Arbeit am Welträtsel: Religion und Säkularität in der Monismusbewegung um 1900 [1 ed.] 9783666364280, 9783525364284

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Arbeit am Welträtsel: Religion und Säkularität in der Monismusbewegung um 1900 [1 ed.]
 9783666364280, 9783525364284

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Christoffer Leber

Arbeit am Welträtsel Religion und Säkularität in der Monismusbewegung um 1900

Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit Herausgegeben von Miloš Havelka, Friedrich Wilhelm Graf, Przemysław Matusik und Martin Schulze Wessel

Band 17

Christoffer Leber

Arbeit am Welträtsel Religion und Säkularität in der Monismusbewegung um 1900

Mit 26 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Der Druck dieses Buches wurde ermöglicht durch einen Druckkostenzuschuss aus Mitteln des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierten Internationalen Graduiertenkollegs »Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts«. Zugl.: Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität München, 2019

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Blix, Ragnvald: Mbret Ostwald I. In: Simplicissimus 19, Nr. 12 (22.6.1914), S. 181 (Titelbild). © Ragnvald & Ida Blix Fond (Kopenhagen) Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-0955 ISBN 978-3-666-36428-0

Inhalt Einleitung: Walter Ulbricht in der Villa Medusa . . . . . . . . . . . . . . 7 1. Religion versus Wissenschaft: Zur Wirkmacht eines Konfliktnarrativs . . . . . . . . . . . . . . . 10 2. Monismus um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 3. Vielfältige Säkularitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 4. Quellen und Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 5. Kapitelstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 I. Weltanschauungskämpfe: Monismus und Dissens im langen 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . 47 1. Die Freireligiöse Bewegung im Kontext der 1848er-Revolution . . 47 2. Der naturwissenschaftliche Materialismus (1850er Jahre) . . . . 51 3. Ernst Haeckel und der Monistenbund (1870–1906) . . . . . . . . 55 4. Wilhelm Ostwalds Energetik (1890–1915) . . . . . . . . . . . . . . 76 5. Wahrheit und Vorhersage: Monistisches Wissenschaftsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . 93 II. Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität . . . . . . . 99 1. Die religiöse Frage im Monistenbund . . . . . . . . . . . . . . . . 100 2. »Schiboleth eines neuen Kulturkampfes«: Monistischer Antikatholizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 3. Die Jatho-Affäre: Protestantismus und monistischer Fortschrittsdiskurs . . . . . . 150 4. Demonstrierter Philosemitismus? Monisten vor der ›Jüdischen Frage‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 5. Zwischenfazit I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 III. Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung . . . . 183 1. Trennung von Staat und Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 2. »Komitee Konfessionslos«: Monismus und Kirchenaustrittsbewegung . . . . . . . . . . . . . 200

6 Inhalt 3. Eine Frage der Loyalität: Religion, politischer Eid und öffentliches Amt . . . . . . . . . . . 214 4. Trennung von Schule und Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 5. Zwischenfazit II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 IV. Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht . . . . . . . . 259 1. Moral ohne Gott: Die Neubestimmung der Ethik . . . . . . . . . 259 2. Natürliche Liebe: Monismus, Frauenbewegung und Sexualreform . . . . . . . . . . 283 3. Selbstbestimmter Tod: Monismus, Sterbehilfe und Rechtsreform . . . . . . . . . . . . . . 317 4. Weltliches Gedenken: Monismus, Feuerbestattung und Trauerkultur . . . . . . . . . . . 331 5. Zwischenfazit III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 V. Ausblick: Zum Nachleben des Monismus im 20. Jahrhundert . . . . 353 1. Der Erste Weltkrieg als Zäsur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 2. Entwicklungen nach 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 3. ­Haeckel und Ostwald in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446

Einleitung: Walter Ulbricht in der Villa Medusa Im Oktober 1960 reiste Walter Ulbricht (1893–1973), Staatsratsvorsitzender der DDR , anlässlich eines Jubiläums der Friedrich-Schiller-Universität nach Jena.1 Es war ein sonniger Herbstmorgen. Begleitet wurde Ulbricht von seiner Frau und dem Sekretär des Zentralkomitees Kurt Hager (1912–1998), der zum Chefideologen der SED aufgestiegen war. Pünktlich um neun Uhr erreichte der hohe Besuch die Villa Medusa im Herzen Jenas. »Junge Pioniere bestürmten ihn mit Blumen, Glückwünschen und Fragen«, hieß es über Ulbrichts Begrüßung im Bericht des SED-Organs Neues Deutschland.2 Die 1883 erbaute Villa Medusa war ursprünglich der Wohnsitz von Ernst Haeckel (1834–1919), einem der einflussreichsten Biologen des 19. Jahrhunderts. Nun, rund vierzig Jahre nach dem Tod Haeckels 1919, beherbergte die Villa das Ernst-Haeckel-Museum und Archiv sowie – daran angegliedert – das Institut für Geschichte der Zoologie der Friedrich-Schiller-Universität.3 Neben den Standorten Leipzig und Berlin war in Jena eines der wenigen Institute in der DDR angesiedelt, die sich auf die Wissenschaftsgeschichte spezialisiert hatten.4 Nachdem Georg Uschmann (1913–1986) am 1. November 1959 zum Direktor des Ernst-Haeckel-Hauses ernannt worden war, profilierte sich das Institut auf dem Gebiet der Biologiegeschichte.5 1 Die Friedrich-Schiller-Universität Jena feierte im Oktober 1960 den 15. Jahrestag ihrer Neueröffnung nach dem Zweiten Weltkrieg. 2 Wessel, Harald: Kolloquium in der »Villa Medusa«. In: Neues Deutschland (25.10.1960), 3. Im Folgenden werden direkte Zitate in ihrer ursprünglichen Schreibweise und Interpunktion beibehalten; Titel von Büchern, Zeitungen und Zeitschriften sowie Fremdwörter werden kursiv gesetzt; Hervorhebungen im Original werden gekennzeichnet. Bei Ausführungen zu historischen Akteuren wird (bis auf wenige Ausnahmen) das generische Maskulinum verwendet. 3 Hoßfeld, Uwe / Breidbach, Olaf: Biologie- und Wissenschaftsgeschichte in Jena: Das Ernst-Haeckel-Haus der Friedrich-Schiller-Universität. In: Hoßfeld, Uwe / Kaiser, Tobias / Mestrup, Heinz (Hg.): Hochschule im Sozialismus. Studien zur Geschichte der Friedrich-SchillerUniversität Jena (1945–1990). 2. Bd. Köln, Weimar, Wien 2007, 1181–1206, hier 1190. 4 Neben dem Ernst-Haeckel-Haus in Jena bildeten das Leipziger Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften sowie das Institut für Geschichte der Medizin an der Humboldt-Universität Berlin die wissenschaftshistorischen Zentren der DDR . Zur Wissenschafts- und Medizingeschichte in der DDR , vgl. Kästner, Ingrid: Das Leipziger Karl-Sudhoff-Institut und das Fach Geschichte der Medizin in der DDR . In: Medizinhistorisches Journal 49/1 (2014), 118–158. 5 Hoßfeld / Breidbach: Biologie- und Wissenschaftsgeschichte in Jena, 1190. Uschmann war seit 1967 Direktor des Archivs der Leopoldina. In seiner wissenschaftlichen Laufbahn veröffentlichte Uschmann mehrere Briefeditionen und Biographien zu Ernst Haeckel.

8  Einleitung: Walter Ulbricht in der Villa Medusa Das Haeckel-Haus in Jena erregte nicht ohne Grund die Aufmerksamkeit der

DDR-Spitze: Haeckel trug nicht nur zur Popularisierung des Darwinismus im

19. Jahrhundert bei; er stieg auch zum Spiritus rector einer bürgerlichen Freidenkerbewegung auf, die Gegenstand der folgenden Studie ist: die Monismusbewegung. Der 1906 in Jena gegründete Deutsche Monistenbund (DMB) verfolgte das Ziel, an die Stelle von Gottesglauben und Schöpfungslehre eine naturwissenschaftlich begründete Weltanschauung zu setzen. Über Polemiken, Vorträge und Kundgebungen versuchte er den Einfluss von Kirche und konservativen Kräften im wilhelminischen Deutschland zurückzudrängen. Haeckel verstand unter Monismus eine szientistische Einheitslehre, die den christlichen Dualismus – die Trennung von Körper und Seele, von Diesseits und Jenseits – überwinden sollte. Ulbricht sah in Haeckel vor allem einen Vordenker des staatlich angestrebten Atheismus in der DDR . Demnach verwundert es kaum, dass zuweilen Pläne diskutiert wurden, am Haeckel-Haus in Jena einen Lehrstuhl für wissenschaftlichen Atheismus einzurichten.6 Bei ihrem Rundgang durch das Museum musterten Ulbricht und seine Frau fasziniert die überlieferten Briefe, Skizzen und Notizhefte im ehemaligen Arbeitszimmer Haeckels. Ulbricht zitierte »schmunzelnd« aus einem Originalbrief Darwins an Haeckel, in dem es hieß, Haeckel solle sich nicht allzu sehr mit den »Feinden des Darwinismus« anlegen. Neben zahlreichen Lobeshymnen auf Haeckel zeugten einige Dokumente im Museum von »der inquisitorischen Gehässigkeit und der gleichen klerikalen Geistesenge, die heute in Adenauers Staatswesen wieder Triumphe feiert«, ergänzte der Bericht polemisch.7 Ulbricht, der Haeckel seit Jugendjahren verehrte, betonte bei seinem Besuch, dass man die »Unerschrockenheit, Kompromißlosigkeit und Wahrheitsliebe dieses großen Menschen« bekannter machen müsse: »Die Haltung und Weltanschauung Haeckels könnten auch den sozialistischen Studenten als Vorbild dienen.«8 Die Pamphlete und Drohbriefe, die von »reaktionären Dunkelmännern« der Kirche gegen ihn und seinen Monismus verfasst worden waren, rügte Ulbricht als den »Antikommunismus von damals«.9 In der Folge schlug er konkrete bildungspolitische Schritte vor, wie man die Vermittlung der Evolutionstheorie an Schulen verbessern könne. Es sei an der Zeit, hieß es, einen Lehrfilm über das Leben und Wirken Haeckels zu drehen; zudem müsse man Haeckels Bestseller Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie (1899) neu auflegen und ein populärwissenschaftliches Buch über die moderne Entwicklungslehre in Angriff nehmen, für das Ulbricht den Titel »Von Haeckel bis Oparin« vorschlug.10 6 Hoßfeld / Breidbach: Biologie- und Wissenschaftsgeschichte in Jena, 1190. 7 Wessel: Kolloquium. In: Neues Deutschland, 3, Sp. 2. 8 Ebd., 3, Sp. 2. 9 Ebd., 3, Sp. 2. 10 Ebd., 3, Sp. 3.

Einleitung: Walter Ulbricht in der Villa Medusa  9

Neben Haeckel wurde in der DDR ein zweiter Monist rezipiert, der im Mittelpunkt dieser Arbeit steht: Wilhelm Ostwald (1853–1932). Mitte der 1950er Jahre wendete sich der Ost-Berliner Wissenschaftshistoriker Friedrich Herneck ­(1909–1993) dem monistischen Werk Ostwalds zu. Der Chemiker und Nobelpreisträger Ostwald war zwischen 1911 und 1915 Vorsitzender des Monistenbundes und prägte eine eigene Spielart des Monismus, die den Energiebegriff ins Zentrum rückte: die Energetik. Zwischen Frühjahr und Sommer 1956 untersuchte Herneck im Wilhelm-Ostwald-Archiv im sächsischen Großbothen den Nachlass des Chemikers und Monisten.11 Herneck war bereits in seinen Jugendjahren mit dem Werk Haeckels und Ostwalds in Berührung gekommen. Nachdem er als Jugendlicher Haeckels Welträtsel gelesen und diese als »Wegweiser für seine weltanschauliche Orientierung« begriffen hatte, schloss er sich 1930 dem Monistenbund an. Die monistischen Monatsblätter und das DMB -Abzeichen wurden zur »äußerlichen Kennzeichnung seiner weltanschaulichen Gesinnung«, hieß es 1984 in einer Laudatio auf Herneck.12 Aus Hernecks Nachlass-Studien in Großbothen ging 1961 seine Habilitation zu Wilhelm Ostwalds »Kampf um die Verbreitung eines naturwissenschaftlich begründeten Weltbildes« hervor.13 Noch vor seiner Habilitation hatte Herneck einen kommentierten Quellenband herausgegeben, in dem antiklerikale Schriften des Leipziger Chemikers veröffentlicht wurden. Sein Band trug den bezeichnenden Titel Wissenschaft contra Gottesglauben.14 Offenbar richtete sich sein Buch nicht allein an Historiker, sondern auch an interessierte Naturwissenschaftler: So schickte er im Dezember desselben Jahres ein Exemplar an seinen westdeutschen Kollegen Walther Gerlach (1889–1979), der zwischen 1929 und 1957 Experimentalphysik an der Universität München lehrte.15 In der Einleitung zur Edition zeichnete Herneck Ostwald als einen unerschrockenen Kämpfer für die Emanzipation der Naturwissenschaften gegenüber dem

11 Chronik zu Friedrich Herneck. In: Wessel, Andreas / Herrmann, Dieter B. / Wessel, Karl-Friedrich (Hg.): Friedrich Herneck. Ein Leben in Suche nach Wahrheit. Berlin 2016, 419–426, hier 423. Im Ostwald-Archiv Großbothen entdeckte Herneck auch ein unveröffentlichtes Manuskript einer Autobiographie von Ernst Mach aus dem Jahr 1913. 12 Wessel, Karl-Friedrich: Laudatio auf Friedrich Herneck. In: Schulze, Dieter / Wendel, Günter / Wessel, Karl-Friedrich / Scholz, Hartmut (Hg.): Wissenschaftshistorisches Kolloquium anläßlich des 75. Geburtstages von Prof. em. Dr. habil. Friedrich Herneck. Berlin 1984, 3–10, hier 5. 13 Herneck, Friedrich: Der Chemiker Wilhelm Ostwald und sein Kampf um die Verbreitung eines naturwissenschaftlich begründeten Weltbildes. Habil. masch. HU Berlin 1961. 14 Herneck, Friedrich: Wissenschaft contra Gottesglauben. Aus den atheistischen Schriften des großen Chemikers. Leipzig 1960. 15 Das genannte Exemplar mit Widmung befindet sich heute in der Fachbibliothek des Historischen Seminars der Ludwig-Maximilians-Universität München unter folgender Signatur: 0900/NU 4900 O85.960.

10  Einleitung: Walter Ulbricht in der Villa Medusa Einfluss von »Gottesglauben und Pfaffentum«.16 Im Zentrum von Hernecks Ausführungen stand Ostwalds Einsatz für die Ziele des Monistenbundes und der Kirchenaustrittsbewegung vor dem Ersten Weltkrieg.17 Trotz des Lobs für das antiklerikale Engagement Ostwalds fiel Hernecks Urteil über denselben aufgrund seiner Zugehörigkeit zum wilhelminischen Bürgertum geteilt aus: Zwar habe Ostwald einen »politisch-moralischen Abwehrkampf« gegen »religiöse Volksverdummung und die kirchliche Knechtung der Schule und des Staats­ lebens« geführt, allerdings trug seine Religionskritik weiterhin Züge eines »kleinbürgerlichen Antiklerikalismus«, der die Lösung der Klassenfrage missachtete.18 Abgesehen davon, dass Herneck und Ulbricht den Monismus für eine sozialistische Staatsdoktrin vereinnahmten, teilten ihre Ausführungen zum Monismus eine weitere Gemeinsamkeit: Beide rekurrierten in ihren Beurteilungen auf ein wirkmächtiges Konfliktnarrativ der westlichen Moderne  – der vermeintliche Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft.

1.

Religion versus Wissenschaft: Zur Wirkmacht eines Konfliktnarrativs

Die Annahme, dass das Verhältnis von Religion und Wissenschaft notwendigerweise konflikthaft sei, etablierte sich im 19. Jahrhundert als historische Meistererzählung. Wissenschaft und Rationalität würden im Kampf gegen die ›Dunkelmänner‹ der Kirche schließlich als siegreiche Kraft hervorgehen, so der Grundtenor liberaler und antiklerikaler Stimmen. Der Ketzerprozess um Galileo Galilei (1564–1642) im Jahr 1632 oder die Kontroverse um Darwins Evolutionstheorie im Zuge der Veröffentlichung seiner Origin of Species (1859) galten im 19. und 20. Jahrhundert als symptomatische Beispiele für die antagonistische Beziehung von Wissenschaft, Christentum und Kirche. Das Schicksal Galileis verdichtete sich gar zum akademischen Erinnerungsort einer selbstbewussten Naturwissenschaft, die sich vom Dogma der katholischen Kirche emanzipierte.19 Darwin wurde indessen als der »Kopernikus der organischen Welt« gefeiert, wie es in einer viel zitierten Rede des Berliner Physiologen Emil DuBois-Reymond 16 Herneck: Wissenschaft contra Gottesglauben, 47. 17 Vgl. Herneck: Der Chemiker Wilhelm Ostwald. 18 Herneck: Wissenschaft contra Gottesglauben, 47. Insbesondere Hernecks Studien zu Ernst Mach brachten diesem 1958 auf der III. Hochschulkonferenz der SED den Vorwurf des Revisionismus ein. Ihm wurde daraufhin vorübergehend die Lehrbefugnis entzogen. 19 Michael Hagner argumentiert, dass die Wissenschaftsgeschichte in Deutschland vor ihrer Professionalisierung als historische Subdisziplin die Funktion eines Erinnerungsdienstes für die Naturwissenschaften erfüllte: Sie sollte das kollektive Gedächtnis an die großen Errungenschaften der Naturwissenschaft bewahren und die Deutungshoheit derselben legitimieren, vgl. Hagner, Michael: Ansichten der Wissenschaftsgeschichte. In: Ders. (Hg.): Ansichten der Wissenschaftsgeschichte. Frankfurt am Main 2001, 7–42, hier 13 f.

Religion versus Wissenschaft  11

(1818–1896) hieß.20 Einige Theologen und Philosophen um 1900 deuteten den »Weltanschauungskampf« zwischen Religion und Naturwissenschaft sogar als ein Kennzeichen ihrer Zeit. Der Jesuit Friedrich Klimke (1878–1924) behauptete, dass es gegenwärtig kaum ein anderes Problem gebe, »welches die Gebildeten so lebhaft beschäftigt wie der Kampf der religiös-metaphysischen und der naturwissenschaftlichen Weltanschauung«.21 Die Annahme, dass die Interaktion von Wissenschaft und Religion zwangsläufig zum Konflikt führe und die Wissenschaft letztlich als Siegerin hervorgehe, wurde im 19. Jahrhundert als Konfliktthese (Conflict thesis) bekannt. Weg­ wesend für die Kanonisierung dieser These waren die Werke von John William Draper (1811–1882) und Andrew Dickson White (1832–1918). Nach seiner Emigration in die USA wurde Draper 1840 Professor für Chemie und Botanik an der New York University Medical School und 1876 erster Präsident der American Chemical Society. Draper erzielte mit seiner 1874 veröffentlichten History of the Conflict between Religion and Science einen großen Publikumserfolg und attackierte hier vor allem die katholische Kirche. Für Draper bestand die Funktion der Wissenschaftsgeschichte weniger darin, die großen Entdeckungen vergangener Forscher zu rekonstruieren, als den Kampf zweier Mächte aufzudecken: »It is a narrative of the conflict of two contending powers, the expansive force of the human intellect on the one side and the compression arising from traditionary faith […] on the other.«22 White begann seine Karriere als Professor für Geschichte und englische Literatur an der University of Michigan, bevor er 1865 gemeinsam mit dem Industriellen und Philanthropen Ezra Cornell (1807‒1874) die gleichnamige Cornell University gründete und deren erster Präsident wurde. White veröffentlichte 1896 die zweibändige History of the Warfare of Science with Theology in Christendom, welche die graduelle Emanzipation der Naturwissenschaften von der Theologie nachzeichnete.23 In seiner Einleitung schrieb White: 20 DuBois-Reymond, Emil: Darwin und Kopernikus [1883]. In: DuBois-Reymond, Estelle (Hg.): Reden von Emil DuBois-Reymond in zwei Bänden. Bd. 2. Leipzig 1912, 243–248. Gabriel Finkelstein hat auf die Bedeutung DuBois-Reymonds als Popularisierer der Evolutionstheorie hingewiesen und dabei die Unterschiede zu Haeckels Darwin-Rezeption aufgezeigt, vgl. Finkelstein, Gabriel: Haeckel and DuBois-Reymond: Rival German Darwinists. In: Theory in Biosciences 138/1 (2019), 105–112. Zum Einfluss Emil DuBois-Reymonds als Festredner im 19. Jahrhundert, vgl. Leber, Christoffer / Nickelsen, Kärin: Wissenschaft im Glaubenskampf. Geschichte als Argument in den akademischen Festreden Emil DuBois-Reymonds (1818–1896). In: BWG 39/2 (2016), 143–164. 21 Klimke, Friedrich: Der Monismus und seine philosophischen Grundlagen. Beiträge zu einer Kritik moderner Geistesströmungen. Freiburg im Breisgau 1911, 1. 22 Draper, John William: History of the Conflict between Religion and Science. New York 1874, 7. Zum Leben und Werk Drapers, vgl. Fleming, Donald: John William Draper and the Religion of Science. Philadelphia 1950. 23 Whites zweibändige Konfliktgeschichte ging aus einer 1874 gehaltenen Vorlesung über »Battlefields of Science« hervor. Angeregt wurde diese Vorlesung durch kirchliche Angriffe gegen die Gründung der Cornell University, da sich diese als säkulare, nicht-konfessionelle

12  Einleitung: Walter Ulbricht in der Villa Medusa In all modern history, interference with science in the supposed interest of religion, no matter how conscientious such interference may have been, has resulted in the direst evils both to religion and science, and invariably; and, on the other hand, all untrammeled scientific investigation, no matter how dangerous to religion some of its stages may have seemed for the time to be, has invariably resulted in the highest good both of religion and of science.24

Drapers und Whites Konfliktthese und nicht zuletzt ihre Kampfmetaphorik gehörte schon bald zum historischen Kanon und setzte den Ton für spätere Generationen von Historikern.25 Wie wirkmächtig die Konfliktthese um 1900 war, zeigte sich in der britischen Schule der Whig History, derzufolge der Lauf der Geschichte seinen Höhepunkt in der modernen Wissenschaft, der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und der parlamentarischen Monarchie fand.26 In den letzten Jahrzehnten haben Historiker die Draper-White-These durch zahlreiche Fallstudien revidiert und auf die Komplexität und historische Kontingenz des Verhältnisses von Religion und Wissenschaft insistiert.27 Peter Harrison stellte in diesem Kontext heraus, dass die moderne Dichotomisierung von Religion und Wissenschaft schon in der Begriffsgeschichte der beiden Kategorien angelegt ist. In der Frühmoderne unterlagen die Begriffe religio und scientia Bildungseinrichtung verstand. Zum Leben und Werk Whites, vgl. Altschuler, Glenn C.: Andrew D. White. Educator, Historian, Diplomat. Ithaca 1979; Schaefer, Richard: Andrew Dickson White and the History of a Religious Future. In: Zygon 50/1 (2015), 7–27. 24 White: History of Warfare, viii. 25 Numbers, Ronald L.: Science and Religion. In: Osiris 1 (1985), 59–80. 26 Daum, Andreas W.: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit, 1848–1914. 2. Aufl. München 2002, 13 f. 27 Zur Historisierung und Revision der Konfliktthese, vgl. Bowler, Peter J.: Reconciling Science and Religion. The Debate in Early-Twentieth-Century Britain. Chicago 2010; Brooke, John Hedley: Science and Religion. Some Historical Perspectives. Cambridge 1991; Cantor, Geoffrey: Science and Religion. From the Historian’s Perspective. In: Haag, James W. / Peterson, Gregory / Spezio, Michael L. (Hg.): The Routledge Companion to Religion and Science. New York 2012, 24–33; Clayton, Philip / Simpson, Zachary (Hg.): The Oxford Handbook of Religion and Science. Oxford 2006; Dixon, Thomas: Science and Religion. A Very Short Introduction. Oxford 2008; Evans, John H. / Evans, Michael S.: Religion and Science. Beyond the Epistemological Conflict Narrative. In: Annual Review of Sociology 34/1 (2008), 87–105; Ferngren, Gary B. (Hg.): Science and Religion. A Historical Introduction. 2. Aufl. Baltimore 2017; Hardin, Jeff / Numbers, Ronald L. / Binzley, Ronald A. (Hg.): The Warfare between Science and Religion. The Idea that Wouldn’t Die. Baltimore 2018; Lightman, Bernhard: Victorian Sciences and Religions. Discordant Harmonies. In: Osiris 16 (2001): Science in Theistic Contexts, 343–366; Osler, Margaret: Mixing Metaphors. Science and Religion or Natural Philosophy and Theology in Early Modern Europe. In: History of Science 35 (1997), 91–113; Toal, Ciaran: Preaching at the British Association for the Advancement of Science: Sermons, Secularization and the Rhetoric of Conflict in the 1870s. In: BJHS 45/1 (2012), 75–95; Vedanayagam, Joseph Satish: Beyond the Conflict Thesis. Studying Science and Religion as Public Policy. In: Historical Studies in the Natural Sciences 49/4 (2019), 459–469.

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einem Prozess der semantischen Objektivation: Standen sie ursprünglich für eine innere, subjektive Qualität des Menschen, so repräsentierten sie später einen festen äußeren Bestand von Inhalten, Tugenden und Praktiken.28 Ebenso wie andere theologische Begriffe (Gott, Jenseits etc.) entwickelte sich Religion im langen 19. Jahrhundert zu einem ambivalenten Konzept, wie Lucian Hölscher betont. Unter dem Einfluss der linken und materialistischen Religionskritik implizierte dieser Begriff fortan nicht nur den Glauben ans Heilige, sondern auch genau das Gegenteil: die Infragestellung von Religion als rein menschliche Projektion.29 Die Vorstellung eines intrinsischen Konflikts zwischen Wissenschaft und Religion griffen die Monisten in ihren Schriften selbst auf: »Der Kampf zwischen dem, was wir zusammenfassend Wissenschaft nennen, und der Kirche kann nicht eher enden, als bis eine von beiden überwunden ist«, schrieb Ostwald 1914, wobei er der Wissenschaft den Sieg prophezeite.30 Auch in der frühen Historiographie zur Monismusbewegung weist die Konfliktthese erstaunliche Beharrungskraft auf: Die Beiträge zum Monismus aus den 1970er und 80er Jahren präsentierten diesen als »Bestandteil der Emanzipationsgeschichte der positiven Wissenschaften«, die zu einer Zurückdrängung kirchlichen Einflusses geführt habe.31 Diese Beiträge standen in der Tradition der Sozialgeschichte, die den Prozess der Modernisierung als eine Niedergangsgeschichte der Religion und zugleich als Siegeszug der bürgerlichen Emanzipation und wissenschaftlichen Rationalität fassten.32 Rückendeckung erfuhr die Konfliktthese durch die Großtheorie der Säkularisierung und die Vorstellung einer »Entzauberung« der Welt (Max Weber). Als eine Meistererzählung der Moderne etablierte sich die Säkularisierungstheorie schon in den Kulturkämpfen des 19. Jahrhunderts und wurde bald zum festen Bestandteil moderner, liberaler Selbstverortung im Fin de Siècle.33 Der Philosoph Charles Taylor zeichnete in seiner Studie A Secular Age ein neues Bild vom Zusammenhang von Wissenschaft, Moderne und Säkularisierung: Er führte den Prozess der Säkularisierung nicht auf die Genese des Rationalismus, der 28 Zum semantischen Wandel von Religion und Wissenschaft, vgl. Harrison, Peter: The Territories of Science and Religion. Chicago, London, 7–11; Nickelsen, Kärin / Alighieri, Fernanda: Introduction. In: Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento 43/1 (2017): Science and Religion: Revisiting a Complex Relationship, 9–15. 29 Hölscher, Lucian: Contradictory Concepts. An Essay on the Semantic Structure of Religious Discourses. In: Contributions to the History of Concepts 10/1 (2015), 69–88, hier 71–75. 30 Ostwald, Wilhelm: Religion und Monismus. Leipzig 1914, 25. 31 Hillermann, Horst: Der vereinsmäßige Zusammenschluß bürgerlich-weltanschaulicher Reformvernunft in der Monismusbewegung des 19. Jahrhunderts. Kastellaun 1976, 6. 32 Graf, Friedrich Wilhelm: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur. München 2004, 104. 33 Borutta, Manuel: Genealogie der Säkularisierungstheorie. Zur Historisierung einer großen Erzählung der Moderne. In: GG 36/3 (2010), 347–376.

14  Einleitung: Walter Ulbricht in der Villa Medusa empirischen Naturwissenschaften und des mechanistischen Weltbildes zurück, sondern auf Veränderungen im frühneuzeitlichen Christentum selbst. Taylor rekonstruierte den historischen Wandel, der dazu führte, dass der Glaube an Gott in der Moderne zu einer von vielen Optionen wurde. Die Ironie der Geschichte lag nun darin, dass säkulare Vorstellungen durch einen Deismus (providential deism) befördert wurden, der im Protestantismus um 1700 selbst wurzelte. Dieser Deismus legte den Grundstein für einen rationalen Humanismus, der vom Freidenkertum des 19. Jahrhunderts aufgenommen wurde und das Streben nach weltlichem Glück zum obersten Ziel erklärte.34 In der jüngeren Forschungsdebatte wurden die modernisierungs- und säkularisierungstheoretischen Fortschrittsnarrative gerade im Hinblick auf das wilhelminische Kaiserreich revidiert.35 Obwohl sich kirchliche Bindungen im Kaiserreich lockerten, führte der Einfluss der Industrialisierung, der Naturwissenschaften und des Rationalismus keineswegs zu einem Relevanzverlust von Religion – im Gegenteil: Vieles spricht dafür, die Jahrhundertwende als eine »Renaissance religiöser Orientierungen und Konflikte« anzusehen, in denen Elemente moderner Kultur mit traditionellen Symbolbeständen des Christentums verschmolzen.36 Besonders im wilhelminischen Bürgertum zeichnete sich eine religiöse Suche außerhalb der traditionell-kirchlichen Religionsausübung ab, die Thomas Nipperdey auf den Begriff der »vagierenden Religiosität« münzte.37 Obwohl die europäischen Großstädte schon um 1900 zur Wiege der säkularen Moderne erklärt wurden, kam das religiöse Leben dort nicht zum Erliegen. Auf vielfältige Weise eigneten sich Glaubensgemeinschaften die urbane Kultur an und gestalteten diese sogar mit.38 34 Taylor, Charles: A Secular Age. Cambridge, MA, London 2007, 221–269. Zum komplexen Verhältnis von Naturwissenschaft und Säkularisierung, vgl. Brooke, John H.: Science and Secularization. In: Harrison, Peter (Hg.): The Cambridge Companion to Science and Religion. Cambridge 2010, 103–124. 35 Blaschke, Olaf: Das 19. Jahrhundert: Ein Zweites Konfessionelles Zeitalter? In: GG 26 (2000), 38–75. 36 Blaschke, Olaf / Kuhlemann, Frank-Michael: Religion in Geschichte und Gesellschaft. Sozialhistorische Perspektiven für die vergleichende Erforschung religiöser Mentalitäten und Milieus. In: Dies. (Hg.): Religion im Kaiserreich. Milieus – Mentalitäten – Krisen. 2. Aufl. Gütersloh 2000, 7–56, hier 8 f. 37 Nipperdey: Religion im Umbruch, 143: »Neben diesen säkularen Tendenzen und Quasi-​Religionen gibt es seit der Jahrhundertwende besonders auffällig, eine außerkirchliche Religiosität, jedenfalls im bürgerlichen Milieu: keine Religion eigentlich, aber eine religiöse Gestimmtheit.« 38 Anthony Steinhoff widerlegte am Beispiel der protestantischen Gemeinden in Straßburg um 1900 den Mythos der ›gottlosen Großstadt‹, vgl. Ders.: The Gods of the City. Protestantism and Religious Culture in Strasbourg, 1870–1914. Leiden 2008; Ders.: Religious Community and the Modern City. Reflections from German Europe. In: Geyer, Michael / Hölscher, Lucian (Hg.): Die Gegenwart Gottes in der modernen Gesellschaft. Transzendenz und religiöse Vergemeinschaftung in Deutschland (Bausteine zu einer europäischen Religionsgeschichte im Zeitalter der Säkularisierung, Bd. 8). Göttingen 2006, 115–143.

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Die kaiserzeitliche Monismusbewegung bietet ein anschauliches Beispiel dafür, dass Tendenzen der Entkirchlichung und die Suche nach neuen Formen von Religion Hand in Hand gingen.39 Der Monismus wurde sowohl zum Anziehungspunkt für liberale Pfarrer, die sich von ihren Amtskirchen entfremdet hatten, als auch für Atheisten, Agnostiker, Freidenker und Sozialisten. »Es ist wieder Raum da für Religion. Ein Verständnis, ja Bedürfnis nach Religion«, beobachtete ein Monismus-Kritiker 1907 in der Christlichen Welt, wobei er ergänzte: »Es ist nicht die alte Religion kindlichen, freudigen Vertrauens auf einen Vatergott. Das scheint ja Alles zu menschlich, zu vertraut gegenüber dem unendlichen, geheimnisvollen All-Einen.« Stattdessen habe sich eine »Religion des modernen, naturwissenschaftlich gebildeten Menschen« herausgebildet.40 Ziel dieser Arbeit ist es, am Beispiel der Monismusbewegung Auseinandersetzungen um die Grenzen der Religion vor dem Ersten Weltkrieg zu untersuchen. Wie positionierten sich Monisten zur Religion, welche Auffassungen von Säkularität vertraten sie und welche Rolle spielte naturwissenschaftliches Wissen in ihrer Argumentation? Die Monismusbewegung war keinesfalls antireligiös, so die These, sondern leistete einen essentiellen Beitrag zu einem neuen Verständnis von Religion und deren Verhältnis zum Säkularen. Monisten eigneten sich christliche Semantiken und Praktiken an, deuteten diese um und strebten nach einer säkularen Ethik, die an die Stelle der Moraltheologie treten sollte. Die durch den Monismus popularisierten naturwissenschaftlichen, soziologischen und positivistischen Theorien dienten als argumentatives Mittel, um christliche Deutungsmuster zu delegitimieren und säkulare Forderungen zu begründen. Während radikale Feministinnen auf die wissenschaftliche Weltanschauung des Monismus verwiesen, um ein neues Ehe- und Sexualverständnis zu begründen, kämpften Monisten zusammen mit Vertretern der ethischen Bewegung für die Einführung eines weltlichen Moralunterrichts an Schulen. Die Geschichte der Monismusbewegung lässt sich also weniger als ein klar umgrenzter Konflikt zwischen Naturwissenschaftlern und Theologen begreifen, sondern vielmehr als eine kontinuierliche »Grenzarbeit am religiösen Feld«.41 Der Monistenbund wurde zum Sammelbecken verschiedener Auffassungen von Säkularität und 39 Beispielhaft sei Wilhelm Bölsches Naturmystik genannt, vgl. Hasselhorn, Benjamin: Religion bei Wilhelm Bölsche. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 64/2 (2012), 117–137. 40 Faut, A. G.: Religion oder christliche Religion. In: Christliche Welt 21, Nr. 36 (1907), Sp. 855–859, hier 857. 41 Reuter, Astrid: Religion in der verrechtlichten Gesellschaft. Rechtskonflikte und öffentliche Kontroversen um Religion als Grenzarbeiten am religiösen Feld. Göttingen 2014. Die Theorie des »religiösen Feldes« entwickelte Pierre Bourdieu im Rahmen seiner soziologischen Feldtheorie. Das religiöse Feld steht für eine gesellschaftliche Arena, in der verschiedene Akteure (Geistliche, Laien) um Güter, wie beispielsweise Deutungsmacht, konkurrieren. Das religiöse Feld konstituiert sich dabei stets in Relation zu anderen Gesellschaftsfeldern wie Politik und Wissenschaft.

16  Einleitung: Walter Ulbricht in der Villa Medusa Religion, die sowohl das Staats-Kirchen-Verhältnis als auch Fragen der Ethik, Erziehung und Sexualität betrafen.42 Ob monistisch gesinnte Naturwissenschaftler, Lebensreformer, Philosophen oder Feministinnen – alle verband die Suche nach einem neuen Konzept von Religion und Säkularität. In Anlehnung an Ernst Haeckels Bestseller lautet der Titel dieses Buches daher: »Arbeit am Welträtsel«.

2.

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Während die Naturwissenschaften um 1900 Antworten auf anthropologische Grundfragen lieferten – etwa nach dem Ursprung des Menschen –, schien das Deutungsmonopol der christlichen Kirchen im Kaiserreich allmählich zu erodieren. »Ein Naturwissenschaftler kann heute schlechthin alles behaupten, große Volkskreise glauben ihm einfach alles. Er hat unbeschränkten und unbedingten Kredit«, klagte der Pastor Ernst Bittlinger 1914.43 Der Aufstieg der Naturwissenschaften setzte dem Bedürfnis nach Religiosität jedoch kein Ende: Nicht mehr der Glaube an einen Schöpfergott, sondern der Glaube an die naturwissenschaftlich erfassbare, einheitliche Welt gab Anlass zu neuer Sinnsuche.44 »Hatte die Naturwissenschaft einst die Welt bloß als Objekt des Wissens betrachtet – jetzt ermöglicht sie, ja fordert sie auf, sie als Objekt religiösen Empfindens zu verehren. Hatte sie einst die Welt entgottet, jetzt vergottet sie sie«, hieß es 1907 in der Christlichen Welt.45 Symptomatisch für die »Weltanschauungszerissenheit« der Jahrhundertwende war der Monismus.46 Dieser repräsentierte kein kohärentes weltanschauliches Gebilde, sondern stand für den Anspruch verschiedener Denker um 1900, ethische, philosophische und anthropologische Fragen naturwissenschaftlich zu beantworten.47 In der Philosophie wird der Monismus allen Denksystemen zugeordnet, welche die Vielfalt des Seins auf ein einheitliches Prinzip zurück 42 Zu den verschiedenen Strömungen im Monistenbund, vgl. Drehsen, Volker / Zander, Helmut: Rationale Weltveränderung durch ›naturwissenschaftliche‹ Weltinterpretation? Der Monistenbund – eine Religion der Fortschrittsgläubigkeit. In: Drehsen, Volker / Sparn, Walter (Hg.): Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse. Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung um 1900. Berlin 1996, 217–238. 43 Bittlinger, Ernst: Monistisches Christentum. Gegen die Naturphilosophie des Professors Ostwald und den Kirchenaustritt. Leipzig 1914, 89. 44 Nipperdey: Religion im Umbruch, 143. 45 Faut: Religion oder christliche Religion, 857. 46 Hunzinger, August Wilhelm: Das Christentum im Weltanschauungskampf der Gegenwart. Leipzig 1909, 62. 47 Olaf Breidbach betont zu Recht, dass der Monismus aufgrund seiner inhaltlichen und theoretischen Heterogenität einen wissenschaftshistorischen Sonderfall darstellt, vgl. Ders.: Alle für Eines. Der Monismus als wissenschaftsgeschichtliches Problem. In: Ziche, Paul (Hg.): Monismus um 1900. Wissenschaftskultur und Weltanschauung. Berlin 2001, 9–22.

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führen und somit eine Sphärentrennung von Physischem und Metaphysischem ablehnen.48 Der naturwissenschaftliche Monismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts verstand sich somit als Gegenentwurf zum christlichen Dualismus, der zwischen Körper und Geist, Diesseits und Jenseits, Gott und Welt unterschied. Der Monismusbegriff geht auf den Aufklärungsphilosophen Christian Wolff (1679–1754) zurück. In seiner Philosophia Rationalis Sive Logica (1734) bezeichnete er solche Philosophen als Monisten, die die Gesamtheit der Welt auf eine Grundsubstanz (Materie oder Geist) zurückführen.49 Während der Monismus zunächst als »philosophischer Schulbegriff« Verwendung fand, entwickelte er sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zur regelrechten Kampfformel des organisierten Freidenkertums.50 In den 1860er Jahren griff Ernst Haeckel den Monismusbegriff auf, um mit ihm eine neue naturwissenschaftliche Einheitslehre zu begründen. Vermutlich übernahm Haeckel den Begriff von dem Sprachwissenschaftler August Schleicher (1821–1868), der sich intensiv mit der Evolution der Sprachen auseinandersetzte und 1863 in einem offenen Brief an Haeckel schrieb: »Die Richtung des Denkens der Neuzeit läuft unverkennbar auf Monismus hinaus. Der Dualismus, fasse man ihn nun als Gegensatz von Geist und Natur, Inhalt und Form, Wesen und Erscheinung, […] ist für die naturwissenschaftliche Anschauung unserer Tage ein vollkommen überwundener Standpunkt«.51 In seinem Bestseller Die Welträtsel (1899) breitete Haeckel seine monistische Philosophie erstmals umfassend aus. Seinen Monismus verstand er als ein neues »Band« zwischen Religion und Wissenschaft, zwischen Idealismus und Materialismus, wie er bereits 1892 betonte.52 Haeckel übte in seinen Welträtseln 48 Joachim Mehlhausen und Daniela Dunkel unterscheiden drei Monismusbegriffe: Erstens einen religionsgeschichtlichen Monismusbegriff, der auf Religionen verweist, die »alle Erscheinungen der Wirklichkeit aus einer – meist naturhaft vorgestellten – letzten Einheit zyklisch hervorgehen lassen«; zweitens einen philosophiegeschichtlichen Monismusbegriff, der Systementwürfe beschreibt, in denen die »Vielheit des Seins als Manifestationen eines einheitlichen Prinzips« gedeutet wird; drittens einen allgemeinsprachlichen Monismusbegriff, der die »Zurückführung einer Mannigfaltigkeit auf eine Einheit« bezeichnet, vgl. Mehlhausen, Joachim / Dunkel, Daniela: Art. Monismus / Monistenbund. In: TRE 23 (1994), 212–217. 49 Hillermann, Horst: Zur Begriffsgeschichte von »Monismus«. In: Archiv für Begriffsgeschichte 20/1 (1976), 214–235, hier 214; Wolff, Christian: Philosophia Rationalis Sive Logica. Frankfurt, Leipzig 1734, § 32, 24: »Monistae dicuntur philosophi, qui unum tantummodo substantiae genus admittunt.« 50 Zum semantischen Wandel des Monismusbegriffs, vgl. Hillermann: Der vereinsmäßige Zusammenschluß, 19–52; Ders.: Begriffsgeschichte von »Monismus«, 214–235. 51 Schleicher, August: Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft. Offenes Sendschreiben an Herrn Dr. Ernst Haeckel. 2. Aufl. Weimar 1873 [1863], 9–10. Schleicher gilt als Begründer der Stammbaumtheorie in der vergleichenden Sprachwissenschaft bzw. Indogermanistik. Er war der Überzeugung, dass sich die Sprachen ähnlich wie die Lebewesen evolutionär entwickelten und betrachtete die Linguistik als Teil der Biologie. 52 Haeckel, Ernst: Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft. Glaubensbekenntnis eines Naturforschers, vorgetragen am 9. Oktober 1892 in Altenburg. 7. Aufl. Bonn 1898.

18  Einleitung: Walter Ulbricht in der Villa Medusa offen Kritik an den Dogmen der katholischen Kirche, insbesondere dem 1870 verkündeten Unfehlbarkeitsdogma des Papstes. Obwohl Haeckel als »Deutscher Darwin« in die Geschichte einging, basierte sein monistisches Denken mehr auf der naturphilosophischen Tradition Schellings und pantheistischen Naturverehrung Goethes, als auf der Evolutionstheorie Darwins.53 In Begriffen wie »Gott-Natur«, »Seelenzellen« oder »Kristallseelen« offenbarte sich seine Vorstel­ lung von der Allbeseeltheit der Natur.54 »Alle Substanz besitzt Leben, anorganische ebenso wie organische; alle Dinge sind beseelt, Kristalle so gut wie Organismen«, konstatierte Haeckel 1917.55 Nachdem Haeckel auf dem Freidenkerkongress in Rom 1904 zum »Gegenpapst« gewählt worden war – eine gezielte Provokation an den Vatikan –, gründete er zwei Jahre später, im Januar 1906, den Deutschen Monistenbund im Zoologischen Institut Jena. Unter den Gründungsmitgliedern waren die Schriftsteller Wilhelm Bölsche (1861–1939) und Bruno Wille (1860–1928) ebenso vertreten, wie die Zoologen Ludwig Plate (1862–1937) und Heinrich Ernst Ziegler (1858–1925), der Neurologe Auguste Forel (1848–1931) oder der Münchner Malerfürst Franz von Stuck (1863–1928).56 Aufgrund seines bereits hohen Alters wirkte Haeckel als Ehrenpräsident im Hintergrund der Monismusbewegung. Nach dem frühen und unerwarteten Tod des ersten DMB -Vorsitzenden, des liberalen Pastors Albert Kalthoff (1850–1906), geriet der Monistenbund in eine Führungskrise.57 Daher trat Haeckel im Dezember 1910 an den Chemiker und Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald heran, um ihm die Präsidentschaft des Monistenbundes anzubieten. In Wilhelm Ostwald glaubte Haeckel eine mit Autorität und wissenschaftlicher Reputation ausgestattete »Integrationsfigur« zu finden, die dem Bund zu breiter Bekanntschaft verhelfen sollte.58 Tatsächlich gehörte Ostwald zu den bekanntesten Naturwissenschaftlern seiner Zeit, der durch neue Publikationsorgane und Fachvereinigungen zur Professionalisierung 53 Vgl. Kleeberg, Bernhard: Theophysis. Ernst Haeckels Philosophie des Naturganzen. Köln, Weimar, Wien 2005. Niles Holt unterscheidet verschiedene Phasen im monistischen Denken Haeckels, das mit der Popularisierung des Darwinismus in den 1860er Jahren begann und in der pantheistischen Vorstellung einer Gott-Natur nach 1900 kulminierte, vgl. Ders.: Haeckel’s Monistic Religion. In: Journal of the History of Ideas 32/2 (1971), 265–280. 54 Vgl. Haeckel, Ernst: Gott-Natur (Theophysis). Kommentierter Nachdruck. Hg. v. Olaf Breidbach und Uwe Hoßfeld. Stuttgart 2008 [1914]. 55 Haeckel, Ernst: Kristallseelen. Studien über das anorganische Leben. Leipzig 1917, viii. 56 Zu den Gründungsmitgliedern des DMB, vgl. Weber, Heiko: Monistische und antimonistische Weltanschauung. Eine Auswahlbibliographie (Ernst-Haeckel-Haus-Studien, Bd. 1). Berlin 2000, 20 f. 57 Eduard Aigner (1906/07), Heinrich Koerber (1907–10), Johannes Unold (1910/11). 58 Nöthlich, Rosemarie / Weber, Heiko / Hoßfeld, Uwe / Breidbach, Olaf / Krauße, Erika (Hg.): »Substanzmonismus« und / oder »Energetik«. Der Briefwechsel von Ernst Haeckel und Wilhelm Ostwald (1910 bis 1918). Zum 100. Jahrestag der Gründung des Deutschen Monistenbundes. Berlin 2006, 19 f.

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der physikalischen Chemie beitrug. Unter seiner Federführung hatte sich die physikalische Chemie zu einer Leitdisziplin im Kaiserreich etabliert. Für seine wissenschaftlichen Verdienste in der Katalyseforschung wurde Ostwald 1909 mit dem Chemienobelpreis ausgezeichnet.59 Als Präsident des Monistenbundes popularisierte Ostwald seine eigene Spielform des Monismus, die er als Energetik bezeichnete.60 Seinen Monismus baute er auf den thermodynamischen Hauptsätzen von Energieerhaltung und Entropie auf.61 So führte Ostwald alle physischen Vorgänge der Welt auf Transformationen von Energie zurück. Seinen Anspruch, Energiereserven möglichst effizient zu nutzten, münzte er auf den Imperativ »Vergeude keine Energie, nutzte sie!«. Die Schriften Ostwalds verdeutlichen, dass sich im Monismus von Anbeginn eine ambivalente Positionierung zu Religion und Säkularität abzeichnete. Obwohl Monisten antiklerikale Positionen vertraten, waren sie in hohem Maße religionsproduktiv: Sei es, dass Ostwald seit 1911 »Monistische Sonntagspredigten« verfasste, in denen er dafür plädierte, das christliche Gebet für eine energetische Lebensweise nutzbar zu machen; oder sei es, dass Haeckel 1916 in einem Brief an Paul Unna dafür warb, den Monismus endlich als »Religions-Gesellschaft« anerkennen zu lassen.62 Ein Rezensent des Pester Lloyd bezeichnete den Monismus 1912 sogar als Gegenteil von Konfessionslosigkeit: Konfessionslosigkeit? Als ob der Monismus Konfessionslosigkeit wäre; als ob er auf den alten Begriff verzichten wollte! Er will geradezu Konfession, will lautes Bekenntnis sein. Hat auch schon alle Attribute eines solchen: die Leidenschaft, den Fanatismus, die Propaganda fast auch schon manche Zeichen der Unduldsamkeit. Und auch seine Gemeinden mit ihren Organisationen und auch seine große Synode.63 59 Ostwald gab seit 1887 die international angesehene Zeitschrift für physikalische Chemie heraus und wirkte 1894 bei der Gründung der Deutschen Elektrochemischen Gesellschaft (der heutigen Bunsen-Gesellschaft) mit, vgl. Johnson, Jeffrey A.: The Kaiser’s Chemists. Science and Modernization in Imperial Germany. Chapel Hill, NC 1990, 27–31. 60 Zu Ostwalds Energetik, vgl. Braune, Andreas: Fortschritt als Ideologie. Wilhelm Ostwald und der Monismus. Leipzig 2009; Daser, Eckard: Ostwalds energetischer Monismus. Diss. Univ. Konstanz 1980; Hakfoort, Caspar: Science Deified. Wilhelm Ostwald’s Energeticist World-view and the History of Scientism. In: Annals of Science 49/6 (1992), 525–544; Wegener, Daan: Ostwald’s Utopias. Energeticism in the Wilhelminian Empire. In: Kemperink, Mary (Hg.): Utopianism and the Sciences, 1880–1930 (Groningen Studies in in Cultural Change, Bd. 37). Leuven 2010, 59–78; Ziche, Paul: Wilhelm Ostwalds Monismus. Weltversicherung und Horizonteröffnung. In: JbWk 3 (2008), 117–134. 61 Zur Wissenschafts- und Kulturgeschichte der Energieerhaltung und Entropie, vgl. Neswald, Elizabeth: Thermodynamik als kultureller Kampfplatz. Zur Faszinationsgeschichte der Entropie, 1850–1915. Berlin 2003; Rabinbach, Anson: The Human Motor. Energy, Fatigue, and the Origins of Modernity. Berkeley 1992; Smith, Crosbie: The Science of Energy. A Cultural History of Energy Physics in Victorian Britain. Chicago 1998; Wegener, Daan: A True Proteus. A History of Energy Conservation in German Science and Culture, 1847–1914. Diss. Univ. Nijmegen 2009. 62 Ernst Haeckel an Paul Unna, Jena, 29.10.1916. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 1041 [Abschrift]. 63 X. X.: Monistisches. In: Pester Lloyd 59, Nr. 153 (29.6.1912), 22.

20  Einleitung: Walter Ulbricht in der Villa Medusa Die Monismusbewegung war ein urbanes Phänomen, das Anhänger aus dem bürgerlichen Mittelstand und Bildungsbürgertum anzog. Die meisten Mitglieder waren Volksschullehrer, Kaufleute, Ärzte, Händler, Ingenieure und Schriftsteller.64 Der Monistenbund stellte jedoch keine ideologisch homogene Gruppe dar, sondern ein Sammelbecken unterschiedlicher freigeistig gesinnter Akteure. Diese reichten von freireligiösen Predigern wie Max Maurenbrecher, über liberale Reformtheologen und Nietzsche-Jünger wie Albert Kalthoff, rechtskonservative Sozialdarwinisten wie Johannes Unold, bis zu sozialistischen Pazifisten wie Rudolf Goldscheid. Über die schicht- und parteiübergreifende Ausstrahlung des Monismus schrieb der Philosoph Benno Erdmann (1851–1921) 1914 in der Deutschen Rundschau, der führenden Revue des Kaiserreichs: In allen Kreisen derer, welche die Schwere der religiösen Probleme in sich kämpfend erlebt haben, von dem äußersten Flügel des Protestantismus und des sogenannten Modernismus an bis hin zu bekenntnisfreudigen Anhängern des Atheismus hat der Monismus Jünger gefunden; in allen Schichten der Bevölkerung, in den sozial oder politisch mächtigen Kreisen sowohl wie neuerdings insbesondere in den verschiedenen Gruppen der Sozialdemokratie, ist ihm offene und stille Gefolgschaft zuteil geworden.65

Besonders auf Intellektuelle, Künstler und Schriftsteller der Jahrhundertwende übte der Monismus eine gewisse Faszination aus: Die US -amerikanische Tänzerin und Choreographin Isadora Duncan (1877–1927) war eine glühende Anhängerin des Monismus und schrieb nach der Geburt ihres Sohnes an ihren »Meister« Haeckel: »This Boy will be a Monist – and who knows but – some of your Great and Beautiful Spirit – may be in him – We will hope so«.66 Zugleich war der Monismus ein beliebter Gegenstand der kaiserzeitlichen Satire und Karikatur. So verfasste der Karlsruher Rechtsanwalt und Privatgelehrte Arnold Horn (1844–1938) 1906 unter dem Pseudonym »Dr. Monisthorno« eine Satire auf den Monismus, die eine Bundesfeier Haeckels und seiner Jünger karikierte: »Freunde. Brüder, die Zeit ist erfüllet! Lasset uns in die Hände spucken und eine neue Religion gründen! Dies war, so erzählten die Heckelinge, seine Jünger,

64 Vgl. die Mitgliedererhebung im Kongressbericht des Hamburger Monistenkongresses 1911, Bloßfeldt, Wilhelm (Hg.): Der erste internationale Monisten-Kongreß in Hamburg vom 8.–11. September 1911. Leipzig 1912, 156. Obwohl der Monistenbund v. a. ein männliches Phänomen war, schließt das generische Maskulinum bei den aufgeführten Berufsgruppen auch Frauen mit ein. 65 Erdmann, Benno: Über den modernen Monismus. Eine akademische Festrede. Berlin 1914, 33 f. Erneut erschienen als: Erdmann, Benno: Über den modernen Monismus. In: Deutsche Rundschau 40, Nr. 6 (März 1914), 321–340, hier 333. 66 Isadora Duncan an Ernst Haeckel, Neuilly, 8.5.1910. Ernst-Haeckel-Haus Jena (EHH), NL Ernst Haeckel.

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die Stunde der Zeugung des neuen Bundes«.67 Ebenso veröffentlichte der junge Carl Schmitt (1888–1985) in seiner satirischen Gegenwartsanalyse Schattenrisse (1913) ein ironisches Gedicht auf den monistischen Sonntagsprediger Ostwald.68 In Thomas Manns Zauberberg (1924) lieferte sich der Monist Settembrini ein Streitgespräch mit dem asketischen Jesuitenschüler Naphta, das intertextuelle Bezüge zu Haeckels Welträtseln aufwies.69 Schließlich rief der Monismus unter Philosophen, Theologen und Naturwissenschaftlern kritische Stimmen hervor, die zuweilen polemische Züge annahmen. Von philosophischer Seite sah sich der Monismus dem Vorwurf ausgesetzt, dass er die metaphysische »Voraussetzungshaftigkeit« seiner eigenen Begriffe nicht reflektiere und letztlich selbst zum Dualismus mutiert sei. Den eigenen positivistischen Ansprüchen zum Trotz werde die Wissenschaft im Monismus zur neuen Ersatzreligion transzendiert, so die Kritik.70 Für die Kulturkritiker Fritz Mauthner (1849–1923) und Oscar A. H. Schmitz (1873–1931) war der Monismus deshalb nichts weniger als das Resultat dilettantischer »Halbbildung«.71 Bezeichnenderweise nannte Adolf von Harnack (1851–1930) den Energetiker Ostwald einen »liebenswürdig naiven Schwärmer«.72 Obwohl der Monistenbund rein quantitativ gesehen ein marginales Phänomen blieb, führen die oben genannten Beispiele vor Augen, dass er in weite Kreise des wilhelminischen Bürgertums hineinwirkte. Sowohl Theologen und Naturwissenschaftler als auch Künstler, Schriftsteller, Satiriker und Kulturkritiker der Jahrhundertwende reagierten auf teils zustimmende, teils ablehnende Weise auf den Monismus und seine Wortführer.

67 Horn, Arnold (alias Dr. Monisthorno): Monisten-Traum. Dresden 1906, 2. In Anknüpfung an diese Satire schrieb der evangelikale Erweckungsprediger Jakob Vetter (1872–1918) eine scharfe Polemik gegen den Monismus, vgl. Ders.: Der Monismus – die neue Religion. Geisweid in Westfalen 1909. 68 Villinger, Ingeborg (Hg.): Carl Schmitts Kulturkritik der Moderne. Text, Kommentar und Analyse der »Schattenrisse« des Johannes Negelinus. Berlin 1995. 69 Dittrich, Andreas: Glauben, Wissen und Sagen. Studien zu Wissen und Wissenskritik im ›Zauberberg‹, in den ›Schlafwandlern‹ und im ›Mann ohne Eigenschaften‹ (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 188). Tübingen 2009, 139–155. 70 Hermann Lübbe kritisierte, dass die Monismusbewegung ihre »idealistisch-subjektivistische Voraussetzungshaftigkeit der eigenen Schlüsselbegriffe« verkannt habe, vgl. Ders.: Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte. Basel, Stuttgart 1963, 133. 71 Mauthner, Fritz: Art. Monismus. In: Ders.: Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd. 2. München 1910; Ders.: Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. Bd. 4: Die letzten hundert Jahre – Reaktion – Materialismus – Gottlose Mystik. Stuttgart, Berlin 1923, 230–237. 72 Harnack, Adolf von: Protestantische Kultur und Dr. Max Maurenbrecher [1912]. In: Nowak, Kurt (Hg.): Adolf von Harnack als Zeitgenosse. Reden und Schriften aus den Jahren des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Bd.1: Der Theologe und Historiker. Berlin, New York 1996, 314–328, hier 320.

22  Einleitung: Walter Ulbricht in der Villa Medusa Monismus als Bewegung und Weltanschauung Für Zeitgenossen des Fin de Siècle stand der Monismus sowohl für eine Welt­ anschauung als auch für eine soziale Bewegung. Wie kaum ein anderer Akteur im Kaiserreich trug der Monistenbund zur Popularisierung des Weltanschauungsbegriffs bei. In der Literatur und Philosophie der Jahrhundertwende waren Reflexionen über das Wesen, die Typologie und Unterschiede von Weltanschauungen omnipräsent.73 Im Gegensatz zum Weltbild, das verschiedene Wissensund Erkenntnisbereiche unter ein leitendes Prinzip fasst (etwa das mechanistische Weltbild), haben Weltanschauungen den hegemonialen Anspruch, auch letzte Fragen des Menschen zu beantworten.74 Der Weltanschauung geht es also um eine ganzheitliche Erfassung und Durchdringung der Welt, die als sinnhafte Einheit betrachtet wird.75 Erstmals tauchte der Weltanschauungsbegriff 1790 in Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft auf: Mit seinem Neologismus bezeichnete Kant sowohl den Vorgang des Anschauens als auch das Ergebnis der Anschauung selbst, nämlich die Deutung der Erscheinungen respektive Phänomene (phainomenon).76 Kant zielte mit diesem Begriff auf das Vermögen der menschlichen Vernunft, sich eine »Gesamtauffassung« der Welt zu machen und sich mit dieser in Beziehung zu setzen.77 Todd Weir zufolge gewann der Weltanschauungsbegriff um 1850 durch Vertreter des naturwissenschaftlichen Materialismus und der freireligiösen Bewegung an Popularität, die ihn für ihre ideologischen Positionen verwendeten.78 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts avancierte 73 Als Beispiel sei Wilhelm Diltheys »Weltanschauungslehre« genannt. 74 Thomé, Horst: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp. In: Danneberg, Lutz / Vollhardt, Friedrich (Hg.): Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Tübingen 2002, 338–380, hier 341; Ders.: Der Blick auf das Ganze. Zum Ursprung des Konzepts »Weltanschauung« und der Weltanschauungsliteratur. In: Frick, Werner u. a. (Hg.): Aufklärungen. Zur Literaturgeschichte der Moderne. Tübingen 2003, 387–401. 75 Weir, Todd: The Riddles of Monism. An Introductory Essay. In: Ders. (Hg.): Monism. Science, Philosophy, Religion, and the History of  a Worldview. New York, Basingstoke 2012, 13: »Weltanschauung was understood to be a systematic understanding of the world as a meaningful totality that formed the basis of a community. It was a form of knowledge that not only explained the present state of the social and physical world, but was also expected to contain a normative system and a program of salvation on many fronts.« 76 Betz, Werner: Zur Geschichte des Wortes »Weltanschauung«. In: Kursbuch der Weltanschauungen. Frankfurt am Main 1980, 18–28, hier 18 f.; Naugle, David K.: Worldview. The History of a Concept. Grand Rapids, Mich., Cambridge, UK 2002, 55–67; Thomé, Horst: Art. Weltanschauung. In: HWdP 12 (2004), 453–460. 77 Thomé: Art. Weltanschauung. In: HWdP 12 (2004), 453. 78 Weir, Todd: Secularism and Religion in Nineteenth-Century Germany. The Rise of the Fourth Confession. New York 2014, 84–95. Aufgrund seiner semantischen Wurzeln in der freireligiösen Bewegung wurde der Weltanschauungsbegriff auch im Kaiserreich mit dem Säkularismus assoziiert. Später setzte sich besonders im Protestantismus der Begriff »christliche Weltanschauung« durch. Erst in den 1920er Jahren wurde der Weltanschauungsbegriff für politische Ideologien verwendet. Für diesen Hinweis danke ich Todd Weir.

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Weltanschauung zum Schlüsselbegriff von Intellektuellendiskursen und tauchte in verschiedenen Textsorten, Genres und Wissenskontexten auf.79 Spätestens mit der Gründung des Deutschen Monistenbundes 1906 trat der Monismus auch als soziale Bewegung in Erscheinung. In der Politik- und Sozialwissenschaft werden soziale Bewegungen als »Arten kollektiven Handelns« definiert, die über Mobilisierungsstrategien versuchen, gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen.80 Soziale Bewegungen weisen nach Stefan Schröder vier Merkmale auf: Erstens ein Netzwerk individueller und kollektiver Akteure, die mehr oder weniger formell miteinander in Kontakt stehen; zweitens eine Gruppenidentität in Form eines Zusammengehörigkeitsgefühls und geteilter Überzeugungen; drittens kollektives Handeln zur Beeinflussung und Herausforderung bestehender Autoritäten; viertens das Beschreiten nicht-institutioneller Wege.81 Im Unterschied zu politischen Parteien können der Grad und die Form der Organisation in sozialen Bewegungen stark variieren.82 Der Bewegungsbegriff birgt für die historische Untersuchung des Monismus zwei analytische Vorteile: Zum einen handelt es sich bei dem Ausdruck »monistische Bewegung« respektive »Monismusbewegung« um einen Quellenbegriff.83 Zum anderen umfasst er auch solche Akteure, die zwar keine offiziellen DMB -Mitglieder waren, jedoch mit dem Monismus sympathisierten und für dessen Ziele eintraten.84 Wie sich noch zeigen wird, forderte die religiöse Frage die kollektive Identität der Monisten und damit ihren Status als soziale Bewegung immer wieder heraus. Die Monismusbewegung war in ein komplexes Netzwerk anderer freigeistiger Akteure um 1900 eingebunden. Repräsentiert wurde das freigeistige Spektrum im Kaiserreich durch zwei Lager – die Freireligiösen und Freidenker. Die frei-

79 Thomé: Weltanschauungsliteratur, 338. 80 Beyer, Heiko / Schnabel, Annette: Theorien sozialer Bewegungen. Eine Einführung. Frankfurt, New York 2017, 13. 81 Schröder, Stefan: Freigeistige Organisationen in Deutschland. Weltanschauliche Entwicklungen und strategische Spannungen nach der humanistischen Wende (Religion and its Others, Bd. 8). Berlin, Boston 2018, 4. 82 Allgemein zur Bewegungsforschung, vgl. Beyer / Schnabel: Theorien sozialer Bewegungen; Kern, Thomas: Soziale Bewegungen. Ursachen, Wirkungen, Mechanismen. Wiesbaden 2008; Raschke, Joachim: Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Grundriß. Frankfurt am Main, New York 1985; Tilly, Charles: Social Movements, 1768–2004. London, Boulder 2004. 83 Wilhelm Wien an Wilhelm Ostwald, 3.3.1916. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 3286: »Die ganze Frage der Monismusbewegung liegt doch so, daß ein Teil der geistig selbstständigen Menschen mit einer rein wissenschaftlichen Auffassung glauben auskommen zu können, während ein anderer Teil, zu denen ich gehöre, der Meinung sind, daß die wissenschaftliche Betrachtung allein nicht ausreicht, um auf alle Fragen des Lebens Antwort zu erteilen.« 84 Hölscher, Lucian: Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland. München 2005, 368.

24  Einleitung: Walter Ulbricht in der Villa Medusa religiösen Gemeinden entstanden im Vormärz und waren stark vom Deismus und Rationalismus der Aufklärung sowie der Religionskritik Ludwig F ­ euerbachs geprägt. Unter dem Eindruck der enormen Mobilisierungserfolge der katho­ lischen Kirche im Vormärz formierten sich zum Ende der 1840er Jahre auf katho­ lischer wie protestantischer Seite religionspolitische Oppositionsbewegungen: die Deutschkatholiken und protestantischen Lichtfreunde. Führende Akteure der 1848er-Bewegung standen beiden Oppositionsbewegungen nahe.85 Obwohl sich der Ausdruck »Freidenker« im Deutschen bereits seit dem frühen 18. Jahrhundert nachweisen lässt, begann sich die Freidenkerbewegung in Deutschland erst im ausgehenden 19. Jahrhundert vereinsmäßig zu organisieren.86 Im Kaiserreich wurden sowohl Freidenker und Konfessionslose als auch Anhänger der Freikirchen (Pfingstler, Methodisten etc.) als »Dissidenten« bezeichnet, d. h. Anhänger sämtlicher Weltanschauungs- und Glaubensgemeinschaften außerhalb der Amtskirchen. Der Ausdruck »Dissident« entstand in der Frühen Neuzeit und verwies zunächst auf protestantische Minderheiten oder Sekten. So bezeichnete man in England seit dem 16. Jahrhundert protestantische Gemeinden als »dissenter«, die sich von der Anglikanischen Kirche abgespalten hatten.87 In Deutschland war der Zivilstatus des »Dissidenten« seit dem »Gesetz betreffend den Austritt aus der Kirche« vom 14. Mai 1873 offiziell anerkannt. Dieses legalisierte den Kirchenaustritt, ohne dass Konfessionslose dabei in eine andere Religionsgemeinschaft übertreten mussten.88 Neben dem Monistenbund zählten der Deutsche Freidenkerbund (DFB), der 1881 von Ludwig Büchner (1824–1899) in Frankfurt gegründet worden war, sowie die 1892 in Berlin gegründete Deutsche Gesellschaft für Ethische Kultur (DGEK) zu den Hauptvertretern des bürgerlichen Freidenkertums im Kaiserreich. Wurde der Monisten- und Freidenkerbund vor allem vom städtischen Mittelstand getragen, so entwickelte sich die Ethische Gesellschaft zum Sammelbecken bildungsbürgerlicher Eliten, die anstelle der Religion eine säkulare Ethik

85 Ebd., 356. 86 Der Freidenkerbegriff geht auf die französische und englische Aufklärung zurück und wurzelt in der philosophischen Debatte um den Deismus. Der Ausdruck »freethinker« war seit dem späten 17. Jahrhundert in England bekannt. Der Naturphilosoph William Molyneux (1656–1698) verwendete ihn erstmals 1697 in einem Brief an John Locke (1632–1704). Gottfried Wilhelm Leibnitz gebrauchte den Begriff »Freidenker« erstmals 1715. Vgl. Mehlhausen, Joachim: Freidenker. In: TRE 11 (1983), 489–493. 87 Rosenthal, Julius: Die religiöse Erziehung der Dissidentenkinder in Preußen. Eine staatsrechtliche Studie. Diss. Univ. Greifswald 1918, 9 f. 88 Das Königliche Patent in Preußen vom 20. März 1847 sah vor, dass man bei Austritt aus den christlichen Kirchen zum freireligiösen oder mosaischen Glauben übertreten musste. Vgl. Prüfer, Sebastian: Sozialismus statt Religion. Die deutsche Sozialdemokratie vor der religiösen Frage 1863–1890 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 152). Göttingen 2002, 126.

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setzen wollten.89 Die Ethische Gesellschaft wurzelte im US -amerikanischen Ethical movement, das von dem Rabbiner Felix Adler (1851–1933) in den 1870er Jahren begründet worden war. Wie Hermann Lübbe nachgewiesen hat, prägten und popularisierten Vertreter der Ethischen Bewegung im 19. Jahrhundert den Begriff der Säkularisierung in Deutschland. Sie nutzten den Begriff als »Parole kultureller Emanzipation« und zielten dabei auf die Befreiung der Ethik, Erziehung und Schule von kirchlich-religiöser Bevormundung.90 Im Vergleich zu den britischen Secular Societies spiele der Säkularismusbegriff im deutschen Freidenkertum allerdings nur eine marginale Rolle.91 Das wilhelminische Kaiserreich – Kontext und Periodisierung Für die historische Einordnung der Monismusbewegung ist sowohl der politische Kontext der wilhelminischen Ära als auch die sozial- und kulturgeschichtliche Tragweite der europäischen Kulturkämpfe essentiell. Der Monistenbund wurde 1906 rund dreißig Jahre nach der Hochphase der europäischen Kulturkämpfe gegründet. Im Vergleich zu den westlichen Nachbarn Frankreich und Spanien war der Kulturkampf in Deutschland durch besondere strukturelle Dynamiken geprägt: Die Prozesse von Säkularisation und Mediatisierung nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1803 führten zu einer Neuordnung deutscher Territorien und zur Entstehung großer gemischtkonfessioneller Flächenstaaten. Die Reichsgründung von 1871 verstärkte die konfessionellen Gegensätze, da nun eine protestantische, preußisch dominierte Mehrheitsgesellschaft einer katholischen Minderheit von rund einem Drittel der Gesamtbevölkerung gegenüberstand.92 Die spezifische Dynamik des deutschen Kulturkampfes resultierte ferner aus der Komplexität von Allianzen, die sich quer zu den konfessionellen Trennlinien formierten.93 So protestierten konservative Protestanten im Verbund mit Katholiken gegen das liberale Schulgesetz von 1872, das die geistliche Schul­aufsicht in Preußen abschaffte.94 Auch andere Beispiele demonstrieren,

89 Vgl. Weir: Secularism and Religion, 134. Zum Beispiel war der Soziologe Ferdinand Tönnies (1855–1936) Mitglied der DGEK . 90 Lübbe, Hermann: Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs. 3. Aufl. Freiburg, München 2003, 41. 91 Simon-Ritz, Frank: Organisation einer Weltanschauung. Die freigeistige Bewegung im Wilhelminischen Deutschland. Gütersloh 1997, 21; Lübbe: Säkularisierung, 47. 92 Dittrich, Lisa: Antiklerikalismus in Europa. Öffentlichkeit und Säkularisierung in Frankreich, Spanien und Deutschland (1848–1914) (Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit, Bd. 3). Göttingen 2014, 114 f. 93 Ebd., 116. 94 Ebd., 370.

26  Einleitung: Walter Ulbricht in der Villa Medusa dass sich die Kulturkämpfe im Deutschen Reich als ein Konflikt zwischen Konservativen und Liberalen und weniger als eine Auseinandersetzung zwischen Katholiken und Protestanten begreifen lässt, wie es die ältere Forschung häufig behauptete.95 Obwohl sich die freireligiösen Gemeinden bereits in den 1840er Jahren formiert hatten, gewann die Freidenkerbewegung im Kaiserreich erst nach 1890 an Auftrieb.96 Zwar definierten die meisten Freidenkervereine ihr Programm als apolitisch, dennoch gingen sie aus einer bürgerlichen Opposition zum politischen System des Wilhelminismus hervor.97 Mit seinem »Neuen Kurs« forcierte Wilhelm II. umfassende Reformen in der Innen- und Außenpolitik, die zum Teil jedoch scheiterten. Hierzu zählte beispielsweise Wilhelms folgenschwere Abkehr vom außenpolitischen Bündnissystem Bismarcks.98 Einige freigeistige Vereine reagierten mit ihrer Gründung unmittelbar auf innenpolitische Reformmaßnahmen. So wurde die Gesellschaft für Ethische Kultur als Reaktion auf das konservative Unterrichtsgesetz in Preußen von 1892 hin gegründet, während der Goethebund 1900 aus der Diskussion um die Lex Heinze hervorging, welche die Kunstfreiheit massiv einschränken wollte.99 Auch die Gründung des Monistenbundes fiel in eine Zeit innenpolitischer Umbrüche, die sich in einem Wiedererstarken antikatholischer Ressentiments äußerten. Aus den parlamentarischen Auseinandersetzungen um die Weiterfinanzierung des Kolonialkrieges gegen die Nama und Herero in Deutsch-Südwestafrika war bei den Reichstagswahlen von 1907 (den sogenannten »Hottentottenwahlen«) ein Zweckbündnis aus Nationalliberalen, Linksliberalen und Konservativen hervorgegangen. Die liberal-konservative Koalition, auch als »Bülow-Block« bekannt, verstand sich als Abwehrbündnis gegen das katholische Zentrum und die Sozialdemokratie, die gegen das Vorgehen der Reichsregierung in Südwestafrika protestierten.100 Nach der konservativen Wende Bismarcks 1878 sahen Liberale im Bülow-Block wieder eine Chance, die Politik in ihrem Sinne zu gestalten.101 Gleichzeitig befeuerte der Bülow-Block eine antikatho­ lische Stimmung in der wilhelminischen Öffentlichkeit, die sich der Monistenbund in seinen Anfangsjahren zunutze machte. Die Euphorie der Liberalen war 95 Ebd., 370 f. 96 Simon-Ritz: Organisation einer Weltanschauung, 12. 97 Ebd., 12. 98 Ullrich, Volker: Die nervöse Großmacht 1871–1918. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs. 2. Aufl. Frankfurt am Main 2010, 182–192. 99 Simon-Ritz: Organisation einer Weltanschauung, 12. 100 Van der Heyden, Ulrich: Die »Hottentottenwahlen« von 1907. In: Zimmerer, Jürgen / Zeller, Joachim (Hg.): Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904–1908) in Namibia und seine Folgen. 3. Aufl. Berlin 2016, 97–104. 101 Vgl. Walser Smith, Helmut: German Nationalism and Religious Conflict. Culture, Ideology, Politics, 1870–1914. Princeton 1995, 142–146.

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jedoch nur von kurzer Dauer, denn bereits 1909 zerbrach die liberal-konservative Koalition am Streit um die Reichsfinanzreform.102 Die politisch angespannte Lage verschärfte sich vor dem Ersten Weltkrieg durch weitere Ereignisse: Die Daily-Telegraph-Affäre von 1908 führte zu einem deutlichen Ansehensverlust Wilhelms II. im In- und Ausland, belastete das deutsch-britische Verhältnis und manövrierte das Kaiserreich in eine Dauerkrise.103 Da Bülow durch den Skandal das Vertrauen des Kaisers verlor, erklärte er kurz darauf seinen Rücktritt. Wie stark der politische Einfluss Wilhelms  II. nach dem Rücktritt Bülows 1909 tatsächlich war, ist in der Kaiserzeitforschung umstritten.104 Die Extrempositionen reichen von der Vorstellung eines machtlosen »Schattenkaisers« (Hans Delbrück), der von einer »Polykratie miteinander rivalisierender Machtzentren« gelenkt wurde;105 bis zur These eines »persönlichen Regiments« Wilhelms II., der in seinem Hofstaat als unumstößliche Autorität alle Entscheidungen traf und nur Auserkorenen Zutritt gewährte.106 Wenngleich die These eines »Schattenkaisers« überspitzt formuliert ist, so zog sich Wilhelm II. nach der Entlassung Bülows verstärkt aus dem politischen Tagesgeschäft zurück und agierte fernab der Öffentlichkeit. Darüber hinaus waren die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg durch ein rasantes Anwachsen der Sozialdemokratie geprägt  – zum Missfallen des Kaisers und der Reichsregierung. Bei den Reichstagswahlen von 1912 erreichten die So­ zialdemokraten mit 34,8 % der Stimmen einen beispiellosen Erdrutschsieg. Die Anzahl der Reichstagsmandate blieb dennoch deutlich hinter den Stimmanteilen 102 Hintergrund der Reichsfinanzreform waren die enormen Staatsausgaben, die durch die Rüstungs- und Flottenpolitik Wilhelms II. entstanden. Deshalb stellten Liberale einen Gesetzesentwurf vor, der die Erhebung von Konsumsteuern auf Genussmittel wie Schnaps, Bier und Tabak sowie die Einführung einer Erbschaftssteuer vorsah. Konservative, die maßgeblich vom Bund der Landwirte unterstützt wurden, protestierten gegen die Erbschaftssteuer und drohten mit der Aufkündigung des Bündnisses. 103 Zur Daily Telegraph-Affäre, vgl. Winzen, Peter: Das Kaiserreich am Abgrund. Die Daily Telegraph-Affäre und das Hale-Interview von 1908. Darstellung und Dokumentation. Stuttgart 2000; Kohlrausch, Martin: Der Monarch im Skandal. Die Logik der Massenmedien und die Transformation der wilhelminischen Monarchie (Elitenwandel in der Moderne, Bd. 7). Berlin 2005, 243–262; Bösch, Frank: Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880–1914. München 2009, 365–420. 104 Zur politischen Rolle Wilhelms  II., vgl. König, Alexander: Wie mächtig war der Kaiser? Kaiser Wilhelm  II. zwischen Königsmechanismus und Polykratie von 1908 bis 1914. Stuttgart 2009; Freytag, Nils: Das wilhelminische Kaiserreich, 1890–1914. Paderborn 2018, 159 f. 105 Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 3: Von der »Deutschen Doppelrevolution« bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914. München 1995, 1000. 106 John Röhls These vom sogenannten »Königsmechanismus« besagt, dass Wilhelm II. seine politische Macht ausbaute, indem er seine Untertanen in einer konstanten Rivalität um dessen Gunst beließ. Dadurch konnte er indirekt Einfluss auf die Politik des Kaiserreichs ausüben. Röhl lehnte sich mit seiner These an Norbert Elias’ Analyse des höfischen Systems Ludwig XIV. an. Vgl. Röhl, John: Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II und die deutsche Politik. München 1988, 116–140.

28  Einleitung: Walter Ulbricht in der Villa Medusa zurück, da der Zuschnitt der Wahlkreise den ländlichen Raum gegenüber den urbanen Ballungszentren  – den traditionellen Hochburgen der Sozialdemokratie  – bevorteilte.107 Der Einfluss der Sozialdemokratie schlug sich auch in der Monismusbewegung nieder, die seit 1909/10 einen erkennbaren Linksruck erfuhr.108 Die innen- und außenpolitischen Spannungen des späten Kaiserreichs begünstigten eine Verdichtung monistischer Aktivität vor dem Ersten Weltkrieg: Jenseits von Politik versuchten Monisten gesellschaftlichen Wandel mit den Mitteln der Wissenschaft und Technik herbeizuführen. Indem sich Monisten auf den Primat der Wissenschaft beriefen, glaubten sie politische Interessensgegensätze überwinden zu können. Mit seinem Weltanschauungsanspruch fügte sich der Monistenbund zugleich in die ideologischen Diskurse des Fin de Siècle ein, die durch religiöse Sinnsuche, Lebensreform und die Versöhnung von Religion und moderner Kultur geprägt waren. Scharfsinnig brachte der Monist Rudolf Goldscheid den geistesgeschichtlichen Wandel seiner Zeit auf den Punkt: Haben wir Kultur? Das ist die Grundfrage, die der tiefer empfindende moderne Mensch sich vorlegt, und in dieser Fragestellung kommt die ganze Verwandlung, die sich in seiner Seele vollzogen hat, scharf zum Ausdruck. Die Sorge um das individuelle Seelenheil ist zurückgetreten gegenüber der Beunruhigung über das Schicksal der Gesellschaft, der Nation, des ganzen Geschlechtes. Man könnte beinahe sagen, die Rolle, die im Seelenleben des Menschen der Vergangenheit die Grundprobleme der Religion spielten, diese spielen im Seelenleben des Menschen der Gegenwart die Grundprobleme der Kultur.109

Obwohl die Monismusbewegung mit ihrer emphatischen Verwendung des Weltanschauungsbegriffs ein Kind des Fin de Siècle war, schlug sie dennoch eigene Wege ein: Allen kulturpessimistischen Krisendiagnosen zum Trotz vertraten Monisten bis 1914 einen ungetrübten Fortschrittsoptimismus.110 Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs markierte eine deutliche Zäsur für die Monismusbewegung und ihre Ziele. Nach 1918 konnte der Monistenbund an die Erfolge der Vorkriegsjahre nicht mehr anknüpfen und verschwand hinter den politischen Grabenkämpfen der Weimarer Republik. Aus diesem Grund liegt es nahe, den zeitlichen Rahmen auf die wilhelminische Ära zu beschränken.

107 Freytag: Das wilhelminische Kaiserreich, 164 u. 172. 108 Weir: Riddles of Monism, 6; Simon-Ritz: Organisation einer Weltanschauung, 151. 109 Goldscheid, Rudolf: Kulturperspektiven. In: Annalen der Natur- und Kulturphilo­ sophie 12 (1913), 3–27, hier 4.  110 Braune: Fortschritt als Ideologie, 140.

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3.

Vielfältige Säkularitäten

Bis vor wenigen Jahrzehnten herrschte in der Sozialwissenschaft noch weitgehend Einigkeit darüber, dass Moderne und Religion in einem Spannungsverhältnis zueinander stünden. Dieser weitgehende Konsens beruhte auf der klassischen Modernisierungs- und Säkularisierungstheorie, die besagte, dass mit der stetigen Ausdifferenzierung, Individualisierung und Rationalisierung der Gesellschaft der Einfluss von Religion und Kirche schwinde oder zumindest auf den privaten Raum beschränkt werde.111 Nach José Casanova sind mit der Säkularisierung drei Teilprozesse verbunden  – die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft, der Rückgang religiöser und kirchlicher Bindungen sowie die Privatisierung von Religion.112 Mit jenen modernisierungs- und säkularisierungstheoretischen Annahmen standen viele Sozialwissenschaftler in der Tradition der soziologischen Klassiker um Max Weber und Emile Durkheim.113 Obwohl die Säkularisierungsthese in den vergangenen Jahrzehnten vielfach revidiert wurde, herrscht aktuell eine »wenig produktive Pattsituation« in der religionssoziologischen Debatte vor, wie Monika Wohlrab-Sahr konstatiert:114 Während die einen zumindest an der Plausibilität einer kritisch revidierten Säkularisierungstheorie festhalten, lehnen sie andere als deterministisch, eurozentrisch und empirisch unhaltbar ab, häufig mit Verweis auf die religiöse Vitalität der USA.115 Verschiedene Autoren betonen sogar die religionsproduktive Wirkung der Moderne: Sie sprechen von der »Wiederkehr der Götter«, der »Renaissance der Religionen« oder einem Prozess der »De-Säkularisierung« in der Moderne.116

111 Wohlrab-Sahr, Monika: Vielfältige Säkularitäten. Vorschlag zu einer vergleichenden Analyse religiös-säkularer Grenzziehungen. In: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften 7 (2011), 53–71, hier 54; Dies. / Burchardt, Marian: Multiple Secularities. Toward a Cultural Sociology of Secular Modernities. In: Comparative Sociology 11 (2012), 875–909. 112 Casanova, José: Chancen und Gefahren öffentlicher Religion. Ost- und Westeuropa im Vergleich. In: Kallscheuer, Otto (Hg.): Das Europa der Religionen. Frankfurt am Main 1996, 181‒210; Ders.: Public Religions in the Modern World. Chicago 1994, 11–39. 113 Pollack, Detlef: Wiederkehr der Religion oder Säkularisierung: Zum religiösen Wandel in Deutschland. In: Ost-West. Europäische Perspektiven 7/1 (2007), 11–20, hier 11.  114 Wohlrab-Sahr: Vielfältige Säkularitäten, 53. 115 Ebd., 53. 116 Vgl. Berger, Peter L. (Hg.): The Desecularization of the World. Resurgent Religion and World Politics. Washington D. C. 1999; Graf: Wiederkehr der Götter; Pollack: Wiederkehr der Religionen oder Säkularisierung; Ders.: Säkularisierung – ein moderner Mythos? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland. Tübingen, München 2003; Ders. / Rosta, Gergely: Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich. Frankfurt am Main, New York 2015; Lehmann, Hartmut: Säkularisierung. Der europäische Sonderweg in Sachen Religion. Göttingen 2004;

30  Einleitung: Walter Ulbricht in der Villa Medusa Insbesondere konstruktivistische Ansätze in der Religionssoziologie haben sich von der alten Vorstellung verabschiedet, Säkularisierung entspräche einem linearen und notwendigen Prozess, der in Westeuropa von der Industriellen Revolution oder dem Aufstieg der Naturwissenschaften losgetreten wurde.117 Stattdessen fassen konstruktivistische Ansätze Säkularisierung als einen historisch kontingenten und kontinuierlichen Aushandlungsprozess, der erst zu einer Unterscheidung von Säkularem und Religiösem führte. So gesehen war der europäische Antiklerikalismus des 19. Jahrhunderts kein Ergebnis einer vorangegangenen Säkularisierung, sondern Teil und Produkt zahlreicher Kulturkämpfe, die auch Glaubensfragen beinhalteten.118 Das Konzept der »Multiple Secularities« steht ganz im Zeichen der jüngeren Forschungsdebatte und nähert sich dem Problem der Säkularisierung aus einer historischen und kulturvergleichenden Perspektive an. Der Begriff Säkularität verweist auf die »institutionell und kulturell-symbolisch verankerten Formen und Arrangements der Unterscheidung zwischen Religion und anderen gesellschaftliche Bereichen.«119 Die Aushandlungsprozesse um die Grenzen der Religion in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft führen erst dazu, dass sich die religiösen und säkularen Eigenbereiche als solche herauskristallisieren.120 Dabei sind die Grenzen zwischen Religion und Säkularität nicht in Stein gemeißelt, sondern müssen immer wieder gesellschaftlich ausgehandelt werden. Mit Blick auf das religiöse Feld im modernen Rechts- und Verfassungsstaat bemerkt die Religionswissenschaftlerin Astrid Reuter: Die Grenzen der Felder sind dynamisch: Sie werden mal enger gezogen und schärfer konturiert, mal weicher und durchlässiger gestaltet. In diesem Sinne hat die Trennung zwischen Religion und Politik sowie Religion und Recht […] den Kämpfen an ihren Grenzen kein Ende gesetzt, sondern diese allenfalls eingehegt.121

Der Ansatz »Multiple Secularities« versteht sich als Fortführung des von Shmuel N.  Eisenstadt eingeführten Konzepts der »Multiple Modernities«. Eisenstadt Nash, David: Reconnecting Religion with Social and Cultural History: Secularization’s Failure as a Master Narrative. In: Cultural and Social History 1/3 (2004), 302–332. 117 Zur Kritik an älteren Säkularisierungsansätzen in der Geschichtswissenschaft, vgl. McLeod, Hugh: Secularisation in Western Europe, 1848–1914. London, New York 2000, 1‒30. 118 Dittrich, Lisa: Europäischer Antiklerikalismus. Eine Suche zwischen Säkularisierung und Religionsreform. In: GG 45/1 (2019), 5–36, hier 8. Zur Historisierung der Säkularisierungstheorie, vgl. Borutta: Genealogie der Säkularisierungstheorie, 347–376; Bruce, Steve (Hg.): Religion and Modernization. Sociologists and Historians Debate the Secularization Thesis. Oxford 2000; McLeod: Secularisation in Western Europe; Pollack, Detlef: Rekonstruk­ tion statt Dekonstruktion. Für eine Historisierung der Säkularisierungsthese. In: Zeithistorische Forschungen 7 (2010), 433–439. 119 Wohlrab-Sahr: Vielfältige Säkularitäten, 61. 120 Reuter: Religion in der verrechtlichten Gesellschaft, 56. 121 Ebd., 57.

Vielfältige Säkularitäten  31

formulierte seinen Ansatz als Gegenentwurf zu klassischen Modernisierungstheorien und ihren normativen Vorannahmen.122 Zwar stimmte Eisenstadt mit klassischen Modernisierungstheoretikern darin überein, dass die Moderne zu einer Loslösung von tradierten Ordnungsvorstellungen und Rollenbildern führte und dadurch ein höheres Maß an individueller Autonomie und gesellschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten begünstigte; doch rief gerade die Infragestellung des Gegebenen und Tradierten eine Vielfalt sozialer und politischer Ordnungsentwürfe hervor, die ebenso vielfältige Entwicklungspfade der Moderne ermöglichten. Zeitgleich barg das Nebeneinander verschiedener Entwicklungsmöglichkeiten das »Potential zu anhaltenden, nie ganz aufzulösenden Konflikten über den besten einzuschlagenden Weg«.123 Das enorme Konfliktpotential der Moderne zeigte sich nach Eisenstadt besonders in den großen Revolutionen des langen 19. Jahrhunderts in Europa und den USA, aber auch in totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts – dem »Zeitalter der Extreme« (Eric Hobsbawm).124 Im Anschluss an dieses Verständnis von Moderne geht der Ansatz der »Multiple Secularities« von unterschiedlichen und dynamischen Entwicklungspfaden der Säkularisierung aus. Der analytische Mehrwert des Konzepts für meine Fragestellung liegt darin, dass es den Blick für die historischen Problemlagen, Bedürfnisse und Aushandlungsprozesse schärft, die zu bestimmten Grenz­ forderungen und -ziehungen führten – etwa im Bereich des Staats-Kirchen-Verhältnisses, der Erziehung oder der Geschlechterrollen. Besonders für die Untersuchung des wilhelminischen Freidenkertums bietet sich das Konzept an, weil es auf die Vielschichtigkeit, Ambivalenzen und Ungleichzeitigkeiten säkularer Forderungen innerhalb dieser Bewegungen verweist. Zugleich untersucht das Konzept die Prozesse der Grenzbestimmung von Religion und Nicht-Religion im Kontext der nationalen und kulturellen Entwicklungspfade. Idealtypisch unterscheidet Wohlrab-Sahr vier Formen der Säkularität, denen unterschiedliche Intentionen und Motive zugrundeliegen: Säkularität dient entweder der Stärkung individueller Freiheitsrechte (1), dem Ausgleich zwischen religiösen Minderheiten (2), der nationalen Einheit (3) oder der autonomen Entwicklung gesellschaftlicher Funktionsbereiche (4).125 Wie wir am Beispiel der Monismus 122 Eisenstadt, Shmuel N.: Multiple Modernities. In: Daedalus 129/1 (2000), 1–29; Ders.: Die Vielfalt der Moderne. Weilerswist 2000, 9–45. 123 Winandy, Julien: Multiple Modernities (Eisenstadt). In: Pitschmann, Annette / Schmidt, Thomas (Hg.): Religion und Säkularisierung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2014, 164–171, hier 165. 124 Ebd., 165. 125 Wohlrab-Sahr: Vielfältige Säkularitäten, 70. Anders als Säkularität verweist der Begriff Säkularismus (secularism) entweder auf die historisch gewachsene Trennungsideologie, die Säkularitätsvorstellungen zugrunde liegt, oder – im engeren Sinne – auf die Freidenkerbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts. Talal Asad verbindet den Säkularismusbegriff mit einer

32  Einleitung: Walter Ulbricht in der Villa Medusa bewegung sehen werden, können die verschiedenen Motivationen und Vorstellungen von Säkularität miteinander im Spannungsverhältnis stehen. Religion und Säkularismus Das Konzept der Säkularität erfordert zugleich eine terminologische Auseinan­ dersetzung mit den Begriffen Religion und Säkularismus. In der Soziologie und Religionswissenschaft haben sich zwei Ansätze herauskristallisiert, um Religionen zu definieren: Der substantialistische Ansatz führt die Gesamtheit der Religionen auf eine spezifische Essenz, eine Wesenhaftigkeit zurück, wie etwa den Bezug zum »Heiligen« oder die Erfahrung von »Selbsttranszendenz«.126 In Abgrenzung dazu haben funktionalistische Ansätze Religionen nach ihrer spezifischen Leistung für den einzelnen Menschen und eine Gemeinschaft untersucht. Hier könnte man beispielsweise die Bewältigung von Kontingenz oder die Schaffung von Gruppenkohärenz anführen.127 Kritiker halten diesen Definitionsversuchen entgegen, dass es unmöglich sei, eine spezifische Ge­meinsamkeit von religiösen Systemen auszumachen. Andernorts weisen Kritiker auf die eurozentrische und protestantische Prägung des modernen Religionsbegriffs hin, wodurch ein universelles Religionsverständnis fragwürdig erscheint.128 Diese Arbeit verzichtet sowohl auf substantialistische als auch funktionalistische Definitionsversuche von Religion; stattdessen wird Religion (im Anschluss an Walter B. Gallie) als ein »essentially contested concept« definiert.129 Mit diesem Begriff zielte Gallie auf gesellschaftliche Schlüsselkonzepte, deren Bedeutung kontinuierlichen Aushandlungsprozessen und öffentlichen Konflikten unterliegt.130 Gallie versteht diesen Prozess als genuin unabgeschlossen: In verschiedenen Arenen der Gesellschaft wie der Politik, den Massenmedien und obersten Gerichten wird unablässig um die Bedeutung dieser Konzepte gerungen. Gallies Konzept birgt den Vorteil, dass es die Aufmerksamkeit auf die

antikapitalistischen und postkolonialen Perspektive: Ihm zufolge habe sich Säkularismus als westliche, hegemoniale Doktrin herausgebildet, die normative Vorstellungen von Religion, Staat und Moderne nach sich zog, vgl. Asad, Talal: Formations of the Secular: Christianity, Islam, Modernity. Stanford 2003, 1–17. 126 Vgl. Joas, Hans: Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz. Freiburg im Breisgau 2004. Zu diesen Ansätzen, vgl. Reuter: Religion in der verrechtlichten Gesellschaft, 18–19. 127 Reuter: Religion in der verrechtlichten Gesellschaft, 18. 128 Zur Begriffsgeschichte von Religion in der Moderne, vgl. Feil, Ernst: Religio. Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs vom Frühchristentum zur Reformation. Bd. 3. Göttingen 2001. 129 Gallie, Walter B.: Essentially Contested Concepts. In: Proceedings of the Aristotelian Society 56 (1955/56), 167–198. 130 Reuter: Religion in der verrechtlichten Gesellschaft, 22.

Quellen und Forschung  33

Akteure und gesellschaftspolitischen Aushandlungsprozesse lenkt, die in diese Deutungskämpfe involviert waren. Gegenüber dem Prozessbegriff der Säkularisierung steht Säkularismus für die antiklerikale Ideologie, die sich im Freidenkertum des 19. Jahrhunderts herausbildete. Todd Weir definierte für den Säkularismus drei Merkmale: Erstens die Formulierung einer einheitlichen Weltanschauung auf naturwissenschaftlicher Basis (immanent and totalizing worldview), zweitens die Verbreitung einer humanistischen Ethik, und drittens die Profilierung eines radikalen Antiklerikalismus.131 Diese Kriterien treffen auch für die Monismusbewegung um 1900 zu. Der britische Freidenker George Jacob Holyoake (1817–1906) führte 1851 den Begriff »secularism« ein. Wie Michael Rectenwald betont, zielte Holyoakes Säkularismusbegriff keineswegs auf die Negation von Religion, sondern im Gegenteil auf eine gesellschaftliche Pluralität, die Glaube, Unglaube und religiöse Indifferenz gleichermaßen integrierte.132

4.

Quellen und Forschung

Die Studie baut auf einem breiten Fundus an archivalischen und gedruckten Quellen auf. Drei Quellentypen bilden den Materialkern dieser Arbeit: Erstens Archivquellen, die aus den Nachlässen verschiedener Monisten und Freidenker gewonnen wurden; zweitens gedruckte Quellen, die von Freidenkerzeitschriften, über Tageszeitungen, bis hin zu Flugblättern, Jubiläumsbänden, Festreden und Vorträgen reichen; und drittens Bildquellen (Karikaturen, Plakate, Fotografien), die Aufschluss über die Rezeption der Monismusbewegung in der kaiserzeitlichen Öffentlichkeit geben. Da Wilhelm Ostwald als Begründer der Energetik und Präsident des DMB den Hauptakteur dieser Arbeit darstellt, stammt ein Großteil der Quellen aus seinem umfangreichen Nachlass. Der Ostwald-Nachlass wird im Archiv der Ber-

131 Weir: Secularism and Religion, 4: »Nineteenth-Century secularism understood itself to possess an immanent and totalizing worldview validated by natural science. Secularism was praxis-oriented and justified its social and political interventions with a eudemonistic ethical system. It not only considered the metaphysical aspects of religion intellectually irrelevant and psychologically harmful – secularism was structurally anticlerical.« 132 Rectenwald, Michael: Mid-Nineteenth-Century Secularism as Modern Secularity. In: Cragun, Ryan T. / Fazzino, Lori L. / Manning, Christel (Hg.): Organized Secularism in the United States. New Directions in Research. Berlin, Boston 2017, 31–55. Um terminologische Überlappungen zwischen den Kategorien Säkularität und Säkularismus zu vermeiden, werden im Folgenden die Adjektive »freigeistig« oder »freidenkerisch« bevorzugt. Im Unterschied zum eingedeutschten Begriff Säkularismus handelt es sich bei diesen Adjektiven auch um Quellenbegriffe.

34  Einleitung: Walter Ulbricht in der Villa Medusa lin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (ABBAW) aufbewahrt.133 Die ausgewerteten Dokumente umfassen Briefwechsel mit Fachkollegen, Freidenkern, Monisten und Sozialreformern, Ego-Dokumente, Fotografien, Plakate und Zeitungsausschnitte. Darüber hinaus schöpft die Studie aus den zahlreichen Publikationen Ostwalds und anderer Monisten, wobei einige Schriften  – wie etwa Ostwalds Lebenserinnerungen – einen sensiblen historiographischen Umgang erfordern. Schließlich lassen gerade Ego-Dokumente jene Neutralität vermissen, die für die kritische Einordnung historischer Ereignisse, Prozesse und Akteure erforderlich ist. Daneben nimmt die Studie weitere Archivbestände von monistischen Akteuren in den Blick, etwa den Nachlass Ernst Haeckels (Ernst-Haeckel-Haus Jena), Franz Müller-Lyers (Staatsbibliothek München), Wilhelm Börners (Bibliothek im Rathaus Wien) und Jacques Loebs (Library of Congress). Abgerundet werden diese Archivquellen durch einige Briefeditionen.134 Forschungsüberblick Die Studie siedelt sich an der Schnittstelle von Religions- und Wissenschaftsgeschichte an. Einerseits sind wissenschaftshistorische Perspektiven notwendig, um die verschiedenen Monismen der Akteure zu verstehen, die sich aus den jeweiligen Wissenschaften (Evolutionsbiologie, physikalische Chemie, Neurologie und Soziologie) heraus entwickelten; andererseits ist das Faszinosum Monismus nur vor dem Hintergrund der religiös-weltanschaulichen Pluralisierung des Fin de Siècle vollends zu erfassen. Der Monistenbund hat in der Vergangenheit immer wieder das Interesse von Historikern geweckt. Standen frühere Beiträge zum Monismus im Zeichen der Ideen- und Institutionengeschichte, so beleuchtet diese Arbeit den Monismus aus einer breiteren religions- und wissenschaftshistorischen Perspektive: Sie fragt danach, welchen Einfluss Monisten auf Religionsdiskurse im Fin de Siècle hatten und welche Rolle wissenschaftliches Wissen im Monismus zur Generierung von Deutungsmacht spielte. Darüber hinaus konzentrierte sich die bisherige Historiographie zum Monismus auf Ernst Haeckel, weshalb Todd Weir treffend 133 Der Ostwald-Nachlass blickt auf eine komplexe Bestandsgeschichte zurück, in die sowohl die Ostwald-Gedenkstätte in Großbothen als auch die Wissenschaftsakademie der DDR involviert waren. Vgl. Übersicht über die Bestandgeschichte. In: Wilhelm Ostwalds Briefkorrespondenz, Bd. 1. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (ABBAW), NL Wilhelm Ostwald. 134 Zu den Briefeditionen, vgl. Nöthlich u. a. (Hg.): »Substanzmonismus« und »Energetik«; Hansel, Karl (Hg.): Rudolf Goldscheid und Wilhelm Ostwald in ihren Briefen (Mitteilungen der Wilhelm-Ostwald-Gesellschaft zu Großbothen e. V., Sonderheft 21). Großbothen 2004; Körber, Hans-Günther (Hg.): Aus dem wissenschaftlichen Briefwechsel Wilhelm Ostwalds. Unter Mitwirkung von Grete Ostwald. Berlin 1961.

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von einer »narrow history« spricht.135 Um das »Haeckel-Monopol« innerhalb der Monismusforschung zu durchbrechen, nimmt diese Untersuchung weniger beachtete Akteure wie Wilhelm Ostwald, Franz Müller-Lyer oder Helene Stöcker in den Blick. Insbesondere Ostwald prägte wie kein anderer die programmatische Ausrichtung des Monistenbundes vor 1914.136 Die Monismusbewegung selbst wurde schon von Zeitgenossen wie Wilhelm Breitenbach historisiert.137 Erste historische Studien zur Monismusbewegung entstanden in den 1960er und 70er Jahren. Die ältere Ideengeschichte sprach dem Monismus und Positivismus nur einen marginalen Einfluss auf die deutsche Denktradition zu oder disqualifizierte ihn als dilettantische Philosophie.138 Bezeichnenderweise bemerkte Hermann Lübbe 1963, dass das »technokratische Denken positivistischer Prägung in einem Deutschland, in dem es eine ›klassische‹ Tradition des Positivismus nicht gab […] zwangsläufig in sektenhafter Isolation« verharrte.139 Wenngleich man dem Urteil Lübbes über die schwach ausgeprägte Positivismustradition in Deutschland zustimmen kann, so stellt sich die Relevanz des Monismus aus einer religions- und kulturhistorischen Perspektive völlig anders dar: Die Monismusbewegung wurde nicht nur in weiten Teilen des wilhelminischen Bürgertums rezipiert, sie nahm auch aktiv an gesellschaftspolitischen Debatten teil, wie etwa der Bildungsreform.140

135 Weir: Riddles of Monism, 5. Ein Großteil der historischen Arbeiten zum Monismus entstand am Ernst-Haeckel-Haus in Jena, wo der umfangreiche Nachlass des Zoologen aufbewahrt wird. 136 Die Forschung zu Wilhelm Ostwald war bis in die 1980er Jahre von der marxistisch-­ leninistischen Historiographie der DDR geprägt, da sich dessen Nachlass im sächsischen Großbothen bzw. der Wissenschaftsakademie in Ost-Berlin befand. Obwohl das interdisziplinäre Werk Ostwalds in mehreren Sammelbänden untersucht wurde, steht eine historischkritische Biografie bislang noch aus. Laut Bernadette Bensaude-Vincent war Ostwald »too speculative and eccentric for historians of science and too scientific for cultural historians«. Dies.: Revisiting the Controversy on Energetics. In: Görs, Britta (Hg.): Wilhelm Ostwald at the Crossroads between Chemistry, Philosophy and Media Culture. Leipzig 2005, 15. 137 Breitenbach, Wilhelm: Entstehung und Entwicklung des Deutschen Monistenbundes. Brackwede 1913. 138 Der Historiker Jürgen Osterhammel zählt den Positivismus neben Historismus und Evolutionismus zu den »wichtigsten Denkströmungen« des 19. Jahrhunderts. Vgl. Ders.: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2010, 44. 139 Lübbe: Politische Philosophie in Deutschland, 171. 140 Einige Beiträge zum Monismus stehen an der Schnittstelle von Wissenschafts- und Ideengeschichte, vgl. Breidbach, Olaf: Monismus um 1900 – Wissenschaftspraxis oder Weltanschauung? In: Aescht, Erna u. a. (Hg.): Welträtsel und Lebenswunder. Ernst Haeckel – Werk, Wirkung und Folgen (Stapfia 56). Linz 1998, 289–316; Hübinger, Gangolf: Die monistische Bewegung. Sozialingenieure und Kulturprediger. In: Bruch, Rüdiger vom / Graf, Friedrich Wilhelm / Hübinger, Gangolf (Hg.): Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. Bd. 2: Idealismus und Positivismus. Stuttgart 1998, 246–259; Ziche, Paul: Wissenschaftslandschaften um 1900. Philosophie, die Wissenschaften und der nicht-reduktive Szientismus. Zürich 2007.

36  Einleitung: Walter Ulbricht in der Villa Medusa Abgesehen von der Ideengeschichte dominierten in früheren Arbeiten zum Monismus institutionenhistorische Zugänge: Die Studien von Ulrich Dankmeier, Horst Groschopp und Frank Simon-Ritz rekonstruierten die Vereinsgeschichte des Monistenbundes und zeigten dabei die Netzwerke mit anderen Freidenkergruppen auf, die sich in Kartellgründungen und Mehrfachmitgliedschaften niederschlugen.141 Allerdings verblieben die genannten Studien in einer freidenkerischen Mikroperspektive und vernachlässigten dabei die aktive Rolle des Säkularismus im religions-, kultur- und wissenschaftshistorischen Gesamtkontext des Kaiserreichs.142 Zudem gingen die älteren Beiträge zum Monismus von modernisierungs- und säkularisierungstheoretischen Prämissen aus und reproduzierten dadurch das historische Narrativ der Konfliktthese: So deutete Horst Hillermann in seiner Studie zum Monistenbund von 1974 das »weltanschauliche Engagement« von Naturwissenschaftlern als »Konsequenz der Interventionen kirchlicher, theologischer und staatlicher Orthodoxie in dem Bereich dieser Wissenschaften«.143 Nicht nur Hillermanns Arbeit, auch andere Studien zum Monismus führten einseitige Konfliktnarrative fort, indem sie den Prozess der Modernisierung als eine Emanzipationsgeschichte der bürgerlichen Vernunft, Wissenschaft und Ratio­ nalität zulasten der Religion deuteten.144 Solche Narrative verkennen jedoch die religionsproduktive Wirkung der Monisten: Sie partizipierten an Religionsdiskursen ihrer Zeit und prägten das Denken über Religion und Wissenschaft. Ausgehend von dieser Beobachtung plädierte Laura Schwartz dafür, die kons­ truktive Rolle von Religion in der Entwicklung des organisierten Säkularismus ernstzunehmen: Once secularism is approached as substantive rather than  a negative category  – as something more than simply an absence of religion – it becomes possible to see how religion may indeed play a role within secular worldview without simply collapsing secularism into the wider category of religion.145

141 Dankmeier, Ulrich: Naturwissenschaft und Christentum im Konflikt. Die Konstruktion konkurrierender Weltanschauungen unter dem Einfluss des naturwissenschaftlichen Paradigmas durch den Deutschen Monistenbund und den Keplerbund am Beginn des 20. Jahrhunderts. Diss. Frankfurt am Main 2007; Groschopp, Host: Dissidenten. Freidenkerei und Kultur in Deutschland. Berlin 1997; Simon-Ritz: Organisation einer Weltanschauung. Katharina Neef bezeichnete die Mehrfachmitgliedschaften der wilhelminischen Freidenker auch als »multiple Devianz«, vgl. Dies.: Die Entstehung der Soziologie aus der Sozialreform. Eine Fachgeschichte. Frankfurt am Main 2012, 122. 142 Weir: Secularism and Religion, 9. 143 Hillermann: Der vereinsmäßige Zusammenschluß, 6. 144 Graf: Wiederkehr der Götter, 104. 145 Schwartz, Laura: Infidel Feminism. Secularism, Religion and Women’s Emancipation. England 1830–1914. Manchester 2017, 24.

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Wie schon erwähnt leistet diese Arbeit einen Beitrag zur Wissenschafts- und Religionsgeschichte des Kaiserreichs. Diese beiden historischen Teildisziplinen wiesen bislang nur wenig Berührungspunkte auf und beschränkten sich zumeist auf die angelsächsische Science-and-Religion-Forschung.146 In den vergangenen zwanzig Jahren sind vor allem religionsgeschichtliche Perspektiven stärker in den Fokus der Kaiserzeitforschung gerückt.147 Mit dem cultural turn in der Geschichtswissenschaft wurde die historiographische Sensibilität dafür geschärft, dass Religion und Konfession als identitätsbildende Kräfte nicht nur soziale Milieus und deren Alltag, sondern auch die politische Kultur des Kaiserreichs beeinflussten. Vor diesem Hintergrund vertrat Olaf Blaschke die These, dass die Epoche zwischen 1830 und 1960 als ein »Zweites Konfessionelles Zeitalter« anzusehen sei.148 Während im 18. Jahrhundert religiöse Bräuche »verwässerten« und die »konfessionelle Scharfmacherei erschlaffte«, erlebten die Konfessionen im Laufe des 19. Jahrhunderts eine Renaissance religiöser Aktivität. Katholiken und Protestanten grenzten sich durch je eigene »erfundene Traditionen« (Eric H ­ obsbawm) voneinander ab.149 Dabei, so Blaschke, rekurrierten Protestanten wie Katholiken gezielt auf das Zeitalter der Reformation respektive das katholische Mittelalter, um sich historisch zu legitimieren: »Ihre Waffen holten sie aus der reichhaltigsten Asservatenkammer, dem ›Konfessionellen Zeitalter‹

146 Hier sind vor allem zu nennen: Brooke: Science and Religion; Clayton (Hg.): The Oxford Handbook of Religion and Science; Harrison: Territories of Science and Religion; Ders. (Hg.): Cambridge Companion to Science and Religion. 147 Zur Religionsgeschichte des Kaiserreichs, vgl. Blaschke / Kuhlemann (Hg.): Religion im Kaiserreich; Dinzelbacher, Peter: Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum. Bd. 5: 1750–1900. Paderborn 2007; Geyer, Michael / Lehmann, Hartmut (Hg.): Religion und Nation – Nation und Religion. Beiträge zu einer unbewältigten Geschichte. Göttingen 2004; Jakubowski-Tiessen, Manfred (Hg.): Religion zwischen Kunst und Politik. Aspekte der Säkularisierung im 19. Jahrhundert. Göttingen 2004; Nipperdey: Religion im Umbruch; Rahden, Till van: Juden und andere Breslauer. Die Beziehung zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1860 bis 1925 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 139). Göttingen 2000; Ribbat, Christoph: Religiöse Erregung. Protestantische Schwärmer im Kaiserreich. Frankfurt am Main, New York 1996; Treitel, Corinna: A Science for the Soul. Occultism and the Genesis of the German Modern. Baltimore, London 2004; Walser Smith: German Nationalism and Religious Conflict. Zur jüngeren Kaiserreichforschung, vgl. Müller, Sven Oliver / Torp, Cornelius: Das Bild des Deutschen Kaiserreichs im Wandel. In: Dies. (Hg.): Das Kaiserreich in der Kontroverse. Göttingen 2011, 9–27; Müller, Frank Lorenz: Royal Heirs in Imperial Germany. The Future of Monarchy in Nineteenth-­ Century Bavaria, Saxony and Württemberg. Basingstoke, London 2017. 148 Blaschke: Ein Zweites Konfessionelles Zeitalter, 38–75, hier 41. Kritiker weisen darauf hin, dass Blaschke die jüdische Minderheit und innerkonfessionelle Konflikte ausgeblendet hat, vgl. Steinhoff, Anthony J.: Ein Zweites Konfessionelles Zeitalter? Nachdenken über Religion und Politik im 19. Jahrhundert. In: GG 30/4 (2004), 549–570. 149 Zum Begriff der »invented tradition«, vgl. Hobsbawm, Eric / Ranger, Terence (Hg.): The Invention of Tradition. Cambridge 1992.

38  Einleitung: Walter Ulbricht in der Villa Medusa selber«.150 An Blaschkes These anknüpfend untersucht diese Arbeit, wie stark Monisten von konfessionellen (vorrangig protestantischen) Traditionen geprägt waren und inwiefern sie ein konfessionelles Selbstverständnis nach außen trugen. Beschäftigt man sich mit dem Thema Religion im Kaiserreich, so gerät auch die bürgerliche Kultur in den Blick, deren Werte in einem protestantischen Tugendkatalog wurzelten. Die Bewertung und Einordnung des Bürgertums im langen 19. Jahrhunderts hat die Sozialgeschichte seit den 1980er Jahren beschäftigt. Zu den Forschungsthemen zählte nicht nur die gesellschaftspolitische Verortung des Bürgertums, sondern auch die Frage nach bürgerlichen Habitusformen und Wertvorstellungen, seines kulturellen Einflusses sowie seiner spezifischen Deutungs- und Wahrnehmungsmuster. Der Sozialhistoriker Jürgen Kocka hat auf die Problematik des Bürgertums als historische Analysekategorie hingewiesen, da nur schwer auszumachen sei, was eigentlich »bürgerlich« bedeutete. Schließlich galten unterschiedliche Gesellschaftsgruppen im 19. Jahrhundert als »bürgerlich«, wie etwa das traditionelle Stadtbürgertum, das Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum, die Bourgeoisie oder der dritte Stand des Ancien R ­ égime. Kocka schlug deshalb vor, von einer spezifisch »bürgerlichen Kultur« zu sprechen, die sich durch geteilte Werte, Deutungsmuster und Habitusformen auszeichnete.151 Anknüpfend an die bisherigen Forschungsdebatten fragt meine Studie erstmals danach, auf welche bürgerlichen Tugenden Monisten rekurrierten, wie sie diese hinterfragten und umdeuteten. Die Untersuchung der Monismusbewegung verspricht zudem eine neue Sichtweise auf die Wissenschaftsgeschichte des Kaiserreichs, denn die Wortführer der Bewegung waren angesehene Natur- und Geisteswissenschaftler ihrer Zeit und mobilisierten wissenschaftliche Theorien für ihre eigenen Zwecke.152 Monisten und andere Freidenker hatten mit ihren Populärwerken und Vorträgen einen enormen Einfluss auf die kaiserzeitliche Wissenschaftspopularisierung  – ein Thema, das Andreas Daum und Angela Schwarz für den deutschen und britischen Kontext eingehend untersuchten.153 Welche Funktion wissenschaftliches 150 Blaschke: Ein Zweites Konfessionelles Zeitalter, 41. Zur Bedeutung von Konfession für die Konstruktion der deutschen Nation, vgl. Kuhlemann, Frank-Michael: Konfessionalisierung der Nation? Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: Haupt, Heinz-­ Gerhard / Langewiesche, Dieter (Hg.): Nation und Religion in Europa. Mehrkonfessionelle Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main, New York 2004, 27–63. 151 Kocka, Jürgen: Bürgerlichkeit und Bürgertum als Probleme der deutschen Geschichte vom späten 18. zum frühen 20. Jahrhundert. In: Ders. (Hg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert. Göttingen 1987, 21–63, hier 42–48. 152 Zur Rolle von wissenschaftlichem Wissen im europäischen Antiklerikalismus, vgl. Dittrich, Lisa: Between Delegitimization of Religion and Sacralization of the Profane. Discussing Knowledge in Anticlericalism of the Second Half of the Nineteenth Century. In: Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento 43/1 (2017), 59–84. 153 Daum: Wissenschaftspopularisierung; Ders.: Naturwissenschaften und Öffentlichkeit in der deutschen Gesellschaft. Zu den Anfängen einer Populärwissenschaft nach der Revolution von 1848. In: HZ 267 (1998), 57–90; Ders.: Science, Politics, and Religion. Humboldtian

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Wissen als argumentatives Mittel im Monismus erfüllte und wie sich dieses Wissen dabei veränderte, wurde bislang jedoch kaum erforscht. Neben der Kirchenund Religionskritik versuchten die Beiträge der Monisten die Grenzen dessen abzustecken, was eigentlich ›wahre‹ Wissenschaft auszeichnete. In diesem Sinne lassen sich die monistischen Schriften auch als Versuche lesen, Deutungshoheit über Wissenschaft, ihre Ideale und Praktiken zu erlangen.154 Jenseits der Religions- und Wissenschaftsgeschichte reiht sich diese Arbeit in die historische Forschung zum Antiklerikalismus ein. Mit seiner dezidiert kirchenkritischen Agenda bewegte sich der Monistenbund innerhalb eines breiten antiklerikalen Spektrums, das Todd Weir unter den Begriff des »organized secularism« fasste.155 Die frühere Forschung zum Säkularismus und Freidenkertum blieb meist auf einen nationalen Rahmen beschränkt – besonders das viktorianische England und die USA sind hier gut erforscht.156 Aktuelle Arbeiten betonen indessen den europäischen und transnationalen Charakter des Antiklerikalismus im langen 19. Jahrhundert.157 In ihrer Vergleichsstudie zum AntiThinking and the Transformations of Civil Society in Germany, 1830–1870. In: Osiris 17 (2002), 107–140; Schwarz, Angela: Der Schlüssel zur modernen Welt. Wissenschaftspopularisierung in Großbritannien und Deutschland im Übergang zur Moderne (ca. 1870–1914). Stuttgart 1999. Allgemein zum Verhältnis von Wissenschaft, Wissensproduktion und Popularisierung, vgl. Secord, James A.: Knowledge in Transit. In: Isis 95/4 (2004), 654–672; Kretschmann, Carsten (Hg.): Wissenspopularisierung. Konzepte der Wissensverbreitung im Wandel. Berlin 2003. Zur Popularisierung und Rezeption des Darwinismus in- und außerhalb Deutschlands, vgl. Kelly, Alfred: The Descent of Darwin. The Popularization of Darwinism in Germany, 1860–1914. Chapel Hill 1981; Glick, Thomas F. (Hg.): The Comparative Reception of Darwinism. Chicago, London 1988. Zur Wissenschaftsprosa im 19. Jahrhundert, vgl. Meierhofer, Christian: Formen der Evidenz. Populäre Wissenschaftsprosa zwischen Liebig und Haeckel. Paderborn 2019. 154 Zu Abgrenzungsstrategien wissenschaftlicher Disziplinen, vgl. Gieryn, Thomas: Cultural Boundaries of Science. Credibility on the Line. Chicago 1999. 155 Vgl. Weir: Secularism and Religion. 156 Zur Geschichte des britischen und amerikanischen Freidenkertums, vgl. Jacoby, Susan: Freethinkers. A History of American Secularism. New York 2005; Lightman, Bernhard: The Origins of Agnosticism. Victorian Unbelief and the Limits of Knowledge. Baltimore 1987; Mullen, Sherley: Organized Freethought. The Religion of Unbelief in Victorian England. New York, London 1987; Paz, Denis G.: Popular Anti-Catholicism in Mid-Victorian England. Stanford 1992; Rectenwald, Michael: Nineteenth Century British Secularism. Science, Religion and Literature. Basingstoke 2016; Royle, Edward: Victorian Infidels. The Origins of the British Secularist Movement, 1791–1866. Manchester 1974; Ders.: Radicals, Secularists and Republicans. Popular Freethought in Britain, 1866–1915. Manchester 1980; Schmidt, Leigh E.: Village Atheists. How America’s Unbelievers made their Way in a Godly Nation. Princeton 2016. Zur Geschichte der afroamerikanischen Freidenker, vgl. Cameron, Christopher: Black Freethinkers. A History of African American Secularism. Evanston 2019. 157 Vgl. Dittrich: Antiklerikalismus in Europa; Rectenwald, Michael / Almeida, Rochelle / ​ Levine, George (Hg.): Global Secularisms in a Post-Secular Age. Boston, Berlin 2015; Werner, Yvonne Maria / Harvard, Jonas (Hg.): European Anti-Catholicism in  a Comparative and Transnational Perspective. Amsterdam, New York 2013.

40  Einleitung: Walter Ulbricht in der Villa Medusa klerikalismus in Deutschland, Frankreich und Spanien zwischen 1848 und 1918 argumentiert Lisa Dittrich, dass Antiklerikale in Europa ihre eigene transnationale Öffentlichkeit schufen. Kirchen- und Religionskritiker unterschiedlichster Provenienz (Demokraten, Republikaner, Anarchisten, Sozialisten, Freimaurer und Freidenker) generierten ihren eigenen »Code« bestehend aus Feindbildern, Symbolen und Sprachmustern, der es ihnen erlaubte schicht- und länderübergreifend zu kommunizieren.158 So gesehen entsprach der Antiklerikalismus keiner geschlossenen, statischen Weltanschauung, sondern einem wandelbaren Zeichen- und Symbolsystem. Des Weiteren hebt die aktuelle Säkularismusforschung die Akteursrolle des Freidenkertums im konfessionellen wie politischen Feld des 19. Jahrhunderts hervor und unterstreicht dessen gesellschaftliche Mobilisierungskraft. Wurde der Säkularismus früher als Antagonist gegenüber den etablierten Kirchen interpretiert, so bot Todd Weir eine neue Lesart an: Neben den christlichen Großkirchen sowie dem Judentum habe sich der Säkularismus im 19. Jahrhundert als »fourth confession« herausgebildet, der um dieselben Rechte und Privilegien in Staat, Bildung und Erziehung konkurrierte.159 Folgt man dieser Deutungsrichtung, so lässt sich der Säkularismus weniger als antiklerikaler Gegenspieler zur katholischen und evangelischen Kirche begreifen, sondern im Gegenteil als konfessioneller Akteur innerhalb desselben Feldes. Schließlich setzten sich Freidenker mit den etablierten Kirchen in direkte Konkurrenz, indem sie um eigene Rechte, Legitimität und Deutungsmacht kämpften.160 Dabei zeigte Weir, dass Freireligiöse, Freidenker und Monisten Allianzen mit politischen Bewegungen (Demokraten, Linksliberale und Sozialdemokraten) eingingen und als konfessioneller Akteur an sozialpolitischen Aushandlungsprozessen wie dem Kulturkampf, den Sozialistengesetzen und dem in Berlin geführten Antisemitismusstreit partizipierten. Insgesamt leistet diese Studie einen innovativen Beitrag zur Wissenschaftsund Religionsgeschichte des Kaiserreichs. Dabei eröffnet sie eine neue Sichtweise auf die wilhelminische Ära jenseits der populären Bilder von Militär, Uniform und Pickelhaube. So verdeutlicht die Geschichte der Monisten, dass sich in der wilhelminischen Ära eine Reformgesellschaft anbahnte, die relevante Debatten um Säkularität vorwegnahm.

158 Dittrich: Antiklerikalismus in Europa, 488–490 u. 498–502. 159 Todd Weir lehnt sich mit der »vierten Konfession« an die Terminologie des Theologen Helmuth Schreiners an: Über den gegenwärtigen Stand und die geistige Struktur der Freidenker-Bewegung (13. September 1930). 160 Weir: Secularism and Religion, 21. 

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5. Kapitelstruktur Die Arbeit ist in vier Hauptkapitel gegliedert, die einem systematischen Aufbau folgen. Das verbindende Element der einzelnen Kapitel bildet die Grenzsemantik, die auf verschiedene Ebenen der Verhältnisbestimmung von Religion und Säkularität im Monismus anspielt. Die drei Analysekapitel untersuchen unterschiedliche Aspekte von Säkularität, erstens bezogen auf die monistische Gruppenidentität, zweitens mit Blick auf die staatlich-institutionelle Eingrenzung von Religion und drittens hinsichtlich der diskursiven Deutungsmacht von Religion in ethischen Fragen. Der Aufbau der Analysekapitel verläuft vom Allgemeinen zum Konkreten, indem sie mit einer historischen Einbettung beginnen und mit konkreten Fallstudien enden. Das erste Kapitel »Weltanschauungskämpfe« bietet einen historischen Überblick über die Entwicklung des bürgerlichen Freidenkertums in Deutschland im langen 19. Jahrhundert. In dem Kapitel werden die Vordenker und Wegbereiter der Monismusbewegung nachgezeichnet. Zu ihnen zählen die freireligiösen Gemeinden der 1840er Jahre, die naturwissenschaftlichen Materialisten der 1850er und schließlich das Freidenkertum der Kulturkampfära. Zwei gesonderte Kapitel widmen sich den monistischen Systemen Haeckels und Ostwalds sowie der Gründung und dem Sozialprofil des Monistenbundes. Das zweite Kapitel »Grenzen bestimmen« untersucht das Verhältnis der Monismusbewegung zur Religion (vor allem dem Christentum), das im Zentrum monistischer Identitätsdebatten stand. Ich argumentiere, dass die Positionierung der Monisten zur Religion keineswegs eindeutig war; vielmehr schwankten ihre Motive zwischen einer religiösen Erneuerung und der völligen Verdrängung von Religion aus der Gesellschaft. Mit anderen Worten: Monisten sahen ihre Weltanschauung entweder als religiöse Erneuerungskraft oder als ein Mittel zur Bekämpfung von Religion und Kirche. Die Frage, ob der Monismus als Religion, Konfession oder Weltanschauung anzusehen sei, prägte die Anfangsphase des DMB grundlegend und sollte auch in späteren Jahren Kontroversen innerhalb der Bewegung bestimmen. Liberale evangelische Theologen wie Albert Kalthoff lösten durch ihr Streben nach Glaubensreform und ihr Wirken im Monistenbund eine Rezeption des Monismus aus, die ihn als eine neue »Diesseitsreligion« erscheinen ließ. Sowohl in den Schriften der Monisten als auch in deren Korrespondenzen etablierten sich Ausdrücke wie »monistische Religion« oder »monistische Frömmigkeit«. Zeitgleich profilierten Monisten eine konfessionelle Lesart ihrer Weltanschauung, indem sie Katechismen formulierten, sich christliche Begriffe und Symbole aneigneten und nicht zuletzt um einen eigenen Kult rangen. Spätestens die Reaktionen der Monisten auf den Katholizismus, Protestantismus und das Judentum veranschaulichen, wie ambivalent das Thema Religion

42  Einleitung: Walter Ulbricht in der Villa Medusa im Monismus behandelt wurde. Wenn Monisten Kritik an Religion übten, dann vor allem vor dem Hintergrund des ultramontanen Katholizismus. Monisten präsentierten den Katholizismus als Gegensatz der Moderne, indem sie ihm Rückständigkeit, Wissenschafts- und Fortschrittsfeindlichkeit sowie eine illegitime Gewaltherrschaft anlasteten. In Anknüpfung an die fortschrittsoptimistische Geschichtsphilosophie Auguste Comtes (1798–1857) setzte Ostwald den ultramontanen Katholizismus einem evolutionären Atavismus gleich. Gegenüber dem Katholizismus stellten Monisten den Protestantismus als einen entwicklungsfähigen und fortschrittsoffenen Glauben dar. Dieser Befund deutet darauf hin, dass der Monismus stark von protestantischen Deutungsmustern durchdrungen war. So gehörte die Versöhnung von Glauben, Wissenschaft und Moderne zu den zentralen Anliegen des Kulturprotestantismus um 1900. Die Affäre um den Kölner Pfarrer Carl Jatho, der 1911 wegen seiner monistisch-freigeistigen Lehre von seinem Pfarramt suspendiert worden war, interpretierte Ostwald als symptomatisches Zeichen für einen geistigen Wandlungsprozess: Der Protestantismus war ihm zufolge im Begriff, seine letzten religiösen Relikte abzulegen und sich in eine rein wissenschaftliche Weltanschauung zu verwandeln. Diesen Wandlungsprozess fassten Monisten in das Bild einer »zweiten Reformation«, die durch den Monismus angestoßen wurde. Ein Sonderfall stellt das Verhältnis von Monisten zum Judentum dar: Als Antwort auf die ›Jüdische Frage‹ propagierten Monisten ihre Weltanschauung als neutrale, überkonfessionelle Integrationskraft. In ihren Augen versprach der Monismus alle religiösen Unterschiede zu nivellieren und damit auch den Antisemiten ihrer Zeit den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die ambivalente Positionierung der Monisten zum Katholizismus, Protestantismus und Judentum verdeutlicht, wie fragil die Frage nach monistischer Identität war, denn das monistische Selbstbild schwankte stets zwischen den Extremen der Religion und Nicht-Religion. Die monistischen Forderungen nach der institutionellen Einhegung der Religion stehen im Zentrum des dritten Kapitels. Beleuchtet werden die monistischen Debatten um das Staat-Kirchen-Verhältnis, die religiöse Eidesformel und den konfessionellen Religionsunterricht. Anhand dieser Fallstudien untersucht das Kapitel, wie Monisten ihre Forderung nach Säkularität rechtfertigten und wie diese versuchten, Massen für ihre Ziele zu mobilisieren. Für die monistische Forderung nach der Trennung von Staat und Kirche spielte die Kritik an der angeblich illegitimen Macht der katholischen Kirche eine grundlegende Rolle. Der Vorwurf der illegitimen Herrschaft der Kirche gewann durch die Hinrichtung des spanischen Anarchisten und Reformpädagogen Francisco Ferrer am 13. Oktober 1909 an Aktualität. Der Fall Ferrer löste europaweit Proteste unter Antiklerikalen aus, an denen sich auch die Monisten beteiligten. So organisierte die Münchner Ortsgruppe des DMB im November 1909 eine Ferrer-Demonstration, an der über 8.000 Dissidenten teilnahmen.

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Um die evangelischen Landeskirchen finanziell zu schwächen, warben Monisten gemeinsam mit dem Komitee Konfessionslos, einer Arbeitsgruppe des DMB, für den Kirchenaustritt. Am 28. Oktober 1913 trat Ostwald zusammen mit dem Sozialdemokraten Karl Liebknecht (1871‒1919) auf einer Großkundgebung in der Berliner Hasenheide auf, die zum Austritt aus der preußischen Landeskirche aufrief. Der selbsternannte »Massenstreik gegen die Staatskirche« war ein unerwarteter Erfolg, denn über 1.300 Teilnehmer traten an einem Tag aus der Kirche aus. Ostwalds Kundgebung in der Berliner Hasenheide verdeutlicht, dass die Monismusbewegung in ihren Kampagnen mehrere Teilöffentlichkeiten adressierte: Während sich das monistische Vereinsorgan hauptsächlich an ein bürgerlich-urbanes Publikum richtete, versuchten die Kundgebungen des Komitee Konfessionslos die Arbeiterschaft zu erreichen. Im Zentrum der monistischen Säkularitätsbestrebungen stand die Volksschule. Den konfessionellen Religionsunterricht an Volksschulen brandmarkten Monisten als einen Gewissenszwang insbesondere für solche Kinder, die keinem Bekenntnis angehörten (sogenannte Dissidentenkinder). In Zusammenarbeit mit Vertretern der ethischen Bewegung, wie Rudolph Penzig und Wilhelm Börner traten Monisten für eine Befreiung der Dissidentenkinder vom Religionsunterricht ein. Anstelle des Religionsunterrichts sollten Kinder konfessionsloser Eltern einen weltlichen Moralunterricht besuchen, der von freireligiösen Predigern oder Freidenkern erteilt wurde. Die Beispiele Bayerns und Preußens zeigen, dass die Frage der Moralerziehung von Dissidentenkindern bis in den Ersten Weltkrieg hinein für Debatten in Schulbehörden und Landesparlamenten sorgte. Wie widersprüchlich die Auffassungen von Religion und Säkularität im Monistenbund waren, verdeutlicht die Diskussion um den Offizierseid im Jahr 1917. Die Debatte wurde von dem Hamburger Monisten Paul Unna (1850–1929) angestoßen, dessen Söhne aufgrund ihrer Konfessionslosigkeit nicht zu Offizieren ernannt wurden. Das Kriegsministerium argumentierte 1917, dass die Ernennung zum Offizier die Zugehörigkeit zu einer anerkannten Religionsgemeinschaft sowie das Ablegen einer religiösen Eidesformel erfordere. Deshalb waren Dissidenten – ebenso wie Juden – von der Offizierslaufbahn ausgeschlossen. Der »Fall Unna« löste nicht nur im DMB, sondern auch im Reichstag eine Debatte über die Vereinbarkeit von Dissidententum und öffentlichem Amt aus. Haeckel schlug als Lösung vor, den Monistenbund zu verkirchlichen, um solche Diskriminierungsfälle zukünftig zu umgehen. Andere Monisten, unter ihnen Paul Unna, Otto Lehmann-Rußbüldt und Wilhelm Ostwald, wiesen die Verkirchlichungspläne Haeckels zurück und plädierten für die Aufhebung der religiösen Eidesformel. Die Fallbeispiele zeigen, dass die säkularen Forderungen der Monisten unterschiedliche Ziele verfolgten: Die Einhegung von Kirche und Religion sollte entweder individuelle Freiheitsrechte stärken oder den Prozess der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft vorantreiben – vor allem, wenn es um die Säkularisierung der Schule ging. Diejenigen Akteure, die den Monismus zur

44  Einleitung: Walter Ulbricht in der Villa Medusa Glaubensgemeinschaft ausbauen wollten, forcierten Säkularität wiederum zum Schutz religiös-weltanschaulicher Minderheiten vor staatlichen Eingriffen. Das vierte Kapitel verschiebt die Frage der Säkularität vom staatlich-institutionellen Bereich auf die diskursive Ebene. Konkret geht es um die argumentativen Strategien, mit denen Monisten den Einfluss christlicher Deutungsmacht in ethischen Themen zurückzudrängen versuchten. Monisten setzten (populär-) wissenschaftiche Argumente strategisch ein, um religiöse Deutungsansprüche im Umgang mit Ethik, Sexualität und Tod infrage zu stellen und ihre säkularen Forderungen zu untermauern. Die erste Fallstudie befasst sich mit den Versuchen Haeckels und Ostwalds, den christlichen Grundsatz der Nächstenliebe – die Goldene Regel – unter Bezugnahme auf die Evolutionslehren Darwins und Kropotkins zu naturalisieren. Ostwald sah die Goldene Regel bereits im Mechanismus der gegenseitigen Hilfe angelegt, der von dem russischen Biologen und Anarchisten Peter Kropotkin formuliert worden war. Diesen Mechanismus kombinierte Ostwald mit seinem energetischen Imperativ, indem er behauptete, dass die Zusammenarbeit in der Natur auf die Ersparnis von Energie hinauslaufe. Ein weiteres Fallbeispiel richtet den Blick auf das Thema Sexualmoral. Es wird untersucht, wie sich Vertreterinnen des radikalen Feminismus im Kaiserreich auf den Monismus beriefen, um die Sexualmoral und Geschlechtsidentität der Frau – jenseits des Christentums – neu zu bestimmen. Der Monismus bot auf organisatorischer und argumentativer Ebene wichtige Ressourcen zur Verbreitung und Rechtfertigung radikal-feministischer Positionen. So nutzte Helene Stöcker, Mitgründerin des Mutterschutzbundes, den Monistenbund als Forum zur Popularisierung ihrer sexualreformerischen Forderungen; gleichzeitig integrierte sie monistische, soziologische und evolutionsbiologische Konzepte in ihr Reformprogramm, um die gesellschaftliche Rolle der Frau naturwissenschaftlich zu fundieren. Zwei weitere Fallbeispiele wenden sich den Themen Leid und Tod zu. Sowohl im Bestattungswesen als auch im Umgang mit Krankheit und Trauer hatten die Kirchen um 1900 einen enormen Einfluss. Obwohl das Recht auf Sterbehilfe ein Randthema im Kaiserreich darstellte, wandten sich Monisten früh dieser Frage zu und diskutierten Möglichkeiten und Grenzen der Tötung auf Verlangen. Zugleich kooperierten Monisten mit der Feuerbestattungsbewegung und bereiteten so den Weg zu einer neuen Trauer- und Bestattungskultur in Deutschland. Gemeinsam mit Verfechtern der Feuerbestattung traten Monisten vor Ort für ihr Recht ein, säkulare Begräbnisfeiern durchzuführen. Da sich das Friedhofswesen zunehmend in den kommunalen und städtischen Bereich verschob, verloren die Kirchen allmählich ihr Monopol auf die Bestattungspraxis in Deutschland. Die Kapitelübersicht zeigt, dass sich die Geschichte der Monismusbewegung als eine Geschichte der kontinuierlichen Arbeit an der Grenze zwischen Religion und Säkularität begreifen lässt. Die Studie hinterfragt bisherige Konfliktnarra-

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tive in der Bewertung des wilhelminischen Freidenkertums und bietet stattdessen eine neue Lesart der Monismusbewegung an: Monisten waren weitaus mehr als radikale Kirchenkritiker; sie selbst trugen zu einem neuen Religionsverständnis um 1900 bei und schöpften dazu aus naturwissenschaftlichen, soziologischen und positivistischen Theorien. Im Bereich des Staates, der Moral, der Sexualität und des Umgangs mit Tod strebten Monisten danach, christliche Deutungsmuster zurückzudrängen. Dadurch wurden sie zu Grenzgängern, die Religion und ihr Verhältnis zum Säkularen neu definierten.

I. Weltanschauungskämpfe: Monismus und Dissens im langen 19. Jahrhundert Um 1900 bekundeten verschiedene Gegenwartsdiagnosen einen »Weltanschauungskampf« zwischen dem Christentum und den Naturwissenschaften, in dessen Zentrum der Monismus stand. Die wilhelminische Monismusbewegung ging aus religions- und sozialgeschichtlichen Veränderungsprozessen des 19. Jahrhunderts hervor. Das folgende Kapitel beleuchtet die Geschichte des Freidenkertums seit der Vormärzzeit und seine soziale Verortung im 19. Jahrhundert. Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Frage, welchen Einfluss Freidenker und Monisten auf ein neues Verständnis von Religion und Säkularität hatten.

1.

Die Freireligiöse Bewegung im Kontext der 1848er-Revolution

Die religions- und kirchenkritische Ausrichtung der Monismusbewegung wurde maßgeblich von den freireligiösen Gemeinden der Vormärzzeit beeinflusst. Sowohl auf katholischer wie auf evangelischer Seite formierten sich am Vorabend der 1848er-Revolution religiöse Oppositionsbewegungen, die gegen die politische Reaktion und kirchliche Orthodoxie protestierten. Auf katholischer Seite entstanden zur Mitte der 1840er Jahre deutschkatholische Gemeinden, während im evangelischen Spektrum die Bewegung der »protestantischen Freunde« Fuß fasste. Im Volksmund wurden sie auch »Lichtfreunde« genannt, da sie die Lichtmetapher verwendeten, um sich gegen die vermeintlich finstere Orthodoxie abzugrenzen.1 1 Paletschek, Sylvia: Frauen und Dissens. Frauen im Deutschkatholizismus und in den freien Gemeinden 1841–1852 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 89). Göttingen 1990, 30. Ferner zum Deutschkatholizismus und den Freireligiösen, vgl. Graf, Friedrich Wilhelm: Die Politisierung des religiösen Bewußtseins. Die bürgerlichen Religionsparteien im deutschen Vormärz: Das Beispiel des Deutschkatholizismus. Stuttgart 1978; Groschopp: Dissidenten, 82–101; Heyer / Pitzer: Religion ohne Kirche; Holzem, Andreas: Kirchenreform und Sektenstiftung. Deutschkatholiken, Reformkatholiken und Ultramontane am Oberrhein 1844–1866 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B, Bd. 65). Paderborn, München, Wien, Zürich 1994; Hölscher: Geschichte der protestantischen Frömmigkeit, 356–365; Weir: Secularism and Religion, 29–65.

48 Weltanschauungskämpfe Im Vormärz verzeichnete die katholische Kirche enorme Mobilisierungserfolge. Dies zeigte sich beispielsweise bei der Ausstellung des Heiligen Rockes (der Tunika Jesu) im Trierer Dom 1844, die eine halbe Millionen Pilger aus ganz Europa anzog und für die Kirche eine lukrative Einnahmequelle darstellte.2 Gegen den Reliquienkult der ultramontanen Frömmigkeit protestierte der junge schlesische Kaplan Johannes Ronge (1813–1887) in einem Zeitungsartikel und einem offenen Brief an den Trierer Bischof Wilhelm Arnoldi (1798–1864). Hierin forderte Ronge die Loslösung der Katholiken von Rom und appellierte an die Gründung einer deutschen Nationalkirche. Mit seiner Kritik an Dogmenzwang, Reliquienkult und Ultramontanismus stand Ronge in der Tradition des schlesischen Reformkatholizismus. Nachdem Ronge am 4. Dezember 1844 exkommuniziert worden war, rief er sogleich zur Gründung einer »Rom-freien Kirche« auf.3 Besonders liberale Katholiken feierten Ronge als »Reformator des 19. Jahrhunderts«; zahlreiche Gläubige solidarisierten sich in spontanen Großversammlungen mit Ronge und gründeten die ersten deutschkatholischen Gemeinden von beachtlicher Größe.4 Von Beginn an waren im Deutschkatholizismus Protestanten und zu einem geringen Teil auch Juden vertreten.5 Bis 1848 wurden 259 deutschkatholische Gemeinden als Vereine gegründet, die eine Gesamtanzahl von rund 70.000 Mitgliedern erreichten.6 Ähnliche Reformbestrebungen zeichneten sich auch im Protestantismus ab: Auf die Initiative des sächsischen Pfarrers Leberecht Uhlich (1799–1872) hin fanden sich am 29. Juni 1841 in Gnadau bei Magdeburg sechzehn Theologen zusammen, um eine protestantische Erweckungsbewegung zu begründen. Beeinflusst vom theologischen Rationalismus ihrer Zeit, richteten sich die Geistlichen gegen den orthodoxen Buchstabenglauben der Landeskirchen.7 Denn der Regierungsantritt des frommen Königs Friedrich Wilhelms IV. (1795–1861) führte zu einem Erstarken pietistisch-konservativer Kräfte in Preußen.8 Abgesehen von liberalen Theologen schlossen sich bald auch Laien wie Volksschullehrer den »Lichtfreunden« an, die gegen die Konfessionalisierung der Schule protestierten. Die Versammlungen der »Lichtfreunde« waren seit 1842 eine feste Institution und fanden zweimal jährlich in Köthen statt.9

2 Hölscher: Geschichte der protestantischen Frömmigkeit, 358. 3 Pitzer, Volker: Freireligiöse Bewegung(en). In: TRE 11 (1983), 567–572, hier 567. 4 Kuhn, Annette: Deutschkatholiken. In: TRE 8 (1981), 559–566, hier 560. 5 Paletschek: Frauen und Dissens, 42. 6 Hölscher: Geschichte der protestantischen Frömmigkeit, 358; Kuhn: Deutschkatholiken, 561. 7 Uhlich, Christian: Lichtfreunde. In: TRE 21 (1991), 119–121, hier 119; Hölscher: Geschichte der protestantischen Frömmigkeit, 359. 8 Paletschek: Frauen und Dissens, 31. 9 Ebd., 31.

Die Freireligiöse Bewegung im Kontext der 1848er-Revolution  49

Ausgehend von den »Lichtfreunden« formierten sich ab 1846 die ersten »freien Gemeinden«, so etwa in Königsberg unter dem suspendierten Divisions­ prediger Julius Rupp (1809–1884). Ihre Glaubenspraktiken und -inhalte grenzten die Mitglieder der freien Gemeinden bewusst von den Kirchen ab, indem sie statt Predigten Reden hielten.10 In der Satzung der freireligiösen Gemeinde in Berlin wurde betont, dass Religion »nicht in Lehrsätzen, Gebräuchen und Priestertum« bestehe, »welchen […] man sich gläubig unterwerfen müßte; sie besteht vielmehr im eigenen innersten Geistesleben, welches zur sittlichen Gemeinschaft sich erhebend die Grundlage für das ganze Thun und Lassen der Menschen wird.«11 Der preußische König Friedrich Wilhelm  IV. reagierte mit mehreren Erlässen auf die religiösen Oppositionsbewegungen seiner Zeit. So untersagte eine Kabinettorder vom 5. August 1845 die Versammlungen der Lichtfreunde, weil diese angeblich eine Gefahr für den preußischen Staat darstellten: Denn die Lehren der Lichtfreunde forderten nicht nur die preußische Staatskirche und mit ihr das Bündnis von Thron und Altar heraus; sie entwickelten sich auch zum Nährboden des bürgerlichen Dissens in Zeiten von Zensur und staatlicher Kontrolle.12 Erst das königliche Religionspatent vom 30. März 1847 ermöglichte formell den Kirchenaustritt bei gleichzeitigem Übertritt in eine neue anerkannte Religionsgemeinschaft, zu der man neben dem »mosaischen Glauben« auch die Deutschkatholiken und Lichtfreunde zählte.13 Das Patent hob eigens hervor, dass diejenigen, die aus der Amtskirche austraten, weiterhin im »Genuß ihrer bürgerlichen Rechte und Ehren« waren, sofern ihre neue Religionsgemeinschaft vom Staat genehmigt wurde.14 Obwohl hinter dem Toleranzpatent das Kalkül Friedrich Wilhelms IV. stand, die preußische Landeskirche vor dem Einfluss des aufgeklärten Rationalismus zu schützen, eröffnete es erstmals einen legalen Raum für Freireligiöse. Denn es gestand ihnen offiziell den Zivilstand des »Dissidenten« zu.15 Entgegen dem ursprünglichen Versprechen der vollen Anerkennung stufte man die freireligiösen Gemeinden lediglich als Privatgesellschaften ein, wodurch ihnen die Privilegien der Kirchen verwehrt blieben. So hatten freireligiöse Prediger als Vertreter von Privatgesellschaften zum Beispiel nicht das Recht, einen eigenen Moralunterricht für freireligiöse Kinder anzubieten; ebenso verloren die Ausgetretenen ihre Rechte am Kirchengut, etwa Versorgungs-

10 Ebd., 105 11 § 2 der Verfassung der freireligiösen Gemeinde zu Berlin. LAB, A Pr.B, Rep. 030, Nr. 15041, Bl. 1–2. 12 Paletschek: Frauen und Dissens, 33; Uhlig: Lichtfreunde, 120. 13 Vgl. Weir: Secularism and Religion, 54–58; Prüfer: Sozialismus statt Religion, 188 f. 14 Zum Religionspatent, vgl. Hattenhauer, Hans: Das preußische Religionspatent vom 30. März 1847. In: Jakubowski-Tiessen (Hg.): Religion zwischen Kunst und Politik, 114–145. 15 So zumindest die Argumentation von Todd Weir: Secularism and Religion, 54–58.

50 Weltanschauungskämpfe ansprüche gegenüber der Landeskirche.16 Die staatlichen Repressionen hielten auch in der Nachmärzzeit an, so dass Deutschkatholiken und Lichtfreunde 1859 in Gotha beschlossen, sich zum Bund freireligiöser Gemeinden zusammenzuschließen.17 In politischer Hinsicht standen die Freireligiösen den liberalen und demokratischen Bewegungen des Vormärz nahe und trugen zu einer »Politisierung des religiösen Bewusstseins« bei.18 Zahlreiche Freireligiöse waren zugleich im liberal-demokratischen Vereinswesen aktiv und nahmen als Abgeordnete an der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 teil.19 Zudem waren freireligiöse Akteure, wie Andreas Daum aufgezeigt hat, maßgeblich an der Popularisierung naturkundlichen Wissens beteiligt, die nach 1850 explosionsartig zunahm.20 Das enorme Interesse der bürgerlichen Öffentlichkeit an naturwissenschaftlichen Themen nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 war kein »Rückzug ins Unpolitische« ‒ im Gegenteil: Die Populärwissenschaft griff genuin politische Themen auf wie die Emanzipation durch Bildung, die demokratische Teilhabe an Wissenschaft und die Schaffung einer kritischen Öffentlichkeit.21 Die freireligiöse Bewegung legte den Grundstein für spätere Generationen von Freidenkern, indem sie Tendenzen der theologischen Aufklärung, des Rationalismus sowie die Lehren Feuerbachs in ihr Programm integrierte. Ihre Kritik an Dogmenzwang, Reliquienkult und kirchlicher Autorität sowie ihre Forderung nach geistiger Freiheit und individuellem Gewissen prägte ein neues Religionsverständnis und nahm wichtige Punkte späterer Freidenker vorweg.

16 Erst die preußische Verfassungsurkunde von 1850 führte in Art. 12 die Freiheit der Vereinigung zu Religionsgesellschaften ein, wodurch auch Freireligiösen der Status einer Religionspartei attestiert wurde – ein Schritt, der besonders unter Konservativen höchst umstritten war, vgl. Rosenthal: Dissidentenkinder in Preußen, 26–31; Dreier, Horst: Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne. München 2018, 85 f. 17 Uhlig: Lichtfreunde, 120; Hölscher: Geschichte der protestantischen Frömmigkeit, 361. 18 Vgl. Graf: Politisierung des religiösen Bewußtseins. 19 Zu ihnen zählten Emil Adolf Roßmäßler, Robert Blum oder Martin Mohr. Zu den Verbindungen zwischen Freireligiösen, Liberalen und Demokraten, vgl. Paletschek: Frauen und Dissens, 52–55. 20 Daum: Wissenschaftspopularisierung, 193‒209; Weir, Todd: »Keine Lücke mehr im Menschen, worin das Jenseits sich einnisten könnte.« Naturwissenschaft und Dissidenz in der frühen freireligiösen Bewegung. In: Hölscher (Hg.): Das Jenseits, 95–122, hier 114. 21 Daum: Naturwissenschaft und Öffentlichkeit, 83 f.

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2.

Der naturwissenschaftliche Materialismus (1850er Jahre)

Einigen Kirchenkritikern der Jahrhundertmitte gingen die Ansichten der Freireligiösen nicht weit genug, denn schließlich hatten sie immer noch nicht die »Eierschalen der Religion« abgeworfen.22 Weitaus radikalere Positionen vertraten die naturwissenschaftlichen Materialisten der 1850er Jahre, da sie alle Vorgänge der physischen und psychischen Welt auf die Wirkungsweise von Materie zurückführten. Zu dieser Gruppe zählten der deutsch-schweizer Zoologe Carl Vogt (1817–1895), der niederländische Physiologe Jacob Moleschott (1822–1893) sowie der Mediziner Ludwig Büchner (1824–1899), Bruder des Schriftstellers Georg Büchner (1813–1837). Ihre gegen Religion und Metaphysik gerichtete Haltung rief insbesondere bei Theologen, aber auch bei Naturwissenschaftlern und Philosophen scharfen Protest hervor. Abwertend wurden sie von Kritikern als »Vulgärmaterialisten« bezeichnet, wobei man ihnen Immoralismus, Dilettantismus und Sektierertum unterstellte.23 Für die öffentliche Wahrnehmung des Monismus im Kaiserreich hatte die Materialismusdebatte der 1850er Jahre weitreichende Folgen, denn Kritiker stellten immer wieder eine weltanschauliche Kontinuität zwischen Materialisten und Monisten her.24 Der häufig vorgebrachte Vorwurf an die Materialisten, sie würden mit ihrer Verneinung von Willensfreiheit und Seele die moralischen Kohäsionskräfte der Gesellschaft bedrohen, sollte auch die Monisten treffen. 22 Vgl. Specht, August: Berichte. In: Menschenthum 10 (1881), 69–71. Zit. n. Kaiser, J­ochen-Christoph: Christlicher Glaube und Naturwissenschaften: Der Keplerbund. In: JbWk 3 (2007), 240–256, hier 243. 23 Für wichtige Hinweise zu den naturwissenschaftlichen Materialisten danke ich Claus Spenninger (LMU München), der zu diesem Thema promoviert wurde, vgl. Ders.: Stoff für Konflikt. Fortschrittsdenken und Religionskritik im naturwissenschaftlichen Materialismus des 19. Jahrhunderts (1847–1881). Diss. Univ. München 2020. Unsere Doktorarbeiten sind in engem Austausch am Internationalen Graduiertenkolleg »Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts« (LMU) entstanden. Weiterführend zu den Materialisten, vgl. Bayertz, Kurt / Jaeschke, Walter / Gerhard, Myriam (Hg.): Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert: Bd. 1: Der Materialismusstreit. Hamburg 2007; Gregory, Frederick: Scientific Materialism in Nineteenth Century Germany. Dordrecht 1977; Meneghello, Laura: Jacob Moleschott. A Transnational Biography: Science, Politics, and Popularization in Nineteenth-Century Europe. Bielefeld 2017; Wittkau-Horgby, Annette: Materialismus. Entstehung und Wirkung in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts. Göttingen 1998; Olson, Richard: Science and Scientism in Nineteenth-Century Europe. Urbana, Chicago 2008, 122–163. 24 Haeckel widersprach dem Materialismusvorwurf, vgl. Ders.: Generelle Morphologie der Organismen. Allgemeine Grundzüge der organischen Formen-Wissenschaft, mechanisch begründet durch die von Charles Darwin reformierte Deszendenz-Theorie. Bd. 2. Berlin 1866, 448: »Der Monismus kennt weder die Materie ohne Geist, von welcher der Materialismus spricht, noch den Geist ohne Materie, welchen der Spiritismus annimmt«.

52 Weltanschauungskämpfe Nach der 1848er-Revolution stiegen die Materialisten zu Wortführern in der öffentlichen Auseinandersetzung um die Geltungsbereiche von Religion und Wissenschaft in der Gesellschaft auf. In ihren populärwissenschaftlichen Schriften polemisierten sie gegen einen biblischen Offenbarungs- und Schöpfungs­ glauben sowie gegen die Existenz einer Seele.25 Menschliches Bewusstsein war in ihren Augen ein Nebenprodukt organischer Hirntätigkeit. In seinen Physiologischen Briefen (1846) bemerkte Vogt, dass »die Gedanken in demselben Verhältnis etwa zu dem Gehirn stehen, wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren«.26 Moleschott wiederum prägte den Satz: »Ohne Phosphor kein Gedanke«.27 Da das Hirngewebe laut Moleschott viel phosphorhaltiges Fett enthielt, bedurfte der Mensch einer ausgewogenen Ernährung aus Fleisch, Fisch, Eiern und Brot, um gute und ertragreiche Gedankenarbeit zu verrichten. Die religionskritische und antiklerikale Haltung der Materialisten resultierte aus ihrer Feuerbach-Rezeption: In seiner Projektionstheorie führte Feuerbach die Entstehung der Gottesidee auf die Sehnsucht des Menschen nach universellem Glück, Vervollkommnung und Unsterblichkeit zurück.28 Feuerbachs Ansatz, den Ursprung von Religion anthropomorph zu erklären, übte einen starken Einfluss auf die radikale Religionskritik im Vormärz aus, wie sie von Liberalen, Demokraten und Junghegelianern vertreten wurde. Vogt, Büchner und Moleschott verfassten ihre populärwissenschaftlichen Schriften unter dem Eindruck der 1848er-Revolution und der anschließenden Reaktionszeit. Vogt gehörte 1848 dem Vorparlament an und partizipierte als Abgeordneter in der Frankfurter Nationalversammlung, wo er die radikaldemokratische Linke vertrat. So verwundert es kaum, dass die populärwissenschaftlichen Werke der Materialisten hoch politisiert waren: Als oberster Feind galt ihnen jenes Bündnis, das die Reaktion symbolisierte – das Bündnis aus Obrigkeit und Kirche, Thron und Altar. Carl Vogt führte in seinen Untersuchungen über Tierstaaten (1851) das natürliche Gemeinwesen der Bienen und Ameisen als Vorbild für die staatliche Ordnung an und übte harsche Kritik am politischen Status quo in den deutschen Landen: O! sie sind schlau, die Gründer thierischer Staaten, diese Heroen animalischer Civilisation. Je mehr ich in Betrachtung ihrer Verfassungen, ihrer staatlichen Formen, ihrer 25 Zu Naturwissenschaftlern nach der 1848er-Revolution, vgl. Bayertz, Kurt: »Siege der Freiheit, welche die Menschen durch die Erforschung des Grundes der Dinge errangen.« Wandlungen im politischen Selbstverständnis deutscher Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts. In: BWG 10 (1987), 169–183; Daum: Naturwissenschaften und Öffentlichkeit, 57–90; Ders.: Science, Politics, and Religion, 107–140. 26 Vogt, Carl: Dreizehnter Brief. In: Ders.: Physiologische Briefe für Gebildete aller Stände. Vierte vermehrte und verbesserte Auflage. Gießen 1874, 354. 27 Moleschott, Jacob: Der Kreislauf des Lebens. Physiologische Antworten auf Liebig’s Chemische Briefe. Mainz 1852, 369. 28 Vgl. Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig 1841.

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fortschreitenden Entwicklung mich vertiefe, desto mehr erröthe ich über uns selbst! Wie hoch stehen diese schaffenden Intelligenzen über der Unvollkommenheit unseres, von der Selbstüberschätzung für vollkommen erklärten Geschlechtes!29

Einen zentralen Stellenwert im Frühwerk der Materialisten nahm die Ernährungsfrage ein.30 Über die Verbesserung und gerechtere Verteilung der Nahrung glaubten die Materialisten die Leistungsfähigkeit der Gesellschaft zu verbessern und die Armutsfrage zu lösen. Moleschott war der Überzeugung, die um sich greifende Mangelernährung der armen Bevölkerung durch den vermehrten Anbau von Hülsenfrüchten beheben zu können. Die »Noth der Armen« könne man wesentlich dadurch lindern, so Moleschott, »wenn man viele Morgen Lands, in denen jetzt Kartoffeln wuchern […] zu dem Anbau von Hülsengewächsen benütze«.31 Ebenso galt es, die Schaffenskraft und Phantasie der Gelehrten und Künstler durch den Verzehr von Genussmitteln wie Wein, Kaffee, Tee und scharfen Gewürzen anzuregen.32 Daran anknüpfend bemerkte Ludwig Feuerbach in einer Rezension zu Moleschotts Werk Lehre der Nahrungsmittel: »Der Mensch ist, was er ißt«.33 Mit ihren Publikationen erreichten die Materialisten mitunter große Publikumserfolge: Büchners Kraft und Stoff (1855) wurde in den ersten siebzehn Jahren seines Erscheinens in sechszehn Sprachen übersetzt und erlebte zwölf Auflagen.34 Durch ihre Veröffentlichungen gerieten Vogt, Büchner und ­Moleschott mit den Landesregierungen in Konflikt, so dass sie ihre Anstellung an den deutschen Universitäten verloren und (bis auf Ludwig Büchner) ins Ausland emigrieren mussten. Die Hauptwerke der Materialisten, darunter Büchners Kraft und Stoff, fielen der Zensur zum Opfer. Seinen Höhepunkt erreichte der Materialismusstreit auf der Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Göttingen 1854, wo der Physiologe und gläubige Protestant Rudolf Wagner (1805–1864) Carl Vogt und dessen Ansichten attackierte. In seinem Vortrag Menschenschöpfung und Seelensubstanz (1854) widmete sich Wagner zunächst der Frage nach der Mono- oder Polygenese des Menschen, wobei er aus Glaubensgründen für die monogenetische Abstammung 29 Vogt, Carl: Untersuchung über Thierstaaten. Frankfurt am Main 1851, 12. 30 Für den Hinweis auf die Bedeutung der Ernährungsfrage im naturwissenschaftlichen Materialismus danke ich Claus Spenninger (LMU München), der das Thema in seiner Dissertation ausführlich bearbeitet hat (s. o.). Weiterführend zur Ernährungsphysiologie bei Moleschott, vgl. Kamminga, Harmke: Nutrition for the People, or the Fate of Jacob Moleschott’s Contest for  a Humanist Science. In: Ders. / Cunningham, Andrew (Hg.): The Science and Culture of Nutrition, 1840–1940. Amsterdam / Atlanta, GA 1995, 15–47. 31 Moleschott, Jacob: Lehre der Nahrungsmittel. Für das Volk. 3. Aufl. Erlangen 1858, 184. 32 Ebd., 235–236. 33 Schuffenhauer, Werner (Hg.): Ludwig Feuerbach. Gesammelte Werke. Bd. 10. 3. Aufl. Berlin 1990, 358. 34 Vgl. Pauen, Michael: Die Natur des Geistes. Frankfurt am Main 2016, 103.

54 Weltanschauungskämpfe des Menschen eintrat. Im zweiten Teil seines Vortrags verurteile Wagner scharf die Auswüchse eines »frivolen Materialismus«, der die Existenz einer menschlichen Seele und eines freien Willen negierte.35 So warf er Carl Vogt vor, mit seinem Materialismus eine Verrohung der Gesellschaft herbeizuführen, da er den Menschen zum wehrlosen Opfer der Naturgesetze erkläre: Also: alle jene ernsten und grossen Gedanken, welche die tiefsinnigsten philosophischen und historischen Forscher in den Bewegungen des menschlichen Geistes und deren Ausdruck, der Weltgeschichte, erkannt, alle grossen Ideen, an denen sich ganze Generationen erwärmt und zu Thaten begeistert, für die sie gekämpft und geblutet haben […] sind eitle Träume, leere Phantasmen, Spiele mechanischer mit zwei Armen und Beinen umherlaufender Apparate, die zuletzt prasselnd als Todtengerippe übereinander stürzen, sich in chemische Atome auflösen […]?36

Carl Vogt, der sich bereits im Schweizer Exil befand, reagierte auf Wagners Kritik mit der Polemik Köhlerglaube und Wissenschaft (1855), die er explizit als »Streitschrift gegen Hofrat Wagner in Göttingen« ausgab. Hierin verurteilte er den Glauben an die Monogenese des Menschen als naiven Kinderglauben: »Die Lehren der Schrift über Adam und Noah und die zweimalige Abstammung der Menschen von einem Paare sind wissenschaftlich durchaus unhaltbare Märchen.«37 Das Narrativ eines unvermeidbaren Konflikts zwischen Christentum und Wissenschaft prägte dabei nicht nur den Materialismusstreit von 1854/55, sondern die grundsätzliche weltanschauliche Position Vogts, Büchners und Mole­ schotts. Nachdem Ernst Haeckel dem Materialisten Büchner ein Exemplar seiner Altenburger Rede über den Monismus als »Band zwischen Religion und Wissenschaft« geschickt hatte, bedankte sich dieser 1892 mit folgenden Worten: »Der Kampf zwischen Theologie und Wissenschaft ist eben noch lange nicht ausgekämpft. Erstere ist durch Zeit, Schule, Vererbung, Unwissenheit immer noch die mächtigere Partei und wird es trotz aller Anstrengungen freigeistiger Schriftsteller und Denker wohl noch für lange Zeit bleiben. Jedenfalls werden wir beide den Sieg unsrer Ideen nicht erleben.«38

35 Wagner, Rudolph: 6. Physiologischer Brief [1852]. In: Klatt, Norbert (Hg.): Rudolph Wagner. Physiologische Briefe (1851–1852). Göttingen 1997, 38–47, hier 41. 36 Wagner, Rudolph: Menschenschöpfung und Seelensubstanz. Ein anthropologischer Vortrag, gehalten in der ersten öffentlichen Sitzung der 31. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in Göttingen am 18. September 1854. Göttingen 1854, 23–24. 37 Vogt, Carl: Köhlerglaube und Wissenschaft. Eine Streitschrift gegen Hofrat Wagner in Göttingen. 4. Aufl. Gießen 1856, 83. 38 Büchner an Haeckel, Darmstadt, 23.12.1892 [Nr. 56]. In: Kockerbeck, Christoph (Hg.): Carl Vogt, Jacob Moleschott, Ludwig Büchner, Ernst Haeckel: Der Briefwechsel. Marburg 1999, 152–153, hier 153.

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3.

Ernst Haeckel und der Monistenbund (1870–1906)

Haeckels Substanzmonismus Wie kaum ein anderer Naturwissenschaftler seiner Zeit popularisierte Ernst Haeckel, seit 1865 ordentlicher Professor für Zoologie an der Universität Jena, die Evolutionstheorie Darwins in Deutschland. Diese Tätigkeit brachte ihm in der kaiserzeitlichen Öffentlichkeit den Namen des »Deutschen Darwin« ein – ein Titel, den der Materialist Ludwig Büchner nachhaltig prägte.39 Haeckel wurde am 16. Februar 1834 in Potsdam als Sohn des Verwaltungsbeamten Carl Gottlob Haeckel (1781–1871) geboren, wuchs jedoch im preußischen Merseburg auf. Im Wintersemester 1852 nahm Haeckel sein Medizinstudium in Berlin auf, das er in Würzburg fortsetzte. Schon früh zeigte er großes Interesse für die Naturgeschichte. Nach seiner Promotion 1857 in Würzburg bei Rudolf Virchow (1821–1902) und seiner Habilitation 1861 in Berlin ging Haeckel als Privatdozent an die Universität Jena. Dort erhielt er 1865 eine ordentliche Professur für vergleichende Anatomie und Zoologie.40 Besonders in der morphologischen Erforschung und Klassifikation von Radiolarien (Einzellern) machte sich Haeckel einen Namen.41 Die symmetrische Form der Radiolarien sollte sein Bemühen, ästhetische Naturanschauung und morphologische Forschung miteinander zu vereinen, nachhaltig beeinflussen.42 Gemeinsam mit seinem Kollegen Carl Gegenbaur (1826–1903) begründete Haeckel die Jenaer Schule der evolutionären Morphologie, die Darwins Evolutionstheorie unter einem neuen Vorzeichen deutete: Ihr ging es um den Nachweis der evolutionären Kontinuität der Formen und Strukturen von Organismen mithilfe des anatomisch-morphologischen Vergleichs. Während sich Haeckel der vergleichenden Embryologie und den wirbellosen Tieren zuwandte, spezialisierte sich Gegenbaur auf die vergleichende Morphologie ausgewachsener 39 Vgl. Büchner, Ludwig: Fremdes und Eigenes aus dem geistigen Leben der Gegenwart. Leipzig 1890, 376. 40 Zum Leben und Wirken Ernst Haeckels, vgl. Di Gregorio, Mario A.: From Here to Eternity. Ernst Haeckel and Scientific Faith (Religion, Theologie und Naturwissenschaft, Bd. 3). Göttingen2005; Kleeberg: Theophysis; Richards, Robert J.: The Tragic Sense of Life. Ernst Haeckel and the Struggle over Evolutionary Thought. Chicago 2008. Zum intellektuellen Umfeld an der Universität Jena um 1900 (im Volksmund auch Salana genannt), vgl. Werner, Meike G.: Moderne in der Provinz. Kulturelle Experimente im Fin de Siècle Jena. Göttingen 2003, 27–62. 41 Haeckel, Ernst: Die Radiolarien (Rhizopoda radiata). Eine Monographie. 2 Bände. Berlin 1862. 42 Zur Verbindung von Ästhetik und Naturforschung, vgl. Kockerbeck, Christoph: Die Schönheit des Lebendigen. Ästhetische Naturwahrnehmung im 19. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien 1997, 79–101.

56 Weltanschauungskämpfe Wirbeltiere.43 Bekanntheit erlangte Haeckel mit dem »biogenetischen Grund­ gesetz«, demzufolge die Individualentwicklung eines Lebewesens (Ontogenese) die Stammesentwicklung seiner Gattung (Phylogenese)  wiederhole. Obwohl er diese Theorie gerne als seine eigene Errungenschaft präsentierte, war sie in Wirklichkeit eine Fortführung des Gesetzes der Embryonenähnlichkeit von Karl Ernst von Baer (1792‒1876), das schon 1828 formuliert worden war (auch als Baer-Regel bekannt).44 Darüber hinaus prägte Haeckel den für die modernen Umweltwissenschaften zentralen Begriff der »Ökologie«, womit er die Wissenschaft »von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Aussenwelt« bezeichnete.45 Sieben Jahre nach der Erstveröffentlichung von Darwins Origin of Species (1859) erschien Haeckels zweibändige Generelle Morphologie der Organismen (1866), die zum Standardwerk der Biologie und Zoologie aufstieg. Wenngleich Haeckel eine umfassende Synthese der Entwicklungsbiologie vorlegte, war das Werk bereits durchdrungen von monistischen Bezügen: Zum einen leitete ­Haeckel jedes Kapitel mit Goethe-Zitaten ein, die in diese Richtung wiesen; zum anderen überschrieb er seine Zusammenfassung mit dem vielsprechenden Titel »Gott in der Natur«, die nichts Geringeres als eine Apologetik des Monismus war. Seit den 1890er Jahren nahm der Monismus eine zentrale Stellung in den populärwissenschaftlichen Werken Haeckels ein. Über den Indogermanisten und engen Freund August Schleicher wurde Haeckel vermutlich auf den Monismusbegriff aufmerksam. Schleicher hatte Haeckel in einem offenen Sendschreiben von 1863 prophezeit, dass das Denken der Zukunft unvermeidlich auf den »Monismus« hinauslaufe, da der Gegensatz von Geist und Materie durch die naturwissenschaftliche Anschauung überwunden worden sei.46 In seinem Vortrag Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft, gehalten am 9. Oktober 1892 in Altenburg, stellte Haeckel die Überzeugungen und Ziele des Monismus einem breiteren Publikum vor. Nur der Monismus sei imstande, so Haeckel, das Gemüts- und Verstandesbedürfnis des Menschen gleichermaßen zu befriedigen, indem er sich auf die Wissenschaft berufe und zugleich an die Stelle der Religion trete.47 Den mit Abstand größten Publikumserfolg erzielte Haeckel mit seinem monistischen Manifest Die Welträtsel (1899). Nach dem Druck der ersten Exemplare schrieb ihm sein Verleger Emil Strauß am 17. September 1899: »Es kann also der 43 Zur Jenaer Schule der evolutionären Morphologie, vgl. Nyhart, Lynn K.: Biology Takes Form. Animal Morphology and the German Universities, 1800–1900. Chicago 2006, 146–160. 44 Zur Vorgeschichte des Biogenetischen Grundgesetzes, vgl. Peters, Stefan D.: Das Biogenetische Grundgesetz ‒ Vorgeschichte und Folgerungen. In: Medizinhistorisches Journal 15/1 (1980), 57–69. 45 Haeckel: Generelle Morphologie II, 286. 46 Schleicher: Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft, 8 f. 47 Haeckel: Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft, 8.

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Tanz beginnen. An Sturm wird es nicht fehlen«.48 Haeckel legte in den Welträtseln die Grundlagen der monistischen Philosophie dar, wobei er auf anthropologische, kosmologische und theologische Aspekte einging. An zentraler Stelle stand sein Versuch, den Gegensatz von materieller und geistiger Sphäre und damit den Widerspruch von Religion und Wissenschaft aufzulösen. Gleich zu Beginn seines Buchs reproduzierte Haeckel das von John William Draper und Andrew Dickson White kanonisierte Narrativ eines unausweichlichen Konflikts zwischen Naturwissenschaft und Christentum: Zu den hervorragenden Charakterzügen des scheidenden Jahrhunderts gehört die wachsende Schärfe des Gegensatzes zwischen Wissenschaft und Christenthum. Das ist ganz natürlich und nothwendig; denn in demselben Maße, in welchem die siegreichen Fortschritte der modernen Naturerkenntniß alle wissenschaftlichen Eroberungen früherer Jahrhunderte überflügeln, ist zugleich die Unhaltbarkeit aller jener mystischen Weltanschauungen offenbar geworden, welche die Vernunft unter das Joch der sogenannten ›Offenbarung‹ beugen wollten.49

Haeckels Monismus griff die Entwicklungslehren Darwins und Lamarcks auf und verknüpfte sie mit dem Kerngedanken des Panpsychismus (der Allbeseeltheit): Haeckel schrieb sowohl der belebten als auch der unbelebten Natur eine geistige Qualität zu, wodurch er die Wesensgleichheit beider Bereiche behauptete.50 Dabei ging er von der Idee aus, dass sich die seelische Tätigkeit des Menschen  – und besonders dessen Willensakte  – schon auf einer primitiven Entwicklungsstufe im Verhalten der Atome abzeichnete. In Anlehnung an Goethes Klassiker Die Wahlverwandtschaften argumentierte Haeckel, dass alle »Grade der Zuneigung, von der vollkommenen Gleichgültigkeit bis zur heftigen Leidenschaft« sich im »chemischen Verhalten der verschiedenen Elemente« wiederfinden ließen.51 »Wir gründen darauf unsere Ueberzeugung, daß auch schon den Atomen die einfache Form der Empfindung und des Willens innewohnt – oder besser gesagt: der Fühlung (Aesthesis) und Strebung (Tropesis) – also eine universale ›Seele‹ von primitivster Art.«52 Das »fundamentale Weltprinzip« in Haeckels Monismus bildete das Substanzgesetz, das er in seinen Werken konstant erweiterte und modifizierte.53 Dieses bestand zum einen aus dem chemischen Grundsatz von der Erhaltung des Stoffes 48 Emil Strauß an Ernst Haeckel, 17.9.1899. EHH, NL Haeckel. 49 Haeckel, Ernst: Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie. Bonn 1899, 357. 50 Vgl. Fick, Monika: Sinnstiftung durch Sinnlichkeit. Monistisches Denken um 1900. In: Braungart, Wolfgang (Hg.): Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. Paderborn 1998, 69–83, hier 73; Holt: Haeckel’s Monistic Religion, 265–280. 51 Haeckel: Welträtsel, 258. 52 Ebd., 259. 53 Weber: Monismus und Antimonismus, 11.

58 Weltanschauungskämpfe (formuliert von Lavoisier 1789), zum anderen aus dem physikalischen Gesetz von der Erhaltung der Kraft (formuliert von Meyer und später von Helmholtz 1847).54 Beide Gesetze besagten, dass die Menge von Materie (Stoff) und Energie (Kraft) stets konstant bleibe, sich also weder vermehren noch verringern könne. Haeckels Substanzgesetz behauptete nun, dass Kraft und Stoff Ausdrucksformen ein und derselben Ursubstanz seien, wodurch die dualistische Trennung zwischen einer materiellen und immateriellen Sphäre obsolet wurde. In seiner Folgeschrift, den Lebenswundern (1904), ergänzte Haeckel das Substanzgesetz um die Vorstellung einer Empfindung (Psychom) in der organischen und anorganischen Welt, die neben raumausfüllender Materie und wirkender Energie die »Trinität« der Substanz bildete.55 Bewusst stellte Haeckel hier eine Analogie zur Dreifaltigkeitslehre des Christentums her, erhob sein Monismus doch den Anspruch an die Stelle der Religion zu treten. »Im ganzen Universum, wie in jedem kleinsten Theil, in jedem Atom, wie in jedem Molecül, sind diese drei fundamentalen Attribute der Substanz untrennbar verknüpft.«56 Haeckel mangelte es nicht an Selbstbewusstsein, als er die Entdeckung des Substanzgesetzes als »die größte Geistesthat des neunzehnten Jahrhunderts« bezeichnete, da sich »alle anderen erkannten Naturgesetze […] ihm unterordnen.«57 Andernorts bemerkte er polemisch, dass das Substanzgesetz für die Naturwissenschaft dasselbe bedeute »wie für die heutige katholische Kirche das Dogma von der ›Unfehlbarkeit des Papstes‹ – der frechste Faustschlag in das Gesicht der Vernunft.«58 Seine Welträtsel betrachtete Haeckel als bewusste Antwort auf die von Emil DuBois-Reymond 1880 aufgestellten »sieben Welträtsel«, in denen DuBois die Unlösbarkeit folgender Menschheitsfragen postulierte:59 Das Wesen von Kraft und Materie (1), der Ursprung der Bewegung (2), die Entstehung des Lebens (3), die absichtsvoll zweckmäßige Einrichtung der Natur (4), das Entstehen der einfachen Sinnesempfindung (5), das vernünftige Denken und der Ursprung der damit verbundenen Sprache (6) sowie das Problem der Willensfreiheit (7). ­Haeckel glaubte mithilfe des Substanzgesetzes das erste, zweite und fünfte Problem gelöst zu haben, wohingegen das dritte, vierte und sechste durch die moderne Entwicklungslehre beantwortet worden sei. Das Problem der Willensfreiheit, schrieb Haeckel polemisch, sei »kein Objekt kritischer wissenschaftlicher Erklärung, da 54 Haeckel: Welträtsel, 245. 55 Haeckel, Ernst: Die Lebenswunder. Gemeinverständliche Studien über biologische Philosophie (Kröners Taschenausgabe, Bd. 22). Leipzig 1904, 217–219; 351. 56 Ebd., 522. 57 Ebd., 245. 58 Haeckel, Ernst: Die Wissenschaft und der Umsturz. In: Die Zukunft 18 (1895), 197–206, hier 199. 59 DuBois-Reymond, Emil: Über die Grenzen des Naturerkennens. Ein Vortrag gehalten in der zweiten öffentlichen Sitzung der 45. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Leipzig am 14. August 1872. 2. Aufl. Leipzig 1872.

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sie als reines Dogma nur auf Täuschung beruht und in Wirklichkeit gar nicht ­­ schon 1878 existiert«.60 Dem »Ignorabimus« DuBois-Reymonds hielt Haeckel selbstbewusst das »impavidi progrediamur!« (»Unerschrocken schreiten wir vorwärts!«) entgegen und trat damit für die Wissenschaftsfreiheit und den Primat naturwissenschaftlicher Epistemologie in allen Gesellschaftsbereichen ein.61 Seitdem DuBois-Reymond 1872 die Grenzen der Naturforschung in seiner Ignorabimus-Rede postuliert hatte, verschärften sich die rhetorischen Attacken zwischen dem Jenaer Zoologen und dem Berliner Neurophysiologen.62 ­Haeckel warf DuBois-Reymond und der gesamten »Berliner Biologie« vor, die Entwicklungsgeschichte zu leugnen und damit dem »›Ignoratis‹ des unfehlbaren Vaticans und der von ihm angeführten ›schwarzen Internationale‹« in die Hände zu spielen.63 ­Haeckels Vorwurf an seinen Berliner Kollegen, ein geheimer Handlanger des Vatikans zu sein, war eine beliebte Strategie während der Kulturkampfjahre, um Gegner als unwissenschaftlich zu disqualifizieren. DuBois-Reymond wiederum konterte und bezeichnete H ­ aeckel 1880 als Fanatiker.64 ­Haeckels Welträtsel avancierten zum unangefochtenen Bestseller im Kaiserreich und lösten bei Befürworten wie Kritikern heftige Reaktionen aus.65 Der Berliner Philosoph und Pädagoge Friedrich Paulsen (1846–1908) fällte ein vernichtendes Urteil über ­Haeckels Welträtsel: Ich habe mit brennender Scham dieses Buch gelesen, mit Scham über den Stand der allgemeinen Bildung und der philosophischen Bildung unseres Volkes. Daß ein solches Buch möglich war, daß es geschrieben, gedruckt, gekauft, gelesen, bewundert, geglaubt werden konnte bei dem Volk, das einen Kant, einen Goethe, einen Schopenhauer besitzt, das ist schmerzlich! Indessen: nosce te ipsum!66 60 ­Haeckel: Welträtsel, 18 f. 61 ­Haeckel, Ernst: Freie Wissenschaft und freie Lehre. Eine Entgegnung auf Rudolf ­Virchow’s Münchener Rede über »Die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staat«. Stuttgart 1878, 93. 62 Finkelstein: ­Haeckel and DuBois-Reymond, 105–112. 63 ­Haeckel, Ernst: Anthropogenie oder Entwickelungsgeschichte des Menschen. Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Grundzüge der menschlichen Keimes- und Stammes-Geschichte. Leipzig 1874, XIII. 64 DuBois-Reymond, Emil: Die Sieben Welträtsel. In der Leibniz-Sitzung der Akademie der Wissenschaften am 8. Juli 1880 gehaltene Rede. In: DuBois-Reymond, Estelle (Hg.): Reden von Emil DuBois-Reymond in zwei Bänden. Bd. 2. Leipzig 1912, 65–98, hier 67. 65 Zu den kritischen Reaktionen, vgl. Dennert, Eberhard: Die Wahrheit über Ernst ­Haeckel und seine Welträtsel: Nach dem Urteil seiner Fachgenossen beleuchtet. Halle an der Saale, Bremen 1901; Loofs, Friedrich: Anti-­Haeckel. Eine Replik nebst Beilagen. Halle an der Saale 1900; Paulsen, Friedrich: Ernst H ­ aeckel als Philosoph. In: Preußische Jahrbücher 101 (1900), 29–72; Troeltsch, Ernst: Ernst ­Haeckel als Philosoph. In: Christliche Welt 14 (1900), 152–159; 171–179. Einen Überblick mit Stellungnahmen zur Welträtsel-Debatte bietet: Schmidt, Heinrich: Der Kampf um die »Welträtsel«. Ernst H ­ aeckel, die »Welträtsel« und die Kritik. Bonn 1900. 66 Paulsen: ­Haeckel als Philosoph, 72.

60 Weltanschauungskämpfe Trotz aller Kritik war ­Haeckels Buch ein enormer Publikumserfolg: Die deutsche Taschenbuchausgabe der Welträtsel erreichte in der Weimarer Republik (1926) eine Auflagenhöhe von 400.000 Exemplaren und wurde in 24 Sprachen übersetzt.67 Im Vergleich dazu erreichte Adolf von Harnacks Wesen des Christentums 1920 eine Auflagenhöhe von 70.000 Exemplaren.68 Allein in den ersten zwei Jahren (1899–1901) wurde die Großausgabe der Welträtsel im Verlag Emil Strauß achtmal neu aufgelegt.69 Bereits ein Jahr nach der Erstveröffentlichung erschien eine englische Übersetzung unter dem Titel The Riddle of the Universe, die der ehemalige Priester und spätere Freidenker Joseph McCabe (1867–1955) herausgab.70 Der enorme Absatz von rund einer Million Exemplare innerhalb der ersten sieben Jahre verdeutlichte, dass man es bei H ­ aeckels Welträtseln »mit einem Erfolg zu tun hat, der von einem wissenschaftlichen Buch noch niemals errungen wurde, der auch die stärksten belletristischen Schlager der Gegenwart weit hinter sich« ließ, bemerkte der Theologe Albert Weckesser 1908.71 ­Haeckels Welträtsel sollten die Gemüter noch dreißig Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung erhitzen. So weist ein Exemplar der Riddle of the Universe aus den frühen 1930er Jahren, das dem Bestand der University of California at Berkeley angehört, folgende Notizen auf: »This Book isn’t worth the Paper it is printed on« oder »It has been said that the more one knows the less assertive he is in controversial matters. The books presents the most dogmatic statements possible.«72 Durch sein Werk prägte ­Haeckel eine spezifisch deutsche Rezeption der Entwicklungslehre.73 Den Prozess der Evolution deuteten ­Haeckel und sein Schüler Wilhelm Bölsche teleologisch auf den Menschen hin.74 ­Haeckel ersetzte die göttliche Vorsehung (providentia generalis) durch ein lineares Fortschrittsgesetz, das 67 Eine Übersicht zu den Welträtsel-Ausgaben bietet: Krauße, Erika: Wege zum Bestseller. ­Haeckels Werk im Lichte der Verlegerkorrespondenz. Die Korrespondenz mit Emil Strauß: In: Dies. (Hg.): Der Brief als wissenschaftshistorische Quelle (Ernst-­Haeckel-Haus-Studien, Bd. 8). Berlin 2005, 145–170. 68 Smend, Friedrich: Adolf von Harnack. Verzeichnis seiner Schriften. Leipzig 1927, 137. 69 Krauße: Wege zum Besteller, 165 f. 70 ­Haeckel, Ernst. The Riddle of the Universe. At the Close of the Nineteenth Century. Trans. by Joseph McCabe. New York, London 1900. Die englische Ausgabe erreichte eine Auflage von 250.000 Stück. 71 Weckesser, Albert: Die monistische Weltanschauung und das Religionsproblem. In: Protestantische Monatshefte 12, Nr. 11 (1908), 417–448, hier 417 f. 72 ­Haeckel, Ernst: The Riddle of the Universe. Transl. by Joseph McCabe. New York, London 1905. Das Exemplar mit Autografen befindet sich in der Doe Library, UC Berkeley, Signatur: QH368.H13M 1905. 73 Weingarten, Michael: Von Darwins Evolutionstheorie zum Darwinismus. In: Bayertz u. a. (Hg.): Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert. Bd. 2, 83–105, hier 102–105. 74 Kleeberg: Theophysis, 171–193. Zum teleologischen Denken in der Biologie, vgl. Lenoir, Timothy: The Strategy of Life. Teleology and Mechanics in Nineteenth-Century German Biology. Chicago, London 1989.

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sich im Menschen als »Krone der Natur« materialisierte.75 Die Evolution folgte ihnen zufolge nicht mehr dem kontingenten Mechanismus der natürlichen Selektion (im Sinne Darwins), sondern strebte auf einen Höhepunkt – den Menschen – hin. Die »ungemütliche Kälte des Zufalls« in Darwins Entwicklungslehre wich einer sinnhaften und zielgerichteten Deutung der Evolution, konstatieren Philipp Sarasin und Michael Hagner.76 Obwohl ­Haeckel als »Deutscher Darwin« und damit als Hauptvertreter der Evolutionsbiologie im Kaiserreich berühmt wurde, wies sein Monismus deut­liche Spuren der Naturtheologie und romantischen Naturphilosophie auf.77 Ähnlich wie die Freireligiösen der 1840er Jahre, forcierte H ­ aeckel in seinen Werken ein neues Religionsverständnis, das auf seiner monistischen Naturanschauung aufbaute. In seiner Idee der »Theophysis« (Gott-Natur) säkularisierte H ­ aeckel die transzendenten Elemente der christlichen Kosmologie: Der Schöpfergott wich der produktiven »Gott-Natur«.78 »Indem der Monismus keine anderen, als die göttlichen Kräfte in der Natur erkennt, indem er alle Naturgesetze als göttliche anerkennt, erhebt er sich zu der grössten und erhabensten Vorstellung, welcher der Mensch als das vollkommenste aller Thiere fähig ist, zu der Vorstellung der Einheit Gottes und der Natur«, schrieb ­Haeckel bereits 1866.79 Das harmonische Naturganze war in seinen Augen nicht mehr Widerspiegelung einer göttlichen Schöpfung außerhalb der materiellen Welt, sondern Ausdruck der ökonomischen Einrichtung sowie produktiven Kraft einer gottgleichen Natur.80 Obwohl ­Haeckel schon in seinen Welträtseln (1899) scharfe Attacken gegen die Kirche formulierte, trat er erst 1910 aus der evangelischen Kirche aus.81 Mit der Gründung des Deutschen Monistenbundes 1906 schuf er für seine Welt­ anschauung eine institutionelle Basis. Die Gründungsgeschichte des DMB wird im Folgenden rekonstruiert. Der Deutsche Monistenbund – Gründung und Entwicklung vor 1914 In den Jahren um 1900 wurden zahlreiche freigeistige Vereinigungen gegründet, die eine Reform der wilhelminischen Gesellschaft und Politik anstrebten. Während der Bund für Mutterschutz um Helene Stöcker für eine neue Sexualmoral 75 Zur Providenz des kausalmechanischen Fortschritts bei H ­ aeckel, vgl. Kleeberg: Theophysis, 193. 76 Sarasin, Philipp / Hagner, Michael: Wilhelm Bölsche und der »Geist«. Populärer Darwinismus in Deutschland 1887–1934. In: Nach Feierabend 4 (2008), 47–67, hier 57. 77 Vgl. Kleeberg: Theophysis; Ders.: God-Nature Progressing. Natural Theology in German Monism. In: Science in Context 20/3 (2007), 537–569. 78 Kleeberg: God-Nature Progressing, 559. 79 ­Haeckel: Generelle Morphologie II, 452. 80 Kleeberg: God-Nature Progressing, 559. 81 Richards: Tragic Sense of Life, 387.

62 Weltanschauungskämpfe eintrat und für die Rechte alleinerziehender Mütter kämpfte, fanden sich die bürgerlichen Freidenker im 1881 gegründeten Deutschen Freidenkerbund zusammen; die Arbeiter wiederum organisierten sich im Zentralverband der proletarischen Freidenker, der 1908 in Eisenach gegründet wurde.82 In diese Phase bürgerlicher wie proletarischer Reformbestrebungen fiel auch die Gründung des Deutschen Monistenbundes am 11. Januar 1906.83 Auf dem 10. Internationalen Freidenkerkongress im September 1904 in Rom legte ­Haeckel bereits dreißig Thesen zur Gründung eines Monistenbundes vor (vgl. Abb. 1). Diese Thesen veröffentlichte er später im Freien Wort, einem zen­ tralen Freidenkerorgan, von denen sich zwanzig auf den theoretischen und zehn auf den praktischen Monismus bezogen.84 Im Kontext des Freidenkerkongresses in Rom wurde H ­ aeckel feierlich zum »Gegenpapst« gekürt, was als eine gezielte Provokation an den Vatikan gedacht war.85 Ein Zug von fast 5.000 Freidenkern zog mit wehenden Fahnen der Freimaurerlogen vom Collegio Romano, dem ehemaligen Jesuitenkolleg, über den Corso, die Via Nazionale und Via Venti Settembre durch Rom.86 »Man klatschte, wenn die Marseillaise gespielt wurde, wenn eine antiklerikale Fahne sichtbar wurde, wenn ein Freidenker einen Zettel mit dem Bilde eines Priesters und der Unterschrift ›La peste noire‹ an die Trambahnwagen klebte«, hieß es im Kongressbericht.87 Die Gründung einer monistischen Vereinigung ging allerdings nicht allein von ­Haeckel aus, sondern wurde bereits 1899 von dem Brüsseler Bankier Albert Samson (1837–1908) angeregt.88 Dieser hatte sich bereit erklärt, eine ansehnliche Summe für die Gründung einer Gesellschaft zur Verbreitung eines naturwissenschaftlich-monistischen Weltbildes zur Verfügung zu stellen.89 »Vielleicht könnte das Samson-Legat die materielle Stütze zur Gründung einer ›Monistischen Religions-Gesellschaft‹ (Freie Gemeinde) werden; zum offenen Austritt aus der sogen. ›Landeskirche‹ werden Viele bereit sein«, schrieb H ­ aeckel 1899 an 82 Zur proletarischen Freidenkerbewegung, vgl. Kaiser: Arbeiterbewegung und organisierte Religionskritik. 83 Zur Gründung und Entwicklung des DMB, vgl. Braune: Fortschritt als Ideologie, 26–29; Drehsen / Zander: Rationale Weltveränderung; Groschopp: Dissidenten; Nöthlich u. a.: Weltbild oder Weltanschauung; Simon-Ritz: Organisation einer Weltanschauung; Weikart: Evolutionäre Aufklärung; Weir: Riddles of Monism. 84 ­Haeckel, Ernst: Der Monistenbund. Thesen zur Organisation des Monismus. In: Das Freie Wort 4, Nr. 12 (1904), 481–500. 85 Nöthlich u. a.: Weltbild oder Weltanschauung, 27. 86 Der X. Internationale Freidenker-Kongreß in Rom (20.–23. September). In: Das Freie Wort 4, Nr. 13 (1904), 530–531. 87 Ebd. 88 Nöthlich u. a.: Weltbild oder Weltanschauung, 26–28. 89 Kopie eines Briefes von Albert Samson an Ernst ­Haeckel, Brüssel, März 1899. EHH, Konvolut Ethophysis. Samson stellte 1905 finanzielle Mittel zur Errichtung einer Anthropoidenstation auf Teneriffa zur Verfügung. Nach seinem Tod am 6.9.1908 stiftete er sein Vermögen der Preußischen Akademie der Wissenschaften.

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Abbildung 1: Ernst ­Haeckel auf dem Internationalen Freidenkerkongress in Rom (1904).

­ aeckel indessen vor einem seinen Freund Wilhelm Bölsche.90 Bölsche warnte H Zurückfallen in kleine »Vereinsmeierei« und plädierte für eine breit angelegte Sammlung aller freigeistigen Kräfte im Kaiserreich.91 Allerdings stellte sich schon bald heraus, dass Samsons und ­Haeckels Vorstellungen über die inhaltliche Ausrichtung der geplanten Gesellschaft »Ethophysis« erheblich differierten: Schwebte Samson ein elitärer Freidenkerbund von führenden Naturwissenschaftlern zur Ausformulierung eines naturwissenschaftlichen Weltbildes vor, so verfolgte ­Haeckel – unter dem Einfluss Bruno Willes und Wilhelm Bölsches – religiöse Ziele. Die Verhandlungen um die geplante Vereinigung »Ethophysis« währten drei Jahre, scheiterten jedoch 1902 an der Streichung der finanziellen Mittel durch Samson.92 90 ­Haeckel an Bölsche, Jena, 24.3.1899. In: Nöthlich, Rosemarie (Hg.): Ernst ­Haeckel  – Wilhelm Bölsche. Der Briefwechsel 1897–1919 (Ernst-­Haeckel-Haus-Studien, Bd. 6). Berlin 2002, 95. Hervorhebung im Original. 91 Bölsche an ­Haeckel, Friedrichshagen, 30.3.1899. In: Nöthlich (Hg.): Ernst ­Haeckel  – Wilhelm Bölsche, 98. 92 Nöthlich u. a.: Weltbild oder Weltanschauung, 25. Zur Gesellschaft Ethophysis, vgl. Breidbach, Olaf / Nöthlich, Rosemarie: »Dem Cultus des Wahren, des Guten und des ­Schoenen«. Die Wissenschaftsgesellschaft Ethophysis im Umfeld ­Haeckels. In: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 10 (2007), 185–209.

64 Weltanschauungskämpfe Im Herbst 1905 griff ­Haeckel seine Pläne zur Gründung des Monistenbundes erneut auf.93 Unterstützung fand der Zoologe in seinem ehemaligen Schüler und Schriftsteller Wilhelm Breitenbach, seinem Sekretär Heinrich Schmidt, dem Jenaer Privatgelehrten Carl Heinrich Thiele sowie dem Hamburger Fabrikanten Christian Carstens, der finanzielle Mittel in Aussicht stellte. Breitenbach traf alle organisatorischen Schritte für die Vereinsgründung, indem er einen öffentlichen Aufruf zur Gründung des Monistenbundes verschickte. ­Haeckel favorisierte den Schweizer Neurologen und Psychiater Auguste Forel sowie Wilhelm Bölsche als Vorsitzende des neuen Bundes; beide Wunschkandidaten lehnten jedoch das Angebot ab. Schließlich war Bölsche bereits in den 1900 gegründeten ­Giordano-​Bruno-Bund involviert, der sich als erste explizit monistische Vereinigung ausgab.94 Die Wahl fiel letzten Endes auf den liberalen Bremer Pastor Albert Kalthoff. ­Haeckel übernahm aus Altersgründen das Amt des Ehrenpräsidenten, während er seinen Privatassistenten Heinrich Schmidt zum Generalsekretär des Monistenbundes ernannte. Offenbar hatte Wilhelm Bölsche im Vorfeld einen erheblichen Einfluss auf die Wahl Kalthoffs zum ersten Präsidenten des DMB ausgeübt.95 Beide lernten sich über den Jenaer Kulturverleger Eugen Diederichs kennen, der von Anbeginn Interesse an dem monistischen Reformvorhaben zeigte.96 Schon 1903 hatten sich Kalthoff und Bölsche brieflich über die Gründung einer Gesellschaft ausgetauscht, die alle »vorwärts gerichteten religiösen Geister« überkonfessionell sammeln sollte.97 ­Haeckel hoffte, dass Kalthoff als Pfarrer den Monismus aktiv in christliche Kreise hineintragen und so eine »›Reformation des 20. Jahrhunderts‹« herbeiführen würde: Ich lege persönlich auf Ihre active Mitwirkung und Initiative in dieser hochwichtigen Angelegenheit das größte Gewicht, und hoffe, daß Sie und Ihre beiden trefflichen Collegen in Bremen, die Pastoren Mauritz und Steudel, in dieser ›Reformation des 20. Jahrhunderts‹ eine führende Rolle spielen werden. Die Zeitverhältnisse sind jetzt für unsere monistische Reformbewegung äußerst günstig; tausende von Briefen und zustimmende Mitteilungen haben mich fest überzeugt, daß die Anstrengungen meiner ›Welträtsel‹ tiefe und feste Wurzel geschlagen haben.98 93 Arthur Teichmann gründete schon 1904 in Leipzig einen Vorläufer des Monisten­ bundes und gab von 1906 bis 1909 die Zeitschrift Der Monist: Halbmonatsschrift zur Förderung einer vernünftigen Einheits-Weltanschauung heraus. Trotz anfänglicher Versuche gelang es ­Haeckel und Breitenbach nicht, Teichmann für den DMB zu gewinnen. 94 Zum Giordano-Bruno-Bund, vgl. Bruns, Karin: Art. Giordano-Bruno-Bund. In: Wülfing, Wulf / Bruns, Karin / Parr, Rolf (Hg.): Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bünde. 1825–1933. Stuttgart, Weimar 1998, 163‒175. 95 Nöthlich u. a.: Gründung und Entwicklung, 12. 96 Nöthlich u. a.: Weltbild oder Weltanschauung, 32; Nöthlich u. a.: Gründung und Entwicklung, 11. 97 Kalthoff an Bölsche, Bremen, 20.7.1903. In: Nöthlich (Hg.): Ernst ­Haeckel – Wilhelm Bölsche, 156. 98 Ernst ­Haeckel an Albert Kalthoff, Jena, 5.1.1906. StA Bremen, NL Kalthoff, 7.40–20. Hervorhebung im Original.

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Am Nachmittag des 11. Januar 1906 fand die Gründungsversammlung im großen Arbeitszimmer des Zoologischen Instituts in Jena statt. Zu den Gründungsmitgliedern des DMB zählten Naturwissenschaftler (Ludwig Plate, Richard Semon, Heinrich Ernst Ziegler, Auguste Forel, Arnold Dodel), Künstler (Franz von Stuck, Gustav Herold), Schriftsteller (Wilhelm Bölsche, Bruno Wille), Ärzte (Otto Juliusburger, Friedrich Siebert), Fabrikanten (Wilhelm Umrath, Friedrich Kaufmann) und Pastoren (Albert Kalthoff, Friedrich Steudel).99 Die Satzung des Monistenbundes stellte eigens heraus, dass »Parteipolitik […] ausgeschlossen« sei; stattdessen wolle der Monistenbund für eine »einheitliche, auf Naturerkenntnis gegründete Welt- und Lebensanschauung wirken, ihre Mitglieder sammeln und in Verbindung setzten«.100 Zeitgleich rief die monistische Vereinszeitschrift zu einem »Zusammenschluß der freien Geister« im Kaiserreich auf, die in der Gründung des Weimarer Kartells 1909, einer freigeistigen Dachorganisation, verwirklicht wurde.101 Schon kurz nach der Gründung des DMB drangen kritische Stimmen an die Öffentlichkeit, die vor den Monisten warnten: Am 10. Mai 1907 appellierte der Kieler Botaniker Johannes Reinke (1849–1931) im Preußischen Herrenhaus an die staatlichen Behörden, gegen den Monistenbund vorzugehen, und attestierte ihm dasselbe Gefahrenpotential wie der Sozialdemokratie. Die Tätigkeit des Monistenbundes mahnte er als einen »Rückfall in die Barbarei« an, da er die sittlichen und geistigen Grundfeste des Staates bedrohe.102 Nur wenige ­Wochen später, am 8. Juni 1907, gründete der Lehrer und Naturforscher Eberhard D ­ ennert (1861–1942) in Bad Godesberg den antimonistischen Keplerbund, der die Versöhnung von Christentum und Naturwissenschaft anstrebte und den Monistenbund mit scharfen Polemiken angriff.103 Mit der Wahl Kalthoffs waren Richtungskonflikte innerhalb des Monistenbundes vorprogrammiert: Wilhelm Breitenbach und Heinrich Schmidt hatten in erster Linie die Popularisierung einer naturwissenschaftlichen Weltanschauung vor Augen; Albert Kalthoff und Eduard Aigner, der in der Münchner Ortsgruppe aktiv war, versuchten den Monistenbund hingegen in eine »ersatzreligiöse, weltanschauliche Erneuerungsbewegung« umzuwandeln.104 Die Richtungskämpfe im DMB führten letztlich dazu, dass Breitenbach aus dem Monistenbund ausschied und 1908 den Humboldt-Bund für wissenschaftliche Weltanschauung

99 Zu den Gründungsmitgliedern des DMB, vgl. Weber: Monistische und antimonistische Weltanschauung, 20 f. 100 Satzung des Deutschen Monistenbundes. In: Bd DMB 1, Nr. 1 (Juli 1906), 12–13, hier 12. 101 Zusammenschluß der freien Geister. In: Bd DMB 1, Nr. 1 (Juli 1906), 11–12. Mehr zum Kartell, vgl. St AM, Pol. Dir. Nr. 5450: Weimarer Kartell. 102 Reinke: ­Haeckels Monismus, 9–20; Daum: Wissenschaftspopularisierung, 230. 103 Nöthlich u. a.: Gründung und Entwicklung, 16. 104 Daum: Wissenschaftspopularisierung, 217.

66 Weltanschauungskämpfe gründete.105 Zudem manövrierte der unerwartete Tod Kalthoffs am 11. Mai 1906 den Monistenbund in eine Führungskrise, die sich in mehreren Präsidentenwechseln zwischen 1906 und 1910 äußerte.106 Auch die Bundeszeitschrift wechselte mehrmals ihren Herausgeber und Titel. Nachdem Wilhelm Breitenbach 1906 den Druck und Verlag der Blätter des Deutschen Monistenbundes mit einer Auflagenhöhe von 3.000 Exemplaren monatlich übernommen hatte, gaben seit 1908 Heinrich Koerber und Johannes Unold ein neues Vereinsorgan unter dem Titel Der Monismus. Zeitschrift für einheitliche Weltanschauung und Kulturpolitik heraus. Die Mitglieder des DMB konnten die Zeitschrift für einen halbjährlichen Bezugspreis von 1,50 Mark erwerben. Die Auflage kann auf eine ähnliche Höhe von 6.000 Exemplaren geschätzt werden wie das Konkurrenzheft Die Neue Weltanschauung. Monatsschrift für Kulturfortschritt auf naturwissenschaftlicher Grundlage, das Wilhelm Breitenbach nach dessen Austritt aus dem Monistenbund herausgab.107 Mit der Wahl des Chemikers und Nobelpreisträgers Wilhelm Ostwald zum Vorsitzenden des DMB 1911 brach für die Monismusbewegung sowohl inhaltlich als auch organisatorisch eine neue Ära an. Im Dezember 1910 nahm ­Haeckel per Brief Kontakt zu Ostwald auf, um ihm die Präsidentschaft des Monistenbundes anzubieten.108 »Ihre lebhafte Tätigkeit für unsere monistische Naturphilosophie hat in mir schon lange den Wunsch erregt Ihre persönliche Bekanntschaft zu machen und über deren nächste und erreichbare Ziele mich mit Ihnen zu verständigen«, schrieb H ­ aeckel an Ostwald.109 Obwohl ­Haeckel in seinen Welträtseln (1899) Ostwalds Energetik wegen ihrer antimaterialistischen Ausrichtung als »Spiritualismus« verworfen hatte, fiel seine Entscheidung dennoch auf den Chemiker.110 Vermutlich spielten hierbei strategische Gründe eine Rolle, schließlich war Ostwald ein international angesehener Naturwissenschaftler, der das Potential hatte, die Monismusbewegung zu vereinen und bekannter zu 105 Zum Leben und Werk Breitenbachs, vgl. Nöthlich, Rosemarie: Wilhelm Breitenbach (1856–1937). Zoologe, Verleger und Monist. Eine Analyse seines Wirkens (Ernst-­HaeckelHaus-Studien, Bd. 11). Berlin 2009. 106 Eduard Aigner (1906/07), Heinrich Koerber (1907–10), Johannes Unold (1910/11). Zeitweilig übernahmen Heinrich Koerber, Johannes Unold und Christian Carstens zu dritt die Geschäftsleitung des DMB. 107 Nöthlich u. a.: Gründung und Entwicklung, 17. 108 Ernst ­Haeckel an Wilhelm Ostwald, Jena, 19.12.1910. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 1041. 109 Ebd. 110 ­Haeckel: Welträtsel, 14: »Unser reiner Monismus ist weder mit dem theoretischen Materialismus identisch, welcher den Geist leugnet und die Welt in eine Summe von toten Atomen auflöst, noch mit dem theoretischen Spiritualismus (neuerdings von Ostwald als Energetik bezeichnet), als eine räumlich geordnete Gruppe von Energien oder immateriellen Naturkräften betrachtet.« Eine Kritik an Ostwalds Energetik findet sich auch in H ­ aeckels Lebenswundern, 67 f. Hier lautete ­Haeckels Vorwurf an Ostwald, dass er die Begriffe Energie und Substanz miteinander verwechselt habe.

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­ aeckel in machen.111 Schon wenige Tage nach dem informellen Treffen mit H Leipzig sicherte Ostwald seinen Vorsitz zu und wurde am 31. Januar 1911 offiziell als neuer Präsident bestätigt.112 Die Nachricht von dessen Präsidentschaftsübernahme traf wie »ein reinigender Blitz und Donnerschlag mitten in die drückende Schwüle. Jetzt erst sehe ich manche Ziele als gesichert an u. fühle, dass unsere bisherige Arbeit nicht vergebens war«, schrieb der Monist Paul Unna im Januar 1911 an Ostwald.113 Seinen größten Erfolg als DMB -Präsident erzielte Ostwald im September 1911 auf dem Ersten Internationalen Monistenkongress in Hamburg, für den er naturwissenschaftliche Größen wie den amerikanischen Biologen Jacques Loeb (1859–1924) und den schwedischen Chemiker Svante Arrhenius (1859–1927) gewinnen konnte (Abb. 7 u. 8).114 Entgegen der angestrebten Internationalität beschränkte sich das Publikum zum Großteil auf Deutschland. Trotzdem erregte der Monistenbund mit seinem Hamburger Kongress wie kaum zuvor die Aufmerksamkeit der Presse.115 Diese Tatsache hing auch damit zusammen, dass sich Ostwald um Sichtbarkeit in der städtischen Öffentlichkeit bemühte: Abgesehen von zahlreichen Vorträgen im Hamburger Conventgartensaal (der Platz für rund 3.500 Zuhörer bot) fand eine »Pilgerfahrt« nach Jena zu Ernst ­Haeckel statt, wo ein Fackelzug und ein großes Abendbankett veranstaltet wurde. Zum Ende des Kongresses rief Ostwald das »Monistische Jahrhundert« aus, das zum Namensgeber der neuen Vereinszeitschrift wurde.116 Zugleich markierte dieser Ausdruck den Repräsentationsanspruch der Monisten für das gesamte freigeistige Spektrum. Im Laufe von Ostwalds Präsidentschaft verzeichnete der DMB einen enormen Zuwachs von 2.500 (1907) auf 6.164 Mitglieder (1912).117 Laut einer handschriftlichen Liste von August von Hügel sank in den folgenden vier Jahren die Mitgliederzahl jedoch wieder auf 4.515 (1916) respektive 4.106 Mitglieder (1917).118 Auch auf der Ebene der Ortsgruppen verzeichnete der Monistenbund

111 Nöthlich u. a.: Gründung und Entwicklung, 19 f. 112 Vgl. Der Monismus 6 (1911), 118. 113 Paul Unna an Wilhelm Ostwald, Hamburg, 14.1.1911. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 3080. 114 Vgl. Bloßfeldt (Hg.): Der erste internationale Monistenkongreß, 77–93. In den USA versuchte Loeb eine Freidenkerbewegung aufzubauen, sein Plan scheiterte jedoch. Vgl. Jacques Loeb an Wilhelm Ostwald, New York, 2.10.1913. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 1828. 115 Zum Presseecho in Deutschland, vgl. Bloßfeldt (Hg.): Der erste internationale Monistenkongreß, 176–198. 116 Die Gründung der neuen Vereinszeitschrift ging auf eine Spende Wilhelm Knaupps zurück, der in den USA ein großes Vermögen erwirtschaftet hatte. Vgl. Wie unsere Zeitschrift entstand. In: DMJ 1, Nr. 1 (1912), 4 f. 117 Monistische Monatsblätter 8, Nr. 3 (1920); Weir: Secularism, 281; Nöthlich u. a.: Gründung und Entwicklung, 16. 118 Nöthlich u. a.: Weltbild oder Weltanschauung, 37, Anm. 88.

68 Weltanschauungskämpfe einen deutlichen Zuwachs von 34 (1910) auf 42 Ortsgruppen vier Jahre später.119 Im Oktober 1906, zehn Monate nach der Gründungsversammlung, hatten sich bereits Ortsgruppen in München, Hamburg, Gera, Dresden und Halle gebildet.120 Die mitgliedsstärksten Ortsgruppen befanden sich 1916 in Hamburg (782), München (539), Berlin (440) und Dresden (301).121 Eine Übersichtkarte aus dem Handbuch der freigeistigen Bewegung Deutschlands (1914) deutet darauf hin, dass sich die meisten monistischen Ortsgruppen in urbanen Ballungszentren (wie dem Ruhrgebiet), in Mitteldeutschland (im Frankfurter und Mainzer Raum) sowie in Sachsen und Thüringen befanden.122 Im ländlichen Raum (wie beispielsweise in der Lüneburger Heide, Pommern, Schlesien und Ostpreußen) waren die monistischen Ortsgruppen hingegen stark unterrepräsentiert; auch im katholischen Bayern waren monistische und freidenkerische Gruppen kaum anzutreffen (vgl. Abb. 3). Aufgrund des Mangels an monistischen Vereinen im Süden des Landes übernahm die Münchner Ortsgruppe des DMB besonders in den Anfangsjahren eine vitale Funktion. Dasselbe gilt für Berlin, Breslau und Königsberg, die sich aufgrund des Mangels an Ortsgruppen im Nordosten des Reichs zu wichtigen freidenkerischen Zentren entwickelten. In den Großstädten des Kaiserreichs (Berlin, Hamburg, München, Köln, Leipzig, Frankfurt, Düsseldorf) waren neben dem Monistenbund auch Ortsgruppen des Freidenkerbundes und der Ethischen Gesellschaft ansässig. Abgesehen von den Ortsgruppen im Deutschen Reich entstanden Zweigstellen des Monistenbundes in Wien (seit 1912), Prag (seit 1913) und Basel. Nachdem der Statutenentwurf des sozialistischen Monistenbundes in Prag zunächst von der Habsburgerregierung zurückgewiesen worden war, fand am 2. März 1913 die Gründungsversammlung des Bundes statt. Im habsburgischen Vereinskataster hieß es über die Ziele des sozialistischen Monistenbundes (Svaz Socialistických Monistů v Rakousku): Der Zweck des Vereins ist es, gegen Aberglauben und Kleinbürgerlichkeit mit der Verbreitung der modernen Vorstellung über Welt und Leben zu kämpfen, die den Prinzipien der monistischen Philosophie entsprechen. Weiter ist es der Zweck, die Naturwissenschaft und Künste zu popularisieren, eine Reform der individuellen und gesellschaftlichen Moral zu predigen und speziell so zu wirken, dass das Leben der 119 Henning, Max (Hg.): Handbuch der freigeistigen Bewegung Deutschlands, Österreichs und der Schweiz. Frankfurt am Main 1914, 45. Die Angaben zur Gesamtzahl der DMB -Ortsgruppen in der Sekundärliteratur sind sehr unterschiedlich und schwanken zwischen 42, 45 und 68, vgl. Weber: Monistische und antimonistische Weltanschauung, 28; Nöthlich u. a.: Weltbild oder Weltanschauung, 37; Simon-Ritz: Organisation einer Weltanschauung, 152. 120 Vgl. Aigner, Eduard (Hg.): Fünf Jahre Deutscher Monistenbund. Bericht über die Entwicklung der Ortsgruppe in den Jahren 1906–1911. München 1912. 121 Weber: Monistische und antimonistische Weltanschauung, 28 f. 122 Für das Ruhrgebiet verzeichnete Heiko Weber Ortsgruppen in Düsseldorf, Bochum, Essen, Dortmund und Krefeld, vgl. Monistische und antimonistische Weltanschauung, 28 f.

Ernst Haeckel und der Monistenbund (1870–1906)  69

Abbildung 2: Wilhelm Ostwald und Ernst Haeckel auf dem Internationalen Monistenkongress (1911): Zusammenkunft in Jena. Mitglieder und Sympathisanten den praktischen Prinzipien des Monismus entspricht. Ferner will der Verein seine Mitglieder moralisch, materiell und juristisch unterstützen, wenn es Unrecht wegen der Sympathie zum Monismus gegeben hat.123 123 Svaz Socialistých Monistou v Rakonska XXII/0583, 1913–19. Prague City Archives, Vereinskataster, Karton 862. Ich danke Tomáš Pavlíček für die Übersetzung aus dem Tschechischen. Der bekannte Sozialdemokrat und Literaturkritiker Franz Krejči wurde zum Vorsitzenden des sozialistischen Monistenbundes ernannt. Anlässlich des 500-jährigen Jubiläums des tschechischen Reformators Jan Hus plante der Sozialistische Monistenbund 1915 eine große »Aktion zum Massenaustritt aus der Kirche«. Zur Monismusrezeption in Tschechien, vgl. Ovčáčková, Lenka: Ernst H ­ aeckel in Tschechien. Die Spuren des ­Haeckel’schen Monismus im tschechischen Kulturraum am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts. Diss. Univ. Prag 2013.

70 Weltanschauungskämpfe Seine größte Ausdehnung erreichte der Monistenbund vor 1914. Der Erste Weltkrieg bedeutete für die Monismusbewegung eine schwere Zäsur, wie wir in Kapitel V sehen werden. Sozialprofil des Monistenbundes Der Historiker Thomas Nipperdey hat auf die Bedeutung des Vereinswesens als soziales Strukturelement im 19. Jahrhundert hingewiesen.124 Die Vereine erfüllten eine wichtige Ordnungs- und Integrationsfunktion in der Sattelzeit um 1800 und beförderten die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft. Das Vereinswesen formierte sich zum Gegengewicht der alten Ständeordnung, indem es demokratische Partizipationsmöglichkeiten eröffnete, für sozialen Austausch sorgte und bürgerliche Werte vermittelte. Nipperdeys Befund kann auch für den Monistenbund gelten, schließlich war er für das freigeistige Milieu der wilhelminischen Ära eine zentrale Bezugsgröße und bot für zahlreiche Akteure eine geistige Heimat. Auch wenn der Monistenbund rein quantitativ gesehen marginal war – stellt man etwa den Vergleich zum Deutschen Flottenverein von über 1 Millionen Mitgliedern an  –, so war er qualitativ durchaus bedeutsam: Philosophen wie Friedrich Jodl gehörten dem Monistenbund an, ebenso wie die Naturwissenschaftler Ostwald, Paul Kammerer, Auguste Forel und Ludwig Plate. Außerdem wurde der Monismus in der kaiserzeitlichen Öffentlichkeit vielfältig rezipiert und wirkte weit ins wilhelminische Bürgertum hinein. Das Freidenkertum des wilhelminischen Kaiserreichs war äußerst heterogen und nur wenige Quellen geben Aufschluss über sein Sozialprofil. Selbst Wilhelm Bölsche bemerkte in einem Brief an ­Haeckel vom 30. März 1899: »Das Freidenkertum in seiner Totalität ist heute ganz außerordentlich schwer zu fassen, sobald man an irgendwelche Einigung denkt.«125 Daran anschließend unterteilte Bölsche die Freidenker seiner Zeit in vier Gruppen: Erstens die frei denkende, kirchenkritische Oberschicht; zweitens die breite Masse der Unterschicht, die ein höchstes »Lernbedürfniß« aufwies und mit den Ansichten der Kirche »tabula rasa im Innern« gemacht habe; drittens die Schicht der »politisch unabhängige[n] Geister«, also der »Maler, Poeten, Künstler aller Art, ästhetisch und intellektuelle[n] Feinschmecker«; und viertens die Schicht der informellen und stillen Freidenker in der Provinz, die in hohem Maße aufgeklärt waren, jedoch keinem Freidenkerverein angehörten.126 124 Nipperdey, Thomas: Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. In: Boockmann, Hartmut / Ersch, Arnold / Nipperdey, Thomas u. a. (Hg.): Geschichtswissenschaft und Vereinswesen im 19. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte historischer Forschung in Deutschland (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 1). Göttingen 1972, 1–44. 125 Bölsche an ­Haeckel, Friedrichshagen, 30.3.1899. In: Nöthlich (Hg.): Ernst ­Haeckel  – Wilhelm Bölsche, 96–100, hier 97. 126 Ebd., 96 f.

Ernst Haeckel und der Monistenbund (1870–1906)  71

Interessante Einblicke in die soziale Schichtung und berufliche Zusammensetzung des Monistenbundes bietet eine Auswertung der Teilnehmerliste des Hamburger Monistenkongresses von 1911, die später im Kongressbericht veröffentlicht wurde (vgl. Grafik 1): Auch die soziale Schichtung der Teilnehmer war von sehr erfreulicher, gesunder Man­ nigfaltigkeit. (Einer unserer Kritiker hatte nur ›Elementarlehrer‹ und Juden wahrgenommen!) Soweit sich nach den in der Teilnehmerliste freiwillig eingeschriebenen 750 eine Statistik ausführen läßt, waren es Kaufleute (ca. 250), Ingenieure und Fabrikanten (ca. 45), etwa ebensoviel Ärzte (45), Schriftsteller und Wissenschaftler (etwa 35), ungefähr ebensoviel Lehrer (32), ›Rentiers‹ (27), Staatsbeamte (21), Künstler (19), Studenten (15), Chemiker und Apotheker (13), Rechtsanwälte (10). Der Rest verteilt sich auf kleinere Gruppen, Handwerker, Landwirte, Offiziere a. D., Pfarrer, Richter, Baumeister, Buchhändler, Gastwirte usw.127

Die Erhebung brachte zutage, dass die mit Abstand größte Gruppe der Befragten Kaufleute (ca. 250) waren, gefolgt von Ingenieuren, Fabrikanten und Ärzten (je ca. 45 Teilnehmer). Die drittstärkste Gruppe bildeten die Schriftsteller und Wissenschaftler mit je 35 befragten Teilnehmern, auf welche die Lehrer mit 32 Befragten folgten. Die Dominanz von Kaufleuten lässt sich wohl auf den Umstand zurückführen, dass der Monistenkongress 1911 in der Hansestadt Hamburg veranstaltet wurde, die schon um 1900 ein europäisches Zentrum des Handels war. Im Vergleich zum Bürgertum und Mittelstand verzeichnete der Monistenbund nur wenige Arbeiter in eigenen Reihen, was auf zwei Gründe zurückzuführen ist: Erstens hatte sich um 1900 eine eigene proletarische Freidenkerbewegung im Kaiserreich etabliert, die sich bewusst vom bürgerlichen Säkularismus abgrenzte. Zweitens erhob der Monistenbund vierteljährlich eine vergleichsweise hohe Mitgliedsgebühr von 2 Mark, die sich ein Arbeiter kaum leisten konnte. Proletarische Freidenkervereine forderten in der Regel wöchentliche Beiträge, die sich auf ein paar Pfennig beschränkten.128 Dennoch strahlten monistische Denker wie Bruno Wille und Wilhelm Bölsche mit ihrer Prosa auf die Arbeiterbewegung der Jahrhundertwende aus, indem sie naturkundliches Wissen popularisierten und zum Gegenstand ihrer Kunst erhoben. Ebenso wurde ­Haeckels Bestseller Die Welträtsel zum Klassiker der Arbeiterbildungsvereine um 1900.129

127 Bloßfeldt (Hg.): Der erste internationale Monistenkongreß, 156. 128 Neef: Sozialenergetik und Menschenökonomie, 261. 129 Der aus einer freireligiösen Arbeiterfamilie stammende Walter Ulbricht ist hierfür ein gutes Beispiel. Ulbricht lernte H ­ aeckels Welträtsel im Arbeiterjugend-Bildungsverein Alt Leipzig kennen, dem er 1908 beigetreten war. Zur ­Haeckel-Rezeption in der Bildungsarbeit der DDR , vgl. Polianski, Igor J.: Das Rätsel DDR und die »Welträtsel«. Wissenschaftlich-atheistische Aufklärung als propagandistisches Leitkonzept der SED. In: Potsdamer Bulletin für Zeithistorische Studien 36/37 (2006), 15–23, hier 18.

72 Weltanschauungskämpfe Gesamt

750

Andere (Handwerker, Landwirte, Richter, Pfarrer)

158

Rechtsanwälte

10

Chemiker und Apotheker

13

Studneten

15

Künstler

19

Staatsbeamte

21

Rentiers

27

Lehrer

32

Wissenschaftler

35

Schriftsteller

35

Ärzte

45

Fabrikanten

45

Ingenieure

45

Kaufleute

250 0

100

200

300

400

500

600

700

800

Grafik 1: Statistik zum beruflichen Hintergrund der DMB -Mitglieder (1911).

Die Ergebnisse der Erhebung von 1911 decken sich in Teilen mit der Einschätzung Todd Weirs, dass der organisierte Säkularismus in Deutschland insbesondere Vertreter des städtischen Mittelstandes, darunter Händler und Kaufleute, anzog. So erfüllten Freidenkervereine für den Mittelstand eine essentielle Bildungsfunktion, indem sie populärwissenschaftliches Wissen vermittelten. Aufgrund der starken Segregation des kaiserzeitlichen Bildungssystems blieben solche Wissensbestände der Mittelschicht in der Regel verwehrt, da sie kaum Zugangsmöglichkeiten zum Gymnasium oder zur Universität hatte. Über populärwissenschaftliches Wissen konnten Vertreter des Mittelstandes jedoch ihre Zugehörigkeit zum städtischen Bürgertum gegenüber der Elite demonstrieren, die sich wiederum auf exklusive Kulturgüter berief.130 Gleichzeitig transformierte sich der Begriff des Bürgers im Laufe des 19. Jahrhunderts von einem Rechtsbegriff (im Sinne eines städtischen Rechtsstatus), hin zu einem Klassen- und 130 Weir: Secularism, 112–114; Ders.: Towards a History and Sociology, 197–228. Ein Blick in das Mitgliederverzeichnis des Freidenkerbundes Lessing in Berlin aus dem Jahr 1881 zeigt ein ähnliches Ergebnis: Von insgesamt 56 Mitgliedern gehörten ca. 46 % dem Stand der Kaufleute an (26 Mitglieder). Mit großem Abstand folgte die Gruppe der Redakteure (7 %), Studenten der Geisteswissenschaften (5 %) und promovierten Schriftsteller (5 %). Unter den Neuzugängen vom April 1882 befanden sich elf Kaufleute, ein Arzt, drei Studenten und ein Fabrikant. Vgl. Mitgliederverzeichnis des Freidenkervereins »Lessing« (1881). In: LAB, A Pr. Br. Rep. 030, 15130: Acta des Königlichen Polizei-Präsidii zu Berlin betreffend Freidenker-Verein »Lessing«, Bl. 13. Dem gegenüber verzeichnete der 1900 gegründete Giordano-Bruno-Bund ca. 250 Mitglieder, die zum Großteil den »besseren Ständen«, v. a. dem »Schriftstellerberufe«, angehörten. Vgl. Acta des Königlichen Polizei-Präsidii zu Berlin betreffend Giordano-Bruno-Bund, 1900–08. LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 15170.

Ernst Haeckel und der Monistenbund (1870–1906)  73

Milieubegriff mit spezifischen Tugenden, Werten und Habitusformen. Freidenkerische und monistische Vereinigungen boten dem Kleinbürgertum und Mittelstand indessen einen alternativen Zugang zu Wissensbeständen jenseits des Gymnasiums und der Universität. Besonders nach dem Verbot des Biologieunterrichts an Oberstufen in Preußen 1882 konnten Freidenker in ein neu entstandenes Vakuum eindringen, indem sie naturwissenschaftliche Inhalte für ein Laienpublikum popularisierten.131 Gegenüber den freireligiösen Gemeinden der 1850er Jahre sahen sich Freiden­ ker und Monisten der wilhelminischen Ära mit neuen kulturellen und sozialen Herausforderungen konfrontiert: Zum einen hatte sich das freigeistige Milieu stärker ausdifferenziert und auch die sozialen Gegensätze zwischen der bürgerlichen und proletarischen Freidenkerbewegung wurden immer schärfer. Zum anderen konnten Freidenker um 1900 auf einen pluralisierten Medienmarkt (z. B. die Massenpresse)  zurückgreifen, um ihre Anhängerschaft an sich zu binden und eigene Inhalte zu verbreiten. Nicht ohne Grund plädierte Wilhelm Bölsche in einem Brief an H ­ aeckel 1899 für die Gründung einer neuen Freidenkerzeitschrift, die alle Schichtgrenzen überwinden und auch die »latenten Freidenker« ansprechen sollte.132 Drittens griffen monistische und freidenkerische Positionen auch auf andere Reformbewegungen der Jahrhundertwende über – man denke etwa an die Lebensreform, die Vegetarier, den Feminismus oder Pazifismus.133 Viertens knüpften Monisten an den für das Fin de Siècle prägenden Weltanschauungsdiskurs an, der u. a. das Verhältnis von Religion und Moderne sowie von Geistes- und Naturwissenschaften berührte. Doch wie positionierten sich Monisten zu den politischen Strömungen ihrer Zeit? Der zeitweilige Leiter der Leipziger Ortsgruppe des Deutschen Monistenbundes, Robert Riemann (1877–1962), äußerte sich in seinen Lebenserinnerungen zum politischen und konfessionellen Hintergrund der Monisten. Nur wenige Mitglieder, so Riemann, waren »Altliberale«, die »von der Kirche nichts wissen wollten, weil diese oft der Reaktion Handlangerdienste geleistet hatte«.134 Der 131 Daum: Wissenschaftspopularisierung, 83. 132 Bölsche an ­Haeckel, Friedrichshagen, 30.3.1899. In: Nöthlich (Hg.): Ernst ­Haeckel  – Wilhelm Bölsche, 99. 133 Zu den Veränderungsprozessen im wilhelminischen Säkularismus, vgl. Weir: Secularism and Religion, 262. Zur Lebensreform um 1900, vgl. Barlösius, Eva: Naturgemäße Lebensführung. Zur Geschichte der Lebensreform um die Jahrhundertwende. Frankfurt am Main 1993; Fritzen, Florentine: »Gesünder Leben«. Die Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert. Stuttgart 2006; Treitel, Corinna: Eating Nature in Modern Germany. Food, Agriculture, and Environment, c. 1870 to 2000. Cambridge 2017. Zur Rezeption des energetischen Imperativs in der Lebensreformbewegung, vgl. Möhring, Maren: Marmorleiber. Körperbildung in der deutschen Nacktkultur (1890‒1930). Köln, Weimar, Wien 2004, 297–304. 134 Riemann, Robert: Der Deutsche Monistenbund (8. Kapitel). In: Ders.: Dummheit und Einsicht. Hg. v. Tord R. Riemann, 1.  Online unter: http://www.hugo-riemann.de/Rob/​R iemannBio08-DerdeutscheMonistenbund-Ver06Aug2015.pdf. [zuletzt aufgerufen: 28.3.2020].

74 Weltanschauungskämpfe Ausdruck Altliberale bezog sich auf Politiker, die in der Tradition des gemäßigten, konstitutionellen Liberalismus der 1848er-Revolution standen. Diese wurden im Monistenbund zumeist als »altmodische Sonderlinge« gesehen, so Riemann. Wenngleich nur eine lockere Verbindung zur Sozialdemokratie bestand, ging der Eintritt in den Monistenbund häufig mit dem gesellschaftlichen Stigma des Sozialismus einher, wie Riemann behauptete. Obwohl Monisten vereinzelt mit linksliberalen und sozialdemokratischen Ideen sympathisierten, ließen sie sich ungern politisch einordnen und verstanden sich – wie Ostwald – vornehmlich als Technokraten. Besonders Denker wie Wilhelm Bölsche und Bruno Wille gerierten sich gerne als Querdenker, die sich sowohl vom Liberalismus als auch vom Sozialismus entfremdet hatten.135 Was die konfessionelle Verteilung im Monistenbund betraf, so war die Mehrheit der Monisten protestantisch. Dem gegenüber befanden sich Katholiken in einer deutlichen Minderheitenposition: »Viel seltener erschienen im Monistenbund Katholiken. Diese gerieten in den Verdacht, Sendlinge der Papstkirche zu sein, die in den Reihen der Monisten Verwirrung anrichten sollten«, erinnerte sich Riemann.136 Davon abgesehen gehörte ein nicht unbedeutender Teil der DMB -Mitglieder dem Judentum an, wie es die Erhebung von 1911 nahelegt. Besonders im Wiener Kontext schlossen sich jüdische Intellektuelle wie Rudolf Goldscheid und Paul Kammerer dem Monistenbund an, verkehrten in pazifistischen, sozialistischen und austromarxistischen Kreisen und waren in der liberalen Volksbildung aktiv.137 Angesichts antisemitischer Anfeindungen durch deutschnationale Kreise in Wien ‒ angeführt durch den dortigen Bürgermeister Alfred Lueger (1844‒1910) ‒ fanden einige jüdische Intellektuelle im Monistenbund und anderen Freidenkerorganisationen eine geistige Heimat. Im Vergleich zur sozialen und politischen Verortung der Monismusbewegung ergibt die Untersuchung des Geschlechterverhältnisses einen eindeutigeren Befund: Das wilhelminische Freidenkertum, der Monistenbund inbegriffen, war ein männlich dominiertes Phänomen. Dieses Ergebnis deckt sich auch mit der Forschung zum britischen Freidenkertum, wo Frauen eine zwar aktive, jedoch kleine Minderheit darstellten.138 »When looking at the role of women […] in secularism the historian is struck by their sheer absence«, bemerkte David Nash 1992.139 Eine der wenigen Ausnahmen im deutschen Kontext bildete Helene Stöcker, die den Bund für Mutterschutz anführte und feministische Positionen mit monistischen verband. 135 Vgl. Coen, Deborah A.: Vienna in the Age of Uncertainty. Science, Liberalism, and Private Life. Chicago 2007, 237 f.; Weir: Secularism and Religion, 262. 136 Riemann: Dummheit und Einsicht (8. Kap.), 1. 137 Hofer: Biologen des Prater Vivariums, 149‒184. 138 Royle: Radicals, Secularists and Republicans, 130; Schwartz: Infidel Feminism, 41–178. 139 Nash, David: Secularism, Art and Freedom. Leicester 1992, 77.

Abbildung 3: Übersichtskarte der freigeistigen Vereine Deutschlands (1914).

Ernst Haeckel und der Monistenbund (1870–1906)  75

76 Weltanschauungskämpfe Die Wortführer der Monismusbewegung machten sich zugleich als Popularisierer naturkundlichen Wissens im Kaiserreich einen Namen: Wilhelm Bölsche verfasste eine zweibändige Entwicklungsgeschichte der Natur sowie zahlreiche populärwissenschaftliche Bücher in der Reihe des Kosmos-Vereins, unter anderem zur Evolution des Menschen.140 Bis zu seinem Tod 1939 hatte Bölsche 61 Bücher und Broschüren sowie 660 Ausätze publiziert.141 Ostwald verfasste populärwissenschaftliche Schriften zur Energetik und deren Einfluss auf die Kultur und veröffentlichte Biographien zu bekannten Naturwissenschaftlern.142 Seit 1889 gab er die Reihe Ostwald’s Klassiker der exakten Wissenschaften heraus, die naturwissenschaftliche Hauptwerke neu auflegte. Die Reihe sollte das »Fehlen des historischen Sinnes und de[n] Mangel an Kenntnis jener großen Arbeiten, auf welchen das Gebäude der Wissenschaften beruht« beseitigen.143 Der Wiener Biologe und Monist Paul Kammerer wiederum publizierte zahlreiche Schriften zum Neolamarckismus sowie zur natürlichen Symbiose und warnte daran anknüpfend vor den degenerativen Folgen des Krieges.144 Daneben waren Monisten als Redner in Volksbildungsvereinen tätig, zu denen auch bekannte Vortragsorte wie die Urania in Berlin, Wien und Prag zählten.145

4.

Wilhelm Ostwalds Energetik (1890–1915)

Die Geschichte des Monistenbundes ist maßgeblich mit dem Namen Wilhelm Ostwald verbunden. Dieser gehörte zu den produktivsten und facettenreichsten Naturwissenschaftlern um 1900, dessen Schaffen sich an der Schnittstelle von Experimentalwissenschaft, Naturphilosophie, Kunst und Wissensorganisation ansiedelte. Ostwald wurde am 2. September 1853 in Riga als Sohn eines Böttchermeisters geboren. Nach seinem Studium der Chemie an der Universität Dorpat (dem heutigen Tartu in Estland), das er 1878 mit einer Dissertation zu »Volum 140 Vgl. Bölsche, Wilhelm: Entwicklungsgeschichte der Natur. Bd. 1. Berlin 1894; Ders.: Die Entwicklungslehre (Darwinismus). Charlottenburg 1900; Ders.: Ernst ­Haeckel. Ein Lebensbild. Leipzig 1909. 141 Vgl. Sarasin / Hagner: Bölsche und der »Geist«, 51. Bölsche hob die Bedeutung von Vorträgen hervor, »in denen populärwissenschaftliche und ästhetische Stoffe mit monistischer Weltanschauung durchtränkt geboten wurden«, vgl. Bölsche an H ­ aeckel, 30.3.1899. In: Nöthlich (Hg.): Ernst ­Haeckel – Wilhelm Bölsche, 98. 142 Vgl. Ostwald: Energetische Grundlagen; Ders.: Große Männer. Studien zur Biologie des Genies. Leipzig 1910. 143 Helmholtz, Hermann von: Über die Erhaltung der Kraft (Ostwald’s Klassiker der exakten Wissenschaften, Bd. 1). Leipzig 1889, 62. 144 Vgl. Kammerer, Paul: Einzeltod, Völkertod, biologische Unsterblichkeit und andere Mahnworte aus schwerer Zeit. Wien 1918. 145 Vgl. Ostwalds Korrespondenz mit der Urania in Wien und Prag, ABBAW, NL Ostwald, Nr. 4056.

Wilhelm Ostwalds Energetik (1890–1915)  77

Abbildung 4: Portrait von Wilhelm Ostwald (1913).

chemischen und optisch-chemischen Studien« beendete, wirkte er dort zunächst als Privatdozent.146 Seit 1882 war er als ordentlicher Professor für Chemie am Polytechnikum in Riga tätig. Fünf Jahre später, 1887, folgte Ostwald einem Ruf an die Universität Leipzig auf den ersten ordentlichen Lehrstuhl für physikalische Chemie im Kaiserreich. Davor hatte es lediglich einen Lehrstuhl für Physik und Chemie an der Universität Heidelberg gegeben, den Hermann Kopp (1817–1892) seit 1864 bekleidete. Ostwalds Briefwechsel mit dem Philosophen und Psychologen Wilhelm Wundt bezeugt, wie sehr er sich um eine Professur im 146 Ostwalds Doktorarbeit war eine Fortführung seiner Magisterarbeit zu Volumchemischen Studien über Affinität (1877). Zum Leben und Werk Ostwalds, vgl. Braune: Fortschritt als Ideologie, 29–41; Domschke, Jan-Peter / Hofmann, Hansgeorg: Der Physikochemiker und Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald (1853–1932) – Ein Lebensbild (Mitteilungen der Wilhelm-​ Ostwald-Gesellschaft zu Großbothen, Bd. 23). Großbothen 2012.

78 Weltanschauungskämpfe Kaiserreich bemühte. Denn für einen Baltendeutschen gestaltete sich der Eintritt in die deutsche Wissenschaftsgemeinschaft als schwierig.147 An der Leipziger Universität trug Ostwald maßgeblich zur Etablierung der physikalischen Chemie als naturwissenschaftliche Leitdisziplin bei, die bis dahin zumindest in Deutschland ein Schattendasein führte.148 Nicht nur inhaltlich, sondern auch organisatorisch leistete Ostwald der chemischen Forschung wichtige Dienste: Zusammen mit seinem niederländischen Kollegen Jacobus van’t Hoff (1852–1911) gab er seit 1887 die international angesehene Zeitschrift für physikalische Chemie heraus, veröffentlichte 1887 das Standardwerk Lehrbuch der allgemeinen Chemie und war 1894 federführend an der Gründung der Elektrochemischen Gesellschaft (später Deutsche Bunsen-Gesellschaft) beteiligt.149 Unter Ostwalds Ägide entwickelte sich die Universität Leipzig rasch zu einem »Mekka der physikalischen Chemie«, was sich nicht zuletzt in der beachtlichen Zahl von Austauschstudenten und Gastforschern widerspiegelte.150 Mit seinem schwedischen Kollegen Svante Arrhenius (1859–1927) und dem Niederländer Jacobus van’t Hoff bildete Ostwald die Gruppe der »Ionier«, die ihre Ionentheorie gegenüber Kritikern verteidigte. Diese besagte, dass sich die Moleküle bestimmter Substanzen (z. B. Säuren und Basen) in verdünnten Lösungen in positiv und negativ geladene Teilchen (Ionen) spalten. Rund zehn Jahre nach seiner Berufung nach Leipzig, im Januar 1898, konnte Ostwald das neue Physikalisch-Chemische Institut in direkter Nähe zum Botanischen Garten in Leipzig einweihen. Für seine wissenschaftlichen Verdienste auf dem Gebiet der Katalyseforschung wurde er 1909 mit dem Chemienobelpreis ausgezeichnet.151 147 Vor seiner Berufung nach Leipzig schrieb Ostwald an Wilhelm Wundt: »Meine Bitte geht dahin, dass Sie mir zunächst mittheilen wollen, ob meine Person, ich bin weder deutscher Reichsbürger, noch auf einer Universität Deutschlands gebildet – bei der fraglichen Vakanz überhaupt in Frage kommen kann. Ist dies der Fall […] so würde ich nach erfolgreicher Benachrichtigung darüber Ihnen ein Verzeichnis meiner bisher veröffentlichten Arbeiten nebst Separatabzügen […] zusenden, um Ihnen die Beurtheilung meiner wissenschaftlichen Befähigung zu erleichtern«. Wilhelm Ostwald an Wundt, Riga, 4.4.1887 [Abschrift]. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 3379. 148 Zur Disziplingeschichte der Physikalischen Chemie, vgl. Bensaude-Vincent, Bernadette / Stengers, Isabelle: A History of Chemistry. Cambridge, MA 1996; Nye, Mary Jo: From Chemical Philosophy to Theoretical Chemistry: Dynamics of Matter and Dynamics of Disciplines, 1800–1950. Berkeley u. a. 1993; Dies.: Before Big Science: The Pursuit of Modern Chemistry and Physics, 1800–1940.  Cambridge, MA, London 1999; Szöllösi-Janze, Margit: Fritz Haber 1868–1934. Eine Biographie. München 1998, 72–84. 149 Vgl. Johnson: The Kaiser’s Chemists; Walden, Paul: Wilhelm Ostwald. In: Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft, Nr. 8/9 (1932), 101–141. 150 Zott, Regine: Art. Wilhelm Ostwald. In: Hoffmann, Dieter / Laitko, Hubert /  Müller-​Wille, Staffan (Hg.): Lexikon der bedeutenden Naturwissenschaftler. Bd. 3. München 2004, 108‒113, hier 109. 151 Die chemische Katalyse bezeichnet die Ingangsetzung oder Beschleunigung einer chemischen Reaktion durch das Hinzufügen eines Stoffes.

Wilhelm Ostwalds Energetik (1890–1915)  79

Trotz seiner wissenschaftlichen Erfolge als Physikochemiker, wandte sich Ostwald um 1900 naturphilosophischen Themen zu. Seine Beschäftigung mit den thermodynamischen Hauptsätzen von Energieerhaltung und Entropie führte ihn zu der Erkenntnis, dass alle Vorgänge der Welt auf Energietransformationen beruhten. Im Zentrum seines energetischen Weltbildes stand der energetische Imperativ »Vergeude keine Energie, nutze sie!«. Ausgehend von dem zweiten thermodynamischen Hauptsatz (der Entropie) forderte Ostwald, bei allen Handlungen das Verhältnis von verfügbarer und genutzter Energie zu optimieren. Denn bei jeder Energieumwandlung traten gemäß der Entropie thermische Verluste auf, die als solche nicht mehr verwertbar waren.152 Aus der Tatsache der Entropie leitete Ostwald eine Handlungsethik der Energieschonung ab. In mehreren Schritten weitete er sein naturwissenschaftliches Reformprogramm zu einem philosophischen System und schließlich zum Monismus aus. Diese Schritte werden im Folgenden skizziert. Die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus (1895) Auf der 67. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte 1895 in Lübeck löste Ostwald mit seiner Energetik eine naturwissenschaftliche Kontroverse aus, an der neben dem Mathematiker Georg Helm auch Ludwig Boltzmann und Max Planck beteiligt waren. Im Laufe des 19. Jahrhunderts war die Jahresversammlung der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte (gegründet 1822 von Lorenz Oken) immer wieder zum Austragungsort naturwissenschaftlicher Kontroversen geworden, an denen sich auch weltanschauliche Fragen entzündeten.153 Zu nennen wäre etwa die scharfe Kritik Rudolf Wagners am naturwissenschaftlichen Materialismus Carl Vogts 1854 (vgl. Kap. I.2); oder die Auseinandersetzung zwischen Ernst ­Haeckel und Rudolf Virchow um die sittlichen Gefahren des Darwinismus 1877 (vgl. Kap. II.2).154 Ähnlich hohe Wellen schlug Ostwalds Vortrag Die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus, da er hier die provokante These aufstellte, dass man 152 Kassung, Christian: Was bleibt und was nicht bleibt. Eine kurze Geschichte der Energie. In: Gronau, Barbara (Hg.): Szenarien der Energie. Zur Ästhetik des Immateriellen. Bielefeld 2013, 15–23. 153 Steif, Yvonne: Wenn Wissenschaftler feiern. Die Versammlungen deutscher Naturforscher und Ärzte (1822–1913). Stuttgart 2004; Daum: Wissenschaftspopularisierung; Schwarz: Schlüssel zur modernen Welt. 154 Zum Materialismusstreit, vgl. Gregory: Scientific Materialism, 51–79. Zur ­Haeckel-​ Virchow-Kontroverse, vgl. Daum: Wissenschaftspopularisierung, 76–83; Kolkenbrock-Netz, Jutta: Wissenschaft als nationaler Mythos. Anmerkungen zur H ­ aeckel-Virchow-Kontroverse auf der 50. Jahresversammlung der deutschen Naturforscher und Ärzte in München (1877). In: Link, Jürgen / Wülfing, Wulf (Hg.): Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität. Stuttgart 1991, 212–236.

80 Weltanschauungskämpfe alle physikalisch-chemischen Prozesse als Energieumwandlungen beschreiben könne, wodurch die Vorstellung einer Materie obsolet werde.155 Ostwald verfolgte mit seinem Vortrag das Ziel, den wissenschaftlichen Materialismus, der alle Naturprozesse auf die mechanische Bewegung von Atomen zurückführte, durch den Energiebegriff zu ersetzen. Um sich gegen den Vorwurf der Spekulation zu immunisieren, nahm Ostwald gleich zu Beginn seines Vortrags vorweg, dass er all seine Erkenntnisse »rein auf dem Boden der exacten Wissenschaften« gewonnen habe.156 In seinem Vortrag disqualifizierte Ostwald die Materie als ein kognitives Konstrukt und attestierte allein der Energie einen realen Wert: »Die Materie ist ein Gedankending, das wir uns, ziemlich unvollkommen, construirt haben, um das Dauernde im Wechsel der Erscheinungen darzustellen.« Das »Prädicat der Realität« sei ausschließlich der Energie vorbehalten.157 Sukzessive rekonstruierte er im Anschluss die Geschichte der mechanistischen Naturauffassung und behauptete, dass die Energie neben Raum und Zeit als die dritte allgemeine Konstante innerhalb der Chemie und Physik anzusehen sei. Die Stärke des energetischen Naturverständnisses lag Ostwald zufolge in dessen »Hypothesenfreiheit«, da es sich allein auf empirisch nachweisbare Phänomene bezog und auf hypothetische Modelle verzichtete.158 Mit diesem Argument bekannte sich Ostwald zu einem positivistischen Wissenschaftsideal, das allein empirische Befunde anerkannte und jegliche Spekulation aus den Naturwissenschaften zu eliminieren versuchte. »Wir fragen nicht mehr nach den Kräften, die wir nicht nachweisen können, zwischen den Atomen, die wir nicht beobachten können, sondern wir fragen, wenn wir einen Vorgang beurtheilen wollen, nach der Art und Menge der aus- und eintretenden Energien.«159 Das biblische Bilderverbot zitierend sprach sich Ostwald für einen Ikonoklasmus in der Physik und Chemie aus, dessen Zielscheibe das Atommodell war: »Du sollst dir kein Bildnis oder Gleichnis machen!«, lautete sein Gebot für alle Natur­ wissenschaftler.160

155 Ostwald, Wilhelm: Die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus. Vortrag gehalten auf der Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Lübeck am 20. September 1895. Leipzig 1895. Zur Lübecker Energetik-Kontroverse, vgl. Deltete, Robert J.: Helm and Boltzmann. Energetics at the Lübeck Naturforscherversammlung. In: Synthese 119/1 (1999), 45–68. 156 Ostwald: Überwindung des Materialismus, 7. 157 Ebd., 26 f. 158 Ebd., 32. Neuber, Matthias: Energetik im deutsch-französischen Kontext. Wilhelm Ostwald und Abel Rey. In: Stekeler-Weithofer, Pirmin / Kaden, Heiner / Psarros, Nikolaos (Hg.): Ein Netz der Wissenschaften? Wilhelm Ostwalds »Annalen der Naturphilosophie« und die Durchsetzung wissenschaftlicher Paradigmen. Leipzig 2009, 98–112, hier 101. 159 Ostwald: Überwindung des Materialismus, 32. 160 Ebd., 22. Zur Geschichte der Atomtheorie im 19. Jahrhundert, vgl. Rocke, Alan: Chemical Atomism in the Nineteenth Century: From Dalton to Cannizzaro. Columbus 1984.

Wilhelm Ostwalds Energetik (1890–1915)  81

Nachdem Einstein 1905 mit seiner Herleitung der Brown’schen Molekular­ bewegung den Beweis für die Existenz der Atome erbracht hatte, distanzierte sich Ostwald von seiner antimaterialistischen Position. In einem Brief an William Ramsay 1908 äußerte sich dieser wie folgt über seinen Sinneswandel: »Von den Atomen und Molekülen hat mich JJ. Thomson und die Brown’sche Molekularbewegung überzeugt, doch bin ich noch kein Enthusiast geworden, weil ich mein Gehirn nicht so schnell umkrempeln kann.«161 Und auch in der Neuauflage seines Grundrisses der allgemeinen Chemie musste Ostwald einräumen, dass die Atomhypothese »zum Range einer wissenschaftlich wohlbegründeten Theorie aufgestiegen« sei.162 Im weiteren Verlauf seines Lübecker Vortrags zur Überwindung des Materialismus hob Ostwald zwei weitere Defizite des mechanistischen Weltbildes hervor, die durch die Energetik überwunden wurden. Die eine Schwäche des Materialismus bestand ihm zufolge in der unzureichenden Erklärung von Temporalität: Die zeitlichen Vorgänge, die in mechanischen Gleichungen beschrieben wurden, waren stets umkehrbar. Das Dissipationsgesetz der Energie hingegen bewies, dass Naturvorgänge irreversibel waren, denn mit dem Ansteigen der Entropie stieg auch das Maß an Irreversibilität des Energieaustauschs. Aus dieser Tatsache folgerte Ostwald für das Zeitproblem: »In einer rein mechanischen Welt gäbe es daher kein Früher oder Später im Sinne unserer Welt; es könnte der Baum wieder zum Reis und zum Samenkorn werden, der Schmetterling sich in die Raupe, der Greis in ein Kind verwandeln.«163 Als zweites Argument für eine energetische Naturauffassung führte Ostwald die Tatsache an, dass die Sinnesorgane nicht auf die Bewegungen der Materie reagierten, sondern auf Energieunterschiede. Daraus folgte in letzter Konsequenz, dass der Mensch von seiner Umwelt ausschließlich ihre »Energieverhältnisse« erfuhr; der Rest sei »subjektive Zutat«, wie Ostwald in seinen Lebenserinnerungen betonte.164 Mit diesem Argument untermauerte Ostwald erneut seine These, dass die Materie ein Gedankenkonstrukt sei und man allein die Energie empirisch nachweisen könne. Nicht nur mit seiner Forderung nach Hypothesenfreiheit, sondern auch mit der Betonung eines radikalen Sensualismus rekurrierte Ostwald auf den erkenntnistheoretischen Ansatz Ernst Machs (1838–1916), der als Empiriokritizismus bekannt wurde. Machs Empiriokritizismus forderte eine Denkökonomie,

161 Wilhelm Ostwald an William Ramsay, Großbothen, 17.11.1908. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 2405. Zit. n. Görs, Britta: Chemischer Atomismus. Anwendung, Veränderung, Alternativen im deutschsprachigen Raum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Berlin 1999, 181. 162 Ostwald, Wilhelm: Vorbericht. In: Ders.: Grundriss der allgemeinen Chemie. Leipzig 1900, III. 163 Ostwald: Überwindung des Materialismus, 21. 164 Ostwald: Lebenslinien II, 181.

82 Weltanschauungskämpfe die alle nicht-empirischen Schlüsse in der Wissenschaft als spekulativ verwarf.165 Die Basis aller wissenschaftlichen Erkenntnis sollte ihm zufolge das empirisch Gegebene sein, das wiederum auf unmittelbaren Sinneseindrücken beruhte. In Anlehnung an Mach wandte sich Ostwald mit der rhetorischen Frage an sein Publikum: Was erfahren wir denn von der physischen Welt? Offenbar nur das, was uns unsere Sinneswerkzeuge davon zukommen lassen. Welches ist aber die Bedingung, damit eines dieser Werkzeuge sich bethätigt? Wir mögen die Sache wenden, wie wir wollen, wir finden nichts Gemeinsames, als das: Die Sinneswerkzeuge reagieren auf Energieunterschiede zwischen ihnen und der Umgebung.166

Einen großen Einfluss auf Ostwalds positivistische Wissenschaftsauffassung hatte der Leipziger Positivistenkreis, der sich seit den 1890er Jahren im Leipziger Theatercafé zusammenfand.167 Abgesehen von Ostwald gehörte dem informellen Gelehrtenkreis der Philosoph und Begründer der experimentellen Psychologie, Wilhelm Wundt (1832–1920), der Kulturhistoriker Karl Lamprecht (1856–1915) sowie der Anthropogeograph Friedrich Ratzel (1844–1904) an.168 Ziel des Kreises war es, philosophische und geisteswissenschaftliche Gegenstände aus einer streng positivistischen und nomothetischen Perspektive zu erörtern und Gesetze der Kulturentwicklung zu identifizieren. Mit den Jahren erlangte der Kreis regionale Bekanntheit: Der Nervenarzt Willy Hellpach (1877–1955) würdigte den Leipziger Positivistenkreis als »eine der erlesensten Gelehrtenrunden, die jemals lange Jahre hindurch an einem Tische streitend und doch freundschaftsverbunden beieinandergesessen sind«.169 165 Zu Machs Denkökonomie, vgl. Stadler, Friedrich (Hg.): Ernst Mach  – Zu Leben, Werk und Wirkung. Berlin 2019; Wulz, Monika: Gedankenexperimente und ökonomischer Überschuss. Ökonomie und Wissenschaft bei Ernst Mach. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 38/1 (2015), 59‒76. 166 Ostwald: Überwindung des Materialismus, 26. Hervorhebung im Original. 167 Zur Geschichte des Leipziger Positivistenkreises, vgl.: Chickering, Roger: Das Leipziger »Positivisten-Kränzchen« um die Jahrhundertwende. In: Hübinger, Gangolf / Bruch, Rüdiger vom / Graf, Friedrich Wilhelm (Hg.): Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. Bd. 2: Idealismus und Positivismus. Stuttgart 1997, 227–245; Ders.: Karl Lamprecht. A German Academic Life (1856–1915). New Jersey 1993; Krause, Konrad: Alma Mater Lipsiensis. Geschichte der Universität Leipzig von der Gründung 1409 bis zur Gegenwart. Leipzig 2003, 189. 168 In den Privatkorrespondenzen der Leipziger Positivisten war immer wieder vom »Freitagskränzchen« die Rede, vgl. Wilhelm Wundt an Wilhelm Ostwald, 27.12.1905 [Abschrift]. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 3379; Wilhelm Wundt an Karl Lamprecht, 3.2.1898. ULB, NL Lamprecht, S 2713 (Korr. 56). Zum Einfluss der Ostwaldschen Energetik auf Karl Lamprecht, vgl. Mergel, Thomas: Evolution, Entropie und Reizsamkeit. Naturwissenschaftliche Kategorien im Lamprecht-Streit. In: Muhlack, Ulrich (Hg.): Historisierung und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland im 19. Jahrhundert. Berlin 2003, 211–227. 169 Hellpach, Willy: Wirken in Wirren. Lebenserinnerungen. Eine Rechenschaft über Wert und Glück, Schuld und Sturz meiner Generation. Bd. 1. Hamburg 1948, 169. Der Leipziger Positivismus schlug sich auch in der Leipziger Schule der Sozial- und Geschichtswissenschaft

Wilhelm Ostwalds Energetik (1890–1915)  83

Ostwald als Naturphilosoph (1900–1909) Ostwald ging nicht nur als Mitbegründer der physikalischen Chemie im Kaiserreich in die Wissenschaftsgeschichte ein, sondern auch als Naturphilosoph.170 Dass Ostwald ein Brückenbauer zwischen verschiedenen Disziplinen war, zeigt sich in seiner Hinwendung zu philosophischen Fragen. Erste Versuche einer neuen Naturphilosophie unternahm Ostwald mit einer Vorlesung, die er im Sommersemester 1901 an der Universität Leipzig für Zuhörer aller Fakultäten anbot. Während der erste Teil der Vorlesungsreihe allgemein erkenntnistheore­ tische Fragen behandelte (Sinneseindrücke, Erfahrung, Sprache, Raum und Zeit), widmete sich der zweite Teil der detaillierten Darlegung des energetischen Weltbildes, das Ostwald auf physische und psychische Bereiche des Menschen übertrug.171 Mit seinem energetischen Weltbild verfolgte er einen umfassenden Syntheseanspruch: Im Vorwort der Buchausgabe von 1902 verkündete Ostwald, dass die »alten Schwierigkeiten, welche der Vereinigung der Begriffe Materie und Geist sich entgegenstellen«, durch den Universalbegriff der Energie aufgehoben wurden.172 Seine Ideen zur Naturphilosophie stellte Ostwald auch im Positivistenkreis vor: Am 12. Juli 1901 notierte Friedrich Ratzel, man habe im Kreis über »Natur­ philosophie« und »­Haeckel« debattiert; am 22. November 1901 hätten Ostwald und Georg Heinrici (1844–1915) im Theaterkaffee ebenfalls »naturphilo­ sophisch« gesprochen.173 Dass Ratzel den philosophischen Exkursen seines Kollegen skeptisch gegenüberstand, lässt ein Eintrag vom 7. März 1902 erahnen: »Bin mit Ostwald, dessen naturphil. Ansichten mich etwas enttäuschen«, heißt es protokollhaft.174 Mit seiner Naturphilosophie begründete Ostwald eine Metawissenschaft, die über die gemeinsamen Prinzipien und Begriffe aller Wissenschaften reflektierte: »Den Inhalt der systematischen Naturphilosophie werden die allgemeinsten Begriffe zu bilden haben, mit deren Hilfe wir uns in der Außenwelt zurechtfinden«, erklärte dieser in einem Handbuchartikel.175 Ostwalds »Neue Naturphilosophie« nieder, vgl. Üner, Elfriede: Kulturtheorie an der Schwelle der Zeiten. Exemplarische Entwicklungslinien der Leipziger Schule der Sozial- und Geschichtswissenschaften. In: Archiv für Kulturgeschichte 80/2 (1998), 375–416. 170 Papst, D. W.: Professor Ostwald. In: Neue Leipziger Zeitung (5.4.1932). UAL , Film 0425 (PA 787), Bl. 90. 171 Ostwald, Wilhelm: Vorlesungen über Naturphilosophie. Leipzig 1902, VI–VII. 172 Ebd., VIII. 173 Ratzel, Friedrich: Tagebucheintrag vom 22.11.1901. BSB, Handschriftenlesesaal, Alte Drucke, Ratzeliana Suppl., Sch. 17a / b VI. 20: Tagebücher, Juli 1900 bis Juli 1903, Bl. 166. 174 Ratzel, Friedrich: Tagebucheintrag vom 7.3.1902. BSB, Handschriftenlesesaal, Alte Drucke, Ratzeliana Suppl., Sch. 17 a / b VI. 20: Tagebücher, Juli 1900 bis Juli 1903, Bl. 205. 175 Ostwald, Wilhelm: Naturphilosophie. In: Hinneberg, Paul (Hg.): Die Kultur der Gegenwart. Teil I, Abt. IV: Systematische Philosophie. Berlin / Leipzig 1907, 150–151.

84 Weltanschauungskämpfe zielte auf eine philosophische Vertiefung naturwissenschaftlich relevanter Begriffe und Gesetze, wie etwa das Kausalgesetz oder das Verhältnis von Zeit, Raum und Erfahrung. Bewusst grenzte sich Ostwald von den »Verfehlungen« der romantischen Naturphilosophie ab, da sie die empirische Wirklichkeit aus einem idealistischen Gedankensystem abgeleitet und mithilfe von Analogieschlüssen konstruiert habe.176 Im Anschluss an seine Vorlesungen gab Ostwald seit 1901/2 die interdisziplinäre Zeitschrift Annalen der Naturphilosophie heraus. Im Vorwort der ersten Ausgabe zeichnete er das Bild einer metaphorischen Landschaft, um den tiefen Graben zwischen der Philosophie und den Naturwissenschaften zu versinnbildlichen. In seinem Bildnis entsprach die Philosophie einem dichten Urwald, während die empirischen Naturwissenschaften einen überschaubaren, gepflügten Acker darstellten. Die Naturphilosophie fungierte hierbei als ein schmaler Streifen Land, der einen Austausch zwischen den vormals getrennten Gebieten ermöglichte und deren Berührungspunkte offenlegte: Als ein solches an treibenden Kräften und Entwicklungsbedürfnis reiches Gebiet läßt sich der mehr oder weniger breite Streifen Land bezeichnen, welcher sich zwischen den seit langer Zeit regelmäßig bestellten Feldern der einzelnen Wissenschaften und dem mehr als zweitausendjährigen Walde der Philosophie hinzieht. Zwar sind jene Felder auch erstmals Theile des Waldes gewesen […]. Aber zwischen ihnen und dem Urwalde hat vielfach der Zusammenhang aufgehört; undurchdringliches dialektisches Buschwerk von der einen Seite, Halden von unbearbeitbaren Steinböcken von der anderen hindern den Verkehr herüber und hinüber und lassen vielfach vergessen, daß derselbe Boden sie trägt und dieselbe Sonne ihnen die Energie schenkt, die sie beide in dauernden Formen zu übertragen beschäftigt sind.177

Ostwald provozierte mit seinen Vorlesungen sowohl Naturwissenschaftler als auch Philosophen der Leipziger Universität: Zweifelten erstere die Notwendigkeit einer erkenntnistheoretischen Grundlegung der Naturwissenschaften an, denunzierten ihn letztere als einen philosophischen Dilettanten.178 Darüber hinaus machte Ostwald mit seiner gut besuchten Vorlesung anderen Professoren die begehrten Kolleggelder strittig.179 In seinen Memoiren erinnerte er sich, dass sein Kollege Wilhelm Wundt, der mit den Jahren »idealistischer« geworden sei, die Studenten vor dem Besuch seiner Vorlesungen über Naturphilosophie gewarnt hatte.180 Ebenso disqualifizierte der Begründer der deutschen Volkshoch-

176 Ostwald: Zur Einführung. In: Annalen der Naturphilosophie 1 (1901), 2; Ders.: Vorlesungen über Naturphilosophie, 6 f. 177 Ostwald, Wilhelm: Einleitung. In: Annalen der Naturphilosophie 1 (1902), 1 f. 178 Neef: Entstehung der Soziologie, 123. 179 Ebd., 123. 180 Ostwald: Lebenslinien II, 90.

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schulbewegung, Reinhard Buchwald, Ostwalds Vorlesungen als »monistische Propaganda«.181 Ohnehin erregte der Begriff Naturphilosophie bei experimentellen Naturwissenschaftlern großes Misstrauen, da er ihnen zufolge an die spekulativen Auswüchse der romantischen Naturphilosophie von Schelling, Hegel und Oken erinnerte. Treffend schätzte Regine Zott die Wiederbelebung dieses vorbelasteten Begriffs durch Ostwald als ein »Stück konzeptioneller Provokation« ein.182 Die romantische Naturphilosophie um 1800 postulierte die Wesenseinheit von Geist und Natur, wobei sie auf Analogieschlüsse rekurrierte und auf jegliche Empirie verzichtete.183 Ausführlich legte Ostwald in der Einleitung seiner Annalen die Schwächen der Schelling’schen Naturphilosophie dar.184 Schelling habe den Fehler begangen, »dass er die gegenseitige Anpassung des Denkens und der Aussenwelt als bereits vollzogen ansah, und auf die vorhandenen Unvollkommenheiten des ersteren keine Rücksicht nahm.« Die Folge daraus war, dass Schelling Naturgesetze ohne empirische Basis aufstellte.185 Seine Vorlesungen über Naturphilosophie waren für Ostwald ein unerwar­ teter Erfolg. »Die zwischen 300 und 400 betragende Zuhörerzahl ist ein Zeichen für die wachsende Antheilnahme der Jugend für diese von der Mehrzahl Ihrer und auch meiner Zeitgenossen abgehobenen Fragen«, schrieb dieser im Mai 1901 an Mach, dem er seine Buchausgabe widmete.186 Über seine naturphilosophischen Vorlesungen machte sich Ostwald auch außerhalb der naturwissenschaftlichen Fachwelt einen Namen und geriet in den »Blick der Freidenker«.187 Die spätere Buchausgabe der Ostwald’schen Naturphilosophie avancierte sogar zum bürgerlich-freidenkerischen »Klassiker«.188 Innerhalb von fünf Jahren wurden seine Vorlesungen über Naturphilosophie viermal neu aufgelegt und erschienen bei dem angesehenen Leipziger Wissenschaftsverlag Veit & Comp.189 Die Popularität seiner Vorlesungen trug auch dazu bei, dass der Begriff Naturphilosophie 181 Buchwald, Reinhard: Miterlebte Geschichte. Lebenserinnerungen 1884–1930. Hg. v. Ulrich Herrmann. Köln, Weimar, Wien 1992, 112. 182 Zott: Wilhelm Ostwald, 111. 183 Schelling prägte dabei das bekannte Zitat: »Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur seyn.« 184 Ostwald: Einleitung. In: Annalen der Naturphilosophie, 8. 185 Ebd., 6. 186 Wilhelm Ostwald an Ernst Mach, Großbothen, 31.5.1901. ADM, NL Ernst Mach: NL 174/2380. 187 Neef: Entstehung der Soziologie, 123. 188 Ebd., 123. 189 Der Verleger Hermann Credner (1842–1924) übernahm die Leitung des Verlags Veit & Comp. 1876 und baute das naturwissenschaftliche Profil des Hauses durch angesehene Fachzeitschriften, Lexika und Handbücher aus. 1894 verlegte Veit & Comp. beispielsweise Otto Dornblüths Wörterbuch der klinischen Kunstausdrücke, das der Vorläufer des heutigen Klinischen Wörterbuchs (auch bekannt als Pschyrembel) war.

86 Weltanschauungskämpfe unter manchen Naturwissenschaftlern wieder salonfähig wurde.190 Im In- und Ausland setzten sich Naturwissenschaftler, Philosophen und Privatgelehrte mit Ostwalds Energetik auseinander, worauf die beachtliche Zahl zeitgenössischer Veröffentlichungen hindeutet.191 Ostwalds Abkehr von der chemischen Forschung und Hinwendung zur Naturphilosophie führte allerdings zu Spannungen mit der Philosophischen Fakultät der Leipziger Universität, der sein Lehrstuhl angehörte. Grund für den Konflikt war dessen Gesuch im Februar 1905, sein Lehrdeputat in Chemie auf das Wintersemester zu beschränken. Als sich die Fronten in der Fakultät verhärteten, stellte Ostwald beim sächsischen Kultusministerium den Antrag auf Frühpensionierung.192 In dieser Phase kam es ihm durchaus gelegen, dass er 1905 zum ersten Austauschprofessor im Rahmen des deutsch-amerikanischen Professorenaustauschs – ein Prestigeprojekt zwischen Berlin und Harvard – ernannt wurde.193 Zwischen Winter 1905 und Frühjahr 1906 hielt Ostwald Vorlesungen und Vorträge über physikalische Chemie, Energetik und Naturphilosophie in Harvard, am MIT sowie an der Columbia University in New York (Abb. 5).194 Obwohl der Professorenaustausch offiziell die Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen zwischen dem Deutschen Reich und Nordamerika stärkten sollte, nutzte Ostwald den Gastaufenthalt vor allem für die Verbreitung seines energetischen Programms an amerikanischen Universitäten. Die Tatsache, dass die Reichsregierung mit dem Professorenaustausch kultur- und außenpolitische Interessen verfolgte, sah er offenbar kritisch. Noch vor seiner Abreise hob Ostwald in einem Brief an Jacques Loeb hervor, dass er sich vom Kaiser nicht zum »Fürstenknecht« machen lasse – dafür sei sein »baltisches Blut« ungeeignet.195 Nach seiner 190 »Wenn heute der Name Naturphilosophie auch in den Kreisen der Naturforscher ­w ieder einen guten Klang hat, so kann man Wilhelm Ostwald ein Verdienst an diesem Umstand nicht absprechen.« Naturphilosophie. In: Sozialistische Monatshefte Nr. 21 (16.10.1913), 1303. 191 Adler, Friedrich: Bemerkungen über die Metaphysik in der Ostwald’schen Energetik. Leipzig 1905; Rolla, Alfedo: La filosofia energetica, W. Ostwald. Turin 1907; Dochmann, Abraham: Friedrich Wilhelm Ostwalds Energetik. 2 Teile. Bern 1908; Schlegel, Emil: Energetik und Bewußtsein. Leipzig 1911; Stickers, Josef: Was ist Energie? Eine erkenntniskritische Untersuchung der Ostwald’schen Energetik. Berlin 1913. 192 Zum Fakultätsstreit, vgl. die Biographie von Grete Ostwald: Wilhelm Ostwald, Mein Vater. Stuttgart 1953, 80–82. 193 Zum deutsch-amerikanischen Professorenaustausch, vgl. Brocke, Bernhard vom: Internationale Wissenschaftsbeziehungen und die Anfänge einer deutschen auswärtigen Kulturpolitik. Der Professorenaustausch mit Nordamerika. In: Ders. (Hg.): Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftspolitik im Industriezeitalter. Das »System Althoff« in historischer Perspektive. Hildesheim 1991, 185–214. 194 O. A.: Professor Wilhelm Ostwald at Harvard University. In: Science. New Series 21, Nr. 537 (14.4.1905), 598. 195 Wilhelm Ostwald an Jacques Loeb, Großbothen, 13.05.1905. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 1828 (Briefausgang).

Wilhelm Ostwalds Energetik (1890–1915)  87

Abbildung 5: Ankündigung zu Wilhelm Ostwalds Vorlesungsreihe über Energetik an der Columbia University (1905/6). Am Rand notierte Ostwald auf Englisch die Wochentage seiner Vorlesungen.

­ SA-Reise wurde Ostwald emeritiert; resigniert schrieb er über den Abschied U von der Leipziger Universität: »Inzwischen am 1. Aug. Vorlesungen ohne Sang und Klang geschlossen. Die Assistenten wollten mit mir festessen, abgelehnt«.196 Seit 1906 wirkte Ostwald als freischaffender Publizist auf seinem Landsitz in Großbothen, der den programmatischen Namen »Energie« trug (Abb. 6). Die Übersiedlung von Leipzig nach Großbothen 1906 bedeutete für Ostwald ein Befreiungsschlag, konnte er hier doch seiner Leidenschaft als Naturphilosoph, Publizist und Farbforscher ungestört nachgehen. »Ich komme mehr und mehr

196 Tagebucheintrag Ostwalds vom 11.8.1906, ABBAW, NL Ostwald, Nr. 5524, Bl. 168.

88 Weltanschauungskämpfe

Abbildung 6: Wilhelm Ostwalds Landhaus »Energie« in Großbothen bei Leipzig. Über dem Haupteingang des Hauses erscheint der Schriftzug »Energie«.

zum Entschluß, ganz frei zu werden«, notierte er 1905 in sein Tagebuch.197 Seine Beamtenpension, Vortragshonorare, Buchtantiemen sowie das Nobelpreisgeld von 1909 sicherten ihm ein gutes Auskommen auch in Zeiten der kriegsbedingten Inflation zu.198 Von der Naturphilosophie zum Monismus (1909–1915) Kaum war Ostwald pensioniert, widmete er sich in Vorträgen, Aufsätzen und Büchern der populären Verbreitung seiner Energetik, die er nun auch auf soziologische Themen übertrug.199 Ostwalds Interesse für soziologische Fragen scheint im Kontext seiner USA-Reise zur Weltausstellung nach St. Louis (1904) geweckt worden zu sein: Im September 1904 stellte er auf dem Internationalen Kongress der Künste und Wissenschaften eine neue Wissenschaftssystematik vor, die sich an Auguste Comte anlehnte. Auf der Hinfahrt an Bord der »Kaiser Wilhelm« 197 Tagebucheintrag Ostwalds vom 26.4.1905, ABBAW, NL Ostwald, Nr. 5524, Bl. 144. Kurz nach seinem Umzug nach Großbothen vermerkte Ostwald voller Enthusiasmus in sein Tagebuch: »Bin seit 14 Tagen endgültig nach der Energie übergesiedelt und wir stecken alle tief im Bauen, Nageln und Ordnen. Glaube, daß es sehr gut sein wird«. Ebd., Bl. 168. 198 Ostwald: Lebenslinien III, 30. 199 Vgl. Braune: Fortschritt als Ideologie, 65.

Wilhelm Ostwalds Energetik (1890–1915)  89

begegnete er eigenen Aussagen zufolge dem Kieler Soziologen Ferdinand Tönnies, der ihm Inhalt und Methoden der noch jungen Soziologie nahebrachte.200 Seinen ersten Versuch, soziologische Themen aus einer energetischen Perspektive zu erörtern, unternahm Ostwald in seiner Schrift Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaft (1909).201 Seine Abhandlung begann mit den thermodynamischen Begriffen von Arbeit, Güteverhältnis sowie Energie und endete mit Betrachtungen über die Vergesellschaftung, Sprache, das Rechtssystem, die Staatsgewalt und Wissenschaft. Ostwald kam zu dem Ergebnis, dass hinter allen zivilisatorischen Errungenschaften der Menschheit (wie die Erfindung der Schrift) ein und dieselbe Motivation stand: die Energieersparnis. Der Soziologe Max Weber (1864–1920) reagierte auf Ostwalds energetische Kulturtheorie mit einer scharfzüngigen Polemik, die sich gegen dessen Versuch richtete, »Werturteile aus naturwissenschaftlichen Tatbeständen abzuleiten«. Die Schwäche der energetischen Kulturtheorie veranschaulichte Weber am Beispiel der Ästhetik: Würde man Ostwalds Imperativ von Energieschonung folgen, so Weber, dann müsste das Urteil eines geschätzten Kunstwerkes negativ ausfallen, weil dessen Anfertigung enorme Kraftreserven beanspruchte. Aus Ostwalds naturalistischem Fehlschluss folgerte Weber: Ebenso wie Historiker, Soziologen oder Nationalökonomen ihren naturwissenschaftlichen Kollegen nicht vorschreiben dürften, welche »Methode« sie anzuwenden hätten, müssten auch Naturwissenschaftler endlich lernen sich zu »bescheiden«.202 Rund anderthalb Jahre nach der Veröffentlichung seiner Energetischen Grundlagen der Kulturwissenschaft übernahm Ostwald den Vorsitz im Monistenbund. Die Tatsache, dass sich Ostwald 1910/11 der Monismusbewegung zuwandte, wurde durch seine verfrühte Pensionierung 1906 begünstigt, da sie ihm Freiraum für seine weltanschaulich-publizistische Tätigkeit bot. Als freischaffender Publizist popularisierte Ostwald seinen energetischen Imperativ in zwei Sammelbänden und führte dessen Entstehung auf einen quasi-biblischen Ursprungsmythos zurück.203 Seiner Erinnerung zufolge war er Anfang der 1890er Jahre von Leipzig nach Berlin gereist, um mit einem Kollegen, dem Physiker Heinrich 200 Ostwald: Lebenslinien II, 399: »Den Gesprächen mit Ferdinand Tönnies danke ich die Einführung in das soziologische Denken. Denn er ließ sich durch meine Unkenntnis und meinen einseitigen Standpunkt nicht abschrecken und überzeugte mich davon, daß seine Wissenschaft Gedanken und Aufgaben von unabsehbarer Tragweite barg.« 201 Ostwald, Wilhelm: Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaft. Leipzig 1909. Ostwald widmete sein Buch dem Brüsseler Chemiker und Großindustriellen Ernest Solvay, den er als den »Begründer der soziologischen Energetik« bezeichnete. Ernest Solvay war drei Jahre zuvor mit seiner sozialenergetischen Analyse, den Formules d’introduction à l’Énergétique physio-et psycho-sociologique, hervorgetreten. 202 Weber, Max: Energetische Kulturtheorien. In: Winckelmann, Johannes (Hg.): Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. 6., erneute durchgesehene Aufl. Tübingen 1985, 399–425, hier 424. 203 Vgl. Ostwald: Die Forderung des Tages (1910); Ders.: Der energetische Imperativ (1912).

90 Weltanschauungskämpfe Bruns (1848–1919), seine Energetik zu diskutieren. Nach Stunden der hitzigen Diskussion brach Ostwald, erschöpft von der Reise, allmählich zum Hotel auf und ging zu Bett. Zwischen vier und fünf Uhr morgens wachte er plötzlich auf: Wie elektrisiert verließ der Chemiker den Gasthof und bewegte sich in Richtung des Berliner Tiergartens. Im Tiergarten angekommen habe er ein »wahres Pfingsten« erlebt, eine »Ausgießung des Geistes«: Die Vögel zwitscherten und schmetterten von allen Zweigen, goldgrünes Laub glänzte gegen einen lichtblauen Himmel, Schmetterlinge sonnten sich auf den Blumen und ich selbst wanderte in wunderbar gehobener Stimmung durch diese frühlingshafte Natur. Alles sah mich mit neuen, ungewohnten Augen an und mir selbst war zumute, als wenn ich zum ersten Male alle diese Wonnen und Herrlichkeiten erlebte. […] Der Denkprozeß für die allseitige Gestaltung der energetischen Weltauffassung vollzog sich in meinem Gehirn ohne jegliche Anstrengung, ja mit positiven Wonnegefühlen, jedes Ding sah mich an, als wäre ich eben gemäß dem biblischen Bericht geschaffen und in das Paradies gesetzt worden und gäbe allem seinen wahren Namen.204

Mit dieser Anekdote verfolgte Ostwald die Absicht, einen Ursprungsmythos der Energetik zu schaffen, der dem biblischen Pfingsterlebnis nachempfunden war. Ostwald war ein Meister der Selbstinszenierung und stilisierte sich hier als einen von der Natur Inspirierten. Dass diese Geschichte in hohem Maße konstruiert war, beweist ein Vergleich mit seinen Lebenserinnerungen, in denen er die Idee des energetischen Imperativs auf ein anderes Ursprungserlebnis zurückführte. Hier kam ihm der Geistesblitz angeblich nach einer intensiven Diskussion mit seinen Doktoranden im Labor.205 In der Öffentlichkeit soll Ostwald den Begriff »energetischer Imperativ« erstmals 1911 in einem Artikel für den Zeitgeist, dem Beiblatt des Berliner Tageblatts, verwendet haben.206 Des Weiteren forcierte Ostwald in seinen monistischen Schriften eine Abgrenzung zwischen seiner und H ­ aeckels Spielform des Monismus. Seinem Kollegen Jacques Loeb, der auf dem Internationalen Monistenkongress in Hamburg vortrug, teilte Ostwald im April 1911 mit, dass im Monistenbund keine »­Haeckel-Orthodoxie« herrsche.207 Trotz inhaltlicher Differenzen hob Ostwald eigens hervor, dass sich beide Monismen hervorragend ergänzten. Der »­Haeckelismus« habe geradezu die Grundlage aller monistischen Positionen 204 Ostwald: Wie der energetische Imperativ entstand. In: Der energetische Imperativ, 7. 205 Ostwald: Lebenslinien II, 153. 206 Vgl. Praktische Philosophie. In: Der Zeitgeist 49 (4.12.1911), 1 f.; Ostwald: Der energetische Imperativ, 114; Lebenslinien III, 321. 207 Wilhelm Ostwald an Jacques Loeb, Großbothen, April 1911. LOC , Loeb Papers, Box 11: »Vor ­Haeckel-Orthodoxie brauchen Sie sich nicht zu fürchten, die besteht bei uns nicht. Mir persönlich wäre erwünscht, wenn Sie am Schlusse Ihres Vortrages auf die Bedeutung der modernen Biologie, insbesondere Ihrer Entdeckungen, für die allgemeine Auffassung des Lebens und Daseins recht energisch hinweisen würden.«

Wilhelm Ostwalds Energetik (1890–1915)  91

Abbildung 7: Plakat zum Internationalen Monistenkongress in Hamburg (1911).

geschaffen, so Ostwald. Jeder Monismus sei insofern »­Haeckelismus«, als »man sich auch bezüglich der letzten und höchsten Fragen an keine andere Instanz als an die Wissenschaft wenden kann und muß, wenn man zulängliche und ehrliche Antworten auf sie gewinnen will.« Weiter hieß es: Keine Offenbarung, kein Mystizismus irgendwelcher Art hat die Fähigkeit, uns genügende Antwort zu geben, und die Abweisung jeder Offenbarung und jedes Mystizismus aus dem Gebiet des ernsthaften menschlichen Denkens, das ist das große Verdienst ­Haeckels und das ist der ­Haeckelismus, zu dem wir uns alle mit Freuden bekennen und der das Panier des Monismus bilden wird, solange ein Monismus überhaupt besteht.208 208 Ostwald: ­Haeckel und Ostwald. In: MSP II, 273–280, hier 273.

92 Weltanschauungskämpfe

Abbildung 8: Internationaler Monistenkongress in Hamburg (1911): Gruppenfoto im Tierpark Hagenbeck.

Abbildung 9: Internationaler Monistenkongress in Hamburg (1911): Gruppenfoto am Hamburger Bahnhof.

Wahrheit und Vorhersage  93

Als Wortführer der Monismusbewegung prägte Ostwald spezifische Bilder von Religion und Wissenschaft, die seiner Positivismusrezeption entsprangen. Welche Aspekte dieses Wissenschaftsverständnis umfasste, sehen wir im folgenden Kapitel.

5.

Wahrheit und Vorhersage: Monistisches Wissenschaftsverständnis

»Somit ist es nicht im mindesten übertrieben,[…], wenn man die Wissenschaft als den Heiland, den Messias unserer Zukunft anerkennt.«209 Mit diesen pathetischen Worten lobte Ostwald 1914 die gesellschaftliche und politische Relevanz der Wissenschaft. In seiner Funktion als Monistenpräsident war Ostwald darum bemüht, ein normatives Wissenschaftsverständnis nach außen zu präsentieren. Schließlich trafen im Monismus Akteure unterschiedlicher Disziplinen aufeinander, was einen Konsens über wissenschaftliche Leitprinzipien erschwerte.210 Das normative Wissenschaftsbild, das Ostwald und andere Monisten nach außen trugen, kann man in Anlehnung an Thomas Gieryn als Boundary work bezeichnen. Gieryn definierte Boundary work als »ideological style found in scientists’ attempts to create a public image for science by contrasting it favorably to non-scientific intellectual or technical activities.«211 Gieryn ging der Frage nach, welche rhetorischen Strategien Wissenschaftler anwenden, um ihre Deutungshoheit gegenüber konkurrierenden Sinn- und Wissenssystemen (etwa der Religion) zu behaupten.212 Am Beispiel der populären Reden des Physikers John Tyndall (1820–1893) aus dem 19. Jahrhundert konnte Gieryn zeigen, dass Tyndall Wissenschaft je nach Kontext anders definierte: Einerseits stufte er wissenschaftliches Wissen als nützlich und anwendungsbezogen ein, um es von einer lebensfernen und spekulativen Religion abzugrenzen; andererseits präsentierte er die Wissenschaft als ein genuin theoretisches und zweckungebundenes Phä-

209 Ostwald, Wilhelm: Religion und Monismus. Leipzig 1914, 70. 210 Weir: Riddles of Monism, 14: »However what differentiated monism from many philosophical and scientific movements is that it coherence as a worldview coincided with a marked disciplinary homelessness.« Bezeichnenderweise forderte Friedrich Jodl, Philosophieprofessor aus Wien, im Anschluss an den Ersten Internationalen Monistenkongress (1911), dass der offiziell verwendete Begriff »naturwissenschaftlich begründete Weltanschauung« durch einen allgemeineren ersetzt werde: die »wissenschaftliche Weltanschauung«, vgl. Ostwald: Lebenslinien III, 230. 211 Gieryn, Thomas F.: Boundary-Work and the Demarcation of Science from Non-Science: Strains and Interests in Professional Ideologies of Scientists. In: American Sociological Review 48/6 (1983), 781–795, hier 781; Ders.: Cultural Boundaries of Science. Credibility on the Line. Chicago 1999. 212 Gieryn: Boundary-Work, 783.

94 Weltanschauungskämpfe nomen, um sie von einer anwendungsorientierten Technik zu distanzieren.213 Ähnlich wie Tyndall definierte Ostwald das Wesen der Wissenschaft in Abgrenzung zum Christentum – als ein empirisches, anwendungsbezogenes und undogmatisches Phänomen, das sichere Prognosen über die Zukunft erlaubte.214 Kommen wir zunächst zum Kriterium der Empirie: Bereits H ­ aeckel attestierte in seinen Lebenswundern (1904) allein der durch wissenschaftliche Empirie (Beobachtung und Versuch) gewonnenen Erkenntnis einen Wahrheitsgehalt.215 Gemeinsam mit der Naturwissenschaft strebe die Monismusbewegung »der Wahrheit entgegen, Tag um Tag die Kreise der Erkenntnis vergrößernd, die Grundlagen der Erkenntnis vertiefend«, schwärmte der Hamburger Monist Paul Unna 1911.216 Metaphysische, religiöse oder auf Transzendenz bezogene Aussagen lehnten Monisten als unwissenschaftlich und damit als unwahr ab. Allerdings ignorierte ­Haeckel in seiner Wahrheitsdefinition die Tatsache, dass seine Vorstellung von der Allbeseeltheit der Natur den Bereich des Empirischen längst verlassen hatte und zur reinen Metaphysik wurde. Ostwald untermauerte sein Empirieideal indessen mit der Forderung, dass Wissenschaft hypothesenfrei operieren sollte und auf Bilder (wie das Atommodell) verzichten müsse (vgl. Kap. I.3). Seiner Meinung nach sollte sich wahre Wissenschaft auf die Beschreibung der erfahrungsmäßigen Tatsachen beschränken, wenngleich er vorläufigen Annahmen (sogenannten »Protothesen«) Gültigkeit einräumte.217 Zweitens sollte Wissenschaft nach Ostwald stets anwendungsbezogen und nützlich sein, da sie dem Kulturfortschritt verpflichtet war. »Die Wissenschaft ist ausschließlich ihrer Anwendung wegen da«, betonte er 1912.218 Sein Nützlichkeitsideal versinnbildlichte Ostwald in der Gegenüberstellung von »Monismus a priori« und »Monismus a posteriori«: Seinem Vorgänger H ­ aeckel attestierte Ostwald einen Monismus a priori, weil dieser versuchte, die Welt aus einem Prinzip herzuleiten: dem Substanzgesetz. Ostwalds Monismus a posteriori zielte hingegen auf ein zu erreichendes Zukunftsideal, nämlich das Denken des Menschen von religiösen Vorstellungen zu befreien und mit der naturwissenschaftlichen Gesetzeslogik in Einklang zu bringen.219 Im Unterschied zum Christentum, das den Idealzustand im längst vergangenen Garten Eden sah, war die Wissenschaft optimistisch und zukunftsorientiert: Sie verschrieb sich der Aufgabe, so Ostwald, bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen zu schaffen und die Gesellschaft 213 Ebd., 787. 214 Zu Ostwalds Ordnung der reinen Wissenschaften, vgl. Ziche: Wissenschaftslandschaften, 151–157. 215 ­Haeckel: Lebenswunder, 3–5. 216 Unna, Paul: Der Hamburger Monisten-Kongreß. In: Das Freie Wort 11, Nr. 5 (1911), 169–173, hier 169. 217 Eisler, Rudolf: Art. Ostwald, Wilhelm. In: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, 519–522. 218 Ostwald: Wissenschaft und Technik. In: MSP II, 349. 219 Ostwald: Monismus und Materialismus. In: MSP II, 292.

Wahrheit und Vorhersage  95

zu humanisieren.220 Ostwald war überzeugt, dass der wissenschaftlich-technische Fortschritt den urzeitlichen Überlebenskampf in eine friedliche »Arbeit ums Dasein« transformierte, indem er die Kulturhöhe der Gesellschaft anhob.221 Drittens war Wissenschaft aus Sicht der Monisten undogmatisch, weil sie weder auf einem Offenbarungsglauben noch auf kirchlichen Dogmen basierte. Im Gegenteil: Wissenschaft unterlag ihnen zufolge einem kontinuierlichen Wandel, da Forscher durch Beobachtung und Versuch bestehende Erkenntnisse korrigierten und dadurch zum Erkenntnisfortschritt beitrugen. Das »innerste Wesen der Wissenschaft«, so Rudolf Goldscheid 1912, zeichne sich dadurch aus, »daß sie nicht wie die Religion an einer einmaligen, für alle Zeiten gültigen Offenbarung festhält, sondern etwas Wandelbares, mit der Zeit sich Veränderndes bedeutet, daß ihre Ergebnisse kontinuierlich der Korrektur durch fortschreitende Erfahrung unterworfen sind«.222 Viertens war der monistische Wissenschaftsbegriff an das Ideal von Prognose und Prophetie geknüpft. Für monistische Denker wie Wilhelm Ostwald, Franz Müller-Lyer, Rudolf Goldscheid und Paul Kammerer bestand kein Zweifel daran, dass die Wissenschaft der Vorhersage zukünftiger Ereignisse dienen solle. Das prognostische Potential der Wissenschaft versetzte den Forscher in die Lage, die Konsequenzen bestimmter Handlungen zu antizipieren. Dieses Wissenschaftsideal ging auf den Positivismus Auguste Comtes zurück, dessen Lehre in monistischen Kreisen auf große Resonanz stieß. Comtes Moto »Savoir pour prévoir, prévoir pour pouvoir« (Wissen, um vorherzusehen, vorherzusehen, um handeln zu können) galt in den Augen der Monisten als Hauptkriterium reiner Wissenschaft.223 Ostwald zufolge waren nur diejenigen Sätze als wahr anzusehen, aus denen sich Zukunftsprognosen ableiten ließen, etwa in Gestalt naturwissenschaftlicher Gesetze: Man habe sich so sehr daran gewöhnt, die Prophetie »mit Mystik, Aberglauben und Betrug zu verbinden«, schrieb Ostwald, »daß man gar nicht gewahr zu werden pflegt, daß alle unsere Mitmenschen, welche die Wissenschaft zu irgendeinem Zweck benutzen […] in dem Maße zu prophezeien vermögen, als sie der Wissenschaft teilhaftig sind.«224 In Anknüpfung an dieses Wissenschaftsverständnis schrieb der Berliner Philosoph Benno Erd 220 Ostwald: Wie kam das Böse in die Welt. In: MSP I, 9–16. 221 Ebd., 15. 222 Goldscheid, Rudolf: Ostwalds »Monistische Sonntagspredigten« [Rez.]. In: Neue Freie Presse (12.5.1912). 223 Der Monist Franz Müller-Lyer äußerte sich ausführlich zu Comtes Wissenschaftsverständnis, vgl. Ders.: Die Phasen der Liebe. Eine Soziologie des Verhältnisses der Geschlechter. München 1913, 208–222. 224 Ostwald: Was ist Wahrheit? In: MSP I, 40. Hervorhebung im Original. Ganz ähnlich argumentierte der amerikanische Astronom Edward S. Holden 1904: »A theory is perfect when a future phenomenon can be predicted beforehand as accurately as it can subsequently be observed.« Vgl. Holden, Edward S.: The Conflict of Religion and Science. In: Popular Science Monthly 65 (Aug. 1904), 290.

96 Weltanschauungskämpfe mann (1851–1921) scherzhaft, Ostwald sei eine »wissenschaftliche Prophetennatur«.225 Lilly Herzberg, die 1928 zu den philosophischen Hauptströmungen im Monistenbund promoviert wurde, zog eine direkte Parallele zwischen Comtes Positivismus und der Agenda der Monisten: »Für den französischen Positivisten wie für den heutigen Monisten ist die Wissenschaft für das Leben da. Beide Bewegungen sind ausgezeichnet durch ihr starkes Gemeinschaftsgefühl, ihr Mitbauen an der kommenden solidarischen Ethik.«226 Der Topos der prophetischen Wissenschaft reicht auf eine lange ideengeschichtliche Tradition zurück. Lydia Walsh untersuchte in ihrer diskursanalytischen Studie »Scientists as Prophets« die Genealogie der prophetischen Wissenschaft als rhetorische Strategie. Walsh zeigte auf, dass Wissenschaftler des 19. und 20. Jahrhunderts gegenüber der Öffentlichkeit genau dann den Aspekt des Prophetischen hervorhoben, wenn sie den Anschein politischer Handlungssicherheit (political certainy) generieren wollten. Dadurch unterstrichen sie die Relevanz ihrer Forschung und versuchten, Deutungsmacht über gesellschaftspolitische Problemlagen zu erlangen.227 Bis in die Frühmoderne gehörte das prophetische Sprechen in der westlichen Tradition dem Hoheitsbereich religiöser Autoritäten an, bis es von Naturphilosophen des 17. Jahrhunderts übernommen wurde.228 Das prophetische Sprechen von Wissenschaftlern erfüllte nach Walsh einen doppelten Zweck: Erstens sollte es Akteure aus Politik und Öffentlichkeit zum Handeln bewegen (etwa im Bereich des Klimaschutzes) und zweitens potentielle Geldgeber davon überzeugen, Grundlagenforschung zu fördern.229 Die Wortführer der Monismusbewegung verbanden mit der Figur der prophetischen Wissenschaft ähnliche Motive: Einerseits versuchten sie hierdurch die Relevanz des Wissenschaftlers in der Gesellschaft zu untermauern und andererseits die Überlegenheit der empirischen Naturwissenschaften gegenüber den hermeneutischen Geisteswissenschaften zu unterstreichen. In Anbetracht eines auf Prognostik und Gesetzmäßigkeit beruhenden Wissenschaftsideals verwundert es kaum, dass Ostwald in seinen monistischen Schriften gegen die Altphilologie und mitunter auch gegen die Geschichts- und Altertumswissenschaften hetzte. Seiner Meinung nach durften nur solche Disziplinen den Ehrentitel der Wissenschaft für sich beanspruchen, die einen empirischen Gehalt hatten, einen klaren Anwendungsbezug aufwiesen und sichere Aussagen über die Zukunft zuließen. Alle anderen Wissensgebiete denunzierte 225 Erdmann: Über den modernen Monismus, 28. 226 Herzberg, Lily: Die philosophischen Hauptströmungen im Monistenbund. In: Annalen der Philosophie und philosophischen Kritik 7 (1928), 113–135, hier 121. 227 Walsh, Lydia: Scientists as Prophets. A Rhetorical Genealogy. New York 2013, 3. 228 Ebd., 3. 229 Ebd., 2 f.

Wahrheit und Vorhersage  97

er kurzerhand als nutzloses und verstaubtes »Papierwissen«. Seine Hauptkritik galt dabei dem angeblich nutzlosen Wissen der Historiker und Philologen: Wohl aber gibt es noch große Teile des Wissens, die auf den Ehrennamen der Wissenschaft im heutigen Sinne keinen oder nur einen sehr beschränkten Anspruch haben. Es ist dies der Teil des Wissens, den ich Papierwissen nenne, weil er zum allergrößten Teile in einer Kenntnis dessen besteht, was sich zufällig in gedrucktem oder geschriebenem Zustande aus älterer Zeit erhalten hat. Vermöge jenes Fehlers der Greisenperspektive, […], besteht die Vorstellung, daß solche zufällige[n] Reste der Vergangenheit, die sich bis auf unsere Tage erhalten haben, allein aus diesem Grunde wertvoll seien, weil sie alt sind.230

Ostwald verband sein harsches Verdikt über die Nutzlosigkeit historischen Wissens mit einem radikal antihumanistischen Bildungsideal: Nicht mehr die Altphilologie, sondern die Naturwissenschaften sollten seiner Meinung nach auf dem Gymnasium gelehrt werden (vgl. Kap. III). Die an die Historismuskritik Nietzsches erinnernde Zurückweisung historischer Erkenntnis als unnützes ›Papierwissen‹ entsprang einem evolutionären Geschichtsdenken: Ostwald sprach der Historie und Altphilologie jegliche Orientierungsfunktion für die Gegenwart ab, da ihre Zeugnisse einem bereits überwundenen, atavistischen Kulturzustand entsprangen.231 Mit seinen monistischen Schriften betrieb Ostwald – im Sinne Thomas Gieryns – eine rhetorische Grenzarbeit (Boundary work), indem er ein normatives Verständnis von wahrer Wissenschaft verbreitete. Mit dieser Strategie stand Ostwald nicht allein: Auch andere Monisten forcierten in ihren Schriften ein Bild von Wissenschaft, das sich durch spezifische Ideale, Ziele, Praktiken und Tugenden auszeichnete. Dieses Wissenschaftsbild konstituierte sich dabei in kontinuierlicher Auseinandersetzung mit Religion. * * * Der Überblick über die historische Entwicklung des Freidenkertums im langen 19. Jahrhundert hat einen doppelten Befund hervorgebracht: Einerseits nahmen Freireligiöse und Freidenker eine zentrale Rolle in der Verbreitung antiklerikaler Positionen ein, andererseits leisteten sie einen essentiellen Beitrag zur Umdeu 230 Ostwald: Naturwissenschaft und Papierwissenschaft. In: MSP I, 55. Hervorhebung im Original. 231 Nietzsche warf der Geschichtswissenschaft in der Tradition des Historismus vor, dass sie ihren Bezug zum Leben verloren habe. Er votierte für eine Verbindung der Historie mit der Kunst. Die drei Arten der Historie (monumentalische, antiquarische und kritische Historie) sollten, so Nietzsche, wieder in einer Symbiose miteinander stehen. Vgl. Ders.: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. Mit Anmerkungen und Nachwort herausgegeben von Günter Figal. Stuttgart 2009 [1874].

98 Weltanschauungskämpfe tung und Neudefinition von Religion – in einer Zeit, in der die europäischen Gesellschaften enorme Wandlungsprozesse durchliefen. ­Haeckel und Ostwald stiegen als Wortführer der Monismusbewegung nicht nur zu radikalen Kirchenkritikern ihrer Zeit auf; auf je eigene Weise prägten und popularisierten sie spezifische Bilder von Religion, Wissenschaft und Säkularität. Das folgende Kapitel untersucht die Ambivalenzen, die Monisten in ihrer Haltung zur Religion zeigten. Diese Ambivalenzen forderten die Bildung einer monistischen Gruppenidentität heraus und kamen besonders in der Debatte um einen eigenen Kult zum Tragen. Daran anschließend verfolgt das Kapitel die Frage, wie sich Monisten zu den jeweiligen Konfessionen (Katholizismus, Protestantismus und Judentum) positionierten.

II. Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität Obwohl sich der Monistenbund in seinen Satzungen und Aufrufen als radikaler Kirchengegner präsentierte, waren seine Mitglieder keineswegs rein atheistisch, antichristlich oder antireligiös eingestellt. Im Gegenteil: Die religiösen Haltungen der Monisten waren vielfältig und das Thema Religion in der monistischen Publizistik omnipräsent. Das folgende Kapitel untersucht, wie sich Monisten zur religiösen Frage positionierten und welches Verhältnis dabei zu den einzelnen Konfessionen aufschien. Indem sich Monisten auf ihre wissenschaftliche Weltanschauung beriefen, so meine These, verfolgten sie konträre Ziele: Während der Monismus für die einen eine Erneuerungskraft des Christentums darstellte, war er für andere ein Mittel zur Bekämpfung und Überwindung von Religion in der Gesellschaft. Durch die ambivalente Haltung der Monisten zur Religion verharrte die Frage nach einer monistischen Gruppenidentität im Schwebezustand: Verfolgte der Monismus religiöse Ziele oder genau das Gegenteil? Wie komplex die religiöse Frage in der Monismusbewegung war, zeigt sich in deren Positionierung zu den einzelnen Konfessionen. Monisten knüpften bewusst an antikatholische Feindbilder der Kulturkampfära an, um den Katholizismus als einen rückständigen und fortschrittsfeindlichen Glauben zu brandmarken. Der ultramontane Katholizismus verdichtete sich im Monismus zur Projektionsfläche der allgemeinen Religionskritik. Gezielt griff Ostwald auf ein positivistisches und evolutionsbiologisches Vokabular zurück, um den Katholizismus als einen geistigen Atavismus darzustellen. Die antikatholische Stimmung ihrer Zeit kam den Monisten durchaus zugute, denn im Kontext des Modernismusstreits und der Borromäus-Enzyklika (1910) flammten alte Ressentiments der Kulturkampfära erneut auf. Zeitgleich inszenierten Monisten den Protestantismus als wissenschaftskompatible und entwicklungsoffene Religion. Sendungsbewusst präsentierten sie den Monismus als Wegbereiter einer »zweiten Reformation«, die den Protestantismus von seinen letzten theistischen und transzendenten Relikten befreite. Das Kapitel beginnt mit der Untersuchung der monistischen Selbstverortung im Spannungsfeld von Religion und Atheismus, wobei ein besonderes Augenmerk auf der Aneignung und Umdeutung christlicher Begriffe und Praktiken liegt; im Anschluss daran beleuchtet es die Positionierung der Monisten gegenüber Katholizismus, Protestantismus und Judentum.

100  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität

1.

Die religiöse Frage im Monistenbund

Die Gretchenfrage »Wie hältst du’s mit der Religion?« wurde von Monisten unterschiedlich beantwortet.1 Die Haltung der Monisten zur Religion oszillierte zwischen Atheismus, Agnostizismus, vagierender Religiosität und konfessionel­ lem Liberalismus.2 Die monistischen Quellen legen ein beredtes Zeugnis davon ab, wie komplex und vielschichtig religiöse Vorstellungen im wilhelminischen Freidenkertum waren. Die Prozesse der Entkirchlichung und religiösen Pluralisierung, die im Kaiserreich zunahmen, spiegelten sich im Kleinen in der Monismusbewegung wider. Die jüngere Forschung hat die Annahme revidiert, dass Antiklerikale des 19. Jahrhunderts automatisch atheistische oder anti-religiöse Haltungen vertraten.3 So betonte Laura Schwartz für das britische Freidenkertum um 1900: »Secularism was  a manifestation of  a highly religious age«.4 Michael Rectenwald stellte des Weiteren heraus, dass der britische Freidenker George Holyoake mit dem Begriff »secularism« keineswegs die Ablehnung von Religion im Sinn hatte, sondern einen Gesellschaftszustand, der verschiedene Formen von Glauben und Unglauben integrierte.5 Todd Weir schließlich arbeitete heraus, dass die freireligiöse Bewegung der 1840er Jahre maßgeblich Anteil an der Definition und Popularisierung des Jenseitsbegriffs in der liberalen Öffentlichkeit des Vormärz hatte. Gerade in ihrer Frühphase lehnten die freireligiösen Gemeinden Jenseitsvorstellungen keinesfalls ab, sondern beantworteten sie mit Positionen eines christlichen Rationalismus.6 Am Beispiel der Schriften Albert Kalthoffs und Wilhelm Ostwalds zeigt das folgende Kapitel, dass die Monismusbewegung von Anbeginn zwischen der Affirmation und Negation von Religion schwankte. Der Monismus umfasste liberale, antiklerikale und religiöse Elemente, die konstant miteinander im Spannungsverhältnis standen: In den Veröffentlichungen der Monisten wechselten sich Passagen radikaler Religionskritik mit Begriffen und Symbolen ab, die dem christlichen Bedeutungsfundus entlehnt wurden. Die ambivalente Haltung der Monisten zur Religion hatte zur Folge, dass die Ausformung einer kohärenten Gruppenidentität stets prekär blieb.

1 Vgl. Goethe: Faust, V. 3415. 2 Damit fügten sich Monisten in das generelle Bild des europäischen Antiklerikalismus ein, vgl. Dittrich: Antiklerikalismus in Europa, 358. 3 Dittrich: Antiklerikalismus in Europa, 357–358. 4 Schwartz: Infidel Feminism, 22. 5 Rectenwald: Secularism, 105–106. 6 Weir, Todd: The Secular Beyond. Free Religious Dissent and Debates over the Afterlife in Nineteenth-Century Germany. In: Church History 77/3 (2008), 629–658, hier 639–651.

Die religiöse Frage im Monistenbund  101

Monismus – Religion oder Weltanschauung? »Kann der Monismus eine Religion genannt werden?«, so lautete der Titel einer monistischen Flugschrift aus dem Jahr 1920.7 Die Flugschrift ist nur ein Beispiel für die Virulenz der religiösen Frage in der Monismusbewegung: Hatte der Monismus den Anspruch, selbst eine Religion zu sein, oder war er vielmehr ein Mittel zur Bekämpfung von Religion?8 In den Schriften des DMB erhielt der Monismus unterschiedliche Zuschreibungen, die zwischen »Diesseitsreligion«, »Frömmigkeit«, »Glaubensbekenntnis« und »wissenschaftlicher Weltanschauung« schwankten.9 Durch diese ambivalenten Selbstzuschreibungen ­verortete sich der Monismus in unterschiedliche, miteinander in Wechselwirkung stehende Diskurse der Jahrhundertwende: Die Diskurse um Religion, Konfessionalität und Weltanschauung.10 Die widersprüchliche Positionierung der Monisten zur Frage der Religion sorgte auch unter zeitgenössischen Kritikern für Verwirrung. In der Christlichen Welt hieß es 1907: Auf der einen Seite stehen die Vertreter der Naturwissenschaft alter Observanz, die wie Dr. Schmidt sich zum Atheismus bekennen […]. Auf der anderen Seite stehen die der Kunst, Poesie und Philosophie zugewandten naturwissenschaftlichen Gebildeten, wie Bölsche. Ihnen empfiehlt sich der Monismus, weil er aus der modernen Naturwissenschaft herausgewachsen ist und doch über die bloß wissenschaftliche Betrachtung der Natur hinausführt: Weil er das Universum nicht nur wissenschaftlich erforschen, sondern zugleich religiös verehren lehrt. Und was der moderne Mensch dem All-Einen gegenüber empfindet an Abhängigkeits- und Zusammengehörigkeitsgefühl – das ist die neue Religion.11

Schon vor der Gründung des Monistenbundes herrschten Vorstellungen einer monistischen Religion vor. So sprach ­Haeckel in seinen Welträtseln 1899 von einer »monistische[n] Religion«, die das Christentum in epistemischer, morali-

7 Münch, Elsa: Kann der Monismus eine Religion genannt werden? (Monistische Bibliothek, Bd. 18). Hamburg 1920. 8 Vgl. Diesing: Der Monismus als Erfüllung der christlichen Lehre. In: Der Monismus 3, Nr. 28 (1908), 393–397; Georgy, Ernst August: Was ist Religion? In: Der Monismus 5, Nr. 43 (1910), 21–27. Weiterführend zu Auseinandersetzungen um Religion im DMB, vgl. Panesar, Rita: Medien religiöser Sinnstiftung. Der »Volkserzieher«, die Zeitschriften des »Deutschen Monistenbundes« und die »Neue Metaphysische Rundschau« 1897–1936. Stuttgart 2006, 106–108; Siegel, Heinz: Religion im Monismus. Historisch-kritische Untersuchung ihrer Stellung im modernen Monismus. Diss. Münster 1950. 9 Vgl. ­Haeckel: Welträtsel; Ders.: Monismus als Band; Ostwald: Religion und Monismus. 10 Zu Religionsdiskursen um 1900, vgl. Graf: Wiederkehr der Götter, 137–151. 11 Faut, A. S.: Religion oder christliche Religion. In: Christliche Welt 36 (Sept. 1907), 857. Das Zitat verweist auf H ­ aeckels Privatsekretär und zeitweiligen Vorsitzenden des DMB Heinrich Schmidt.

102  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität scher und ästhetischer Hinsicht übertrumpfte.12 Ebenso legte der Schriftsteller Bruno Wille in einem Brief an ­Haeckel vom 14. Juli 1899 seinen Plan dar, eine neue Gesellschaft zu gründen, deren Zweck die »Pflege monistischer Religiosität – oder auch: Pflege der Religiosität auf Grund monistischer Wissenschaft« lauten sollte.13 Im Gegensatz zum 1881 gegründeten Deutschen Freidenkerbund, der sich nach außen als »Kampforganisation« gegen Kirche und Christentum gab, plante Wille die Gründung einer religiös definierten Gesellschaft. Hinter diesem Plan stand ein Kalkül: So hoffte Wille, für den Monistenbund kirchenähnliche »Korporationsrechte« zu erlangen, die einem Verein mit politisch bedenklicher Ausrichtung verwehrt blieben.14 Willes Brief deutet zudem darauf hin, dass in monistischen Kreisen die Begriffe Religiosität oder Frömmigkeit dem der Religion vorgezogen wurden, um dadurch die Distanz zum kirchlichen Dogmatismus zu markieren. Anstelle von Dogmen betonten die Verkünder einer monistischen Religiosität Prinzipien von Innerlichkeit, Subjektivität und Glaubensfreiheit. Für sie war wahre Religion nicht an kirchliche Institutionen gebunden.15 Mit ihrer emphatischen Verwendung des Religiositätsbegriffs knüpften Monisten an eine protestantisch-bürgerliche Tradition an. Denn seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert stand Religiosität für die »subjektive Seite der Religion«, eine »innere, ehrfurchtsvolle Haltung« des Einzelnen gegenüber dem Göttlichen, wie Lucian Hölscher betont.16 Besonders im radikal-liberalen Protestantismus um 1900 konnte der Monismus Fuß fassen. Sein bekanntester Vertreter war der Bremer Pastor Albert Kalthoff, der zum ersten Vorsitzenden des Monistenbundes ernannt wurde. Kalthoff betrachtete den Monismus keineswegs als ein Mittel zur Bekämpfung von Religion, sondern als eine revitalisierende Kraft des Christentums. Im Monismus fand Kalthoff eine auf Freiheit, Vernunft und Menschenliebe beruhende »Diesseitsreligion«.17 So teilte er 1906 Ernst ­Haeckel mit, dass in seiner Kirche »die wahre, wahre Gottesliebe gepredigt« werden möge, »ausgedrückt durch Naturliebe und Menschenliebe, ohne jeden Gewissenszwang«.18 Kalthoffs Worte

12 Vgl. ­Haeckel: Welträtsel. 13 Bruno Wille an Ernst ­Haeckel, Friedrichshagen, 14.7.1899. EHH, NL ­Haeckel. Schon im Vorfeld war H ­ aeckel an Wilhelm Bölsche zur Gründung einer monistischen Religionsgesellschaft herangetreten, vgl. H ­ aeckel an Bölsche, Jena, 24.3.1899. In: Nöthlich (Hg.): Ernst ­Haeckel – Wilhelm Bölsche, 95. 14 Bruno Wille an Ernst H ­ aeckel, Friedrichshagen, 14.7.1899. EHH, NL ­Haeckel. 15 Vgl. Hasselhorn: Religion bei Bölsche, 129 f. 16 Zur Begriffsgeschichte von Religiosität, vgl. Hölscher, Lucian: Die Religion des Bürgers. Bürgerliche Frömmigkeit und protestantische Kirche im 19. Jahrhundert. In: HZ 250 (1990), 595–630, hier 617–620. 17 »Monismus ist Diesseitsreligion«, vgl. Flaskämper, P.: Monismus und Dualismus. In: DMJ 3 (1914), 282. 18 Albert Kalthoff an Ernst H ­ aeckel, Postkarte, Bremen 1906. EHH, NL ­Haeckel.

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deuten an, dass er die Vorstellung eines transzendenten Gottes durch das »Diesseitsideal« der Humanität ersetzte.19 Kalthoff verkörperte einen neuen Gelehrtentypus um 1900, den Friedrich Wilhelm Graf als »Religionsintellektueller« bezeichnete.20 Die Religionsintellektuellen vertraten einen synthetischen Religionsbegriff, der die wahrgenommene Kluft zwischen Wissenschaft, Christentum und Moderne schließen sollte. Das verbindende Element der kaiserzeitlichen Religionsintellektuellen war ihre konfessionelle »Sozialisationserfahrung«.21 Aus moralischen und sozialreforme­ rischen Beweggründen hatten sie sich für ein Theologiestudium und den Pfarrberuf entschieden, zeigten sich jedoch schon bald von der Realität ihres Berufsalltags desillusioniert. In ihrem Amt erlebten sie sich als »Funktionäre einer staatsnahen kirchlichen Bürokratie«, die eher »tote Religion« verwaltete als einen lebendigen Glauben verkündete.22 Die Tatsache, dass sich Kalthoff trotz seines Pfarramtes dem Monismus zuwandte, war lokalen Faktoren geschuldet: Denn die Hansestadt Bremen entwickelte sich aufgrund ihrer liberalen Religionspolitik zum Epizentrum einer radikal-liberalen Strömung im wilhelminischen Protestantismus.23 Obwohl die Bremer Senatskommission für kirchliche Angelegenheiten formell das Episkopalrecht innehatte und damit in die Belange der Bremer Gemeinden eingreifen konnte, überließ der Senat den ansässigen Gemeinden weitgehende Glaubensund Lehrfreiheit.24 Die vergleichsweise geringe Religionsaufsicht in Bremen bot für Kalthoff einen hervorragenden Nährboden, um Kritik an theologischen Positionen zu üben und seine Gemeinde von innen heraus zu reformieren. In Bremen versuchte er »alles was in Deutschland und darüber hinaus seiner extre­

19 Münch: Kann der Monismus, 48. 20 Graf: Wiederkehr der Götter, 148–150; Ders.: Alter Glaube und neuer Mensch. Religiöse Zukunftserwartungen um 1900. In: GG 18 (2000), 185–228. 21 Graf: Wiederkehr der Götter, 146. 22 Ebd., 146. Hinzu kam, dass sich das soziale Selbstverständnis des Pfarrers um 1900 wandelte. War der städtische Geistliche um 1800 noch selbstverständlicher Teil der bürgerlichen Geselligkeit gewesen, so verschwand er um 1900 zunehmend aus dem bürgerlichen Vereins- und Kulturleben. Stattdessen beschränkten sich seine Kontakte auf Kollegen und andere Inhaber kirchlicher Ämter; er war zum »überlasteten Verwaltungsbeamten« geworden, von dem Loyalität gegenüber Staat und Obrigkeit erwartet wurde. Vgl. Hölscher: Die Religion des Bürgers, 614. Weiterführend zum Wandel des Pfarrberufs, vgl. Kuhlemann, Frank-Michael: Bürgerlichkeit und Religion. Zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte der evangelischen Pfarrer in Baden 1860–1914. Göttingen 2001. 23 Zum Bremer Radikalismus, vgl. Auwärter: »Kämpfe um die Religion«, 176–225. 24 Auwärter, Thomas: Ein Atheist auf der Kanzel? Die Kontroverse um Albert Kalthoffs Beitritt zum Deutschen Monistenbund. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 121/3 (2010), 323–347, hier 330. Der Bremer Senat besaß ein geistliches Ministerium, das der Senatskommission bei religionspolitischen Fragen beratend zur Seite stand. Dieses Ministerium verlor im Laufe des 19. Jahrhunderts jedoch zunehmend an Einfluss.

104  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität men und antitheistischen Richtung verwandt ist, an sich zu ziehen und unter der Parole des Monismus zu organisieren«, erinnerte sich der Theologe Julius Burggraf.25 Kalthoff, so notierte Wilhelm Bölsche in einem Brief, sei ein »extremer Freidenker, leugnet sogar die Person Christi und hält die Evangelien für eine Art Volksdichtung aus der Befreiungssehnsucht bedrückter sozialer Klassen«.26 Die liberalen Gemeinden in Bremen, die sich ihren Pfarrer »nach Gutdünken« und ohne Rücksicht auf die Kirchenbehörde aussuchten, so Bölsche, seien dafür prädestiniert, sich binnen kurzer Zeit »aus der Kirche ohne Krach und Spalt einfach zu freireligiösen und monistischen Gemeinden [zu] entwickeln«.27 Trotz seiner Präsidentschaft im Monistenbund und heftiger Anfeindungen von konservativer und liberal-protestantischer Seite blieb Kalthoff seinem Pfarramt treu. Dadurch mutierte er gewissermaßen zum »kirchlichen Amtsträger und Konkurrenten des Protestantismus in Personalunion«.28 Bezeichnenderweise sprach der liberale Theologe Adolf von Harnack in einem Brief an Martin Rade vom 13. Februar 1905 von der »radikalen Schamlosigkeit à la Bremen«, welche die Kirche nicht ertragen könne und durch Bekenntnistreue eindämmen müsse.29 Liberale und konservative Protestanten sahen in Kalthoffs Lehre auch einen Angriff auf bürgerliche Leitwerte.30 Dies wiederum bestätigt die These, dass der Monismus nicht nur christliche Überzeugungen, sondern auch bürgerliche Moralvorstellungen herausforderte. Die Radikalität Kalthoffs bestand darin, dass er liberal-protestantische Überzeugungen überbot, indem er die Bedeutung eines historischen Jesus für den christlichen Glauben anzweifelte und die hierarchische Organisation der Kirche anprangerte. Kalthoffs kontroverse Schrift Das Christusproblem (1904) führte zu Spannungen mit dem liberalen Protestantenverein, weil er hierin die Vorstellung eines historischen Jesus ablehnte. In Abgrenzung zur historisch-kritischen Schule der protestantischen Theologie plädierte Kalthoff für eine soziologische Betrachtungsweise des Christentums, die er »Sozialtheologie« nannte.31 Im Anschluss an die soziologischen Theorien von Auguste Comte und Herbert Spencer vertrat Kalthoff die Auffassung, dass das Christentum als Kulturphänomen 25 Burggraf, Julius: Nach Kalthoffs Tod. In: Ders. (Hg.): Was nun? Aus der kirchlichen Bewegung und wider den kirchlichen Radikalismus in Bremen. Gießen 1906, 30–54, hier 32. 26 Wilhelm Bölsche an Ernst H ­ aeckel, Friedrichshagen, 8. Januar 1906. In: Nöthlich (Hg.): Ernst H ­ aeckel – Wilhelm Bölsche, 189–191, hier 190. 27 Ebd., 190. 28 Auwärter: Atheist auf der Kanzel, 324. 29 Adolf von Harnack an Martin Rade, Berlin, 13.2.1905. In: Jantsch, Johanna (Hg.): Der Briefwechsel zwischen Adolf von Harnack und Martin Rade. Theologie auf dem öffentlichen Markt. Berlin, New York 1996, 568. 30 Auwärter: Atheist auf der Kanzel, 329. 31 Kalthoff, Albert: Das Christus-Problem. Grundlinien zu einer Sozialtheologie. 2. Aufl. Leipzig 1903.

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einem historisch-evolutionären Wandel unterlag. Dementsprechend waren die christlichen Ideale nicht überzeitlich, sondern im Sinne des kulturellen Fortschritts wandelbar. An die Stelle der Offenbarung trat die Evolution. Kalthoff sah in Christus in erster Linie die Verkörperung eines sich verändernden ethischen Ideals: Der heutige Christus, so Kalthoff, »kann nie ein historischer, ein vergangener Christus sein, er muß aus dem gesamten Inhalt des modernen Lebens, aus den treibenden Kräften unserer gesellschaftlichen Kultur geboren werden.«32 Den Monismus betrachtete er indessen als ein Mittel zur Revitalisierung eines durch Kirche und Dogma korrumpierten Glaubens, der sich gegenüber den Ideen von Entwicklung und Fortschritt verschloss: So ist nun die Religion, welche ihrem Einheitsempfinden auch Ausdruck verleiht in ihren Worten und Gedanken, in ihrer ganzen Welt- und Lebensanschauung, eine höhere, reifere und reichere Entwicklungsform der Religion. Sie nimmt durch den Monismus teil an dem nimmer rastenden Entwicklungsleben der Welt und der Menschheit und erlöst sich damit von dem auf ihr lastenden Fluch, als der ewige Hemmschuh in der Geschichte unseres Geschlechts zu gelten.33

Obwohl Kalthoff mit ­Haeckel in engem Austausch stand, schlug er eine eigene monistische Richtung ein, die dem Bedürfnis nach Religiosität stärker Rechnung trug.34 Dementsprechend schwebte Kalthoff 1906 ein Monistenkongress in Bremen vor, der alle religiösen Reformer vereinen sollte.35 Kalthoff und sein Kollege Arthur Drews, der mit dem Buch Die Christusmythe (1909) für Furore sorgte, distanzierten sich sowohl von kulturprotestantischen Positionen als auch von denen eines einseitigen Materialismus.36 In einem Brief an Kalthoff vom 4. Februar 1906 verurteilte Drews ­Haeckels Monismus als verwirrenden »Konfusionismus«. Ihm zufolge war ­Haeckel mit seinem Anspruch gescheitert, die naturwissenschaftliche Weltanschauung »unserem Volke als Ersatz für das Christentum anzubieten«, weil sie das menschliche Gemüt kalt ließ.37 Unterstützung für ihr Monismusverständnis fanden Kalthoff und Drews in dem Jenaer

32 Ebd., 94. Sein Kollege Arthur Drews, ebenfalls Monist und Schüler Eduard Hartmanns, knüpfte in seiner kontroversen Schrift Die Christusmythe (1909) an Kalthoffs Kritik am historischen Jesus an. Drews versuchte nachzuweisen, dass die gesamte neutestamentliche Überlieferung von Jesus auf einem Mythos basierte, der Elemente vorchristlicher Kulte (Apokalyptik, Mithras-Kult, jüdischer Messianismus etc.) in sich trug. 33 Kalthoff, Albert: Religion und Monismus. In: Das Blaubuch 1, Nr. 7 (1906), 261–268, hier 268. 34 Vgl. Auwärter: Ein Bremer Pastor, 45. 35 Heinrich Schmidt an Albert Kalthoff, Jena, 17.1.1906. StA Bremen, NL Kalthoff, Sign. 7.40–20. 36 Auwärter: Ein Bremer Pastor, 46. 37 Arthur Drews an Albert Kalthoff, Karlsruhe, 4.2.1906. StA Bremen, NL Kalthoff, 7.40–20.

106  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität Kulturverleger Eugen Diederichs (1867–1930), der zahlreiche naturmystische, theosophische und monistische Werke der Jahrhundertwende publizierte.38 Trotz ideologischer Differenzen glaubte H ­ aeckel in Kalthoff diejenige Person gefunden zu haben, welche die monistische Lehre auf ethische, theologische und soziologische Fragen zu übertragen vermochte: »Wir Naturforscher können nur den theoretischen Teil der Philosophie fördern«, schrieb ­Haeckel an Kalthoff 1906, »die schwere und große Aufgabe des praktischen Teiles, die naturgemäße Anwendung derselben auf die Ethik, Soziologie und Pädagogik, muß von den frei denkenden ehrlichen Theologen und Lehrern gelöst werden.«39 Andernorts ehrte ­Haeckel Kalthoff als »Förderer der Monistischen Religion«.40 Robert Riemann, Leiter der Leipziger DMB -Ortsgruppe, zeigte sich wiederum von ­Kalthoff und den anderen Bremer Pastoren irritiert: »Da diese Pastoren aber nach kirchlichem Ritus weiter tauften, konfirmierten, trauten und begruben, begriff man nicht recht, wo ihr Christentum aufhörte und ihr Monismus begann.«41 Kalthoffs plötzlicher Tod am 11. Mai 1906 setzte der Kontroverse um die monistischen Gemeinden in Bremen kein Ende. Dass sich liberale Pastoren wie Kalthoff, Friedrich Steudel (1866–1939), Oscar Mauritz (1867–1959) und Wilhelm Heydorn (1873–1958) dem Monistenbund anschlossen, sorgte in den Landeskirchen für einen Sturm der Entrüstung.42 Die liberale Christliche Welt schrieb nach Kalthoffs Tod sogar, dass die Entwicklungen in Bremen »vielleicht der wichtigste Prozeß« seien, den der »deutsche Protestantismus soeben erlebt«.43 38 Zu Eugen Diederichs Verlagsprogramm, vgl. Werner: Moderne in der Provinz, 63–194. Zwar schätze ­Haeckel die kirchenkritische Ausrichtung des Diederichs-Verlags, allerdings wahrte er Distanz zu dessen neoromantischen und mystischen Autoren. Er hoffte, dass die »Schriften von Kalthoff in unserem ›Monistenbunde‹ weite Verbreitung finden und daß sie in Ihrem schätzbaren Verlage die ›mystischen‹ Schriften der dualistischen Richtung (– im Kampf ums Dasein!) – überwinden werden.« Ernst H ­ aeckel an Eugen Diederichs, Jena, 15.3.1906. DLA Marbach, NL Diederichs. 39 Ernst ­Haeckel an Albert Kalthoff, Jena, 5.1.1906. StA Bremen, NL Kalthoff, 7.40–20. 40 Postkarte von Ernst ­Haeckel an Albert Kalthoff, 25.11.1905. StA Bremen, NL Kalthoff, 7.40–20. Zum Verhältnis von H ­ aeckel und Kalthoff, vgl. Detering, Herrmann: »Et hic dii sunt – Auch dieser Ort ist ein heiliges Land!« Ernst ­Haeckel und Albert Kalthoff – eine Wahlverwandtschaft. In: Lenz, Arnher E. / Mueller, Volker (Hg.): Darwin, H ­ aeckel und die Folgen. Monismus in Vergangenheit und Gegenwart. Neustadt 2006, 207–236. 41 Riemann: Dummheit und Einsicht (8. Kap.), 1: »Sogar einige liberale Theologen hielten es für zeitgemäß, das naturwissenschaftliche Weltbild mit einigen Vorbehalten zu bejahen. Sie gingen in die Versammlungen der Monisten, hielten Reden, in denen der Gottesbegriff zwar beibehalten, aber in Verschwommenheiten aufgelöst wurde, und erlangten in einigen Ortsgruppen sogar den Vorsitz.« 42 Vgl. Akta betreffend Eingabe des Ministeriums der stadtbremischen Pfarrkirchen betreffend Eintritt des Pastor prim. an St. Martini Dr. phil. Kalthoff in den in Jena gegründeten deutschen Monistenbund. StA Bremen, 3-K.1a Nr. 141 [1]. Zur Kontroverse auch Auwärter: Atheist auf der Kanzel, 323–347. 43 Nach Kalthoffs Tode. In: Die Christliche Welt, Nr. 31 (2.8.1906), Sp. 733–736, hier 735 f.

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Für die Bremer Theologen hatte die Nähe zum DMB auch persönliche Konse­ quenzen: So richteten die Mitglieder der Bremer Pastoralkonferenz und einige Gemeindemitglieder 1907 eine Eingabe an den Senat der Hansestadt, die forderte, dass die »monistischen Prediger mit ihren Anhängern aus der bremischen Kirche« austreten sollten.44 Friedrich Steudel und Oscar Mauritz reagierten auf die Eingabe und erklärten in der Folge ihren Austritt aus dem Monistenbund. Dennoch betonten sie, dass sie mit ihrem DMB -Beitritt keineswegs einen anti-religiösen Zweck verfolgten, im Gegenteil: Sie sahen im Monismus ein Erneuerungspotential für das Christentum. Eine der wichtigsten Aufgaben ihrer Zeit sei es zu zeigen, »wie der religiöse Gehalt des Christentums am besten ohne Widerspruch mit den Forderungen des wissenschaftlichen Denkens in die Gegenwart hinübergeleitet werde«.45 Sieben Jahre später erörterte der Hamburger Pastor Wilhelm Heydorn in einem Artikel die Frage »Darf ein Pastor Monist sein?«, als er von der Hamburger Landeskirche aufgefordert wurde, den Monistenbund zu verlassen.46 Abgesehen von religiösen Selbstzuschreibungen brachten Monisten durch die Formulierung eigener Katechismen, Gebote und Kulte auch ein konfessionelles Selbstverständnis zum Ausdruck.47 Schon kurz nach der Gründung des Monistenbundes bat ­Haeckel Kalthoff um die Abfassung eines monistischen Katechismus, der von »vielen Seiten« gefordert worden sei: Ich würde es für eine wirkungsvolle Tat unseres »Monistenbundes« halten, wenn Sie selbst – oder einer Ihrer beiden gleich freidenkenden Collegen, Steudel oder Mauritz – oder Sie alle Drei zusammen, baldigst einen solchen »Monistischen Katechismus« componirten und ihn als einer der ersten & wichtigsten Flugschriften unseres Bundes weiteste Verbreitung geben.48

1908 schließlich verfasste Ludwig Hopf (unter dem Pseudonym Dr. Frei) einen »Katechismus der monistischen Weltanschauung«, der auf ­Haeckels Monismus basierte. Der monistische Katechismus wolle, wie es im Vorwort hieß, »Fragen über Gott und Welt stellen«, diese jedoch ganz anders, »nämlich im Sinne der neuen, auf den Ergebnissen der Naturwissenschaften fussenden Weltanschau 44 O. A.: Die Pastoren des Monistenbundes. In: Bd DMB 1, Nr. 11 (1906/7), 86. 45 Ebd., 87. 46 Heydorn, Wilhelm: Darf ein Pastor Monist sein? In: Hamburger Fremdenblatt, Nr. 271 (18.11.1913). StA Bremen, 3-K1.a. Nr 141 [1]. Heydorn hatte zur Hamburger Ortsgruppe des DMB engen Kontakt, vgl. StA Hamburg, NL Heydorn, 622–1/177_36: Korrespondenz mit dem DMB. 47 Vgl. Unold, Johannes: Die zehn Gebote des Monismus. In: Der Monismus 6, Nr. 59 (1911), 210–212; Rheindorf, Josef: Die zehn Gebote des Monismus. In: Der Monismus 6, Nr. 60 (1911), 270 f.; Ostwald, Wilhelm: Die zehn Weisungen des Monismus In: Der Monismus 6, Nr. 61 (1911), 326 f. 48 Ernst ­Haeckel an Albert Kalthoff, Jena, 4.3.1906. StA Bremen, NL Kalthoff, 7.40–20.

108  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität ung« beantworten.49 Hopfs Katechismus war in drei Hauptteile gegliedert, die sich mit Fragen der Welt, des Menschen und Gottes auseinandersetzten. Formell folgte die Schrift dem Muster des Frage-Antwort-Katechismus, der im 19. Jahrhundert für die christlichen Konfessionen geläufig war.50 Auf die Frage, wer die Welt regiere, antwortete der Katechismus mit einer klaren Verneinung von Transzendenz: »Das Weltall regiert sich selbst. Irgendein ausserhalb des Weltalls stehendes und dasselbe regierendes Wesen kann die Naturwissenschaft nicht anerkennen.«51 Analog zu den Konfessionskatechismen sollte der monistische Katechismus die Grundüberzeugungen der Monismusbewegung zusammenführen und damit ein »oft geäußertes Bedürfniß« befriedigen, wie H ­ aeckel betonte.52 Die Formulierung eigener Katechismen war kein Spezifikum der Monismusbewegung. Auch im freireligiösen, lebensreformerischen und sozialistischen Milieu um 1900 dienten Katechismen der Vereinheitlichung und Dogmatisierung von Lehrinhalten. Karl Weigt, Freimaurer und Vorkämpfer der Kremation, legte 1900 einen »Katechismus der Feuerbestattung« vor;53 Arthur Drews versuchte 1917 durch einen »freireligiösen Katechismus« einen Minimalkonsens im Bund freireligiöser Gemeinden durchzusetzen.54 August Cyliax veröffentlichte 1921 einen »sozialistischen Katechismus«, der sich an junge proletarische Freidenker richtete.55 Solche Dogmatisierungsversuche bezeugen die inneren Widersprüche des wilhelminischen Freidenkertums: So formierte sich die freireligiöse Bewegung in den 1840er Jahren gerade aus ihrem Protest gegen die Dogmen und den Reliquienkult der katholischen Kirche.56 Abgesehen von Dogmatisierungsversuchen spielten bei Monisten wohl auch Momente der Provokation eine Rolle, wenn sie sich ein konfessionelles Vokabular und Textgenre aneigneten. Die ambivalente Haltung der Monisten zur religiösen Frage spiegelte sich in deren Rezeption wider: So erschienen die Monisten im Urteil der Zeitgenossen einerseits als Atheisten, andererseits als Kirche oder gar Sekte. ­Haeckels Ausru 49 Frei, L.: Katechismus der monistischen Weltanschauung. Frei nach Ernst H ­ aeckel’s Lehre. 2. Aufl. Brackwede 1914, 8. 50 Ursprünglich verwies der Katechismus auf die Unterweisung des Täuflings im Glauben durch Frage und Antwort. Im 19. Jahrhundert gewann der Katechismus im Zuge von Unionsbemühungen als Bekenntnisbuch wieder an Bedeutung. Vgl. Fraas, Hans-Jürgen: Art. Katechismus. In: TRE 17 (1988), 710–722, hier 720. 51 Frei: Katechismus der monistischen Weltanschauung, 14. 52 Ernst ­Haeckel an Wilhelm Breitenbach, Bad Wildungen, 21.8.1908. Archiv des Helmholtz-Gymnasiums, NL Wilhelm Breitenbach. 53 Weigt, Karl: Katechismus der Feuerbestattung. 2. Aufl. Selbstverlag o. A. 1901. 54 Pitzer: Freireligiöse Bewegung(en). In: TRE 11 (1983), 568; Heyer / Pitzer: Religion ohne Kirche, 36. 55 Cyliax, August: Sozialistischer Katechismus. Dresden 1921. Als Beispiel für einen christlichen Arbeiterkatechismus kann gelten: Hammerstein, Ludwig v.: Arbeiter-Katechismus. 2. Aufl. Tier 1904. Aus dem antisemitischen Lager, vgl. Fritsch, Theodor: Antisemiten-Katechismus. Leipzig 1887 (später als »Handbuch der Judenfrage« bekannt). 56 Pitzer: Freireligiöse Bewegung(en). In: TRE 11 (1983), 568.

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fung zum »Gegenpapst« auf dem Campo de Fiori in Rom 1904 und die Formulierung eigener Katechismen und Gebote trugen zur konfessionellen Lesart des Monismus bei.57 So titelte das Protestantenblatt 1912: »Wer hat die Zukunft? Katholizismus, Orthodoxie, Monismus oder freier Protestantismus?«58 Die Überschrift legt nahe, dass der Monismus als ein eigenes Bekenntnis rezipiert wurde, das den Anspruch hatte, mit den christlichen Konfessionen in Konkurrenz zu treten. Kritiker warfen der Monismusbewegung indessen vor, ihren eigenen Ansprüchen von Gewissensfreiheit nicht zu genügen und selbst in dogmatische Strukturen verfallen zu sein. So bemerkte ein Rezensent 1915: Das seltsamste aber ist wohl, wenn er, der Kirchenfeind, der energischste Bekämpfer der überlieferten Religionsformen und -gemeinschaften nachgerade selbst zu einer solche geworden ist. Der Ausdruck ›Monistenpapst‹ ist nicht scherzhaft. In der Tat zeigt die monistische Bewegung sich völlig auf dem Wege, eine neue kirchliche Gemeinschaft zu werden. Gott und seine Gebote werden ersetzt durch die Natur und ihre Gesetze, die orthodoxe und die liberale Richtung sind eigentlich jetzt schon vorhanden […].59

Drei Jahre zuvor hatte die Kulturzeitschrift Die Aktion Folgendes über den Magdeburger Monistentag berichtet: »Zumeist hätte man annehmen können, hier solle so etwas ähnliches, wie eine neue Religion gegründet werden und die Gedanken wären noch nicht diskutiert und geklärt genug, um in allgemeine Entschliessungen und Dogmen festgelegt zu werden.«60 Jenseits von Religion und Konfession war der Weltanschauungsbegriff für das Selbstverständnis des Monismus zentral: Für Ostwald barg der Weltanschauungsbegriff die Möglichkeit, den Monismus von religiösen Konnotationen fernzuhalten. Er war davon überzeugt, dass die Förderung von Wissenschaft und Technik das gesellschaftliche Bedürfnis nach Religion zukünftig beseitigen würde. Im Unterschied zu Kalthoff, ­Haeckel und Wille war der Monismus für ihn ein Mittel zur Beseitigung von Religion in der Gesellschaft. Das Christentum war aus seiner Sicht zum Scheitern verurteilt, weil es auf Offenbarungen und Dogmen aufbaute und sich nicht weiterentwickelte. Der Sieg der Wissenschaft dagegen beruhte auf der Tatsache, »daß sie im Gegensatz zur Religion die Tat 57 Frankfurter Zeitung (8. Juli 1907): »So lange der Bund keinen anderen Zweck hatte, als den die ­Haeckel’sche Entwickelungslehre in Laienkreisen zu pflegen, war er […] doch eine Art philosophische Gesellschaft. In dem Augenblicke aber, in dem der Bund für sein Ziel den Wettbewerb mit Kultusgemeinden erklärte, wurde er offenbar selber eine Religionsgemeinschaft, eine religiöse Sekte.« 58 Fiebig: Wer hat die Zukunft? Katholizismus, Orthodoxie, Monismus, liberaler Protestantismus. In: Protestantenblatt Nr. 3 (1912), 79–82. 59 Bloch, Werner: Rez. Was wir Ernst H ­ aeckel verdanken. In: Archiv für Geschichte der Philosophie (1914), 247–248, hier 247. 60 Martens, Wolfgang: Der Monismus. In: Die Aktion 2, Nr. 44 (30.10.1912), 1388–1389, hier 1388.

110  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität sache der Entwicklung […] nicht nur anerkennt, sondern auch zum praktischen Grundsatz ihrer ganzen Betätigung macht.«61 Auf dem Internationalen Monistenkongress 1911 argumentierte Ostwald, dass die wissenschaftliche Weltanschauung sogar alle Aspekte der Gottesidee (Allmacht, Allgegenwärtigkeit, Allwissenheit, Allgütigkeit) ersetzen könne.62 Obwohl sich Ostwald von einer religiösen Deutung des Monismus distanzierte, schreckte er nicht davor zurück, christliche Symbole, Begriffe und Riten für eigene Zwecke zu instrumentalisierten. So bezeichnete er 1914 die Wissenschaft als »Heiland«, ein Wort, das sich gemäß der christlichen Heilslehre auf den Erlöser und Retter Jesus Christus bezog.63 Die religiösen Debatten im Monistenbund führen vor Augen, dass der Religionsbegriff schon um 1900 ein »essentially contested concept« war. In Mini­ aturform zeichnete sich im Monistenbund ein genereller Diskurs der Jahrhundertwende um die Zukunft der Religion und ihrer Vereinbarkeit mit der Moderne ab. Obwohl sich der Monistenbund nach außen als eine antiklerikale Bewegung präsentierte, blieb dessen Haltung zur Religion ambivalent: Kalthoff verband mit dem Monismus das Ziel, den christlichen Glauben zu erneuern, wohingegen Ostwald im Monismus eine Waffe zur Beseitigung von Religion in der Gesellschaft sah. Der Monistenbund wurde so zum Anziehungspunkt unterschiedlicher Akteure, die von religiösen Reformern bis Atheisten reichten. Nicht ohne Grund betonte der Philosoph Benno Erdmann 1914, dass der Monismus »landaus und landein auf empfängliche Seelen« traf.64 Aufgrund seiner ambivalenten Haltung zum Thema Religion blieb die Gruppenidentität des Monistenbundes in erster Linie negativ bestimmt. Monisten definierten sich meistens in Abgrenzung zu den Kirchen und konservativen Kräften; der positive Kern der Bewegung blieb indessen vage und beschränkte sich auf Ideale von Fortschritt, Vernunft und Freiheit. So erkannte auch der Berliner Theologe Arthur Titius, dass in der »Näherbestimmung der positiven Zielsetzung« des Monistenbundes die »Ansichten weit auseinander« gingen.65 Lediglich in der »Ablehnung des kirchlichen Religionsunterrichts« bestünde Einigkeit unter Monisten.66 Ebenso kam der evangelikale Erweckungsprediger 61 Ostwald: Religion und Wissenschaft. In: MSP I, 28. 62 Ostwald: Die Wissenschaft. In: MSP I, 109–112. Die Wissenschaft, so Ostwald, sei erstens allmächtig, weil sie durch den Erkenntnisfortschritt sukzessive alle Probleme der Menschheit lösen könne; sie sei zweitens allgegenwärtig, da technische Innovationen (Verkehr, Telegraphie) alle räumlichen Hindernisse überwinden könnten; die Wissenschaft sei drittens allwissend, weil sie alle Wissensgebiete des Menschen umfasse; und schließlich sei sie allgütig, da der medizinische Fortschritt den Menschen von Krankheit und Leid befreie. 63 Ostwald: Religion und Monismus, 70. 64 Erdmann: Über den modernen Monismus, 33. 65 Titius, Arthur: Natur und Gott. Ein Versuch zur Verständigung von Naturwissenschaft und Theologie. 2. Aufl. Göttingen 1931, 317. 66 Ebd., 317.

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Jakob Vetter in einer Polemik zu dem Schluss, dass der Monismus keine »positive Arbeit« aufzuweisen habe. »Er hat uns keine einheitliche Welterklärung gegeben; die Welträtsel hat er nicht gelöst und wird sie auch nicht lösen.«67 Dass das Verhältnis zur Religion jedoch ins Mark monistischer Identitätsfragen traf, verdeutlicht die Dominanz und Persistenz religiöser Themen im Vereinsorgan des DMB. Die Art und Weise, wie Monisten über ihre Bewegung sprachen, produzierte letztlich auch konträre Lesarten derselben im Spannungsfeld von Religion, Konfession und Weltanschauung. Die Kultdebatte im Monistenbund (1908–1911) Das ambivalente Verhältnis der Monismusbewegung zur Frage der Religion äußerte sich 1908/9 in einer intensiv geführten Debatte um einen eigenen Kult.68 Ausgefochten wurde diese Debatte in der Vereinszeitschrift Der Monismus. Zwei Gruppen standen sich dabei gegenüber, die in verschiedenen Beiträgen aufeinander reagierten: Die erste Gruppe hielt die Einführung eines monistischen Kultes, der sich an christlichen Vorbildern orientierte, für notwendig, um das Gemüt der Menschen anzusprechen. Dem gegenüber argumentierte das zweite Lager, dass die moderne »Kulturmenschheit« das Bedürfnis nach ritueller Vergemeinschaftung überwunden habe und der Monistenbund deshalb auf einen eignen Kult verzichten könne.69 Doch dem nicht genug: Kritische Stimmen warnten sogar davor, sich dem Feind – den Kirchen – in irgendeiner Form anzuverwandeln, würde dies doch die antiklerikale Agenda des Monistenbundes konterkarieren.70 Den Anstoß zur Kultdebatte im DMB gab die Monistin Johanna Hennig-​ Wimpf im Juli 1908.71 Am Anfang ihrer Ausführungen stand die Beobachtung, dass sich die gegenwärtige Lage der Kultur durch einen ausgesprochenen »Mangel an Festfreudigkeit« auszeichne.72 Die breite Masse des Volkes hätte ihr Interesse an christlichen Festen und Gottesdiensten verloren und auch der Alltag lasse kaum mehr Momente der Ruhe und des Innehaltens übrig. Den Grund für den Bedeutungsrückgang christlicher Feste und Bräuche führte die Autorin auf die Veränderung der »Lebensanschauung« zurück, die den Glauben an einen Schöpfergott überwunden hätte. Die Mehrheit der Menschen empfinde die christlichen 67 Vetter: Monismus – die neue Religion, 16. Hervorhebung im Original. 68 Zur Kultdebatte im DMB, vgl. Panesar: Medien religiöser Sinnstiftung, 106–109; Dankmeier: Naturwissenschaft und Christentum im Konflikt., 254–260; o.A.: Das Freie Wort 9 (1910), 526. 69 Hierzu zählte neben Wilhelm Ostwald der Monist Leo Kullmann. 70 Vgl. Wilhelm Ostwald an Auguste Forel, NL Ostwald. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 790. 71 Hennig-Wimpf, Johanna: Einiges über Feste. In: Der Monismus 3, Nr. 25 (1908), 245–252. 72 Ebd., 245.

112  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität Rituale und Bräuche als »Anachronismen«, so die Autorin: »Wie viele Menschen gibt es denn noch, die sich wirklich in die religiöse Mystik ihrer Erinnerung versenken? Die wirklich am Weihnachts-, am Oster- und Pfingstfeste unter den Schauern göttlicher Wundererinnerungen erbeben […]«73 Trotzdem müsse die »Sehnsucht nach festlicher Erhebung« im Volk lebendig gehalten werden: »Ich träume zuweilen von neuen Zeiten, in denen die Sehnsucht nach intensivstem Lebensfühlen hin und wieder emporschwillt in einer gigantischen Woge, einmal aufjauchzt im Sonnenlichte höchster Festfreude und dann wieder zusammensinkt zum ruhig gleichmässigen Strome des Alltagslebens.«74 Wie ein solcher Kult konkret ausschauen sollte, ließ Hennig-Wimpf in der Schwebe. Ihre Ausführungen bezogen sich mehr auf das Wo und Wann der Kulte. Konkret stellte sie sich hohe und weite Gebäude als Kultstätten vor, »die nicht mehr in Türmchen und Spitzchen eine mystische Sehnsucht in der Luft verklingen« ließen. Stattdessen sollten die »weitgespannten Wölbungen« der monistischen Kultstätten einen Raum für alle bildeten Künste bieten und den Sinn für irdische Schönheit schärfen.75 Große umliegende Gärten, in denen die »wilde, indifferente Natur durch Künstlerwillen gezwungen wurde«, sollten eine Möglichkeit des Innehaltens und der Reflexion bieten. Anstelle des christlichen Festzyklus imaginierte Hennig-Wimpf Feste, die den Jahreszeiten gewidmet waren: Ein »Fest der Sonnenwende« im Winter, ein »Fest der Blumen und Tiere« an Pfingsten sowie ein Erntedankfest im Herbst.76 Ihr Kollege Hermann Hesse aus Bremen argumentierte ganz ähnlich. Die Frage, ob ein »neuer Kultus« notwendig sei, bejahte Hesse aus strategischen und missionarischen Gründen: Der Monismus solle sich nicht allein des »Verstandes der geistigen oberen Zehntausend bemächtigen«, sondern das Gemüt »aller aufgeklärten Menschen erfassen«.77 Andernfalls drohe der Monismus sich in »nie zu Ende gedachte, künstliche Philosopheme« zu verlieren, welche die Massen unberührt ließen.78 Auch er zeichnete ein Bild von den zukünftigen Kultstätten der Monisten: »Herrliche, säulengeschmückte Tempel müßten gebaut werden, in stillen Hainen, fern von dem Getriebe der Großstadt, gelegen. Im Gegensatz zu den dämmerigen, halbdunklen Kirchen müßten sie lichtdurchflutet sein. Neben einem Platz für den Redner müßte eine Bühne oder Estrade für einen Chor vorgesehen sein.«79 Die dem »modern-monistischen Religions- und Gefühlsleben« geweihten Stätten sollten »Schönheit und weihevolle Stimmung« vereinen, so 73 Ebd., 245. 74 Ebd., 248. 75 Ebd., 249. 76 Ebd., 251–252. 77 Hesse, Hermann: Ein neuer Kultus? In: Der Monismus 3, Nr. 26 (1908), 298–302, hier 300. 78 Ebd., 300. 79 Ebd., 301.

Die religiöse Frage im Monistenbund  113

Hesse. Analog zur Kirche sinnierte Hesse über ein monistisches »Prediger- und Priestertum«, um »geist- und gemütvolle, redebegabte Männer und Frauen« auszubilden.80 Das andere Lager äußerte großes Bedenken an der Einführung eines monistischen Kults. Leo Kullmann aus Karlsruhe warnte in seinem Beitrag »Kein neuer Kultus!« (1908) vor den Konsequenzen, die ein eigner Kult auf die Ausrichtung des Monistenbundes hätte.81 Kullmann war der Überzeugung, dass sich der »moderne Kulturmensch« von dem Bedürfnis nach religiöser Betätigung emanzipiert habe und deshalb auf einen monistischen Kult getrost verzichten könne.82 Seine Warnung vor der Einführung eines eigenen Kults basierte auf zwei Argumenten: Einerseits befürchtete Kullmann, dass ein monistischer Kult das »radikale Element« im Monismus, das sich im Atheismus und Antiklerikalismus zeigte, zurückdrängen würde. Stattdessen laufe der Monistenbund Gefahr, kirchlichen Strukturen und Dogmenzwang anheimzufallen und dadurch seine eigenen Ansprüche zu unterwandern. Andererseits würde ein monistischer Kult ein implizites Zugeständnis an die Kirchen bedeuten, so Kullmann, bestünde die Macht der Kirche doch gerade in ihrem Einfluss auf das »Gemüt« des Einzelnen. Der eigentliche »Kampfplatz« des Monismus solle hingegen der »menschliche Verstand« sein.83 Abschließend warf Kullmann seinem Kontrahenten Hesse vor, eine Definition von Religion oder »religiöser Betätigung« vorenthalten zu haben: Was genau gelte es im Monismus anzubeten? Ironisch bemerkte Kullmann: »Von einem solchen Kult bis zur Personifizierung der Naturgewalten bis zum heidnischen Götzendienst ist es nicht einmal mehr ein Schritt. Das ist kein Dualismus mehr, das ist Pluralismus.«84 Der Monist und Comte-Jünger Heinrich Molenaar schaltete sich wenig später in die Diskussion um einen monistischen Kult ein.85 In der Debatte erkannte er eine drohende Spaltung der Monismusbewegung in eine »positivistische« und »negativistische« Richtung.86 Molenaar verteidigte in seinem Beitrag den Standpunkt Hesses und plädierte für eine religiös-kultische Ausrichtung des Monistenbundes. Jedoch gingen Molenaars Forderungen noch einen Schritt weiter: Er sprach sich nicht allein für Kultstätten aus, sondern forderte die Einrichtung einer festen Organisationstruktur, einer monistischen Kirche. Ihr Be 80 Ebd., 302. 81 Kullmann, Leo: Kein neuer Kultus! In: Monismus 3, Nr. 28 (1908), 398–400. Denselben Artikel veröffentlichte Kullmann auch in dem antiklerikalen Blatt Der Freidenker, vgl. Ders.: Kein neuer Kultus! In: Der Freidenker 1, Nr. 11 (1908). 82 Ebd., 398. 83 Ebd., 399. 84 Ebd., 400. 85 Molenaar, Heinrich: Religiöser Kultus für freie Menschen. In: Der Monismus 3, Nr. 29 (Nov. 1908), 461–464. 86 Ebd., 461.

114  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität kenntnis sollte die »Wissenschaft« sein, wobei er als Priester »geistig und sittlich hoch stehende Persönlichkeiten« vorschlug.87 Dabei lehnte er sich explizit an Auguste Comtes Idee einer »Menschheitsreligion« an: »Der Kultus der neuen Religion würde vor allem in der Verehrung aller der großen Menschen bestehen, die die Menschen in ihrem materiellen, geistigen und sittlichen Wachstum gefördert haben.«88 Zentral für die Kultdebatte im Monismus war die essentialistische Gegenüberstellung von Verstand und Gemüt. Die Befürworter eines monistischen Kultes gingen von der anthropologischen Tatsache aus, dass der Mensch ein »Gemütsbedürfnis« aufweise.89 Gemäß dem Meyerschen Konversationslexikon (1885–1892) drückte Gemüt »einmal die Erregbarkeit zum Fühlen, das andre Mal die Art, wie, und die Summe dessen, was gefühlt wird«, aus. In Ergänzung zum »Geist als dem Denkenden« sowie dem »Charakter als dem Wollenden« stand das Gemüt für das »Fühlende« und »Mitfühlende« im Menschen.90 Die Verteidiger eines monistischen Kultes beharrten deshalb auf dem Gemütsbedürfnis des Menschen, weil sie befürchteten, dass durch den Verzicht auf eigene Rituale und Übergangsriten die emotionale Seite des Menschen vernachlässigt werde. Auch auf der Führungsebene des Monistenbundes diskutierte man über Sinn und Zweck eines eigenen Kults. Zu Beginn seiner Amtszeit als Vorsitzender des DMB erhielt Wilhelm Ostwald einen Brief von dem Schweizer Neurologen A ­ uguste Forel, der ein Gründungsmitglied des DMB war.91 In seinem Brief erörterte Forel den gemeinschaftsbildenden und strategischen Nutzen eines eigenen Kultes für den Erfolg des monistischen Projekts. Forel sprach aus eigener Erfahrung, schließlich hatte er 1906 in der Schweiz den »Guttemplerorden« gegründet, der für Alkoholabstinenz eintrat. Dort gelang es ihm, das »religiöse Ideal« durch ein »rein ethisch menschliches« zu ersetzen.92 Das große Problem der Intellektuellen, so Forel, sei ihre »Eigenbrödelei« und mangelnde »Organi­ sationsfähigkeit«. Dem gegenüber hätten es die Kirchen und Machthaber längst 87 Ebd., 463. 88 Ebd., 463. 89 Hesse, Hermann: o. T. In: Der Monismus 3, Nr. 26 (1908), 298–302, hier 300; dazu auch Dankmeier: Naturwissenschaft und Christentum, 254. 90 Art. Gemüt. In: Meyers Konversationslexikon. Bd. 7. 4. Aufl. Leipzig, Wien 1885–1892, Sp. 79. 91 Auguste Forel an Wilhelm Ostwald, Yvorne, 20.11.1911. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 790. Forel hatte sich bereits 1908 brieflich an Heinrich Koerber gewendet, in dem er ganz ähnliche Argumente aufführte. Zum Leben und Werk Forels, vgl. Bugmann, Mirjam: Hypnosepolitik. Der Psychiater Auguste Forel, das Gehirn und die Gesellschaft (1870–1920). Köln, Weimar, Wien 2015. 92 Auguste Forel an Wilhelm Ostwald, Yvorne, 20.11.1911. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 790. Der Guttemplerorden setzte sich für die Abstinenz von Alkohol und Drogen sowie für Pazifismus ein.

Die religiöse Frage im Monistenbund  115

verstanden, die Massen »für ihre egoistischen Zwecke zu leiten«. Denn die »Masse der Ungebildeten« höre und gehorche – »wie Schafherden« – auf »Schlagworte, Sitten und Gewohnheiten« der Kirchen, betonte Forel.93 Hingegen bildeten sich die Gelehrten ein, dass sie die Massen »im Handumdrehen auf wissenschaftliche Kritik und Erkenntnis einüben« könnten.94 Forel hielt die Einführung eines monistisches Kults nicht nur für den Erfolg der Bewegung unverzichtbar, sondern auch als Mittel zur Schwächung der katholischen Kirche: Die wissenschaftliche Erkenntnis muss für das Volk in ein Gemütskleid eingekleidet werden, sonst wird die Religion uns diese Massen immer wieder entziehen. Die blödsinnige Tyrannei der katholischen Kirche hält sich nur mit solchen Mitteln aufrecht. Warum sollen wir denn nicht diesen, den Menschenmassen nun einmal unentbehrlichen formalistischen Gemütsmantel der Wahrheit statt der Lüge anhängen um letztere zu bekämpfen.95

Abgesehen von Kulten und Ritualen schrieb Forel der »Charaktererziehung« eine zentrale Funktion im Monistenbund zu, was ein Brief an Paul Unna vom 11. November 1911 bezeugt. Hierin empfahl Forel die Gründung monistischer Gemeinden und privater Sonntagsschulen, um den Kindern »unsere Ethik im Gegensatz zur religiösen Ethik einzupauken«.96 Erneut zog er dabei den Vergleich zu den Kirchen: »So haben es ja auch alle Kirchgemeinden getan und haben dem Staat zum Trotz ihre Jugend abgerichtet«.97 Forel konstruierte in seiner Argumentation eine Dichotomie von Gefühl und Verstand, Irrationalität und Rationalität, die er mit einer spezifischen Milieuund Schichtzugehörigkeit verband. Dieser Logik zufolge stand ein rationales, wissenschaftlich gebildetes Bürgertum einer ungebildeten und kultbedürftigen Mittel- und Unterschicht gegenüber. Forel stilisierte sich in dem Brief an Ostwald als Vertreter eines aufgeklärten Bürgertums, das den Wert von religiösen Praktiken allenfalls darin sah, die »Masse der Ungebildeten« an sich zu binden. Die Vorstellung, dass die Volksmassen durch Emotionen korrumpierbar seien, war bereits um 1900 ein gängiger Topos. Gustave Le Bon hatte in seiner Psychologie des foules (1895) die emotionale Beeinflussbarkeit von Massen und die affektive Dynamik kollektiven Handelns untersucht.98 In Anknüpfung an diesen Topos

93 Ebd. 94 Ebd. 95 Ebd. Hervorhebung im Original. 96 Auguste Forel an Paul Unna, Yvorne, 9.11.1911. In: Walser, Hans H. (Hg.): Auguste Forel. Briefe – Correspondance, 1864–1927. Bern, Stuttgart 1968, 414–418, hier 416 f. 97 Ebd., 417. 98 Vgl. Le Bon, Gustave: Psychologie der Massen. Stuttgart 1973 [1895]. Zum Topos der beeinflussbaren Masse um 1900, vgl Frevert, Ute / Schmidt, Anne: Geschichte, Emotionen und die Macht der Bilder. In: GG 37/1 (2011), 5–25, hier 19.

116  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität gab sich Forel als erfahrener Charismatiker, der »die Volksseele als mitkämpfenden Soldaten seit Jahrzehnten miterlebt« hat.99 Die Kultdebatte im Monistenbund reagierte auf zwei Probleme: Einerseits versuchte sie die Frage zu beantworten, ob und inwiefern der Mensch ein anthro­ pologisches Grundbedürfnis nach Ritualen und Kulten hatte; andererseits warf sie die Frage auf, ob sich der Monistenbund kirchenähnlich organisieren sollte. Bedurften Anhänger einer wissenschaftlichen Weltanschauung weiterhin ritueller Vergemeinschaftungsformen, die sich an christlichen Vorbildern orientierten? Die Antworten auf diese Frage waren sehr konträr: Befürworter insistierten auf die Notwendigkeit ritueller Handlungen, um die Gefühlsseite des Menschen anzusprechen; Kritiker dagegen argumentierten, dass sich der moderne Kulturmensch von einem Bedürfnis nach Ritualen gelöst habe und eine rein rationale Welterklärung fordere. Auf der Führungsebene betraf die Kultdebatte vorrangig taktische Erwägungen: Um die Anhängerschaft dauerhaft an den Monismus zu binden, war aus Sicht Forels die Einführung eines eigenen Kults notwendig. Ostwalds Monistische Sonntagspredigten (1911–1915) Kennzeichnend für das kaiserzeitliche Freidenkertum und den Monismus im Besonderen war die systematische Aneignung und Umdeutung theologischer Konzepte sowie christlicher Riten, Feste und Glaubenspraktiken.100 Bei den christlichen Praktiken handelte es sich häufig um »rites de passage«, die den Übergang in einen neuen Lebensabschnitt markierten. Hierzu zählten K ­ inderund Jugendweihen ebenso wie weltliche Trauerfeiern.101 Obwohl Monisten danach strebten, die kirchlich gebundene Religion zu überwinden, schrieben sie sich durch die Aneignung christlicher Begriffe und Symbole in einen zeitgenössische Religionsdiskurs ein.102 Zugleich konterkarierten sie dadurch ihren selbsternannten rationalen Erkenntnisanspruch  – ein Paradox, das kennzeichnend für das Freidenkertum des 19. Jahrhunderts war.103 Für Historiker stellt sich bei der Untersuchung monistischer Kulthandlungen ein zweifaches Forschungs­ problem: Erstens waren diese Riten und Praktiken in hohem Maße individualisiert, synkretistisch angelegt und an lokale Traditionen gebunden. Zweitens lassen sich spezifische Praktiken aus den monistischen Quellen nur begrenzt rekonstruieren. Zwar tauchten in den monistischen Publikationsorganen immer 99 Auguste Forel an Wilhelm Ostwald, Yvorne, 20.11.1911. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 790. 100 Zur religiösen Suche bei Antiklerikalen in Europa, vgl. Dittrich: Antiklerikalismus in Europa, 357–383. 101 Der Begriff »rites de passage« wurde von dem Ethnologen Arnold van Gennep ein­ geführt. 102 Schmidt-Lux, Thomas: Wissenschaft als Religion. Szientismus im ostdeutschen Säkularisierungsprozess. Würzburg 2008, 101. 103 Dittrich: Antiklerikalismus in Europa, 355.

Die religiöse Frage im Monistenbund  117

wieder Verweise auf naturreligiöse Sonnenwendfeste, monistische Sonntagsfeiern oder Kinder- und Jugendweihen auf;104 dennoch bleibt offen, welchen Grad an Institutionalisierung diese Riten im Monistenbund erlangten.105 Ernst Horneffer (1871–1954), freireligiöser Prediger aus München, hielt seit 1909 vierzehntägige »Sonntagsfeiern für freie Menschen«, bei denen sich Monisten, Freireligiöse, Kulturethiker und Freidenker aus München zusammenfanden. »Vornehme Musikvorträge« bestehend aus Klavier, Geige oder Streichquartett bildeten den Auftakt dieser Sonntagsfeiern. Als Höhepunkt der Veranstaltung wurde eine ethische »Ansprache« gehalten, die auf eine »Befruchtung und Bereicherung des ganzen Menschen« zielte, wie Horneffer betonte.106 Mit der »Ära Ostwald« nahm der Einfluss freireligiöser Akteure im Monistenbund ab.107 Stattdessen gewannen atheistisch-freidenkerische Positionen an Raum. Dies bedeutete jedoch nicht, dass christliche Semantiken und Praktiken aus dem Monistenbund verbannt wurden. Obwohl Ostwald selbst 1911 aus der Landeskirche ausgetreten war und mit der Kirchenaustrittsbewegung kooperierte, zeichnete sich seine Publizistik weiterhin durch die systematische Übernahme christlich-biblischer Begriffe und Praktiken aus.108 Ostwald und andere Monisten griffen einerseits auf populärwissenschaftliches Wissen zurück, um christliche Riten zu säkularisieren; andererseits sakralisierten sie Ideen von Wissenschaft, Vernunft und Fortschritt, indem sie sich einer religiösen Semantik bedienten. Das monistische Denken barg sogar »viel reichere Schätze zur Erhebung und Erschütterung des Gemütes«, behauptete Ostwald, weil es sich auf biologische und kosmologische Gesetze und nicht auf einen widerlegten Wunderglauben berufen konnte.109 Trotz der Adaption und Umdeutung christlicher Riten, Symbole und Praktiken wies Ostwald ­Haeckels Pläne zur Verkirchlichung des Monismus entschieden zurück. Als Forum zur Popularisierung monistischer Inhalte und Rituale nutzte Ostwald seine Monistischen Sonntagspredigten, die er seit April 1911 regelmäßig herausgab (Abb. 10).110 Der Länge und dem Aufbau nach orientierten sich die 104 Vgl. Der Monismus 3, Nr. 40 (1909), 468 f.; Sonnenwendfeier. In: DMJ 4 (1915), 27. 105 Zu Problemen der historischen Untersuchung freidenkerischer Praktiken, vgl. Dittrich: Antiklerikalismus in Europa, 361–362. 106 Horneffer, Ernst: Das Kartell der freiheitlichen Vereine Münchens. Bericht 1908–1911. o.A. 1911, 2. 107 Neef: Monismus und Buddhismus, 222–223. 108 Ostwald wurde 1853 in der evangelisch-lutherischen St. Gertrud-Gemeinde in Riga getauft, vgl. Taufzeugnis. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 5196/1. 109 Ostwald, Wilhelm: Kinderweihe. In: MSP IV, 209–223, hier 212. 110 Ostwald, Wilhelm: Monistische Sonntagspredigten. 5 Bde. Leipzig 1912–1916. Zu Ostwalds Sonntagspredigten, vgl. Meierhofer, Christian: Verdünnte Moderne. Strukturelle Übergänge von Weltkrieg, Weltanschauung und Populärwissenschaft 1899–1918. In: Ders. (Hg.): Materialschlachten. Der Erste Weltkrieg und seine Darstellungsressourcen. Göttingen 2015, 125–159.

118  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität Sonntagspredigten an der protestantischen Homiletik, behandelten jedoch wissenschaftliche, gesellschaftliche und kirchenkritische Themen. Seine Predigten widmete Ostwald all denen, »die sich unter den Ansprüchen und Zerstreuungen des Tages ein inneres Bedürfnis nach Klarheit in den großen und allgemeinen Fragen des Menschenlebens bewahrt haben«, wie es im Vorwort des ersten Bandes hieß.111 Die Predigten erschienen zunächst als Beilage zum Monistischen Jahrhundert, die den Abonnenten der Zeitschrift und den Mitgliedern des DMB zugesandt wurden.112 Seit 1912 gab Ostwald seine Predigten auch als Buch heraus, um sie einem größeren Leserkreis zugänglich zu machen.113 Das Themenspektrum der Sonntagspredigten reichte von tagespolitischen Angelegenheiten, über philosophische, ethische und kulturelle Fragen. Ostwalds Predigt zur »Zabern-Affäre« von 1913 verdeutlicht, dass er in seinen Texten auch hochaktuelle und brisante Themen aufgriff.114 Der Schweizer Theologe Walter Nigg bemerkte süffisant, dass sich Ostwald in seinen Predigten einem »langweiligen Dorf­pastor« gleich über »alle erdenklichen Themata« ausgelassen habe.115 Für Ostwald erfüllten die Sonntagspredigten eine missionarische, didaktische und strategische Funktion zugleich: Zum einen warb er in seinen Predigten für die wissenschaftliche Weltanschauung und monistische Kulturarbeit. Zum anderen sollten die Predigten das Gemeinschaftsgefühl des Monistenbundes stärken und eine klare Orientierung in philosophischen, ethischen und politischen Fragen bieten. Gegenüber H ­ aeckel betonte Ostwald im Januar 1911, dass er die Sonntagspredigten als »feste geistige Unterlage« für die monistischen Ortsgruppen plante. Um Monisten in Weltanschauungsfragen zu unterweisen, sollten sie an Sonntagnachmittagen in den Ortsgruppen vorgelesen werden: Ich halte […] die Einrichtung von regelmäßigen Sonntag-Vormittag – (bzw. S.-Nachmittag) – Besprechungen in den Ortsgruppen für wünschenswert und um für diese eine feste geistige Unterlage zu geben, plane ich die allwöchentliche Herausgabe von 111 Ostwald, Wilhelm: Vorwort. In: MSP I. 112 Nichtmitglieder des DMB konnten die Sonntagspredigten für 1,50 Mark vierteljährlich beziehen oder für je 20 Pf. erwerben. Vgl. Ostwald: Monistische Sonntagspredigten. In: Der Monismus 6, Nr. 57 (1911), 97 f. 113 Bis 1916 verfasste Ostwald insgesamt 136 Predigten, die in fünf Bänden erschienen. Nachdem Ostwald die ersten 52 Predigten wöchentlich herausgegeben hatte, reduzierte er seine Predigten auf einen zweiwöchigen Publikationszyklus, vgl. Neef: Sozialenergetik und Menschenökonomie, 274, Anm. 80. 114 Ostwald: Zabern (94. Predigt). In: MSP III. Ausgelöst wurde die Affäre durch einen preußischen Leutnant, der die Bevölkerung im elsässischen Zabern beleidigt hatte. Die Bewohner reagierten mit Protesten, die vom Militär gewaltsam und willkürlich niedergeschlagen wurden. Die Zabern-Affäre manövrierte das Kaiserreich in eine innenpolitische Krise, weil sie erstmals den Militarismus im Kaiserreich infrage stellte. Ostwald nahm für die Seite der Kritiker Partei und prangerte die Sonderstellung der Militärgerichte im Kaiserreich an. 115 Nigg, Walter: Geschichte des religiösen Liberalismus. Entstehung – Blütezeit – Ausklang. Zürich, Leipzig 1937, 368.

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Abbildung 10: Die »Monistischen Sonntagspredigten« (Zweite Reihe, 1912). ›Monistischen Sonntagspredigten‹, in denen einzelne Punkte unserer Weltanschauung gemeinfasslich erörtert werden. […] Ich glaube, das könnte unseren Bund in kurzer Frist verdoppeln oder vervielfachen.116

Gleichzeitig verfolgte Ostwald mit seinen Sonntagspredigten strategische Motive: Die in sich zersplitterte Monismusbewegung sollte nach außen wie nach innen durch einen einheitlichen Kurs – den energetischen Monismus – repräsentiert werden.117 Vor allem versuchte er sich gegenüber dem Monismus ­Haeckelscher 116 Ostwald an ­Haeckel, Großbothen, 5.1.1911. In: Nöthlich (Hg.): »Substanzmonismus« und »Energetik«, 45 f. 117 Ostwald schien über das Problem einer Monopolisierung monistischer Deutungsmacht zu reflektieren, wenn er schrieb: »Ich kann nicht verkennen, dass das Bild, welches ich in mei-

120  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität Provenienz abzugrenzen.118 Ferner resultierte sein Entschluss, Sonntagspredigten zu verfassen, aus seiner professionellen Erfahrung als akademischer Lehrer. Anders als eine wissenschaftliche Theorie, die über eine Vorlesung vermittelt werden könne, sei die Verbreitung einer Weltanschauung auf die Gefühlsseite des Menschen angewiesen und bedürfe deshalb einer eigenen unterweisenden Textform, betonte er in seiner Autobiographie.119 Deshalb hatte er sich für die ersten Predigten eine »methodische Reihe« überlegt, in der er die »Hauptfragen der wissenschaftlichen Weltanschauung« erörterte.120 Warum sich Ostwald gerade für den Ausdruck »Sonntagspredigt« entschied, ist schwer zu rekonstruieren. Einerseits ist zu vermuten, dass er mit diesem Ausdruck Kritiker aus dem christlich-konservativen Lager provozieren wollte und den Monismus expressis verbis als Konkurrenzangebot zu den christlichen Kirchen markierte. Andererseits kann man davon ausgehen, dass Ostwald mit dem Predigtgenre an die konfessionelle Sozialisation seiner mehrheitsprotestantischen Leser anknüpfen wollte.121 Aneignung christlicher Begriffe und Praktiken Wie bereits erwähnt wurde, adaptierte Ostwald in seinen Sonntagspredigten christliche Begriffe, Feste und Praktiken im monistischen Sinne. Aus energetischer Sicht eignete sich das Weihnachtsfest besonders gut, um es in einem naturwissenschaftlichen Bezugsrahmen neu zu verorten: So definierte Ostwald das Weihnachtsfest als Fest der Wintersonnenwende neu, denn es sollte Monisten daran erinnern, dass Ende Dezember die Menge an Sonnenenergie auf der Erde ein Minimum erreicht.122 Abgesehen von seiner emotionalen und vergemeinschaftenden Qualität erfüllte das Weihnachtsfest für Ostwald eine genuin didaktische Funktion, indem es die Jugend über die Energiegesetze und den energetischen Imperativ aufklärte: »So liefert uns das Weihnachtsfest also ner Weise vom Monismus zeichnen werde, die persönlichen Züge meiner Hand an jeder Stelle aufweisen wird. Aber ich gebe mich der Hoffnung hin, dass es sich demnach nicht sehr weit von den Formen unterschieden wird, die ein anderer Monist geprägt hatte«. Später fügte er noch hinzu, dass das Bild des Monismus jedoch »deutlicher« und »eindrucksvoller« ausfallen werde, wenn es von »einer Hand« gezeichnet werde. Vgl. Ostwald: Monistische Sonntagspredigten. In: Monismus 6, Nr. 57 (1911), 97 f. 118 Vgl. Ostwald: ­Haeckel und Ostwald. In: MSP I, 278 ff. 119 Ostwald: Lebenserinnerungen III, 246. 120 Ebd., 248. 121 Friedrich Wilhelm Graf hat auf die Bedeutung von Konfessionalität als »Deutungskultur« für den nationalen Diskurs des 19. Jahrhundert hingewiesen, vgl. Graf: Wiederkehr der Götter, 130–131. 122 Ostwald: Weihnachten. In: MSP II, 307. Dazu auch Hakfoort: Science Deified, 525–544; Sobczynska, Danuta / Czerwinska, Ewa: Szientismus in der Praxis. Das Wirken Wilhelm Ostwalds im Deutschen Monistenbund. In: Philosophisches Jahrbuch 105/1 (1998), 178–194.

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eine ganz besonders günstige Gelegenheit, unserer heranwachsenden Jugend die grundlegenden Gesetze, von denen unser Leben abhängig ist, in besonders anmutiger und eindringlicher Form einzuprägen.«123 In sittlicher Hinsicht führte der energetische Imperativ den Menschen die Bedeutung der gegenseitigen Hilfe (den Mutualismus) vor Augen, denn zum Zweck der Energieersparnis sei die Zusammenarbeit aller Organismen erforderlich.124 Ferner betrachtete Ostwald Weihnachten auch als ein Fest zur Sakralisierung der Wissenschaft: So standen die Kerzen auf dem Weihnachtsbaum für die Domestizierung der Natur durch den Menschen mithilfe seiner technischen Errungenschaften.125 Den Vorwurf der Kritiker, dass der Monismus durch die dreiste Aneignung christlicher Rituale, Symbole und Begriffe einen »unlauteren Wettbewerb« betreibe, wies Ostwald indessen zurück. Schließlich baute auch das christliche Weihnachtsfest auf heidnischen Bräuchen auf und sei somit »usurpierter Besitz«.126 Diese Argumentation stand ganz in der Tradition der freireligiösen Kirchenkritik. So hatte bereits die freireligiöse Bewegung der 1850er Jahre den Kirchen vorgeworfen, die heidnischen Wurzeln des Weihnachtsfests unterdrückt zu haben. Ebenso wie die Anhänger der freireligiösen Gemeinden rekurrierte Ostwald auf den heidnisch-naturreligiösen Ursprung von Weihnachten, modifizierte ihn jedoch im energetischen Sinne. Im römischen Reich stand der 25. Dezember gemäß dem julianischen Kalender sowohl für den Geburtstag des Sol invictus, der 274 u.Z. unter Kaiser Aurel zum Reichsgott erhoben worden war, als auch des Sonnengottes Mithras, dessen Kult in der römischen Kaiserzeit aufblühte.127 Die Tatsache, dass Ostwald auf die paganen Wurzeln des Weihnachtsfestes rekurrierte, soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass unter dem Einfluss der Volksfrömmigkeit im 19. Jahrhundert auch die christlichen Hochfeste zahlreiche neue Ausdeutungen erfuhren, die sich von orthodoxen Vorgaben der Kirchen lösten. Standen Weihnachten und Ostern ursprünglich für die Gottessohnschaft und die Heilsbotschaft Christi, so veränderten Ideen vom Wiedererwachen der Natur an Ostern oder das Ideal der Liebe an Weihnachten die Botschaften dieser Feste.128 Die monistische Aneignung christlicher Feste wies erstaunliche Parallelen zur kaiserzeitlichen Sozialdemokratie auf. Gerade zu den Festtagen war die sozialistische Parteipresse gefüllt von religiös gestimmten Gedichten und Reflexionen. In der sozialdemokratischen Reinterpretation christlicher Feste ging es häufig 123 Ostwald: Weihnachten, 307. 124 Ebd., 311 f. 125 Ebd., 309. 126 Ebd., 309. Hervorhebung im Original. 127 Roll, Susan K.: Art.  Weihnachten / Weihnachtsfest / Weihnachtspredigt  I. In: TRE 35 (2003), 453–468. 128 Prüfer: Sozialismus statt Religion, 302 f.

122  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität darum, den Sozialismus als Realisierung des wahren Christentums und sogar als eine »Überbietung eines überkommenen Christentums« zu inszenieren.129 Die Idealisierung der urchristlichen Gütergemeinschaft, die Inszenierung Jesu als »ersten Sozialisten« und die vermeintliche Pervertierung christlicher Feste durch die bürgerliche Gesellschaft – all diese Aspekte wurden in der sozialistischen Umdeutung von Weihnachten und Ostern aufgegriffen.130 Besonders während der Sozialistengesetze (1878–1890) hatten solche Feste für Sozialdemokraten auch eine vergemeinschaftende Funktion.131 Nicht nur christliche Hochfeste, auch religiöse Rituale, die im Christentum einen Sakramentsstatus hatten, wurden im Monismus neu interpretiert. So begründeten Monisten eigene Taufrituale und – in Anknüpfung an die freireligiöse Tradition  – die Jugendweihe. Die Jugendweihe sollte ein halbes Jahrhundert später in der DDR eine Renaissance erleben.132 Im Kontext der Monismusbewegung ist davon auszugehen, dass solche Rituale hoch individualisiert waren und je nach Ortsgruppe variierten. Dennoch hielt es Ostwald für eine Pflicht der Monisten, dem Grundbedürfnis nach Übergangsriten in den »großen Perioden des menschlichen Lebens, Geburt, Mannbarkeit, Eheschluß und Tod« gerecht zu werden.133 Er forderte deshalb eigene Übergangsriten, die sich vom Ballast christlicher »Atavismen« befreiten.134 Wie im Detail eine monistische Kinderweihe ablief, offenbart eine »Regieanweisung« aus dem Nachlass Ostwalds, die für die »monistische Taufe« seiner Enkelkinder Fritz Ostwald und Hellmut Brauer angefertigt wurde (Abb. 11).135 Die Taufe bzw. Weihe seiner Enkelkinder fand an Ostwalds sechzigstem Geburtstag am 2. September 1913 statt. Zur Eröffnung der Zeremonie sah die Regieanweisung Klaviermusik vor, auf die eine Ansprache Ostwalds folgte. Ostwalds Rede ordnete die Geburt seiner Enkel in eine lange evolutionäre Kette ein und betonte die moralische Verpflichtung jedes Einzelnen gegenüber Menschheit und Fortschritt. Denn trotz der individuellen Persönlichkeit, die jeder Mensch entwickle, müsse man sich als abhängiges Glied der Menschheit begreifen: »Kinder des zwanzigsten Jahrhunderts sollt ihr sein«, verkündete Ostwald, »von dem Bettchen ab, in welchem sich gegenwärtig eure kleine Existenz abspielt, bis zu eurer Betätigung als Jünglinge, Männer und Greise, in welcher ihr es ge 129 Ebd., 304. 130 Ebd., 280–287. 131 Ebd., 287. 132 Zur Jugendweihetradition in und nach der DRR , vgl. Hallberg, Bo: Die Jugendweihe. Zur deutschen Jugendweihetradition. 2. Aufl. Göttingen 1979; Chowanski, Joachim / Dreier, Rolf: Die Jugendweihe. Eine Kulturgeschichte seit 1852. Berlin 2000; Weir: Riddles of Monism, 26. 133 Ostwald: Kinderweihe, 209. 134 Ebd., 211. 135 Regieanweisung für Kinderweihe. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 5217; Ostwald: Kinderweihe, 210–233.

Die religiöse Frage im Monistenbund  123

Abbildung 11: Handgeschriebene Regieanweisung für die »Monistische Kinderweihe« 1913 im »Landhaus Energie«. Ostwald höchstpersönlich leitete die Zeremonie und hielt die Ansprache für seine Enkelkinder.

lernt haben werdet, mit höchster Steigerung eurer eigenen Persönlichkeit die Fähigkeit zu organischer Eingliederung in die Bedürfnisse der Allgemeinheit zu verbinden.«136 Die Frage, in welche Gemeinschaft die Kinder mit der »monistischen Taufe« eigentlich übertraten, ließ Ostwald offen. Dies widersprach jedoch dem ursprünglichen Sinn der Taufe, da sie die Aufnahme in eine neue Gemeinschaft symbolisierte und damit einen festen Platz in der christlichen Biographie innehatte. Stattdessen berief sich Ostwald auf vage Vorstellungen von Kulturmensch 136 Ostwald: Kinderweihe, 217 f.

124  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität heit und Fortschritt. Die Unsicherheit über den Sinn einer solchen Zeremonie spiegelte sich zudem in den verschiedenen Denominationen wider, die zwischen monistischer Taufe und Kinderweihe schwankten. Ganz ähnliche Tendenzen ließen sich ein halbes Jahrhundert später im DDR-typischen Übergangsritus der Namensweihe beobachten, deren Titel, Sinn und Zielsetzung umstritten blieb. Während man staatlicherseits um die Inhalte und Ziele der Namensweihe rang, entwickelte sie sich allmählich zu einer Loyalitätsbekundung der Eltern, die sich bei der Zeremonie öffentlich zum Sozialismus bekannten.137 Ostwald rekurrierte bei seiner Kinderweihe auf zentrale Motive der Energetik, indem er die Bedeutung von Fleiß, Pflichterfüllung, Verantwortung und Zielstrebigkeit hervorhob. Der zur Persönlichkeit gereifte Mensch solle seine verfügbaren Ressourcen bestmöglich nutzen und in den Dienst der Menschheit stellen, so der Grundtenor. Im Anschluss sah die »Tauf-Handlung« die Übergabe von Blumensträußen sowie die Rezitation von zwei Goethe-Gedichten vor – einem Auszug aus Goethes »Coptischen Lied« (1796) sowie dessen Gedicht »Hoffnung« (1789). Gerade das zweite Gedicht verstand sich als eine Anspielung auf Ostwalds energetischen Imperativ: »Schaff, das Tagwerk meiner Hände, / Hohe Kraft, daß ichs vollende! / Laß, o laß mich nicht ermatten! / Nein, es sind nicht leere Träume: / Jetzt nur Stangen, diese Bäume / Geben einst noch Frucht und Schatten.«138 Der Ritus endete mit der Überreichung eines Lebensscheins, der anstelle eines Taufscheins ausgestellt wurde.139 Ostwald griff den bürgerlichen Tugendkatalog von Fleiß, Leistung und Pflichterfüllung auch in seinem monistischen Verständnis von Unsterblichkeit auf. Unsterblich könne sich nur derjenige machen, bemerkte dieser in einer Sonntagspredigt, der zu Lebzeiten durch Taten und Werke zum Kulturfortschritt beitrug.140 Je größer die technisch-wissenschaftlichen Leistungen eines Menschen seien, desto länger lebe er im Gedächtnis seiner Nachfahren fort.141 Der Monismus sollte auch im Alltag ein Äquivalent zur christlichen Glaubenspraxis bieten: Das christliche Gebet wandelte Ostwald dahingehend um, dass er es von allen religiösen Bezügen entkleidete und rein funktionalistisch betrachtete. Den Mehrwert des Gebets sah er in dessen beruhigender Wirkung 137 Tóth, Heléna: »Zwischen Gott und dem freien Gewissen ist für eine Staatsreligion kein Platz.« Die Namensweihe und politische Religion der DDR . In: GG 45/1 (2019), 37–69. 138 Vgl. Regieanweisung für Kinderweihe. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 5217. Interessanterweise tauschte Ostwald hier das Wort »Glück« im zweiten Vers des Originals gegen das Wort »Kraft« aus. 139 Ostwald: Kinderweihe, 222. 140 Ostwald: Unsterblichkeit. In: MSP I, 192. Erstmals hatte sich Ostwald zum Unsterblichkeitsthema im Rahmen der Ingersoll Lecture on Human Immortality im Dezember 1905 geäußert. Dabei versuchte er die Unmöglichkeit einer unsterblichen Seele aus naturwissenschaftlicher Perspektive nachzuweisen. Zu diesem Zeitpunkt hielt sich Ostwald als Austauschprofessor an der Harvard University auf. 141 Ostwald: Unsterblichkeit. In: MSP I, 192.

Die religiöse Frage im Monistenbund  125

auf die Psyche des Menschen, die im Alltag immer wieder äußeren Belastungen ausgesetzt war. Im Gegensatz zum Christen sollte der Monist seine Gedanken nicht auf einen transzendenten Gott, sondern auf erfreuliche und glückbringende Gedanken richten. Interessanterweise referierte er in diesem Kontext auf die US -amerikanische »Christian Science«, die um 1900 von Mary Baker Eddy (1821–1910) in Boston gegründet worden war.142 Das Ziel der »Christian Science« bestand nach Ostwald darin, die Gedanken des Betenden auf hoffnungsvolle Zukunftsvorstellungen zu richten, wodurch das Gebet wie eine Art »Selbsthypnose« wirke.143 Das Gebet im monistischen Sinne versprach ihm zufolge sogar, die Gefahr der Nervenschwäche (der sogenannten »Neurasthenie«) abzuwenden: Wenn ein solcher Mensch aus irgendwelchen Schwierigkeiten oder Sorgen keinen Ausweg sieht, […] dann kann er sich von dem Festgefahrensein in deprimierenden Gedanken und Empfindungen, welches schließlich unwiderstehlich bis zur Neurasthenie und den damit zusammenhängenden Krankheitsformen führen würde, durch die regelmäßige und möglichst hingebungsvolle Anwendung des Gebets erfolgreich befreien.144

Mit seinem Verweis auf die Neurasthenie spielte Ostwald auf eine Moderkrankheit der Jahrhundertwende an, die sowohl das Bürgertum als auch die Arbeiterschaft ergriff.145 Die Diskurse um Nerven und Nervenschwäche drangen bis in die politische Sprache der wilhelminischen Ära vor, wie Joachim Radkau aufgezeigt hat. Insofern war Nervenschwäche nicht nur eine vielfach diagnostizierte Zivilisationskrankheit um 1900, sondern auch Ausdruck eines spezifischen Zeitgefühls des späten Kaiserreichs.146 Für viele Zeitgenossen galt die Nervosität als ein Resultat von industrieller Revolution, Beschleunigung und modernem Großstadtleben. Obwohl Ostwald die beruhigende Wirkung des 142 Mary Baker Eddy veröffentlichte nach einem Unfall und ihrer angeblichen Heilung durch das Bibelstudium ihr Hauptwerk Science and Health, With Key to the Scriptures (1875). Im Jahr 1879 gründete sie die erste Christian-Science-Kirche in Boston (First Church of Christ, Scientist). Die Christian Science verband das Bibelstudium mit Kenntnissen des Mesmerismus und der Homöopathie. Im Zentrum der Christian-Science-Bewegung stand die Heilung des Gläubigen durch das Studium der Bibel. 143 Ostwald: Das Gebet. In: MSP I, 206. 144 Ebd., 205. In dieser Predigt spielte Ostwalds eigene biografische Erfahrung sicherlich eine Rolle: Zermürbt von universitären Pflichten erlitt Ostwald in den 1880er Jahren selbst einen Nervenzusammenbruch, vgl. Ostwald: Lebenserinnerungen II, Kap. 9: Überlastung, Zusammenbruch und Wiederaufbau. 145 Der New Yorker Nervenarzt George Miller Beard (1839–1883) führte den Begriff »Neurasthenie« 1869 erstmals ein. In seinem Hauptwerk American Nervousness (1880) analysierte Beard die Auswirkungen der industriellen Moderne (Beschleunigung, Verstädterung, Lärm) auf das Nervenleben des Menschen. 146 Vgl. Radkau, Joachim: Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. München 1998. Zum Verhältnis von Religion und Nervosität, vgl. Kollarits, Jenö: Nervosität und Charakter. Vorlesungen über Wesen des Charakters und der Nervosität über die Verhütung der Nervosität. Berlin 1912.

126  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität christlichen Gebets lobte, warnte er zugleich vor einem »Rückfall in atavistische Vergangenheitszustände«, der gerade in solchen Momenten drohe, in denen sich der Einzelne hilf- und machtlos fühle. In solchen Momenten, so Ostwald, habe der »Kulturmensch« die Pflicht, sein Bedürfnis nach übersinnlicher Hilfe, den Glauben an Gott, in sich »auszurotten«.147 Abschließend bleibt zu klären, warum Monisten gezielt auf christliche Begriffe, Praktiken und Feste rekurrierten, um diese in ihrem Sinne umzudeuten. Zum einen knüpften monistische Weihnachtsfeste, Kinder- und Jugendweihen an die konfessionelle Sozialisation der weitgehend protestantisch geprägten Anhängerschaft des DMB an. Sie erfüllten also eine vergemeinschaftende und sinnstiftende Funktion innerhalb einer weltanschaulich zersplitterten Bewegung. Zum anderen spiegelten solche Feste und Übergangsriten das Bedürfnis der Monisten nach bürgerlichem Anschluss wider: Durch die Aneignung und Reinterpretation christlicher Feste und Riten stellten Monisten ihr neues und eigenes Verständnis von Bürgerlichkeit zur Schau, das tradierte Wertvorstellungen hinterfragte.148 Die Grenze zwischen Monismus und Religion wurde durch solche Aneignungen indessen verschwommener.

2.

»Schiboleth eines neuen Kulturkampfes«: Monistischer Antikatholizismus

Wenn Monisten Kritik an Religion übten, referierten sie dabei zumeist implizit oder explizit auf den Katholizismus. Zwar wurde in der Forschung immer wieder auf die antireligiöse und antiklerikale Agenda des Monistenbundes hingewiesen, allerdings entpuppt sich bei genauer Sichtung der Quellen die monistische Religionskritik als ein dezidierter Antikatholizismus und Antipapismus.149 Der antikatholische Diskurs der Kulturkampfära der 1870er Jahre lieferte Monisten Feindbilder und Stereotype, die sie sich aneigneten, um das Phänomen Religion zu diskreditieren. Ultramontanismus, Klerikalismus, Papismus und Jesuitismus  – all diese Schlagworte dienten ihnen als Mittel, um die Legitimität des Christentums und der Kirchen infrage zu stellen. Auch die von den Monisten forcierte Dichotomie ›Religion versus Wissenschaft‹ wurde vor dem Hintergrund des Antikatholizismus sowie Antipapismus verhandelt. Schließlich stand die 147 Ostwald: Das Gebet, 206. 148 Der Begriff »bürgerlicher Wertehimmel« geht auf Manfred Hettling zurück und verweist auf den Wertekanon des Bildungsbürgertums im 19. Jahrhundert, der selbst überhöht und sakralisiert wurde, vgl. Ders. (Hg.): Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts. Göttingen 2000. 149 Allgemein zur kirchenkritischen Ausrichtung des DMB, vgl. Breidbach u. a.: Monismus um 1900; Herneck: Wissenschaft contra Gottesglauben; Daum: Wissenschaftspopularisierung, 219; Schmidt-Lux: Wissenschaft als Religion, 125.

»Schiboleth eines neuen Kulturkampfes«  127

katholische Kirche für all jene Aspekte, von denen sich Monisten, aber auch andere Freidenker in ihrer Rhetorik abgrenzten: Rückständigkeit, Wunderglaube, Mittelaltertum und Papsthörigkeit. Im folgenden Kapitel werden die Strategien aufgezeigt, mit denen Monisten den Katholizismus und letztlich auch Religion delegitimierten. Monisten rekurrierten auf Feindbilder der Kulturkampfzeit, so die These, um den Katholizismus als Gegensatz von Wissenschaft, Fortschritt und Moderne erscheinen zu lassen. Zunächst skizziere ich die Entwicklung der Kulturkämpfe im 19. Jahrhundert und analysiere im Anschluss die antikatholischen Feindbilder, die Monisten als Mittel der allgemeinen Religionskritik verwendeten. Ultramontanismus und Kulturkampf In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unterlag der Katholizismus einem Prozess der konsequenten Zentralisierung, Vereinheitlichung und Medialisierung, der gemeinhin unter den Begriff des Ultramontanismus subsumiert wird.150 Im Zuge der italienischen Unabhängigkeitskriege wurde der Kirchenstaat 1870 von Italien annektiert und die römische Kurie verlor einen Großteil ihres weltlichen Territoriums und damit auch ihrer weltlichen Macht. Die Deterritorialisierung der römischen Kurie verschärfte ihre »dogmatischen und medialen Attacken auf das liberale Projekt der Moderne«, indem sie den Katholizismus konsequent auf Rom und den Papst hin ausrichtete.151 Seit dem 18. und frühen 19. Jahrhundert wurde der Ultramontanismus als Kampfbegriff verwendet, der sich auf die zunehmende Ausrichtung der Katholiken auf das Papsttum ›jenseits der Alpen‹ (ultra montes) bezog.152 Obwohl der Begriff mit einer Reihe negativer Assoziationen und Stereotype verbunden war, fand er als Selbstbezeichnung Eingang in ein katholisches Begriffsfeld. Der reformorientierte liberale Katholizismus, wie ihn etwa der Münchner Theologe Ignaz Döllinger (1799–1890) vertrat, war spätestens seit dem Ersten Vatikanum (1870) ein Randphänomen.153 Als Hauptströmung innerhalb des Katholizismus in Europa stand der Ultramontanismus für drei miteinander verflochtene Prozesse: Erstens die mit den 150 Borutta: Genealogie der Säkularisierungstheorie, 352. 151 Borutta: Antikatholizismus, 102. 152 Fleckenstein, Gisela / Schmiedel, Joachim: Ultramontanismus in der Diskussion. Zur Neupositionierung eines Forschungsbegriffs. In: Dies. (Hg.): Ultramontanismus. Tendenzen der Forschung. Paderborn 2005, 7–19, hier 7 f.; Clark, Christopher: The New Catholicism and the European Culture Wars. In: Clark / Kaiser: Culture Wars, 11–46. 153 Ignaz von Döllinger opponierte in der Protesterklärung von Königswinter (1870) gegen das Unfehlbarkeitsdogma. Der Ausdruck »liberaler Katholizismus« ist in der Forschung umstritten. Der Ausdruck verweist hier auf den Versuch, den römisch-katholischen Glauben mit Ideen des Liberalismus (individuelle Freiheitsrechte etc.) zu versöhnen. Zum liberalen Reformkatholizismus, vgl. Nipperdey: Religion im Umbruch, 13–14 u. 32–38.

128  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität 1830er Jahren einsetzende dogmatische Neuausrichtung des Katholizismus, zweitens die organisatorisch-institutionelle Umstrukturierung der katholischen Kirche sowie drittens die Zunahme der katholischen Volksfrömmigkeit, in der Frauen eine Schlüsselrolle einnahmen.154 Ein anschauliches Beispiel für die Mobilisierungskraft der ultramontanen Frömmigkeitskultur im 19. Jahrhundert waren die Marienerscheinungen von Marpingen, die sich 1876 während der Kulturkämpfe ereigneten. David Blackbourn hat in seiner mikrohistorischen Studie gezeigt, dass die Marienerscheinungen im saarländischen Marpingen riesige Pilgerströme anzogen, die sogar zu Verhaftungen und zur Sperrung des Pilgerortes, dem Härtelwald, führten. Innerhalb kürzester Zeit wurde Marpingen europaweit als »deutsches Lourdes« bekannt. Weder die staatlichen Behörden noch die oberste Kirchenhierarchie, die das Wunder nie anerkannte, konnte das Aufsehen um Marpingen unter Katholiken eindämmen.155 Ausdruck des antimodernen Kurses des Ultramontanismus war der Syllabus Errorum (1864) von Papst Pius  IX ., veröffentlicht in der Enzyklika Quanta Cura. Der Syllabus listete achtzig Thesen auf, in denen zehn geistige Strömungen seiner Zeit als Irrtümer verurteilt wurden. Hierzu zählte die Trennung von Staat und Kirche, die Idee der Volkssouveränität, der Liberalismus, Sozialismus, die Zivilehe und das Vernunftprinzip. Der Papst dürfe sich nicht »mit dem Fortschritt, mit dem Liberalismus und der modernen Kultur versöhnen und anfreunden«, so

154 Vgl. Dittrich: Antiklerikalismus in Europa, 51–57. Im 19. Jahrhundert unterlag der Katholizismus einer Feminisierung, die sich einerseits in dem höheren Anteil von Frauen bei Gottesdiensten äußerte, andererseits im steigenden Einfluss von weiblichen Laien im katholischen Vereinswesen. Zur Debatte um die Feminisierung der Religion im 19. Jahrhundert, vgl. McLeod, Hugh: Weibliche Frömmigkeit – männlicher Unglaube? Religion und Kirche im bürgerlichen 19. Jahrhundert. In: Frevert, Ute (Hg.): Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert. Göttingen 1988, 134–156; Götz von Olenhusen, Irmtraud: Die Feminisierung von Religion und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Forschungsstand und Forschungsperspektiven. In: Dies. (Hg.): Frauen unter dem Patriarchat der Kirchen. Katholikinnen und Protestantinnen im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart 1995, 9–21; Dies. (Hg.): Wunderbare Erscheinungen. Frauen und katholische Frömmigkeit im 19. und 20. Jahrhundert. Paderborn, München, Wien, Zürich 1995; Schneider, Bernhard: Feminisierung und (Re-)Maskulinisierung der Religion im 19. Jahrhundert. Tendenzen der Forschung aus der Perspektive des deutschen Katholizismus. In: Sohn-Kronthaler, Michaela (Hg.): Feminisierung oder (Re-)Maskulinisierung der Religion im 19. und 20. Jahrhundert? Forschungsbeiträge aus Christentum, Judentum und Islam. Köln, Weimar, Wien 2016, 11–41. Allgemein zur katholischen Frömmigkeitskultur, vgl. Sperber, Jonathan: Popular Catholicism in Nineteenth-Century Germany. Princeton 1984. 155 Blackbourn, David: Marpingen. Apparitions of the Virgin Mary in Nineteenth-Century Germany. New York 1994. Zum Lourdes-Kult im 19. Jahrhundert, vgl. Harris, Ruth: Lourdes. Body and Spirit in the Secular Age. New York 1999; Kotulla, Andreas Johannes: Lourdes und die Katholiken im Kaiserreich. Zur Erforschung der Rezeption eines Kultes der ultramontanen Frömmigkeit. In: Fleckenstein, Gisela / Schmiedl, Joachim: Ultramontanismus. Tendenzen der Forschung. Paderborn 2005, 135–157.

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der Grundtenor.156 Das Erste Vatikanische Konzil von 1870 unterstützte den ultramontanen Kurs, indem es das päpstliche Unfehlbarkeitsdogma und Jurisdiktionsprimat verkündete. Papst Pius X. knüpfte mit seinem 1910 verabschiedeten Antimodernisteneid an den Syllabus Errorum von Pius  IX . an: Alle katholischen Geistlichen sollten bei dem Eid den zeitgenössischen Tendenzen der empirischen Wissenschaften, Philosophie und modernen Kultur abschwören.157 Obwohl der Ultramontanismus die dominante Strömung im Katholizismus war, hat die jüngere Forschung die Geschlossenheit des »katholischen Milieus« im wilhelminischen Deutschland revidiert. So prägte das ausdifferenzierte katholische Vereinswesen und dessen Frömmigkeitskultur verschiedene Sozialmilieus in der Stadt wie auf dem Land.158 Gegenüber der katholischen Landbevölkerung bildete das katholische Bürgertum in den Städten seine eigene Identität im Spannungsfeld von konfessioneller Tradition, Modernität und bürgerlichem Liberalismus aus.159 Seit der Reichsgründung von 1871 standen rund zwei Drittel Protestanten einem Drittel Katholiken gegenüber. Nicht nur die Minderheitenpositionen der Katholiken, sondern auch die starke Rom- und Papstorientierung des Ultramontanismus sorgten dafür, dass Katholiken während der Bismarckära scharfen Attacken von liberaler und konservativ-protestantischer Seite ausgesetzt waren. Während der Hochphase der Kulturkämpfe in den 1870er Jahren verschärfte sich der antikatholische Diskurs in Deutschland:160 Nach den Einigungskriegen 156 Denziger, Heinrich: Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Lateinisch–Deutsch, herausgegeben von Peter Hünermann. Freiburg 1991, 799–809, hier 809. 157 Zu den Reaktionen auf den Ultramontanismus, vgl. Nipperdey: Religion im Umbruch, 9–13. 158 Zur Forschungsdiskussion um das katholische Milieu, vgl. Anderson, Margaret: Piety and Politics. Recent Work on German Catholicism. In: The Journal of Modern History 63/4 (1991), 681–716; Dies.: The Limits of Secularization. On the Problem of the Catholic Revival in Nineteenth Century Germany. In: The Historical Journal 38/3 (1995), 647–670; Blaschke / Kuhlemann: Religion in Geschichte und Gesellschaft, 24–34; Klöcker, Michael: Das katholische Milieu. Grundüberlegungen – in besonderer Hinsicht auf das Deutsche Kaiserreich von 1871. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 44/3 (1992), 241–262; Loth, Wilfried: Soziale Bewegungen im Katholizismus des Kaiserreichs. In: GG 17/3 (1991), 279–310; Yonke, Eric: The Catholic Subculture in Modern Germany. Recent Work in the Social History of Religion. In: The Catholic Historical Review 80/3 (1994), 534–545. 159 Zum Wandel des katholischen Bürgertums im langen 19. Jahrhundert, vgl. Mergel, Thomas: Zwischen Klasse und Konfession. Katholisches Bürgertum im Rheinland 1794–1914 (Bürgertum, Bd. 9). Göttingen 1994; Ders.: Ultramontanism, Liberalism, Moderation. Political Mentalities and Political Behavior of the German Catholic Bürgertum, 1848–1914. In: Central European History 29/2 (1996), 151–174. 160 In der früheren Forschung wurde der Ausdruck Kulturkampf auf den preußischen Mediziner und Politiker Rudolf Virchow zurückgeführt. Tatsächlich erschien der Ausdruck erstmals 1840 in einer anonymen Rezension des Schweizer radikal-liberalen Politikers Ludwig Snell in der katholischen Zeitschrift für Theologie, vgl. Borutta: Antikatholizismus, 11.

130  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität gegen die katholischen Mächte Österreich-Ungarn und Frankreich denunzierten Liberale den Katholizismus als ein genuin reichsfeindliches, ja undeutsches Phänomen. Im Umkehrschluss propagierten sie eine innere Allianz zwischen der protestantischen Tradition und den Letztwerten des neugegründeten Reichs, indem sie etwa eine Genealogie zwischen Luther und Bismarck herstellten.161 Rudolf Virchow, Pathologe und Mitbegründer der liberalen Fortschrittspartei, brandmarkte die katholische Zentrumspartei 1872 als einen Fremdkörper, den der Staat mit allen Mitteln beseitigen müsse. Man müsse »diesem undeutschen, römischen, ultramontanen Wesen« in »jeder gesetzlich zulässigen Form« entgegentreten, so Virchow.162 Reichskanzler Otto von Bismarck (1818–1898) befeuerte den antikatholischen Diskurs der liberalen Ära, indem er Ultramontane zu ›inneren Reichsfeinden‹ des protes­tan­tisch geprägten Nationalstaats erklärte.163 Besonders die Jesuiten verkörperten durch ihren Missionierungseifer, ihre Gelehrsamkeit und bedingungslose Papsttreue das Feindbild des liberal-protestantischen Bürgertums, das die Verbannung des Jesuitenordens aus Deutschland begrüßte.164 Eine Reihe von 161 Zur Sakralisierung der Nation im deutschen Protestantismus, vgl. Walkenhorst, Peter: Nationalismus als »politische Religion«? Zur religiösen Dimension nationalistischer Ideologie im Kaiserreich. In: Blaschke / Kuhlemann (Hg.): Religion im Kaiserreich, 503–521, hier 519; Hübinger, Gangolf: Sakralisierung der Nation und Formen des Nationalismus im deutschen Protestantismus. In: Krumeich, Gerd / Lehmann, Hartmut (Hg.): »Gott mit uns«. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Göttingen 2000, 233–247. 162 Rede Virchows im preußischen Abgeordnetenhaus, 24. Sitzung, 31.1.1872. In: Steno­ graphische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Landtags. Haus der Abgeordneten, 560. 163 Borutta: Antikatholizismus, 102. Zu antikatholischen Diskursen während der Kulturkämpfe, vgl. Ders.: Das Andere der Moderne. Geschlecht, Sexualität und Krankheit in antikatholischen Diskursen Deutschlands und Italiens (1850–1900). In: Rammert, Werner u. a. (Hg.): Kollektive Identitäten und kulturelle Innovationen. Ethnologische, soziologische und historische Studien. Leipzig 2001, 59–75; Gross, Michael B.: The War against Catholicism. Liberalism and the Anti-Catholic Imagination in Nineteenth-Century Germany. Ann Arbor 2004; Heinen, Armin: Umstrittene Moderne. Die Liberalen und der preußisch-deutsche Kulturkampf. In: GG 29/1 (2003), 138–156. Aus transnationaler Perspektive, vgl. Verhoeven, Timothy: Transatlantic Anti-Catholicism. France and the United States in the Nineteenth Century. Basingstoke 2010; Werner, Yvonne Maria / Harvard, Jonas: European Anti-Catho­ licism in a Comparative and Transnational Perspective. The Role of a Unifying Other. In: Dies. (Hg.): European Anti-Catholicism, 13–25. 164 Zum historischen Kontext des Jesuitengesetzes und zu anti-jesuitischen Diskursen im Kaiserreich, vgl. Healy, Róisín: The Jesuit Specter in Imperial Germany. Boston 2003; Dies.: Religion and Civil Society. Catholics, Jesuits, and Protestants in Imperial Germany. In: Trentmann, Frank (Hg.): Paradoxes of Civil Society. New Perspectives on Modern German and British History. New York, Oxford 2000, 244–259; Dies.: Anti-Jesuitism in Imperial Germany. The Jesuit as Androgyne. In: Walser Smith, Helmut (Hg.): Protestants, Catholics and Jews in Germany, 1800–1914. Oxford 2001, 153–181; Gross, Michael B.: Kulturkampf and Unification. German Liberalism and the War against the Jesuits. In: Central European History 30/4 (1997), 545–566.

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Kulturkampfgesetzen auf Reichsebene (Kanzelparagraph, Jesuitengesetz, Einführung der Zivilehe) sowie auf preußischer Ebene (Schulaufsichtsgesetz, ›Brotkorbgesetz‹, Klostergesetz) sollte den Einfluss des Katholizismus im Kaiserreich weitgehend eindämmen. Die Aufhebung der geistlichen Schulaufsicht 1872 war ein radikaler Schritt der Reichsregierung, der seinerzeit sogar eine der größten Petitionen Mitteleuropas provozierte.165 In der mehrheitskatholischen Habsburgermonarchie sorgte indessen die deutschnationale und antisemitische Los-vonRom-Bewegung für zahlreiche Übertritte zum Protestantismus.166 Während der Amtszeit Pius X. flammte eine antikatholische Stimmung im wilhelminischen Bürgertum erneut auf, denn die von ihm verabschiedete Borromäus-Enzyklika (1910) übte offen Kritik an der Reformation und am Modernismus. Protestanten antworteten mit scharfer Kritik auf den päpstlichen Vorstoß: Insbesondere der 1886 gegründete Evangelische Bund reagierte mit antikatholischen Kampagnen auf die gegenreformatorischen Inhalte der Enzyklika.167 In der Vereinszeitschrift des Monistenbundes sprach man von einer »antiklerikalen Nationalrevolte«, die durch die Borromäus-Enzyklika ausgelöst wurde.168 Die Forschung zum deutschen Kulturkampf verharrte lange in politikgeschichtlichen und konfessionellen Deutungsmustern: Entweder wurde der Kulturkampf als ein Konflikt zwischen politischen und religiösen Eliten – namentlich zwischen Bismarck, der Reichsregierung und Papst Pius IX . – gedeutet oder im konfessionellen Sinne als ein Kampf zwischen Katholiken und Protestanten. Wie Martin Baumeister treffend festhielt, habe man sich den Kulturkampf lange als »eine Art entgleiste Schachpartie […] zwischen einem machtbewussten Staatsoberhaupt à la Bismarck und dem im Vatikan eingeschlossenen, von seinen schwarzen Heerscharen vor Ort vertretenen Papst« vorgestellt.169 Jüngere Forschungsansätze hingegen betonen die kulturelle und mentalitätsgeschichtliche Reichweite der europäischen Kulturkämpfe, die eine »polarisierte Massenöffentlichkeit« schuf und breite Bevölkerungsteile in der Stadt wie auf dem Land mobilisierte.170

165 Anderson, Margret L.: Practicing Democracy. Elections and Political Culture in Imperial Germany. Princeton 2000, 96. 166 Zur Los-Von-Rom-Bewegung, vgl. Walser Smith: German Nationalism and Religious Conflict, 206–232. 167 Vgl. Müller-Dreier, Armin: Konfession in Politik, Gesellschaft und Kultur des Kaiserreichs. Der Evangelische Bund 1886–1914. Gütersloh 1998. 168 Fernau, Hermann: Pius X In: Monismus 5, Nr. 53 (1910), 501–507, hier 506. 169 Baumeister, Martin: Rez. Christopher Clark / Wolfram Kaiser (Hg.): Culture Wars. Secular-Catholic Conflict in Nineteenth-Century Europe. Cambridge: Cambridge University Press 2003. In: Sehepunkte 5 (2005), Nr. 4. URL: http://www.sehepunkte.de/2005/04/5364. html [aufgerufen am: 28.3.2020]. 170 Ebd. Zur aktuellen Kulturkampfforschung, vgl. Borutta; Antikatholizismus; Clark / Kaiser (Hg.): Culture Wars; Dittrich: Antiklerikalismus in Europa; Dies.: European Connections.

132  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität Zugleich weisen jüngere Forschungsdebatten auf den transnationalen, transkonfessionellen und schichtübergreifenden Charakter der Kulturkämpfe hin: Helmut Walser Smith, Manuel Borutta und Lisa Dittrich konnten gerade für den deutschen Fall zeigen, dass der Kulturkampf Allianzen jenseits der konfessionellen Trennlinien erzeugte: Nach dem Zusammenbruch des Bülow-Blocks 1909 näherten sich Konservative, orthodoxe Protestanten und Katholiken einander an, um das christliche Weltbild vor den Gefahren des Modernismus, Materialismus und Sozialismus zu bewahren.171 Weitere Beispiele demonstrieren, dass sich der Kulturkampf eher als ein Aushandlungsprozess zwischen liberalen und konservativen Kräften und weniger als ein Konflikt zwischen den christlichen Konfessionen begreifen lässt.172 Ausgehend von dieser Beobachtung plädierte Lisa Dittrich für eine Revision des Antikatholizismus als ein europäisches, transkonfessionelles Phänomen, um simplifizierende, binäre Kategorien (im Sinne: Protestaten versus Katholiken) zu vermeiden.173 Ein anschauliches Beispiel für die Transnationalität des Antikatholizismus war das von Giuseppe Ricciardi einberufene Gegenkonzil in Neapel von 1869, das als radikaler Protest gegen das Erste Vatikanum geplant war und Freidenker sowie Freimauer aus ganz Europa anzog.174 Inspiriert von den Postcolonial Studies vertrat Manuel Borutta indessen die These, dass der Katholizismus in liberalen und antiklerikalen Medien des langen 19. Jahrhunderts gezielt »orientalisiert« wurde.175 Antiklerikale stilisierten den Ultramontanismus als das »Andere der Moderne«, als ein rückständiges, modernitätsfeindliches, ja fortschrittshemmendes Phänomen.176 Antiklerikale Karikaturen brachten den katholischen Klerus mit sexueller Devianz in Verbindung und pathologisierten gläubige Katholiken als körperlich-geistig unterlegen.177 In Abgrenzung dazu verband der liberale Diskurs den Protestantismus mit Ideen von Fortschrittlichkeit, Rationalität und Staatstreue und erkor ihn zum Bestandteil der Moderne.178 Nicht zuletzt übertrugen Liberale dichotome Geschlechterkategorien auf das Staats-Kirchen-Verhältnis: In ihrem Narrativ 171 Walser Smith: German Nationalism and Religious Conflict, 157. 172 Blickt man auf den Ursprung der Kulturkämpfe, so stoßen konfessionelle Deutungsmuster an ihre Grenzen. Wie Christopher Clark und Wolfram Kaiser betonen lagen die Ursprünge der Kulturkämpfe in einem innerkatholischen Konflikt selbst: In dem Protest des französischen Gallikanismus gegen den Autoritätsanspruch des Vatikans, vgl. Kaiser, Wolfram: »Clericalism  – That is Our Enemy!«. European Anticlericalism and the Culture Wars. In: Clark / Kaiser, Wolfram (Hg.): Culture Wars, 47–76, hier 50. 173 Dittrich: European Connections, 262–265. 174 Dittrich demonstriert am Beispiel des Gegenkonzils, dass eine dauerhafte transnationale Zusammenarbeit von Freidenkern in Europa durch nationale und politische Rahmenbedingungen erschwert wurde. 175 Vgl. Borutta: Antikatholizismus. 176 Borutta: Das Andere der Moderne, 59–75. 177 Ebd., 59. 178 Weir: Secularism 174; Borutta: Andere der Moderne, 59–75; Dittrich: Antiklerikalismus in Europa.

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unterlag die weibliche Kirche dem starken, männlich dominierten Staat.179 Mit diesen diskursiven Gegenüberstellungen verteidigten Liberale ihre Stellung in Öffentlichkeit und Politik.180 Katholische Herrschsucht Der Ultramontanismus entwickelte sich im Monistenbund zur Projektionsfläche der allgemeinen Religionskritik. Mit Begriffen wie »Priesterherrschaft«, »Klerikalismus« und »Papismus« attackierten Monisten nicht nur die katholische Kirche, sondern sprachen der Religion im Allgemeinen ihre Daseinsberechtigung ab. Monisten knüpften in ihrer Publizistik an den antikatholischen Diskurs der Kulturkampfära an. Bezeichnenderweise glaubte ein Rezensent des Pester Lloyd 1912 in der Monismusbewegung ein »Schiboleth eines neuen Kulturkampfes« zu erkennen. »Nicht gegen die Kirche, wie der Kulturkampf der Siebzigerjahre des vorigen Jahrhunderts es war, sondern gegen ihre Manier, die Dinge zu betrachten«, wende sich der naturwissenschaftliche Monismus, so das Fazit des Rezensenten.181 Bereits H ­ aeckel verortete den Monismus in einer Kulturkampftradition: In seinen Thesen zur Gründung des Monistenbundes von 1904 rief er zum »Kulturkampfe gegen den Papismus« auf.182 Ebenso war in dem Gründungsaufruf des Monistenbundes (1906) von der »ständig wachsenden[n] Gefahr« die Rede, »mit der Ultramontanismus und Orthodoxie unser gesamtes wissenschaftliches, kulturelles und politisches Leben bedrohen«.183 Dieser explizite Verweis auf den katholischen Ultramontanismus bestätigt den Befund, dass der Monistenbund von Beginn an eine anti-ultramontane Agenda im Speziellen verfolgte. So erinnerte der Jurist und Freidenker Emil Dosenheimer (1870–1936) mit folgenden Worten an die großen kulturellen Leistungen ­Haeckels: ­Haeckel mußte bei seiner Stellung zu den Zentralideen des Glaubens, Gott, Seele, naturgemäß in einen unüberbrückbaren Gegensatz zur Orthodoxie aller Schattierungen geraten, vor allem zum Ultramontanismus. Ich betrachte es mit als das größte Verdienst ­Haeckels, daß er den Ultramontanismus als das gekennzeichnet hat, was er ist, als den furchtbarsten Feind jeder Kulturentwicklung.184 179 Borutta: Das Andere der Moderne, 59–75. Ausgangspunkt dieses imaginierten Geschlechterdualismus zwischen Staat und Kirche war das von Staatsrechtler Johann Caspar Bluntschli begründete Zwei-Sphären-Modell, vgl. Bluntschli, Johann Caspar: Psychologische Studien über Staat und Kirche. Zürich 1844. 180 Eine originelle Genderperspektive auf den Kulturkampf bietet Michael B. Gross: Kulturkampf and Geschlechterkampf: Anti-Catholicism, Catholic Women, and the Public. In: Biess, Frank u. a. (Hg.): Conflict, Catastrophe and Continuity. Essays on Modern German History. New York 2007, 27–43. 181 O. A.: Monistisches. In: Pester Lloyd 59 (29. Juni 1912), Nr. 153, .22–23, hier 22. 182 ­Haeckel: Thesen zur Organisation des Monismus, 487. 183 Vgl. Aigner (Hg.): Fünf Jahre Deutscher Monistenbund, 6. 184 Schmidt, Heinrich (Hg.): Was wir Ernst ­Haeckel verdanken. Bd. 2. Leipzig 1914, 40.

134  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität Drei Leitaspekte strukturierten den antikatholischen Diskurs der Monismusbewegung, der in vielen Aspekten die Tradition des Kulturkampfes fortführte: Erstens das Stereotyp der katholischen Herrschsucht und Gewalt, zweitens der Topos der katholischen Rückständigkeit und Modernitätsfeindlichkeit und drittens jener der Untreue gegenüber Reich und Nation. Im Anschluss an Manuel Borutta wird im Folgenden argumentiert, dass Monisten auf antikatholische Stereotype zurückgriffen, um den Katholizismus als Gegensatz von Wissenschaftlichkeit, Fortschritt und deutscher Nation darzustellen.185 Mit seiner Betonung von ›Evangelischer Freiheit‹ und individuellem Gewissen galt der Protestantismus gegenüber dem Katholizismus in den Augen von Kirchenkritikern (selbst im mehrheitskatholischen Süden Europas) als demokratischer und liberaler.186 Die Prozesse der spanischen Inquisition, die gewaltsame Missionierung von Ungläubigen oder das päpstliche Unfehlbarkeitsdogma von 1870 bestärkten Antiklerikale in ihrem Vorwurf, dass der Katholizismus auf Autorität, Gewalt und illegitimer Herrschaft basierte (vgl. Kap. III.1).187 Auch der Monistenbund rekurrierte in seiner Feindbildkonstruktion auf den Topos der katholischen Herrschsucht und Gewalt. Die Münchner Ortsgruppe des DMB übernahm eine Schlüsselrolle in der monistischen Kritik an Ultramontanismus und Papsttum, da sie Protestkampagnen im mehrheitskatholischen Bayern organisierte. Im Mai 1914 – drei Monate vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs – rief die Münchner Ortsgruppe in einer Kundgebung für die »Unabhängigkeit der bayerischen Staatsregierung gegen die Herrschgelüste einer klerikalen Parteiherrschaft« auf.188 Der Aufruf richtete sich unverkennbar gegen das katholische Zentrum, das traditionell die Mehrheit im bayerischen Landtag hatte. Zugleich wies der Aufruf die Vorwürfe katholischerseits zurück, dass Monisten und Freidenker eine »sittliche Verwahrlosung« in Bayern herbeigeführt hätten. Die Ortsgruppe warf dem katholischen Zentrum und seiner Presse vor, durch ihr systematisches Vorgehen gegen monistische und freidenkerische Gruppen ihre »Priesterherrschaft« in Bayern sichern zu wollen.189 Den Ultramontanismus präsentierten die Verfasser des Aufrufes indessen als Invasion einer fremden geistigen Macht: »Unter der Flagge der Religion sucht der von einer ausländischen Macht geleitete Ultramontanismus eine dem deutschen Wesen und dem modernen Denken vollständig fremde Welt- und Lebensanschauung 185 Zur Orientalisierung des Katholizismus und speziell Roms, vgl. Borutta: Antikatholizismus, 47–119. 186 Kaiser: European Anticlericalism, 60. 187 Zum Verhältnis von Glauben, Gewalt und Protest im katholischen Europa, vgl. Bouwers, Eveline (Hg.): Glaubenskämpfe. Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert. Göttingen 2019. 188 München, der Hauptherd der antichristlichen Bewegung. In: DMJ 3, Nr. 8 (1914), 208– 210, hier 210. Die Kundgebung erschien in den Münchner Neuesten Nachrichten (14.5.1914). 189 Ebd., 209.

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mit allen Mitteln durchzusetzen.«190 Mit Verweisen auf ein vermeintlich »deutsches Wesen« stellten Monisten nicht nur einen Gegensatz zwischen deutscher Nation und Ultramontanismus her, sondern verorteten den Monismus zugleich in einem nationalen Narrativ: In ihren Augen waren monistisches Denken und deutsche Nation zwei Seiten ein und derselben Medaille, denn beide standen für Wissenschaftlichkeit, Fortschritt und Moderne. Mit ihren Attacken gegen das Zentrum, die katholische Presse und den Ultramontanismus erinnerten die Münchner Monisten an den Kulturkampf in Bayern, der durch besondere Dynamiken geprägt war: So wurde das erste Kulturkampfgesetz, der Kanzelparagraph von 1871, von dem bayerischen Kultusminister Johann von Lutz (1826–1890) auf Reichsebene eingebracht, nachdem die liberale Regierung im bayerischen Landtag keine Mehrheit für ihre Kulturkampfziele gefunden hatte. Als Gegenreaktion zur liberalen Regierung in Bayern hatte sich 1869 die Bayerische Patriotenpartei formiert, die sich gegen einen kleindeutschen Staat unter preußischer Führung richtete, die Interessen der Katholiken in Bayern vertrat und sich für eine christlich-konservative Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung einsetzte.191 Bilder klerikaler und besonders katholischer Gewalt waren auch in anderen Beiträgen von monistischen Ortsgruppen präsent. In einem Bericht der Dortmunder Ortsgruppe des DMB vom 6. Juni 1914 wurden katholische Geistliche mit einer gewaltbereiten Armee gleichgesetzt.192 Der Bericht handelte von einem Vortrag des Grafen Paul von Hoensbroech (1852–1923), der zum Protestantismus konvertiert war und zum scharfen Kritiker des Ultramontanismus im Kaiserreich aufstieg. Über dessen Vortrag hieß es, die Ultramontanen hätten »klerikale Sturmkolonnen in den Saal entsandt und in demselben verteilt, so daß es dem Vorsitzenden Lothar Engelbert Schücking (1873‒1943) zuweilen nur mit Androhung energischer Anwendung des Hausrechts gelang, den mutigen, gefürchtetsten Gegner des Ultramontanismus und Jesuitismus von beleidigenden Angriffen zu schützen.«193 Um der angeblich höheren Gewaltbereitschaft der Katholiken gegenüber Protestanten und Juden Evidenz zu verleihen, führte Ostwald in seiner Schrift Religion und Monismus (1914) statistisches Beweismaterial an. In seiner programmatischen Schrift druckte Ostwald eine Erhebung des Königlich-Preußischen Statistischen Amts von 1910 ab, welche die Anzahl der Straftaten in Preußen von je 100.000 strafmündigen Zivilpersonen gleicher Konfession untersuchte.194 Die 190 Ebd., 209. Hervorhebung im Original. 191 Zum Kulturkampf in Bayern, vgl. Bischof, Franz Xaver: Kulturkampf in Bayern – Bayerisches Staatskirchentum versus Ultramontanismus. In: Wolf, Peter u. a. (Hg.): Götterdämmerung. König Ludwig II. und seine Zeit. Augsburg 2011, 125 f. 192 Bericht der Ortsgruppe Dortmund. In: DMJ 3, Nr. 10 (1914), 270–272. 193 Ebd., 270. 194 Statistisches Jahrbuch für den Preussischen Staat 10 (1913), 515.

136  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität Statistik sollte den Beweis dafür liefern, dass die durchschnittliche Anzahl von Straftaten in Preußen bei den Katholiken am höchsten war, gefolgt von Juden, Protestanten und »sonstigen Christen« (gemeint waren Freireligiöse, Freidenker und Konfessionslose). Ostwald zog aus der Statistik den Schluss, dass gerade die am stärksten ausgeprägte Konfession (der Katholizismus) »den allerschlechtesten Kultureinfluß auf ihre Angehörigen« ausübte.195 Mit der Statistik liege ein »objektiver Beweis« dafür vor, betonte dieser, »daß unsere Volksgenossen durch die Abwendung von der Staatskirche ganz unzweifelhaft gebessert werden.«196 Den statistischen Zusammenhang von dogmatischem Christentum und erhöhter Kriminalität führte Ostwald auf die geistige und moralische Rückständigkeit von Gläubigen gegenüber aufgeklärten Freidenkern zurück.197 Interessanterweise griff Ostwald auf eine Statistik zurück, die seiner antikatholischen Polemik zugutekam. Betrachtet man nämlich die Statistiken mit den absoluten Zahlen der rechtskräftig Verurteilten in Preußen gemäß ihrer konfessionellen Zugehörigkeit, so lag in fast allen Kategorien (Betrug, Urkundenfälschung, Sachbeschädigung, Wucher, Brandstiftung, Majestätsbeleidigung, gefährliche Körperverletzung etc.) der evangelische über dem katholischen Anteil.198 Hochgerechnet auf je 100.000 strafmündige Zivilpersonen gleichen Bekenntnisses ergab sich allerdings ein völlig anderes Bild, weil der Anteil von katholischen Verbrechen im Verhältnis zur katholischen Gesamtbevölkerung in Preußen höher war. Der vergleichsweise hohe Anteil von Katholiken in der preußischen Kriminalstatistik wurde häufig der polnischen Minderheit angelastet, die in Preußen einer repressiven Germanisierungspolitik ausgesetzt war und in vielen Gesellschaftsbereichen – vor allem im Bildungssektor – diskriminiert wurde. Der Stigmatisierung der Polen als genuin Kriminelle und »Staatsbürger zweiter Klasse« war es geschuldet, dass diese besonders häufig verurteilt wurden.199 Wie Volker Zimmermann gezeigt hat, spielten Statistiken in der Kriminalisierung der polnischen Minderheit Ost-Preußens eine eminente Rolle. Unter dem Einfluss der Kriminalanthropologie wurde das Verbrechen zum »Rassemerkmal« der Polen erklärt, um diese als »Fremdkörper« im deutschen Nationalstaat zu stigmatisieren.200 Ostwald hingegen interpretierte die preußische Kriminalstatistik von 1910 als Beweis für die pathologische Rückständigkeit 195 Ostwald: Religion und Monismus, 13. 196 Ebd., 11. Hervorhebung im Original. 197 Ebd., 14 f. 198 Statistisches Jahrbuch für den Preussischen Staat 10 (1913), 515–517. 199 Gosewinkel, Dieter: Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland. Göttingen 2001, 211–218. 200 Vgl. Zimmermann, Volker: Race and Ethnicity in German Criminology. On Crime Rates and Polish Population in the Kaiserreich (1871–1914). In: Day, Lara / Haag, Oliver (Hg.): The Persistence of Race. Continuity and Chance in Germany from the Wilhelmine Empire to National Socialism. New York, Oxford 129–153.

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des Katholizismus in intellektueller, sittlicher und kultureller Hinsicht. Bewusst nutzte er die statistischen Erhebungen, um den Topos der katholischen Gewalt als einen objektiven Tatbestand darzustellen. Katholizismus als Atavismus Der zweite antikatholische Topos bezog sich auf die vermeintliche Rückständigkeit und Fortschrittsfeindlichkeit des Ultramontanismus. In der katholischen Volksfrömmigkeit, insbesondere dem Wunderglauben und der Heiligenverehrung, sahen Monisten ein Indiz für das unwissenschaftliche und spekulative Wesen des Katholizismus. Ernst ­Haeckel zählte den Syllabus Errorum, gemeinsam mit dem Unfehlbarkeitsdogma und dem 1854 verkündeten Dogma der unbefleckten Empfängnis Mariä zu den »drei bedeutungsvollen Kriegserklärungen gegen die Vernunft«, die vom Vatikan verübt worden seien.201 Die Katholiken behaupten, spottete ­Haeckel, »daß die Mutter der Jungfrau Maria ebenso durch den ›Heiligen Geist‹ befruchtet worden sei wie diese selbst. Demnach würde dieser seltsame Gott sowohl zur Mutter als auch zur Tochter in den intimsten Beziehungen gestanden haben; er müßte mithin sein eigener Schwiegervater sein«.202 Anlässlich des Lourdes-Jubiläums 1908 verlangte die Münchner Ortsgruppe des DMB eine öffentliche Stellungnahme der katholischen Kirche zu den Wunderheilungen von Lourdes. Die Abhandlung Die großen Heilungen von Lourdes (1902) von Prosper Gustave Boissarie, so die Protesterklärung, entbehre jeglichem wissenschaftlichen Anspruch, würde sie doch »ärztliche Wahrnehmungen« auf dieselbe Stufe mit Aussagen von Geistlichen und Laien stellen.203 Während des fünfzigjährigen Lourdes-Jubiläums 1908 prangerte der zeitweilige Vorsitzende des Monistenbundes, Eduard Aigner, in verschiedenen Wandervorträgen den Lourdes-Kult als irrationalen Wunderglauben an. Er warf der katholischen Kirche vor, dass hinter dem Kult ein finanzielles Kalkül stecke, da die Pilgerströme eine attraktive Einnahmequelle für die katholische Kirche darstellten. In seinen Attacken gegen den Lourdes-Kult berief sich Aigner bewusst auf seine Expertise als Mediziner, um die Unwissenschaftlichkeit von Wunderheilungen nachzuweisen.204 201 ­Haeckel: Welträtsel, 373. 202 Ebd., 375. 203 Vgl. Aigner (Hg.): Fünf Jahre Deutscher Monistenbund, 25. Gemeint ist die Abhandlung von Prosper Gustave Boissarie: Die grossen Heilungen von Lourdes. Deutsche autorisierte und vermehrte Ausgabe von J. P. Baustert. Lingen a. d. Ems 1902. 204 Aigner, Eduard: Lourdes im Lichte deutscher medizinischer Wissenschaft. Bericht über den Münchner Lourdes-Prozess vom 20. und 22. November 1909. München 1910; Ders.: Die Wahrheit über die Wunderheilung von Lourdes. Eine ärztliche Studie. Frankfurt am Main 1914; Aigner auf Wanderreise. In: Badischer Beobachter (27.3.1914). Ferner: Rambacher, Adam: Die Wunder von Lourdes und der Gottesleugner Ernst ­Haeckel. Donauwörth 1907.

138  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität Die Proteste der Münchner Monisten gegen das Lourdes-Jubiläum veranlassten den Münchner Erzbischof am 6. Januar 1909 sogar zu einem Hirtenbrief. Dieser erschien im Bayerischen Kurier, dem Münchner Zentrumsblatt, unter dem bezeichnenden Titel »Gegen die Monisten und den sittlichen Schmutz«.205 In seinem Hirtenbrief warnte der Erzbischof vor der »Monisten- und Freidenkerbewegung, die mit skrupellosen Mitteln arbeitend speziell in München intensive Tätigkeit entfaltet, unterstützt von einer Presse, die sich den antichristlichen Bestrebungen bedingungslos verschrieben hat.«206 Mit deutlichen Worten stellte der Erzbischof eine unmittelbare Verbindung zwischen der »Irreligion« des Monismus und »sittlichem Schmutz« her.207 Der Erzbischof appellierte an das Gewissen christlicher Eltern, die Jugend vor den Verführungen neuer Weltanschauungen zu bewahren. Den Nährboden für die Verbreitung des Monismus bot ihm zufolge die »Schlammflut öffentlichen frechen Treibens« unter den »Augen der christlichen Jugend«. Hierzu zählte er sowohl die »sittenlosen Aufführungen in leichtsinnigen Schauspielhäusern«, die »Laster der Unzucht« auf der Straße und öffentlichen Plätzen sowie die »gesamte Unzuchtliteratur«. Seinen Hirtenbrief schloss der Erzbischof mit folgendem Aufruf: »Darum christliche Männer, christliche Frauen, tretet ein mit allem Mut und aller Beharrlichkeit in den ernsten Kampf für die heiligen Güter der christlichen Sittlichkeit, für die edelsten Güter Eurer Kinder!«208 Insbesondere Ostwald griff auf entwicklungsbiologische Begriffe zurück, um den Katholizismus als ein überholtes, rückständiges Glaubenssystem zu essentialisieren. Der Katholizismus entsprach in seinen Augen einem geistigen »Atavismus« – ein Begriff, der im evolutionsbiologischen Sinne auf Merkmale und Verhaltensweisen eines urzeitlichen und überholten Entwicklungsstandes verwies.209 In einer 1910 gehaltenen Rede bezeichnete Ostwald den ultramontanen Katholizismus als Ausdruck einer »primitiven Religionsform, jenes ältesten Zustandes, wo alle geistige Tätigkeit des Menschen von der Priesterschaft verwaltet wurde«.210 Über den Unsterblichkeitsglauben und die Vorstellung eines Fegefeuers im Katholizismus schrieb Ostwald 1911: »Man muß es deshalb als eine Art Atavismus in der Entwicklung der christlichen Religion ansehen, wenn auch von den höher stehenden Vertretern dieser Weltanschauung auf die Idee 205 Aigner (Hg.): Fünf Jahre Deutscher Monistenbund, 33. 206 Ebd., 33. 207 Ebd., 35. 208 Ebd., 35. 209 »Atavismus« taucht mehrmals in Ostwalds Schriften auf, vgl. Ders.: Der energetische Imperativ, 325; Große Männer, 57; Forderung des Tages, 427; Vom Tode II., 179; Das Gebet, 206. Popularität erlangte der Atavismusbegriff um 1900 durch die Kriminalanthropologie Cesare Lombrosos (1835–1909). Lombroso stellte in seinem Hauptwerk »L’uomo delinquente« (1876) die These auf, dass kriminelle Handlungen angeboren seien und bei Menschen vorkommen, die auf einem prähistorischen und tierähnlichen Entwicklungsstadium verharrten. 210 Ostwald: Ultramontanismus und Kultur, 12.

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der Unsterblichkeit nach dem Tode ein so erhebliches Gewicht gelegt wird.«211 Ostwald zufolge war die Religion (vor allem der Katholizismus) ihrem Wesen nach stagnativ und verharrte deshalb auf einer primitiven Entwicklungsstufe, auf welcher der Mensch dem Tier noch ähnlicher war: Der kulturelle Fortschritt sei »in früheren Zeiten, wo der Mensch den Tieren noch näher stand, entsprechend viel langsamer gewesen: für solche Zustände war denn auch die Religion mit ihrer grundsätzlichen Stabilität die angemessene Form der Kultur«.212 Aufgrund seiner Entwicklungsunfähigkeit stand der Katholizismus zunehmend im Widerspruch zur modernen, wissenschaftlichen Denkweise der Gegenwart und war daher dem Niedergang geweiht, so Ostwald. Das zwangsläufige Schwinden religiöser Autorität verglich er mit einem Krebs, der seinen alten Panzer abwerfe, sobald dessen »Entwicklungsbedürfnis« durch ihn gehindert werde.213 Wie wir später noch sehen werden, berief sich Ostwald in seinem Antikatholizismus auf die Dreistadienlehre Auguste Comtes, der die Entwicklung der Kultur in ein theologisches, metaphysisches und wissenschaftliches Zeitalter unterteilte.214 Gemäß dieser Fortschrittslogik trug der Katholizismus immer noch die Merkmale des theologischen Zeitalters in sich. In Ostwalds Bemerkungen zum Katholizismus schienen immer wieder antislawische Ressentiments durch. Aus seiner Sicht befanden sich die slawischen Völker noch auf einer theologischen Kulturstufe, wohingegen sich die Länder Mitteleuropas bereits zu Wissenschaftsnationen weiterentwickelt hätten. In einer Sonntagspredigt über Tolstoi schrieb Ostwald: »Hier treten nun die religiösmystischen Tendenzen ein, die bei den Slaven entsprechend ihrer viel tieferen Entwicklungsstufe […] noch in größter Kraft und Mannigfaltigkeit tätig sind.«215 Andernorts bemerkte Ostwald, dass die fortschrittsfeindliche katholische Kirche allein bei den »in niedriger Kultur lebenden Völker[n] des Ostens« hoffen dürfe, weiterhin ihre Macht zu erhalten.216 Ostwald, der selbst Baltendeutscher war, griff hier auf antislawische Stereotype zurück, die sowohl unter Baltendeutschen als auch im politischen Diskurs des Wilhelminismus verbreitet waren.217 Die zeitgenössische Debatte über »katholische Inferiorität« spielte den Argumenten der Monisten durchaus in die Hände. Unter dem Einfluss neuer Disziplinen wie die Statistik, Nationalökonomie und Sozialwissenschaft gewann 211 Ostwald: Vom Tode II. In: MSP I, 177–184, hier 179. 212 Ostwald: Religion und Wissenschaft, 28. 213 Ostwald: Jatho I. In: MSP I, 118. 214 Ebd., 115. 215 Ostwald: Tolstoi. In: MSP I, 69. 216 Ostwald: Was ist Wahrheit? In: MSP I., 37. 217 In seiner Autobiographie übte Ostwald Kritik an der Russifizierungspolitik des Zarenreichs im Baltikum. Über die Dominanz des Russischunterrichts am Rigaer Realgymnasium schrieb er: »Wir verachteten das Russische als einer niederen Schicht zugehörig und übten passiven Widerstand gegen die zunehmende Belastung mit russischen Unterrichtsstunden.« Ostwald: Lebenslinien I, 20.

140  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität die kaiserzeitliche Debatte um die angebliche Unterlegenheit von Katholiken in Bildung und Wirtschaft an Auftrieb. Max Weber griff in der Einleitung zu seiner Protestantischen Ethik (1904/5) auf die Ergebnisse seines Doktoranden Martin Offenbachers zurück. Dieser hatte in seiner Regionalstudie Konfession und soziale Schichtung: Eine Studie über die wirtschaftliche Lage der Katholiken und Protestanten in Baden (1901) versucht, die ökonomische Unterlegenheit der Katholiken gegenüber den Protestanten statistisch nachzuweisen. Die Konfessionsstatistik von Offenbacher führte in aller Schärfe vor Augen, dass Katholiken an Gymnasien, Universitäten und in staatlichen Behörden deutlich unterrepräsentiert waren.218 In seinem Fazit begründete Offenbacher die Unterlegenheit der Katholiken im »wirtschaftlichen Daseinskampf« mit einer spezifisch konfessionellen Mentalität: »Der Katholik in Baden ist ruhiger; mit geringem Erwerbstrieb ausgestattet, gibt er auf einen möglichst gesicherten Lebenslauf, wenn auch mit kleinerem Einkommen mehr, als auf ein gefährdetes, aufregendes, aber eventuell Ehren und Reichtümer bringendes Leben.«219 Obwohl Monisten den Katholizismus immer wieder als modernitätsfeindlich qualifizierten und auch die ultramontanen Päpste rhetorisch gegen die Moderne zu Felde zogen, profitierte die katholische Frömmigkeitskultur von den technischen Errungenschaften ihrer Zeit: Die massenhafte Mobilisierung von Pilgern nach Lourdes und die Verehrung von Heiligen auf Votivkarten wurden erst durch den Zugverkehr bzw. durch die Massenpresse und deren Druckverfahren möglich. Die katholische Kirche reagierte auf diese Entwicklung allerdings mit einer »Mischung aus Abschottung und Aneignung«.220 Das Verhältnis des Ultramontanismus zur Moderne blieb also gespalten und kann mit Urs Altermatt als »Antimodernismus mit modernen Mitteln« bezeichnet werden.221 Weltkirche versus Nation Ein dritter Vorwurf, der in der monistischen Presse wiederholt auftauchte, war die angebliche Untreue der Katholiken gegenüber Staat und Nation. Heinrich Heine hatte diesen Vorwurf bereits 1840 aufgegriffen, indem er schrieb: »Pfaffen 218 Zur Debatte um katholische Inferiorität, vgl. Baumeister, Martin: Katholische Inferiorität und Parität. Untersuchung zur Stellung des Katholizismus im Deutschen Kaiserreich. Paderborn 1987. 219 Offenbacher, Martin: Konfession und soziale Schichtung. Eine Studie über die wirtschaftliche Lage der Katholiken und Protestanten in Baden. Tübingen, Leipzig 1901, 68. 220 Dittrich: Antiklerikalismus in Europa, 61. Weiterführend zum Verhältnis von Katholizismus und Moderne, vgl. Loth, Wilfried: »Freiheit und Würde des Volkes«. Katholizismus und Demokratie in Deutschland. Frankfurt am Main, New York 2018, 19–34. 221 Altermatt, Urs: Katholizismus. Antimodernismus mit modernen Mitteln? In: Ders. / ​ Hürten, Heinz / Lobkowicz, Nikolaus (Hg.): Moderne als Problem des Katholizismus. Regensburg 1995, 33–50, hier 49; Altermatt, Urs: Katholizismus zwischen Konfession, Nation und Rom. Essays zur Kulturgeschichte der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert. Frauenfeld 2009.

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haben kein Vaterland, sie haben nur einen Vater, einen Papa, in Rom.«222 In einer Monistischen Sonntagspredigt bezüglich der Frage, ob der Monismus staatsgefährdend sei, erörtere Ostwald das Verhältnis der katholischen Weltkirche zu Staat und Nation. Ostwald führte den Sturz des katholischen Königshauses in Portugal 1910 als Beispiel dafür an, wie destabilisierend der Katholizismus auf die Regierung eines Staates wirkte.223 Der politische Katholizismus sei das »allergefährlichste Ferment zur Zersetzung staatlicher Organisation«, da er eigene Interessen verfolge und allein dem Papst treu sei.224 Deshalb kritisierte er die in vielen Staaten zu beobachtende Tendenz, katholische Institutionen (wie den Religionsunterricht) zu protegieren, als »geistige Atavismen«, welche die »Kulturentwicklung« störten.225 Obwohl der Protestantismus weniger staatsgefährdend sei, müsse er sich noch stärker von seinem »katholischen Erbe der Orthodoxie« emanzipieren, so Ostwald, um zu einer staatsfördernden Kraft heranzuwachsen. Letztlich jedoch könne nur die »wissenschaftliche Erfassung des Weltgeschehens« – also die monistische Weltanschauung – der Nation zum »dauernden Wohle« gereichen.226 Auch an anderer Stelle betonte Ostwald, dass der Katholizismus in Deutschland aufgrund seiner Loyalität zum »römischen Pontifex« ein Hindernis für den Fortschritt und die Einheit der Nation sei.227 Ostwald rekurrierte hier auf gängige Topoi der Kulturkampfzeit: Wie schon Virchow 1872, so diffamierte Ostwald den Katholizismus als einen Fremdkörper innerhalb der deutschen Nation. Das um sich greifende Schimpfwort »vaterlandslose Gesellen« sollte nicht nur die Sozialisten und Kommunisten der wilhelminischen Ära treffen, sondern auch die Katholiken. Ostwalds Kritik an der katholischen Weltkirche stand im Widerspruch zu jenem Internationalismus, den er als Naturwissenschaftler und Monist forderte: Besonders vor 1914 wies Ostwald jegliche Form von übersteigertem Nationalismus entschieden zurück und plädierte stattdessen für die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wissenschaft und Technik. Nationalismus repräsentierte für ihn eine »Politik der primitiven Zustände«, die den Überlebenskampf der Nationen gegenüber der gegenseitigen Hilfe bevorzugte.228 In einer Sonntagspredigt von 1913 stellte Ostwald heraus, dass Monisten eine doppelte Loyalität zeigen müssten  – sowohl gegenüber der deutschen Nation als auch gegenüber der globalen Weltgemeinschaft: »Auch wir Monisten sind Deutsche, wie wir sind Europäer, aber wir sind nicht nur Deutsche und nicht 222 Heine, Heinrich: Ludwig Börne. Eine Denkschrift (Hoffenberg Sonderausgabe). Berlin 2017 [1839], 94. 223 Ostwald: Ist der Monismus staatsgefährdend? 133. 224 Ebd., 129. 225 Ebd., 129–130. 226 Ostwald: Ist der Monismus staatsgefährdend? 135 f. 227 Ostwald: Monistische Politik, 322. 228 Ostwald: Patriotismus und Internationalismus I und II. In: MSP IV, 81–96 u. 257–272.

142  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität nur Europäer, denn wir wissen, daß diese engeren Kreise nur Existenzmöglichkeit und Existenzberechtigung haben, wenn sie sich harmonisch dem größten einordnen, in dem wir leben, der gesamten Menschheit.«229 Die Staaten der Zukunft sollten sich ihm zufolge nach dem Ideal einer transnationalen »Gelehrtenrepublik« organisieren, in der die Kooperation zwischen Wissenschaftlern zum Erreichen gemeinsamer Ziele im Mittelpunkt stand.230 Bemerkenswerterweise differenzierte man auf dem Internationalen Monistenkongress 1911 bewusst zwischen der dogmatischen und selbstsüchtigen Internationalität des Ultramontanismus und dem monistischen Internationalismus, der mit nationalen Interessen vereinbar sei: Diese Internationalität wird alle Vorzüge, aber nicht die Gefahren in sich tragen, die der ultramontanen Internationalität eigen sind. Während dem Ultramontanen genaue Devisen für sein ganzes Leben bis ins Detail hinein, ja für seine nationale und politische Haltung unter Gewissensverpflichtungen strikt diktiert werden, bürgt die Idee des Monismus selbst dafür, daß aus seiner internationalen Organisation national wertvolle Ergebnisse entspringen.231

Für Ostwald sollte die Forderung nach internationaler Zusammenarbeit kein Lippenbekenntnis bleiben: So setzte er sich seit 1905/6 für die Verbreitung der internationalen Plansprache Ido ein und gründete mithilfe seines Nobelpreisgeldes die »Brücke« in München, ein Büro für internationale Wissenschaftsorganisation und -kommunikation.232 Obwohl Ostwald den Monistenbund als internationale Organisation inszenierte (etwa auf dem Hamburger Monistenkongress 1911), dachte er seine Bewegung in erster Linie national: »Ich kann mich dem Eindruck nicht entziehen, dass wir hier am Anfang einer grossen nationalen Bewegung stehen«, teilte er seiner Frau Helene im September 1911 mit.233 In Ostwalds Auffassung von wissenschaftlichem Internationalismus schwangen stets nationalistische Untertöne mit: Zwar war für ihn die internationale Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern unabdingbar um Zeit, Geld und (im energetischen Sinne) Forschungsaufwand zu sparen, dennoch sollte D ­ eutschland

229 Ostwald: Kinderweihe, 220. 230 Ostwald: Religion und Monismus, 50–51. 231 Bloßfeldt (Hg.): Der erste internationale Monistenkongreß, 76. 232 Ostwald gründete 1911 gemeinsam Karl Bührer und Adolf Saager in München die Brücke zur »Organisierung der internationalen Zusammenarbeit« auf wissenschaftlichem Gebiet. Zur Geschichte der »Brücke«, vgl. Gordin, Michael: Scientific Babel. How Science was Done before and after Global English. Chicago 2015, 131–158; Holt, Niles: Wilhelm Ostwald’s ›The Bridge‹. In: British Journal for the History of Science 10/2, Nr. 35 (1977), 146–150; Krajewski, Markus: Restlosigkeit. Weltprojekte um 1900. Frankfurt am Main 2006. 233 Wilhelm Ostwald an Helene Ostwald, Hamburg, 11.9.1911. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 5206.

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im internationalen Vergleich seine wissenschaftliche Führungsrolle stets beweisen und untermauern.234 Auch unter Monisten sorgte Ostwalds Internationalismus für Irritation. So forderte die Krefelder Ortsgruppe des DMB von der Redaktion des Monistischen Jahrhunderts eine Klarstellung darüber, ob der Monistenbund im Dienst nationaler oder kosmopolitischer Interessen stand. Die Redaktion erwiderte auf die Anfrage, dass der Fortbestand der einzelnen Nationen nur durch internationale Zusammenarbeit möglich sei. Indem Monisten mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit zu einer Höherentwicklung der gesamten »Kulturmenschheit« beitrugen, leisteten sie gleichzeitig wichtige Dienste für die Interessen der deutschen Nation.235 Gegenüber den »separatistischen Tendenzen« der Nationen müsse der Monismus für eine »Arbeitsteilung der Kulturvölker« eintreten, hieß es.236 In Abgrenzung zum angeblich schädlichen Einfluss der katholischen Weltkirche auf das Deutsche Reich profilierte Ostwald sein eigenes Verständnis von Internationalismus, das mit nationalen Zielen im Einklang stand. Die Renaissance des Kulturkampfes (1906–1910) Abgesehen von ihrer antikatholischen Rhetorik sagten H ­ aeckel und Ostwald auch auf institutioneller Ebene dem Ultramontanismus den Kampf an: Im Oktober 1906 gründete der schon erwähnte Kirchenkritiker und ehemalige Jesuitenpater Paul Graf von Hoensbroech zusammen mit Vertretern des Evangelischen Bundes den Antiultramontanen Reichsverband (AUR), zu dessen ersten »Agitatoren« H ­ aeckel zählte.237 Zwischen dem Reichsverband und dem Monistenbund entstanden enge Verflechtungen: So hielt Ostwald im November 1910 auf einer Versammlung des AUR einen Vortrag über »Ultramontanismus und Kultur«.238 Als Kernelement des Reichsverbandes bildete sich der Kampf gegen 234 Zum ambivalenten Verhältnis von Nationalismus und Internationalismus in der Monismusbewegung, vgl. Leber, Christoffer: Integration through Science? Nationalism and Internationalism in the German Monist Movement (1906–1918). In: Kosuch, Carolin (Hg): Freethinkers in Europe. National and Transnational Secularities, 1789–1920s. Berlin, Boston 2020, 181–202. Zum historischen Wandel des wissenschaftlichen Internationalismus und Universalismus, vgl. Somsen, Geert J.: A History of Universalism. Conceptions of the Internationality of Science from the Enlightenment to the Cold War. In: Minerva 46/3 (2008), 361–379. 235 Zur Frage: Nationalismus – Internationalismus. In: DMJ 2, Nr. 36 (1913), 1013. 236 Ebd., 1013. 237 Germania, Nr. 137 (18.6.1907). Zum AUR , vgl. Gottwald, Herbert: Art. Antiultramontaner Reichsverband. In: Fricke, Dieter u. a. (Hg.): Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789–1945). Bd. 1. Leipzig 1983, 89–93; Schlossmacher, Norbert: Der Antiultramontanismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zwischen Ideologie und antikatholischem Affekt. In: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 21 (2002), 93–122, hier 113. 238 Ostwald, Wilhelm: Ultramontanismus und Kultur. Frankfurt am Main 1911.

144  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität die katholische Zentrumspartei heraus, die er zum »schlimmste[n] Schädling in unserem politischen Leben« erklärte.239 Neben der Trennung von Staat und Kirche, zählten Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie die Säkularisierung der Schule zu dessen selbsternannten Zielen.240 Den Kampf gegen den Ultramontanismus verbanden Vertreter des Reichsverbandes mit einer nationalistischen und imperialistischen Haltung. Der AUR konnte dabei besonders in akademischen und studentischen Kreisen liberal-protestantischer Provenienz Fuß fassen.241 Der Antikatholizismus der Monisten gewinnt vor dem politischen Hintergrund ihrer Zeit zusätzlich an Relevanz. Denn im Vorfeld des Ersten Weltkrieges kam es zu einem Wiedererstarken liberaler und antikatholischer Diskurse in der wilhelminischen Öffentlichkeit und Politik. Nach der Krise des Liberalismus, die durch die konservative Wende Bismarcks 1878/79 eingeläutet wurde, zeichnete sich im Zuge der Reichstagswahlen von 1907 ein politischer Wandel ab.242 Der Hintergrund war der Kolonialkrieg der Reichsregierung in Südwestafrika: Seit 1904 brachen in Deutsch-Südwestafrika wiederholt Aufstände der Herero und Nama gegen die deutsche Kolonialverwaltung aus.243 Konnte der Aufstand der Herero schnell niedergeschlagen werden, so dauerte der Krieg gegen die Nama weiterhin an. Zur Fortführung des Krieges gegen die Nama brachte die Reichsregierung 1906 einen Nachtragsetat ins Parlament ein. Das katholische Zentrum und die Sozialdemokratie reagierten mit heftiger Kritik auf das genozidale Vorgehen der Regierung in Deutsch-Südwestafrika. Das Zentrum verurteilte vor allem die Gewaltexzesse gegen die indigene Bevölkerung in den Kolonien, weil sie dem christlichen Gebot der Nächstenliebe widersprachen; dem gegenüber warfen die Sozialdemokraten der Regierung vor, dass die Kosten der Schutzgebiete von der Arbeiterschaft getragen würden, während die Gewinne aus den Kolonien in die Hände der Unternehmer und Großfinanz flossen.244 Beide Parteien lehnten folglich den Nachtragshaushalt zur Fortführung des Kolonialkriegs ab. Die darauf­hin neu ausgeschriebenen Reichstagswahlen von 1907 – bekannt unter

239 Kundgebung des Antiultramontanen Reichsverbandes. In: Berliner Tageblatt, Nr. 658 (28.12.1911). 240 Gottwald: Art. Antiultramontaner Reichsverband, 90. 241 Ebd., 91. 242 Helmut Böhme bezeichnete die konservative Wende Bismarcks als »zweite, innere Reichsgründung«, da von nun an ein agrarisch-konservatives Machtkartell die führende politische Kraft im Kaiserreich war. 243 Becker, Frank: Die Hottentotten-Wahlen (1907). In: Zimmerer, Jürgen (Hg.): Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte. Frankfurt am Main 2007, 177–189, hier 177. Weiterführend zum Völkermord an den Nama und Herero, vgl. Häussler, Matthias: Der Genozid an den Herero. Krieg, Emotion und extreme Gewalt in Deutsch-Südwestafrika. Weilerswist 2018. 244 Becker: Die Hottentotten-Wahlen (1907), 177.

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dem despektierlichen Namen »Hottentottenwahlen«245 – führten zu einer Neuformierung des politischen Kräftefelds: Denn es entstand eine Koalition aus Linksliberalen, Nationalliberalen und Konservativen, die sich hinter die Außenpolitik von Reichskanzler Bülow stellte. Das Zweckbündnis sollte als »Bülow-​ Block« in die Geschichte eingehen. Nach 1906 befürchteten Katholiken und Zentrumspolitiker einen neuen Kulturkampf.246 Die Befürchtungen der Katholiken waren nicht ohne Grund: In kulturkämpferischer Manier warfen konservative und liberale Protestanten dem katholischen Zentrum Vaterlandsverrat vor und verbreiteten das Gerücht, dass sich katholische Missionare in den Kolonien immer wieder auf die Seite der Einheimischen geschlagen hätten.247 Ihre Loyalität gelte, so der Vorwurf, mehr dem Papst als der deutschen Nation. In Zeiten eines wiederaufflammenden Kulturkampfes knüpfte der Monistenbund gezielt an die Rhetorik der liberalen Ära an, die Katholiken zu inneren Feinden des Deutschen Reichs erklärte. Kampf- und Lichtmetaphorik Wie in der Einleitung bereits erwähnt, gehörte die Annahme eines genuin konflikthaften Verhältnisses von Religion und Wissenschaft seit den Werken von John William Draper und Andrew Dickson White zum historischen Kanon des 19. und 20. Jahrhunderts. Draper machte in seinem Werk History of the Conflict between Religion and Science (1874) unmissverständlich deutlich, dass es ihm nicht um eine Generalabrechnung mit dem Christentum, sondern um eine dezidierte Papst- und Katholizismuskritik ging. Draper fasste die Macht des Papstes in das Bild einer despotischen Willkürherrschaft: He [the Pope, C.L] had exercised an autocratic tyranny over the intellect of Europe for more than a thousand years; and, though on some occasions he had encountered the resistances of disobedient princes, these, in the aggregate, were of so little moment, that the physical, the political power of the continent may be affirmed to have been at his disposal.248

245 Es gibt verschiedene Theorien über die Herkunft des rassistischen Ausdrucks »Hottentotten«. Der Begriff geht vermutlich auf die Niederländer (Buren) zurück, die seit dem 17. Jahrhundert Südafrika und Namibia besiedelten. Eine Theorie besagt, dass die Bezeichnung aus dem niederländischen Ausdruck für »Stotterer« hervorging, da die Siedler die Klicklaute der Khoisan-Sprachen als Stammeln empfanden. Einer anderen Theorie zufolge wurde das Wort bei rituellen Gesängen und Tänzen südafrikanischer Völker (Khoisan) ausgerufen. Zur Etymologie des Wortes, vgl. Nienaber, Gabriel S.: The Origin of the Name ›Hottentot‹. In: African Studies 22/2 (1963), 65–90. 246 Borutta: Antikatholizismus, 116; Becker: Hottentotten-Wahlen, 183. 247 Becker: Hottentotten-Wahlen, 183. 248 Draper: History of the Conflict, 284.

146  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität Der antikatholische Grundtenor der Konfliktthese von Draper und White fand auch in der monistischen Presse Widerhall.249 Denn die Vorstellung eines intrinsischen Konflikts zwischen Christentum und Wissenschaft prägte nicht nur das historische Bewusstsein der Monismusbewegung, sondern diente zugleich auch der Infragestellung von Religion. In einem Jubiläumsband des Monistenbundes zu Ehren Ernst ­Haeckels aus dem Jahr 1914 nahm man explizit Bezug auf Whites History of the Warfare of Science with Theology (1896). White habe in »streng historischer und dokumentarischer Weise« bewiesen, daß die Theologie in der Tat von der Entstehung des Christentums an bis auf den heutigen Tag so ziemlich jeden Fortschritt des Forschens und Denkens, ja jeden Versuch dazu, mit Mißtrauen beobachtet, bestritten und bekämpft und die Forscher und Denker selbst beargwöhnt, verdächtigt, beschimpft, leiblich und seelisch gemartert und oft genug zugrunde gerichtet hat.250

In zahlreichen Schriften, Flugblättern und Vorträgen reproduzierten Monisten die Kampfmetaphorik ihrer Vorgänger aus der Kulturkampfzeit: »Der Kampf zwischen Glauben und Wissen in der Gegenwart« lautete etwa der Titel eines Leitartikels von Friedrich Jodl im Monistischen Jahrhundert.251 Dabei changierten die Metaphern von der Vorstellung eines Kreuzzuges, über die eines Militärgefechts oder Glaubenskampfes.252 Die Rhetorik der Monisten war stark polarisiert:253 Auf der einen Seite stand die katholische Kirche als Verfechterin irrationalen Wunderglaubens und auf der anderen Seite die wahrheitssuchende Wissenschaft. Wie noch zu zeigen sein wird, griffen Monisten auf das Bild der neuen Reformation zurück, um ihre Weltanschauung als Siegerin im epistemischen Konflikt zwischen Glauben und Wissen zu inszenieren. Zog Luther einst gegen den Dogmatismus und Ablasshandel der katholischen Kirche zu Felde, werde der Monismus das religiöse Bedürfnis der Menschen vollends überwinden, so die Überzeugung. Vor dem Monistentag in Magdeburg 1912 verfasste der Freidenker Emil Dosenheimer ein Prosagedicht aus sieben Strophen, das an die Magdeburger Hochzeit (1631) während des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648) 249 Vgl. ­Haeckel: Welträtsel, 358: »Wenn man die Werke von Strauß und Feuerbach, sowie die ›Geschichte der Konflikte zwischen Religion und Wissenschaft‹ von John William Draper (1875) gelesen hat, so könnte es überflüssig erscheinen, diesem Gegenstande [der Konflikt zwischen Religion und Christentum, C. L.] hier ein besonderes Kapitel zu widmen.« 250 Schmidt: Was wir Ernst ­Haeckel verdanken. Bd. 1, 24. Hervorhebung im Original. 251 Jodl, Friedrich: Der Kampf zwischen Wissen und Glauben in der Gegenwart. In: DMJ 1, Nr. 3 (1912), 81–89. 252 Vgl. die monistische Flugschrift: Dorsch, Hanna / Dodel, Arnold: Eine neue Reformation. Vom Christentum zum Monismus. Brackwede 1907. 253 Andreas Daum hat diese polarisierte Rhetorik im Kontext der ­Haeckel-​Virchow-Kontroverse untersucht, vgl. Wissenschaftspopularisierung, 76–83.

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erinnerte. Die Magdeburger Hochzeit stand für die Belagerung und Verwüstung Magdeburgs durch den Feldherrn Johann von Tilly (1559–1632) am 20. Mai 1631, der die Armee des römisch-deutschen Kaisers und der katholischen Liga anführte. Magdeburg hatte sich um 1600 zur protestantischen Trutzburg gegen die Rekatholisierung entwickelt. Die Magdeburger Hochzeit zählte zu den größten Gewalteskalationen des Dreißigjährigen Krieges: Rund 20.000 der 32.000 Einwohner Magdeburgs fielen der Belagerung zum Opfer. An dieses Schlüsselereignis anknüpfend richtete Dosenheimer folgenden Appell an die Leser: Nach Magdeburg! So ist die Losung heuer. In Magdeburg, wo einst der fromme Glaube Die blut’gen Opfer seinem Gotte brachte, Soll die Vernunft, die reine Wissenschaft, Die Menschen, Völker friedlich fest verbinden, Ihr Banner hoch entfalten, soll aufs neu Verkündet werden, was wir wollen.254

Bewusst konstruierte Dosenheimer hier eine historische Kontinuitätslinie von der Reformation zur Gegenwart. War Magdeburg einst ein Bollwerk gegen die Rekatholisierung Mitteldeutschlands, so sollte diese Stadt während des Monistentages 1912 zum Zentrum der wissenschaftlichen Weltanschauung werden. Magdeburg stand nun nicht mehr für den Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten, sondern für die Auseinandersetzung zwischen christlicher und wissenschaftlicher Weltanschauung. Gleichzeitig hob das Gedicht im Rückgriff auf die Magdeburger Hochzeit die befriedende Wirkung der Wissenschaft gegenüber dem enormen Konfliktpotential der Religionen hervor. Die Ikonographie der Aufklärung lieferte dem Monismus ein wichtiges Bildinventar. H ­ aeckel, Ostwald und andere Monisten rekurrierten auf die Lichtmetaphorik der Aufklärung, um den zivilisatorischen Auftrag ihrer Bewegung zu unterstreichen, nämlich: die empirisch gesicherte Wahrheit zu verkünden. Bezeichnenderweise bestand das Symbol des Monistenbundes aus der Flamme der Wahrheit, welche die Welt und den Kosmos (symbolisiert durch Sterne) erhellt.255 Die Aufklärung und mit ihr die Hinwendung zum Empirismus zeitigten einen Wandel in der christlichen Lichtmetaphorik: Da die Wahrheit ihre Selbstevidenz verlor, rückte das Lichtsymbol in den »Bereich des zu Leistenden«. Die Wahrheit wurde von den Aufklärern nicht mehr als eine Qualität betrachtet, die sich messianisch durchsetzt  – im Gegenteil: Sie musste mithilfe der Wis 254 Dosenheimer, Emil: Magdeburg. Ein Prolog zur Hauptversammlung. In: DMJ 1, Nr. 11 (1912), 368–371. 255 Das Symbol der Flamme zierte auch das Deckblatt einer anderen monistischen Zeitschrift, der Neuen Weltanschauung, herausgegeben vom einstigen Bundesmitglied Wilhelm Breitenbach (1856–1937).

148  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität senschaft (im wahrsten Sinne des Wortes) ans Licht befördert werden.256 Die Monismusbewegung bediente sich dieser Deutungstradition, indem sie sich als Wahrheitsbringerin gerierte. Das kollektive Bedürfnis »nach dem strahlenden Lichte der Wissenschaft ist in unserer Zeit in immer breiteren und breiteren Massen aufgetreten, welche alle nicht mehr in den alten engen Verhältnissen existieren wollen, sondern nach Luft und Licht streben«, verkündete Ostwald in einer Sonntagspredigt.257 Zugleich rekurrierten Monisten auf spezifische Erinnerungsorte, die sich im Kontext des Narrativs ›Religion versus Wissenschaft‹ etablierten. Der italienische Priester und Philosoph Giordano Bruno (1548–1600) eignete sich in besonderem Maße als symbolischer Säulenheiliger der monistischen Bewegung, wurde er doch aufgrund seines Pantheismus im Jahr 1600 von der römischen Inquisition als Ketzer verurteilt.258 Es verwundert somit kaum, dass die erste, im Jahr 1900 gegründete monistische Vereinigung den Namen Giordano-Bruno-Bund trug. In dem Gedicht »Giordano Bruno« (1912), veröffentlicht von Friedrich Sundermann, einem »Pionier der deutschen Monismusbewegung«, erschien der italienische Philosoph als Künder des Lichts und der Wahrheit.259 Als Leitmotiv griff Sundermann auch hier den Kontrast von Licht und Dunkelheit auf: Du großer Geist, der du, dein Haupt zu bergen Durch alle Lande flohst, verfolgt von Schergen Du warst es, der da grub der Wahrheit Bronnen, Der uns umgab mit hellem Schein der Sonnen. Es brütete Scholastik in den Särgen, Es kroch im Dunkeln ein Geschlecht von Zwergen, Vor deinem Lichte ist die Nacht zerronnen, Durch dich ist recht der Freiheit Tag begonnen. […]260

Monisten präsentierten sich als Fortführer einer historischen Ahnengalerie, die von Giordano Bruno, über Baruch Spinoza und Goethe, bis Charles Darwin reichte. Dadurch unterstrichen sie die historische und kulturelle Tragweite ihrer 256 Blumenberg, Hans: Ästhetische und metaphorologische Schriften. Frankfurt am Main 2001, 168. 257 Ostwald: Jatho II, 144. 258 Nachdem Giordano Bruno in seiner 1584 veröffentlichten Schrift De l’infinito, universo e mondi die Unendlichkeit des Universums postuliert hatte, wurde er von der katholischen Kirche als Ketzer verurteilt. Brunos Thesen widersprachen nicht nur einem geozentrischen Weltbild; auch die von ihm behauptete pantheistische Vorstellung eines ewigen und unendlichen Weltalls ließ keinen Raum mehr für Jenseitsbezüge bzw. eine göttliche Schöpfung. Am 16. Februar 1600 entschied das weltliche Gericht des Gouvernements in Rom, Giordano Bruno auf dem Scheiterhaufen des Campo de Fiori verbrennen zu lassen. 259 Hansel (Hg.): Rudolf Goldscheid und Wilhelm Ostwald, 25. 260 Sundermann, Friedrich: Giordano Bruno. In: DMJ 1 (1912), 26.

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Abbildung 12: Karikatur zu Ernst ­Haeckel aus den Lustigen Blättern (1907): »­Haeckel, der Führer des Modernismus: Herr, wohin gehst du? Giordano Bruno: Nach Rom, es ist Zeit, mich wieder einmal verbrennen zu lassen!«.

Weltanschauung: Der Monismus sollte als eine emanzipatorische Bewegung erscheinen, deren Weg von Märtyrern geebnet wurde. Wie rezeptionssteuernd diese genealogische Selbstverortung der Monisten war, bezeugt eine Karikatur mit dem Titel »Quo vadis?«, die in dem Satireheft Lustige Blätter am 29. Oktober 1907 erschien. Auf dem Bild erkennt man ein Gespräch zwischen Ernst H ­ aeckel und Giordano Bruno auf dem Petersplatz in Rom. Im Hintergrund bereiten Priester und Kardinäle bereits das Feuer für die Verbrennung des Häretikers vor. Auf die Frage H ­ aeckels, wohin Bruno denn ginge, erwidert dieser: »Nach Rom, es ist Zeit, mich wieder einmal verbrennen zu lassen!«261 Der Titel »Quo vadis« verweist auf eine biblische Legende, der zufolge Apostel Petrus auf der Via Appia im Süden Roms Christus begegnete. Auf die Frage des Apostels »Herr, wohin gehst du?« (Domine, quo vadis?) antwortete Christus, er sei auf dem Weg, sich noch einmal kreuzigen zu lassen. Daraufhin beschloss Petrus umzukehren und seine Flucht aus Rom abzubrechen. Diese Entscheidung führte letztlich zur Verurteilung und Kreuzigung von Petrus. Der Barockmaler

261 Quo vadis? In: Lustige Blätter 22, Nr. 44 (29.10.1907), 10.

150  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität Annibale Carracci (1560–1609) setzte dieser Legende unter dem Titel »Domine quo vadis?« ein bildliches Denkmal. In Anlehnung an diese Legende stilisierte der Karikaturist Giordano Bruno als Christus und damit als Religionsstifter; ­Haeckel wiederum erschien in Gestalt des Petrus, der seinem Herrn folgte. Die in der Karikatur gewählte Analogie wird verständlich, wenn man die kirchenpolitischen Ereignisse des Jahres 1907 berücksichtigt: Am 8. September 1907 (anderthalb Monate vor dem Erscheinen der Karikatur) veröffentlichte Papst Pius X. seine Enzyklika Pascendi, die den Modernismus in der Theologie, Philosophie und Wissenschaft scharf verurteilte. Die Karikatur kann also als eine gezielte Provokation an den Vatikan gelesen werden, zumal H ­ aeckel als »Führer des Modernismus« ausgewiesen wird. In den Augen von Liberalen und Freidenkern führte Papst Pius X. den reaktionären Kurs Pius IX . fort. Bemerkenswert ist, dass H ­ aeckels Monismus hier dazu diente, den Konflikt zwischen Moderne und Ultramontanismus satirisch zu verarbeiten. Dieses Kapitel hat gezeigt, dass sich die Religionskritik im Monismus in einer dezidierten Papst- und Katholizismuskritik äußerte. Der Katholizismus verkörperte jene Aspekte, die Monisten der Religion im Allgemeinen vorwarfen, nämlich Unwissenschaftlichkeit, Dogmatismus und Fortschrittsfeindlichkeit. Der monistische Antikatholizismus umfasste drei Leitaspekte: erstens den Vorwurf der katholischen Herrschsucht, zweitens den Topos der katholischen Fortschrittsfeindlichkeit und drittens den der nationalen Untreue. Ihre Feindbilder entnahmen die Monisten dem antikatholischen Diskurs der Kulturkampfära, der im Kontext des Bülow-Blocks wiederbelebt wurde. Wie wir nun sehen werden, zeichneten Monisten vom Protestantismus ein völlig anderes Bild.

3.

Die Jatho-Affäre: Protestantismus und monistischer Fortschrittsdiskurs

Die Art und Weise, wie Monisten über Religion sprachen, war stark konfessionell geprägt. Ostwalds Beiträge verdeutlichen, dass seine Äußerungen über Religion und sein Verhältnis zum Monismus von einer liberal-protestantischen Perspektive durchdrungen waren: Dieser Perspektive war sowohl ein entschiedener Antikatholizismus zu eigen als auch der Glaube an Wissenschaft und Fortschritt. Am Beispiel der Kontroverse um den Kölner Pfarrer Carl Jatho, der 1911 wegen seiner freigeistig-monistischen Lehre von seinem Amt suspendiert worden war, wird gezeigt, dass monistische Religionsdiskurse von einer protestantischen »Deutungskultur« bestimmt waren.262 In Augen vieler Monisten barg der Protestantismus das Potential, sich im Sinne des Fortschrittsparadigmas von 262 Zur Konfessionalität als Deutungskultur, vgl. Graf: Wiederkehr der Götter, 129–136.

Die Jatho-Affäre  151

seinen religiösen Überresten zu befreien und vollends monistisch zu werden. In diesem Zusammenhang etablierte sich in der monistischen Rhetorik der Topos der »neuen Reformation«: Der Monismus erschien als Weiterführung und Vollendung der Reformation Luthers, indem er den Transzendenzglauben des Christentums überwand. Zugleich veranschaulicht die Rezeption der Jatho-Affäre, wie prekär die Grenzbestimmung zwischen Monismus und Religion und damit die Frage nach monistischer Identität war. Jatho: Gott als Entwicklungsgesetz Das Kaiserreich umfasste insgesamt 27 evangelische Landeskirchen, in denen Lutheraner, Reformierte und Unierte repräsentiert waren.263 Die Verfassungen der Landeskirchen im Kaiserreich entsprachen einem Mischtypus aus konsistorialen (staatlichen) und synodalen Elementen, die aus dem Selbstbestimmungsrecht der Kirchen resultierten.264 Im Kontext von Synoden und Kirchenwahlen hatten sich unterschiedliche Kirchenparteien formiert, die zwischen den Polen der Orthodoxie und des Liberalismus oszillierten: Angefangen von den konfessionellen Lutheranern und der orthodoxen Positiven Union, die als »Hofpredigerpartei« zusammengefasst wurden, über die kulturprotestantische Mittelpartei, bis zu den Liberalen des Protestantenvereins.265 Die »Dreiteilung der Macht« zwischen Landesherrn (als oberstem Bischof), Konsistorien und Synoden führte zu kirchenpolitischen Konflikten.266 Unter Wilhelm II. stand die Bekenntnisfrage im Zentrum kircheninterner Auseinandersetzungen: Wie weit durfte ein Pfarrer oder Theologe vom Apostolischen Glaubensbekenntnis abweichen? Der »Apostolikumsstreit« um den Stuttgarter Pfarrer Christoph Schrempf (1860–1944) im Jahr 1892 stand paradigmatisch für eben jene innerprotestantischen Spannungen. Nachdem sich Schrempf aus persönlichen Gewissensgründen geweigert hatte, das Apostolikum bei der Taufe aufzusagen, enthob man ihn seines Amtes.267

263 Zur evangelischen Kirchenverfassung, vgl. Nipperdey: Religion im Umbruch, 84–92. 264 Nipperdey: Religion im Umbruch, 85. Konsistorien waren staatliche Behörden, in denen das landesherrliche Kirchenregiment ausgeführt wurde, wohingegen Synoden das Verhältnis von Kirchenmitgliedern zur Kirchenleitung regelten. In den Synoden hatten Gemeindemitglieder ein Mitbestimmungsrecht. Die synodale Selbstverwaltung war in Gemeinde-, Kreisund Provinzsynoden untergliedert. 265 Ebd., 88. 266 Ebd., 89. Ein Spezifikum des Kirchenrechts war das landesherrliche Kirchenregiment, demzufolge der Landesherr eines Territoriums (ein König oder Fürst) die Leitung seiner Landeskirche innehatte, die er als oberster Bischof (summus episcopus) ausführte. 267 Müller, Hans Martin: Persönliches Glaubenszeugnis und das Bekenntnis der Kirche. »Der Fall Schrempf«. In: Graf, Friedrich Wilhelm / Müller, Hans Martin (Hg.): Der deutsche Protestantismus um 1900. Gütersloh 1996, 223–237.

152  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität Rund zwanzig Jahre nach dem Fall Schrempf löste die Affäre um den Kölner Pfarrer Carl Jatho (1851–1913) weitreichende kirchen- und religionspolitische Debatten aus. Doch was war der Hintergrund? Im Frühjahr 1911 enthob das Preußische Spruchkollegium Jatho von seinem Pfarramt.268 Grundlage der Amtsenthebung war das neue »Irrlehregesetz«, das 1910 von der preußischen Landeskirche verabschiedet worden war. Seit 1891 wirkte Jatho als Pfarrer in der Kölner Christuskirche, deren Gemeindemitglieder größten Teils aus dem rheinischen, liberal-protestantischen Bürgertum stammten.269 In seiner Kölner Gemeinde äußerst populär, nutzte Jatho nach 1900 verschiedene Kanäle, um seine Vorträge und Predigten zu verbreiten: Seit 1905 hielt er Vorträge im Verein für evangelische Freiheit zu Cöln und seit 1906 publizierte er seine Predigten in seinem eigenen Organ, den Evangelischen Gemeindenachrichten aus Cöln (auch als »Grüne Blätter« bekannt).270 Der schon erwähnte Jenaer Kulturverleger Eugen Diederichs gehörte zu den eifrigsten Förderern Jathos und veröffentlichte seine Predigten in Buchform.271 Während der Kölner Pfarrer in der Lokalpresse als Begründer einer neuen Religion gepriesen wurde, verfolgten ihn die kirchlichen Behörden mit Misstrauen.272 Jathos subjektivistische Frömmigkeitslehre kombinierte Elemente der romantischen Naturmystik mit idealistischen, pantheistischen und monistischen Bezügen.273 Seine Theologie war durchzogen vom Entwicklungsparadigma: Die christliche Religion, so Jatho, »sei eine geschichtliche Größe und darum entwicklungsbedürftig und entwicklungsfähig.« Wer ihr Prediger bleiben wolle, müsse »beides in sich selbst erleben und immer wieder erleben! Entwicklungsbedürftigkeit und Entwicklungsfähigkeit.«274 Außerdem brach Jatho radikal mit der christlichen Erlösungslehre und Eschatologie. Sein Konzept der »Selbsterlösung des Menschen«, das stark von Nietzsches Denken beeinflusst war, lehnte den christliche Erlösungsgedanken ab und ließ keinen Raum mehr für Jenseitsbezü 268 Der 1851 in Kassel als Pfarrerssohn geborene Carl Jatho studierte nach seinem Einsatz im Deutsch-Französischen Krieg evangelische Theologie in Marburg und Leipzig. Nach Stationen als Religionslehrer in Aachen (1875–1876) und Gemeindepfarrer in Bukarest (1876–1884) sowie Boppard am Rhein (1884–1891) leitete Jatho seit 1891 die Christuskirche in der Kölner Altstadt. 269 Schneider, Thomas Martin: Der Fall Jatho – Opfer oder Irrlehrer? In: Kerygma und Dogma 54/2 (2008), 78–97, hier 82; Hübinger, Gangolf: Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland. Tübingen 1994, 188 f. 270 Schneider: Der Fall Jatho, 83. 271 Jatho, Carl: Zur Freiheit seid ihr berufen. Die sechzehn Saalpredigten. Jena 1913; Ders.: Der ewig kommende Gott. Jena 1913. 272 Ein Fall Jatho? In: Kölnische Zeitung (23.6.1905). 273 Schneider: Der Fall Jatho, 84. 274 »Erwiderung des Pfarrers Jatho an den Evangelischen Oberkirchenrat«. In: Huber, Ernst R. / Huber, Wolfgang (Hg.): Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts. Bd. III. Göttingen 1983, 771.

Die Jatho-Affäre  153

ge.275 Bei der Kirchenleitung erregte Jatho vor allem Anstoß mit seiner eigenen Christologie, denn er betrachtete Christus als »Idee«, die sich in jedem Menschen reproduzierte.276 Für ihn war Christus weder im trinitarischen Sinne ein Teil der Dreifaltigkeit noch eine historische Person, sondern »die Idee des Genius der Menschheit«, wie er 1911 konstatierte.277 Jatho nahm eine Identität von Gott und dem Universum an, die er als »Immanenz Gottes in der Welt« bezeichnete.278 In einem öffentlichen Brief an den Theologen Adolf von Harnack explizierte Jatho sein Gottes- und Christusbild wie folgt: Hand aufs Herz, verehrter Herr Professor [Harnack, C. L.]: Wer sind Sie, wer sind die dreizehn Herren des Spruchkollegiums, daß einer sich unterfangen dürfte, zu sagen: Jatho’s Gott ist kein Gott? Was bedeuten gegenüber der allumfassenden und alles durchdringenden Lebensfülle der Gottheit Formeln, wie die von Ihnen angeführten? Und wenn nun doch Gott das Naturgesetz, doch der Geist der Weltentwicklung wäre? Wollen Sie es beweisen, daß er’s nicht ist? Wollen Sie einem Prediger die christliche Kanzel versagen, der Gott gerade in dieser und ähnlicher Vorstellungsformen als die ewige Kraft der Erlösung, Heiligung und Beteiligung erfährt? […] Nein, verehrter Herr Professor, wir Zweifler, Sie und ich, die wir an die alte Christologie nicht mehr glauben, wir dürfen nicht mehr versuchen, über Gott etwas objektiv Gültiges auszusagen. Wir dürfen auch keinen Prediger mehr von der Kanzel stoßen, der Gott wirklich erlebt. Für Sie und mich gibt’s keinen anderen Gott mehr als den persönlich erfahrenen.279

Den endgültigen Bruch mit dem Obersten Kirchenrat vollzog Jatho mit seiner Konfirmationspraxis, da er bei der Konfirmation sein eigenes Gelübde anstelle des Apostolischen Glaubensbekenntnisses vortragen ließ.280 Die weite Rezeption der Affäre war der Tatsache geschuldet, dass Jatho der erste Angeklagte nach dem neuen »Irrlehregesetz« war. Im März 1910 war von der altpreußischen Landeskirche das Kirchengesetz, betreffend das Verfahren bei Beanstandung der Lehre von Geistlichen (kurz: »Irrlehregesetz«) verabschiedet worden.281 Im Gegensatz zu den bisherigen disziplinarrechtlichen Regelungen bei Lehrbeanstandungen sah die Gesetzesnovelle nun ein Anhörungsverfahren durch eine Spruchkammer vor.282 Nachdem Jatho bereits Anfang Januar 1911 aufgefordert worden war, sich zu fünf Fragen des Evangelischen Oberkirchenrats (EOK) bezüglich seiner Lehre zu äußern, wurde am 27. März desselben Jahres 275 Jacobs, Manfred: Art. Jatho, Carl Wilhelm. In: TRE 16 (1987), 545–548, hier 547. 276 Ebd., 547. 277 Zit. n. Schneider: Der Fall Jatho, 84. 278 Huber / Huber: Staat und Kirche. Bd. III, 767. 279 Jatho an Harnack, Köln, 30. Juli 1911. St BPK , Slg. Darmst., NL Harnack, K. 24: Fall Jatho. Mehr zur Korrespondenz, vgl. Rade, Martin (Hg.): Jatho und Harnack. Ihr Briefwechsel. Tübingen 1911. 280 Jathos Text hieß: »Mein Bekenntnis und Gelübde am Tage meiner Konfirmation«. 281 Zum Wortlaut des Irrlehregesetzes, vgl. Huber / Huber: Staat und Kirche. Bd. III, 7­ 46–755 (Nr. 331). 282 Schneider: Der Fall Jatho, 83.

154  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität das Lehrzuchtverfahren gegen ihn eröffnet.283 Drei Monate später, am 23. Juni 1911, entschied sich die dreizehnköpfige Spruchkammer mit elf zu zwei Stimmen für eine Amtsenthebung Jathos, weil sich dieser geweigert hatte von seiner Lehrmeinung abzurücken. Die Begründung der Spruchkammer lautete, dass Jathos Stellung zum Bekenntnis der Kirche unvereinbar mit dem evangelischen Pfarramt sei und er sich längst vom Ordinationseid gelöst hätte.284 Das Verfahren gegen Jatho löste eine Reihe öffentlicher Proteste aus, die am 29. Januar 1911 mit einer Großkundgebung im Kölner Gürzenich – gemeinsam mit einer Parallelveranstaltung im Kölner Reichshallentheater – begannen. Das Kölner Bürgertum bekundete hierbei seine Solidarität zu Jatho, indem fast 45.000 Unterschriften für den angeklagten Pfarrer gesammelt und zu einer »Jatho-Spende« in Lokalzeitungen aufgerufen wurde.285 Als zentraler Wortführer im Streit um Jatho trat der Berliner Theologieprofessor und Wissenschaftspolitiker Adolf von Harnack in Erscheinung.286 Harnack versuchte zwischen Liberalismus und Orthodoxie zu vermitteln, denn die Jatho-Affäre verschärfte die Differenzen zwischen dem liberalen Protestantenverein und dem konservativen Lager.287 Obwohl sich Harnack von Jathos Gottes- und Christusbild deutlich distanzierte und die Entscheidung des Spruchkollegiums befürwortete, plädierte er für die Tolerierung einer abweichenden Lehre, sofern diese von der Gemeinde mitgetragen wurde. In diesem Zusammenhang ging Harnack wohl von einer »Selbstevidenz« der biblischen Botschaft aus: Das Wort Gottes werde ungeachtet seiner Verunglimpfung durch Irrlehrer letzten Endes die Menschen erreichen, so dessen Ansicht.288 Die Satireblätter reagierten spöttisch auf Harnacks Vermittlungsversuch, indem sie den Theologen als Seiltänzer oder »Professor Hampelmann« karikierten.289 In der wilhelminischen Öffentlichkeit wurde die Auseinandersetzung um Jatho als Präzedenzfall wahrgenommen: In ihm schien sich der schwelende

283 Die fünf Fragen betrafen: 1. Das Verhältnis Gottes zur Welt, 2. Offenbarung und Christentum, 3. Schuld und Erbsünde, 4. Christologie und 5. Fortdauer des Einzelnen nach dem Tode, vgl. Jacobs: Jatho. In: TRE 16 (1987), 546. 284 Huber / Huber: Staat und Kirche. Bd. III, 772. Jathos Verteidiger waren die Theologen Otto Baumgarten und Gottfried Traub. 285 Vgl. Aktenstücke zum Fall Jatho. Teil V. Köln 1911, 164; Kundgebungen für Jatho. In: Kölner Stadt-Anzeiger. Abendausgabe, Nr. 48 (30.1.1911). Die »Jatho-Spende« sollte den Lebensunterhalt des Amtsenthobenen sichern, obschon ihm vom Oberkirchenrat eine Pension zugesichert wurde. 286 Professor Harnack über Spruchkollegium und Fall Jatho. In: Tägliche Rundschau 31, Nr. 348 (27.7.1911). 287 Walser Smith: German Nationalism and Religious Conflict, 160. 288 Vgl. Schneider: Der Fall Jatho, 90. 289 Vanselow, Maximilian: Professor-Hampelmann. In: Der wahre Jakob 19, Nr. 665 (12.9.1911), 7205; Harnack–Jatho. In: Kladderadatsch 64, Nr. 33 (13.8.1911), Drittes Beiblatt.

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Konflikt zwischen einer autoritär verstandenen Staatskirche und einer liberalen Volkskirche zu verdichten, für die nicht Bekenntnistreue, sondern individuelle, lebendige Religiosität im Vordergrund stand.290 Mehr noch: Die Causa Jatho galt als »Testfall für bürgerliche und religiöse Freiheit«, wie Manfred Jacobs konstatiert.291 Das breite und parteiübergreifende Presseecho legt ein beredtes Zeugnis davon ab, dass die Jatho-Affäre zu einem regelrechten Medienereignis der Kaiserzeit aufstieg.292 Über den Fall berichteten sowohl rheinische Lokalzeitungen als auch reichsweite Tagesblätter, wie etwa der Der Tag oder die Tägliche Rundschau; hinzu kamen auflagenhohe Zeitungen wie das Berliner Tageblatt, dessen Artikel die bezeichnende Überschrift »Der Irrgeist am Rhein« trug.293 Die Auseinandersetzung um Jatho stieß auch jenseits der Reichsgrenzen auf Resonanz, worauf mehrere Meinungsartikel in der US -amerikanischen Biblical World hindeuten.294 Die Kontroverse um Jatho brachte es 1911 sogar auf die Titelseite des Satireblatts Simplicissimus, wobei man mit provokanten Karikaturen für seine Lehrfreiheit Partei nahm.295 Eine weitere Karikatur von Arthur Krüger (1866‒1926) aus dem Satireblatt Kladderadatsch (1911) stellte Jatho als Verurteilten auf der Guillotine des protestantischen Dogmatismus dar (Abb. 13). Anstelle des Kopfes wurde dem Verurteilten jedoch das Barett, die traditionelle Amtshaube, abgeschlagen. Der Henker erschien in Gestalt eines traditionellen Pfarrers im Talar: »Das Barett wenigstens mußte fallen!«, heißt es in der Bildunterschrift. Der Titel der Karikatur, »Prokrustes-Bett«, verweist auf eine Gestalt aus der griechischen 290 Jacobs: Jatho. In: TRE 16 (1987), 546. Dazu auch Traub, Gottfried: Staatschristentum oder Volkskirche. Ein protestantisches Bekenntnis. Jena 1911. 291 Jacobs: Jatho. In: TRE 16 (1987), 546. 292 Artikel pro Jatho erschienen u. a. im Berliner Tageblatt, der Freisinnigen Zeitung und der Tribüne; kritische Artikel zu Jatho erschienen u. a. in der konservativen Kreuzzeitung, dem Reichsboten, der Staatsbürgerzeitung und den Leipziger Neuesten Nachrichten. Zum Presseecho auf die Jatho-Affäre, vgl. Dietrich, J.: Der Fall Jatho. Aktenstücke und Beurteilungen. Berlin 1911; Rhoden, Gustav v.: Der Kölner Kirchenstreit. Pfarrer Jathos Amtsentsetzung im Lichte der öffentlichen Meinung. Nach den Quellen zusammengestellt. Berlin 1911. Weitere teils kritische, teils zustimmende Reaktionen auf den Fall Jatho finden sich bei: Bonus, Arthur: Wider die Irrlehre des Oberkirchenrats. Jena 1911; Foerster, Erich / Kübel, Johannes / Zurhellen, Otto (Hg.): Zur Auseinandersetzung mit Jatho. Frankfurter Vorträge. Frankfurt am Main 1911; Gauger, Joseph: Der Fall Jatho und unsere kirchliche Lage. Elberfeld ²1911; Herbers, Karl G. W.: Zum Fall Jatho. Ein offenes Wort zur Klärung. Duisburg 1911; Klauke, Wilhelm: Jatho’s Verurteilung im Lichte der Wahrheit und Gerechtigkeit. Frankfurt am Main 1911; Zurhellen, Otto: Jathos Theologie und die religiöse Krisis der Gegenwart. Tübingen 1911. Eine Zusammenstellung des Pressechos befindet sich im Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland, Düsseldorf, Sammlung Pfarrer Carl Jatho 8SL 025. 293 Der Irrgeist am Rhein. Ein Besuch beim Pfarrer Jatho in Köln. In: Berliner Tageblatt (30.1.1911). 294 Biblical World 41, Nr. 6 (Juni 1913), 413; Biblical World 38, Nr. 6 (Dezember 1911), 420–423. 295 Simplicissimus 16, Nr. 3 (17.4.1911); Simplicissimus 16, Nr. 16 (17.7.1911), 283–284.

156  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität

Abbildung 13: Karikatur zur Jatho-Affäre aus dem Kladderadatsch (1911): »Das Barett wenigstens mußte fallen!«.

Mythologie: Prokrustes, Sohn des Poseidon, war ein Bösewicht, der Reisenden ein Bett zum Verweilen anbot. In manchen Sagen wird berichtet, dass Prokrustes Wanderer dazu zwang, sich auf sein Bett zu legen. Waren die Gliedmaßen seiner Gäste zu lang für die Maße des Bettes, so wurden diese kurzerhand von Prokrustes abgeschlagen. Vor diesem Hintergrund sollte Jatho als jener Gast erscheinen, dessen Lehre die eng gesteckten Grenzen des Dogmatismus sprengte. Er konnte nur mit den gewaltsamen Mitteln der Orthodoxie bezwungen werden.296 Redensartlich standen »Prokrustesbetten« für vorgefertigte Meinungen oder Stereotype, in die Menschen hineingezwängt wurden. Besonders in freidenkerischen Kreisen wurde Jatho als »Märtyrer« der geistigen Freiheit gepriesen.297 Das Freie Wort gab in seinem Leitartikel »Ecclesia triumphans?« eine düstere Prognose für die evangelische Landeskirche ab: Sie habe sich in eine staatlich privilegierte, dogmatische »Sektenkirche« nach römischem Vorbild verwandelt, hieß es.298 Dieser Vorstellung folgend präsentierte 296 Krüger, Arthur: Das Prokrustes-Bett. In: Kladderadatsch 64, N. 28 (9.7.1911), Drittes Beiblatt. 297 Vgl. Die Zukunft 76 (1911), 111. 298 Ecclesia triumphans. In: Das Freie Wort 11, Nr. 8 (1910), 281–283, hier 283.

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eine Karikatur aus dem Kladderadatsch (9. Juli 1911) Jatho als Angeklagten vor der Inquisition. Mit finsterer Miene beschließen die Ankläger, Jatho einen Maulkorb anzulegen. Chronos, der griechische Gott der Zeit, betritt in der Karikatur den Gerichtssaal und stellt ernüchtert fest, dass er vierhundert Jahre umsonst gereist sei, denn offensichtlich hatte sich in der Kirche nichts verändert (vgl. Abb. 24).299 Obwohl die Forschung das lang vorherrschende Bild Jathos als Opfer und Märtyrer revidiert hat, traf die Affäre um den Kölner Pfarrer ins Herz zeitgenössischer Debatten um Glaubensfreiheit und religiöse Pluralisierung.300 In dem Prozess kulminierte der schwelende Konflikt zwischen einer liberal verstandenen Volks- und staatsnahen Bekenntniskirche. Einige Freidenker stellten sich hinter die Entscheidung der Spruchkammer, da die evangelische Landeskirche ihre Pastoren zum Apostolikum verpflichten müsse, um weiterhin als Bekenntniskirche bestehen zu können. Aus diesem Befund leiteten sie jedoch die Forderung ab, dass Jatho in letzter Konsequenz aus der Kirche austreten müsse.301 Geschickt nutzten sie die Jatho-Affäre als weiteres Argument für ihre antiklerikalen Ziele und besonders für den Kirchenaustritt.302 Monismus als neue Reformation Obwohl sich Carl Jatho öffentlich und gegenüber dem Oberkirchenrat vom Monismus distanzierte, erklärten Monisten den verurteilten Pfarrer zu den Ihrigen.303 Denn Jatho war mit seiner Annahme, dass sich Gott in der Evolution manifestierte, nicht weit von H ­ aeckels Substanzmonismus entfernt (vgl. Kap. I.3). ­Haeckel sprach in seiner monistischen Philosophie ebenfalls von »Gott-Natur« und attestierte der unbelebten Materie, wie den Kristallen, eine eigene Seele.304 Eine direkte Verbindung zwischen dem Fall Jatho und der Monismusbewegung zog der evangelische Theologe und Sozialdemokrat Paul Göhre (1864–1928) 299 Im zwanzigsten Jahrhundert (Zur Jatho-Affäre). In: Kladderadatsch 64, Nr. 28 (9.7.1911), Erstes Beiblatt. 300 Thomas M. Schneider bot eine alternative Lesart Jathos an, die sich bewusst vom Opfernarrativ distanzierte. Vgl. Ders.: Der Fall Jatho. 301 Friedrichs, Max: Evangelische Kirche und evangelische Religion. Oder: Was lehrt der Fall Jatho? In: Ethische Kultur (1911), 106–107. 302 Was Jathos Status als Monist anbelangte, war die Rezeption kontrovers: Während monistische und freigeistige Kreise Jatho zu ihres Gleichen zählten, insistierten die Mitglieder der Kölner Jatho-Gemeinde gegenüber dem Oberkirchenrat darauf, dass dessen Lehre ein Fußfassen der monistischen Bewegung in Köln geradezu verhindert habe. Vgl. Neuber, Paul: Aktenstücke im Fall Jatho. Bd. 1. Berlin 1911, xii. 303 Zu Jathos Distanzierung vom Monistenbund, vgl. Kuttner, Siegfried: Als die Welt nach Köln schaute. Ein Carl-Jatho-Lesebuch. Köln 2003, 153; Steudel, Friedrich: Zum Fall Jatho. In: Das freie Wort 11, Nr. 9 (1911), 334. 304 ­Haeckel: Gott-Natur (Theophysis); Ders.: Kristallseelen.

158  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität in den Sozialistischen Monatsheften von 1911: »Möglich, daß der Fall Jatho auf die sogenannten monistisch gerichteten Gruppen des gebildeten Bürgertums eine tiefe und dauernde, für die Kirchen selbst gefährlichere Wirkung haben kann.«305 Eine mögliche Konsequenz aus der Jatho-Affäre, folgerte Göhre, sei die Stärkung der Kirchenaustrittsbewegung innerhalb des Monistenbundes gegenüber jener Richtung, die versucht habe, monistische Prinzipien mit der evangelischen Theologie zu verbinden.306 Monisten und andere Freidenker interpretierten den Prozess um Jatho als Anzeichen für eine »Katholisierung« des Protestantismus: »Hier haben wir das leibhaftige Pendant zum Modernisteneid auf protestantischer Seite vor uns«, schrieb Alexis Schmidt 1911 im Monistischen Jahrhundert.307 Auch Paul Göhre zog 1911 ein nüchternes Urteil über den Kurswechsel der evangelischen Kirche, der sich im Jatho-Prozess abzeichnete. Die protestantische Kirche sei seit geraumer Zeit »in einer Art Katholisierungsprozeß« begriffen. »Je älter eine geistige Bewegung wird, desto mehr verhärtet sie, desto unveränderter konserviert sie ihre geistigen Grundlagen und Prinzipien, desto planmäßiger und starrer baut sie ihre Organisation auf und aus.« Die katholische Kirche sei ein paradigmatischer Fall für diesen Prozess, so Göhre, denn bei ihr sei »Organisation alles, selbstständiges geistiges Leben nichts«.308 Und schließlich warnte Otto Lehmann-Rußbüldt, der die Kirchenaustrittsbewegung im späten Kaiserreich anführte, in einem Aufruf vor der »Katholisierung der evangelischen Landeskirche«.309 Die Jatho-Affäre traf vor allem ins Mark monistischer Identitätsdebatten: Sollte sich der Monismus als religiöse oder atheistische, rein wissenschaftliche Bewegung definieren? Folglich nahm der Fall eine prominente Stellung in der monistischen Presse ein: Neben mehreren Artikeln in der Vereinszeitschrift des DMB widmete Ostwald gleich zwei Monistische Sonntagspredigten der Jatho-Affäre. Obwohl Ostwald den Monistenbund als eine dezidiert antiklerikale und antireligiöse Bewegung verstand, deutete er die Lehre des Kölner Pfarrers nicht als eine Verunglimpfung monistischer Inhalte – ganz im Gegenteil: Er vereinnahmte Jatho für ein monistisches Erfolgsnarrativ. In seiner ersten Jatho-Predigt interpretierte Ostwald die Lehre des Kölner Pfarrers als Fanal einer zweiten, alles erneuernden Reformation. Um die histori-

305 Göhre, Paul: Die Bedeutung des Falls Jatho. In: Sozialistische Monatshefte (27.7.1911), 942. 306 Maurenbrecher, Max: Jatho. Dürfen wir monistische Frömmigkeit in christliche Hüllen verschleiern? München 1911. 307 Schmidt, Alexis: Zwei Monisten auf der Kanzel. In: Monismus 6 (1911) Nr. 60, 263–266, hier 263. 308 Göhre, Paul: Die Bedeutung des Falles Jatho. In: Sozialistische Monatshefte (27.7.1911), 939. 309 Vgl. Aufruf Otto Lehmann-Rußbüldt [Abschrift, ca. 1910]. EHH, NL ­Haeckel.

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sche Tragweite des Falls Jatho zu unterstreichen, zog Ostwald eine Parallele zum Thesenanschlag Luthers im Jahr 1517: Unter den zeitgeschichtlichen Ereignissen ist dies eines der wichtigsten. Es wird voraussichtlich sich als vergleichbar mit jenem Ereignis erweisen, von welchem man gewöhnlich das Auftreten der kirchlichen Reformation Luthers datiert, mit dem Anschlag der 95 Thesen an die Schloßkirche zu Wittenberg. Und von diesem Sonnenwendtage des Jahres 1911, wird auch eine große und weittragende Wendung in dem kirchlichen und religiösen Leben der Deutschen zu rechnen sein.310

Nachdem Luther mit seinen 95 Thesen eine Umwälzung in der römisch-katholischen Kirche angestoßen hatte, werde Jatho den Protestantismus von innen heraus erneuern und an die kulturellen Bedürfnisse der Gegenwart anpassen, so Ostwald. Der Grundkonflikt, der sich in der Amtsenthebung Jathos abzeichne, war ihm zufolge der Gegensatz zwischen Stagnation und Entwicklung, zwischen dem Offenbarungsglauben der kirchlichen Orthodoxie und dem Modernisierungsstreben der Liberalen. Vor allem aber fand Ostwald im Fall Jatho ein Indiz dafür, dass sich der liberale Protestantismus allmählich zu einer wissenschaftlichen Weltanschauung entwickelte: »So führt der Weg, den Christus, Luther, und jetzt Pfarrer Jatho genommen hat, unwiderstehlich auf den Punkt hinaus, auf welchem wir Monisten uns befinden, nämlich auf die wissenschaftliche Weltanschauung, welche die Entwicklung als Grundgesetz alles Lebens anerkennt […]«.311 Ostwald konstruierte in seiner Predigt also eine Entwicklungsteleologie, die im Monismus – verstanden als höchste Kulturstufe – kulminierte. Gleichzeitig rekurrierte Ostwald auf den Topos der »neuen Reformation«, der in der Monismusbewegung weit verbreitet war.312 Im Jahr 1907 und erneut 1919 gab die Monistin Hanna Dorsch eine Flugschrift heraus, die den bezeichnenden Titel »Eine neue Reformation« trug.313 In ihrer Abhandlung verurteilte sie die Tendenz der liberalen Theologie, den »Geistesmenschen Jesus« als höchstes 310 Ostwald: Jatho I. In: MSP I, 113. 311 Ebd., 120. Hervorhebung im Original. 312 In einigen monistischen Quellen war von der »zweiten Reformation« die Rede. Die »zweite Reformation« hat sich in der Kirchengeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts als historiographischer Analysebegriff eingebürgert. Er verweist auf den Übergang lutherischer Kirchen zum Calvinismus, besonders in Mitteldeutschland. Der Begriff der »zweiten Reformation« soll das Selbstverständnis der Reformierten widerspiegeln, die in ihrem Bekenntnis eine Vervollkommnung der Reformation Luthers sahen. In der heutigen Forschung ist dieser Begriff umstritten, da das reformierte Bekenntnis nicht nur als Weiterführung lutherischer Ideen, sondern auch als Reaktion auf die katholische Gegenreformation in den deutschen Territorien zu verstehen ist, vgl. Seebaß, Gottfried: Reformation. In: TRE 28 (1996), 386–404. 313 Dorsch, Hanna / Dodel, Arnold: Eine neue Reformation: Vom Christentum zum Monismus. Brackwede 1907; Dies.: Eine neue Reformation (Monistische Flugschriften, Bd. 3). Leipzig 1919.

160  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität sittliches Ideal zu überhöhen und ihn dadurch zu fetischisieren.314 In der Folge warf sie der liberalen Theologie »Halbheit und Inkonsequenz« vor, da sie zwar die Freiheit predige, weiterhin jedoch in »alten Ideenkreisen« von Dreifaltigkeit und Gottessohnschaft gefangen sei.315 Die Aufgabe der Monisten sei es nun, eine neue Reformation in Gang zu setzen und die Menschheit zu wahrer geistiger Freiheit zu verhelfen: An uns ist es, den Reformationsgedanken in seiner fruchtbarsten Form heute wieder aufzunehmen und ihn in moderner, befreiter Gestalt siegreich durchzuführen. So viele Tausende sind heute rings in allen Landen, deren Seelen reif sind und bereit, Hand anzulegen an dieses neue Werk der Geistesbefreiung.316

Der Topos der neuen Reformation integrierte den Monismus in ein nationales Narrativ, indem er ihn als Vollendung des lutherischen Reformationswerks präsentierte.317 Der Monistische Katechismus von 1908 stellte eine ähnliche Kontinuität von Luthers Reformation zur wissenschaftlichen Weltanschauung her, indem es hieß: Wie damals Luther und seine Mitstreiter für die Befreiung der Menschheit von den Fesseln der katholischen Kirche gekämpft haben, so hat von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an eine Reihe hervorragender Männer ihre Stimme erhoben, um die letzten Reste der vernunftwidrigen kirchlichen Glaubenslehren aus der Welt zu schaffen und dafür eine vernunftgemässe Weltanschauung zu setzen.318

Die Integration des Monismus in ein protestantisch-nationales Narrativ deckte sich mit ­Haeckels Bismarck-Verehrung, die besonders in seinen letzten Lebensjahrzehnten deutlich zutage trat. H ­ aeckel war nicht nur Hauptinitiator des Bismarckfestes 1892 in Jena, wo er Bismarck mit feierlichen Worten zum »Ehrendoktor der Phylogenie« erhob;319 ­Haeckel sah es als eine persönliche Ehre an, dass er einmal von Thomas Huxley als »Bismarck der Biologie« bezeichnet worden 314 Dorsch: Eine neue Reformation, 9 u. 13. 315 Ebd., 8. 316 Ebd., 13. 317 Das Bild einer neuen Reformation griffen auch Vertreter der Kirchenaustrittsbewegung in ihrem Kampf gegen den Ultramontanismus auf. Vgl. Aufruf Otto Lehmann-Rußbüldt, EHH, NL ­Haeckel: »Daher Kampf gegen Rom! Vollendung des Reformationswerkes in seinen weitesten Begriff! Männer der verschiedensten angeborenen Parteien und Konfessionen können darin zusammen gehen, wenn sie die allgemeinen Worte Kultur, Geistesfreiheit, Huma­nität nicht als farblose Begriffe, sondern mit der Intensität einer Leidenschaft leben. Wir sind davon überzeugt, dass in den Reihen der Modernisten und der freien Protestanten die wertvollsten Kulturkämpfer zu finden sind.« 318 Frei: Katechismus der monistischen Weltanschauung, 7. Eine Kontinuität zwischen Luthers Reformation und dem Monismus stellte ­Haeckel schon 1892 her, vgl. Ders.: Monismus als Band, 36. 319 Schmidt (Hg.): Was wir Ernst ­Haeckel verdanken, Bd. 2, 136.

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war.320 Auch in seinen Welträtseln lobte ­Haeckel den Reichskanzler als »politischen Luther« und den Kulturkampf als »Erneuerung der Reformation […], als ein energischer Versuch, die moderne Kultur von dem Joche der papistischen Geistestyrannei zu befreien«.321 Indem Monisten ihre Weltanschauung als neue Reformation präsentierten, unterstrichen sie die kulturelle Tragweite ihrer Bewegung und integrierten den Monismus in ein nationales Narrativ: In ihren Augen sollte der Monismus Luthers Tat vollenden, den Ultramontanismus beseitigen und Deutschland weltanschaulich einen. Fortschritt und Teleologie Ostwalds Jatho-Rezeption lag ein lineares und teleologisches Fortschrittsverständnis zugrunde, das sich am Dreistadiengesetz Auguste Comtes orientierte.322 Ostwald regte im Kaiserreich eine beispiellose Comte-Rezeption an, indem er eine frühe Schrift des französischen Positivisten übersetzte und eine Biographie über denselben verfasste.323 In seiner positivistischen Philosophie erkannte Comte allein empirische Sinnesdaten als gegeben an und wies folglich religiöse oder metaphysische Annahmen als unwahr zurück. Sein Dreistadiengesetz ging davon aus, dass die Menschheit analog zu den Lebensaltern drei Stufen 320 Heilbron, Adolf: Die Laertragödie Ernst ­Haeckels. Auf Grund von unveröffentlichten Briefen und Aufzeichnungen ­Haeckels, sowie der offiziellen Akten. Hamburg, Berlin 1920, 49. Zu ­Haeckels Bismarck-Verehrung, vgl. Müller, Gerhard: Ernst H ­ aeckels Weg zu Bismarck. Zur Vorgeschichte der Jenaer Bismarck-Feier vom 31. Juli 1892. In: Böning, Holger / Hahn, HansWerner / Krünes, Alexander / Schirmer, Uwe (Hg.): Medien ‒ Kommunikation ‒ Öffentlichkeit. Vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Köln, Weimar, Wien 2019, 493‒504. 321 ­Haeckel: Welträtsel, 387. 322 Ähnlich wie die Begriffe Religion und Wissenschaft, so vollzog auch der Fortschrittsbegriff in der Frühen Neuzeit einen semantischen Wandel: Ursprünglich qualifizierte Fortschritt eine subjektive Entwicklung des Menschen zu höherer Weisheit und damit zur inneren Vervollkommnung; erst in der Frühmoderne objektivierte sich Fortschritt zu einer zielgerichteten Höherentwicklung der Menschheit, die auf einer kumulativen Ansammlung von Wissen basierte. Dieser Fortschrittsbegriff ging mit einem neuen Nützlichkeitsideal einher, das die Beherrschung und Nutzbarmachung der Natur durch den Menschen ins Zentrum rückte. Vgl. Harrison: Territories of Science and Religion, 120–124. Zur Begriffsgeschichte von Fortschritt, vgl. Nisbet, Robert: History of the Idea of Progress. New York 1980; Rapp, Friedrich: Fortschritt. Entwicklung und Sinngehalt einer philosophischen Idee. Darmstadt 1992. 323 Comte, Auguste: Plan der wissenschaftlichen Arbeiten, die für eine Reform der Gesellschaft notwendig sind. Deutsch herausgegeben, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Wilhelm Ostwald. Leipzig 1914; Ostwald, Wilhelm: Auguste Comte. Der Mann und sein Werk. Leipzig 1914. Ostwald schien im Kontext seiner Arbeit zu einer neuen Naturphilosophie auf den französischen Positivisten aufmerksam geworden zu sein. Im November 1901 notierte er in sein Tagebuch, er habe das »biogenetische Grundgesetz […] für die geistige Entwicklung ausgesprochen bei A.  Comte, Cours de philosophique positive« gefunden. Vgl. Tagebuch­ eintrag Wilhelm Ostwalds, Leipzig, 3.11.1901. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 5224, Bl. 6.

162  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität der geistigen Entwicklung durchlief: Ein religiöses (kindliches), metaphysisches (jugendliches) und wissenschaftliches (erwachsenes) Zeitalter. Comtes Drei­ stadiengesetz lässt sich als eine stetige Loslösung von menschlicher Subjektivität verstehen – als ein Weg von Anthropomorphismen hin zur wissenschaftlichen Objektivität.324 So antizipierte das theologische Zeitalter bereits das wissenschaftliche: Laut Comte stellte das Wahrsagen der Naturvölker eine primitive Vorstufe der wissenschaftlichen Prognose dar.325 Das theologische Stadium repräsentierte für Comte die »Kinderphase des menschlichen Geistes«, da es alle Phänomene der Welt auf transzendente Wesen projizierte.326 Comte unterteilte dieses Stadium in unterschiedliche Abstufungen der menschlichen Projektion, angefangen vom Fetischismus und Animismus, über den Polytheismus der Antike, bis zum Monotheismus des Christentums. Das theologische Zeitalter korrelierte ihm zufolge mit zwei sozialen Institutionen: Erstens der Priesterschaft, die als geistige und moralische Elite für die gesellschaftliche Integration sorgte, und zweitens der Kriegerkaste, welche für Schutz, Verteidigung und Expansion zuständig war.327 Das zweite, metaphysische Stadium erfüllte laut Comte eine Scharnierfunktion zwischen dem religiösen und wissenschaftlichen Zeitalter. In dieser Phase gewann der Mensch seine Erkenntnis nicht mehr aus theistischen Vorstellungen (Gott), sondern aus philosophischen und abstrakten Ideen, wie dem Vernunftprinzip. Der Anthropomorphismus der Religion wurde in dieser Phase durch Abstrakta ersetzt. Dennoch war auch das metaphysische Zeitalter von der Suche nach letzten Gründen getrieben. Erst im dritten, wissenschaftlichen Zeitalter wich die Suche nach Wahrheit den empirischen Methoden von Versuch und Beobachtung; Wissen beschränkte sich nun auf empirisch gesicherte Tatsachen und Gesetze. Ostwald sah im Fall Jatho Comtes Dreistadiengesetz verwirklicht. So interpretierte er Jathos Theologie als eine Übergangsphase, die sich im Protestantismus abzeichnete: einen Wandel von der religiösen hin zur metaphysischen Phase. Sobald der Protestantismus seine transzendenten Bezüge abgelegt habe, so Ostwald, trete er endlich in das wissenschaftliche Zeitalter ein. Aus dem Dreistadiengesetz zog Ostwald den Schluss, dass jede Zivilisation nach wie vor Überreste einer theologischen und metaphysischen Kulturstufe in sich barg. Eben jene Überreste geißelte er als »geistige Atavismen«.328 »Die Kulturhöhe jeder Zeit wird nämlich nur durch die ausgezeichneten, höchst-

324 Reardon, Bernard M. G.: Auguste Comte and the Religion of Humanity. In: Ders. (Hg.): Religion in the Age of Romanticism. Studies in Early Nineteenth-Century Thought. Cambridge 1985, 207–236, hier 221. 325 Kruse, Volker: Geschichte der Soziologie. Konstanz 2008, 33. 326 Ebd., 33. 327 Kruse: Geschichte der Soziologie, 33. 328 Ostwald: Ist der Monismus staatsgefährlich, 129.

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entwickelten Menschen bestimmt – Die anderen gehören einer großen Anzahl vergangener Kulturschichten zu, die vielleicht um drei bis fünf Jahrhunderte zurückliegen können.«329 Für die Zukunft sagte Ostwald jedoch ein Verschwinden von Kirche und Religion voraus, da der Fortschritt der Wissenschaft unaufhaltsam war und die christlichen Anschauungen mit der modernen Denkweise in immer größerem Widerspruch standen.330 Trotz dieser optimistischen Prognose hielt es Ostwald durchaus für möglich, dass der Monismus erneut durch ein vorübergehendes »Wellental« in der Geistes- und Kulturentwicklung des Menschen abgelöst werde. Hierbei orientierte er sich an Comtes »Wellengesetz der Geschichte«, das die Entwicklung der Kultur als ein beständiges »Auf und Ab« von progressiven und regressiven Tendenzen fasste.331 Bildlich gesprochen entsprach Fortschritt also einer aufsteigenden Schlangenlinie. Um jeder Form von kulturellem Rückschritt entgegenzuwirken, richtete Ostwald den Appell an die Monisten, ein starkes Gegengewicht zu Kirche und Klerus zu bilden.332 Obwohl Ostwald seinen Monismus auf dem Energieerhaltungs- und Entropiesatz aufbaute, konnte die düstere Vision eines »Wärmetodes« seinen Fortschrittsoptimismus nicht trüben. Dachte man den Entropiesatz konsequent zu Ende, so drohte die Welt in ferner Zukunft einem »Wärmetod« zu erliegen, das heißt vollends zu erstarren. Schließlich konnte einmal in Wärme umgewandelte Energie nicht mehr genutzt werden – was mit anderen Worten bedeutete: Die Welt steuerte unvermeidlich auf einen Zustand der völligen Energielosigkeit und Erstarrung zu. Zwar hielt Ostwald den Wärmetod grundsätzlich für möglich, allerdings entsprach das allmähliche Erlöschen der Sonne ihm zufolge einem Prozess von mehreren Millionen von Jahren (zumal die Sonne angeblich hochenergetisches Radium enthielt).333 In der Kenntnis vom Wärmetod sah Ostwald die Möglichkeit, den alten Glauben an eine ewige Menschheit zu demontieren und dem Menschen eine wissenschaftliche Betrachtungsweise des Universums näherzubringen. Für ihn stand der Entropiesatz auf einer Stufe mit der kopernikanischen Wende und Darwins Evolutionstheorie.334 Abgesehen vom Dreistadiengesetz rekurrierte Ostwald in seinen Jatho-Predigten auf den liberalen Fortschrittsdiskurs der Kulturkampfära. Liberale Akteure der Kulturkampfzeit beschworen eine innere Allianz zwischen Protestantismus, Wissenschaft und Bildung und deuteten die Geschichte deterministisch  – als eine auf die Gegenwart zusteuernde Aufstiegsgeschichte des wissenschaftlichen Fortschritts. Der liberale »Denkstil«, wie Dieter Langewiesche betont, zeichnete 329 Ostwald: Jatho I., 120. 330 Ebd., 119. 331 Ostwald: Alt und Jung. In: MSP I, 21. 332 Ostwald: Religion und Monismus, 21. 333 Ostwald: Die sterbende Sonne. In: MSP I, 173 f. 334 Ebd., 176.

164  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität sich durch die »Affinität zu Neuem, Erziehung zur Zukunft, Glaube an den Fortschritt, zu mehr Freiheit, Recht und Vernunft« aus.335 In Anlehnung an den liberalen Fortschrittsdiskurs wertete Ostwald den Protestantismus gegenüber dem Katholizismus als eine entwicklungsfähigere Religion auf. Evident wird seine Parteinahme für die Protestanten in einer anderen Sonntagspredigt zum Wahrheitsbegriff: »So bewegt sich der Protestantismus […] in derselben Linie fort, welche die führende Wissenschaft geht.«336 Die Fortschrittsoffenheit des Protestantismus zeigte sich nach Ostwald auch in der Zurückweisung der biblischen Höllenvorstellung: »Insbesondere die höher entwickelten Gruppen der christlichen Konfessionen, die lutherische und kalvinistisch-reformierte, machen sich mehr und mehr von diesen groben Vorstellungen frei.«337 In einer späteren Schrift über »Religion und Monismus« (1914) zeichnete er ein ähnliches Bild von der geistig-kulturellen Überlegenheit des Protestantismus: Der »moderne Protestantismus« verzichte »mehr oder weniger vollständig auf den Offenbarungscharakter der Bibel, sieht in Christus nur einen Menschen, der allerdings nicht […] als normaler Mensch aufgefaßt wird, sondern als Übermensch, als ein Gipfel, der inzwischen nie von einem anderen Menschen wieder erreicht worden ist«.338 Seine Ausführungen zielten dabei auf die theologischen Kontroversen um den historischen Jesus, in die auch Monisten wie Arthur Drews oder Albert Kalthoff involviert waren (vgl. Kap. II.1).339 Ebenso ergriff H ­ aeckel für den liberalen Protestantismus in seinen Welträtseln Partei, habe er doch im Gegensatz zum Katholizismus versucht, »die unvermeidliche Anerkennung der empirisch bewiesenen Naturgesetze und der daraus gefolgerten philosophischen Schlüsse mit einer geläuterten Religionsform zu verbinden, in der freilich von der eigentlichen Glaubenslehre fast nichts mehr übrig blieb.« Die ultramontanen Katholiken verharrten hingegen »unbeirrt auf ihrem strengen Buchstabenglauben und verlangten die unbedingte Unterwerfung der Vernunft unter das Dogma«.340 Die Tatsache, dass ­Haeckel und Ostwald in ihren Schriften den Protestantismus gegenüber dem Katholizismus aufwerteten, deutet darauf hin, dass der Monismus von einem konfessionellen (in diesem Fall: evangelischen) Selbstverständnis durchdrungen war. So verstanden Monisten ihre Weltanschauung nicht als Gegenentwurf zum Protestantismus, sondern vielmehr als eine rationale Fortführung und Vollendung desselben. Olaf 335 Langewiesche, Dieter: Bildungsbürgertum und Liberalismus im 19. Jahrhundert. In: Kocka, Jürgen (Hg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil IV: Politischer Einfluß und gesellschaftliche Formation. Stuttgart 1989, 95–121, hier 96. 336 Ostwald: Was ist Wahrheit? In: MSP I, 37. 337 Ostwald: Vom Tode II. In: MSP I, 179. 338 Ostwald: Religion und Monismus, 31. 339 Drews und Kalthoff lehnten die Vorstellung eines historischen Jesus ab und sahen in Jesus v. a. ein sich wandelndes Menschheitsideal. 340 ­Haeckel: Welträtsel, 371 f.

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Blaschkes These, dass konfessionelle Traditionen im 19. Jahrhundert als Mittel der kollektiven Identitätsbildung und sozialen Abgrenzung wieder aufflammten, bestätigt sich insofern auch für die Monismusbewegung. Diesen Aspekt hat die Freidenkerforschung bislang vernachlässigt. Indem Ostwald den Monismus innerhalb eines liberal-protestantischen Fortschrittsnarrativs verortete, forcierte er eine bestimmte Rezeption seiner Bewegung: Zum einen präsentierte er den Monismus als Inbegriff kultureller Hegemonie, zum anderen sollte er als Gegenentwurf zu einem primitiven, entwicklungsunfähigen Katholizismus erscheinen. Tatsächlich wahrten jedoch große Teile des protestantischen Bildungsbürgertums Distanz zum Monismus: Untersucht man etwa das Verhältnis liberaler Kulturprotestanten zur Monismusbewegung, so überwiegt der Eindruck von Ablehnung. Die Hauptvertreter des Kultprotestantismus, unter ihnen die Theologen Alois Ritschl, Adolf von Harnack, Martin Rade und Ernst Troeltsch, versuchten in ihrer Lehre zwischen »reformatorischer Tradition« und moderner, aufgeklärter Kultur zu vermitteln.341 Der Kulturprotestantismus war jedoch mehr als eine liberale Strömung innerhalb der evangelischen Theologie: Im weitesten Sinne stand er für jene Wertorientierungen und Kulturideale, die für das protestantische Bildungsbürgertum um 1900 kennzeichnend waren.342 Innerhalb kulturprotestantischer Kreise entwickelte sich der Monismus sogar zum regelrechten »Reizwort«, wie Gangolf Hübinger konstatiert.343 »Maurenbrecher und die religiösen Monisten fühlten sich als die legitimen Erben einer zu Ende gehenden liberal-protestantischen Bürgergesellschaft«, so Hübinger, »während die Kulturprotestanten in dieser säkularreligiösen Bewegung die Pervertierung ihres Versöhnungsglaubens von Religion und Kultur sahen.«344 Obwohl der Monistenpapst Ernst H ­ aeckel selbst aus einer kulturprotestantischen Tradition stammte, schien der ersatzreligiöse Anspruch vieler Monisten mit den liberalen Idealen des Kulturprotestantismus unvereinbar.345 Zwar traten auch Liberale und Kulturprotestanten für eine Trennung von Staat und Kirche ein, dennoch ging ihnen der antiklerikale Kurs der Monisten entschieden zu weit. 341 Laut Friedrich Wilhelm Graf war der Begriff Kulturprotestantismus seit spätestens 1904 geläufig. Er etablierte sich als Richtungsbezeichnung in den theologischen Debatten um die »kulturelle Gestaltungskompetenz« des Christentums im Kontext gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse. Vgl. Ders.: Art. Kulturprotestantismus. In: TRE 20 (1990), 230–243, hier 233. 342 Besonders das Hauptorgan der Kulturprotestanten Die Christliche Welt (gegründet 1886) hatte einen enormen Einfluss auf »Frömmigkeit, Kulturideale und politisches Selbstverständnis von Gruppen des protestantischen Bildungsbürgertums«, vgl. Graf: Art. Kulturprotestantismus, 231. 343 Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik, 284. 344 Ebd., 283. 345 Bernhard Kleeberg führt H ­ aeckels Versöhnungsbestreben von Wissen und Glauben auf seine kulturprotestantische Prägung durch das Elternhaus zurück, vgl. Ders.: Theophysis, 33.

166  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität Für den Großteil der Kulturprotestanten repräsentierte der Monismus genau das, was sie überwinden wollten, nämlich Dogmatismus.346 Deutungskonflikte um Jatho Ein weiterer Monist, der sich in mehreren Vorträgen zum Jatho-Fall äußerte, war Max Maurenbrecher (1874–1930). Maurenbrecher gehörte der Fraktion der freireligiös orientierten Monisten an, die den Monismus zu einer »Diesseitsreligion« erhoben.347 Ausgebildet als evangelischer Theologe entwickelte sich Mauren­ brecher zum führenden Publizisten und Prediger einer freireligiösen, monistisch gefärbten Frömmigkeit, in der die Lehren Nietzsches, Marx’ und des Darwinismus miteinander konvergierten.348 Seine Hinwendung zur freireligiös-monistischen Lehre markierte zugleich den »Bruch« mit dem kulturprotestantischen Milieu seiner Zeit, wie Gangolf Hübinger hervorhebt.349 Vergleicht man die Reaktionen Maurenbrechers und Ostwalds auf den Fall Jatho miteinander, so fällt auf, dass beide die Grenzen zwischen Monismus, Wissenschaft und Religion völlig unterschiedlich zogen. In seinem Münchner Vortrag »Jatho. Dürfen wir monistische Frömmigkeit in christliche Hüllen verschleiern?« (1911) insistierte Maurenbrecher darauf, dass der Monismus eine völlig neue Sprache der Unterweisung, Erbauung und Sinnstiftung – jenseits der tradierten christlichen Symbolsprache – erfordere. Maurenbrecher hielt die Entscheidung des Spruchgerichts für gerechtfertigt, weil Jathos Lehre nichts mehr 346 Zu Monismus und Liberalismus, vgl. Frankfurter Zeitung. Erstes Morgenblatt Jg. 56 (28. Juli 1912), Nr. 207. 347 Der Begriff »Diesseitsreligion« tauchte mehrmals im Verlagsprogramm von Eugen Diederichs auf, der im lebensreformerischen und freidenkerischen Milieu der Jahrhundertwende tief verwurzelt war. Diederichs definierte »Diesseitsreligion« wie folgt: »Das Selbstverantwortungsgefühl wird im Glauben an ewige Werte zu einer klar umrissenen Diesseitsreligion führen. Diesseitsreligion heißt nicht in Diesseits-Behaglichkeit steckenbleiben, sondern klar fühlen: das menschliche Ich wurzelt zwar im Diesseits, aber der menschliche Wille wächst in kosmische Weiten und erlebt Gott in dem Leben für die Idee. Diesseitsreligion ist das Ideal der civitas dei.« Diederichs, Eugen: Aus meinem Leben. Jena 1938, 70 f. Weitere Bezüge zur Diesseitsreligion finden sich bei: Ferguson, Charles: Diesseits-Religion. Denkschrift über die Prinzipien der Moderne. Jena 1903; Diederichs, Eugen: Vom deutschen Geist. In: Drei Jahre deutscher Kulturarbeit während des Weltkrieges 1914–1917. Jena 1917, 4. 348 Nach einem Studium der evangelischen Theologie in Tübingen, Berlin und Leipzig arbeitete Maurenbrecher zunächst als Religionslehrer in Zwickau. Seit 1899 gehörte Maurenbrecher dem Nationalsozialen Verein um Friedrich Naumann an. Nach dem Austritt aus der evangelischen Landeskirche wirkte Maurenbrecher zwischen 1909 und 1917 als Prediger der freireligiösen Gemeinde in Nürnberg und Mannheim. Nachdem er wieder in die evangelische Kirche eingetreten war, wurde er Pfarrer der evangelischen-reformierten Gemeinde in Dresden. 1903 trat er der Sozialdemokratischen Partei bei und folgte damit seinem Kollegen Paul Göhre. Im Laufe des Ersten Weltkriegs vollzog Maurenbrecher eine politische Kehrtwende und trat der Deutschnationalen Partei und später dem Alldeutschen Verband bei. 349 Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik, 282.

Die Jatho-Affäre  167

mit dem protestantischen Christentum gemein hatte. Anstatt weiterhin in der Kirche zu bleiben, forderte er von Jatho und seinen Anhängern, aus der Kirche auszutreten und sich weltanschaulichen Organisationen wie dem Monistenbund anzuschließen, die seiner neuen Glaubensauffassung entsprachen. Maurenbrechers Ziel war also nicht die innere Reformierung des Christentums, sondern die Schaffung einer Frömmigkeitsbewegung im Zeichen des Monismus. Um der monistischen Frömmigkeit gerecht zu werden, bedurfte es einer völlig neuen Glaubenssprache, die sich vom Christentum emanzipierte: »Biblisch ausgedrückt: ist es Recht, neuen Wein in alte Schläuche zu füllen? Dient man dem Ernst und der Wucht der Religion, wenn man künstlich sich an ausgeleerte Formen akkomodiert?«350 Im Vergleich zu Ostwald betonte Maurenbrecher also weniger den Aspekt der Entwicklungsfähigkeit des Protestantismus hin zu einer höheren wissenschaftlichen Kulturstufe, sondern die Schaffung einer neuen »Diesseitsreligion«, für die die theologischen Begriffe nicht mehr ausreichten. »Es ist eine neue Frömmigkeit, die da triebartig erwacht ist, wilder, schäumender, stolzer, als das Christentum, eine Bewegung, die die christliche Hülle sprengt, sobald sie erst einmal anfängt, sich auszurecken und die Lungen zu eigenem Atem zu weiten.«351 Bemerkenswert ist, dass Maurenbrecher den Monismus- mit dem Frömmigkeitsbegriff verband. Lucian Hölscher zufolge bezeichnet Frömmigkeit ein »Ensemble von religiösen Vorstellungen und Handlungsformen, die ein Individuum, eine Gruppe oder Institution dauerhaft pflegt.«352 Der semantische Gehalt der Frömmigkeit hat sich im Laufe der Neuzeit jedoch deutlich gewandelt: Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts stand das Frommsein für eine bürgerliche Tugend, ein rechtschaffendes Leben, das auch die Gottesehrfurcht beinhaltete.353 Erst mit der Wende zum 18. Jahrhundert verengte sich der Frömmigkeitsbegriff zu einer religiösen Tugend: Unter dem Einfluss des bürgerlichen Pietismus qualifizierte Frömmigkeit nun das innere Gewissen des Gläubigen. Friedrich Schleiermacher etwa fasste Frömmigkeit als das Gefühl des Menschen, einem Höheren ergeben zu sein, das er nicht erfassen könne.354 Durch ihren Bezug zur Innerlichkeit des Gläubigen entwickelte sich die Frömmigkeit zum Gegenbegriff der Theologie, die für eine systematische Auseinandersetzung mit Religion 350 Maurenbrecher: Jatho, 10.  351 Ebd., 14. 352 Hölscher: Geschichte der protestantischen Frömmigkeit, 11. Ebenfalls zum Frömmigkeitsbegriff, vgl. Nieke, Erdmute: Religiöse Bilderbögen aus Neuruppin. Eine Untersuchung zur Frömmigkeit des 19. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 2008, 11. 353 Hölscher: Geschichte der protestantischen Frömmigkeit, 23–24. Lucian Hölscher weist mit Blick auf den Frömmigkeitsbegriff auf die Bedeutung historischer Semantik hin. Denn viele Historiker haben den historischen Bedeutungswandel dieses Begriffes vernachlässigt und dadurch unreflektiert die aufklärerisch-protestantische Deutungstradition der Frömmigkeit übernommen. 354 Schleiermacher, Friedrich: Der christliche Glaube, nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt. Berlin 1821/22, § 9.

168  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität stand.355 Zugleich etablierte sich die Frömmigkeit als eine zentrale Kategorie bürgerlicher Religionskultur im 19. Jahrhundert. Stand Religiosität stärker für die Glaubensvorstellungen eines Menschen, so implizierte Frömmigkeit eine spezifische Glaubenspraxis.356 Insofern verband Maurenbrecher mit dem Monismus die Hoffnung, eine neue Glaubenspraxis in Gang zu setzen, die bereits mit der Sprache begann. Wie wir gesehen haben, rief die Jatho-Affäre konträre Deutungen des Monismus hervor: Ostwald fand in Jatho ein Indiz dafür, dass der Monismus das religiöse Bedürfnis vollends verdrängen konnte; Maurenbrecher hingehen sah in Jathos Lehre eine neue, monistische Frömmigkeitsform verwirklicht. Ostwalds rhetorische Grenzziehung verlief also entlang des Gegensatzes von Wissenschaft und Religion, wohingegen Maurenbrecher eine Grenze zwischen altem und neuem Glauben zog.357 Die konträre Rezeption der Jatho-Affäre unter Monisten bestätigt die eingangs aufgestellte These, dass die monistische Identität zwischen der Affirmation und Negation von Religion oszillierte. Dieses Spannungsverhältnis führte zu einem Identitätskonflikt im Monistenbund, den Rudolf Eisler 1910 wie folgt beschrieb: »Während ein Teil der Monisten sich zum kirchlichen Christentum in schroffen Gegensatz stellt, gibt es auch Monisten (wie Bruno Wille, Kalthoff u. a.), welche auf eine monistische Weiterbildung der christlichen Weltanschauung hin arbeiten.«358 Ostwalds und Maurenbrechers Beiträge zur Jatho-Affäre demonstrieren, dass der Monismus je unterschiedlich mit dem Christentum bzw. der Religion in Bezug gesetzt wurde. Für Ostwald war Jatho ein Kronzeuge dafür, dass der Monismus das religiöse Bedürfnis sukzessive aus der Gesellschaft verdrängte und der liberale Protestantismus bereits einer wissenschaftlichen Weltanschauung zusteuerte. Maurenbrecher dagegen sah in Jathos Frömmigkeit das religiöse Erneuerungspotential des Monismus verwirklicht. In ihren Deutungen erschien der Monismus mal als Mittel zur Bekämpfung, mal als Erneuerungskraft der Religion.

4.

Demonstrierter Philosemitismus? Monisten vor der ›Jüdischen Frage‹

Wie positionierten sich die Monisten zur größten religiösen Minderheit im Kaiserreich: dem Judentum? In der Zeitschrift des Monistenbundes reagierten verschiedene Stimmen auf die ›Jüdische Frage‹. Monisten propagierten ihre 355 Hölscher: Geschichte der protestantischen Frömmigkeit, 25. 356 Hölscher: Die Religion des Bürgers, 620. 357 Zu den Religionsdiskursen um 1900, vgl. Graf: Alter Glaube und neuer Mensch, 185–228. 358 Eisler, Rudolf: Geschichte des Monismus. Leipzig 1910, 144.

Demonstrierter Philosemitismus?  169

Weltanschauung als neutralen Religionsersatz, der alle konfessionellen Unterschiede überwinden konnte. Dadurch, so ihre Vision, könne auch die jüdische Minderheit in die deutsche Nation vollends integriert werden. Im Kontext der ›Jüdischen Frage‹ forcierten Monisten also eine Lesart ihrer Weltanschauung, die sich von religiösen Konnotationen bewusst distanzierte: Der Monismus sollte als weltanschauliche Integrationskraft jenseits aller Konfessionen und damit als Garant nationaler Einheit erscheinen. Antisemitismus und ›Jüdische Frage‹ im Kaiserreich Die Anerkennung des Judentums als gleichberechtigte Glaubensgemeinschaft neben Katholiken und Protestanten in der Reichsverfassung von 1871 war ein bedeutender Schritt im Verbürgerlichungsprozess der Juden im 19. Jahrhundert.359 Antisemitische Angriffe gehörten dennoch zum Alltag in der politischen Kultur des Kaiserreichs: Insbesondere die sozioökonomischen Folgen des Gründerkrachs von 1873 wurden dem »Geldwucher« der jüdischen Bevölkerung angelastet.360 Durch den Hamburger Journalisten Wilhelm Marr (1819–1904) im Jahr 1879 eingeführt, fand der rassisch imprägnierte Begriff »Antisemitismus« schnell Verbreitung.361 Einen zentralen Beitrag zur Popularisierung dieses Neologismus innerhalb der politischen Landschaft des Kaiserreichs leistete die von Marr 1879 gegründete Antisemitenliga, einschließlich ihres Vereinsorgans Die deutsche Wacht. Die Liga erhob den pathologischen Judenhass zum Kernelement ihres politischen Programms.362 Der Berliner Antisemitismusstreit von 1879 legte offen zutage, dass der Antisemitismus auch in bildungsbürgerlichen Kreisen salonfähig geworden war. Zugleich markierte der Konflikt den mentalitätsgeschichtlichen Wandel von einem linken, liberalen Nationalismus hin zu einem rechten, chauvinistisch und sozialdarwinistisch gefärbten, wie Heinrich August Winkler hervorhob.363 Schließlich fiel die Kontroverse mit Bismarcks konservativer Wende zusammen, die das Ende der liberalen Ära markierte und eine Phase des konservativ-agrarischen Machtkartells einläutete. Ausgangspunkt des Antisemitismusstreits war ein Aufsatz des preußisch-konservativen Historikers Heinrich von Treitschke 359 Hier vor allem das »Gesetz betreffend die Gleichberechtigung der Konfessionen in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung« vom 3. Juli 1869 (Bundesgesetzblatt des Nordd. Bundes, Nr. 319, S. 292). 360 Ullrich: Die nervöse Großmacht, 383. 361 Vgl. Marrs Berliner Propagandaschrift Der Sieg des Judenthums über das Germanen­ thum – Vom nichtconfessionellen Standpunkt aus betrachtet (1879). 362 Ausführlich zu Wilhelm Marr, vgl. Zimmermann, Moshe: Wilhelm Marr. The Patriarch of Anti-Semitism. Oxford 1986. 363 Winkler, Heinrich August: Vom linken zum rechten Nationalismus. Der deutsche Liberalismus in der Krise von 1878/79. In: GG 4/1 (1978), 5–28.

170  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität (1834–1896) von 1879, der sich als Jahresbilanz der preußischen Außen- und Innenpolitik verstand. Auf den letzten Seiten reflektierte Treitschke über die Gefahren, die einer inneren Reichsgründung – der Festigung eines deutschen Nationalgefühls – entgegenstünden. Auf antisemitische Stereotype zurückgreifend erklärte der Autor die jüdische Minderheit zum Hauptfeind eines solchen Nationalgefühls – sie seien »unser Unglück«. Weiter appellierte Treitschke an seine Leserschaft: Was wir von unseren israelitischen Mitbürgern zu fordern haben ist einfach: sie sollen Deutsche werden, sich schlicht und recht als Deutsche fühlen – unbeschadet ihres Glaubens und ihrer alten heiligen Erinnerungen, die uns allen ehrwürdig sind; denn wir wollen nicht, daß auf die Jahrtausende germanischer Gesittung ein Zeitalter deutsch-jüdischer Mischcultur folge.364

Treitschkes Jahresrückblick weitete sich schon bald zum Medienereignis des Kaiserreichs aus: Der Althistoriker Theodor Mommsen (1817–1903) distanzierte sich öffentlich von den antisemitischen Tiraden Treitschkes.365 Unterstützung fand Treitschke wiederum in dem evangelischen Theologen und Hofprediger Adolf Stoecker (1835–1909), der im Vorfeld durch seinen radikalen Antisemitismus in Erscheinung getreten war. Wie kaum ein anderer Geistlicher repräsentierte Stoecker die Verbindung von Thron und Altar im Kaiserreich: Im Laufe seiner Karriere avancierte der Berliner Theologe nicht nur zum Mitglied des Generalsynodalvorstands der altpreußischen Landeskirche, sondern wurde 1883 zum zweiten Hof- und Domprediger des Kaisers ernannt; seit 1887 war er Herausgeber der Deutschen evangelischen Kirchenzeitung. Durch seinen enormen Einfluss als Domprediger verkörperte Stoecker eine unausweichliche Autorität für Protestanten im Kaiserreich. Dennoch rief sein sichtbarer Antisemitismus auch Spannungen mit anderen protestantischen Geistlichen hervor.366 Stoecker stieg mit seiner konservativen Christlich-Sozialen Partei zum Spiritus rector einer antisemitischen Sammlungsbewegung auf, der sogenannten 364 Treitschke, Heinrich von: Unsere Aussichten. In: Preußische Jahrbücher 44 (1879), 559–576, hier 573. 365 Vgl. Rebenich, Stefan: Theodor Mommsen. Eine Biographie. München 2007, 165–173. Ausführlich zum Berliner Antisemitismusstreit und zur Debatte um jüdische Identität in der bürgerlichen Kultur, vgl. Jensen, Uffa: Gebildete Doppelgänger. Bürgerliche Juden und Protestanten im 19. Jahrhundert (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 167). Göttingen 2005, 197–324. 366 Die Fixierung der Forschung auf Figuren wie Stoecker, Wagner, Treitschke oder Wilhelm II. haben den Protestantismus lange als »Nährboden« des modernen Antisemitismus erscheinen lassen. Olaf Blaschke betont indessen, dass der Anteil des Katholizismus am Aufkommen des Antisemitismus lange unterschätzt wurde und der innerprotestantische Pluralismus hinsichtlich der Judenfrage nur wenig Beachtung fand. Vgl. Blaschke, Olaf: Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 122). Göttingen 1999, 208 f.

Demonstrierter Philosemitismus?  171

»Berliner Bewegung«. In Form einer Antisemitenpetition, die Stoecker gemeinsam mit dem Leipziger Astrophysiker Karl Friedrich Zöllner (1834–1882) und dem Gymnasiallehrer Ernst Heinrici (1854–1915) initiiert hatte, protestierten Antisemiten gegen die rechtliche Gleichstellung der Juden im Kaiserreich. Fortschrittsliberale wiederum traten die Gegenoffensive an: Abgeordnete der Fortschrittspartei stellten die Antisemitenpetition im preußischen Abgeordnetenhaus zur Debatte und forderten von der Regierung, sich zur Berliner Kampagne zu positionieren. Eine Verurteilung der Petition blieb hingegen von Regierungsseite aus, wobei man eigens darauf hinwies, an der bestehenden Gleichberechtigung aller religiösen Bekenntnisse nichts zu ändern. Die Bedeutung der Berliner Kontroverse lag in ihrer Symbolwirkung: Der Streit verdeutlichte, dass sich der Antisemitismus allmählich von einer judenfeindlichen Ideologie zu einem »kulturellen Code« transformierte, der sich gegen liberal-emanzipatorische Tendenzen der Moderne richtete, wie die Historikerin Shulamit Volkov betonte. Als kultureller Code stand der Antisemitismus symbolisch für aggressiven Nationalismus, Sozialdarwinismus, Frauenfeindlichkeit, Militarismus und Rassismus.367 Monistische Antworten auf die ›Jüdische Frage‹ Der jüdische Arzt, Zionist und Kulturkritiker Max Nordau (1849–1923) äußerte sich in seinem Werk Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit (1883) scherzhaft über die Wahlverwandtschaft zwischen Juden und Dissidenten. Der Übertritt zu den Dissidenten sei unter habsburgischen Juden so oft vorgekommen, »daß in Österreich konfessionslos und jüdisch fast synonym werden konnten«.368 Dementsprechend habe der Sekretär der Wiener Universität, wenn er bei der Immatrikulation die Angabe »Konfessionslos!« erhielt nur mit einem Lächeln entgegnet: »Warum sagen Sie denn nicht lieber gleich, daß Sie ein Jude sind!«369 Die ›Jüdische Frage‹ war für das Selbst- und Fremdbild des organisierten Säkularismus im Kaiserreich aus zwei Gründen entscheidend: Zum einen verhandelten Freidenker vor dem Hintergrund der ›Jüdischen Frage‹ eigene Ziele einer säkularen und emanzipierten Gesellschaft, die sich in ihren Augen von konfessionellen Fesseln befreien sollte. Andererseits versuchten Antisemiten, eine direkte assoziative Verbindung zwischen Judentum, Materialismus und Dissidententum herzustellen. Sie erklärten Juden und Dissidenten gleichermaßen zu Widersachern des christlich geprägten Staates und den Säkularismus zu einer 367 Volkov, Shulamit: Antisemitismus als kultureller Code. In: Dies.: Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. 10 Essays. München 1990, 13–36. 368 Nordau, Max: Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit. Leipzig 1883, 34. 369 Ebd., 34.

172  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität versteckt »jüdischen Bewegung«.370 Bezeichnenderweise erkannte der Antisemit Eugen Dühring (1833–1921) unter »heutigen Juden« eine spezielle »Vorliebe« für das »Wörtchen Monismus«.371 Freidenker gaben sich in der Öffentlichkeit wiederum bewusst als Philosemiten zu erkennen, indem sie eigene Interessen mit denen der jüdischen Minderheit verbanden: So gründete Friedrich Wilhelm F ­ oerster die Deutsche Gesellschaft für Ethische Kultur 1892 als Gegenreaktion zu den antisemitischen und reaktionären Reformen des preußischen Kultusministers Robert von Zedlitz-Trützschler (vgl. Kap. III.4). Daran anschließend zog der Historiker Todd Weir eine direkte Verbindung zwischen den emanzipatorischen Zielen der jüdischen Minderheit und denen des Säkularismus: »Jews and dissidents made natural allies in a joint struggle against the confessional order«.372 Ebenso wie andere Freidenkervereine reagierte der Monistenbund auf die Frage der Judenemanzipation. Diese fungierte für Monisten als Projektionsfläche, mit der sie eigene säkulare Ziele formulierten und klare Feindbilder konstruierten. Im Folgenden wird argumentiert, dass Monisten ihre wissenschaftliche Weltanschauung als Lösung der ›Jüdischen Frage‹ präsentierten und sich dabei als fortschrittliche, überparteiliche Sammlungsbewegung inszenierten. Ihre projüdische Haltung war dabei geprägt von Ambivalenzen: Obwohl sich Monisten vom politischen Antisemitismus distanzierten, drängten sie auf die völlige Assimilation der Juden an die deutsche Nation.373 Der Münchner Monist Hermann Schnell setzte sich 1913 im Monistischen Jahrhundert mit der Frage auseinander, wie sich die Zukunft der Juden »im Lichte des Monismus« gestalte.374 Anlass für seinen Artikel waren die Aus­ führungen Werner Sombarts (1863–1941), einer der führenden Nationalökonomen seiner Zeit, zum Einfluss des Judentums auf das Wirtschaftsleben sowie zur Lage der Juden im zaristischen Russland nach den Pogromen von 1903 und 370 Ein anschauliches Beispiel für die antisemitische Propaganda liefern die Predigten des evangelischen Theologen Adolf Stoeckers, vgl. Engelmann, Hans: Kirche am Abgrund. Adolf Stoecker und seine antijüdische Bewegung. Berlin (West) 1984, 25 u. 75; Weir: Secularism, 214–217. 371 Dühring, Eugen: Die Judenfrage als Frage des Racencharacters und seiner Schädlichkeiten für Völkerexistenz, Sitte und Cultur. Berlin 1901, 30. 372 Weir: Secularism, 220. 373 Levenson, Alan T.: Between Philosemitism and Antisemitism. Defense of Jews and Judaism in Germany. 1871–1933. Lincoln, London 2004. Michael Brenner unterscheidet christlich-missionarischen, biblisch-chiliastischen, utilitaristischen, liberal-humanitären oder durch Schuldgefühl motivierten Philosemitismus, vgl. Ders.: »Gott schütze uns vor unseren Freunden«. Zur Ambivalenz des Philosemitismus im Kaiserreich. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 2 (1993), 174–199, 174 f. 374 Schnell, Hermann: Die Zukunft der Juden im Lichte des Monismus. In: DMJ (1913), Nr. 12, 311–317, hier 311. Gemeint ist Werner Sombarts Studie Die Juden und das Wirtschaftsleben (1911).

Demonstrierter Philosemitismus?  173

1906.375 Hermann Schnell versuchte zu erörtern, »ob die völlige Assimilation der Juden in den modernen Kulturstaaten, d. h. ihr Aufgehen in anderen Volksteilen, ihre körperliche und geistige Vermischung mit den übrigen Stämmen wünschenswert und ob sie möglich erscheint?«376 Sombarts Parteinahme für den Zionismus, die auch antisemitische Motive beinhaltete, wies der Autor entschieden zurück. So habe Sombart die Auffassung vertreten, dass sich die Juden aufgrund ihrer spezifischen »Abstammung« und »Art« zu einer »selbstbewußten nationalen Gemeinschaft« zusammenschließen sollten.377 Auf antisemitische Stereotype zurückgreifend führte Sombart in seiner Studie Die Juden und das Wirtschaftsleben (1911) die Entstehung des Kapitalismus auf eine jüdische Wesensart zurück. Die Hauptursache für diesen Konnex fand Sombart im ökonomischen Rationalismus, der dem Judentum angeblich inhärent sei. Analog zu Webers Protestantischer Ethik (1904/5) führte Sombart Wirtschaftsordnungen auf religiös-kulturelle Wurzeln zurück. In der zionistischen Nationalbewegung erblickte er eine Chance, die ›Jüdische Frage‹ zu lösen. Unter deutschen Zionisten wurde Sombart positiv rezipiert, da er die Nationalwerdung des jüdischen Volkes begrüßte. Die positive Aufnahme Sombarts unter Zionisten als »Gewährsmann« ihres Vorhabens war auch der Kritik am liberalen und anti-zionistischen Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens geschuldet, der die Zugehörigkeit der Juden zur deutschen Nation vehement verteidigte.378 Obschon der Monist Hermann Schnell der pro-zionistischen Haltung Sombarts widersprach und stattdessen die völlige Assimilation der Juden forderte, rekurrierte er ebenso auf rassistische Essentialismen und antisemitische Stereotype: Juden zeichneten sich ihm zufolge zwar durch eine »scharfe kritische Intelligenz, sowie außerordentliche Rührigkeit und Gewandtheit« aus, zeigten jedoch auch ein »unersättliches Jagen nach äußeren Erfolg und mangelnde Selbstzucht«.379 Ferner stellte der Autor die kollektive Vorstellung eines homogenen Judentums infrage, gebe es doch genauso wenig einen geschlossenen Katholizismus oder Protestantismus: »Die Differenzen zwischen Orthodoxen und Neologen«, behauptete Schnell, seien so groß »wie diejenigen zwischen dem positiven Protestantismus und den Jathoanern oder zwischen Klerikern und 375 Ebd., 311. 376 Ebd., 313. 377 Ebd., 313. 378 Zur Sombart-Rezeption im Zionismus, vgl. Dietrich, Christian: Eine deutsch-jüdische Symbiose? Das zionistische Interesse für Fichte und Sombart, Moritz Goldsteins Überlegungen zur  deutsch-jüdischen  Kultur und die Schwierigkeiten mit dem Bindestrich. In: Kotowski, Elke-Vera (Hg.): Das Kulturerbe deutschsprachiger Juden. Eine Spurensuche in den Ursprungs-, Transit- und Emigrationsändern. Berlin 2015, 43–55. Für ausführliche Hinweise zu Sombarts gemäßigtem Antisemitismus bedanke ich mich bei Fabian Weber. 379 Schnell: Zukunft der Juden, 315.

174  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität Modernisten«. Ebenso stünden liberale Juden den modernen Strömungen viel näher als den orthodoxen, konstatierte Schnell.380 Doch wie sollte die Judenfrage in den Augen der Monisten gelöst werden? Die Antwort auf diese Frage fand Hermann Schnell nicht im Zionismus, sondern – im Gegenteil  – in der völligen Assimilation der Juden an die wilhelminische Mehrheitsgesellschaft. Die Kraft zur Integration aller sprach der Autor der Wissenschaft zu, da sie die religiösen und ethnischen Unterschiede nivellieren könne: Mit dem Siegeszug der Wissenschaft würden auch die »absondernden Religionsgesetze« der Juden wegfallen.381 In einer Reihe mit anderen »Moder­nisten, Jathoanern, Freireligiösen, Monisten« würden sich die »jüdischen Reformer« zur »großen vielgestaltigen Armee der individuellen Wahrheitssucher« gesellen. Fortan würden sie alle religiösen Gesetze und Inhalte zurückweisen, die der Wissenschaft widersprachen.382 Schnell war nicht der einzige Monist, der sich mit der ›Jüdischen Frage‹ auseinandersetzte: Emil Dosenheimer verfasste bereits 1909 einen Artikel über das »Judentum und die monistische Bewegung«, der im Bund nicht ohne Protest aufgenommen wurde.383 In ähnlicher Weise wie Schnell stand Dosenheimer dem Zionismus distanziert gegenüber, wenngleich er ihm eine »Hebung des Judentums in ethischer Beziehung« zugestand. Dosenheimer war überzeugt, dass die zionistische Bewegung die konfessionellen Gegensätze zwischen Christen und Juden im Kaiserreich noch verstärke und das »Ideal der Wiedererrichtung eines jüdischen Staates in Palästina« an den »realen Verhältnissen« im Osmanischen Reich wie im Kaiserreich scheitere.384 Die jüdischen Freidenker würden allein in einer konfessionslosen Organisation wie dem Monistenbund Anschluss finden – und nicht im Zionismus. Derjenige Jude, der sich zu einer »freien konfessionslosen Anschauung durchgerungen« habe, werde »schwerlich in einer ausschließlich jüdischen Vereinigung Gesinnungsgenossen« finden. »Er wird sich vielmehr einer freier gerichteten, jeglichen Konfessionalismus ablehnenden und eine höhere Kultur erstrebenden Gemeinschaft anschließen müssen. Zu diesen Gemeinschaften darf sich wohl der Deutsche Monistenbund mit erster Linie zählen.«385 Das pro-monistische Argument einer konfessionslosen, alles integrierenden Gemeinschaft verband Dosenheimer mit einem nationalistischen Narrativ: Der Monismus habe sich im Vergleich zum Zionismus ausschließlich 380 Ebd., 315. 381 Ebd., 316. 382 Ebd., 316. 383 Hans Gosslar warf Dosenheimer vor, den rein ethischen Grundcharakter des Judentums verkannt und zudem ein falsches Bild vom Zionismus vermittelt zu haben, vgl. Der Monismus (November 1910). 384 Dosenheimer, Emil: Das Judentum und die monistische Bewegung. In: Monismus 4 (1909), Nr. 39, 389–394, hier 394. 385 Ebd.

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der wissenschaftlich-technischen Hebung deutscher Kultur verschrieben. Während der Zionismus die Kultur »nichtdeutscher Juden« fördern wolle (durch die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina), sei der Monismus ausschließlich an der Förderung des »gesamten deutschen Kulturzustandes« interessiert.386 Das monistische Eintreten für jüdische Interessen war auch der Tatsache geschuldet, dass ein nicht unwesentlicher Teil der Bundesmitglieder einen jüdischen Hintergrund hatte. Säkulare Juden, wie etwa Rudolf Goldscheid, fanden im Monismus ein willkommenes Tätigkeitsfeld für ihre sozialreformerischen Anliegen und stiegen zu Führungsfiguren der Bewegung auf.387 Der Wiener Jude und Monist Edgar Herbst hielt es für die moralische Pflicht eines jeden Monisten, aus seiner Glaubensgemeinschaft auszutreten: »Der große gemeinsame Feind, gegen den wir uns alle zusammenschließen müssen, ist der kritiklose, dogmatische Kirchenglaube, unter dessen finstrer Herrschaft der heillose Dualismus sein Unwesen durch Jahrtausende getrieben hat.« Den Vorwürfen seiner jüdischen Freunde, dass er durch seinen Austritt »Verrat« an den eigenen »Volksgenossen« geübt habe, erteilte Herbst eine klare Absage. Denn sein Austritt zur Konfessionslosigkeit sei keine »Fahnenflucht« vor den Gefahren des um sich greifenden Antisemitismus gewesen, so Herbst, sondern ein Bekenntnis zu Fortschritt, Freiheit und Humanität.388 Ostwald brandmarkte den Antisemitismus indessen als »hässliche Erscheinung«, wenngleich er die ›Jüdische Frage‹ nie explizit zum Gegenstand seiner monistischen Veröffentlichungen machte.389 Im Antisemiten-Spiegel des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus verfolgte Ostwald die judenfeindlichen Tendenzen im Kaiserreich.390 Am 12. Januar 1910 hielt er sogar einen Vortrag über »Kulturprobleme« im Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, der seit seiner Gründung 1893 die größte jüdische Interessenvertretung in Deutschland darstellte.391 Darüber hinaus standen bekannte Philosemiten wie der Astronom Friedrich Wilhelm Foerster, die Pazifistin Bertha von Suttner, deren Ehemann ein Verbündeter Herzls war, oder der Demokrat Ludwig Quidde dem Monismus nahe.392 386 Dosenheimer, Emil: Nochmals das Judentum und die monistische Bewegung. In: Monismus 5 (1910), Nr. 43, 39–40, hier 40. 387 Rudolf Goldscheid war seit 1912 Vorsitzender des Österreichischen Monistenbundes in Wien und gab zusammen mit Ostwald die Annalen der Natur- und Kulturphilosophie heraus. 388 Herbst, Edgar: Bedenken gegen den Austritt aus der Religionsgemeinschaft unter den Juden. In: DMJ 2, Nr. 41 (1914), 1166–1169, hier 1169. 389 Ostwald, Wilhelm: Das Christentum als Vorstufe zum Monismus, 8. 390 Der Antisemitenspiegel befindet sich noch heute in Ostwalds Bibliothek im Landhaus »Energie« in Großbothen (Sachsen). Der Hinweis ist entnommen aus: Braune: Fortschritt als Ideologie, 150, Anm. 508. 391 Zur Korrespondenz mit dem Centralverein, vgl. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 3913. Ullrich: Die nervöse Großmacht, 396. 392 Weir: Secularism and Religion, 218.

176  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität Konversionsforderungen Trotz eines pro-jüdischen Grundtenors innerhalb der Monismusbewegung blieben ihre Schriften von antisemitischen Stereotypen nicht unberührt. Eine ambivalente Haltung zum Judentum offenbarte Ernst H ­ aeckel bereits 1893 in einem Interview mit dem österreichischen Schriftsteller und Literaturkritiker Hermann Bahr (1863–1934) über den zunehmenden Antisemitismus im Kaiserreich.393 Bahr traf H ­ aeckel, den er als einen tatkräftigen »Plein-air-Menschen« charakterisierte, in der Villa Medusa. Obwohl H ­ aeckel privat innige Freundschaften zu Juden pflegte – »ganz wunderbare, prächtige Menschen«, wie er meinte –, verteidigte er den Antisemitismus als eine natürliche Abwehrreaktion gegen die Andersartigkeit der Juden in Zeiten eines steigenden Nationalismus.394 Dass der Antisemitismus mehr als eine geistige Verirrung war, zeigte sich nach ­Haeckel daran, dass einige seiner besten Schüler »heftige Antisemiten« waren. Für ihn stand fest, dass die jüdische Frage keine soziale oder religiöse sei, sondern eine »Rassenfrage«.395 Die Forderung des Antisemitismus sei durchaus berechtigt, konstatierte H ­ aeckel weiter, »daß die Juden von ihren Besonderheiten lassen und sich mit uns völlig verschmelzen sollen – das muß, wer national fühlt und denkt, von ihnen verlangen.«396 ­Haeckel hielt es sogar für ein besonderes Verdienst des Antisemitismus, »daß in den Deutschen und in den Juden die Überzeugung erwacht: die Juden müssen ihre Sonderart aufgeben und zu vollwertigen Deutschen in Sitten, Gebräuchen und Gefühlen werden.«397 Gerade in der Einwanderung von Juden aus Russland und Osteuropa sah ­Haeckel eine Gefahr für das Ansehen der »gebildeten Juden« in Deutschland. Gegenüber den ›Ostjuden‹ forderte er ein hartes Vorgehen: »Hier kann falsche Humanität nur schaden, und ich denke, dass man sich gegen die russischen Juden energisch schützen sollte, nicht weil sie Juden, sondern weil sie mit unserer Gesittung unverträglich sind […].« Den »gebildeten Juden« in Deutschland hielt er indessen zugute, »daß sie immer für die Aufklärung und Freiheit tapfer gegen die Reaktion gestanden sind«. Sie waren »verläßliche Streiter« im Kampf gegen die »Dunkelmänner« der Kirche, betonte ­Haeckel, und gerade in einer Zeit, »wo überall wieder der Papismus sich mächtig 393 Bahr, Hermann: Der Antisemitismus. Ein internationales Interview. Herausgegeben und mit einem Anhang versehen von Hermann Greive. Königstein / Ts. 1979 [1894]. Bahr führte insgesamt 43 Interviews mit Intellektuellen aus ganz Europa zum Thema Antisemitismus durch. Seine Interviewserie erschien zwischen März und September 1893 in der Deutschen Zeitung (Wien). Zur Rolle des Interviews als neues publizistisches Format bei Hermann Bahr, vgl. Heesen, Anke te: »Ganz Aug’, ganz Ohr«. Hermann Bahr und das Interview um 1900. In: Acta Historica Leopoldina 65 (2016), 131‒148. 394 Ebd., 43 f. 395 Ebd., 43. 396 Ebd., 44. 397 Ebd., 44.

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­ aeckel regt, können wir ihren bewährten Mut nicht missen.«398 Obwohl sich H von einem radikalen Judenhass distanzierte, rechtfertigte er den Antisemitismus als Reaktion auf die massenhafte Einwanderung osteuropäischer Juden, die das Ansehen der deutsch-jüdischen Bevölkerung angeblich schädigten. Einen deutlicheren Hinweis auf antisemitische Vorteile finden sich in H ­ aeckels Welträtseln, in denen er die Theorie einer unehelichen Geburt Christi diskutierte. Angeblich sei Jesus kein Jude gewesen, so ­Haeckel, weil seine edlen Charakterzüge nur einer »arischen Rasse« (und keiner semitischen) entstammen konnten: Die Angabe der alten apokryphen Schriften, daß der römische Hauptmann Pandera oder Pantheras der wahre Vater von Christus gewesen, erscheint um so glaubhafter, wenn man von streng anthropologischen Gesichtspunkten aus die Person Christi kritisch prüft. Gewöhnlich wird derselbe als reiner Jude betrachtet. Allein gerade die Charakterzüge, die seine hohe und edle Persönlichkeit besonders auszeichnen, und welche seiner ›Religion der Liebe‹ den Stempel aufdrücken, sind entschieden nicht semitisch; vielmehr erscheinen sie als Grundzüge der höheren arischen Rasse und vor allen ihres edelsten Zweiges, der Hellenen.399

Die Textpassage stieß sowohl bei christlichen als auch jüdischen Lesern auf Kritik, da ­Haeckel das Wunder der Jungfrauengeburt anzweifelte und Juden als eine geistig-moralisch unterlegene »Rasse« herabwürdigte.400 Auch Wilhelm Ostwald war vor antisemitischen Stereotypen nicht gefeit. In einer Sonntagspredigt zum Thema »Geld« spielte er auf den antisemitischen Vorwurf des ›jüdischen Wuchers‹ an.401 Ebenso teilte Ostwald ­Haeckel nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit, dass seine Hinwendung zum Nationalismus vor allem bei jüdischen Bundesmitgliedern auf Protest stieß. Hierbei deutete seine pejorative Wortwahl »internationale Judenschaft« auf den antisemitischen Vorwurf der Untreue der Juden gegenüber der deutschen Nation hin: »Aus Bundeskreisen wird mir zunehmend klar gemacht, dass man mit meiner Stellung zu den grossen Fragen des Tages nicht zufrieden ist. Zumal die internationale Judenschaft, die auch bei uns reichlich vertreten ist, findet meinen Patriotismus übertrieben und rückständig.«402 Ein weiteres Beispiel für das gespaltene Ver 398 Ebd., 45. 399 ­Haeckel: Welträtsel, 379. 400 Engert, Joseph: Der naturalistische Monismus ­Haeckels auf seine wissenschaftliche Haltbarkeit geprüft. Wien 1907; Lewkowitz, Julius: ­Haeckels Welträtsel und die Religion. In: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 5 (1904), 257–267. Ausführlich zum Antisemitismus bei H ­ aeckel: Wogawa, Stefan / Hoßfeld, Uwe / Breidbach, Olaf: »Sie ist eine Rassenfrage«. Ernst H ­ aeckel und der Antisemitismus. In: Preuß, Dirk / Hoßfeld, Uwe / Breidbach, Olaf (Hg.): Anthropologie nach ­Haeckel. Stuttgart 2006, 220–241. 401 Ostwald: Geld II. In: MSP IV, 374–377. 402 Ostwald an ­Haeckel, Großbothen, 14. Mai 1915. In: Nöthlich u. a.: »Substanzmonismus« und »Energetik«, 125.

178  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität hältnis der Monisten zur Judenfrage bietet Emil Dosenheimer: Zwar betonte er 1909 eigens, dass der Deutsche Monistenbund keinen »auf vorurteilsvollen Rassenhaß sich gründenden Antisemitismus« pflegen wolle, dennoch wolle er die »Fehler und Gegensätze zwischen den einzelnen Rassen« nicht verkennen.403 Diese zu beobachtende Ambivalenz aus Affirmation und Negation des Judentums war paradigmatisch für freidenkerische Kreise um 1900. Obwohl sich diese mit ihrem Philosemitismus als undogmatische Fortschrittsbewegung gerierten, war ihre Loyalitätsbekundung stets mit Konversionsforderungen zugunsten einer homogenen Einheit verbunden: dem Bekenntnis zur wissenschaftlichen Weltanschauung. Negativ gewendet bedeutete die monistische Konversionsforderung die radikale Leugnung jüdischer Identität. Der Monist Hermann Schnell brachte dieses Spannungsverhältnis in einem Zitat auf den Punkt: Den Juden werde die gesellschaftliche Gleichstellung umso schneller zuteil, wenn »sie bewußt das Aufgehen im allgemeinen Volkstum anstreben und bereit sind, unter Verzicht auf besondere Interessen sich dem großen Ganzen anzupassen und unterzuordnen.«404 Dieser Konversionsdruck konterkarierte in letzter Instanz das Selbstverständnis der Monisten und Freidenker, betonten sie doch stets das Undogmatische ihrer Weltanschauung.405 Ob Fortschrittsliberale, Freidenker und Monisten – all jene Gruppen verband ein Philosemitismus, der ein verklärtes »Bild vom Juden« evozierte, das keineswegs der jüdischen Realität im Kaiserreich entsprach: Das idealisierte Bild eines vollends assimilierten, deutschen Bürgers.406 Selbst der liberale Theodor Mommsen (1817–1903), ein Hauptkritiker Treitschkes, befürwortete die christliche Taufe als Mittel der jüdischen Integration in eine homogen gedachte, christlich geprägte Nation.407 Die innere Ambivalenz des kaiserzeitlichen Philosemitismus aus Affirmation und Ablehnung des Jüdischen war untrennbar mit dem Toleranzdiskurs der Zeit verwoben: Einerseits präsentierten Monisten ihre Bewegung als Hort der Judenemanzipation, um die Universalität und integrative Kraft ihrer Weltanschauung zu profilieren; andererseits sollten religiöse Unterschiede der jüdischen Minderheit zugunsten jener neuen, säkularen Gemeinschaft nivelliert werden – etwa durch die konsequente Negation der jüdischen Identität. Die liberale Idee der Nation als universelle Integrationskraft wurde von Monisten durch die Idee der Wissenschaft ersetzt, die letzten Endes alle religiösen Unterschiede aufhob. Toleranz war insofern eine diskursive Praxis, welche die Integration von Minderheiten in eine homogene Gemeinschaft forderte, zugleich jedoch deren religiöse und ethnische Unterschiede als Bedrohung und Zu-Kontrollierendes dieser 403 Dosenheimer: Judentum und monistische Bewegung, 394. 404 Schnell: Zukunft der Juden, 317. 405 Weir: Secularism and Religion, 251. 406 Brenner: Philosemitismus, 190. 407 Ebd., 179.

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Gemeinschaft herausstellte.408 Mit anderen Worten harmonisierte der liberale Toleranzdiskurs gegenläufige Forderungen der Emanzipation und Regulation der Juden. Dem monistischen Glauben an das Integrationspotential der wissenschaftlichen Weltanschauung lag ein evolutiver Gedanke zugrunde: Das religiöse Erbe des Judentums werde, so der Tenor der Monisten, durch den Einfluss der empirischen Wissenschaft sukzessive verdrängt. Genau betrachtet sollte die Hinwendung zum Monismus für die jüdische Minderheit weniger eine Konversion im engeren Sinne darstellen, sondern eine Höherentwicklung von einer religiösen zu einer wissenschaftlichen Entwicklungsstufe. Anhänger jeglicher Religionen  – die Juden inbegriffen  – sollten im Monismus ihre neue geistige Heimat finden und zugleich eine höhere Kulturstufe erklimmen. Auf den Anspruch des Monistenbundes, alle konfessionellen Unterschiede durch die Propagierung einer wissenschaftlichen Weltanschauung zu beseitigen, reagierten kaiserzeitliche Satiriker mit humorvollen Antworten. Das Münchner Satireblatt Simplicissimus karikierte Wilhelm Ostwald 1914 als Fürst von Albanien, als »Mbret Ostwald I.« (Abb. 14). Angefertigt wurde die Karikatur von dem norwegischen Zeichner Ragnvald Blix (1882–1952), der seit 1907 für den Simplicissimus arbeitete. Der historische Hintergrund der Karikatur war die Gründung des albanischen Fürstentums 1913 im Zuge des Ersten Balkankriegs: Nachdem Albanien auf der Londoner Botschafterkonferenz 1913 seine Unabhängigkeit erlangt hatte, wurde Wilhelm Friedrich Prinz zu Wied (1876–1945) am 21. Februar 1914 zum Fürsten von Albanien ernannt.409 Doch die Pläne der Verhandlungsmächte gingen nicht auf: Der Prinz zu Wied, völlig unvertraut mit den religiösen und ethnischen Konflikten des Landes, schaffte es nicht, seine Macht in Albanien dauerhaft zu sichern und legte bereits nach sechs Monaten seine Krone nieder. Das Satireblatt Simplicissimus reagierte ironisch auf die religionspolitische Fehlkalkulation in Albanien, indem es Ostwald als »Mbret«, also Fürst von Albanien, vorschlug: »Um alle konfessionellen Gegensätze aus der Welt zu schaffen, hat sich der Monist Ostwald bereit erklärt, den albanischen Thron zu besteigen«, heißt es in der Bildunterschrift.410 Besonders auffällig ist Ostwalds paternalistische Haltung gegenüber einer als primitiv und rückständig dargestellten Bevölkerung Albaniens: So sind drei Männer zu erkennen, die in einfacher Kleidung (Haremshose, Mokassins) und mit traditioneller Kopfbedeckung (Fes) Ostwald zujubeln. Ostwald, der einen Smoking trägt, winkt den Männern gönnerhaft zu, wobei er seinen Zylinder 408 Brown, Wendy: Regulating Aversion. Tolerance in the Age of Identity and Empire. Princeton 2006, 71. 409 Hinter dieser Amtseinsetzung stand ein politisches Kalkül: Man glaubte, dass ein deutscher Protestant auf dem albanischen Thron eher von der albanischen Bevölkerung anerkannt werde, da er keiner der dort ansässigen Glaubensgemeinschaften angehörte. 410 »Mbret Ostwald I«. In: Simplicissimus 19, Nr. 12 (22.6.1914), 181.

180  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität zückt und sich staatsmännisch geriert. Seine paternalistisch-gönnerhafte Pose wird allerdings durch das zu klein geratene Motorboot, mit dem er im Hafen von Durrës anlegt, konterkariert. Der Simplicissimus karikierte Ostwald jedoch nicht nur als Fürst von Alba­ nien, sondern auch als neuen Religionsstifter: Das Horn auf Ostwalds Kopf war ein versteckter Hinweis auf Moses, dem Michelangelo 1515 in St. Pietro in ­Vincoli ein skulpturales Denkmal setzte. Im Unterschied zum zweifach gehörnten Moses trug Ostwald in der Karikatur jedoch nur ein Horn auf seinem Kopf, was ein ironischer Seitenhieb auf die Dichotomie von Monismus (Einheitslehre) und Dualismus (Zweiheitslehre) war. Während der Prophet Moses, ein Dualist, das Volk Israel vom Joch der Sklaverei befreite, sollte Ostwald als Verkünder des Monismus allen religiösen Konflikten im Balkan ein Ende bereiten.

5.

Zwischenfazit I

Das Kapitel »Grenzen bestimmen« ist der Frage nachgegangen, wie sich der Monistenbund zur Religion im Allgemeinen und den verschiedenen Konfessionen im Besonderen positionierte. In diesem Kontext wurde argumentiert, dass Monisten mit ihrer wissenschaftlichen Weltanschauung widersprüchliche Ziele verfolgten: Erblickten die einen im Monismus die Möglichkeit einer umfassenden Glaubenserneuerung, so sahen andere den Monismus als Instrument zur Beseitigung von Religion in der Gesellschaft. Bemerkenswert dabei ist, dass sowohl religiöse Reformer wie Kalthoff als auch Atheisten wie Ostwald ein Wissenschafts- und Weltanschauungsvokabular verwendeten, um gegensätzliche Ziele zu erreichen: die Stärkung eines neues Religionsverständnisses einerseits und die Delegitimierung von Religion andererseits. Durch ihre ambivalente Haltung zur religiösen Frage verharrte die Monismusbewegung in einem Identitätskonflikt, der sich in der Bejahung und Verneinung von Religion äußerte. Da die Identitätsfrage im Monismus unbeantwortet blieb, definierten Monisten ihre Gruppenidentität ex negativo, nämlich in bewusster Abgrenzung zu den christlichen Kirchen und konservativen Kräften. Am schärfsten grenzten sich Monisten vom Katholizismus ab. In ihren Schriften griffen sie antikatholische Feindbilder der Kulturkampfära auf, um den Ultra­montanismus als Ausdruck eines rückständigen, primitiven, ja atavistischen Kulturzustandes der Menschheitsgeschichte zu diskreditieren. Monisten folgten in ihrer Feindbildkonstruktion drei Leitmotiven, dem Motiv der katholischen Herrschsucht, der Rückständigkeit des katholischen Glaubens und der angeblichen Untreue gegenüber der deutschen Nation. Negativ besetzte Begriffe wie »Priesterherrschaft«, »Klerikalismus«, »Jesuitismus« und »Papismus« bezeugen, dass die eigentliche Zielscheibe der monistischen Religionskritik die katholische Kirche war.

Zwischenfazit I  181

Abbildung 14: Karikatur zu Wilhelm Ostwald aus dem Simplicissimus (1914): »Um alle konfessionellen Gegensätze aus der Welt zu schaffen, hat sich der Monist Ostwald bereit erklärt, den albanischen Thron zu besteigen«.

182  Grenzen bestimmen: Monismus, Religion und Identität Der monistische Antikatholizismus gewinnt vor dem Hintergrund der politischen und soziokulturellen Wandlungsprozesse der Vorkriegsjahre zusätzlich an Bedeutung. Schließlich lebten antikatholische Diskurse im Rahmen des Bülow-Blocks (1906–1909) erneut auf und auch der von Papst Pius X. eingeführte Antimodernisteneid ließ den Katholizismus als eine fortschritts- und wissenschaftsfeindliche Religion erscheinen. Viele Antiklerikale sahen in Papst Pius X. gewissermaßen den Nachlassverwalter Pius IX ., der auf dem Ersten Vatikanum (1870) das päpstliche Unfehlbarkeitsdogma und Jurisdiktionsprimat verkündet hatte. Gegenüber dem Ultramontanismus stellten Monisten den liberalen Protestantismus als einen fortschrittsoffenen und wissenschaftskompatiblen Glauben dar. Ostwalds Rezeption der Jatho-Affäre in seinen Sonntagspredigten hat gezeigt, dass er den liberalen Protestantismus als evolutionäre Vorstufe zum Monismus betrachtete. Erst wenn der Protestantismus seine letzten religiösen und theistischen Atavismen ablegen werde, so Ostwald, könne er vollends monistisch werden. An dieses Narrativ anknüpfend stilisierten Monisten ihre Bewegung als eine neue Reformation, denn allein der Monismus vermochte in ihren Augen das lutherische Reformationswerk zu vollenden. In bewusster Abgrenzung zum Antisemitismus ihrer Zeit vertrat der Großteil der Monisten philosemitische Positionen. Allerdings beinhaltete auch der philosemitische Diskurs im Monismus Konversionsforderungen: Sobald sich Juden bedingungslos der wissenschaftlichen Weltanschauung verschrieben, so ihr Grundtenor, würden sie ihre religiösen Eigenarten zunehmend ablegen und zu vollends assimilierten Bürgern einer modernen, wissenschaftlich orientierten Nation werden. Zwar traten Monisten für eine Tolerierung der jüdischen Minderheit in Deutschland ein, dennoch schwang in ihren Beiträgen zur Judenfrage der Imperativ der Konversion mit – die Konversion zur wissenschaftlichen Weltanschauung. Ihr Philosemitismus bewegte sich in einer langen Traditionslinie eines aufgeklärten Philosemitismus, der auf eine vollkommene Assimilation der Juden drängte und eine eigene jüdische Identität infrage stellte. Im Zeichen des liberalen Fortschrittsdiskurses sollte der Monismus als Telos einer notwendigen Entwicklung erscheinen. Zur Legitimation einer solchen Meistererzählung berief sich Ostwald auf das Dreistadiengesetz Auguste Comtes. Indem monistische Akteure Topoi des antikatholischen Diskurses aufgriffen und mit einer positivistischen Fortschrittslogik verbanden, essentialisierten sie den Gegensatz von Religion und Wissenschaft. Den ultramontanen Katholizismus präsentierten Monisten als den naturgemäßen Kontrapunkt einer säkularen, naturwissenschaftlich orientierten Moderne. Zugleich fassten Monisten die Kritik an Religion in eine klar fassbare, personifizierte Form: die eines reaktionären und herrschsüchtigen Papstes.

III. Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung Otto Plarre, Vorsitzender der monistischen Ortsgruppe in Gera, schrieb ­Wilhelm Ostwald im Februar 1911 voller Zuversicht: Obwohl die Ortsgruppe gerade mal 43 Mitglieder zählte, habe sie bereits »eine reichliche Menge monistischer Saat unter der hiesigen Bevölkerung ausgestreut«. Man sei zuversichtlich, endlich den Tagen der »Trennung der Schule von der Kirche« näherzukommen. Besonders in »praktischen kulturellen Fragen« hätten die Geraer Monisten einige Erfolge erzielen können, etwa das Recht auf eine glaubensfreie »Eidesformel« oder das Werben für den Kirchenaustritt »aller nicht mehr Kirchengläubigen«.1 Plarres Bericht über die Erfolge der Geraer Ortsgruppe spiegelte in Miniaturform die Säkularitätsforderungen der Monismusbewegung wider: In verschiedenen Bereichen und Praxisfeldern der Gesellschaft  – sowohl in der Ethik, Sexualität, Bildung als auch im Umgang mit Tod  – forderten Monisten im Verbund mit anderen Freidenkern eine Verschiebung der Grenze zwischen der religiösen und säkularen Sphäre. Ihre Forderungen versuchten Monisten nicht nur durch Vorträge, Kartellbildungen, Protestkundgebungen und Petitionen durchzusetzen, sondern auch, indem sie in den öffentlichen Diskurs hineinwirkten und religiös imprägnierte Begriffe in ihrem Sinne umdeuteten. Im Kern ging es Monisten und Freidenkern nicht nur um eine Infragestellung von Religion, sondern auch um eine Kritik an bestehenden Machtverhältnissen, wie dem häufig kritisierten Machtkartell aus Thron und Altar. Dabei versuchten sie unterschiedliche Teilöffentlichkeiten zu erreichen – das städtische Bürgertum und die Arbeiterschaft. Im folgenden Kapitel werden die säkular-religiösen Auseinandersetzungen untersucht, in die Monisten involviert waren. Da ihr Verhältnis zur Religion ambivalent blieb, so die These, äußerten Monisten miteinander konkurrierende Vorstellungen von Säkularität: Mal verfolgten die Forderungen der Monisten das Motiv, durch eine Trennung von Staat und Kirche die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Individuums vor staatlicher Bevormundung zu schützen; ein anderes Mal sollte Säkularität die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft vorantreiben, indem kirchliche und staatliche Bereiche voneinander entflochten wurden.



1 Otto Plarre an Wilhelm Ostwald, Gera, 12.2.1911. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 2332.

184  Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung

1.

Trennung von Staat und Kirche

Eine zentrale Forderung in der monistischen Debatte um Säkularität war die vollständige Trennung von Staat und Kirche. Diese Forderung war keineswegs neu. Sowohl unter Liberalen, als auch unter Vertretern des politischen Katholizismus und der evangelischen Orthodoxie war sie anzutreffen, wobei die entsprechenden Akteure damit unterschiedliche Ziele verfolgten: Ging es Liberalen in erster Linie um eine Stärkung des säkularen Staates, so hatten Katholiken und konservative Protestanten die Freiheit der Kirche vor staatlichen Übergriffen im Sinn. Bezeichnenderweise ging die Trennungsgesetzgebung der Paulskirchenverfassung von 1848/49 auf eine Initiative katholischer Abgeordneter zurück, die hiermit auf die Säkularisationserfahrung nach dem Ende der alten Reichskirche 1803 reagierten.2 Die Paulskirchenverfassung war im Vergleich zu ihren Nachfolgerinnen überaus progressiv, da sie volle Glaubens-, Kultus- und Vereinigungsfreiheit gewährleistete (§§ 144–145) und den Religionsgemeinschaften Selbstbestimmungsrechte zugestand (§ 147). Obwohl die Verfassung von 1848/49 der Reaktionszeit zum Opfer fiel, hatte sie »Strahl- und Prägekraft« für spätere Verfassungsentwürfe.3 Im Kaiserreich hatte sich ein System der staatlichen Kirchenhoheit durchgesetzt.4 Der Staat hatte dabei die Aufsicht über die Kirchen inne und zugleich das Recht, Religionsgemeinschaften zuzulassen.5 Gemäß dem landesherrlichen Kirchenregiment waren die Landesfürsten gleichzeitig die obersten Bischöfe (Summus episcopus) ihrer Landeskirche und beaufsichtigten diese über staatliche Behörden, sogenannten Konsistorien. Die Reichsverfassung von 1871 gewährleistete zwar allen Bürgern staatsbürgerliche Rechte unabhängig vom religiösen Bekenntnis, jedoch bezog sich diese Gleichheitsnorm nur auf Individuen, nicht auf Religionsgemeinschaften.6 Im Gegensatz zu kleinen Glaubensgemeinschaften genossen die Amtskirchen zahlreiche Privilegien im Staat, besonders im Bildungsbereich. Die Vorstellung, dass das Christentum und mit ihm die Kirchen Garant der konservativ-monarchischen Ordnung sei, spiegelte sich nicht nur in der Festschreibung des Gottesgnadentums in der Präambel der Reichsverfassung von 1871 wider, sondern auch im Blasphemieparagraphen (§ 166) des Reichsstraf­ 2 Prüfer: Sozialismus statt Religion, 184; Simon-Ritz: Organisation einer Weltanschauung, 21. Zur Geschichte des Staat-Kirchen-Verhältnisses in Deutschland, vgl. Dreier: Staat ohne Gott, 63–94; Scholz, Bastian: Die Kirchen und der deutsche Nationalstaat. Konfessionelle Beiträge zum Systembestand und Systemwechsel. Wiesbaden 2016, 99–224. 3 Dreier: Staat ohne Gott, 85 f. 4 Prüfer: Sozialismus statt Religion, 185. 5 Ebd., 185. 6 Dreier: Staat ohne Gott, 88 f.

Trennung von Staat und Kirche  185

gesetzbuches. Zum Schutz der »Pietätsgefühle« anderer stand auf Gotteslästerung und Beschimpfung von Religionsgemeinschaften mit Korporationsrechten eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren.7 Allein zwischen 1882 und 1903 fanden im Deutschen Reich 6.921 Gotteslästerungsprozesse statt.8 Das folgende Kapitel beleuchtet argumentative Strategien, mit denen Monisten ihre laizistischen Trennungsforderungen begründeten und Anhänger für ihre Ziele mobilisierten. Welche Vorstellungen von Säkularität schwangen dabei mit? Das monistische Streben nach einem säkularen Staat, so das Argument, resultierte nicht nur aus einer allgemeinen Religionskritik, sondern aus der Kritik an der illegitimen Herrschaft der Kirche. Säkularität und Machtkritik hingen im Monismus also unmittelbar zusammen. Widmet sich der erste Teil den realpolitischen Forderungen der Monisten in Bezug auf das Staats-Kirchen-Verhältnis, so legt der zweite Teil den Fokus auf die politischen Ordnungsvorstellungen und Gesellschaftsutopien, die Monisten in ihren Schriften formulierten. So schwebte Ostwald eine technokratische Gesellschaftsordnung vor, in der Wissenschaftler die Staatsgeschäfte lenkten. Machtkritik und Säkularitätsforderungen Ausgehend vom Liberalismus der Vormärzzeit nahm die Idee der Trennung von Staat und Kirche seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine zentrale Rolle im liberalen und antiklerikalen Diskurs in Europa ein.9 Auch in monistischen Zeitschriften und auf Kongressen war die Forderung allseits präsent, wenngleich unklar blieb, wie diese Trennung konkret vollzogen werden sollte. Dass die Formel ›Trennung von Staat und Kirche‹ ein Grundpfeiler der monistischen Programmatik war, wird bereits in Ernst H ­ aeckels Thesen zur Organisation des Monismus von 1904 ersichtlich: »Die wünschenswerte ›Trennung von Staat und Kirche‹ ist in der Weise auszuführen, daß der Staat alle Glaubensbekenntnisse 7 Der Schutz aller mit Korporationsrechten ausgestatteten Religionsgemeinschaften vor Beschimpfung war ein Spezifikum des deutschen Blasphemiegesetzes und spiegelte die mehrkonfessionelle Struktur des Kaiserreichs wider. Diese rechtliche Besonderheit erlaubte es dem Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens den Antisemiten Theodor Fritsch 1910 wegen Beleidigung des Judentums und Gefährdung des öffentlichen Friedens anzuzeigen – was in einem spektakulären Gotteslästerungsprozess gipfelte. 8 Tschacher, Werner: Von der Gotteslästerung zur Störung des öffentlichen Friedens. Grenzverschiebungen in der Geschichte der Blasphemiegesetzgebung. In: Fickers, Andreas / Haude, Rüdiger / Krebs, Stefan / Tschacher, Werner (Hg.): Jeux sans Frontières – Grenzgänge der Geschichtswissenschaft. Bielefeld 2017, 285‒296, hier 289. Ausführlich zur Geschichte der Blasphemie, vgl. Nash, David: Blasphemy in the Christian World: A History. New York 2007. Zum Umgang mit Blasphemie in der Frühmoderne, vgl. Loetz, Francisca: Mit Gott handeln. Von den Zürcher Gotteslästerern der Frühen Neuzeit zu einer Kulturgeschichte des Religiösen. Göttingen 2002. 9 Dittrich: Antiklerikalismus in Europa, 316.

186  Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung als gleichberechtigt frei gibt, sich aber die Verhinderung ihrer praktischen Übergriffe vorbehält. Die geistliche Macht (Theokratie) muß sich stets der weltlichen Regierung (Nomokratie)  unterwerfen.«10 Da H ­ aeckel bereits zu diesem Zeitpunkt mit dem Gedanken spielte, den Monismus zu einer Glaubensgemeinschaft auszubauen, stand für ihn die Aufhebung kirchlicher Privilegien im Staat und damit die Gleichberechtigung aller Bekenntnisse im Vordergrund. In der konsequenten Privatisierung von Religion sahen Monisten nicht nur eine Möglichkeit für den Staat, sich vor kirchlichen Übergriffen zu schützen, sondern auch umgekehrt einen Schutz aller Glaubensgemeinschaften vor staatlicher Einflussnahme: »Jede Einmischung des Staates in die Privatangelegenheiten der Glaubensgemeinden ist eine ungerechte Parteiname für eine Konfession, was dem Grundsatz der religiösen Neutralität des modernen Staates widerspricht«, bemerkte der Ethiker und Monist Immanuel Lewy.11 Eine radikale Trennung von Staat und Kirche sollte nicht nur individuelle Glaubensfreiheiten stärken, sondern auch kirchliche Privilegien im Staat abbauen, z. B. durch die Abschaffung der Kirchensteuer, die Schließung theologischer Fakultäten und die Beseitigung des schulischen Religionsunterrichts.12 Religion müsse vom Staat als »Privatsache« betrachtet und die Kirche demnach als Verein eingestuft werden, die dem geltenden Vereinsrecht untersteht; nur dann höre die Kirche auf, für den Staat eine »privilegierte Korporation zu sein«, betonte der Innsbrucker Staatsrechtler Ludwig Wahrmund 1911 auf dem Hamburger Monistenkongress.13 Ferner sollten die Kirchen als private Vereine von öffentlichen Geldern ausgeschlossen werden.14 Ein anderer Autor hob 1909 hervor, dass der Monistenbund mit der Trennung von Staat und Kirche nicht nur das Recht der Glaubensfreiheit erkämpfen solle, sondern auch »Glaubensfreizügigkeit« in dem Sinne, dass kein Staatsbürger, der aus der Kirche austrete, »gesellschaftlich ruiniert sei«.15 Die Grundlage der monistischen Trennungsforderungen bildete die Machtkritik an Kirche und Klerus. Die Macht der Kirche erstreckte sich für Monisten nicht nur auf den staatlichen Bereich, sondern auch auf die Gedanken-, Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit der Gläubigen. Die verbalen Attacken der Monisten richteten sich dabei zumeist gegen die katholische Kirche und ihre Papstkurie.16 Monisten erklärten die Macht der katholischen Kirche aus dem Grund für ungültig, weil sie auf Zwang, Gewalt und Unterdrückung der Gläu 10 ­Haeckel: Thesen zur Organisation des Monismus, 487. 11 Lewy: Weltlicher Moralunterricht an der Schule, 8. 12 Schnell, Hermann: Die Trennung von Staat und Kirche II. In: Der Monismus 6, Nr. 60 (1911), 267. 13 Wahrmund: Trennung von Staat und Kirche, 131. 14 Prüfer: Sozialismus statt Religion, 187. 15 Ziegler, H.: Die Trennung des Staates von der Kirche. In: Der Monismus 4, Nr. 40 (1909), 455–458, hier 457. 16 Zur antiklerikalen Machtkritik, vgl. Dittrich: Antiklerikalismus in Europa, 294–308.

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bigen basierte, symbolisiert durch die Inquisition und den römischen Index. Dementsprechend verwendeten Monisten Begriffe wie »Theokratie«, »klerikale Willkür«, »Priesterherrschaft« oder »Pfaffenherrschaft«, um die Herrschsucht der katholischen Kirche zu unterstreichen (vgl. Kap. II.2).17 Ebenso wie andere Kirchenkritiker um 1900 mobilisierten Monisten historische Argumente, um ihren Vorwurf der illegitimen Gewaltherrschaft der Kirche zu untermauern. In seinen Welträtseln (1899) beklagte H ­ aeckel die »jammervollen Rückschritte«, die »menschliche Kultur und Gesittung während zwölf Jahrhunderten unter der geistigen Gewaltherrschaft des Papismus erlitten«.18 Dabei zählte er die Bluttaten der Inquisition gegenüber vermeintlichen Ketzern auf: Unter dem berüchtigten Großinquisitor Torquemada (1481 bis 1498) wurden allein in Spanien achttausend Ketzer lebendig verbrannt, neunzigtausend mit Einziehung des Vermögens und den empfindlichsten Kirchenbußen bestraft, während in den Niederlanden unter der Herrschaft Karls des Fünften dem klerikalen Blutdurst mindestens fünfzigtausend Menschen zum Opfer fielen.19

Solche »Skandalchroniken« waren, wie Manuel Borutta herausstellte, ein typisches Merkmal antiklerikaler Medien um 1900. Die Auflistung der skandalösen Verfehlungen der katholischen Kirche sollte ihr amoralisches Wesen unter ­ aeckel in seinen historischen Exkursen auf die Beweis stellen.20 Gezielt griff H Leyenda negra (dt. schwarze Legende) zurück, mit der das seit der Frühen Neuzeit verbreitete antispanische Feindbild gemeint ist. Der spanische Historiker und Journalist Julián Juderías (1877–1918) prägte diesen Begriff in einer Schrift von 1913. Unter Leyenda negra verstand er »die Legende von einem inquisitorischen Spanien, ignorant, fanatisch, unfähig, unter den kultivierten Völkern heute wie auch früher zu bestehen, immer bereit zu gewalttätigen Repressionen; Feind des Fortschritts und der Neuerungen«.21 Gerade während der Reformation fand die Schwarze Legende unter protestantischen Mächten schnell Verbreitung.22

17 Zur Verwendung der Begriffe Theokratie, Papismus und Priesterherrschaft bei ­Haeckel, vgl. Ders.: Welträtsel, 10, 11, 12, 28, 224, 276, 314, 329, 336, 415. 18 ­Haeckel: Welträtsel, 364. 19 Ebd., 367. 20 Zu antiklerikalen Medien, vgl. Borutta: Antikatholizismus, 177–183, hier 179. 21 Juderías, Julián: La leyenda negra. Estudios acerca del concepto de España en el extranjero. Salamanca 2003 [1913]. Zit. n. Edelmayer, Friedrich: Die »Leyenda negra« und die Zirkulation antikatholisch-antispanischer Vorurteile. In: Europäische Geschichte Online. Hg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2010-12-03. URL: http://www.ieg-ego. eu/edelmayerf-2010-de [aufgerufen am: 28.3.2020]. 22 Zur schwarzen Legende, vgl. Pollmann, Judith: Eine natürliche Feindschaft. Ursprung und Funktion der schwarzen Legende über Spanien in den Niederlanden, 1560–1581. In: Bosbach, Franz (Hg.): Feindbilder. Die Darstellung des Gegners in der politischen Publizistik des Mittelalters und der Neuzeit. Köln, Weimar, Wien 1992, 73–93.

188  Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung Die schwarze Legende und mit ihr der Vorwurf der illegitimen Gewaltherrschaft der katholischen Kirche gewann im Oktober 1909 an Aktualität, als der Anarchist und Reformpädagoge Francisco Ferrer y Guardia (1859–1909) in Spanien hingerichtet wurde.23 Ferrers Schicksal wandelte sich zum Kristallisationspunkt einer freidenkerischen Debatte um staatliche Säkularität, da man seine Hinrichtung dem Kalkül und Einfluss der katholischen Kirche anlastete. Doch was war geschehen? Das Kriegsgericht beschuldigte Ferrer im Oktober 1909, den Arbeiteraufstand in Katalonien, der als Semana Trágica (Tragische Woche) in die Geschichte einging, angezettelt zu haben.24 Der tatsächliche Auslöser des Arbeiter­aufstandes war eine Anordnung des spanischen Premierministers Antonio Maura y M ­ ontaner (1853–1925) zur Einberufung von weiteren 40.000 Reservisten für den spanischen Marokkokrieg. Die spanische Arbeiterbewegung behauptete, dass der Marokkokrieg den Interessen der besitzenden Klasse zugutekam. In der Folge rief die Gewerkschaft Solidaridad Obrera in Barcelona zum Generalstreik auf und anarchistische, antimilitaristische Proteste entluden sich in ganz Katalonien gegen die Kolonialpolitik der spanischen Regierung. Der Protest kulminierte in gewalttätigen Ausschreitungen, die rund neun Tage anhielten (vom 26. Juli bis 4. August 1909). Die Gewalt der Sozialisten, Anarchisten und radikalen Republikaner richtete sich vielerorts gegen kirchliche Einrichtungen, da sie als Protektoren der Bourgeoise angesehen wurden. Während der Aufstände wurden dreißig bis vierzig Klöster von den Protestierenden in Brand gesetzt.25 Die Regierung antwortete mit einer Gegenoffensive und rief den Kriegszustand aus, der bis zum 7. November 1909 anhielt. Die Niederschlagung des Aufstandes forderte laut Berichterstattung zwischen 75 und 100 Todes-

23 Zum Fall Ferrer, vgl. Avilés Farré, Juan: Francisco Ferrer y Guardia. Pedagogo, Anarquista y Mártir. Madrid 2006; Dittrich: Antiklerikalismus in Europa, 219–276; Dies.: Vom Anspruch auf Einspruch zur Kontrollinstanz – die europäische Öffentlichkeit als Akteur von Außenbeziehungen im 19. Jahrhundert. In: Hoeres, Peter / Tischer, Anuschka (Hg.): Medien der Außenbeziehungen. Wien 2017, 288–314; Laqua, Daniel: Freethinkers, Anarchists and Francisco Ferrer. The Making of a Transnational Solidarity Campaign. In: European Review of History 21/4 (2014), 467–484. 24 Zur Semana Trágica, vgl. Ullman, Joan Conelly: The Tragic Week. A Study of Anticlericalism in Spain, 1875–1912. Cambridge, MA 1968; Romero Maura, Joaquín: La rosa de fuego – republicanos y anarquistas: La política de los obreros barceloneses entre el desastre colonial y la semana trágica, 1899–1909. Barcelona 1975; Marín i Silvestre, Dolors: La Semana Trágica. Barcelona en llamas, la revuelta popular y la Escuela Moderna. Madrid 2009; PonsAltés, Josep M. / López-Morell, Miguel A.: Barcelona and the Tragic Week of 1909: A Crazed Mob or Citizens in Revolt? In: International Journal of Iberian Studies 29/1 (2016), 3–19; Pich Mitjana, Josep / Martínez Fiol, David: La revolución de Julio de 1909. Un intento fallido de regenerar España. Granada 2019. 25 Dittrich: Antiklerikalismus in Europa, 220.

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opfer.26 Das Handeln der Zentralregierung war äußerst brutal und grenzte an Willkür: Rund 2.500 Personen wurden festgenommen und 1.700 Protestierende von dem Militärgericht verurteilt.27 Insgesamt siebzehn Personen erhielten die Todesstrafe, unter ihnen auch Francisco Ferrer. Seine Hinrichtung erfolgte am Morgen des 13. Oktober 1909 in der Festung Montjuich.28 Die Exekution Ferrers löste 1909 eine transnationale Protestwelle unter Antiklerikalen in Europa aus, die das gesamte linke Spektrum ergriff.29 Der Fall Ferrer wurde zur Projektionsfläche einer europaweiten Debatte über Werte, Gesellschaftsvorstellungen und Rechtsstaatlichkeit. Vor allem aber beriefen sich Monisten und andere Freidenker auf den Fall, um ihrer Forderung nach der Trennung von Staat und Kirche Nachdruck zu verleihen. Schließlich hatte die Verurteilung Ferrers aus Sicht der Protestierenden bewiesen, welchen Einfluss die katholische Kirche auf die spanische Regierung ausübte. Antiklerikale stilisierten den Fall zum Warnsignal für andere Staaten, hatte er doch gezeigt, welche politischen Folgen aus einer engen Verflechtung von Staat und Kirche resultierten. Spanien wurde zum Inbegriff einer »Pfaffenherrschaft«.30 Die Entstehung der Massenpresse und neuer Kommunikationstechnologien ermöglichte eine transnationale Mobilisierung und »Verdichtung« europäischer Öffentlichkeit, wenngleich die Auseinandersetzungen um Ferrer stets an die nationalen politischen Rahmenbedingungen geknüpft waren.31 Die europäische Öffentlichkeit fungierte im Fall Ferrer als eine »Appellationsinstanz«, wie Lisa Dittrich betont.32 Der Appell an ein liberales, humanes Europa diente Antiklerikalen als Ausdruck ihrer Protesthaltung und als Druckmittel gegenüber der katholischen Kirche. Als Hort eines rückständigen Klerikalismus grenzten Antiklerikale Spanien aus der von ihnen beschworenen Wertegemeinschaft aus.33 Der Freidenker Hermann Fernau appellierte 1909 im Vereinsorgan des DMB an ein Europa, das den Prinzipien von Fortschritt und Vernunft folgte: 26 Ebd., 220. 27 Ebd., 220. 28 Kurz vor seiner Hinrichtung soll Ferrer folgende Worte ausgerufen haben, die von Antiklerikalen häufig zitiert wurden: »Soy inocente. ¡Viva la escuela moderna!« (dt. »Ich bin unschuldig. Es lebe die moderne Schule!«). 29 Vgl. Dittrich: Antiklerikalismus in Europa, 219–277. 30 Um Ferrers Kopf. In: Vorwärts 26, Nr. 238 (12.10.1909). 31 Dittrich, Lisa: Die Hinrichtung Francisco Ferrers. Ein Fall für die europäische Öffentlichkeit im frühen 20. Jahrhundert? In: Themenportal Europäische Geschichte, 1.1.2008. URL: www.europa.clio-online.de/essay/id/artikel-3470 [aufgerufen am: 28.3.2020], 1 u. 7. 32 Vgl. Dittrich: Antiklerikalismus in Europa, 219–276; Dies.: Vom Anspruch auf Einspruch, 288–314. 33 Dittrich: Antiklerikalismus in Europa, 2; Requate, Jörg / Schulze-Wessel, Martin: Europäische Öffentlichkeit. Realität und Imagination einer appellativen Instanz. In: Dies. (Hg.): Europäische Öffentlichkeit. Transnationale Kommunikation seit dem 18. Jahrhundert. Frankfurt am Main, New York 2002, 11–39.

190  Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung Wird das intellektuelle Europa ruhig zusehen, wie sich die spanischen Jesuiten eines lächerlichen Vorwandes bedienen, um einen der besten Vorkämpfer für Wahrheit und Gedankenfreiheit zu beseitigen? Oder wird das fortschrittliche Europa dagegen protestieren, daß man Ferrer unter dieser haltlosen Anklage vor ein Kriegsgericht stellt, ihm in drei Worten den Prozeß macht und ihn in den Festungsgräben von Montjuich erschießt? Denn dies ist der Traum der spanischen Inquisiteure.34

Bewusst griffen Monisten, Freidenker, Sozialisten und Anarchisten auf eine martialische Sprache zurück, mit der sie die Gewaltbereitschaft der Kirche illustrierten und den Vorfall emotionalisierten. Das sozialdemokratische Blatt Vorwärts warf am 12. Oktober 1909 den »spanischen Pfaffen« vor, ihr »Hirn« sei von »Blutdurst« umnebelt. Gleichzeitig zeichnete es Ferrer als das »Schlacht­opfer« der Kirche.35 Im Freien Wort, dem Organ des Deutschen Freidenkerbundes, hieß es: »Mit höhnischem Grinsen wirft uns Merry del Val über die Pyrenäen herüber den Kopf Ferrers zu«.36 Dieses Zitat verwies auf Rafael Merry del Val (1865–1930), der unter Pius X. zum Kardinal aufstieg und sich als einflussreicher Mann im Vatikan profilierte. Sowohl Ferrers Hinrichtung als auch dessen Weigerung, vor dem Tod eine Absolution für seine Sünden zu erhalten, ließen ihn zum »Märtyrer« des europäischen Freidenkertums werden.37 »I admire in the great Spanish martyr not only an excellent Freethinker and founder of the Modern Schools, but also one of those heroes of humanity who devote their whole lives and forces to the free development of progress of the human race«, schrieb Ernst ­Haeckel 1910 anlässlich des ersten Todestages Ferrers.38 Die Inszenierung Ferrers als Märtyrer war ein anschauliches Beispiel für die unter Monisten und Freidenkern verbreitete Sakralisierung des Profanen.39 ­Haeckel, der gemeinsam mit Ferrer in der internationalen League for the Ratio­nal Education of Children aktiv gewesen war, initiierte in Deutschland sogar einen »Intellektuellenprotest« gegen das Urteil des Kriegsgerichts.40 Zusammen mit den Schriftstellern und Wissenschaftlern Lujo Brentano (­ 1844–1931), ­R ichard Dehmel (1863–1920), Gerhard Hauptmann (1862–1942), Max Liebermann (1847–1935) und Julius Meier-Graefe (1867–1935) veröffentlichte H ­ aeckel einen Protestaufruf im Berliner Tageblatt, der von weiteren Zeitungen abgedruckt wurde. Hierin appellierten die Unterzeichner an die »Kulturgemeinschaft 34 Fernau, Hermann: Ferrer vor der spanischen Inquisition. In: Der Monismus 4, Nr. 40 (1909), 436. 35 Um Ferrers Kopf. In: Vorwärts 26, Nr. 238 (12.10.1909). 36 Das Freie Wort 9 (1910), 599. Hervorhebung im Original. 37 Fernau: Francisco Ferrer, ein neuer Märtyrer. In: Das Freie Wort 9 (1910), 597–599. 38 Francisco Ferrer Association (Hg.): Francisco Ferrer. His Life, Work and Martyrdom. o.A. 1910, 75. Vgl. Die Zukunft 76 (1911), 111. 39 Zu Sakralisierung des Profanen im Antiklerikalismus, vgl. Dittrich: Europäischer Antiklerikalismus – Eine Suche, 5–36. 40 Dittrich: Antiklerikalismus in Europa, 225.

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aller freien Denker« und verurteilten die »Blutthat spanischer Willkür« aufs Schärfste.41 Darüber hinaus gründete ­Haeckel mit anderen Freidenkern und Kollegen die Francisco Ferrer Association.42 Auch auf lokaler Ebene nutzten Monisten verschiedene Formen der Mobilisierung, um Anhänger zum Protest gegen die Kirche zu bewegen. Am 24. Oktober 1909 veranstaltete das Münchner Kartell der freiheitlichen Vereine, dem die Ortsgruppe des DMB angehörte, eine »Ferrer-Demonstration« im Münchner Kindl-Keller, dem größten Saal der Stadt.43 »Der Zulauf war beispiellos«, erinnerte sich Ernst Horneffer, der als freireligiöser Prediger im Münchner Kartell wirkte.44 Bereits nach einer Stunde ließ die Polizei den Saal wegen Überfüllung sperren. Rund 8.000 Menschen waren »unserem Rufe« gefolgt, »gegen die Gewalttat des Klerikalismus in Spanien zu protestieren«, wie es in einem Bericht der Münchner Ortsgruppe hieß.45 Aufgrund der polizeilichen Schließung wurde eine Parallelveranstaltung im benachbarten Bürgerbräukeller abgehalten. Auf den Parallelveranstaltungen sprach Ernst Horneffer gemeinsam mit dem linksliberalen Althistoriker Ludwig Quidde.46 »Nicht die Kirche nagt an den Fundamenten der Kultur, wohl aber Freigeisterei, Revoluzzerei, Anarchismus, deren enge Verwandtschaft mit der Katholikenhetze nun offen zutage liegt!«, wetterte der Bayerische Kurier am 4. November 1909 als Reaktion auf die Ferrer-Proteste in München.47 Dem angeblichen Zwang und der Gewaltherrschaft der Kirche stellten Monisten eine Rhetorik der Freiheit, Emanzipation und des Fortschritts gegenüber. Im Kontext der Hinrichtung Ferrers zielte diese Rhetorik sowohl auf politische Freiheitsrechte als auch auf eine geistige Befreiung von den »Fesseln« kirchlicher Bevormundung.48 Insbesondere für Monisten bedeutete Freiheit eine intellektuelle Emanzipation vom kirchlichen Glaubens- und Gewissenszwang. Ostwald sah den Monismus als Garant für die Entwicklung einer freien und integren Persönlichkeit, die den Widerspruch von Glauben und Wissen überwand: »Keine Religion kann uns dieses höchste Gut des Menschen geben, diese Harmonie der Persönlichkeit, welche allen Schwankungen des Lebens gegen 41 Zum Wortlaut des Aufrufs, vgl. Harden, Maximilian: Tybald und Ferrer. In: Die Zukunft 69 (6.11.1909), 177–178. 42 Vgl. Francisco Ferrer Association (Hg.): Francisco Ferrer. His Life, Work and Martyrdom. 43 Horneffer: Das Kartell freiheitlicher Vereine, 7. Zur Beteiligung Lujo Brentanos an den Ferrer-Protesten, vgl. HStA München, Abt. II Geheimes Staatsarchiv MA 93377. 44 Horneffer: Das Kartell freiheitlicher Vereine, 7. 45 Aigner (Hg.): Fünf Jahre Deutscher Monistenbund, 38. 46 Ludwig Quiddes althistorische Studie über Caligula hatte 1894 einen reichsweiten Skandal ausgelöst. Kritiker warfen Quidde Majestätsbeleidigung vor, da sich die Schrift als eine Satire auf Wilhelm II. verstand. 47 Bayerischer Kurier 53, Nr. 307 (4.11.1909). HStA München, Abt. II Geheimes Staatsarchiv MA 93377. 48 Dittrich: Hinrichtung Francisco Ferrers, 3.

192  Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung über standhalten kann und muß.«49 Begriffe von Freiheit und Fortschritt waren eng mit der bürgerlichen Emanzipationsbewegung nach 1848 verbunden.50 Die begriffsgeschichtliche Karriere des Freiheitsbegriffs lag in seiner Vagheit und Mehrdeutigkeit begründet, die ihn zur universell einsetzbaren Formel für antiklerikale Akteure machte.51 Monisten ließen gezielt Fachstimmen zu Wort kommen, die für eine Trennung von Staat und Kirche eintraten. Auf dem Hamburger Monistenkongress 1911 verglich der Innsbrucker Jurist Ludwig Wahrmund (1860–1932) den kirchlichen Einfluss auf staatliche Institutionen mit einem klerikalen »Vergewaltigungssystem« und warf insbesondere der katholischen Kirche »Weltherrschaftspläne« vor.52 Den absoluten Machtanspruch der Kirche sah Wahrmund vor allem im konfessionellen Religionsunterricht verkörpert, den er als Instrument einer »klerikalen Zwangsherrschaft über die Schule« geißelte.53 Der Monist Hermann Schnell wies 1911 jedoch darauf hin, dass eine Trennung von Staat und Kirche nur dann wirksam sei, wenn sie von der »Zustimmung und dem Einverständnis des überwiegenden Teils der Bevölkerung« getragen werde. Sei die Mehrheit der Bevölkerung nach wie vor gläubig, könne eine vom Staat unabhängige Kirche noch freier und rücksichtsloser ihre Anhänger beeinflussen.54 Um der Trennung von Staat und Kirche in Deutschland mehr Dringlichkeit zu verleihen, verwiesen Monisten auf Staaten, die ein säkulares System bereits durchgesetzt hatten. Das Postulat einer staatlich-kirchlichen Trennung sei längst »keine Neuigkeit« mehr, seitdem neben Frankreich auch Portugal sowie die Schweizer Kantone Bern und Genf laizistisch geworden seien, betonte 49 Ostwald: Warum sind wir Monisten? In: MSP I, 3. 50 Fraas, Claudia: Karrieren geschichtlicher Grundbegriffe: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. In: Loster-Schneider, Gudrun (Hg.): Revolution 1848/49. Ereignis – Rekonstruktion – Diskurs. St. Ingbert 1999, 13–39, hier 14 f. 51 Ebd., 14–23. Neben einem christlichen Freiheitsbegriff (im Sinne der Freiheit aller Gläubigen im Reich Gottes) und dem ständischen Freiheitsverständnis (im Sinne bestimmter Privilegien) reifte im Zuge der Französischen Revolution ein bürgerlich-emanzipatorischer Freiheitsbegriff, der Partizipationsrechte der Bürger an der staatlichen Herrschaft forderte und Freiheit zum Grundprinzip der Verfassung erhob. 52 Wahrmund: Trennung von Staat und Kirche. In: Bloßfeldt (Hg.): Der erste internationale Monistenkongreß, 132. 53 Ebd., 133. Aufgrund seiner dezidiert antikatholischen und modernistischen Haltung geriet Wahrmund mit der katholischen Kirche in Österreich-Ungarn wiederholt in Konflikt. Sein Vortrag Katholische Weltanschauung und freie Wissenschaft (1908) verschärfte den akademischen Kulturkampf in Österreich-Ungarn zwischen dem katholischen und dem liberalen Studentenmilieu. Vgl. Kuprian, Hermann J. W.: »Machen Sie diesem Skandal ein Ende. Ihre Rektoren sind eine nette Gesellschaft.« Modernismusdiskussion, Kulturkampf und Freiheit der Wissenschaft: Die Wahrmund-Affäre 1907/08. In: Gehler, Michael / Sickinger, Hubert (Hg.): Politische Affären und Skandale in Österreich. Von Mayerling bis Waldheim. Wien, München 1995, 99–127. 54 Schnell: Trennung von Staat und Kirche II, 267.

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Wahrmund 1911. Für ihn war die Trennung von Staat und Kirche ein »notwendige[r] Bestandteil jedes wahrhaft fortschrittlichen Kulturprogramms«.55 Eine Sonderstellung in der monistischen Argumentation nahm Frankreich ein, da sich dort durch das Ideal der laicité eine besonders radikale Form der Trennung vollzog.56 Die Laizität wurde 1905 in der französischen Verfassung verankert, nachdem die Dreyfus-Affäre das Land über Jahre hinweg gespalten hatte.57 In den französischen Debatten zielte der Neologismus der Laizität nicht allein auf eine Neutralität des Staates in religiösen Belangen, sondern auch auf das Verbot religiöser Betätigung außerhalb des privaten Raums.58 Das gespaltene Verhältnis der Monisten zur Frage der Religion spiegelte sich in der Ambivalenz ihrer Grenzforderungen und Säkularitätsverständnisse wider: Sollte Säkularität für die einen individuelle Freiheitsrechte stärken und die Gleichstellung religiös-weltanschaulicher Minderheiten gegenüber den christlichen Konfessionen gewährleisten, so zielte Säkularität für andere auf die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in unabhängige Funktionsbereiche. Neben ihren realpolitischen Bestrebungen formulierten Monisten auch politische Ordnungsentwürfe, wie wir im folgenden Kapitel sehen werden. Herrschaft durch Wissenschaft Die von Monisten gestellte Forderung nach der Trennung von Staat und Kirche schloss spezifische Vorstellungen von legitimer Herrschaft mit ein. Ostwald imaginierte die Gesellschaft der Zukunft als eine technokratische Leistungsgesellschaft, in der Wissenschaftler und Ingenieure die Politik bestimmten. Beeinflusst von seinem wissenschaftlichen Fortschrittsoptimismus ging Ostwald davon aus, dass der gesellschaftliche Einfluss von Kirche und Religion dauerhaft verschwinden werde. Obwohl er eine politische Affiliation des Monistenbundes ablehnte, richtete Ostwald 1912 folgenden Appell an seine Anhänger: »Die Orientierung jedes Monisten muß durchaus gegen Rechts, das heißt gegen Konservatismus, Orthodoxie und Ultramontanismus in allen ihren Formen gerichtet sein.«59 55 Wahrmund: Trennung von Staat und Kirche, 133. 56 Ihren Ursprung hatte die Idee der laicité in Frankreich in schulpädagogischen Debatten. Ferdinand Buisson prägte 1871 den Begriff, um für die Abschaffung des Religionsunterrichts einzutreten. 57 Unter der Dreyfus-Affäre versteht man die Verurteilung und Verbannung des französischen Artillerie-Hauptmanns Alfred Dreyfus (1859–1935) durch das Pariser Kriegsgericht 1894. Ihm wurde Landesverrat vorgeworfen. Die Affäre löste langjährige Debatten um Antisemitismus und Nationalismus in Frankreich aus. Für Theodor Herzl (1860–1904), der als Journalist über Dreyfus berichtete, war die Affäre eine wichtige Motivation zur Begründung der zionistischen Bewegung. Zur Dreyfus-Affäre in Frankreich und Europa, vgl. Harris, Ruth: Dreyfus. Politics, Emotion, and the Scandal of the Century. New York 2010. 58 Dittrich: Antiklerikalismus in Europa, 322. 59 Ostwald: Monistische Politik, 327.

194  Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung Ostwalds Gesellschaftsutopie fügte sich in die politische Philosophie des Positivismus ein, die Hermann Lübbe zufolge in technokratischen Ordnungsmodellen dachte.60 Allerdings ist die Übertagung des Technokratiebegriffs auf monistische Denker nicht unproblematisch, weil sie die Gefahr anachronistischer Fehlschlüsse birgt. Seinen Ursprung hatte der Technokratiebegriff nämlich erst im US -amerikanischen Technocracy Movement der 1920er und 30er Jahre.61 Allgemein stand Technokratie für die Forderung nach »gesamtgesellschaftlicher Vorherrschaft und […] Führungspartizipation technisch-wissenschaftlicher Fachleute«; im weiteren Sinne verwies der Begriff auf die »Dominanz technischwissenschaftlicher Sachlogik« in politischen Entscheidungsprozessen.62 Der Technokratiebegriff implizierte also eine entpersonalisierte Herrschaftsform, die politische Entscheidungen nicht auf parlamentarische Aushandlungsprozesse oder demokratische Willensbildung, sondern auf wissenschaftlich-​­technische »Sachgesetzlichkeiten« zurückführte.63 Gemäß dem technokratischen Herrschaftsverständnis regierte nicht der Mensch, sondern die wissenschaftlich begründete Logik.64 Obwohl der Technokratiebegriff erst in den 1930er Jahren im Deutschen gebräuchlich war, nahmen die Gesellschaftsentwürfe der Monisten technokratische Ideen vorweg. Das Bild, das Ostwald von der Zukunft des Kaiserreichs zeichnete, offenbart dessen Glauben an das Potential der Technik. In seiner Vision wurde die Muskelkraft des Arbeiters vollends durch Maschinen ersetzt; die umfassende Technisierung der Arbeit sollte die optimale Nutzung und Umwandlung von Energieressourcen ermöglichen:

60 Lübbe: Politische Philosophie, 153; Hillermann: Vereinsmäßige Zusammenschluss, 239; Daum: Wissenschaftspopularisierung, 218 ff. Die apolitische Ausrichtung des Monismus dürfte wohl auch ein Grund dafür gewesen sein, dass sich der Monistenbund nicht als Partei, sondern als Verein formierte. 61 Der aus Berkeley (Kalifornien) stammende Ingenieur, Erfinder und Patentanwalt William Henry Smith verwendete den Begriff »technocracy« erstmals um 1900 in verschiedenen Fachzeitschriften. 62 Willeke, Stefan: Die Technokratiebewegung in Nordamerika und Deutschland zwischen den Weltkriegen. Frankfurt am Main 1994, 26. 63 Lübbe: Politik nach der Aufklärung, 12; Simon-Ritz: Organisation einer Weltanschauung, 14. Der amerikanische Technokratiebegriff war mehr ökonomisch als machtpolitisch ausgerichtet. In Anknüpfung an das Scientific Management von Frederick Taylor (1856–1915) wurde Technokratie als Instrument zur Effizienzsteigerung der industriellen Produktion auf ingenieurstechnischer Basis betrachtet. Unter dem Einfluss des Rationalismus und der Enzyklopädisten der Frühmoderne akzentuierte der Technokratiediskurs in Frankreich stärker den Aspekt der Elitenherrschaft von Fachmännern, Wissenschaftlern und Militärs. In Deutschland zielte die Diskussion um Technokratie hingegen auf den Aspekt der »Synthese von Technik, Kultur und Geist«. Vgl. Rapp, F.: Art. Technokratie. In: HWdP 10, 954–956. 64 Auf diesen Aspekt zielte Helmut Schelskys Kritik an der Technokratie, vgl. Rapp: Art. Technokratie, 956.

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An Stelle der Heizer, die mit nacktem Oberkörper und unter strömen von schweiß die Kohle auf den Rost werfen mußten, werden wir den sauber gekleideten Mann am Schaltbrett erblicken, welcher mit einem Blick das genaue und regelmäßige Funktionieren der Turbinen und Dynamomaschinen überschaut und durch einen Griff nach rechts und links den richtigen Ablauf der Transformation dieser ungeheuren Energiemengen regeln wird.65

Zwei Kernaspekte technokratischen Denkens tauchten schon bei Ostwald auf: die Herrschaft einer wissenschaftlichen Elite und der Primat der naturwissenschaftlich-technischen Sachzwänge für politisches Handeln.66 Das Amt des Staatsoberhauptes gebührte Ostwald zufolge den Wissenschaftlern, Ingenieuren und Technikern, da sie das Zukünftige mithilfe wissenschaftlicher Expertise vorhersagen konnten. Allein eine rein wissenschaftlich und monistisch denkende Staatsregierung sei dazu berufen, solche Maßnahmen zu ergreifen, die »zum dauernden Wohle, zur Steigerung der innern und äußern Güter der Nationen« beitrugen.67 Obwohl sich Ostwald zumindest bis zum Kriegsausbruch 1914 für den Pazifismus und Internationalismus engagierte, klangen in seinen Ausführungen bereits imperialistische Töne an: Staatserhaltend im eigentlichen Sinne wird also nur ein solcher Staatsmann wirken können, der die technisch-wissenschaftliche Entwicklung unserer Zeit versteht und der, statt die Energien der Nation durch einen zwecklosen Widerstand gegen diese Entwicklung zu vergeuden, sie im Gegenteil in den Dienst der nationalen Interessen stellt. Nur durch ihre Pflege und Steigerung bringt er sein Volk in die Lage, wirtschaftlich und kulturell tunlichst an der Spitze der ganzen Weltbewegung zu marschieren.68

Aus den monistischen Quellen sprach, wie Hermann Lübbe konstatiert, eine gewisse »Skepsis« gegenüber dem parlamentarischen System, da es der technokratischen Logik widersprach. Die Aushandlung partikularer Interessen im Parlament schien aus monistischer Sicht die »Rationalität wissenschaftlich geplanter und kontrollierter gesellschaftlicher Praxis« zu durchkreuzen und dem Gebot von energetischer Effizienz zu widersprechen.69 Gegenüber der Interessenspolitik im Parlament strebte der Monistenbund nach dem Ideal, die wissenschaftliche Logik und Rationalität auf die Politik zu übertragen. Zwar sei der Monistenbund kein »politischer Verein«, wie Johannes Unold betonte, jedoch müsse Politik wissenschaftlich betrachtet werden: »Denn erst wenn die monistisch Denkenden dahin gelangt sind, die monistische oder wissenschaftliche Denkweise auch auf die Untersuchung politischer Fragen anzuwenden, wird 65 Ostwald: Kultur und Zivilisation. In: MSP II, 272. 66 Zur politischen Theorie des Monismus, vgl. Hillermann: Der vereinsmäßige Zusammenschluß, 214–234. 67 Ostwald: Ist der Monismus staatsgefährdend?, 135. 68 Ebd., 135. 69 Lübbe: Politische Philosophie, 165.

196  Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung unsere Bewegung imstande sein, auf diesem […] Lebensgebiet eine führende Rolle zu übernehmen.«70 In den technokratischen Ordnungsentwürfen der Monisten hatten Kirche und Christentum keinen Platz. Ostwald betrachtete die Kultur als Organismus, deren Entwicklung durch atavistische Elemente, wie sie die Kirchen verkörperten, gehemmt wurde. In Anlehnung an Comtes Dreistadiengesetz definierte Ostwald drei Phasen der Gesellschafts- und Kulturentwicklung: Die erste und zugleich primitivste Stufe menschlicher Zivilisation war seiner Ansicht nach die Phase des »Gregarismus«, des Herdentriebs. Diesen Begriff entlehnte er der biologischen Fachterminologie: Hier stand gregäres Verhalten für ein gruppenartiges Auftreten individueller Organismen an bestimmen Orten aufgrund von Anziehungsfaktoren (Nahrung, Milieu). Auf dieser Gesellschaftsstufe sah sich der Mensch als reines Herdenwesen, als Mitglied eines Kollektivs. Jede Abweichung von der Gruppennorm wurde als strafbar geahndet und sanktioniert.71 Paradigmatisch hierfür stand nach Ostwald das europäische Mittelalter mit seiner Doppelherrschaft aus Papst und deutsch-römischem Kaiser. Jene Doppelherrschaft zielte darauf, das Individuum vollends unterzuordnen. Zugleich war für diese Phase eine politische Instabilität kennzeichnend, so Ostwald, da sich die lokalen Fürsten stets gegen die kaiserliche Zentralgewalt auflehnten und die geistliche wie weltliche Macht um ihre Vorherrschaft wetteiferten.72 Auf den Gregarismus folge eine Periode des Individualismus. In dieser Phase dominierte das »Recht der Persönlichkeit gegenüber der rücksichtslosen Gleichmacherei des Herdentums«.73 Während in der Geistesgeschichte eine Emanzipation des Verstandes gegenüber dem Glauben stattfand, äußerte sich auf politischem Gebiet der Geltungsanspruch des Individuums gegenüber politischer und klerikaler Repression. Als Beispiele führte Ostwald die Menschen- und Bürgerrechte an, die im Zuge der Amerikanischen und Französischen Revolution erkämpft wurden. Die individuelle Freiheit behauptete sich gegenüber dem kollektiven Herdentrieb. Als Charakteristikum der individualistischen Epoche machte Ostwald einen kritischen und zerstörerischen Grundtenor aus: So habe man versucht, all jene »Fesseln«, die den Menschen durch Thron und Alter angelegt wurden, gewaltsam abzuwerfen. Erstmals brach sich das Ideal der Freiheit Bahn, das jedoch weitgehend negativ besetzt war. Der Freiheitsbegriff zielte auf die »Beseitigung der bisherigen Lasten und Einschränkungen«, jedoch nicht auf den »sozialen Gedanken« der gegenseitigen Hilfe zugunsten des kulturellen Fortschritts.74 70 Unold, Johannes: Organische Staatsauffassung. In: DMJ 1 (1912/13), 538–542, hier 538. 71 Ostwald: Religion und Monismus, 46. 72 Ebd., 47. 73 Ebd., 48. Hervorhebung im Original. 74 Ebd., 49.

Trennung von Staat und Kirche  197

Die dritte und höchste Stufe Kultur war nach Ostwald die Epoche der »Orga­ nisation«, die eine Synthese der vorherigen Epochen darstellte. Diese Phase sollte mithilfe des Monismus verwirklicht werden und zeichnete sich durch drei Merkmale aus: Internationalismus, Meritokratie und Technokratie. Innerhalb dieser Gesellschaftsutopie erreichte der Einzelne seine soziale Stellung nicht durch Standeszugehörigkeit, vererbtem Reichtum oder Abstammung, sondern allein durch seine geistige und wissenschaftliche Leistung.75 Die internationale Zusammenarbeit der Staaten sollte durch die Einführung einer internationalen Plansprache, wissenschaftliche Vernetzung, Verbesserung der transnationalen Mobilität und Aufhebung der Zölle herbeigeführt werden.76 Zudem sollte die internationale Kooperation die Gefahr eines Krieges abwenden, die der übersteigerte Nationalismus beförderte. Im Begriff der Organisation trat Ostwalds organismisches Kulturverständnis zutage: »Der Name Organisation soll ausdrücken, daß in der künftigen gesamten Menschheit jeder einzelne etwa dieselbe Rolle spielen wird, wie sie gegenwärtig eine Körperzelle im Organismus des einzelnen Menschen spielt.«77 Wie schon angedeutet wurde, resultierte Ostwalds Affinität zum technokratischen Denken aus seiner Rezeption der französischen Positivisten Auguste Comte und Henri de Saint-Simon. Saint-Simon wurde mit seiner Theorie der industriellen Gesellschaft zum Wegbereiter der modernen Sozialwissenschaften, indem er erstmals Technik und industrielle Produktion zu den Triebfedern gesellschaftlichen Wandels erklärte.78 Sein Entwurf der industriellen Gesellschaft reagierte auf die sozioökonomischen Entwicklungen der Restaurationszeit in Frankreich zwischen 1814 und 1830, die sich durch zwei gegenläufige Tendenzen auszeichnete: Während sich die soziale Lage der unteren Schichten stetig verschlechterte, setzte die allmählich einsetzende Industrialisierung »ungeheure Potentiale der Reichtumsproduktion« frei.79 In Saint-Simons Gesellschaftsentwurf standen Ingenieure, Industrielle und wissenschaftliche Experten an der Spitze des Staates, da sie für die Maximierung der Produktion und eine gerechte 75 Ebd., 51. 76 Ebd., 51. 77 Ebd., 53. Hervorhebung im Original. Stand der Begriff »Organismus« ursprünglich für ein Ordnungsprinzip in der Natur und im Kosmos (als Gegenpol zum Mechanismus), so entwickelte er sich in den Lebenswissenschaften des 19. Jahrhunderts zum generischen Ausdruck für Lebewesen. Zum semantischen Wandel des Organismusbegriffs, vgl. Cheung, Tobias: What is an »Organism«? On the Occurrence of a New Term and its Conceptual Transformations, 1680–1850. In: History and Philosophy of the Life Sciences 32/2 (2010), 155–194. 78 Korte, Hermann: Einführung in die Geschichte der Soziologie. Wiesbaden 2011, 23; Kruse: Geschichte der Soziologie, 29–39. 79 Lenhard, Philipp: Volk oder Religion? Die Entstehung moderner jüdischer Ethnizität in Frankreich und Deutschland 1782–1848. Göttingen 2014, 319. Hier vor allem zur Rezeption des Saint-Simonismus unter jüdischen Intellektuellen im Frankreich des frühen 19. Jahrhunderts.

198  Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung Verteilung der Güter unter den produzierenden Kräften sorgten.80 Gesellschaftliche Schichten, die durch adelige Herkunft und familiäres Erbe privilegiert waren, lehnte Saint-Simon ab. All jene Schichten brandmarkte er als »Blutsauger der Nation«, denen er das politische Mitbestimmungsrecht entziehen wollte.81 Auguste Comte knüpfe in seiner Gesellschaftstheorie an seinen ehemaligen Lehrer Saint-Simon an. Für die Reorganisation der Gesellschaft, die er als »orga­nische Lehre« bezeichnete, hielt Comte eine Zweiteilung der Macht für notwendig. Die geistige Herrschaft sollte ihm zufolge den Gelehrten zukommen, wobei er drei Gründe anführte: Erstens besaßen die Gelehrten die notwendige intellektuelle Kapazität, um die theoretischen Grundlagen zur Reorganisation der Gesellschaft zu erarbeiten. Durch ihre naturwissenschaftliche Schulung verschwanden persönliche Interessen hinter einem rein rational-logischen Denken.82 Die weltliche Macht gestand Comte den Industriellen zu, deren Entscheidungen sich nach den Anweisungen der Gelehrten richteten. Zweitens besaßen die Gelehrten die notwendige moralische Autorität, um die »Loyalität der Massen« dauerhaft an sich zu binden.83 Denn nur sie vermochten ihre Herrschaftsansprüche sachlich zu begründen und ein überparteiliches Wertesystem in der Gesellschaft zu etablieren. Drittens stellten die Gelehrten nach Comte die einzige Gesellschaftsschicht dar, die »paneuropäisch« vernetzt war und nicht den Versuchungen des »wilden Patriotismus« unterlagen.84 Allein die Gelehrten teilten »gemeinsame Gedanken, eine gleichartige Sprache und einen allgemeinen und dauerhaften Zweck ihrer Tätigkeit«.85 Für Comte stand außer Frage, dass die ökonomische Krise der Restaurationszeit nur transnational gelöst werden konnte.86 In Anlehnung an Comte imaginierte Ostwald für die Zukunft eine international vernetzte Elite von Wissenschaftlern, gemäß dem frühneuzeitlichen Vorbild der Gelehrtenrepublik (res publica literaria).87 Was die »katholische Priesterschaft im Mittelalter schon angestrebt und vorübergehend erreicht« habe – die internationale Verbreitung des christlichen Weltbildes –, werde die »internationale Priesterschaft der Wissenschaft« ohne äußeren Zwang errei 80 Allgemein zur Sozialtutopie Saint-Simons, vgl. Saage, Richard: Saint-Simons Utopie der Industriegesellschaft. In: Utopie kreativ. Diskussion sozialistischer Alternativen 102 (1999), 67–87, hier 78; Ders.: Saint-Simons Utopie der Industriegesellschaft. In: Ders. (Hg.): Utopische Profile. Bd. 3: Industrielle Revolution und Technischer Staat im 19. Jahrhundert. Münster, Hamburg, London 2002, 9–33. 81 Lenhard: Volk oder Religion, 319. 82 Comte: Plan der wissenschaftlichen Arbeiten, 66–68. 83 Prokop, Dieter: Auguste Comte, Massenbewußtsein und praktischer Positivismus. In: Comte: Plan der wissenschaftlichen Arbeiten, 13. 84 Comte: Plan der wissenschaftlichen Arbeiten, 70–71. 85 Ebd., 71. 86 Ebd., 69–70. 87 Ostwald: Religion und Monismus, 50.

Trennung von Staat und Kirche  199

chen, so Ostwald.88 Sie sei dazu berufen, die wissenschaftliche Weltanschauung zu verbreiten und damit die Nationen auf eine höhere Kulturstufe zu heben. Bemerkenswert ist, dass Ostwald die auf den Vatikan hin konzentrierte, transnationale Verfasstheit der katholischen Kirche als Vorbild für eine zukünftige geistig-politische Führerschaft von Wissenschaftlern heranzog. Galt ihm der Katholizismus vormals als Inbegriff von Rückständigkeit, so zitierte er nun die Organisation der katholischen Kirche als Vorbild für die anzustrebende transnationale Herrschaft der Wissenschaftler.89 Mit großer Weitsicht trat Ostwald für einen europäischen Staatenbund ein, der einen einheitlichen Rechtsraum schaffen und so den Austausch in Wirtschaft, Handel und Forschung erleichtern sollte. Auch hier leiteten ihn die Imperative von Energieersparnis, Effizienzsteigerung und gegenseitiger Hilfe. Nach dem Kriegsausbruch 1914 wandte er sich jedoch nationalistischen Positionen zu, weshalb er nun ein »Europa unter deutscher Führung« forderte (vgl. Kap. V).90 In seiner »Tendenz zur Entpolitisierung« der Gesellschaft unterschied sich die Monismusbewegung deutlich von politischen Strömungen ihrer Zeit wie dem Liberalismus.91 Die Politik sollte sich Monisten zufolge nach den notwendigen und objektiven Gesetzen der Wissenschaft richten; zeitgleich sollten die alten Standesprivilegien durch den Primat der Leistung ersetzt werden. In bewusster Abgrenzung zur Interessenpolitik von Parteien sah sich der Monistenbund als »Über-Partei«, die sich auf die Notwendigkeit wissenschaftlicher Rationalität berief.92 Um der Vision einer technokratischen Gesellschaft ein Stück näher zu kommen und die Kirchen zu schwächen, kooperierten Monisten mit der zeitgenössischen Kirchenaustrittsbewegung, wie wir nun sehen werden.

88 Ebd., 75. 89 Zum elitären Selbstverständnis im Monistenbund, vgl. Myers, Perry: An Elite Class of Thinkers. Monism between Science and the Spiritual in Wilhelmine Germany. In: Black, Monica / Kurlander, Eric (Hg.): Revisiting the »Nazi Occult«. Histories, Realities, Legacies. New York 2015, 42–64. 90 Ostwald: Patriotismus und Internationalismus  II., 257 ff.; Ders.: Europa unter deutscher Führung, 188 ff. 91 Lübbe: Politische Philosophie, 168. 92 Ebd., 169.

200  Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung

2.

»Komitee Konfessionslos«: Monismus und Kirchenaustrittsbewegung

Gründung und Ziele des »Komitees Konfessionslos« Viele Vertreter der Monismusbewegung sahen in der Agitation für den Kirchenaustritt ein wirksames Mittel, um die Trennung von Staat und Kirche voranzutreiben. Unter Ostwalds Präsidentschaft kam es zu einer engen Zusammenarbeit zwischen der Monismus- und Kirchenaustrittsbewegung. »Der Kirchenaustritt ist der erste und notwendigste Schritt in die Kultur des 20. Jahrhunderts«, verkündete Ostwald 1914.93 Diese Forderung war für ihn kein Lippenbekenntnis, denn schon 1911 war Ostwald mit seinem Sohn Wolfgang aus der evangelischen Landeskirche ausgetreten, obwohl seine Frau weiterhin ihrem Glauben und der Kirche treu blieb.94 Wie auch in der monistischen Presse, so spielte unter Vertretern der Kirchenaustrittsbewegung die Kritik an der finanziellen und politischen Macht der Kirchen eine zentrale Rolle. Die kaiserzeitliche Kirchenaustrittsbewegung ging aus dem Kulturkampf Bismarcks hervor, dessen Maigesetze (1873–1875) den Kirchenaustritt in Preußen erheblich erleichterten.95 Neben der Agitation des Freidenkerbundes und der Gesellschaft für Ethische Kultur in den 1890er Jahren lösten die Skandale um die Amtsenthebung Carl Jathos und Gottfried Traubs (1911/12) eine neue Debatte um den Kirchenaustritt im freigeistigen Spektrum aus.96 Unter der Schirmherrschaft des Monistenbundes organisierte sich vor dem Ersten Weltkrieg die Kirchenaustrittsbewegung in Form des »Komitees Konfessionslos«, das 1910 in Berlin von mehreren Freidenkern gegründet wurde und seit 1911 auch dem Weimarer Kartell angehörte.97 Die Initiative zur Gründung des Komitees ging von dem Pazifisten Otto Lehmann-Rußbüldt aus, der am 1. Juli 1909 in der Welt am Montag zur Organisation der Kirchenaustrittsbewegung aufgerufen hatte.98 »Kirchenaustritt hat alle Welt erregt. Heil der Freiheit!«, 93 Ostwald: Kirchenaustritt II. In: MSP IV, 335. 94 Schröder: Naturwissenschaften und Protestantismus, 156. Ostwalds Frau Helene sorgte auch dafür, dass ein »frei- und feinsinniger Pastor« nach Ostwalds Einäscherung eine Trauerrede auf ihn hielt, vgl. Grete Ostwald: Wilhelm Ostwald, Mein Vater, 269. 95 Holt, Niles: The Church Withdrawal Movement in Germany. In: Journal of Church and State 32/1 (1990), 37–48, hier 40 f. 96 Ebd., 42. 97 Grundlegend zur Kirchenaustrittsbewegung im Kaiserreich, vgl. Braune: Fortschritt als Ideologie, 78–87; Ermel: Kirchenaustrittsbewegung im Deutschen Reich, 91–94; Groschopp: Dissidenten, 187–192; Holt: Church Withdrawal Movement, 37–48; Simon-Ritz: Organisation einer Weltanschauung, 198–213. 98 Henning (Hg.): Handbuch der freigeistigen Bewegung, 100.

»Komitee Konfessionslos«  201

schwärmte Lehmann-Rußbüldt am 1. Dezember 1910 in einem Brief an Ernst ­Haeckel und ergänzte: »Wir haben nun sofort unter dem Vorsitz Professor Gurlitts ein ›Comité der Confessionslosen‹ geplant, das den Austritt der Gebildeten und Beamten weiter betreiben will.«99 Erste Erfolge konnte Lehmann-Rußbüldt durch den Kirchenaustritt einiger Beamter in Preußen und das Anwerben namhafter Personen wie den Offizier Kurt von Tepper-Laski (1850–1931) erzielen.100 »Sie müssen es noch erleben und mit ansehen, wie wir eine Plattform erkämpfen, um der Brut von Dummheit und Bosheit einmal wirksam zu Leibe zu gehen«, teilte Lehmann-Rußbüldt ­Haeckel im Sommer 1911 mit.101 Seine Briefe zeigten offenbar Wirkung: Im März 1912 erklärten sich Ernst ­Haeckel, Wilhelm Ostwald, Gustav Tschirn und Bruno Wille offiziell zu den »Protektoren« des Komitees.102 Den Vorsitz der achtköpfigen Arbeitsgruppe übernahm der Philosoph Arthur Drews, während Lehmann-Rußbüldt als Sekretär fungierte.103 Obwohl führende Köpfe der Monismusbewegung für den Kirchenaustritt plädierten, war dieser unter Monisten nicht unumstritten. Besonders freireligiöse Monisten in der Tradition Albert Kalthoffs hofften durch ihr Verbleiben in der evangelischen Kirche, diese im monistischen Sinne zu erneuern. Ostwald hingegen widersprach vehement dieser Auffassung. Seiner Meinung nach hatte jeder Monist die Pflicht, »sich durch die vollständige formelle Trennung von jeder Kirchenzugehörigkeit auch öffentlich als Monist zu bekennen«.104 Dem nicht genug: Jeder Monist, der weiterhin in der Kirche verbleibe, mache sich dadurch zum »Mithelfer der Orthodoxie«, sei diese doch die bestimmende Richtung der Großkirchen.105 Gleichzeitig fühlte sich Ostwald verpflichtet, für all diejenigen, die sich zum Kirchenaustritt entschlossen hatten, eine neue geistige Heimat zu bieten. So erklärte er in einem Brief an H ­ aeckel im Januar 1914: Die grosse Kirchenaustrittsbewegung, die gegenwärtig mit elementarer Wucht über Deutschland sich ausbreitet, stellt uns vor neue grosse Aufgaben und Verpflichtungen, denn es wird sich darum handeln, für all die von der Kirche nun auch äusserlich 99 Otto Lehmann-Rußbüldt an Ernst H ­ aeckel, Berlin, 1.12.1910. EHH, NL ­Haeckel. 100 Otto Lehmann-Rußbüldt an Ernst H ­ aeckel, Berlin, 31.1.1910. EHH, NL ­Haeckel. 101 Otto Lehmann-Rußbüldt an Ernst ­Haeckel, Schmargendorf, 25.7.1911. EHH , NL ­Haeckel. Zu den Kirchenaustritten von Beamten, vgl. Lehmann-Rußbüldt, Otto: Der organisierte Kirchenaustritt. In: Der Dissident 5, Nr. 10 (1912), 81–82. 102 Henning (Hg.): Handbuch der freigeistigen Bewegung, 102. 103 Ebd., 98. Seine Agitation für den Kirchenaustritt 1913 brachte Lehmann-Rußbüldt eine Woche Gefängnis wegen Gotteslästerung ein, vgl. Gröf, Wolfgang: Art. Lehmann-Rußbüldt, Otto. In: Neue Deutsche Biographie 14 (1985), 99–101. 104 Ostwald: Kirchenaustritt I. In: MSP III, 1. 105 Ebd., 6. Lehmann-Rußbüldt versuchte ­Haeckel in einem Brief vom 19.9.1910 zum Kirchenaustritt zu bewegen: »Wenn Ew. Exzellenz auch aus Familienrücksichten noch nicht selbst den Austritt aus der Kirche vollzogen haben, so wäre es doch ein ungeheurer Vorteil für die Sache, wenn Sie, der erste Pionier an Mannhaftigkeit gegen die Kleriker […], in irgend einer Form zustimmten.«

202  Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung freigewordenen Menschen einen kurzgefassten, aber innerlich reichen Lebensinhalt und eine Führung zu beschaffen. In meinen Sonntagspredigten habe ich das seit bald drei Jahren zu tun versucht.106

Das achtköpfige Komitee Konfessionslos warb über Vertrauensmänner reichsweit für den Kirchenaustritt und versuchte durch Zeitungsaufrufe und Protestkundgebungen die städtische Öffentlichkeit zum Austritt zu mobilisieren.107 Gemäß der Satzung verfolgte das Komitee das Ziel, durch die Agitation für den Kirchenaustritt die Zahl der Konfessionslosen derart zu vergrößern, dass sie dieselben »staatsbürgerlichen Rechte« erhielten wie die Kirchenangehörigen.108 Um dieses Ziel zu erreichen, forderte das Komitee »die Taufscheinchristen im Lande« dazu auf, sich »zu tatsächlichen Konfessionslosen« zu erklären; in einem zweiten Schritt empfahl das Komitee den Konfessionslosen den Anschluss an »freigeistig-monistische Vereine«.109 Da das Komitee kein Verein von großer Mitgliederzahl war, war es auf freiwillige Spenden von Sympathisanten und auf die finanzielle Hilfe anderer Freidenkervereine angewiesen.110 Die anfänglichen Aktionen des Komitees beschränkten sich auf die Pressepropaganda. In einer Streitschrift mit dem programmatischen Titel Der geistige Befreiungskrieg durch Kirchenaustritt (1913) trug Otto Lehmann-Rußbüldt die vormals veröffentlichten Statistiken des Komitees zusammen. Während einige Statistiken über die finanziellen Einnahmen der Landeskirchen informieren, boten andere ein präzises Bild über aktuelle Kirchenaustrittszahlen. Im September 1911 veröffentlichte das Komitee statistische Angaben zum Kirchenaustritt im Freien Wort, denen zufolge 1910 mehr als 200.000 Dissidenten im Deutschen Reich gezählt wurden (zu denen allerdings auch Anhänger der Freikirchen gehörten).111 Zwar mutet diese Zahl zunächst hoch an; gemessen an der Gesamtbevölkerung des Reiches von rund 65 Millionen Einwohnern (1910) machte der Anteil der Dissidenten allerdings nur einen marginalen Teil von 0,31 Prozent aus.

106 Ostwald an ­Haeckel, Großbothen, 12.1.1914. In: Nöthlich u. a. (Hg.): »Substanzmonismus« und »Energetik«, 94. 107 Vgl. die Quellensammlung von Ilgenstein, W.: Die religiöse Gedankenwelt der Sozialdemokratie. Eine aktenmäßige Beleuchtung der Stellung der Sozialdemokratie zu Christentum und Kirche. Berlin 1914, 150–159. 108 Henning (Hg.): Handbuch der freigeistigen Bewegung, 98. 109 Ebd., 98 f. 110 Lehmann-Rußbüldt: Der geistige Befreiungskrieg, 9. Im Jahr 1911 verfügte das Komitee über einen bescheidenen Etat von 1.513 Mark. Im Folgejahr stieg der Etat auf 5.550,55 Mark an. 111 Henning (Hg.): Handbuch der freigeistigen Bewegung, 101.

»Komitee Konfessionslos«  203

Mobilisierung und Herstellung von Öffentlichkeit (1913–14) Einen großen Erfolg erzielte das Komitee durch seine öffentlichen und medienwirksamen Protestkampagnen. Am 28. Oktober 1913 fand in Berlin ein »Massenstreik gegen die Staatskirche« statt, der für den Austritt aus der evangelischen Landeskirche in Preußen warb.112 Bei einer Großveranstaltung in der Neuen Welt (Berlin Hasenheide)  trat Wilhelm Ostwald gemeinsam mit dem Sozial­ demokraten Karl Liebknecht (1871–1919) vor fast 4.000 Zuschauern auf.113 Hatte Lehmann-Rußbüldt zunächst die Gebildeten und Beamten als Zielgruppe des Komitees im Blick, so versuchten Ostwald und Liebknecht in ihren Kundgebungen die Arbeiterschaft zu mobilisieren. Ein Plakat des Komitees weist darauf hin, dass die Berliner Großkundgebungen mitunter auf die Nacht verlegt wurden, um möglichst viele Arbeiter zu erreichen (Abb. 15).114 Ostwald appellierte in seiner Rede an die »innere Reinlichkeit und Ehrlichkeit« all jener, die sich von der Kirche entfremdet hätten.115 Sein Aufruf prangerte zudem den religiösen »Gewissenszwang« an Schulen an, unter dem vor allem Kinder von Dissidenten zu leiden hätten. Den Kindern zuliebe sollten sich Eltern für den Kirchenaustritt entscheiden, denn nur ein massenhafter Austritt aus der Kirche sei imstande, deren Einfluss auf Schule und Erziehung zurückzudrängen.116 Interessanterweise betrachtete Ostwald den Kirchenaustritt in erster Linie als eine Sache des Mannes. Auf dem Düsseldorfer Monistentag 1913 mahnte er den hemmenden Einfluss vieler Ehefrauen und Mütter auf die Austrittsentscheidung ihrer Männer bzw. Söhne an.117 Seine geschlechterspezifische Unterscheidung von Religion und Dissens fand im liberalen Gesellschaftmodell des 19. Jahrhunderts Rückhalt, das Religion zur weiblichen und den säkularen Staat bzw. Politik zur genuin männlichen Domäne erklärte.118 Ostwalds Mitstreiter Karl Liebknecht sah den Kirchenaustritt indessen als ein probates Mittel zur Lösung der Klassenfrage. Denn gerade im »preußischen Junkerstaat« warf er den Landeskirchen vor, ein »Instrument der herrschenden Klassen zur Unterdrückung der breiten Massen des Volkes« zu sein.119 »Kirche 112 Lehmann-Rußbüldt, Otto: Massenstreik gegen die Staatskirche. 1328 Austritte an einem Tag. In: DMJ 7 (1913), Nr. 32, 900–902. Dazu auch Ilgenstein: Die religiöse Gedankenwelt der Sozialdemokratie, 150–159. 113 Massenstreik gegen die Staatskirche. In: Vorwärts 30, Nr. 283 (28.10.1913). 114 Liebknecht, Karl: Politischer Kirchenboykott [Flugblatt]. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 5275. Zu den gemeinsamen Auftritten von Ostwald und Liebknecht, vgl. Laschitza, Annelies: Die Liebknechts. Karl und Sophie – Politik und Familie. Berlin 2010, 217 f. 115 Massenstreik gegen die Staatskirche. In: Vorwärts 30, Nr. 283 (28.10.1913). 116 Ebd. 117 Zu Ostwalds Mahnung, vgl. Herbst: Bedenken gegen den Austritt, 1167. 118 Zur Konstruktion des männlichen Staates im liberalen Diskurs, vgl. Borutta: Antikatholizismus, 289–325. 119 Massenstreik gegen die Staatskirche. In: Vorwärts 30, Nr. 283 (28.10.1913).

204  Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung

Abbildung 15: Plakat zu den Kirchenaustrittskampagnen des Komitees Konfessionslos (1913).

und Staat sind versippt und verschwistert. Beide erblicken ihre Hauptaufgabe in der Aufrechterhaltung der bestehenden politischen und sozialen Zustände«, erklärte Liebknecht in einem Flugblatt zum »Politischen Kirchenboykott«.120 Bewusst betonte er dabei, dass es dem proletarischen Kirchenboykott nicht um eine Bekämpfung der Religion an sich gehe, sondern um eine Schwächung der Preußischen Landeskirche durch die gezielte Senkung ihrer Steuereinnahmen: Kirchenausritt heisst zugleich Steuerverweigerung gegenüber der Kirche und zwar die bequemste Steuerverweigerung, die sich ausdenken lässt. Schwächung der kirchlichen Organisation heisst zugleich Schwächung des Staates und der herrschenden Klassen. Dem Stiefvater Staat ist es bei Leibe nicht gleichgültig, wenns der Stiefmutter Kirche ans Leder geht.121

Parallel zur Versammlung in der Neuen Welt fanden drei weitere Protestkund­ gebungen in Berlin statt: In der Brauerei Friedrichshain sprachen der Sozial­ demokrat Heinrich Peus und der Präsident des Deutschen Freidenkerbundes 120 Liebknecht: Politischer Kirchenboykott [Flugblatt]. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 5275. 121 Ebd.

»Komitee Konfessionslos«  205

Gustav Tschirn; im Moabiter Gesellschaftshaus referierten der freireligiöse Prediger Gaulke sowie der sozialistische Landtagsabgeordnete Adolph Hoffmann; im Victoria-Garten Wilmersdorf trat der monistische Schriftsteller Bruno Wille mit dem sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Ewald Vogtherr auf. Das sozialdemokratische Parteiorgan Vorwärts lobte die Aktion des Komitees Konfessionslos als einen »sehr guten praktischen Erfolg«.122 Bei den Parallelveranstaltungen erklärten 1.328 von insgesamt 8.000 Teilnehmern den Kirchaustritt.123 Sowohl die sozialdemokratische und freidenkerische Presse als auch nationale Tageszeitungen und konservative Blätter berichteten über den Kirchenboykott Ostwalds und Liebknechts. Die Teilnahme Liebknechts an den Großkundgebungen nahm das konservative Blatt Germania zum Anlass, die »kirchenfeindliche Agitation und Hetzarbeit« kurzerhand zur »Parteisache« der Sozialdemokratie zu erklären.124 Das konservative Blatt sah sich durch Liebknechts Engagement für die Kirchenaustrittsbewegung in ihrem Vorwurf bestärkt, das die Sozialdemokratie angeblich eine Bedrohung für die sittliche und staatliche Ordnung war. Am Buß- und Bettag im November 1913 veranstaltete das Komitee zwölf weitere Großkundgebungen in Berlin, bei denen 4.209 von fast 20.000 Teilnehmern ihren Kirchenaustritt erklärten (vgl. Abb. 25 im Anhang).125 Ein unerwarteter Erfolg. Nur wenige Monate später, im Februar 1914, organisierte ein Zusammenschluss aus Leipziger Monisten und proletarischen Freidenkern, das sogenannte Vereinigte Komitee für Kirchenaustritt, mehrere Kundgebungen in der sächsischen Messestadt. Im Vergleich zu den Berliner Protestveranstaltungen hatte die Leipziger Kampagne jedoch weniger Erfolg, da der Kirchenaustritt in Sachsen mit größeren bürokratischen und finanziellen Hürden verbunden war als in Preußen.126 122 Massenstreik gegen die Staatskirche. In: Vorwärts 30, Nr. 283 (28.10.1913); Lehmann-​ Rußbüldt, Otto: Massenstreik gegen die Staatskirche. 1328 Austrittserklärungen an einem Tage. In: DMJ 2, Nr. 32 (1913), 900–902. 123 Zu den Versammlungen 1913/14, vgl. Neef, Katharina: Gottlose Kultur – Das atheistische Vereinswesen. In: Edenheiser, Iris (Hg.): Von Aposteln bis Zionisten. Religiöse Kultur im Leipzig des Kaiserreichs. Marburg 2010, 227–237, hier 334 f. 124 Sozialdemokratie und Kirchenaustritt. In: Germania Nr. 558 (2.12.1913), ABBAW NL Ostwald, Nr. 5279. 125 Braune: Fortschritt als Ideologie, 85. 126 Das Vereinigte Komitee für Kirchenaustritt organisierte am 6. Februar 1914 Großkundgebungen im Leipziger Felsenkeller (Zschocherstraße), Schlosskeller (Dresdner Straße) und Volkshaus. Von den 5.000 Teilnehmern der Leipziger Protestkundgebung bekundeten gerade einmal 150 ihre Absicht aus der Landeskirche auszutreten. Die geringen Austrittszahlen in Leipzig waren auf die erschwerten Austrittsbedingungen in Sachsen zurückzuführen; zudem forderten die bürokratischen Schritte (wie die Eintragung ins örtliche »Dissidentenregister«) Kosten von sechs bis acht Mark pro Person, die eine Arbeiterfamilie kaum tragen konnte. Vgl. Neef: Gottlose Kultur, 234 f.

206  Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung Berücksichtigt man den Erdrutschsieg der Sozialdemokraten bei den Reichstagswahlen von 1912, bei denen sie 34,8 Prozent aller Stimmen erzielten, so verwundert es kaum, dass die Haupterfolge des Komitees Konfessionslos gerade in die Jahre zwischen 1912 bis 1914 fielen.127 Tatsächlich stieg die Anzahl von Kirchenaustritten seit 1906 deutlich an: Lag vor 1905 das Maximum bei 6.400 Austritten reichsweit, so stiegen die Austrittszahlen mit ca. 17.600 im Jahr 1906 auf beinahe das Dreifache an.128 Für das Jahr 1913 wurden knapp 23.000 Kirchen­austritte zur Konfessionslosigkeit verzeichnet. Insgesamt lag der Anteil von Dissidenten 1913 im Deutschen Reich bei etwa 250.000, wobei rund zwei Drittel christlichen Sondergemeinschaften (Freikirchen) angehörten und nur etwa 100–120.000 Konfessionslose waren (vgl. Grafik 2).129 Unter den Konfessions­losen waren 1914 ca. 20–25.000 in Freidenkerverbänden organisiert.130 Der Grund für den enormen Anstieg der Kirchenaustrittszahlen seit 1906 war nicht allein religiöser, sondern auch finanzieller Natur: In diesen Jahren wurde vielerorts die Kirchensteuer angehoben. Besonders für Arbeiter mit einem durchschnittlichen Monatslohn von rund 70 Mark stellte die Kirchensteuer eine finanzielle Belastung dar.131 Dass das Komitee Konfessionslos führende Vertreter der Sozialdemokratie für ihre Großveranstaltungen gewinnen konnte, war keine Selbstverständlichkeit. Bis in die 1920er Jahre verhielt sich die Sozialdemokratie gegenüber dem Kirchenaustritt zurückhaltend, da die Parteilinie Religion zur Privatsache erklärte. Zwar hatte das Erfurter Programm von 1891 die Forderung gestellt, keine öffentlichen Gelder mehr für religiöse und kirchliche Zwecke zu verwenden, doch blieben Positionen eines radikalen Säkularismus zumindest vor dem Ersten Weltkrieg in der Sozialdemokratie marginal.132 Liebknecht wurde

127 Zu den statistischen Ergebnissen der Reichstagswahlen im Kaiserreich, vgl. Ritter, Gerhard A. (Hg.): Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs. München 1980, 54. Hierbei ist zu ergänzen, dass die Sozialdemokratie gegenüber den liberalen und konservativen Parteien aufgrund der veralteten Wahlkreis-Geometrie systematisch benachteiligt war. Obwohl der Stimmanteil der Sozialdemokraten seit den 1890er Jahren stark zunahm, blieb der Mandatsanteil im Reichstag vergleichsweise gering, da die Wahlkreiseinteilung den ländlichen Raum gegenüber den Städten bevorteilte. Dadurch waren die städtischen Wählerstimmen im Parlament deutlich unterrepräsentiert. 128 Holt: Church Withdrawal Movement, 45. 129 Bloßfeldt, Wilhelm: 4209 neue Kirchenaustrittserklärungen. In: DMJ 2, Nr. 35 (1913), 977–981. 130 Groschopp: Art. Freidenkerbewegung, 159. 131 Zur Entwicklung der Reallöhne in der kaiserzeitlichen Arbeiterschaft, vgl. Ritter, Gerhard A. / Tenfelde, Klaus: Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871 bis 1914. Berlin 1992, 491–497. In der Regel wurden diese Steuern mit der Einkommens- oder Gewerbesteuer verrechnet. 132 Holt: Church Withdrawal Movement, 44. Unter Punkt fünf des Erfurter Programms heißt es: »Erklärung der Religion zur Privatsache. Abschaffung aller Anwendungen aus öffentlichen Mitteln zu religiösen und kirchlichen Zwecken. Die kirchlichen und religiösen

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250000 200000 150000 100000 50000

19 00 19 01 19 02 19 03 19 04 19 05 19 06 19 07 19 08 19 09 19 10 19 11 19 12 19 13 19 14 19 15 19 16 19 17 19 18 19 19

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Austritte insgesamt

Austritte zur Konfessionslosigkeit (Werte ab 1908)

Grafik 2: Austritte aus der evangelischen Kirche in Deutschland (1900–1919).

im revisionistischen Parteiorgan Sozialistische Monatshefte sogar dafür gerügt, mit der »trostlosen Freidenkerbewegung« zusammengearbeitet zu haben, »die nur einreißen will, ohne aufzubauen, die nur nehmen will, ohne etwas anderes dafür zu bieten.«133 Dem nicht genug: Die Sozialdemokratie müsse »eine feste und hohe Trennungsmauer zwischen der sozialdemokratischen und der antikirchlichen Bewegung aufführen«, betonte Paul Kampffmeyer, um nicht mit einer »absterbenden Weltanschauung wie der materialistischen« gleichgesetzt zu werden.134 Die Sozialdemokratie sei eben »keine Weltanschauungsrichtung unserer heutigen Zeit«, sondern eine »politisch-ökonomische Partei«, die sich auf die »Demokratisierung und Sozialisierung der heutigen Gesellschaft« beschränke.135 Gerade vor dem Ersten Weltkrieg war der Weltanschauungsbegriff noch stark mit dem naturwissenschaftlichen Materialismus, Monismus und Freidenkertum assoziiert, wie Todd Weir herausstellte.136 Karl Marx’ Polemik gegen den Materialisten Carl Vogt, den er in seiner Londoner Streitschrift Herr Vogt (1860) als bezahlten Agenten Napoleons III. denunziert hatte, trug zu einer negativen Rezeption des naturwissenschaftlichen Materialismus unter Sozialdemokraten Gemeinschaften sind als private Vereinigungen zu betrachten, welche ihre Angelegenheiten vollkommen selbstständig ordnen.« 133 Fischer, Edmund: Christentum und Sozialismus. In: Sozialistische Monatshefte 24 (Nov. 1913), 1561. 134 Kampffmeyer, Paul: Marxismus und Materialismus. In: Sozialistische Monatshefte 24 (Nov. 1913), 1554. 135 Ebd., 1556 f. 136 Weir: Secularism and Religion, 223–227.

208  Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung und Sozialisten bei.137 Durch die Massenversammlungen gegen die Staatskirche befürchtete Kampffmeyer eine Verflachung der sozialdemokratischen Inhalte. Die Kampagnen des Komitees Konfessionslos fördern nicht, nein sie verflachen die sozialdemokratische Erziehung der Massen. Und haben wir das nicht möglicherweise von einer antikirchlichen Massenstreikbewegung zu befürchten, in der gar zu leicht von Freidenkern die ältesten Dosen, Töpfe und Schachteln der materialistischen Apothekerphilosophen Büchner und Vogt wieder geöffnet werden?138

Deshalb verwundert es kaum, dass am 23. Dezember 1913 der Parteivorstand der Sozialdemokraten bewusst Abstand von den Bestrebungen des Komitees Konfessionslos nahm: »Parteivorstand und Parteiausschuß stellen ausdrücklich fest, daß die Agitation zum Austritt aus der Landeskirche eine private Veranstaltung des Komitees ›Konfessionslos‹ und der Freidenkervereine ist, denen die Sozialdemokratische Partei völlig fernsteht.« Ausdrücklich betonte man, dass es die sozialdemokratische Partei ablehne, sich »in den Dienst dieser Bewegung zu setzen.«139 Ähnlich ablehnend gegenüber dem Monismus zeigte sich Franz Eissler 1913 in den Sozialistischen Monatsheften: Der Glaube an die Menschenkraft läßt den Monismus so stark werden im Kampf gegen die Kirche, und jene Siegfriedfreudigkeit im Zerstören läßt ihn Geister anlocken, die tief genug wären seine Dürftigkeit zu durchschauen. Hier soll nicht die Beziehung von Glaube und Dogma erläutert werden. Aber hochstaplerisch ist die Wissenschaft, die mit dem Dogma operiert, und dogmatisch ist der Monismus.140

Sozialismusvorwürfe Obwohl Ostwald in der Arbeiterschaft einen wichtigen Koalitionspartner für die Interessen der Kirchenaustrittsbewegung sah, blieb sein Verhältnis zur Sozialdemokratie gespalten. Zwar lobte er die Sozialdemokratie als eine »Partei des Fortschritts und der Entwicklung«, doch attestierte er ihr nicht dieselbe kulturelle Höhe wie dem bürgerlichen Freidenkertum.141 Das Interesse der Arbeiterschaft am Kirchenaustritt führte er in erster Linie auf ökonomische Motive zurück. Die 137 Marx, Karl: Herr Vogt. London 1860. Carl Vogt hatte im Voraus Marx als Anführer einer Clique von Exilanten bezeichnet, die vom Ausland aus Verschwörungen spinnen und ehemalige Teilnehmer der 1848er-Revolution um Geld erpressen würden. 138 Kampffmeyer: Marxismus und Materialismus, 1557. 139 Aus der Partei. Die Partei und die Kirchenaustrittsbewegung. In: Vorwärts 30, Nr. 338 (23.12.1913), 3. 140 Eissler, Franz: Gedanken über den Monismus. In: Sozialistische Monatshefte 3, Nr. 24 (27.11.1913), 1563. 141 Ostwald: Monistische Politik, 326–327.

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Abwendung der Arbeiterschaft von der Kirche, so Ostwald, »hängt wohl weniger mit dem Kulturzustande als mit der Erkenntnis zusammen, daß die Kirche sich als Beschützerin der Privilegierten gegenüber den Zukurzgekommenen auch gegenwärtig ausgiebig betätigt.«142 Seine Wortwahl lehnte sich ein Jahr später stark an das Narrativ Liebknechts an, wenn er die feindliche Haltung der Arbeiterschaft gegenüber der Kirche als die »historische Quittung« dafür interpretierte, dass sich die christlichen Kirchen den »herrschenden Klassen« für die Ausbeutung der Arbeiterklasse angedient hätten.143 Zugleich warf die Zusammenarbeit von Monisten und Sozialdemokraten die Frage auf, ob der DMB weiterhin ein bürgerlicher »Honoratiorenverband« sei oder auch die Arbeiterschaft an sich binden wolle.144 Schließlich lag eine besondere Stärke der wissenschaftlichen Weltanschauung aus Sicht der Monisten darin, dass sie alle Gesellschaftsschichten jenseits politischer Grabenkämpfe integrierte. Die Vision einer Sammlung aller fortschrittlichen Kräfte teilte auch der Hamburger Monist Paul Unna. Im September 1914 appellierte Unna an Ostwald, dass der Monistenbund nach Kriegsende dazu berufen sei, die »fortschrittlichen Parteien« mit der »Socialdemokratie« zu versöhnen, um die »Bildung einer grossen Linken« zu realisieren. Unna sah in Ostwald die einzige Persönlichkeit, »die Kraft ihrer Autorität u. Energie bei den beiderseitigen politischen Parteimännern das Ideal der grossen Linken aufrollen« konnte und imstande war, »Leute wie Naumann« und »Sozialisten vom Schlage Franks […] durch persönliche Beredsamkeit zusammenzubringen.«145 Auch Jacques Loeb, der in den USA eine »Freidenkergesellschaft« aufzubauen versuchte, hielt es für den Erfolg der Monismusbewegung unabdingbar, die Sozialdemokratie zu gewinnen. Am 3. September 1913 teilte er Ostwald mit: Ich beabsichtige mich mit einigen tüchtigen Leuten zusammen zu thun, um eine Art Freidenkergesellschaft zu gründen. Ich fürchte der Monismus ist zu sehr Angelegenheit der besitzenden Klassen. Wir müssen die Sozialdemokraten gewinnen, d. h. der Sozialdemokratie offiziell beitreten. Die aristokratische Klasse kann keine Ideale durchsetzen, wie das Beispiel der Friedensbewegungen zeigt. – Vielleicht komme ich bald einmal wieder nach Deutschland oder Sie nach America.146 142 Ostwald: Religion und Wissenschaft, 31 f. 143 Ostwald: Soziales Christentum. In: MSP III, 47. 144 Braune: Fortschritt als Ideologie, 84. 145 Paul Unna an Wilhelm Ostwald, Hamburg, 28.9.1914. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 3080. Gemeint waren Friedrich Naumann und Karl Frank. 146 Jacques Loeb an Wilhelm Ostwald, New York, 3.9.1913. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 1828. Zum Monismus und Freidenkertum in den USA, vgl. Carus, A. W.: Gedanken zum amerikanischen Monismus. In: JbWk 3 (2007), 217–240. Zu Jacques Loebs Leben und Werk, vgl. Pauly, Phillip J.: Controlling Life. Jacques Loeb & the Engineering Ideal in Biology. New York, Oxford 1987; Fangerau, Heiner: Spinning the Scientific Web. Jacques Loeb (1859–1924) und sein Programm einer internationalen biomedizinischen Grundlagenforschung. Berlin 2010.

210  Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung Ostwalds Kooperation mit führenden Sozialdemokraten 1913/14 bestärkte Kritiker in ihrem Vorwurf, dass sich hinter dem Monismus der Sozialismus verbarg. Seit seiner Zusammenarbeit mit Karl Liebknecht bürgerte sich für Ostwald der Beiname »Roter Geheimrat« ein.147 Die Assoziationskette zwischen Monismus, Darwinismus und Sozialismus hatte eine längere Tradition.148 Bereits 1877 war ­Haeckels Monismus unter Sozialismusverdacht geraten, als er für die Einführung des Darwinismus als Unterrichtsfach an Schulen eintrat. Der Mediziner und Fortschrittsliberale Rudolf Virchow kritisierte H ­ aeckel auf der Münchner Naturforscherversammlung 1877 für dessen Vorschlag und warnte vor der weltanschaulichen Vereinnahmung der Darwin’schen Lehre. Sendungsbewusst erinnerte Virchow an die Schrecken der Pariser Kommune, des revolutionären Stadtrats in Paris von 1871, den er auf einen durch Materialismus und Sozialismus beförderten Sittenverfall zurückführte. Virchow entlarvte den Glauben der Pariser Kommune als Trugschluss, dass sich Staat und Gesellschaft ohne politische Lenkung von oben evolutionär entwickeln könnten.149 H ­ aeckel reagierte in seiner Gegenrede »Freie Wissenschaft und freie Lehre« (1878) auf Virchows Sozialismusvorwürfe und argumentierte, dass Darwins Selektionstheorie eher aristokratischen Ansichten Vorschub leiste, als demokratischen oder gar sozialistischen. Schließlich würde sich nur eine kleine, auserlesene Zahl der anpassungsfähigsten Arten im Kampf ums Überleben durchsetzen.150 Die H ­ aeckel-Virchow-Kontroverse polarisierte die wissenschaftliche Öffentlichkeit und führte zu Lager- und Mythenbildungen auf beiden Seiten. Rhetorisch wurde die Kontroverse auf einen Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft zugespitzt, wobei die einen vor den Gefahren der »rote[n] Internationale« warnten, während andere hinter Virchows Angriffen eine »schwarze Verschwörung« der Reaktion wähnten.151 Der österreichische Landwirt und Freidenker Konrad Deubler (1814–1884), ein glühender Verehrer H ­ aeckels, bemerkte spöttisch in einem Brief an ­Haeckel vom 1. November 1877, dass Virchow zum »Heiland aller 147 Hamann, Günther (Hg.): Aufsätze zur Geschichte der Naturwissenschaften und Geographie. Wien 1986, 218. 148 Vgl. Bayertz, Kurt: Naturwissenschaft und Sozialismus. Tendenzen der Naturwissenschafts-Rezeption in der deutschen Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts. In: Social Studies of Science 13 (1983), 355–394; Weikart, Richard: Socialist Darwinism. Evolution in German Socialist Thought from Marx to Bernstein. San Francisco u. a. 1999. 149 Virchow griff ­Haeckel in seiner Rede Die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staate scharf an: »Nun stellen sie sich einmal vor, wie sich die Descendenz-Theorie heute schon im Kopfe eines Socialisten darstellt! […] es ist sehr ernst, und ich will hoffen, dass die Descendenz-Theorie für uns nicht alle die Schrecken bringen möge, die ähnliche Theorien wirklich im Nachbarlande angerichtet haben.« Zit. n. H ­ aeckel: Freie Wissenschaft und freie Lehre, 71. Dazu auch Auwärter: Atheist auf der Kanzel, 329. 150 ­Haeckel: Freie Wissenschaft, 73 f. 151 Daum: Wissenschaftspopularisierung, 78. Ausführlich zur Kontroverse, vgl. Kolkenbrock-Netz: Wissenschaft als nationaler Mythos, 212–236; Kelly: Descent of Darwin, 57–60.

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Betbrüder und Betschwestern in und außerhalb Deutschlands« herabgesunken sei. Virchow und andere Naturwissenschaftler seien sogar zu »Reaktions-Werkzeugen der Jesuiten und Heuchler« mutiert, wetterte Deubler.152 Konservative Blätter wiederum rückten ­Haeckel gezielt in die Nähe des Sozialismus und Atheismus. So gab ihm die Fuldaer Zeitung im Oktober 1882 den polemischen Titel »Atheist und Affenapostel«, nachdem er auf der 55. Naturforscherversammlung 1882 über die Naturanschauung Goethes, Lamarcks und Darwins referiert hatte. Der Autor warnte dabei vor der zersetzenden Wirkung des H ­ aeckelschen Atheismus auf den »gesunden Volksgeist«, sei er doch der »geistige Stiefvater des Sozialismus, des Nihilismus und Kommunismus«.153 Der Sozialistenvorwurf war eine willkommene Diffamierungsstrategie der Gegner des Monistenbundes, um Monisten (im Sinne des Bismarck’schen Diktums) zu »inneren Reichsfeinden« zu erklären. Nicht nur Bismarcks Sozialistengesetze, sondern auch die von Reichskanzler Hohenlohe-Schillingsfürst eingebrachte und letztlich gescheiterte »Umsturzvorlage« (1894) stellten einen Versuch dar, die Sozialdemokratie im Reich endgültig auszuschalten.154 »Wer hätte denken können«, schrieb Ludwig Büchner an H ­ aeckel 1895, »daß im Angesicht der riesigen Fortschritte der Wissenschaft in diesem Jahrhundert am Ende desselben eine solche geistige Reaktion, wie wir sie jetzt leider vor uns sehen müssen, Platz greifen konnte! O tempora o mores! Wie weit werden wir auf diesem abschüssigen Wege herunterkommen?«155 Diejenigen, die den Mythos einer geistigen Verwandtschaft zwischen Sozialismus und Darwinismus verbreiteten, übergingen die Tatsache, dass das Verhältnis zwischen den beiden Theorien spannungsgeladen war: Einerseits war Darwins Evolutionstheorie natürlich kompatibel mit atheistischen und materialistischen Positionen, da er den Menschen als reines Naturwesen fasste und eine naturwissenschaftliche Fundierung der gesellschaftlichen Entwicklung und des dialektischen Geschichtsprozesses anbot.156 Andererseits jedoch konnte der malthusische Kampf ums Überleben als evolutionsbiologische Legitimation freier Marktwirtschaft gelesen werden, die ursächlich für die Klassengesellschaft war. Darüber hinaus stellte der kontingente Mechanismus der natürlichen Selektion die Wirksamkeit von Sozialreform und die Möglichkeit gesellschaftlichen Fort 152 Deubler an ­Haeckel, Goisern, 1.11.1877. In: Dodel-Port, Arnold (Hg.): Konrad Deubler. Tagebücher, Biographie und Briefwechsel des oberösterreichischen Bauernphilosophen. Zweiter Teil. Leipzig 1886, 182. 153 Politische Streifzüge. In: Fuldaer Zeitung (1.10.1882), Nr. 226, 1. 154 Ziel der Umsturzvorlage war es, alle verfassungs- und regierungsfeindlichen Bestrebungen im Kaiserreich zu verbieten – in erster Linie die Sozialdemokratie. Liberale lehnten die Gesetzesvorlage ab, da sie auch Eingriffe in die Presse- und Wissenschaftsfreiheit vorsah. 155 Büchner an ­Haeckel, Darmstadt, 6.2.1895 [Brief Nr. 58]. In: Kockerbeck (Hg.): Briefwechsel, 154. 156 Bayertz: Naturwissenschaft und Sozialismus, 364‒367.

212  Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung schritts infrage, wenn die Fähigkeit zur Anpassung biologisch angelegt war.157 Welchen Sinn hatten Reformen, wenn die Natur darüber entschied, welche Arten und Populationen sich letztlich durchsetzen? Während britische Naturforscher wie Alfred Russel Wallace (1823‒1913), Edward Aveling (1849‒1898) und Ray Lankester (1847‒1929) über das Verhältnis von darwinistischen und sozialistischen Positionen reflektierten und mit letzteren sympathisierten, waren die meisten Biologen in Deutschland entschiedene Sozialismusgegner. Eine Ausnahme bildeten Carl Vogt, Ludwig Büchner, Arnold Dodel (1843‒1908) und Julius Schaxel (1887‒1943), die Sympathien für den Sozialismus zeigten und sich für die Arbeiterfrage einsetzten.158 In seiner Schrift »­Moses oder Darwin?« (1889) argumentierte Dodel, dass die Menschheit dem Überlebenskampf nicht entkommen könne und dieser eine wichtige Voraussetzung für gesellschaftlichen Fortschritt sei. Allerdings konnten Sozialreformen dafür sorgen, so Dodel, dass der Überlebenskampf gerechter und egalitärer wurde und er auf Talent (anstatt Wohlstand) basiere.159 »An die Stelle des Einzelkampfes um das Dasein muss ein gemeinsamer Kampf aller für das Dasein treten«, schrieb Ludwig Büchner wenige Jahre später in »Darwinismus und Sozialismus« (1894).160 Neben den genannten Naturwissenschaftlern erörterten deutsche und österreichische Sozialdemokraten wie August Bebel (1840‒1913), Eduard Bernstein (1850‒1932), Karl Kautsky (1854‒1938), Franz Mehring (1846‒1919) und Otto Bauer (1881‒1938) den Zusammenhang von darwinistischen, evolutionstheoretischen und sozialistischen Ideen.161 Auch sozialdemokratisch gesinnte Monisten insistierten immer wieder auf der geistigen Verwandtschaft zwischen Sozialismus und Monismus. Dabei verstärkten sie bei Kritikern den Eindruck, dass der Monismus ein geheimer Parteigänger der Sozialdemokratie sei. Heinrich Peus veröffentlichte 1912 einen Artikel im Monistischen Jahrhundert über die gegenseitige Befruchtung von monistischem und sozialdemokratischem Denken. Zwar unterschieden sich Sozialdemokratie und Monismus in ihren Zielen voneinander, da Erstere für 157 Stack, David A.: The First Darwinian Left: Radical and Socialist Responses to Darwin, 1859‒1914. In: History of Political Thought 21/4 (2000), 682‒710, hier 688 f. 158 Vgl. Büchner, Ludwig: Darwinismus und Sozialismus. Der Kampf um das Dasein und die moderne Gesellschaft. Leipzig 1894; Schaxel, Julius: Darwinismus und Marxismus. Ein Beitrag der wissenschaftlichen Voraussetzungen des Sozialismus. In: Jenssen, Otto (Hg.): Der lebendige Marxismus. Festgabe zum 70. Geburtstag von Karl Kautsky. Jena 1924, 485–500. 159 Dodel, Arnold: Moses oder Darwin? Eine Schulfrage. Allen Freunden der Wahrheit zum Nachdenken vorgelegt. Stuttgart 1889. Weiterführend dazu, vgl. Weikart: Socialist Darwinism, 122‒125. 160 Büchner: Darwinismus und Sozialismus, 18. 161 Zur Darwinismus-Rezeption in der Sozialdemokratie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, vgl. Saage, Richard: Zwischen Darwin und Marx. Zur Rezeption der Evolutionstheorie in der deutschen und der österreichischen Sozialdemokratie vor 1933/34. Köln, Weimar, Wien 2012.

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einen bestimmten »Lebensinhalt« stünde, während Letzterer das Ideal einer rein wissenschaftlichen »Denk- und Lebensmethode« repräsentiere.162 Doch sei die Sozialdemokratie in ihrem Einsatz für Geistesfreiheit und ihrem Kampf gegen Reaktion und Kirche wiederum »der mächtigste Helfer« des Monismus. Im Umkehrschluss sei es die Pflicht der Monisten, so Peus, die Sozialdemokratie an ihre übergeordneten Ziele – die Geistesfreiheit und den Klassenkampf – zu erinnern und sie vor egoistischen Parteiinteressen zu warnen: Kapitalismus, Monarchie, geistliche Hierarchie, privilegiertes Junkertum und ähnliche Mächte werden nie Freunde des Monismus sein. Sie werden immer nur der gebundenen Weltanschauung zustimmen, die ihre bevorzugte Machtstellung zu erhalten geeignet ist. […] Die Sozialdemokratie steht programmatisch auf dem Boden der schrankenlosesten Geistesfreiheit, und wenn sie je mit der Tat, etwa aus parteitaktischen Gründen, ihrem Programm zuwiderhandeln sollte, so hat jedermann, insbesondere jeder Monist, das Recht und die Pflicht, im Namen der Geistesfreiheit sie an ihr Programm zu erinnern.163

Nach den Protestkundgebungen 1913/14 behauptete Heinrich Peus in einer öffentlichen Stellungnahme, dass Ostwald in seinen Anschauungen der Sozialdemokratie so nahe gekommen sei, dass er »jeden Tag zu dieser übertreten« könne.164 Die Vorwürfe der Kritiker, er sei heimlich zum Sozialdemokrat konvertiert, wies Ostwald mit der Begründung zurück, dass er weder die Idee des Klassenkampfes befürworte (da er ihn als Energievergeudung betrachtete), noch die Ideen des Republikanismus.165 »Ich für meine Person bin politisch Demokrat, aber nicht Republikaner«, erklärte er im Dezember 1913 gegenüber der Vossischen Zeitung.166 Bemerkenswert dabei ist, dass der Monismus in der wilhelminischen Öffentlichkeit völlig konträre Lesarten generierte. Wurde der Monismus einerseits mit dem Dogmatismus der katholischen Kirche gleichgesetzt, so betrachteten ihn andere als heimlichen Förderer des Sozialismus. Aufgrund der Tatsache, dass 162 Peus, Heinrich: Monismus und Sozialdemokratie. In: DMJ 2, Nr. 2 (April 1913), 25–29, hier 29. 163 Ebd., 28. Hervorhebung im Original. Auch andere Freidenker zeichneten das Bild einer geistigen Verwandtschaft von Sozialisten und Monisten: »Sozialismus und Monismus sind zwei Erscheinungsformen derselben Denkweise; ob sie getrennt marschieren und vereint schlagen, oder aber in einer Bewegung kristallisieren sollen, mag eine taktische Frage sein: grundsätzlich besteht Wesens-Uebereinstimmung«, schrieb ein Schweizer Freidenker 1916. Vgl. Brodtbeck, K. A.: Monismus und Sozialismus in der Schweiz. In: Der Schweizer Freidenker 2, Nr. 20 (1916), 81–82, hier 82. Hervorhebung im Original. 164 Monismus und Sozialdemokratie. In: Neue Preussische Zeitung (27.5.1914). ABBAW, NL Ostwald, Nr. 5280. 165 Bericht zum Kirchenaustritt. In: Vossische Zeitung, Nr. 629 (11.12.1913). ABBAW, NL Ostwald, Nr. 5275. 166 Ebd.

214  Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung sich der Monismus stets zwischen den Extremen der Religion und des Atheismus bewegte, rief er Deutungen und Zuschreibungen hervor, die gegensätzlicher nicht hätten sein können. Wenngleich die Kirchenaustrittsbewegung 1913 Synergien zwischen Sozialisten und Monisten erzeugte, wahrte der Monistenbund Abstand vor einer parteipolitischen Zuordnung oder Vereinnahmung. Dennoch nutzten gerade Kritiker den Sozialismusvorwurf, um Monisten als Feinde von Reich und Nation zu diffamieren.

3.

Eine Frage der Loyalität: Religion, politischer Eid und öffentliches Amt

Die eidesstattliche Erklärung des 19. Jahrhunderts befand sich an der Schnittstelle von Religion und Politik. Staatliche Institutionen griffen auf christliche Schwurformeln zurück, um sich der Loyalität ihrer Bürger gegenüber dem staatlichen Gemeinwesen zu versichern. Sowohl vor Gericht als auch bei Amtsantritt mussten Bürger des Reiches einen Eid leisten – auch diejenigen, die bereits aus der Kirche ausgetreten waren. Monisten und andere Freidenker prangerten diese Praxis als einen Gewissenszwang an. Deshalb forderten sie eine säkulare Eidesformel, die gleichberechtigt neben die religiöse treten sollte. Denn: Wie sollte ein Dissident, der nicht an Gott glaubte, sich auf ihn berufen, um seine Aufrichtigkeit oder Amtstreue zu beglaubigen? Das folgende Kapitel skizziert zunächst die Debatten um die religiöse Eidesformel im 19. Jahrhundert und veranschaulicht diese an einem Einzelfall, in dem es um die Diskriminierung von Dissidenten im kaiserzeitlichen Militärwesen ging. Konkret ging es um die Söhne des Monisten Paul Unna, die aufgrund ihrer Konfessionslosigkeit 1917 nicht zum Offiziersrang erhoben wurden. In der monistischen Debatte um die Vereinbarkeit von Konfessionslosigkeit und öffentlichem Amt trafen unterschiedliche Vorstellungen von Säkularität aufeinander. Kritik an der religiösen Eidesformel Wer im 19. Jahrhundert zu Amt und Würden im Staat gelangen wollte, musste einen religiösen Eid leisten.167 Zwei Formen des Schwurs wurden dabei unterschieden: Der assertorische Eid diente im Rechtswesen der Versicherung, dass eine Aussage der Wahrheit entsprach; der promissorische Eid hingegen ver 167 Weichlein, Siegfried: Religion und politischer Eid im 19. und 20. Jahrhundert. In: Bluhm, Harald / Fischer, Karsten / Llanque, Marcus (Hg.): Ideenpolitik. Geschichtliche Konstellationen und gegenwärtige Konflikte. Berlin 2011, 399–420. Zur Geschichte des politischen Eides, vgl. Friesenhahn, Ernst: Der politische Eid. Bonn 1928; Prodi, Paolo: Sakrament der Herrschaft. Der politische Eid in der Verfassungsgeschichte des Okzidents. Berlin 1997.

Eine Frage der Loyalität  215

sicherte, dass der Eidleistende sein Amt pflichtgemäß ausüben werde. Mit der Entstehung der Verfassungsstaaten im 19. Jahrhundert schworen Beamte einen doppelten Eid – sowohl auf die Verfassung als auch auf den Monarchen als Repräsentant des Staates.168 Der politische Eid appellierte an die Gehorsamspflicht des Amtsträgers, wobei sich dieser einem bürgerlichen Tugendkatalog verschrieb, der im Kaiserreich protestantisch geprägt war: Gehorsam, Pflichttreue, Sachlichkeit und Sittlichkeit standen hier an erster Stelle.169 Der politische Eid war aufs Engste mit der Treuesemantik verbunden, die im mittelalterlichen Verhältnis zwischen einem Lehnsherrn und seinem Vasallen wurzelte. Im frühen 19. Jahrhundert entwickelte sich die Treue zum Kernelement des Männerbundes, wie den Burschenschaften oder Freimaurerlogen. Auch im politischen Bereich versicherte sich der Monarch durch den Eid der Treue seiner Untertanen.170 Gleichzeitig stieg die Treue zum festen Bestandteil nationaler Identitätsbildung in Deutschland auf: Dichter, Philosophen und Staatsrechtler trugen zur Konstruktion einer spezifisch »deutschen Treue« bei, die Eingang in die historische Rechtsschule fand.171 In bewusster Abgrenzung zu den romanischen Völkern hoben Vertreter der germanischen Rechtsschule die Treue als Spezifikum des deutschen Nationalcharakters hervor.172 Bis ins späte 19. Jahrhundert hinein blieben konfessionelle Eidesformeln sowohl beim Amtsantritt als auch vor Gericht die Regel. Der Fahneneid der preußischen Armee vom 5. Juni 1831 lautete »Ich schwöre zu Gott dem Allwissenden und Allmächtigen«. Der Schwur endete mit den Worten »So wahr mir Gott helfe«. Während Protestanten den Eid mit dem Zusatz »durch Jesum Christum zur Seligkeit!« beendeten, schlossen Katholiken mit den Worten »und sein heiliges Evangelium. Amen!«.173 Politische Schwurformeln waren dabei in hohem Maße performativ: Die drei Finger des Eidleistenden symbolisierten die Drei 168 Frevert, Ute / Schreiterer, Ulrich: Treue – Ansichten des 19. Jahrhunderts. In: Hettling (Hg.): Der bürgerliche Wertehimmel, 217–256, hier 251–254. 169 Zum semantischen Wandel des Treuebegriffs im 19. Jahrhundert, vgl. Frevert / Schreiterer: Treue, 217–256; Buschmann, Nikolaus: Die Erfindung der deutschen Treue. Von der semantischen Innovation zur Gefolgschaftsideologie. In: Ders. / Murr, Karl Borromäus (Hg.): Treue. Politische Loyalität und militärische Gefolgschaft in der Moderne. Göttingen 2008, 75–109. 170 Frevert / Schreiterer: Treue, 243–254. 171 Als Beispiel sei zu nennen: Herder, Gottfried: Ideen zur Geschichte der Philosophie der Menschheit. Frankfurt am Main 1989 [1784]; Roethe, Gustav: Deutsche Treue in Dichtung und Sage. Langensalza 1923; Wundt, Max: Die Treue als Kern deutscher Weltanschauung. Langensalza 1924. 172 Buschmann, Nikolaus: Die Erfindung der deutschen Treue. Von der semantischen Innovation zur Gefolgschaftsideologie. In: Buschmann, Nikolaus / Murr, Karl Borromäus (Hg.): Treue. Politische Loyalität und militärische Gefolgschaft in der Moderne. Göttingen 2008, 75–109, hier 81–85. Der römische Geschichtsschreiber Tacitus bot mit seiner Germania eine wichtige Quellengrundlage für die Erfindung der »deutschen Treue« im 19. Jahrhundert. 173 Weichlein: Religion und politischer Eid, 402.

216  Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung faltigkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist; die beiden anderen Finger standen für Seele und Leib des Menschen.174 Der performative Akt des Eides sollte auch die Konsequenzen des Meineides vor Augen führen, denn der Eidleistende ließ sich bewusst auf eine »bedingte Selbstverfluchung« ein. So hatte der Meineid göttliche Rache, den Ausschluss aus der christlichen Gemeinschaft und schließlich den Verlust des Seelenheils zur Folge. Der performative Gehalt des Schwures lag in seiner triangulären Beziehung, die der Eidleistende zwischen sich, dem Eidnehmenden und einem »imaginierten Dritten« – Gott – herstellte.175 Mit dem Aufstieg der Nationalbewegungen im 19. Jahrhundert gerieten die konfessionellen Eidesformeln als Mittel der Loyalitätssicherung zunehmend in Kritik. Hintergrund dieser Kritik war die liberale Forderung nach der Trennung von Staat und Kirche: Nicht nur Liberale, sondern auch Juden, Atheisten, Freidenker und Anhänger kleiner Sekten protestierten gegen die Verpflichtung, konfessionelle Eide zu leisten. Schließlich waren konfessionelle Eidesformeln, so ihr Argument, nicht mit der Glaubens- und Gewissensfreiheit vereinbar, die in der Verfassung des Kaiserreichs niedergeschrieben war.176 Nachdem die Säkularisierung des Eides bereits in der Frankfurter Nationalversammlung von 1848 debattiert worden war, führten die Reichstagsdebatten um die Zivilprozessordnung 1876 zu einer Modernisierung des Eides. Die Liberalen erkämpften gegen den Widerstand des katholischen Zentrums und konservativer Protestanten den nicht-konfessionellen Eid: »Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden […] so wahr mir Gott helfe.« Diese Formel wurde am 1. Oktober 1879 rechtsverbindlich. Die liberale Ära modifizierte auch den performativen Akt des Eides. So ersetzte ein preußisches Gesetz von 1869 das Schwören mit drei Fingern durch das Schwören mit der erhobenen Hand, dessen Symbolwirkung auch säkulare Auslegungen zuließ.177 Trotz der Entkonfessionalisierung des Eides während der liberalen Kulturkampfzeit waren Atheisten und Freidenker weiterhin verpflichtet, einen Eid zu leisten, der zumindest christliche Bezüge aufwies.178 Auf die liberale Ära der 1870er Jahre folgte eine Phase der Rekonfessionalisierung der Eidesformeln. Ein königlicher Erlass von 1880, der 1884 vom Reichsgericht bestätigt wurde, genehmigte wieder konfessionelle Eidzusätze. In der Folge rehabilitierte auch die Militärstrafgerichtsordnung von 1898 die konfessionellen Eidzusätze; die kaiserliche Marine führte diese 1911 sogar wieder verpflichtend 174 Ebd., 403. 175 Ebd., 412. 176 Ebd., 405. 177 Ebd., 408. 178 Für Juden galten bis 1861 besondere Eidesvorschriften, was ihre Stigmatisierung im 19. Jahrhundert verdeutlicht. Sie schlossen den Eid in einer Synagoge in Gegenwart zweier Zeugen mit den Worten »Bei Adonai, dem Gotte Israels«. Mit der Reform von 1876 wurde für alle Reichsbürger die überkonfessionelle Formel eingeführt.

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ein.179 Seit den 1890er Jahren beobachteten Staatsrechtler und Politiker mit Besorgnis die ansteigende Zahl von Meineiden bei Gerichtsprozessen. Der religiöse Eid schien seinen Sinn als Wahrheits- und Loyalitätsbekundung zunehmend einzubüßen. Politiker, Juristen, Theologen und Staatsrechtler interpretierten das Anwachsen der Meineide als Anzeichen für die steigende religiöse Indifferenz und Entkirchlichung der Gesellschaft.180 Auch in den Zeitschriften des Monistenbundes häuften sich kritische Stimmen, die eine weltliche Eidesformel vor Gerichten und bei Amtsantritten forderten.181 Sie empfanden den religiösen Eid als Gewissenszwang für all jene, die aus der Kirche ausgetreten waren oder sich von der Religion losgesagt hatten. Im Frühjahr 1909 richtete die Münchner Ortsgruppe des DMB eine Petition an den Bundesrat, welche die Einführung einer »glaubensfreien Eidesformel« in den § 62 der Strafgesetzordnung einforderte. Die Münchner Ortsgruppe veröffentlichte ihr Gesuch im Vereinsorgan mit dem Aufruf, dass ihn weitere Ortsgruppen des DMB unterzeichnen sollten. Die Tatsache, dass auch Dissidenten eine religiöse Eidesformel vor Gericht zu leisten hatten, sahen die Münchner Monisten als einen Widerspruch in sich: »Denn alle diese Männer und Frauen würden gerade von dem Gericht, vor dem sie die reine Wahrheit aussagen sollen, zu einer Unwahrheit gezwungen, nämlich etwas zu sagen, was ihren besten Willen und Gewissen widerstreitet.«182 Insbesondere der Ludwigshafener Amtsrichter Emil Dosenheimer kritisierte in mehreren Artikeln, die er in Freidenkerblättern veröffentlichte, die Verpflichtung zu theistischen Eidesformeln im Staat, besonders nachdem die Reform der Strafprozessordnung 1911 gescheitert war.183 Diese sah ursprünglich die Einführung einer glaubensfreien Eidesformel bei Prozessen vor. Denjenigen, die eine Zunahme der Meineide durch die Anerkennung eines säkularen Eides befürchteten, entgegnete Dosenheimer: »Man fürchtet die Zunahme der Meineide. Aber der Atheist, der falsch schwören will, schwört trotz Anrufung Gottes falsch. Und der Gottgläubige schwört falsch, wenn er aus verbrecherischen Absichten die Wahrheit verhehlen will«.184 179 Weichlein: Religion und politischer Eid, 408–409. 180 Ebd., 412 f. 181 Zur Geschichte der säkularen Eidesformel in Deutschland, vgl. Teutsch, Herbert: Die Entwicklung der Theorie einer nichtreligiösen Eidesformel unter Berücksichtigung des philosophischen, theologischen und juristischen Schrifttums und der Gesetzgebungsmaterialien. Diss. Univ. Köln 1966. 182 Aigner (Hg.): Fünf Jahre Deutscher Monistenbund, 36. Hervorhebung im Original. 183 Dosenheimer, Emil: Wider die Eidesformel. In: Das Freie Wort 7 (1908), 41.; Ders.: Eidfrage. In: Das Freie Wort 9 (1910), 931; Ders.: Zur Eidesreform. In: DMJ 3, Nr. 1 (1914), 1–6. Die Strafprozessreform diskutierte die Beteiligung von Laien bei Strafprozessen durch Schöffengerichte. Vgl. Wilhelm, Uwe: Das Deutsche Kaiserreich und seine Justiz. Justizkritik, politische Strafrechtsprechung, Justizpolitik. Berlin 2010, 575. 184 Dosenheimer: Zur Eidesreform. In: DMJ 3, Nr. 1 (1914), 5.

218  Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung Dissident und Offizier: Der Fall Unna 1916 »[D]er preußische Leutnant ging als junger Gott, der bürgerliche Reserveleutnant wenigstens als Halbgott durch die Welt«, mit diesen Worten unterstrich der Historiker Friedrich Meinecke (1862–1954) das enorme soziale Prestige des Militärs im Kaiserreich.185 Die außerordentliche Stellung des Offizierskorps im Wilhelminismus lag darin begründet, dass es als »Garant der monarchischen Ordnung« angesehen wurde und dadurch in die Außen- und Innenpolitik des Kaiserreichs hineinwirkte.186 Sowohl Soldaten als auch Offiziersanwärter waren dazu verpflichtet, einen Fahneneid zu leisten, der die Loyalität des Schwurleis­ tenden gegenüber dem Vaterland sichern sollte. Mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im 19. Jahrhundert wandelte sich auch die Funktion des Fahneneides von einem privatrechtlichen Vertrag zu einer staatsbürgerlichen Pflicht. Im Zuge von Militärreformen entstanden nationale Volksheere, welche die ehemaligen Söldnerheere ablösten.187 Offiziere leisteten ihren Eid dem deutschen Kaiser, während Soldaten demjenigen Landesherrn schworen, dessen Truppen sie angehörten: Ich schwöre zu Gott dem Allwissenden und Allmächtigen einen leiblichen Eid, dass ich Seiner Majestät dem Deutschen Kaiser Wilhelm dem Zweiten, meinem obersten Kriegsherren, in allen und jeden Vorfällen, zu Lande und zu Wasser, in Kriegs- und Friedenszeiten, und an welchen Orten es immer sei, treu und redlich dienen, Allerhöchstdero Nutzen und Bestes fördern, Schaden und Nachteil aber abwenden, die mir vorgelesenen Kriegsartikel und die mir erteilten Vorschriften und Befehle genau befolgen und mich so betragen will, wie es einem rechtschaffenen, unverzagten, pflichtund ehrliebenden Soldaten eignet und gebühret. So wahr mir Gott helfe durch Jesum Christum und sein heiliges Evangelium.188

Der christliche Grundtenor des Fahneneides implizierte, dass eine religiöse Gesinnung notwendig war, um die Treue eines Soldaten im Krieg zu sichern. Auch für Wilhelm II. bildete eine christliche Gesinnung die Grundlage für eine Of 185 Meinecke, Friedrich: Die Deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen. In: Ders.: Werke. Bd. 8: Autobiographische Schriften. Herausgegeben und eingeleitet von Eberhard Kessel. Stuttgart 1969, 321–445, hier 336. 186 Wette, Wolfram: Militarismus in Deutschland. Geschichte einer kriegerischen Kultur. Darmstadt 2008, 51. 187 Murr, Karl Borromäus: Treue im Zeichen des Krieges. Beobachtungen zu einem Leitmotiv bürgerlicher Identitätsstiftung im Königreich Bayern (1806–1918). In: Buschmann / ​ Murr (Hg.): Treue, 110–149, hier 116. 188 Zit. n. Lange, Sven: Der Fahneneid. Die Geschichte der Schwurverpflichtung im deutschen Militär. Bremen 2003. In der Weimarer Republik wurde der Fahneneid säkularisiert: »Ich schwöre Treue der Reichsverfassung und gelobe, dass ich als tapferer Soldat das Deutsche Reich und seine gesetzmäßigen Einrichtungen jederzeit schützen, dem Reichspräsidenten und meinem Vorgesetzten Gehorsam leisten will.«

Eine Frage der Loyalität  219

fizierslaufbahn. Nur wenige Tage nach der Entlassung Bismarcks, am 29. März 1890, erließ der Kaiser eine Kabinettsorder, die den Zugang zur Offizierslaufbahn für das Bürgertum erleichtern und damit alte Adelsprivilegien beseitigen sollte. Es sollte ein Bürgerheer entstehen, das von einem »Adel der Gesinnung« und nicht von Standesprivilegien getragen war. Wilhelm II. hatte mit seiner Kabinettorder pragmatische Ziele im Sinn, da er aus Angst vor einer Einkreisung durch die Großmächte Frankreich und Russland die Quantität und Qualität der Armee ausbauen wollte: Neben den Sprossen der adligen Geschlechter des Landes, neben den Söhnen Meiner braven Offiziere und Beamten, die nach alter Tradition die Grundpfeiler des Offizierskorps bilden, erblicke Ich die Träger der Zukunft Meiner Armee auch in den Söhnen solcher ehrenwerther bürgerlicher Häuser, in denen die Liebe zu König und Vaterland, ein warmes Herz für den Soldatenstand und christliche Gesittung gepflegt und anerzogen werden.189

Seine Kabinettsorder verdeutlicht, dass das Offiziersamt und damit die Frage nach Loyalität im Kriegszustand an eine christliche Gesinnung gebunden war. Gleichzeitig ging mit diesem normativen Amtsverständnis die Frage einher, ob auch Juden oder Dissidenten zum Offiziersstand erhoben werden konnten. Ein Gesetz vom 3. Juli 1869 hatte die Beschränkung bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte aufgrund religiöser Zugehörigkeit aufgehoben. Diese Regelung betraf auch den Zugang zu öffentlichen Ämtern: »Insbesondere soll die Befähigung zur Teilnahme an der Gemeinde- und Landesvertretung und zur Bekleidung öffentlicher Ämter vom religiösen Bekenntnis unabhängig sein.«190 In der Praxis jedoch blieben solche Ämter Dissidenten und Juden verwehrt. Im Oktober 1908 suspendierte Wilhelm II. einen preußischen Landwehr-Offizier von seinem Amt, weil er für die Konversion zum Katholizismus aus der evangelischen Landeskirche ausgetreten war. Obwohl der Konvertit bereits seit zwölf Jahren dem preußischen Heer angehörte, wurde er entlassen, da sein vorübergehender Dissidentenstatus mit dem Offiziersamt nicht vereinbar war.191 Über die Diskriminierung von Dissidenten und Juden im Militär schrieb Emil Dosenheimer 1908: »Dissidenten und Juden dürfen Geld hergeben, damit Offiziere angestellt werden können; aber sie selbst sind davon ausgeschlossen Offiziere zu werden! Man denke sich einen Verein, in dem Mitglieder von bestimmter Konfession zwar alle Pflichten hätten, aber nur einen Teil der Rechte!«192 Dosen 189 Militär-Wochenblatt 75, Nr. 32 (9. April 1890), 100. Abgedruckt in: Ritter, Gerhard A. (Hg.): Das Deutsche Kaiserreich 1871–1914. Ein historisches Lesebuch. 5. Aufl. Göttingen 1992, S. 95–97. 190 Gesetz vom 3.6.1869. 191 Dosenheimer, Emil: Die Konfession der Offiziere. In: Der Dissident 2, Nr. 7 (1908), 49–51, hier 50. 192 Ebd., 50. Hervorhebung im Original.

220  Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung heimer hoffte darauf, dass der massenhafte Austritt aus der Kirche Druck auf die Regierungen ausüben werde: Sobald die Regierungen sich nicht mehr um den Glauben ihrer Offiziere, Richter und Beamten kümmerten, werde es nur noch zwei Sorten von Menschen geben: »Tüchtige und daher Brauchbare und Untüchtige und daher Unbrauchbare  – mögen sie an Mohammed, Christus, Buddha, H ­ aeckel, Darwin oder an den heiligen Antonius von Padua glauben.«193 Während des Ersten Weltkriegs löste die Frage, ob die Berufung zum ­Offizier an ein christliches Glaubensbekenntnis gebunden sein sollte, eine Debatte im Reichstag aus. Hintergrund der Reichstagsdebatte im November 1916 war ein Beschwerdeschreiben, das der Hamburger Dermatologe und Monist Paul Unna an das Kriegsministerium richtete, weil dessen Söhne in Preußen aufgrund ihrer Konfessionslosigkeit nicht zu Sanitätsoffizieren befördert wurden. Der Kriegsminister Adolf Wild von Hohenborn (1860–1925) reagierte auf die Beschwerde mit einer öffentlichen Stellungnahme. Zwar sei keine Kabinettsorder vorhanden, die eine Beförderung eines Dissidenten zum Offizier explizit untersage, allerdings müsse jeder Offiziersanwärter einer Religionsgemeinschaft angehören, die vom Staat anerkannt sei.194 Die Entscheidung, Dissidenten vom Offiziersstand auszuschließen, begründete der Kriegsminister damit, dass eine christliche Gesinnung für »den erzieherischen Einfluss des Offiziers auf die Mannschaften, ihre Belehrung über den Fahneneid und die in ihm beruhenden Pflichten« unverzichtbar sei.195 Erst als Unnas Söhne ins bayerische Heer versetzt wurden, erhielten sie ihre Beförderung zu Sanitätsoffizieren. »Damit ist, was meine Familie betrifft, die Sache geordnet«, schrieb Unna 1916 an ­Haeckel und ergänzte ironisch: »Nebenbei aber ist hiermit ein allgemein gangbarer Weg gefunden. Die preussischen Dissidenten haben nur nötig sich nach Bayern versetzen zu lassen.« Es sei eine »Ironie der Geschichte«, so Unna, »dass Bayern in diesem Falle Preußen gegenüber als das Land der Toleranz und Gewissensfreiheit auftritt.«196 Unna kritisierte in seinem Brief an ­Haeckel die Tatsache, dass der Staat Monisten und Freidenker »als Deutsche 2. Klasse« behandle.197 Der Stellungnahme des Kriegsministers hielt Unna drei Argumente entgegen: Erstens berief sich Unna auf die in der Reichsverfassung gewährleistete Religionsfreiheit, zweitens auf den Ausspruch des Kaisers von 1914, er kenne keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche, und drittens auf das »Kanzlerwort«, dass jedem »Tüchtigen« im deutschen Heer »freie Bahn« geschaffen werde. Zum Schluss seines Briefes bemerkte Unna, dass der wahre Gegner nicht das Kriegsministerium, sondern der 193 Ebd., 52. 194 Peus: Dissident und Offizier, 4. 195 Ebd., 4 f. 196 Paul Unna an Ernst H ­ aeckel, Hamburg, 1.11.1916. EHH, NL ­Haeckel. 197 Ebd.

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Klerus sei: »Dass der Kanzler dem Militär gegenüber zur Zeit machtlos ist und die Geistlichkeit, hinter der Kaiserin und dem obersten Kriegsherren stehend, als wahrer Gegner zu betrachten ist, sagen und wissen Sie so gut wie ich.«198 Die drei von Unna aufgeführten Argumente tauchten in ähnlicher Form auch in der Parlamentsdebatte um die Dissidentenfrage am 2. und 3. November 1916 auf.199 Der Sozialdemokrat Heinrich Peus, zugleich aktiver Monist, erinnerte in seiner Parlamentsrede an die Worte Friedrich des Großen, dass jeder »nach seiner Façon« glücklich werden solle. Weiterhin zweifelte er die Aussagekraft der Religionszugehörigkeit an, wenn es um die Pflichttreue eines Soldaten ging: »Auch die Stellung zum Fahneneide, wie sie von der Militärbehörde verlangt wird, ist durch die Zugehörigkeit zu einer anerkannten Religionsgemeinschaft ebensowenig garantiert wie durch den Mangel dieser Zugehörigkeit in Frage gestellt.«200 Innerhalb des Monistenbundes löste die Dissidentenfrage 1916 eine Grundsatzdebatte darüber aus, ob der Monismus als Religionsgemeinschaft anerkannt werden solle oder nicht. H ­ aeckel plädierte dafür, den Monismus zu einer Kirche auszubauen, um auch Monisten den Zugang zum Staatsdienst zu ermöglichen. In einem Brief an Unna schrieb H ­ aeckel: »Ich habe heute an den Reichstags-Abgeordneten Peus (Dessau), der im Vorstand unseres Monistenbundes ist, geschrieben, dass er im Reichstag den Antrag auf gesetzliche Anerkennung des D. Monistenbundes als ›Religions-Gesellschaft‹ stellen soll«. Außerdem werde er versuchen, »die Monistische Kirche (als religiöses Zentral-Organ des wissenschaftlich begründeten Monismus), ihre Rechte, Aufgaben und Organisation, näher zu erläutern«, hieß es.201 Ferner ermutigte H ­ aeckel Unna möglichst viel »Acten-Material« zu sammeln, sollte dieser Fall tatsächlich zu einem Präzedenzfall werden. »Vielleicht ist dieser klassische ›Fall Unna‹ das kleine rollende Sandkorn, welches die Lawine des berechtigten Unwillens über den Mangel an Gewissensfreiheit im deutschen Vaterlande zu wirkungsvoller Action bringt!«, ergänzte er zuversichtlich.202 Sowohl Paul Unna als auch Wilhelm Ostwald und Heinrich Peus distanzierten sich von H ­ aeckels Absicht, den Monismus zu verkirchlichen. Am 4. November 1916 bemerkte Ostwald in einem Brief an Unna, dass ­Haeckels Verkirchlichungspläne der »richtige Weg« seien, den »Monistenbund zu zerstören«: Zwar hatte Ostwald den Gedanken der Verkirchlichung des Monismus auch für kurze Zeit 198 Ebd. Hervorhebung im Original. 199 An der Debatte waren neben Heinrich Peus die Abgeordneten Stücklen, Müller-Meinigen, Neumann-Hofer, Held, Haas und Heine sowie Oberst von Wrisberg beteiligt, vgl. Peus: Dissident und Offizier. 200 Peus: Dissident und Offizier, 28. 201 Ernst ­Haeckel an Paul Unna, Jena, 29.10.1916 [Abschrift]. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 1041. Hervorhebung im Original. 202 Ebd. Hervorhebung im Original.

222  Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung gehegt, »ihn aber alsbald verworfen in der Hinsicht, dass man sich niemals in seinen Entschliessungen durch den Gegner führen lassen darf, sondern immer die eigene Führung behalten muss.«203 Dennoch glaubte Ostwald nicht daran, dass seine Meinung auf H ­ aeckel Einfluss haben könne, weil sie »im Laufe dieses Krieges in sehr vielen wesentlichen Punkten entgegengesetzter Meinung« waren.204 Während sich Paul Unna gegenüber H ­ aeckel reservierter ausdrückte und ihn vorsichtig bat, seine Verkirchlichungspläne mit den »Monisten Nord- und Süddeutschlands« zu diskutieren, wählte er gegenüber Ostwald deutlichere Worte: »[W]ir leiden schon genug unter der Hänselei mit unserem Monistenpapst. Er scheint garnicht zu ahnen, dass 90 % seiner Anhänger sofort von ihm abfallen würden u. seine reiche Lebensarbeit ein übles Ende nähme.«205 Auf die offizielle Stellungnahme des Kriegsministers zur Unvereinbarkeit von Konfessionslosigkeit und Offiziersamt reagierte das Weimarer Kartell im Januar 1917 mit einer Petition an den Bundesrat, die von dem Juristen Emil Dosenheimer verfasst wurde. Hierin vertrat das Weimarer Kartell die Ansicht, dass »ein konfessionsloser, von sittlichen Grundsätzen erfüllter, charakterfester Offizier auf seine Mannschaften den nämlichen erzieherischen Einfluß auszuüben vermag wie ein christlicher oder jüdischer Offizier.« Ferner hieß es, dass ein »konfessionsloser Offizier« imstande sei, »über die tiefe ethische Bedeutung des Fahneneides und über die Pflichten des Soldaten gegen seinen Vorgesetzten und seinen obersten Kriegsherrn sachgemäße Belehrung zu erteilen.«206 Die Petition wies besonders darauf hin, dass zahlreiche Dissidenten während des Weltkriegs ihre Vaterlandspflichten erfüllt hätten, auf dem »Felde der Ehre« gefallen seien und »militärische Auszeichnungen« erworben hätten.207 Das Kriegsministe­ rium antwortete mit einer offiziellen Erklärung, die behauptete, dass man während des Krieges »Dissidenten zu Offizieren des Beurlaubtenstandes« (also zu Reserveoffizieren) befördert habe, »sobald sie nach ihren Anschauungen, Handlungen, ihrer Haltung und militärischen Ausbildung dazu für geeignet gehalten wurden«.208 Anscheinend zeigten die Beschwerden an das preußische Kriegsministerium Wirkung, weil seit der Causa Unna tatsächlich einige Dissidenten in Preußen zu Offizieren befördert wurden.209 Dennoch war nach wie 203 Wilhelm Ostwald an Paul Unna, Großbothen, 4.11.1916. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 3080. 204 Ebd. 205 Paul Unna an Wilhelm Ostwald, Hamburg, 1.11.1916. ABBAW, NL Ostwald, 3080. 206 Eingabe des Weimarer Kartells an den Deutschen Bundesrat betreffs Wahl von Dissidenten zu Offizieren. In: Md DMB 2, Nr. 3 (März 1917), 33–34, hier 34. 207 Ebd., 34. 208 Kann ein Dissident Offizier werden? Der Entscheid des preußischen Kriegsministers. In: Md DMB 2, Nr. 11 (Nov. 1917), 169 f. Absolventen der höheren Schulbildung (Obersekunda) hatten in Preußen das Privileg des einjährig-freiwilligen Militärdienstes (Einjährigen-Privileg). Nach einer einjährigen Grundausbildung konnten sie zu Offizieren der Reserve befördert werden. Vgl. Wette: Militarismus, 60–64. 209 Kann ein Dissident Offizier werden?, 170.

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vor unklar, welche »Anschauungen« für die Offizierslaufbahn geeignet waren. Insofern blieb die Frage nach der Vereinbarkeit von Konfessionslosigkeit und Offiziersamt in einer Schwebelage. * * * Wie gezeigt wurde, war die eidesstattliche Erklärung im 19. Jahrhundert mehr als eine »Formhülse«.210 In ihr äußerten sich Normen und Werte, mit denen das politische Gemeinwesen die Loyalität seiner Bürger sicherte. Die freidenkerischen Debatten um die Säkularisierung des politischen Eides war ein paradigmatischer Fall für Auseinandersetzungen um die Grenzen der Religion um 1900. Warum sollte die Bezugnahme zu Gott überhaupt eine Rolle in der Loyalitätsbekundung der Bürger gegenüber dem Reich spielen? Die ambivalenten Reaktionen auf den Fall Unna verdeutlichen, dass im Monistenbund religiöse und säkulare Zielsetzungen aufeinandertrafen. H ­ aeckel sah sich durch den Fall Unna in seinem Plan bestärkt, den Monistenbund zu verkirchlichen. Hierdurch sollten Monisten dieselben Rechte im Staat erlangen wie die Mitglieder der Amtskirchen. Nicht die Forderung nach staatlicher Säkularität, sondern das Erringen von kirchlichen Privilegien stand für ­Haeckel im Vordergrund. Bei Wilhelm Ostwald und Heinrich Peus löste der Fall die gegenteilige Reaktion aus: Er bestärkte sie in der Forderung, den politischen Eid und das Amtsverständnis in Staat und Militär von religiösen Bezügen zu befreien. In ihren Augen hatte die Frage nach Treue und Loyalität nichts mit der religiösen Gesinnung des Eidleistenden zu tun.

4.

Trennung von Schule und Kirche

Die Verflechtung von Staat und Kirche zeigte sich im Kaiserreich kaum so deutlich wie im Bildungswesen. Gerade in der Volksschule und im Mädchenschulwesen nahm der konfessionelle Religionsunterricht einen dominanten Platz ein, dessen Inhalte von den Kirchen vorgegeben wurden. Monisten betrachteten die Schule nicht nur als eine wichtige Vermittlungsinstanz naturwissenschaftlich-technischen Wissens, sondern auch als ein Ort, wo die Kirche am empfindlichsten getroffen werden konnte – durch die Beseitigung des konfessionellen Religionsunterrichts. Da die Teilnahme am Religionsunterricht auch für konfessionslose Kinder verpflichtend war, forderten Monisten im Verbund mit der ethischen Bewegung und den freireligiösen Gemeinden einen bekenntnisfreien Moralunterricht für Dissidentenkinder. 210 Börsch, Thomas: Eidesstattliche Versicherung. Strafrechtliche Bedeutung einer Formhülse. Münster 2009.

224  Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung Mit ihren schulpolitischen Reformforderungen forcierten Monisten eine Grenzverschiebung, nämlich die Zurückdrängung und Einhegung des kirchlichen Einflusses auf eine staatliche Institution. Die Themen Schule und Bildung waren aus dem Grunde zentral für die Monismusbewegung, so die These, weil in ihnen drei monistische Bestrebungen aufeinandertrafen: Die Verbreitung eines rationalen Weltbildes, die Kritik an Christentum und Kirche sowie die Vermittlung einer säkularen Ethik. Allerdings verbargen sich hinter den bildungspolitischen Forderungen der Monisten erneut ambivalente Motive: Während freireligiöse Monisten eigene Religionsrechte einforderten, stand für andere Monisten die vollkommene Säkularisierung der Schule und damit die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft im Vordergrund. Das folgende Kapitel gliedert sich in vier Teile: Zunächst rekonstruiere ich das Verhältnis von Schule und Kirche im Kaiserreich und damit zusammenhängende Konflikte. Im Anschluss daran untersuche ich Argumentationsmuster, die Monisten zur Delegitimierung des Religionsunterrichts verwendeten. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Bildungskritik Wilhelm Ostwalds. Das dritte und vierte Unterkapitel fragt nach den argumentativen und organisatorischen Strategien, die Monisten anwendeten, um einen weltlichen Moralunterricht für Dissidentenkinder zu erkämpfen, und welche Konflikte daraus resultierten. Es wird sich zeigen, dass Monisten mit ihrer Bildungskritik nicht nur den Religionsunterricht attackierten, sondern auch den bürgerlichen Wertekanon. Schule und Kirche im Kaiserreich Im Zentrum vieler bildungspolitischer Auseinandersetzungen im Kaiserreich stand der Religionsunterricht an Volksschulen und im höheren Schulwesen. Solche Debatten zielten keineswegs nur auf pädagogische Aspekte, sondern berührten auch nationale Identitätsdiskurse. Denn neben der Charaktererziehung von Schülern erfüllte der Religionsunterricht für den Nationalstaat eine systemstabilisierende Funktion: Die Kirchen vermittelten hier einen christlichen Wertekanon, der die Basis des politischen Gemeinwesens bildete und zugleich die Herausbildung nationaler Identität stärkte. Ideale einer christlich-protestantischen Gesinnung wurden im Religionsunterricht mit Ideen der deutschen Nation verwoben.211 Die Verflechtung von Schule und Kirche spiegelte sich im 19. Jahrhundert besonders im Volksschulwesen wider: Katholische und evangelische G ­ eistliche standen vielerorts der lokalen Schulinspektion vor und kontrollierten in dieser 211 Auwärter, Thomas: »Kämpfe um die Religion«. Der Bremer Radikalismus und der Diskurs um die Zivilreligion und Leitkultur im wilhelminischen Deutschland. In: Zeitschrift für Religionswissenschaft 22/2 (2014), 176–225, hier 181 f.

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Funktion die inhaltliche Ausrichtung des Religionsunterrichts und die Einstel­ lung von Religionslehrern. Dieses Privileg ging auf die Bildungs- und Erziehungsfunktion zurück, die den Kirchen seit der Säkularisation durch den Reichsdeputationshauptschluss (1803) zugestanden wurde.212 Im Kontext der 1848er Revolution rückte die kirchliche Schulaufsicht jedoch zunehmend ins Visier der liberalen und demokratischen Kritik. Als Reaktion auf die Revolution von 1848/49 in Europa wurden 1854 die Stiehl’schen Regulative in Preußen erlassen, die sowohl für die Lehrerausbildung als auch für die Lehrpläne an Volksschulen einheitliche Vorgaben formulierten.213 Ganz im Zeichen der konservativen Reaktion der 1850er Jahre sahen die Regulative die primäre Aufgabe der Volksschule darin, bei den Schülern eine christlich-vaterländische Gesinnung auszubilden. Insofern attestierten die Regulative dem Religionsunterricht eine Schlüsselrolle im Lehrplan und schrieben die Volksschule auf ein christliches Wertesystem fest. Um emanzipatorischen Tendenzen in der Gesellschaft entgegenzuwirken, setzten sie auf eine Verbindung von Thron und Altar und versuchten, gerade anrüchige Lehrinhalte liberaler und demokratischer Provenienz zu unterbinden.214 Einen deutlichen Liberalisierungsschub erfuhr das Schulwesen in Preußen während der Kulturkämpfe der 1870er Jahre.215 Der Kultusminister Adalbert Falk (1827–1900) verabschiedete am 11. März 1872 das Schulaufsichtsgesetz, das Schulen im Königreich Preußen der staatlichen Aufsicht unterstellte und dadurch kirchliche Privilegien zurückdrängte. Ganz im Zeichen des Kulturkampfes demonstrierte das Gesetz die Autorität des Staates gegenüber bisheri­ gen Einflusssphären der Kirchen. Inhaltlich führte das neue Gesetz zu einer Reform des Lehrplans, indem der naturkundliche und mathematische Unterricht in der Mittelstufe zulasten des Religionsunterrichts ausgebaut wurde: Die ursprünglich sechs bis sieben Wochenstunden Religionsunterricht in den

212 Zum Einfluss der Kirche auf das Schulwesen, vgl. Jeismann, Karl-Ernst / Lundgreen, Peter (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 3: 1800–1870. München 1991, 13–23. 213 Die Regulative gingen auf den preußischen Beamten Anton Wilhelm Ferdinand Stiehl (1812–1878) zurück. Der offizielle Titel lautete: »Regulative über die Einrichtung des evangelischen Seminar-, Präparanden- und Elementarschulunterrichts«. 214 Insbesondere der liberale Pädagoge Adolph Diesterweg (1790–1866) kritisierte die Regulative als reaktionäres Machtinstrument. 215 Die liberale Ära der 1870er Jahre war durch eine enge Zusammenarbeit Bismarcks mit den Nationalliberalen gekennzeichnet. Nach der konservativen Wende 1878/79 wandte sich Bismarck den konservativen Kräften sowie der Schwerindustrie und Landwirtschaft zu. Das konservative, schwerindustrielle und agrarische Bündnis wurde als Integrationsmittel einer »inneren Reichgründung« genutzt, wie Helmut Böhme behauptete. Vgl. Böhme, Helmut: Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von Wirtschaft und Staat während der Reichsgründungszeit 1848–1881. Köln 1972.

226  Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung Volksschulen wurden nach 1872 auf vier Stunden wöchentlich (in den unteren Klassen) respektive fünf Stunden (in den mittleren Klassen) reduziert.216 In den Oberstufen der höheren Mädchenschulen und Gymnasien räumte man dem Religionsunterricht zwei Stunden pro Woche ein.217 Der Aufbau des Religionsunterrichts veränderte sich dahingehend, dass die Bibelgeschichte nun von einem Lehrer und die Katechismuslehre von einem Geistlichen (Pastor oder Priester) unterrichtet wurde.218 Im Gegensatz zu den Stiehl’schen Regulativen sah das Schulaufsichtsgesetz davon ab, klare Bildungsziele für das Volkschulwesen zu formulieren und das Verhältnis von Kirche und Schule eindeutig zu klären.219 Obwohl das Falk’sche Gesetz de jure die geistliche Schulaufsicht in Preußen beendete, verharrte das Volksschulwesen in alten Strukturen: Bis zum Ende des Kaiserreichs blieben Geistliche vielerorts als Entscheidungsträger in den Kreisschulinspektionen präsent.220 Das preußische Schulaufsichtsgesetz hatte eine wichtige Signalwirkung auch für andere Teilstaaten, die den Bildungsbereich liberalisierten. Dennoch wurde der Religionsunterricht immer wieder zum Kristallisationspunkt eines »Kulturkampf[es] um die Schule«, denn Liberale, Sozialdemokraten und Konservative vertraten völlig unterschiedliche Auffassungen von Bildung und deren Ziele.221 Nach der Entlassung Bismarcks 1890 änderte sich allmählich der liberale Kurs in der Bildungspolitik. Unter dem Eindruck einer erstarkenden Sozialdemokratie wies Wilhelm  II. dem Religionsunterricht eine erzieherische Schlüsselfunktion zu. Der Religionsunterricht an Volksschulen sollte in ethisch-moralischer Hinsicht der Ausbreitung sozialistischer Ideen vorbeugen und so den »Neuen Kurs« Wilhelms II. in der Innen- und Außenpolitik stärken.222 Die Schule müsse die Jugend überzeugen, wie Wilhelm II. in einer Kabinettsorder von 1889 betonte, dass »die Lehren der Sozialdemokratie nicht nur den göttlichen Geboten und der christlichen Sittenlehre« widersprachen, sondern auch »verderblich« für das Allgemeinwohl seien.223 Weiter hieß es: »Um den Religionsunterricht in dem angedeuteten Sinne fruchtbarer zu machen, wird es erforderlich sein, die ethische Seite desselben mehr in den Vordergrund treten zu lassen, dagegen den 216 Roggenkamp, Antje: Das (zweite) deutsche Kaiserreich. In: Schröder, Bernd / Lachmann, Rainer (Hg.): Geschichte des evangelischen Religionsunterrichts in Deutschland. Ein Studienbuch. Neukirchen-Vluyn 2007, 167–202, hier 177. 217 Ebd., 177. 218 Enders, Susanne: Moralunterricht und Lebenskunde. Bad Heilbronn 2002, 32. 219 Ebd., 33. 220 Roggenkamp: Das (zweite) deutsche Kaiserreich, 174. 221 Penzig, Rudolph: Zum Kulturkampf um die Schule. Berlin 1905. 222 Zum »Neuen Kurs« Wilhelm II., vgl. Ullrich: Die nervöse Großmacht, 182–192. 223 Kabinettsorder Wilhelms II. von 1889. Abgedruckt in: Giese, Gerhardt (Hg.): Quellen zur deutschen Schulgeschichte seit 1800. Göttingen 1961, 194.

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Memorierstoff auf das Notwendigste zu beschränken.«224 Gemäß dem Kalkül des Kaisers sollte die im Religionsunterricht vermittelte christliche Moral die monarchische Ordnung bewahren und beschützen.225 Auch der preußische Schulkompromiss von 1904/5 setzte ein klares Zeichen gegen eine Liberalisierung des Volksschulwesens. Der Kompromiss zwischen Konservativen, Zentrum und Nationalliberalen legte die Konfessionsschule in Preußen als Regelschule gesetzlich fest – ein Schritt, der vor allem vom katho­ lischen Zentrum als großer Erfolg gefeiert wurde.226 Einen großen Einfluss auf die Debatte um die Legitimität des Religionsunterrichts hatte die Bremer Denkschrift von 1905. Wie wir in Kapitel II.1 gesehen haben, entwickelte sich die Hansestadt Bremen im ausgehenden 19. Jahrhundert zum Epizentrum eines radikal-liberalen Protestantismus, der von freireligiösen und monistischen Positionen beeinflusst war. Als Beispiel für die »Bremer Radikalen« kann Albert Kalthoff gelten, der erste Präsident des Monistenbundes. Stolz schrieb Kalthoff 1906 an Ernst H ­ aeckel über die religiöse Aufbruchsstimmung in Bremen: »Je mehr in den großen deutschen Staaten – Preußen & Bayern voran – die absolutistische & clericale Reaction bläßt, desto mehr regt sich der freie Geist & die unabhängige Vernunft in den vielen kleineren Geistes-Centren – Bremen & Jena voran.«227 Zwischen 1904 und 1908 wurde in Bremen ein regelrechter Kulturkampf um die Schule ausgefochten, der sich zu einem »Stellvertreterkonflikt um die Reform des Religionsunterrichts in ganz Deutschland« ausweitete.228 Ausgangspunkt des Konflikts war ein Protest der Bremer Lehrerschaft gegen die Aufsichtspraxis des christlich-konservativen Schulinspektors Johann August Köppe. Die Bremer Lehrer warfen Köppe vor, den Religionsunterricht durch Inspektionen in eine orthodoxe Richtung lenken zu wollen. Gegenüber dem liberalen Bremer Senat beriefen sich die Lehrer auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit in religiösen Fragen.229 Der Bremer Lehrerverein schloss sich mit den ansässigen Sozialdemokraten zusammen, um aktiv gegen die reaktionäre Amtsführung des Schulinspektors vorzugehen, zumal diesem seit Jahren der Ruf eines »Sozialistenfressers« vorauseilte.230 Durch eine Umfrage der Vereinigung für Schulreform in Bremen, in der sich Pädagogen zur Reform des Religionsunterrichts und zur Einführung eines geeigneten Ersatzfaches äußerten, gewann der Schulstreit zusätzlich an Popularität.231 Zudem drang der Schulstreit in freigeistige Kreise vor: 224 Zit. n. Roggenkamp: Das (zweite) deutsche Kaiserreich, 177. 225 Enders: Moralunterricht, 34. 226 Huber / Huber: Staat und Kirche. Bd. III, 159–160. 227 Ernst ­Haeckel an Albert Kalthoff, 5.1.1906. StA Bremen, NL Kalthoff, 7.40–20. 228 Auwärter: Bremer Kulturkämpfe, 186. 229 Ebd., 186. 230 Ebd., 186. 231 Enders: Moralunterricht, 109.

228  Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung Am 25. November 1905 wandte sich H ­ aeckel mit der Frage an Kalthoff, ob man unter den »Lehrern in Bremen« nicht auch »einige Namen« für den Monistenbund gewinnen könne.232 Die Proteste gegen Köppe nahm der Bremer Schulverein 1905 zum Anlass, die Rolle des Religionsunterrichts an Volksschulen in einer Denkschrift zu diskutieren.233 Die Denkschrift hatte eine deutlich antiklerikale Stoßrichtung, da sie liberale Forderungen nach einer Trennung von Staat und Kirche mit monistisch-evolutionären Ideen verband. Die Bibel habe ihren überzeitlichen Deutungsanspruch durch die Einsicht in die Entwicklungslehre des Menschen verloren, hieß es. Dadurch sei eine zeitgemäße Sittenlehre auch nicht mehr auf eine religiös-biblische Grundlage angewiesen. Die Denkschrift wies die Vorstellung einer Offenbarungsreligion zurück, indem sie Religion in aufklärerischer Tradition auf ihren »ethisch-sittlichen Kern« zurückgeführte und sie als eine subjektive »Stimmung« oder »Gesinnung« verstand.234 Trotz ihrer antiklerika­ len Kritik ließ die Denkschrift keine Befürwortung des Atheismus erkennen; im Gegenteil: Gegenüber den Vertretern der Orthodoxie und des gemäßigten Liberalismus strebten die Bremer Reformer nach einem subjektiven, innerlichen und lebensbejahenden Religionsverständnis.235 Einen neuen Höhepunkt erreichte die kaiserzeitliche Diskussion um den Religionsunterricht drei Jahre später mit den Zwickauer Thesen des sächsischen Lehrervereins.236 Die Zwickauer Thesen bauten auf der Bremer Denkschrift von 1905 auf, stellten jedoch gemäßigtere Forderungen. In neun Thesen forderte die liberale Lehrerschaft das Ende der kirchlichen Schulaufsicht und die Abschaffung des Katechismusunterrichts. Im Kern wollte man den Religionsunterricht als Geschichtsunterricht verstanden wissen, der die »Gesinnung Jesu« im Schüler lebendig machen sollte. Die Thesen erkannten zwar den Religionsunterricht als einen wesentlichen Bestandteil der Volksschule an, lehnten jedoch einen »dogmatischen Unterricht« ab. Stattdessen müsse sich der Religionsunterricht am Entwicklungsstand des Kindes orientieren: Lehrplan und Unterrichtsform sollten »dem Wesen der Kinderseele« entsprechen; der »religiöse Lernstoff« sei nach »pädagogisch-psychologischen Grundsätzen neu zu gestalten«. Schließlich solle der Religionsunterricht »im Einklange« mit dem Stand der Wissen-

232 Ernst ­Haeckel an Albert Kalthoff, 25.11.1905. StA Bremen, NL Kalthoff, 7.40–20. 233 Ausführlich zur Reformschrift, vgl. Bloth, Peter C.: Die Bremer Reformpädagogik im Streit um den Religionsunterricht. Eine Studie zu Theologie und Methodik des Religionsunterrichts in der Volksschule des frühen 20. Jahrhunderts. Dortmund 1961, 58–69. 234 Vgl. Enders: Moralunterricht, 111–112. 235 Auwärter: »Kämpfe um die Religion«, 189. 236 Zu den zeitgenössischen Reaktionen, vgl. Pfeiffer, Hermann: Der Sturmlauf gegen die Zwickauer Thesen. Leipzig 1909; Schubert, Johannes: Christlicher Religionsunterricht auf Grund der Zwickauer Thesen. Leipzig 1913.

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schaft stehen und dem »sittlichen Empfinden unserer Zeit« genügen, hieß es abschließend.237 Der historische Überblick über die kaiserzeitliche Bildungspolitik hat gezeigt, dass die politischen Auseinandersetzungen um den Religionsunterricht stellvertretend für die Konflikte um eine Liberalisierung der Gesellschaft und ihrer Werte standen. Die Rolle des Religionsunterrichts an Schulen wurde je nach politischem Kontext gestärkt oder geschwächt. Hatte die Kulturkampfära eine Schwächung des kirchlichen Einflusses auf die Schule forciert, so rehabilitierte Wilhelm II. die Dominanz des Religionsunterrichts im Bildungswesen als Bollwerk gegen die Sozialdemokratie. Bildungskritik im Monismus Der konfessionelle Religionsunterricht verkörperte aus Sicht von Monisten und Freidenkern wie kaum ein anderer Aspekt die enge Verflechtung von Kirche und Staat im Deutschen Reich.238 In seiner Funktion als Monistenpräsident und Herausgeber des Vereinsorgans führte Ostwald ein eigenes Ressort zur Schulreform ein, das Fragen eines säkularen Moralunterrichts diskutierte und den Gewissenszwang an Schulen anprangerte. Ihre Hauptargumente gegen den Religionsunterricht schöpften die Monisten aus ihrer radikalen Religionskritik, deren Ziel es war, Religionen als Resultate menschlicher Projektionen zu entlarven.239 Monisten delegitimierten die Gottesidee als willkürliches Produkt des menschlichen Bewusstseins. Folglich bezeichneten sie Jesus als »erdichtete Person« und führten die Glaubenslehren auf urzeitliche Mythen, Märchen und Fiktionen zurück.240 Die Geraer Ortsgruppe des Monistenbundes schrieb 1913 in einem Antrag für einen bekenntnisfreien Moralunterricht an Schulen, dass die »meisten christlichen Glaubenslehren und besonders die sog. ›Heilswahrheiten‹ aus der indischen Buddhareligion, der altpersischen Mithrareligion und den altgriechischen Geheimgottesdiensten (Mysterien) herübergenommen oder in den ersten Jahrhunderten des Christentums von dessen Priestern hinzugedichtet worden sind.«241 237 Spanauth, Heinrich: Was wir wollen. Zwickauer Thesen. In: Bolle, Rainer / Knauth, Thorsten / Weiße, Wolfram (Hg.): Hauptströmungen evangelischer Religionspädagogik im 20. Jahrhundert. Ein Quellen- und Arbeitsbuch. Münster, New York, München, Berlin 2002, 28. 238 Es wäre jedoch verkürzt anzunehmen, dass alle Freidenker den Religionsunterricht unisono ablehnten. Ihre Hauptkritik galt der geistlichen Schulaufsicht und der Lehre von Katechismen. 239 Vgl. Danz, Christian: Systematische Theologie. Tübingen 2016, 118–119. 240 DMB -Ortsgruppe Gera: Begründung eines Gesuchs um Ersatz des Religionsunterrichts in den Schulen durch einen glaubensfreien, auf wissenschaftlicher Welt- und Lebensanschauung beruhenden Sittenunterricht. In: DMJ 2, Nr. 18 (1913), 478. 241 Ortsgruppe Gera: Begründung eines Gesuchs, 478.

230  Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung Aus ihrer radikalen Religionskritik leiteten Monisten die Forderung nach der Trennung von Schule und Kirche ab. In ihren Augen stand die Bekenntnisschule im Widerspruch zum Grundsatz der Glaubens- und Gewissensfreiheit, wie sie die Reichsverfassung 1871 gewährleistete, da sie alle Schüler zur Teilnahme am Religionsunterricht verpflichtete. Ernst ­Haeckel verglich die Praxis des Religionsunterrichts 1904 mit den geistigen Fesseln der mittelalterlichen Scholastik: In den meisten Kulturländern (und besonders in Deutschland)  ist der höhere und niedere Jugendunterricht noch größtenteils durch die Fesseln gebunden, welche die scholastische Tradition des Mittelalters bis heute erhalten hat. Nur die vollständige ›Trennung von Schule und Kirche‹ kann die Fesseln lösen. Der bisherige konfessionslose oder dogmatische Religionsunterricht ist durch vergleichende Religionsgeschichte und monistische Sittenlehre zu ersetzen; der Einfluß der Priester (jeder Konfession) auf die Schule ist aufzuheben.242

Die Privilegierung der Kirchen in Form des schulischen Religionsunterrichts führte der Hamburger Monist Gustav Höft auf ein Machtkalkül des Staates zurück. Der Staat habe gegenüber der Kirche Konzessionen gemacht, weil er sich vom christlichen Obrigkeitsglauben systemstabilisierende Effekte erhoffte: Dem Staat »erschien die gute und fromme Gesinnung, die den ganzen Menschen der Obrigkeit gegenüber so leicht lenkbar macht, wertvoller als vieles Wissen und Können.«243 Der Haupteinwand der Monisten gegen den Religionsunterricht lautete, dass er ein anachronistisches und überholtes Weltbild vermittelte, welches der wissenschaftlich begründeten »Welt- und Lebensanschauung« widersprach.244 Ostwald brandmarkte den Religionsunterricht als einen »Fremdkörper« im Lehrplan und Schulalltag, bringe er doch die Heranwachsenden in eine tiefe Gewissensnot.245 Wie sollten Kinder die Lehren und Katechismen des Religionsunterrichts mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen der übrigen Fächer in Einklang bringen? Gerade in der Elementarschule befürchtete Ostwald, dass der Religionsunterricht die Entwicklung eines kritischen Verstandes hemme. Der Religionsunterricht werde »durch seine ganz abweichende Beschaffenheit die regelmäßige Entwicklung des kindlichen Geistes« stören, so dessen Befürchtung.246 Der Magdeburger Monist und Sprecher der freireligiösen Gemeinde Georg Kramer warf dem Religionsunterricht eine »Lähmung und Hypnotisierung der Millionen Gehirne durch mittelalterliche, wider die Vernunft laufende, phantastische Vorstellun 242 ­Haeckel: Thesen zur Organisation des Monismus, 481–489; Ders.: Welträtsel, 417 f. 243 Höft: Weltliche Schule, 6. 244 Ebd., 9. 245 Ostwald: Wider das Schulelend, 31. 246 Ebd., 31.

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gen« vor, die ein »ungeheures, in seiner Bedeutung noch längst nicht genügend begriffenes Hindernis des menschlichen Geistes« darstelle. Mehr noch: Die kirchlichen Lehren, so Kramer, seien eine »künstliche Erzeugung von Atavismus«, eine »gewaltsame Zurückschraubung der Entwickelung«.247 Ein besonderes Problem sahen Monisten in dem curricularen Nebeneinander von Religions- und Naturkundeunterricht an Volks- und höheren Schulen. R ­ udolph Penzig, der gemeinsam mit der Monismusbewegung für einen weltlichen Moralunterricht eintrat, prangerte 1905 in seinem Vortrag Der Kulturkampf um die Schule die Koexistenz von Natur- und Religionsunterricht an höheren Schulen als eine Züchtung von »Zwitterseelen« an. Als Argument für die Unvereinbarkeit von wissenschaftlicher Rationalität und christlichem Offenbarungsglauben führte Penzig den Kraft- und Stofferhaltungssatz an: Einem jungen Menschen […] in der einen Stunde die Ewigkeit von Stoff und Kraft lehren und in der nächsten Stunde von Schöpfung reden, bald die Identität von Geist und Materie behaupten und dann den persönlichen Gott über das Chaos setzen, die absolute Geltung des Kausalitätsgesetzes demonstrieren und den Wunderbegriff zulassen, vorurteilslose freie Forschung predigen und die absolute Wahrheit einer bestimmten geoffenbarten Lehre einprägen – das heißt jemand ins Wasser werfen mit der freundlichen Aufforderung zu schwimmen, nachdem man ihm sorgsam Hände und Füße gebunden hat.248

In ähnlicher Weise erinnerte die monistische Ortsgruppe Gera 1913 daran, dass der biblische Schöpfungsbericht, Gott habe die Welt aus dem Nichts erschaffen, den »allgemeinsten Naturgesetzen von der Erhaltung des Stoffes und der Energie« widerspreche.249 Gegenüber einer auf Freiheit und Autonomie des Kindes zielenden Pädago­ gik verkörperte der Religionsunterricht aus monistischer Sicht eine Lehre, die sich auf Gehorsam, Zwang und Unterdrückung stützte. Der Autonomie der Natur­gesetze stellten Monisten die Heteronomie eines göttlichen Richters gegenüber.250 Anstatt das Pflichtbewusstsein des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft zu stärken, verkünde der Religionsunterricht die Unterordnung unter eine göttliche Autorität. Erst der säkulare Ethikunterricht werde zeigen, so Gustav Höft 1911, »daß die moralischen Forderungen des Lebens nicht der Willkür eines

247 Kramer, Georg: Jugendunterricht. In: Der Monismus 5, Nr. 46 (April 1910), 150. Hervorhebung im Original. Als Leiter der freireligiösen Gemeinde in Magdeburg führte Kramer über Jahre hinweg einen freireligiösen Jugendunterricht durch, vgl. Jannasch, Lilli: Der preußische Dissidentenantrag. In: DMJ 3, Nr. 18 (1914), 486. 248 Penzig: Kulturkampf um die Schule, 40. 249 Ortsgruppe Gera: Begründung eines Gesuchs, 478. 250 Dieses Argument führt Friedrich Klimke in seiner Monismuskritik an, vgl. Ders.: Monismus und Pädagogik, 187.

232  Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung Machthabers oder abergläubischer Furcht alter Zeiten entspringen, sondern daß sie sich gebildet haben als die unerschütterlichen Grundlagen menschlichen Zusammenlebens«. Genau aus diesem Grunde sei die »bürgerliche Ethik kein Dogma«.251 Nicht nur auf der Seite der Schüler, sondern auch auf der Seite der Lehrer führte der Religionsunterricht nach Ansicht einiger Monisten zu Gewissenskonflikten. Während Geistliche den Katechismusunterricht übernahmen, waren Lehrer für Bibelkunde und Kirchengeschichte zuständig. »Die Lehrer aber, die die wissenschaftlich unwahren Glaubenssätze den Kindern als von Gott geoffen­ barte Wahrheiten unterrichten müssen, werden dadurch in die schwerste Gewissensnot und den Kindern gegenüber in die peinlichste Lage gebracht«, hieß es 1913 im Monistischen Jahrhundert. Schließlich hätten sich die meisten Lehrer »in neuzeitlich wissenschaftlicher Richtung« fortentwickelt und seien von den christlichen Glaubenssätzen nicht mehr überzeugt.252 Besonders für die Kirchen stellte der Biologieunterricht (unter Zeitgenossen auch Naturgeschichte genannt) eine Provokation dar, denn die entwicklungsbiologischen Annahmen der Entstehung, Evolution und Ausdifferenzierung der Arten widersprachen der biblischen Schöpfungslehre und lösten die Mensch-Tier-Grenze auf. So war es besonders ­Haeckel zu verdanken, dass Kirchen und Konservative den Biologieunterricht in die Nähe von Darwinismus, Materialismus, Atheismus und Sozialismus rückten. In der schon erwähnten ­Haeckel-Virchow-Kontroverse 1877 forderte H ­ aeckel die Einführung der Darwin’schen Evolutionstheorie als reguläres Schulfach, woraufhin Virchow vor der ideologischen Vereinnahmung empirisch unbewiesener Theorien warnte (vgl. Kap. III.2): »Nun stellen sie sich einmal vor, wie sich die Deszendenztheorie heute schon im Kopfe eines Sozialisten darstellt!«.253 Noch 1904 verlangte ­Haeckel in seinen Thesen zur Organisation des Monismus, dass sich der Großteil des Unterrichts den »verschiedenen Zweigen der Naturwissenschaft, vor allem der Anthropologie und der Entwickelungslehre« widmen solle.254 Obwohl es in den 1890er Jahren einzelne Versuche gab, den Biologieunterricht zu reformieren und mit bürgerlichen Tugenden wie »Gemeinsinn« und Verantwortung in Einklang zu bringen, haftete ihm nach wie vor ein negativer Beigeschmack an. Viele sahen in ihm ein Gefahrenpotential für die bürgerliche Gesellschaft, da die Evolutionslehre angeblich zu einem Sittenverfall und zu einer Verfestigung

251 Höft: Trennung von Kirche und Schule. In: Bloßfeldt (Hg.): Der erste internationale Monistenkongreß, 138 f. Hervorhebung im Original. 252 Ortsgruppe Gera: Begründung eines Gesuchs, 479. 253 Virchow, Rudolf: Die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staat. Rede gehalten in der dritten allgemeinen Sitzung der 50. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu München am 22. September 1877. Berlin 1877, 12.  254 ­Haeckel: Thesen zur Organisation des Monismus, 488.

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materialistischer wie sozialistischer Positionen beitrug.255 Nicht ohne Grund wurde der Biologieunterricht an Oberstufen in Preußen 1882 verboten. Eine Sonderrolle in der monistischen Bildungskritik nahm Wilhelm Ostwald ein, weil er neben dem Religionsunterricht auch das neuhumanistische Bildungsideal des Gymnasiums scharf attackierte. Seine pädagogischen Forderungen verbanden Kernelemente der monistischen Programmatik, wie die Verbreitung eines rationalen Weltbildes, die Kritik an Religion und Metaphysik sowie die Verkündung einer zweckorientierten Ethik.256 Wie kaum ein anderer seiner Zeit zweifelte Ostwald den Bildungswert des Latein- und Griechischunterrichts an Gymnasien an. In seinen bildungspolitischen Vorträgen, mit denen er schon vor seiner Funktion als Monistenpräsident für Aufsehen gesorgt hatte, forderte er die Abschaffung des altsprachlichen Unterrichts an Gymnasien bei gleichzeitigem Ausbau mathematisch-naturwissenschaftlicher Fächer.257 Den modernen Sprachunterricht (Englisch und Französisch) wollte er indessen durch die Hilfssprache »Ido« ersetzt sehen, um die Stoffmenge an höheren Schulen zu reduzieren und die Energie der Schüler zu schonen.258 Durch die Reduktion der Fächer wollte Ostwald auch der um sich greifenden »Überbürdung« von Schülern begegnen, die Lehrer, Ärzte und Politiker seit den 1880er Jahren mit steigender Sorge beobachteten:259 Seit einigen Jahrzehnten hören die Klagen wegen Ueberbürdung der Schüler nicht auf, und gleichzeitig melden sich neue Unterrichtsfächer an, welche unentbehrlich sind, um dem Schüler oder der Schülerin später es möglich zu machen, sich in der Welt zurechtzufinden. […] Wie sollen wir da den Weg zwischen der Skylla der Ueberbürdung und der Charybdis der Unzulänglichkeit der Schulbildung für die Erfordernisse des Lebens finden? Die Antwort ist einfach: durch Beseitigung des fremdsprachlichen 255 Zur Reform des Biologieunterrichts durch Friedrich Junge um 1900, vgl. Nyhart, Lynn K.: Teaching Community via Biology in Late-Nineteenth-Century Germany. In: Osiris 17/1 (2002), 141–170; Dies.: Modern Nature, 161–197. Zum Darwinismus an deutschen Schulen, vgl. Kelly: Descent of Darwin, 57–74. 256 Zu Ostwalds energetischer Bildungsreform, vgl. Leber, Christoffer: »Energetic Education«. Monism, Religious Instruction, and School Reform in Fin-de-Siècle Germany. In: Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento 43/1 (2017): Science and Religion. Revisiting a Complex Relationship, 85–114. 257 Ostwalds Wiener Vortrag »Naturwissenschaftliche Forderungen zur Mittelschulreform« (1907) erregte großes Aufsehen und provozierte den dortigen Verein der Freunde des Humanistischen Gymnasiums, in dem sich liberale und konservative Gelehrte Wiens versammelten. Zur Wiener Kontroverse um Ostwalds Schulreform, vgl. Coen: Vienna in the Age of Uncertainty, 235–238. 258 Ostwald: Forderung des Tages, 487. 259 Die Überbürdung stand für die schulisch bedingte nervliche Überlastung von Kindern und Jugendlichen. Zur Überbürdungsfrage im Kaiserreich, vgl. Albisetti, James C.: Secondary School Reform in Imperial Germany. Princeton 1983; Whittaker, Gwendolyn: Überbürdung – Subversion – Ermächtigung. Die Schule und die literarische Moderne, 1880–1918. Göttingen 2014, 43–77; Radkau: Zeitalter der Nervosität, 315–323.

234  Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung Unterrichts. Und die Möglichkeit, diesen Unterricht zu beseitigen, haben wir durch die Einführung der allgemeinen Hilfssprache.260

Sein energetischer Imperativ »Vergeude keine Energie, nutze sie!« stand nicht nur für das Bestreben, den Lehrplan des Gymnasiums zu rationalisieren, sondern auch für eine zielorientierte Zweckethik, welche die Schule vermitteln sollte. Ostwalds Kritik am altsprachlichen Unterricht resultierte einerseits aus seiner eigenen Lehrerfahrung als Professor für physikalische Chemie an der Universität Leipzig. Im Laufe seiner Lehrtätigkeit war Ostwald wiederholt aufgefallen, dass Abiturienten mangelnde Kenntnisse in Mathematik und Physik aufwiesen, die notwendig für das Chemiestudium waren. Andererseits partizipierte Ostwald mit seiner Bildungskritik an der bürgerlichen Debatte um Bildungshumanismus versus -realismus, die seit mehreren Jahrzehnten öffentlich ausgetragen wurde.261 Die Humanismus-Realismus-Debatte berührte die Frage nach dem Bildungswert der Naturwissenschaften an Schulen.262 Seit den Humboldt’schen Reformen im frühen 19. Jahrhundert stand das Gymnasium in der Tradition des Neuhumanismus.263 In den Lehrplänen dominierten die Philosophie, der altsprachliche Unterricht sowie Inhalte der griechisch-römischen Antike. Das Gymnasium hatte den Auftrag, seine Schüler zu universaler Bildung und einer harmonisch-ganzheitlichen Erfassung der Welt zu erziehen – das Konkrete sollte aus dem Allgemeinen abgeleitet werden.264 Im Unterschied zum Nützlichkeitsdenken der Aufklärung stellte das Gymnasium die »Selbstkultivierung« des Menschen durch sprachliche Bildung, sittliche Unterweisung und ästhetische Erziehung in den Mittelpunkt.265 Hielten die Humanisten vehement am pädagogischen und epistemischen Wert des altsprachlichen Unterrichts fest, so plädierten Realisten für eine Schule, die den Anforderungen der technisch-industriellen Moderne gerecht werden 260 Ostwald: Forderung des Tages, 487. 261 Zur Humanismus-Realismus-Debatte, vgl. Berg, Christa (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 4: 1870–1918. München 1991, 150–152; Daum: Wissenschaftspopularisierung, 51–64; Fuhrmann, Manfred: Latein und Europa. Geschichte des gelehrten Unterrichts in Europa. Von Karl dem Grossen bis Wilhelm II. Köln 2001, 206–216; Pohle, Richard: Platon als Erzieher. Platonrenaissance und Antimodernismus in Deutschland ­(1890–1933). Göttingen 2017, 27–56. 262 Daum: Wissenschaftspopularisierung, 59. 263 Der Begriff Neuhumanismus bezieht sich sowohl auf die Phase der Bildungsreformen um 1800 als auch auf das Bildungsprogramm der deutschen Klassik. Der Humanismusbegriff etablierte sich im 19. Jahrhundert in bewusster Abgrenzung zur utilitaristischen Aufklärungsphilosophie und-pädagogik in Frankreich. Vgl. Blankertz, Herwig u. a.: Art. Neuhumanismus. In: Lenzen, Dieter (Hg.): Pädagogische Grundbegriffe. Bd. 2: Jugend bis Zeugnis. 6. Aufl. Reinbek / Hamburg 2001, 1092–1103. 264 Möller, Silke: Zwischen Wissenschaft und »Burschenschaftlichkeit«. Studentische Sozialisation im Deutschen Kaiserreich, 1871–1914. Stuttgart 2001, 46. 265 Nipperdey: Deutsche Geschichte. Bd. 1, 58; Daum: Wissenschaftspopularisierung, 52.

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sollte. Schließlich forderten zahlreiche neue Berufe in Technik, Industrie und Militärwesen ein profundes mathematisch-naturwissenschaftliches Wissen. Gekonnt verstanden es die Realisten, sich die »neuhumanistische Bildungsrhetorik« anzueignen und ihre Forderungen als Vervollkommnung des klassischen Bildungsideals zu präsentieren.266 Dem gegenüber warfen Apologeten des Bildungshumanismus ihren Kontrahenten utilitaristisches Zweckdenken, Materialismus, geistige Verflachung und einseitige Praxisorientierung vor. Einzelne Kritiker befürchteten sogar, dass der naturwissenschaftliche Unterricht revolutionäres Gedankengut in den Köpfen der Schüler fördere und dadurch die konservativ-monarchische Ordnung gefährde. Die Kontroverse zwischen Humanisten und Realisten entwickelte sich zu einem Politikum, das Akteure aus Politik, Bildung und Wissenschaft mobilisierte.267 Ostwald, der in seinen Jugendjahren selbst das naturwissenschaftlich ausgerichtete Realgymnasium in Riga besucht hatte, schlug sich auf die Seite der Bildungsrealisten.268 Seine Polemik gegen das humanistische Gymnasium fand ihren Höhepunkt in seinem Vortrag Wider das Schulelend. Ein Notruf, den er 1909 in der Berliner Gesellschaft für Deutsche Erziehung hielt. Während Ostwald den Kindergarten und die Universität als Vorbilder deutscher Bildungstradition lobte, ging er mit dem Lateingymnasium hart ins Gericht.269 In seiner Kritik am Bildungswert der griechisch-römischen Antike folgte Ostwald einem teleologisch-positivistischen Geschichtsverständnis, das sich an Auguste Comte orientierte: Die mehr als zweitausend Jahre zurückliegende Kultur der Griechen und Römer gehörte in seinen Augen einer niedrigeren Kulturstufe an. Aus diesem Grunde sprach Ostwald der Antike jeglichen Bildungswert für die Gegenwart ab; im Gegenteil: Die Ideale der antiken und humanistischen Philosophie waren geradezu hinderlich für den kulturellen Fortschritt, weil sie keinen praktischen Nutzen für Wissenschaft und Technik beinhalteten. Allein empirisches, praxisorientiertes und anwendungsbezogenes Wissen könne für die Nation und Menschheit als Ganzes bessere Lebensbedingungen schaffen, so Ostwald: »Erleichtert und erhöht etwa das humanistische Gymnasium die Lebensverhältnisse irgendeines Teiles der Menschheit?«, fragte dieser und ergänzte: »Ich kann nichts derartiges erkennen, wohl aber erkenne ich unangemessene Bedrückung und Belastung unserer Jugend ohne Schaffung irgendwelcher positiver geistiger oder materieller Werte.«270 An anderer Stelle bezeichnete Ostwald historisches Wissen abwertend als »Papierwissen«, das zum Großteil in der Kenntnis dessen bestünde, »was sich zufällig in gedrucktem oder geschriebenem 266 Daum: Wissenschaftspopularisierung, 55. 267 Ebd., 53 ff. 268 Zu Ostwalds Jugendjahren am Realgymnasium in Riga, vgl. Ostwald: Lebenslinien I, 16–22. 269 Ostwald, Wilhelm: Wider das Schulelend. Ein Notruf. Leipzig 1909, 14–19. 270 Ebd., 26.

236  Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung Zustande aus älterer Zeit erhalten« habe; die Naturwissenschaften hingegen generierten ein empirisch gesichertes und relevantes »Gesetzeswissen«.271 Diese Passage verdeutlicht, dass in Ostwalds Bildungsverständnis ein empirischer Wissensbegriff mitschwang, den er zum Relevanzkriterium von guter Bildung erhob. In seinen Augen erfüllten Religion, Philosophie und Altphilologie keine Bildungsfunktion, weil sie weder den Kriterien von empirischer Wissenschaft entsprachen noch einem logischen Aufbau folgten. Ostwald befürchtete sogar, dass der Sprachunterricht der Entwicklung des logischen Denkens (dem »Kausalitätsempfinden«) zuwiderlief, weil Sprachen aus unzähligen Ausnahmen und Inkonsistenzen bestanden.272 Ostwalds Kritik am Humanismus und Klassizismus barg zudem eine moralische Dimension: Gegenüber der Tugend und dem Arbeitsethos des modernen Wissenschaftlers warf er der griechisch-römischen Antike Dekadenz vor. Die Vorstellung von griechisch-römischer Dekadenz war ein gängiger Topos der Antikenrezeption im 19. und 20. Jahrhundert, mit dem man das Scheitern der römischen Republik erklärte.273 Seiner Meinung nach mutierte die Kultur der Griechen und Römer zum Inbegriff von Dekadenz, da sie dem Genuss verfiel, die Arbeit verachtete und auf ausbeuterischer Sklaverei beruhte.274 In ähnlicher Weise, so Ostwald, hätten es die Humanisten des 16. Jahrhunderts verstanden, als »Schmarotzer der Reichen und Vornehmen durch die Länder zu ziehen«.275 Mehr noch: Die antike Kultur kam einer »Unsumme von Lüge, Hinterlist, Grausamkeit und Gemeinheit« gleich. Insofern könne keiner ernsthaft behaupten, »sein Leben im Sinne der Griechen und Römer zu gestalten«.276 Der dekadente Lebensstil der Antike und später des Humanismus zeigte sich ihm zufolge besonders an deren Wissenschafts- und Technikfeindlichkeit. Diese Geringschätzung von wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften ließe sich bis heute im Gymnasium beobachten, so Ostwald. Denn in den »humanistischen Lehranstalten« würden Schüler »in der Ansicht erzogen, daß nur die Beschäftigung mit den Überresten der alten Völker edel, alle andere, insbesondere alle technische Beschäftigung dagegen roh und banausisch sei.«277 Aufgrund seiner Wissenschafts- und Technikfeindlichkeit werde das Gymnasium, wie Ostwald befürchtete, »Quietisten und Pessimisten« hervorbringen. Denn das neuhumanistische Bildungsideal trug aus seiner Sicht dazu bei, dass sich die Schüler vor den Anforderungen ihrer Zeit verschlossen und sich stattdessen in 271 Ostwald: Naturwissenschaft und Papierwissenschaft. In: MSP I, 55. 272 Ostwald: Mittelschulreform, 10; Ders: Der energetische Imperativ, 394. 273 Fitzon, Thorsten: Reisen in das befremdliche Pompeji. Antiklassizistische Antikenwahrnehmung deutscher Italienreisender 1750–1870. Berlin, New York 2004. 274 Ostwald: Wider das Schulelend, 25. 275 Ebd., 25. 276 Ebd., 23.  277 Ebd., 25.

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eine vergangene »Traumwelt« flüchteten. »Wir aber wollen aus unseren Kindern kraftvolle Menschen machen, die frei und kühn der Zeit ins Auge schauen und sich fähig fühlen, in ihr und mit ihr zu ringen!«278 Mit seiner Fundamentalkritik am altsprachlichen Unterricht knüpfte Ostwald an die öffentliche Auseinandersetzung zwischen Bildungshumanisten und -realisten an, wobei er sein eigenes Reformprogramm formulierte. Der bürgerliche Wertekanon zeichnete sich durch die Betonung von Leistung, Fleiß, Pflichtbewusstsein und geistiger Reifung aus – in bewusster Abgrenzung zum angeblichen »Müßiggang« des Adels und geistlosen »Lohnarbeit« des Proletariats.279 Zwar rekurrierte Ostwald mit seinem energetischen Imperativ auf ein bürgerliches Leistungs- und Arbeitsethos, begründete dieses jedoch naturwissenschaftlich und zweckrational. Die zielgerichtete, optimale Nutzung von geistig-körperlicher Energie und nicht die Erfüllung eines tradierten, bürgerlichen Tugendkatalogs stand für ihn an erster Stelle. Ostwald definierte den Bildungsauftrag der Schule neu, indem er naturwissenschaftliches Wissen, Logik und Zweckrationalität zu ihren Leitprinzipien erklärte. Moralunterricht für Dissidentenkinder In den meisten Staaten des Deutschen Reichs war die Teilnahme am katholischen oder evangelischen Religionsunterricht auch für Kinder konfessionsloser Eltern, sogenannte Dissidentenkinder, verpflichtend. Zwar war der Anteil der Dissidentenkinder im Verhältnis zu ihren katholischen und evangelischen Mitschülern verschwindend klein, dennoch nahm deren Anteil durch ansteigende Kirchenaustrittszahlen vor dem Ersten Weltkrieg rapide zu. Im Jahr 1911 trafen in Preußen rund 5.000 Dissidentenkinder auf 3.800.000 evangelische und 2.690.000 katholische Kinder, was einem Anteil von 0,077 Prozent entsprach.280 Eine andere Schätzung von 1918 kam bereits auf einen Anteil von 30.000 Dissidentenkindern

278 Ebd., 27. Ostwald zog mit seiner Rede Wider das Schulelend (1909) den Zorn konservativer Philologen und Pädagogen auf sich, vgl. Ruska, Julius: Schulelend und kein Ende. Eine Abwehr Ostwald’scher Angriffe. Leipzig 1911; Die Phrase vom Schulelend. In: Zeitschrift für französischen und englischen Unterricht 11 (1912), 37–38; Bayerische Blätter für das Gymnasialschulwesen 47 (1911), 505; Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien 63 (1912), 176–179; Koch, L.: Ein Anti-Ostwald. In: Monatsschrift für höhere Schulen 11 (1912), 13; Sokrates. Zeitschrift für das Gymnasialwesen 65 (1911), 718; Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik 20 (1913), 77; Griechisch und Latein – raus damit. In: Das humanistische Gymnasium 19 (1908), 15–19. 279 Schulz, Andreas: Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert. 2. Aufl. München, Berlin, Boston 2014, 21; Ders.: »Bürgerliche Werte«. In: Rödder, Andreas (Hg.): Alte Werte  – Neue Werte. Schlaglichter des Wertewandels. Göttingen 2008, 29–36; Schäfer, Michael: Geschichte des Bürgertums. Eine Einführung. Köln, Weimar, Wien 2009. 280 Rosenthal: Dissidentenkinder in Preußen, 54.

238  Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung in Preußen.281 Jenseits dieser Zahlen entwickelte sich die Befreiung der Dissidentenkinder vom Religionsunterricht zum Stellvertreterkonflikt um den Status quo der Glaubens- und Gewissensfreiheit im Deutschen Reich: Die Dissidentenfrage sei »ein Barometer, wie es um die Anerkennung der Grundrechte des Menschen, um die Ehrfurcht vor dem Selbstbestimmungsrecht des einzelnen bei uns steht«; sie sei »ein Symptom für den Fortschritt auf dem Gebiete allgemeiner Menschenrechte«, schrieb das Bildungsorgan Neue Bahnen.282 Da Schule und Bildung im Kaiserreich föderal organisiert waren, zeichnete sich die Rechtslage der Dissidentenkinder durch eine »besondere Buntscheckig­ keit und Zerrissenheit« aus, wie das Handbuch der freigeistigen Bewegung 1914 konstatierte.283 Auch in Preußen verblieb der gesetzliche Umgang mit den Dissidentenkindern in einer Schwebelage und schwankte zwischen Liberali­ sierung und Repression.284 Einerseits verpflichtete der Artikel 21 der Preußischen Verfassung von 1850 Eltern dazu, ihre Kinder ausnahmslos am Unterricht der öffentlichen Volksschule teilnehmen zu lassen, zu dem man auch den Religionsunterricht zählte.285 Andererseits gewährleistete § 11 Teil II Titel 2 des Allgemeinen Landrechts in Preußen (1794) die Befreiung von Kindern, »die einer anderen Religion« angehörten, »als welche in der öffentlichen Schule gelehrt wird«.286 Da Dissidenten jedoch nicht als Religionsgemeinschaft anerkannt waren, waren ihre Kinder weiterhin zur Teilnahme am schulischen Religionsunterricht verpflichtet. Die Gesetzeslage wandelte sich 1859: Der preußische Kultusminister Moritz August von Bethmann-Hollweg (1795–1862) verabschiedete 1859 einen Erlass, demzufolge in Preußen Dissidentenkinder vom Religionsunterricht befreit wurden, wenn sie einen Moralunterricht außerhalb der Schule nachweisen konnten. Dieser Unterricht durfte allerdings nicht gegen Staats- und Sittengebote verstoßen.287 Neu war, dass Bethmann-Hollweg Dissidenten als eigene »Religions 281 Zur Dissidentenfrage. In: Neue Bahnen. Zeitschrift für Erziehung und Bildung 29 (1918), 26. 282 Ebd., 26. 283 Henning (Hg.): Handbuch der freigeistigen Bewegungen, 279. 284 Huber / Huber: Staat und Kirche. Bd. III, 152. 285 Zum genauen Wortlaut des Gesetzes, vgl. Huber / Huber: Staat und Kirche. Bd. III, 154, Art 21: »Eltern und deren Stellvertreter dürfen ihre Kinder oder Pflegebefohlenen nicht ohne den Unterricht lassen, welcher für die öffentlichen Volksschulen vorgeschrieben ist.« 286 Zum genauen Wortlaut des Gesetzes, vgl. Rosenthal: Dissidentenkinder in Preußen, 17: »Kinder, die in einer anderen Religion, als welche in der öffentlichen Schule gelehrt wird, nach den Gesetzen des Staats erzogen werden sollen, können dem Religionsunterricht in derselben beizuwohnen nicht angehalten werden.« 287 Groschopp: Dissidenten, 214; Hölscher: Geschichte der protestantischen Frömmigkeit, 363. Zum genauen Wortlaut des Beschlusses von Bethmann-Hollweg, vgl. Penzig, Rudolph: Der Gesetzesentwurf über die Befreiung der Dissidentenkinder vom Religionsunterricht. In: Ethische Kultur 21, Nr. 10 (1913), 73–74, hier 73.

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partei« anerkannte.288 Besonders die Kulturkämpfe der 1870er Jahre sorgten für eine weitere Liberalisierung des Schulwesens. Die Kultusminister Adalbert Falk (1827–1900) und Gustav von Goßler (1838–1902) verabschiedeten Erlasse, die Dissidentenkinder vom Religionsunterricht befreiten, sofern die Eltern eigenverantwortlich für deren ethische Unterweisung sorgten.289 Unter Wilhelm  II. wandte sich die Bildungspolitik verstärkt einem konservativen Kurs zu, um als Bollwerk gegen die Sozialdemokratie zu wirken. Robert von Zedlitz-Trützschler (1837–1914), seit 1891 preußischer Kultusminister, stärkte die christlich-konservative Richtung der wilhelminischen Schulpolitik. Am 16. Januar 1892 brachte er einen Entwurf für ein Volkschulgesetz in den preußischen Landtag ein, das konfessionslose Kinder zur Teilnahme am Religionsunterricht verpflichtete.290 Offenbar nutzte der Kultusminister eine historisch günstige Lage, denn die freireligiösen Gemeinden verzeichneten seit Mitte der 1880er sinkende Mitgliederzahlen.291 Ferner sah der Gesetzesentwurf die ausschließliche Gründung von Konfessionsschulen vor sowie ein Mitspracherecht der Kirchen bei der Einstellung von Religionslehrern.292 Der Zedlitz’sche Gesetzesentwurf löste unter Liberalen einen Proteststurm aus und sorgte für hitzige Debatten im Parlament und in der Öffentlichkeit. Liberale empfanden das Volksschulgesetz als ein »Attentat auf das freie Geistesleben«.293 Ihr Protest war erfolgreich, denn der Gesetzesentwurf wurde im März 1892 abgelehnt und Zedlitz-Trützschler musste als Minister zurücktreten. Für seine Nachfolger hatte sein Scheitern Signalwirkung, weil seitdem kein Versuch mehr unternommen wurde, das Verhältnis von Schule und Kirche im Kaiserreich durch ein umfassendes Unterrichtsgesetz zu klären.294 Obwohl sein Nachfolger, Robert Bosse (1832–1901), die Befreiung vom konfessionellen Religionsunterricht für Schüler höherer Schulen erleichterte, oblag die Entscheidung weiterhin dem Ermessen der Behörden.295 Angesichts der Gesetzesverschärfung seit den 1890er Jahren verwundert es kaum, dass in der freidenkerischen Presse intensiv über die Zukunft der Dissidentenkinder diskutiert wurde.296 Der bildungspolitische Forderungskatalog 288 Rosenthal: Dissidentenkinder in Preußen, 47. 289 Enders: Moralunterricht, 56. 290 Huber / Huber: Staat und Kirche. Bd. III, 154. 291 Vgl. Groschopp: Dissidenten, 214. 292 Enders: Moralunterricht, 34. 293 Tews, Johannes: Ein Jahrhundert preußischer Schulgeschichte. Leipzig 1914, 200. 294 Enders: Moralunterricht, 35. 295 Vgl. Bosse, Robert: Religionsunterricht der höhere Lehranstalten besuchenden Dissidentenkinder. In: Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen 3 (1893), 233–234. 296 Adler, Felix: Das Problem eines konfessionslosen Moralunterrichts. In: Ethische Kultur 1, Nr. 4 (1893), 27.

240  Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung der Monisten war vielfältig und verfolgte drei Hauptziele: Erstens die Befreiung der Dissidentenkinder vom Religionsunterricht, zweitens die Einführung eines bekenntnisfreien Moralunterrichts an Schulen und drittens die völlige Trennung von Schule und Kirche. Dass monistische Akteure schon früh in Auseinandersetzungen um den Religionsunterricht involviert waren, zeigt die Rolle Albert Kalthoffs in den Bremer Schulkämpfen von 1905.297 Wichtige Impulse für die Debatte um Moralunterricht in monistischen, freidenkerischen und ethischen Kreisen gingen von Felix Adler aus, dem Begründer der Ethical Societies in den USA. Sein Hauptwerk Moral Instruction of Children wurde 1894 von dem Berliner Philosophieprofessor Georg von Gizycki (1851–1895) ins Deutsche übersetzt, der ein Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Ethische Kultur war.298 In seinem Werk plädierte Adler für eine undogmatische Form der ethischen Unterweisung: It is the business of the moral instructor in the school to deliver to his pupils the subject-matter of morality, but not to deal with the sanctions of it; to give his pupils a clearer understanding about what is right and what is wrong, but not to enter into the question why the right should be done and the wrong avoided.299

Adlers Konzept einer undogmatischen Werteerziehung stieß in den moralpädagogischen Debatten des kaiserzeitlichen Freidenkertums auf große Resonanz.300 Die Hauptkritik der Freidenker und Monisten richtete sich auf den konfessionellen Katechismusunterricht. Entsprach der Katechismusunterricht ihnen zufolge einem blinden Memorieren und Herunterbeten von Glaubenslehren, so sollte sich der Moralunterricht an der Lebenswelt und dem Entwicklungsstand der Kinder orientieren. Ethisches Handeln sollte nicht aus blindem Pflichtgefühl oder der Angst vor göttlicher Strafe resultieren, sondern aus individuellem Gewissen. So forderte der Monist Immanuel Lewy 1909: Was wir brauchen, ist eine Moral, die nicht vom Kodex, sondern vom Kinde ausgeht, die nicht Moral lehren, sondern pflegen will, die nicht die Moralvorschriften als banale Selbstverständlichkeiten übermittelt, sondern die ethischen Ideale als Aufgaben und Ziele vor die Seele rückt. Nur eine solche radikale Umwandlung unserer Moral­ unterweisung bedeutet einen tatsächlichen Fortschritt von der kirchlichen Moral-

297 Vgl. Auwärter: Kämpfe um Religion, 176–225. 298 Vgl. Adler, Felix: Der Moralunterricht der Kinder. Autorisierte Übersetzung von Georg von Gizycki. Berlin 1894. 299 Adler, Felix: Moral Instruction of Children. New York 1895, 12. Hervorhebung im Original. 300 Enders, Susanne: Auf der Suche nach neuem Sinn. Moralpädagogik im Freidenkertum der Jahrhundertwende. In: Duncker, Ludwig (Hg.): Sinnverlust und Sinnorientierung in der Erziehung: Rekonstruktionen aus pädagogischer und theologischer Sicht. Bad Heilbrunn 2000, 241–266.

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unterweisung zur modernen, weil sie nicht Moraljuristen, sondern Moralkünstler, nicht Moralkenner sondern Moralkönner, nicht Moralschwätzer, sondern Moralüber schafft.301

Lewys Worte zeigen, dass der monistische und freidenkerische Moraldiskurs den Wert des Handelns gegenüber dem Denken akzentuierte. Da der Monismus jeglichen Transzendenz- und Jenseitsbezug negierte, hatte moralisches Handeln nur dann einen Sinn, wenn es dem eigenen Nutzen diente oder den Mitmenschen, der Gesellschaft und dem Fortschritt zugutekam. Die für den monistischen Ethikdiskurs typischen Bezüge zum Utilitarismus und Eudämonismus traten auch hier zum Vorschein (vgl. Kap. IV.1). Ethik und Moral sollten nicht auf ein jenseitiges Leben vorbereiten, sondern Glück und Wohlstand in der diesseitigen Welt schaffen. Ferner führten Monisten ihre Auffassung von Werteerziehung auf einen evolutionären Moralbegriff zurück. Werte und Normen unterlagen einem kontinuierlichen Wandel, weil sie Bestandteil der natürlichen Evolution waren und bereits in den urzeitlichen Trieben angelegt waren. Auf die Frage, was den Menschen zu moralischem Handeln bewege, antwortete der Hamburger Monist Gustav Höft: »Wahrscheinlich nicht durch die Hoffnung auf den Himmel oder die Angst vor der Hölle. Vielmehr durch die moralischen Triebe, die die Menschheit aus dem Tierleben mit heraufgebracht hat. Denn die Moral wurde geboren ehe es den Menschen gab.«302 An der Debatte um einen weltlichen Moralunterricht waren verschiedene Akteure beteiligt, zu denen die Sozialdemokratie, liberale Volksschullehrervereine und freigeistige Organisationen zählten. Offenbar trafen Monisten mit ihrer Kritik am Religionsunterricht den Nerv der Zeit, da immer mehr Religionslehrer an Volksschulen die Dominanz von Geistlichen in den Schulinspektionen als eine Belastung empfanden. In ihren Augen waren die Kirchen zu den Totengräbern jener Religion mutiert, die sie selbst in der Schule vermittelten.303 Die Einführung eines bekenntnisfreien Moralunterrichts an Schulen war insbesondere für die Gesellschaft für Ethische Kultur ein zentrales Anliegen, deren Gründung 1892 auf die konservative Bildungspolitik des Kultusministers Robert von Zedlitz-Trützschler reagierte.304 Den Anstoß zur Gründung der ethischen Gesellschaft gaben der bereits erwähnte Philosoph Georg von Gizycki sowie 301 Lewy, Immanuel: Verein für moralische Kultur in Paris. Kritik seiner Moralunterrichtsform. In: Weltliche Schule, Nr. 12 (1909), 47. 302 Höft, Gustav: Weltliche Schule. Zum Tageskampfe: Trennung von Schule und Kirche. Hamburg 1919, 11. 303 Vgl. Auwärter: »Kämpfe um die Religion«, 176–225. 304 Zur Gründung der ethischen Gesellschaft, vgl. Visser, Alderik: Die Evolution der Gesinnung. Ethische Gesellschaften in Europa und den U. S.A. zwischen Wissenschaft und Religion. Beitrag zur Vorgeschichte der internationalen Reformpädagogik. In: Rülcker, Tobias / Oelkers, Jürgen (Hg.): Politische Reformpädagogik. Bern u. a. 1998, 323–334.

242  Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung der Berliner Astronom Wilhelm Foerster (1832–1921).305 Über den Kampf für eine weltliche Werteerziehung entstanden zahlreiche personelle Verflechtungen zwischen der monistischen und ethischen Bewegung. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs wurden lokale und überregionale Kartelle gebildet, in denen Ortsgruppen des DMB mit der ethischen Gesellschaft kooperierten, etwa im Münchner Kartell der freiheitlichen Vereine.306 Wilhelm Ostwald versuchte im September 1911 Friedrich Jodl, Mitgründer der ethischen Gesellschaft in Wien, davon zu überzeugen, ein Lehrbuch auszuarbeiten, das als Vorbild für den weltlichen Moralunterricht dienen sollte.307 Der aus der ethischen Bewegung Wiens stammende Wilhelm Börner war seit 1913 Herausgeber des monistischen Jugendheftes Die Sonne. Seiner Ansicht nach bestand eine zentrale Aufgabe der monistischen Ortsgruppen darin, die Idee einer weltlichen Moralerziehung zu popularisieren. In einem Brief an Ostwald vom 10. Januar 1913 attestierte Börner gerade den Lehrern eine Schlüsselfunktion zur Erprobung und Verbreitung des Moralunterrichts vor Ort: Ich würde in allen Ortsgruppen des Monistenbundes, in denen noch kein Moralunterricht besteht, aufklärende Vorträge über das Wesen, die Aufgabe und die Methode des Moralunterrichtes halten. Diese Aufklärung erscheint mir als Einleitung einer praktischen Verwirklichung unbedingt nötig. Es bestehen nämlich auch im Kreise der Freisinnigen, der monistisch Gesinnten, viele Vorurteile gegen diesen Unterricht und diese müßten zunächst beseitigt werden. Ferner ist es notwendig, Menschen (besonders Lehrer) durch diese Vorträge für die Sache zu interessieren, um in jeder Stadt (mit einer Ortsgruppe des D. M.B) Persönlichkeiten zu haben, die […] mit der Erteilung des Moralunterrichtes einsetzen können.308

Die enge Verflechtung zwischen der Monismus- und ethischen Bewegung zeigte sich im Deutschen Bund für weltliche Schule und Moralunterricht (DBWS), der 1906 aus der ethischen Gesellschaft hervorging. Sowohl der Monisten- als auch der Bund für weltliche Schule gehörten dem Weimarer Kartell an, das sich 1911 auf dem internationalen Monistenkongress neu konstituierte.309 Der Bund für weltliche Schule widmete sich im Speziellen der rechtlichen Lage von Dissidentenkindern und der Anerkennung eines bekenntnisfreien Moralunterrichts an 305 Enders: Moralunterricht, 58 f. 306 Die Verflechtung von Monismus, ethischer Bewegung und freireligiösen Gemeinden wird anhand der Publikationstätigkeit der entsprechenden Akteure in der Vereinszeitschrift des Monistenbundes ersichtlich: Gustav Höft veröffentlichte 4 Artikel in der Zeitschrift des deutschen Monistenbundes, Ludwig Fränkel 15, Friedrich Jodl 13, Lilly Jannasch 3, Immanuel Lewy 2 und Rudolph Penzig 3. Vgl. Weber: Monistische und antimonistische Literatur, 35–39. 307 Wilhelm Ostwald an Friedrich Jodl, Großbothen, 21.9.1911. Wienbibliothek, Sammlung Wilhelm Börner. 308 Wilhelm Börner an Wilhelm Ostwald, Wien, 10.1.1913, NL Ostwald, Nr. 277. Hervorhebung im Original. 309 Vgl. Henning (Hg.): Handbuch der freigeistigen Bewegung, 73–78.

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Schulen. Obwohl der Bund eine Säkularisierung des Schulwesens anstrebte, suchte er keine »Gegnerschaft« zur Religion. Im Gegenteil: Ihm schwebte eine Harmonisierung des Religions- und Moralunterrichts vor.310 Die »gerechte Würdigung der Religionen, ihrer Lehren und Gebräuche« sei für die Beurteilung der »zeitigen Kulturlage« weiterhin erforderlich, betonte die Satzung des DBWS.311 Der Moralunterricht solle die Jugend dazu anleiten, ihre »natürlichen Menschenund staatlichen Bürgerpflichten« zu erfassen, hieß es weiter.312 Der Berliner Stadtrat und Reformpädagoge Rudolph Penzig, der zugleich der ethischen Gesellschaft in Berlin vorstand, wurde zum Vorsitzenden des DBWS ernannt.313 Noch im selben Jahr seiner Gründung demonstrierte der Bund gegen das preußische Schulunterhaltungsgesetz vom 28. Juli 1906, das die Finanzierung der Volksschulen zur Zuständigkeit der Kommunen erklärte und gleichzeitig die Konfessionalität des Volksschulwesens festigte.314 Bis zum Jahr 1912 gewann der Bund mehr als zweitausend Lehrer für seine Ziele.315 Größere Aufmerksamkeit erlangte er durch eine Konferenz über sittliche Willensbildung in der Schule, die vom 29. September bis 1. Oktober 1912 in der Berliner Philharmonie stattfand und auf der Friedrich Jodl über die »Lehrbarkeit der Moral« referierte.316 Vor und sogar während des Ersten Weltkriegs war die Diskriminierung der Dissidentenkinder an Schulen ein Dauerthema in der monistischen Presse. Die Vereinszeitschrift des DMB fungierte dabei als Multiplikator bildungspolitischer Forderungen und bot ein Forum für Protestaufrufe an die jeweiligen Landes­ regierungen.317 Verschiedene Akteure aus monistischen, ethischen und freireligiösen Kreisen berichteten über Diskriminierungsfälle von Dissidentenkindern in Preußen, Bayern und Sachsen und prangerten das Zögern der Landesregierungen in der gesetzlichen Regelung der Dissidentenfrage an. Der »Gewissenszwang« an Schulen verdichtete sich in der monistischen Presse zu einem viel zitierten Topos: Die Geraer Ortsgruppe des Deutschen Monistenbundes verurteilte in einem Gesuch an den Gemeinderat von 1913 den Religionsunterricht als eine »Gewissensvergewaltigung« für solche Eltern, die nicht mehr auf dem »Boden der 310 Vgl. Penzig, Rudolph (Hg.): Die Harmonie zwischen Religions- und Moralunterricht. Berlin 1912. 311 Henning (Hg.): Handbuch der freigeistigen Bewegung, 75. 312 Ebd. 75. 313 Zweiter Vorsitzender war Bruno Meyer, erste Schriftführerin Lilli Jannasch und zweite Schriftführerin Elsbeth Lewy. 314 Enders: Moralunterricht, 76. 315 Penzig: Zur Einführung. In: Harmonie, 15. 316 Jodl, Friedrich: Die Lehrbarkeit der Moral. In: Penzig (Hg.): Harmonie zwischen Religions- und Moralunterricht, 103–116. 317 Vgl. Kramer, Georg: Jugendunterricht. In: Der Monismus 5, Nr. 46 (1910), 151–154, hier 153; Protesterklärung. In: Der Monismus 6, Nr. 62 (1910), 373.

244  Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung evangelisch-lutherischen Landeskirche« standen;318 der Vorsitzende der Geraer Ortsgruppe des DMB, Otto Plarre, brandmarkte einen Beschluss des dortigen Ministeriums für Kirchen- und Schulsachen als »ministerielle Zwangsvergläubigung« von Dissidentenkindern;319 die Berliner Freidenkerin und Pazifistin Lilli Jannasch bezeichnete die restriktive Schulpolitik in Preußen 1914 als »Zwangsverfrommung der Dissidentenkinder«.320 Im Besonderen kritisierte Jannasch das systematische Vorgehen der Schulbehörden in Preußen: Wo das geltende Gesetz nicht ausreichte, um einen weltlichen Moralunterricht für Konfessionslose zu unterbinden, verwiesen die Behörden auf eine »Kabinettsorder von anno dazumal«, um ihr Handeln zu begründen.321 Auch der Jurist Julius Rosenthal rügte den gesetzlichen Umgang mit den Dissidenten in Preußen als Anachronismus: Wenn man für oder gegen die dissidentische Bewegung mit Gesetzesbestimmungen Friedrichs II. operiert, so ist das gerade so, wie wenn man in der modernen Theologie in der Bewertung von Männern, wie Jatho oder Traub, auf Martin Luther zurückkommen wollte. Friedrich der Grosse und Martin Luther sind gewiss beides Männer gewesen, zu deren Ruhm heute in Deutschland nichts mehr gesagt zu werden braucht; es gibt aber Konflikte – und den religiösen Gewissenskonflikt der Dissidenten rechnen wir dazu –, die aus neueren Erkenntnissen geboren sind.322

Um die Dominanz der Kirche im Schulwesen aufzuzeigen, führten die Autoren im monistischen Vereinsorgan statistische Angaben über die Gesamtzahl von Religionsstunden in der Volksschule auf.323 Lilli Jannasch veröffentlichte 1914 im Monistischen Jahrhundert eine Übersicht der Gesamtstunden des Religionsunterrichts an preußischen Volksschulen gegenüber dem naturwissenschaftlichen Unterricht. Besonders verärgert zeigte sie sich über die vergleichsweise hohe Anzahl von sieben Religionsstunden pro Woche in der Oberstufe (5. bis 8. Klasse). Es sei sehr bezeichnend für »unseren ›christlichen Staat‹, daß er gerade auf der Oberstufe, wo die jungen Leute in dem Alter stehen, wo der Bildungs­ hunger, der Wissensdurst und die geistig-sittliche Aufnahmefähigkeit am größten ist, die konfessionelle Zwangsdressur auf Kosten der Vernunft und Erkenntnis mit besonderem Nachdruck betreibt.«324 Ebenso bemerkte der Hamburger Monist Gustav Höft in einem Vortrag: »In Preußen hat ein Schüler einer mehr 318 Begründung eines Gesuchs. In: DMJ 2, Nr. 18 (1913), 474. 319 Plarre, Otto: Ministerielle Zwangsvergläubigung der Kinder. In: Weltliche Schule, Nr. 32 (1914), 158. 320 Jannasch, Lilli: Der preußische Dissidentenantrag abermals abgelehnt. In: DMJ 3, Nr. 18 (1914), 484. 321 Ebd., 486. Dabei verwies sie auf einen Ministerialerlass von 1823. 322 Rosenthal: Dissidentenkinder in Preußen, 56. 323 Vgl. Höft: Weltliche Schule; Jannasch: Kirchenaustritte und weltliche Schule. In: DMJ 2 (1913), 1470. 324 Jannasch: Kirchenaustritte und weltliche Schule, 1470.

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klassigen Schule während seiner Schulzeit etwa 1400 bis 1500 und ein solcher einer einklassigen Schule etwa 1600 bis 1700 Religionsstunden, mit dem Konfirmandenunterricht etwa 1700 bis 1900 Stunden«.325 Das laizistische Frankreich galt vielen Monisten als Vorbild ihrer bildungs­ politischen Bestrebungen.326 Durch den Sieg der Republikaner in den Senatswahlen von 1879 während der Dritten Republik (1870–1940) erfuhr das französische Schulsystem einen deutlichen Liberalisierungsschub.327 Zentrale Wegbereiter des laizistischen Bildungswesens in Frankreich waren der Kultusminister Jules Ferry (1832–1893) und seine Mitarbeiter Ferdinand Buisson (1841–1932) und Paul Bert (1833–1886). Das Gesetz vom 28. März 1882 verbannte den Religionsunterricht aus öffentlichen Schulen und ersetzte diesen durch eine säkulare Moral- und Staatsbürgerkunde. Das Gesetz zur Trennung von Staat und Kirche vom 9. Dezember 1905 besiegelte schließlich den Laizismus in Frankreich.328 Der frankophile Pazifist und Freidenker Hermann Fernau versuchte 1910 statistisch nachzuweisen, dass die säkulare Werteerziehung in Frankreich zu einer Senkung der Jugendkriminalität beitrug.329 Der Hamburger Monist Gustav Höft lobte den französischen Moralunterricht indessen als Vorbild für das deutsche Schulsystem.330 Höft verteidigte das französische Modell gegenüber kritischen Stimmen, die behaupteten, der Moralunterricht in Frankreich fördere einen kalten Rationalismus. Einen besonderen Verdienst des Moralunterrichts sah er in der evolutionären und historischen Betrachtungsweise von Moral und der Betonung des Fortschrittsgedankens: Man kann heute sagen, daß auch der weltliche Moralunterricht Ideale pflegt, die Anspruch auf Größe und Erhabenheit machen können. Aus der von der Wissenschaft gezeigten Entwicklung des Menschen vom Herdentier zu den großen Männern unserer Zeit leitet der Moralunterricht das Ideal ab, weiter zu arbeiten am Fortschritt der Menschheit in hygienischer und sozialer Hinsicht. Die gegenseitige Abhängigkeit aller Lebewesen wird ihm zu einem reichen Quell altruistischer und moralischer Energien.331 325 Höft: Weltliche Schule, 6. 326 Fernau, Hermann: Der Kampf um die weltliche Schule in Frankreich. In: DMJ 3, Nr. 48 (1914), 1346–1351; Broda, Rudolf: Die Methoden des weltlichen Moralunterrichts in Frankreich. In: DMJ 1, Nr. 10 (1912), 332–337. 327 Enders: Moralunterricht, 40. Die Trennung von Schule und Kirche in Frankreich hatte ihre Wurzeln in der Französischen Revolution. Die 1789 erlassenen Dekrete und die Verfassung von 1791 führten die staatliche Schulaufsicht ein und realisierten einen öffentlichen, kostenlosen Unterricht, der Klassenunterschiede nivellieren sollte. 328 Enders: Moralunterricht, 40. 329 Fernau, Hermann: Die weltliche Schule und die Jugendkriminalität in Frankreich. In: Der Monismus 4, Nr. 39 (1910), 387–389. 330 Höft, Gustav: Schulreform. Die weltliche Schule und der Moralunterricht in Frankreich. In: DMJ 2, Nr. 28 (1913), 791–798, hier 791. 331 Ebd., 796.

246  Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung In der monistischen Diskussion um eine säkulare Werteerziehung traten unterschiedliche Vorstellungen über die Ziele und Inhalte des Moralunterrichts zutage: Während das eine Lager zumindest an christlichen Inhalten im Sinne der Bibelgeschichte festhielt, lehnten andere religiöse Bezüge grundsätzlich ab. Stattdessen forderten sie eine rein säkulare Moral- und Staatsbürgerkunde nach französischem Vorbild. Uneinigkeit herrschte insbesondere über die Methode des Moralunterrichts: Einige Autoren aus dem freigeistigen Spektrum warnten davor, dass sich der Moralunterricht zu einem säkularen Katechismusunterricht zu entwickeln drohe. Anstelle von Glaubenssätzen müssten Kinder nun einen bürgerlichen Tugendkatalog herunterbeten. Vertreter der ethischen und monistischen Bewegung bekundeten mitunter eine gewisse »Scheu vor dem Ausdruck Moralunterricht«, wie Immanuel Lewy 1908 konstatierte, da ihnen die Moral »zu sehr nach Pfaffentum« schmecke.332 Der Reformpädagoge Friedrich ­Gansberg (1871–1950) bemerkte 1910, dass auch liberale Volkschullehrer Bedenken gegenüber dem Moralunterricht äußerten: »Man denkt an die Katechismen, die die sämtlichen Tugenden eines Idealbürgers in langen Listen aufführen, man denkt an die kleinliche, christliche, spiessbürgerliche Perspektive, mit der dort das ganze menschliche Leben betrachtet wird«.333 Eine Folge dieser Kontoversen war, dass sich die »Lebenskunde« als alternatives Konzept zum weltlichen Moralunterricht etablierte, da ihr weniger der Ruch des Dogmatismus anhaftete. Die unterschiedlichen Auffassungen über Inhalt und Ziele der säkularen Werteerziehung zeigten sich auch auf internationalem Parkett. In den Jahren 1908 und 1912 nahmen Vertreter der ethischen und monistischen Bewegung an internationalen moralpädagogischen Kongressen teil, die in London und Den Haag stattfanden.334 Die beiden Kongresse konnten allerdings nur mäßigen Erfolg verbuchen, da christliche, liberale und freidenkerische Vorstellungen von Moralerziehung aufeinanderprallten. Hatte der Londoner Kongress eine beachtliche Zahl von 1.800 Teilnehmern mit rund 300 Delegierten aus Europa und den USA angezogen, so erreichte der zweite Kongress in Den Haag vier Jahre später nur die Hälfte der Teilnehmer.335 Der Londoner Kongress vom 25. bis 29. September 1908 widmete sich der »Modernisierung der ethischen Erziehung« und insbesondere der Frage, in 332 Lewy, Immanuel: Scheu vor dem Ausdruck Moralunterricht. In: Weltliche Schule, Nr. 8 (1908), 29–30, hier 29. 333 Gansberg, Friedrich: Moralunterricht oder Lebenskunde? In: Der Monismus 5 (1910), 350–364, hier 361. 334 Ihren Ursprung hatten die moralpädagogischen Kongresse in einer Initiative des Internationalen Ethischen Bundes, der 1896 in Zürich als Dachorganisation der ethischen Gesellschaften in Europa und den USA entstand. 335 Höft, Gustav: Zweiter internationaler Kongress für moralische Erziehung in Haag. Vom 22. bis 29. August. In: DMJ 1, Nr. 13 (1912), 437–446, hier 437; Enders: Moralunterricht, 47.

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welchem Verhältnis sie zur Kirche und Religion stand.336 Obwohl die Teilneh­ mer eine Annäherung in moralpädagogischen Fragen anstrebten, blieben Meinungsverschiedenheiten nicht aus: Während das laizistische Frankreich sein »weltliches Erziehungssystem« verteidigte, pochten Vertreter des englischen Schulsystems darauf, den biblischen Religionsunterricht als »nationalen Erziehungsfaktor« beizubehalten.337 Die Frage nach der Vermittlung eines rein weltlichen Moralunterrichts in der Schule, die gerade für die deutschen Teilnehmer grundlegend war, wurde nur am Rande diskutiert, zumal einige Referate von Geistlichen kamen. Erst auf der sechsten Sitzung des Kongresses nahm man sich dem Thema eines systematischen Moralunterrichts an. Dennoch fiel das Gesamturteil Immanuel Lewys, der über den Londoner Kongress berichtete, positiv aus. Schließlich habe man den unsachlichen »Machtkampf« um die Moralerziehung in einen sachlichen »Geisteskampf« überführt. Allein über das »Wie« und »Wieweit« schieden sich die Geister.338 Lewys Kritik galt sowohl der preußischen Regierung, die sich aus Vorsicht weigerte, eine deutsche Delegation nach London zu schicken, als auch der preußischen Presse, die den Kongress weitgehend ignorierte: Wir wollen hoffen und wünschen, daß auch Preußen-Deutschland in diesen so wichtigen Kulturfragen, die den Fortschritt des sittlichen Denkens und die Erziehung der künftigen Generation betreffen, nicht hinter China, Türkei, Bulgarien, Rumänien und anderen unbedeutenden Nationen zurückbleibt und sich dazu aufrafft, an diesem internationalen Kulturwerke bewußt und tatkräftig teilzunehmen.339

Auch auf der Den Haagener Versammlung 1912 stellte sich eine deutliche Dominanz klerikaler Stimmen heraus, wobei sich der Konflikt zwischen Freidenkern und Geistlichen verschärft hatte. Schon am Vormittag des zweiten Kongresstags wurde ein »Zusammenprall« zwischen Gesandten der Kirche und Vertretern der ethischen Bewegung unübersehbar: Als nun die Diskussion über das Grundproblem, ob ein Leben, eine Moral ohne Religion überhaupt möglich sei, eröffnet wurde, da traten sie hervor, die Männer vom 336 Lewy, Immanuel: Erster Internationaler Kongreß für Moral-Pädagogik. In: Der Monismus 3, Nr. 29 (1908), 458–460, hier 459. Der Kongressbericht verzeichnete neun Themenfelder: 1. The principles of moral education, 2. Aims, means and limitations in the various types of schools, 3. Character-building by discipline, influence and opportunity, 4. The Problem of moral instruction, 5. Relation of religious education to moral education, 6. Systematic moral instruction, 7. The relation of moral education to education under other aspects, 8. The problem of moral education under varying conditions of age and opportunity, 9. Biology and moral education. Vgl. Spiller, Gustav (Hg.): Papers on Moral Education. 2. ed. London 1909, VII–XIII. 337 Lewy: Erster Internationaler Kongreß, 459. 338 Ebd., 460. 339 Ebd., 460.

248  Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung Reiche Gottes, stellten sich auf die Rednerbühne und sagten, einer nach dem andern, ihr Sprüchlein auf, die Sprüchlein von den ›ewigen Wahrheiten‹, die aus dem Munde junger, kaum dem Seminar entwachsener Leute oft gar seltsam anmuteten: Für sie war das Problem des Moralunterrichts, mit dem der Kongreß sich doch beschäftigen sollte […] überhaupt nicht vorhanden. Für sie war das christlich-religiöse Erziehungsideal das eine und alles.340

Angesichts der »Durchsetzung des Kongresses mit klerikalen Elementen« beschlossen die Befürworter der weltlichen Schule aus Frankreich, England, Deutschland und den USA, eine Sondersitzung außerhalb des Kongresses einzuberufen.341 Auf dieser informellen Versammlung nutzte Felix Adler die Gelegenheit, den Standpunkt seiner ethischen Gesellschaft darzulegen. Die Sittlichkeit der Zukunft, so Adler, rühre nicht von einer Jahrtausende alten religiösen Tradition her, sondern vom Standpunkt der modernen Wissenschaft.342 Am Beispiel Münchens und Berlins wird nun gezeigt, dass der konfessionslose Moralunterricht lokale Auseinandersetzungen zwischen Dissidenten und Schulbehörden entfachte, die bis in die Länderparlamente vordrangen. Konflikte um den Moralunterricht in Bayern und Preußen Die Debatte um eine säkulare Werteerziehung hatte ihren Ursprung in den Forderungen der freireligiösen Gemeinden, die seit den 1850er Jahren für einen eigenen Sittenunterricht kämpften.343 Die Rechtslage der freireligiösen Gemein­ den in Bayern schwankte zwischen Phasen der gesetzlichen Öffnung und Restriktion.344 Seit den 1840er Jahren waren freireligiöse Gemeinden als »Privatkirchengesellschaften« anerkannt und erhielten dadurch die Erlaubnis, ihren Kindern einen eigenen Moralunterricht zu erteilen. Unter dem Einfluss der Reaktion nach 1848 änderte sich die Lage: Freireligiöse Gemeinden wurden seit 1851 als politische Vereine eingestuft, wodurch Dissidentenkinder wieder zum Besuch des konfessionellen Religionsunterrichts an Schulen verpflichtet waren. Da dieser Ministerialerlass jedoch gegen die verfassungsmäßige Glaubens- und Gewissensfreiheit verstieß, wurde dieser 1861 wieder aufgehoben. Ein weiterer Erlass vom 22. Juni 1867 sah einen Ersatzunterricht für Dissidentenkinder vor, sofern ein Antrag bei der Schulbehörde gestellt wurde.345 Nach 1900 geriet der freireligiöse Unterricht bei der Schulaufsicht zunehmend unter »Sozialismus 340 Höft: Zweiter Internationaler Kongress, 440. 341 Ebd., 437. 342 Ebd., 444. 343 Hölscher: Protestantische Frömmigkeit, 363. 344 Zur Rechtslage der freireligiösen Gemeinden in Bayern, vgl. o.A.: Die freien Gemeinden insbesondere der konfessionslose Moralunterricht in Bayern. München 1914; Henning (Hg.): Handbuch der freigeistigen Bewegung, 305–319. 345 Henning (Hg.): Handbuch der freigeistigen Bewegung, 312; Enders: Moralunterricht, 57.

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verdacht«, weshalb die behördlichen Genehmigungsverfahren nun strenger wurden.346 Eine Pionierrolle in der Erprobung eines konfessionslosen Moralunterrichts für Dissidentenkinder nahm München ein. Der freireligiöse Prediger und N ­ ietzsche-Jünger Ernst Horneffer, der 1909 von dem Kartell freiheitlicher Vereine als Dozent nach München berufen worden war, trat mit großem Engagement für einen Moralunterricht ein, der auf freireligiös-monistischen Inhalten basierte.347 Dass Horneffer eine äußerst charismatische Person war, verdeutlicht ein Brief Friedrich Jodls an Ostwald vom 10. November 1911. Hierin informierte Jodl seinen Kollegen darüber, dass Horneffer eine freidenkerische Monatsschrift namens Die Tat ins Leben gerufen habe, deren Herausgabe später der Kulturverleger Eugen Diederichs übernahm. Diese Zeitschrift könne zu einer Konkurrenz für die »monistische Propaganda« werden, zumal »Horneffer wie er es ja faktisch bewiesen hat auf weite Kreise zu wirken im Stande« sei, hieß es. Deshalb schlug Jodl vor, gemeinsam eine monistische Zeitschrift herauszugeben: »Wäre der Gedanke einer Verschmelzung der beiderseitigen Unternehmungen im Interesse einer einseitigen Wirkung nicht erwägenswert?«348 Erste Erfolge konnte Horneffer in München mit seinen vierzehntägigen »Sonntagsfeiern für freie Menschen« verzeichnen, die sich unter ansässigen Monisten, Freidenkern und Freireligiösen großer Beliebtheit erfreuten.349 Ein Jahr nach Horneffers Übersiedlung nach München erklärte sich die bayerische Regierung zu einer Prüfung seines Antrags bereit, einen konfessionslosen Moralunterricht für die freireligiöse Gemeinde in München einzuführen. Horneffer arbeitete dazu einen Lehrplan aus, der den Moralunterricht in drei Klassen unterteilte: In der ersten Klasse sollten Schüler zwischen sechs und zehn Jahren in grundlegende moralische Fragen eingeführt werden; die zweite Klasse für Kinder zwischen zehn und zwölf Jahren behandelte ethische Pflichten mit Auszügen aus der Bibel und Literatur, während die dritte Klasse philosophische Grundprobleme wie die Frage der Willensfreiheit diskutierte.350 Nach intensiven Debatten genehmigte die bayerische Regierung am 24. Juli 1911 die Durchführung eines freireligiösen Moralunterrichts; der Münchner 346 Enders: Moralunterricht, 57. 347 Der aus Stettin stammende Ernst Horneffer (1871–1954) studierte zunächst klassische Philologie in Berlin und Göttingen. Nach seiner Promotion 1895 in Göttingen war Horneffer gemeinsam mit seinem Bruder im Nietzsche-Archiv tätig und gab dessen unveröffentlichte Schriften heraus. Seit 1909 wirkte er als Publizist und Dozent der freireligiösen Gemeinde in München. 1918 habilitierte er sich in Gießen in Philosophie und erhielt dort eine außerordentliche Professur für Metaphysik. Stand Horneffer zunächst den Freimaurern und Freireligiösen nahe, so wandte er sich später auch völkischen Positionen zu. 348 Friedrich Jodl an Wilhelm Ostwald, Wien, 10.11.1911. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 1381. 349 Zu den Sonntagsfeiern, vgl. Horneffer: Kartell der freiheitlichen Vereine. 350 Horneffer, Ernst: Konfessionsloser Moralunterricht der freireligiösen Gemeinde in München. Leipzig 1910.

250  Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung Magistrat stellte dafür sogar öffentliche Gebäude zur Verfügung.351 Horneffers Ersatzunterricht richtete sich nicht ausschließlich an Freireligiöse, sondern auch an Kinder aus freidenkerischen und monistischen Kreisen. Denn neben seiner Tätigkeit als Dozent des Münchner Kartells übernahm Horneffer im Herbst 1910 das Amt des zweiten Vorsitzenden im Monistenbund.352 Die Geschäftsstelle des Monistenbundes wurde in demselben Jahr von Berlin nach München verlegt.353 Obwohl Horneffer 1911 mehr als zweihundert Kinder in München für s­ einen Ersatzunterricht gewinnen konnte, befand sich dieser in einer prekären Lage. Rechtlich gesehen galt sein freireligiöser Unterricht als Privatunterricht und stand demzufolge nicht auf derselben Stufe wie der Unterricht öffentlich anerkannter Glaubensgemeinschaften in Bayern.354 Zudem hing die finanzielle Bezuschussung des Ersatzunterrichts vom Magistrat ab, die gerade unter Konservativen äußerst umstritten war.355 So protestierten der Erzbischof von München-Freising sowie der bayerische Oberkonsistorialpräsident, Leiter der protestantischen Kirche in Bayern, gegen die moralpädagogischen Bestrebungen Horneffers. Diese Proteste von kirchlicher Seite können als Indiz dafür gewertet werden, dass der Ersatzunterricht von kirchlichen Würdenträgern als ernstzunehmende Bedrohung wahrgenommen wurde.356 Unter dem konservativen Ministerpräsidenten Georg von Hertling ­(1843–1919), der dem katholischen Zentrum angehörte und seit 1912 im Amt war, änderte sich die Lage für die freireligiöse Gemeinde in München. Im Sommer 1914 plante dessen Kultusminister, Eugen von Knilling (1865–1927), mithilfe eines Ministerialentschlusses den freireligiösen Jugendunterricht in Bayern zu verbieten. Dadurch verpflichtete er Kinder konfessionsloser sowie freireligiöser Eltern erneut zur Teilnahme am staatlichen Religionsunterricht. Unter dem Pseudonym »Magister Bavaricus« rief ein Berichterstatter des Monistischen Jahrhunderts monistische Ortsgruppen und freireligiöse Gemeinden dazu auf, die Vereinbarkeit des Erlasses mit dem Grundsatz der Gewissensfreiheit zu prüfen und das »Knillingsche Verbot« auf die Tagesordnung der Jahresversammlung des Weimarer Kartells 351 Horneffer, Ernst: Aus dem Münchener Kartell. In: Die Tat 1, Nr. 4 (1910), 239; Staatlich genehmigter »konfessionsloser Moralunterricht« in München. In: Der Dissident 5, Nr. 8 (1911), 57–60. Der Münchner Magistrat hatte bis 1919 die Stadtverwaltung inne. 352 Mittmann, Thomas: Religion nach dem ›Tod Gottes‹. Friedrich Nietzsche als Wegbereiter des Neuheidentums bei Ernst Horneffer. In: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-​ Gesellschaft 12 (2005), 275–293, hier 286; Horneffer: Kartell der freiheitlichen Vereine, 12. 353 Horneffer: Kartell der freiheitlichen Vereine, 12–13. 354 L. F.: Staatlich genehmigter »konfessionsloser Moralunterricht« in München. In: Der Dissident 5, Nr. 8 (1911), 57–60, hier 58. 355 Horneffer: Kartell der freiheitlichen Vereine, 4; Mittmann: Religion nach dem ›Tod Gottes‹, 288. 356 Mittmann: Religion nach dem ›Tod Gottes‹, 288.

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zu setzen.357 Die Konfessionalisierung des Schulwesens betraf auch die Reform der Fortbildungsschulen in Bayern, die der anonyme Berichterstatter als eine »endgültige Auslieferung der bayerischen Schuljugend an den Klerus« rügte.358 Trotz ihres Protests entzog die Schulbehörde 1914 der freireligiösen Gemeinde die Unterrichtsgenehmigung.359 Den Entschluss der bayerischen Regierung, den Moralunterricht für freireligiöse Kinder einzustellen, deutete Friedrich Wilhelm Foerster als ein Resultat der »gehässigen Angriffe auf die positiven Religionen, wie sie sich in den Schriften der verschiedenen Morallehrer fanden«. Dennoch gingen in Bayern, wie er im September 1914 an Georg Kerschensteiner schrieb, gegen tausend Kinder jeder systematischen moralischen Unterweisung verlustig. Diese Kinder in den konfessionellen Religionsunterricht zu zwingen, wie das in Preussen geschieht, ist nicht bloss sinnlos, sondern auch für die freireligiösen Kinder selbst wie für die anderen Kinder höchst gefährlich und würde auch dem Grundsatz der Gewissensfreiheit widersprechen. Das bayerische Ministerium hat bis jetzt daher auch von dieser Zwangsmassregel abgesehen und wird es wohl auch in Zukunft tun, da auch viele einsichtige katholische und protestantische Geistliche mit mir der Anschauung sind, dass in staatsbürgerlichen wie in religiösen Dingen der Erziehungszwang das Gegenteil von dem erzeugt, was er erzeugen will.360

Als Lösung schlug Foerster einen zweigeteilten Religionsunterricht vor, der aus einem dogmatischen (Katechismuslehre)  und undogmatischen Teil (systematischer Moralunterricht) bestand. Dissidentenkinder sollten ihm zufolge ausschließlich zur Teilnahme am undogmatischen Teil verpflichtet werden. Foerster wandte sich nun mit der Bitte an Kerschensteiner, diesen Vorschlag an »geeigneten Stellen« der Schulverwaltung zu unterbreiten.361 Weitaus problematischer als in Bayern gestaltete sich die Lage für Freireligiöse und Dissidenten in Preußen: Seit den Beschlüssen von Zedlitz-Trützschler und seinem Nachfolger Bosse mussten freireligiöse Prediger in Preußen bei den örtlichen Schulbehörden um eine Genehmigung für ihren freireligiösen Jugendunterricht bitten. Die Behörden wiesen die Anträge in den meisten Fällen jedoch zurück, da der freireligiöse Prediger eine »ausreichende Befähigung« in einem anerkannten Religionsfach benötigte. Für die freireligiösen Prediger ergab sich 357 Magister Bavaricus: Das Verbot des konfessionellen Moralunterrichts in Bayern. Ein Schlaglicht heutigen Rückschritts. In: DMJ 3, Nr. 18 (1914), 477–484 hier 483. 358 Magister Bavaricus: Die endgültige Auslieferung der bayerischen Schuljugend an den Klerus. In: DMJ 3, Nr. 14 (1914), 353–359. 359 Magister Bavaricus: Verbot des konfessionellen Moralunterrichts, 483; Mittmann: Religion nach dem ›Tod Gottes‹, 289. 360 Foerster an Kerschensteiner, 18.9.1914, GK B 259, NL Kerschensteiner, Monacensia Literaturarchiv. 361 Ebd.

252  Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung dadurch das Problem, dass sie als Vertreter einer nicht-anerkannten Glaubensgemeinschaft diesen Nachweis de facto nicht erbringen konnten – und an den bürokratischen Hürden scheiterten.362 Gemäß einem Urteil des Kammergerichts Berlin vom 23. Oktober 1911 konnten konfessionslose Eltern zwar nicht dazu gezwungen werden, konfessionelle Lehrbücher (etwa Katechismen) für ihre Kinder zu kaufen, allerdings wurden Dissidentenkinder zur physischen Anwesenheit am Religionsunterricht verpflichtet. Um in Preußen endlich eine Entscheidung in der Dissidentenfrage herbeizuführen, warb Lilli Jannasch für den Kirchenaustritt; er sei die »beste Waffe im Kampf um die weltliche Schule!«363 Säßen in jeder Großstadt »zehn bis fünfzehn nur körperlich anwesende konfessionslose Kinder im Religionsunter­ richt«, argumentierte Jannasch, so würden die Kirchen »im Interesse des eigenen Religionsunterrichts« fordern, diese »Störenfriede« einem eigenen Sittenunterricht zuzuweisen.364 Ihre Versuche, freireligiösen Kindern einen entsprechenden Privatunterricht zu erteilen, brachten Jannasch mehrmals mit den preußischen Behörden in Konflikt.365 In Preußen flammte die Debatte um die Befreiung der Dissidentenkinder vom Religionsunterricht in den Jahren 1912/13 sowie 1917 auf, als Nationalliberale im preußischen Abgeordnetenhaus Initiativen einreichten, um den »schweren Gewissenszwang« an Schulen zu beenden.366 Im März 1912 legten Nationalliberale im preußischen Landtag den Antrag Schiffer-Hackenberg vor, der mit Verweis auf das geltende Schulgesetz die Befreiung der Dissidentenkinder vom Religionsunterricht forderte.367 Zwar hätte der Antrag nach ausgiebiger Begutachtung durch die Unterrichtskommission Stimmenmehrheit erlangen können, zumal Vertreter des Zentrums zustimmten, dennoch wurde er abgelehnt, weil ein Zentrumsmitglied vor der Abstimmung abkommandiert wurde.368 Beson­ders nach der Kirchenaustrittswelle von 1913 erhofften sich Frei 362 Enders: Moralunterricht, 57. 363 Jannasch, Lilli: Der preußische Dissidentenantrag abermals abgelehnt, 487. Hervorhebung im Original. 364 Ebd., 487. 365 Als Jannasch in Zusammenarbeit mit der Berliner ethischen Gesellschaft im Herbst 1913 ethische Jugendzirkel für 14- bis 18-Jährige anbot, wurde ihr schon nach wenigen Tagen Polizeistrafe angedroht. Zu den behördlichen Konflikten nach dem Zedlitzschen Unterrichtsverbot, vgl. Groschopp: Dissidenten, 215. 366 Metger: Die Befreiung der Dissidentenkinder vom Religionsunterricht. In: Volksschullehrer 11, Nr. 6 (1917), 44–45. Zu den Verhandlungen, vgl. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, 5. Session (1912), 3073–3078 [40. Sitzung am 19 März 1912]. 367 Penzig, Rudolph: Der Gesetzesentwurf über die Befreiung der Dissidentenkinder vom Religionsunterricht. In: Ethische Kultur 21, Nr. 10 (1913), 73 f. Zu Hackenbergs Antrag, vgl. Zimmermann, Erik: Albert Hackenberg (1852–1912). Ein rheinischer Präses. Bonn 2006, 252. 368 So die Berichterstattung Penzigs: Gesetzesentwurf, 73 f.

Trennung von Schule und Kirche  253

denker und ­Monisten eine endgültige Klärung der Dissidentenfrage. Doch auch ein Folge­antrag 1914 im preußischen Landtag wurde lautlos »in die Versenkung befördert«, nachdem Konservative und Zentrum eine Abstimmung des Dissidentenantrags im Plenum verhindert hatten, wie Lilli Jannasch berichtete.369 Selbst während des Krieges hielten die Debatten um die Lage der Dissidentenkinder im preußischen Landtag an: Im Frühjahr 1917 brachte der Vorsitzende der nationalliberalen Partei, Dr. Friedberg, mit Verweis auf die Erlasse des ehemaligen Kultusministers Falk, einen neuen Antrag im preußischen Abgeordnetenhaus ein. Dieser sah vor, dass »Kinder, deren Eltern keiner Religionsgemeinschaft angehören«, auf den Wunsch des Vaters oder eines anderen Erziehungsberechtigten hin »vom Besuch des Religionsunterrichts zu befreien« seien. Der Antrag wurde daraufhin einer Kommission übermittelt, die am 15. November 1917 in der Unterrichtskommission des preußischen Landtags folgenden Kompromissantrag vorstellte: § 1. Schulpflichtige Kinder, welche einer staatlich anerkannten Religionsgesellschaft nicht angehören, haben an dem lehrplanmäßigen Religionsunterricht der Schule, die sie besuchen, teilzunehmen, sind aber, wenn die Eltern […] der Schulaufsichtsbehörde gegenüber eine dahingehende Erklärung abgeben, von den Stunden zu befreien, in denen Katechismusunterricht erteilt wird. § 2. Nehmen diese Kinder an einem von der Schulaufsichtsbehörde zugelassenen Ersatzunterricht teil, so sind sie auf Antrag der Erziehungsberechtigten (§ 1) von dem Besuche des gesamten schulplanmäßigen Religionsunterrichts zu befreien.370

Der Monistenbund veröffentlichte mehrere fachkundige Meinungen über die Parlamentsdebatte von 1917. Der sozialdemokratische Abgeordnete Heinrich Peus bewertete den Kompromissantrag insofern als Fortschritt, als man eine klare Unterscheidung zwischen Katechismusunterricht und Religionsgeschichte getroffen habe. Während Religionsgeschichte für alle Schüler weiterhin obligatorisch bleiben könne, so Peus, müsse der Katechismusunterricht durch einen ethischen Ersatzunterricht ersetzt werden. Rudolph Penzig zog eine ähnliche Bilanz wie sein Kollege, wenn er behauptete, der Antrag habe den »unheilbar verwirrten Rechtzustand« angesichts eines längst hinfälligen Volksschulgesetzes geklärt. Erstmals habe der Volksschulkompromiss »nicht mehr bloß nach der Legitimation der Dissidenten zu ihrem Begehren« gefragt, so Penzig, sondern auch, »ob denn der staatliche Religionsunterricht von der Beschaffenheit sei, daß er als allgemein verpflichtend auferlegt werden könne.« Die Dissidentenfrage sei aus der »Sphäre toter Juristerei« endlich in den »lebendigen Fluß pädagogischer

369 Jannasch, Lilli: Der preußische Dissidentenantrag abermals abgelehnt. In: DMJ 3, Nr. 18 (1914), 485. 370 Zu den parlamentarischen Verhandlungen. In: Md DMB 2, Nr. 4 (1917), 49–54, hier 52.

254  Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung Erwägungen« gerückt, schrieb Penzig abschließend.371 Obwohl einige Zeitgenossen zumindest einen Fortschritt in der Befreiung der Dissidentenkinder vom Katechismusunterricht erkannten, blieben andere weiterhin skeptisch: Moralisch beseitige der Kompromissantrag die »Intoleranz« nicht, bemerkte der Jurist Julius Rosenthal, »da er Dissidentenkinder […] zum Unterricht in der Religionsgeschichte« nötige.372 Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs schien der Traum von einem bekenntnisfreien Moralunterricht für kurze Zeit greifbar. Nach dem Sturz der Hohenzollernmonarchie 1918 entstand ein Machtvakuum, in das Parteien der bürgerlich-demokratischen Mitte, die Sozialdemokratie sowie sozialistische und kommunistische Parteien eindrangen.373 Die Republik wurde am 9. November 1918 gleich zweimal ausgerufen: als demokratische und als sozialistische. Auch die verschiedenen Landesregierungen versuchten nach 1918 die Koordinaten der religiösen Erziehung neu zu bestimmen: Mit dem Staatsgrundgesetz der Repu­ blik Bayern vom 4. Januar 1919 wurde die geistliche Schulaufsicht in Bayern aufgehoben. Der Kultusminister und spätere Ministerpräsident Johannes Hoffmann (1867–1930, MSPD) bestimmte in seiner Verordnung vom 25. Januar 1919, dass kein Kind zur Teilnahme am Religionsunterricht oder Gottesdienst gezwungen werden sollte. Damit schaffte er den Religionsunterricht als obligatorisches Unterrichtsfach ab.374 Die liberale Schulpolitik änderte sich jedoch mit dem Antritt der konservativen Regierung Kahr im März 1920. Der neue Kultusminister Franz Matt (1860–1929, BVP) hob den Hoffmann’schen Erlass auf und erklärte Religion an allen Schulen zum regulären Unterrichtsfach.375 Die Trennung von Schule und Kirche in Bayern, Sachsen und anderen Ländern war also nur ein kurzes Intermezzo. Bei den Koalitionsverhandlungen im Juni 1919 beharrten die Parteien der sogenannten Weimarer Koalition (SPD, DDP und Zentrum) auf völlig unterschiedlichen schulpolitischen Positionen: Während die SPD auf eine achtjährige weltliche Einheitsschule pochte, plädierten die Demokraten für die Einführung von konfessionsübergreifenden Simultan­ schulen; das katholische Zentrum wiederum forderte die Beibehaltung der Konfessionsschule. Nach dem Austritt der DDP aus der Koalition ergriff das Zentrum 371 Ebd., 53. 372 Rosenthal: Dissidentenkinder in Preußen, 53. 373 Herrlitz, Hans-Georg / Hopf, Wulf / Titze, Hartmut / Cloer, Ernst: Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart. Eine Einführung. 4. Aufl. Weinheim 2005, 117. 374 Großpietsch, Lydia: Religionsunterricht (Weimarer Republik). In: Historisches Lexikon Bayerns. URL: http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Religionsunterricht (Weimarer Republik) [aufgerufen am: 11.3.2019]. 375 Buchinger, Hubert: Die Schule in der Zeit der Weimarer Republik. In: Liedtke, Max (Hg.): Handbuch der Geschichte des Bayerischen Bildungswesens. Bd. III: Von 1918 bis 1990. Bad Heilbrunn 1997, 15–75; Schmidt, Lydia: Kultusminister Franz Matt (1920–1926). Schul-, Kirchen- und Kunstpolitik in Bayern nach dem Umbruch von 1918 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, Bd. 126). München 2000.

Zwischenfazit II  255

seine Chance und sagte den Sozialdemokraten seine Koalitionsbereitschaft in der Nationalversammlung nur unter der Bedingung zu, dass die Bekenntnisschule beibehalten wurde.376 Die Koalitionäre einigten sich im Juli 1919 auf einen Minimalkonsens, der als Weimarer Schulkompromiss in die Geschichte einging. Die Basis des Schulsystems bildete fortan die vierjährige Grundschule, die von allen Schülern besucht wurde. Die Grundschule kann als ein Teilerfolg gewertet werden, weil sie die vorherige Segregation zwischen niederer und höherer Bildung durchbrach und eine schichtübergreifende Integration im Bildungssystem ermöglichte.377 Auf ihr bauten die drei fortführenden Schulformen (Volksschule, Realschule und Gymnasium) auf. Die Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 erklärte in Art. 149 den Religionsunterricht zum ordentlichen Unterrichtsfach und gewährte die Gründung von Bekenntnisschulen. Der Deutsche Lehrerverband, aber auch Liberale und Sozialdemokraten sahen darin eine Preisgabe des säkularen Staates. Die von Sozialdemokraten und Freidenkern geteilte Vision einer säkularen Einheitsschule blieb unerfüllt, denn das föderal organisierte, dreigliedrige und konfessionelle Schulsystem setzte sich letztlich durch. Angesichts dieser Entwicklungen in der Nachkriegszeit muss das Urteil über den bildungspolitischen Erfolg der Monismusbewegung geteilt ausfallen: Zwar blieben die meisten monistischen Forderungen nach Säkularität im Bildungsbereich auch nach 1918 unerfüllt, allerdings nahmen die monistischen Debatten um den Moralunterricht einige Aspekte späterer Diskussionen um eine säkulare Werteerziehung vorweg. Welche Möglichkeiten und Chancen bietet ein säkularer Moralunterricht, und: Wann dürfen Kinder vom Religionsunterricht befreit werden? Die Tatsache, dass der Monistenbund selbst während der prekären Kriegsjahre über die Rechtslage der Dissidentenkinder berichtete, deutet auf die Virulenz dieses Themas für freigeistige Akteure hin. Schließlich trafen im schulischen Bereich drei zentrale Ziele der Monismusbewegung aufeinander: die Formung eines rationalen Denkens, die Kritik an Religion und Kirche sowie die Vermittlung einer säkularen Ethik.

5.

Zwischenfazit II

Der Monistenbund war in verschiedene Auseinandersetzungen um die institutionelle Einhegung von Religion involviert. Forderungen nach der Trennung von Staat und Kirche, der Einführung eines bekenntnisfreien Moralunterrichts an Schulen sowie einer glaubensfreien Eidesformel waren in der monistischen 376 Herrlitz u. a.: Deutsche Schulgeschichte, 121; Buchinger: Schule in der Zeit der Weimarer Republik, 15–75. 377 Herrlitz u. a.: Deutsche Schulgeschichte, 121 f.

256  Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung Publizistik omnipräsent.378 Das Kapitel »Grenzen fordern« hat verschiedene argumentative Strategien nachgezeichnet, mit denen Monisten den Einfluss der Kirchen auf die staatliche Sphäre delegitimierten. Die Fallbeispiele haben gezeigt, dass sich in der Monismusbewegung unterschiedliche Vorstellungen von Säkularität herauskristallisierten. Einerseits diente Säkularität dem Ziel, die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft voranzutreiben (etwa im Bereich der Schule); andererseits diente sie dem Schutz religiös-weltanschaulicher Minderheiten vor staatlicher Bevormundung und dem Abbau kirchlicher Privilegien; wiederum ein anderes Mal forderten Monisten eigene Religionsrechte ein, um staatlichen Repressionen zu entgehen (z. B. das Recht auf einen eigenen Moralunterricht oder der Zugang zum Staatsdienst). Der Fall Unna verdeutlichte in besonderem Maße, wie stark die Auffassungen über Säkularität im Monismus auseinandergingen. Während ­Haeckel eine Verkirchlichung des Monismus anstrebte, um seinen Anhängern den Zugang zum Staatsdienst zu erleichtern, kritisierten andere Monisten den Primat der Kirchenzugehörigkeit im öffentlichen Amt. Ihnen zufolge sollten Ämter in Staat, Bürokratie und Militär allen Bürgern unabhängig von ihrem Bekenntnis zugänglich sein. Die Formel »Trennung von Staat und Kirche« nahm im Monismus eine prominente Rolle ein und hatte im liberalen Diskurs in Europa bereits eine lange Tradition. Ihre Trennungsforderung begründeten Monisten mit der angeblich illegitimen Machtausübung der Kirche. In den Skandalchroniken der katholischen Kirche, besonders in den Ketzerprozessen der spanischen Inquisition, fanden Monisten und andere Freidenker den Beweis für deren Gewaltherrschaft. Die Hinrichtung des spanischen Anarchisten und Reformpädagogen Francisco Ferrer 1909 führten sie auf das taktische Kalkül der Jesuiten zurück, die dadurch einen der charismatischsten Kirchenkritiker in Europa ausschalten wollten. Mit negativ besetzten Ausdrücken wie »Priesterherrschaft«, »Theokratie«, »Klerikalismus« und »Blutdurst der Pfaffen« unterstrichen Monisten die Illegitimität kirchlicher Herrschaft. Der Fall Ferrer rief eine transnationale Protestwelle unter Antiklerikalen in Europa hervor, wie Lisa Dittrich herausgearbeitet hat. Monisten und andere Freidenker appellierten in ihren Aufrufen an eine europäische Öffentlichkeit und beschworen ein Europa, das sich durch humane und aufgeklärte Werte auszeichnete.379 Um die Kirchen zu schwächen, suchte der Monistenbund die gezielte Zusammenarbeit mit der Kirchenaustrittsbewegung, die sich im Komitee Konfessions 378 Vgl. Ziegler: Trennung des Staates von der Kirche, 455–459; Dieterich, Alfred: Die Trennung der Kirchen vom Staat. In: Der Monismus 4, Nr. 39 (1909), 394–397; Schnell, Hermann: Die Trennung von Staat und Kirche. In: Der Monismus 6, Nr. 60 (1911), 266–268. 379 Zur transnationalen Protestöffentlichkeit, vgl. Dittrich: Antiklerikalismus in Europa, 217–276.

Zwischenfazit II  257

los organisierte. Im Oktober 1913 trat Ostwald gemeinsam mit dem Sozialdemokraten Karl Liebknecht in Berlin auf, um die Arbeiterschaft zum Kirchenaustritt zu bewegen. Die Berliner Großkundgebungen von 1913/14 sind ein anschauliches Beispiel dafür, dass der Monistenbund verschiedene Teilöffentlichkeiten anzusprechen versuchte: Während sich das monistische Vereinsblatt vornehmlich an ein bürgerlich-mittelständisches Publikum richtete, versuchten die Kirchenaustrittskampagnen die Arbeiterschaft zu mobilisieren. Nicht ohne Grund wurden die Veranstaltungen auf den späten Abend verlegt, um möglichst viele Arbeiter nach ihrer Schicht zu erreichen. Darüber hinaus zeugen die Kampagnen davon, dass Monisten nicht nur publizistisch, sondern auch performativ (durch Großkundgebungen) Öffentlichkeit herstellten. Doch gerade die Zusammenarbeit zwischen Ostwald und Liebknecht hatte weitreichende Folgen für die Wahrnehmung des Monistenbundes in der wilhelminischen Öffentlichkeit, denn Kritiker fühlten sich in ihrem Vorwurf bestärkt, dass der Monismus ein geheimer Förderer des Sozialismus sei. Im Zentrum der monistischen Agenda stand jedoch der Kampf gegen den staatlichen Religionsunterricht, der auch für Kinder konfessionsloser Eltern verpflichtend war. Die Kritik der Monisten richtete sich vor allem gegen den Katechismusunterricht, der in der Regel von einem Geistlichen erteilt wurde. Der monistische Forderungskatalog war äußerst vielfältig und reichte von der Befreiung der Dissidentenkinder vom Religionsunterricht, über die Einführung eines säkularen Moralunterrichts bis zur umfassenden Säkularisierung der Schule. Monisten kooperierten mit Vertretern der ethischen und freireligiösen Bewegung, um einen weltlichen Moralunterricht an Schulen zu erkämpfen. Auf diese Weise entstanden zahlreiche lokale Kartelle zwischen Monisten und Ethikern sowie der 1908 gegründete Bund für Weltliche Schule und Moralunterricht unter der Leitung Rudolph Penzigs. Das Vereinsblatt des Monistenbundes fungierte für Anhänger der ethischen und freireligiösen Bewegung als Multiplikator eigener Positionen, zumal diese häufig Mitglieder in mehreren freigeistigen Organisationen waren. Zeitgleich diente es als Medium der Mobilisierung, indem es Protestaufrufe gegen die »Zwangsvergläubigung« der Dissidentenkinder abdruckte, über ihre Diskriminierung in den deutschen Teilstaaten berichtete und Anträge zur Einführung eines säkularen Moralunterrichts veröffentlichte. Ostwald schlug indessen einen eigenen bildungsreformerischen Kurs ein: Ihm ging es weniger um moralpädagogische Fragen, als um die Reform des humanistischen Gymnasiums. Seine Hauptkritik galt dem Griechisch- und Lateinunterricht, der den Lehrplan des klassischen Gymnasiums dominierte. Einem evolutionären und teleologischen Geschichtsverständnis folgend, verurteilte Ostwald die griechisch-römische Antike als einen rückständigen Kulturzustand. Immer wieder führte er den Vorwurf der antiken Dekadenz ins Feld und unterstellte der griechisch-römischen Kultur eine technik-, wissenschafts- und fortschrittsfeindliche Gesinnung. Das humanistische Gymnasium werde, so dessen Be-

258  Grenzen fordern: Säkularität, Machtkritik und Mobilisierung fürchtung, weltfremde Träumer hervorbringen, die den Anforderungen der industriellen Moderne nicht gewachsen waren. Aus seinen Vorwürfen leitete Ostwald eine grundlegende Reform des Gymnasiallehrplans ab: Anstelle des altsprachlichen Unterrichts forderte er den Ausbau naturwissenschaftlich-mathe­ matischer Fächer. Ostwald Vorschläge zur Schulreform bezeugen, dass der Monismus nicht nur theistische Glaubensvorstellungen, sondern auch bürgerliche Werte von Bildung, Leistung und Kultur hinterfragte. Schließlich gehörte die religiöse und neuhumanistische Erziehung zum Kernelement des bürgerlichen Wertekanons um 1900. Obwohl Ostwald mit seinem energetischen Imperativ an ein bürgerliches Leistungsethos anknüpfte, zweifelte er den Bildungs- und Erziehungswert des humanistischen Gymnasiums an. Trotz des großen Engagements der Monisten für die Schulreform blieben ihre Erfolge größtenteils aus. Eine Ausnahme bildete München, wo es unter dem freireligiösen Prediger Ernst Horneffer zwischen 1910 und 1914 zu einer Blüte des konfessionslosen Moralunterrichts kam. Das Scheitern der monistischen Reformbestrebungen im Schulbereich hatte mehrere Gründe: Zum einen blieben diese Forderungen marginal und konnten keine größeren Massen mobilisieren, obwohl Monisten über Kartellgründungen eine breitere Basis schufen. Zum anderen herrschten divergierende Meinungen über Form, Inhalt und Ziele des Moralunterrichts vor: So gab es vereinzelte Stimmen, die einen säkularen Moralunterricht ablehnten, da er ihnen zu sehr nach einem neuen Katechismus klang; andere wiederum waren der Meinung, dass auch der bekenntnisfreie Moralunterricht Bezüge zum Christentum beibehalten sollte. Der einzige Minimalkonsens unter Monisten, Ethikern und Freireligiösen bestand in der Ablehnung des Katechismusunterrichts. Dennoch nahmen die kaiserzeitlichen Auseinandersetzungen um den Moralunterricht wichtige Punkte der Weimarer Schulkämpfe von 1919 vorweg, in denen Sozialdemokraten und Freidenker eine weltliche Einheitsschule forderten. Das folgende Kapitel verlässt die staatlich-institutionelle Ebene und beleuchtet Säkularität aus einer neuen Perspektive – nämlich auf der Ebene von Sprache, Praktiken und Deutungsmacht. So griffen Monisten auf wissenschaftliche Theorien zurück, um moraltheologische Deutungen von Sexualität, Leid und Tod zu säkularisieren.

IV. Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht Monisten kämpften nicht nur für eine institutionelle Einhegung von Religion im Staat; Säkularität erstreckte sich für sie auch auf die Bereiche von Sprache, Deutungsmacht und Praxis.1 Das folgende Kapitel analysiert die argumentativen Strategien, mit denen Monisten christliche und moraltheologische Konzepte säkularisierten. Naturwissenschaftliche, soziologische und positivistische Ansätze, so die These, dienten Monisten als argumentatives Mittel, um Ethik, Sexualmoral sowie den Umgang mit Tod und Trauer von religiösen Bezügen zu lösen. Das Kapitel beleuchtet zunächst die Versuche der Monisten, ethische Grundsätze (wie die Goldene Regel) unter Berufung auf evolutionsbiologische und soziologische Theorien zu naturalisieren. Im Anschluss daran wendet sich das Kapitel der Rezeption monistischer Diskurse in der radikalen Frauenbewegung um 1900 zu und rekonstruiert, wie diese für eine neue Sexualmoral eintraten. Die letzten beiden Kapitel nehmen die Euthanasiedebatte im Monistenbund und dessen Zusammenarbeit mit der Feuerbestattungsbewegung in den Blick. Es wird sich zeigen, dass die theologische Deutung von Krankheit und Tod säkularen Lesarten weichen sollte. Ebenso strebten Monisten danach, christliche Bestattungs- und Trauerpraktiken durch weltliche Rituale zu ersetzten.

1.

Moral ohne Gott: Die Neubestimmung der Ethik

Die Suche nach einer säkularen Ethik, die rein wissenschaftlich begründet und von religiösen Bezügen losgelöst war, entwickelte sich zu einem Kernanliegen des freigeistigen Milieus der Jahrhundertwende. Geprägt vom US -amerikanischen Ethical movement erhob die Deutsche Gesellschaft für Ethische Kultur den Anspruch, ein humanistisches Moralverständnis zu begründen, das auf rationalen Prinzipien basierte.2 Die Monismusbewegung verfolgte ganz ähnliche Ziele, rekurrierte dabei jedoch stärker auf naturwissenschaftliche Paradigmen. 1 Unter Deutungsmacht werden argumentative und rhetorische Strategien gefasst, die dazu dienen, definitorische Hoheit über gesellschaftliche Werte, Normen und Ordnungs­ vorstellungen zu erlangen. 2 Neben Wilhelm Foerster und seinem Sohn Friedrich Wilhelm Foerster gehörten Ferdinand Tönnies und Georg von Gizycki der ethischen Bewegung an. Dazu auch Weir: Secularism, 14; Art. Ethische Bewegung. In: Meyers Großes Konversations-Lexikon. Bd. 6. Leipzig 1906, 139.

260  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht In den monistischen Schriften war die Gegenüberstellung von monistischer und dualistischer respektive christlicher Ethik omnipräsent. Ostwald betonte 1914 sogar, dass der Monistenbund unter seinen »vielen wichtigen Aufgaben keine größere und folgenreichere« kenne »als die Umwandlung der Ethik aus ihrer unwissenschaftlichen, durch Priestertum und philosophischen Mystizismus verhüllten und verzerrten Form zu einer reinen und klaren Wissenschaft«.3 Ebenso erklärte Friedrich Jodl die Formulierung einer weltlichen Ethik zu den zentralen »Kulturaufgaben« des Monistenbundes. Jodl zählte den Monistenbund gar zum Vorreiter aller Bestrebungen, welche der Ethik ihren gebührenden Platz in Leben und Lehre erringen wollen. Einer Ethik, welche auf dem festen Grunde rein wissenschaftlicher Weltbetrachtung fußt. Einer immanenten, nicht einer transzendenten; einer sozialen und humanen Ethik, nicht einer religiösen; einer geschichtlich erarbeiteten, nicht einer geoffenbarten; einer mit der Menschheit und ihrer Kultur sich entwickelnden, nicht einer ein für allemal fertigen und unwandelbaren.4

Mit seinem energetischen Imperativ »Vergeude keine Energie, nutze sie!« sorgte Ostwald für eine weite und kontroverse Rezeption des Monismus.5 Sendungsbewusst stellte er hier einen direkten Bezug zum kategorischen Imperativ Kants her, wenngleich Kant eine völlig andere Ethik vertrat. In der unter Freidenkern geführten Diskussion um eine säkulare Ethik profilierte sich Ostwald als eine tonangebende Autorität. Darauf weist ein Brief des Soziologen und Pazifisten Rudolf Broda an Ostwald hin: »In der Aprilnummer der Dokumente des Fortschritts gedenke ich eine Rede von Moralsystemen durch ihre Führer erläutert, vorzuführen: die liberal-christliche Moral, die buddhistische Moral, die Fortschrittsmoral, die monistisch-energetische Moral. Würden Sie die letztere darzustellen bereit sein? Es wäre mir von sehr hohem Wert!«.6 Das nun folgende Kapitel argumentiert, dass sich Monisten auf evolutionsbiologische und soziologische Ansätze beriefen, um ethische Prinzipien zu naturalisieren, das heißt als inhärenten Bestandteil der Evolution darzustellen. Im ersten Teil untersuche ich, wie sich Ostwald zum Problem des freien Willens 3 Ostwald, Wilhelm: Das Christentum als Vorstufe zum Monismus. Leipzig 1914, 36. 4 Jodl: Kulturaufgaben des Monismus, 123. Der Stuttgarter Zoologieprofessor und ­Haeckel-Schüler Heinrich Ernst Ziegler stimmte in einem Brief der Auffassung Jodls zu: »Den naturwissenschaftlichen Monismus in der Richtung weiterzubilden, daß daraus praktisch brauchbare Lebensprinzipien hervorgehen, das müßte die wichtigste philosophische Aufgabe unserer Zeit sein.« Heinrich Ziegler an Friedrich Jodl, Stuttgart, 7.1.1912. Wienbibliothek, NL Wilhelm Börner. 5 Vgl. Pinthus, Kurt: Wilhelm Ostwalds praktische Weltanschauung. In: Der Zeitgeist, Nr. 42 (1911); Ostwald: Wie kam das Böse in die Welt; Ders.: Soziales Christentum; Ders.: Der energetische Imperativ. 6 Rudolf Broda an Wilhelm Ostwald, Friedrichsroda, 26.1.[1913]. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 371. Hervorhebung im Original.

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­ aeckels Stratepositionierte. Im Anschluss daran beleuchte ich Ostwalds und H gien, die Goldene Regel zu naturalisieren. Der letzte Teil untersucht das soziologische Werk Franz Müller-Lyers (Ostwalds Nachfolger), der mit seinem Ideal von »Kulturbeherrschung« eine eigene Ethik begründete. Ein freier Wille? »Monistische und christliche Ethik sind miteinander in Kampf geraten. […] Die christliche Sittlichkeit trotzte allen Angriffen. Sie ist religiös, aber gerade darum fest, jedermann zugänglich und fähig, unseren Willen zu beeinflussen.«7 Mit diesen Worten verteidigte der Theologe Richard Grützmacher (1876–1959) die Überlegenheit der christlichen gegenüber der monistischen Ethik. Wie das Zitat andeutet, war für das Ethikverständnis um 1900 der Willensbegriff essentiell. Der Brockhaus (1894) verstand unter Ethik einen »Zweig der Philosophie, der die Gesetze der sittlichen Beurteilung, d. h. der Beurteilung der Willenshandlungen als gut oder böse, seinsollend oder nicht seinsollend zum Gegenstand hat«.8 Gemäß dem Meyerschen Konversationslexikon bedeutete Sittlichkeit die »bewußte Übereinstimmung des menschlichen Willens und Thuns mit den Forderungen des Sittengesetzes«.9 Die Zitate lassen erkennen, dass die theologische und philosophische Auseinandersetzung mit dem Thema Moral an das Willensproblem geknüpft war.10 Auch die experimentellen Lebenswissenschaften setzten sich im 19. Jahrhundert mit Bewusstseinsvorgängen des Menschen auseinander: So untersuchte der in Leipzig ansässige Wilhelm Wundt, Begründer der experimentellen Psychologie, anhand von Reiz-Reaktions-Versuchen die Sinneswahrnehmung, Apper­ zeption, Affekte und Entscheidungsvorgänge des Menschen.11 Die konsequent 7 Grützmacher, Richard, H.: Monistische und christliche Ethik im Kampf. Leipzig 1913, 68. 8 Art. Ethik. In: Brockhaus. Bd. 6. 14. Aufl. Leipzig 1894, Sp. 387. 9 Art. Sittlichkeit. In: Meyers Konversationslexikon. Bd. 14. 4. Aufl. Leipzig, Wien ­1885–1892, Sp.  1000. 10 Die Frage der menschlichen Willensfreiheit prägte den philosophischen, wissenschaftlichen und medizinischen Diskurs des 19. Jahrhunderts. Der Willensbegriff nahm u. a. eine zentrale Rolle in Arthur Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (1819) ein. Schopenhauer verstand unter dem Willensbegriff allerdings keine verstandesgeleitete, bewusste Handlung, sondern den blinden, ziellosen Trieb aller Lebewesen zum Dasein. Weiterführend zum Willensdiskurs um 1900, vgl. Cowan, Michael: The Cult of the Will. Nervousness and German Modernity. Pennsylvania 2008; Smith, Roger: Free Will and the Human Sciences in Britain, 1870–1910. London 2013. 11 Neben Beiträgen zur experimentellen Psychologie wurde Wundt mit seiner »Völkerpsychologie« bekannt, die Entwicklungsgesetze von Sprache, Kultur, Geistesgeschichte, Religion und Moral formulierte. Zu Wundts Psychologie und Philosophie, vgl. Araujo, Saulo de Freitas: Wundt and the Philosophical Foundations of Psychology. A Reappraisal.  New York 2016; Danzinger, Kurt: Wilhelm Wundt and the Emergence of Experimental Psychology. In: Olby, Robert C. u. a. (Hg.): Companion to the History of Modern Science. New York 1990, 396–409.

262  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht materialistische und antimetaphysische Betrachtungsweise des Lebens, wie sie die Monismusbewegung vertrat, stellte die Autonomie des menschlichen Handelns infrage. Konnte sich der Mensch aus freien Stücken entscheiden, wenn sein Verhalten durch die physiologischen Vorgänge seines Gehirns determiniert war? Mehr noch: Konnten Täter überhaupt noch schuldig gesprochen werden angesichts eines radikal-materialistischen Menschenbildes? Welche Daseinsberechtigung hatten aus dieser Perspektive überhaupt noch Gesetze, Rechtsprechung und Gerichte? »Das Kind in der Schule, der angeklagte Verbrecher dürfen sagen, ich bin straflos, mein Gehirn hat das Schlechte gedacht und meine Hand bewegt, die Urkunde zu fälschen«, bemerkte der Botaniker Adolph Hansen (1851–1920) scherzhaft über ­Haeckels monistische Ethik und ergänzte: »Ohne den Begriff des Ich, ohne den Begriff der Freiheit kann eine Moral nicht bestehen.«12 Rudolf Eisler wiederum schrieb über H ­ aeckels Monismus: »Daß innerhalb eines solchen naturalistischen Weltbildes für eine Willensfreiheit kein Raum ist, liegt auf der Hand. Nur der Determinismus strenger Observanz kann hier gelten.«13 ­Haeckel, Ostwald und andere Monisten unterlagen in ihren Ethikansätzen implizit dem Paradox, einerseits auf die Determiniertheit des Menschen als instinkthaftes Naturwesen hinzuweisen, andererseits dessen Willensfreiheit zu verteidigen.14 Dieser Widerspruch war bereits unter Vertretern des naturwissenschaftlichen Materialismus der 1850er Jahre erkennbar (vgl. Kap. I.2). In seinem Zitat »Ohne Phosphor kein Gedanke« reduzierte Jacob Moleschott die Gedanken des Menschen auf Bewegungen der körperlichen Materie und demontierte so die Idee eines metaphysischen Willens.15 Aus Sicht Ludwig Büchners, Carl Vogts und Jacob Moleschotts bestand die Willensfreiheit nur innerhalb eines eng gesetzten Rahmens, außerhalb dessen allein die physische Materie wirkte.16 Auch das monistische Ethikverständnis schwankte zwischen der natürlichen Begrenztheit des Menschen (im Sinne eines radikalen Materialismus) und einer willens- und verstandesgeleiteten Veränderung menschlichen Verhaltens.17 Für Ostwald waren Gedanken, Phantasie und andere mentale Vorgänge an Körperfunktionen gebunden und resultierten (gemäß seiner Energetik) aus physiologischen Energieumwandlungen:

12 Hansen, Adolph: Grenzen der Religion und Naturwissenschaft. Zur Kritik von ­Haeckels monistischer Religion und Naturphilosophie. Berlin 1908, 19 f. 13 Eisler: Geschichte des Monismus, 143. 14 Kleeberg: Theophysis, 194. 15 Moleschott: Kreislauf des Lebens, 369. 16 Für diesen Hinweis danke ich meinem Kollegen Claus Spenninger (LMU München). 17 Vgl. dazu Sandmann, Jürgen: Der Bruch mit der humanitären Tradition. Die Biologisierung der Ethik bei Ernst H ­ aeckel und anderen Darwinisten seiner Zeit. Stuttgart 1990, 92–93; Schröder: Naturwissenschaften und Protestantismus.

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So ist der ganze Reigen der Himmelskörper, an dem sich eine auf das Großartige gerichtete Phantasie erbaut, eine Energieumwandlung. Und ebenso entsteht keiner der Gedanken, die bald klar, bald schattenhaft durch mein Bewußtsein ziehen […], ohne daß jeder, auch der leisesten dieser Regungen eine Energieumwandlung zu Grunde liegt, bei deren Aufhören auch ein jedes Denken aufhören muß.18

Ostwald thematisierte in zwei Sonntagspredigten das Willensproblem. Den Anstoß zu dieser Predigtreihe gab ein Brief eines DMB -Mitglieds, der die Legitimität der monistischen Ethik anzweifelte: Zur Debatte stand, ob man überhaupt von einer monistischen Ethik sprechen könne, wenn die »menschliche Denktätigkeit, alle Ideenassoziationen, kurz alle Triebe zum Handeln aus gewissen Aufeinanderwirkungen ganz bestimmter Gehirnteile resultieren«.19 Wie könne man an eine »höhere Entwicklung« des Menschen denken, wenn er letzten Endes der »Alleinherrschaft des Gehirns« unterliege?20 Während Ostwald in seiner ersten Predigt den Unterschied zwischen dem mechanischen Kausalitätsgesetz und dem menschlichen Bewusstsein erörterte, setzte er sich in der zweiten Predigt mit dem Willensproblem auseinander.21 Die größte Herausforderung bestand für Ostwald darin, einen konsequent monistischen Standpunkt beizubehalten, der metaphysische oder religiöse Implikationen ausschloss. Ausgangspunkt seiner Argumentation bildete die evolutionäre Sonderstellung des Menschen gegenüber allen anderen Arten, die er in dessen Fähigkeit zum rationalen, wissenschaftlichen Denken begründet sah. Im Gegensatz zu anorganischen Substanzen und primitiven Organismen könne der Mensch mithilfe seines Verstandes und der Entdeckung von Naturgesetzen die Konsequenzen seines Verhaltens antizipieren. »In dem Maße, als ein Lebewesen Wissenschaft besitzt, kann es auch einen freien Willen betätigen und die Zukunft beeinflussen«, konstatierte er.22 Die Entstehung von Begriffen und die Formulierung von Naturgesetzen führte Ostwald in einem zweiten Schritt auf das Erinnerungsvermögen des Menschen zurück, wobei er auf die Forschungsergebnisse des Physiologen Ewald Hering (1834–1918) rekurrierte: Der Erinnerungsfunktion des menschlichen Gehirns seien nicht nur bestimmte Verhaltensdispositionen, Gewohnheiten und Konventionen zu verdanken, die sich in Begriffen verdichteten, so Ostwald, sondern auch die Formulierung von Naturgesetzen. Diese verkörperten auf abstrakte Weise »komplizierte Erinnerungsbegriffe, namentlich solche, die sich über eine größere oder geringere Zeitstrecke ausdehnen«.23 Der freie Wille entsprach also einem Produkt des menschlichen Intellekts, der aus Jahrtausenden der 18 Ostwald: Energie. In: MSP I, 88. 19 Ostwald: Willensfreiheit I. In: MSP II, 225. 20 Ebd., 225. 21 Vgl. Ostwald: Willensfreiheit I und II. In: MSP II, 225–240. 22 Ostwald: Willensfreiheit II, 237. 23 Ebd., 239.

264  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht Evolution, persönlicher Erfahrung und dem Gebrauch von wissenschaftlichen Begriffen geformt wurde. Unter Zuhilfenahme seiner Erfahrung und seines wissenschaftlichen Verstandes könne der Mensch die Konsequenzen seines Verhaltens vorwegnehmen und sich für eine bestimmte Handlungs­option entscheiden. So konnten die Menschen »vermöge der auf Erinnerung und Begriffsbildung beruhenden Wissenschaft die Zukunft auf unsere Gegenwart wirken lassen und dadurch dieser Zukunft eine Gestalt geben, die unserm Willen entspricht.«24 Man erkennt, dass für Ostwalds Willensbegriff das prophetische Wissenschaftsverständnis zentral war, das wir in Kapitel I.5 kennengelernt haben. Dem Motto Auguste Comtes folgend, dass die Wissenschaft dazu da sei, sichere Prognosen aufzustellen (»Savoir pour prévoir, prévoir pour pouvoir«), vertrat Ostwald einen positivistischen Wissenschafts- und Wahrheitsbegriff: Allein diejenigen Aussagen seien als wahr und wissenschaftlich anzuerkennen, die auf empirischen Sinnesdaten beruhen und sichere Zukunftsprognosen ermöglichen.25 Comte habe »mit allem Nachdruck auf die prophetische Beschaffenheit aller wahren Wissenschaft hingewiesen und im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen betont, daß der gesamte Wert aller wissenschaftlichen Arbeit nur in der Aufklärung der Zukunft liegt, welche sie vermitteln kann«, erklärte Ostwald.26 Seine Beiträge zum Willensproblem können als ein Versuch gewertet werden, den Willensbegriff in ein Entwicklungsparadigma zu integrieren und von religiösen Bezügen zu entkoppeln. Andere Monisten wie Rudolf Goldscheid und Franz Müller-Lyer verstanden unter »Wissensphilosophie« die Akzentuierung des aktiven Handelns zugunsten des Kulturfortschritts gegenüber einem praxisfernen Theoretisieren.27 Die Naturalisierung der Goldenen Regel Die Gemeinsamkeit der monistischen Ethikansätze bestand darin, dass sie auf naturwissenschaftliche bzw. evolutionsbiologische Theorien rekurrierten, um Moralvorstellungen als Produkt der Evolution zu deuten und von christlichen Bezügen zu entkoppeln.28 So argumentierte ­Haeckel in den Lebenswundern (1904), dass die Sitten der Menschen (und anderer »sozialer Säugetiere«) durch Triebe beherrscht würden, die die Arten durch Anpassung an die Umwelt erworben hätten. Insofern sei die Ethik auch kein Gegenstand der Geistes- sondern 24 Ebd., 240. Hervorhebung im Original. 25 Ausführlich zum monistischen Wissenschaftsverständnis, vgl. Kap. 3. 26 Ostwald: Vorrede. In: Ders. (Hg): Auguste Comte. Entwurf, IX . 27 Goldscheid: Grundlinien zu einer Kritik der Willenskraft; Müller-Lyer: Sinn des Lebens. 28 Einführend zur monistischen Ethik, vgl. Lübbe: Politische Philosophie; Braune: Fortschritt als Ideologie; Kleeberg: Theophysis; Heyer: Handbuch der freireligiösen Bewegung; Panesar: Medien der Sinnstiftung; Neef: Sozialenergetik und Menschenökonomie; Dies.: Entstehung der Soziologie.

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der Naturwissenschaften, ergänzte dieser.29 Durch evolutionsbiologische Argumentationsmuster hinterfragten Monisten nicht nur die biblisch begründete Sonderstellung des Menschen, sondern auch die christlich legitimierte Moral ihrer Zeit.30 Ihrer Ansicht nach waren Moralvorstellungen nicht überzeitlich gültig, sondern unterlagen einem evolutionären Wandel. In ihren Ethikentwürfen nahmen Monisten immer wieder Bezug auf die Goldene Regel, der zufolge man den Nächsten so behandeln solle, wie man selbst behandelt werden möchte. Obwohl das Prinzip der Nächstenliebe schon in der jüdisch-hellenistischen und frühchristlichen Tradition sowie im Neuen Testament nachweisbar ist, tauchte die Goldene Regel (regula aurea) als Begriff erst im 18. Jahrhundert in England auf.31 Zwar glaubte ­Haeckel eine Übereinstimmung zwischen der christlichen und monistischen Ethik in der Goldenen Regel zu finden, dennoch führte er zwei Einwände gegen das biblische Sittengebot an: Erstens, so ­Haeckel, war die Goldene Regel keine genuine Erfindung des Christentums, sondern wurde schon von antiken Philosophen formuliert; zweitens fiel die Goldene Regel dem Irrtum anheim, die Nächstenliebe zulasten der Selbstliebe überzubetonen.32 In Wirklichkeit habe sich beim Menschen – wie bei allen »sozialen Tieren« – die triebhafte Pflicht herausgebildet, einen Ausgleich zwischen dem »Gebot der Selbstliebe (Egoismus)« und dem »Gebot der Nächstenliebe (Altruismus)« zu finden, so H ­ aeckel.33 Während der Egoismus dem Selbsterhalt diene, komme der Altruismus dem Erhalt der Spezies zugute.34 Dementsprechend forderte H ­ aeckel eine »naturgemäße Sittenlehre«, die »durch unsere moderne Entwicklungslehre aus den sozialen Instinkten der höheren Tiere abgeleitet« werde.35 Indem H ­ aeckel den christlichen Grundsatz der Goldenen Regel historisierte und zugleich auf evolutionäre Instinkte zurückführte, delegitimierte er die Bibel als Deutungsautorität in ethischen Fragen. ­Haeckel folgte in seiner monistischen Ethik Darwins Gedanken zur »Entwicklung der Moralität« (moral sense), die er 1871 in seinem Werk Descent of Man darlegte. Darwin ging davon aus, dass die »socialen Instincte – das wichtigste 29 ­Haeckel: Lebenswunder, 315 f. 30 Neef: Sozialenergetik und Menschenökonomie, 281. 31 Schrey, Heinz-Horst: Art. Goldene Regel III. In: TRE 13 (1984), 575–583. Das ethische Gebot der Goldenen Regel beendet in Mt 7.12 den Hauptteil der Bergpredigt. 32 ­Haeckel: Welträtsel, 407 f.: »Das ethische Grundgesetz oder die ›goldene Regel‹ hat dieses doppelte Pflichtgebot schon vor 2500 Jahren in dem Satze ausgedrückt: ›Tue jedem Anderen, was Du willst, das er Dir tun soll‹«. Ferner prangerte ­Haeckel die Leibes-, Kultur- und Frauenverachtung der christlichen Moral an. Zur Goldenen Regel bei H ­ aeckel, vgl. Jacobsen: From Cosmology to Ecology, 128. 33 ­Haeckel: Thesen zur Organisation des Monismus, 488; Ders.: Monismus als Band, 28 f.; Ders.: Lebenswunder, 316 f. 34 ­Haeckel: Welträtsel, 405. 35 ­Haeckel: Thesen zur Organisation des Monismus, 488.

266  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht Princip der moralischen Constitution des Menschen – mit der Unterstützung der thätigen intellectuellen Kräfte und der Wirkungen der Gewohnheit naturgemäss zu der goldenen Regel führen«.36 Ausgehend von dem Verhalten seines eigenen Hundes kam Darwin zu dem Schluss, dass sich die kognitiven und emotionalen Qualitäten des Menschen lediglich graduell (und nicht gattungsspezifisch) von höheren Säugetieren unterschieden. Emotionen und Kognitionen wie Zuneigung, Hass, Neugierde und Erinnerung seien in einem beginnenden Stadium schon bei »niederen Tieren« zu beobachten, konstatierte er.37 Die graduelle Abstufung des moralischen Bewusstseins bestärkte Darwin in seinem Glauben, die Entwicklungshöhe der indigenen Völker (savages) zwischen Säugetieren und zivilisierten Völkern, zu denen er selbstredend die Europäer zählte, anzusiedeln.38 Bemerkenswerterweise richtete ­Haeckel seine Kritik an der dualistischen Ethik nicht primär gegen das Christentum, sondern gegen die idealistischen Philosophie Immanuel Kants. ­Haeckel warf Kant vor, durch seine Unterscheidung von reiner und praktischer Vernunft einen folgenschweren Dualismus in die abendländische Philosophie hineingetragen zu haben. In seiner Polemik zielte ­Haeckel auf Kants epistemologische Unterscheidung zwischen Erscheinung (phenomena) und dem Ding an sich (noumena).39 In bewusster Abgrenzung zu Kants kategorischem Imperativ argumentierte H ­ aeckel, dass Werte und Normen je nach zivilisatorischer Höhe enorm variieren könnten. Dabei berief er sich auf Forschungsergebnisse von Ethnologen und Anthropologen: »Alle Sitten und Gebräuche, die wir als verwerfliche Sünden oder abscheuliche Laster ansehen (Diebstahl, Betrug, Mord, Ehebruch u.s.w.), gelten bei anderen Völkern unter Umständen als Tugenden oder selbst als Pflichtgebote.«40 Gegenüber einem metaphysischen und überzeitlich gültigen Moralbegriff verteidigte ­Haeckel hier ein evolutionäres Moralverständnis, das er mit Kategorien von ›Rasse‹ und ›Entwicklungshöhe‹ verknüpfte. Ostwald übernahm die bei Darwin und H ­ aeckel angelegte Naturalisierung der Goldenen Regel, verband diese jedoch mit seinem energetischen Imperativ und dem Mechanismus der gegenseitigen Hilfe. Ausgangspunkt seiner ethischen Überlegungen war eine neue Definition von Regel bzw. Gesetz aus naturwissen 36 Darwin, Charles: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl. Aus dem Englischen übersetzt von J. Victor Carus. Bd. 1. Stuttgart 1871, 91. 37 Ebd., 90. 38 Vgl. Day, Matthew: Godless Savages and Superstitious Dogs. Charles Darwin, Imperial Ethnography, and the Problem of Human Uniqueness. In: Journal of the History of Ideas 69/1 (2008), 49–70. Weiterführend zur Ethik aus evolutionsbiologischer Perspektive, vgl. Ruse, Michael / Richards, Robert J. (Hg.): The Cambridge Handbook of Evolutionary Ethics. Cambridge, New York 2017. 39 In den Lebenswundern (1904) unterschied H ­ aeckel zwischen einem monistischen und dualistischen Kant – dem frühen Naturphilosophen einerseits und dem späten Verfasser der (angeblich dualistischen) Kritik der Urteilskraft andererseits. Vgl. Ders.: Lebenswunder, 341 f. 40 ­Haeckel: Welträtsel, 403.

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schaftlicher Sicht: Im Unterschied zum juristischen Gesetz entsprach ein Naturgesetz keinem normativen Soll-Zustand, sondern einem empirischen Ist-Zustand der physischen Vorgänge.41 Die Ethik hatte nach Ostwald ihren Ursprung in zwei Naturgesetzen: einerseits im Arterhaltungstrieb, andererseits in der Kooperation von Organismen zum Zweck der Energieersparnis.42 Die Entstehung des ethischen Bewusstseins führte Ostwald, ähnlich wie ­Haeckel, auf den evolutionären Arterhaltungstrieb zurück: »Mutterliebe oder je nach den Verhältnissen Elternliebe sind elementare Erscheinungen, die durch das vom Einzelwesen auf die Spezies übergegangene Erhaltungsbedürfnis bedingt sind.«43 In dem Trieb vieler Tiere, die Verteidigung der Nachkommenschaft über ihr eigenes Leben zu stellen, erkannte Ostwald jedoch ein evolutionsbiologisches Paradox: Obwohl alle Arten im malthusischen Sinne um begrenzte Ressourcen konkurrierten und sich dadurch im Kampf ums Dasein befanden, führte gerade ihr Fortpflanzungstrieb zu einem exponentiellen Wachstum der Population. Diesen Widerspruch löste er auf, indem er die Verteidigung und Pflege der »eigenen Brut« als ein erstes Anzeichen für ethisches Empfinden interpretierte. Entgegen der malthusischen Logik sollte die Verteidigung der Nachkommenschaft dem Erhalt der eigenen Spezies zugutekommen. Diese Art des ethischen Empfindens ließe sich ferner bei »primitiven Menschen« beobachten, betonte dieser.44 Ostwald ging zudem der Frage nach, warum Menschen Beziehungen pflegen, die über die reinen »Lebensnotwendigkeiten« hinausreichen.45 Diese Tatsache begründete er mit dem energetischen Imperativ, dessen oberstes Ziel die »Ersparnis von Energie« war – ob bei der Jagd, der gemeinsamen Viehzucht oder der Arbeitsteilung.46 Daran anschließend bewertete Ostwald jede Handlung als ethisch, die einen sozialen Nutzen für eine Gemeinschaft (Familie, Nation oder gar Menschheit) hatte. Seine radikal-utilitaristische Sichtweise der Ethik fasste er in der Gleichung »ethisch = sozial« zusammen.47 Dementsprechend bemaß Ostwald den Wert des Menschen nach seinem Beitrag zum allgemeinen Kultur­fortschritt und deutete die Goldene Regel folgendermaßen um: »Und so nimmt die alte neutestamentische Festlegung der ethischen Grundgesetze heute die neue Gestalt des ethischen Ideals an: Liebe Deinen Nächsten gemäß seinem sozialen Werte. Liebe dein Volk und die Menschheit mehr als Dich selbst.«48 41 Ostwald: Der energetische Imperativ. In: MSP I, 97–104. 42 Ostwald: Liebet euch untereinander, 109 f. 43 Ebd., 109. 44 Ebd., 108. 45 Ebd., 110. 46 Ebd., 110. 47 Ostwald: Was ist gut?. In: MSP IV, 25. Dass dieses zweckorientierte Ethikverständnis auch die Gefahr des Inhumanen barg, wird in Kap. IV. 3 erörtert. 48 Ostwald: Liebet euch untereinander. In: MSP I, 112.

268  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht Mit seiner Betonung der gegenseitigen Hilfe lehnte sich Ostwald an den russischen Anarchisten und Biologen Peter Kropotkin (1842–1921) an.49 In seinem Hauptwerk Mutual Aid. A Factor of Evolution (1902), das Kropotkin im englischen Exil verfasste und zwei Jahre später auf Deutsch erschien, erklärte er die gegenseitige Hilfe zum Hauptmechanismus der Evolution.50 Kropotkin war überzeugt, dass Arten aus pragmatischen Gründen dazu tendieren, miteinander zu kooperieren. Ähnlich wie Darwin baute Kropotkin seine Theorie auf seinen Beobachtungen auf, die er im Rahmen einer mehrjährigen Forschungsexpedition nach Sibirien gesammelt hatte.51 Obwohl Kropotkin kein expliziter Darwin-Gegner war, zweifelte er Darwins Vorstellung von natürlicher Selektion und Überlebenskampf an, die wiederum von Thomas Malthus beeinflusst war. Wie schon angedeutet wurde, behauptete Malthus in seiner Bevölkerungstheorie, dass sich Populationen exponentiell vermehren und es dadurch zu einer Konkurrenz um bestehende Ressourcen (Nahrung, Raum etc.) kam. Innerhalb ein und derselben Spezies konnte K ­ ropotkin jedoch keinen Konkurrenzkampf ums Überleben ausmachen. Ausgehend von seinen Beobachtungen in Sibirien stellte er deshalb die These auf, dass die Kooperation zwischen Individuen und Gruppen einer Art die effektivste Strategie darstellte, um sich gegen Umweltgefahren wie Nahrungsmangel, Räuber und Klima zu schützen. Mit anderen Worten förderte die natürliche Auslese die Kooperation (und nicht den Konflikt) innerhalb von Arten.52 Das malthusische Element in Darwins Selektionstheorie versuchte Kropotkin durch eine stärkere Betonung lamarckistischer Elemente zurückzudrängen (wenngleich auch Darwins Selektionstheorie Bezüge zu Lamarck aufwies). Mit seinem Versuch, die Darwinsche Evolutionstheorie ohne Malthus umzudeuten, fügte sich Kropotkin in eine spezifisch russische Tradition des evolutionären Denkens ein.53 Besonders unter Ostwalds Präsidentschaft erfuhr Kropotkins Evolutions­ theorie eine starke Rezeption unter Monisten, da sie mit energetischen, pazi 49 Obwohl Ostwald in seinem Werk Kropotkin nie explizit erwähnte, waren Ausdrücke wie »gegenseitige Hilfe« oder »Mutualismus« bei ihm allgegenwärtig. 50 Vgl. Kropotkin, Peter: Mutual Aid. A Factor of Evolution. New York 1902. 51 Todes, Daniel P.: Darwin without Malthus. The Struggle for Existence in Russian Evolutionary Thought. New York, Oxford 1989, 126–130. Zur Rezeption von Kropotkins Mutualismus im viktorianischen England, vgl. Hale, Piers J.: Political Descent. Malthus, Mutualism, and the Politics of Evolution in Victorian England. Chicago, London. 2014, 206–251. Galt Kropotkin aufgrund seines anarchistischen Hintergrunds lange als Amateurwissenschaftler, so betont die jüngere Forschung seine Bedeutung als naturalist des späten 19. Jahrhunderts, vgl. Borello, Mark E.: Evolutionary Restraints. The Contentious History of Group Selection. Chicago, London 2010, 24‒40; Ders.: Mutual Aid and Animal Dispersion: An Historical Analysis of Alternatives to Darwin. In: Perspectives in Biology and Medicine 47 (2004), 15‒31. 52 Ebd., 137. 53 Zur Darwin-Rezeption in Russland, vgl. Todes: Darwin without Malthus.

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fistischen und lamarckistischen Ansätzen gut vereinbar war. Ebenso wie die Monisten konstatierte Kropotkin, dass man ethische Normen unmittelbar aus den natürlichen Ordnungsgesetzen ableiten könne.54 Er differenzierte dabei zwischen zwei Bedeutungsebenen von gegenseitiger Hilfe: Im biologischen Sinne beschrieb die gegenseitige Hilfe einen instinktiven Hang von Arten zur Kooperation, während sie im ethischen Sinne auf bestimmte Verhaltensdispositionen, Werte und Normen verwies, die aus jenen Instinkten resultierten.55 Das evolutionsbiologische Prinzip der gegenseitigen Hilfe fand innerhalb des Monistenbundes besonders bei dem Wiener Biologen Paul Kammerer (1880– 1926) Anklang, der als enfant terrible in die Wissenschaftsgeschichte einging.56 Kammerer gehörte zu den führenden Popularisierern neolamarckistischer Ansätze in der Biologie, welche die Vererbung erworbener Eigenschaften über den Mechanismus von Gebrauch und Nicht-Gebrauch postulierten.57 Der als Morphologe ausgebildete Kammerer glaubte seine Theorie am Brutverhalten des Feuersalamanders und der Geburtshelferkröte nachweisen zu können, das er abhängig von Umweltbedingungen modifizierte.58 Wohl bemerkt hatte der Neolamarckismus um 1900 nur noch wenig mit Lamarcks ursprünglicher Transmutationstheorie zu tun, da die Vererbung erworbener Eigenschaften hier nur ein Nebenaspekt der Veränderung der Arten von einfachen zu kom 54 Kinna, Ruth: Kropotkin’s Theory of Mutual Aid in Historical Context. In: International Review of Social History 40 (1995), 259–283, hier 277; Dies.: Kropotkin. Reviewing the Classical Anarchist Tradition. Edinburgh 2016. 55 Kinna: Kropotkin’s Theory, 277. 56 Über Jahre hinweg war Paul Kammerer am Wiener Prater Vivarium tätig, einer außeruniversitären biologischen Forschungsanstalt, die 1903 von Hans Przibram (1874–1944) gegründet worden war. Kammerer folgte 1926 einem Ruf nach Moskau an die Kommunistische Akademie der Wissenschaften. Dem scheinbaren Höhepunkt seiner Karriere folgte schon bald der Fall: Im August 1926 warf ihm der Zoologe Gladwyn Kingsley Noble in dem Fachjournal Nature vor, seine Versuchsergebnisse zur Geburtshelferkröte gefälscht zu haben. Zermürbt von den Fälschungsvorwürfen stürzte sich Kammerer am 23. September 1926 in Wien in den Selbstmord. Zum Leben und Werk Kammerers, vgl. Taschwer, Klaus: Der Fall Paul Kammerer. Das abenteuerliche Leben des umstrittensten Biologen seiner Zeit. München 2016. Zur Geschichte des Prater Vivariums, vgl. Müller, Gerd B. (Hg.): Experimental, Quantitative and Theoretical Biology at Vienna’s Biologische Versuchsanstalt. Chicago, London 2017. 57 Zum Neolamarckismus Kammerers, vgl. Gliboff, Sander: The Case of Paul Kammerer: Evolution and Experimentation in the Early 20th Century. In: Journal of the History of Biology 39/3 (2006), 525–563; Hirschmüller, Albrecht: Paul Kammerer und die Vererbung erworbener Eigenschaften. In: Medizinhistorisches Journal 26 (1991), 26–77; Logan, Cheryl A.: Hormones, Heredity, and Race. Spectacular Failure in Interwar Vienna. New Brunswick, New Jersey, London 2013. 58 Kammerer, Paul: Beitrag zur Erkenntnis der Verwandtschaftsverhältnisse von Salamandra atra und maculosa. Experimentelle und statistische Studie. In: Archiv für Entwicklungsmechanik 17, Nr. 2/3 (1904), 165–265; Ders.: Experimentelle Veränderung der Fortpflanzungstätigkeit bei Geburtshelferkröte (Alytes obstetricans) und Laubfrosch (Hyla arborea). In: Archiv für Entwicklungsmechanik 22, Nr. 1/2 (1906), 48–140.

270  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht plexen Formen darstellte. Lamarck zufolge entstanden Organismen aus spontanen Zeugungen, die sich – angetrieben von der Lebenskraft – vom Einfachen zum Komplexen entwickelten, wobei sich diese an ihre Umgebung anpassten.59 Kammerers größter Konkurrent war der Neo-Darwinist August Weismann (1834–1914), der in seiner Keimplasmatheorie (1885) behauptete, dass der Sitz des Erbguts (Keimplasma) völlig unabhängig von den Köperzellen und anderen Umweltfaktoren bestand.60 In einem Artikel im Monistischen Jahrhundert unterschied Kammer zwischen »monistischer« und »dualistischer« Vererbungslehre. Während die dualistische Vererbungslehre eine unüberwindbare Trennung zwischen äußerem und innerem Milieu konstatiere, vertrat die monistische Vererbungslehre die Einheit und Wechselwirkung von Organismus und Umwelt. Kammerer war überzeugt, dass sich die Lebensbedingungen direkt in das Erbgut aller Lebewesen einschrieben.61 Bezogen auf die Gesellschaft hielt Kammerer fest: »Unsere Kulturarbeit ist nicht vergebens, da wir unsere Ideen und unser Wissen (zwar nicht als fertiges Können, aber als Anlage, als Begabung) auf die nächste Generation vererben.«62 Aus seiner neolamarckistischen Position leitete Kammerer sozialpolitische und pazifistische Forderungen vor und während des Ersten Weltkrieges ab. Als bekennender Monist, Sozialist und Pazifist trat er entschieden für die Zusammenarbeit der Nationen ein. Er war überzeugt, dass der Krieg zur »Kontraselektion«

59 Zur terminologischen Abgrenzung von Lamarcks Theorie, Lamarckismus und Epigenetik, vgl. Loison, Laurent: Lamarckism and Epigenetic Inheritance: A Clarification. In: Biology and Philosophy 33/3 (2018), 29 ff.; Burkhardt, Richard W.: The Spirit of the System: Lamarck and Evolutionary Biology. Cambridge, MA, London 1995 [1977], 143–185. 60 Hierbei sei erwähnt, dass Paul Kammerer kein Darwin-Gegner war, sondern die gegenseitige Hilfe als Ergänzung zum Mechanismus der natürlichen Selektion betrachtete. Zu den frühen Vererbungstheorien im 19. Jahrhundert, vgl. Rheinberger, Hans-Jörg / Müller-Wille, Staffan: Vererbung. Geschichte und Kultur eines biologischen Konzepts. Frankfurt am Main 2009; Dies.: A Cultural History of Heredity. Chicago, London 2012; Dies.: The Gene. From Genetics to Postgenomics. Chicago, London 2017, 11–22; Dies.: Heredity before Genetics. In: Müller-Wille, Staffan / Brandt, Christina (Hg.): Heredity Explored. Between Public Domain and Experimental Science, 1850–1930. Cambridge, MA , London 2016, 143–166; Cremer, Thomas: Von der Zellenlehre zur Chromosomentheorie. Naturwissenschaftliche Erkenntnis und Theorienwechsel in der frühen Zell- und Vererbungsforschung. Berlin, New York 1985, 27–238; Levit, Georgy S. / Hoßfeld, Uwe / Olsson, Lennart: The Darwinian Revolution in Germany: From  Evolutionary Morphology  to the  Modern Synthesis. In: Endeavour 38 (2014), 268–279. 61 Kammerer, Paul: Monistische und dualistische Vererbungslehre. In: DMJ 1, Nr. 7 (1912), 225–235. Zur Verflechtung von Monismus und Lamarckismus bei Paul Kammerer, vgl. Leber, Christoffer. Homo Sapientissimus. Der Neue Mensch im populärwissenschaftlichen Werk Paul Kammerers (1918/19). In: Dikovich, Albert / Wierzock, Alexander (Hg.): Von der Revolution zum Neuen Menschen. Das politische Imaginäre in Mitteleuropa 1918/19. Philosophie, Humanwissenschaften und Literatur. Stuttgart 2018, 219–234. 62 Kammerer: Monistische und dualistische Vererbungslehre, 234.

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führte, da die Starken an der Front fielen, während die Kranken und Schwachen daheim geschont wurden.63 Durch die Naturalisierung der Goldenen Regel versuchten Monisten biblisch geprägte Moralvorstellungen zu delegitimieren. Um ihr wissenschaftliches Ethikverständnis zu untermauern, rekurrierten sie auf evolutionsbiologische Theorien wie etwa den Mechanismus der gegenseitige Hilfe oder energetische Ansätze. In ihren Augen war Moral ein natürlicher Bestandteil der Evolution und unterlag als solcher einem steten Wandel. Da die christliche Moral auf einer göttlichen Offenbarung basierte, war sie aus ihrer Sicht entwicklungsunfähig und sogar fortschritthemmend. Gezielt verbanden Monisten ihre Ethik mit Vorstellungen von Objektivität, Fortschritt und Optimismus, wohingegen sie die Ethik des Christentums als dogmatisch, unzeitgemäß und pessimistisch verwarfen. Halbbildung als Vorwurf Wie eingangs erwähnt wurde, sorgte die monistische Ethik für eine kontroverse Rezeption der Monismusbewegung im wilhelminischen Deutschland. Die Herleitung moralischer Prinzipien aus naturwissenschaftlichen Gesetzen und Theorien brachte Monisten den Vorwurf eines naturalistischen Fehlschlusses ein. Der naturalistische Fehlschluss bezog sich auf Argumente, die moralische oder ästhetische Normen (wie z. B. das Gute und Schöne) aus naturwissenschaftlichen oder metaphysischen Annahmen ableiteten. Der eigentliche Fehlschluss bestand nach George Edward Moore (1873–1958) darin, dass normative Sätze aus deskriptiven abgeleitet wurden.64 Dieser Vorwurf ereilte gerade Ostwald, da er mit seinem energetischen Imperativ einen explizit normativen Anspruch behauptete. Ein Münchner Rezensent des Kunstwart bemerkte 1910, dass man die Zweckmäßigkeit des Handelns nicht mit Prinzipien von Energieerhaltung und Entropie begründen könne: Was ist eigentlich zweckmäßig? Der Zweckbegriff läßt sich nicht aus dem Energiebegriff ableiten. Ist nur das zweckmäßig, was leibliche Bedürfnisse befriedigt? Nur das, was nützt, was den Gelderwerb ermöglicht, was reale Güter erzeugt? […] Was ›bezweckt‹ schließlich künstlerisches Genießen, religiöse Versenkung?65 63 Kammerer, Paul: Einzeltod, Völkertod, biologische Unsterblichkeit, 52: »Der Krieg übt negative Auslese, Kontraselektion; er bewirkt Übrigbleiben der Schlechteren, oft der Feiglinge und Verräter auf dem Kampfplatz, der Schwachen und Bresthaften im sicheren Daheim.« Zum Pazifismus Kammerers, vgl. Leber: Homo Sapientissimus, 221–225. 64 Den Begriff »naturalistic fallacy« führte George Edward Moore 1903 in seinem Werk Principia ethica ein. 65 Weber, Ernst: Energetische Pädagogik. In: der Kunstwart 23 (2. Märzheft 1910), ­429–431, hier 431. Oscar A. H. Schmitz zielte in seiner Polemik gegen die monistische »Weltanschauung der Halbgebildeten« in eine ganz ähnliche Richtung, indem er die Relativität des Zweck- und Nutzbegriffs herausstellte: »Was ist Nutzen? Was ist letzten Endes der Mensch-

272  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht Ein Feuilletonist aus dem Pester Lloyd von 1912 warf Ostwald sogar ein Fetischisieren des Energiebegriffs vor: »Der moderne Monismus ist ein Harpagon der Energie. Als würde das Weltende durch sie tatsächlich beschleunigt, haßt er alle Energieverschwendung. Sie ist ihm direkte Ketzerei. Denn die Energie ist sein Götze. Alle Ethik des Ostwald’schen Monismus ist Energieschonung«.66 In ihrer Kritik an der monistischen Ethik rekurrierten einige Kritiker auf den Vorwurf der »Halbbildung«, der nach Todd Weir »the most persistent sociological explanation (and intellectual disqualication) of secularism and atheism« um 1900 war.67 Der Brockhaus (1893) definierte die Halbbildung als einen »durch ungenügende Schul- oder Selbstunterricht entstandene[n] geistige[n] Zustand, der sich durch oberflächliche Kenntnisse auf verschiedenen Gebieten und durch Mangel des Einblicks in den Zusammenhang der Erscheinungen kennzeichnet.«68 An diese Vorstellung anknüpfend veröffentlichte der Münchner Schriftsteller Oscar A. H. Schmitz 1914 eine Polemik gegen Ostwald, die den bezeichnenden Titel Weltanschauung der Halbgebildeten trug. Für Schmitz mutierte der Monismus zum Inbegriff von Halbbildung, da er ein kleinbürgerliches Publikum anzog, dem die universitäre Bildung in Philosophie und Naturwissenschaft fehlte: Die ­Haeckelsche Weltanschauung war bereits im Begriff, unter den Viertel- und Achtelgebildeten zu versickern. Da gelang es Ostwald, eine Energetik, die tatsächlich reizvoller ist als der grobe Materialismus, zur Grundlage einer neuen Weltauffassung zu machen, auf die sich alle, die vor den Toren der Bildung auf Einlaß warten, mit einem wahren Heißhunger stürzten.69

Der Jesuit Friedrich Klimke teilte eine ähnliche Einschätzung wie Schmitz, wenn er den Monismus als »Köder für die großen Massen der Halbgebildeten« brandmarkte.70 Der österreichische Philosoph und Literaturkritiker Fritz Mauthner interpretierte den Erfolg des Monismus ­Haeckelscher und Ostwaldscher Provenienz im deutschen Mittelstand als direktes Resultat von Halbbildung. Die Konjunktur des Monismus unter Halbgebildeten resultierte seiner Meinung nach aus der »Ruhesehnsucht« ihres Denkens, das alle Erscheinungen der Welt auf ein einheitliches Prinzip zurückführen wolle.71 Schließlich bemerkte der heit nützlicher, die Geburt eines Kunstwerks oder die eines Kalbes? Bekanntlich ist das Kalb wichtiger – vom Standpunkt des Rindviehs«, vgl. Schmitz, Oscar A. H.: Die Weltanschauung der Halbgebildeten. 2. Aufl. München 1914. 66 X. X.: Monistisches. In: Pester Lloyd 59, Nr. 153 (29.6.1912). 67 Weir: Secularism and Religion, 118. 68 Art. Halbbildung. In: Brockhaus. Konversations-Lexikon. Bd. 8. 14. Aufl. Leipzig, Berlin, Wien 1883, 664–665. 69 Schmitz: Weltanschauung der Halbgebildeten, 15. 70 Klimke: Monismus, 1. 71 Mauthner: Art. Monismus, 102–103.

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evangelische Theologe August Wilhelm Hunzinger (1871–1920) über ­Haeckels Monismus, er wolle zwar »das Sammelbecken für alle unkirchlichen Elemente der gebildeten Kreise sein«; tatsächlich sei es jedoch »die breite Schicht der Halbgebildeten, wo H ­ aeckels Welträtsel ihre Triumphe feiern.«72 Die genannten Zitate dokumentieren, dass verschiedene Kritiker auf den Vorwurf der Halbbildung rekurrierten, um den Monismus als eine Weltanschauung von ungebildeten Dilettanten zu disqualifizieren. Ihre Hauptkritik galt dabei der monistischen Ethik, die sich ostentativ vom Christentum abgrenzte. Irdische statt jenseitiger Belohnung Die Monismusbewegung kritisierte an der christlichen Moral vor allem ihre Unfähigkeit zur Entwicklung, ihre Fixierung auf eine göttliche Instanz und die daraus resultierende Weltabgewandtheit. Durch ihren Jenseitsbezug würde die christliche Moral den Blick für das weltliche Glück, den Fortschritt und Wohlstand vernachlässigen, so der Grundtenor vieler Monisten. So warf Johannes Unold, der zeitweilige Präsident des DMB, der dualistischen Weltanschauung des Christentums eine »beklagenswerte Vernachlässigung, ja eine kulturhemmende Verachtung der irdischen Aufgaben, eine gewisse Weltflucht, eine Art Lebensverneinung« vor.73 Ostwald sah die christliche Untertanenmoral bereits in der Bibel angelegt: Habe der Gott des Alten Testaments noch »die Züge eines despotischen Wüstenscheichs« getragen, der mit Zorn und »blutiger Rache« drohte, so kultivierte das Neue Testament eine »Moral der Bedrückten, die dem Kaiser geben, was des Kaisers ist, und gegenüber dem freudlosen Dasein auf dieser Erde sich auf ein in kürzester Frist erhofftes erhöhtes Dasein im Jenseits vorbereiten«.74 Wie schon in ihrer Religionskritik, so nutzten Monisten in Fragen der Ethik rhetorische Grenzziehungen: Dabei grenzten sie eine natürliche »monistische« Sittenlehre von einer dogmatischen, rückständigen »dualistischen« Ethik der Kirchen ab, die den Menschen auf ein ewiges Leben nach den Tod vertröstete. Monisten warfen dem Christentum eine Lust- und Lebensfeindlichkeit vor, da es die Belohnung für gottgefälliges Verhalten auf ein jenseitiges Leben verlagert. Dem angeblich lustfeindlichen Moralverständnis des Christentums stellten Monisten das Streben nach irdischem Glück und Wohlstand gegenüber. Der ethische Wert einer Handlung sollte sich aus monistischer und energetischer Sicht nach ihrem Nutzen für den Kulturfortschritt und nicht nach ihrer Gottgefälligkeit bemessen. Entsprach der Mensch in der christlichen Ethik einem Sünder, der in einer passiven Rolle verharrend auf den Richterspruch Gottes 72 Hunzinger, August Wilhelm: Die evangelische Kirche und die Theologie. In: Körte, Siegfried u. a. (Hg.): Deutschland unter Wilhelm II. Bd. 2. Berlin 1914, 976–1022, hier 978. 73 Unold, Johannes: Der Monismus und seine Ideale. Leipzig 1908, 17. 74 Ostwald: Liebet euch untereinander. In: MSP I, 111.

274  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht wartete, so erhob die monistische Ethik den Menschen zum aktiven Gestalter irdischen Glücks: Während alle Ethik, die auf der Offenbarung beruht oder sonst eine religiöse Begründung gesucht hat, den Menschen als einen Sünder darstellt, der sich aus eigener Kraft durchaus nicht und in keiner Weise zur Höhe emporheben kann, sondern für diesen Zweck einer übernatürlichen Mithilfe und der Vermittlung der Priesterschaft bedarf, ist die monistische Ethik durchaus eine Ethik von dieser Welt und für diese Welt.75

Ostwalds Worte deuten bereits an, dass für den monistischen Ethikdiskurs die Opposition von Aktivismus und Attentismus zentral war. Die monistischen Ethikansätze waren durchzogen von einer starken Betonung des Aktivwerdens, der Betätigung des Willens. Der eingangs vorgestellte Willensdiskurs im Monismus zielte nicht nur auf eine naturwissenschaftliche Erklärung des Willensproblems, sondern auch auf eine Privilegierung der Tat gegenüber der Theorie, des Handelns gegenüber dem Denken ab. Dementsprechend bezeichnete Franz Müller-Lyer seine monistische Richtung als »Willensphilosophie«, während Rudolf Goldscheid seine Philosophie der »Weltwollung« der reinen Theorie gegenüberstellte.76 Jener Aktivismus war auch der Grund, warum Monisten wie Ostwald, Goldscheid und Kammerer neolamarckistische Theorien rezipierten. Schließlich versprach Lamarcks Ansatz der Vererbung erworbener Eigenschaften, die Gattung Mensch durch die Veränderung äußerer Lebensbedingungen zu verbessern. Ihre Reformforderungen im Bereich von Bildung, Arbeit und Frauenemanzipation waren somit evolutionsbiologisch motiviert und zielten auf eine Steuerung der kulturellen Entwicklung.77

75 Ostwald, Wilhelm: Was können wir aus dem ersten Monistenkongreß lernen? In: MSP II, 211. Hervorhebung im Original. 76 Müller-Lyer, Franz: Der Sinn des Lebens und die Wissenschaft. Grundlinien einer Volksphilosophie. München 1910, 231; Goldscheid, Rudolf: Höherentwicklung und Menschenökonomie. Grundlegung der Sozialbiologie. Leipzig 1911, xxv. In der christlichen Tradition hat die Erlösung (Soteriologie)  eine ethische Dimension: Der Gläubige versucht durch seinen Glauben, den Empfang der Sakramente und sein gottgefälliges Leben die Gemeinschaft mit Gott zu erlangen. Dabei bleibt der Gläubige stets auf die Barmherzigkeit des Erlösers angewiesen. Vgl. Filoramo, Giovanni u. a.: Art. Erlösung / Soteriologie. In: RGG 2 (1999), Sp. 1441–1461. 77 Besonders Paul Kammerer und Rudolf Goldscheid traten neben ihrem Engagement im österreichischen Monistenbund für eine umfassende Sozialreform ein. Goldscheid stand dem Mediziner Julius Tandler nahe, der als Architekt des Roten Wien gilt. In den 1920er Jahren baute Tandler den sozialen Wohnungsbau in Wien aus und sorgte für die Errichtung von Mütterberatungsstellen sowie kommunalen Krankenhäusern. Vgl. Exner, Gudrun: Rudolf Goldscheids »Menschenökonomie« im Kontext von Julius Tandlers Wohlfahrtskonzepten, lamarckistisch motivierte Reformeugenik, Soziologie, Monismus, Pazifismus und der Frauenfrage. In: Angetter, Daniela / Nemec, Birgit / Weindling, Paul u. a. (Hg.): Strukturen und Netzwerke. Medizin und Wissenschaft in Wien 1848‒1955. Göttingen 2018, 393‒410.

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Durch ihre Betonung von irdischem Glück lehnte sich die monistische Ethik an die Prinzipien des antiken Eudämonismus an, der Lehre von den »Zielen und Motiven des menschlichen Handelns überhaupt«.78 Die Vorstellung der eudaimonía, im Sinne der »Glückseligpreisung«, wurde erstmals im Schlusskapitel der Nikomachischen Ethik von Aristoteles formuliert.79 Die aristotelische eudaimonía legte den Grundstein für zahlreiche philosophische Debatten, ob und unter welchen Umständen sich Handlungen am Glücksstreben orientieren sollten.80 Wie Hermann Lübbe hervorhebt, hatte der »sozialpragmatische Eudämonismus« der Monisten »keine gute philosophische Presse«, weil er mit dem negativ konnotierten Lustbegriff assoziiert wurde.81 Die negative Konnotation der Eudämonie in der deutschen Philosophietradition hatte ihren Ursprung in der Kant’schen Kritik an der Präferenz des Nutzens gegenüber der Pflicht. Kant, der den Begriff »Eudämonist« prägte, warf der aristotelischen Glücksethik vor, die Bestimmung des Willens nicht in einem höheren Pflichtbewusstsein, sondern allein im egoistischen Nutzen, der Glückseligkeit, zu finden.82 Der eudämonistische Grundtenor der monistischen Ethik rief kritische Reaktionen gerade aus dem christlich-konservativen, aber auch liberalen Lager hervor.83 Der Jesuit Friedrich Klimke warnte in der Abhandlung Monismus und Pädagogik (1917) vor den sittlichen Gefahren des monistischen Utilitarismus und Eudämonismus. Dort, wo das »egoistische Wohl« über »Sein oder Nichtsein der sittlichen Ordnung« entscheide, so Klimke, sei der Mensch »rettungslos den individuellen Treiben seiner selbstsüchtigen Natur ausgeliefert«.84 Da der Mensch sein Dasein dem »Schöpfergott« verdanke, müsse auch die »Eigenart und Notwendigkeit der rechtlichen und sittlichen Ordnung« auf Gott zurückgeführt werden. Zwar leugnete Klimke nicht die Existenz einer natürlichen Moral, doch sei diese erst durch ihren Bezug zur göttlichen Transzendenz »vertieft, geläutert und in ein vollkommeneres Ganzes aufgenommen worden«.85

78 Reiner, Hans: Art. Eudämonismus. In: HWdP 2 (1972), Sp. 819–823, hier 822. 79 Ebd., Sp. 819. 80 Man unterscheidet verschiedene Formen des Eudämonismus: einen hedonistischen (Luststreben), aretologischen (Tugendhaftigkeit), ontologischen (Ausgleich aller Daseinsmängel) und voluntaristischen Eudämonismus (Sättigung des Willens), vgl. Reiner: Art. Eudämonismus, Sp. 822. 81 Lübbe: Politische Philosophie, 153. »Lust« meinte im monistischen Sinne jedoch ein allgemeines Zweckprinzip des menschlichen Willens. 82 Reiner: Art. Eudämonismus, Sp. 819–820. 83 Hansen: Grenzen der Religion und Naturwissenschaft, 19–22; Erdmann: Über den modernen Monismus, 51; Klimke, Friedrich: Monismus und Pädagogik. 2. Aufl. München 1918, 224. 84 Klimke: Monismus und Pädagogik, 224. 85 Ebd., 228.

276  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht Von der Natur- zur Kulturbeherrschung Monisten griffen nicht allein auf naturwissenschaftliche Paradigmen zurück, um ethische Themen neu zu deuten; auch soziologische Theorien kamen ihnen dabei zu Hilfe. Wichtige Vertreter der frühen Soziologie wie Franz Müller-Lyer und Rudolf Goldscheid waren in der Monismusbewegung aktiv und integrierten soziologische Ansätze in die monistische Programmatik.86 Ihre Ansätze bewegten sich dabei zwischen Sozialreform und Gestaltungsutopien auf biologisch und soziologisch legitimierter Grundlage. Die Verbindung von soziologischem und monistischem Denken manifestierte sich besonders im Werk Franz Müller-Lyers, der seit 1915 Ostwalds Nachfolger im Amt des DMB -Vorsitzenden war. Seine berufliche Laufbahn begann Müller-Lyer jedoch als Arzt. Nach einem Medizinstudium in Straßburg und Forschungstätigkeiten in Berlin ließ er sich 1888 als Arzt in München nieder. Erst in späteren Lebensjahren wandte sich Müller-Lyer der Soziologie zu und wurde im freigeistigen Vereinswesen aktiv. Nach Ostwalds Rücktritt 1915 übernahm er den Vorsitz im Deutschen Monistenbund, den er aufgrund seines unerwarteten Todes (29. Oktober 1916) nur kurze Zeit innehatte. Sein mehrbändiges, zum Großteil posthum erschienenes soziologisches Werk ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten.87 Unter Intellektuellen des Fin de Siècle war Müller-Lyers Soziologie allerdings bekannt: So fand seine Soziologie der Leiden (1914) Eingang in Thomas Manns Zauberberg, wo sie als Vorlage für ein Buchvorhaben des monistischen Freimaurers Lodovico Settembrini diente.88 Heute wird sein Name hauptsächlich mit der »Müller-Lyer-Illusion« in Verbindung gebracht, die Bedeutung für die Entwicklungspsychologie des 20. Jahrhunderts erlangte.89 86 Rudolf Goldscheid, der zwischen 1912 und 1917 Präsident des österreichischen Monistenbundes war, hatte 1907 die Gründung der Soziologischen Gesellschaft in Wien initiiert und sich im Werturteilsstreit als Kontrahent Max Webers profiliert. Seiner Meinung nach sollten wissenschaftliche Urteile nicht wertneutral sein, sondern sozial und politisch verpflichtet. Zur soziologischen Tätigkeit Goldscheids, vgl. Neef: Entstehung der Soziologie, 106–118; Peukert, Helge: Rudolf Goldscheid. Menschenökonom und Finanzsoziologe (Finanzsoziologie, Bd. 3). Frankfurt am Main 2009. 87 Dementsprechend überschaubar gestaltet sich die Forschungslage zu Müller-Lyer: Beetz, Michael: Gesellschaftstheorie zwischen Autologie und Ontologie. Reflexionen über Ort und Gegenstand der Soziologie. Bielefeld 2010, 69–82; Curth, Sigrid: Soziologie als Programm sozialer Reform: Evolutionstheorie und demokratische Aktion: F. Müller-Lyer (Schriftenreihe der Studiengesellschaft für Sozialgeschichte und Arbeiterbewegung, Bd. 55). Marburg 1986; Goll, Reinhard (Hg.): Anfänge der Zukunftsforschung. Müller-Lyer und das Problem der Zukunftsbeherrschung. Mit einem Vorwort von Klaus Norbert Scheffler. Barßel 2003. 88 Curth: Soziologie als Programm sozialer Reform, 38; Beets: Gesellschaftstheorie, 70, Anm. 16. 89 Esser, Andrea, Art. Müller-Lyer, Franz Carl. In: Neue Deutsche Biographie 18 (1997), 503 f. URL: https://www.deutsche-biographie.de/gnd118813978.html#ndbcontent [aufgerufen am: 28.3.2020]. Die Müller-Lyer-Täuschung »verlangt den Vergleich zweier gleicher Strecken, von denen die eine durch ein einwärts gekehrtes Winkelpaar, die andere durch ein Paar nach

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Abbildung 16: Portrait von Franz Müller-Lyer (um 1900).

Franz Müller-Lyer war wie Ostwald ein Autodidakt und kam über die Naturwissenschaften zur Soziologie.90 Seitdem sich Ostwald um 1900 der Naturphilosophie zugewandt hatte, bestand ein intensiver Austausch zwischen den beiden. Während Ostwald die Publikationen Müller-Lyers in seinen Annalen der Naturphilosophie besprach, veröffentlichte Letzterer mehrere Artikel im Monistischen Jahrhundert und den schon erwähnten Annalen.91 »Die Anerkennung eines so großen Meisters erfüllt mich mit Mut u. Fleiß, und Ihre gütige Hilfe wird meinen außen offener Winkel begrenzt wird. Der unmittelbare Eindruck in der Wahrnehmung ergibt eine ungleiche Größeneinschätzung beider Strecken: Die durch einwärts gekehrte Winkel begrenzte Strecke wirkt kürzer.« 90 Neef: Entstehung der Soziologie, 147. 91 Müller-Lyer, Franz: Über Vereinheitlichung der Weltanschauung. In: DMJ 1, Nr. 3 (1912), 97–103; Ders.: Metaphysik. In: DMJ 1, Nr. 24 (1913), 793–800; Ders.: Metaphysik. Ein Beispiel. In: DMJ 2 (1913), 281–288.

278  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht Büchern ungemein zu statten kommen«, schrieb Müller-Lyer am 10. August 1913 an Ostwald.92 In seiner siebenbändigen Reihe, den Entwicklungsstufen der Menschheit (1908–1924), entwarf Müller-Lyer eine soziologische Großtheorie, die den Menschen dazu verhelfen sollte, die gesetzmäßigen Verläufe seiner Kultur zu erkennen und zu verinnerlichen.93 Mit anderen Worten ging es Müller-Lyer um eine »Bewußtwerdung« von Kultur, die das Handeln der Menschen leiten sollte.94 Die praktische Anwendung seiner Soziologie sollte den Fortgang der Kultur von allen kontingenten Faktoren befreien: Stand der frühere Mensch der Kulturentwicklung »wie einer unbekannten Gewalt gegenüber, die an unsichtbaren Fäden das Schicksal seines Geschlechts lenkte«, so dürfe er nun hoffen, »Herr und Meister zu werden über die Kultur«.95 Müller-Lyers Soziologie bewegte sich also zwischen einer praxisorientierten, interventionistischen »Sozialtechnik«, die ihre Legitimität aus der naturwissenschaftlichen Rationalität zog, und einem wissenschaftlichen Aufklärungsanspruch.96 Über das Potential der noch jungen Soziologie schrieb Müller-Lyer 1911: Besonders ist es die moderne Soziologie, die berufen ist, in der Philosophie eine neue Wendung herbeizuführen. Denn der Mensch ist ein soziales Geschöpf, und sein Geist ist ein soziales Erzeugnis. Ein jeder wird ja bewegt und geleitet durch Ideen, Gedanken und Ueberzeugungen, die nicht er selbst (als Individuum) ausgesonnen, aus sich selbst heraus erdacht hat, sondern die zum allergrößten Teil entstanden sind in den Köpfen anderer, die längst nicht mehr sind. Die geistigen Errungenschaften Tausender von Generationen, die dem Einzelnen als Kulturerbgut von Kindheit auf durch die soziale Umwelt übermacht wurden, sind es, die den Grundstock seines geistigen Lebens bilden.97 92 Franz Müller-Lyer an Wilhelm Ostwald, München, 10.08.1913. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 2092. Der Brief deutet darauf hin, dass der fortschrittsoptimistische und wissenschaftsgläubige Grundtenor in Müller-Lyers Werken in konservativen und alldeutschen Kreisen negativ aufgenommen wurde. Während die ersten vier Bände seiner »Entwicklungsstufen« im J. F. Lehman-Verlag erschienen, wechselte Müller-Lyer zum Verlag Albert Langen, seinerseits Begründer des Satireblatts Simplicissimus und führender Kulturverleger der Jahrhundertwende. Der Münchner Lehmann-Verlag stieg zum führenden Organ rassebiologischer und völkischer Literatur auf. 93 Müller-Lyer: Entwicklungsstufen der Menschheit. Bd. 1: Sinn des Lebens und die Wissenschaft; Bd. 2: Phasen der Kultur und Richtlinien des Fortschritts; Bd. 3: Formen der Ehe, der Familie und der Verwandtschaft; Bd. 4: Die Familie; Bd. 5: Phasen der Liebe; Bd. 6: Zähmung der Nornen. Soziologie der Zuchtwahl und des Bevölkerungswesens; Bd. 7: Soziologie der Erziehung. 94 Beetz: Gesellschaftstheorie, 72. 95 Müller-Lyer: Sinn des Lebens, 56. 96 Müller-Lyer, Franz: Die Zähmung der Nornen. Teil 1: Soziologie der Zuchtwahl und des Bevölkerungswesens. München 1918, 193. 97 Müller-Lyer, Franz: Der Sinn des Lebens und die Wissenschaft. Selbstanzeige von Dr. F.  Müller-Lyer in München (Sonderabdruck aus der Deutschen medizinischen Wochenschrift., Nr. 25). Leipzig 1911. BSB, Müller-Lyeriana, Bd. VI.

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Der zentrale Begriff in der Soziologie und Ethik Müller-Lyers war die »Kulturbeherrschung«. Ebenso wie die Natur durch die Errungenschaften von Technik und Wissenschaft in zunehmendem Maße beherrschbar wurde, sollte auch die Entwicklung der Kultur unter Zuhilfenahme der Soziologie kontrollierbar werden.98 Der Monist und Ido-Anhänger Martin Barkowski schwärmte 1912 in einem Brief an Ostwald, Müller-Lyer habe in seinem Buch gezeigt, daß die Gesetze der Kulturentwicklung erstaunlich andere sind als die der biologischen Entwicklung. Er verwirft die kulturzoologische Auffassung, daß es in der Kultur hauptsächlich auf die biologische Entwicklung des menschlichen Individuums ankommt, und stellt als oberstes Prinzip dieser Entwicklung das menschliche Zusammenwirken auf.99

Um das Ziel der Kulturbeherrschung zu erreichen, formulierte Müller-Lyer verschiedene »Richtungslinien des Fortschritts«, die er mithilfe seiner »Phasenmethode« herausarbeitete.100 Müller-Lyer unterteilte dazu alle Bereich der Kultur (Staat, Wirtschaft, Familie, Bildung, Wissenschaft, Arbeit, Kunst und Moral) in Phasen und verglich sie miteinander. Der Vergleich dieser Phasen ließ ihm zufolge bestimmte Richtungsgesetze des Kulturfortschritts erkennen.101 Mithilfe seiner Phasenmethode formulierte Müller-Lyer drei Entwicklungsgesetze der Kultur: Ausgehend von verfeindeten urzeitlichen Horden habe sich die Menschheit im Laufe ihrer Geschichte zu harmonischen und sozialen Gemeinschaften zusammengefunden. Der transnational vernetzte, kooperative Sozialstaat sei Ausdruck dieser höchsten Vergemeinschaftungsform, so MüllerLyer. Zweitens weise der Kulturfortschritt einen steigenden Prozess der »Bewußt­ werdung« auf, indem der Mensch seine unbewussten Triebe in bewusste Willensakte transformiere; zum Dritten zeichne sich die Kulturentwicklung durch eine Überwindung urzeitlich-tierischer Triebe und damit durch eine Humanisierung der Gesellschaft aus.102 In seiner Phasenmethode unterschied Müller-Lyer drei »soziologische Rassen«: den sozialistischen, individualistischen und sozialindividualistischen Menschen. In bewusster Abgrenzung zu sozialdarwinistischen Theoretikern präferierte Müller-Lyer den Begriff der »Kulturstufe« gegenüber dem der biologischen »Rasse«.103 Die Kulturstufe, so der Autor, übe viel größeren Einfluss auf die 98 Müller-Lyer: Sinn des Lebens, 55–58. Zur Steuerung und Beherrschung der Kultur, vgl. Goldscheid: Kulturperspektiven, 16–18. 99 Martin Barkowski an Wilhelm Ostwald, 11.2.1912. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 111. 100 Vgl. Müller-Lyer: Sinn des Lebens, 122 ff. Ders.: Die phaseologische Methode der Soziologie. In: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie 36 (1912), 241–255. 101 Müller-Lyer: Sinn des Lebens, 214. 102 Ebd., 225 f. Hervorhebung im Original. 103 Ebd., 179.

280  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Kulturen aus als Herkunft, Ethnizität oder »Rasse« im biologistischen Sinne. Schließlich könne sich ein Japaner mit einem Mitteleuropäer durchaus besser verständigen als mit einem Afrikaner, da beide auf derselben Entwicklungshöhe respektive Kulturstufe stünden, behauptete dieser.104 Müller-Lyers Einteilung der soziologischen »Rassen« wies eine frappante Ähnlichkeit zu Ostwalds Unterscheidung von Gregarismus, Individualismus und Organisation auf (vgl. Kap. II.1). Es ist davon auszugehen, dass sowohl Ostwald als auch Müller-Lyer ihre Stufenmodelle an Auguste Comtes Dreistadiengesetz anlehnten: Den sozialistischen Menschen bezeichnete Müller-Lyer als »Herdentier«, weil er seinen Einzelwillen dem Kollektiv unterordnet. Den individualistischen Menschen stellte er – nicht zuletzt durch die Entstehung des Kapitalismus  – als einen profitorientierten »Erwerbsmenschen« dar, der nach persönlichem Glück und Reichtum strebt. Jene beiden Entwicklungsstufen bewegten sich zwischen den Extremen des Altruismus (dem Primat des Kollektivs) und Egoismus (dem Primat des Individuums). Erst der anzustrebende Typus des sozialindividualistischen Menschen werde beide Entwicklungsstufen miteinander vereinen: Angetrieben von seinem persönlichen Streben nach Glück werde er unter Zuhilfenahme der Wissenschaft, Soziologie und Technik an der Höherentwicklung seiner Kultur arbeiten – er werde zum »Herrscher der Kulturentwicklung«, so Müller-Lyer. Den wahren Reichtum erblicke der sozialindividualistische Mensch in der vollen Ausschöpfung seines Potentials: »Der Zweck seiner Betätigung ist nicht die Anhäufung von Reichtümern, sondern die Kultur seiner Persönlichkeit, die höchste Entfaltung aller seiner Kräfte und Fähigkeiten.«105 Um die Bedeutung des Aktivwerdens erneut hervorzugeben, verglich Müller-Lyer das Leben des von ihm bezeichneten »Vollmenschen« mit einem Kunstwerk: »So wird das Leben des Vollmenschen ein Kunstwerk d. h. ein Werk der Lebenskunst, ein Spiel voller Schönheit und Freiheit! – frei sein von aller Autorität, außer der eigenen, frei sein von den Fesseln der Habgier, von allen überflüssigen Herdenzwängen, von dem Druck uniformierender Konvention«.106 In seiner Schilderung des sozialindividualistischen Menschen rekurrierte Müller-Lyer auf eine biblische Sprache und bezeichnete diesen als »Neuen Menschen«. Der Topos des Neuen Menschen hatte seinen Ursprung in den eschatologischen Heilserwartungen des Christentums und findet sich bereits im Paulausbrief an die Epheser.107 Kennzeichnend für den Topos des Neuen Menschen 104 Ebd., 179. 105 Ebd., 184. 106 Ebd., 185 f. 107 Vgl. Epheser 4.22–24: »Legt von euch ab den alten Menschen […] und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit«.

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war sein Schwanken zwischen Verheißung (»noch nicht«) und Erfüllung (»schon jetzt«), denn einerseits hatte der Gläubige durch Christus Anteil an der Heilsgeschichte, andererseits stand die Neuschöpfung des Menschen noch aus.108 Ebenso wie die Epheser im Paulusbrief den Blick auf das Kommen des Messias richteten, verlagerte Müller-Lyer die Blickrichtung auf eine nahende Zukunft. Dennoch unterschied sich seine Lesart des Neuen Menschen deutlich vom biblischen Vorbild: Die Herbeiführung des Sozialindividualismus lag nicht in der Macht Gottes, sondern konnte nur durch die Tatkraft des Menschen selbst realisiert werden. Wähnte sich der biblische Christ in einer passiven Position gegenüber einer transzendenten Gewalt, so erhob sich der Monist zum selbstermächtigten Gestalter der Zukunft. Zudem zeichnete Müller-Lyer ein neues Bild von der Vervollkommnung des Menschen: In seiner Deutung des Neuen Menschen lag die Vervollkommnung nicht mehr in der Loslösung vom Sündenfall, sondern in seiner Emanzipation von tierischen, urzeitlichen Atavismen. Indem der »Vollmensch« seine urzeitlichen Triebe überwinde, werde er zum Vollender einer humanen Kultur: »Der Vollmensch entwickelt die dem Tierischen entgegengesetzten und für das Menschliche charakteristischen Eigenschaften zu höchster Blüte und stellt so diejenige ›soziologische Rasse‹ dar, die befähigt sein wird, sich zur Herrscherin über die Kulturentwicklung aufzuschwingen.«109 Der ethische Auftrag des Neuen Menschen bestand Müller-Lyer zufolge in einer aktiven Steuerung des Fortschritts und nicht mehr in einem Leben ohne Sünde. Darüber hinaus griff Müller-Lyer die von Augustinus stammende Idee einer »Civitas Dei« in seiner Soziologie auf, deutete diese jedoch im Sinne einer »­Civitas Humana« säkular um. In seiner Schrift De Civitate Dei führte Augustinus eine Gegenüberstellung von irdischem und göttlichem Staat ein: Während der irdische Staat teils einer gottgewollten Ordnung gleichkomme, teils jedoch von Kräften des Bösen beherrscht werde, offenbare sich der Gottesstaat im Leben eines gottgefälligen Christen.110 Müller-Lyer knüpfte an die augustinische Vorstellung an, interpretierte sie jedoch als die aktive Steuerung der Kultur zur 108 Zur Ideengeschichte des Neuen Menschen, vgl. Küenzlen, Gottfried: Der Alte Traum vom Neuen Menschen – Ideengeschichtliche Perspektiven. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 66, Nr. 37/38 (2016), 4–9; Ders.: Der neue Mensch. Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte in der Moderne. München 1994; Schulze Wessel, Martin: Die Konstruktion des Neuen Menschen in der sozialistischen Revolution. Wissenschaften vom Neuen Menschen im revolutionären Russland. In: Vossenkuhl, Wilhelm u. a. (Hg.): Ecce Homo. Menschenbild – Menschenbilder (Ethik im Diskurs, Bd. 1). Stuttgart 2009, 66–86; Tetzner, Thomas: Der kollektive Gott. Zur Ideengeschichte des »Neuen Menschen« in Russland. Göttingen 2013. 109 Müller-Lyer: Sinn des Lebens, 185 f. Hervorhebung im Original. 110 Die Augustinische Schrift entstand vor dem Hintergrund der Eroberung Roms durch die Westgoten im Jahr 410 u. Z. Die Niederlage des christianisierten Roms gegenüber den heidnischen Westgoten warf die Frage auf, ob sich die Idee des Gottesstaats überhaupt im irdischen Staat repliziere.

282  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht Schaffung eines Himmels auf Erden. Der Mensch selbst sollte zum Regisseur seiner eigenen Neuschaffung werden: »Planmäßige Kulturerhöhung, Menschenenttierung, Weltvergöttlichung, früher der Spott der mittelmäßigen Köpfe, wird nun die eigentliche Aufgabe der Denkenden im Volke; wie im Urchristentum die Civitas Dei, so wird jetzt die Civitas Humana die Welt und Menschheit bewegende Idee.«111 * * * Die Forderung nach einer säkularen Ethik entwickelte sich zu einem Kernelement der monistischen Programmatik. In der Definition und Lehre ethischer Prinzipien erkannten Monisten ein großes Deutungsmonopol der Kirchen, das es zu brechen galt. Dieses Kapitel hat gezeigt, dass Monisten naturwissenschaftliche und soziologische Ansätze mobilisierten, um christliche Ethikvorstellungen zu säkularisieren. So verorteten H ­ aeckel und Ostwald den Ursprung der Goldenen Regel in der Evolution und generierten so eine naturalisierte Lesart des biblischen Grundsatzes. Müller-Lyer sah indessen in der Soziologie das Potential, die Entwicklung der Kultur beherrschbar zu machen und eine neue Epoche des Sozialindividualismus herbeizuführen, die Egoismus und Altruismus in sich vereinte. Mithilfe der »Kulturbeherrschung« sollte eine »Civitas Humana« entstehen – eine humane Kultur, in der der Mensch sein Potential in den Dienst des Fortschritts stellt. Darüber hinaus rekurrierten Monisten auf binäre Kategorisierungen, um eine angeblich dualistisch-lebensfeindliche von einer monistisch-lebensbejahenden Ethik abzugrenzen. Dabei führten sie zwei Vorwürfe gegen das christliche Moralverständnis ins Feld: Zum einen warfen sie der christlichen Ethik Unwissenschaftlichkeit und Irrationalität vor, da sie auf Gottes- und Jenseitsvorstellungen beruhte; zum anderen kritisierten Monisten die christliche Fixierung auf eine jenseitige Belohnung und die mit ihr zusammenhängende Vernachlässigung des irdischen Glücks. In Anknüpfung an den antiken Eudämonismus warben Monisten für eine weltzugewandte Ethik, die einen Himmel auf Erden schaffen sollte. Das säkulare Moralverständnis der Monisten strebte auch eine Reform der Sexualität und Geschlechternormen an. Im folgenden Kapitel werden wir sehen, dass sich radikale Feministinnen auf den Monismus beriefen, um die gesellschaftliche Rolle der Frau und deren Sexualität – jenseits christlicher Bezüge – neu zu definieren.

111 Ebd., 229.

Natürliche Liebe  283

2.

Natürliche Liebe: Monismus, Frauenbewegung und Sexualreform

Um 1900 erreichte Ernst H ­ aeckel eine Postkarte aus Portland (Oregon), auf deren Rückseite folgender Satz geschrieben stand: »One of the 1000’s of young Women, whose minds are being emancipated by ­Haeckel’s works.«112 Die populären Werke ­Haeckels und anderer Monisten bargen für Frauenrechtlerinnen ein emanzipatorisches Potential, denn sie eröffneten ihnen eine evolutionsbiologische Deutung ihrer Geschlechtsidentität.113 Während der Mechanismus der sexuellen Selektion Frauen eine Schlüsselrolle im Prozess der Fortpflanzung und Evolution zuschrieb, führten neolamarckistische Ansätze die Unterdrückung der Frau auf äußere Umwelteinflüsse zurück: Ihre Diskriminierung resultierte demnach nicht aus einer erbbiologischen Inferiorität (wie sie von rechten Rassetheoretikern behauptet wurde), sondern aus mangelhaften Umweltbedingungen, wie etwa ungleichen Bildungschancen.114 Der Lamarckismus hatte eine lange Tradition als »progressive antiestablishment science«, auf die sich schon britische Republikaner und Sozialisten der Vormärzzeit beriefen, um für Frauenemanzipation einzutreten, Sozialreformen zu fordern und die Staatskirche zu bekämpfen.115 Besonders der radikale Flügel der kaiserzeitlichen Frauenbewegung fühlte sich vom Monismus und dessen Kirchenkritik angezogen. Rollenbilder von Mann und Frau, ihr Verhältnis zur Sexualität und das Verständnis von Ehe war im 19. Jahrhundert stark von christlichen Wert- und Moralvorstellungen geprägt. Die christliche Institution der Ehe legte die Rolle der Frau nicht nur auf ihre Mutterschaft fest, sondern verfestigte patriarchale Gesellschaftsstrukturen, indem sie den Mann zum Oberhaupt der Familie erklärte. Mit ihrem Anspruch, alle Phänomene Welt auf rational-naturwissenschaftliche Prinzipien zurück­zuführen, trat die Monismusbewegung für eine evolutionäre Lesart von Sexualität und Geschlechterrollen ein. Dieser dezidiert naturwissenschaftliche und areligiöse Deutungsanspruch des Monismus faszinierte radikale Feministinnen und Sexualreformerinnen, die vehemente Kritik an der vermeintlich lustfeindlichen Sexualmoral der Kirche übten. Ebenso wie die Monisten rangen sie um eine wissenschaftlich fundierte Neubestimmung der Frauenrolle in der Gesellschaft. 112 Schmidt, Heinrich: Ernst ­Haeckel. Denkmal eines großen Lebens. Jena 1934, 91. 113 Weir: Riddles of Monism, 20. 114 Ebd., 20. 115 Desmond, Adrian: Artisan Resistance and Evolution in Britain, 1819–1848. In: Osiris 3 (1987), 77–110, hier 79; Ders.: The Politics of Evolution. Morphology, Medicine, and Reform in Radical London. Chicago 1989.

284  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht Gleichzeitig blieben viele Feministinnen religiöse Sucherinnen und erhoben den Evolutionsgedanken zum Bestandteil einer neuen »Lebensreligion«.116 Religion und Feminismus schlossen sich keineswegs kategorisch aus ‒ wie es die ältere Forschung häufig behauptete ‒, sondern griffen in vielen Fällen ineinander. Beeinflusst von einer christlichen Symbolsprache eigneten sich Feministinnen ein Religionsverständnis an, das auf Innerlichkeit und Subjektivität beruhte, auf das Diesseits fokussierte und nach einer Vervollkommnung der Menschheit strebte. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, dass der Monistenbund für radikale Feministinnen eine Doppelfunktion erfüllte: Zum einen boten monistische Kongresse, Zeitungen und Ortsgruppen Präsentationsforen für feministische Positionen; zum anderen stellte der Monismus Begriffe, Theorien und Argumente bereit, mit denen Feministinnen Sexualität evolutionär umdeuteten und die Autorität der Kirche in sexualmoralischen Themen delegitimierten. Mutterschutz und Sexualreform In vielen Bereichen der wilhelminischen Gesellschaft waren Frauen gegenüber Männern benachteiligt. Zwar räumte das 1900 in Kraft getretene Bürgerliche Gesetzbuch Frauen einen »vollgültigen Rechtsstatus« ein, dennoch gestand es dem Mann im Besonderen Teil eine Vielzahl von Vorrechten zu: Der Mann wurde zum Oberhaupt der Familie ernannt, war der rechtliche Vormund der Kinder und verfügte über das Geld, das seine Ehefrau verdiente. Im Einzelfall konnte der Ehemann die Erwerbstätigkeit seiner Frau sogar verbieten, wenn dadurch die »Ehepflichten« vernachlässigt wurden.117 Weiterhin hatten Frauen im 19. Jahrhundert weder das Recht zu wählen noch zu studieren. Nur in Ausnahmefällen und nach mehreren offiziellen Genehmigungen wurde ihnen ein Gasthörerstatus an Universitäten zugestanden. Erst nach 1900 öffneten sich die deutschen Universitäten allmählich für das Frauenstudium, wohingegen das Frauenwahlrecht in Deutschland erst 1919 mit der Verfassung der Weimarer Republik eingeführt wurde.118 Abseits ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter waren es vor allem zwei Berufe, die bürgerlichen Frauen offenstanden und ihnen Aus-

116 Stöcker, Helene: Lebenserinnerungen. Die unvollendete Autobiographie einer frauenbewegten Pazifistin. Herausgegeben von Reinhold Lütgemeier-Davin und Kerstin Wolff. Köln, Weimar, Wien 2015, 125. 117 Ullrich: Die nervöse Großmacht, 313. Zum Einfluss der Frauenbewegung auf die Entstehung des BGB, vgl. Riedel, Tanja-Carina: Gleiches Recht für Frau und Mann. Die bürgerliche Frauenbewegung und die Entstehung des BGB (Rechtsgeschichte und Geschlechterforschung, Bd. 9). Köln, Weimar, Wien 2008. 118 In Baden wurde das Frauenstudium 1900, in Bayern 1904 und in Preußen 1908/9 eingeführt. Zum Frauenstudium im Kaiserreich, vgl. Schraut, Sylvia: Bürgerinnen im Kaiserreich – Biographie eines Lebensstils. Stuttgart 2013, 121–124.

Natürliche Liebe  285

Abbildung 17: Titelblatt der Zeitschrift »Mutterschutz« (1905).

286  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht sicht auf materielle Unabhängigkeit boten: der Beruf der Ärztin sowie Lehrerin, wobei man Letzteren den »Beamten-Zölibat« auferlegte.119 Vor dem Hintergrund der rechtlichen und gesellschaftlichen Benachteiligung der Frauen formierte sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Europa eine Frauenbewegung, die sich in eine bürgerliche und sozialistische ausdifferenzierte.120 Die bürgerliche Frauenbewegung wiederum spaltete sich in eine gemäßigte und radikale Richtung auf. Der Monismus faszinierte aufgrund seiner Kirchenkritik und seiner betont wissenschaftlichen Weltanschauung radikale Feministinnen im Kaiserreich. Insbesondere der Bund für Mutterschutz und Sexualreform (BfM) wies in seinen Veröffentlichungen auf die geistige Verwandtschaft und gegenseitige Befruchtung von monistischem und feministischem Diskurs hin.121 Helene Stöcker (1869–1943), zeitweilige Vorsitzende des Mutterschutzbundes, gehört zu den bislang wenig beachteten Akteurinnen der monistischen Bewegung (vgl. Abb. 18).122 Sie stellte eine Ausnahme im weitgehend männlich dominierten Säkularismus dar (vgl. Kap. I). Durch ihre publizistische und vereinspolitische Tätigkeit war sie um 1900 zur Zentralfigur des radikalen Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung avanciert. Aus einer calvinistischen Fabrikantenfamilie im bergischen Elberfeld bei Wuppertal stammend zog Stöcker 1892 nach Berlin, um sich dort am Lehrerinnenseminar ausbilden zu lassen.123 Vier 119 Vogt, Annette: Vom Hintereingang zum Hauptportal? Lise Meitner und ihre Kolleginnen an der Berliner Universität und in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (Pallas Athene, Bd. 17). Stuttgart 2007, 44–45. Verheiratete Frauen im Schuldienst konnten jederzeit entlassen werden, weshalb die meisten Lehrerinnen ledig waren. 120 Zur bürgerlichen und sozialistischen Frauenbewegung im Kaiserreich, vgl. Beuys, Barbara: Die neuen Frauen – Revolution im Kaiserreich, 1900–1914. München 2014; Käppeli, Anne-Marie: Die feministische Szene. In: Duby, Georges / Perrot, Michelle (Hg.): Geschichte der Frauen. Bd. 4: 19. Jahrhundert. Berlin 2012, 539–568; Klausmann, Christina: Politik und Kultur der Frauenbewegung im Kaiserreich. Das Beispiel Frankfurt am Main. Frankfurt 1997; Niggemann, Heinz: Emanzipation zwischen Sozialismus und Feminismus. Die sozialdemokratische Frauenbewegung im Kaiserreich. Wuppertal 1981; Schröder, Iris: Arbeiten für eine bessere Welt. Frauenbewegung und Sozialreform, 1890–1914. Frankfurt am Main 2001. Zu Feminismus-Gegnern im Kaiserreich, vgl. Planert, Ute: Antifeminismus im Kaiserreich. Diskurs, soziale Formation und politische Mentalität (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 124). Göttingen 1998. 121 Vgl. Stöcker, Helene: Monismus und Mutterschutz. In: NG 8 (1912), 547. 122 Eine Ausnahme bilden die Beiträge von Edward Ross Dickinson: Reflections on Feminism and Monism in the Kaiserreich, 1900–1913. In: Central European History 34/2 (2001), 191–230. 123 Zu Helene Stöckers Leben, vgl. Bockel, Rolf von: Philosophin einer »neuen Ethik«: Helene Stöcker (1869–1943). Hamburg 1991; Hackett, Amy: Helene Stöcker. Left-Wing Intellectual and Sex Reformer. In: Bridenthal, Renate / Grossmann, Atina / Kaplan, Marion (Hg.): When Biology became Destiny. Women in Weimar and Nazi Germany. New York 1984, 109–130; Rantzsch, Petra: Helene Stöcker (1869–1943): Zwischen Pazifismus und Revolution. Berlin 1984; Wickert, Christl: Helene Stöcker, 1869–1943: Frauenrechtlerin, Sexualreformerin, Pazifistin. Eine Biografie. Bonn 1991.

Natürliche Liebe  287

Abbildung 18: Portrait von Helene Stöcker (ca. 1920).

Jahre später (1896) nahm sie ihr Studium der Philosophie, Nationalökonomie und Literaturgeschichte in Berlin auf und studierte ein Semester in Glasgow. 1901 wurde sie als erste deutsche Frau in Bern mit einer Arbeit zum Kunstverständnis des 18. Jahrhunderts promoviert.124 Enormen Einfluss auf ihr Denken übte Friedrich Nietzsche aus, der in ihren Reformschriften konstant zitiert wurde und ihre Sexualethik nachhaltig prägte.125 Ihr langjähriger Lebens 124 Stöcker, Helene: Zur Kunstanschauung des 18. Jahrhunderts. Von Winckelmann bis zu Wackenroder (Palaestra, Bd. 26). Berlin 1904. 125 Zur Nietzsche-Rezeption Helene Stöckers, vgl. Schlüpmann, Heide: Radikalisierung der Philosophie. Die Nietzsche-Rezeption und die sexualpolitische Publizistik Helene Stöckers. In: Feministische Studien 3/1 (1984), 10–38; Helm, Barbara: Combating Misogyny? Responses to Nietzsche by Turn-of-the-Century German Feminists. In: The Journal of Nietzsche Studies 27/1 (2004), 64–84.

288  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht gefährte Alexander Tille (1866–1912) hatte sie in den 1890er Jahren mit dem Werk Nietzsches sowie evolutionsbiologischen Denkern (Malthus, Darwin und Galton) vertraut gemacht.126 Vier Jahre nach ihrer Promotion, im Frühjahr 1905, gründete Stöcker den Bund für Mutterschutz in Berlin gemeinsam mit anderen linksliberalen Sexual­ reformerinnen, Frauenrechtlerinnen, Humanwissenschaftlern, Soziologen und Nationalökonomen: Zu ihnen zählten etwa die Schriftstellerin Ruth Bré (1862– 1911), von der die Initiative zur Gründung des BfM ausgegangen war;127 ferner die Frauenrechtlerinnen Adele Schreiber (1872–1957) und Maria Lischnewska (1854–1938), die Nationalökonomen Walther Borgius (1870–1932) und Werner Sombart (1863–1941), der Kunstwissenschaftler Bruno Meyer (1840–1917), der Soziologe Max Weber (1864–1920), die Sexualwissenschaftler Max M ­ arcuse (1877–1963) und Magnus Hirschfeld (1868–1935), der Sozialdemokrat ­August Bebel (1840–1913) sowie die Dichterin Hedwig Dohm (1831–1919).128 Im Unterschied zu anderen feministischen Vereinigungen ernannte der BfM auch Männer zu Vorstandsmitgliedern  – in der Überzeugung, dass Sexualreform beide Geschlechter betraf.129 Da Stöcker auf zahlreichen Vortragsreisen innerhalb und außerhalb des Deutschen Reichs für Mutterschutz und Sexualreform warb, konnte der Bund seine Mitgliederzahl schnell vermehren. Bereits 1907/8 umfasste der BfM zehn Zweigvereine mit insgesamt 3.726 Mitgliedern, von denen 1.302 Männer waren.130 Gleichzeitig gab Helene Stöcker das Vereins 126 Stöcker lernte Alexander Tille, der Dozent für Germanistik an der Universität Glasgow war, während ihres Auslandsstudiums in Glasgow kennen. Nach dem plötzlichen Tod seiner Frau übernahm Stöcker die Verantwortung für dessen Kinder. Tille veröffentlichte selbst ein Grundlagenwerk zur Entwicklungsethik »Von Darwin bis Nietzsche. Ein Buch Entwicklungsethik«. 127 Ruth Bré hatte bereits im November 1904 in Leipzig einen ersten Bund für Mutterschutz gegründet, bevor der BfM in Berlin ein Jahr später ins Leben gerufen wurde. Als Mutterrechtlerin forderte Bré ländliche Wirtschaftsgenossenschaften für alleinerziehende Mütter. Helene Stöcker hatte gemeinsam mit Maria Lischnewska eine »Vereinigung zur Reform der sexuellen Sittlichkeit« ins Auge gefasst, vgl. Ferdinand, Ursula: Das Malthusische Erbe. Entwicklungsstränge der Bevölkerungstheorie im 19. Jahrhundert und deren Einfluß auf die radikale Frauenbewegung in Deutschland. Münster 1999, 210 f. 128 Ausführlich zu Stöckers Aktivität im Bund für Mutterschutz, vgl. Dickinson, Edward Ross: Sex, Freedom and Power in Imperial Germany, 1880–1914. Cambridge 2014, 191–193; Hamelmann, Gudrun: Helene Stöcker, der »Bund für Mutterschutz« und die »Neue Generation«. Frankfurt am Main 1992; Nowacki, Bernd: Der Bund für Mutterschutz (1905–1933). Husum 1983; Matysik, Tracie: Reforming the Moral Subject. Ethics and Sexuality in Central Europe, 1890–1930. Ithaca, NY 2008, 73–75; Polzin, Julia: Matriarchale Utopien, freie Liebe und Eugenik. Die Mutterbewegung im Deutschen Kaiserreich und der Bund für Mutterschutz bis 1940. Hamburg 2017. 129 Dickinson: Sex, Freedom, and Power, 191; Klausmann: Politik und Kultur der Frauenbewegung, 215. 130 Klausmann: Politik und Kultur der Frauenbewegung, 102 und 104.

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organ ­Mutterschutz heraus (vgl. Abb. 17), dessen Nachfolger den Titel Die Neue Generation trug. Der Mutterschutzbund entstand zu einer Zeit des demografischen Wandels im Kaiserreich, der durch einen Rückgang der Mortalität und einer zeitlich verzögerten Abnahme von Geburtenraten gekennzeichnet war. Begleitet wurde dieser Übergang von einer Abnahme der Kindersterblichkeit, medizinischem Fortschritt und einem gesellschaftlichen Wertewandel: Nach einem anfänglichen »Babyboom« in den 1870er Jahren sank die Geburtenrate nach der Jahrhundertwende rapide ab: von 41,82 Geburten pro 1.000 Einwohnern im Jahr 1872 auf 26,8 im Jahr 1914.131 Dieser Trend machte sich vor allem in den Großstädten bemerkbar.132 Zwischen 1900 und 1909 sank die durchschnittliche Kinderzahl pro Ehe von 4,7 (vor 1905) auf 3,6 Kinder.133 In der Forschung wird gerade das Jahr 1905 als Schlüsseljahr im demografischen Wandel des Kaiserreichs gewertet, da hier die Geburtenrate erstmals leicht unter der Sterberate lag.134 Gerade Konservative und Nationalisten interpretierten den Geburtenrückgang im darwinistischen Sinne als Bedrohung für den Fortbestand der deutschen Nation im Wettbewerb mit ihren europäischen Nachbarn.135 Für Stöcker gehörten Mutterschutz und Sexualreform zusammen, da beide Bestrebungen die Institution der bürgerlichen Ehe anzweifelten und die Geschlechterordnung reformierten: So verfolgte der Mutterschutzbund das Ziel, ledige Mütter finanziell zu unterstützen, ihnen Notunterkünfte und Rechtsbeistand bei Unterhaltsforderungen zu bieten, uneheliche Kinder vom gesellschaftlichen Stigma zu befreien und die Sexualmoral vom christlichen Deutungs­ monopol zu lösen.136 Die Satzung führte als Zweck des Mutterschutzbundes an, »die Stellung der Frau als Mutter in rechtlicher, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht zu verbessern, insbesondere unverheiratete Mütter und deren Kinder vor wirtschaftlicher und sittlicher Gefährdung zu bewahren und die herrschen 131 Bergmann, Anna: Die verhütete Sexualität. Die Anfänge der modernen Geburten­ kontrolle. Hamburg 1992, 25. 132 Marschalck, Peter: Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1984, 41 ff.; Berghahn, Volker: Das Kaiserreich 1871–1914. Industriegesellschaft, bürgerliche Kultur und autoritärer Staat (Gebhard Handbuch der Deutschen Geschichte, Bd. 16). 10. Aufl. Stuttgart 2006, 93 f. 133 Spree, Reinhard: Der Geburtenrückgang in Deutschland vor 1939. Verlauf und schichtspezifische Ausprägung. In: Demographische Informationen (1984), 49–68, hier 62. 134 Allen, Ann Taylor: Mothers of the New Generation. Adele Schreiber, Helene Stöcker, and the Evolution of a German Idea of Motherhood, 1900–1914. In: Signs 10/3 (1985), 418–438, hier 420; Dies.: German Radical Feminism and Eugenics, 1900–1908. In: German Studies Review 11/1 (1988), 31–56; Dies.: Feminism and Motherhood in Germany, 1800–1914. New Brunswick 1991. 135 Stöcker, Helene: Mutterschutz und Sexualreform. Geburtenrückgang und Weltanschauung. In: DMJ 2, Nr. 32 (1913), 904–910; Allen: Mothers of the New Generation, 421. 136 Rosenthal, Max: Was heisst »Neue Ethik«? Was will der Bund für Mutterschutz. In: NG 6 (1910), 219–225, hier 220.

290  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht den Vorurteile gegen sie zu beseitigen«. Ergänzend hieß es, man wolle »überhaupt eine Gesundung der sexuellen Beziehung« anbahnen.137 Mit seinem ambitionierten Forderungskatalog reagierte der Mutterschutzbund auf ein virulentes Problem seiner Zeit: Vor dem Ersten Weltkrieg wurden in Deutschland jährlich 180.000 uneheliche Kinder geboren, was jeder zehnten Geburt entsprach.138 Ihre Forderung nach einer reformierten und von kirchlichen Zwängen befreiten Sexualmoral fasste Stöcker in den Begriff der »Neuen Ethik«.139 Konkret verlangte sie die Legalisierung der außerehelichen Liebe, die Anerkennung des sogenannten »Konkubinats«.140 Die Beziehung zwischen Mann und Frau sollte nicht auf staatlicher oder kirchlicher Legitimation, sondern auf individuellem Gewissen, Liebe und einer geteilten Verantwortung füreinander basieren. Insbesondere Begriffe wie »freie Liebe« machten den Mutterschutzbund zur Zielscheibe konservativer und orthodoxer Kritik. Viele Gegner sahen in ihm einen Katalysator des Sittenverfalls und Befürworter hedonistischer Libertinage. So sprach ein Pfarrer auf dem 16. Deutschen Pfarrertag verächtlich vom »Mutter­ schmutzbund«, und die Brandenburgische Provinzialsynode brandmarkte die Vertreterinnen des Bundes als »Weibliche ›Apostel des Satans‹«.141 Stöcker implizierte mit »freier Liebe« jedoch keinen sexuellen Hedonismus, sondern ein neues Beziehungskonzept, das auf zwei ebenbürtigen und selbstständigen Persönlichkeiten beruhte.142 Mit seinem Bestreben, die ledige Mutterschaft und außereheliche Liebe vom gesellschaftlichen Stigma zu befreien, ging der Mutterschutzbund weit über das hinaus, was andere bürgerliche Frauenrechtlerinnen um 1900 forderten.143 Zwar kämpften auch gemäßigte Feministinnen gegen die rechtliche und ökonomische Benachteiligung der Frau; dennoch sah sich ihr Ehe- und Sexualverständnis weiterhin einem bürgerlichen Wertekanon verpflichtet. Als besonders radikal galt Stöckers Forderung, den § 218 des Strafgesetzbuches abzuschaffen und dadurch 137 Vgl. § 1 der Satzung des BfM. Zit n. Hamelmann: Helene Stöcker, 52. 138 Angaben entnommen aus: Henning (Hg.): Handbuch der freigeistigen Bewegung, 89. 139 Dickinson: Reflections on Feminism, 194; Stopczyk-Pfundstein, Annegret: Philosophin der Liebe, Helene Stöcker. Die »Neue Ethik« um 1900 in Deutschland und ihr philosophisches Umfeld bis heute. Stuttgart 2003. 140 Stöcker, Helene: Mutterschutz und Sexualreform. Von der Ehe. In: DMJ 2, Nr. 9 (1913), 240. 141 Vgl. Frankfurter Zeitung (8.9.1905). Zitate entnommen aus: Stöcker, Helene: Zehn Jahre Mutterschutz. Sonderabdruck aus dem Publikationsorgan des Bundes »Die Neue Generation«. Hannover 1915, 19. 142 Vgl. Arni, Caroline: Seelengesetze mit Gesellschaftswert. Weibliche Subjektwerdung und die Utopie menschlicher Perfektion in der feministisch-sexualreformerischen Liebesethik um 1900. In: Feministische Studien 27 (2009), 196–209; Dies.: Entzweiungen. Die Krise der Ehe um 1900. Köln, Weimar, Wien 2004. 143 Auch in England traten freigeistige Feministinnen im Vergleich zu ihren christlichen Kolleginnen für alternative Beziehungsformen ein. Vgl. Schwartz: Infidel Feminism, 192.

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den Schwangerschaftsabbruch zu legalisieren. Im Zuge des 18. und 19. Jahrhunderts setzte sich im theologischen und medizinischen Diskurs die Auffassung durch, dass die Leibesfrucht bereits ab dem Zeitpunkt der Empfängnis beseelt beziehungsweise belebt sei.144 Gemäßigte Feministinnen unterstellten den Radikalen Verrat an den sittlichen Prinzipien der bürgerlichen Frauenbewegung.145 Helene Lange (1848– 1930), Vorstandsmitglied des Bundes Deutscher Frauenvereine, warf dem Mutterschutzbund in einem programmatischen Sammelband sogar »feministische Gedankenanar­chie« vor.146 Helene Stöcker konterte, indem sie Helene Lange ironisch als »Praeceptorin Germaniae« bezeichnete, als Lehrmeisterin Deutschlands.147 Ihre Hauptgegner unterteilte Stöcker entsprechend in vier Hauptgruppen: orthodoxe Vertreter aus dem protestantischen und katholischen Lager; gemäßigte Frauenrechtlerinnen und Verfechter einer brutalen »Männermoral«, die aus purem Egoismus die Prostitution verteidigten.148 Ungeachtet der Differenzen, die zwischen radikalen und gemäßigten Feministinnen herrschten, darf nicht vergessen werden, dass diese Unterscheidung idealtypisch ist und einige Positionen und Kritikpunkte, etwa an der rechtlichen Diskriminierung der Frau in der Ehe, in beiden Lagern zu finden waren.149 Schon früh zeichneten sich auch im Mutterschutzbund programmatische Richtungskämpfe zwischen einem radikalen und moderaten Flügel ab. Traten Ruth Bré und Adele Schreiber vornehmlich für den Schutz lediger Mütter ein, so sah sich Helene Stöcker als Sexualreformerin.150 Während einer Krisenzeit zwischen 1908 und 1910, in der sich die Fronten zwischen moderater Sozialreform und radikaler sexueller Emanzipation verhärteten, trat Helene Stöcker 144 Seidler, Eduard: Das 19. Jahrhundert. Zur Vorgeschichte des Paragraphen 218. In: Jütte, Robert (Hg.): Geschichte der Abtreibung von der Antike bis zur Gegenwart. München 1993, 120–139, hier 122–124. Zur Geschichte der Empfängnisverhütung, vgl. McLaren, Angus: A History of Contraception. From Antiquity to the Present Day (Family, Sexuality and Social Relations in Past Times). Oxford, Cambridge, MA 1992. 145 Hammer, Carmen: Sexualität und Reproduktion im emanzipatorischen Diskurs ausgewählter Sexualreformerinnen. Magisterarbeit Univ. Frankfurt am Main 2010, 20; Stöcker, Helene / Stabel, Heinz / Weinberg, Siegfried: Fort mit der Abtreibungsstrafe! Leipzig 1924. 146 Lange, Helene: Feministische Gedankenanarchie. In: Bäumer, Gertrud u. a. (Hg.): Frauenbewegung und Sexualethik. Beiträge zur modernen Ehekritik. 2. Aufl. Heilbronn am Neckar 1909, 45–53. 147 Stöcker: Zehn Jahre Mutterschutz, 14. 148 Ebd., 17. 149 Stoehr, Irene: Fraueneinfluß oder Geschlechterversöhnung? Zur »Sexualitätsdebatte« in der deutschen Frauenbewegung um 1900. In: Geyer-Kordesch, Johanna / Kuhn, Annette (Hg.): Frauenkörper, Medizin, Sexualität. Auf dem Wege zu einer neuen Sexualmoral. Düsseldorf 1986, 159–191, hier 159–162. 150 Adele Schreiber verließ bereits 1910 den BfM und gründete ihre eigene Organisation. Ruth Bré unterschied sich von Schreiber in ihrer Auffassung des uneingeschränkten Rechts der Frau auf Mutterschaft.

292  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht als Vorsitzende des BfM zurück. Ihr Nachfolger wurde Max Rosenthal, Arzt und Sexualwissenschaftler aus Breslau; Stöcker übernahm 1910 das Amt der Generalsekretärin, wobei sie weiterhin das Vereinsorgan Die Neue Generation herausgab.151 Ihre Mitgründerin Adele Schreiber trat wegen inhaltlichen Differenzen aus dem BfM aus und gründete einen eigenen Mutterschutzbund. Die Auseinandersetzung zwischen Stöcker und Schreiber gipfelte in einem Gerichtsverfahren, nachdem Schreiber ihrer Konkurrentin vorgeworfen hatte, Vereinsgelder veruntreut zu haben.152 Stöcker wiederum versuchte Schreiber öffentlich zu kompromittieren.153 Zur Realisierung seiner Ziele gründete der BfM reichsweit zwölf Ortsgruppen, die alleinerziehende Mütter juristisch berieten, Unterkünfte und Stellen vermittelten sowie sexuelle Aufklärung anboten. Weiterhin gründeten die Lokalstellen des Mutterschutzbundes Mütter- und Säuglingsheime und versuchten über Petitionen, Umfragen sowie Aufrufe in politische Entscheidungsprozesse einzugreifen.154 In den ersten Jahren seines Bestehens gründete der Mutterschutzbund Ortsgruppen in Ost- und Norddeutschland; 1913 versuchte Stöcker auch im mehrheitskatholischen München eine »geistige Zentrale« des Mutterschutzes aufzubauen, worauf ein Brief an Georg Kerschensteiner hindeutet: Es liegt uns besonders daran, jetzt eine geistige Zentrale für unsere Ideen und Propaganda in München zu gewinnen, da wir im Sommer 1915 einen »Internationalen Kongreß« unserer »Internationalen Vereinigung für Mutterschutz und Sexualreform« dort haben möchten, wozu wir dann den Rückhalt einer örtlichen Organisation in einem geistig so geeigneten Milieu wie München unbedingt brauchen.155

Der Mutterschutzbund kämpfte in erster Linie für eine Änderung der Gesetzeslage. In den Jahren 1906 und 1910 brachte der BfM eine Petition an die Kultusministerien zur »geschlechtlichen Belehrung« der Jugend im Schulunterricht ein; weitere Petitionen traten für die Unterstützung geschiedener Mütter und die 151 Dickinson: Reflections on Feminism, 193. 152 Zur Krisis im Bund für Mutterschutz. In: Der Monismus 5, Nr. 45 (1910), 123 ff.; Stöcker, Helene: Krisenmache. Eine Abfertigung. Haag 1910. Zum Streit, vgl. Braune, Asja: Konsequent den unbequemen Weg gegangen. Adele Schreiber (1872–1957). Politikerin, Frauenrechtlerin, Journalistin. Diss. Univ. Berlin 2003, 182–193. 153 Adele Schreiber an Auguste Kirchhoff, 25.3.1913, BA Koblenz, NL Schreiber, Mappe 20: »Der Führerin der neuen Ethik aber hat es nicht widerstrebt, meinen ganzen Bekanntenkreis vor Gericht zu laden, um jeden einzelnen über seine sexuellen Beziehungen zu mir eidlich vernehmen zu lassen.« 154 Wischermann, Ulla: Frauenbewegungen und Öffentlichkeiten um 1900. Netzwerke – Gegenöffentlichkeiten – Protestinszenierungen. Königsstein im Taunus 2003, 102. Der BfM gründete Säuglingsheime in Berlin, Frankfurt am Main und Breslau, in denen jedoch nur bis zu sechs Mütter Platz fanden. 155 Stöcker an Kerschensteiner, Berlin, 3.11.1913, Monacensia, NL Kerschensteiner GK B 951.

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Einrichtung städtischer Mutterschaftskassen während des Krieges ein und forderten die Ausdehnung der Hinterbliebenenfürsorge für uneheliche Kinder.156 Ein zentrales Anliegen des Mutterschutzbundes war die Einführung einer reichsweiten Mutterschaftsversicherung, die er 1907 und 1912 in einer Petition an den Reichstag forderte. Walther Borgius hatte 1907 zusätzlich zur Mutterschaftsversicherung eine »Kinderrente« verlangt, um die körperliche und geistige Entwicklung des Nachwuchses zu fördern.157 Henriette Fürth veröffentlichte 1911 eine Abhandlung, in der sie für die Notwendigkeit einer staatlichen Mutterschaftsversicherung für alle Familien unter der Einkommensgrenze von 3.000 Mark argumentierte.158 Mutterschaft sei ein »Vorgang«, so Fürth einleitend, »der sich in seinen Konsequenzen über einen beträchtlichen Teil des Lebens erstreckt, und nur den Schutz werden wir letzten Endes als ausreichend betrachten können, der auch den Schutz des Kindes bis zum verantwortungsund erwerbsfähigen Alter in sich begreift.«159 Im ersten Teil ihrer Schrift analysierte Fürth unter Bezugnahme auf statistische Angaben den Zusammenhang von Berufstätigkeit, Mutterschaft und »Frauenleiden«.160 In diesem Kontext versuchte sie eine Kausalität von Säuglingssterblichkeit, mangelnder medizinischer Versorgung und wirtschaftlicher Not von Frauen nachzuweisen. Im zweiten Teil skizzierte Fürth den geforderten Leistungsumfang der Versicherung, deren Grundlage die staatliche Wöchnerinnenunterstützung von acht Wochen bildete.161 Die Versicherung sollte Müttern eine Befreiung von der Arbeit vierzehn Tage vor der Geburt ermöglichen, eine Schonzeit nach der Geburt von acht Wochen gewähren und eine Pflegerin sowie ein Wöchnerinnengeld bereitstellen.162 Die Ortsgruppen und Lokalstellen des Mutterschutzbundes verdeutlichen, wie gezielt der Bund versuchte, die kirchlichen Fürsorge- und Wohltätigkeitsangebote durch weltliche Angebote zu ersetzen, die zunächst auf Privatinitiativen basierten. Doch waren es gerade diese Privatinitiativen, die einen Grundstein für Verstaatlichungsprozesse legten.

156 Stöcker: Petitionen des BfM, 54–56; 59–60; Dies.: Zehn Jahre Mutterschutz, 56. 157 Ebd., 34–40. Eine Vordenkerin der Mutterschaftsversicherung war die Sozialdemokratin Lily Braun, vgl. Ferdinand: Das Malthusische Erbe, 232–236. 158 Fürth, Henriette: Die Mutterschaftsversicherung. Jena 1911; Dies.: Mutterschafts­ versicherung. In: Ethische Kultur 14, Nr. 10 (Mai 1906), 73–75. 159 Fürth: Mutterschaftsversicherung, IX . 160 Ebd., 4–48. 161 Diese wurde nach der neuen Reichsversicherungsordnung für all jene Frauen eingeführt, deren Einkommen 2.000 Mark nicht überstieg. Die Unterstützung richtete sich vor allem an Fabrikarbeiterinnen, Heimarbeiterinnen, Dienstbotinnen und Handelsangestellte, vgl. Fürth: Mutterschaftsversicherung, 144. 162 Fürth: Mutterschaftsversicherung. In: Ethische Kultur, 74.

294  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht Monismus und Frauenbewegung um 1900 Unter Ostwalds Präsidentschaft gewann die Frauenfrage im Monistenbund an Raum. Zwischen der Frauenbewegung und den Monisten fand eine »selbstverständlich empfundene stillschweigende Arbeitsgenossenschaft« statt, schrieb Ostwald 1914 und ergänzte, dass die Frauenrechtlerinnen auf »verständnisvolles Mitwirken« des DMB »zur Erreichung ihrer Ziele« rechnen könnten.163 In zwei Sonntagspredigten äußerte sich Ostwald zur Bedeutung der Frauenemanzipation für die Ziele des Monismus, wobei er sich auf vererbungsbiologische Ansätze berief: Erst die Gleichstellung der Frau würde ihm zufolge Lebensbedingungen schaffen, in denen sie ihre innewohnenden Potentiale geistiger und körperlicher Art entfalten könne. Denn die Gesetze der Vererbung und Anpassung hätten gezeigt, dass jedes Lebewesen im Erbgut Anteile des mütterlichen und väterlichen Zellkernes in sich trage; die Frau könne aufgrund ihrer gesellschaftlichen Diskriminierung allerdings nur aus dem mütterlichen Teil ihrer erblichen Anlagen und Begabungen schöpfen, hieß es.164 Ostwald rekurrierte hier auf die zeitgenössische Vorstellung einer »blending inheritance«, derzufolge sich bei der Vererbung väterliche und mütterliche Erbanteile gleichermaßen vermischten.165 »Wir können uns denken, daß die jahrtausendlange unverhältnismäßige Unterdrückung der Frau, ihre Fernhaltung von allen Arbeiten dieser männlichen Tätigkeitsgebiete schließlich ein organisches Latentwerden vorhandener Erbstücke männlicher Qualitäten bewirkt hat.«166 Sein Verweis auf das Latentwerden bestimmter vererbter Merkmale knüpfte ferner an die zeitgenössische Vorstellung an, dass das Keimplasma nicht nur aus elterlichen Erbanteilen bestand, sondern auch aus denen der Vorfahren, die latent vorlagen und sich von Generation zu Generation verringerten.167 Durch ihre Beschränkung auf die Geburt und Pflege der Kinder habe die Frau ihre väterlichen Erbanlagen nicht ausschöpfen können, so Ostwald. Erst durch gleiche Bildungs-, Berufs- und Aufstiegschancen könne die Frau ihr gesamtes Potential zur »Steigerung der eigenen Persönlichkeit« nutzen.168 Die Hauptursache für die Unterdrückung der Frau in der Gesellschaft sah Ostwald im 163 Ostwald, Wilhelm: Monismus und die Frauen II. In: MSP IV, 106. 164 Ebd., 109. 165 Zu Vererbungstheorien im 19. Jahrhundert, vgl. Rheinberger / Müller-Wille: Verer­ bung; Dies.: Cultural History of Heredity; Dies.: The Gene; Dies.: Heredity before Genetics, ­143–166. Hans-Jörg Rheinberger weist zu Recht darauf hin, dass die Unterscheidung zwischen »hard« und »soft inheritance« bzw. zwischen »blending« und »non-blending inheritance« idealtypisch ist und für die Vererbungstheorien im 19. Jahrhundert eine untergeordnete Rolle spielte. 166 Ostwald: Monismus und die Frauen II, 110. 167 Francis Galton fasste diesen Zusammenhang in das »Law of ancestral heredity«, vgl. Rheinberger: The Gene, 14 f. 168 Ostwald: Monismus und die Frauen I. In: MSP IV.

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Einfluss der Kirche, denn sie reduzierte die Frau auf ihre Mutterrolle. Abschließend empfahl Ostwald allen Frauen, die die bisherigen Zustände als »unwürdig« empfanden, »der Kirche den Rücken zu kehren« und sich dem Monistenbund anzuschließen.169 Obwohl Ostwalds Beiträge zur Frauenfrage immer noch von patriarchalen Anschauungen durchdrungen waren, befürwortete er die Kooperation mit der Frauenbewegung, weil er sie als eine wichtige Mitkämpferin gegen Kirche und Konservatismus ansah. Insbesondere für die radikale Frauenbewegung um Helene Stöcker erfüllte der Monistenbund eine Doppelfunktion: Auf organisa­ torischer Ebene fungierte er als Präsentationsforum feministischer und sexualreformerischer Positionen; auf inhaltlicher Ebene lieferte der Monismus naturwissenschaftliche Argumente, die das Deutungsmonopol der Kirchen im Bereich der Sexualität und Geschlechterrollen zurückdrängen sollten.170 Mithilfe einer naturwissenschaftlich-monistischen Argumentationsweise versuchten Feministinnen wie Helene Stöcker, die Grenzen jener Gebiete zu verschieben, auf denen die christliche Moraltheologie Deutungsmacht ausübte. Zunächst jedoch zur organisatorischen Ebene: Sowohl die Ortsgruppen und Kongresse des Monistenbundes als auch dessen Publikationsorgane boten ein Forum zur Präsentation und Diskussion feministischer Forderungen. Ostwald, der seit 1912 die Vereinszeitschrift Das Monistische Jahrhundert herausgab, führte eine eigene Rubrik für Mutterschutz und Sexualreform ein, in der Helene Stöcker über die jüngsten Erfolge des Mutterschutzes informierte und ihr Verständnis von Ehe, Sexualität und Verantwortung darlegte. Ihre Kontrahentin Adele Schreiber wiederum berichtete dort über die Fortschritte der Frauenbewegung und forderte in ihren Beiträgen die Vereinbarkeit von Mutterschaft und Beruf.171 Wie Stöcker in ihren fragmentarisch überlieferten Lebenserinnerungen betonte, kam ihr die Rubrik in der DMB -Zeitschrift sehr entgegen, da sie »hierdurch wieder ganz neue Kreise zu erreichen und zu gewinnen vermochte.«172 Stöckers Zitat legt nahe, dass sie auch aus pragmatischen Gründen die Anbindung an den Monistenbund suchte, um ihre Positionen in neue Rezipientenkreise hineinzutragen. Darüber hinaus war die Bemühung des Mutterschutzbundes, sich den Monisten anzuschließen, dem Grund geschuldet, dass dieser innerhalb der wilhelminischen Frauenbewegung isoliert war.173 So wurde der Antrag des BfM zur Aufnahme in den Bund Deutscher Frauenvereine, eine 169 Ostwald: Monismus und die Frauen II, 107. 170 Zur Verflechtung von Monismus und Feminismus, vgl. Dickinson: Reflections on Feminism, 191–230; Ders.: Sex, Freedom and Power; Omran, Susanne: »Das Monistische Jahrhundert«. Wissenschaftsreligion, Geschlechterpolitik und sexuelle Ethik. In: Metis 9/17 (2000), 30–47. 171 Schreiber: Frauenbewegung. Beruf und Ehe. In: DMJ 2 Nr. 33 (1913), 935. 172 Stöcker: Lebenserinnerungen, 155–156. 173 Wischermann: Frauenbewegungen und Öffentlichkeiten um 1900, 104.

296  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht Dachorganisation nach amerikanischem Vorbild, 1912 abgelehnt.174 Ebenso distanzierte sich die Internationale Abolitionistische Föderation (IAF) unter der Leitung von Anna Pappritz (1861–1939) von Stöckers Idee einer freien Liebe.175 Selbst in freigeistigen Kreisen war Stöckers Mutterschutzbund umstritten. Nach der Neugründung des Weimarer Kartells 1911 zeigte sich Max Henning zurückhaltend gegenüber einer Wiederaufnahme des Mutterschutzbundes in die freidenkerische Dachorganisation. Zwar waren sich Max Henning, Rudolph Penzig und Arthur Pfungst darin einig, dass es »wünschenswert« sei, »zunächst nichts« mit Stöckers Mutterschutzbund zu tun zu haben, hieß es 1911 in einem Brief an Ostwald; dennoch sehe man sich gezwungen, in den »sauren Apfel zu beißen, nachdem nun einmal der Bund für Mutterschutz in der Zeit des unsicheren Hin- u. Hertastens aufgenommen« worden sei.176 Hennings Brief an Ostwald legt die Vermutung nahe, dass die sexualreformerischen Bestrebungen des Mutterschutzbundes zumindest für einige bürgerliche Freidenker einen klaren Tabubruch darstellten. So rüttelte Stöckers Neue Ethik nicht nur an den Grundfesten der christlichen Sexualmoral, sondern auch an denen der bürgerlichen Ehe, indem sie alternative Entwürfe von Liebe, Partnerschaft und Sexualität propagierte.177 Für Ostwald jedoch schien die Kooperation mit dem Mutterschutzbund mehr als ein reines Lippenbekenntnis zu sein: So spielte er seit 1912 mit dem Gedanken, ein »Monistenkloster« namens Unesma zu gründen, wo unehelichen Kindern ein Zuhause geboten und diese nach monistischen Grundsätzen erzogen werden sollten.178 Schließlich vermutete er unter den Monisten zahlreiche verwitwete oder alleinstehende Väter und berufstätige Mütter, die ihrer »Elternpflicht« nicht ausreichend nachkommen konnten. »Für alle solche Fälle wünschen wir in Unesma ein Kinderheim zu haben, in dem jenen armen halb oder ganz verlassenen Menschenknospen das zuteil werden kann, was sie zu Hause nicht finden.«179 Bereits in seiner ersten Sonntagspredigt zum »Monistenkloster« (1912) äußerte er die Vision einer Heimschule, »in welcher die Jugend weitaus rationeller und vor allen Dingen glücklicher und erfolgreicher erzogen werden kann, als das bei der bisherigen Organisation der Staatsschule möglich war.«180 In einer späteren 174 Im Anschluss an die Weltausstellung in Chicago 1893 wurde im März 1894 der Bund Deutscher Frauenvereine gegründet, der sich programmatisch an die National Council of Women (1888 gegründet) anlehnte. 175 Die IAF forderte eine Abschaffung der staatlich reglementierten Prostitution im Kaiserreich. 176 Max Henning an Wilhelm Ostwald, 26.10.1911. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 3985. 177 Zu bürgerlichen Werten, vgl. Schulz: Lebenswelt und Kultur, 19–22; Ders.: »Bürgerliche Werte«, 29–36. 178 Vgl. Ostwald: Monismus und Kultur, 82–84; Neef: Entstehung der Soziologie, 135. 179 Ostwald: Kolonie Unesma, 56. 180 Ostwald: Ein monistisches Kloster, 399.

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Predigt betonte er, dass sich weitere monistische Kolonien dazu verpflichten müssten, Waisenkinder oder verwahrloste Kinder in Obhut zu nehmen und ihnen eine monistische Erziehung zukommen zu lassen.181 Die Wiener Frauenrechtlerin Grete Meisel-Hess verfolgte seit 1912 mit großem Interesse Ostwalds Pläne zum »Monistenkloster« und sah darin ihre eigene Utopie verwirklicht, die sie in ihrem Roman Die Intellektuellen (1911) ausgebreitet hatte.182 Tatsächlich kaufte Ostwald im Sommer 1912 von seinem Nobelpreisgeld die Amtsschreibermühle im Eisenberger Mühltal (Thüringen), um dort eine monistische Siedlung zu gründen, die genossenschaftlich organisiert war (Abb. 19).183 Nachdem das Monistische Jahrhundert seit Januar 1913 aktiv Siedler angeworben hatte, verkündete Ostwald im Mai 1913, dass »fünf Männer jüngeren Alters« sich in Unesma niedergelassen hätten.184 Nach wie vor hatte die monistische Siedlung einen experimentellen Charakter, da die Genossenschaft noch nicht gegründet war.185 Auch war man auf die Hilfe eines Bauern und eines Knappen angewiesen, um die rund 200 Morgen Land mitsamt zwei Dutzend Großvieh zu bestellen. Hinzu kam, dass die aus den Städten rekrutierten »Unesmaleute« unerfahrene »Dilettanten« in Landwirtschaft und Ackerbau waren.186 Somit verwundert es kaum, dass das Siedlungsprojekt schon nach anderthalb Jahren scheiterte und auch die Vision eines monistischen Kinderheims im Sande verlief.187 »Statt monistisch gesinnte Bauern strömten in die Siedlung Literaten ein, die von den Investitionsgeldern, die Ostwald bewilligte, in umfassendem Maße Gebrauch machten. Als sie schließlich sogar ihre Zahnbürsten zu den Investitionskosten rechneten, merkte Ostwald, daß er es mit Schmarotzern zu tun hatte und schloß das monistische Kloster«, erinnerte sich Robert Riemann an das gescheiterte Unesma-Projekt.188 In seinen Lebenserinnerungen räumte Ostwald rückblickend ein, dass sein Siedlungsprojekt von Anbeginn zum Scheitern verurteilt war, weil es ihm an ökonomischer und landwirtschaftlicher Expertise fehlte.189 181 Ostwald: Kolonie Unesma, 63. 182 Grete Meisel-Hess an Wilhelm Ostwald, Berlin-Steglitz, 16.3.1912. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 1957: »Ich sprach dort vom philosophischen Kloster, verlegte es in einen neu buddhistischen Orden und zeigte einen jungen suchenden Schwärmer der dahin flüchtet.« 183 Ostwald: Die Monistischen Siedelungen, 172–175. Dazu auch Neef: Sozialenergetik und Menschenökonomie, 274–279. Jeder Bewohner musste eine einmalige Einzahlung leisten und verpflichtete sich zu 500 Arbeitsstunden jährlich. Dafür durften die Siedler kostenlos in Unesma wohnen. Zunächst verpflegten sich die Bewohner autark über landwirtschaftliche Erzeugnisse; als Einnahmequelle war langfristig ein Gasthaus auf dem Gelände geplant. Ebenso sollte die monistische Presse in Unesma hergestellt und gedruckt werden. 184 Ostwald: Kolonie Unesma, 49 f.; DMJ 2 (1913), 303. 185 Ebd., 50. 186 Ebd., 51. 187 Ostwald: Kolonie Unesma. In: DMJ 2 (1913), 862. 188 Riemann: Dummheit und Einsicht (8. Kap.), 8. 189 Ostwald: Lebenslinien III, 254.

298  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht

Abbildung 19: Die Amtsschreibermühle im Eisenberger Mühltal, die zeitweilige Monistische Siedlung »Unesma« (1913).

Nicht nur auf organisatorischer, sondern auch auf inhaltlicher Ebene war der Monismus ein zentraler Bezugspunkt für den Mutterschutzbund. Bereits während ihres Studiums Ende der 1890er Jahre kam Helene Stöcker mit den monistischen Schriften H ­ aeckels in Kontakt, wie sie in einer Festschrift zu Ehren ­Haeckels darlegte. Nach eigener Aussage hatte Stöcker die Natürliche Schöpfungsgeschichte ­Haeckels während ihres Studienaufenthalts in Glasgow gelesen. Bei einem Vortrag in Jena 1908 habe sie dann H ­ aeckel persönlich kennenlernen dürfen, der sich daraufhin sogar dem Mutterschutzbund anschloss und ihr eine signierte Ausgabe seiner Welträtsel zuschickte.190 In ihrem Beitrag ehrte sie H ­ aeckel als einen »großen Naturforscher, der lebenslang bemüht war, ›dem Knochengerüst der philosophischen Spekulation das Blut der Naturwissenschaft zuzuführen‹«.191 Ihre weltanschauliche Verbindung zum Monismus demonstrierte Stöcker im September 1911 auf dem Internationalen Monistenkongress in Hamburg, wo sie für eine »monistische Bewegung der Frauen« warb. Für sie bildete die monistische Weltanschauung die ideologische Grundlage für die Forderungen der radikalen Frauenbewegung. Der Mutterschutz sei

190 Ebd., 324 u. 326. 191 Schmidt (Hg.): Was wir Ernst ­Haeckel verdanken. Bd. II, 327.

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die Konsequenz der monistischen Anschauung auf einem der wichtigsten Lebens­ gebiete, in Liebe, Ehe, Elternschaft. Weil wir diese Probleme im Sinne der modernen Entwicklungslehre zu lösen versuchen, stehen wir in einem ähnlichen Kampf, wie der Monismus und dem gleichen Feinde gegenüber: dem Klerikalismus, der Heuchelei, der Reaktion jeder Art.192

Aus dem Zitat erkennen wir, dass Stöcker auf negativ konnotierte Begriffe wie »Klerikalismus« rekurrierte, die für die Feindbildkonstruktion des europäischen Freidenkertums typisch waren.193 Auch ihre Wiener Kollegin Grete Meisel-Hess erkannte eine geistige Verwandtschaft zwischen dem Monismus und der Frauenfrage; ihr zufolge schuf der Monismus eine »natürliche Betrachtung des Geschlechts- und Liebeslebens«, die notwendig für eine Neubestimmung weiblicher Identität war.194 Die durch den Monismus popularisierte Evolutionstheorie Darwins schuf eine naturwissenschaftliche Grundlage zur Neubestimmung der Geschlechterordnung und insbesondere der Frauenrolle in der Gesellschaft. Der Mechanismus der sexuellen Selektion (sexual selection) wies den weiblichen Tierarten eine Schlüsselfunktion in der Evolution zu, denn sie entschieden zum Zweck der Fortpflanzung über ihre männlichen Geschlechtspartner. Nur so konnte sich Darwin das bunte und üppige Federkleid bei einigen männlichen Vogelarten wie dem Pfau erklären, das (abgesehen vom Balzverhalten) kaum Sinn ergab: »The sight of a feather in a peacock’s tail, whenever I gaze at it, makes me sick!«, so hatten Darwins verzweifelte Worte an den amerikanischen Botaniker Asa Gray (1810– 1888) noch 1860 gelautet.195 Später erkannte Darwin, dass das üppige Federkleid des Pfaus eine Schlüsselfunktion in der sexuellen Auslese  – dem werbenden Vorspiel des Männchens bei der Paarung – hatte.196 Helene Stöcker berief sich auf Darwins Mechanismus der sexuellen Selektion, um die Bedeutung der Frau für die Evolution zu unterstreichen.197 Bemerkenswert jedoch ist, dass Stöckers Übertragung der sexual selection auf den Menschen dem ursprünglichen Narrativ Darwins widersprach. Denn Darwin hatte in seinem Werk eigens betont, dass der sexuelle Ausleseinstinkt der Tiere auf den Kulturmenschen nicht zutreffe, da er zivilisiert sei und einen freien Willen besitze. Gemäß Darwin waren es beim Menschen die Frauen, die sich schmückten, um den ästhetischen Vorlieben des

192 Rede v. Helene Stöcker, Bund für Mutterschutz. In: Bloßfeldt (Hg.): Der erste internationale Monistenkongreß, 46. 193 Vgl. Dittrich: Antiklerikalismus in Europa. 194 Meisel-Hess, Grete: Monismus und die Frau. In: Das Freie Wort 11 (1912), 79. 195 Darwin an Asa Gray, 3. April 1860, Darwin Correspondence Project, Bd. VII, 140. 196 Vgl. Darwin, Charles: The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex. London 1871. 197 Stöcker, Helene: Mutterschutz und Sexualreform. Ehe und Fortpflanzung. In: DMJ 2, Nr. 17 (1913), 461–466, hier 462.

300  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht Mannes zu entsprechen.198 Offenbar war sich Darwin bewusst, dass seine These des weiblichen Ausleseinstinkts eine Provokation für die patriarchale Gesellschaft des viktorianischen Englands darstellte, weshalb er für den Menschen eine Ausnahme formulierte. Interessant allerdings ist, dass Helene Stöcker Darwins Evolutionstheorien, die im Monistenbund popularisiert wurden, für ihre Emanzipationsforderungen instrumentalisierte und entsprechend modifizierte. Der Monistenbund stellte nicht nur evolutionsbiologische Argumente bereit, die Feministinnen für ihre Forderungen profilierten, sondern auch soziologische. Mit Begeisterung verwies Helene Stöcker auf das soziologische Werk Franz Müller-Lyers, dem Nachfolger Ostwalds. Wie schon gezeigt wurde, unterteilte Müller-Lyer verschiedene Gesellschaftsbereiche (Familie, Arbeitswelt, Kunst, Bildung, Wissenschaft und Wirtschaft) in Phasen und glaubte aus deren Vergleich allgemeine Entwicklungsgesetze der Kultur abzuleiten. Auch für das Thema Familie formulierte Müller-Lyer ein allgemeines Entwicklungsgesetz: Demzufolge habe sich die Familie von einem archaischen Stadium der Sippe, in dem die Blutsverwandtschaft im Vordergrund stand, in der Neuzeit zum emotionalen Familienverbund entwickelt. Das anbrechende 20. Jahrhundert werde, so Müller-Lyer, eine Phase der Persönlichkeit hervorbringen, in welcher der Staat die sozioökonomische Funktion der Familie übernehme und sich jeder Einzelne von seiner Familie zunehmend lösen werde.199 Stöcker deutete diese Phase als Anzeichen für die vollständige Emanzipation der Frau, da ihre Existenz nicht mehr von patriarchalen Familienstrukturen determiniert wurde und die Gesellschaft ihr die notwendigen Freiräume zur Entfaltung ihres Potentials bot.200 Die radikalen Feministinnen um Helene Stöcker teilten mit den Monisten noch eine zweite Gemeinsamkeit: Auch sie kämpften für ein neues Religionsverständnis. Helene Stöcker nutzte die Zeitschrift des Monistenbundes, um ihre Sichtweise von wahrer Religiosität darzulegen. Stöckers Gedanken zur Religiosität wurden durch die Amtsenthebung des evangelischen Pfarrers Jatho nach Verabschiedung des Irrlehregesetz 1911 veranlasst (vgl. Kap.II.3). Die Amtsenthebung Jathos wertete Stöcker als Indiz dafür, dass die evangelische Kirche – einst die »Kirche der Reformation« – nur noch wenig mit der wahren Religiosität der Menschen gemein hatte.201 Für sie waren Kirche und Religion 198 Endersby, Jim: Darwin on Generation, Pangenesis and Sexual Selection. In: Hodge, Jonathan / Radick, Gregory (Hg.): The Cambridge Companion to Darwin. 2. Aufl. Cambridge 2009, 73–95, hier 87–88. Zur Entwicklung der sexuellen Auslese bei Darwin, vgl. Richards, Evelleen: Darwin and the Making of Sexual Selection. Chicago, London 2017. Allgemein zur Theorie der sexuellen Auslese in der Entwicklungsbiologie des 19. Jahrhunderts, vgl. Milam, Erika Lorraine: Looking for a Few Good Males. Female Choice in Evolutionary Biology. Baltimore 2010. 199 Müller-Lyer: Phasen der Liebe, 143–169. 200 Stöcker, Helene: Mutterschutz und Sexualreform. Eine Soziologie der Liebe und Ehe. In: DMJ 2, Nr. 52 (1913/14), 1476–1481, hier 1481. 201 Stöcker: Kirche und Religiosität. In: Der Monismus 6, Nr. 63 (1911), 385–390, hier 387.

Natürliche Liebe  301

etwas Grundverschiedenes, weil Erstere auf »Dogmen- und Formelzwang« basierte, wohingegen Letztere auf Innerlichkeit und individuellem Gefühl beruhte. Der »moderne Gottesbegriff«, so Stöcker, erkenne »Gott nur im Innern des Menschen«. »Religiosität, religiöse Weihe und Hingebung« war ihr zufolge keineswegs an »kirchliche Institutionen« gebunden, sondern an die Freiheit des Christenmenschen, wie es Luther einst formuliert hatte.202 Nicht dem Jenseits, sondern der Menschheit sollte wahre Religiosität verpflichtet sein: »Unser Gottesdienst besteht in erster Linie im Dienst an der Menschheit und an der Kulturentwicklung in dem ewig-strebenden Bemühen, sowohl uns selbst wie die anderen zu immer höheren Stufen körperlicher und geistiger Entwicklung zu läutern.«203 Um die institutionelle Macht der Kirche zu schwächen, forderte Stöcker schließlich einen »Großblock der kulturellen Linken«.204 Ihre radikale Verneinung eines Jenseitsglaubens verleitete Stöcker dazu, die Neue Ethik zu einer »Lebensreligion« zu verabsolutieren. Mutterschutz und Sexualreform bedeuteten für sie eine »neue Weltanschauung, eine neue Religion, eine Erklärung des irdischen Daseins, nach dem wir die Hoffnung auf ein nachfolgendes himmlisches Dasein aufgegeben hatten.« Diese »neue Liebesreligion und -ethik« versuchte Stöcker, wie sie in ihren Lebenserinnerungen betonte, »durch unsere Arbeit zu verwirklichen, auch im persönlichen Leben, soweit das unvollkommenen Menschen gelingen kann.«205 Die Worte Stöckers unterstützen die eingangs aufgestellte These, dass die Monismusbewegung nicht nur Kirchenkritik übte, sondern aktiv an einem neuen Religionsverständnis arbeitete. Wie wir gesehen haben, fungierte der Monismus auf mehreren Ebenen als weltanschaulicher Bezugspunkt für den radikalen Feminismus um 1900: Einerseits stellte er evolutionsbiologische Theorien und Argumente bereit, um die Sexualität der Frau und ihre Rolle in der Gesellschaft neu zu bestimmen. Andererseits griff Stöcker auf die radikale Kirchenkritik des Monistenbundes zurück, um die christliche Sexualmoral zu delegitimieren und ihrer Vision von wahrer Religiosität Ausdruck zu verleihen. Die Auseinandersetzungen um die Grenzen der Religion waren also stets mit einer Suche nach einem neuen Religionsbegriff verbunden. Kritik am christlichen Ehe- und Sexualverständnis Das Thema Sexualität nahm in den theologischen Auseinandersetzungen des Christentums eine zentrale Rolle ein. Seit Augustinus war die christliche Ehe mit den Normen der Fortpflanzung, Treue und generellen Unauflösbarkeit ver 202 Ebd., 386 f. 203 Ebd., 390. 204 Ebd., 388. 205 Stöcker: Lebenserinnerungen, 125.

302  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht knüpft. Die Ehe bildete nach Augustinus die Verbindung Jesu mit der Kirche ab und war deshalb unauflöslich. Dieser Aspekt blieb besonders im katholischen Sakramentverständnis der Ehe wirksam. Darüber hinaus hatte die Sexualität in der augustinischen Tradition ein janusköpfiges Gesicht: Obwohl der eheliche Geschlechtsakt der Reproduktion und damit der christlichen Schöpfungsordnung diente, barg er stets die Gefahr der Sünde – durch die Verführung der zuchtlosen Begierde.206 Aufgrund dieser Gefahr befürwortete Augustinus die Ehelosigkeit und Jungfräulichkeit gegenüber der Ehe.207 Im eschatologischen Sinne sollte die Ehelosigkeit einen Vorgeschmack auf das ewige Leben ohne Sünde geben. Eben jenes »augustinische Erbe« hatte einen enormen Einfluss auf das Ehe- und Sexualverständnis späterer Kirchenväter. In Abgrenzung zu Augustinus rehabilitierten die Reformatoren den Wert des Ehelebens gegenüber dem Zölibat.208 Besonders die Vorstellungen von sündhaftem Körper und fleischlicher Lust nahm der Mutterschutzbund zum Anlass, mit der christlichen Sexualmoral ins Gericht zu gehen. Das Einheitsdenken des Monismus bildete für Feministinnen einen zentralen Bezugspunkt für ihre Kritik am dualistischen Sexualverständnis des Christentums, das zwischen reiner Seele und sündhaftem Körper unterschied.209 »Wir lehnen es daher ab, Körper und Geist des Menschen in einen Gegensatz zueinander zu stellen. Wir wollen nicht, daß die natürliche geschlechtliche Anziehung zur ›Sünde‹ gestempelt, die ›Sinnlichkeit‹ als etwas Niederes oder Tierisches bekämpft, die Ueberwindung des ›Fleisches‹ zum Prinzip der Sittlichkeit erhoben werde!«, hieß es in den Richtlinien des Mutterschutzbundes.210 Aus Sicht der Sexualreformer war die christliche Moral dafür verantwortlich, dass Sexualität mit dem Sündhaften, Dämonischen und Selbstsüchtigen assoziiert wurde und Menschen ein unnatürliches Verhältnis zu ihrem Körper entwickelten.211 Der lebens- und lustfeindlichen Sexualmoral der Kirchen stellte der Mutterschutzbund eine lebensbejahende, evolutionäre und ganzheitliche Sichtweise auf Sexualität und Liebe gegenüber. Die Hauptaufgabe der Neuen Ethik bestünde darin, so Stöcker 1905, die Sexualität von Vorstellungen der Sünde zu befreien und als ein natürliches Phänomen zu begreifen: »Wir werden, wenn wir selber 206 Banner, Michael: Art. Sexualität II. In: TRE 31 (2000), 195–214, hier 197. Grundlegend zur Geschichte der christlichen Sexualethik, vgl. Brown, Peter: The Body and Society. Men, Women and Sexual Renunciation in Early Christianity. New York 1988; Harper, Kyle: From Shame to Sin. The Christian Transformation of Sexual Morality in Late Antiquity. Cambridge, MA 2013; Knust, Jennifer Wright: Abandoned to Lust. Sexual Slander in Ancient Christianity. New York 2005. 207 Banner: Art. Sexualität, 197–198. 208 Ebd., 203 f. 209 Vgl. Dickinson: Reflections on Feminism, 215. 210 »Richtlinien« des Deutschen Bundes für Mutterschutz. In: NG 18, Nr. 9 (1922), 383–388, hier 383. 211 Dickinson: Sex, Freedom, and Power, 198.

Natürliche Liebe  303

uns nicht mehr schmutzig und sündig fühlen, auch unsere Kinder die geheimnisvolle Schönheit der Menschwerdung lehren können, sich als einen Teil des großen Ganzen der Natur zu fühlen, das ewige Werden, die Schöpfer- und Schaffenslust überall in der Natur zu spüren.«212 Den Machteinfluss der Kirche auf das Sexualleben der Gläubigen führte Stöcker zum einen auf das Druckmittel der Beichte zurück, die bis in die Privatsphäre vordrang; zum anderen auf den »Zeugungs- und Gebärzwang« der Frau, den das christliche Familienideal propagierte.213 Stöcker machte in ihren Schriften keinen Hehl daraus, dass sich ihre Kritik primär gegen Papsttum und Katholizismus richtete. Dass gerade die katholische Kirche in den Veröffentlichungen des Mutterschutzbundes zur Projektionsfläche der Religionskritik wurde, hatte mehrere Gründe: Zum einen ließen sich patriarchale Machtverhältnisse anhand der streng hierarchischen Struktur der katholischen Kirche besonders gut abbilden. Zweitens hatten Frauen in der Organisationsstruktur der katholischen Kirche nur begrenzte Handlungsspielräume und drittens stand das im Katholizismus geforderte Zölibat von Geistlichen sinnbildlich für die Lustfeindlichkeit der christlichen Moraltheologie. Ein wichtiger Impulsgeber für eine evolutionäre Reinterpretation der Sexualität war der monistische Autor Wilhelm Bölsche. In seinem Bestseller Das Liebesleben in der Natur (1898) erhob Bölsche den Sexualtrieb zur schöpferischen Kraft der Natur schlechthin.214 ­Haeckels biogenetisches Grundgesetz, welches besagte, dass der Embryo im Mutterleib die verschiedenen Stadien der Evolution durchwandert, veranlasste Bölsche dazu, den Menschen als die Summe aller früheren Lebensformen zu betrachten.215 Durch die »ungeheure Weltenkraft der Liebe, der Zeugung, des ewigen Gebärens und Werdens«, so Bölsche, hätten sich die »Urwesen« der Natur bis zum Menschen hinaufentwickelt.216 Das ewig sich wiederholende Prinzip der Zeugung führe zur Ausdifferenzierung, Höherentwicklung und letztlich Vervollkommnung der Natur. Sogar die Sonne folgte dem Prinzip von Befruchtung und Zeugung, so Bölsche, da sie von dem männlichen Planetensystem befruchtet werde und die Erde mit Licht und Energie versorge.217 An die Stelle des Schöpfergottes setzte Bölsche die von Sexualität getriebene schöpferische Natur. 212 Stöcker: Reform der sexuellen Ethik, 6. 213 Stöcker, Helene: Monistische Kulturarbeit. Mutterschutz und Sexualreform. In: DMJ 2, Nr. 1 (1913), 13–18, hier 15. 214 Zu Wilhelm Bölsches literarischen Monismus um 1900, vgl. Fick, Monika: Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende. Tübingen 1993. 215 Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Eine Entwickelungsgeschichte der Liebe. Jena, Florenz 1898, 61. 216 Ebd., 6. Ebenfalls dazu, vgl. Fick: Sinnenwelt und Weltseele, 60 f.; Dickinson: Sex, Freedom and Power, 199. 217 Vgl. Bölsche: Liebesleben in der Natur; Dickinson: Reflections on Feminism, 208.

304  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht Anhänger des Mutterschutzbundes untermauerten ihre evolutionäre Deutung der Sexualität auch durch ethnologische Vergleiche mit angeblich primitiven »Naturvölkern«, in denen frühere Stufen menschlicher Sexualität zutage traten.218 Dies zeigte sich im »Orient« ihnen zufolge daran, dass Frauen stärker unterdrückt, Kinder verheiratet und martialische Bräuche wie die hinduistische Witwenverbrennung (Sati) durchgeführt wurden.219 Der kulturelle Vergleich mit vermeintlich rückständigen Naturvölkern diente der Selbstvergewisserung zivilisatorischer Überlegenheit und unterstützte das Narrativ des Mutterschutzbundes, dass die Sexualität evolutionären Gesetzen gehorchte. Gleichzeitig machte der Vergleich mit fremden Zivilisationen (wie z. B. Asien) auf die Pluralität sexueller Normen und Praktiken aufmerksam und stellte die herrschende Sexualmoral des Westens infrage.220 Der zweite Kritikpunkt des Mutterschutzbundes am christlichen Sexual­ verständnis zielte auf die Doppelmoral der Kirche in der Bewertung von weiblicher und männlicher Sexualität. Ausgehend von dem alttestamentarischen Sündenfall habe das Christentum die Sexualität der Frau – analog zu Eva – mit fleischlicher Verführung und sündhafter Natur identifiziert.221 Gerade die christliche Lehre von der Erbsünde habe ein negatives Bild von Mutterschaft und weiblicher Sexualität kreiert, so Stöckers Vorwurf.222 Dem gegenüber hoben Feministinnen die Relativität und Perspektivität von vermeintlich unumstößlichen Moralvorstellungen hervor, indem sie sich auf Nietzsches Credo von der »Umwertung aller Werte« beriefen.223 Die Kritik an der Doppelmoral der katholischen Kirche tauchte auch bei Wortführern der Monismusbewegung auf. Häufig lautete ihr Vorwurf, dass die kirchlichen Würdenträger ihre eigenen moralischen Standards, wie z. B. das Keuschheitsgelübde, missachteten: »Die Klöster, die Asyle der Keuschheit und Zucht, wurden bald die Brutstätten der tollsten Orgien; der sexuelle Verkehr der Mönche und Nonnen erzeugte massenhaft Novellen, wie sie die Literatur der 218 Leng, Kirsten: Culture, Difference, and Sexual Progress in Turn-of-the-Century ­Europe. Cultural Othering and the German League for the Protection of Mothers. In: Journal of the History of Sexuality 25/1 (2016), 62–83. 219 Wiese, Leopold von: Die Sexualordnung Indiens und das Problem ihrer Reform. In: NG 9, Nr. 7 (1913), 339–361. 220 Leng: Culture, Difference, and Sexual Progress, 83. Beispielhaft sei genannt: Berkusky, Hans: Die sexuelle Moral der Naturvölker. In: NG 6, Nr. 8 (1910), 307; Theilhaber, Felix: Die Geburtenbeschränkung im Altertum und bei den Naturvölkern. In: NG 9, Nr. 4 (1913), 184–190; Stöcker, Helene: Liebe und Ehe in der Türkei. In: NG 5, Nr. 5 (1909), 171–178. 221 Dickinson: Reflections on Feminism, 210. 222 Stöcker: Die Ziele der Mutterschutzbewegung (1905). In: Dies.: Liebe und die Frauen, 174–175. 223 Stöcker: Unsere Umwertung der Werte. In: Dies.: Liebe und die Frauen, 14–15. Nietzsches Ausdruck von der »Umwertung aller Werte« zielte auf die Historizität und Relativität von sozialen Werten und Normen.

Natürliche Liebe  305

Renaissance sehr naturwahr geschildert hat«, schrieb ­Haeckel 1899 in seinen Welträtseln.224 Helene Stöcker sah in der Haltung der katholischen Kirche zur Prostitution ein Indiz für deren Doppelmoral und Heuchelei in sexuellen Fragen. Die jahrhundertelange Existenz der Prostitution verdeutlichte ihrer Ansicht nach, dass die christlich-bürgerliche Ehe in dem Anspruch gescheitert war, das Geschlechtsleben von Mann und Frau zu befriedigen.225 Stöckers Kritik richtete sich insbesondere an die katholische Kirche, da sie einerseits über Jahrhunderte hinweg die Prostitution als unvermeidliches Übel tolerierte, andererseits die schwersten »Ächtungen und Verfemungen« gegenüber denjenigen äußerte, die ein »Liebesleben« außerhalb der christlichen Ehe führten.226 Mehr noch: Der katholische Klerus, so Stöcker, habe sich in seiner Geschichte selbst mehrfach der Prostitution bedient und die Machtposition des Mannes durch die Institution der christlichen Ehe gestärkt.227 In einem Artikel, der 1907 im DMB -Organ erschien, geißelte sie die »unbelehrbare Pharisäerhaftigkeit« und »hochmoralische Verlogenheit« der katholischen Kirche in sexuellen Fragen: Die Kirche dagegen, die den Kampf gegen Bordellwesen, Mädchenhandel und alle Art tiefer Unsittlichkeit viel energischer hätte führen können, läßt diese Einrichtung geduldig als ›notwendiges Übel‹ bestehen, um ihre ganze sittliche Entrüstung auf die verhältnismäßig unschuldigen Liebespaare zu werfen, die sich erlauben, schon vor der standesamtlichen Trauung mit einander zu verkehren.228

Allerdings war die Haltung der kaiserzeitlichen Frauenbewegung zur Prostitution keineswegs einheitlich: Trat der radikale Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung für die Abschaffung der staatlichen Reglementierung der Prostitution ein, so forderten die gemäßigten Feministinnen ein generelles Verbot der Prostitution und eine strafrechtliche Verfolgung von Freiern.229 Mediziner und Sexualwissenschaftler plädierten hingegen für eine »Assanierung« der Bordelle durch medizinische Kontrollen, um der Verbreitung von Geschlechtskrankheiten entgegenzuwirken. Abolitionistinnen deuteten diesen Vorschlag wiederum als »männlichen Egoismus«, da die Assanierung zwar die gesundheitlichen Folgen der Prostitution eindämmen, jedoch nicht deren Ursachen beheben konnte.230 224 ­Haeckel: Welträtsel, 392. 225 Vgl. Zur Neuen Ethik und Prostitution, vgl. Stöcker: Lebenserinnerungen, 294–308. 226 Stöcker, Helene: Mutterschutz und Sexualreform. In: DMJ 2, Nr. 1 (1913), 13–18, hier 16. 227 Stöcker, Helene: Mutterschutz und Sexualreform. Von der Ehe. In: DMJ 2, Nr. 9 (1913), 237–242, hier 237. 228 Stöcker, Helene: Alte und neue Geschlechtsmoral. In: Bd DMB 2, Nr. 17 (1907), 241–250, hier 249. 229 Stöcker: Lebenserinnerungen, 294–297. 230 Zu dieser Debatte, vgl. Wobbe, Theresa: Gleichheit und Differenz. Politische Strategien von Frauenrechtlerinnen um die Jahrhundertwende. Frankfurt am Main, New York 1989, 88–97.

306  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht Helene Stöcker schlug indessen einen alternativen Weg vor: Weder Reglementierung noch Verbot, sondern allein ein liberaler Umgang mit Sexualität konnte aus ihrer Sicht das Problem der Prostitution lösen.231 Ihre österreichische Mitstreiterin Grete Meisel-Hess führte das Problem der Prostitution dagegen auf die Tatsache zurück, dass Frauen und Männern in der Gesellschaft keine Sexualität außerhalb der Ehe zugestanden wurde. Die »Verbannung« jeglicher Form von Liebe, Zuneigung und Erotik aus dem öffentlichen Leben treibe Menschen »auf die Nachtseite der Prostitution, wo alles Verdrängte sich dann in exzessiven Orgien austobt.« Stattdessen sprach sich Meisel-Hess für eine »neue erotische Kultur« aus, die die weibliche und männliche Sexualität in vielfältiger Form anerkannte.232 Der dritte Kritikpunkt betraf die ökonomische Abhängigkeit der Frau in der christlichen Ehe. Die Institution der Ehe, wie Stöcker argumentierte, verfestige patriarchale Machtstrukturen in der Gesellschaft, weil sie die Rolle der Frau auf ihre Mutterschaft reduziere und diese materiell vom Mann abhängig mache. Auf provokative Weise stellte Stöcker 1905 einen Vergleich zwischen der ökonomischen Abhängigkeit der Frau in der bürgerlichen Ehe und der Prostitution her: »Man muß es sich einmal klar machen, was es bedeutet, daß bisher sowohl in der Ehe wie in der Prostitution, wie in den sogenannten ›Verhältnissen‹ das sexuelle Leben mit dem Geld verquickt ist. Fast immer war die Frau der pekuniär anhängige Teil.«233 Wie heikel die öffentliche Kritik an der bürgerlichen Ehe im Kaiserreich war, bezeugt ein Brief Friedrich Naumanns (1860–1919) an Helene Stöcker aus dem Jahr 1905. Zwar stimmte er weitgehend mit den emanzipatorischen Forderungen Stöckers überein, zeigte jedoch Vorbehalte gegenüber einem öffentlichen Bekenntnis zur Neuen Ethik. Zu sehr bringe man sich in Verdacht, die »Ehe selber anzugreifen«, so Naumann: »Ich kann es mir nicht leisten, diese Kritik öffentlich zu üben, ich würde damit mein Reichstagsmandat und damit meine ganze politische Arbeit gefährden.«234 Stöckers Kritik an der christlichen Sexualmoral barg noch einen weiteren Grund, der eine evolutionsbiologische Wurzel hatte: Der Einfluss von konfessionellen, familiären und ökonomischen Zwängen auf Ehe und Partnerschaft habe, so ihr Vorwurf, den sexuellen Ausleseinstinkt der Frau »durchkreuzt«, gar pervertiert.235 Eine natürliche Beziehung könne nur dann entstehen, wenn beide Partner ohne äußere Zwänge und auf Basis ihrer sexuellen Instinkte zueinander fänden. Ähnlich argumentierte ihre österreichische Mitstreiterin Grete Meisel-Hess 1914. Ihr zufolge habe die »Einpferchung der Auslese ins Institut 231 Zum Prostitutionsproblem, vgl. Stöcker: Lebenserinnerungen, 294 f. 232 Meisel-Hess, Grete: Von Liebe und Liebesfreundschaft. In: NG 10 (1914), 248–258, hier 254. 233 Stöcker: Zur Reform der sexuellen Ethik, 116. 234 Zit. n. Stöcker: Lebenserinnerungen, 115. 235 Stöcker: Mutterschutz und Sexualreform. Ehe und Fortpflanzung, 462 f.

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der Ehe« dazu geführt, »daß heute so wenig Menschen für einander das ideale Komplement repräsentieren.«236 Stöckers Argumentation für den weiblichen Selektionsinstinkt konterkarierte implizit ihre Ideale von Freiheit und Verantwortung. Wie frei war der Mensch tatsächlich, wenn er von seinen sexuellen Trieben gesteuert wurde? Dass Stöckers Instinktbegriff äußerst ambivalent war, zeigte sich in ihrer Rezeption der Soziologie Müller-Lyers. In seinen soziologischen Studien über die Phasen der Liebe und die Familie ging Müller-Lyer davon aus, dass die sozioökonomische Bedeutung von »geneonomischen Erscheinungen« (wie Verwandtschaftsverhältnissen und Familienverbünden) mit dem Fortschritt der Zivilisation zugunsten staatlicher Organisation verdrängt werde.237 Am Ende dieser Entwicklung stand ihm zufolge die freie, materiell unabhängige Persönlichkeit, die ihr Potential in den Dienst der Kultur stellte. Das Entwicklungsgesetz der Kultur hatte einen weiteren Nebeneffekt: Der Kulturfortschritt brachte nach Müller-Lyer eine zunehmende Vergeistigung und Versittlichung der Gesellschaft hervor, indem der Mensch seine tierischen Atavismen überwand  – so auch seine urzeitlichen Triebe: »Mit wachsender Kultur werden eben die ursprünglich biologisch angelegten, rein animalischen Sexualinstinkte von einem immer reicher werdenden Vorstellungsleben überlagert, und das Geschlechtsleben wird infolgedessen von einer zunehmenden Durchgeistigung durchdrungen«, schrieb Helene Stöcker.238 Obwohl Stöcker die Bedeutung des weiblichen Ausleseinstinkts für die Partnerwahl betonte, beharrte sie auf einer »Durchgeistigung« des Geschlechtslebens, weil sie diese als Indiz einer zunehmenden Zivilisierung der Menschheit wertete. In ihren Schriften präsentierte Stöcker also ein Menschenbild, das zwischen triebhaftem Naturwesen und vergeistigtem Kulturwesen oszillierte. Gegenüber dem christlichen Sakrament der Ehe propagierte der Mutterschutzbund die »freie Ehe« oder »Gewissensehe«. Diese sollte nicht mehr per Gesetz oder kirchlicher Trauung legitimiert werden, sondern allein durch das moralische Verantwortungsgefühl beider Partner füreinander. »Das Merkmal sollte nicht die Legitimität, die äußere Legalisierung, die staatliche oder kirchliche Sanktion sein, sondern wir haben die sittliche Beurteilung der seelischen Realitäten, den sittlichen Willen zur Dauer über die formale, juristische Beurteilung gestellt«, so Stöcker 1913.239 In diesem Kontext betonte sie, dass der 236 Meisel-Hess: Von Liebe und Liebesfreundschaft, 251. Zum Instinktbegriff bei Meisel Hess, vgl. Omran, Susanne: Weib und Geist um 1900. Intellekt, Rasse und Instinkt in den Schriften Grete Meisel-Hess. In: Die Philosophin. Forum für feministische Theorie und Philosophie 10 (1999), 11–35. 237 Stöcker, Helene: Eine Soziologie der Liebe und Ehe (Schluß). In: DMJ 3, Nr. 4 (1914/15), 89–96, hier 95. Müller-Lyer, Franz: Die Familie. München 1912, 5–6; Ders.: Phasen der Liebe. 238 Stöcker: Soziologie der Liebe und Ehe (Schluß), 96. 239 Stöcker: Mutterschutz und Sexualreform. Von der Ehe, 240.

308  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht Mutterschutzbund für ein säkulares, auf Gewissen beruhendes Verständnis von Ehe eintrete: Der Begriff der Ehe als eines ›Sakramentes‹ eines heiligen und heiligenden Bandes, das zwei Menschen zur tiefsten Lebensgemeinschaft zur Treue in guten und bösen Tagen einen soll, den wollen wir aufs neue für unser Leben erringen. Nur daß wir das Heiligende nicht mehr aus dem Munde eines Priesters, sondern aus unserer eigen­sten Kraft zur Lebensgestaltung, aus der innersten Gesinnung unserer Herzen empfangen […].240

Das Zitat zeugt davon, wie sehr der Mutterschutzbund darum bemüht war, christlich besetzte Begriffe wie Ehe, Liebe und Gewissen neu zu definieren. Dabei war das christliche Eheverständnis keineswegs einheitlich: Seit dem Konzil von Trient (1545–1563) entsprach die Ehe im Katholizismus einem Sakrament und war gemäß dem kanonischen Recht unauflöslich. Im Protestantismus erlangte die Ehe keinen sakramentalen Status, so dass die Scheidung in der evange­ lischen Theologie grundsätzlich möglich war. Dennoch hielt das protestantische Scheidungsrecht des 19. Jahrhunderts eine Wiederverheiratung des schuldigen Ehegatten für unzulässig. Die Landeskirchen konnten jedoch im späten 19. Jahrhundert nur begrenzten Einfluss auf die Scheidungspraxis ausüben, weil das Eherecht nun der weltlichen Rechtsprechung unterlag.241 Die Tatsache, dass Helene Stöcker die Ehe als ein Sakrament bezeichnete, verweist erneut auf den antikatholischen Impetus ihrer Religionskritik. Zugleich zeugen ihre Worte von dem Versuch, ein neues Eheverständnis zu begründen, das auf individuellem Gewissen (und nicht auf religiöser Legitimation) aufbaute. Indem Frauenrechterinnen christliche Begriffe wie Liebe, Ehe und Gewissen säkular reinterpretierten und mit monistischen bzw. biologistischen Deutungsmustern verknüpften, stellten sie das Deutungsmonopol der Kirchen infrage. Insofern bestand ein Großteil der Säkularitätskämpfe, die von Monisten und Feministinnen geführt wurden, in einem Ringen um Sprache. Freiheit und Verantwortung Nicht nur rechte und konservative Denker im Kaiserreich standen eugenischen Theorien nahe, sondern auch Vertreterinnen der radikalen Frauenbewegung, die größtenteils dem linken politischen Spektrum angehörten. Der britische Anthropologe Francis Galton (1822–1911) führte 1869 den Eugenikbegriff ein und beschrieb hiermit die Übertragung von Vererbungstheorien auf die Bevölkerungs-, 240 Ebd., 242. 241 Jackson, B., Landmesser, C., George, M., Gruber, H., Petzolt, M., Pirson, D., Nave-Herz, R., Kreß, H. and Browning, D. S.: »Ehescheidung«, in: RGG. URL: http://dx.doi.org.emedien. ub.uni-muenchen.de/10.1163/2405-8262_rgg4_COM_04069 [aufgerufen am: 28.3.2020].

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Sozial- und Gesundheitspolitik.242 Auf der Basis von statistischen Methoden sprach sich Francis Galton für eine staatlich gelenkte Reproduktion aus, die vor allem die Vermehrung der oberen Schichten begünstigen sollte, denen er eine höhere körperliche und mentale fitness zuschrieb.243 Die Eugenik um 1900 war keine in sich geschlossene Wissenschaft, sondern speiste sich aus heterogenen Ansätzen der Vererbungslehre, Anthropologie, Bevölkerungsstatistik, klinischen Medizin und Psychologie. Vor und besonders nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Eugenikdiskurs durch die Debatte um eine sinkende Geburtenrate und die mit ihr verbundene Angst vor Degeneration befeuert.244 Der Einfluss eugenischer Denkmuster im radikalen Feminismus hat die Forschung bis in die 1970er Jahre dazu verleitet, diesen im Sinne der deutschen Sonderwegthese zu interpretieren: Man ging davon aus, dass die linksliberalen und emanzipatorischen Leitideen der radikalen Frauenbewegung zunehmend in den Sog der Eugenik und Rassenhygiene gerieten und dadurch korrumpiert wurden. Insofern wurde die radikale Frauenbewegung in einer Kontinuitätslinie hin zur nationalsozialistischen Rassenideologie verortet.245 Seit den 1990er Jahren nahm die Forschung hingegen bewusst Abstand von einer »accusatory history« des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, wie Atina Grossmann betonte. Zwar waren eugenische Ideen schon vor 1933 in Europa und den USA weit verbreitet, dennoch markierte die Machtübernahme der Nationalsozialisten »a profund and irrevocable break« in der Geschichte der deutschen Gesundheits-, Sozial- und Familienpolitik.246 Daran anknüpfend hat die jüngere Forschung wiederholt auf die Wirkmacht eugenischer Ideen im gesamten politischen Spektrum des Kaiserreichs verwiesen und gezeigt, 242 Die Eugenik um 1900 kann als Beispiel der »Horizontalisierung« des Vererbungsdiskurses im 19. Jahrhundert gelten, da sie sich auf die Gesamtbevölkerung bezog und eine Langzeitperspektive einnahm. Ältere, aus dem 18. Jahrhundert stammende Vererbungskonzepte betonten die diachrone, lineare und generationelle Vererbung zwischen Vor- und Nachfahren. Darwins Entwicklungslehre bezog sich hingegen auf Tausende von Generationen und hob die synchrone Weitergabe bestimmter Dispositionen, die sich evolutionär durchsetzen, hervor. Vgl. Rheinberger / Wille: Cultural History of Heredity, 38 f. 243 Vgl. Galton, Francis: Eugenics. Its Definition, Scope and Aims. In: The American Journal of Sociology 10/1 (July 1904), 1–6; Tanner, Jakob: Eugenics before 1945. In: Journal of Modern European History 10/4 (2012), 458–479. 244 Vgl. Weindling, Paul: The »Sonderweg« of German Eugenics. Nationalism and Scientific Internationalism. In: BJHS 22 (1989), 321–333, hier 324; Ders.: Health, Race and German Politics. 245 Richard Evans unterscheidet in seiner Studie zur kaiserzeitlichen Frauenbewegung zwei Phasen des BfM: Begann der BfM vor 1908 als eine linksliberal ausgerichtete Organisation, so habe er nach 1908 einen konservativen Wandel vollzogen. Zunehmend habe sich der Bund rassehygienischen und sozialdarwinistischen Ideen verschrieben. Vgl. Evans, Richard: The Feminist Movement in Germany 1894–1933. London 1976, 131 u. 138 f. 246 Grossmann, Atina: Reforming Sex. The German Movement for Birth Control and Abortion Reform, 1920–1950. New York 1995, vi–viii.

310  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht dass diese Allianzbildungen über Partei- und Ländergrenzen hinweg ermöglichten.247 Eugenische Diskurse konnten dabei sowohl für nationalistische als auch für liberale und sozialistische Ziele vereinnahmt werden.248 Todd Weir hob in diesem Kontext für den Mutterschutzbund hervor: »›Left‹ and ›right‹ eugenics rubbed shoulders, often quite literally, as shown, for example, in the brief participation of leading eugenicist Alfred Ploetz in Helene Stoecker’s feminist Mothers’ Protection Society«.249 Ebenso pflegten Ernst H ­ aeckel sowie dessen Schüler Heinrich Schmidt und Wilhelm Bölsche enge Kontakte zu Alfred Ploetz; ­Haeckel beglückwünschte Ploetz 1904 sogar zu seinem neu begründeten Archiv für Rassenhygiene.250 Die Schriften des Mutterschutzbundes liefern zahlreiche Beispiele dafür, dass radikale Feministinnen eugenische und biologistische Diskurse mit emanzipatorischen Forderungen verbanden.251 Radikale Feministinnen waren keine passiven Rezipientinnen eugenischer Theorien um 1900, sondern aktive Mitgestalterinnen derselben, wie Ann Taylor Allen betont.252 So erklärte Helene Stöcker 1910, dass der Mutterschutzbund die »Probleme der Höherentwicklung« des Menschen »durch biologische und sozialpolitische Maßnahmen« zu lösen versuche.253 Noch deutlichere Worte wählte sie in ihren Lebenserinnerungen: »Was die Ziele der Bewegung [des BfM, C. L.] betraf, so war für mich persönlich der Einfluß stark maßgebend, den ich durch die Eugenik empfangen hatte.«254 Ihr Kollege Max Rosenthal fasste die rassenhygienischen Ziele der Neuen Ethik wie folgt zusammen: Immer mehr bricht sich die Erkenntnis Bahn, daß eine gesunde, zielbewußte Gattungsfortpflanzung ebensowohl im rassenhygienischen wie wirtschaftlichen Interesse der Nation gefordert werden muß; daß diese den mächtigsten Faktor sowohl im 247 Schwartz, Michael: Sozialistische Eugenik. Eugenische Sozialtechnologien in Debatten und Politik der deutschen Sozialdemokratie 1890–1933. Berlin 1995. Zur demokratischen Konzeption von Eugenik, vgl. Repp, Kevin: Reformers, Critics, and the Paths of German Modernity. London 2000, 128–142. 248 Dickinson: Reflections on Feminism, 202. 249 Weir: Riddles of Monism, 21. Tatsächlich war Ploetz Mitglied im Gründungsausschuss des BfM, nahm später allerdings Abstand zum Mutterschutzbund. 250 Weindling: Health, Race and German Politics, 132. 251 Zum Eugenikdiskurs im Mutterschutzbund, vgl. Hein, Martina: Die Verknüpfung von emanzipatorischem und eugenischem Gedankengut bei Helene Stöcker. Diss. Univ. Bremen 1998; Herlitzius, Annette: Frauenbefreiung und Rassenideologie. Rassenhygiene und Eugenik im politischen Programm der »Radikalen Frauenbewegung« (1900–1933). Wiesbaden 1995, 169–280; Omran, Susanne: Frauenbewegung und »Judenfrage«. Diskurse um Rasse und Geschlecht nach 1900. Frankfurt am Main, New York 1999, 374–435. 252 Allen, Ann Taylor: Feminism and Eugenics in Germany and Britain, 1900–1940: A Comparative Perspective. In: German Studies Review 23/3 (2000), 477–505, hier 482. 253 Stöcker, Helene: An unsere Leser. In: NG 6 (1910), 1. 254 Stöcker: Lebenserinnerungen, 125. Hervorhebung im Original.

Natürliche Liebe  311

Wettbewerb der Individuen wie der Völker als auch für die höhere Entwicklung der Menschheit bildet.255

Aus diesen Zielen leitete Rosenthal die Forderung nach »Gesundheitsattesten« vor der Eheschließung und der Einführung einer »reichsgesetzliche[n] Mutterschaftsversicherung« ab.256 In Stöckers Ideal der »modernen Ehe« trafen zwei spannungsreiche Prinzipien aufeinander: die Ideale von Freiheit und reproduktiver Verantwortung.257 Einerseits betonten Feministinnen und Sexualreformerinnen den freien Umgang mit Liebe und Sexualität, während sie andererseits für eine Regulierung der Reproduktion (in Form eugenischer Maßnahmen) Partei ergriffen.258 Sexualreformerinnen waren überzeugt, dass nur ein in Freiheit lebendes Individuum seinen natürlichen Fortpflanzungsinstinkten folgen und eine erfüllte Sexualität ausleben könne.259 Äußere Zwänge, die durch den Einfluss von Kirche, Konfession, Herkunft und ökonomischen Abhängigkeitsverhältnissen entstanden, glaubten sie, würden den natürlichen Ausleseinstinkt der Frau durchkreuzen und letztlich unnatürliche Beziehungen hervorbringen: »Die selbsttätige Frau, die frei im Leben, auch im Berufsleben steht, die hat auch wieder die sexuelle Auslese in der Hand, und einzig hier liegt, so scheint mir, der Schwerpunkt der ganzen Frauenbewegung«, verkündete Grete Meisel-Hess 1911.260 Der Ausdruck der freien Liebe, wie ihn Helene Stöcker und Ellen Key vertraten, stand nicht für hedonistische Zügellosigkeit, sondern für das Zusammenspiel der sinnlichen und geistigen Zuneigung zweier Menschen zueinander.261 Nur in freier Liebe, so Stöckers Überzeugung, konnten sich beide Partner zu ebenbürtigen Persönlichkeiten entwickeln.262 Gegenüber dem Ideal der Freiheit war das der Verantwortung deutlich von eugenischen Denkmustern geprägt: Sollten Beziehungen einerseits aus freien Stücken entstehen, so trugen beide Partner andererseits eine Verantwortung für das Fortbestehen der Gattung Mensch.263 Mit Blick auf die Doppelfunktion der modernen Ehe hob Stöcker 1913 hervor, die Ehe

255 Rosenthal, Max: Neue Ethik. In: NG 6 (1910), 225. 256 Ebd., 226. 257 Dickinson: Reflections of Feminism, 219–222. 258 Omran: Das Monistische Jahrhundert, 45. 259 Dickinson: Reflections on Feminism, 219. 260 Meisel-Hess, Grete: Mutterschutz als soziale Weltanschauung. In: NG 7 (1911), 150–159, hier 154. 261 Arni: Seelengesetze mit Gesellschaftswert, 202. 262 Zu Stöckers Liebesethik, vgl. Arni: Entzweiungen, 58–59; Dies.: Seelengesetze mit Gesellschaftswert, 202 f. 263 Omran: Das Monistische Jahrhundert, 45.

312  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht soll einmal dem Bedürfnis nach innigster körperlicher und seelischer Gemeinschaft der Individuen dienen, und sie soll andererseits die besten Vorbedingungen für das Gedeihen einer neuen Generation schaffen. […] So ist die Beherrschung der Fortpflanzung durch die menschliche Erkenntnis ein Schritt von außerordentlicher Bedeutung.264

Die moderne Ehe, so Stöcker, habe die Aufgabe, nicht allein zur Fortpflanzung beizutragen, sondern zu einer »Höherentwicklung der Gattung«, einer »bewußten Rassenveredelung«.265 Andernorts sprach sie sogar von einer »Qualitätszüchtung«, die es in Zeiten eines allgemeinen Geburtenrückgangs anzustreben gelte.266 Sie war überzeugt, dass man mithilfe der Eugenik die zukünftige Entwicklung der Gattung Mensch steuern könne: Die Zeugung eines neuen Menschen dürfe man nicht mehr dem »blinden Zufall« und »dumpfen Affekten« überlassen, forderte Stöcker, sondern müsse sie dem »bewußten Willen zur Höherentwicklung« unterstellen.267 Somit verwundert es kaum, dass der Satz aus Nietzsches Also sprach Zarathustra »Nicht nur fort euch zu pflanzen, sondern hinauf – dazu, oh meine Brüder, helfe euch der Garten der Ehe!« zum Leitmotto radikaler Feministinnen avancierte.268 Aus dem Ideal der Verantwortung leitete Stöcker eugenische Maßnahmen ab, die sie mit dem Monistenbund teilte: So verlangte der Monistenbund 1912 in einer Petition an den Reichstag die verpflichtende Einführung von Gesundheitsattesten bei Eheschließungen, um Erb- und Geschlechtskrankheiten vorzubeugen – diese Forderung hatte der BfM bereits 1907 gestellt.269 Wenngleich die eugenischen Forderungen radikal anmuten, präferierte Stöcker im Unterschied zu rechten Rassehygienikern sexuelle Aufklärung und Bildungsangebote gegenüber staatlichen Zwangsmaßnahmen.270 Ihr ging es mehr um ein ethisches Pflichtbewusstsein gegenüber dem Fortbestand der menschlichen Gattung als um eine biopolitische Regulation.271

264 Stöcker: Mutterschutz und Sexualreform. Ehe und Fortpflanzung, 462 f. 265 Ebd., 463. 266 Stöcker: Geburtenrückgang und Weltanschauung, 906. 267 Stöcker, Helene: Vom IV. Neumalthusianerkongreß. In: NG 7 (1911), 470–482, hier 470. 268 Stöcker: Lebenserinnerungen, 125; Stoff, Heiko: Ewige Jugend. Konzepte der Verjüngung vom späten 19. Jahrhundert bis ins Dritte Reich. Köln, Weimar, Wien 2004, 347. 269 Stöcker: Mutterschutz und Sexualreform. Ehe und Fortpflanzung, 465. 270 Stöcker: Monismus und Mutterschutz, 548: »Hygiene des Körpers und des Geistes mit Rücksicht auf die Fortpflanzung, Verzicht gewisser Kategorien Kranker auf die Fortpflanzung bei Gestattung eines Präventivverkehrs, die Sterilisierung der unheilbar antisozialen Elemente, Pflege der Solidaritätsgefühle in Schule und Familie. Vor der Ehe sollen die Partner über ihren Gesundheitszustand durch ärztliche Atteste Kenntnis gewinnen, um floride Erkrankungen und ihre Ansteckungsgefahr […] beseitigen zu lassen. Mit Nachdruck muß der Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten geführt werden.« 271 Taylor Allen: Mothers of the New Generation, 434.

Natürliche Liebe  313

Für Helene Stöcker war Francis Galton, der 1869 erstmals den Eugenikbegriff prägte, ein wichtiger Bezugspunkt.272 Galton definierte Eugenik als »science which deals with all influences that improve the inborn qualities of a race; also with those that develop them to the utmost advantage«.273 In seiner Schrift Hereditary Genius (1869) plädierte Galton dafür, durch die Kontrolle der Reproduktion gewünschte Fähigkeiten und Eigenschaften von Individuen – etwa die eines Genies – zu fördern und dadurch die »Rasse« einer Nation zu verbessern. Wie schon angedeutet wurde, resultierte Stöckers Faszination für die Eugenik aus dem Versprechen, die Entwicklung der Menschheit in bestimmte Bahnen zu lenken.274 Bekanntlich baute Darwins Evolutionstheorie auf mehreren kontingenten Faktoren auf: der zufälligen Produktion erblicher Variation einerseits und der natürlichen Selektion andererseits.275 Gegenüber diesen Zufalls­faktoren versprach die Eugenik eine bewusste Steuerung der Evolution, indem man durch sexuelle Aufklärung oder biopolitische Eingriffe die Reproduktion des Menschen beeinflusste.276 In solchen Argumenten für die Eugenik spiegelte sich die monismustypische Betonung des Aktivismus wider, der die Kontingenz menschlicher und kultureller Entwicklung durch eine gezielte Steuerung zu ersetzen glaubte. Monistische, biologistische und eugenische Deutungsmuster prägten nicht nur die Sprache des radikalen Feminismus vor dem Ersten Weltkrieg; sie waren Ursprung und Motivation seiner Emanzipationsforderungen, wie Edward Dickinson betont: »Biologistic thinking did not corrupt or contradict these reformer’s commitment to liberty; instead, in a real sense it was the origin and motivation for their commitment.«277 Auch wenn der Monistenbund kein zentraler Popularisierer eugenischer Maßnahmen war, so bekannte sich ­Haeckel in seinen Lebenswundern (1904) dezidiert zu eugenischen Positionen wie etwa die »Euthanasie« schwerbehinderter Kinder;278 zudem gehörten die seinerzeit führenden Rassehygieniker Alfred Ploetz und Wilhelm Schallmayer zu ­Haeckels bekanntesten Schülern. 272 Stöcker: Lebenserinnerungen, 125: »Der Name Galton, der auch auf Nietzsche schon stark gewirkt hatte, war mir sehr maßgebend.« 273 Galton, Francis: Eugenics. Its Definition, Scope and Aims. In: American Journal of Sociology 10/1 (1904), 1–25, hier 1. 274 Deutscher, Penelope: Die künftige Generation. Helene Stöcker’s Future (from Malthus to Nietzsche). In: Southern Journal of Philosophy 48/1 (2010), 18–35; Allen: German Radical Feminism and Eugenics, 31–56. 275 Wuketits, Franz M.: Evolution. Die Entwicklung des Lebens. München 2005, 58; Bowler, Peter: Evolution: The History of an Idea. 3. Aufl. Berkeley, Los Angeles, London 2003; Larson, Edward J.: Evolution: The Remarkable History of a Scientific Theory. New York 2004. 276 Ausführlich zur Geschichte der Eugenik, vgl. Bashford, Alison / Levine, Philippa (Hg.): The Oxford Handbook of the History of Eugenics. Oxford 2010; Weingart, Peter / Kroll, Jürgen / Bayertz, Kurt: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland. Frankfurt am Main 1992. 277 Dickinson: Reflections on Feminism, 206. 278 ­Haeckel: Lebenswunder, 99–101.

314  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht Die Ambivalenz aus individueller Freiheit und reproduktiver Verantwortung manifestierte sich besonders in der feministischen Debatte um Empfängnis­ verhütung.279 Einerseits lobte Helene Stöcker Antikonzeptiva als Instrument der sexuellen Emanzipation der Frau. Ihr zufolge sollte keine Frau mehr gegen ihren Willen Mutter werden. Ebenso sahen Sexualreformerinnen in der Verbreitung von Verhütungsmethoden eine Befreiung von Arbeiterfrauen, denen der Ausstieg aus Armutsverhältnissen durch mehrfache Schwangerschaften verwehrt blieb. Andererseits versprach die Empfängnisverhütung eine Vermeidung erbkranken Nachwuchses. Diese Sichtweise auf die Empfängnisverhütung wurde durch neo-malthusische Positionen der Jahrhundertwende befördert, die einen enormen Einfluss auf Frauenrechtlerinnen hatten.280 Besonders Ärzte und Human­w issenschaftler diskutierten vor dem Hintergrund der Überbevölkerungsthese von Malthus die Wirksamkeit und Folgen der Empfängnisverhütung. Diese sollte nicht nur der Pauperisierung der Arbeiterklasse entgegenwirken, sondern angesichts eines allgemeinen Geburtenrückgangs in Deutschland auch eine »Produktion von unfits« vermeiden.281 Auf die Problematik des Geburtenrückgangs reagierte auch Helene Stöcker, jedoch schrieb sie (im Sinne des Neolamarckismus) dem Milieu, in dem der Mensch heranwuchs, einen großen Einfluss zu.282 Die Tatsache, dass sich besonders die Arbeiterschicht exponentiell vermehrte, führte sie auf deren Bildungsdefizite, ökonomische Notlage und mangelnde sexuelle Aufklärung zurück. Gleichzeitig verwies Stöcker auf die »Menschenökonomie« des Ökonomen und Monisten Rudolf Goldscheid, der als Lösung für den Geburtenrückgang eine neue Sozial- und Wirtschaftsethik propagierte. Goldscheid forderte einen schonenden Umgang mit der Ressource Mensch in Industrie und Wirtschaft und plädierte für umfassende Bildungsreformen, sozialen Wohnungsbau, Ausbau der medizinischen Versorgung und Alkoholabstinenz. »Das rücksichtslose Lebenwollen der Einen auf Kosten der Anderen enthüllt sich immer klarer als das schwerste Entwicklungshemmnis«, erklärte Goldscheid 1911.283 Radikale Maßnahmen wie staatliche Geburtenkontrolle oder die Legalisierung der Abtreibung gingen mit den Emanzipationsforderungen des BfM Hand in Hand: Die Geburtenkontrolle sollte die Vorherrschaft des Mannes in der Ehe schwächen und gleichzeitig die Freiheitsrechte der Frau stärken. Das Elend vieler Frauen und Kinder führten Feministinnen auf die Tatsache zurück, dass diese

279 Dickinson: Reflections on Feminism, 221. 280 Stöcker nahm 1910 am Internationalen Neumalthusianer-Kongress in Den Haag teil, wo sie für eine gemeinsame Betrachtungsweise von Feminismus und Neomalthusianismus warb, vgl. Ferdinand: Das Malthusische Erbe, 257–260. 281 Ferdinand: Das Malthusische Erbe, 225. 282 Stöcker: Geburtenrückgang und Weltanschauung, 905 f. 283 Goldscheid: Menschenökonomie, XXIII.

Natürliche Liebe  315

ungewollt schwanger wurden oder zu viele Kinder bekamen, für die sie nicht mehr aufkommen konnten. Nicht nur die kontrollierte Reproduktion, sondern auch die Vereinbarkeit von Mutterschaft und Beruf (z. B. durch die Aufhebung des Lehrerinnenzölibats) sollte bessere Bedingungen für Mütter schaffen.284 Um die Bedeutung eugenischer Maßnahmen zu unterstreichen, griff Helene Stöcker auf Bilder des Neuen Menschen zurück: So betonte sie 1906, dass der Mensch »Herr« werden müsse über eine der »wichtigsten Angelegenheiten der Menschheit: die Schaffung des neuen Menschen.« Daran anschließend verkündete sie: »Man wird Mittel finden müssen, um unheilbar Kranke oder Entartete an der Fortpflanzung zu hindern.«285 Die Verbesserung der »Rasse« bildete ihrer Meinung nach ein gemeinsames Ziel verschiedener Sozialreformer, Humanwissenschaftler und Philosophen ihrer Zeit: Eine Verbesserung der menschlichen Rasse, eine menschliche Zuchtwahl, wie Professor Forel es nannte; Eugenik, wie der Vetter von Charles Darwin, Francis Galton, es genannt hat; »race control«, wie die englischen Begründer des Neumalthusianismus es vorschlugen; die Züchtung des »Übermenschen«, wie Friedrich Nietzsche es den Menschen ans Herz gelegt hat, das ist das Ziel, das uns alle eint […].286

Im Unterschied zur christlich-eschatologischen Auffassung speiste sich der säkulare Glaube an den Neuen Menschen aus der Möglichkeit, in den Gang der Natur selbst einzugreifen. Das säkulare Konzept des Neuen Menschen, wie es Helene Stöcker vertrat, strebte weniger nach einer Veränderung des irdischen Daseins als nach einer physischen Optimierung des Menschen.287 * * * Wie gezeigt wurde entstanden durch die Machtkritik an der Kirche, die evolutionäre Deutung von Geschlechterrollen und das Streben nach Sozialreform enge Allianzen zwischen der Monismus- und Frauenbewegung: Frauenrecht­ lerinnen wie Helene Stöcker, Adele Schreiber und Grete Meisel-Hess traten dem Monistenbund bei, veröffentlichten in dessen Vereinsorgan und referierten in ihren Beiträgen vielerorts auf den Monismus. In ihren Texten brandmarkten Feministinnen die christliche Sexualmoral als dualistisch, weil sie zwischen einem sündhaften Körper und einer reinen Seele unterschied. Stattdessen beriefen sie sich auf ein monistisches Körperverständnis, das den Körper als ganzheitliches Produkt der Evolution betrachtete. Die Dichotomie von Monismus

284 Taylor Allen: Feminism and Eugenics, 484. 285 Stöcker: Zur Reform der sexuellen Ethik (1905). In: Frauen und Sexualmoral, 116. 286 Stöcker: Vom IV Neumalthusianerkongreß in Dresden. In: NG 7 (1911), 472. 287 Küenzlen: Der Alte Traum vom Neuen Menschen, 4.

316  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht und Christentum unterstrichen Feministinnen mit Gegensätzen von Genuss und Entsagung, von Lebensbejahung und -verneinung, von Freiheit und Zwang. Der Monistenbund erfüllte für Frauenrechtlerinnen und Sexualreformerinnen eine Doppelfunktion, indem er einerseits als Multiplikator feministischer Positionen wirkte und andererseits naturwissenschaftliche Argumente für diese lieferte: So popularisierte der Monistenbund evolutionsbiologische und soziologische Theorien, die eine säkulare Deutung weiblicher Identität ermöglichten. Abgesehen von ihren politischen Forderungen ging es Sexualreformerinnen darum, christlich imprägnierte Begriffe wie Liebe, Ehe und Gewissen neu zu definieren. Dies hieß jedoch nicht, dass sich Helene Stöcker und ihre Mitkämpferinnen einem radikalen Atheismus verschrieben ‒ im Gegenteil: Immer wieder insistierte Stöcker darauf, dass wahre Religiosität auf Innerlichkeit beruhte und von kirchlichen Institutionen unabhängig war. Sie strebte nach einer »Lebensreligion«, die zu einer Höherentwicklung des Menschen beitragen sollte.288 Insofern waren radikaler Feminismus und Religion im Fin de Siècle keine Gegensätze, die sich kategorisch ausschlossen, sondern zwei miteinander verflochtene Entitäten: Trotz ihrer Kirchenkritik blieben Feministinnen religiöse Sucherinnen, die aus christlichen Symbolbeständen ebenso schöpften wie aus naturwissenschaftlichen Ansätzen. Darüber hinaus teilten Feministinnen mit der Monismusbewegung das Bestreben, die Entwicklung der Menschheit und ihrer Kultur aktiv zu lenken und von Zufallsfaktoren zu befreien. Eben jener Wunsch machte den radikalen Feminismus so anfällig für eugenische Diskurse ihrer Zeit. Ausdrücke wie »Rassenveredelung«, »menschliche Zuchtwahl« und »Qualitätszucht« waren in den Veröffentlichungen des Mutterschutzbundes omnipräsent.289 Nicht nur radikale Feministinnen, sondern auch der Monistenbund profitierte von der gemeinsamen Zusammenarbeit: Adele Schreiber, Helene Stöcker und Grete Meisel-Hess reproduzierten in ihren Beiträgen ein monistisches Weltanschauungsvokabular und popularisierten zugleich die Werke monistischer Denker, wie die Soziologie Franz Müller-Lyers. Ferner konnte der Monistenbund seinem Anspruch auf Sprecherschaft für alle freigeistigen Kräfte gerecht werden, indem er feministische Positionen zum Teil einer umfassenden monistischen »Kulturarbeit« erklärte.

288 Stöcker: Lebenserinnerungen, 125. 289 Vgl. Stöcker: Vom IV. Neumalthusianerkongreß, 470–482.

Selbstbestimmter Tod  317

3.

Selbstbestimmter Tod: Monismus, Sterbehilfe und Rechtsreform

Wie keine andere Freidenkerorganisation im Deutschen Reich setzte sich der Monistenbund mit der zeitgenössischen Debatte um Sterbehilfe auseinander. Wenn Monisten von »Euthanasie« sprachen, meinten sie vor allem die Tötung auf Verlangen. Die Frage nach dem richtigen Umgang mit Krankheit und Leid grenzte unmittelbar an moraltheologische Probleme: Obwohl die Bibel kein explizites Suizidverbot aussprach, sahen die Kirchenväter den Selbstmord und die Sterbehilfe als Sünde an, weil sich der Mensch damit die Rolle Gottes anmaßte.290 Von christlicher Seite wurde argumentiert, dass das Leben ein Geschenk Gottes sei und der Mensch deshalb nicht das Recht habe, dieses eigenmächtig zu verkürzen.291 Schon Augustinus interpretierte den Freitod als eine Zurückweisung des göttlichen Schöpfungsaktes. Ausgehend von der Leidensgeschichte Jesu wurde menschliches Leid nicht als Anzeichen einer Entfremdung von Gott begriffen, sondern zum integralen Bestandteil christlicher Existenz erhoben.292 Für Monisten hatte irdisches Leid (z. B. durch Krankheit) keinen Sinn, da ihre Weltanschauung auf ein jenseitiges Heilsversprechen verzichtete. Ein Großteil der Monisten vertrat daher die Ansicht, dass bei schwerer Krankheit die Sterbehilfe legalisiert werden sollte. Im Folgenden wird gezeigt, dass der Monistenbund eine Pionierrolle in der kaiserzeitlichen Debatte um »Euthanasie« einnahm.293 Der Streit um das Für und Wider der Sterbehilfe kann als ein Beispiel für Kämpfe um Säkularität angesehen werden, weil er die Geltung der christlichen Ethik im Umgang mit Krankheit und Tod hinterfragte. Die Legalisierung der Tötung auf Verlangen sollte einen selbstbestimmten Umgang mit dem eigenen Leben ermöglichen. Das folgende Kapitel skizziert zunächst die Sterbehilfedebatte im Kaiserreich und wendet sich im Anschluss dem Fall Gerkan zu, der im Monistenbund eine Kontroverse um die Tötung auf Verlangen auslöste.

290 Preston, Ronald: Art. Euthanasie. In: TRE 10 (1982), 551–557, hier 554. 291 Aus diesem Grund verweigerte die katholische Kirche Selbstmördern auch ein kirchliches Begräbnis. Der Leichnam wurde in der Regel in ungeweihter Erde begraben. 292 Wolter, Michael: Art. Leiden  III. In: TRE 20 (1990), 677‒688, hier 686 f. In der Tradition des Alten Testaments wurde das Leid häufig mit Sünde und Sühne in Verbindung gebracht. Diese theologische Auffassung setzte sich im Neuen Testament jedoch nicht durch. Hier spielte der Gedanke eines heilbringenden Gottes im Umgang mit Leid eine zentrale Rolle. 293 Vgl. Ameskamp, Simone: Fanning the Flames. Cremation in Late Imperial and Weimar Germany. In: Betts, Paul / Schumann, Dirk / Confino, Alon (Hg.): Between Mass Death and Individual Loss. The Place of the Dead in Twentieth-Century Germany. New York, Oxford 2008, 93–103, hier 109.

318  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht Euthanasiedebatten im Kaiserreich Das Wort »Euthanasie« geht auf den griechischen Ursprung euthanasia zurück, der als »guter Tod« übersetzt werden kann.294 Seit dem Ende des Dritten Reichs ist der Euthanasiebegriff vorbelastet, da das NS -Regime unter diesem Begriff im Rahmen der »Vernichtung lebensunwerten Lebens« etwa 70.000 Menschen mit Behinderung ermordete.295 In philosophischen, juristischen und medizinethischen Fachdiskussionen wird deshalb der Terminus »Sterbehilfe« bevorzugt.296 Die im 19. Jahrhundert einsetzende Debatte um die Legitimität der Sterbehilfe war unmittelbar mit ethischen Fragen verbunden: Welcher Umgang mit Krankheit, Leid und Tod war legitim und zeitgemäß? Wie weit sollte und durfte die Sterbehilfe gehen? Gerade Kirchenvertreter warnten vor der Legalisierung der Sterbehilfe, weil sie christliche Grundüberzeugungen zu unterminieren drohte.297 Hinzu kam, dass das traditionelle Rollenbild von Geistlichen als Sterbebegleiter und Seelsorger seit 1800 einem allmählichen Wandel unterlag: In zunehmenden Maße sahen sich Mediziner und Ärzte nicht nur für die äußere Behandlung der Schmerzen von Kranken zuständig, sondern auch für deren »medizinisch-religiöse Sterbebegleitung«, die sogenannte »innere Euthanasie«.298 Der Landarzt Karl Ludwig Klohss erklärte bereits 1835 »die Tröstung der

294 Zur Geschichte des Euthanasiebegriffs, vgl. Benzenhöfer, Udo: Der gute Tod? Geschichte der Euthanasie und Sterbehilfe. Göttingen 2009, 13–19. 295 »Euthanasie« wird im Folgenden als Quellenbegriff verwendet, weil sie in den monistischen Texten an zentraler Stelle auftauchte, um verschiedene Formen der Sterbehilfe zu bezeichnen. 296 Der Gesetzgeber unterscheidet folgende Formen der Sterbehilfe: Die aktive Sterbehilfe (Verabreichung einer Überdosis zur Herbeiführung des Todes), passive Sterbehilfe (Unterlassung lebenserhaltender Maßnahmen), Tötung auf Verlangen, indirekte Sterbehilfe (palliative Sterbebegleitung) und Beihilfe zum Suizid. 297 Man denke etwa an den Protest der Bischöfe gegen die Aktion T4 im Nationalsozialismus. Zur Geschichte der Euthanasie und Sterbehilfe, vgl. Baumann, Ursula: Vom Recht auf den eigenen Tod. Die Geschichte des Suizids vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien 2001; Benzenhöfer: Der gute Tod; Grübler, Gerd (Hg.): Quellen zur deutschen Euthanasie-Diskussion. Berlin 2007; Kaiser, Jochen-Christoph / Nowak, Kurt / Schwatz, Michael (Hg.): Eugenik, Sterilisation, »Euthanasie«. Politische Biologie in Deutschland 1895–1945. Eine Dokumentation. Berlin 1992; Klee, Ernst: Euthanasie im NS -Staat. Die Vernichtung »lebensunwerten Lebens«. Frankfurt am Main 1983; Schmuhl, Hans-Walter: Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung »lebensunwerten Lebens« 1880–1945. Göttingen 1987. 298 Zur Geschichte der medizinischen Sterbebegleitung, vgl. Nolte, Karen: Todkrank. Sterbebegleitung im 19. Jahrhundert. Medizin, Krankenpflege und Religion. Göttingen 2016, 188–189; Stolberg, Michael: Geschichte der Palliativmedizin. Medizinische Sterbebegleitung von 1500 bis heute. Frankfurt am Main 2011. Als Beispiel für die von Ärzten geführte Debatte um Sterbebegleitung im frühen 19. Jahrhundert kann Christoph Wilhelm Hufeland (1762–1836) gelten.

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Todkranken und Sterbenden durch die Religion zu der Provinz des Arztes«.299 Andere Vertreter seines Fachs hingegen räumten der geistlichen Krankenseelsorge weiterhin ein eigenes Recht ein.300 Davon abgesehen wurde die traditionelle Rolle der Diakonissen als Krankenpflegerinnen durch die zunehmende Professionalisierung des Gesundheitswesens um 1900 zurückgedrängt.301 In der wilhelminischen Ära waren es Naturwissenschaftler wie Ernst H ­ aeckel, Intellektuelle und Juristen, die den Anstoß zur Debatte um Sterbehilfe gaben und dabei zwei Aspekte thematisierten: einerseits die Legalisierung der Tötung auf Verlangen (aktive Sterbehilfe); andererseits die Beseitigung vermeintlich »lebensunwerten Lebens«, womit Menschen mit schwerer geistiger und körperlicher Behinderung gemeint waren.302 Der § 216 des 1871 eingeführten Reichsstrafgesetzbuches setzte ein Strafmaß von drei Jahren Gefängnis für die Tötung auf Verlangen an.303 Der Paragraph blickte auf eine längere Vorgeschichte zurück: Ausgehend von der Annahme, dass das Leben ein unveräußerliches Rechtsgut sei, wurde im Landrecht des Königreichs Preußen von 1721 die Tötung auf Verlangen mit der allgemeinen Tötung gleichgesetzt. Das Landrecht sah dabei vor, den Täter mit dem Schwert hinzurichten. Das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten von 1794 legte hingegen in § 834 fest, dass ein Mensch, der einen Sterbenskranken auf sein Verlangen hin tötete, mit einem geringeren Strafmaß belangt wurde.304 Obwohl die Sterbehilfe in verschiedenen Ländern ins Strafrecht aufgenommen wurde (in Württemberg 1839 und in Baden 1846), ging sie nicht ins Preußische Strafgesetzbuch von 1851 ein.305 Die Debatte um Sterbehilfe wurde im Kaiserreich durch die Streitschrift Das Recht auf den Tod (1895) des 21-jährigen Philosophiestudenten Adolf Jost

299 Klohss, Karl Ludwig: Die Euthanasie oder die Kunst den Tod zu erleichtern. Berlin 1835, 150. 300 Nolte: Todkrank, 192. 301 Zur Medikalisierung der Gesellschaft und zum Ausbau des staatlichen Gesundheitswesens, Hudemann-Simon, Calixte: Die Eroberung der Gesundheit, 1750–1900. Frankfurt am Main 2000; Loetz, Francisca: Vom Kranken zum Patienten. »Medikalisierung« und medizinische Vergesellschaftung am Beispiel Badens 1750–1850. Stuttgart 1993. 302 Schwartz, Michael: »Euthanasie«-Debatten in Deutschland (1895–1945). In: VfZ 46/4 (1998), 617–665, hier 620. 303 »Ist jemand durch das ausdrückliche und bestimmte Verlangen des Getöteten zur Tötung bestimmt worden, so ist auf Gefängnis nicht unter drei Jahren zu erkennen.« Zit. n. Benzenhöfer: Der gute Tod, 81. 304 § 834 des ALR : »Wer einen Andern auf dessen Verlangen tödtet, oder ihm zum Selbstmorde behülflich ist, hat 6 bis 10jährige, und bei einem überwiegenden Verdachte, den Wunsch nach dem Tode bei einen Getödten selbst veranlaßt zu haben, lebenswierige Festungsoder Zuchthausstrafe verwirkt.« 305 Benzenhöfer: Der gute Tod, 81, Anm. 1.

320  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht (1874–1908) angeregt.306 Obwohl Josts Abhandlung zunächst nur einen kleinen Rezipientenkreis erreichte, hatte sie Einfluss auf spätere diesbezügliche Debatten. Zentral für Josts Argumentation war der Ausdruck »Wert des Lebens«, mit dem er nicht nur das Recht auf Suizid zu rechtfertigen versuchte, sondern auch den Nutzen des Einzellebens für die Gesellschaft thematisierte. Insbesondere stellte er dabei den Lebenswert von geistig und körperlich behinderten Menschen infrage. Aus einer utilitaristischen Perspektive heraus führte Jost den Lebenswert auf zwei Faktoren zurück: »Der erste Factor ist der Werth des Lebens für den betreffenden Menschen selbst, also die Summe von Freude und Schmerz, die er zu erleben hat. Der zweite Factor ist die Summe von Nutzen oder Schaden, die das Individuum für seine Mitmenschen darstellt.«307 Jost stellte nun die Frage in den Raum, in welchen Fällen, »der Tod eines Individuums sowohl für dieses selbst als auch für die menschliche Gesellschaft überhaupt wünschenswerth« sei.308 Wenngleich Josts Schrift als Ausgangspunkt der kaiserzeitlichen Debatte um Sterbehilfe betrachtet werden kann, blieb die Kontoverse auf einen überschaubaren Kreis von Naturwissenschaftlern, Juristen und Freidenkern beschränkt, deren Positionen marginalisiert waren.309 Josts Beitrag bestand darin, dass er die medizinische Debatte um die Euthanasia medica (die Beschleunigung des einsetzenden Todes durch den Arzt) erweiterte und die Gültigkeit der Tötung auf Verlangen diskutierte. Sechs Jahre nach Josts Streitschrift gewann die Euthanasiedebatte erneut an Auftrieb, nachdem der Invalide Jacob Richter aus Kreischa 1901 eine Petition in den sächsischen Landtag eingereicht hatte, die ein Gesetz über die freiwillige Sterbehilfe forderte. Nach einer einstimmigen Ablehnung des Gesetzes­ vorschlags im Landtag brachte Richter die Petition ein Jahr später erneut ein – abermals ohne Erfolg.310 Der Monismus war für die zeitgenössische Euthanasiedebatte ein wichtiger Bezugspunkt, weil er für eine säkulare Ethik eintrat, die jeglichen Jenseits­bezug verneinte. Die Negation einer transzendenten Gottheit entzog auch dem Leid jeglichen Sinn.311 Wenn das Leid kontingent war und keinem göttlichen Willen entsprach, dann sollte auch der Mensch das Recht haben, seinem Leben eigenmächtig ein Ende zu setzen. Schließlich verringerten Krankheit und Leid aus Sicht einiger Monisten den Lebenswert des Menschen für ihn selbst und die 306 Jost, Adolf: Das Recht auf den Tod: Sociale Studie. Göttingen 1895. Dazu auch: Benzenhöfer: Der gute Tod, 82–83; Schmuhl: Rassenhygiene, 108. 307 Jost: Recht auf den Tod, 13. 308 Ebd., 1. 309 Schwartz: »Euthanasie«-Debatten in Deutschland, 620. 310 Benzenhöfer: Der gute Tod, 81. 311 Schmuhl: Rassenhygiene, 111. Zum Verhältnis von Monismus, Theosophie und Leid, vgl. Viswanathan, Gauri: Monism and Suffering. A Theosophical Perspective. In: Weir (Hg.): Monism, 91–97.

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Gesellschaft. Unter dem Einfluss der Evolutionstheorie Darwins wurde das Menschenleben als Rechtsgut gegen andere Kriterien wie die Leistungs- und Arbeitsfähigkeit abgewogen. War der Lebenswert eines Menschen durch Krankheit und Leid bedroht, so sollten Angehörige auch das Recht haben, ihn aus Mitleid zu töten.312 ­Haeckel gehörte zu den führenden Verteidigern der Sterbehilfe um 1900. In seiner monistischen Abhandlung Die Lebenswunder (1904) plädierte er sowohl für die Tötung von Kindern mit schwerer geistiger und körperlicher Behinderung als auch für die Legalisierung der Tötung auf Verlangen bei Todkranken. ­Haeckel verwies in seiner Argumentation auf die angebliche Selektionspraxis der Spartaner und forderte, die »Kindereuthanasie« von Tötungsdelikten auszunehmen. Diese sei als »nützliche Maßregel« für die Betroffenen selbst und das gesellschaftliche Gesamtwohl anzuerkennen.313 Dabei sprach er Neugeborenen mit geistiger Behinderung menschliche Züge ab und verortete sie auf einer »niederen thierischen Entwickelungsstufe«.314 Seine Parteinahme für die Kindereuthanasie begründete ­Haeckel mit einem Nützlichkeitsargument: Welchen Nutzen hat die Menschheit davon, daß Tausende von Krüppeln, die alljährlich geboren werden, Taubstumme, Kretinen, mit unheilbaren erblichen Uebeln Belastete u.s.w. künstlich am Leben erhalten und groß gezogen werden? Und welchen Nutzen haben diese bemitleidenswerthen Geschöpfe selbst von ihrem Leben?315

Die von ­Haeckel aufgeführten Suggestivfragen verdeutlichen, wie sehr die Euthanasiedebatte um 1900 bereits von eugenischen Ideen durchdrungen war. Abgesehen von der Kindereuthanasie befürwortete ­Haeckel auch die Sterbehilfe für unheilbar Kranke, deren Leben in seinen Augen keinerlei Qualität mehr aufwies: Viele von diesen Uebeln sind völlig unheilbar, und viele Kranke gehen dem sicheren Tode unter namenlosen Qualen entgegen. Sehr viele von diesen armen Elenden warten mit Sehnsucht auf ihre »Erlösung vom Uebel« und sehnen sich das Ende ihres qualvollen Leidens herbei; da erhebt sich die wichtigste Frage, ob wir als mitfühlende Menschen berechtigt sind, ihren Wunsch zu erfüllen und ihre Leiden durch einen schmerzlosen Tod abzukürzen.316

­Haeckel erachtete das Mitleid als eine der wichtigsten Fähigkeiten sozialer Säugetiere. Obwohl die »morschen Dogmen« der christlichen Lehre seiner Ansicht nach längst in »Trümmer zerfallen« waren, so gestand er dem christlichen Grundsatz der Nächstenliebe und des Mitleidens einen großen ethischen Wert 312 Schmuhl: Rassenhygiene, 111. 313 ­Haeckel: Lebenswunder, 100 f. 314 Ebd., 22. 315 Ebd., 100. 316 Ebd., 95.

322  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht zu.317 Aus der menschlichen Fähigkeit zur Empathie leitete H ­ aeckel die Verpflichtung des Einzelnen ab, seine Mitmenschen von Leid zu erlösen, »wenn schwere Krankheit ohne Hoffnung auf Besserung ihnen die Existenz unerträglich macht und wenn sie uns um ›Erlösung vom Uebel‹ bitten«.318 Sowohl ­Haeckel als auch andere Verfechter der Sterbehilfe verbanden utilitaristische Argumente mit dem christlichen Mitleidsmotiv.319 Immer wieder verwiesen sie darauf, dass man bereit sei, einem leidenden Tier den Gnadenschuss zu erteilen. Warum sollte nicht dasselbe für den Menschen gelten? Was bereits in Adolf Josts Abhandlung anklang, führte ­Haeckel argumentativ fort: Krankheit und Leid waren in seinen Augen nicht allein Privatsache des Individuums, sondern unterlagen einem gesamtgesellschaftlichen Bewertungsmaßstab. Typisch für den monistischen Sterbehilfediskurs war der Gedanke, dass »Gewinn und Verlust für die Gesellschaft […] über das Schicksal des einzelnen bestimmen« sollte, wie Hans-Walther Schmuhl betont.320 Diese radikal utilitaristische Sicht auf das Leben hing mit dem eudämonistischen Ethikverständnis zusammen, das monistische Denker vertraten. Demnach sollte sich der Wert von Handlungen vor allem am individuellen und gesellschaftlichen Glück und Wohlstand bemessen. Die politischen Zäsuren im Deutschland des frühen 20. Jahrhunderts – der Erste Weltkrieg und die Machtübernahme der Nationalsozialisten – trugen zu einer Radikalisierung des Euthanasiediskurses bei.321 Der inhaltliche Akzent der Debatte verschob sich zunehmend von der Tötung auf Verlangen auf die Besei­ tigung »lebensunwerten Lebens«. Nach der Erfahrung des Ersten Weltkriegs gewannen nationalökonomische Argumentationsmuster an Raum: Unter dem Einfluss von Sozialdarwinismus und Rassenhygiene wurde argumentiert, dass der Krieg eine Kontraselektion übe, indem die Gesunden und Starken an der Front fielen, während die Kranken und Siechen in der Heimat gepflegt wurden. Kritiker warnten nun davor, dass die Pflege kranker und arbeitsunfähiger Menschen einen enormen gesamtwirtschaftlichen Schaden verursache. Während der ökonomischen Notlage und Hyperinflation der Nachkriegsjahre konnten derartige Argumentationsmuster besonders wirksam »emotionale Ressen­timents« hervorrufen.322 In Wirklichkeit machten die Kosten für Pflegeanstalten nur einen verschwindend kleinen Anteil der volkswirtschaftlichen Gesamtausgaben aus.323 Mit ihrer Schrift Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, erschienen 1920, fachten der Strafrechtler Karl Binding und der Psychiater Alfred 317 Ebd., 96. 318 Ebd., 96. 319 Schmuhl: Rassenhygiene, 113. 320 Ebd., 113. 321 Schwartz: »Euthanasie«-Debatten in Deutschland, 621. 322 Schmuhl: Rassenhygiene, 107. 323 Ebd., 107.

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Hoch eine neue Diskussion um die Sterbehilfe an. Ihre Ausgangsfrage lautete: »Gibt es Menschenleben, die so stark die Eigenschaft des Rechtsgutes eingebüßt haben, daß ihre Fortdauer für die Lebensträger wie für die Gesellschaft dauernd allen Wert verloren hat?«324 Binding definierte drei Personengruppen, für die die Sterbehilfe in Betracht gezogen werden sollte: Die erste Gruppe waren für ihn die unheilbar Kranken, die einen »dringenden Wunsch nach Erlösung besitzen und ihn in irgendeiner Weise zu erkennen gegeben haben«.325 Die zweite Gruppe bildeten Menschen mit geistiger und körperlicher Behinderung (»unheilbar Blödsinnige«), die entweder so geboren wurden oder »wie die Paralytiker im letzten Stadium ihres Leidens so geworden sind«.326 Die dritte Gruppe schloss sogar geistig gesunde Menschen ein, die durch Verwundung und Trauma ihr Bewusstsein verloren und keine Aussicht mehr auf Genesung hatten. Binding plädierte in diesem Fall für eine Legalisierung der Tötung auch ohne bewusste Einwilligung der Betroffenen, räumte jedoch ein, dass eine verbindliche Regelung hier nicht getroffen werden könne. Man müsse im Einzelfall entscheiden, ob der Täter rechtens oder fahrlässig gehandelt habe.327 Der Fall Gerkan In der früheren Forschung wurde Ernst H ­ aeckel wiederholt als Hauptverfechter der Euthanasiedebatte im Kaiserreich angeführt.328 Dieser Befund schien nicht zuletzt die mittlerweile revidierte These zu unterstützen, dass ­Haeckels Monismus den Weg zur nationalsozialistischen Rasseideologie bereitete.329 So sah 324 Zit n. Schmuhl: Rassenhygiene, 115. 325 Binding, Karl / Hoche, Alfred: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form. Leipzig 1920, 31. 326 Ebd., 31. 327 Benzenhöfer: Der gute Tod, 92. Durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 radikalisierte und enthemmte sich die Euthanasiedebatte, deren Akzent sich zugunsten der Tötung »lebensunwerten Lebens« verschob. Euthanasie wurde nun »politikfähig« und offen diskutierbar. Dieser Befund bestätigt sich angesichts neuer Funktionseliten, die die Euthanasiedebatte anführten – man denke etwa an den preußischen Justizminister Hanns Kerrl und dessen Staatssekretär Roland Freisler. Der größte Protest wurde von den christlichen Kirchen geäußert, vor allem gegen die »Aktion T4«, die zwischen 1939 und 1941 rund 70.000 Menschen mit Behinderung das Leben kostete, vgl. Schwartz: »Euthanasie«-Debatten, 619–621. 328 Vgl. Benzenhöfer: Der gute Tod; Schmuhl: Rassenhygiene; Schwartz: »Euthanasie«-­ Debatten. 329 Katharina Neef weist die Argumente der früheren Monismusforschung (Gasman; Weikart) als teleologisch und deterministisch zurück, vgl. Dies.: Entstehung der Soziologie, 138. Zur Widerlegung der Kontinuität von Monismus und Nationalsozialismus, vgl. Richards, Robert J.: That Darwin and H ­ aeckel were Complicit in Nazi Biology. In: Numbers (Hg.): Galileo Goes to Jail, 170–178; Hoßfeld: ­Haeckel als NS -Philosoph? 445–461; Wogawa / Hoßfeld / Breidbach: Ernst H ­ aeckel und der Antisemitismus, 220–241.

324  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht Daniel Gasman in ­Haeckels Monismus »the Scientific Roots of National Socialism«, Richard Weikart verortete den Monismus in einer Kontinuitätslinie »von Darwin zu Hitler«, während Jürgen Sandmann in der monistischen Ethik einen »Bruch mit der humanitären Tradition« ausmachte.330 Aktuelle Beiträge haben solche deterministischen Deutungen revidiert und stattdessen darauf hingewiesen, dass im Monistenbund weniger rassehygienische als soziologische, energetische und lamarckistische Theorien dominierten.331 Zwar steht außer Frage, dass ­Haeckels Werk von Rassismen und sozialdarwinistischen Argumenten durchzogen war, er »Menschenrassen« hierarchisierte und die »Kulturvölker« Europas von den angeblich primitiven »Naturvölkern« Afrikas abgrenzte, denen er einen geringeren »Lebenswert« attestierte;332 dennoch waren die rassistischen und sozialdarwinistischen Auswüchse H ­ aeckels keinesfalls repräsentativ für den gesamten monistischen Diskurs vor 1914 und davon abgesehen auch keine Ausnahmeerscheinung seiner Zeit: Schließlich waren Rassediskurse auch bei anderen Biologen und Medizinern um 1900 allgegenwärtig, wie etwa bei Alfred Ploetz. Eine genaue Sichtung der monistischen Vereinszeitschrift führt zudem vor Augen, dass die Debatte um die Legitimität der Sterbehilfe nicht von ­Haeckel, sondern von anderen monistischen Stimmen angeführt wurde. Dabei zeigt sich, dass die Positionen zum Thema »Euthanasie« weitaus komplexer waren und sich nicht allein auf utilitaristische Argumente ­Haeckelscher Provenienz reduzieren ließen. Weniger die Vernichtung »lebensunwerten Lebens«, als vielmehr die Entkriminalisierung der Tötung auf Verlangen standen im Zentrum der monistischen Auseinandersetzungen. Im Monistenbund wurde die Diskussion um Sterbehilfe durch einen Brief des lungenkranken Roland Gerkan vom 30. April 1913 an Wilhelm Ostwald ausgelöst. In dem Brief bat Gerkan Ostwald darum, das Thema »Euthanasie« zum Gegenstand einer Sonntagspredigt zu machen und stellte einen Entwurf zur Legalisierung der Tötung auf Verlangen vor. Gerkan hoffte darauf, dass der Monistenbund die »Euthanasie-Propaganda« in sein Programm aufnehmen werde, glaubte er doch an den »wachsenden Einfluß des Bundes« und die »Unbesiegbarkeit der Wissenschaft«.333 Als Gerkan nur wenige Wochen später verstarb, 330 Gasman, Daniel: The Scientific Roots of National Socialism. Social Darwinism in Ernst ­Haeckel and the German Monist League. London, New York 1971; Weikart, Richard: From Darwin to Hitler. Evolutionary Ethics, Eugenics, and Racism in Germany. New York 2004; Sandmann: Bruch mit der humanitären Tradition. 331 Braune: Fortschritt als Ideologie; Neef: Entstehung der Soziologie. 332 Zum »Lebenswert« der verschiedenen »Menschenrassen«, vgl. ­Haeckel: Lebenswunder, 295–306. 333 Gerkan, Roland: Euthanasie. In: DMJ 2, Nr. 7 (1913), 169–173, hier 170. Zum Fall Gerkan, vgl. Braune: Fortschritt als Ideologie, 100–104; Schmuhl: Rassenhygiene, 111–113; Benzenhöfer: Der gute Tod, 86–88.

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ließ Ostwald die Korrespondenz im Monistischen Jahrhundert (1913) abdrucken. Der Gesetzesentwurf, den Gerkan »ohne juristischen Beirat« entworfen hatte, lautete wie folgt: § 1 Wer unheilbar krank ist, hat das Recht auf Sterbehilfe (Euthanasie). § 2 Die Feststellung des Rechtes auf Sterbehilfe wird durch ein Gesuch des Kranken an die zuständige Gerichtsbehörde veranlaßt. § 3 Auf Grund des Gesuches verfügt das Gericht eine Untersuchung des Kranken durch den Gerichtsarzt im Verein mit zwei zuständigen Spezialisten. An der Untersuchung können auf Wunsch des Kranken auch weitere Ärzte teilnehmen. Diese Untersuchung hat nicht später als eine Woche nach Einreichung des Gesuchs zu erfolgen. § 4 Bei der Protokollierung des Untersuchungsbefundes ist anzugeben, ob nach der wissenschaftlichen Überzeugung der untersuchenden Ärzte ein tödlicher Ausgang der Krankheit wahrscheinlicher ist, als die Wiedererlangung dauernder Arbeitsfähigkeit. § 5 Wenn die Untersuchung die überwiegende Wahrscheinlichkeit eines tödlichen Ausgangs ergibt, dann spricht das Gericht dem Kranken das Recht auf Sterbehilfe zu. Im entgegengesetzten Falle wird das Gesuch des Kranken abschlägig beschieden. § 6 Wer einen Kranken auf dessen ausdrücklichen und unzweideutig kundgegebenen Wunsch schmerzlos tötet, bleibt straflos, wenn dem Kranken nach § 5 das Recht auf Sterbehilfe zugesprochen worden ist, oder wenn die nachträgliche Untersuchung ergibt, daß er unheilbar krank ist. § 7 Wer einen Kranken tötet, ohne daß dieser es ausdrücklich und unzweideutig gewünscht hat, wird mit Zuchthaus bestraft. § 8 Die §§ 1 bis 7 finden auch auf Sieche und Verkrüppelte sinngemäße Anwendung.334

Gerkan erklärte die Legalisierung der Sterbehilfe zur moralischen Pflicht der Monisten. Da der Monismus »im Namen der Wissenschaft den Jenseitsglauben« zerstört habe, sei er dazu verpflichtet, einen äquivalenten Ersatz für die Linderung persönlichen Leids anzubieten. Die Lösung für dieses Problem sah Gerkan allein in den Mitteln der modernen Medizin, die im Gegensatz zu den qualvollen Methoden der Selbsttötung einen humanen Tod ermöglichte.335 Ostwald unterstützte Gerkans Anliegen mit dem Verweis auf die monistische Ethik, die sich an utilitaristischen und eudämonistischen Grundsätzen orientiere. Ostwald befürwortete die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe, weil Todkranke ihm zufolge keinen aktiven Beitrag mehr zum gesellschaftlichen Fortschritt leisten konnten.336 Seine Sicht auf Krankheit und Leid begründete er energetisch: Gemäß dem energetischen Imperativ »Vergeude keine Energie, nutze sie!« korrelierte kultureller Fortschritt mit der zunehmenden Aus 334 Gerkan: Euthanasie, 170–171. 335 Ebd., 172. 336 Ostwald, Wilhelm: Euthanasie. In: DMJ 2, Nr. 13 (1913), 337–341.

326  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht schöpfung individueller und kollektiver Energieressourcen. Krankheit und Leid eines Menschen widersprachen diesem Ideal und entbehrten jeglichen Sinn. Je kranker ein Mensch sei, so Ostwald, desto schwieriger gestaltete sich die aktive und zielgerichtete Nutzung seiner Kraftreserven.337 »Alles Leid ist eine Einengung und Verminderung der persönlichen und sozialen Leistungsfähigkeit des Leidenden«, folgerte er.338 Dass diese radikal utilitaristische Sichtweise auf das Leben von Menschen die Gefahr eines inhumanen Umgangs mit Krankheit und Behinderung barg, schwang bei Ostwald (wie auch bei anderen Monisten) stets mit. Gerkans Forderungen wurden im Monistenbund nicht ohne Protest aufgenommen und lösten 1913 eine interne Debatte aus: Wilhelm Börner veröffentliche 1913 im Monistischen Jahrhundert eine Entgegnung auf die Befürworter der »Euthanasie«.339 Seine Kritik an der aktiven Sterbehilfe umfasste mehrere Punkte: Zum einen wies Börner darauf hin, dass der Gesetzesentwurf den Personenkreis nicht klar eingrenzte, für den das Sterbehilfegesetz gelten sollte. Gerkans Hinweis auf »Sieche und Verkrüppelte« in § 8 implizierte, dass sich die aktive Sterbehilfe keineswegs nur auf Todkranke ohne Aussicht auf Genesung, sondern auch auf Menschen mit körperlicher Behinderung bezog, die dauerhaft arbeitsunfähig waren. Damit verstieß der Gerkansche Entwurf gegen den Bestimmtheitsgrundsatz im Strafrecht, demzufolge man Eingriffe in Grundrechte hinreichend genau formulieren musste. Ohnehin sei es unmöglich, so Börner, den Personenkreis, auf den das Gesetz zutraf, genau einzugrenzen, da sich der Gesundheits- und Gemütszustand des Kranken tagtäglich ändern könne. Man dürfe den subjektiven Todeswunsch dabei nicht als Legitimation für die Tötung auf Verlangen ausnutzen.340 Zum anderen zweifelte Börner die prognostische Verlässlichkeit des ärztlichen Urteils an. Schließlich könnten sich auch Ärzte in ihrem Urteil irren, wenn es um die Ursache, Ätiologie und den Ausgang einer Krankheit gehe. Die Subjektivität und Unzuverlässigkeit des ärztlichen Urteilsvermögens waren für Börner Grund genug, die praktische Anwendbarkeit des Gesetzesentwurfs anzuzweifeln. Davon abgesehen: Wie sollte ein Ärztekollegium angesichts unterschiedlicher Diagnosen eine derart grundsätzliche Entscheidung fällen?341 Der dritte Kritikpunkt Börners zielte auf die ethische Fragwürdigkeit des Gesetzesentwurfs, denn seiner Meinung nach war der Umgang mit Krankheit, Leid und Kummer ein notwendiger Bestandteil des Lebens. Gerade in Momenten des größten Leids könne der Mensch seinen Heroismus beweisen und seine Wil 337 Ebd., 339. 338 Ebd., 339. 339 Zu diesem Zeitpunkt war Börner bereits Schriftleiter des monistischen Jugendheftes Die Sonne. 340 Börner, Wilhelm: Euthanasie (Eine Erwiderung). In: DMJ 2, Nr. 10 (1913), 249–250. 341 Börner: Euthanasie, 251.

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lenskraft im Überlebenskampf stärken: »Das Leben legt nahezu jedem Menschen einen Kampf auf: sei es seines Willens gegen seinen Körper, sei es seines Willens gegen den Willen der Machthaber, der Majorität usw.«. Ebenso wie Sokrates und Giordano Bruno zu Vorbildern im Kampf gegen bestehende Autoritäten emporgestiegen waren, so könnten auch kranke Menschen zu »Helden der Passivität« werden, indem sie sich  – trotz Arbeitsunfähigkeit  – mit aller Kraft dem Tod widersetzen.342 Börner rekurrierte in seiner Argumentation auf einen Aktivismus und Voluntarismus, der schon bei Ostwald anklang, modifizierte ihn jedoch für eigene Zwecke. Demzufolge barg jede Bürde im Leben des Menschen das Potential, die eigene Willenskraft zu stärken – ob in Gestalt des aktiven oder passiven Widerstandes. Während die christliche Ethik »jedes Dulden, Ertragen, Sich-Fügen in das (von Gott verhängte) Schicksal« lobe, versuche die monistische Ethik den »aktiven, lebensbejahenden, eudämonistischen Kräften« im Menschen gerecht zu werden.343 An die Stelle der christlichen Sterbebegleitung, die den Gläubigen durch Jenseitsglauben unterstütze, solle eine humane und weltliche »Krankenseelsorge« treten, die von monistischen Prinzipien geleitet sei. Sie solle das »Promethidenhafte im Menschen« erwecken, so Börner abschließend: Würde von monistischer Seite die ganze Erziehung aktivistisch orientiert und die Bedeutung des Kampfes um die geistige Selbstständigkeit des Menschen und der Sinn für Heroismus auf diesem Gebiete dem Kinde in Fleisch und Blut übergehen, dann würde sich das Problem der Euthanasie selbst erledigen.344

Der griechische Halbgott Prometheus stand hier für die Rebellion und Selbstermächtigung des Menschen gegenüber einem angeblich göttlichen Schicksal. Der Legende nach überlistete Prometheus den Göttervater Zeus, indem er das genießbare Fleisch der Opfertiere den Menschen überließ und den Göttern den unbrauchbaren Rest darbrachte. Zeus reagierte mit einer drakonischen Strafe und entzog den Menschen das Feuer, woraufhin Prometheus den Göttern das Feuer entwendete und es den Sterblichen brachte. Spätestens seit der Sturm-undDrang-Zeit des 18. Jahrhunderts verkörperte Prometheus den Kult des Individuums und die rebellische Auflehnung des Einzelnen gegenüber bestehenden Autoritäten.345 Auf Börners Euthanasiekritik reagierten gleich mehrere Stimmen im Monistenbund: Ostwald warf Börner vor, dass er die Essenz der monistischen Ethik verkannt habe. Im Zentrum der monistischen Ethik stünde nicht das heroische 342 Ebd., 252. 343 Ebd., 251. 344 Ebd., 253. 345 Als Beispiel für die Prometheus-Rezeption des späten 18. Jahrhunderts kann die frühe Lyrik Johann Wolfgang von Goethes gelten, vgl. Karthaus, Ulrich: Sturm und Drang. Epoche – Werke – Wirkung. 2. Aufl. München 2007, 69 ff.

328  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht Leiden, sondern die Einsicht, dass der Einzelne seine Leistungen in den Dienst der Gemeinschaft und deren Fortschritt zu stellen habe. Demnach sei das Ethische mit dem Sozialen gleichzusetzen, wie Ostwald auch andernorts betonte.346 Unerträgliches Leid durch Krankheit, so Ostwald, mindere jedoch jede Form der »sozialen Leistungsfähigkeit«.347 Daran anschließend warf Ostwald Börner eine emotionale »Gefühlsethik« vor, die von der Idee des Opfers und der Annahme eines »Weltregierers« geleitet sei.348 Sobald man sich jedoch von dieser rückständigen Form der Ethik gelöst habe, erscheine die »Euthanasie« in einem neuen Licht: als ein Schritt der Selbstbestimmung des Menschen über sein Leben.349 Ostwalds und ­Haeckels Argumentationslinien für die Sterbehilfe waren durchdrungen von einer radikalen Zweckrationalität: H ­ aeckel rechtfertigte die Tötung von behinderten und schwerkranken Menschen mit der Idee der künstlichen Selektion, wohingegen Ostwald die energetische Kraftoptimierung als Argument anführte. Nicht nur auf individueller, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene verstand er das Siechtum als eine unnötige Energieverschwendung. Sowohl für Ostwald als auch ­Haeckel waren Leid und Krankheit keine »Privatsache« des Einzelnen mehr, sondern ein Problem von gesamtgesellschaftlicher Tragweite.350 Den Ausführungen Börners widersprach auch der Nürnberger Freireligiöse Eugen Wolfsdorf. Er argumentierte, dass der Kampf gegen Krankheit und Leid nichts mehr »Promethidenhaftes« im Menschen erwecken könne  – ganz im Gegenteil: Sei die »Maschine« Mensch erst einmal zerfallen, mache es wenig Sinn, irgendwelche Energien freisetzen zu wollen. Ohnehin übten Denker und Forscher ihre größte Wirkung durch ihre Taten und Werke zu Lebzeiten aus und nicht am Sterbebett, ergänzte Wolfsdorf.351 Der angeführte Vergleich des menschlichen Körpers mit einer Maschine verdeutlicht, dass die Vorstellung von Leben und Tod im Monismus auf einem mechanistischen Körperverständnis basierte. Im Gegensatz zum dualistischen Körperbild des Christentums, das zwischen Leib und Seele unterschied, bestand der Körper in dieser Lesart allein aus Materie. Analog zur Maschine unterlag der Körper einem Verfallsprozess, der mechanischen Abnutzung. Besonders Ostwald übertrug die thermodynamischen Prinzipien von Energieerhaltung und Entropie auf den Organismus und bezeichnete Lebewesen kurzerhand als »Energietransformatoren«.352 Jenseits 346 Vgl. Ostwald: Wissenschaftliche Grundlagen der Ethik, 290. 347 Ostwald: Euthanasie, 339. 348 Ebd., 340. 349 Vgl. Ostwald, Wilhelm: Wissenschaftliche oder Gefühlsethik? In: DMJ 2, Nr. 21 (1913), 584–587. 350 Schmuhl: Rassenhygiene, 113. 351 Wolfsdorf: Euthanasie und Monismus, 310. 352 Vgl. Ostwald: Der energetische Imperativ, 131–135. Zum Einfluss der Thermodynamik auf das Körperverständnis um 1900, vgl. Rabinbach: Human Motor; Osietzki, Maria: Körper-

Selbstbestimmter Tod  329

von rein biologisch-medizinischen Erklärungen hatten Krankheit, Leid und Tod im monistischen Weltbild keinen Sinn. Gerade deshalb war die Tötung auf Verlangen ein Zeichen für die geistige Freiheit und Selbstständigkeit der Monisten: »Endlich beweist gerade derjenige seine geistige Selbstständigkeit und den Wert der monistischen Lebensauffassung, der den Tod nicht scheut und das Leben liebt, so lange es lebenswert ist«, hieß es in einer anderen Erwiderung auf Börner.353 Auch der Bielefelder Richter Alfred Bozi, zugleich aktiver Monist, ergriff zum Fall Gerkan das Wort.354 In seinem Artikel »Euthanasie und Recht« erörterte Bozi die Frage, ob und inwiefern der Gesetzesentwurf Gerkans in die »Rechtsanschauungen der Gegenwart« hineinpasse. Bozi warnte vor den Folgen des Gesetzesentwurfs, vor allem wenn die Entscheidung über die Sterbehilfe bei den Behörden lag: Die Gefahr bestünde darin, so Bozi, dass die Sterbehilfe im nächsten Schritt auch auf Geisteskranke angewendet werde, die »ohne eigenes Lebensbewußtsein und ohne Gewinn für die Allgemeinheit in den Irrenanstalten ihr Leben fristen.«355 Im schlimmsten Falle würde man in einen »Staatsabsolutismus« hineinschlittern, wo die Allgemeinheit über das Leben des Einzelnen entschied.356 Bozi bediente sich hier eines klassischen Dammbruch-Arguments (Slippery-Slope-Argument), das seine Rechtfertigung aus den potentiellen juristischen und ethischen Konsequenzen der Sterbehilfe zog. Anstelle der Tötung auf Verlangen plädierte er für die ärztliche Beihilfe zum Suizid, z. B. indem der Arzt dem Sterbenden ein Gift oder Narkotikum bereitstellte. Die Beihilfe zum Selbstmord war im Gegensatz zu anderen Formen der aktiven und passiven Sterbehilfe straffrei. Schon jetzt sollten Ärzte, so Bozi, mehr von ihrem Recht Gebrauch machen, Kranken ein Narkotikum zu überreichen, sofern sich diese das Leben nehmen wollten.357 Obwohl die Beihilfe zum Selbstmord nicht unter Strafe stand, warnte der Arzt A. Braune vor potentiellen juristischen Konsequenzen, die diese Praxis für Ärzte barg. Im Ernstfall könnte man Ärzten vorwerfen, dass der Kranke vor seinem Suizid nicht mehr zurechnungsfähig gewesen sei oder unter dem »suggestiven maschinen und Dampfmaschinen. Vom Wandel der Physiologie und des Körpers unter dem Einfluß von Industrialisierung und Thermodynamik. In: Sarasin, Philipp / Tanner, Jakob (Hg.): Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1998, 313–346. 353 Henle, Franz: Euthanasie. Erwiderung auf Börner. In: DMJ 2 (1913), 310. 354 Bozi, Alfred: Euthanasie und Recht. In: DMJ 2, Nr. 21 (1913), 576–580, hier 576. Als Schriftführer des Ressorts für Rechtsreform berichtete Bozi in der monistischen Vereinszeitschrift regelmäßig über die jüngsten Entwicklungen der Strafrechtsreform im Kaiserreich. Bozi und Ostwald standen seit 1900 in engem Kontakt. Bozi veröffentlichte u. a. mehrere Artikel in Ostwalds Annalen, vgl. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 329. 355 Bozi: Euthanasie und Recht, 579. 356 Ebd., 579. 357 Ebd., 580.

330  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht Einfluss« des Arztes gestanden habe.358 Gerade ein »orthodox gesinnter Richter« könnte über diesen Weg zu einer leichten Verurteilung des Arztes kommen. Deshalb empfahl Braune bei der ärztlichen Beihilfe zum Suizid die Anwesenheit von Zeugen, um sich gegen die Anschuldigung einer aktiven Sterbehilfe abzusichern.359 Die Diskussion um Sterbehilfe verharrte nicht allein in monistischen Kreisen, sondern wurde auch in juristischen und klinischen Fachzeitschriften diskutiert. Der Jurist Alexander Elster stimmte Gerkans Gesetzesvorschlag grundsätzlich zu und ergänzte, dass der Tötung auf Verlangen der »Charakter des Mordes« genommen werden müsse.360 Wiederum kritisch reagierten der Barmener Arzt Max Beer und der Rechtsanwalt Kurt Kaßler aus Halle. Kaßler wies in seiner Entgegnung auf den Fall Gerkan auf die Gefahr des »Dammbruchs« hin: Wer könne schon sicher behaupten, dass man sich ausschließlich auf die Sterbehilfe für unheilbar Kranke beschränke, sobald die Scheu vor der Unantastbarkeit des Lebens gewichen sei?361 Während die Debatte um Sterbehilfe im Kaiserreich noch weitgehend marginalisiert war, bot der Monistenbund ein Forum zur Diskussion dieser Frage. Die monistischen Debatten über das Für und Wider der Sterbehilfe 1912/13 lassen sich als eine Auseinandersetzung um Säkularität verstehen, weil sie die Gültigkeit der christlichen Ethik revidierten. Aus christlicher Sicht hatte allein Gott das Recht, das Lebensende zu bestimmen, weil das Leben seiner Gabe entsprach. Gegenüber dieser Deutungstradition befürworteten Monisten die Sterbehilfe als einen Akt der Selbstbestimmung des Menschen im Umgang mit Tod und Leid. Der rebellische Halbgott Prometheus wurde ihnen zum Vorbild (vgl. Abb. 26 im Anhang). Dennoch klang bereits in der monistischen Diskussion um »Euthanasie« das Problem der praktischen Durchführung an: Wie weit durfte die Sterbehilfe gehen? Für die Euthanasiedebatte im Monistenbund war die eklektische Verbindung aus Nützlichkeitsargumenten, christlichen Mitleidsmotiven und der Betonung des Aktivismus gegenüber einem passiven Siechtum charakteristisch. Obwohl ­Haeckel in seinem Werk die Idee eines »lebensunwerten Lebens« prägte, die später im Nationalsozialismus aufgegriffen wurde, zielten die Euthanasiedebatten im Monistenbund auf die gesetzliche Anerkennung der Tötung auf Verlangen – 358 Braune: Euthanasie und Arzt, 871–873, hier 871. 359 Ebd., 872. 360 Elster, Alexander: Euthanasie. In: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 36 (1915), 595–605, hier 596. 361 Beer, Max: Ein schöner Tod. Ein Wort zur Euthanasiefrage. Barmen 1914, 9; Kaßler: Das Recht auf Sterbehilfe (Euthanasie). In: Deutsche Juristenzeitung 20 (1915), Sp. 203–204, hier 204. Ferner, vgl. Olshausen: Zum Recht auf Sterbehilfe. In: Medizinische Klinik 11 (1915), 739; Hanauer: Euthanasie. In: Therapeutische Monatshefte 31 (1917), 107–112. Dazu auch Schmuhl: Rassenhygiene, 112.

Weltliches Gedenken  331

und nicht auf eine systematische Ermordung von als »unnütz« diffamierten Menschen.362 Zwar warnten Monisten wie Alfred Bozi vor einem Missbrauch der Sterbehilfe, allerdings erkannten sie nicht, dass ihre utilitaristische Ethik bereits ein Gefahrenpotential in sich trug.363 So folgte Ostwald in seiner Argumentation für die Sterbehilfe einer Nützlichkeitsmoral, die auch die Tendenz zum Inhumanen offenließ. Das Leben des Einzelnen hatte seiner Meinung nach nur dann einen Sinn, wenn es einen Nutzen für die Allgemeinheit erfüllte. Ostwald bewertete ethisches Handeln nach einem normativ-energetischen Kriterienkatalog. Demzufolge waren Handlungen dann ethisch, wenn sie sich nach rationalen und zweckorientierten Maßstäben richteten und einen Beitrag zum Kulturfortschritt leisteten. Indem Ostwald das Leben des Einzelnen einem normativen Zweck- und Leistungsprinzip unterordnete, stellte er zugleich den Lebenswert von schwerkranken und behinderten Menschen infrage. Die Konstruktion einer Kontinuitätskette zwischen monistischem und nationalsozialistischem Denken birgt jedoch nicht nur die Gefahr einer teleologischen und anachronistischen Deutung; sie würde auch die Vielschichtigkeit des monistischen Ethik- und Sterbehilfediskurses vor dem Ersten Weltkrieg verkennen. Das Recht auf vollkommene Selbstbestimmung  – und nicht die Beseitigung »lebensunwerten Lebens« – stand für Monisten im Vordergrund. Das folgende Kapitel untersucht die Verflechtung der Monismus- und Feuerbestattungsbewegung im Kaiserreich. Beide Bewegungen griffen nicht nur auf ein materialistisches und areligiöses Körperverständnis zurück; sie waren auch in lokale Auseinandersetzungen um das Recht auf säkulare Trauerfeiern ver­ wickelt. Dadurch leisteten Monisten einen essentiellen Beitrag zur Säkularisierung der Bestattungskultur in Deutschland.

4.

Weltliches Gedenken: Monismus, Feuerbestattung und Trauerkultur

Für die Verbreitung der Feuerbestattungsidee im 19. Jahrhundert waren antiklerikale und freidenkerische Akteure wegweisend. Die Verfechter der Einäscherung, sogenannte Krematisten, versprachen sich von dieser neuen Bestattungspraxis einen hygienischen und modernen Tod: Gegenüber der Erdbestattung verbanden sie die Kremationen mit Assoziationen von technischem Fortschritt, Wissenschaftlichkeit, Reinheit und Effizienz. Der Leichnam unterlag keinem Verwesungsprozess mehr, sondern wurde in einem hochtechnisierten Prozess eingeäschert. Die Einäscherung führte den leblosen Körper gewissermaßen dem 362 Weir: Riddles of Monism, 21; Schwartz: »Euthanasie«-Debatten, 618–622. 363 Braune: Fortschritt als Ideologie, 105.

332  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht Kreislauf der Natur zurück, indem die Asche den Boden düngte. Solche Argumente für die Feuerbestattung faszinierten auch die Monismusbewegung, die vor dem Ersten Weltkrieg eng mit den Krematisten zusammenarbeitete. Das folgende Kapitel zeigt, dass sich die Verbreitung der Feuerbestattungsidee im Monismus als ein Kampf um Säkularität begreifen lässt. So forderte die Feuerbestattung religiöse Transzendenzvorstellungen heraus, brach mit der christlichen Bestattungspraxis und prägte eine säkulare Trauerkultur in Deutschland. Säkularität beinhaltete für Monisten also auch eine Neuordnung von Praktiken im Umgang mit Tod und Trauer. Nach einer einführenden historischen Skizze des Feuerbestattungsdiskurses im langen 19. Jahrhundert beleuchtet das Kapitel die Kontroverse um das »Monistenloch« in Gera. Im Kontext dieser Debatte beharrten die Geraer Monisten auf ihrem Recht, säkulare Bestattungsfeiern bei Einäscherungen durchzuführen. Feuerbestattung im langen 19. Jahrhundert Die Einführung der Feuerbestattung im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert reformierte die Trauerkultur in Europa: Sie integrierte erstmals hochtechnisierte Verfahren in den Bestattungsprozess und begründete eine funktionale Trennung zwischen der Trauerfeier und der Einäscherung der Leiche. Der geringe Platzverbrauch der Asche sorgte zudem für eine effizientere Ausnutzung der Friedhofsfläche. Somit veränderte die Kremation nicht nur den Umgang mit dem toten Körper an sich, sondern transformierte auch den sakralen Raum des Friedhofs.364 Im Unterschied zur Erdbestattung vereinte das Krematorium verschiedene Etappen der Beerdigung in einem dafür angefertigten Funktionsbau: angefangen von der Aufbewahrung der Leiche über die Trauerfeier bis hin zur Einäscherung und Urnenbeisetzung.365 Erstmals tauchte der Begriff Feuerbestattung Mitte der 1870er Jahre auf, wobei unklar ist, ob ihn der Leipziger Mediziner Carl Heinrich Reclam (1821–1887) oder der Ingenieur Richard Schneider einführte.366 Davor war der pejorativ besetzte Terminus der Leichenverbrennung üblich. Für die frühe Rezeption der Feuerbestattungsidee im 19. Jahrhundert war die Rede des Sprachforschers Jacob Grimm (1785–1863) vor der Berliner Akademie der Wissenschaften am 29. November 1849 wegweisend. In seinem Vortrag Über das Verbrennen der Leichen 364 Fischer, Norbert: Technisierung des Todes. Feuerbestattung – Krematorium – Aschebeisetzung. In: Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal (Hg.): Raum für Tote. Die Geschichte der Friedhöfe von den Gräberstraßen der Römerzeit bis zur anonymen Bestattung. Braunschweig 2003, 145–162, hier 145. 365 Ebd., 145. 366 Fischer, Norbert: Zwischen Trauer und Technik. Feuerbestattung, Krematorium, Flamarium. Eine Kulturgeschichte. Berlin 2002, 11. Fischer spricht treffend von der »Technisierung des Todes«.

Weltliches Gedenken  333

stellte Grimm die ästhetischen und ökonomischen Vorzüge der Einäscherung heraus und lobte sie als Ausweis zivilisatorischen Fortschritts.367 Sowohl die Raumnot in den Städten als auch hygienische Probleme, die auf die Verunreinigung von Boden, Luft und Wasser zurückgeführt wurden, schärften um 1850 das Bewusstsein für alternative Bestattungsformen. Somit überrascht es kaum, dass es zur Jahrhundertmitte vor allem politisch tätige Mediziner, Hygieniker und Physiologen waren, die in Deutschland für die Einäscherung eintraten.368 Der Physiologe und Materialist Jacob Moleschott warb in seinem Werk Kreislauf des Lebens (1852) für eine landwirtschaftliche Nutzung der Asche als Düngemittel.369 Der preußische Militärarzt Johann Peter Trusen (1797–1857) forderte 1855, dass die Feuerbestattung aus hygienischen Gründen verpflichtend einzuführen sei.370 Ebenso verteidigten die Mediziner Carl Reclam und Friedrich Küchenmeister die Einäscherung als die »beste Sanitätspolizei des Bodens« und den »sicherste[n] Cordon gegen Epidemien«.371 In ihren Augen schien die herkömmliche Erdbestattung durch Fäulnis- und Verwesungsprozesse von Leichen die Ausbreitung von Krankheiten zu befördern. Zur selben Zeit stellte der Münchner Hygieniker Max von Pettenkofer (1818–1901) die Theorie auf, dass Krankheiten wie die Cholera nicht durch den Kontakt mit Erregern, sondern durch lokale Umweltfaktoren  – wie beispielsweise Bodenverunreinigungen  – entstanden (Antikontagionismus).372 Man erkennt, dass in der Befürwortung der Feuerbestattung um 1850 einerseits hygienische Argumente, andererseits auch ökonomische Erwägungen wie Ernteerträge eine wichtige Rolle spielten.373 In der Feuerbestattungsbewegung in Europa nahmen Italien und Deutschland eine Pionierrolle ein.374 Das erste Krematorium in Europa entstand auf dem 367 Grimm, Jacob: Über das Verbrennen der Leichen. Berlin 1850; Kaußen, Martina: Die Feuerbestattung. Geschichtlich-statistische Entwicklung, forensische Problematik und ihre Bedeutung für Gesundheitspflege und Sepulkralkultur. Diss Univ. Köln 1989, 40. 368 Zur Debatte in der medizinischen Literatur, vgl. Heike-Gmelin, Axel: Kremation und Kirche. Die evangelische Resonanz auf die Einführung der Feuerbestattung im 19. Jahrhundert. Berlin, Münster 2013, 45–57. 369 Moleschott: Kreislauf des Lebens; Fischer: Zwischen Trauer und Technik, 17. 370 Trusen, Johann Peter: Die Leichenverbrennung als die geeignetste Art der Todtenbestattung. Breslau 1855. Dazu auch: Kaußen: Feuerbestattung, 43 f. 371 Küchenmeister, Friedrich: Die Feuerbestattung; unter allen zur Zeit ausführbaren Bestattungsarten die beste Sanitätspolizei des Bodens und der sicherste Cordon gegen Epidemien. Berlin 1882, 343. 372 Pettenkofer, Max von: Untersuchungen und Beobachtungen über die Verbreitung der Cholera. München 1855. 373 Fischer: Technisierung des Todes, 146. 374 Einen Überblick bieten Ameskamp: Fanning the Flames; Ariès, Philippe: Geschichte des Todes. München 1992; Davies, Douglas, J. / Mates, Lewis H. (Hg.): Encyclopedia of Cremation. Aldershot, Burlington 2005; Fischer: Zwischen Trauer und Technik; Kaußen: Feuerbestattung; Laqueur, Thomas W.: The Work of the Death. A Cultural History of Mortal Remains. Princeton, Oxford 2015, 495 –548. Zur Feuerbestattungsdebatte im deutsch-italienischen Vergleich:

334  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht Cimitero Monumentale in Mailand, wo am 22. Januar 1876 die erste Feuerbestat­ tung durchgeführt wurde.375 Gestiftet wurde das Krematorium von Alberto Keller (1800–1874), einem Schweizer Seidenhändler. Zwei Jahre später, 1878, wurde in Gotha das erste Krematorium auf deutschem Boden errichtet, gefolgt von Heidelberg (1891) und Hamburg (1892). Parallel zu diesen Entwicklungen fand im Juni 1876 in Dresden der erste Europäische Kongress der Freunde für Feuerbestattung statt. Am 10. Dezember 1878 erfolgte in Gotha die erste gesetzlich zugelassene Feuerbestattung im Deutschen Reich.376 Für die Tatsache, dass die Feuerbestattungsidee gerade in den 1870er Jahren Anhänger mobilisieren konnte, war der politische Hintergrund der europäischen Kulturkämpfe entscheidend.377 Besonders in Italien war die Feuerbestattungsbewegung hochpolitisiert: Viele Krematisten waren liberale Mediziner, Wissenschaftler und Sozialpolitiker, die das Risorgimento unterstützen, häufig den Freimaurerlogen angehörten und antiklerikale Positionen vertraten.378 Auch für die jüdische Minderheit in Italien war die Feuerbestattung ein Thema, an dem sich Fragen nach moderner und traditioneller Selbstverortung entzündeten.379 Einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Kremation leisteten der Unternehmer Friedrich Siemens (1826–1904) und Ingenieur Richard Schneider bereits 1874, indem sie ein neues Verbrennungsverfahren, den sogenannten Regenerativ-Ofen, entwickelten.380 Die Innovation bestand darin, dass sich der Leichnam in glühend heißer Luft zersetzte (Heißluftverfahren) und nicht mehr im klassischen Sinne verbrannt wurde. Ausgehend von dieser technischen Innovation wurden bis 1915 in Deutschland rund 80.000 Einäscherungen durchgeführt – in Großbritannien kam man auf nur 15.000.381 In England waren es häufig Vertreter der Aristokratie und Upper middle class, die für die Einäscherung warben.382 Der Bau von Krematorien ging auf die finanzielle Unterstützung privater Vereine zurück, die sich in Berlin (1873), Gotha (1874), Dresden (1874), Leipzig Kosuch, Carolin: A Secular Corpse? Tracing Cremation in Nineteenth-Century Italy and Germany. In: Scheer, Monique / Fadil, Nadja / Schepelern Johansen, Brigitte (Hg.): Secular Bodies, Affects and Emotions: European Configurations. London, New York, Oxford u. a. 2019, 31–42. 375 Kaußen: Feuerbestattung, 50. 376 Fischer: Zwischen Trauer und Technik, 30. Bei dem Betroffenen handelte es sich um den Ingenieur Carl Heinrich Stier, der auch Vorsitzender des ansässigen Feuerbestattungsvereins war. Zu seiner Feuerbestattung erschienen rund 100 Krematisten aus dem gesamten Reichsgebiet. 377 Vgl. Dittrich: Antiklerikalismus in Europa; Borutta: Antikatholizismus. 378 Laqueur: Work of the Death, 528. 379 Kosuch, Carolin: Zwischen Gesetz und Technik. Die Feuerbestattungsfrage des 19. Jahrhunderts als Prisma italienisch-jüdischer Selbstverortung. In: Acta Historica Leopoldina 71 (2017), 155–171. 380 Kaiser: Arbeiterbewegung und organisierte Religionskritik, 58. 381 Fischer: Technisierung des Todes, 147. 382 Laqueur: Work of the Death, 532–533.

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(1874), Zürich (1879) und Hamburg (1883) gründeten.383 Am 27. September 1886 schlossen sich die krematistischen Vereine in Gotha zu einem Dachverband, dem Verband der Vereine deutscher Sprache für Reform des Bestattungswesens und facultative Feuerbestattung, zusammen.384 In Vorträgen, Vereinszeitschriften, Broschüren und Ausstellungen popularisierten die Krematisten die Vorteile und technischen Fortschritte der Einäscherung. Der Berliner Feuerbestattungsverein gab sein eigenes Organ mit dem bezeichnenden Titel Die Flamme heraus.385 Mithilfe von Petitionen versuchten die Vereine die kommunalen Behörden vom Bau neuer Krematorien zu überzeugen. Abgesehen von den entsprechenden Vereinspublikationen war die Feuerbestattung ein beliebter Gegenstand von bürgerlichen Familienzeitschriften wie Die Gartenlaube, die eine zentrale Rolle in der Popularisierung von Wissenschaft und Technik einnahmen.386 Vor dem Ersten Weltkrieg war die Feuerbestattung in Deutschland hauptsächlich ein bürgerliches Phänomen: In den ersten fünf Jahren seines Bestehens zählte das Krematorium in Gotha gerade einmal 46 Einäscherungen, die mehrheitlich dem protestantischen Bürgertum zuzurechnen waren.387 Da die Kosten für die Einäscherung zunächst vergleichsweise hoch waren, konnten sie von einer Arbeiterfamilie kaum getragen werden. »Solange in Preussen kein Krematorium raucht, können nur begüterte Leute sich den Luxus der Feuerbestattung leisten; denn der Transport der Leiche und der Angehörigen obendrein nach Gotha, Jena oder Hamburg läuft schwer ins Geld«, bemerkte das monistische Monatsblatt Neue Weltanschauung 1908.388 Erst in der Weimarer Republik sollte sich die Kremation zu einem zentralen Anliegen der proletarischen Freidenkerbewegung entwickeln. Um die Feuerbestattungsidee auch unter Arbeitern zu fördern, wurden bis 1914 verschiedene Sterbe- und Feuerbestattungskassen ins Leben gerufen, die eine Bestattung in Höhe von 140 bis 320 Reichsmark durch einmalige oder jährliche Beitragssätze ermöglichten. Ein Beispiel hierfür bildete der 1905 gegründete Berliner Verein der Freidenker für Feuerbestattung oder der 1913 ins Leben gerufene Volksfeuerbestattungsverein Groß-Berlin, dessen Initiatoren aus der Gewerkschaftsbewegung kamen.389 Das statistische Material zur sozialen und konfessionellen Verteilung von Feuerbestattungen bestätigt den Befund, dass die Arbeiterschaft vor 1914 deut 383 Sachmerda-Schulz, Nicole: Selbstbestimmt bis nach dem Tod. Zur Ausbreitung und Normalisierung der anonymen Bestattung. Wiesbaden 2017, 93. 384 Fischer: Zwischen Trauer und Technik, 18. Später »Verband der Feuerbestattungsvereine Deutscher Sprache«. Sein Zentralorgan war bis 1929 die in Wien erscheinende Zeitschrift »Phoenix«. 385 Vgl. Die Flamme. Zeitschrift zur Förderung der Feuerbestattung im In- und Ausland. Herausgegeben vom Verein für Feuerbestattung zu Berlin von 1874. 386 Fischer: Zwischen Trauer und Technik, 17. 387 Fischer: Technisierung des Todes, 147. 388 Zulassung der Feuerbestattung in Preussen. In: Neue Weltanschauung 1 (1908), 185. 389 Kaiser: Arbeiterbewegung und organisierte Religionskritik, 64.

336  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht lich unterrepräsentiert war: Zwischen 1878 und 1898 wurden 3.110 Feuerbestattungen auf deutschem Boden durchgeführt, was einem Anteil von 0,0217 % aller Bestattungen in diesem Zeitraum entsprach. Von den 2.118 Männern, die feuerbestattet wurden, waren 33,3 % Offiziere, Beamte und Anhänger der freien Berufe, 32,8 % Rentiers und Pensionäre, 28,5 % Kaufleute und Industrielle, 2,4 % Landwirte und Gärtner, 2,2 % Angestellte in Handel, Industrie und Landwirtschaft und lediglich 0,8 % Arbeiter und Tagelöhner. Zwischen 1910 und 1913 nahm der Anteil von Arbeitern, die sich einäschern ließen, deutlich zu: Er stieg auf 13,5 % an. Obwohl Arbeiter weiterhin die Minderheit an Feuerbestatteten ausmachten, stieg ihr Anteil durch neue Finanzierungsmöglichkeiten wie die erwähnten Sterbekassen deutlich an.390 Besonders im Jahr 1913 verzeichneten Einäscherungen im Kaiserreich einen rapiden Anstieg (von 8.858 auf 10.215), der mit den steigenden Kirchenaustrittszahlen in demselben Jahr korrelierte (vgl. Diagramm, Grafik 4). Da die katholische Kirche die Feuerbestattung aus dogmatischen Gründen ablehnte, hatte die Feuerbestattungsbewegung gerade im Italien des 19. Jahrhunderts einen deutlich antikatholischen Impetus. Das Verbot der Feuerbestattung in der katholischen Kirche ging auf das Paderborner Edikt Karls des Großen von 785 zurück, das den christlichen Glauben gegenüber heidnischen Bräuchen abzugrenzen versuchte. Bezugnehmend auf das Alte Testament stellte dieses Edikt die Einäscherung von Leichen unter Todesstrafe.391 Im Jahr 1886 verbot Papst Leo XIII. per Dekret die Teilnahme von Katholiken an Feuerbestattungsvereinen, deren Einäscherung sowie die Teilnahme von Priestern an Urnenbeisetzungen. Das Dekret sah vor, im Falle einer Leichenverbrennung Gläubige vom Friedhof und der kirchlichen Begräbnisfeier auszuschließen. Diese päpstliche Vorgabe wurde 1917 mit dem Codex Iuris Canonici in das katholische Kirchenrecht aufgenommen.392 Erst auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil 1963 hob das Heilige Offizium das Verbot der Einäscherung für Katholiken auf.393 Die Reaktion der evangelischen Landeskirchen auf die Feuerbestattungsbewegung schwankte zwischen Ablehnung und Akzeptanz. Da sich das Bestattungs- und Friedhofswesen um 1900 zunehmend in die kommunale Hand verlagerte, mussten sich auch die evangelischen Gemeinden den Verordnungen von Stadt und Kommune unterordnen. Dabei war die Gesetzeslage hinsichtlich der Feuerbestattung im Deutschen Reich keineswegs einheitlich: Nachdem das Herzogtum Sachsen-Weimar-Gotha 1878 die Feuerbestattung legalisiert hatte, folgten das Großherzogtum Baden 1891, Hamburg 1892, Sachsen 1898, Hessen 390 Zu den statistischen Angaben, vgl. Kaiser: Arbeiterbewegung und organisierte Religionskritik, 63. 391 Ebd., 60. 392 CIC von 1917, can. 1203. 393 Hänel, Dagmar: Bestatter im 20. Jahrhundert. Zur kulturellen Bedeutung eines tabuisierten Berufs. Münster 2003, 202.

Weltliches Gedenken  337

1899 und Württemberg 1905.394 Dass Hamburg gerade 1892 die Feuerbestattung erlaubte, hing auch mit der verheerenden Cholera-Epidemie desselben Jahres zusammen, die aus Hygienemängeln resultierte.395 Ein wichtiges Signal zur gesetzlichen Öffnung der Feuerbestattung ging 1911 von Preußen aus, wenngleich Preußen eines der Schlusslichter darstellte. Das Feuerbestattungsrecht vom 14. September 1911 schuf gesetzliche Grundlagen für die Einäscherung, an die sich auch die Altpreußische Landeskirche – trotz anfänglicher Proteste – halten musste. Besonders der preußische Oberkirchenrat stand vor dem Ersten Weltkrieg der Feuerbestattung reserviert gegenüber.396 So wurde es den Pfarrern selbst überlassen, ob sie an Feuerbestattungen mitwirken wollten oder nicht; zudem erlaubte der Oberkirchenrat zwar die Amtshandlung von Geistlichen bei der Trauerfeier im Krematorium, untersagte jedoch deren Mitwirken bei der Beisetzung der Asche.397 Es werde trotz der »eingetretenen Änderung der gesetzlichen Lage seitens der Kirche und ihrer Organe alles zu vermeiden sein, was als eine Förderung der Feuerbestattung erscheinen könnte«, erklärte der Evangelische Oberkirchenrat 1911.398 Christliche und konservative Stimmen führten verschiedene Argumente gegen die Feuerbestattung an. Zum einen verwiesen sie auf die Imitatio Christi, derzufolge jeder Christ die moralische Pflicht hatte, dem Vorbild Jesu zu folgen und sich erdbestatten zu lassen.399 Zum anderen interpretierten Christen die Feuerbestattung als eine Auflehnung gegen die göttliche Schöpfungsordnung, denn die Hitze drohte den menschlichen Körper, den Sitz der Seele, vollends zu zerstören.400 Die Vertreter der Amtskirchen befürchteten eine Dechristianisierung der Gesellschaft durch die Anerkennung der Leichenverbrennung, galt sie doch lange als heidnischer Brauch. Abgesehen von christlichen Einwänden gegen die Einäscherung warnten Juristen, Pathologen und Kriminologen davor, dass die Feuerbestattung potentielle Beweise für Verbrechen vernichte. Schließlich machte die Einäscherung den Nachweis von Giftmorden, unklaren Todesursachen oder Sterbefällen durch illegale Abtreibungen unmöglich.401 Insbesondere Lebensversicherungen um 1900 plädierten für das Verbot der Feuerbestattung, 394 Fischer: Technisierung des Todes, 149. 395 Ebd., 150. Ausführlich zur Cholera-Epidemie in Hamburg, vgl. Evans, Richard J.: Death in Hamburg. Society and Politics in the Cholera Years, 1830–1910. Oxford 1987. 396 Kaiser: Arbeiterbewegung und organisierte Religionskritik, 61. 397 Ebd., 61. 398 Schulz: Das preußische Feuerbestattungsrecht, 78–79. 399 Axel Heike-Gmelin hat die christlichen Einwände gegen die Feuerbestattung detailliert herausgearbeitet. Diese bezogen sich einerseits auf die posthume Existenz des Toten, die Frage nach Gottes Allmacht, den Status der Bestattung als Sakrament und die Imitation Jesu, vgl. Heike-Gmelin, Axel: Kremation und Kirche, 112–118, hier 114. 400 Ameskamp: Fanning the Flames, 104; Heike-Gmelin: Kremation und Kirche, 116. 401 Ebd., 102.

338  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht 350 305

300 253

250

265

261 261

252

254

229 222

198

200

273

259

177 153

150 111 100

83

74

104 85 89 88

125

128

106

115 123

1 2

5 5 6

51 52 43 48 49 34 40 29 16 19 23 7 8 9 10 12 15

18 90 18 91 18 92 18 93 18 94 18 95 18 96 18 97 18 98 18 99 19 00 19 01 19 02 19 03 19 04 19 05 19 06 19 07 19 08 19 09 19 10 19 11 19 12 19 13 19 14 19 15 19 16 19 17 19 18

3 3 3 3 3 3 4

134

102

50 0

171

Anzahl der Krematorien

Durchschnittliche Anzahl von FB pro Krematorium

Grafik 3: Anzahl der Krematorien im Deutschen Reich (1890–1918).

18000 15878

16000

13952

14000

11448 11140 10640

12000

10215

10000

8858 7551

8000

6094

6000 4000 2000

111

165

221

256

267 263 312 374 423 511 639 692

18 90 18 91 18 92 18 93 18 94 18 95 18 96 18 97 18 98 18 99 19 00 19 01 19 02 19 03 19 04 19 05 19 06 19 07 19 08 19 09 19 10 19 11 19 12 19 13 19 14 19 15 19 16 19 17 19 18

0

4773 4049 2980 2052 13811769 8611075

Grafik 4: Anzahl der Feuerbestattungen im Deutschen Reich (1890–1918).

Weltliches Gedenken  339

weil die Autopsie der Leichen erforderlich war, um verschleierte Suizide aufzudecken und Ansprüche von Angehörigen für ungültig zu erklären.402 Monismus, Freidenkerei und Feuerbestattung Zwar war die Einäscherung vor dem Ersten Weltkrieg eine marginale Bestattungspraxis, die vor allem vom protestantischen Bürgertum, führenden Sozialdemokraten und Freidenkern wahrgenommen wurde; doch etablierte sich das Recht auf Feuerbestattung zu einer Hauptforderung antiklerikaler und dissidenter Gruppen. Für die Monismusbewegung, aber auch für andere Freidenker, Freimaurer, Liberale und Sozialdemokraten bedeutete die Liberalisierung des Bestattungswesens zweierlei: eine Erweiterung individueller Freiheitsrechte und den Schutz weltanschaulicher Minderheiten vor kirchlicher Bevormundung.403 So verwundert es kaum, dass das Weimarer Kartell die »Freiheit der Bestattungsformen (Feuerbestattung)« 1909 in ihr Grundsatzprogramm aufnahm.404 Ein häufiger Vorwurf von christlicher Seite an die Krematisten lautete, dass sie mit ihrer Feuerbestattungsidee ein materialistisches und areligiöses Weltbild popularisierten. Die assoziative Verbindung von Feuerbestattung, Antiklerikalismus und Freidenkertum war durchaus begründet, da prominente Verfechter der Kremation wie etwa Jacob Moleschott, Rudolf Virchow oder Ernst ­Haeckel zugleich als Kirchenkritiker bekannt waren. Dennoch würde es zu kurz greifen, wie Simone Ameskamp herausstellt, die Feuerbestattungsbewegung schlichtweg dem Paradigma von Säkularisierung und Rationalisierung unterzuordnen. Obwohl Krematisten mit christlichen Todesvorstellungen brachen, spielte die Suche nach Religiosität und neuen Moralvorstellungen auch bei ihnen eine eminente Rolle.405 Das Spannungsverhältnis aus Antiklerikalismus und religiöser Suche äußerte sich besonders in der Aneignung theologischer Begriffe durch Krematisten. Karl Weigt, der zugleich der monistischen Freimaurerloge Zur aufgehenden Sonne angehörte, gab 1901 einen Katechismus der Feuerbestattung heraus.406 In dem genretypischen Frage-Antwort-System informierte der Katechismus nicht nur über die Geschichte und Verbreitung der Feuerbestattungsbewegung in Europa, sondern reflektierte auch über moralische Implikationen der Einäscherung wie 402 Ebd., 102. Dazu auch Hellwig, Albert: Feuerbestattung und Rechtspflege. Leipzig 1911. 403 Ameskamp: Fanning the Flames, 106. 404 Groschopp: Dissidenten, 21. 405 Ameskamp: Fanning the Flames, 109. 406 Weigt, Karl: Katechismus der Feuerbestattung. Auskunfts- und Nachschlagebüchlein für Jedermann über alles Wissenswerthe aus dem Gebiete der Feuerbestattung. Im Auftrag des Vereins für Feuerbestattung zu Frankfurt a. M. 2. Aufl. Selbstverlag 1901. Weigt war auch Großmeister des monistischen Freimaurerbundes »Zur aufgehenden Sonne«, vgl. den Briefwechsel zwischen Weigt und Ostwald, ABBAW, NL Ostwald, Nr. 3931.

340  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht ihr Verhältnis zur Nächstenliebe, Toleranz und zum Selbstbestimmungsrecht des Menschen über seinen Körper. Ferner klärte der Katechismus darüber auf, wie teuer eine Feuerbestattung war, wie man diese organisierte, wie viele Krematorien es in Deutschland und Europa gab und wie lange eine Einäscherung dauerte. Die ideologische Verbindung zwischen der monistischen Weltanschauung und der Feuerbestattungsidee beruhte einerseits auf der Kirchenferne, andererseits auf einem holistischen Naturverständnis und zum dritten auf einem materialistischen Körperbild. Monisten betrachteten die Einäscherung als einen Weg, den Leichnam in den Kreislauf der Natur zu integrieren, denn die Asche diente als Düngungsmittel für den Boden und bereitete so neuem Leben den Weg. Gleichzeitig verabschiedeten Monisten die Vorstellungen einer transzendenten Seele, indem sie die Körperfunktionen als ein mechanisches Zusammenspiel der Materie deuteten. Wie auch bei den Krematisten, so konvergierten in der Monismusbewegung Technikeuphorie und romantische Naturverehrung miteinander. Die Einäscherung zersetzte den Körper in seine elementaren Bestandteile und integrierte diesen in das Naturganze; herbeigeführt wurde dieser Prozess jedoch mit den Mitteln der Technik.407 Albert Kalthoff, der erste Vorsitzende des Monistenbundes, hielt 1884 im Hamburger Verein für Feuerbestattung einen Vortrag über Religion und Feuerbestattung. Kalthoff erachtete die Feuerbestattung als eine lebensbejahende Bestattungspraxis, mit der nicht das Jenseits, sondern das irdische Leben und die Menschheit geehrt wurde.408 Der moderne Glaube sei zur Einsicht gelangt, so Kalthoff, dass Gottes Reich »im Menschen wohnt und dort aufgehen will als eine Kraft, die das Leben idealisiert und die menschliche Gemeinschaft ihren Zielen näher bringt.«409 Gegenüber dem Vorwurf der Kirchen, die Feuerbestattung entspreche einem heidnischen Brauch, betonte Kalthoff, dass Gott sowohl in der »Flamme des Feuerofens wie in den zersetzenden Kräften des Erdgrabes« wirke.410 Nicht zuletzt versprach die Einäscherung, die konfessionellen Konflikte zu überwinden: »Indem die Feuerbestattung so die confessionelle Trennung der Toten beseitigt, wird sie nicht verfehlen, auch die Lebenden einander näher zu bringen.«411 Darüber hinaus lobten Monisten und andere Freidenker die Einäscherung als einen Akt der Selbstbestimmung gegenüber der Dominanz der kirchlichen Erdbestattung: »Die Geistlichen, denen die Lebenden immer mehr durch die Finger schlüpfen, klammern sich mit aller Gewalt wenigstens an den Leichen fest«, hieß 407 Ameskamp: Fanning the Flames, 101. 408 Heike-Gmelin: Kremation und Kirche, 72. 409 Kalthoff, Albert: Die Religion und die Feuerbestattung. Hamburg 1884, 9. Zit. n. HeikeGmelin: Kremation und Kirche, 72. 410 Ebd., 1. Zit. n. Heike-Gmelin: Kremation und Kirche, 72 f. 411 Ebd., 14. Zit. n. Heike-Gmelin: Kremation und Kirche, 73.

Weltliches Gedenken  341

es 1908 in der Neuen Weltanschauung.412 Das zögerliche bis ablehnende Verhalten vieler deutscher Staaten gegenüber der Anerkennung der Feuerbestattung verurteilten gerade Sozialdemokraten als eine Privilegierung der besitzenden Klassen, die mit Reaktion und Kirche Hand in Hand gingen. Die Bourgeoisie, so der Vorwurf, würde die mit hohem Kostenaufwand verbundene Feuerbestattung als Distinktionsmittel gegenüber den Arbeiterklassen benutzen. Bewusst stellten die Krematisten der bürgerlich-adeligen Tradition der Familiengruft das Urnenreihengrab (Kolumbarium) gegenüber, in dem das Individuum (und nicht Herkunft oder Geschlecht) im Vordergrund stand.413 Das Freie Wort brandmarkte das Zögern Preußens in der Feuerbestattungsfrage 1910 als eine Bevorzugung der Besitzenden und deren »Mammonismus«.414 Die reaktionäre Politik in Preußen lastete das Freidenkerblatt besonders dem Einfluss der alten »Junker-Generationen« an, die alles daransetzten, die Sozialdemokratie zu schwächen:415 Merkwürdigerweise empört es die Volksseele gar nicht, daß jeder, der das nötige Geld hat, die Leichen seiner Angehörigen nach einem der anderen deutschen Bundesstaaten zur Kremation bringen kann. Das ist nämlich das Charakteristische der preußischen Reaktion: mit Geld sind alle ihre Nachteile leicht abzuwenden.416

Ihre Kirchenferne demonstrierten die Anhänger der Feuerbestattungsbewegung, indem sie die Ästhetik und Architektur der Krematorien bewusst an die griechisch-römische Antike, den Humanismus und die Aufklärung anlehnten.417 So erinnerte beispielsweise die Säulenhalle des 1891 erbauten Krematoriums in Heidelberg an einen römischen Tempel. Phönix, der gemäß der griechischen Mythologie aus der eigenen Asche emporstieg, etablierte sich unter Krematisten zum beliebten Symbol der Unsterblichkeit.418 Die »Ästhetik der Einäscherung«, die sich gerade vor 1914 durch einen »historistischen Stilpluralismus« auszeichnete, etablierte sich dabei bewusst als Gegenentwurf zur christlichen Ikonografie und Sakralarchitektur.419 412 Zulassung der Feuerbestattung in Preußen. In: Die Neue Weltanschauung 1, Nr. 5 (Mai 1908), 184. Hervorhebung im Original. 413 Zerbe, Doreen: Vom ehrlich-christlichen Begräbnis zur modernen Bestattung. Leipzigs Friedhöfe im Wandel der Zeiten. In: Bünz, Enno / Kusche, Armin (Hg.): Das religiöse Leipzig. Stadt und Glauben vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Leipzig 2013, 413–436, hier 430. 414 »Mammonismus« war um 1900 ein gängiger Topos der linken Kapitalismuskritik. Mammon stammt aus dem Aramäischen und bedeutet Vermögen. Im Neuen Testament taucht die Kritik am Mammon im Matthäusevangelium auf, dem zufolge Jesus gesagt haben soll: »Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon«. (Mt. 6.24). 415 Feuerbestattung und Herrenhaus. In: Das Freie Wort 10, Nr. 6 (1910), 233–234, hier 234. 416 Ebd., 233. 417 Fischer: Zwischen Trauer und Technik, 21. 418 So trug das Organ des Wiener Feuerbestattungsverbandes den Titel »Phönix«, vgl. Ameskamp: Fanning the Flames, 105. 419 Fischer: Zwischen Trauer und Technik, 21 u. 40.

342  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht Abgesehen von ökonomischen, hygienischen und kirchenkritischen Gesichtspunkten versprach die Feuerbestattung einen ästhetischen Tod. Während Krematisten die Erdbestattung mit Verwesung, Fäulnis, Krankheit und Mittelaltertum assoziierten, ermöglichte die Feuerbestattung in ihren Augen einen würdevollen Umgang mit dem toten Körper.420 »Macht dich der Gedanke nicht erstarren / Deine Liebste, teuerste auf Erden,/Einst in feuchter Erde einzuscharren,/Wo die Würmer sie verzehren werden?«, klagte der Schriftsteller Camillo Morgan 1886 über die Erdbestattung in seinem Gedicht Horrores ­Sepulcrorum.421 Gegenüber der Vorstellung eines langsamen Verwesungsprozesses, die gerade durch das bakteriologische Wissen der Zeit befeuert wurde, imaginierten Krematisten die Einäscherung als einen Akt der Reinigung.422 Denn der Prozess der Einäscherung vermochte die Gefahren von Krankheit, Boden- und Wasserverunreinigungen – verursacht durch die Verwesung von Leichen – abzuwenden. Zudem sorgte die funktionale Trennung von Trauerhalle und Verbrennungstrakt dafür, dass die Angehörigen vor dem Anblick des Leichnams bewahrt wurden. Insbesondere monistische Ortsgruppen traten für die Verbreitung und Anerkennung der Feuerbestattungsidee vor Ort ein. Im Monistischen Jahrhundert führte man regelmäßig Listen von neu erbauten Krematorien in deutschen Städten auf, verzeichnete die jüngsten Erfolge der Feuerbestattungsvereine und prangerte die »Gegner der Feuerbestattung« auf katholischer und evangelischer Seite an.423 Wie auch bei anderen Themen stand die katholische Kirche im Visier der monistischen Polemik. Die »Skandalchronik« der katholischen Kirche im Umgang mit der Kremation wachse »Blatt um Blatt«, bemerkte das Monistische Jahrhundert 1915 in einem Bericht über einen Feuerbestattungskonflikt in Bern. »Von der Mauer, welche die Kirche gegen die Leichenverbrennung aufgerichtet hat, bröckelt nur langsam Kalk und Stein, vorzüglich langsam in katholischen Landen.«424 Auf lokaler Ebene kooperierten monistische Ortsgruppen mit ansässigen Feuerbestattungsvereinen, wenn es beispielsweise um die Mitnutzung der städtischen Friedhofskappelle für säkulare Bestattungsfeiern ging. Die Popularisierung der Feuerbestattungsidee war somit stets mit der Forderung nach weltlichen Trauerfeiern verbunden. So berichtete 1914 eine Ortsgruppe des 420 Für die Hinweise zu den zentralen Diskursen der Feuerbestattungsbewegung danke ich Carolin Kosuch. 421 Morgan, Camillo: Horrores Sepulcrorum, Wien 1886. Zit. n. Heike-Gmelin: Kremation und Kirche, 111. 422 Ameskamp: Fanning the Flames, 100. 423 Die Gegner der Feuerbestattung. In: Die Neue Weltanschauung 4, Nr. 4 (April 1911), 150. Kirche wider Feuerbestattung. In: DMJ 4 (1915), 190; Fränkel, Ludwig: Neueste Statistik der Feuerbestattungen im Deutschen Reiche. In: Md DMB 2, Nr. 2 (Febr. 1917), 25–27; Pauly: Die Feuerbestattung in den deutschen Bundesstaaten. In: Henning (Hg.): Handbuch der freigeistigen Bewegung, 262–281. 424 Kirche wider Feuerbestattung. In: DMJ 4 (1915), 190.

Weltliches Gedenken  343

DMB im Monistischen Jahrhundert, dass man sich »an zwei Feuerbestattungen

[…] beteiligt« habe, wobei »die ›Predigt‹ von einem unsrer Mitglieder gehalten wurde und so auf die Mitwirkung der Geistlichkeit verzichtet werden konnte.«425 Seit 1912 informierte der monistische Taschenkalender seine Leser über die Entwicklung der Feuerbestattungsbewegung in Deutschland und rief dazu auf, sich Bestattungskassen anzuschließen. Die Kassen versprachen, die »Betriebskosten« einer Einäscherung für einen jährlichen Beitrag von 3 bis 4 Mark zu decken. Die Autoren lobten die Legalisierung der Feuerbestattung in allen deutschen Ländern – mit Ausnahme von Bayern und Mecklenburg – als »wahrhafte[n] Kulturfortschritt«: Was schon in den ältesten Zeiten geübt wurde und dann, besonders infolge Verbotes der katholischen Kirche allmählich in Europa gänzlich verschwand, nämlich die Bestattung der menschlichen Leichname durch die Flamme, ist seit Mitte des 19. Jahrhunderts wieder mehr zur Geltung gekommen und jetzt zu einer Bedeutung gelangt, daß dieser wahrhafte Kulturfortschritt nicht mehr zurückgedrängt werden kann.426

Monisten führten vor allem ökonomische Gründe an, um ihre Anhängerschaft für die Feuerbestattung zu mobilisieren: »Ein besonderer Reiz dieser Bestattungsart ist ja gerade ihre Billigkeit«, hieß es 1908 in der Neuen Weltanschauung, wobei man einräumte: »Gewiss, heute sind die Kosten, die das Verbrennen verursacht, noch etwa ebensogross, wie die des Begrabens. Aber sie verringern sich ganz bedeutend, je mehr Menschen sich verbrennen lassen, während […] die Kirchhofmieten um so teurer werden, je mehr sich die Nachfrage nach Plätzen steigert.«427 Der freigeistige Kampf für die Feuerbestattung war durchaus wirksam, da Einäscherungen bis zum Ersten Weltkrieg nicht nur in zahlreichen Ländern gesetzlich anerkannt wurden, sondern die Zahl der Feuerbestatteten besonders nach 1919 rapide anstieg. Aus einer Statistik von 1926 geht hervor, dass die Gesamtzahl von Feuerbestattungen im Deutschen Reich von 2.052 Einäscherungen im Jahr 1906, auf 11.140 (1914) und schließlich auf 15.878 im Jahr 1918 anstieg – sich in diesem Zeitraum also versiebenfachte (vgl. Grafik 4).428 Allein in Hamburg versechzehnfachte sich innerhalb von 15 Jahren die Gesamtzahl von Feuerbestattungen: von 41 im Jahr 1895 auf 678 im Jahr 1910.429

425 DMJ 3 (1914), 212. 426 Die Feuerbestattung in Deutschland. In: Ortsgruppe München des DMB (Hg.): Monistischer Taschenkalender 2 (1912), 114. 427 Zulassung der Feuerbestattung in Preussen. In: Neue Weltanschauung 1, Nr. 4 (1908), 185. 428 Vgl. Weinisch, Theodor: Die Feuerbestattung im Lichte der Statistik. Univ. Diss. Erlangen 1927, 33. 429 Vgl. Fischer: Zwischen Trauer und Technik, 35.

344  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht Das »Monistenloch« in Gera Seit den Friedhofs- und Bestattungsreformen im ausgehenden 18. Jahrhundert (z. B. unter dem aufgeklärten Absolutismus Josephs II.) wurde die Friedhofsverwaltung zunehmend in die städtische und kommunale Hand verlagert – mit zahlreichen Konsequenzen für die Bestattungspraxis: Die traditionsreichen Familiengrüfte wichen dem standardisierten Einzelgrab, was wiederum zu einer »Egalisierung der Toten« auf dem Friedhof beitrug.430 Städte und Kommunen verabschiedeten Gesetze und Vorgaben zur Aufbewahrung, zum Transport und zur Bestattung von Leichen. So mussten Verstorbene mindestens 48 Stunden (mancherorts sogar 72 Stunden) in einer Leichenhalle aufbewahrt werden, um diese auf Lebenszeichen und einen potentiellen Scheintod hin zu überprüfen. Indessen wich der vormoderne Kirchhof dem modernen Friedhof am Rande der Stadt, auf dem alle Elemente des Begräbnisses ausgelagert wurden. Damit verbannte man den Tod als sichtbares außeralltägliches Phänomen endgültig aus dem städtischen Alltag.431 Obwohl die Feuerbestattung in den meisten evangelischen Landeskirchen zugelassen wurde, blieb die Durchführung von weltlichen Trauerfeiern ein umstrittenes Thema innerhalb der Gemeinden. Weltliche Kulte wie etwa das Singen der kommunistischen Internationale oder das Hissen sozialistischer respektive freidenkerischer Flaggen lösten Proteste unter den Gemeindemitgliedern der ansässigen Kirchen aus. Diese Tatsache veranschaulicht die Kontroverse um das »Monistenloch« in Gera im Sommer 1910, in der es um die überkonfessionelle Nutzung der Friedhofskapelle für weltliche Trauerfeiern ging. Aufsehen erregte das Krematorium durch einen separaten Versenkungsschacht für Freidenker und Konfessionslose, der im damaligen Volksmund »Monistenloch« genannt wurde.432 Nachdem ein Mitglied des Geraer Monistenbundes diesen Versenkungsschacht verächtlich als Monistenloch bezeichnet hatte, bürgerte sich der Ausdruck bald unter der lokalen Bevölkerung ein.433 Die öffentliche Kontroverse um das Monistenloch führt vor Augen, wie stark der Monismus in kaiserzeitliche Debatten um die Feuerbestattung und einen außerkirchlichen Umgang mit Tod involviert war. In ihren Auseinandersetzungen mit lokalen Entscheidungsträgern forderten Monisten ihr Recht auf eine säkulare Trauerund Bestattungspraxis ein. Bemerkenswert dabei ist, wie Monisten ihre Gegner skandalisierten und zugleich selbst skandalisiert wurden. 430 Zerbe: Leipzigs Friedhöfe, 424. 431 Ebd., 425 f. 432 Zum Geraer Konflikt, vgl. Fischer, Norbert: Geschichte des Todes in der Neuzeit. Erfurt 2001, 60; Ders.: Technisierung des Todes, 152; Ders.: Zwischen Trauer und Technik, 38–39. 433 List, Annegret: Das Jugendstil-Krematorium Gera – ein überregional bedeutendes Baudenkmal. In: Thüringer Hefte für Volkskunde 8/9 (2003), 108–115, hier 110.

Weltliches Gedenken  345

Das Neue Krematorium in Gera wurde am 12. Juni 1910 nach mehrjährigen behördlichen Kämpfen in Betrieb genommen.434 Veranlasst wurde der Bau des Krematoriums von dem örtlichen Feuerbestattungsverein; die Finanzierung, Projektierung und Bauleitung übernahm allerdings die Stadt Gera. Der Krematoriumsbau stach durch seine außergewöhnliche Jugendstil-Architektur und die bewusste Zurschaustellung der Schornsteine hervor, die mit bisherigen ästhetischen Konventionen brach. Als weiteres Unikum wies das Krematorium in Gera einen separaten Versenkungsschacht für Nichtgläubige auf, der die Leichen in einen unterirdischen Verbindungsgang zwischen Friedhofskapelle und Krematorium beförderte.435 Das Freidenkerblatt Freies Wort rekonstruierte im August 1910 den Verlauf der Kontroverse im Detail.436 Aufgrund von Konflikten um die überkonfessionelle Nutzung des Krematoriums hatte die evangelische Landeskirche des Kleinfürstentums Reuß (Jüngere Linie) 1910 angeordnet, dass bei nichtchristlichen Bestattungsfeiern ein separater Versenkungsschacht genutzt werde, der den Sarg in den Einäscherungstrakt beförderte. Da die zwischen Kapelle und Krematorium befindliche Öffnung keinen Versenkungsfahrstuhl besaß, mussten die Särge mit Stricken ins Loch befördert werden (was viele Dissidenten als unwürdig empfanden). Zudem wurde Konfessionslosen lediglich zugestanden, Trauerfeiern in der im Untergeschoss der Kapelle befindlichen Leichenhalle abzuhalten, »wo man im Sommer vor Leichengeruch ohnmächtig werden« konnte und einem »im Winter vor Kälte die Füße« erfroren, so das Freidenkerblatt Neue Weltanschauung.437 Den Auftakt der Auseinandersetzung um das Monistenloch bildete eine Zusatzbestimmung im Ortsgesetz der Stadt Gera zur Regelung von Feuerbestattungen, die der Geraer Stadtrat 1909 ergänzte: Gedenkfeiern in Verbindung mit Feuerbestattungen sollten nur unter Anwesenheit eines Geistlichen, der »seines Amtes« waltete, zulässig sein. Der Stadtrat war im Voraus von dem Fürstlich Reußischen Ministerium in Thüringen zu diesem Schritt veranlasst worden. Obschon die Ortsgruppe Gera des Deutschen Monistenbundes auf die Tragweite und Unzulässigkeit dieser Novellierung aufmerksam gemacht hatte, nahm der 434 Ebd., 109. Über Jahre hinweg verweigerte das Fürstentum Gera-Reuß (Jüngere Linie) die Genehmigung zum Bau des Krematoriums. 435 Ebd., 111–112; Fischer: Geschichte des Todes, 60. Die außergewöhnliche Architektur des Geraer Krematoriums hing auch mit dem Kremato-Columbarium-System Marsch zusammen. Da auf dem Geraer Ostfriedhof bereits eine Friedhofskapelle mit Trauerhalle vorhanden war, ließ der Geraer Stadtbaurat Adolf Marsch eine Verbrennungsanlage errichten, die mit dem Kolumbarium verbunden wurde. Diese einzigartige Kombination ließ er sich unter seinem Namen patentieren. Vgl. Fischer: Zwischen Trauer und Technik, 30. 436 Das »Monistenloch« des Geraer Krematoriums. In: Das Freie Wort 4, Nr. 5 (1910), 38–40. 437 Das Monistenloch des Krematoriums in Gera. In: Neue Weltanschauung 3, Nr. 3 (1910), 342–343, hier 342.

346  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht Gemeinderat die neue Bestimmung an.438 Proteste von Seiten der Konfessionslosen, Freidenker und Monisten ließen nicht lange auf sich warten. Nach mehreren Bürgerversammlungen und wiederholten Protesten von örtlichen Freidenkern und Monisten beschloss der Gemeinderat 1910, die Ortsbestimmung abzuändern und Trauerfeiern für verstorbene Dissidenten auch ohne Anwesenheit eines Geistlichen zuzulassen. In diesem Falle sah man jedoch vor, dass der Altarraum der Kapelle durch einen Vorhang verdeckt wurde und der weltliche Redner im Vorfeld eine Genehmigung beim Stadtrat einzuholen hatte. Auf Anraten des Kirchengemeindevorstandes hin lehnte das Ministerium für Kirchen- und Schulsachen die Abänderung der Ortsbestimmung allerdings ab.439 In ihrer Begründung berief sich die Ministerialabteilung auf einen Vertrag vom 17. Januar 1881, der besagte, dass die Kapelle der städtischen Kirchengemeinde allein zu kirchlichen Zwecken zur Verfügung gestellt worden sei. Das Nutzungsrecht schloss Feuerbestattungen und Gedenkfeiern für Nicht-Christen und Konfessionslose aus. Allerdings bezog sich der Vertrag zwischen der örtlichen Kirchen- und Stadtgemeinde ausschließlich auf den Süd- und nicht auf den Ostfriedhof mitsamt Kapelle, der 1899 von der Stadt Gera angelegt worden war. Die Stadt Gera hatte demzufolge das Nutzungsrecht für die Friedhofskapelle inne. Der Weg zu einem kirchenpolitischen Konflikt zwischen Gemeinderat, Ministerium und Freidenkern war damit geebnet. Der Vorsitzende der DMB -Ortsgruppe in Gera, Otto Plarre, erregte in einem öffentlichen Briefwechsel mit dem Erbauer des Krematoriums die Gemüter.440 In der Zeitschrift des DMB wies Plarre die Argumente des Kultusministeriums als haltlos zurück und verglich das Monistenloch mit dem katholischen »Schandwinkel«, wo uneheliche Kinder und Selbstmörder begraben wurden.441 Plarre betonte des Weiteren, dass die Kapelle ein weltliches Gebäude der Stadtgemeinde sei und das Untergeschoss derselben als »interkonfessionelle Leichenhalle« diene. Ferner wies er darauf hin, dass das Fürstentum Reuß seit 1869 kein christlicher Staat mehr sei, weshalb eine Privilegierung bestimmter Konfessionen unzulässig sei. Mit dem Monistenloch würden Konfessionslose zu »minderberechtigten Bürgern 2. Klasse« herabgewürdigt, so Plarre abschließend.442 Die monistische Freidenkerzeitschrift Neue Weltanschauung wies den Vorwurf der Geraer Zeitung entschieden zurück, dass der Protest der monistischen und freigeistigen Gruppen auf deren Intoleranz gegenüber den Kirchengläubigen schließen lasse. Im Gegenteil sei das Verhalten der verantwortlichen Behörden als intolerant einzustufen: »Die Nichtkirchengläubigen haben lediglich die For 438 Das »Monistenloch« des Geraer Krematoriums. In: Das Freie Wort, 39. 439 Ebd., 39. 440 List: Jugendstil-Krematorium Gera, 110. 441 Plarre, Otto: Monistenloch in Gera. In: Der Monismus 5, Nr. 52 (1910), 455–457. 442 Ebd., 457.

Weltliches Gedenken  347

derung der Gleichberechtigung gestellt. Diese ist ihnen nicht erfüllt worden, und deshalb bleibt der Vorwurf der Intoleranz auf den maßgebenden Behörden sitzen.«443 Dennoch schien die monistische Ortsgruppe in Gera mit ihrem Kampf für die Nutzung der Kapelle für säkulare Trauerfeiern letzten Endes Erfolg gehabt zu haben. Am 12. Februar 1911 richtete sich Otto Plarre mit der Bitte an Ostwald, in Gera einen Vortrag zu halten, um noch unentschlossene Sympathisanten, Gleichgültige oder »feindlich« Gesinnte von der Bedeutung der monistischen Weltanschauung zu überzeugen. Dabei verwies er explizit auf die bisherigen Erfolge der Ortsgruppe: Wenn unsere Ortsgruppe es auch erst auf 43 Mitglieder gebracht hat, so hat sie doch schon eine reichliche Menge monistischer Saat unter der hiesigen Bevölkerung ausgestreut, einerseits durch zahlreiche öffentliche Vorträge […], andererseits durch unsere zähen Kämpfe in praktischen kulturellen Fragen, wie z. B. in den Angelegenheiten der glaubensfreien Eidesformel, des sog. »Monistenlochs« des Geraer Krematoriums, der Religionsbekenntnisangabe bei der Volkszählung, des Kirchenaustritts aller nicht mehr Kirchengläubigen u. a. Jedermann weiß hier infolgedessen, was der Monistenbund will, und die Stimmung der hiesigen Bevölkerung, besonders der Lehrerkreise, ist uns im allgemeinen nur günstig. Es herrscht aber bei den meisten unserer stillen Freunde mit oder ohne Grund noch zu viel Zaghaftigkeit u. Bangigkeit, als daß sie sich zum Beitritt zu unserer Ortsgruppe entschließen könnten.444

Die Kontroverse um das »Monistenloch« erregte großes Aufsehen innerhalb des freigeistigen Milieus und wurde auch außerhalb dieser Kreise rezipiert. Eine Karikatur aus dem Jahr 1910 (Abb. 20) bildete das Geraer Krematorium mit zwei Abteilungen ab: Auf der linken Seite erkennt man eine Abteilung für Monisten und Atheisten, auf der rechten eine für Christen. Während die Verstorbenen der Atheisten-Abteilung aus der Sargklappe fallend direkt im Fegefeuer landen, steigen die Verstorbenen der zweiten Abteilung – trotz Feuerbestattung – als Engel in den Himmel auf. Dort werden sie an der Himmelspforte empfangen.445 Die Karikatur brachte die assoziative Verkettung, die der Monismus gerade bei Konservativen und Christen auslöste, auf die Spitze: In ihren Augen stand der Monismus für die gesellschaftszersetzende Gefahr des Atheismus und Sozialismus. Die religionspolitische Kontroverse um das Monistenloch diente dem evangelischen Theologen, Sozialisten und Pazifisten Emil Felden in seinem Roman Die Sünde wider das Volk (1921) als Beispiel für den systematischen Ausschluss von Minderheiten aus der Mehrheitsgesellschaft. In seinem Roman, der den 443 Das Monistenloch des Krematoriums in Gera. In: Neue Weltanschauung 3, Nr. 3 (1910), 342–343, hier 343. 444 Otto Plarre an Wilhelm Ostwald, Gera, 12.2.1911. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 2332. 445 Das Neue Krematorium. In: Faschings-Festzeitschrift des geselligen Clubs in Gera 1 (13.2.1910). Abgedruckt in List: Jugendstil-Krematorium Gera, 114.

348  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht Antisemitismus in Deutschland verurteilte, zog er eine Analogie zwischen der Diskriminierung von Dissidenten und Juden: Jeder, der als einzelner zwischen lauter Andersgläubigen lebt, wird als etwas Fremdes und Störendes empfunden, als einer, der eigentlich nicht dazu gehört […]. Der Monist unserer Tage, der in einem kleinen, bigotten Nest lebt, weiß davon zu erzählen! Als durchaus minderwertig wird der Andersseiende von den in überwiegender Mehrheit Vorhandenen empfunden. – Man denke nur an das »Monistenloch« […], darin die monistischen Toten versenkt werden! Dem Juden gegenüber ist dies noch mehr der Fall. Seine Religion gilt dem Dutzend-Christen von vornherein als minderwertig dem Christentum gegenüber.446

Drei Jahre später löste die Nutzung der Friedhofskapelle in Weimar einen ähnlichen Konflikt zwischen Konservativen, Liberalen und Dissidenten aus. Der örtliche Monistenbund und Freidenkerverein richtete sich 1914 mit einer Petition an den Gemeinderat, die Kapelle für säkulare Begräbnisfeiern bei Feuer­bestattungen freizugeben.447 Obwohl die Liberalen dem Gesuch der Monisten zustimmten, überwog die konservative Stimmenmehrheit. Die liberalen Mitglieder des Gemeinderats verteidigten das Anliegen der Monisten mit dem Argument, dass die Friedhofskapelle aus Steuermitteln finanziert wurde und demnach allen Bürgern zugänglich sei. Insbesondere für Dissidenten sei die Nutzung der Kapelle relevant, hieß es von liberaler Seite, weil sie bei der Feuerbestattung auf den Versenkungsapparat in der Leichenhalle angewiesen seien. Ohnehin habe man die Kapelle bereits für »allerhand Sekten«, die nicht den Großkirchen angehören, zur Nutzung freigegeben.448 Trotz des liberalen Protests lehnte der Gemeinderat das Gesuch der Monisten mit vierzehn zu acht Stimmen ab. Der Monistenbund in Weimar interpretierte die ablehnende Haltung als weiteres Indiz dafür, »wie papieren die berühmte Gewissensfreiheit in Deutschland« immer noch war.449 Dem nicht genug: Das gesamte »Kommunalleben« sei auf die »Bedürfnisse und Ansprüche der konfessionellen Christen zugeschnitten«, kritisierte man im Monistischen Jahrhundert.450 Sobald Dissidenten und Monisten ihre Rechte einforderten, gelte dies sogleich als »Provokation«. Der Konflikt um die Friedhofskappelle in Weimar bestärkte den Monistenbund darin, »endlich zu einer allgemeinen, rein weltlichen, resp. gemeindlichen Regelung des gesamten Friedhofswesens zu gelangen.« Die gegenwärtigen Zustände seien »skandalös«, da der Friedhof längst nicht mehr der »›Gottesacker‹ im christlichen Sinne, sondern die neutrale Totenstätte 446 Felden, Emil: Die Sünde wider das Volk. Roman. Oldenburg 1921, 285 f., Anm. 3. 447 W. B.: Friedhofskapelle und Monisten. In: DMJ 3, Nr. 15 (Juli 1914), 406–407. 448 Ebd., 406. 449 Ebd., 407. 450 Ebd., 406.

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Abbildung 20: Karikatur zum »Monistenloch« (1910).

einer politischen Gemeinde« sei.451 Wolle die Kirche ihren Gläubigen »besondere Friedhöfe mit christlichen Begräbnisordnungen« bieten, könne sie dies »auf eigene Kosten« tun. Die Kommune hingegen sei dazu verpflichtet, öffentlich finanzierte Institutionen allen Bürgern gleichermaßen zugänglich zu machen, hieß es abschließend.452 Der Streit um die überkonfessionelle Nutzung von Friedhöfen in Gera und Weimar verdeutlicht, dass der Monistenbund in der Auseinandersetzung um eine säkulare Trauer- und Bestattungskultur ein relevanter Akteur war. In den Konflikten zwischen liberalen und konservativ-christlichen Parteien fungierte der Monismus nicht nur als Kampfbegriff für dessen Anhänger, sondern auch als Reizwort für dessen Gegner. Der negativ besetzte Begriff »Monistenloch« stand metonymisch für einen größeren Konflikt um religiöse und säkulare Geltungsansprüche. * * * Die monistischen Forderungen nach einem selbstbestimmten Tod sind ein anschauliches Beispiel für Grenzkonflikte zwischen Religion und Säkularität um 451 Ebd., 407. Hervorhebung im Original. 452 Ebd., 407.

350  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht 1900. Die von Monisten und anderen Freidenkern geforderte Einhegung kirchlicher Autorität in Fragen der Bestattungs- und Trauerkultur sollte individuelle Freiheitsrechte stärken und zugleich weltanschauliche Minderheiten vor dem Primat der Kirchen schützen. Die Säkularitätsforderungen resultierten dabei aus spezifischen historischen Erlebnissen und Problemlagen: In der Feuerbestattungsfrage spiegelte sich nicht nur der technische und wissenschaftliche Fortschritt des ausgehenden 19. Jahrhunderts wider; in ihr zeichneten sich auch historische Erfahrungen von Krankheit, Seuche, Überbevölkerung und Platzmangel ab, die einer neuen Bestattungspraxis Vorschub leisteten. In bewusster Abgrenzung zum Christentum vertraten Monisten und Krematisten ein materialistisches Körperbild, das ohne Jenseits- und Transzendenzbezüge auskam. Die Einäscherung propagierten sie als einen Weg, den menschlichen Körper in den Kreislauf der Natur zu integrieren. In seine kleinsten Bestandteile zerlegt, sollte der Leichnam Nährstoffe für neues Leben liefern. Die Erfolge der Feuerbestattungsbewegung erklärten Monisten dabei zu ihren eigenen und behaupteten so ihren Repräsentationsanspruch für alle freigeistigen und progressiven Bewegungen im Kaiserreich. Aus der Kontroverse um das »Monistenloch« in Gera lassen sich mehrere Schlüsse ziehen: Erstens schien der Monismusbegriff bei den involvierten Akteuren konträre Assoziationsketten auszulösen: Für die einen verdichtete sich der Monismus zum Kampfbegriff liberal-emanzipatorischer Forderungen, wohingegen er für andere mit den vermeintlichen Gefahren von Atheismus und Sozialismus verbunden war. Der Monismus entwickelte sich zu einem polyvalent besetzten Begriff, der Lagerbildungen für und gegen eine säkulare Trauer- und Bestattungskultur generierte. Zweitens geben die Konflikte in Gera und Weimar darüber Aufschluss, welche Strategien monistische Akteure anwendeten, um ihre Forderungen nach säkularen Trauerfeiern zu artikulieren. Durch den Zusammenschluss mit anderen Freidenkerortsgruppen, öffentliche Proteste, Petitionen und die Teilnahme an Bürgerversammlungen sollten örtliche Entscheidungsträger zum Handeln bewegt werden. Monistische und krematistische Akteure suchten gezielt die Zusammenarbeit und stellten ihre Forderungen mitunter auch in Personalunion. Drittens führen die Auseinandersetzungen in Gera und Weimar vor Augen, dass nicht die Feuerbestattung an sich, sondern die überkonfessionelle Nutzung der Friedhöfe für die Landeskirchen das eigentliche Problem darstellte. Dadurch, dass sich das Friedhofswesen nach 1900 zunehmend in den kommunalen und damit säkularen Raum verlagerte, konnten protestantische Gemeinden ihren Anspruch auf kirchliche Bestattungsfeiern nicht mehr ohne Weiteres durchsetzen. Freidenker, Monisten und Sozialisten wussten um ihre Rechte, wenn sie die Durchführung von weltlichen Trauerfeiern ohne die Anwesenheit von Geistlichen forderten.

Zwischenfazit III  351

5.

Zwischenfazit III

Die Partizipation des Monistenbundes in den kaiserzeitlichen Auseinandersetzungen um Säkularität waren in vielerlei Hinsicht auch Kämpfe um Sprache und Deutungsmacht. Das Kapitel »Grenzen verschieben« hat die Strategien untersucht, mit denen Monisten moraltheologische Deutungen im Bereich der Sexualität und des Umgangs mit Leid und Tod säkularisierten. Wie schon mehrfach gezeigt wurde, standen hinter den monistischen Forderungen nach Säkularität unterschiedliche Motive: Mal dienten die Grenzforderungen der Stärkung individueller Freiheitsrechte (Sterbehilfe und Feuerbestattung), mal der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung (Trennung von Schule und Kirche)  und ein weiteres mal dem Schutz weltanschaulicher Minderheiten vor gesellschaftlicher Diskriminierung (religiöse Eidesformel). Zunächst griffen Monisten auf evolutionsbiologische Begriffe und Theorien zurück, um christliche Moralvorstellungen zu naturalisieren. In seinen monistischen Beiträgen führte Ostwald die Goldene Regel auf den evolutionären Mechanismus der gegenseitigen Hilfe und den energetischen Imperativ zurück. Dadurch integrierte er die Goldene Regel in die Evolution des Menschen und löste sie von christlichen Bezügen. Auch ­Haeckel folgte dieser Argumentationslinie, indem er behauptete, dass die Goldene Regel bereits in der Natur angelegt sei und einen Ausgleich zwischen Altruismus und Egoismus anstrebe. Weiterhin beriefen sich Monisten auf soziologische Ansätze, mit denen sie eine säkulare Lesart der Ethik forcierten. Beeinflusst vom französischen Positivismus vertrat Franz Müller-Lyer die Ansicht, dass sich die Kultur nach empirischen Gesetzen fortentwickelte. Müller-Lyer war überzeugt, dass man mithilfe soziologischer Methoden Entwicklungsgesetze der Kultur eruieren könne, die eine neue Ethik beförderten. Das Wissen über die Gesetze der Kultur sollte einen Reflexionsprozess in Gang setzen, der dauerhaft das Verhalten der Menschen veränderte. Ein Gesetz etwa besagte, dass der Mensch seine tierischen Atavismen zunehmend ablegen werde und die Kultur nach einer umfassenden Humanisierung strebe. Nach Jahrhunderten des Sozialismus und Individualismus träumte Müller-Lyer von der zukünftigen Epoche des Sozialindividualismus, in der jeder Mensch sein Potential für sein persönliches Glück und das Glück der Gemeinschaft ausschöpfen werde. Ein Kennzeichen der monistischen Argumentationsstrategien war die rhetorische Polarisierung von monistisch und dualistisch. Je nach Kontext wurden die Gegensätze anders bestimmt und dienten dabei der Abgrenzung gegenüber feindlichen Denkströmungen und Gruppen. Insofern folgte die monistische Publizistik einer Strategie, die Thomas Gieryn als Boundary work bezeichnete. Die Grenzziehungen waren variabel und transportierten dabei stets spezifische Bilder von Wissenschaftlichkeit und Religion.

352  Grenzen verschieben: Das Ringen um Deutungsmacht Für viele Akteure des freigeistigen Spektrums im Wilhelminismus fungierte der Monistenbund als Präsentationsforum und weltanschaulicher Referenzpunkt zugleich. Ein anschauliches Beispiel hierfür bietet der Mutterschutzbund um Helene Stöcker, der eng mit dem Monistenbund kooperierte. Einerseits diente der Monistenbund mit seinen Kongressen, Ortsgruppen, Kartellen und Publikationsorganen als Multiplikator feministischer Positionen. Andererseits trug er zu einer Ideologisierung und Popularisierung naturwissenschaftlicher Theorien bei, die radikale Feministinnen wie Helene Stöcker für ihre eigenen Argumente nutzten. Darwinistische und neolamarckistische Ansätze ermöglichten Feministinnen eine säkulare Interpretation der weiblichen Geschlechtsidentität und schrieben der Frau eine Schlüsselfunktion in der Evolution zu. Abgesehen von diesen Theorien verdichtete sich der Monismus in der radikalen Frauen­bewegung selbst zu einem Kampfbegriff, der bei Freunden wie Feinden spezifische Assoziationen hervorrief. Der Monismus stand für Wissenschaftsglaube, Emanzipation und radikale Formen der Kirchenkritik, die Vertreter des freigeistigen Spektrums leicht dekodieren konnten. Radikale Feministinnen mobilisierten den Monismusbegriff, um gegen die christliche Sexualmoral zu polemisieren und den Primat der Naturwissenschaft in sexuellen Fragen zu unterstreichen. Darüber hinaus bot der Monistenbund als einer der ersten Organisationen ein Forum zur Diskussion der Euthanasiefrage im Kaiserreich. An zentraler Stelle diskutierten Monisten die Tötung auf Verlangen, die aus ihrer Sicht einen selbstbestimmten Tod versprach. Nicht mehr Gott, sondern der Mensch sollte den Zeitpunkt seines Todes bestimmen. Daneben entstanden enge Verflechtungen zwischen der Monismus- und Feuerbestattungsbewegung, deren gemeinsame Grundlage das materialistische Körperverständnis, die Verneinung von Transzendenz und die enorme Technikeuphorie bildeten. Indem beide Bewegungen für eine säkulare Bestattungs- und Trauerpraxis eintraten, forderten sie die Dominanz der Kirchen im Bestattungswesen heraus. Obwohl sich die evangelischen Landeskirchen nach 1900 allmählich gegenüber der Feuerbestattung öffneten, sorgten säkulare Bestattungsfeiern weiterhin für Konflikte zwischen Kirchen, Kommunen und ansässigen Freidenkerverbänden. Die Forderungen nach Säkularität zielten, wie gezeigt wurde, nicht allein auf eine Einhegung christlicher Deutungsmacht, sondern auch auf ein neues Verständnis von Religion an sich. Helene Stöcker warb in der Vereinszeitschrift des Monistenbundes für ein neues Konzept von Religiosität, das nicht an eine bestimmte Institution gebunden war, sondern auf Subjektivität, individuellem Gewissen und Gefühl basierte. Das Heilsversprechen fand sie im K ­ ulturfortschritt der Menschheit – und nicht im Jenseits.

V. Ausblick: Zum Nachleben des Monismus im 20. Jahrhundert 1.

Der Erste Weltkrieg als Zäsur

Die »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts«, der Erste Weltkrieg, markierte auch für die Geschichte der Monismusbewegung eine deutliche Zäsur. Die Julikrise und der Kriegsausbruch 1914 führten im Monistenbund zu einem deutlichen Stimmungswechsel: An den Burgfrieden der Reichsregierung anknüpfend forderte der frühere Pazifist Ostwald am 15. August 1914 seine Bundesgenossen mit folgenden Worten auf: »Monisten! Über Nacht befindet sich das Deutsche Volk im Kampfe gegen den tückischen Angriff eines Nachbars, dem es durch Jahrhunderte nur Gutes erwiesen hatte. Es ist ein Angriff der Barbarei gegen die Kultur, des Herdentums gegen die Organisation.«1 Obwohl die Monisten vormals die »große Aufgabe des Weltfriedens« verfolgt hätten, verlange die augenblickliche Lage, »daß wir alle uns mit unserer Person und Habe für unser Vaterland einsetzen, bis der uns aufgezwungene Kampf siegreich zu Ende geführt ist.«2 Ostwalds Bekenntnis zum Nationalismus und dessen Attacken gegen die Alliierten standen keinesfalls für einen plötzlichen »germanophilen Gesinnungswandel« oder »Realitätsverlust«, wie in der Forschung wiederholt behauptet wurde.3 Auch in den Jahren zuvor schwang in Ostwalds Internationalismus die Überzeugung der wissenschaftlich-kulturellen Überlegenheit Deutschlands mit – besonders in Abgrenzung zu den slawischen Völkern. Obwohl Ostwald den Chauvinismus und Nationalismus in einer Sonntagspredigt von 1913 als eine »Politik der rohen Gewalt« verurteilte, vor den energetischen Folgen des Krieges warnte und für die internationale Zusammenarbeit der Nationen eintrat, stand Deutschland für ihn zweifelsohne auf der kulturell höchsten Stufe: die Stufe der Organisation.4 Im August 1914 imaginierte Ostwald allerdings ein »Europa unter deutscher Führung« und wetterte gegen das englische Barbarentum sowie gegen die kulturelle Unterlegenheit der Franzosen und Russen. Ihm zufolge kam einem siegreichen Deutschland die Aufgabe zu, alle Länder zu einem höheren 1 Ostwald, Wilhelm: Monisten! In: DMJ 3, Nr. 19/20 (1914), 497. 2 Ebd., 497. 3 Braune: Fortschritt als Ideologie, 134. Kästner, Hartmut: Wilhelm Ostwald und der 1. Weltkrieg. In: Osteuropa in Tradition und Wandel 12 (2011), 58–73, hier 72; Leber: Integration through Science? 196 f. 4 Ostwald: Patriotismus und Internationalismus II., 271.

354  Ausblick: Zum Nachleben des Monismus im 20. Jahrhundert Kulturniveau zu verhelfen. Anstelle der internationalen Hilfssprache Ido sollte in den von Deutschland eroberten (fern-)östlichen Gebieten die neue Kunstsprache »Weltdeutsch« eingeführt werden, fantasierte Ostwald im Oktober 1915.5 Dass Deutschland den Krieg gewinnen werde, stand für ihn außer Zweifel, war es doch militärisch, organisatorisch und wissenschaftlich den Alliierten weit überlegen.6 Obwohl sich Ostwald 1915 in einem Brief an Jacques Loeb über den »Kriegswahnsinn« beklagte, der »über das alte Europa ausgebrochen ist«, betrachtete er die verheerenden Kriegsfolgen als »Geburtswehen einer neuen Zeit«, in der dem »Deutschen Organisationsgedanken« eine Schlüsselrolle zukommen werde.7 Gemeinsam mit ­Haeckel unterschrieb Ostwald im Oktober 1914 den »Aufruf an die Kulturwelt« – ein Manifest von 93 Schriftstellern, Publizisten, Künstlern und Wissenschaftlern, das sich gegen die Vorwürfe der Alliierten positionierte. Angeregt wurde das Manifest von dem Kaufmann Erich Buchwald und dem Bühnenautor Ludwig Fulda (1862–1939). Gleich zu Beginn wies der Aufruf den Vorwurf der Alliierten zurück, dass Deutschland den Krieg verursacht hätte, und stilisierte Wilhelm II. als Verteidiger des Friedens: Weder das deutsche Volk noch die Regierung oder der Kaiser hätten den Krieg gewollt, hieß es. »Von deutscher Seite ist das Äußerste geschehen, ihn abzuwenden. Dafür liegen der Welt die urkundlichen Beweise vor. Oft genug hat Wilhelm II. in den 26 Jahren seiner Regierung sich als Schirmherr des Weltfriedens erwiesen; oft genug haben selbst unsere Gegner dies anerkannt.«8 Nach dem Kriegsausbruch 1914 veröffentlichte H ­ aeckel mehrere Kampfschriften, in denen er »Englands Blutschuld am Weltkriege« behauptete.9 Unter dem Vorwand der Neutralitätsverletzung Belgiens habe England seinen lang gehegten Wunsch realisiert, so H ­ aeckel, Deutschlands Machtstellung im Herzen Europas zu zerstören und dadurch die ersehnte Weltherrschaft zu erlangen.10 Die Entente cordiale brandmarkte ­Haeckel indessen als »Räuberbande«, die sich gegen den 5 Ostwald: Weltdeutsch. In: MSP V, 557: »Ich schlage vor, für den praktischen Gebrauch zunächst in jenen Gebieten [den eroberten asiatischen Ländern, C. L.] ein vereinfachtes Deutsch auf wissenschaftlicher Grundlage herzustellen. In diesem müßten alle entbehrlichen Mannigfaltigkeiten, all jener für die Ästhetik so reizvolle ›Reichtum‹ der Sprache, welcher ihr Erlernen so ungeheurer erschwert, beseitigt werden, so daß dieses neue Verkehrsmittel, für welches ich den Namen Weltdeutsch vorschlage, von jedermann mit leichter Mühe erlernt und gebraucht werden kann.« 6 Ostwald: Europa unter deutscher Führung, 20. 7 Wilhelm Ostwald an Jacques Loeb, 3. Juli 1915, ABBAW, NL Ostwald, Nr. 1828. 8 Der Aufruf der 93 »An die Kulturwelt!« (1914). In: Themenportal Europäische Geschichte, 01.01.2006. URL: www.europa.clio-online.de/quelle/id/artikel-3274 [aufgerufen am: 28.3.2020]. 9 ­Haeckel, Ernst: Englands Blutschuld am Weltkriege. 2. Aufl. Eisenach 1914; Ders.: Ewigkeit. Weltkriegsgedanken über Leben und Tod, Religion und Entwicklungslehre. Berlin 1915; Ders.: Weltkrieg und Naturgeschichte. In: Nord und Süd 151 (1915), 140. 10 ­Haeckel: Ewigkeit, 112 f.

Der Erste Weltkrieg als Zäsur  355

Dreibund und vor allem Deutschland verschworen hätte.11 Als eigentlichen Strippenzieher der deutschlandfeindlichen Offensive in England identifizierte ­Haeckel den britischen Außenminister Sir Edward Grey (1862–1933). Dieser habe als »Testamentsvollstrecker« König Edwards VII. die von langer Hand geplante Einkreisung Deutschlands in die Tat umgesetzt.12 Auch in ­Haeckels Privatkorrespondenz zeichnete sich ein zunehmend nationalistischer Ton ab. So schrieb er im Juni 1915 an den Wiener Verleger Wilhelm Suschitzky über die erfolgreiche Schlacht bei Gródek in Galizien: »Wir sind über die schönen Erfolge unserer verbündeten Oesterreichischen und Deutschen Heere im Osten sehr erfreut. Hoffentlich werden sie auch im Süden bald folgen und [hoffentlich, C. L.] werden die treulosen Italiener für […] ihren Verrat die verdiente Strafe erhalten!«13 Die nationalistische Haltung Ostwalds und ­Haeckels rief Spannungen zwischen Kriegsbefürwortern und -gegnern im Monistenbund hervor. Sowohl die Flügelkämpfe zwischen Pazifisten und Nationalisten als auch die kriegsbedingt niedrigen Mitgliedsbeiträge brachten die Vereinstätigkeit nahezu zum Erliegen. In einem Brief an ­Haeckel klagte Ostwald über den »Puppenzustand mit höchst reduzierten Stoff- und Energiewechsel«, in dem sich der Bund aufgrund rückläufiger Mitgliedsbeiträge befand.14 Die inneren Richtungskämpfe des Bundes trugen dazu bei, dass Ostwald sein Amt als erster Vorsitzender des DMB im Mai 1915 niederlegte. Gegenüber ­Haeckel rechtfertigte er seine Entscheidung zum Rücktritt mit seiner körperlichen Erschöpfung und der drohenden Spaltung des Bundes: Während ich dem einen nicht patriotisch genug bin, gibt es grosse Gruppen sowie einzelne im Bunde, welche finden, dass wir uns bereits nicht mehr von einem gewöhnlichen Kriegerverein unterscheiden. Namentlich die zahlreichen jüdischen Mitglieder, bei denen ja internationale Tendenz im Vordergrund stehen und denen es stets bei Aufflammen nationaler Stimmungen ungemütlich wird, beschweren sich über allzu starken Patriotismus.15

Nach seinem Rücktritt im Mai 1915 beklagte sich Ostwald in einem Brief an Carl Riess, dass sich zwischen ihm und dem Bund »eine erhebliche Kluft« aufgetan habe, »zu deren Überbrückung von der anderen Stelle garnichts getan« werde.16 Einige DMB -Mitglieder, wie Friedrich Maase, hatten im Voraus versucht, Ost 11 ­Haeckel: Englands Blutschuld, 5 f. 12 Ebd., 17. 13 Ernst ­Haeckel an Wilhelm Suschitzky, Jena, 17.6.1915. Wienbibliothek, Teilnachlass Wilhelm Suschitzky. 14 Wilhelm Ostwald an Ernst H ­ aeckel, Großbothen, 21.12.1915. In: Nöthlich u. a.: »Substanzmonismus« und »Energetik«, 131–132. 15 Wilhelm Ostwald an Ernst H ­ aeckel, Großbothen, 23.2.1915. In: Nöthlich u. a.: »Substanzmonismus« und »Energetik«, 122. 16 Wilhelm Ostwald an Carl Riess, Großbothen, 14.6.1915, NL Ostwald, Nr. 5275.

356  Ausblick: Zum Nachleben des Monismus im 20. Jahrhundert wald von seiner Entscheidung abzuhalten, indem sie an sein Gewissen appellierten: »Wenn Sie sich dem Bunde entziehen, so bricht das vollkommene Chaos über ihn hinein und es würde eine Organisation zertrümmert, die vielleicht noch allein in der Lage war, große Kulturgüter über die Zeiten dieses schrecklichen Krieges zu retten.«17 Auch sein Nachfolger im Amt des DMB -Präsidenten, Franz Müller-Lyer, empfand Ostwalds Rücktritt als großen Verlust für die Monismusbewegung und bezweifelte, dass der DMB den Krieg überhaupt überleben werde: »Wenn wir die Hoffnung haben könnten, Sie nach dem Kriege wieder als unseren Führer zu sehen, so wollte ich gern durchhalten. Aber die Schwierigkeiten sind an allen Ecken u. Enden so groß, daß ich […] zweifle, ob wir den Bund über den Krieg hinüber bringen.«18 Über die Kriegsfrage entzweite sich letztlich auch Ostwalds Freundschaft zu Rudolf Goldscheid, Vorsitzender des österreichischen Monistenbundes, der weiterhin als entschiedener Pazifist auftrat und in entsprechenden Vereinigungen aktiv war: »Die beiden letzten vergangenen Jahre haben uns, wie Ihnen zweifellos nicht entgangen sein wird, sachlich mehr und mehr auseinandergeführt und ich sehe keine Aussicht, dass wir in absehbarer Zukunft uns wieder nähern werden«, teilte Ostwald seinem Kollegen im Mai 1916 mit. In der Folge bat er Goldscheid darum, als Mitherausgeber der Annalen für Kultur- und Naturphilosophie zurückzutreten.19 Ostwald wandte sich nach seinem Rücktritt als DMB -Vorsitzender der Farbenlehre Goethes zu und begann Farbabstufungen zu systematisieren bzw. zu vereinheitlichen. Seine Farbtheorien wurden teils positiv, teils kritisch von Vertretern des Bauhaus und der niederländischen Künstlergruppe De Stijl aufgenommen.20 Dass Ostwald und seine Familie offenbar mit dem Monismus abgeschlossen hatten, zeigte sich bei dessen Beerdigung am 4. April 1932: Gemäß der Autobiographie von Robert Riemann, dem zeitweiligen Vorsitzenden der Leipziger Ortsgruppe, reagierte Ostwalds Familie verhalten, »als ein Abgesandter der Leipziger Monisten erschien und die Verdienste Ostwalds am

17 Friedrich Maase an Wilhelm Ostwald, Düsseldorf, 22.5.1915. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 5275. 18 Franz Müller-Lyer an Wilhelm Ostwald, 2.12.15. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 2092. Der spätere DMB -Präsident Georg Graf von Arco schrieb: »Wenn auch meine Ansichten, soweit sie sich auf die durch den Krieg geschaffenen, besonderen Verhältnisse erstrecken, in mehrfacher Hinsicht mit den Ihrigen nicht übereinstimmen, so bin ich doch empört über die Kränkungen, welche ihnen von verschiedenen Seiten zugefügt worden sind, und die offenbar nur durch gänzliche Verständnislosigkeit oder Vorurteile begründet sind.« Georg Graf von Arco an Wilhelm Ostwald, Berlin, 8.4.15. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 49. 19 Wilhelm Ostwald an Rudolf Goldscheid, Großbothen, 30.5.1916. In: Hansel (Hg.): Rudolf Goldscheid und Wilhelm Ostwald, 119. 20 Ball, Philip / Ruben, Mario: Color Theory in Science and Art: Ostwald and the Bauhaus. In: Angewandte Chemie 43 (2004), 4842–4846.

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Sarge würdigen wollte. Man ließ das nur zögernd zu, und die Würdigung fiel dementsprechend kühl aus.«21 Das Trauma des Ersten Weltkriegs hinterließ seine Spuren auch im Denken einiger Monisten wie etwa Paul Kammerers, der im Wiener Monistenbund aktiv war. Als der Krieg 1918 endete, warb Kammerer für einen evolutionären Aktivismus, eine »Diesseits-Politik«, die den Fortschritt der Menschheit bewusst in bestimmte Bahnen lenken sollte. Schließlich hatte der Krieg bewiesen, dass die Zivilisation jederzeit stagnieren oder gar degenerieren könne.22 Kammerer kritisierte nach dem Ende des Krieges den naiven Fortschrittsoptimismus der Monisten und rief zu einem tatkräftigen Arbeiten am Fortschritt durch wissenschaftliche Aufklärung und Sozialreform auf: »Ich glaube nicht mehr an den Fortschritt der Menschheit als ein ihr immanentes Entwicklungsgeschehen«, resümierte er 1919, »aber ich glaube noch immer an den Fortschritt der Menschheit als ein durch planmäßige Bauarbeit ins Werk zu setzenden Vorgang!«23

2.

Entwicklungen nach 1918

In den Jahren nach Ostwalds Rücktritt führte der Monistenbund ein »ephemeres Dasein«.24 Nach dem Ende des Krieges 1918 suchte der Monistenbund nach einer inhaltlichen Neuausrichtung, diskutierte sein Verhältnis zu sozialistischen Ideen und bekannte sich zum historischen Materialismus.25 Damit distanzierte sich der Monistenbund offen von seinem bürgerlichen Profil und versuchte, auch für proletarische Freidenker anschlussfähig zu werden. Mehrere Präsidentenwechsel folgten und auch die Vereinszeitschrift wurde zweimal umbenannt in Monistische Monatshefte sowie Stimme der Vernunft.26 Trotz seiner inhaltlichen Neuausrichtung gelang es dem Bund nicht, die Arbeiterschaft an sich zu binden, zumal sich diese bereits vor dem Ersten Weltkrieg in eigenen Freidenkerverbänden organisiert hatte.27 Einen letzten strategischen Schachzug, den Monistenbund aus der eigenen Versenkung zu holen, unternahm der DMB -Präsident Georg Graf von Arco (1869–1940) 1920: Am 9. Januar 1920 bat er den Physiker Albert Einstein ­(1879–1955), den Vorsitz der internationalen Kommission des DMB zu übernehmen, da seine Weltanschauung angeblich mit der der Monisten übereinstimmte. 21 Riemann: Dummheit und Einsicht (8. Kap.), 10. 22 Kammerer: Einzeltod, Völkertod, 121–122. 23 Ebd., 73. Hervorhebung im Original. 24 Braune: Fortschritt als Ideologie, 138. 25 Nöthlich u. a.: Weltbild oder Weltanschauung, 63–66. 26 Zu den DMB -Präsidenten in der Weimarer Republik: Heinrich Schmidt (1919–1920); Graf von Arco (1920–1923); Carl Riess (1923–1929); Immanuel Herrmann (1929–1933). 27 Kaiser: Arbeiterbewegung und organisierte Religionskritik.

358  Ausblick: Zum Nachleben des Monismus im 20. Jahrhundert Doch Einstein lehnte das Angebot aus ideologischen Gründen ab, da er die »Kampfstellung« des Monistenbundes gegenüber den »religiösen Organisationen« für ungerechtfertigt hielt.28 Eine besondere Rolle in der Geschichte des Monismus nach dem Ersten Weltkrieg kam Heinrich Schmidt, dem langjährigen Privatsekretär Ernst ­Haeckels, zu.29 ­Haeckel wusste um die Bedeutung seines Nachlasses, der zahlreiche Korrespondenzen, Tagebücher, Skizzen, Manuskripte und Zeichnungen umfasste, und legte schon vor seinem Tod eine private Sammlung (Phyletisches Archiv) an, aus der später das »Ernst-­Haeckel-Haus, Archiv und Schau« in dessen Wohnhaus, der Villa Medusa, hervorging.30 ­Haeckel beauftragte seinen Sekretär mit der Ordnung und Verwaltung seines umfangreichen Nachlasses. Seine unabhängige Stellung als Direktor des H ­ aeckel-Hauses nutzte Schmidt für verschiedene editorische und publizistische Projekte, unter anderem für ein Philosophisches Wörterbuch (1912), eine umfassende Synthese der monistischen Ethik (1931) sowie zwei ­Haeckel-Biographien (1926/34).31 Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten war Schmidt darum bemüht, ­Haeckels evolutionsbiologische und monistische Schriften mit der völkischen NS -Ideologie in Einklang zu bringen. In Anknüpfung an den nationalsozialistischen Germanenkult schrieb Schmidt in seiner ­Haeckel-Biographie von 1934: »Das Deutschtum lag ihm, dem blonden Germanen, im Blut.«32 Trotz aller Anschlussbemühungen blieb die 28 Graf Arco an Einstein, Berlin-Tempelhof, 9.1.1920; Einstein an Graf Arco, Berlin, 14.1.1920. URL : https://einsteinpapers.press.princeton.edu/vol9-doc/421 [aufgerufen am: 28.3.2020]. 29 Ausführlich zu Heinrich Schmidts Leben und Werk, vgl. Hoßfeld, Uwe: Hackels »Eckermann«: Heinrich Schmidt (1874–1935). In: Steinbach, Matthias / Gerber, Stefan (Hg.): »Klassische Universität« und »akademische Provinz«. Studien zur Universität Jena von der Mitte des 19. bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. Jena, Quedlinburg 2005, 271–288. 30 Ursprünglich hatte ­Haeckel geplant, seinen Nachlass in dem Phyletischen Museum unterzubringen. Nach Zerwürfnissen mit seinem Amtsnachfolger Ludwig Plate veranlasste ­Haeckel 1912, dass sein Nachlass unter dem Namen »Phyletisches Archiv« zunächst in der Jenaer Universitätsbibliothek untergebracht wurde. Finanziert wurde das Phyletische Archiv mithilfe privater Stiftungen und Spenden. Um den Plan eines eigenen Memorialmuseums zu verwirklichen, verkaufte H ­ aeckel 1918 das Grundstück seiner Villa Medusa an die Carl-ZeissStiftung und schenkte einen Teil seines mobilen Inventars sowie seiner Kunstsammlung der Universität Jena. Zur Geschichte des Ernst-­Haeckel-Hauses, vgl. Krauße, Erika / Hoßfeld, Uwe: Vom ›Phyletischen Archiv‹ (1912) zum ›Institut für Geschichte der Medizin und Naturwissenschaft‹ (1968). Das Memorialmuseum Ernst-­Haeckel-Haus im Spannungsfeld von Ideologie und Wissenschaft. In: Geus, Armin / Junger, Thomas / Rheinberger, Hans-Jörg / Riedl-Dorn, Christina (Hg.): Repräsentationsformen in den biologischen Wissenschaften. Berlin 1999, 203–232; Hoßfeld: ­Haeckels »Eckermann«, 273–277. 31 Schmidt, Heinrich (Hg.): Philosophisches Wörterbuch. Leipzig 1912; Ders.: Harmonie. Versuch einer monistischen Ethik. Dresden 1931; Ders.: Ernst H ­ aeckel. Leben und Werke. Berlin 1926; Ders.: Ernst ­Haeckel. Denkmal eines großen Lebens. Jena 1934. Ausführlich zum Schaffen Heinrich Schmidts, vgl. Hoßfeld: ­Haeckels »Eckermann«, 271–288. 32 Schmidt: Denkmal eines großen Lebens, 72.

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Haltung der Nationalsozialisten zum Monismus ambivalent: Schon am 16. Dezember 1933 wurde der Monistenbund auf der Grundlage der »Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze von Volk und Staat« von den Nationalsozialisten verboten. Obwohl einzelne Stimmen wie zum Beispiel der Rassetheoretiker Heinz Brücher das »Geistes- und Blutserbe« H ­ aeckels für das deutsche Volk rühmten und die Kontinuität zwischen seinem Monismus und Hitlers Rassenideologie unterstrichen, distanzierten sich andere Nationalsozialisten entschieden von ­Haeckels Weltanschauung.33 So wies Günther Hecht, Referent im Rassepolitischen Amt der NSDAP, ­Haeckels Monismus als unvereinbar mit dem völkischen Standpunkt der NSDAP zurück; ebenso rügte der Philosoph Kurt Hildebrandt H ­ aeckels Irrglauben, alle Welträtsel mit Darwins Deszendenztheorie lösen zu können.34 Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs konstituierte sich der Monistenbund in München unter dem Namen »Deutscher Monistenbund für wissenschaftliche Weltanschauung und ethische Kultur« neu.35 In der Satzung hielt die Münchner Ortsgruppe des DMB 1952 fest: »Der Verein erstrebt die Zusammenfassung von Personen, die ihr Leben frei von jedem Dogma auf Grund einer einheitlichen (monistischen) wissenschaftlich begründeten Weltanschauung gestalten wollen. Er ist parteipolitisch neutral.«36 Dennoch konnte auch dieser Verein nicht mehr an die Erfolge der Jahrhundertwende anknüpfen. Obwohl H ­ aeckel spätestens seit 1910/11 nur noch im Hintergrund des Monistenbundes wirkte, blieb er für die Rezeption des Monismus im 20. Jahrhundert bestimmend: Als der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt 1976 zu einem Staatsbesuch in China war, verkündete Mao Tse-Tung, dass H ­ aeckel neben Hegel, Marx und Engels zu seinen deutschen Lieblingsautoren zählte. Seitdem ­Haeckels Welträtsel ins Chinesische übersetzt worden waren, gehörten sie zum festen Bildungskanon chinesischer Kommunisten.37

33 Brücher, Heinz: Ernst H ­ aeckels Bluts- und Geistes-Erbe. Eine kulturbiologische Monographie. München 1936. Zur Vereinnahmung Ernst ­Haeckels im NS , vgl. Nanko, Ulrich: Vom »Deutschen Glauben« der Sammlungsbewegung zur »Arischen Weltanschauung«. In: Puschner, Uwe / Vollnhals, Clemens (Hg.): Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus: Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte. Göttingen 2012, 103–126. 34 Hecht, Günther: Biologie und Nationalsozialismus. In: Zeitschrift für die Gesamte Naturwissenschaft 3 (1937/38), 280–290, hier 285; Hildebrandt, Kurt: Die Bedeutung der Abstammungslehre für die Weltanschauung. In: Zeitschrift für die Gesamte Naturwissenschaft 3 (1937/38), 15–34, hier 17. 35 Nöthlich u. a.: Gründung und Entwicklung, 67. 36 Satzung der Ortsgruppe München, 24.5.1952. StA München, Amtsgericht München, Registerbericht 18527. 37 Zu dieser Anekdote, vgl. Weir: Riddles of Monism, 24–25; Sarasin / Hagner: Bölsche und »der Geist«, 47.

360  Ausblick: Zum Nachleben des Monismus im 20. Jahrhundert

3. ­Haeckel und Ostwald in der DDR Da sich die Nachlässe ­Haeckels und Ostwalds in Jena, Berlin und Großbothen (bei Leipzig) befanden, entstand in der DDR eine intensive Auseinandersetzung mit ihrem wissenschaftlichen und weltanschaulichen Werk ‒ sowohl in populären Sachbüchern als auch in wissenschaftlichen Biographien und Quellen­ editionen.38 Einen deutlichen Aufwind erfuhr die H ­ aeckel-Rezeption in der DDR durch den eingangs erwähnten Besuch Walter Ulbrichts im Ernst-­Haeckel-Haus 1960 anlässlich eines Jubiläums der Friedrich-Schiller-Universität: Als junger Genosse war Ulbricht, der aus einem freireligiösen Arbeitermilieu in Leipzig stammte, mit ­Haeckels Welträtseln in Berührung gekommen.39 Schon bald zählte ­Haeckel neben Charles Darwin und Wilhelm Bölsche zu den Lieblings­autoren des jungen Ulbricht.40 In der Sozialistischen Arbeiterjugend gehörten die Welträtsel neben den Schriften Marx’ und Engels zur Pflichtlektüre, erinnerte sich dieser.41 Während seines Besuchs in Jena befürwortete Ulbricht ausdrücklich eine Neuauflage der Welträtsel und regte einen Lehrfilm über ­Haeckels Leben an, der unter dem Titel »Der Herr mit dem Schöpferhut« erscheinen sollte, allerdings nie realisiert wurde.42 Tatsächlich kam schon 1960 eine Neuauflage der Welträtsel mit einer Einleitung des marxistischen Philosophen Olof Klohr (1927–1994) auf den Markt, der von 1963 bis 1969 in Jena den ersten Lehrstuhl für »Wissenschaftlichen Atheismus« innehatte.43 ­Haeckels Würdigung als Populärwissenschaftler in der DDR wird auch vor dem Hintergrund der Jugendweihe verständlich, die 1954 in der DDR offiziell eingeführt wurde und die populärwissenschaftlich-atheistische Aufklärung zum Hauptziel erklärte.

38 Böttcher, Alfred R.: Die Affensache. Berichte und Geschichte um zwei große Wissenschaftler. Berlin 1971; Krauße, Erika: Ernst H ­ aeckel (Biographien hervorragender Naturwissenschaftler, Techniker und Mediziner, Bd. 70). Leipzig 1987; Uschmann, Georg (Hg.): Ernst ­Haeckel. Forscher, Künstler, Mensch. Briefe ausgewählt und erläutert von Georg Uschmann. Leipzig, Jena, Berlin 1954; Ders.: Ernst ­Haeckel. Biographie in Briefen. Zusammengestellt und erläutert von Georg Uschmann. Leipzig, Jena, Berlin 1984. 39 Polianski: Das Rätsel der DDR , 18. 40 Becher, Johannes R.: Walter Ulbricht. Ein deutscher Arbeitersohn. Berlin (Ost) 1967, 14.  41 Ulbricht, Walter: Ein Pionier der wissenschaftlichen Wahrheit. Auszug aus der Rede Walter Ulbrichts auf dem Festakt zum 15. Jahrestag der Neueröffnung der Friedrich-SchillerUniversität in Jena. In: Neues Deutschland (25.10.1960), 3. 42 Alfred R. Böttcher schrieb 1962 ein Drehbuch für den geplanten H ­ aeckel-Film; eine zweite Fassung der DEFA von 1983 verfasste Wolfgang Bartsch. Vgl. Porges, Karl / Wogawa, Stefan / Hoßfeld, Uwe: »Der Herr mit dem Schöpferhut«. Ernst ­Haeckels Erbe im DDR-Sozialismus. Teil II. In: Naturwissenschaftliche Rundschau 72/7 (2019), 351–361, hier 353. 43 ­Haeckel, Ernst: Die Welträtsel. Mit einer Einleitung versehen von Olof Klohr. Berlin (Ost) 1960. Olof Klohr wurde 1956 über die philosophische Interpretation des biogenetischen Grundgesetzes promoviert.

­Haeckel und Ostwald in der DD  361

Seit den 1960er Jahren erschienen mehrere populäre und wissenschaftliche Biographien über den Jenaer Zoologen. »Der Ketzer von Jena« lautete beispielsweise der provokante Titel einer ­Haeckel-Biographie des Kinder- und Sachbuchautoren Peter Klemm (1919‒1984), der hiermit sendungsbewusst auf ­Haeckels Wahl zum »Gegenpapst« in Rom 1904 anspielte. Auf Basis zeitgenössischer Dokumente rekonstruierte Klemm die zahlreichen Auseinandersetzungen H ­ aeckels um die Anerkennung der Evolutionstheorie im Kaiserreich und stellte Bezüge zum Marxismus-Leninismus her.44 Einen stärker wissenschaftshistorischen Zugang zu ­Haeckels Werk verfolgte der Biologiehistoriker Georg Uschmann, der von 1959 bis 1979 das ­Haeckel-​ Haus in Jena leitete und seit 1967 Direktor des Leopoldina-Archivs war. Uschmann gab mehrere kommentierte Quellenbände zu ­Haeckels Leben und Wirken heraus.45 Bemerkenswert ist, dass Uschmann solche Aspekte der ­Haeckelschen Weltanschauung herauskehrte, die mit einem staatlich forcierten Atheismus und Sozialismus kompatibel waren, während er andere Aspekte wie beispielsweise ­Haeckels Annahme von der Allbeseeltheit der Natur als Irrglaube verwarf. Als besonderes Verdienst ­Haeckels hob Uschmann dessen Beitrag zur Popularisierung des Entwicklungsgedankens in allen Bevölkerungsschichten des Kaiserreichs hervor: Durch die »umfassende Popularisierung der Evolutionstheorie« habe ­Haeckel »trotz aller Schwächen seines ›Monismus‹ und der von ihm begangenen Fehler oder Übereilungen unzähligen Menschen aus allen Schichten der Bevölkerung ein naturwissenschaftlich fundiertes Weltbild vermittelt«, hieß es.46 Eine wichtige Rolle für die H ­ aeckel-Rezeption in der DDR spielte der in Leipzig ansässige Urania-Verlag. Der 1924 gegründete Verlag hatte sich auf die Popularisierung naturwissenschaftlich-technischer Inhalte spezialisiert. Obwohl der Verlag formal im Besitz der SED war, erklärte sich die Urania-Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse 1957 zur Trägerorganisation des Verlags.47 Die Urania-Gesellschaft wurde am 17. Juni 1954 in der DDR als sozialistisches Pendant zur westdeutschen Urania gegründet. Bewusst stellte sich die DDR-Urania in die Tradition der proletarisch-freidenkerischen Bildungsarbeit der Weimarer Republik. So knüpfte sie historisch an das Freie Bildungsinstitut Urania e. V. an, das 1924 von dem marxistischen ­Haeckel-Schüler Julius Schaxel

44 Klemm, Peter: Der Ketzer von Jena. Ein Leben in Berichten, Briefen und Bildern. Leipzig, Jena, Berlin 1966. 45 Uschmann: Ernst H ­ aeckel. Leben und Wirken (1951); Ders.: Ernst H ­ aeckel. Forscher, Künstler, Mensch (1954); Ders.: Geschichte der Zoologie (1959); Ders. (Hg.): Ernst H ­ aeckel. Biographie in Briefen (1984). 46 Uschmann (Hg.): Ernst ­Haeckel. Biographie in Briefen, 13. 47 Links, Christoph: Das Schicksal der DDR-Verlage. Privatisierung und ihre Konsequenzen. Berlin 2009, 231.

362  Ausblick: Zum Nachleben des Monismus im 20. Jahrhundert (1887‒1953) in Jena gegründet worden war.48 Durch die gezielte Popularisierung naturwissenschaftlicher und atheistischer Themen verschrieb sich der Urania-​ Verlag einem Szientismus, der zum integralen Bestandteil des Staatssozialismus wurde.49 Dass H ­ aeckels Monismus eine zentrale Rolle in der DDR-Urania einnahm, spiegelte sich in der Ernst-­Haeckel-Medaille wider, die seit 1981 für außerordentliche Verdienste in der populären und religionskritischen Vermittlung der Naturwissenschaften verliehen wurde.50 Das von ­Haeckel gegründete Phyletische Museum avancierte in der DDR zum Publikumsmagneten und beliebten Lernort für Schulklassen und Studierende. Als das Museum 1956 und 1972 umgestaltet wurde, orientierte man sich gezielt an den Lehrplänen; gleichzeitig wurde in Handreichungen für Biologielehrer der Besuch des Jenaer Museums empfohlen.51 Das Phyletische Museum diente dabei nicht nur der Vermittlung der Abstammungslehre, sondern auch der Propagierung der »dialektisch-materialistischen Naturauffassung«, die seit Mitte der 1950er Jahre in der Jugendweihe einen zentralen Platz einnahm.52 Das Lehrbuch zur Jugendweihe Weltall–Erde–Mensch forcierte über populärwissenschaftliche Texte zur Entstehung des Universums, der Erde und des Menschen eine anti-christliche bis atheistische Weltsicht, die mit dem Staatssozialismus übereinstimmte.53 Neben H ­ aeckel wurde auch Ostwald in der DDR intensiv rezipiert, wenngleich seine Energetik von den meisten Wissenschaftshistorikern als philosophischer Irrtum verworfen wurde. Einen großen Einfluss auf die Ostwald-Rezeption in der DDR hatte Lenins Polemik Materialismus und Empiriokritizismus. Kritische Bemerkungen über reaktionäre Philosophie (1909), die unter dem Eindruck der Russischen Revolution von 1905/7 entstand. Obwohl Lenins Polemik in den Anfangsjahren relativ wenig Beachtung fand, erlangte sie in der Sowjetunion und DDR einen kanonischen Status und wurde sogar für Lehrzwecke genutzt.54 48 Zu Schaxels Vision einer sozialistischen Wissenschaft, vgl. Hopwood, Nick: Biology between University and Proletariat. The Making of a Red Professor. In: History of Science 35 (1997), 367–424. 49 Schmidt-Lux, Thomas: Das helle Licht der Wissenschaft. Die Urania, der organisierte Szientismus und die ostdeutsche Säkularisierung. In: GG 34/1 (2008), 41‒72, hier 54–67. 50 Schmidt-Lux: Wissenschaft als Religion, 229; Schröder: Freigeistige Organisationen. 51 Porges, Karl / Wogawa, Stefan / Hoßfeld, Uwe: »Der Herr mit dem Schöpferhut«. Ernst ­Haeckels Erbe im DDR-Sozialismus. Teil I. In: Naturwissenschaftliche Rundschau 72/6 (2019), 295–304, hier 302. 52 Ebd., 302. 53 Polianski: Das Rätsel der DDR , 19 f. 54 Wittich, Dieter: Lenins »Materialismus und Empiriokritizismus« ‒ Entstehung, Wirkung, Kritik. In: Sitzungsberichte der Leibnitz-Sozietät 30 (1999), 79–103; Ders.: Lenins Buch »Materialismus und Empiriokritizismus«. Seine Entstehungsgeschichte sowie progressive und repressive Nutzung. In: Gerhardt, Volker / Rauh, Hans-Christoph (Hg.): Angänge der DDRPhilosophie. Ansprüche, Ohnmacht, Scheitern. Berlin 2001, 160–180.

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In seiner Streitschrift rechnete Lenin mit einer Reihe russischer Philosophen im Umkreis der Bolschewiki ab, die den Versuch angestellt hatten, die Erkenntnistheorie Ernst Machs und Energetik Ostwalds mit dem Marxismus zu versöhnen. Lenin nannte seine Gegner ‒ unter ihnen Wladimir A.  Basarow, Alexander Bogdanov und Anatoli Lunarcharski ‒ »Machisten«, da er Machs Empiriokritizismus als eine dem Materialismus feindliche Denkströmung ansah. Mach verneinte in seiner Erkenntniskritik eine materielle Wirklichkeit außerhalb der rein sinnlichen Wahrnehmung – für ihn bestand das Subjekt und die Welt aus »Empfindungskomplexen«. Den Unterschied zwischen Materialismus und »Machismus« fasste Lenin wie folgt zusammen: Der Materialismus betrachte »in vollem Einklang mit der Naturwissenschaft als das ursprünglich Gegebene die Materie, als das Sekundäre Bewußtsein, Denken, Empfindung; denn die Empfindung ist in klar ausgeprägter Form nur mit den höchsten Formen der Materie (der organischen Materie) verbunden«. Der »Machismus« hingegen führe sofort zu einer Absurdität, da er die Empfindung für das Primäre halte, obwohl sie an die physischen Vorgänge der Materie gebunden sei.55 Lenins Hauptkritik galt dem russischen Arzt und Philosophen Aleksander Bogdanov (1873–1923). Aufgrund seiner frühen Kontakte zu linksrevolutionären Kreisen in Russland ging Bogdanov ins Exil, wo er mit Anatoli Lunarcharski, Maxim Gorkij und Leo Trockij in Kontakt kam.56 In seinem Werk Empiriomonismus (1905‒1907) verband Bogdanov den Marxismus mit der sensualistischen Erkenntnistheorie Machs, wobei er den Zusammenhang zwischen kollektiver und individueller Erfahrungswelt und damit die soziale Bedingtheit der Erkenntnis betonte.57 Die angeblich bürgerlich-reaktionäre Philosophie Bogdanovs führte Lenin auf die antimaterialistischen Einflüsse Machs und Ostwalds zurück. Lenin nannte Ostwald einen »Wirrkopf« bzw. »kleinen Philosophen« und brandmarkte dessen Energetik als einen »verworrene[n] Agnostizismus, der hier und dort in den Idealismus hineinstolpert«. Ostwalds Energetik sei ein 55 Lenin, Wladimir I.: Werke, Bd. 14: Materialismus und Empiriokritizismus. Kritische Bemerkungen über eine reaktionäre Philosophie. Berlin 1971, 37. 56 Soboleva, Maja: Aleksandr Bogdanov und der philosophische Diskurs in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zur Geschichte des russischen Positivismus. Hildesheim 2007. Weiterführend zu Bogdanov, vgl. Vöhringer, Margarete: Rausch im Blut. Aleksandr Bogdanovs Experimente zwischen Kunst und Wissenschaft. In: Klimó, Árpád von / Rolf, Malte (Hg.): Rausch und Diktatur. Inszenierung, Mobilisierung und Kontrolle in totalitären Systemen. Frankfurt am Main, New York 2006, 139–150; Douglas, Charlotte: Energetic Abstraction: Ostwald, Bogdanov, and Russian Post-Revolutionary Art. In: Clarke, Bruce / Henderson, Linda (Hg.): From Energy to Information. Representation in Science and Technology, Art and Literature. Stanford 2002, 76–94; Groys, Boris / Hagemeister, Michael (Hg.): Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 2005. 57 Vgl. Soboleva, Maja: Vom Empiriokritizismus zum Empiriomonismus. Aleksander Bogdanovs Rezeption der Epistemologie von Ernst Mach. In: Stadler, Friedrich (Hg.): Ernst Mach ‒ Zu Leben, Werk und Wirkung. Basel 2019, 87–97, hier 90.

364  Ausblick: Zum Nachleben des Monismus im 20. Jahrhundert gutes Beispiel dafür, so Lenin, »wie rasch eine ›neue‹ Terminologie zur Mode wird und wie rasch es sich zeigt, daß eine etwas veränderte Ausdrucksweise nicht im mindesten die philosophischen Grundfragen und […] Grundrichtungen beseitigt.« Ostwalds Energetik sei, folgerte er, der gescheiterte Versuch »Bewegung ohne Materie zu denken«.58 Deutlich besser fiel indessen Lenins Urteil über ­Haeckels Monismus aus: Obwohl er H ­ aeckel eine gewisse Naivität in philosophischen Fragen anlastete, lobte er die enorme Wirkung seiner Welträtsel auf Arbeiterkreise: »Das populäre Buch wurde zu einer Waffe des Klassenkampfes. Professoren der Philosophie und der Theologie aus aller Herren Ländern begannen in tausenderlei Variationen ­Haeckel zu schmähen und suchten ihn zu vernichten.«59 Lenins Polemik, die im Sozialismus als »Meilenstein im Kampf zwischen idealistischer und bürgerlicher Ideologie« gelobt wurde, sorgte für eine ambivalente Rezeption Ostwalds in der DDR .60 Einerseits lobten DDR-Historiker Ostwalds antiklerikales Engagement 1913/14 im Kontext des Komitees Konfessionslos. Friedrich Herneck präsentierte Ostwald als unerschrockenen Kämpfer gegen »religiöse Volksverdummung und die Machtansprüche des Priestertums«, da er eine wissenschaftliche Weltanschauung verbreitete und für den Kirchenaustritt warb.61 Im Vergleich zu den »Vulgärmaterialisten« der 1850er Jahre (Carl Vogt, Ludwig Büchner und Jakob Moleschott) standen H ­ aeckel und Ostwald, so der Autor, auf einer »weit höheren Entwicklungsstufe der wissenschaftlichen Erkenntnis« und begnügten sich nicht allein mit der Popularisierung der Naturwissenschaften.62 Der Wissenschaftshistoriker Jan-Peter Domschke würdigte die Kirchenaustrittskampagnen von 1913/14 sogar als »Höhepunkt der politischen Wirksamkeit« Ostwalds: »Seite an Seite mit den besten Vertretern der revolutionären Arbeiterklasse ließen diese Aktionen etwas von der Kraft jenes Bündnisses zwischen dem Proletariat und den linken bürgerlichen Intellektuellen ahnen, das Lenin so eindringlich gefordert hatte.«63 Andererseits verurteilten Herneck und Domschke Ostwalds Energetik als philosophischen »Irrweg«, widersprach sie doch den Grundannahmen des dialektischen Materialismus. Auch in seinem antiklerikalen Engagement blieb 58 Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus, 274. 59 Ebd., 353. 60 Domschke, Jan-Peter / Lewandrowski, Peter: Wilhelm Ostwald. Chemiker, Wissenschaftstheoretiker, Organisator. Köln 1982, 53 f. 61 Herneck: Wissenschaft contra Gottesglauben, 18. 62 Herneck: Der Chemiker Wilhelm Ostwald, 72. Seit der Auseinandersetzung zwischen Karl Marx und Carl Vogt 1859/60 waren Vogt, Büchner und Moleschott im Sozialismus als bürgerlich-reaktionäre »Vulgärmaterialisten« verpönt. In seiner Polemik »Herr Vogt« (1860) warf Marx dem frankophilen Vogt unter anderem vor, ein bezahlter Spion Napoleons III. (1808‒1873) zu sein. Im Gegenzug warf Vogt den Londoner Exilanten um Marx Erpressung und Verschwörung gegen ehemalige 1848er-Revolutionäre vor. 63 Domschke / Lewandrowski: Wilhelm Ostwald, 55.

­Haeckel und Ostwald in der DD  365

Ostwald einem »bürgerlichen Aufklärungs-Atheismus« verhaftet, monierte Herneck, weil er die kirchliche Autorität durch die Förderung der wissenschaftlichen Erkenntnis, jedoch nicht mithilfe des Klassenkampfes zurückdrängen wollte. Erst in seinen Kirchenaustrittskampagnen vor dem Ersten Weltkrieg habe Ostwald erkannt, dass die Kirche ein »politisches Machtmittel des kapitalistischen Ausbeuterstaates« sei, die sich mit den Machthabern verbünde und mit ihrem Jenseitsglauben ein »Opium des Volks« (Karl Marx) verbreite, so Herneck.64 Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit umstrittenen Figuren wie Ostwald und Mach konnte auch persönliche Konsequenzen für DDR-Historiker haben. Dies bekam der schon erwähnte Ostwald-Biograph Friedrich Herneck 1957 am eigenen Leib zu spüren: Während seines Forschungsaufenthalts im Ostwald-Archiv im sächsischen Großbothen hatte Herneck eine bis dato unveröffentlichte Autobiographie Ernst Machs entdeckt, die er 1956 edierte. Die Herausgabe der Autobiographie brachte diesem auf der  III. Hochschulkonferenz der SED 1958 den Vorwurf des Revisionismus ein, woraufhin ihm vorübergehend die Lehrbefugnis entzogen wurde. Im Dezember desselben Jahres endete schließlich das Parteiverfahren, wobei man Hernecks »Verherrlichung von Mach und Ostwald« aufs schärfste kritisierte. Ein weiterer Dorn im Auge der Hochschulaufsicht der SED war Hernecks Nähe zum Chemiker Robert Havemann (1910‒1982), der sich durch seine regimekritischen Schriften hervorgetan hatte. Die facettenreiche Rezeption ­Haeckels und Ostwalds in der DDR verdeutlicht, dass der Monismus ein ambivalentes Vermächtnis im 20. Jahrhundert hinterließ.

64 Herneck: Der Chemiker Wilhelm Ostwald, 72, 75 und 76; Domschke / Lewandrowski: Wilhelm Ostwald, 42‒54.

Schluss Kommen wir an den Anfang dieser Geschichte zurück: Als Walter Ulbricht 1960 das ­Haeckel-Haus in Jena besuchte, rekurrierte er auf ein wirkmächtiges Konfliktnarrativ der Moderne. In Ulbrichts Ausführungen entsprachen ­Haeckels Leben und die Geschichte des Monistenbundes einem Zweifrontenkrieg zwischen Wissenschaft und Religion. Als unerschrockener Popularisie­ rer des Darwinismus habe H ­ aeckel den empirischen Naturwissenschaften zum Sieg über die ›Dunkelmänner‹ der Kirche verholfen, so der Grundtenor. Die Studie Arbeit am Welträtsel hat jene vereinfachenden Konfliktnarrative hinterfragt und stattdessen die religionsproduktive Wirkung des Monismus nachgewiesen: Die Monismusbewegung, so die These, trug zu einem neuen Religions­verständnis um 1900 bei und definierte die Grenzen der Religion in der Gesellschaft neu.1 Um dieses Ziel zu erreichen, griffen Monisten auf naturwissenschaftliche, soziologische und positivistische Ansätze zurück. Durch den Verweis auf wissenschaftliche Gesetze verliehen Monisten ihren Forderungen nach Säkularität den Anschein von Objektivität und Notwendigkeit. Die Kontingenz der Entwicklung des Menschen, seiner Kultur und Wertesysteme wichen im Monismus der Logik naturwissenschaftlicher Gesetzmäßigkeit. Zugleich traten Monisten für ein neues Religionsverständnis ein, das auf Subjektivität, Gewissens­freiheit und Lebensbejahung basierte. Insofern hat diese Arbeit einen Beitrag zu drei historischen Forschungsfeldern geleistet: zur Bürgertumsforschung (1), zur kaiserzeitlichen Religionsgeschichte (2) sowie Wissenschaftsgeschichte (3). Bürgertum und Dissens Der Monistenbund spielte als Hauptvertreter des bürgerlichen Freidenkertums im Kaiserreich eine zentrale Rolle in den religiös-säkularen Konflikten um 1900. Heute ist der Monismus weitgehend in Vergessenheit geraten, doch im Fin de S­ iècle war er ein geflügeltes Wort in philosophischen, theologischen und kulturkritischen Debatten. Der Wissenschaftshistoriker Olaf Breidbach bemerkte hierzu: »Es galt für einen Intellektuellen nach 1906 schlicht zu begründen, wa-



1 Vgl. Reuter: Religion in der verrechtlichten Gesellschaft.

368 Schluss rum er nicht Monist war.«2 Breidbachs Einschätzung zur Popularität des Monismus mag vielleicht zu hoch gegriffen sein, dennoch wirkte der Monismus in weite Teile des wilhelminischen Bürgertums hinein und prägte den religiösen und politischen Dissens seiner Zeit. Ebenso provozierten Monisten mit ihren antiklerikalen Positionen hitzige Parlamentsdebatten um die moralischen Folgen des naturwissenschaftlichen Weltbilds in Schule, Bildung und Wissenschaft.3 Besonders im städtischen Mittelstand – vertreten durch Volksschullehrer, Kaufmänner und Händler – sowie im Bildungsbürgertum konnte der Monismus vor dem Ersten Weltkrieg Fuß fassen. Hier waren es vor allem freie Schriftsteller, Künstler, Ärzte und Juristen, die sich dem Monistenbund anschlossen. Obwohl Monisten bisweilen versuchten, die Arbeiterschaft für eigene Ziele zu mobilisieren – etwa im Kontext der Kirchenaustrittskampagnen von 1913/14 –, blieb der Monistenbund im bürgerlichen Milieu verortet und konnte die Arbeiterschaft nicht dauerhaft an sich binden (vgl. Kap. I.3).4 Die spezifische Verortung des Monismus im wilhelminischen Bürgertum lässt neue Rückschlüsse auf bürgerliche Werte, Normen und Normverletzungen zu: Mit ihrem Bestreben, Religion und deren Grenzen in der Gesellschaft neu zu definieren, warf die Monismusbewegung implizit die Frage nach der Legitimität bürgerlicher Werte auf, die protestantisch geprägt waren. Monisten rüttelten mit ihren antiklerikalen Schriften und Kampagnen nicht nur an christlichen Grundüberzeugungen, sondern auch an bürgerlichen Vorstellungen von Sittlichkeit, Bildung und Leistung. Robert Riemann, der zeitweilige Vorsitzende der Leipziger DMB -Ortsgruppe, erinnerte sich in seiner Autobiografie: »Da die bürgerliche Gesellschaft seit etwa hundert Jahren als das eigentliche Kennzeichen der Roten den Atheismus betrachtet, bedeutet schon der Eintritt in den Monistenbund den Austritt aus der bürgerlichen Gesellschaft.«5 Mit seinem energetischen Imperativ »Vergeude keine Energie, nutze Sie!« knüpfte Ostwald einerseits an ein bürgerliches Leistungsethos von Fleiß, Arbeit und Zielstrebigkeit an; andererseits brach er mit seinen Forderungen zur Schulreform mit bürgerlichen Bildungsidealen: So verlangte er nicht nur die Trennung von Schule und Kirche, sondern auch die Abschaffung des Griechisch- und Lateinunterrichts am neuhumanistischen Gymnasium, der zum festen Bestandteil der bürgerlichen Sozialisation im 19. und frühen 20. Jahrhundert gehörte. 2 Breidbach, Olaf: Monismus, Positivismus und »deutsche Ideologie«. In: Hülk, Walburga / ​Renner, Ursula (Hg.): Biologie, Psychologie, Poetologie. Verhandlungen zwischen den Wissenschaften. Würzburg 2005, 55–69, hier 55. 3 Vgl. die Angriffe des Botanikers Johannes Reinke gegen H ­ aeckel im preußischen Abgeordnetenhaus 1908. 4 Stattdessen organisierte sich die Arbeiterschaft nach 1900 in proletarischen Freidenkerverbänden, vgl. Kaiser: Arbeiterbewegung und organisierte Religionskritik. 5 Riemann, Robert: Dummheit und Einsicht. Herausgegeben von Tord R.  Riemann, 2008–2015 (8. Kap.), 1.

Schluss  369

Ostwald griff in seiner Altertumskritik auf den Vorwurf der Dekadenz zurück und warf der antiken Kultur eine genuine Wissenschafts- und Technikfeindlichkeit vor: Anstatt den wissenschaftlichen Fortschritt voranzutreiben, habe sich die griechisch-römische Antike in Genuss, Pomp und Rausch verloren und dabei den Weg zu ihrem eigenen Untergang geebnet. Das Ziel der höheren Schulbildung sollte es sein, eine mathematisch-technisch geschulte Jugend heranzuziehen und keine Altphilologen. Nicht nur Ostwalds Bildungsansätze, sondern auch Helene Stöckers Idee einer neuen Sexualethik verdeutlichen, dass der Monismus bürgerliche Vorstellungen von einem sittlichen Leben erschütterte (vgl. Kap. III.4 und IV.2). Dass der Monismus mehr als ein marginales weltanschauliches Phänomen des späten Kaiserreichs war, verdeutlicht dessen Rezeption unter zeitgenössischen Naturwissenschaftlern, Philosophen, Theologen und Kulturkritikern. Die öffentliche Wahrnehmung des Monismus ist in der bisherigen Forschung vernachlässigt worden, erlaubt jedoch ein genaueres Bild des wilhelminischen Freidenkertums: Unter Dissidenten kursierte der Monismus als Kampfbegriff, der für gesellschaftliche Emanzipation, den Geltungsanspruch wissenschaftlicher Rationalität und radikale Kirchenkritik stand. Für andere wiederum war der Monismus ein regelrechtes »Reizwort«6: Der Wiener Feuilletonist und Kulturkritiker Fritz Mauthner bezeichnete den Monismus als eine geistlose »Mode« und H ­ aeckel als einen »Agitator des dogmatischen Materialismus«, der sich im »Irrgarten der Philosophie verlief«.7 Der Schweizer Theologe Walter Nigg wiederum bemerkte abschätzig, dass der Monismus alle »Dekadenzsymptome« der Jahrhundertwende in sich trug: Als religiöse Weltanschauung gab der Monismus den Menschen eine neue Denkweise und ein neues Lebensgefühl, das jener Stimmung entsprach, wie sie unmittelbar nach der Jahrhundertwende für die geistige Mentalität in Deutschland charakte­ ristisch war. Eine rein diesseitige Lebenseinstellung verdrängte allen Jenseitsglauben als bloßes Dogma in den Hintergrund und bekannte sich offen zur weltfreudigen Lebensbejahung.8

Doch warum kam es gerade vor dem Ersten Weltkrieg zu einer Verdichtung monistischer Aktivität? Der Monistenbund wurde 1906 in einer Zeit innenpolitischer Umbrüche gegründet. Die liberal-konservative Koalition (der sogenannte Bülow-Block), die 1907 aus dem Konflikt um den Kolonialkrieg gegen die Nama und Herero hervorging und sich gegen das Zentrum und die Sozialdemokratie richtete, trug zu einer Renaissance antikatholischer Diskurse im Kaiserreich bei. Jene Kulturkampfstimmung machten sich Monisten in ihrer Kritik an Kirche, 6 Hübinger: Kulturprotestantismus und Liberalismus, 283. 7 Mauthner: Art. Monismus, 98 f; Ders.: Atheismus und seine Geschichte, 234. 8 Nigg: Geschichte des religiösen Liberalismus, 369.

370 Schluss Ultramontanismus und Konservatismus zu eigen. Zudem bestärkte die innenpolitische Dauerkrise, die auf die Daily-Telegraph-Affäre 1908 und den Zusammenbruch des Bülow-Blocks 1909 folgte, Monisten in ihrem Bestreben, Politik mit anderen Mitteln zu betreiben: In ihren technokratischen Gesellschaftsentwürfen sollte sich politisches Handeln nach den wissenschaftlich-technischen Sachzwängen richten. Indem sich Monisten auf naturwissenschaftliche und positivistische Theorien beriefen, lösten sie ihre Forderungen vom Anschein politischer Eigeninteressen. In Zeiten politischer Grabenkämpfe barg die Wissenschaft aus ihrer Sicht das Potential, als Integrationskraft für alle Schichten und Gruppen zu wirken (vgl. Kap. III.1). Jenseits der politischen Ebene knüpften Monisten gezielt an die Weltanschauungsdebatten des Fin de Siècle an, die das Verhältnis von Religion und Moderne, von religiöser und wissenschaftlicher Weltordnung und von Geistes- und Naturwissenschaften verhandelten. Monismus und Religion Die bisherige Antiklerikalismusforschung hat den Monistenbund in erster Linie als radikalen Kirchengegner präsentiert.9 Weitgehend unbeachtet blieb jedoch die Tatsache, dass der Monismus in hohem Maße religionsproduktiv war, indem er sich christliche Begriffe, Praktiken und Riten aneignete, diese umdeutete und in neue Kontexte überführte. Christliche Semantiken und naturwissenschaftliche Paradigmen standen dabei in enger Wechselwirkung zueinander und dienten entweder der Sakralisierung von Wissenschaft, der Delegitimation des Christentums oder der Reinterpretation von Religion. Treffend resümiert der Religionswissenschaftler Kocku von Stuckrad, dass Wilhelm Ostwald wie kaum ein anderer zur »Verwissenschaftlichung von Religion und zur religiös-metaphysischen Transformation von Naturwissenschaft im zwanzigsten Jahrhundert« beigetragen habe.10 In der monistischen Presse wurde die Frage nach dem Verhältnis des Monismus zur Religion kontrovers diskutiert und schwankte zwischen dem Bestreben, Religion bekämpfen bzw. erneuern zu wollen. Dieser Widerspruch verhinderte die Herausbildung einer kohärenten monistischen Gruppenidentität: Bestand das Ziel des Monistenbundes in der Beseitigung oder Reformierung von Religion? Schon vor der Gründung des DMB war der Monismus eng mit religiösen Semantiken konnotiert. So schwärmte der Schriftsteller Bruno Wille 1899 von einer Gesellschaft »zur Pflege monistischer Religiosität«. Weiter schrieb er an 9 Vgl. Hillermann: Der vereinsmäßige Zusammenschluß; Dankmeier: Naturwissenschaft und Christentum im Konflikt; Groschopp: Dissidenten; Simon-Ritz: Organisation einer Weltanschauung. 10 Stuckrad, Kocku von: Die Seele im 20. Jahrhundert. Eine Kulturgeschichte. Paderborn 2019, 98. Weiterführend dazu, vgl. Ders.: The Scientification of Religion. A Historical Study of Discursive Change, 1800–2000. Berlin, Boston 2014, 76–87.

Schluss  371

­Haeckel: »Ich denke natürlich nicht an dogmatische Bekenntnisse. Ich meine eine Weltanschauung und Lebensauffassung, die das religiöse Gemüt ebenso wie den Verstand befriedigt.«11 Ostwald hingegen verband mit der Verbreitung der wissenschaftlichen Weltanschauung die Mission, das Bedürfnis nach Religion in der Gesellschaft zu beseitigen. Die Wissenschaft, so verkündete er 1911 selbstbewusst, könne die Idee von der Allwissenheit und Allmacht Gottes vollends ersetzen.12 Die Ambivalenz der religiösen Frage im Monismus zeigte sich besonders bei Religionsintellektuellen wie dem Bremer Pfarrer Albert Kalthoff, dem ersten Vorsitzenden des DMB.13 Ernüchtert von der Starre und Leblosigkeit der evangelischen Landeskirche sah er im Monismus eine Option, das Christentum von innen heraus zu reformieren. Die unter den »Machtansprüchen« der Kirche »verkümmerte Religion« begrüße im Monismus »ihre Befreiung«, schwärmte Kalthoff 1906.14 Analog zu ihren inneren Widersprüchen löste die Monismusbewegung eine konträre Rezeption im Kaiserreich aus: So nahmen Zeitgenossen die Monisten einerseits als Atheisten und radikale Kirchenkritiker wahr, andererseits als dogmatische Sektierer, die dem angeblichen Fanatismus der Jesuiten gleichkamen: Das Wort katholisch besagt ja: allgemein = einzig. Der Jesuitismus ist die Verkörperung der einen, einzigen, wahren Kirche, die Societas Jesu ist die Gesellschaft sedi apostlicae deditissima. Wir sehen also ganz wunderbare Beziehungen des Monismus zum Katholizismus. Hat Locke nicht recht, wenn er die Katholiken von der Toleranz ausnimmt? Und ist nicht auch der »Monismus« Ostwalds mit einer beispiellosen Intoleranz aufgetreten?15

Die gespaltene Haltung der Monisten zur Religion mündete in einer langwierigen Debatte um einen eigenen Kult, die sich zwischen 1908 und 1911 entspannte. Verfechter eines solchen Kults argumentierten, dass rituelle Handlungen zu den Grundbedürfnissen des Menschen gehörten; wenn der Monismus auf eigene Kulte verzichte, drohe er das »Gemüt« des Menschen zu vernachlässigen und zu kalter Rationalität zu erstarren.16 Ihre Kontrahenten dagegen betonten, dass der Monismus jeden Anschein einer Religionsgemeinschaft vermeiden sollte. Man wollte sich nicht dem Feind (den Kirchen) anverwandeln, sondern sich bewusst zur Wissenschaft bekennen, lautete ihr Einwand. Auf der Führungsebene des 11 Bruno Wille an Ernst H ­ aeckel, Friedrichshagen, 14.7.1899. EHH, NL ­Haeckel. 12 Vgl. Ostwalds Rede auf dem Ersten Internationalen Monistenkongress 1911. 13 Zu den Religionsintellektuellen um 1900, vgl. Graf: Wiederkehr der Götter, 137–151. 14 Kalthoff, Albert: Religion und Monismus. In: Das Blaubuch 1, Nr. 3 (1906), 266. 15 Neumann, Otto Philipp: Der Positivismus vom modernen Standpunkte aus. In: Nord und Süd 38, Nr. 480 (1914), 321–324, hier 324. 16 Vgl. Hennig-Wimpf, Johanna: Einiges über Feste. In: Der Monismus 3, Nr. 25 (1908), 245–252.

372 Schluss Monistenbundes spielten indessen taktische Erwägungen eine Rolle. Auguste Forel, ein Gründungsmitglied des DMB, war der Überzeugung, dass die »Masse der Ungebildeten« auf Riten und Kulte angewiesen sei. In seiner Argumentation schwang eine Dichotomie von Gefühl und Verstand mit, die er mit Schicht- und Klassenunterschieden verband: Während das einfache Volk eine Befriedigung seines Gemüts benötige, könne das rationale, akademisch gebildete Bürgertum getrost auf eine religiöse Erbauung verzichten, so Forel (vgl. Kap. II.1). Ebenso widersprüchlich war die Positionierung der Monisten zu den einzelnen Konfessionen. Wurde der Monistenbund in der bisherigen Forschung meist als antiklerikal oder antireligiös eingestuft, so stellte sich bei genauer Sichtung der Quellen heraus, dass dessen Religionskritik eine antikatholische respektive antiultramontane Ausrichtung hatte. Bewusst griffen Monisten auf Feindbilder der Kulturkampfzeit zurück, um den Ultramontanismus als ein rückständiges und fortschrittfeindliches Phänomen darzustellen. Dabei rekurrierten Monisten auf drei antikatholische Stereotype der Kulturkampfära: erstens die angebliche Gewaltbereitschaft und Herrschsucht des Katholizismus, zweitens dessen Wissenschafts- und Fortschrittsfeindlichkeit sowie drittens dessen notorische Untreue gegenüber der deutschen Nation. Um den Katholizismus und letztlich auch die Religion im Allgemeinen zu delegitimieren, verwendeten Monisten entwicklungsbiologische und positivistische Ansätze als Argumentationsgrundlage. So berief sich Ostwald auf das Dreistadiengesetz von Auguste Comte, um den Katho­lizismus zum geistigen Atavismus einer längst überwundenen Kulturstufe zu erklären. Dadurch pathologisierte er Katholiken als Anhänger eines primitiven und dem Untergang geweihten Glaubens. »Klerikalismus«, »Papismus«, »Jesuitismus« und »Pfaffenherrschaft« waren in vielen Fällen die Begriffe, mit denen Monisten den Katholizismus diskreditierten und sich damit in ein Begriffsfeld einschrieben, das für den europäischen Antiklerikalismus typisch war.17 Zugleich erfüllte der Antikatholizismus eine integrative Funktion, indem er einen Minimalkonsens innerhalb der Monismusbewegung schuf. Die Kritik an Papsttum und Ultramontanismus verdichtete sich zu konkreten Feindbildern, die den Gruppenzusammenhalt der Monisten stärken sollten (Kap. II.2). Gegenüber dem Protestantismus verhielten sich Monisten dagegen völlig anders: Zwar äußerten sie auch kritische Töne gegenüber den evangelischen Landeskirchen, etwa im Kontext der Kirchenaustrittsbewegung 1913/14; doch verkörperte der Protestantismus aus monistischer Sicht eine entwicklungsfähige und wissenschaftskompatible Religion. Die Affäre um die Amtsenthebung des Kölner Pfarrers Carl Jatho 1911 hat gezeigt, dass Ostwald den Monismus in eine protestantische Traditionslinie integrierte. Ostwald stellte den Monismus als eine gesteigerte Form des Protestantismus dar, der alle religiösen Relikte hinter sich ließ. In dieselbe Kerbe schlug auch das im Monismus populär gewordene 17 Vgl. Dittrich: Antiklerikalismus in Europa.

Schluss  373

Motiv der »neuen« oder »zweiten Reformation«: Monisten stilisierten sich als legitime Erben Luthers, weil sie den liberalen Protestantismus von religiösen Atavismen befreiten und dadurch vollends rationalisierten (vgl. Kap. II.3). In der Aufwertung des Protestantismus gegenüber dem Katholizismus knüpften Monisten wie Ostwald und ­Haeckel an die konfessionelle Sozialisation ihrer Anhängerschaft an: So stammte die Mehrheit der Monisten im Deutschen Reich aus einem protestantisch-bürgerlichen Milieu. Im mehrheitskatholischen Habsburgerreich bot der Monistenbund vor allem jüdischen Intellektuellen wie Rudolf Goldscheid und Paul Kammerer eine geistige Heimat. Die Tatsache, dass sich der Monismus in einer protestantischen Tradition verortete, erweitert Olaf Blaschkes These vom »Zweiten Konfessionellen Zeitalter«, der zufolge im langen 19. Jahrhundert konfessionelle Bräuche und Traditionen als Mittel der sozialen Abgrenzung und Identitätsstiftung an Bedeutung gewannen.18 Meine Untersuchung hat gezeigt, dass konfessionelle Traditionen auch im freigeistigen Milieu eine wichtige Ressource zur Konstruktion kollektiver Identität und Distinktion gegenüber feindlichen Gruppen darstellten. Die Kontroversen um die religiöse Frage im Monismus legen den Befund nahe, dass Religion bereits um 1900 im Sinne Walter Gallies als ein »essentially c­ ontested concept« bezeichnet werden kann.19 Was Religion bedeuten sollte, war keineswegs ausgemacht, sondern unterlag kontinuierlichen gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen. Als Hauptvertreter der kaiserzeitlichen Kirchenkritik war der Monistenbund ein integraler Bestandteil dieses Aushandlungsprozesses. Letztlich führte die ambivalente Positionierung der Monismusbewegung zur Religion dazu, dass sich die Gruppenidentität des Monistenbundes vor allem negativ artikulierte  – in Abgrenzung zu den Kirchen und zum Konservatismus. Der positive Kern monistischer Identität blieb indessen unbestimmt und erschöpfte sich allenfalls in vagen Aussagen über Fortschritt, Höherentwicklung und irdisches Glück. Gewissermaßen befand sich der Monismus auf einer konstanten Flucht vor Eindeutigkeit. Doch genau diese Vagheit machte ihn als universellen Kampfbegriff für andere Bewegungen wie den radikalen Feminismus anschlussfähig. Monismus und Säkularität Die kaiserzeitliche Religionsgeschichte berührt auch die Frage nach der Einhegung von Religion in Staat, Politik und Gesellschaft – die Frage nach Säkularität. Monisten richteten ihre Kritik vor allem auf staatliche Bereiche, in denen Religion und Kirche institutionell verankert waren. Hierzu zählte zum Beispiel der konfessionelle Religionsunterricht an Volks- und höheren Schulen sowie die 18 Blaschke: Ein Zweites Konfessionelles Zeitalter, 38–75. 19 Vgl. Gallie: Essentially Contested Concepts, 167–198.

374 Schluss Verpflichtung aller Bürger, religiöse Eidesformeln vor Gericht oder bei Amtsantritt abzulegen. Zur Untersuchung säkular-religiöser Aushandlungsprozesse um 1900 habe ich das Konzept der »Multiple Secularities« verwendet. Säkularität steht hierbei für verschiedene symbolische und institutionell verankerte Formen der Grenzziehung zwischen Religion und Nicht-Religion. Die Prozesse und Dynamiken der Grenzziehung sind vielfältig und in spezifische historische und soziale Kontexte eingebunden. Die Arbeit konnte dabei zeigen, dass hinter den säkularen Forderungen der Monisten unterschiedliche Motive standen, wie z. B. die Stärkung individueller Freiheitsrechte, die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft und der Abbau kirchlicher Privilegien im Staat. Die Forderung nach der Trennung von Staat und Kirche gehörte zum Grundrepertoire monistischer Kampfrhetorik. Ihre laizistischen Forderungen begründeten Monisten jedoch nicht mit ihrer Kritik an Religion per se, sondern mit der angeblich illegitimen Herrschaft der Kirche, die auf Gewalt und Zwang basierte. Diesen Vorwurf lasteten Monisten vor allem der katholischen Kirche an. Als der Anarchist und »Apostel der Modernen Schule« Francisco Ferrer im Oktober 1909 hingerichtet wurde, erreichte die Machtkritik an der katholischen Kirche in monistischen und anderen antiklerikalen Kreisen ihren vorläufigen Höhepunkt.20 Die Hinrichtung Ferrers löste eine europaweite Protestwelle unter Antiklerikalen aus. In ihrer Berichterstattung beriefen sich Monisten auf eine europäische Wertegemeinschaft, die sich durch liberale, humane und aufgeklärte Ideale auszeichnete.21 Damit folgen Monisten einem Muster, das Lisa Dittrich für andere antiklerikale Akteure in Deutschland, Frankreich und Spanien nachgewiesen hat.22 Das Monistische Jahrhundert feierte Ferrer als Märtyrer und appellierte an ein »Europa mit Gewissen«.23 Sollte das gesamte »intellektuelle Europa« etwa zuschauen, wie Ferrer vor die Inquisition gestellt wurde, klagte Hermann Fernau in der Zeitschrift des DMB.24 »Über den nationalen Grenzen und Eigentümlichkeiten steht etwas Höheres, Schöneres, Stärkeres: das geistige Erbe der Menschlichkeit, – das Recht, die Moral, die Wissenschaft, die Freiheit!«, resümierte das Freie Wort 1911 über den Fall Ferrer (Kap. III.1).25 Die Herstellung von Öffentlichkeit war eine zentrale Strategie im Monistenbund zur Mobilisierung seiner Anhängerschaft. In den monistischen Medien spiegelte sich der Strukturwandel der Öffentlichkeit seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wider: Der Ausbau des Telegrafennetzes und die Erfindung des 20 DMJ 4 (1915), 219. 21 Requate / Schulze Wessel: Europäische Öffentlichkeit, 17. 22 Dittrich: Antiklerikalismus in Europa; Dies.: Vom Anspruch auf Einspruch. 23 L’Action (11.9.1909). Zit. n. Dittrich: Vom Anspruch auf Einspruch, 308. 24 Fernau, Hermann: Ferrer vor der spanischen Inquisition. In: Der Monismus 4, Nr. 40 (1909), 436. 25 García, M.: Zum Falle Ferrer: In: Das Freie Wort 11, Nr. 5 (1911), 165–169, hier 168.

Schluss  375

Telefons ermöglichten eine schnelle, transnationale Informationsübermittlung; neue Druck- und Vervielfältigungstechniken trugen zur Entstehung und Pluralisierung der Massenpresse bei. Monisten machten sich das breite mediale Spektrum um 1900 zunutze, indem sie neben der Vereinszeitschrift Flugschriften, Taschenkalender, eine Jugendzeitschrift sowie Kongress- und Jubiläumsbände produzierten. Ostwald gründete 1912 sogar seinen eigenen Verlag Unesma und veröffentlichte kurze Texte unter dem provokanten Titel Monistische Sonntagspredigten, um eigene Themen publik zu machen. Insbesondere ­Haeckel und Ostwald konnten sich auf ihren Bekanntheitsgrad als Naturwissenschaftler berufen und popularisierten ihre Theorien auf Kongressen und in namhaften Zeitschriften.26 Neben der Trennung von Staat und Kirche gehörte die Säkularisierung der Schule zu den zentralen Anliegen des Monistenbundes. »Als wichtigste unter diesen praktischen Forderungen gilt ihm [dem Monistenbund, C. L.] eine von kirchlichen Dogmen unabhängige sittliche Erziehung der Jugend«, hieß es schon 1906 in der Vereinszeitschrift des DMB.27 Unter dem Einfluss der konserva­tiven Bildungspolitik Wilhelms II. waren alle Kinder in Preußen, auch diejenigen konfessionsloser Eltern, zur Teilnahme am Religionsunterricht verpflichtet. Gemeinsam mit der Gesellschaft für Ethische Kultur prangerten Monisten den Gewissenszwang an Schulen an und traten für eine Befreiung der Dissidentenkinder vom Religionsunterricht ein. Anstelle des Katechismusunterrichts sollten Dissidentenkinder das Recht zu einem bekenntnisfreien Moralunterricht bekommen. Da sich die Gesetzeslage der Dissidentenkinder je nach Land unterschied, gestalteten sich auch die Säkularitätskämpfe der Monisten sehr unterschiedlich. Während in München ein freireligiöser Unterricht für kurze Zeit aufblühte, führte Preußen seine restriktive Schulpolitik fort. Die Lage der Dissidentenkinder wurde 1912 und 1917 im preußischen Abgeordnetenhaus ausgiebig diskutiert. Dass nationalliberale und sozialdemokratische Politiker die Dissidentenfrage sogar während des Ersten Weltkriegs aufgriffen, spricht für die Virulenz des Themas in- und außerhalb antiklerikaler Kreise. Obwohl die Unterrichtskommission des preußischen Landtags einen Kompromissantrag vorstellte, der Dissidentenkinder zumindest vom Katechismusunterricht befreien sollte, konnte eine Einigung im Parlament nicht erzielt werden. Die Weimarer Schulkämpfe von 1919 führten die Auseinandersetzungen der Monisten insofern fort, als dass die Konfessionalität des zukünftigen Schulsystems zur Debatte stand und auch die Frage der Dissidentenkinder aufgegriffen wurde (Kap. III.4).

26 Als Beispiel sei Ostwalds Teilnahme am Kongress der Künste und Wissenschaften in St. Louis 1904 zu nennen. 27 Was will der Deutsche Monistenbund? In: Bd DMB 1, Nr. 1 (Juli 1906), 7–9, hier 9.

376 Schluss Dass im Monistenbund unterschiedliche Vorstellungen von Säkularität vorherrschten, zeigte sich 1917 in der Debatte um die Diskriminierung von Dissidenten im Staatsdienst und beim Militär. Ausgelöst wurde die Debatte durch den Monisten Paul Unna, dessen Söhne aufgrund ihrer Konfessionslosigkeit in Preußen nicht zu Offizieren befördert wurden. Das Offiziersamt, so der damalige Kriegsminister, setzte eine religiöse Gesinnung und eine Unterweisung durch den Fahneneid voraus, der ebenfalls auf christlichen Grundsätzen beruhte. Die Reaktionen des Monistenbundes auf den Fall Unna hätten gegensätzlicher nicht sein können: Während H ­ aeckel dafür votierte, den Monistenbund zu verkirchlichen, um staatliche Repressionen zu umgehen, verurteilten andere Monisten die Begründung des Kriegsministeriums als Glaubens- und Gewissenszwang. Stattdessen forderten sie den Zugang zu allen staatlichen und militärischen Ämtern unabhängig von Religionszugehörigkeit sowie die Abschaffung der religiösen Eidesformel. Obwohl Monisten an einem antiklerikalen Diskurs um Säkularität in Europa partizipierten, der die Trennung von Staat und Kirche, Gewissensfreiheit sowie die Säkularisierung der Schule forderte, beriefen sie sich dennoch auf eine spezifisch deutsche Kulturtradition: Sie sahen sich als Vollstrecker und Vollender jener emanzipatorischen Ideen, die Luther und Goethe angebahnt hatten. Monismus und Wissenschaft Der Bezug zur Wissenschaft war im Monismus omnipräsent und schon im Namen der Bewegung angelegt: So beriefen sich Monisten auf eine einheitliche Weltanschauung auf naturwissenschaftlicher Basis. In dieser Rolle transportierten Monisten spezifische Bilder von »wahrer« Wissenschaft, die sie mit den Idealen von Empirie, Nützlichkeit und Vorhersage verbanden. Wissenschaft definierte sich im Monismus in konstanter Bezugnahme zum Christentum. Im Gegensatz zu religiösen Prophetien, so Ostwald, ermöglichten die Naturwissenschaften verlässliche Vorhersagen über die Zukunft, weil sie auf Erfahrung und Gesetzmäßigkeit beruhten. Zwar haben bisherige Beiträge zum Monismus auf den Einfluss der zeitgenössischen Biologie, Physik und Neurologie auf die Monismen ­Haeckels, Ostwalds und Forels hingewiesen;28 allerdings blieb die Instrumentalisierung wissenschaftlichen Wissens im Monismus zur Generierung von Deutungsmacht weitgehend unbeachtet (vgl. Kap. IV). Die Wortführer der Bewegung, unter ihnen Ostwald, H ­ aeckel, Goldscheid und Müller-Lyer, bedienten sich eines naturwissenschaftlichen, soziologischen und positivistischen Vokabulars, um ihre Forderungen zu legitimieren und 28 Vgl. Breidbach: Monismus um 1900  – Wissenschaftspraxis oder Weltanschauung? 289–316; Ders.: Alle für Eines, 9–22; Braune: Fortschritt als Ideologie, 51–69; Hakfoort: Science Deified, 525–544.

Schluss  377

Deutungsmacht in ethischen Themen zu erlangen. Schließlich zielten Monisten mit ihrem antiklerikalen Protest nicht nur auf eine institutionelle Einhegung von Religion, sondern auch auf eine sprachlich-diskursive. An die Stelle religiöser Erklärungs- und Deutungsmuster von Ethik, Sexualität, Geschlechternomen, Leid und Tod sollten wissenschaftliche Ansätze treten. Monisten verwendeten wissenschaftliche Theorien und Begriffe durchaus eklektisch: Die evolutionsbiologischen Mechanismen von Darwin, Lamarck und Kropotkin verbanden sie mit positivistischen, soziologischen und energetischen Ansätzen. Durch den Verweis auf naturwissenschaftliche Theorien versuchten sie ihren Forderungen und Zielen den Anschein von Objektivität und Notwendigkeit zu verleihen.29 Besonders die christliche Ethik entwickelte sich zur Zielscheibe der monistischen Kritik, da sie ihr zufolge auf einem spekulativen Jenseitsversprechen beruhte und eine Abkehr vom Diesseits kultivierte. Demgegenüber propagierten Monisten eine eudämonistische Ethik, die Fortschritt, Wohlstand und Glück auf Erden schaffen sollte. Für sie waren ethische Prinzipien schon in der Natur angelegt: H ­ aeckel und Ostwald naturalisierten die Goldene Regel der Bibel, indem sie ihren Ursprung auf evolutionäre Instinkte zurückführten. Ostwald behauptete, dass sich die Goldene Regel schon im evolutionären Mechanismus der gegenseitigen Hilfe zeigte, der um 1900 von dem russischen Anarchisten und Biologen Petr Kropotkin begründet worden war. Die Fähigkeit höherer Tiere zur Nächstenliebe lag ihm zufolge in deren Instinkt begründet, die eigene Brut nach aller Kraft zu verteidigen und dadurch die eigene Gattung zu erhalten.30 Während bei Tieren jedoch die Mutterliebe verschwand, sobald die Nachkommenschaft ihren Welpenstatus verloren habe, bleibe beim Menschen der ethische Grundsatz der Nächstenliebe erhalten. Diesen Unterschied führte Ostwald auf den Verstand des Menschen zurück und dessen Fähigkeit, Energieressourcen möglichst effektiv zu nutzen. Die Nächstenliebe und gegenseitige Hilfe zwischen Menschen sorge für eine Kraftersparnis – »immer handelt es sich darum, aus den verfügbaren Energien ein besseres Güteverhältnis herauszubekommen und dadurch das Leben besser zu gestalten.«31 Die kulturelle Höherentwicklung des Menschen setzte Ostwald also mit der zunehmenden Ausschöpfung und Inanspruchnahme von Energieressourcen gleich. Franz Müller-Lyer wiederum begründete in Anknüpfung an Auguste Comte und Herbert Spencer eine soziologische Großtheorie, aus der er Handlungsnormen ableitete. Mithilfe seiner phaseologischen Methode formulierte er verschiedene Entwicklungsgesetze der Kultur. Zu diesen Gesetzen zählte Müller-Lyer unter anderem die zunehmende Loslösung der Menschen von ihren urzeitlichen Trieben und die damit verbundene Humanisierung der Kultur. Analog zur Na 29 Vgl. Lübbe: Politische Philosophie. 30 Ostwald: Liebet euch untereinander, 109. 31 Ebd., 110.

378 Schluss turbeherrschung sollte seine Soziologie eine Steuerung und Beherrschung der Kultur ermöglichen. Im Bewusstsein der kulturellen Entwicklungsgesetze sollte ein »Neuer Mensch« entstehen, dessen Handeln Egoismus und Altruismus miteinander verband und so eine »Civitas Humana« schuf (vgl. Kap. IV.1).32 In Müller-Lyers Ideal von »Kultbeherrschung« spiegelte sich die monismustypische Betonung des Aktivismus wider. Die Theorien von Comte, Lamarck und Kropotkin bestärkten Monisten in ihrem Glauben, den Fortschritt der Kultur durch Reformmaßnahmen steuern zu können und so von Zufallsfaktoren zu befreien. Aus der neolamarckistischen Theorie der Vererbung erworbener Eigenschaften leiteten Monisten zum Beispiel das Versprechen ab, über den Weg der Sozialreform die physischen und psychischen Merkmale der Menschen zu verbessern. Denn gemäß der Lamarck’schen Theorie schlug sich die Veränderung des äußeren Milieus unmittelbar im Erbgut der Organismen nieder. In den monistischen Ethikansätzen schwang also stets die Vision mit, den Kulturfortschritt steuern, lenken und letztlich beherrschen zu können. Als Popularisierer einer wissenschaftlichen Weltanschauung stellte der Monistenbund selbst Argumente bereit, auf die sich Akteure angrenzender Reformbewegungen beriefen. Im Kampf für eine neue Sexualmoral entstanden Allianzen zwischen der Monismus- und Frauenbewegung. Auf der inhaltlichen Ebene lieferte der Monistenbund evolutionsbiologische und kirchenkritische Argumente, die eine Neudefinition der weiblichen Sexualität und gesellschaftlichen Frauenrolle erlaubten; auf der organisatorischen Ebene fungierte der Monistenbund als Multiplikator feministischer und sexualreformerischer Positionen. So veröffentlichte Helene Stöcker als Vorsitzende des Bundes für Mutterschutz im DMB -Vereinsorgan und hielt Vorträge auf monistischen Kongressen.33 Ebenso rekurrierten die Feministinnen Adele Schreiber und Grete Meisel-Hess in ihren Reformschriften auf den Monismus und nutzten dessen Publikationsorgane. Der von Darwin formulierte Mechanismus der sexuellen Auslese (sexual selection) eröffnete Feministinnen eine neue Sichtweise auf die Geschlechtsidentität der Frau. Diesem Mechanismus zufolge waren es die weiblichen Arten im Tierreich, die über ihren männlichen Sexualpartner und damit über die Fortpflanzung entschieden. Gleichzeitig beriefen sich Feministinnen auf die schon erwähnte Theorie der Vererbung erworbener Eigenschaften von Lamarck: Ihnen zufolge würde die Gleichstellung der Frau (etwa im Bildungsbereich) neue Merkmale im weiblichen Organismus generieren, die über den Weg der Vererbung zu einer generellen Höherentwicklung der Menschheit beitrugen (vgl. Kap. IV.2). Jenseits von Deutung und Sprache ging es Monisten auch um eine Veränderung von Praktiken im Umgang mit Leid, Tod und Trauer. Obwohl die Sterbehilfe im Kaiserreich noch ein Randthema darstelle, nahm sich der Monistenbund 32 Müller-Lyer: Der Sinn des Lebens, 267. 33 Vgl. die Autobiographie von Helene Stöcker: Lebenserinnerungen, 155–157.

Schluss  379

bereits früh dieser Frage an. Den Anstoß zur Euthanasiediskussion im Monistenbund gab ein Gesetzesentwurf des lungenkranken Roland Gerkan von 1913, der die Legalisierung der Tötung auf Verlangen forderte, sofern sie durch eine ärztliche Beurteilung genehmigt wurde. Auf den Gesetzesentwurf reagierten mehrere Beiträge im Monistischen Jahrhundert, die das Für und Wider der Tötung auf Verlangen erörterten. Wenngleich einzelne Stimmen gegen die Sterbehilfe protestierten und dabei die Gefahr eines ethischen Dammbruchs befürchteten, befürwortete der Großteil der Autoren deren Legalisierung als ein Akt der Selbstbestimmung. Besonders in Ostwalds Argumentation für die Sterbehilfe schien die Logik einer radikal-utilitaristischen Ethik durch, die den Wert des Lebens nach Nützlichkeitsmaßstäben beurteilte und dadurch die Gefahr des Inhumanen in sich barg. Gegenüber der älteren Forschung, die den Monistenbund als gedanklichen Wegbereiter der nationalsozialistischen Rassenideologie bewertete, hat diese Arbeit gezeigt, dass in der monistischen Diskussion um Sterbehilfe die Frage nach Selbstbestimmung und nicht die Tötung »lebensunwerten Lebens« im Mittelpunkt stand. Der Mensch selbst, und nicht Gott, sollte seinem Leben ein Ende setzen können (vgl. Kap. IV.3). Darüber hinaus ebnete die Monismusbewegung einer säkularen Trauer- und Bestattungskultur in Deutschland den Weg: Vor dem Ersten Weltkrieg entstanden zahlreiche Allianzen zwischen der Monismus- und Feuerbestattungsbewegung, mitunter auch in der Personalunion einzelner Akteure. Die Verbindung zwischen der Monismus- und Feuerbestattungsbewegung beruhte auf mehreren Faktoren: Zum einen hatte die Feuerbestattung ihre Wurzeln im linken und liberalen Spektrum und entwickelte sich so gewissermaßen als Gegenprogramm zum christlichen Erdgrab. Dank der Einäscherung konnten Antiklerikale unterschiedlicher Provenienz ihre Kirchenferne demonstrieren. Zum anderen verkörperte die Feuerbestattung in den Augen der Monisten und Freidenker den technischen Fortschritt der Zeit, indem der Leichnam einem hochtechnisierten Verbrennungsapparat übergeben wurde. Zum Dritten teilten die Befürworter der Kremation mit den Monisten ein materialistisches Körperbild, das die Existenz von Seele und Transzendenz negierte. Ihnen zufolge hinterließ der Mensch nach dessen Tod nichts Weiteres als leblose Materie. So gesehen versprach die Feuerbestattung einen hygienischen Tod, indem der Verwesungsprozess des Leichnams der Einäscherung wich. Obwohl die evangelischen Landeskirchen vor dem Ersten Weltkrieg die Feuerbestattung allmählich tolerierten, bargen weltliche Trauerfeiern nach wie vor ein enormes Konfliktpotential. Dies zeigte sich 1910 in der Auseinandersetzung um die überkonfessionelle Nutzung des Krematoriums und der Kapelle auf dem Ostfriedhof in Gera. Im Zentrum des Konflikts stand die Verwendung der Trauerkapelle für weltliche Bestattungsfeiern, die ohne die Anwesenheit eines Geistlichen abgehalten werden sollten. Zwar war es Dissidenten erlaubt, ihre Angehörigen über einen externen Versenkungsschacht einäschern zu lassen,

380 Schluss dennoch blieb ihnen die weltliche Nutzung der Friedhofskapelle verwehrt. Während die ansässige Gemeinde die Anwesenheit eines Geistlichen bei Trauerfeiern forderte, kämpfte der örtliche Freidenker- und Monistenbund für eine säkulare Trauer- und Bestattungspraxis (vgl. Kap. IV.4). In all diesen Auseinandersetzungen um die Grenzen der Religion erhob die Monismusbewegung einen Anspruch auf Sprecherschaft für das gesamte freigeistige Spektrum. Ihren Repräsentationsanspruch markierten Monisten, indem sie die Ziele der Feministinnen, der Krematisten, Pazifisten und Schulreformer unter dem übergeordneten Begriff der »monistischen Kulturarbeit« versammelten. Auch performativ trugen sie ihrem Repräsentationsanspruch Rechnung, indem beispielsweise Ostwald auf dem Ersten Internationalen Monistenkongress 1911 das »Monistische Jahrhundert« ausrief. * * * Der Monistenbund erregte die Gemüter wie kaum ein anderer Akteur des Freidenkertums in der wilhelminischen Ära – sowohl positiv als auch negativ. Dementsprechend vielfältig waren die Urteile über die Monisten: Mal erschienen sie als Ketzer, mal als Sektierer und wieder mal als Verkünder einer neuen »Diesseitsreligion«.34 Diese mannigfaltigen Lesarten des Monismus bezeugen, dass er mehr als ein marginales weltanschauliches Kuriosum der Jahrhundertwende war. So leistete der Monismus einen konstitutiven Beitrag zu den Debatten um Säkularität und Religion im Wilhelminismus auf mehreren Ebenen: Seine Kritik bezog sich nicht nur auf die strukturelle Verflechtung von Staat und Kirche, sondern auch auf religiöse Deutungshoheiten. Zugleich arbeiteten Monisten an einem neuen Religionsverständnis, das auf Subjektivität, Gewissensfreiheit und Lebensbejahung beruhte. Insofern war die Geschichte des Monismus keine einseitige Konfliktgeschichte zwischen Naturwissenschaftlern und Theologen, sondern die einer kontinuierlichen Arbeit an der Grenze der Religion. In der spannungsreichen Geschichte der Monismusbewegung spiegelte sich die Janusköpfigkeit der wilhelminischen Ära wider: Geboren in der alten Welt des 19. Jahrhunderts, wurde das Kaiserreich zu einer Epoche zahlreicher Modernisierungsprozesse wie Verstädterung, Industrialisierung und gesellschaftliche Ausdifferenzierung. Zu Recht weist die jüngere Forschung darauf hin, dass die Geschichte des Kaiserreichs keinen Sonderweg darstellte, der in der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 kulminierte, sondern eine »Spielart des 34 Zum Begriff Monistensekte, vgl. o.A.: Was soll gegen den Monismus geschehen? In: Der Beweis des Glaubens 43 (1907), 231–235; Braun, Otto: Grundriß einer Philosophie des Schaffens als Kulturphilosophie. Leipzig 1912, 211. Zum Ausdruck »Monistenkirche«, vgl. Wernle, Paul: Einführung in das theologische Studium. 3. Aufl. Tübingen 1921, 555; o.A.: Rez. Monistische Sonntagspredigten. In: Literarisches Zentralblatt für Deutschland 67, Nr. 35 (1916), 909. Zum Dekadenzvorwurf, vgl. Nigg: Geschichte des religiösen Liberalismus, 369.

Schluss  381

westlichen Modernisierungspfads«.35 Innerhalb dieses Modernisierungspfades bot der Monismus verschiedenen Reformbewegungen eine geistige Heimat: Vertreterinnen der radikalen Frauenbewegung beriefen sich auf den Monismus, um eine neue Sexualmoral und Geschlechterordnung zu erkämpfen; Bildungsreformer prangerten im Verbund mit Monisten den Gewissenszwang an Schulen durch den konfessionellen Religionsunterricht an; und Feuerbestattungsvereine rangen um eine säkulare Bestattungs- und Trauerpraxis. Die Geschichte der Monismusbewegung führt vor Augen, dass die wilhelminische Ära keineswegs dem populären Bild einer militaristischen Untertanengesellschaft entsprach – im Gegenteil: In ihr bahnte sich eine Reformgesellschaft den Weg, die spätere Auseinandersetzungen um Religion und Säkularität vorwegnahm.36

35 Freytag: Das wilhelminische Kaiserreich, 254. 36 Zur Widersprüchlichkeit der wilhelminischen Ära, vgl. Berghahn: Das Kaiserreich 1871–1914, 40; Heidenreich, Bernd / Neitzel, Sönke (Hg.): Das Deutsche Kaiserreich 1890–1914. Paderborn, München 2011; Jefferies, Matthew (Hg.): The Ashgate Research Companion to Imperial Germany. Farnham 2015; Müller, Sven Oliver / Torp, Cornelius (Hg.): Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse. Göttingen 2009.

Danksagung Die vorliegende Arbeit wurde im März 2019 an der Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation angenommen. Für den Druck wurde sie leicht überarbeitet. Meine Dissertation wäre ohne die Unterstützung zahlreicher Personen nicht zustande gekommen: An erster Stelle möchte ich meiner Doktormutter Kärin Nickelsen (LMU München) danken, die meine Arbeit mit scharfem Verstand, fachlicher Kompetenz und langjähriger Erfahrung begleitet hat. Ohne ihre regelmäßigen Sprechstunden würde ich wohl immer noch nach dem »roten Faden« suchen. Darüber hinaus danke ich meinem Zweitbetreuer Martin Baumeister (DHI Rom), der sich trotz der großen Entfernung stets für mein Projekt Zeit nahm und mich auf wichtige kultur- und sozialgeschichtliche Zusammenhänge aufmerksam machte. Mit ansteckender Begeisterung präsentierte Herr Baumeister mir und meinen Kollegen die Sehenswürdigkeiten Roms – auch dafür mein Dank. Weiterhin bin ich Martin Schulze Wessel (LMU München) zu Dank verpflichtet, der nicht nur das Drittgutachten übernahm, sondern auch Sprecher des Internationalen Graduiertenkollegs »Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts« war. Das Graduiertenkolleg gewährte mir ein großzügiges Promotionsstipendium und organisierte anregende Kolloquien, Methodenseminare und Sommerschulen, die meine Arbeit in vielerlei Hinsicht beeinflussten. Ein besonderer Dank gilt den Koordinatorinnen des Graduiertenkollegs Laura Hölzlwimmer, Sigita Hunger und Katja Kudin, die für einen reibungslosen Ablauf aller Veranstaltungen, emotionalen Beistand und kurzweilige Gespräche sorgten. Ebenso danke ich Tobias Grill, Pascal Trees und allen Mitkollegiaten für ihr großes Engagement in der Doktorandenwerkstatt, von der meine Arbeit enorm profitierte. Meine Promotionsphase führte mich an viele Orte diesseits und jenseits des Atlantiks: Während eines Gastaufenthalts an der Karls-Universität Prag im Frühjahr 2017 standen mir Tomáš Pavlíček und Miroslav Kunštát stets beratend zur Seite. Professor Massimo Mazzotti war so freundlich, meinen Gastaufenthalt an der UC Berkeley im Herbst 2017 zu betreuen. Darüber hinaus gaben mir zahlreiche Archivaufenthalte intime Einblicke in Freundschaften und Feindschaften, Skandale und Querelen, Größenwahn und Hoffnungen der Monisten. Den Archivmitarbeitern in Berkeley, Berlin, Bremen, Hamburg, Jena, Koblenz, Leipzig, Marbach, München, Prag, Washington D. C. und Wien bin ich zu tiefem Dank verpflichtet. Ebenso sei den Mitarbeitern der Wilhelm-Ostwald-Gedenk-

384 Danksagung stätte in Großbothen gedankt, die mir allerlei Kuriositäten aus Ostwalds Privatbesitz zeigten. Für kluge Ideen, anregende Diskussionen und fachlichen Austausch möchte ich mich bei folgenden Kollegen, Konferenzteilnehmern und -organisatoren bedanken (in alphabetischer Reihenfolge): Christina Brandt (Jena), Lisa Dittrich (München), Julia Engelschalt (Bielefeld), Johannes Gleixner (Prag), Hauke Heidenreich (Halle), Nick Hopwood (Cambridge), Caroline Kosuch (Göttingen), Katharina Neef (Leipzig), Martina Niedhammer (München), Anton Jansson (Göteborg), Daniel Laqua (Newcastle upon Tyne), Martin Klimpel (Leipzig), Massimo Mazzotti (Berkeley), Laura Meneghello (Siegen), Lynn Nyhart (Madison / Wisconsin), Detlef Pollack (Münster), Christina Schröer (Freiburg), Katalin Straner (Southampton), Jan Surman (Moskau / Erfurt), Todd Weir (Groningen), Paul Weindling (Oxford) und Monika Wohlrab-Sahr (Leipzig). Neben dem fachlichen Input habe ich sehr von der Unterstützung meiner Freunde und Kollegen am Historischen Seminar profitiert, die meinen Alltag mit Kaffeepausen, klugen Gedanken und aufmunternden Worten bereicherten (in alphabetischer Reihenfolge): Julia Bloemer, Annemone Christians, Nikolaus Egel, Christian Joas, Fabian Krämer, Katja Kudin, Philipp Lenhard, Henriette Müller-Ahrndt, David Munns, Josephine Musil-Gutsch, Fabian Poetke, Caterina Schürch, Marina Schütz, Matthias Schütz, Claus Spenninger, Cora Stuhrmann, Dana von Suffrin, Fabian Weber, Robert-Jan Wille, Jan Zachariáš und Niklas Zimmermann. Besonders in der Abschlussphase hat meine Arbeit sehr von der kritischen Lektüre meiner Kollegen profitiert  – herzlichen Dank auch dafür. Jenseits der Universität standen mir viele Freunde als treue Zuhörer und ausgezeichnete Küchenpsychologen bei. Ein ganz besonderer Dank gilt meiner Mutter Angelika, meinem Bruder Marius sowie Sebastian, die immer ein offenes Ohr für mich hatten und mich durch Ups and Downs der Promotionsphase begleiteten. Ihnen und meinen Freunden sei diese Arbeit gewidmet. Abschließend danke ich dem Vandenhoeck & Ruprecht Verlag für das Korrektorat und die Drucklegung meines Buches. Martin Schulze Wessel (München), Friedrich Wilhelm Graf (München), Miloš Havelka (Prag) und Przemyslaw Matusik (Poznan) haben meine Dissertation dankenswerterweise in die Reihe »Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit« aufgenommen. Für eine reibungslose Drucklegung des Buches haben Daniel Sander, Ingeborg Lüdtke und Miriam Espenhain mit ihrer langjährigen Erfahrung und profunden Sachkenntnis gesorgt. Finanziert wurde der Druck durch einen großzügigen Zuschuss des Internationalen Graduiertenkollegs »Religiöse Kulturen« und das Oskar-Karl-Forster-Stipendium. München, im Januar 2020

Anhang

Abbildung 21: Entwurf einer »Monistenkirche« des Architekten und Lebensreformers Karl Buschhüter (1904/5).

386 Anhang

Abbildung 22: »Nicht eingeladen!« Karikatur zu Ernst ­Haeckel aus dem Kladderadatsch (1910): »Aber, mein lieber Herr Kollege, es sind Allerhöchste Herrschaften da. Sie können mit der Verwandtschaft unmöglich eintreten!«

Anhang  387

Abbildung 23: Karikatur zum Monistenbund aus dem Simplicissimus (1908): »Lieber Herr Professor H ­ aeckel! Ich möchte mich gern mal wieder schöpferisch betätigen und bitte um Ihre gütige Erlaubnis hierzu. Ich würde auch gern Ihrem vorzüglichen Monistenbund beitreten. Mit grösster Hochachtung, Ihr ergebenster Lieber Gott.«

388 Anhang

Abbildung 24: »Im zwanzigsten Jahrhundert!« Karikatur zur Jatho-Affäre aus dem Kladderadatsch (1911): »Der alte Kronos: Verflucht nochmal, bin ich denn 400 Jahre umsonst gelaufen?«

Anhang  389

Abbildung 25: »Tut Buße«. Flugblatt zum Massenstreik gegen die Staatskirche am Buß- und Bettag 1913. Historisch nimmt der Aufruf Bezug auf die Befreiungskriege gegen die napoleonische Herrschaft in Europa 1813–1815.

390 Anhang

Abbildung 26: Radierung »Prometheus« des Grafikers und ­Haeckel-Schülers Fritz Zalisz: »Ich dich ehren? Wofür?« Das Exlibris aus dem Ostwald-Nachlass symbolisiert die unter Monisten typische Verehrung des Halbgottes Prometheus als ein Rebell, der sich gegen den Willen der Götter auflehnte.

Anhang  391

Brief Auguste Forels an Wilhelm Ostwald, Yvorne, 20. November 1911: Sehr geehrter und lieber Herr Kollege,

Yvorne, 20. November 1911

Ich danke Ihnen herzlichst für Ihren lieben Brief und für die Zusendung Ihrer monistischen Sonntagspredigten. Letztere hatte ich bereits erhalten und gelesen. Es freut mich aufrichtig, dass Sie mit mir übereinstimmen. Schon längst hätte ich gerne Gelegenheit gehabt Sie persönlich kennen zu lernen, um mich mit Ihnen auszusprechen. Vielleicht kommen Sie einmal durch die Schweiz und besuchen mich bei der Gelegenheit. Ich bitte Sie, meinen Brief an Prof. Unna zu entschuldigen, aber ich hielt eine unzweideutige Aussprache für absolut notwendig. Ich kann Sie versichern, dass niemand mehr als ich eine Uebereinstimmung wünscht und ersehnt. Der grosse Fehler der »Intellektuellen« ist ihre Eigenbrödelei und ihr Mangel an Organisationsfähigkeit, während die grosse Masse der Ungebildeten, wie Schafherden, auf Schlagworte, Sitten und Gewohnheiten hören und gehorchen. Es ist eben das Fatale, dass die Kirchen und die Machthaber es so gut verstehen die Massen für ihre egoistischen Zwecke zu leiten, während wir uns immer einbilden, wir könnten dieselben im Handumdrehen auf wissenschaftliche Kritik und Erkenntnis einüben. Die praktische Schwierigkeit, die überwunden werden muss, liegt eben darin den wissenschaftlichen Fortschritt (seine Plastizität) und seine rein menschlich irdische Ethik, sowie die Wahrung der Erkenntnismethode in einer, das Gemüt der ungebildeten Massen packende und fassende einfache Form einzuhüllen, die dauernd auf sie einwirkt und für sie zur Religion wird, das heisst zur Triebfeder des Lebens. Unser grosser Fehler liegt eben darin, dass wir bis jetzt nicht verstanden haben von der Kirche in Bezug auf ihre bezügliche Methode genügend zu lernen. Das ist eben, was wir im I. O.E. C. [Internationaler Orden für Ethik und Cultur] erstreben, leider bis jetzt mit ganz ungenügenden Kräften und Mitteln, denn ich bin geradezu ganz abgerackert. Sobald wir von solchen Dingen sprechen wollen, fällt man über uns her, als ob wir wieder Mystik, Klimbim, Geheimnistuerei und weiss Gott was für Unsinn wieder einführen wollten. Es ist geradezu peinlich die Oberflächlichkeit im Denken unserer meisten Intellektuellen darin zu beobachten. Ich spreche nicht auf Grund von Theorien sondern auf Grund einer alten Praxis mit dem Volk im Guttemplerorden. Es gelang mir 1906 in der ganzen Schweiz das religiöse Ritual unserer Guttempler durch ein rein ethisch menschliches zu ersetzen und siehe da, die Leute waren damit bald ganz zufrieden und daran gewöhnt. Es geht damit heute ganz gut. Hätte ich aber das Ritual und die wöchentlichen Logensitzungen abgeschafft und durch freie Vereinigungen ersetzt, so wäre es mir genauso gegangen wie mit dem Alkoholgegnerbund, der eben ohne Ritual und zwanglos arbeitet: Das ganze Volk hätte sich abgewendet und die Sache wäre eingeschlafen. Letzteres erfuhr ich früher als ich selbst den Alkoholgegnerbund gründete. Ich

392 Anhang bin also durch Schaden klug geworden, nicht durch vorgefasste Meinung. Die wissenschaftliche Erkenntnis muss für das Volk in ein Gemütskleid eingekleidet werden, sonst wird die Religion uns diese Massen immer wieder entziehen. Die blödsinnige Tyrannei der katholischen Kirche hält sich nur mit solchen Mitteln aufrecht. Warum sollen wir denn nicht diesen, den Menschenmassen nun einmal unentbehrlichen formalistischen Gemütsmantel der Wahrheit statt der Lüge anhängen um letztere zu bekämpfen. Wenn Sie es wünschen und wenn Sie mir versprechen den Inhalt für sich zu behalten und mir das Büchlein nach kurzer Zeit wieder zurück zu senden, will ich Ihnen ein Ritual unseres neutralen Guttemplerordens zur Einsicht schicken. Ich habe es selbst abgefasst. Daraus werden Sie ersehen, wie man dem Volke unsern Zustand mundgerecht machen kann, dadurch dass man es in regelmässigen, Andacht ähnlichen, Sitzungen damit füttert und wieder füttert. Ganz maschinenmässig werden ihm diese Sätze und Lehren zur Religion und ohne es zu merken wird es freisinnig, monistisch von Kindesbeinen auf, aber dafür ist eben eine konsequente systematisch organisatorische Bearbeitung der Massen nötig. Da jedoch weder Sie noch ich, noch andere überbürdete Menschen dies selbst tun können, da wir uns mit Vorträgen und Schriften bereits ganz abrackern, müssen solche Rituale mit Musik und sonstigen passende Zeremonien festgenagelt und durch eine feste Organisation überall mittelst des Mundes dritter Personen dem Volke in kleinen Kreisen stets und immer weiter gepredigt werden. Das wird dann zu einer empfindlichen Konkurrenz für die Kirche. Der Hauptwitz besteht darin, dass man seine Stütze so konstruiert, dass sie intensiv auf Gemüt und Pflichtgefühl wirken und mit entsprechendem Ton vorgetragen oder vorgelesen werden können, während man zu gleicher Zeit mit äusserster Vorsicht alle metaphysischen Hypothesen und Glaubensdogmen daraus entfernt. Man braucht gar nicht von Monismus, von Energie, von Weltanschauung etc., so wenig wie von Gott, Christus, Sünde und dergleichen zu sprechen. Man muss nur rein menschlich zum Menschen reden, das verstehen und fühlen die einfachen Leute, denn ihre sozialen Beziehungen zu ihren Mitmenschen liegen ihnen eigentlich noch näher als uns Intellektuellen. Wir verfügen über viel mehr Mittel, um uns für das materielle Dasein zu helfen und können uns eher den Idealen, den Theorien und der Philosophie widmen. Die Masse kämpft dagegen um ihr tägliches Brot und fühlt ihre Abhängigkeit von anderen Menschen und fasst daher das reine einfach Menschliche umso stärker mit dem Gemüt auf, das Gemeine und das Schlechte, wie das Gute. Sie kann ebenso ekelhaft, roh und gemein, wie rührend, eifrig und selbstaufopfernd werden. Man muss sie eben auf das Letztere einüben und stimmen. Verzeihen Sie diese lange Litanei eines alten erfahrenen Kämpfers, der die Volksseele als mitkämpfenden Soldaten seit Jahrzehnten miterlebt hat. […] Mit herzlichsten Empfehlungen Ihr ganz ergebener Dr. A. Forel

Abkürzungen ABBAW ADM Bd DMB BWG BJHS BSB DBWS DFB DGEK DMB DMJ

Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften Archiv des Deutschen Museums, München Blätter des Deutschen Monistenbundes Berichte zur Wissenschaftsgeschichte British Journal for the History of Science Bayerische Staatsbibliothek Deutscher Bund für weltliche Schule und Moralunterricht Deutscher Freidenkerbund Deutsche Gesellschaft für Ethische Kultur Deutscher Monistenbund Das Monistische Jahrhundert. Wochenschrift für wissenschaftliche Weltanschauung und Weltgestaltung EHH Ernst-­Haeckel-Haus Jena GG Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft Hg. Herausgeber HWdP Historisches Wörterbuch der Philosophie HZ Historische Zeitschrift JbWk Jahrbuch für Europäische Wissenschaftskultur LAB Landesarchiv Berlin LOC Library of Congress MSP I–V Monistische Sonntagspredigten. Bd. 1–5 NG Die Neue Generation. Publikationsorgan des Deutschen Bundes für Mutterschutz NL Nachlass RGG Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft St AB Staatsarchiv Bremen St AM Staatsarchiv München TRE Theologische Realenzyklopädie UAL Universitätsarchiv Leipzig VfZ Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte

Bildnachweis 1. Ernst ­Haeckel auf dem Freidenker-Kongress in Rom 1904. EHH, Fotostelle. © EHH. 2. Begrüßung von Ostwald und ­Haeckel, Pilgerfahrt nach Jena 1911. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 5295. Fotograf Walter Kantowski, Jena. 3. Übersichtskarte zur freigeistigen Bewegung in Deutschland und Österreich. In: Henning, Max (Hg.): Handbuch der Freigeistigen Bewegung Deutschlands, Österreichs und der Schweiz. Frankfurt am Main 1914 (Karte im Anhang). 4. Portrait von Wilhelm Ostwald (1913). ABBAW, NL Ostwald, Nr. 5292/1. Lichtkunst-Werkstätte M. Gregorovius – M. Seelenbinder, München. 5. Ankündigung zu Wilhelm Ostwalds Vorlesungsreihe an der Columbia University 1905/6. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 5200. 6. Fotografie vom Landhaus »Energie« in Großbothen bei Leipzig. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 5297. 7. Plakat zum Internationalen Monistenkongress 1911. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 5275. © ABBAW 8. Gruppenbild im Tierpark Hagenbeck, Hamburger Monistenkongress 1911. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 5293. Atelier Jaap, Hamburg. © ABBAW 9. Gruppenbild am Hamburger Bahnhof, Hamburger Monistenkongress 1911. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 5293. Atelier Jaap, Hamburg. © ABBAW 10. Titelbild zu Wilhelm Ostwalds »Monistischen Sonntagspredigten« (Zweite Reihe, 1912). 11. Regieanweisung für eine »Monistische Kinderweihe«. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 5217. © ABBAW

396 Bildnachweis 12. Wellner, W. A.: Quo Vadis? In: Lustige Blätter 22, Nr. 44 (1907). 13. Krüger, Arthur: Das Prokrustesbett. In: Kladderadatsch 64, Nr. 28. (9.7.1911), Drittes Beiblatt. 14. Blix, Ragnvald: Mbret Ostwald I. In: Simplicissimus 19, Nr. 12 (22.6.1914), 181. © Ragnvald und Ida Blix Fond, Kopenhagen. 15. Kirchenaustrittsplakat. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 5279. © ABBAW 16. Portrait von Franz Müller-Lyer. Abgedruckt in: Eisler, Rudolf: Dem Andenken an Müller-Lyer. München 1916, 1. 17. Titelseite der Zeitschrift »Mutterschutz. Zeitschrift zur Reform der sexuellen Ethik« (1905–1907). 18. Portrait von Helene Stöcker [ca. 1920]. Abgedruckt in: Lendvai-Dircksen, Erna (Hg.): Unsere Zeit in 77 Frauenbildnissen. Leipzig 1930. 19. Postkarte, Amtsschreibermühle im Eisenberger Mühltal, Thüringen 1913 [eigene Sammlung]. 20. Das Neue Krematorium in Gera. In: Faschings-Festzeitschrift des Geselligen Club Gera, Nr. 1 (13.2.1910). 21. Buschhüter, Karl: Entwurf einer Monistenkirche (1904/5). Abgedruckt in: Pohl, Walfried: Der Krefelder Architekt Karl Buschhüter 1872–1956. Krefeld 1987, 257. 22. Brandt, G.: Nicht eingeladen! Prof. ­Haeckel hat keine Einladung zum Universitäts-Jubiläum erhalten. In: Kladderadatsch 63, Nr. 43 (23.10.1910), 172. 23. Heine, Thomas Theodor: Ansichtskartensammlung. In: Simplicissimus 13, Nr. 1 (6.4.1908), 1. 24. Im zwanzigsten Jahrhundert (Zur Jatho-Affäre). In: Kladderadatsch 64, Nr. 28 (9.7.1911), Erstes Beiblatt. 25. »Tut Buße«. Flugblatt des Komitee Konfessionslos zur Kirchenaustrittskampagne am Buß- und Bettag 1913. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 5275. © ABBAW

Bildnachweis  397

26. Prometheus (Goethe). Nach einer Originalradierung von Fritz Zalisz, Leipzig. ABBAW, NL Ostwald, Nr. 4357. Grafiken 1. Statistik zum beruflichen Hintergrund der DMB-Mitglieder [eigene Grafik]. Daten entnommen aus: Bloßfeldt, Wilhelm (Hg.): Der erste internationale Monisten-Kongreß in Hamburg vom 8.–11. September 1911. Leipzig 1912, 156. 2. Austritte aus der evangelischen Kirche hin zur Konfessionslosigkeit in Deutschland [eigene Grafik]. Daten entnommen aus: Hölscher, Lucian (Hg.): Datenatlas zur religiösen Geographie im protestantischen Deutschland. Bd. 4: Westen. Berlin, New York 2001, 703. 3. Statistik zur Anzahl von Krematorien im Deutschen Reich [eigene Grafik]. Daten entnommen aus: Weinisch, Theodor: Die Feuerbestattung im Lichte der Statistik. Univ. Diss. Erlangen 1927, 33. 4. Statistik zur Anzahl von Feuerbestattungen im Deutschen Reich [eigene Grafik]. Daten entnommen aus: Weinisch, Theodor: Die Feuerbestattung im Lichte der Statistik. Univ. Diss. Erlangen 1927, 33. Der Autor hat sich bemüht, sämtliche Rechteinhaber ausfindig zu machen. Eventuelle weitere Rechteinhaber bitten wir um Kontaktaufnahme mit dem Autor.

Quellen- und Literaturverzeichnis Ungedruckte Quellen Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften NL Wilhelm Ostwald:

Nr. 22: Eduard Aigner; Nr. 49: Georg Graf von Arco; Nr. 111: Martin Barkowski; Nr. 277: Wilhelm Börner; Nr. 329: Alfred Bozi; Nr. 371: Rudolf Broda; Nr. 940: Rudolf Goldscheid; Nr. 1041: Ernst H ­ aeckel; Nr. 1381: Friedrich Jodl; Nr. 1429: Paul Kammerer; Nr. 1828: Jacques Loeb; Nr. 1878: Ernst Mach; Nr. 1957: Grete Meisel-Hess; Nr. 2092: Franz Müller-Lyer; Nr. 2300: Heinrich Peus; Nr. 2332: Otto Plarre; Nr. 2965: Bertha von Suttner; Nr. 3080: Paul Unna; Nr. 3379: Wilhelm Wundt; Nr. 3931: Karl Weigt; Nr. 5275: Sammelmappe Monistenbund; Nr. 5295: Fotomappe Monistenkongress 1911

Archiv des Deutschen Museums, München NL Ernst Mach, NL 174/2380

Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland, Düsseldorf Sammlung Pfarrer Carl Jatho 8SL 025

Archiv des Helmholtz-Gymnasiums, Bielefeld NL Wilhelm Breitenbach

Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München Abt. II Geheimes Staatsarchiv MA 93377, Akten des Staatsministeriums des königlichen Hauses und des Äußeren. Kirchen-, Pfarr- und Stiftungswesen: Die Kundgebungen zur Hinrichtung Ferrers, insbesondere die Beteiligung des Professors Brentano hieran (1909/10)

Bayerisches Staatsarchiv, München Amtsgericht München, Registerbericht, Nr. 18527: Deutscher Monistenbund, Ortsgruppe München Pol. Dir. München, Nr. 5450: Weimarer Kartell (P-Film 310).

Bayerische Staatsbibliothek München, Handschriftenabteilung Nachlass Friedrich Ratzel (Ratzeliana): Suppl., Sch. 17 a / b VI. 20: Tagebücher Nachlass Franz Müller-Lyer (Müller-Lyeriana)

400  Quellen- und Literaturverzeichnis Deutsches Literaturarchiv, Marbach am Neckar NL Eugen Diederichs, HS . 1995.0002

Deutsches Bundesarchiv, Koblenz NL Adele Schreiber, Mappe 20

Ernst-­Haeckel-Haus, Jena NL Ernst H ­ aeckel: Korrespondenzen mit Isadora Duncan, Auguste Forel, Albert Kalthoff,

Otto Lehmann-Rußbüldt, Paul Unna, Bruno Wille

Landesarchiv Berlin Polizeiakte Freireligiöse Gemeinde Berlin: LAB, A Pr. Br, Rep. 030, Nr. 15041 Polizeiakte Giordano-Bruno-Bund: LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 15170

Library of Congress, Washington DC (USA) Jacques Loeb Papers, Box 6: Correspondence Ernst ­Haeckel Jacques Loeb Papers, Box 11: Correspondence Wilhelm Ostwald Jacques Loeb Papers, Box 15: Correspondence Paul Unna

Monacensia, Stadtbibliothek München Teilnachlass Georg Kerschensteiner GK B 259: Friedrich Wilhelm Foerster an Kerschensteiner GK B 720: Wilhelm Ostwald an Kerschensteiner GK B 951: Helene Stöcker an Kerschensteiner

Prague City Archives Svaz Socialistých Monistou v Rakonska XXII/0583, 1913–19, Vereinskataster, Karton 862

Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz Sammlung Darmstaedter, NL Harnack, K. 24: Fall Jatho

Staatsarchiv Bremen NL Albert Kalthoff, St AB, 7.40–7.20.

Staatsarchiv Hamburg NL Wilhelm Heydorn, 622–1/177_36: Korrespondenz mit dem Deutschen Monistenbund

Gedruckte Quellen  401

Universitätsarchiv Leipzig Universitätsakten Wilhelm Ostwald: UAL , Film 0425 (PA 787)

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Wienbibliothek NL Wilhelm Börner NL Verlag Brüder Suschitzky

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Register Personenregister Adler, Felix  25, 240, 248 Aigner, Eduard  65, 137 Altermatt, Urs  140 Ameskamp, Simone  339 Aristoteles  241, 275, 282, 377 Arnoldi, Wilhelm  48 Arrhenius, Svante  67, 78 Asad, Talal  31 Augustinus  281, 317 Aurel, Mark  121 Aveling, Edward  212 Baer, Karl Ernst von  56 Bahr, Hermann  176 Barkowski, Martin  279 Bauer, Otto  212 Baumeister, Martin  131 Beard, George Miller  125 Bebel, August  212 Beer, Max  330 Beitenbach, Wilhelm  147 Bernstein, Eduard  212 Bert, Paul  245 Bethmann-Hollweg, Moritz August von  238 Bismarck, Otto von  26, 130 f., 144, 169, 200, 211, 219, 225 f. Bittlinger, Ernst  16 Blaschke, Olaf  37 f., 165, 170, 373 Blix, Ragnvald  179 Bluntschli, Johann Caspar  133 Bogdanov, Alexander  363 Böhme, Helmut  144 Boissarie, Prosper Gustave  137 Bölsche, Wilhelm  15, 18, 60, 63–65, 70 f., 73 f., 76, 101 f., 104, 303, 310, 408, 420, 432 Borgius, Walther  288, 293 Börner, Wilhelm  34, 43, 242, 326–329 Borromäus, Karl  99, 131 Borutta, Manuel  132, 134, 187

Bosse, Robert  239, 251 Bourdieu, Pierre  15 Bozi, Alfred  329, 331 Brauer, Hellmut  122 Breidbach, Olaf  16, 368 Breitenbach, Wilhelm  35, 64–66, 108 Brenner, Michael  172 Brentano, Lujo  190 Bré, Ruth  288, 291 Brockhaus, Friedrich Arnold  261, 272 Broda, Rudolf  260 Brown, Robert  81 Bruno, Giordano  64, 72, 148–150, 327 Büchner, Georg  51 Büchner, Ludwig  24, 51–55, 208, 211 f., 262, 364, 408 Buchwald, Erich  354 Buchwald, Reinhard  85 Bührer, Karl  142 Buisson, Ferdinand  193, 245 Bülow, Bernhard von  26 f., 132, 145, 150, 182, 369 f. Burggraf, Julius  104 Carracci, Annibale  150 Carstens, Christian  64 Casanova, José  29 Clark, Christopher  132 Comte, Auguste  42, 88, 95 f., 104, 113 f., 139, 161–163, 182, 196–198, 235, 264, 280, 372, 377 f. Cornell, Ezra  11 Credner, Hermann  85 Cyliax, August  108 Darwin, Charles  8, 10, 18, 44, 51, 55–57, 61, 79, 148, 166, 210, 220, 232, 265 f., 268, 270, 288, 299, 313, 315, 321, 324, 377 f. Daum, Andreas  38, 146 Dehmel, Richard  190 Delbrück, Hans  27

442 Register Dennert, Eberhard  65 Deubler, Konrad  210 f. Dickinson, Edward Ross  313 Diederichs, Eugen  64, 106, 152, 249 Dittrich, Lisa  40, 132, 189, 256, 374 Dodel, Arnold  65, 212 Dohm, Hedwig  288 Döllinger, Ignaz von  127 Dornblüth, Otto  85 Dorsch, Hanna  159 Dosenheimer, Emil  133, 146 f., 174, 178, 217, 219 f., 222 Draper, John William  11 f., 57, 145 f. Drews, Arthur  105, 108, 164, 201 Dreyfus, Alfred  193 DuBois-Reymond, Emil  10, 58 Dühring, Eugen  172 Duncan, Isadora  20 Durkheim, Emil  29 Eddy, Mary Baker  125 Einstein, Albert  81, 357 f. Eisenstadt, Shmuel Noah  30 f. Eisler, Rudolf  168, 262 Eissler, Franz  208 Elster, Alexander  330 Engels, Friedrich  359 Erdmann, Benno  20, 96, 110 Falk, Adalbert  225 f., 239, 253 Fernau, Hermann  189, 245, 374 Ferrer y Guardia, Francisco  42, 188–191, 256, 374 Ferry, Jules  245 Feuerbach, Ludwig  146 Foerster, Friedrich Wilhelm  172, 175, 242, 251, 259 Forel, Auguste  18, 64 f., 70, 111, 114–116, 315, 372, 376, 392 Fränkel, Ludwig  242 Frank, Karl  209 Friedrich der Große, Friedrich II. von Preußen  244 Fürth, Henriette  293 Galilei, Galileo  10 Gallie, Walter Bryce  32, 373 Galton, Francis  288, 313, 315 Gansberg, Friedrich  246 Gasman, Daniel  324 Gegenbaur, Carl  55

Gennep, Arnold van  116 Gerkan, Roland  317, 324–326, 329 f., 379 Gerlach, Walther  9 Gieryn, Thomas  93, 97, 351 Gizycki, Georg von  240 f., 259 Goethe, Johann Wolfgang von  18, 26, 56 f., 100, 124, 148, 152, 327, 376 Göhre, Paul  157 f., 166 Goldscheid, Rudolf  20, 95, 175, 274, 276, 314, 356, 373, 376 Gorki, Maxim  363 Gosslar, Hans  174 Goßler, Gustav von  239 Graf, Friedrich Wilhelm  2, 103, 120, 143, 165 Graf von Arco, Georg  356–358 Gray, Asa  299 Grimm, Jacob  332 f. Groschopp, Horst  36 Grossmann, Atina  309 Grützmacher, Richard  261 Gurlitt, Cornelius Gustav  201 Haeckel, Ernst  7–9, 17–21, 34 f., 41, 43 f., 51, 54–64, 66 f., 69 f., 73, 79, 83, 90 f., 94, 98, 101 f., 104–109, 117–119, 133, 137, 143, 146 f., 149 f., 157 f., 160, 164 f., 176 f., 185–187, 190 f., 201 f., 210 f., 220–223, 227 f., 230, 232, 256, 260–262, 265–267, 272 f., 282 f., 298, 303, 305, 319, 321–324, 328, 330, 339, 351, 354 f., 359, 367, 369, 371, 373, 375–377 Hager, Kurt  7 Hagner, Michael  10 Hansen, Adolph  262 Harnack, Adolf von  21, 60, 153 f., 165 Harrison, Peter  12 Hartmann, Eduard  105 Hauptmann, Gerhard  190 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  85, 359 Heike-Gmelin, Axel  337 Heine, Heinrich  140, 221 Heinrici, Ernst  83, 171 Hellpach, Willy  82 Helm, Georg  79 Hennig-Wimpf, Johanna  111 f. Henning, Max  296 Herbst, Edgar  175 Hering, Ewald  263 Herneck, Friedrich  9 f. Herold, Gustav  65

Personenregister  443 Herrmann, Immanuel  357 Hertling, Georg von  250 Herzberg, Lilly  96 Herzl, Theodor  175, 193 Hesse, Hermann  112 f. Hettling, Manfred  126 Heydorn, Wilhelm  106 f. Hillermann, Horst  36 Hitler, Adolf  318, 324 Hobsbawm, Eric  31, 37 Hoch, Alfred  323 Hoensbroech, Paul von  135, 143 Hoffmann, Adolph  205, 254 Höft, Gustav  230 f., 241 f., 244 f. Hölscher, Lucian  167 Holyoake, George Jacob  33, 100 Hopf, Ludwig  107 f. Horn, Arnold  20 Horneffer, Ernst  117, 191, 249 f., 258 Hübinger, Gangolf  165 f. Hufeland, Cristoph Wilhelm  318 Hügel, August von  67 Humboldt, Alexander von  234 Hunzinger, August Wilhelm  273 Hus, Jan  69 Jannasch, Lilli  242–244, 252 f. Jatho, Carl  42, 150–159, 161–163, 166, 168, 182, 200, 244, 300, 372 Jodl, Friedrich  70, 93, 146, 242 f., 249, 260 Joseph II., Kaiser  344 Jost, Adolf  319 f., 322 Juderías, Julián  187 Juliusburger, Otto  65 Kalthoff, Albert  18, 20, 41, 64–66, 100, 102–107, 109 f., 164, 168, 180, 201, 227 f., 240, 340, 371 Kammerer, Paul  70, 76, 95, 269 f., 274, 357, 373, 376 Kampffmeyer, Paul  207 f. Kant, Immanuel  22, 260, 266, 275 Karl V., Kaiser  187 Kaufmann, Friedrich  65 Kautsky, Karl  212, 406 Keller, Alberto  191, 334 Kerrl, Hanns  323 Kerschensteiner, Georg  251, 292 Key, Ellen  311 Kirchhoff, Auguste  292 Kleeberg, Bernhard  165

Klemm, Peter  361 Klimke, Friedrich  11, 231, 272, 275 Klohss, Karl Ludwig  318 Knilling, Eugen von  250 Kocka, Jürgen  38 Koerber, Heinrich  66, 114 König Wilhelm IV., Friedrich Wilhelm von Preußen  49 Köppe, Johann August  227 f. Kramer, Georg  230 f. Krejči, Franz von  69 Kropotkin, Peter  44, 268 f., 377 f. Küchenmeister, Friedrich  333 Kullmann, Leo  111 Lamarck, Jean-Baptiste de  57, 76, 268–270, 274, 377 f. Lamprecht, Karl  82 Lange, Helene  291 Langewiesche, Dieter  163 Lankester, Ray  212 Le Bon, Gustave  115 Lehmann-Rußbüldt, Otto  43, 158, 200–203 Leibnitz, Gottfried Wilhelm  24 Lessing, Gotthold Ephraim  72 Lewy, Elsbeth  243 Lewy, Immanuel  186, 240–242, 246 f. Liebermann, Max  190 Liebknecht, Karl  203–206, 209 f., 257 Lischnewska, Maria  288 Locke, John  24, 371 Loeb, Jacques  67, 90, 209 Lübbe, Hermann  21, 25, 35, 194 f., 275 Lueger, Alfred  74 Lunarcharski, Anatoli  363 Luther, Martin  130, 146, 151, 159 f., 244, 301, 373, 376 Lutz, Johanna von  135 Maase, Friedrich  355 f. Mach, Ernst  9 f., 81 f., 85 Malthus, Thomas  268, 288, 314 Mann, Thomas  21, 276 Marcuse, Max  288 Marr, Wilhelm  169 Marsch, Adolf  345 Marx, Karl  166, 207 f., 359 Matt, Franz  254 Maura Montaner, Antonio  188 Maurenbrecher, Max  20, 165–168 Mauritz, Oscar  64, 106 f.

444 Register Mauthner, Fritz  21, 272, 369 McCabe, Joseph  60 Meier-Graefe, Julius  190 Meinecke, Friedrich  218 Meisel-Hess, Grete  297, 299, 306, 311, 316 Merry del Val, Rafael  190 Meyer, Bruno  58, 243, 288 Meyer, Joseph  114, 261 Molenaar, Heinrich  113 Moleschott, Jacob  51–54, 262, 333, 339 Molyneux, William  24 Mommsen, Theodor  170, 178 Moore, George Edward  271 Morgan, Camillo  342 Müller-Lyer, Franz  34 f., 95, 261, 274, 276–282, 300, 307, 316, 351, 356, 377 f. Napoleon III., Charles Louis Napoléon Bonaparte  207 Naumann, Friedrich  166, 209, 306 Neef, Katharina  36 Nietzsche, Friedrich Wilhelm  20, 97, 152, 166, 249, 287 f., 304, 312 f., 315 Nigg, Walter  118, 369 Nipperdey, Thomas  14, 70 Noble, Gladwyn Kingsley  269 Nordau, Max  171 Ostwald, Fritz  122 Ostwald, Helene  142, 200 Ostwald, Wilhelm  9 f., 13, 18 f., 21, 23, 33–35, 41–44, 66 f., 70, 74, 76–87, 89–91, 93–100, 109–111, 114–126, 135 f., 138 f., 141–143, 147 f., 150, 158 f., 161–168, 175, 177, 179–183, 185, 191, 193–203, 205, 208–210, 213, 221–224, 229 f., 233–237, 242, 249, 257 f., 260–264, 266–268, 271–274, 276–280, 282, 294–297, 300, 324–329, 331, 347, 351, 353–357, 368 f., 371–373, 375–377, 379 f., 404 Ostwald, Wolfgang  200 Pappritz, Anna  296 Papst Leo XIII.  336 Papst Pius IX.  128, 131, 150, 182 Papst Pius X.  129, 131, 150, 182, 190 Paulsen, Friedrich  59 Penzig, Rudolph  43, 231, 242 f., 253 f., 257, 296 Pettenkofer, Max von  333 Peus, Heinrich  204, 212 f., 221, 223, 253

Pfungst, Arthur  296 Physikalische Chemie  19, 34, 77 f., 86, 234 Planck, Max  79 Plarre, Otto  183, 244, 346 f. Plate, Ludwig  18, 65, 70 Ploetz, Alfred  310, 313, 324 Prinz zu Wied, Wilhelm Friedrich  179 Quidde, Ludwig  175, 191 Rade, Martin  165 Radkau, Joachim  125 Ramsay, William  81 Ratzel, Friedrich  82 f. Reclam, Carl Heinrich  332 f. Rectenwald, Michael  33, 100 Reinke, Johannes  65 Reuter, Astrid  30 Richter, Jacob  320 Riemann, Robert  73 f., 106, 368 Riess, Carl  355, 357 Röhl, John  27 Ronge, Johannes  48 Rosenthal, Julius  244, 254 Rosenthal, Max  292, 310 f. Rupp, Julius  49 Saager, Adolf  142 Saint-Simon, Henri de  197 f. Samson, Alber  62 f. Sandmann, Jürgen  324 Schaxel, Julius  212, 361 Schelling, Friedrich Wilhelm  18, 85 Schiller, Friedrich  7 Schleicher, August  17, 56 Schleiermacher, Friedrich  167 Schmidt, Alexis  158 Schmidt, Heinrich  64 f., 101, 105, 357 Schmidt, Helmut  359 Schmitt, Carl  21 Schmitz, Oscar Adolf Hermann  21, 271 f. Schneider, Richard  157, 332, 334 Schnell, Hermann  172–174, 178, 192 Schreiber, Adele  288, 291 f., 295, 316 Schreiner, Helmut  40 Schrempf, Christoph  151 f. Schwartz, Laura  36, 100 Schwarz, Angela  38 Semon, Richard  65 Siebert, Friedrich  65 Siemens, Friedrich  334

Personenregister  445 Simon-Ritz, Frank  36 Smith, Helmut Walser  132, 194 Sokrates  327 Solvay, Ernest  89 Sombart, Werner  172 f. Spinoza, Baruch  148 Steudel, Friedrich  64 f., 106 f. Stiehl, Ferdinand  225 f. Stöcker, Helene  35, 44, 61, 74, 286, ­288–292, 295 f., 298–308, 310–316, 352, 369, 378, 420 Stoecker, Adolf  170–172, 310 Strauß, Emil  56, 60, 146 Stuck, Franz von  18 Suschitzky, Wilhelm  355 Suttner, Bertha von  175

Uschmann, Georg  7 van ’t Hoff, Jacobus  78 Vetter, Jakob  111 Virchow, Rudolf  55, 79, 129 f., 141, 146, 210 f., 232, 339 Vogt, Carl  51–54, 79, 207 f., 212, 262 Vogtherr, Ewald  205 Volkov, Shulamit  171

Tandler, Julius  274 Taylor, Charles  13 f. Taylor, Frederick  194 Teichmann, Arthur  64 Tepper-Laski, Kurt von  201 Thomson, Joseph John  81 Tille, Alexander  288 Tilly, Johann von  147 Titius, Arthur  110 Tönnies, Ferdinand  89, 259 Torquemada, Tomás de  187 Traub, Gottfried  200 Treitschke, Heinrich von  169 f., 178 Trockij, Lev  363 Troeltsch, Ernst  165 Trusen, Johann Peter  333 Tschirn, Gustav  201, 205 Tse-Tung, Mao  359 Tyndall, John  93 f.

Wagner, Rudolf  53 f., 79, 170 Wahrmund, Ludwig  186, 192 f. Wallace, Alfred Russel  212 Walsh, Lydia  96 Weber, Max  13, 29, 68, 89, 140 Weckesser, Albert  60 Weigt, Karl  108, 339 Weikart, Richard  324 Weir, Todd  22, 34, 39 f., 72, 100, 172, 207, 272, 310 Weismann, August  270 White, Andrew Dickson  11 f., 57, 145 f. Wien, Wilhelm  23 Wild von Hohenborn, Adolf  220 Wilhelm II., Kaiser, Friedrich Wilhelm von Preußen  8, 10, 14, 21, 25–28, 35 f., 40, 45, 47, 61, 70, 73 f., 88, 100, 103, 108, 125, 141, 151, 154, 170, 174, 191, 213, 218 f., 226, 229, 239, 295, 354, 368 f., 375, 380 f. Wille, Bruno  18, 63, 65, 71, 74, 102, 109, 168, 201, 205, 263, 370 f. Winkler, Heinrich August  169 Wohlrab-Sahr, Monika  29, 31 Wolff, Christian  17 Wolfsdorf, Eugen  328 Wundt, Wilhelm  77 f., 82, 84

Uhlich, Leberecht  48 Ulbricht, Walter  7 f., 10, 367 Umrath, Wilhelm  65 Unna, Paul  19, 43, 67, 94, 115, 209, 214, 218, 220–223, 256, 376, 391 Unold, Johannes  20, 66, 195, 273

Zedlitz-Trützschler, Robert von  172, 239, 241, 251 f. Ziegler, Heinrich Ernst  18, 65, 260 Zimmermann, Dieter  136 Zöllner, Karl Friedrich  171 Zott, Regine  85

446 Register

Sachregister Aktion T4  318, 323 Antikatholizismus  126 f., 129–132, 134, 139, 144 f., 150, 182, 187, 203, 334, 372, 412 Antiklerikalismus  10, 30, 33, 38–40, 100, 113, 116 f., 128, 132, 140, 185 f., 188–190, 193, 256, 299, 334, 339, 372, 374, 416 Antisemitismus  169–171, 173, 175 f., 178, 182, 193, 348, 401, 411, 421, 436 Antisemitismusstreit  40, 169 Apostolisches Glaubensbekenntnis ­(Apostolikum)  151, 157 Arbeiterbewegung  62, 71, 188, 210, 276, 334–337, 368, 411, 420, 422 Arbeiterschaft  43, 125, 144, 183, 203, 206, 208 f., 257, 335, 368 Aristokratie  334 Atheismus  8, 20 f., 99–101, 113, 228, 232, 316, 347, 350, 361, 365, 368 f., 405 Aufklärung  24, 50, 147, 176, 194, 234, 242, 264, 292, 312–314, 341, 357, 436 Bildungsbürgertum  20, 164 f., 368, 424 Bildungsreform  35, 233 Biogenetisches Grundgesetz  303 Bolschewiki  363 Bund für Mutterschutz  61, 74, 286, 288 f., 292, 296, 299, 406, 420, 428 Bürgertum  10, 38, 70–72, 115, 125, 154, 183, 219, 335, 339, 367 f., 372, 412, 423 Conflict thesis  11 DDR  7–9, 34 f., 122, 124, 360–362, 430, 435 Deutscher Freidenkerbund  24, 62 f., 68, 72, 102, 190, 200, 204 Deutschkatholiken  24, 47–49, 421, 424 Diskriminierung  214, 219, 243, 283, 291, 294, 348, 351, 376 Dissidenten  24, 36, 42 f., 47, 49, 62, 171, 200, 202 f., 214, 217, 219 f., 222, 238 f., 244, 248, 251–253, 339, 345 f., 348, 369 f., 376, 379, 409, 419 Dissidententum  43, 171 Eidesformel  42 f., 183, 214, 217, 255, 347, 351, 376, 435 Emanzipation  9, 13, 25, 179, 191, 196, 281, 286, 291, 300, 314, 352, 369, 428

Empfängnisverhütung  314 Empirie  94, 376 Empirismus  147 Energetik  9, 18 f., 33 f., 66, 76, 79–82, 86, 89 f., 119, 124, 177, 202, 272, 355, ­362–364, 401 f., 404, 407 f., 428 Energieerhaltung  19, 79, 271, 328 Entropie  19, 79, 81 f., 271, 328, 426, 428 Essentially contested concept  32, 110, 373 Eudämonismus  275, 431 Euthanasie  313, 317–331, 351, 402, 405, 411, 419, 422, 430, 433 Euthanasiedebatte  259, 317–321, 323 f., 330 Feminismus  44, 73, 286, 295, 301, 309, 313 f., 316, 373, 418, 428 Feuerbestattung  44, 108, 331–337, 339–344, 347 f., 350–352, 379, 397, 407, 417, 420, 423 Feuerbestattungsbewegung  44, 259, 331, 333, 336, 339, 341–343, 350, 352, 379 Fin de Siècle  22, 28, 34, 276, 367 Flottenverein  70 Fortschrittsdiskurs, liberaler  163 f. Fortschrittsdiskurs, monistischer  150 Fortschrittsoptimismus  28, 163, 193, 357 Frauenstudium  284 Freidenkerbewegung, bürgerliche  8, 24, 26, 31, 67, 138, 207, 419 Freidenkerbewegung, proletarische  62, 71, 73, 335, 357 Freidenkertum  14, 25, 33, 39, 41, 70, 74, 100, 116, 207–209, 240, 339, 416 Freimaurer  40, 108, 339 Freireligiöse  24, 49 f., 100, 108, 121 f., 201, 205, 224, 248–251 Gegenseitige Hilfe  268–270, 377 Gelehrtenrepublik  142, 198 Gesellschaft für Ethische Kultur  24, 26, 172, 200, 240 f., 259, 375 Goldene Regel  44, 259, 261, 265–267, 351, 377 Griechen und Römer  235 f. Gruppenidentität  23, 41, 98–100, 110, 180, 370, 373 Gymnasium  97, 234–237, 255, 257, 368

Sachregister  447 Haeckel-Virchow-Kontroverse  79, 146, 210, 232 Hottentottenwahlen  26, 145, 435 Humanismus-Realismus-Debatte  234 Idealismus  17, 35, 82, 363, 413 f., 422 Identität  23, 42, 99, 151, 153, 168, 178, 224, 231, 299, 316, 373 Ignorabimus  59 Industrialisierung  197, 329, 380, 429 Internationalismus  141, 143, 195, 197, 353 Interview  27, 176, 401, 420 Jesuitismus  126, 135, 180, 371 f. Jüdische Frage  42, 168 f., 171, 173–175 Junghegelianer  52 Katholizismus  41 f., 98 f., 109, 126–128, 130–132, 134, 136–141, 150, 164 f., 170, 173, 180, 182, 184, 199, 219, 303, 308, 371–373, 410 f., 433 Kinderweihe  117, 122–124, 142, 395 Kirchenkritik  50, 121, 166, 283, 286, 301, 303, 352, 369, 373 Klassenkampf  213 Kolumbarium  341, 345 Konfliktthese  12 f., 146 Konservatismus  193, 295, 370, 373 Konservative Wende  144 Krematisten  331, 334 f., 339–342, 350, 380 Krematorium  332 f., 335, 337, 344–347, 396, 417, 425 Kulturethiker  117 Kulturfortschritt  66, 124, 267, 273, 279, 307, 331, 343, 352, 378 Kulturkampf  25, 40, 127, 129, 131–133, 135, 145, 192, 200, 226 f., 231, 406, 411, 424 Kulturkampfära  41, 99, 126, 133, 150, 163, 180, 229, 372 Landhaus Energie  175 Lebensreform  73, 410 Liberale Ära  216, 225 Lichtfreunde  24, 47–50, 435 Loyalität  103, 141, 145, 198, 214 f., 218 f., 223 Machtübernahme  309, 322 f., 358 Magdeburger Hochzeit  146 f. Materialismus  17, 21 f., 51, 53 f., 66, 79–82, 94, 105, 132, 171, 207 f., 210, 232, 235, 262, 272, 362–364, 369, 405, 411, 437 f.

Menschenökonomie  71, 118, 264 f., 274, 297, 314, 403, 428 Militarismus  118, 171, 218, 222, 437 Moderne  10, 13, 21 f., 29, 31 f., 39, 42, 50, 55, 103, 106, 110, 117, 125, 127, 130, 132 f., 135, 140, 150, 171, 182, 215, 233 f., 258, 281, 410, 412, 416, 421, 424, 426, 433, 435–438 Modernisierungstheorie  31 Monistenpapst  109, 165, 222 Monistische Ethik  262, 271, 274 f., 325, 327 Monistische Sonntagspredigten  19, 95, 116–118, 120, 158, 380, 393, 406 Moraltheologie  15, 295, 303 Moralunterricht  43, 49, 186, 223 f., 226– 229, 231, 237–246, 248–252, 254–258, 375, 393, 401, 404, 416 Morphologie  51, 55 f., 61, 403 Mutterschutz  284, 288 f., 292, 295, 298, 301 Mutterschutzbund  44, 286, 289–293, 295 f., 298, 302–304, 307 f., 310, 316, 352, 378 Mutualismus  121, 268 Namensweihe  124, 435 Nationalismus  130, 141, 169, 171, 177, 193, 197, 353, 436 f. Nationalsozialismus  318, 323, 359, 433 Neolamarckismus  314 Neuer Kurs  26, 226 Neurasthenie  125 Orthodoxie  36, 47, 90, 109, 133, 141, 151, 154, 184, 193, 201, 228 Ostern  121 f. Papismus  126, 133, 176, 180, 187, 372 Pariser Kommune  210 Philosemitismus  168, 172, 178, 413 Positivismus  35, 80, 82, 95, 194, 198, 351, 368, 371, 413 f., 422 Positivistenkreis  82 f. Proletariat  364 Propaganda  19, 85, 172, 249, 292, 324 Protestantismus  14, 20, 22, 41 f., 48, 98 f., 102–104, 109, 131 f., 134 f., 141, 150–152, 158 f., 162–164, 167, 170, 173, 182, 200, 227, 262, 308, 372 f., 409 f., 422, 427, 433 Rassenhygiene  309 f., 318, 320–324, 328, 330, 421, 433 Rassenideologie  309 f., 359, 379, 421

448 Register Rationalismus  14, 24, 48–50, 100, 173, 194, 245 Reaktion  21, 26, 47, 52, 73, 78, 159, 176, 191, 210 f., 213, 223, 225, 248, 299, 336, 341, 405 Reformation  32, 37, 42, 64, 99, 131, 146 f., 151, 157, 159–161, 182, 187, 300, 373, 402 Reformpädagoge  42, 188, 243, 246, 256 Religionssoziologie  30 Religionsunterricht  42 f., 141, 192, 223–233, 237–241, 243, 245, 247, 250–255, 257, 373, 375, 381, 412 Revolution  38, 192, 198, 208, 245, 270, 281, 286, 414 f., 425 f., 432 f. Revolution, 1848er  47, 52, 74, 225 Revolution, Französische  196 Revolution, Russische  362 Säkularisierungstheorie  29, 127, 412 Säkularismus  22, 31–33, 36, 39 f., 71–73, 171, 206, 286 Säkularität  16, 19, 30–32, 41–44, 98, 183–185, 188, 193, 214, 255 f., 258 f., 308, 317, 330, 332, 349, 351 f., 367, 373, 376, 380 f. Schulreform  227, 229, 245, 258, 368 Schwangerschaftsabbruch  291, 314, 422, 434 Seele  8, 51 f., 54, 57, 124, 133, 157, 216, 240, 302, 315, 328, 337, 340, 379 Sexualreform  44, 283 f., 286, 288 f., 291 f., 295 f., 301 f., 311, 314, 316, 378 Sozialdarwinismus  171, 322 Sozialismus  7, 24, 49, 74, 121 f., 124, 128, 132, 184, 186, 207, 210, 213, 232, 257, 286, 347, 350 f., 360, 362, 409, 411, 422, 428, 430 Sozialistengesetze  40, 122, 211 Soziologie, soziologisch  29 f., 32, 34, 44 f., 88 f., 104, 106, 259–261, 276–288, 300, 307, 316, 324, 351, 367, 376–378 Sterbehilfe  317–322, 324–326, 329–331, 378, 411 Substanzgesetz  57 f., 94 Taufe, Christliche  151, 178 Taufe, Monistische  122 f.

Technikeuphorie  340, 352 Technokratie  194, 197 Teleologie  161 Tötung auf Verlangen  44, 317–322, 324, 326, 329 f., 352, 379 Trauerfeier  116, 331, 342, 344–347, 350, 379 Überbürdung  233, 437 Ultramontanismus  48, 126–129, 132–135, 137 f., 140, 142 f., 150, 160 f., 180, 182, 193, 372, 406, 411, 417, 423 Umsturzvorlage  211 Vegetarier  73 Villa Medusa  7 Volksschule  43, 223, 225, 228, 238, 244, 255, 412 Vormärz  24, 47 f., 50, 100, 419 Wärmetod  163 Weihnachten  120–122 Weltanschauung  8, 11, 15, 18, 22, 25 f., 28, 33, 35 f., 41 f., 51, 60–68, 76, 93, 99, 101, 105, 107 f., 110 f., 116–120, 138, 141, 146 f., 149, 159–161, 164, 168 f., 178–180, 182, 184, 192, 194, 199 f., 207, 209, 213, 215, 260, 271–273, 277, 286, 289, 298, 301, 311 f., 314, 317, 335, 340–343, 345–347, 357, 359, 361, 364, 369–371, 376, 378, 392 f., 402, 405 f., 408 f., 411, 413, 415, 426, 428, 434 f., 438 Weltkrieg, Erster  10, 15, 27 f., 43, 70, 134, 144, 177, 200, 206 f., 220, 222, 237, 242 f., 254, 290, 309, 313, 322, 331 f., 335, 337, 339, 343, 353, 357 f., 368 f., 375, 379 Weltkrieg, Zweiter  359 Welträtsel  17, 56–60, 64, 66, 101 f., 111, 137, 146, 164, 187, 230, 265 f., 273, 298, 305, 359 f., 364, 367 Wilhelminismus  26, 139, 218, 352, 380 Willensfreiheit  51, 58, 262 f. Willensproblem  261, 263 f. Zentrumspartei  130, 144 Zionismus  173 f. Zoologie  7, 55 f.