtschafts- und Werklehrerin. Da würde ich wohl meinen kreativen Seiten gerecht werden können? Der Malerei und dem Schriftstellern sagte ich ade, denn mein Vater hielt ganz einfach nichts von den brotlosen Künsten. Die Spur, welche die Eltern für gut und richtig erachteten, war also vorgegeben, und „spuren“ mussten die Kinder der damaligen Zeit sowieso in allen Belangen. Nach vier Jahren Internatszeit bei den Schulschwestern in Graz-Eggenberg stand ich im Berufsleben. Auch wenn ich die Sehnsucht, an meine Lehrerinnenausbildung noch die Kunstgewerbeschule anzuhängen, begraben musste, so ging ich gerne meiner Tätigkeit als Lehrerin nach. Mein Vater begleitete mich zum Vorstellungsgespräch bei meiner ersten Dienststelle. Und beantwortete auch die Fragen, welche die Frau Direktor an mich gestellt hatte. „Ich habe Ihre Tochter gefragt!“, sagte sie dann. Arbeit macht das Leben süß! Wie die Alten sungen, so zwitschern die Jungen! Vorgelebt das „Schaffe, schaffe, Häusle baue“, das „Man kann beim Ruh’n auch etwas tun“, das „Übung macht den Meister“ etc. Miterlebt, dass nach den Kriegsjahren die Wirtschaftswunderjahre voll wirksam wurden. Der VW-Käfer, die Eigentumswohnung, der Sommerurlaub in Lignano. Und dass man alles versichern kann ... 299

Und hineingeköpfelt in die noch immer gültige K-K-K-Zeit – nur mit Zusatzbelastungen. Denn es wurde von nun an zur Selbstverständlichkeit, dass die Frauen nicht nur einkochten, putzten, schneiderten – nein, sie mussten auch einem Beruf nachgehen, damit das Familienbudget es erlaubte, sich den Mixer, den Staubsauger, die Waschmaschine etc. zu leisten. In meinem Fall wurde ich ganz feierlich angelobt und musste versprechen, in Kleidung und moralischen Belangen Vorbild zu sein. Die Zeiten, wo man als Lehrerin einem Zwangszölibat unterworfen war, lagen auch schon ein paar Jahrzehnte zurück, sodass Verehelichung eine logische, der damaligen Norm gerechte Konsequenz war. Mein Mann studierte viele Jahre, sodass ich unversehens zum Familienerhalter – bislang eher die Domäne des Mannes – mutierte. Kinder sind Privatsache, meinte die unverheiratete Direktorin der Haushaltungsschule, meiner ersten Dienststelle, wenn sie den Stundenplan erstellte. Somit verließ ich meine Wohnung, wenn mein Kind schlief, und kam abends nach Hause, wenn es wieder schlief. Einen eigenen PKW konnten wir uns nicht leisten, und mit dem Zug, der mich hin- und herbrachte, war es mir nicht möglich, die Freistunden für meine Familie zu nutzen. Ja, wenn ich da meine Mutter nicht gehabt hätte! Eine der Marke „Großfamilie“, die das Enkelbeaufsichtigen mit großer Leidenschaft, Liebe gepaart mit Strenge, was die Kindererziehung angeht, durchführte. Ich selbst musste aufgrund meiner eigenen Berufstätigkeit mit ansehen, wie meine alleinerziehende Tochter ihr Kind täglich in der Kinderkrippe abgab. Lehrerin zu sein machte Spaß. Zuerst unterrichtete ich in Krieglach die Schülerinnen der Haushaltungsschule, die nur wenige Jahre jünger waren als ich, dann die Mädchen und Knaben in der Hauptschule meiner Heimatgemeinde, von zehn bis vierzehn Jahren. Die meisten waren mit Begeisterung bei der Sache. Oft hörte man ein Stöhnen des Bedauerns, 300

wenn es läutete und die Schülerinnen nach drei Stunden des Strickens oder Stickens ihre Arbeiten einpacken und nach Hause gehen mussten. Wie anders zu Ende meiner Dienstzeit: Das Stundenausmaß war schon vor Jahren auf zwei Wochenstunden gekürzt worden, jedoch begannen manche Schülerinnen bereits nach zehn Minuten ihr Köfferchen wieder einzuräumen. Sie hätten keine Lust, meinten sie. Ausdauer und Konzentration waren wohl nicht nur auf diesem Gebiet zu Fremdwörtern geworden? Zu viel an Fernsehen, Computer, Freizeitstress? Keine Großmütter, die sich um das Seelenheil ihrer Enkel kümmerten, während die ­Eltern ihrem jeweiligen Broterwerb nachgingen?

Was hat sich im Berufsleben der Werklehrerin im Laufe der Zeit verändert? Vor meiner Zeit: Die Ausbildung zur Handarbeitslehrerin erfolgte in Form von Kursen. Es gab zur damaligen Zeit viele Frauen, die wunderschön sticken, nähen und dergleichen konnten. Sie hatten das alles von ihren Müttern und Großmüttern erlernt, denn es gehörte ganz einfach zum Alltag einer Frau. Sie erhielten in diesen Ausbildungskursen in erster Linie Anleitungen für den Unterricht. Später dauerte die Ausbildung zwei Jahre, in weiterer Folge drei Jahre. Den literarischen* Lehrern gegenüber wurde „das Handarbeitsfräulein“ jedoch meistens nicht besonders geachtet. Zu meiner Zeit: Ausbildung von vier Jahren – „Bildungsanstalt für Arbeitslehrerinnen“, sozusagen eine Ganztagsschule, da der praktische Teil enorm aufwändig war. Auch zur Hauswirtschaftslehrerin wurde man ausgebildet. Pädagogik und Praktika an 301

diversen Haupt-, Volks- und Sonderschulen waren eingebunden. Die Berufsbezeichnung lautete „Arbeitslehrerin“. Das Ansehen dieser Lehrerinnen – an manchen Schulen und auch in der Bevölkerung – hat sich leider nach wie vor nicht gravierend gebessert; der Verdienst ist, obwohl man als Arbeitslehrerin sehr viel vorbereiten muss, um einiges geringer. Neuerungen im Laufe der Zeit: - Zusatzprüfung für technische Werkerziehung; - neue Berufsbezeichnung: „Lehrer für Werkerziehung und Hauswirtschaft“; - allgemeine Stundenkürzungen: in Werkerziehung von drei auf zwei Stunden, in Hauswirtschaft von vier auf drei Stunden; - völliges Umkrempeln der Lehrpläne. Manches Nichtmehr-Zeitgemäße wurde über Bord geworfen, wie Stopfen von Socken, Einstückeln von Wäsche, Herstellen von Teigwaren, Blätterteig etc. Und was noch neu ist: Die Buben nehmen in der Volksschule ebenfalls an der textilen Werkerziehung teil, die Mädchen an der technischen. Auch für die Knaben der Hauptschule ist nun „Ernährung und Haushalt“ – es gibt nun wieder eine neue Bezeichnung für ein und denselben Gegenstand – verpflichtend. Was die Bezahlung angeht, hat man uns Werklehrer trotz der Zusatzprüfung wieder hintangereiht. Plötzlich gelingt den Religionslehrern – bislang in der Bezahlung mit uns gleichgestellt – in einer „Kurzvariante“ die Angleichung an die literarische Lehrerschaft. Für uns Werklehrer gilt es nach wie vor, eine vollständige Studienberechtigungsprüfung und ein Studium in einem Hauptfach (Deutsch, Englisch oder Mathematik) zu absolvieren, um eine gehaltsmäßige Angleichung zu erlangen, was nur den Wenigsten neben Berufs- und Familienalltag möglich 302

ist. Das hat mir persönlich schon Frust bereitet, denn ich arbeitete gut und gewissenhaft und oft über das von mir geforderte Maß hinaus: Organisation von Ausstellungen, Erstellen von Kochbüchern und dergleichen mehr. Gespräche mit Gewerkschaftsvertretern und diversen Politikern, die ich persönlich im Namen meiner Kolleginnen führte, versandeten in Versprechungen. Es war weiterhin keine finanzielle Besserstellung in Sicht. Die Werk- und Hauswirtschaftslehrerin ist wohl bereits ein Auslaufmodell? Eine Minderheitengruppe? Selbst unsere Frau Fachinspektor meinte auf meine höflich formulierte Anfrage, die Bezahlung und Gleichstellung betreffend, nur: „Na, dann wären Sie halt Religionslehrerin geworden!“ Stricken und anderes ist nicht mehr „in“, auch nicht das aufwändige Kochen. Die Kinderhände sind zudem – was die Feinmotorik angeht – nicht mehr trainiert. In den letzten Jahren lag der Schwerpunkt der Werkerziehung in alternativen Techniken wie Töpfern, Malen etc. In Hauswirtschaft hatten Konsumverhalten, Gesundheit und Ernährung sowie Partnerschaftsthemen Priorität. Generell hat sich in der Öffentlichkeit das Bild des Lehrers, was die Achtung und Wertschätzung betrifft, verändert und wird von der Politik wie auch von den Medien meines Erachtens dazu benutzt, um von so manchen Problemen abzulenken. Eltern wie Schüler vergreifen sich oftmals im Ton, wenn es gilt, mit dem Lehrer ein Gespräch zu führen. Direktoren schlagen sich wiederholt aus taktischen Überlegungen auf die Seite der Eltern (damit der Schülerstand erhalten bleibt; damit alle Lehrkräfte auch im folgenden Schuljahr beschäftigt werden können etc.). Die Gegenstände „Textile Werkerziehung“ und „Ernährung und Haushalt“ gibt es heute nur mehr als Zusatzgegenstände, und sie werden auf Basis Pflichtschullehrerausbildung gelehrt. 303

Erst neulich unterhielt ich mich mit einer Volksschuldirektorin, die mir mit Besorgnis berichtete: Eine Studentin der ­Pädagogischen Akademie, die im Zuge der Landschulpraxis bei einer „alten“ Werklehrerin hospitierte, war völlig frustriert, da sie bislang in ihrer Ausbildung noch gar nichts dergleichen Brauchbares erlernt hätte. Okay, heute gibt es andere Prioritäten. Man kauft sich billige Kleider und Pullis. Man kauft sich Halb- und Fertigmahlzeiten und: Man hat ja keine Zeit …

Mein Weg: Ich musste vor einigen Jahren krankheitsbedingt in Frühpension gehen. 62 Prozent meines früheren Gehalts und eine recht magere Witwenpension sorgen für meine Eigenständigkeit. Ich denke gerne an meine Arbeit mit den Kindern und ­Jugendlichen zurück. An die Gemeinschaft mit den Kolleginnen und Kollegen. Ich genieße es nun, Zeit zu haben, vor allem zum Malen und Schriftstellern.

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1. Helene Schreivogl (1. Reihe, Mitte) mit Arbeitskolleg/inn/en in der Konsum-Filiale am Stockholmer Platz in Wien-Favoriten

2. Innenansicht der Konsum-Filiale an einem Silbernen Sonntag (beide Aufnahmen um 1953)

3. Schwestern der Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof bei der ­Pensionierungsfeier einer Kollegin …

4. … und beim Aufmarsch zum Ersten Mai in der Wiener Innenstadt (beide Aufnahmen um 1954)

5. Gertrude Litschauer als Angestellte der Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof bei einem Ausflug mit Patientinnen … (um 1956)

. … und am EEG-Gerät der Einrichtung (um 1963)

7. Josef Ladstätter (rechts) als Gendarmerieschüler auf der ZweierWache in der Wiener Rennwegkaserne (Neujahrsmorgen 1956) …

8. … als Teilnehmer (1. Reihe, 4. von links) eines Rhetorikseminars für Betriebsräte im A.-Hueber-Haus in Hadersdorf bei Wien (1957) …

9. … und als Kommissär des Wiener Marktamts (im Hintergrund) mit dem Abteilungsleiter (1964)

10. Hans Königsberger bei der Arbeit an einem Zählerkasten (um 1967) …

11. … und mit einer Arbeitskollegin während der Umbauarbeiten im Seminar- und Urlaubshotel der Wiener Arbeiterkammer nahe Hainfeld im südlichen Niederösterreich (1987)

12. Stefan Reitgruber (2. von links) mit Kollegen anlässlich der Montage des letzten LKWs im Gräf-&-Stift-Werk in Wien-Döbling (1971)

13. Blick auf das 1916/17 errichtete und 1983 geschliffene Werks­ gebäude der Gräf-&-Stift-Automobilfabrik in der Weinberggasse in Wien-Döbling

14./15. Elfriede Hochher (kleines Bild, links) und andere Arbeiter/innen, darunter die ersten „Gastarbeiter“ aus Jugoslawien, verbringen die Mittagspause auf dem Werksgelände der Fa. Zizala in Wieselburg, Niederösterreich (um 1965)

16. Elfriede Hochher bei einer ihrer ersten Röntgenaufnahmen in der Unfallambulanz eines niederösterreichischen Spitals (1968)

17./18. Innen- und Außenansicht der Filiale Heiligenstadt der Julius Meinl AG im Karl-Marx-Hof in Wien-Döbling; Peter Lhotzky (2. von links) als Lehrling und das übrige Personal der Filiale (um 1963)

19. Innenansicht einer Drogerie in Lambach, Oberösterreich, in der Gerlinde Krasser-Weinberger nach Abschluss ihrer Drogistenlehre beschäftigt war (um 1967)

20. Peter Ulrich Lehner als Schadensreferent der Wiener Städtischen Versicherung an seinem Schreibtisch im Wiener Ringturm (1968)

21. Therese Schwarz vor einer neuen Kugelkopfschreibmaschine in einem Büro in Luzern (1970) …

22. … und als Privatsekretärin mit dem Rechtsanwalt ihres Dienst­ gebers in Hamburg (1976)

23. Gerlinde Krasser-Weinberger während ihrer Tätigkeit als selbständige Galeristin (1981) …

24. … und an ihrem Schreibtisch in der Donau-Universität Krems (2011)

25. Früh übt sich … die spätere Arbeits-, Werkerziehungs- und Hauswirtschaftslehrerin Stefanie Roßmanith (um 1965)

26. Stefanie Roßmanith mit Schülerinnen und Schülern der Hauptschule Kindberg, Steiermark (2002)

27. „Und wieder einmal übersiedelt – der Blick auf dem großen Arbeitsplan an der Wand, der Schreibtisch voll mit ‚Altlasten’ vom Vorgänger“; Karl Schmutz am Tag des Dienstantritts in der Bahnmeisterstelle Gmünd in Niederösterreich (1985) …

28. … und beim „Blick ins Gleis“ – beiläufige Höhen- und Richtungskontrolle der Geleise während einer Streckenbegehung (um 1988)

29. Eduard Giffinger im Gespräch bei einer Kundgebung des ÖGB anlässlich eines internationalen Aktionstages des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB) auf dem Wiener Schwedenplatz (2008)

Glossar 1934 (12. Februar 1934) – zwischen 12. und 15. Februar 1934 kam es, nachdem die Regierung Dollfuß seit März 1933 zunehmend autoritär regierte, zum Widerstand des sozialdemokratischen Republikanischen Schutzbundes gegen seine geplante Entwaffnung; Zentren dieses „Februaraufstands“ waren Städte und Industrieregionen in Oberösterreich und der Steiermark, in Wien formierte sich der bewaffnete Widerstand vor allem in Gemeindebauten; die Kämpfe zwischen Aufständischen und regierungstreuen Truppenverbänden forderten insgesamt mehrere hundert Tote und mehr als 1000 Verletzte. 95er-Gewehre – das Repetiergewehr Mannlicher Modell 1895 wurde für die österreichisch-ungarische Armee entwickelt und kam besonders vor und im Ersten Weltkrieg zum Einsatz; in verkürzter und modernisierter Form war es auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch für Ausbildungszwecke in Verwendung. AKH – Allgemeines Krankenhaus der Stadt Wien; der Neubau des AKH am Währinger Gürtel erstreckte sich in mehreren Bauabschnitten von 1968 bis zur offiziellen Eröffnung der zentralen Bettentürme im Jahr 1994; eine Explosion der Baukosten führte 1980 zur Aufdeckung eines gigantischen Schmiergeldskandals rund um den verantwortlichen technischen Direktor. AMS – Arbeitsmarktservice; mit dem Arbeitsmarktservicegesetz vom 1. Juli 1994 wurde die Arbeitsmarktverwaltung aus dem Bundesministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales ausgegliedert und die Aufgaben des früheren Arbeitsamts (Stellenvermittlung, Beratung und Qualifizierung von Arbeitskräften usw.) dem AMS als 305

Dienstleistungsunternehmen öffentlichen Rechts übertragen. angerührt – persönlich betroffen, beleidigt Anlassigkeiten – Zudringlichkeiten Annental – auf dem Gut Annental in Ramsau nahe Hainfeld im niederösterreichischen Mostviertel betrieb die Wiener Arbeiterkammer in den Jahren 1954 bis 2001 ein Erholungsheim und Seminarhotel für ihre Mitglieder. In den darauffolgenden Jahren wurde das Gelände samt Gebäuden an private Investoren verkauft und in ein Tourismuszentrum mit Schwerpunkt Golfsport umgewandelt, dessen Betrieb 2009 wieder eingestellt wurde. Arbeitermittelschule – 1925 begründete der Stadtschulrat für Wien einen „Mittelschulkurs“, der Berufstätigen in Abendkursen den Weg zur Reifeprüfung ermöglichen sollte; im Zuge der Schulreform der Jahre 1927/28 wurde diese Ausbildungsform als „Arbeitermittelschule“ institutionalisiert und in mehreren Landeshauptstädten entsprechende Lehrgänge eingerichtet; nach 1945 von den Sozialpartnern unter demselben Namen neu gegründet, besteht die Schulform in Wien bis heute als Bundesgymnasium, Bundes­realgymnasium und Wirtschaftskundliches Realgymnasium für Berufstätige (Abendgymnasium) am Henriettenplatz im 15. Bezirk. Arbeitsstiftung – arbeitsmarktpolitische Maßnahme aus Anlass eines bevorstehenden größeren Personalabbaus in einem Unternehmen; sie zielt auf frühzeitige Unterstützung der zur Entlassung vorgesehenen Arbeitskräfte bei der Wiedererlangung eines Arbeitsplatzes durch Beratung, Aus- und Weiterbildung, Unterstützung bei Unternehmensgründung usw. Arena – Gelände im Bereich des ehemaligen Auslandsschlachthofes im Wiener Stadtteil St. Marx, das im Juni 1976 vor allem von Kulturinitiativen und Jugendgruppen 306

besetzt wurde, um Verbauungsplänen der Stadt Wien entgegenzutreten und ein ständiges selbstverwaltetes Kulturzentrum zu errichten; die Besetzung endete nach drei Monaten mit dem Kompromiss, dass die Stadtverwaltung nahe gelegene andere Baulichkeiten zur Verfügung stellte, in denen sich das gleichnamige heutige Veranstaltungszentrum etablierte. Artaker – Die „Franz Artaker Feine Wurstwaren und Delikatessen Gmbh“ wurde 1952 in den Julius-Meinl-Konzern integriert; die Filialen waren spezialisiert auf Delikatessen aller Art und wurden unter gleichem Namen weitergeführt. atü – abgekürzt für: Atmosphäre Überdruck; ältere Maßeinheit für den Luftdruck; 1 atü = 0,981 bar Ausmusterung – Abschluss einer militärischen Ausbildung Bogen (blauer Bogen) – Gebäudeteil des Karl-Marx-Hofes, der im Zuge der mehrtägigen militärischen Auseinandersetzungen zwischen dem Republikanischen Schutzbund und regimetreuen Truppen des austrofaschistischen Ständestaats am 13. Februar 1934 durch Artilleriebeschuss der Heimwehr schwer beschädigt wurde Brüder Kunz – 1877 in Graz gegründetes, durch den Handel mit Kaffee groß gewordenes und in den Jahren 1935/36 von der Julius Meinl AG übernommenes Handelsunternehmen; der Großteil der damals 79 Verkaufsfilialen, die tendenziell auf ein weniger kaufkräftiges Publikum ausgerichtet waren als die Meinl-Geschäfte, wurde bis in die 1970er Jahre unter demselben Firmennamen weitergeführt. Buckel – hier: Rücken Budelhupfer – scherzhafte Bezeichnung für Verkäufer (Budel = Verkaufstisch, Tresen) büffeln – unter großen Anstrengungen arbeiten oder lernen, malochen Caritas-Schule – hier: einjährige hauswirtschaftsbezogene Ausbildung für Pflichtschulabsolventinnen mit Praxisbe307

zug durch halbtägige Mitarbeit in bedürftigen Familien; außerdem bestand die Möglichkeit, in einem zusätzlichen Ausbildungsjahr den Hauptschulabschluss nachzuholen. Celje – deutsch: Cilli, Stadt in Slowenien dBase – in den 1980er und 1990er Jahren weit verbreitetes Datenbankmanagementsystem Deka(gramm) – in Österreich gebräuchliches Gewichtsmaß (10 Deka = 100 Gramm) Dittrich – Lebensmittelhandelsunternehmen mit 28 Filialen in Wien, die 1967 in den Besitz der Julius Meinl AG übergingen und großteils unter dem Namen „Brüder Kunz“ weitergeführt wurden Ehemalige – frühere Mitglieder der NSDAP oder einer ihr nahestehenden Organisation vor 1945; manche Berufsfelder, vor allem der öffentliche Dienst, waren dieser Personengruppe in den ersten Nachkriegsjahren verschlossen. Eigentum (deutsches) – Laut Beschluss der Potsdamer Konferenz vom 1. August 1945 konnten alle Besitztümer auf österreichischem Staatsgebiet, die sich zu mindestens 10 Prozent im Besitz des Dritten Reiches befunden hatten, von den Besatzungsmächten als „deutsches Eigentum“ deklariert werden und fielen somit unter deren – in diesem Fall unter sowjetische – Verwaltung. eingeteilte (Beamte) – die Exekutivbeamten des ab 1869 und bis zur Polizeireform des Jahres 2005 bestehenden Bundessicherheitswachekorps (Sicherheitswache) waren hierarchisch untergliedert in die drei Kategorien der eingeteilten, dienstführenden und leitenden Beamten; nach mindestens fünfjähriger Dienstzeit (mit abgelegter Matura früher) konnten eingeteilte Beamte nach entsprechender Ausbildung in die höheren Chargen aufrücken. Ersttagsatzungen – Als Erste oder – laut aktueller Zivilprozessordnung von 2003 – vorbereitende Tagsatzung wird in Zivilrechtsverfahren das erste Aufeinandertreffen der 308

Streitparteien vor Gericht bezeichnet, das zu Prozessbeginn lediglich der Klärung von Formalfragen bzw. einem Vergleichsversuch dienen soll. Eternit – im Jahr 1900 von Ludwig Hatschek entwickelter wasserundurchlässiger, feuerfester und relativ leichter Baustoff aus Faserzement für Dächer und Wandverkleidungen; die anfangs im Produkt enthaltene Asbestpappe wird wegen der seit Mitte der 1970er Jahre bekannten gesundheitsschädlichen Wirkung von Asbest heute nicht mehr verarbeitet; der Hauptsitz der Eternit-Werke Ludwig Hatschek AG, die seit 2010 im Besitz eines Schweizer Unternehmens ist, befindet sich in Vöcklabruck in Oberösterreich. FCG – Fraktion Christlicher Gewerkschafter; traditionell dem ÖAAB (Österreichischer Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerbund) als Teilorganisation der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) nahestehende Gewerkschaftsfraktion, deren Politik sich an der christlichen Soziallehre orientiert Frischg’fangter – Anfänger, Greenhorn G. A. Scheid’sche Affinerie – von Georg Adam Scheid (1837– 1921) 1884 in Verbindung mit seiner schon seit den 1860er Jahren bestehenden Gold- und Silberwarenerzeugung in Wien gegründetes Unternehmen zur Trennung bzw. Verfeinerung von Edelmetallen; durch Fusion entstand 1962 das Unternehmen ÖGUSSA (Österreichische Gold- und Silber-Scheideanstalt) GAP, GPA – Die Gewerkschaft der Angestellten der Privatwirtschaft (GAP) wurde im April 1945 gegründet; ab 1962 trug die größte Teilgewerkschaft innerhalb des Österreichischen Gewerkschaftsbundes (ÖGB) die Bezeichnung Gewerkschaft der Privatangestellten (GPA) bis zur Fusion mit der Gewerkschaft Druck, Journalismus, Papier zur heutigen GPA-djp im Jahr 2007. Gmoser, Rupert (1931–2008) – Abgeordneter der SPÖ zum Bundes- und Nationalrat (1978–1994); davor Referent und 309

Leitender Sekretär der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Steiermark; Leiter der Otto-Möbes-Volkswirtschaftsschule (1958–1994) Goldener (bzw. Silberner) Sonntag – letzter (bzw. vorletzter) Sonntag vor dem ersten Weihnachtsfeiertag, an denen Geschäfte geöffnet waren und Märkte abgehalten werden konnten; das Ende dieser Tradition, 1960/61, ging mit einer Erweiterung der Samstagsöffnungszeiten, also der Einführung der langen Einkaufssamstage in der Vorweihnachtszeit einher. Gräf & Stift – 1904 gegründetes österreichisches Unternehmen zur Herstellung von Automobilen und Nutzfahrzeugen (LKWs, Busse) mit Produktionsstätten in den Wiener Stadtteilen Döbling und Liesing; 1971 Fusion mit der ­Österreichischen Automobil Fabriks-AG zur ÖAF Gräf & Stift AG sowie Übernahme durch MAN (Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg). Haas-Haus – Gebäude in der Wiener Innenstadt gegenüber dem Stephansdom; anstelle des gegen Kriegsende zerstörten ursprünglichen Warenhauses der Firma „Philipp Haas & Söhne“ wurde in den Jahren 1951–53 ein Neubau errichtet, der wie das heutige, von Hans Hollein geplante und 1990 eröffnete Gebäude zahlreiche Geschäftslokale und Gastronomiebetriebe beherbergte. Hackethal, Julius (1921–1997) – deutscher Chirurg und Autor, bekannt für seine Befürwortung der Sterbehilfe und seine Kritik an der Kollegenschaft wegen ärztlicher Kunstfehler und diverser schulmedizinischer Praktiken Hacklerregelung – Diese Ausnahmebestimmung im Rahmen der österreichischen Pensionsreform des Jahres 2003 besagt, dass langzeitversicherte Arbeitnehmer/innen, die im Verlauf ihres Erwerbslebens 45 (Männer) bzw. 40 Versicherungsjahre (Frauen) erreicht haben, vor dem Regelpensionsalter von 65 bzw. 60 Jahren ihre Pension antreten können; eine zweite 310

Form dieser Sonderbestimmung besteht für Schwerarbeiter/ innen (umgangssprachlich als „Hackler“ bezeichnet). Heufadeln – Heufuhren, Fuder Hollerithmaschinen – Verfahren der Datenerfassung, -speicherung und -auswertung mittels Lochkarten, das sind Datenträger aus Spezialpapier, in die ein Lochcode gestanzt wird; das nach seinem deutsch-amerikanischen Erfinder Herman Hollerith (1860–1929) benannte Verfahren wurde erstmals in den USA bei der Volkszählung des Jahres 1890 in großem Maßstab eingesetzt. Holztragerl – kleineres Tragebehältnis aus Holz Homburg – seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ursprünglich in einer Hutfabrik in Bad Homburg, erzeugter eleganter Herrenhut aus Filz mit breiter, leicht aufgebogener und eingefasster Krempe HTL – Höhere Technische Lehranstalt; berufsbildende höhere Schule für technische Fachrichtungen Jeunesse – hier: Jugendliche aus begüterten Familien mit Hang zu einem aufwändigen, luxus- und vergnügungsorientierten Lebensstil (Jeunesse dorée) Judengasse – in der Wiener Innenstadt gelegene Gasse mit zahlreichen jüdischen Geschäften, in denen Kleidung relativ günstig oder auch gegen Ratenzahlung gekauft werden konnte Jugend am Werk – vom Jugendamt der Stadt Wien 1945 gegründete und in Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Gewerkschaftsbund ausgebaute Einrichtung, die Jugendlichen ohne Lehrplatz zur Überbrückung der beschäftigungslosen Zeit berufliche Vorbereitungs- und Ausbildungskurse anbot; seit 1957 wird Jugend am Werk als gemeinnütziger Verein geführt, der sich verstärkt auch um die Schul- und Berufsbildung bzw. um Beschäftigungsmöglichkeiten für geistig und mehrfach behinderte Jugendliche bemüht. 311

Jumei – Kinderzeitschrift der Julius Meinl Gmbh, in der Abenteuer des kleinen Mohren Jumei im Comics-Stil erzählt wurden Junge Generation – 1958 als Verein gegründete Interessensvertretung der 18- bis 38-Jährigen innerhalb der Sozialistischen (seit 1991 Sozialdemokratischen) Partei Österreichs (SPÖ); heute eines von sechs Referaten der SPÖ (neben Bildung, Frauen, Jugendarbeit-Kinderfreunde u. a.) Jusos – Kurzform für: Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) Kanevas – Bezeichnung für verschiedene feste Leinengewebe Kaps – kesselartiger Behälter, in unterschiedlichen Funktionen vor allem im Spitalsbereich eingesetzt Käs, Ferdinand (1914–1988) – war als Oberfeldwebel der deutschen Wehrmacht an einer militärischen Widerstandsgruppe beteiligt, die 1945 die kampflose Übergabe Wiens an die anrückende Rote Armee erreichen wollte; danach Gendarmerieoberleutnant, Kommandant der Gendarmerieschule, Sektionschef im österreichischen Innenministerium. Kleiderrechen – mehrere nebeneinander angebrachte Kleiderhaken, Wandgarderobe Koenig, Prof. Otto Koenig (1914–1992) – österreichischer Zoologe, Verhaltensforscher und Schüler von Konrad Lorenz, gründete 1945 am Stadtrand Wiens die anfangs privat finanzierte Biologische Station Wilhelminenberg, die 1967 in die Österreichische Akademie der Wissenschaften integriert wurde; heute: Konrad Lorenz Institut für Vergleichende Verhaltensforschung. Kokskorb – korb- oder kübelförmiger Behälter aus Metallstäben als offene Feuerstelle bzw. Wärmequelle im Freien Lainz-Skandal – Im Frühjahr 1989 wurden vier Stationsgehilfinnen im Wiener Krankenhaus Lainz (heute Krankenhaus 312

Hietzing) einer jahrelangen Mordserie an einer größeren Zahl von (erwiesenermaßen mehr als 40) pflegebedürftigen älteren Patientinnen und Patienten überführt. In der öffentlichen Diskussion um die Geschehnisse wurden Missstände in der Pflegeorganisation für die Taten mitverantwortlich gemacht, während die Täterinnen ihr Handeln teilweise als „Sterbehilfe“ verstanden wissen wollten. Lavoir – Waschschüssel Lebensmittelbewirtschaftung – System der staatlichen Reglementierung des Handels mit Lebensmitteln (oder anderen wichtigen Gebrauchsgütern) in Notzeiten, insbesondere durch ein System der kontrollierten Abgabe über Lebensmittelmarken bzw. -karten Leibesübungen (Hauptabteilung für Leibesübungen) – vermutlich: Deutscher Reichsbund für Leibesübungen bzw. Nationalsozialistischer Reichsbund für Leibesübungen; ebenso wie politische Parteien wurden auch sämtliche bestehenden Sportverbände im Dritten Reich verboten oder verloren ihre Eigenständigkeit; weiterbestehende Verbände wurden dieser Dachorganisation eingegliedert und einem Reichskommissar für Turnen und Sport unterstellt. linke (Seite) – Kehrseite Linotype-Satz – 1886 erfundene Setzmaschine, bei der – im Unterschied zum Monotype-Satz – ganze Zeilen statt einzelnen Lettern gegossen werden; während letzteres System eher im Buchdruck eingesetzt wurde, fand der LinotypeSatz vor allem im Zeitungssatz Verwendung. literarische (Lehrer/innen) – verallgemeinerte Bezeichnung für sämtliche Pflichtschullehrer/innen mit Ausnahme der bis in die 1980er Jahre in eigenen Bildungsanstalten für Arbeitslehrer/innen ausgebildeten Fachkräfte für Werkerziehung und Hauswirtschaft sowie Religionslehrer/innen. Lobau – am südöstlichen Stadtrand von Wien und nördlich der Donau gelegenes Augebiet, das seit den 1920er Jahren 313

auch als Naherholungs- und Badegelände genutzt wird Mandlkalender – seit etwa 300 Jahren bestehender Bauernkalender mit Wettervoraussagen und zahlreichen Abbildungen, unter anderem von kleinen Heiligenfiguren („Mandln“) Michlkalender – Reimmichls Volkskalender, seit 1925 erscheinende Sammlung von literarischen und volkskund­ lichen Texten mit einem Kalendarium, benannt nach seinem ersten Herausgeber, dem Tiroler Pfarrer und Volksdichter Sebastian Rieger alias Reimmichl (1867– 1953). Monotype-Satz – 1897 entwickelte Setzmaschine, bei der – im Unterschied zum Linotype-System – nicht ganze Zeilen, sondern einzelne Lettern gegossen werden Muhri, Franz (1924–2001) – Vorsitzender der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) zwischen 1965 und 1990 NEWAG – Niederösterreichische Elektrizitätswirtschafts AG, gegründet 1922 mit dem Ziel, ein landesweites Netz der Elektrizitätsversorgung aufzubauen; seit 1987 EVN (Energie-Versorgung Niederösterreich AG) ÖAF – Österreichische Automobil Fabriks-AG; die Herstellung von Nutzfahrzeugen, vor allem LKWs, in der Produktionsstätte in Wien-Floridsdorf stand nach 1945 als USIA-Betrieb unter sowjetischer Verwaltung, ab 1955 unter Verwaltung des österreichischen Staates; im Zuge der Reprivatisierung erfolgte 1971 einerseits die Übernahme durch die Firma MAN (Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg) andererseits die Fusion mit der Firma Gräf & Stift zur ÖAF Gräf & Stift AG, die vor allem LKWs, Busse und Militärfahrzeuge herstellte; seit 2004: MAN Nutzfahrzeuge Österreich AG. ÖFB – Österreichischer Fußballbund; seit 1955 hat dieser seinen Sitz im „Haus des Österreichischen Fußballs“ in der Mariahilfer Straße 99. Ökonomie – hier: landwirtschaftlicher Betrieb 314

Otto-Bauer-Kreis – In Anlehnung an Aspekte der austromarxistischen Theorie von Otto Bauer (1881–1938) und aufbauend auf Konferenzen der Sozialistischen Jugendinternationale (YUSI) wurden in den 1980er Jahren von Mitgliedern der SPÖ-Jugendorganisationen in Wien mehrere Treffen mit Vertreter/inne/n sozialistischer und reformkommunistischer (damals als „eurokommunistisch“ bezeichneter) Parteien aus anderen europäischen Ländern (v. a. Italien, Frankreich, Deutschland) veranstaltet, in deren Mittelpunkt die theoretische Auseinandersetzung mit dem Konzept eines „dritten Weges“ zum demokratischen Sozialismus (zwischen europäischer Sozialdemokratie und Sowjetkommunismus) stand. Parere – amtsärztliches Gutachten, das die Einlieferung einer Person in eine psychiatrische Anstalt ermöglicht Pepper, Hugo (1920–2011) – österreichischer Widerstandskämpfer, Autor und Volksbildner, Bildungsreferent des Österreichischen Gewerkschaftsbundes von 1951 bis 1962 Phönix-Krach – Das auf Lebensversicherungen spezialisierte österreichische Versicherungsunternehmen Phönix zählte europaweit zu den führenden Instituten der Branche, bis nach dem Tod seines langjährigen Generaldirektors Wilhelm Berliner im Februar 1936 horrende Bilanzfälschungen des Unternehmens ebenso offenkundig wurden wie Schmiergeldzahlungen an Vertreter der Presse und des austrofaschistischen Regimes zur Vertuschung der realen wirtschaftlichen Lage des Unternehmens. Psychosozialer Dienst (PSD) – heute: Psychosoziale Dienste; 1979 im Zuge der Psychiatriereform gegründetes Netzwerk von ambulanten Beratungs-, Behandlungs- und Rehabilitationseinrichtungen für eine umfassende sozialpsychiatrische Grundversorgung in Wien Quetschn – kleine Firma, kleines Lokal oder Geschäft Rasenstadt – zeitgenössische Bezeichnung einer 1929 bis 1931 erbauten Wohnsiedlung mit großflächigen Grünanlagen 315

an der Raxstraße in Wien-Favoriten; heute Johann-Mithlinger-Siedlung REFA-Ausbildung – Der Verband für Arbeitsgestaltung, Betriebsorganisation und Unternehmensentwicklung (REFA) zielt statutengemäß auf eine Förderung von Wissenschaft und Bildung in den genannten Unternehmensbereichen, auf die Erhaltung einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft, Verwaltung und Dienstleistung sowie die Förderung und Weiterentwicklung der menschengerechten Arbeit ab; dabei stützt man sich auf eine Methodenlehre der branchenunabhängigen Gestaltung, Messung, Kontrolle und Bewertung betrieblicher Abläufe. Reichsarbeitsdienst (RAD) – ab dem 1. Oktober 1939 bestand unter dem NS-Regime Arbeitsdienstpflicht für alle ledigen Männer und Frauen zwischen 17 und 25 Jahren; das heißt, sie wurden für die Dauer von einem halben Jahr zu verschiedenen kriegsunterstützenden Arbeiten, etwa in der Landwirtschaft oder im Straßenbau, herangezogen. Ab Juli 1941 wurde für die Frauen zusätzlich ein sechsmonatiger sogenannter Kriegshilfsdienst eingeführt. Reiter – hier: Firstziegel bzw. Firstabdeckung relegiert – ausgeschlossen; hier: von der früheren beruflichen Tätigkeit im öffentlichen Dienst ausgeschlossen, und zwar aufgrund der Mitgliedschaft bei der NSDAP oder einer der mit ihr verbundenen Organisationen in den Jahren vor 1945; laut einem Folgegesetz zum „Verbots- und Kriegsverbrechergesetz“ von 1945 mussten sich ehemalige Nationalsozialisten in Österreich registrieren lassen und wurden nach dem Grad ihrer Verstrickung in NS-Verbrechen in „Kriegsverbrecher“, „Belastete“ und „Minderbelastete“ bzw. Mitläufer unterteilt und unter anderem mit Berufsverbot und Entzug des Wahlrechts bestraft. Riesel – feiner Rundkies 316

Roigk – ehemals großer Gebrauchtmaschinenhändler mit Firmensitz in Wien-Floridsdorf Röntgensäcke – größere, stärkere Papierumschläge, in denen Röntgenbilder aufbewahrt werden Rudas, Stefan (1944–2010) – österreichischer Psychiater und Neurologe; als Psychiatriebeauftragter der Stadt Wien initiierte und gestaltete er wesentlich die Psychiatriereform und begründete 1979 den Psychosozialen Dienst (heute Psychosoziale Dienste), dem er bis 2009 vorstand. Salesianum – Einrichtung der Ordensgemeinschaft Salesianer Don Boscos im dritten Wiener Gemeindebezirk, Hagenmüllergasse 31; neben dem heute immer noch bestehenden Schüler- und Studentenheim bot der in der Jugendsozialarbeit stark engagierte Orden auch Kindern und Jugendlichen aus der Umgebung verschiedene Aufenthalts- und Freizeitmöglichkeiten. Saurer – Österreichische Saurerwerke AG; in diesem Unternehmen in Wien-Simmering wurden zwischen 1906 und 1969 vor allem LKWs, Autobusse und Militärfahrzeuge hergestellt. schiach – dialektal für: hässlich Schicht – eigentlich: Georg Schicht AG; das unter diesem Namen bis 1929 bestehende Unternehmen nahm 1848 in Böhmen als Seifensiederei seinen Anfang und erzeugte neben der bekannten Hirsch-Seife auch Kerzen, Glycerin oder Margarine; im Besitz des Unternehmens befanden sich außerdem Kohlebergwerke, Kraftwerke und eine Maschinenfabrik; 1929 ging aus einer Fusion mit neun weiteren Unternehmen der Konzern Unilever Österreich hervor. Schmock – hier: übertriebene Zurschaustellung von Reichtum; neureiches Gehabe Schufterei – kräfteraubende, unangenehme Arbeit, Plackerei schupfen – hier: (zu)werfen SJ – offiziell: SJÖ; Sozialistische Jugend Österreichs; im De317

zember 1946 wieder gegründete Jugendorganisation der Sozialistischen (seit 1991 Sozialdemokratischen) Partei Österreichs Sozialakademie – hier: zehnmonatiger Lehrgang der Wiener Arbeiterkammer für Arbeitnehmerinteressensvertreter/innen; Ausbildungsziel ist es, „jene Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln, die für eine kompetente und effiziente Vertretung von Arbeitnehmerinteressen auf betrieblicher und überbetrieblicher Ebene erforderlich sind“ (http:// wien.arbeiterkammer.at/online/sozialakademie-6393. html). Spiauter – Metalllegierung aus Zinn, Zink und Blei, die häufig für Plastiken verwendet wurde; im 19. Jahrhundert auch als Bezeichnung für Zink gebräuchlich. Staahof – mundartlich für: Am Steinhof; psychiatrisches Krankenhaus der Stadt Wien Staffel – Schnittholz von mittlerer Stärke; Querstreben Stanitzel – kleinere, unten spitz zulaufende Papiertüte zum Einfüllen von Einkaufsgut Stencil – englisch für: Matrize; Texte, die mit besonderer Tinte auf ein speziell beschichtetes Papier aufgetragen wurden, konnten mittels eines Hektographen (wörtlich: Verhundertfacher; auch Matrizendrucker, Spiritusdrucker) in nicht allzu großer Zahl vervielfältigt werden; das seit Anfang des 20. Jahrhunderts verbreitete System wurde ab den 1970er Jahren durch die moderne Fotokopiertechnik zurückgedrängt. Sternspucker – Wunderkerze, Spritzkerze, Sternspritzer streblich – leicht verdorben, übelriechend Struppe – Karl Struppe Gmbh; das eher auf gehobene Kundschaft ausgerichtete Lebensmittelhandelsunternehmen mit Filialen vor allem in den Wiener Innenbezirken wurde in den 1960er Jahren von der Julius Meinl AG übernommen. Stückmeister – Handwerksmeister, der zu Hause oder in ei318

ner eigenen Werkstatt Auftragsarbeiten (hier für ein großes Kleiderhaus) erledigt und nach gefertigten Stücken entlohnt wird Thea – erste österreichische Margarinemarke, wird seit 1923 im Unilever-Werk in Wien-Atzgersdorf hergestellt tribüne – zwischen 1977 und 1988 monatlich erscheinende „Zeitschrift von Sozialisten für Sozialisten“, herausgegeben von einem Kreis von Personen aus Jugendorganisationen der SPÖ; sollte als Plattform für die kritische Auseinandersetzung mit politischen Inhalten und aktuellen Entwicklungen in der Mutterpartei dienen. Unilever – britisch-niederländischer Mischkonzern, dessen Produktpalette von Lebensmitteln über Haushalts-, Waschund Reinigungsmittel bis hin zu Körperpflegeprodukten und Kosmetika reicht Unterläufel – Person in untergeordneter Stellung, subalterner Beamter, niederer Angestellter USIA-Betrieb – Auf Basis der Beschlüsse der Potsdamer Konferenz vom 1. August 1945 wurden rund 300 Industriebetriebe in Ostösterreich von der sowjetischen Besatzungsmacht als ehemals „deutsches Eigentum“ deklariert und fortan der „Verwaltung des sowjetischen Eigentums in Österreich“ (УСИА/USIA) unterstellt und so dem Einfluss der österreichischen Regierung weitgehend entzogen. Versottung – durch die Kondensation von Verbrennungsgasen bedingte Durchdringung des Mauerwerks eines Kamins mit Feuchtigkeit, Schwefel u. a., was zu Fleckenbildung und üblem Geruch führen kann via ferrata – italienisch für: Klettersteig; durch Eisenklammern, -leitern oder -seile gesicherter Kletterweg im felsigen Gelände VSStÖ – Verband Sozialistischer Studentinnen und Studenten Österreichs; politische Fraktion in der österreichischen Hochschulpolitik; Vorfeldorganisation der SPÖ 319

Wäschekaps – verschließbarer Metallbehälter, der im Spitalsbereich zur Sterilisation von Wäschestücken verwendet wurde WG – abgekürzt für: Wohngemeinschaft; seit den 1970er Jahren verbreitete kollektive Wohn- und Lebensform Wiener Fleischwerke (WFW) – Das von der Stadt Wien betriebene fleischverarbeitende Unternehmen belieferte viele Wiener Spitäler und die Konsumgenossenschaft mit Fleisch- und Wurstwaren und verfügte über bis zu 80 Verkaufsfilialen, in denen auch Fleisch von minderer Qualität zu günstigen Preisen abgegeben wurde. WIFI – abgekürzt für: Wirtschaftsförderungsinstitut; Bildungseinrichtung der Wirtschaftskammer Österreich, insbesondere für die berufliche Weiterbildung Wörth – im Stadtteil St. Pölten-Wörth (ehemals Werke Wörth) befindet sich ein zentrales Ausbildungszentrum der Österreichischen Bundesbahnen

Bildnachweis Titelseite: Archiv der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien Rückseite: Erich Weinmüller; Fotosammlung der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, Universität Wien Die im Fototeil wiedergegebenen Aufnahmen (Abb. 1–28) stammen aus dem Privatbesitz der jeweils genannten Autorinnen und Autoren. Abb. 29: Archiv des ÖGB, Johann-Böhm-Platz 1, 1020 Wien.

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