Applied Philosophy. An International Journal: Interdisciplinarity in the Humanities and Social Sciences [1 ed.] 9783737009461, 9783847109464

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Applied Philosophy. An International Journal: Interdisciplinarity in the Humanities and Social Sciences [1 ed.]
 9783737009461, 9783847109464

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Angewandte Philosophie. Eine internationale Zeitschrift / Applied Philosophy. An International Journal Herausgegeben von / Edited by Jörg Hardy, Oliver R. Scholz

Advisory Board: Ruben Apressyan, Kurt Bayertz, Dieter Birnbacher, Dagmar Borchers, Shan Chun, Wolfgang Detel, Stefan Gosepath, Thomas Gutmann, Christoph Horn, Ivan Mikirtumov, Michael Quante, George Rudebusch, Peter Schaber, Reinold Schmücker, Gerhard Schurz, Ludwig Siep, Katja Stoppenbrink, Roman Svetlov, Holm Tetens, Paul Woodruff

Call for papers. Applied Philosophy is a peer-reviewed journal. The journal is published annually. Deadline for papers is July 31. The languages of publication are English, German, and French. Please send articles and correspondence regarding editorial matters to either: Oliver R. Scholz: [email protected], or Jörg Hardy: [email protected]

Angewandte Philosophie. Eine internationale Zeitschrift / Applied Philosophy. An International Journal

Heft/Volume 1|2019 herausgegeben von / edited by Michael Quante, Tim Rojek

Interdisziplinarität in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften / Interdisciplinarity in the Humanities and Social Sciences

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019, V&R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-8404 ISBN 978-3-7370-0946-1

Inhalt Themenschwerpunkt: Interdisziplinarität in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften / Interdisciplinarity in the Humanities and Social Sciences Michael Quante / Tim Rojek Vorwort / Preface . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Carl Friedrich Gethmann Wissenschaftsphilosophische und wissenschaftsethische Grundlagen inter-disziplinärer Forschung mit trans-disziplinärem Zweckbezug . . . . .

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Thomas Gutmann Interdisziplinarität (in) der Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ortwin Renn Inter- und transdisziplinäre Forschung: Konzept und Anwendung auf die Energiewende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Steffen Martus / Erika Thomalla / Daniel Zimmer »Dass keine Atomphysiker dabei waren, hat mich auch nicht gewundert«. Zur Praxis der Interdisziplinarität aus literaturwissenschaftlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Martina Wagner-Egelhaaf Interdisziplinarität (in) der Literaturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Tim Rojek Die Rolle der Philosophie in interdisziplinären geisteswissenschaftlichen Arbeitszusammenhängen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Philip Hoffmann-Rehnitz / Ulrich Pfister / Michael Quante / Tim Rojek Diesseits von methodologischem Individualismus und Mentalismus. Auf dem Wege zu einer geistes- und kulturwissenschaftlichen Konzeption des Entscheidens. Reflexionen der Dialektik einer interdisziplinären Problemkonstitution. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

Themenschwerpunkt: Interdisziplinarität in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften / Interdisciplinarity in the Humanities and Social Sciences

Vorwort / Preface Michael Quante / Tim Rojek

Das vorliegende Themenheft der Zeitschrift für Angewandte Philosophie/Applied Philosophy ist der »Interdisziplinarität in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften/Interdisciplinarity in the Humanities and Social Sciences« gewidmet. Den konkreten Anlass, dieses Thema zu wählen, stellt unsere Arbeit im SFB 1150 Kulturen des Entscheidens/Cultures of decision-making dar. Bei diesem Forschungsverbund handelt es sich um einen seit 2015 an der Westfälischen Wilhelms-Universität laufenden Sonderforschungsbereich mit interdisziplinärer kulturwissenschaftlicher Ausrichtung. Zwar wird die Forderung nach Inter- oder Transdisziplinarität immer intensiver erhoben und ist inzwischen auch verhältnismäßig breit diskutiert worden. Die mit ihr einhergehenden Herausforderungen und Chancen gilt es jedoch nach wie vor zu klären und auszuloten. Die spezifischen Beitragspotentiale, aber auch Störrisiken, die für einzelne Fächer der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften oder auch für die Philosophie aus interdisziplinärer Zusammenarbeit erwachsen, werden in den folgenden Beiträgen von Fachwissenschaftlerinnen und Fachwissenschaftlern, die alle über eine umfassende interdisziplinäre Erfahrung verfügen, reflektiert. Während der erste Beitrag des Philosophen Carl Friedrich Gethmann (Siegen) allgemeine Bedingungen und begriffliche Präzisierungen zur interdisziplinären Arbeit bereitstellt, rücken die dann folgenden fünf Beiträge Chancen und Risiken interdisziplinärer Forschung aus der Perspektive ihrer Fachwissenschaften in den Fokus. Thomas Gutmann (Münster) befragt die Rechtswissenschaften auf ihre interdisziplinären Potentiale; am Beispiel der Energiewende entwickelt Ortwin Renn (IASS Potsdam) die inter- und insbesondere auch die transdisziplinären Herausforderungen der Gesellschaftswissenschaften. Den Chancen und Risiken für die Literaturwissenschaften widmen sich dann sowohl Steffen Martus, Erika Thomalla und Daniel Zimmer (Berlin) in ihrem Beitrag als auch Martina WagnerEgelhaaf (Münster), die dabei insbesondere das sowohl intern wie extern häufig

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Michael Quante / Tim Rojek

unterschätzte Potential interdisziplinärer Zusammenarbeit der Literaturwissenschaften hervorhebt. Tim Rojek (Münster) stellt in seinem Beitrag die spezifische Rolle der Philosophie sowie (potentielle) Störungen und Behebungsmöglichkeiten in das Zentrum seiner Überlegungen. Abgerundet wird dieses Themenheft durch ein Anwendungsbeispiel interdisziplinärer Zusammenarbeit, welches aus dem Arbeitszusammenhang im Münsteraner SFB 1150 stammt. Ulrich Pfister (Wirtschaftshistoriker) sowie Philip Hoffmann-Rehnitz (Historiker, frühe Neuzeit) erarbeiten zusammen mit Michael Quante und Tim Rojek (beide Philosophen) in Auseinandersetzung mit dem bisherigen Paradigma der Entscheidungsforschung einen Beitrag zum interdisziplinären, gemeinsamen Problemverständnis und weisen damit nach, weshalb und auf welche Weise interdisziplinäre Zusammenarbeit für die Identifikation und Weiterentwicklung von Forschungsfragen unverzichtbar ist. Abgeschlossen wird das Heft mit einer Bibliographie deutsch- und englischsprachiger Literatur zum Thema Inter- und Transdisziplinarität (Stand: Januar 2019), um einen Überblick über die bisherige Literatur zu ermöglichen, sofern sie sich in Monographien und Sammelbänden niedergeschlagen hat. Insgesamt soll dieses Heft dazu beitragen, den Reflexionsprozess auf die Bedingungen, Erwartungen und Erfahrungen interdisziplinärer Zusammenarbeit in und zwischen den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften weiter voranzutreiben. Darüber hinaus sind die hier versammelten Beiträge auch als Anregung oder gar Ermutigung gedacht, sich als Geistes- oder Gesellschaftswissenschaftler in inter- und transdisziplinäre Forschungsverbünde einzubringen. Wir danken allen Beiträgerinnen und Beiträgern sehr herzlich für Ihre Bereitschaft und Geduld bei der Mitwirkung an diesem Themenheft sowie dem SFB 1150, der die Drucklegung des Bandes finanziell großzügig unterstützt hat. Prof. Oliver R. Scholz (Münster) sei herzlich für die Bereitschaft, das Themenheft in die Zeitschrift für angewandte Philosophie aufzunehmen, gedankt. Nicolas Koj gebührt unser Dank für seine Mitarbeit bei der Textbearbeitung und Vorbereitung des Themenheftes. This issue of the journal of Applied Philosophy is on the topic of »Interdisciplinarity in the Humanities and Social Sciences«. What gave rise to the choice of this topic was our work in the SFB 1150 Cultures of decision-making. This collaboration is a collaborative research center of the Westfälische WilhelmsUniversität aimed at interdisciplinary research in the humanities. On the one hand the demand for inter- and trans-disciplinarity has become ever louder and has even been discussed in relative length; the challenges and chances however need as yet to be clarified and sounded out. The specific potentials, but also disruptions, that can arise from interdisciplinary collaboration for the respective fields of the social sciences and the humanities are addressed in the following contributions. Scientists who all have comprehensive experience in this field at their disposal bring the following contributions, which reflect on these issues, forward.

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Vorwort / Preface

Whilst the first contribution from the philosopher Carl Friedrich Gethmann (Siegen) offers general specification of concepts for interdisciplinary work, the following five contributions focus on chances and risks of interdisciplinary research. Thomas Gutmann (Münster) surveys the interdisciplinary potentials of the legal sciences; Ortwin Renn (IASS Potsdam) uses the example of the exit from nuclear and fossil fuels as an example of trans-disciplinary challenges in the social sciences. Both Steffen Martus, Erika Thomalla and Daniel Zimmer (Berlin) and Martina Wagner-Egelhaaf (Münster) dedicate their contributions to the chances and risks for the literary studies, whilst the latter especially accentuates the often undervalued potential of collaboration in these sciences. In his contribution Tim Rojek (Münster) focuses on the specific role of philosophy and (potential) disruptions and their solutions are at the centre of his considerations. This topical issue is rounded off by an example of application of interdisciplinary collaboration, from the context of work in the SFB 1150 in Münster. Both Ulrich Pfister (historian of economics) and Philip Hoffmann-Rehnitz (historian, early modern age) worked together with Michael Quante and Tim Rojek (both philosophers), in examination of the existing paradigms of research on decision making to produce a contribution on an interdisciplinary, shared understanding of problem areas and in doing so demonstrate why and in which way interdisciplinary collaboration is irreplaceable for the identification and further development of scientific discussion. The booklet is completed by a bibliography with German and English literature on the topic of inter- and trans-disciplinarity (stand: January 2019), so as to have an overview of the relevant literature, regarding monographs and anthologies. On the whole this booklet is intended to advance the process of reflection on the conditions, expectations and experiences of interdisciplinary collaboration in and between the humanities and the social sciences. In addition the collected contributions are intended as motivation or as encouragement to take part in inter- and trans-disciplinary networks as scientists of the humanities or the social sciences. We sincerely thank all those who brought forward their contributions, for their willingness and patience during the participation on this topical issue and the SFB 1150, that generously supported the financing of the printing of this booklet. We also thank Prof. Oliver R. Scholz (Münster) for his willingness to include this topical booklet in the journal of Applied Philosophy. Nicolas Koj must be thanked for his participation in editing and preparation of this booklet.

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Wissenschaftsphilosophische und wissenschaftsethische Grundlagen inter-disziplinärer Forschung mit trans-disziplinärem Zweckbezug1 Carl Friedrich Gethmann

Ausgehend von einer formal-pragmatischen Rekonstruktion des Begriffs einer »Wissenschaftlichen Disziplin« durch die Bestimmung von Formen wissenschaftlicher Systematisierung (Begriff, Behauptung, Begründung, Verallgemeinerung, Theorie) wird »Interdisziplinarität« als gemeinsamer Durchschnitt zwischen Disziplinen hinsichtlich wenigstens eines Parameters bezüglich der Mengen von Begründungsregeln, prä-diskursiven Einverständnissen, Terminologien, Theorien (unter dem Dach über-theoretischer Subsumtionen) verstanden. Im Unterschied zur schwachen Interdisziplinarität ist bei der starken Interdisziplinarität zweifelhaft, ob ein prädiskursives Einverständnis bezüglich des Themas überhaupt vorliegt. Während durch Interdisziplinarität bestimmte interne Strukturen der Wissensbildung ausgezeichnet werden, treten trans-disziplinäre Zwecke als externe Aufgaben an die wissenschaftlichen Disziplinen heran. Transdisziplinarität realisiert sich in projektartig auf Zeit eingerichteten interdisziplinären (im Sinne der starken Interdisziplinarität) Arbeitsgruppen. Einstellungen von Wissenschaftlern zur wissenschaftlichen Erkenntnisarbeit, die ihre Mitarbeit in interdisziplinären Kontexten mit transdisziplinärer Ausrichtung in Frage stellen, sind zwei Typen von Skeptizismus: die grundsätzliche Auflösung wissenschaftlicher Geltungsansprüche und die prinzipielle Infragestellung normativer Rationalität. Abschließend wird die besondere Rolle der Philosophie in der transdisziplinären Forschung untersucht. Based on a formal pragmatic reconstruction of the term ›academical discipline‹ as part of the determination of forms of scholarly systemization (notion, assertion, substantiation, generalization, theory) »interdisciplinarity« is seen as a common intersection of disciplines regarding at least one parameter out of the total amount of rules for substantiation, prediscursive consent, terminologies and theories (in accordance with meta-theoretical subsumptions). In the case of strong interdisciplinarity, and in contrast to weak interdisciplinarity, it is questionable whether pre-discursive consent with respect to the topic even exists. While interdisciplinarity is being used to mark out certain internal structures of the creation of knowledge, transdisciplinary purposes appear as external tasks to the academical disciplines. Transdisciplinarity is being realized in temporarily limited projects of teams working interdisciplinarily (in the strong sense). Scholars who question their own participations in interdisciplinary contexts with transdisciplinary focus do so because of 1 Der Beitrag enthält übersetzte und überarbeitete Abschnitte aus Gethmann, Carl Friedrich/Carrier, Martin/Hanekamp, Gerd/Kaiser, Matthias/Kamp, Georg/Lingner, Stephan/Quante, Michael/Thiele, Felix 2015.

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Inter-disziplinäre Forschung mit trans-disziplinärem Zweckbezug two types of scepticism, i. e. stances on the academic enhancement of knowledge: the general annulment of the validity of scholarship and normative scepticism. In conclusion the exceptional role of philosophy in transdisciplinary research is going to be examined.

1. Disziplin Die Bedeutung der Ausdrücke »Inter-« und »Trans-Disziplinarität« verhält sich offensichtlich semantisch parasitär zu »Disziplin«. Der Begriff der »Disziplin« unterstellt, dass wissenschaftliche Erkenntnisarbeit durch den Versuch geleitet ist, Strukturen der Wissensbildung, -bewahrung und -weitergabe zweckrational zu organisieren. Die Frage der zweckrationalen Erkenntnisorganisation ist zwar vorrangig eine systematische Frage, jedoch eine solche, die sich auf die soziale Interaktion von Wissenschaft treibenden Menschen in historisch-sozialen Kontexten richtet. Allerdings wäre eine bloß faktische Entwicklungsgeschichte von Disziplinen unzureichend wenn sie die Frage der zweckrationalen Verbindlichkeit beiseite ließe2, und dies aus zwei Gründen: (i) Die kognitive Einheit der Disziplin hat hinsichtlich der Qualifikation und Prämiensysteme der Wissenschaft eine starke normative Kraft. Es ist nur eine scheinbare Äquivokation, dass der Ausdruck »Disziplin« einen kognitiv charakterisierten Teilbereich des Kosmos der Wissenschaften und auch die Fähigkeit eines Akteurs zur Selbstkontrolle und Selbstbestimmung bedeutet. Die Fähigkeit zur Selbstkontrolle in den Wissenschaften zeigt sich insbesondere in der Befolgung einer Methode. Neben dem Gegenstand ist es die interessegeleitete Methode3 des Erkennens, die die kognitive Einheit der Disziplin auszeichnet. Durch sie ist bestimmt, dass Physik etwas anderes ist als Chemie, Historiographie etwas anderes als Soziologie. 2 Vielfach wird diese unsystematische Form der Selbstorganisation als Grund dafür benannt, daß man diese zufälligen Grenzen von Disziplinen inter- und trans-disziplinär übersteigen müsse. So beispielsweise Mittelstraß 1992. 3 Der Ausdruck »interessegeleitete Methode« vereint das objectum formale quod (Hinsicht, Interesse am Gegenstand) mit dem objectum formale quo (Verfahren, durch das erkannt wird) der scholastischen Wissenschaftsphilosophie (im Anschluß an Aristoteles). – Die Übertragung des objectum formale quo in »Interesse« vollzieht Kant durch den Begriff des »Vernunftinteresses« (z. B. Kritik der reinen Vernunft A 804 f B 832 f), von dem Husserl den damit verbundenen Gedanken in die Phänomenologie übernommen hat (z. B. Erfahrung und Urteil, §§ 15–21). Bei M. Heidegger wird der Gedanke in § 18 von Sein und Zeit durch den Begriff der »Bewandtnis« aufgenommen. Der Zusammenhang von »Erkenntnis und Interesse« ist somit eine bis auf Aristoteles zurückgehender Topos der traditionellen Wissenschaftsphilosophie. J. Habermas (vgl. ders., Erkenntnis und Interesse) dürfte ihn in den Bonner Seminaren von E. Rothacker und O. Becker im Anschluß an Husserl kennengelernt haben.

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(ii) Aus den unterschiedlichen Methoden, durch die Wissenschaftler sich und andere in ihrer Erkenntnisarbeit kontrollieren und dadurch (eher präsumieren als explizit) festlegen, ob jemand beispielsweise der eigenen »Disziplin« zuzurechnen ist oder nicht, erwächst somit eine starke normative Kraft, aus der die sozialen Prozesse der Selbst- und Fremdidentifikation erst folgen. Auf der Basis bloß historisch kontingenter Grenzziehungen allein wäre diese nicht erklärbar. Die soziale Identifikation verhält sich zur kognitiven daher parasitär. Ob ein individueller Wissenschaftler oder eine Wissenschaftlergruppe der Physik oder der Chemie zuzurechnen ist, ergibt sich nicht primär aus sozialen oder institutionellen Merkmalen, sondern aus den von ihnen gewählten Methoden. Anders formuliert: Physiker, Jurist, Philosoph ist nur, wer bestimmte Verfahren der Erkenntnisgewinnung und -sicherung »beherrscht«, d. h. über eine bestimmte »Disziplin« verfügt. Ob er darüber verfügt, erkennt man nur sekundär an Diplomen und biographischen Narremen. Im Grenzfall werden Diplome sogar aberkannt, wenn sich herausstellt, dass diese durch Irrtum, Betrug oder anderweitig die erwartete Kompetenz nur scheinbar ausweisen. In diesem Zusammenhang ist besonders die von vielen Wissenschaftssoziologen vertretene Klassifikation von »internen« und »externen« Steuerungsfaktoren bezüglich wissenschaftlicher Disziplinen zu kritisieren.4 Nach dieser Auffassung werden als intern die durch die Wissenschaftslogik dargestellten Standards wie Konsistenz, Überprüfbarkeit, Fruchtbarkeit usw. betrachtet, wohingegen als die externen Standards, die durch die Wissenschaftssoziologie dargestellten wie Innovativität, Verwertbarkeit, Relevanz usw. genannt werden. Dieser Klassifikation liegt die Trennung von solchen Normen, die sich auf propositionale Systeme beziehen und solchen, die sich auf Interaktionszusammenhänge beziehen, also von »kognitiven« versus »sozialen« zugrunde. Diese Disjunktion basiert auf einer platonistischen Auffassung des »Kognitiven«. Der Deutung von wissenschaftlichen Argumentationen als regelorientierten Interaktionen entspricht demgegenüber eine »Pragmatisierung« derjenigen kognitiven Größen, mit denen sich analytische Wissenschaftstheoretiker unter dem Titel der »Wissenschaftslogik« beschäftigen. Argumentationen in diesem Sinne werden nicht durch die formale Logik im Sinne einer reinen Syntax und Semantik, sondern durch eine pragmatisch-normative Theorie des Argumentierens dargestellt, d. h. eine Theorie, die begründete Schemata für die pragmatische Abfolge von Behauptung, Bezweiflung, Begründung / Rechtfertigung und schließlich Zustimmung aufstellt. Handeln nun Wissenschaftler nach ihren, d. h. den für ihre Wissenschaftlergemeinschaft spezifischen Argumentationsregeln, wird die Wissenschaft soweit »intern« gesteuert. Die zum Teil gruppenspezifischen Normen der Wissenschaftler werfen jedoch die generelle Legitimationsfrage auf, die auf die Frage der Universalität 4 Vgl. Gethmann 1981, S. 26–28.

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von Normen führt. Handeln also Wissenschaftler gemäß universalisierbaren Argumentationsregeln, ist die Wissenschaft insoweit »extern« gesteuert. Man sieht leicht, dass die Unterscheidung zwischen externer und interner Steuerung letztlich keine geeignete Unterscheidung zur Klassifikation von kognitiven Vorgängen darstellt. Bestimmten Normen sind schließlich institutionelle Vorgänge zuzuordnen. Eine abstrakte Sicht solcher institutioneller Korrelate erlaubt eine Art Quasi-Naturgeschichte wissenschaftlicher Institutionen. Diese Institutionen sind aber nicht Steuerungsfaktoren, sondern Produkte von Steuerungen, deren Legitimation an die zugrundeliegenden Normen gebunden ist. Diese Betrachtungsweise hat zur Folge, dass jene generellen Normen der Wissenschaftlichkeit, die nach Meinung der Wissenschaftssoziologen spezifisch für Wissenschaftlergemeinschaften sind, wie z. B. das Prinzip der Kritik oder der Begründung, gerade solche Supernormen sind, die über die Wissenschaftlergemeinschaften hinausgreifen, während diejenigen Normen, die wissenschaftliche Institutionen ausbilden, also in der Sicht der Wissenschaftsforschung eher externen Ursprungs sind, als für Wissenschaftlergemeinschaften spezifisch anzusehen sind. In bezug auf unterschiedliche von Wissenschaftlern oder Wissenschaftlergemeinschaften in Anspruch genommene Begründungsregeln ist daher wiederum die Begründungsfrage zu stellen. In diesem Zusammenhang, an dem die Begründbarkeit der spezifischen Normen der Wissenschaftlergemeinschaften untersucht wird, d. h. ihre Vereinbarkeit mit universell gültigen Normen, tritt die Frage der Legitimation der Wissenschaften auf.5

2. Formen wissenschaftlicher Systematisierung Im folgenden wird versucht im Sinne der Rekonstruktion eines formal-pragmatischen Verständnisses wissenschaftlichen Wissens und darauf aufbauend der Rekonstruktion der Formen wissenschaftlicher Systematisierung (Begriff, Behauptung, Verallgemeinerung, Theorie) die Grundlagen für die semantische Charakterisierung von »wissenschaftlicher Disziplin« zu legen. 5 Feyerabend hat durch eindrucksvolle Beispiele gezeigt, daß sich Wissenschaftler oft an die angegebenen methodischen Regeln nicht gehalten haben und daß somit eine Grenzziehung zwischen Wissenschaft und Nicht-wissenschaft historisch-deskriptiv gesehen willkürlich ist. Feyerabend muß wohl zugestanden werden, daß es in der Geschichte der Wissenschaften de facto ziemlich anarchisch zugegangen ist. Ihm ist aber entgegenzuhalten, daß es Gründe dafür gibt, daß ein solcher Anarchismus vermieden werden sollte. Der methodische Anarchismus ist aber nur vermeidbar, wenn ein rationales Reden über die Zwecke des wissenschaftlichen Wissens nicht durch methodische Restriktionen ausgeschlossen wird.

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Als Definitions-Skizze für die Explikation des Wissensbegriffs wird hier vorgeschlagen: X weiß, dass p : = Für alle Y: X kann p gegenüber Y begründen Dieser Ansatz weicht von der weithin verwendeten Definition ab, die Wissen durch Überzeugt-sein von einem Sachverhalts p und dem der-Fall-sein von p charakterisiert. X weiß*, dass p := Üp und p.6 Dieser »nicht-epistemische« Ansatz ist durch zwei kaum auflösbare Probleme belastet. Einmal ist »Überzeugt-sein« in wohl keinem Kontext semantisch »einfacher« als »Wissen«; die Definition steht somit unter einem obscurum per obscurius-Verdacht. Ferner ist unklar, wie ein performativ oder modal uneingebundenes »p« zu verstehen ist. Die Kommentare legen nahe, implizit den Modaloperator der Kontingenz zu unterstellen.7 Eine solche Deutung würde aber die Probleme der Semantik der Modallogik wie die de re / de dicto-Problematik in die Explikation des Wissensbegriffs einschleusen, was jedenfalls das obscurum per obscurius-Problem verschärfen würde. Daneben droht ein Zirkelproblem, da man die Modaloperatoren wohl kaum ohne direkten oder indirekten Rekurs auf »Wissen« explizieren wird. Schließlich besteht das Problem, dass ein modal oder performativ uneingebettetes »p« zwar formal ein Satzradikal ist, das sich jeder Einbettung »andienen« könnte, aber in der Kommentarsprache die Präsupposition eines epistemologischen Realismus suggeriert. Es wäre jedoch ein Verstoß gegen pragmatische Definitionsprinzipien, durch eine Wortgebrauchsregel bereits eine Position in einer philosophischen Großdebatte (Realismus vs. AntiRealismus) sozusagen unter der Hand zu entscheiden. Auf der Basis des begründungspragmatischen Ansatzes lassen sich definieren: X erkennt p : = X versucht, wissen zu erwerben / herzustellen X meint, dass p : = p ist für X »Kandidat« des Wissens X zweifelt gegenüber Y, dass p := X fordert Y auf, p zu begründen Die gemeinsprachliche Verwendung des Ausdrucks »Wissen« erweckt in Verbindung mit einem weitverbreiteten Vulgär-Cartesianismus den Eindruck, als sei Wissen ein privater innerer Vorgang, der gelegentlich von seinem »Besitzer«

6 Z. B. von Kutschera 1976, S. 87. Lenzen 1980, S. 52 ff.; zur Kritik aus redehandlungstheoretischer Perspektive vgl. Stelzner 1986. 7 Vgl. die Diskussion bei Lenzen 1980 im Zusammenhang mit den Gettier-Einwänden.

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»aus-gedrückt« wird.8 Demgegenüber verwendet die obige Definitionsskizze den Ausdruck resultativ, d. h. als ein Ergebnis eines sozialen Prozesses, nämlich des Begründens (während »Erkennen« Wissen im tentativen Modus ist). Begründen ist eine regelgeleitete Sequenz von Redehandlungen, die mit einem konstativen performativen Modus beginnt, für den das »Behaupten« hier exemplarisch eingesetzt wird.9 Eine regeleitete Sequenz von Redehandlungen heiße »Diskurs«10. Diskurse lassen sich wie alle sprachlichen Phänomene empirisch beschreiben und erklären und fallen somit in den Gegenstandsbereich der empirischen Sprachwissenschaften. Um interlingual die Regeln korrekten diskursiven Verfahrens zu rekonstruieren, muß man demgegenüber auf die Instrumente einer formalen Pragmatik von Redehandlungen und Redehandlungssequenzen zurückgreifen.11 Auf dieser Grundlage ist für die meisten interessanten Rekonstruktionskontexte eine fünfstellige Rekonstruktion des Begründungsprädikators angemessen: Begr (P, O, p, K, R) P(roponent) begründet gegenüber O(pponent) die Behauptung von p unter Stützung auf K mittels Übergangsregel R Die Ausdrücke »Proponent« und »Opponent« bezeichnen dabei soziale Rollen, die von Individuen und Kollektiven, im Grenzfall auch von einem Individuum eingenommen werden können. Für die weitere begriffliche Rekonstruktion ist noch wichtig, »prä-diskursive Einverständnisse«, die ad hoc oder grundsätzlich vorliegen müssen, damit auf ihrer Grundlage Diskurse mit Aussicht auf Erfolg geführt werden können, von »diskursiven Konsensen«, die durch Diskurse erreicht werden, zu unterscheiden. Unter einer Disziplin soll nun in erster Näherung das Ensemble von (meist durch Einsozialisation erworbenen) Begründungsregeln und der für Begründungsdiskurse notwendigen Instrumente verstanden werden. Einsozialisation bedeutet, dass die Akteure die Regeln kennen, sie aber oft nicht zu explizieren wissen. Solche Regeln haben einen ähnlichen Status wie die die grammatischen Regeln der Ersterwerbssprache. Die Wissenschaftsphilosophie ist die explizite Grammatik solcher disziplinärer Regeln. Näherhin ist zu fragen, auf welcher 8 Gethmann/Sander 2002. 9 Weitere Beispiele wären Vorschlagen, Voraussagen, Vermuten, Berichten, Feststellen u. a. 10 Mtlt. *dis-currere, etwas schrittweise durchlaufen (»Ver-fahren«). Diskurs bezeichnet hier in etwa das, was in der Erlanger Schule aufgrund fehlerhafter Etymologie »Dialog« genannt wurde; dia logon heißt per locutionem und keineswegs Zwiegespräch [dia ¼ 6 duo]). Zu den verbalen Problemen vgl. Gethmann/Sander 1999. Zu den sprachphilosophischen Grundlagen vgl. Sander 2002. Diskursivität ist daher auch kein spezifisches Kennzeichen einer »Diskursethik«. 11 S. Gethmann 2007.

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sprachlichen Explikationsebene diese Regeln primär lokalisiert sind. Es können unterschieden werden: Sententiale Ebene (Behauptungen, Begründungsregeln, prä-diskursive Einverständnisse) Sub-sententiale Ebene (Begriffe, Terminologien) Super-Sententiale Ebene (Theorien (z. B. Gravitationstheorie); Makro-Theorien (z. B. Evolutionstheorie); Subsumtionen (vom Typ »Physik ist eine Naturwissenschaft«). Aufgrund der vorstehenden Erläuterungen ist folgende Definitionsskizze zu verstehen: D ist eine Disziplin := D ist 5-tupel bestehend aus – {Begründungsregeln} – {Prä-diskursive Einverständnisse} – {System von Begriffen = Terminologie} – {Theorien} – {Über-Theoretische Subsumtionen} Man beachte, dass diese Charakterisierung aufgrund der pragmatischen Einführung des Begründungsbegriffs sowohl eine kognitive (es geht resultativ um Wissen) als auch eine soziale Charakterisierung (es geht um die Interaktion von Akteuren) ist, besser, dass die Unterscheidung nicht disjungiert und daher eingezogen werden sollte. Der angegeben Definitionsrahmen erlaubt es auch, den Disziplinenwandel rational zu rekonstruieren. Innerhalb der fünf Parameter der Definition sind mehr oder weniger weitgehende Änderungen bei gleichzeitiger Konstanz der übrigen Parameter möglich. Auf diese Weise kann einerseits historisch rekonstruiert werden, was in einer Disziplin sich wandelt, auf der anderen Seite kann auch rekonstruiert werden, dass es immer noch die Disziplin ist, die sich wandelt. Die Kontinuität der Disziplin im Wandel entspricht der des wittgensteinschen Fadens.12 Das bedeutet auch, dass es einigermaßen arbiträr ist, bei hinreichend umfangreichen Veränderungen der Parameter, die eine Disziplin bestimmen, eine neue Disziplin entstehen zu sehen. Insoweit wird durch die angegebene Definition auch das Anliegen derer aufgenommen, die in der Disziplinengenese ausschließlich historisch-kontingente Faktoren am Werk sehen. Auf der anderen Seite wird ohne realistische Unterstellungen eine Kontinuität durch den historischen Wandel erklärbar. 12 Wittgenstein 1958, S. 87. Vgl. Wittgenstein 1984, S. 75; Wittgenstein 1963, §§ 66 ff.

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Inter-disziplinäre Forschung mit trans-disziplinärem Zweckbezug

3. Inter-Disziplinarität 3.1 Bedeutung und wissenschaftsphilosophische Interpretation Mit dem Ausdruck »Interdisziplinarität« wird – aufbauend auf der oben vorgeschlagenen semantischen Charakterisierung von »Disziplin« – ein gemeinsamer Durchschnitt zwischen Disziplinen hinsichtlich wenigstens eines Parameters bezüglich der Mengen von Begründungsregeln, prä-diskursiven Einverständnissen, Terminologien, Theorien – unter dem Dach über-theoretischer Subsumtionen – verstanden. Wissenschaftliche Disziplinen sind durchweg historisch aus lebensweltlichen Problemstellungen erwachsen und haben auf diese mehr oder weniger adäquat reagiert. Durch Ex-post-Systematisierung wurde dann im Laufe der Entwicklung der Disziplinen eine epistemische Einheit mehr erzeugt als gefunden. Insoweit ist eine weitreichende apriorische »Passung« zwischen lebensweltlichen Problemtypen und Disziplinen zunächst wenig überraschend. Gerade deshalb sind aber auch Passungsdefekte vorstellbar. Es kann nämlich vorkommen, dass: – ein lebensweltliches Problem faktisch im Rahmen der disziplinären Frageraster keine wissenschaftliche Antwort findet; – in Extremfällen beweisbar ist, dass es keine Antwort im Rahmen des überlieferten Kanons geben kann; – nicht auszuschließen ist, dass ein neues Problem noch keine eindeutige disziplinäre Zuordnung gefunden hat und dass auf ein Problem mehrere Wissenschaften reagieren. In Fällen des zuletzt genannten Typs zeigt sich, dass eine interdisziplinäre Zuständigkeit die adäquate wissenschaftliche Reaktion sein kann. Grundsätzlich ist eine solche Problemkonstellation nicht neu und die interdisziplinäre Problembearbeitung kein Phänomen der jüngsten Wissenschaftsgeschichte. Die Biochemie beispielsweise entwickelte sich seit Anfang des 19. Jahrhunderts aus der Biologie, der Chemie und der medizinischen Physiologie und war von Anfang an eng mit der Genetik und Zellbiologie verknüpft. Der Grund für die interdisziplinäre Verbindung ist offenkundig, dass die phänotypische Sprache der MakroBiologie (Zoologie und Botanik) für das »Verstehen«, d. h. die Entwicklung von Begründungsverfahren, die Wahl der Terminologie, die Bildung von Theorien usw. bezüglich der Zelle als »chemischer Fabrik« nicht mehr ausreichte. Die Disziplin, die sich mit lebendigen Substraten (Lebewesen und deren Teilen) befaßte, fing an, sich der Sprache der organischen Chemie zu bedienen. Derartige interdisziplinäre Durchschnittsbildungen finden ständig statt, beispielsweise durch die Aufnahme mathematischer Methoden in die empirischen Naturwis-

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senschaften13, chemischer Methode in die Historiographie (z. B. im Fall der Siegelkunde), chemischer Verfahren in die klinischen Disziplinen usw.

3.2 Schwache und starke Interdisziplinarität Manche Formen von Interdisziplinarität in Bezug auf kognitive Aufgabe sind aufgrund der Verwandtschaften zwischen Disziplinen sozusagen »nicht der Rede wert«. Es sind solche, bei denen aufgrund der breiten Identität von Gegenstand bzw. Thema der Forschung und der Nähe der Erkenntnisinteressen, die sich in prädiskursiven Einverständnissen, Terminologien u. a. niederschlagen, eine intellektuelle Kooperation auf der Hand liegt. Man denke an die Kooperation von Archäologen und Materialwissenschaftlern angesichts eines Fundes, von Historikern und Literaturwissenschaftlern angesichts eines Textes, die Kooperation von Maschinenbauern und Elektrotechnikern angesichts eines Großgeräts oder die Kooperation zwischen klinischen Disziplinen und Laborchemie angesichts eines erkrankten Patienten. In solchen Fällen soll von »schwacher« Interdisziplinarität gesprochen werden. Sie ist wissenschaftsphilosophisch keineswegs uninteressant, jedoch pragmatischen Kriterien geschuldet und im wissenschaftspolitischen Zusammenhang mit »trans-disziplinären« Fragestellungennicht weiter reflexionsbedürftig. Die Rede von schwacher und starker Interdisziplinarität bedarf allerdings eines wissenschaftsphilosophischen Maßstabes. Bei schwacher Interdisziplinarität ist die prä-diskursive Identität des Gegenstandes bzw. Themas unstrittig, ebenso das kognitive Interesse am Thema (z. B. Beschreiben, Verstehen, Erklären, Voraussagen u. a.) Bei starker Interdisziplinarität ist dagegen zweifelhaft, ob ein prädiskursives Einverständnis bezüglich des Themas vorliegt. Es gibt keine Apriori-Kriterien dafür, dass zwei kognitive Akte den »gleichen« Gegenstand als intentionales Objekt vor sich haben. Das gilt nicht nur zwischen »entfernten« kognitiven Modi, wie Sehen, Erinnern, Erzählen, Berichten, Phantasieren u. a. Insofern ist eine unreflektierte Rede von »dem« Gegenstand des Wissens mit Mißtrauen zu kommentieren, solange keine klaren Identitätskriterien genannt sind. Hinzu kommt, dass das kognitive Interesse und dass vor allem die daraus abgeleiteten Verfahren der Untersuchung polar-konträr sind, evtl. jedoch sogar kontradiktorisch oder disparat zueinander stehen. Zu denken ist etwa an die Untersuchung einer Korrelation bezüglich eines Schwellenwertes durch einen Toxikologen und die Aufstellung eines Grenzwertes durch einen Juristen, die Ermittlung einer Behandlungstherapie durch einen Kliniker und einen Gesundheitsökonomen und dergleichen. Für transdisziplinäre Fragestellungen ist 13 Die sich somit rein begründungspragmatischen Bedürfnissen und nicht einem geheimnisvollen Pythagoräismus der Natur verdankt.

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die starke Interdisziplinarität zwar nicht logisch zwingend, wohl aber typisch und in jedem Fall problemverschärfend.

3.3 Wissenschaftsklassifikationen In der politischen Rhetorik im Zusammenhang mit Interdisziplinarität wird die starke Interdisziplinarität häufig als die zwischen Natur- und Geisteswissenschaften angesprochen.14 Dies zeigt, dass eine wie immer organisierte Rede über das Verhältnis zwischen Disziplinen präsuppositionell (aber meistens unreflektiert) von einer Wissenschaftsklassifikation Gebrauch macht. Eine Wissenschaftsklassifikation ist eine super-sententiale Ordnung der Disziplinen, wie beispielsweise die erwähnte Einteilung aller Disziplinen oder einer Teilklasse15 von Disziplinen in Natur – und Geisteswissenschaften. Gerade diese wirft jedoch erhebliche philosophische Adäquatheitsprobleme auf. Wer zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften unterscheidet, scheint damit implizit die Gültigkeit des cartesischen Dualismus zu unterstellen, nämlich die Einteilung aller geschaffenen Substanzen in solche der ›res cogitans‹ oder ›res extensa‹. Genau dann, wenn es grundsätzlich zwei Sorten von Gegenständen gibt, gibt es grundsätzlich auch zwei Sorten von Wissenschaften.16 Dieser Dualismus ist aus mehreren Gründen nicht haltbar. Vorrangig einzuwenden ist, dass sie der Hegelschen Entdeckung des ›objektiven Geistes‹ nicht Rechnung trägt. Hegel stellte die Existenz von Phänomenen fest, die dem individuellen Akteur ebenso vorgegeben sind wie Naturphänomene, die aber vom Menschen gemacht sind.17 Als Beispiel kann die Sprache dienen, die dem Individuum in dem Sinne vorgegeben ist, dass es in eine bestehende Sprache hinein sozialisiert wird. Sprache ist dem Individuum vorgegeben wie ein Naturphänomen, aber sie ist ein Produkt menschlicher Tätigkeit. Das Recht ist ein weiteres Phänomen, das dem Individuum vorgegeben ist, aber Gesetze entstehen nicht in der Natur, sondern resultieren aus menschlichen Handlungen. Der Geist tritt uns in diesen Fällen in objektiver Form entgegen, also quasi natürlich, aber menschengemacht. So zeigt sich, dass die Disjunktion zwischen ›res cogitans‹ und ›res extensa‹ nicht aufgeht, 14 Z. B. Presseerklärung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (Ministerin A. Schavan) zum Jahr der Geisteswissenschaften vom 12. 12. 2006. 15 Während das unreflektierte On-dit wissenschaftspolitischer Rhetorik eine Klassifikation des gesamten Kosmos der Disziplinen als totum dividendum unterstellt, hat sich ihr Erfinder W. Dilthey nur auf die Disziplinen der damaligen Philosophischen Fakultät bezogen. Mit den Höheren Fakultäten befaßt sich Dilthey (mit Ausnahme der Rechtsgeschichte) so gut wie gar nicht. 16 So die cartesische Vorstellung; der hier investierte naive Gegenstandsrealismus wurde oben schon kritisiert. 17 Vgl. Hegel Enzyklopädie, § 385.

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weil noch etwas Drittes vorliegt. Dilthey hat nun, anders als Hegel, den objektiven Geist nicht als Gegenstand der Philosophie verstehen wollen, sondern einen eigenen Typ Erfahrungswissenschaften konzipiert, der sich mit Sprache, Geschichte und Literatur beschäftigt, nämlich die sogenannten ›Geisteswissenschaften‹. Der Geist der Geisteswissenschaften ist also der objektive Geist Hegels. Deswegen müssen nach Dilthey drei Sorten von Erfahrungswissenschaften unterschieden werden: Naturwissenschaften, Psychologie als Wissenschaft vom subjektiven Geist und Geisteswissenschaften als Wissenschaften vom objektiven Geist. Das wird vielfach übersehen, wenn die Unterscheidung von Natur- vs. Geisteswissenschaften verwendet wird. Ernsthaft vertritt daher auch kaum jemand den cartesischen Dualismus. Hinzu kommt, dass die Unterscheidung nicht vollständig in Bezug auf den Kosmos der Disziplinen sein kann. Weder ist die Ökonomie eine Geisteswissenschaft (die Wendung »Geistes- und Sozialwissenschaften« ist bestenfalls Ausdruck einer klassifikatorischen Verlegenheit18) noch die Mathematik eine Naturwissenschaft, denn sie handelt nicht von Naturgegenständen, sondern von sprachlichen Konstrukten. Wo sollen Sportpädagogik, Architektur, Forensische Medizin, Klinische Psychologie, Kirchenrecht einsortiert werden. Man muß also offenkundig stärker differenzieren. Ein für viele Zwecke tauglicher Klassifikationsvorschlag19 besteht darin, 10 Sorten von Wissenschaften zu unterscheiden. Die erste Disjunktion ist die zwischen apriorischen und aposteriorischen Wissenschaften. Apriorische Wissenschaften20 sind 1. Philosophie und 2. Mathematik. Aposteriori lassen sich die Themenbereiche Natur, Gesellschaft und Geist unterscheiden. Bezogen auf die »Natur« (in unterschiedlicher Bedeutung) sind 3. Naturwissenschaften (Physik, Chemie) 4. Lebenswissenschaften (Biowissenschaften und medizinische Disziplinen) und 5. Ingenieurwissenschaften zu nennen. Auf Gesellschaft beziehen sich 6. Verhaltenswissenschaften (Psychologie, Soziologie, Politologie), 7. Jurisprudenz und 8. Ökonomie, die jeweils nicht aufeinander reduzierbar sind. Innerhalb des objektiven Geistes lassen sich unwillkürlich Geschichte und Sprache unterscheiden, es ergeben sich somit 9. die historischen Wissenschaften und 10. die Philologien.

18 Sie ist Folge des Umstands, daß man mit »Geistes-« oder »Geistes- und Sozialwissenschaften« häufig alle Nicht-Naturwissenschaften meint. Diese Unterstellung machen auch meistens diejenigen die »Wissenschaft« umfangsgleich mit »science« verwenden (um dann kulturell großzügig nach dem Two-Cultures-Diktum auch die Wichtigkeit von Oper, Ballett, Dokumenta 14 und Humanities zuzugestehen.) 19 Gethmann 2010. 20 Der Begriff des apriorischen Wissens unterstellt hier nicht wie im Kantischen Sprachgebrauch die Universalität und Notwendigkeit dieses Wissens, sondern lediglich die präsuppositionelle Funktion bestimmter Wissensinhalte relativ zu materialen Wissenskontexten.

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In Weiterführung der bisher vorgeschlagenen Charakterisierungen soll von einer »starken« Interdisziplinarität gesprochen werden, wenn die Interdisziplinarität zwischen wenigstens zwei diesen 10 Fächersorten betrieben wird.

4. Trans-disziplinäre Zwecke Die fortschreitende Differenzierung der wissenschaftlichen Disziplinen seit der Neuzeit folgt in erster Linie den »inneren« (kognitiven) Bedürfnissen des Wissens, weniger den »äußeren« Anforderungen an die Anwendung des Wissens. Dass Wissenschaft »anwendbar« in einem technischen oder politischen Sinne ist, stellt sich als ein eher junges Phänomen dar, wobei die gesellschaftsbezogenen Disziplinen wie Pädagogik, Ökonomie und Jurisprudenz und die Ingenieurwissenschaften (entgegen einem weitverbreiteten Vorurteil21) den Naturwissenschaften weit voraus geeilt sind. Die erste Naturwissenschaft, die auf einen von außen gesetzten Zweck (Erhöhung der Bodenerträge zur Bekämpfung des Hungers) erfolgreich reagierte, war die Agrikulturchemie.22 Seit Mitte des 19. Jahrhunderts erwartet die Gesellschaft verstärkt wissenschaftliche Problemlösungen im Bereich der technischen Fragen (wie Verkehr und Energieversorgung), der Gesundheit von Mensch und Tier, der Erziehung der Kinder, des umsichtigen Umgangs mit der Umwelt, der Bevölkerungsentwicklung und vor allem auch der Kriegsführung. Neben den Ingenieurdisziplinen stehen die SubDisziplinen der Chemie, Biologie und der Medizin unter den Erwartungsdruck wissenschaftsexterner Zwecksetzungen. Neben die kognitiven internen Zwecke der Wissenschaftsentwicklung treten somit trans-disziplinäre Zwecke. Trans-Disziplinäre Zwecke dieser Art erzwingen nicht logisch eine interdisziplinäre Kooperation im schwachen oder gar starken Sinn. Es ist ohne weiteres auch eine monodisziplinäre Transdisziplinarität möglich. Allerdings haben technische Großprojekte, zunächst vor allem im militärischen Bereich, faktisch die interdisziplinäre Kooperation etwa ab den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts erzwungen (»big science«23). In der Folge entwickelten sich systemtechnischer Ansätze zur Integration verschiedener Disziplinen vor allem an außeruniversitären Großforschungseinrichtungen. Die Entwicklung der Atombombe in Los Alamos sowie das Projekt der Mondlandung durch die NASA waren die erfolgreichen Muster von Transdisziplinarität (für die wohlgemerkt nicht die große Zahl der eingebundenen Individuen, sondern die strukturelle Zusammenführung der Disziplinen zu einem außerwissenschaftlichen Zweck charakteristisch ist). In Deutschland war dabei zunächst die Kernenergie leitend, durch die nicht nur die 21 Einer Variante des »Szientismus«, nach der allein die »sciences« ernstzunehmende Kandidaten sind. 22 Vgl. Krohn/ Schäfer 1978. 23 De Solla Price 1963.

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Energieprobleme, sondern beispielsweise auch Schiffsantriebe und andere technische Fragen bis hin zur Nuklearmedizin gelöst werden sollten. Sowohl der Einsatz für die Kernenergie (Atomphysik, Maschinenbau) als auch die Nuklearmedizin (Strahlenphysik, Strahlenbiologie, Tumormedizin) erzwangen unter dem Druck transdisziplinärer Erwartungen starke Interdisziplinarität. Gesellschaftsbezogene Fragen, wie sie Jurisprudenz, Ökonomie, schließlich auch die Ethik, bearbeiten, wurden später ebenfalls als einschlägig erkannt. Trans-disziplinarität besteht heute vor allem in der interdisziplinären Bündelung verschiedener natur- und technikwissenschaftlicher Disziplinen sowie medizinischer Disziplinen, die inzwischen durchweg durch Ökonomie (für Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen), Jurisprudenz (für die Untersuchung der notwendigen Regulierungen de lege lata et ferenda) und der Ethik (für die Klärung der konfliktbewältigenden Vereinbarkeit der Instrumente der Zweckrealisierung mit anderen normativen Orientierungen beispielsweise von partikulären religiösen Überzeugungen oder universellen Menschenrechten). Parallel zu der Wortbildung »starke Interdisziplinarität« kann in Fälle derartig weitausholender Einbeziehung von Disziplinen (ohne dass man einen festen Katalog unterstellen muß) von »großer Transdisziplinarität« gesprochen werden. Fälle vom Typ »Agrikulturchemie« können dann (ohne scharfe Abgrenzung) als »kleine Transdisziplinarität« angesprochen werden. »Große« Traansdisziplinarität ist jedenfalls bei kollektiven Problemen globalen Zuschnitts erforderlich, wie der anthropogenen Erwärmung der Erde, der Welthungerkatastrophe und ähnlichen erforderlich.24 Gelegentlich wird gefordert, die Disziplinen aufzulösen und alle Forschung in inter-disziplinäre unter trans-disziplinärer Zwecksetzung zu transferieren.25 Diese Forderung verkennt, dass die interdisziplinäre Kooperation auf den kognitiven Leistungen der Disziplinen aufsetzt und dass trans-disziplinäre Erwartungen nur verläßlich erfüllbar sind, wenn die Disziplinen ihre kognitiven Leistungen erbringen. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die trans-disziplinäre Fragestellungen diejenigen sind, die die außerwissenschaftliche Öffentlichkeit besonders interessiert. Betrugsfälle in der Transplantationsmedizin erregen denn auch mehr Aufmerksamkeit als solche in der Elementarteilchenphysik. Es wäre jedoch eine optische Täuschung, wenn dieses Phänomen der öffentlichen Wahrnehmung den Blick dafür trüben würde, dass die allermeisten Probleme, mit denen sich Wissenschaftler befassen, aus guten Gründen disziplinäre Probleme sind. Die Disziplinen sind die kognitiven Säulen, auf denen die interdisziplinäre Kooperation von wissenschaftlichen Disziplinen zu zweckgebundenen Projekten auf Zeit beruht.

24 S. Gethmann 2018. 25 Z. B. von Weizsäcker 1969.

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5. Interdisziplinarität als Interaktionskompetenz Vielfach wird mit dem Wort »Interdisziplinarität« eine Mehrfachkompetenz eines Wissenschaftlerindividuums assoziiert. Dabei stehen große Wissenschaftler der Wissenschaftsgeschichte der Neuzeit wie G.W. Leibniz, H. von Helmholtz, B. Russell oder C.F. von Weizsäcker vor Augen. Im Falle der schwachen Interdisziplinarität ist durchaus vorstellbar, dass es in diesem Sinne Mehrfachkompetenzen gibt. Im Falle der starken Interdisziplinarität sind dagegen Zweifel angebracht, ob es eine intellektuelle Individualkompetenz namens »Interdisziplinarität.« angesichts der intellektuellen Ausdifferenziertheit der wissenschaftlichen Disziplinen und der damit verbundenen Ausbildungsanforderungen noch26 geben kann. Unterstellt man, dass die Individualkompetenz eines Wissenschaftlers in seiner Disziplin nur durch Sozialisation in diese Disziplin hinein erworben werden kann, dass diese Sozialisation ferner nicht in erster Linie ein Wissens-, sondern sehr weitgehend ein Könnenserwerwerb ist, und schließlich, dass die Kompetenzregeln in der Mehrzahl faktisch eher implizit bleiben und meistens lediglich präsuppositionell fungieren, dann wird man den Fall einer echten Mehrfachkompetenz als unwahrscheinlich und folglich eher selten einstufen müssen. Nimmt man die in transdisziplinären Zusammenhängen notwendigen Tugendanforderungen27 hinzu, dann liegt nahe, dass interdisziplinäre Forschung in transdisziplinärer Ausrichtung zunächst und zumeist eine Interaktionskompetenz unterstellt. Diese verlangt vom einzelnen Wissenschaftler die Bereitschaft und Fähigkeit, seine disziplinäre Perspektive angesichts anderer gültiger Perspektiven sowohl einzusetzen als auch zurückzunehmen und in einer kollektiven Leistung auf transdisziplinäre Zwecke auszurichten. Damit ergibt sich unter Einbeziehung naheliegender pragmatischer Prämissen (wie die Knappheit an zur Verfügung stehender Zeit und psychischer Energie) zwingend, dass sich Transdisziplinarität in projektartig auf Zeit eingerichteten interdisziplinären (im Sinne der starken Interdisziplinarität) Arbeitsgruppen manifestiert. Diese Feststellung ruft die Folgefrage auf den Plan, worin die Arbeitsgruppenkompetenz besteht und wie sie gegebenenfalls erkannt wird. Hier liegen einige Kriterien auf der Hand. Wer erfolgreich in einer interdisziplinär zusammengesetzten Arbeitsgruppe mit transdisziplinärer Ausrichtung arbeiten will, sollte: (i) in seinem Fach etwas gelten; denn die Vertreter anderer Disziplinen sind naturgemäß unsicher, ob sie sich auf die fachlichen Einlassungen der Kollegen verlassen können (Vertrauensprinzip);

26 »Noch«, weil man Leibniz nicht bestreiten können wird, daß er ein ebenso guter Jurist wie Mathematiker war. 27 Quante 2015, S. 78–97.

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(ii) einschlägige Forschungen zum thematischen Umfeld vorweisen (was unbeschadet der oben angesprochenen Probleme der Identitätskriterien von jedem im Groben festgestellt werden kann) (Einschlägigkeitsprinzip); (iii) der »herrschenden Lehre« nahestehen (heterodoxe Positionen sind in den Disziplinen bis zu einem gewissen Grade zwar zu tolerieren, eignen sich jedoch nicht für die interdisziplinäre Interaktion) (»keine Extremisten« – Mäßigungsprinzip); (iv) bereit sein, über den Tellerrand hinauszublicken und zu bemerken, dass auch andere Disziplinen etwas zur Sache zu sagen haben (Prinzip der Selbstbescheidung); (v) die impliziten Präsuppositionen der eigenen Disziplin erkennen und auch in Frage stellen können (Selbstkritikprinzip). Mit der Explikation des Begriffs der starken Interdisziplinarität und der Angabe von Disziplinensorten ist der Scopus der in Betracht zu ziehenden Fächern zwar umrissen, es bleibt jedoch die Frage, welche Fächer vorzüglich an der interdisziplinären Arbeit in transdisziplinärer Ausrichtung zu beteiligen sind. Zunächst lassen sich unterscheiden: (a) poietische Disziplinen28 Poietische Disziplinen sind diejenigen, deren Forschungen die Themenbereiche, in Bezug auf die gesellschaftlicher Diskussionsbedarf besteht, als ihren wissenschaftlichen Gegenstand haben. Auf ihn beziehen sie sich mit der Perspektive, technische Abläufe zu erfinden oder in sie einzugreifen. Es geht durchweg um durch die Wissenschaften eröffnete Handlungsmöglichkeiten in den Bereichen Energie, Verkehr, Umwelt, Gesundheit u. a. Es bedarf daher keiner umständlichen Diskussion, dass die Natur- und Ingenieurwissenschaften damit angesprochen sind. Die Auswahl arbeitsgruppenfähiger Wissenschaftler ist im Prinzip nach den o. a. Kriterien nicht so schwierig, schwieriger ist es, ausgewiesene Fachwissenschaftler zu überzeugen, dass es sinnvoll ist, die normale Produktion zu unterbrechen, bzw. zurückzustellen, um sich interdisziplinärer Forschung in transdisziplinärer Ausrichtung zu widmen. Ferner dürfte in den meisten Disziplinen angesichts der fach-internen Qualifikations- und Prämienstrukturen naheliegen, dass die sich Mitarbeit in transdisziplinär ausgerichteten interdisziplinären Projektgruppen nicht für Wissenschaftler im Qualifikationsprozeß eignen. Schließ28 Die Unterscheidung poietisch / praktisch schließt an die aristotelische Unterscheidung der Handlungsmodi des herstellenden (poihsi&) und zwischenmenschlichen Handelns (p1axi&) an. Ihre wissenschaftsphilosophische Bedeutung ergibt sich unter Heranziehung des Bacon-Prinzips, demgemäß die Wissenschaften allgemein humanitären Zwecken wie der Vermeidung natürlicher (durch poetisches Wissen) und sozialer (durch praktisches Wissen) Zwänge zu dienen haben.

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lich sollten solche Aufgaben daher auch nicht an jüngere Wissenschaftler delegiert werden. (b) praktische Disziplinen Das sind diejenigen, von deren Forschungsergebnissen Beiträge zur Lösung der angedeuteten Probleme erwartet werden können. Die Lösung der Probleme wird in aller Regel in der Änderung oder Erfindung von Regulierungen auf unterschiedlichen Regelsetzungsebenen bestehen, so dass die Jurisprudenz hier unverzichtbar ist. Ferner wird in aller Regel in folgenreicher Weise in wirtschaftliche Prozesse eingegriffen (Entwicklung neuer Produkte, Veränderung von Marktstrukturen, Notwendigkeit staatlicher Intervention u. a.) so dass die Ökonomie angesprochen ist. Schließlich stehen in fast allen Fällen nicht-triviale Fragen normativer Orientierungen unabhängig von Rechtsterritorien zur Debatte, die im Sinne der gesellschaftlichen Konfliktbewältigung der Reflexionskompetenz der Ethik als Sub-Disziplin der Philosophie bedürfen. Demgegenüber spielen die oben genannten Geisteswissenschaften, (Historiographien und Philologien) bisher faktisch keine Rolle; eine intellektuelle Rolle in diesem Zusammenhang ist auf dem Hintergrund der paradigmatischen Selbstverständnisse dieser Disziplinen auch schwer vorstellbar.

6. Interdisziplinaritätsuntauglichkeit Die Bestimmung der Bedingungen für starke Interdisziplinarität und somit interdisziplinäre Forschung in transdisziplinärer Ausrichtung ergibt sich per Kontraposition aus der Festlegung der Bedingungen interdisziplinäre Forschung. Es gibt jedoch generelle Einstellungen von Wissenschaftlern zur wissenschaftlichen Erkenntnisarbeit, die ihre Mitarbeit in interdisziplinären Kontexten mit transdisziplinärer Ausrichtung a priori unmöglich machen. In diesem Zusammenhang sind zwei Typen von Skeptizismus besonders zu erwähnen: die grundsätzliche Auflösung wissenschaftlicher Geltungsansprüche durch einen kognitiven Skeptizismus und die prinzipielle Infragestellung normativer Rationalität durch einen prinzipiellen normativen Skeptizismus. (a) Einlösung von Geltungsansprüchen Grundsätzlich besteht diese Form der Untauglichkeit darin, dass Wissenschaftler aus der Kompetenz ihrer Disziplinen heraus die wissenschaftlichen Geltungsansprüche anderer, im Grenzfall aller anderen Disziplinen, bestreiten. Sehr häufig ist diese Sicht wissenschaftlicher Arbeit mit der Immunisierung der eigenen Geltungsansprüche verbunden, weil die entsprechende Attacke auf die Geltungsansprüche anderer Disziplinen sonst bei Strafe eines performativen SelbstWiderspruchs nicht aufrechterhalten werden könnte. Eine solche Infragestellung wissenschaftlicher Geltungsansprüche ist prinzipiell aus der Perspektive aller

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Disziplinen heraus vorstellbar. Deswegen genügt es, diese Variante von Interdisziplinaritätsuntauglichkeit an einigen Beispielen zu illustrieren: – Ein Neurowissenschaftler, der die Hervorbringung wissenschaftliche Erkenntnisse in anderen Disziplinen als determinierte Resultate elektrochemischer Prozesse in ihren Gehirnen betrachtet, interpretiert Geltungsansprüche, demzufolge auch Diskurse um ihre Erhebung und Einlösung, als determinierte Naturprozesse. Es liegt auf der Hand, dass dies einen kognitiven Austausch zwischen den Disziplinen unmöglich macht. – Ein Theologe, der Widersprüche gegen seine Auffassungen aus der Perspektive anderer Disziplinen als Ausdruck verwerflicher Ungläubigkeit interpretiert, erklärt Geltungsansprüche anderer Disziplinen und Diskurse um ihrer Erhebung und Einlösung von vorneherein als für ihn nicht ernst zu nehmen. – Ein Soziologe, der Diskurse um die Erhebung und Einlösung von Geltungsansprüchen anderer Disziplinen als kontingentes soziales Interaktionsphänomen interpretiert, relativiert wissenschaftliche Geltungsansprüche auf faktische soziale Austauschbeziehungen, ohne die Spezifität der Interaktionsverhältnisse in Wissenschaftlergemeinschaften, nämlich das Bemühen Geltungsansprüche zu überprüfen, zu verwerfen oder zu bestätigen, ernst zu nehmen. – Ein Psychiater, der das Erheben von Geltungsansprüchen als Ausdruck typisch maskulinen Potenzgebaren interpretiert, stellt damit die intellektuelle Authentizität von Diskursen um die Erhebung und Einlösung wissenschaftlicher Geltungsansprüche in Abrede. Wer aber in eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe mit transdisziplinärer Ausrichtung eintritt, um die Motive der Angehörigen der anderen Disziplinen zu enttarnen, verstößt gegen die oben genannten Eintrittsbedingungen und ist damit interdisziplinaritätsuntauglich. – Ein Betriebswirt, der Diskurse um die Einlösung um die Erhebung und Einlösung wissenschaftlicher Geltungsansprüche anderer Disziplinen ausschließlich als monetären Aufwand interpretiert und für deren Vermeidung plädiert, trifft nicht den Witz der Erhebung und Einlösung wissenschaftlicher Geltungsansprüche. Eine wichtige Variante dieser Form der Interdisziplinaritätsuntauglichkeit ist in dem Ansatz mancher Sozial-und Kulturwissenschaften zu sehen, wissenschaftliche Geltungsansprüche als besondere Expression des »Stammes der Wissenschaftler« zu betrachten. Diese Tribualisierung der Wissenschaften zeigt sich darin, dass Wissenschaftler als soziale Gruppe neben anderen angesehen werden, ohne zu berücksichtigen, dass das innere Definitionsmerkmal der Wissenschaften gerade die Selbstverpflichtung auf Rationalitätsstandards ist, die unter bestimmten (freilich: nicht-trivialen) Bedingungen erlauben zu sagen, dass eine Behauptung »wahr« und eine Aufforderung »richtig« ist.29 29 Gethmann 2001.

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Grundsätzlich läßt sich an den aufgeführten Beispielen ablesen, dass die zwischen den Disziplinen zu fordernden Anerkennungsverhältnisse im Interesse interdisziplinärer Forschung beinhalten müssen, dass die kognitiven Handlungen von Wissenschaftlern Zweckrealisierungsversuche und nicht bloße Naturprozesse sind (Naturalismus). Das naturalistische Handlungsverständnis besteht generell darin, Handlungen als Wirkungen von Ursachen zu betrachten. Je nach Art der Ursachen ergeben sich Varianten von Naturalismus.30 Der Fehler des naturalistischen Handlungsverständnisses besteht in der elementaren Verwechslung von Handlungen als Zweckrealisierungsversuchen mit Verhaltensweisen als Wirkungen von Ursachen (einschließlich der raffinierteren Form: als Funktion eines Systems). Sowohl die Angabe des Zwecks als auch der Ursachen (Bedingungen) einer Handlung kann kontextvariant eine sinnvolle Handlungserklärung sein. Kritisiert werden aber muß die Auffassung, Handlungen seien Zweckrealisierungsversuche (Finalismus), als irgendwie unzulässig, unanständig, unwissenschaftlich. (b) Normativer Skeptizismus Mit normativem Skeptizismus ist die durchaus verbreitete Auffassung gemeint, zu Fragen normativer Orientierungen des menschlichen Handelns ließen sich mit den Mitteln wissenschaftlicher Rationalität nichts sagen und die Wissenschaften hätten sich somit entsprechender Äußerungen zu enthalten. Dahinter steht oft die sog. Wertfreiheitsthese, verbunden mit der meistens nicht expliziten Überzeugung (eine Art Fachaxiom), Orientierungsfragen seien in der Wert-Terminologie zu konzeptualisieren. Sollten normative Aussagen im Prinzip und auch bei Beachtung bestimmter Rationalitätsregeln nicht verallgemeinerbar sein, verlöre Transdisziplinarität entweder ihren Witz oder sie wäre als kaschierte »Weltanschauung« zu enttarnen. Jedenfalls würden die Fragen nach der Beurteilung von Handlungsoptionen, die die Wissenschaften ermöglichen, und deren Bearbeitung, a priori der Domäne der Wissenschaften entzogen. Wissenschaftliche Politikberatung wäre prinzipiell unmöglich. Die Bearbeitung von normativen Fragen erfolgt demgegenüber durch die bekannten Normwissenschaften wie Jurisprudenz, Ökonomie, Ethik, Pädagogik, die die Normfragen aus ihren spezifisch disziplinären Perspektiven bearbeiten. Allerdings besteht diese Bearbeitung nicht nur in der Beschreibung und Erklärung von normativen Überzeugungen von individuellen und kollektiven Akteuren (sozusagen de lege lata), sondern auch unter dem Aspekt der Überprüfung der instrumentellen Adäquatheit, Kohärenz und Konsistenz normativer Überzeugungen. Damit wird durchaus in normative Überzeugungssysteme (de lege ferenda) präskriptiv eingegriffen. 30 Es macht somit keinen entscheidenden Unterschied, ob man Handlungen als Wirkungen von elektrochemischen Prozessen im Gehirn, als Wirkungen von Genen oder als Wirkungen der Geschwisterfolge in der Herkunftsfamilie interpretiert.

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7. Die Rolle der Philosophie in der interdisziplinären Forschung Die Philosophie versteht sich seit ihren griechischen Gründungsvätern sowohl theoretisch (hinsichtlich der kognitiven Grundlagen) als auch praktisch (hinsichtlich der Handlungsempfehlungen gegenüber Gesellschaft und Staat) als Vermittlungsinstanz zwischen Lebenswelt und Wissenschaft. Seit Sokrates, Platon und Aristoteles haben Philosophen immer wieder (in unterschiedlichen Rollen) Aufgaben der »Gesellschaftsberatung« (J. Mittelstraß31) wahrgenommen. Die Philosophie hat sich daher stets aufs Neue für interdisziplinäre Anstrengungen zur Lösung Fachgrenzen übersteigender gesellschaftlicher Probleme eingesetzt, und dabei beachtliche Beiträge zu epistemologischen und ethischen Konzipierung interdisziplinärer Arbeit geliefert. Auch gegenwärtig leistet die Philosophie Beiträge zu zentralen Fragen der wissenschaftlich-technischen Kultur, und zwar sowohl zu Grundlagenproblemen (wie der Verläßlichkeit und Verständlichkeit verschiedener Wissensformen, der Bedeutung von Begriffen oder der Akzeptabilität von Regulierungen) als auch zu substantiellen Einzelfragen (wie dem moralischen Status des Embryo, der Sozialverträglichkeit von Energiesystemen oder der Langzeitverantwortung). Grundsätzlich ist die Philosophie im Konzert der Stimmen der Interdisziplinarität mit ihren Sub-Disziplinen insgesamt beteiligt. Ein besonderes Gewicht dürfte jedoch naturgemäß auf Fragen liegen, die traditionsgemäß der Wissenschaftsphilosophie und der Ethik zugeordnet werden.

7.1 Wissenschaftsphilosophie Die Wissenschaftsphilosophie32 als Sub-Disziplinen der Philosophie hat die Aufgabe, Methode, Begriffsbildung, Theoriebildung und Gegenstandstheorie der wissenschaftlichen Disziplinen generell und im einzelnen zu rekonstruieren. Eine der fundamentalen Aufgaben der Wissenschaftsphilosophie besteht dabei darin, Kriterien für die Unterscheidung von wissenschaftlichen Erkenntnisansprüchen gegenüber Pseudowissenschaften einerseits und Alltagserkenntnis andererseits zu formulieren. Diese kriterielle Aufgabe ist vor allem für den Einsatz der Wissenschaftsphilosophie im interdisziplinären Arbeitskontext von Bedeutung. Gerade bei Fragestellungen transdisziplinärer Ausrichtung sind Erkenntnisansprüche außerhalb der Wissenschaften von Alltagsintuitionen über situations- und kontextgebundene Erkenntniskapazitäten, pseudowissenschaftliche Ansprüche und Scharla31 Mittelstraß 2010. 32 Die deutsche Bezeichnung »Wissenschaftstheorie« wird hier wegen der unklaren »Theorie«zentrierung und dem internationalen Sprachgebrauch folgend durch »Wissenschaftsphilosophie« ersetzt.

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tanerie am Werk, die sorgfältig in ihrer Leistungsfähigkeit von wissenschaftlichen Erkenntnisansprüchen abgegrenzt, unter Umständen aber auch in die transdisziplinäre Fragestellung einbezogen werden müssen. Vor allem dann, wenn die ganz disziplinäre Arbeit in wissenschaftliche Politikberatung mündet, ist die Validität der jeweiligen Geltungsansprüche besonders sensibel zu überprüfen. Dieser Leistungsanspruch an die Wissenschaftsphilosophie verstärkt sich noch einmal, wenn differenzierte Fragen der Wissenschaftsförderung beantwortet werden müssen. Die Frage, welche kognitiven Bemühungen durch Wissenschaftspolitik gefördert werden sollen, hängt neben anderen Faktoren auch von Umfang und Art der kognitiven Leistungsfähigkeit unterschiedlicher kognitiver Geltungsansprüche ab. Welche Erkenntnisanstrengungen letztlich erfolgreich sein werden, weiß im Vorhinein niemand. Gleichwohl ist es nicht überflüssig, überzogene oder sogar obskure Erkenntnisprojekte aus Überlegungen der Wissenschaftsförderung auszuschließen. Dazu aber bedarf es wissenschaftsphilosophischer Kriterien. Die Wissenschaftsphilosophie hat im interdisziplinären Kontext auch die Aufgabe, neben den systemischen Leistungen der wissenschaftlichen Disziplinen im engeren Sinne die grundsätzliche Aufklärungsfunktion von Wissenschaft im Gespräch zu halten. Wissenschaft soll nicht einfach Wissen akkumulieren, sondern einen Beitrag zur Befreiung des Menschen von physischen Lasten, sozialen Zwängen und kognitiven Irreführungen (Bacon-Prinzip33) leisten. Zu den kognitiven Leistungen gehört schließlich auch die Weltbildfunktion der Wissenschaften, d. h. die kognitive Orientierung für das Welt- und Selbstverständnis des Menschen im Großen. Die Wissenschaftsphilosophie hat dabei darauf zu achten, dass die Weltbildfunktion der Wissenschaften gegenüber außerwissenschaftlichen Ideologien und antiwissenschaftlichen religiösen Entwürfen zur Geltung gebracht wird.34 Indem die Wissenschaftsphilosophie diese Aufgaben wahrnimmt, leistet sie einen Beitrag zur Selbstvergewisserung der wissenschaftlich-technischen Kultur. Darüber hinaus liefert sie Kriterien zur Selbstevaluation dieser Kultur. Die Wissenschaftsphilosophie hat schließlich einen engen Bezug zur Frage der Organisation der Wissenschaften.

33 Vgl. Schäfer 1993. 34 Ein Beispiel ist die ist epistemologische Differenzierung zwischen der Evolutionsbiologie einerseits und dem religiös fundierten Kreationismus andererseits. Aufgrund der wissenschaftsphilosophischen Kriterien läßt sich deutlich machen, dass sich hier nicht zwei Wissenschaftsparadigmen gegenüberstehen.

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7.2 Ethik Ein philosophisch adäquates Verständnis für die Ethik als akademische Disziplin und Normwissenschaft im interdisziplinären Geschäft neben Jurisprudenz und Ökonomie wird durch eine Reihe von Momenten behindert: – Durch eine vulgäre Max-Weber- Interpretation gilt vielen als ausgemacht, dass die Wissenschaften »wertfrei« zu sein haben. Dabei wird übersehen, dass Max Weber keineswegs alle normativen Fragen, sondern lediglich die »auf Leben und Tod« für wissenschaftsungeeignet erklärt hat.35 – Durch die terminologische Rekonstruktion von Orientierungsproblemen im Wertjargon werden der Ethik unnötige und vielleicht auch unlösbare Probleme aufgebürdet, die eine Rekonstruktion im Rahmen einer Tugend- Verpflichtungs- oder Nutzenethik nicht zu tragen hätten (vor allem überstarke ontological commitments, Wahrheitsfähigkeit moralischer Imperative, Abwägungsverbot, Rigorismus). Ein wichtiges Element in der Beurteilung der Ethik (Moralphilosophie, Sittenlehre) ist, dass Ethik als Disziplin (ars ethica) mit ihrem Gegenstand, dem Ethos (der Moral, der Sitte) konfundiert wird. Ein Ethos besteht nicht primär aus Sätzen, sondern aus Handlungsweisen und -gewohnheiten.36 Im Interesse der Verständigung über Ethos-Systeme (Moralen) hat sich jedoch die methodische Konstruktion bewährt, Handlungen als (meistens implizite) Regelbefolgungen aufzufassen. Moralische Regeln lassen sich wiederum als bedingte Aufforderungen auffassen, und zwar solche, die der direkten Handlungsanleitung dienen. Beispielsweise könnte ein Satz einer Familienmoral lauten: »Bei uns soll es eine gemeinsame Mahlzeit pro Tag geben!«; eine Wirtschaftsmoral könnte den Satz enthalten: »Man soll schlechtem Geld kein gutes hinterherwerfen!«; der Satz: »Du sollst nicht begehren deines nächsten Weib!« kann die Handlungsgewohnheit einer Großgruppenmoral sein. Im Unterschied zum Ethos besteht die Ethik (ars ethica) wesentlich aus Sätzen, nämlich solchen die Aufforderungen an jedermann richten. Im Gegensatz zu den Sätzen der Moral dienen diese aber nicht der Handlungsanleitung, sondern der Handlungsbeurteilung. Ein bekannter ethischer Satz ist die Goldene Regel: »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg! auch keinem andren zu!« Diese Aufforderung sagt nicht, was zu tun ist, sondern wie Handlungen zu beurteilen sind: Man soll nur solche Handlungen mit Folgen für andere ausführen, die man sich auch von anderen gefallen lassen würde. Andere ethische Aufforderungen sind beispielsweise die utilitaristische Regel: »Handle so, dass du durch deine Handlung das größte Glück der größten Zahl verwirklichst!« oder der Kategorische Impe35 Vgl. Weiß 1985. 36 O. Marquard übersetzt Ethos treffend mit »Ensemble der Üblichkeiten« (sc. in einer Gruppe): Marquard 1981.

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rativ: »Handle so, dass die Maxime deines Handelns jederzeit eine (allgemeine) Norm werden könnte!« Es ist Aufgabe der Ethik, Moralen auf die in ihnen implizierten Regeln hin zu rekonstruieren, und diese moralischen Regeln anhand ethische Beurteilungsinstanzen zu überprüfen, schließlich diese Beurteilungsinstanzen nach allgemeinen Gesichtspunkten wie Funktionalität und Konsistenz zu beurteilen. In der Ethik werden also Regeln zur Beurteilung des Handelns entwickelt und – unter dem Gesichtspunkt der Verallgemeinerbarkeit – geprüft. In der philosophischen Disziplin Ethik geht es grundsätzlich darum, Handlungsorientierungen herauszufinden, die verallgemeinerbar, d. h. grundsätzlich jedermann zumutbar sind. Auf dem Hintergrund des gegenwärtigen Entwicklungsstandes der technischen Kultur stellt sich dabei die in historischer Perspektive recht neue Aufgabe, verallgemeinerbare Regeln für das Handeln unter den Bedingungen von Unsicherheit und Ungleichheit zu formulieren. Wenn der philosophische Laie von einer derartigen Aufgabenstellung hört, wird er nicht selten in eine Art Abwehrhaltung übergehen: Mit welchem Recht mutet mir überhaupt jemand zu, dieses oder jenes zu tun oder zu unterlassen. In der Tat könnte man es jedem überlassen, nach seinen eigenen Maximen zu handeln, wenn dies nicht in hinreichend vielen Fällen zu Konflikten mit anderen Akteuren führen würde. Die Erfahrung des Handlungskonflikts ist daher der lebensweltliche Ansatzpunkt für die Notwendigkeit ethischer Reflexion. Durch sie muß sich auch zeigen, wieso die Erfahrung des Konfliktes zu einem Sollensanspruch führen kann. Eine grundlegende Voraussetzung dazu ist die Möglichkeit, menschliches Handeln so zu verstehen, dass es – einmal – überhaupt echte Konflikte geben kann, und – zum anderen – , dass es Strategien gibt, Konflikte gewaltfrei zu lösen. Menschen können erfahrungsgemäß verschiedene Zwecke anstreben. In manchen Fällen versuchen Akteure Zwecke zu verwirklichen, die untereinander unvereinbar sind, d. h. sich nicht zugleich verwirklichen lassen; dies ist die Situation des Konflikts. Konflikte können auf vielerlei Weise bewältigt (d. h. vermieden, beseitigt oder ausgeglichen) werden. Grundsätzlich lassen sich dabei non-diskursive von diskursiven Strategien unterscheiden. Non-diskursive Strategien reichen vom einfachen Überreden, von seinen Zwecken abzulassen, bis zur Liquidation des opponierenden Akteurs; grundsätzlich stellen sie also mehr oder weniger subtile Einsätze von Gewalt dar. Diskursive Strategien zielen auf die gewaltfreie Überzeugung der Akteure, von ihren Zwecken abzulassen oder sie in konfliktvermeidende Zielausprägungen zu überführen. Die Unterscheidung von Zwecken und Zielen erlaubt nämlich, in eine Argumentation darüber einzutreten, ob sich die gewünschten Ziele nicht durch andere oder veränderte Zwecksetzungen erreichen lassen. Haben die Akteure ein Interesse an diskursiver Konfliktbewältigung (wozu sie freilich nicht wiederum diskursiv »gezwungen« werden können), dann wird es wichtig, Regeln derartiger argumentativer Reden um Zwecke und Ziele zu rekonstruieren. Die Rekonstruktion von Handlungen als Befolgungen von Aufforderungen dient auch dem Zweck, Handlungen dis-

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kurszugänglich zu machen, denn Aufforderungen können als Konklusionen von Argumentationen rekonstruiert werden. Die Aufgabe der Ethik ist es also näherhin, die Regeln diskursiver Konfliktbewältigung zu rekonstruieren. Sie gibt die Geschäftsordnung des moralischen Diskurses vor. In Diskursen um Ziele und Zwecke (Rechtfertigungsdiskursen) streben die Diskursparteien diskursive Verständigung über Zwecke an. Gelingt eine solche Verständigung, dann ist sie für die Parteien gültig, d. h. die Akteure beziehen aus dem Diskursergebnis ihre Berechtigung, aber auch ihre Verpflichtung, bestimmte Handlungen zu vollziehen. Berechtigungen und Verpflichtungen sind also an die grundsätzliche Möglichkeit diskursiver Konfliktbewältigung gebunden. Bestehen dagegen keine Konflikte oder sind die Akteure davon überzeugt, dass non-diskursive Strategien (z. B. wegen höherer Effektivität) vorzuziehen seien, kann man ersichtlich nicht von Berechtigung und Verpflichtung sprechen. Fast alle bekannten Moralen sind partikularistisch orientiert, weil sie die Diskursteilnahme auf Menschen beschränken, die nach bestimmten Gesichtspunkten (der Zugehörigkeit zu Stamm, Stand, Bekenntnis, Rasse, Klasse, Geschlecht u. a.) charakterisiert sind. Partikularistische Moralen können die gruppeninterne Konfliktbewältigung durchaus zufriedenstellend regeln, sie finden jedoch immer dann ihre Grenzen, wenn es zu Konflikten zwischen Gruppen kommt. Legt man daher vorsorglich wert darauf, Konfliktlösungsmöglichkeiten im vorhinein maximal auszuschöpfen, muß man jedermann als Diskursteilnehmer zulassen (Universalismus). Vor allem mit Blick auf die entstehende Weltgesellschaft ist daher der ethische Universalismus die Position, die von der Ethik bevorzugt wird. Dies ist der funktionelle Grund, warum die ethischen Regeln letztlich auf Verallgemeinerbarkeit abheben.37 Werden Moralen einer ethischen Kritik unterzogen, so ist daher zu prüfen, ob die Maximen, die diese Moral ausmachen, verallgemeinerbar sind. Beurteilt die Ethik Moralen als nicht-universalisierbar, ist zu klären, wie die inhärenten Maximen verändert werden müssen, damit sie universalisierbar und damit konfliktfrei werden. Am moralischen Diskurs soll jeder teilnehmen können, der durch das Äußern einer Aufforderung einen Anspruch geltend machen kann – und damit potentiell Konflikte erzeugt. Die Universalität der ethischen Imperative umfaßt alle, die sich auf das Auffordern verstehen.38

Literatur Bundesministerium für Bildung und Forschung: Pressemitteilung 220, 2006. De Solla Price, Derek: Little Science – Big Science. New York 1963. 37 Vgl. Gethmann 1991. 38 Zu den damit angedeuteten subjekttheoretischen Fragen s. Gethmann 2016.

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Interdisziplinarität (in) der Rechtswissenschaft Thomas Gutmann

Die Rechtswissenschaft arbeitet in ihrem »normalwissenschaftlichen« Modus, in dem sie den Rechtsstoff für seine Anwendung in der Rechtspraxis der Gerichte und Verwaltungen und seine Vermittlung in der Ausbildung aufbereitet, ordnet, stabilisiert und handhabbar macht, zunächst in notwendiger disziplinärer Selbstbeschränkung auf den »legal point of view«. Gleichwohl kann sie in spezifischer Weise zu interdisziplinärem Reflexionsgewinn beitragen. Sie selbst braucht Interdisziplinarität bereits zur Beobachtung ihrer Regelungssubstrate, aber auch zur analytischen Klärung ihrer Begrifflichkeit und theoretischen Vorannahmen und schließlich als unverzichtbare Quelle theoretischer Innovation. Ein Gelingen von »integrierten« Formen interdisziplinärer Wissenschaft verlangt von der Jurisprudenz jedoch erhebliche institutionelle Anpassungsleistungen. Jurisprudence in its »normal science« mode, i. e. within its settled paradigms and doctrinal frameworks, performing the function of administrating legal decision-making and education, works within necessary disciplinary contraints, restricted to the »legal point of view«. Nevertheless legal science harbours a specific potential for interdisciplinary reflection, while at the same it requires interdisciplinarity in order to observe the social reality law is applied to, in order to clarify its concepts and theoretical premises, and last not least as a crucial source of innovation. Successful forms of »integrated« interdisciplinarity, however, call for institutional adaptions within law schools and legal departments.

1. Die Ausgangslage Um die Chancen der Rechtswissenschaft auf Interdisziplinarität1 scheint es aus zwei Gründen nicht gut zu stehen. Der erste Grund hat mit dem Zwang des Rechts zu tun, kollektiv verbindliche Entscheidungen über Recht und Unrecht produzieren und verantworten zu müssen. Dass das Rechtssystem primär ein organisiertes Entscheidungssystem ist, lässt die Rechtswissenschaft als seine Reflexionsform nicht unberührt. Sie ist primär eine Gebrauchswissenschaft2, die den (unablässig und exponentiell anwachsenden) Rechtsstoff für seine Anwendung in der Rechtspraxis der Gerichte und Verwaltungen und seine Vermittlung in der Ausbildung aufbereitet, ordnet, stabilisiert und handhabbar macht. Die zentrale Rolle der Dogmatik ist die notwendige Konsequenz der für die Rechtswissen1 Einige der folgenden Überlegungen basieren auf dem Beitrag Gutmann 2015, S. 93– 116. 2 Jestaedt 2014, S. 1 ff., S. 5.

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schaft charakteristischen engen Theorie-Praxis-Verklammerung3 und ihrer Kopplung an die Professionsausbildung. »Daß Gerichte entscheiden müssen, ist der Ausgangspunkt für die Konstruktion des juristischen Universums, für das Rechtsdenken, für die juristische Argumentation«. Die in der Rechtspraxis selbst erzeugten juristischen Theorien halten deshalb »nicht das, was der Theoriebegriff im Kontext des Wissenschaftssystems verspricht. Sie sind eher Nebenprodukte der Notwendigkeit, zu tragfähigen Entscheidungen zu kommen«.4 In dieser Funktion beruhen wesentliche Leistungen der Jurisprudenz in der Tat »auf strikt durchgehaltener Dekontextualisierung der juristischen Frage«, also auf »ihrer Beschränkung auf den strictly legal point of view«.5 Soweit die Dogmatik (im Kuhn!schen Sinn) als »Normalwissenschaft« arbeiten und ihre Probleme mit Bordmitteln lösen kann, verwaltet sie die Recht/Unrecht-Unterscheidung am besten, wenn sie dabei nicht durch andere Perspektiven gestört wird. Der zweite Grund hat damit zu tun, dass der Hauptgegenstand der Rechtswissenschaft, das positive Recht, selbst nur qua (politischer) Entscheidung gilt. Kant hat diese »Eigenthümlichkeit der Juristenfacultät« in seiner Schrift zum »Streit der Fakultäten« aufgespießt und die Vertreter der Jurisprudenz (zusammen mit den Theologen) wegen ihrer Autoritätsabhängigkeit aus dem Wissenschaftssystem verwiesen: Der schriftgelehrte Jurist sucht die Gesetze der Sicherung des Mein und Dein (wenn er, wie er soll, als Beamter der Regierung verfährt) nicht in seiner Vernunft, sondern im öffentlich gegebenen und höchsten Orts sanctionirten Gesetzbuch. Den Beweis der Wahrheit und Rechtmäßigkeit derselben, ingleichen die Vertheidigung wider die dagegen gemachte Einwendung der Vernunft kann man billigerweise von ihm nicht fordern.6

Will man wissen, woraus sich angesichts dessen die Vermutung des Wissenschaftsrats nährt, dass gerade die Rechtswissenschaft zu interdisziplinärem Reflexionsgewinn beitragen kann7, wird man näher hinsehen müssen.

3 Wissenschaftsrat 2012, S. 5. 4 Vgl. zum Vorstehenden Luhmann 1993, S. 9 und S. 317 (Zitate) sowie S. 18, S. 74, S. 78 und S. 364. 5 Ernst 2007, S. 3 ff., S. 16. 6 Das Argument findet auch heute noch seine Verfechter, vgl. die von Geoffrey 2009, S. 431–459 geäußerte Vermutung, dass die Rechtswissenschaft schon wegen ihres der Theologie verwandten dogmatischen »Autoritätsparadigmas« zu den Nachbarwissenschaften nichts beizutragen habe – es sei denn, sie würde von dort aus betrieben. 7 Wissenschaftsrat 2012, S. 32.

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Interdisziplinarität (in) der Rechtswissenschaft

2. Jurisprudenz im Rechts- und im Wissenschaftssystem Weil die Jurisprudenz nicht nur zum Rechts-, sondern auch zum Wissenschaftssystem gehört, sind die Gesichtsfeldausfälle und Verengungen einer sich auf den Status einer bloßen Gebrauchswissenschaft zurückziehenden Jurisprudenz regelmäßig zum Gegenstand rechtswissenschaftlicher Selbstkritik geworden. Diese thematisiert die Gefahr eines »disziplinären Autismus«8 und »disziplinären Isolationismus«9 der Jurisprudenz qua Dogmatik, die aus eigener Kraft, d. h. mit ihren inhärenten methodischen Ressourcen, keine Verbindungen zu ihren Nachbarwissenschaften herstellen kann. Die Notwendigkeit einer Rechtswissenschaft, die sich – vermittels der Selbstreflexion auf ihre historischen, theoretischen und empirischen Grundlagen – um Interdisziplinarität bemüht, folgt deshalb bereits aus dem Wissen um die immanenten und im Ergebnis dysfunktionalen Grenzen juristischer Methodik.10 Matthias Jestaedt ist an dieser Stelle nichts hinzuzufügen: In dem Maße, in dem die Rechtswissenschaft auf Praxisorientierung setzt und damit notwendigerweise einen hochselektiven Zugang zum Phänomen Recht wählt, bedarf sie – um der Sicherung ihrer Wissenschaftlichkeit willen – sozusagen komplementär der inter- wie intradisziplinären Sensibilität. Nur so kann sie ihre disziplinäre Bedingtheit und ihre ! mit dem ›strictly legal point of view‹ einhergehenden ! disziplinären ›blinden Flecke‹ lokalisieren und thematisieren; nur so kann sie nachbarwissenschaftliche Erkenntnisse auf ihre dogmatikinterne Verwertbarkeit hin prüfen; nur so kann sie inter- wie intradisziplinäre Anschlussnotwendigkeiten und -möglichkeiten adäquat identifizieren und reflektieren.11 Der folgende Abschnitt (3.) bietet einige Beispiele für diese blinden Flecke des dogmatischen Blicks – dafür, was Rechtswissenschaft in einem engen Sinn nicht aus eigener Kraft sieht. Sehhilfen (namentlich durch die Instrumente der Sozialwissenschaften und Ökonomie, aber auch der Lebenswissenschaften) braucht die Dogmatik schon bei der Beobachtung ihrer Regelungsgegenstände – der Gesellschaft und ihrer Subsysteme – auf die das dogmatisch verwaltete Recht einwirken soll, aber auch bei der Klärung und Schärfung ihrer zentralen Konzepte und Begriffe (vornehmlich durch Philosophie und Rechtstheorie) und schließlich für eine Aufklärung darüber, welchen historischen Dy-

8 Jestaedt 2012, S. 117ff, S. 131. 9 Jestaedt 2014, S. 2 f. 10 Vgl. Schulze-Fielitz 2013, S. 219 ff., S. 232. 11 Jestaedt 2014, S. 11. Dies gilt umso mehr, als die intradisziplinäre Subdifferenzierung des Fachs die Disziplin »Rechtswissenschaft« zunehmend in Spezialdiskurse zerlegt, deren Kohärenz von einer Verständigung über die gemeinsamen methodischen und theoretischen Grundlagen abhängt, die von bloßer Dogmatik (oder gar von den TeilDogmatiken) allein nicht geleistet werden kann.

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Thomas Gutmann namiken sowohl ihre Argumente als auch ihre Gegenstände unterworfen sind.12 Die Rechtswissenschaft ist deshalb notwendig in eine Struktur eingebettet, die man mit Roland Czada als »epistemologisches Mehrebenensystem«13 bezeichnen kann, in dem komplexe Formen der akademischen Arbeitsteilung und variierende Möglichkeiten der Zusammenarbeit zu finden sind.14

3. Interdisziplinarität (in) der Rechtswissenschaft Die Notwendigkeit interdisziplinären Arbeitens ist eine Folge der weiter zunehmenden Binnendifferenzierung des Wissenschaftssystems und der damit einhergehenden disziplinären Fragmentierung des Wissens.15 Die Ausdifferenzierung der Disziplinen, die sich jeweils um Gegenstandsbereiche und Problemstellungen herum bilden, produziert blinde Flecken in der kognitiven Schematisierung der Wirklichkeit. Übergreifendende Fragestellungen und Positionen, die sich keinem der disziplinären Raster zuordnen lassen, werden dethematisiert oder einfach vergessen; auf diese Weise wirkt Disziplinenbildung, wie auch andere Teilprozesse der Ausdifferenzierung der Wissenschaft, selektiv auf die Fragen, die Wissenschaft sich noch stellen kann.16 12 Siehe beispielsweise zu den beiden sowohl historischen als auch begründungstheoretischen Dynamiken des egalitären normativen Individualismus subjektiver Rechte einerseits und der Säkularisierung des Rechts andererseits: Gutmann 2018, S. 285–304 und ders. 2013, S. 447–488. 13 Czada 2002, S. 23 ff., S. 29. 14 Im Bereich der Lehre entspricht dem die Zielvorstellung einer »Wissenschaftlichkeit des Studiums« (Wissenschaftsrat 2012, S. 59), in dem »eine breit angelegte und umfassend verstandene ›Juristische Bildung‹« entwickelt, »die Vermittlung von Kontextund Grundlagenwissen systematisch gestärkt, die Methodenkompetenz zur Erfassung von strukturellen und systemischen Zusammenhängen gefördert und zum Ausgleich das Studium von Detailwissen entlastet wird« (ebd., S. 57). Hier kommen abermals die Grundlagenfächer ins Spiel, denen die Aufgabe zukommt, das Irritationspotential der Nachbardisziplinen, insbesondere der Philosophie, Geschichtswissenschaft, Soziologie, Politikwissenschaft, Psychologie und Kriminologie, für die wissenschaftliche Reflexion des Rechts zu entbinden: »Die angrenzenden Disziplinen können die Jura-Studierenden dazu bringen, sich auf fremde Denkweisen, Methoden und Befunde einzustellen und sich einen fremden Blick auf den eigenen Gegenstand anzueignen. Dadurch wird die Reflexivität in Bezug auf das eigene Fach erhöht und ein besseres Verständnis des geltenden Rechts sowie der Komplexität und Vielschichtigkeit der juristischen Praxis erworben« (ebd., S. 60). 15 Hierzu bereits Stichweh 1979, S. 82 ff.; siehe auch Weingart 2013, S. 35 ff., sowie zur institutionellen Differenzierung des deutschen Wissenschaftssystems: Wissenschaftsrat 2012. 16 Stichweh 1979, S. 84.

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Es kommt zu Interdependenzunterbrechungen und damit zu Möglichkeitsverlusten […], und interdisziplinäre Forschung kann nur heißen, daß man die damit gegebenen Sichtbehinderungen, so weit möglich, thematisiert und in die Forschung wiedereinbringt.17

Es ist die Logik der Wissenschaft selbst, die nach Interdisziplinarität verlangt, weil es eine Vielzahl von Fragen und Problemen gibt, die innerhalb der bestehenden Disziplingrenzen nicht nur nicht adäquat bearbeitet, sondern noch nicht einmal gesehen werden können. Wer glaubt, die Konjunktur des Interdisziplinären rühre vor allem daher, dass sie als Worthülse bei der Einwerbung großer Drittmittelprojekte hilft, verkennt Ursache und Wirkung. Die »Öffnung der Rechtswissenschaft in das Wissenschaftssystem«18 vollzieht sich indessen auf unterschiedlichen Wegen und Ebenen.

3.1 Die kognitive Offenheit des Rechts Das Recht kann ohne die Wahrnehmung seiner Umwelt nicht funktionieren. Weil das Rechtssystem kognitiv offen operieren muss19, können sich weder die Gesetzgebung noch die Normanwendung kognitiv abschließen. Sowohl der Gesetzgeber als auch der Rechtsanwender müssen eine Vorstellung von den Gegenstandsbereichen haben, auf die sie einwirken; diese Gegenstandsbereiche erschließen sich aber weder dem politischen noch dem juristischen Blick unmittelbar, ohne die Hilfe der Instrumente und Methoden der je einschlägigen wissenschaftlichen Disziplinen. »Rechtstatsachen-« oder besser: Rechtsumweltforschung im weitesten Sinn hat deshalb eine unverzichtbare kognitive Funktion. Es schadet nicht, wenn der Normgeber im Familienrecht über die empirischen Befunde der Familiensoziologie und Entwicklungspsychologie oder im Finanzmarktrecht über die ökonomische Dynamik der Kapitalströme orientiert ist. Es schadet nicht, wenn das europäische Verbraucherschutzrecht sich von der Behavioral Law & Economics-Forschung darüber aufklären lässt, was für ein seltsames Wesen der Verbraucher in Wirklichkeit ist. Es hätte nicht geschadet, wenn die Abgeordneten des Deutschen Bundestags beispielsweise bei der Regelung der Präimplantationsdiagnostik oder der Verteilung menschlicher Organe zur Transplantation hätten wissen wollen, was sie da eigentlich normieren. Die aufklärende Funktion insbesondere der sozialwissenschaftlichen und der ökonomischen Beobachtung des Rechts erschöpft sich nicht in ihrer Bedeutung für die Rechtspolitik; sie hat Bedeutung auch für die anwendungsorientierte Rechts17 Luhmann 1992, S. 460. 18 Wissenschaftsrat 2012, S. 7. 19 Luhmann 1993, S. 77 f.

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dogmatik, die (soweit wir überhaupt annehmen können, dass Steuerung durch Recht möglich ist) im Rahmen der ihr überantworteten Interpretationsleistungen versuchen sollte, ihr jeweiliges Rechtsgebiet auf eine Weise zu systematisieren, die nicht schon in empirischer Hinsicht dysfunktional ist. Das alles setzt jedoch noch keine Interdisziplinarität im eigentlichen Sinn voraus, sondern nur die Bereitschaft, die einschlägigen Debatten und Ergebnisse der anderen Einzelwissenschaften wenigstens bereichsspezifisch und auszugsweise zur Kenntnis zu nehmen.

3.2 Mägde des Rechts Interdisziplinarität kommt erst auf der nächsten Stufe ins Spiel. Hier geht es um das, was Matthias Jestaedt die »Umwegrentabilität der Grundlagenforschung«20 nennt. So kann beispielsweise die analytische Rechts- und Moralphilosophie als ancilla juris, als Magd des Rechts, zu einer besseren, weil trennschärferen Rechtsdogmatik beitragen. Die Rechtsdogmatik braucht die Rechtstheorie keineswegs überall, aber dort, wo sie sie braucht, benötigt sie sie meistens dringend, denn nicht selten ist die Magd klüger als die Herrin. Auch wenn das Recht und seine Reflexionsform, die Rechtswissenschaft, autonom über die Anschlussfähigkeit außerrechtlicher Theorieangebote entscheiden müssen21, ist die heuristische Funktion der oft differenzierteren Diskurse in den Nachbarwissenschaften doch in aller Regel nicht verzichtbar.22 Will man nur ein Beispiel geben, so ist auf die begrifflichen und konzeptionellen Klärungen und Differenzierungen zu verweisen, die die Philosophie für das Wissenschaftssystem und eben auch für die Rechtswissenschaft erbringt.23 So sind in den letzten drei Jahrzehnten in der Rechtstheorie, der praktischen und der analytischen Philosophie erhebliche Anstrengungen unternommen worden, um Konzepte wie z. B. »freiwilliges« bzw. »nicht freiwilliges Handeln«, »Askription von Verantwortung«, »Ausbeutung«, »Einflussnahme« oder »Macht« sowohl analytisch als auch normativ zu klären und auszudifferenzieren. Alle diese Konzepte werden im Recht und in der Rechtswissenschaft ! insbesondere in einem auf dem Begriff der Privatautonomie basierenden Privatrecht ! vorausgesetzt, und meistens werden sie verwen20 Jestaedt 2006, S. 90. 21 Gerade weil das Recht selbst (genauer: seine interne Perspektive) bestimmt, welche Anschlussmöglichkeiten es der Philosophie (oder anderen Disziplinen) eröffnet, müsste ein theoretisch kontrollierter Umgang mit Intra- und Interdisziplinarität den Begriff der »Anschlussmöglichkeit« selbst zum Gegenstand der Reflexion machen. 22 Jedenfalls gilt: »Als Wissenschaft ist die Jurisprudenz durch keine Gehörsanforderungen und Beweisregeln gehindert, fremddisziplinäres Wissen aufzunehmen«, Röhl 2013, sub IV a.E. 23 Siehe dazu auch den Beitrag von Rojek in diesem Heft.

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det, ohne ihrer analytischen Struktur große Aufmerksamkeit zu schenken. Dies geht oft gut, aber eben nicht immer; in theoretischen hard cases hängt eine adäquate Rechtsdogmatik davon ab, dass sie die analytische Ausdifferenzierung ihrer Konzepte nachvollziehen kann. Interdisziplinarität ist hier conditio sine qua non dafür, Rechtsprobleme zu lösen. Historisch gesehen hat wohl fast jede wesentliche rechtsdogmatische Innovation ihren Ausgang von den Grundlagenwissenschaften des Rechts, also von intra- und interdisziplinärer Reflexion genommen, und noch heute gilt jedenfalls dem Grundsatz nach auch für die Jurisprudenz, dass Interdisziplinarität, die sich einzelnen Wissenschaftlern als unsichere und zweischneidige Strategie darstellt, […] eine Voraussetzung der evolutorischen Anpassung und Stabilisierung etablierter Disziplinen [ist].24

Jedenfalls produziert Grundlagenforschung dieser Art regelmäßig Reflexionsgewinne, die in Form interdisziplinärer Transferleistungen für den rechtsdogmatischen Diskurs von nicht selten erheblicher Bedeutung sind.25 Theoretische Promiskuität ist fruchtbar. Das hier skizzierte Principal-Agent-Modell der Disziplinen als Form »vertikaler«26, nicht egalitär-horizontaler interdisziplinärer Kooperation ist im Übrigen keine Einbahnstraße. Die Rechtswissenschaft war immer auch Theorieexporteur, etwa mit ihrer Theorie juridischer Zurechnung. Obgleich man annehmen könnte, dass die rechtswissenschaftliche Dogmatik in ihrer seit dem 12. Jahrhundert27 hoch ausdifferenzierten Gestalt nichts mehr von der Philosophie lernen könnte, ist selbst dies keineswegs ausgemacht.28 Hinzu kommt, dass sich nahezu jeder wissenschaftliche Beitrag zu einer Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, nahezu jedes Unternehmen, das mit den Mitteln der Wissenschaft transdisziplinäre Zwecke verfolgen will, nahezu jeder akademische Versuch einer third mission mit dem Umstand auseinandersetzen muss, dass sein Regelungsfeld juridisch normiert ist und diese Normierung disziplinär von der Rechtswissenschaft ver24 Czada 2002, S. 39. 25 Siehe, mit Beispielen aus der Wissenschaft des öffentlichen Rechts zu den unterschiedlichen Dimensionen eines solchen Transfers, Schulze-Fielitz 2002, S. 1 ff., S. 50 ff. (»eine introvertierte, rein rechtsdogmatische wissenschaftliche Perspektive verschlösse sich systematisch einer Hauptquelle für Innovationen«); knapp in diesem Sinn auch Voßkuhle 2012, S. 111 ff., S. 113 f. 26 Siehe Quante 2015 S. 73–96; ders., 2002, 175 ff., 178ff; Czada 2002, S. 25 fasst dies unter den Begriff der Multidisziplinarität. 27 Vgl. nur Kuttner 1935. 28 Als Beispiel dafür, dass eine philosophische Re-Analyse juristischer Theoriebildung und Praxis auch auf diesem Feld sehr erhellend sein kann, können die Arbeiten von Stoppenbrink 2016; Bottek 2014, und Thomas Meyer, Verantwortung und Verursachung in Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, i.E., dienen.

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waltet wird. Dort, wo Wissenschaft sozial praktisch werden will, ist sie deshalb auf interdisziplinäre Kooperation mit der Jurisprudenz angewiesen. Hierin liegt der erste Grund für den Befund, dass gerade die Rechtswissenschaft zu interdisziplinärem Reflexionsgewinn beitragen kann. Diese Notwendigkeit interdisziplinärer Kooperation gilt, um wieder nur ein Beispiel zu nennen, auch für die philosophische Ethik. So sind praktisch sämtliche Gegenstände der Medizin- und Bioethik rechtlich verfasst. Jeder Versuch, eines dieser Felder durch normative Vorgaben wirksam, d. h. verhaltensstabil zu steuern, muss letztlich die Gestalt des Rechts annehmen und sich seiner Institutionen bedienen. Moral und Ethik (als Reflexionsform der Moral) können dies selbst nicht leisten; normativ gehaltvolle Botschaften können nur in der Sprache des Rechts gesellschaftsweit zirkulieren.29 Philosophische Bioethik, die ihre (ebenso legitime wie notwendige) Selbstbezüglichkeit übersteigen und praktisch werden will, muss sich deshalb mit rechtlicher Normenbegründung in Beziehung setzen. Das Rechtssystem verfügt jedoch nicht nur über seine Normensysteme, sondern auch über seine eigenen normativen Ressourcen: Die Rechtsordnung der Bundesrepublik hat mit den Prinzipien der Menschenwürde, der grundrechtlich garantierten Individualfreiheiten, der Gleichheit, des Rechtsstaats, der Demokratie und des Sozialstaats den formalen und materialen Gerechtigkeitsgehalt des Vernunftrechtsdenkens und damit der neuzeitlichen Moral des Rechts in das positive Recht inkorporiert.30 Das Rechtssystem ist zugleich insoweit operativ geschlossen, als es sich »gegen die unbeständige Flut und Ebbe moralischer Kommunikationen« differenzieren und sich von diesen anhand rechtseigener Kriterien unterscheiden muss.31 Rechtliche Fragen benötigen rechtliche Antworten, keine moralischen.

3.3 Die Türhüterfunktion der juristischen Grundlagenwissenschaften Eine der zentralen Aufgaben der sogenannten juristischen Grundlagenfächer – namentlich der Rechtsphilosophie und -theorie – ist ihre Türhüterfunktion32, sie verwehren, wie bei Kafka, dem »Mann vom Lande« den »Eintritt in das Gesetz«. Disziplinäre Logiken kennen keine Grenzen. Die Nachbardisziplinen der Rechtswissenschaften tendieren deshalb ausnahmslos zu Übergriffen, vor denen eine robuste Dogmatik allenfalls die Augen verschließen, die sie aber nicht selbst theoretisch parieren kann. An diesen Grenzen geht es weniger um die auch am Limes der Jurisprudenz begegnenden bullshit theories, die sich – in Harry 29 Habermas 1992, S. 78. 30 Alexy 2002, S. 121. 31 Luhmann 1993, S. 78 ff. 32 Bereits (ein wenig enger) zur Rechtstheorie als »Grenzpostendisziplin«, »Firewall« und »rechtswissenschaftlichem Virenschutz« für die Eigenrationalität der Rechtswissenschaft, Jestaedt 2006, S. 70 f.

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Frankfurts Definition des Begriffs33 – für ihren Gegenstand ohnehin nicht interessieren und sich am hochtourigen Leerlauf weitgehend sinnbefreiter, dafür umso dunkler raunender Stichwortapparate delektieren. Türhüter werden auch nicht in erster Linie aus theorieästhetischen Gründen zur Einhegung der gerade auch bei den juristischen Nachbarwissenschaften anzutreffenden Schwarmphänomene der akademischen fads and fashions34 gebraucht. Benötigt werden sie jedoch dort, wo die Übergriffe anderer Disziplinen massiv und nachhaltig sind, etwa – als ein Beispiel unter vielen – im Falle der szientistischen Verkürzungen der Hirnforschung. Es ist die Aufgabe des interdisziplinären Türhüters, darauf hinzuweisen, dass und warum die Empiriker der grauen Masse die von ihnen behaupteten normativen Implikationen ihres Forschungsprogramms für die juridischen Konzepte von Zurechnung, Verantwortung und Schuld bei weitem nicht einlösen können. Als zweites Beispiel für die Notwendigkeit theoretischer Rückfragen könnte die allzu fröhliche Wissenschaft dienen, die uns ein revitalisiertes konkretes Ordnungsdenken in der Gestalt eines normativistischen Missverständnisses der Systemtheorie andient.35 Ein drittes finden wir in der normativen ökonomischen Theorie des Rechts36, die sich insbesondere im amerikanischen Kontext zu einem beeindruckenden, hoch differenzierten und zugleich nahezu hegemonialen Ansatz entwickelt hat. To make a long story very short37: Die ökonomische Theorie des Rechts besitzt ein klares normatives Kriterium: das Recht, auch das Vertragsrecht, solle allein der Effizienz der Ressourcenallokation und damit der Wohlfahrtsmaximierung dienen. Die Antwort auf die Frage, warum dieser Ansatz im Wesentlichen keinen Anschluss an das deutsche Schuldvertragsrecht finden kann, liegt auf der grundlegenden Ebene normativer Prinzipien, die erst bei einer philosophischen Reflexion auf das Recht sichtbar werden: Wir haben in mehr als sechzig Jahren der Grundrechtsinterpretation in der Bundesrepublik schrittweise ein Verständnis entwickelt, demzufolge Freiheitsrechte formale Freiheit vermitteln und nicht nur Freiheiten, die durch vorgegebene Zweckbestimmungen inhaltlich beschränkt sind. Dieser Begriff subjektiver Freiheitsrechte ist ein nicht-konsequentialistischer. Eine Privatrechtsordnung, die auf subjektiven Rechten aufbaut, kann mit dem konsequentialistischen genetischen Code des law and economics-approach, der subjektive Rechte prinzipiell nicht als Grenze für eine effektivitätsorientierte Umverteilung ak33 Frankfurt 1988, S. 117 ff.; erweitert als ders. 2005. 34 Sunstein 2001, S. 1251 ff. Zu sozialen Steuerungsmechanismen im Wissenschaftssystem siehe auch Schulze-Fielitz 2013, S. 147–174. 35 Seit Teubner 1989. Siehe Bijan Fateh-Moghadam 2012, S. 393 ff. und Gutmann 2010, S. 194–203. 36 Siehe etwa Polinsky 2010, Kap. 5 and 8; Cooter/Ulen 2012, Kap. 8; Shavell 2004, Kap. 4. 37 Hierzu nunmehr auch Gutmann 2019, Kap. 7 und bereits, zurückhaltender, Eidenmüller 2005.

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zeptiert und die Einzelnen in ihren rechtsförmigen Entscheidungen zu bloßen Treuhändern kollektiver Effizienzgewinne macht, von vorneherein nicht vermittelbar sein. Die ökonomische Analyse des Rechts hat es, wie gerade ihre besten Beiträge belegen, bis heute nicht vermocht, ihr wohlfahrtsmaximierendes Effizienzprinzip auf befriedigende Weise theoretisch mit dem freiheitsfunktionalen, die vertragliche Selbstbindung von Personen als solche respektierenden Vertragskonzept des deutschen Rechts in Beziehung zu setzen. Diese Auseinandersetzung der Rechtswissenschaft mit den ökonomistischen Verkürzungen des telos juridischen Entscheidens erscheint nach alledem als Ausschnitt jener kritischen Bewegung, die einen reichhaltigen, geistes-, kultur- und rechtswissenschaftlich adäquaten Begriff von »Entscheidung« gegen die verengten entscheidungstheoretischen Ansätze der Wirtschaftswissenschaften in Anschlag bringt.38 Selbst wenn man dieser Analyse in ihrer Rigorosität nicht folgen wollte: Worauf es an dieser Stelle ankommt, ist allein, dass schon der Gegenstand dieses Problems nur mit den Mitteln einer philosophisch informierten Normentheorie, nicht aber aus der Perspektive der bloßen Dogmatik erkannt und thematisiert werden kann. Es ist also auch hier die interdisziplinäre Theorie, die an der Tür zum Recht als Liminalitätsbeauftragte walten muss. Rechtswissenschaft als bloße Dogmatik kann dies nicht. Sie operiert auf einer anderen Reflexionsebene. Dies ist die Bedingung ihres Erfolgs, markiert aber auch die Grenze dessen, was sie leisten kann.

3.4 Rechtswissenschaft im Plural Die Dogmatik umschreibt gemeinsam mit jenen theoretischen Ansätzen, die sie zur Lösung ihrer konzeptionellen Probleme benötigt, die interne Perspektive der Rechtswissenschaft, also die Eigenreflexion des Rechts. Rechtswissenschaft besteht somit in der Tat »auch und vor allem in einer rechtshistorisch, rechtstheoretisch, rechtsphilosophisch, ökonomisch und rechtsvergleichend kontextualisierten Dogmatik.«39 Sie besteht aber nicht nur in dieser. Die Rechtswissenschaften (im Plural)40 gehen nicht in der Dogmatik und ihren »Hilfswissenschaften« auf. Sie können und müssen qua Wissenschaft auch Fragen stellen und Probleme konstruieren, die jeden juristischen Anwendungsbezug hinter sich lassen, und gerade als Wissenschaft schulden sie hierfür niemandem Rechtfertigung. Erst hier, nach der Freisetzung aus der Anwendungsorientierung, kann sich 38 Vgl. den Beitrag von Hoffmann-Rehnitz, Pfister, Quante und Rojek in diesem Heft. 39 Lorenz 2013, S. 704ff, S. 708. 40 Zu einem »rechtswissenschaftspluralistischen« Konzept der Jurisprudenz als komplexem »Disziplin-Cluster«, in dem konkurrierende (sub-)disziplinäre Rationalitäten selbständig nebeneinanderstehen, Jestaedt 2008, S. 185 ff., S. 197.

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die spezifische Dynamik von Wissenschaft entfalten, die ihre Probleme nicht invariant halten muss, sondern ihre Ausgangsfragestellungen evolutionär durch neue Problemformulierungen ersetzen kann, die am Anfang noch gar nicht gedacht werden konnten.41 Der Wissenschaftsrat fordert in seinem im November 2012 veröffentlichten Bericht über die »Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland« die »Intensivierung des interdisziplinären wie disziplinären Austausches und eine Öffnung der Rechtswissenschaft in die Universität wie in das Wissenschaftssystem«42. Eine »Dynamisierung der Forschung« in der Rechtswissenschaft, so die Analyse, sei überhaupt nur durch eine Verstärkung der Interdisziplinarität, d. h. vor allem des Austausches mit den geistes- und sozialwissenschaftlichen Nachbarfächern möglich; dies setze zugleich intradisziplinär eine intensivere Befassung mit den Grundlagenfächern voraus.43 Der Wissenschaftsrat betont zurecht, dass sich das genuine Potential der Jurisprudenz als Wissenschaft erst dort realisiert, wo es nicht mehr um das Geschäft der Dogmatik geht, sondern um eine Einordnung des Phänomens »Recht« etwa in makrosoziologische, historische, evolutionstheoretische, politik- und geschichtswissenschaftliche, kultur- und literaturwissenschaftliche (oder gar ästhetische) Zusammenhänge und Perspektiven sowie um die Selbstverortung der Arbeit am Recht innerhalb dieser Horizonte.44 Es besteht kein Mangel an Fragen dieser Art, an denen das Projekt der wissenschaftlichen Selbstaufklärung des Rechts, das über die Perspektive einer breit verstandenen interdisziplinären »Regulierungswissenschaft«45 hinausreicht, Interesse nehmen sollte. Wir sind, wenn wir wissen wollen, was das Recht leistet und anrichtet, wie es funktioniert, woraus es lebt, woher es kommt und wohin es sich bewegt, auf eine Vielzahl von Beobachterperspektiven verwiesen, von denen keine für sich reklamieren kann, die entscheidende zu sein. In dem Umstand, dass die Rechtswissenschaften (im Plural) diese Vielzahl disziplinärer Perspektiven auf den Gegenstand Recht immer schon integriert haben, liegt der zweite Grund für den Befund, dass gerade sie auch in besonderer Weise in der Lage sind, zu interdisziplinärem Reflexionsgewinn beizutragen.

41 So prägnant Stichweh 1979, S. 94. 42 Wissenschaftsrat 2012, S. 7. 43 Ebd.: S. 8. 44 Vgl. Ebd.: S. 29: »Wenn die Rechtswissenschaft geschichtswissenschaftliche, linguistische, philosophische, sozial-, politik- und wirtschaftswissenschaftliche, psychologische, kriminologische und weitere Perspektiven integriert, schöpft sie aus dem Methodenrepertoire der entsprechenden Bezugswissenschaften. Auch dadurch richtet sie unterschiedliche Erkenntnisperspektiven auf ihren Gegenstand und entfaltet so die Vielzahl der Bedeutungsdimensionen des Rechts«. 45 Baer 2017, § 4, Rn. 81.

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4. Voraussetzungen gelingender Interdisziplinarität Die Voraussetzungen gelingender Interdisziplinarität stellen sich für die Rechtswissenschaft zunächst nicht anders dar als für andere Disziplinen. Ein theoretisch kontrollierter Umgang mit Intra- und Interdisziplinarität verlangt zunächst, mit der epistemologisch naiven Vorstellung aufzuräumen, dass Vertreter unterschiedlicher Disziplinen, die den gleichen Punkt im Gegenstandsfeld fixieren, dort auch dasselbe sehen. Wissenschaftliche Perspektiven, Konzepte und Methoden sind gegenstandskonstitutiv. Dies verurteilt alle Versuche, eine Verständigung über die Disziplinengrenzen hinweg auf dem Wege einer bloßen Addition von Ansätzen herzustellen, zum Scheitern und erweist zugleich die Rede von der Interdisziplinarität nicht selten als bloßes akademisches window dressing. Zudem sitzt der »Ethnozentrismus«46 der Disziplinen tief und wird durch die sehr unterschiedlichen Formen der akademischen Sozialisation, mit Hilfe derer sie ihre tribal rules47 dem Nachwuchs vermitteln, ständig reproduziert – ein Phänomen, das sich innerhalb der Rechtswissenschaft heute zunehmend sogar in der provinziellen, methodisch frigiden Abgrenzung und Sprachlosigkeit spiegelt, das viele Vertreter der an den juristischen Fakultäten angesiedelten Rechtsgeschichte, -philosophie, -soziologie und -ökonomie gegenüber ihren jeweiligen innerjuristischen Nachbardisziplinen pflegen. Will man den spezifischen »Mehrwert«48 gelungener Interdisziplinarität realisieren, bedarf es deshalb einiger Konstruktionsleistungen, in denen es darum gehen muss, über Fälle »okkasioneller Interdisziplinarität«49, in denen Disziplinen bloß zufällig (und damit oberflächlich) aus Kontakten mit anderen Disziplinen lernen, hinauszugelangen und solche Zufälle in Strukturen zu transformieren. Um Fragestellungen adressieren zu können, die nur bearbeitet werden können, wenn das Fachwissen mehrerer Disziplinen zusammenkommt, muss man wenigstens zu einer problembezogen arbeitenden »temporären Interdisziplinarität« gelangen.50

46 Campbell 1969, S. 328 ff. 47 Luhmann 1992, S. 456. 48 »Mehrwert durch Interdisziplinarität« gehörte zu den Begutachtungskriterien für Exzellenzcluster in der zweiten Programmphase der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder (Deutsche Forschungsgemeinschaft /Wissenschaftsrat (DFG/WR-Vordruck ExIn303–3/10)). 49 Zur Begrifflichkeit im Folgenden siehe Luhmann 1992, S. 457 ff. 50 Luhmann 1993, S. 458 Fn. 147 (hierzu Anderheiden 2012, S. 34 ff.) weist zurecht darauf hin, dass die Leitidee des Konzepts temporärer Interdisziplinarität ist, Verkrustungen zu vermeiden. Dies war in der Tat eine der Gründungsideen des Zentrums für Interdisziplinäre Forschung an der Universität Bielefeld, das wechselnde und zeitlich begrenzte Projekte fördert, anstatt Dauerinstitute mit bestimmten Aufgaben interdisziplinärer Forschung zu beherbergen. Problembezogene temporäre Interdisziplinarität

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Ein Gelingen von »integrierten«51 interdisziplinären Formen von Wissenschaft, die über die bloße Addition und Gegenüberstellung disziplinärer Blickwinkel (Multidisziplinarität52) hinausgehen, scheint nur dann möglich zu sein, wenn diese (1.) organisiert werden53 und (2.) die beteiligten Disziplinen von gemeinsamen Problemen ausgehen und nicht etwa nur von Themen oder Titeln späterer Sammelbände. Schon hierfür müssen die an diesem Prozess Beteiligten die disziplinären Differenzen einschätzen lernen, also »bis zu einem gewissen Grade gleichsam zweisprachig werden und lernen, den jeweils anderen Blick auf das Phänomen und die jeweils andere Problemauffassung einzunehmen.«54 Es geht hier, mit einem Begriff Carl-Friedrich Gethmanns, um den Erwerb von Interaktionskompetenz.55 Auch wenn dies gelingt, ist jedoch damit zu rechnen, dass die Forschungsgegenstände jeweils im Rahmen der beteiligten disziplinären Traditionen, Erkenntnisinteressen, Methoden, Konzepte und Aufmerksamkeitsheuristiken und damit unterschiedlich konstruiert werden. Deshalb kommt es (3.) darauf an, sowohl bei der Hypothesenbildung in der Konzeptionsphase als auch im Rahmen einer interdisziplinären Synthese, ebendiese Unterschiedlichkeit der theoretischen Konstruktionen selbst nochmals zum Gegenstand der wissenschaftlichen Behandlung werden zu lassen. Jedenfalls gilt, dass Interdisziplinarität nur gelingen kann, wenn man die theoretische Schraube weiter dreht und die disziplinübergreifende Forschung von den Bedingungen ihrer Möglichkeit her denkt und einrichtet. Hierzu gehört nicht zuletzt die Einsicht, dass man sich vom festen Grund der eigenen Disziplin erst lösen kann, wenn man über deren Fundamente sicher verfügt.56 Erfolgreiche Interdisziplinarität beginnt deshalb immer mit einer Rückbesinnung auf robuste Disziplinarität, d. h. mit einer Reflexion auf die je eigene disziplinäre Identität, die für die eigene Disziplin wesentlichen Methoden der Wirklichkeitskonstruktion – einschließlich ihrer liegt als Prinzip auch der Form der Kolleg-Forschergruppe und (teilweise) des Exzellenzclusters zugrunde. 51 Zur Terminologie siehe Klein 2010, S. 15–30; Taekema und van Klink 2012, S. 17 ff., S. 27 f. unterscheiden in ihrem »dynamischen Modell« rechtswissenschaftlicher Interdisziplinarität, nicht kategorial anders vorgehend als der vorliegende Text, »(i) traditional legal research, (ii) legal research that uses insights from other disciplines heuristically as a source of inspiration, (iii) legal research that uses other disciplines as supporting disciplines (iv), multidisciplinary research into law in which two disciplines are on an equal footing [und] interdisciplinary research into law that aims at an integration of disciplines«. Vgl. etwas differenzierter dies. 2011, S. 8 ff. 52 Klein 2010, S. 17. 53 Praktische Tips bieten Taekema/van Klink 2011, S. 23 ff. 54 Quante 2015, S. 182. 55 Vgl. den Beitrag Gethmanns in diesem Heft, sub 5. 56 So mit Nachdruck der Präsident der Freien Universität Berlin, Peter-Andr# Alt, »Mehr Disziplin wagen!«, Süddeutsche Zeitung v. 21. 12. 2010. Siehe auch Anderheiden 2012, S. 40 f.

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Leistungsgrenzen.57 Dies lässt sich, in der Tradition Mertons58, auch in Form einer Liste epistemischer und ethischer Tugenden des Forschers ausbuchstabieren, die für eine gelingende Interdisziplinarität erforderlich sind.59Zu diesen gehört auch ein hinreichendes Maß an theoretischer Risikobereitschaft. Was die Disziplinen verbindet und im besten Fall zum Tanzen bringt, ist nicht ihr nur vermeintlich gemeinsamer Gegenstand, sondern die Konstruktion des theoretischen Zugriffs. Gerade die methodischen und institutionellen Probleme, die der Hiatus zwischen Deskription und Präskription, also der Anschluss des spezifisch normativen Gegenstands der Rechtswissenschaft und seines Konzepts normativen Begründens an andere, nicht normative (sondern beobachtende, beschreibende, verstehende oder messende empirische) Perspektiven aufwirft60, verlangen einen langen Atem und einigen »Willen zur Theorie«61. Für Methodenfragen solcher interdisziplinärer Perspektiven scheint in besonderer Weise zu gelten, was Michel Foucault zur Theoriebildung schlechthin gesagt hat: Sie ist bricolage62, Bastelei, oder genauer: die Suche nach den jeweils passenden Werkzeugen für ein problemorientiertes, synthetisierendes und konstruktives Unternehmen. In der Praxis geht es, um im Bild zu bleiben, vorrangig um die Frage, welche Theoriebausteine man zusammenschrauben kann, und welche nicht. Sodann verlangt Interdisziplinarität spezifische Produktions- und Arbeitsformen. Während im Bereich der Dogmatik der dem typischen Organisationsmodell der deutschen Rechtswissenschaft, dem Lehrstuhl, entsprechende Typus der Einzelautorschaft zentral bleiben wird,63 funktionieren im Bereich der Interdisziplinarität die tendenziell autistischen Produktionsformen des deutschen Rechtsprofessors nicht. Ihnen wird deshalb in zunehmendem Maß die Beteiligung an disziplinären und interdisziplinären Forschungsverbünden an die Seite treten (müssen).

57 Zu letzterem vgl. Czada 2002, S. 31. 58 Zum Ethos der Wissenschaft und des Wissenschaftlers siehe Merton 1985, S. 86 ff. und hierzu Hilgendorf 2012, S. 13 ff., S. 15 ff. 59 Siehe Quante 2015. 60 Vgl. Taekema/Klink 2012, S. 17 ff. 61 Zu den Anforderungen an die »Theoriefähigkeit des juristischen Wissenschaftlers« siehe Helmuth Schulze-Fielitz 2002, S. 35; zur Theorie als Problem der deutschen Rechtswissenschaft ebd., S. 39 sowie Lepsius 2008, S. 1 ff., S. 3 ff., sowie zur Phänomenologie des antitheoretischen Affekts in der Rechtswissenschaft Jestaedt 2006, S. 3 ff. 62 Zur Theorie als tool-box vgl. Michel Foucault, Prisons et asiles dans les mechanismes du pouvoir (entretien avec M. D!Eramo), in: ders., Dits et #crits 1954–1988 par Michel Foucault, Daniel Defert/FranÅois Ewald (Hrsg.), Band II, Paris 1994, 523. Vgl. daneben: A Talent for Bricolage. An Interview with Richard Rorty (January, 1995, Interviewer: Joshua Knobe), The Dualist 2 (1995), 56 ff. 63 Vgl. Wissenschaftsrat 2012, S. 38.

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Das anspruchsvolle Programm einer »Öffnung der Rechtswissenschaft in die Universität wie in das Wissenschaftssystem« stellt vor allem Anforderungen an das wissenschaftliche Personal, die die juristischen Fakultäten bisher nur bedingt bedienen. Das erfolgreiche Alleinstellungsmerkmal der deutschen Rechtswissenschaft, die insgesamt enge Rückbindung ihrer theoretischen Perspektiven an ihren dogmatischen Markenkern, verlangt nach Wissenschaftler/innen, die lege artis in den Stollen der Dogmatik arbeiten, zugleich aber mehr und anderes können als dies und imstande sind, mehrere disziplinäre Perspektiven zusammenzubringen. Die beiden Seiten der geforderten Doppelkompetenz bedürfen indes unterschiedlicher Pflege und Aufmerksamkeit: Während die Ausbildungsund Rekrutierungsregeln der deutschen juristischen Fakultäten weiterhin selbsttätig dafür sorgen werden (und sollen), dass nur solche Kolleg/innen auf Professuren gelangen, die alle dogmatischen Handwerksprüfungen erfolgreich bestanden haben und hinsichtlich ihrer Kompetenz zur grundständigen Lehre keine Zweifel erlauben, gestaltet sich die Gewinnung interdisziplinären Sachverstands weit schwieriger. In systematischer Hinsicht gehören die juristischen Bindestrichfächer (namentlich Rechtsphilosophie, -soziologie, -geschichte und -ökonomik) zu den philosophischen, soziologischen, historischen und wirtschaftswissenschaftlichen Nachbardisziplinen der Jurisprudenz. Es sind deshalb in erster Linie die Standards dieser Disziplinen, die über Qualität und Anschlussfähigkeit der Beiträge aus den juristischen Grundlagenfächern entscheiden. Erst wenn diese Hürde genommen ist, kann sich die Doppelqualifikation der Grundlagenvertreter als fruchtbar (und nicht selten als wissenschaftlicher Wettbewerbsvorteil) erweisen, schadet es doch nicht, bei der philosophischen, soziologischen, historischen, ökonomischen – oder auch gendertheoretischen – Analyse des Rechts zu wissen, über was man eigentlich spricht. Um diese Hürde zu nehmen, stehen die juristischen Grundlagenfächer (namentlich die philosophisch und sozialwissenschaftlich orientierten) heute vor der Aufgabe, einen Professionalisierungsschub zu organisieren. Die einzelnen Bausteine der Theoriebildung in den Grundlagenfächern müssen sich auf dem Stand der Diskussion der Referenzdisziplinen bewähren. Interdisziplinarität, die diesen Namen verdient, bedingt Rechtswissenschaftler/innen, die sich in den Nachbardisziplinen (zumindest – aber besser nicht nur – sektoral) auf der Höhe des Diskurses bewegen. Davon ist die gegenwärtige Praxis, in der von vielen Fakultäten namentlich für die Fächer Rechtsphilosophie und -theorie immer noch (auch) billige Nebenvenien vergeben werden, die kaum durch originäre Beiträge zur Disziplin gerechtfertigt sind, noch ein gutes Stück entfernt. Die künftige Nachwuchsrekrutierung wird deshalb deutliche Boni für nicht nur monodisziplinäre Ausbildungsgänge64 der Kandidat/innen vergeben müssen und eine rigidere Qualitätskontrolle der Leistungen benötigen, die die Bewerber/innen in ihrer »Zusatzdisziplin« vorzuweisen haben. Der Schlüssel liegt in den einschlägigen Berufungsverfahren, in denen die 64 Hierzu Jestaedt 2014, S. 2.

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Beteiligung ausgewiesener Vertreter der Nachbardisziplinen, sei es als externe Mitglieder der Berufungskommissionen oder als Gutachter, zur Selbstverständlichkeit werden sollte. Ohne einen solchen Professionalisierungsschub stünde in der Tat zu befürchten, dass die Vermutung Christoph Möllers!, die juristische Binnenverwaltung der Nachbardisziplinen stelle nur »eine Form der Domestizierung möglicher Irritationen durch andere Disziplinen« dar und organisiere letztlich eine »Abschließungsleistung«65, die den positiven Störfaktor einer state of the art betriebenen Interdisziplinarität von der Rechtswissenschaft gerade fernhalte, eine anhaltende Realität beschreibt.

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Inter- und transdisziplinäre Forschung: Konzept und Anwendung auf die Energiewende Ortwin Renn

Angesichts der notwendigen Transformation in Richtung auf eine nachhaltige Energieversorgung stehen Wissenschaft und Forschung vor neuen Aufgaben: Sie sollen dazu beitragen, Hintergrundwissen bereitzustellen, gewünschte Transformationen zu unterstützen und dabei Hilfestellung zur Lösung der mit den Transformationen verbundenen Konflikten und Entwicklungsbrüchen zu geben. Begriffe wie transformative transdisziplinäre oder co-kreative Forschung geben die Stoßrichtung vor, die mir diesen neuen Rollenverständnissen von Wissenschaft verbunden sind. Ausgehend von dieser Debatte analysiert dieser Beitrag ein Konzept für eine transdisziplinäre Vorgehensweise, die klassische Ansätze im Sinne von neugiergetriebenen Forschung mit zielgerichteten und katalytischen Forschungskonzepten zu einem integrierten Prozess ko-generativer Wissenserzeugung und Handlungsorientierung verbindet. In light of the required transformation towards a sustainable energy system, scientific research faces new challenges and targets. Scientific studies are supposed to provide background knowledge, to facilitate the desired energy transition and to offer assistance for resolving the conflicts and tensions that arise in the course of changing energy supply and consumption. Concepts such as transformative, transdisciplinary or co-creative research elucidate the direction in which scientific research finds it new role(s). Based on the discussion of these concepts, the contribution in this volume analyzes a new concept for a transdisciplinary scientific approach combining and integrating classic curiosity driven research with goal oriented (advocacy) knowledge and catalytic, process-oriented expertise. This integration leads to process of co-generation aimed at merging different knowledge pools and providing orientation for collective action.

1. Einleitung Die klassische Arbeitsteilung von Wahrheitsproduktion durch die Wissenschaft und von Umsetzung dieser Wahrheiten in kollektiv verbindliche Entscheidungen durch die Politik ist ein allzu grobes und auch ungenaues Modell, um als Richtschnur für das Zusammenwirken von Wissenschaft und Politik zu dienen1. Zudem 1 Die neuen Anforderungen an die Wissenschaft sind grundlegend beschrieben in: Nowotny/Scott/Gibbons 2001. Zu der Frage nach den Herausforderungen der Wissenschaft in der heutigen Zeit siehe auch die Denkschrift des Wissenschaftsrates: Deutscher Wissenschaftsrat 2015: Zum wissenschaftspolitischen Diskurs über große gesellschaft-

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beobachten Wissenschaftsanalytiker einen Glaubwürdigkeitsverlust nicht nur bei den politischen und wirtschaftlichen Institutionen, sondern auch bei wissenschaftlichen Einrichtungen2. Dieser Verlust an Glaubwürdigkeit und Vertrauen ist weniger dramatisch als in anderen gesellschaftlichen Bereichen, aber dennoch empirisch messbar. Unter diesen Umständen verblasst zunehmend die erwünschte Integrationskraft von wissenschaftlichen Untersuchungen. So schreibt die Wissenschaftstheoretikerin Helga Nowotny3 : Als umso schwerwiegender ist daher die Erschütterung des gegenseitigen Verhältnisses von Wissenschaft und Gesellschaft zu bewerten, die durch die Abnahme der Autorität der Wissenschaft als kulturelle Ressourcen entsteht. Auch wenn in den westlich liberalen Demokratien allgemein ein Rückgang an Autorität und Glaubwürdigkeit ihrer Institutionen festzustellen ist, so trifft dies die Wissenschaft dennoch in ihrem zentralen Nerv. Wissenschaft ist die Institution, die sich in modernen Gesellschaften ein bisher unangefochtenes Monopol in der Definition der Wirklichkeit erobern konnte. Von ihr stammen die letztlich gültigen Erklärungen. Wenn die Wissenschaft in der Öffentlichkeit zunehmend in Verbindung mit ökonomischen und anderen Interessen wahrgenommen wird, wenn die Vorstellung, dass Wissenschaftler aus Motiven der Gemeinnützigkeit handeln, Gefahr läuft, in der Öffentlichkeit für obsolet gehalten zu werden, und wenn Wissenschaft als eine Lobby wie andere auch erscheint, dann brechen wichtige Voraussetzungen für ihre Besonderheit zusammen.

In einer Zeit, in der das Vertrauen in die Wissenschaft abnimmt und alternative Wahrheiten an Resonanz in der Gesellschaft gewinnen, ist es nicht leicht, den normativ angemessenen und der heutigen Situation angepassten Standort der Wissenschaft für die Politikberatung ausfindig zu machen. Wie soll sich Wissenschaft in einer postfaktischen Gesellschaft positionieren? Der vorliegende Aufsatz geht dieser Frage nach. Im ersten Teil des Aufsatzes werden drei Konzepte einer wissenschaftsgeleiteten Forschung beschrieben. Im liche Herausforderungen. Positionspapier. www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/ 4594-15.pdf (abgerufen am 2. 4. 2018). 2 Beim Wissenschaftsbarometer 2016 von Wissenschaft im Dialog äußerte sich eine repräsentative Auswahl an Bundesbürgerinnen und Bürger zu unterschiedlichen Wissenschaftsfeldern zum Teil recht skeptisch über die Vertrauens- und Glaubwürdigkeit der Wissenschaften: »So werden die Aussagen von Wissenschaftlern sehr unterschiedlich bewertet – nur 17 Prozent der Befragten vertrauen im Bereich Grüne Gentechnik in die Wissenschaft, im Bereich Erneuerbare Energien sind es über 50 Prozent der Befragten. Insgesamt wird (aber) der Einfluss der Wissenschaft auf die Politik als zu gering erachtet, nur 18 Prozent finden diesen genau richtig«. Es gibt also ein etwas ambivalentes Bild zum Vertrauen in wissenschaftliche Leistungen und Institutionen. Zweifellos sinkt aber die Glaubwürdigkeit im Zeitablauf. Siehe: https://www.wissenschaft-im-dialog.de/projekte/ wissenschaftsbarometer/wissenschaftsbarometer-2016/ (abgerufen am 2. 4. 2018). 3 Nowotny 1999, S. 60–61.

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zweiten Teil geht es dann um die Integration dieser drei Konzepte in ein erweitertes Verständnis von Transdisziplinarität. Zum Schluss werden einige praktische Schlussfolgerungen für die Organisation und Strukturierung von Forschungsverbünden gezogen, die sich der Inter- und Transdisziplinarität verpflichtet fühlen. In allen drei Teilen werden die konzeptionellen Überlegungen mit Beispielen und Anwendungen aus der Energiepolitik unterfüttert.

2. Drei Konzepte von Forschung zur Politikberatung 2.1 Das klassische Konzept Um den Standort der wissenschaftlichen Forschung für praktische Politik zu verorten, scheint es mir wichtig, drei grundlegende Konzepte von wissenschaftlicher Forschung zu differenzieren4. Das erste Konzept umfasst das klassische Verständnis von Forschung (classic science)5. Ziel der wissenschaftlichen Tätigkeiten ist es, valide Erkenntnisse über noch unbekannte Zusammenhänge zwischen Phänomenen oder Entwicklungen zu finden. Der Antrieb für diese Tätigkeiten ist Neugier, der Anspruch besteht darin, möglichst wertfrei kausale oder funktionale Zusammenhänge mithilfe bewährter Methoden aufzudecken und sie in ein in sich konsistentes Gebäude von schon vorliegenden Einsichten einzugliedern. Entscheidungsträger erhalten damit das notwendige Hintergrundwis4 Die folgende Dreiteilung ist so nicht in der Literatur zu finden. In meinem Buch »Zeit der Verunsicherung« (Renn 2017) habe ich die drei Konzepte bereits in populärer Form beschrieben. Häufig wird bei den neuen Wissenschaftsformen, die jenseits des klassischen Modells angesiedelt sind, zwischen Transformationsforschung und transformativer Forschung unterschieden. Transformationsforschung ist in der hier vorgestellten Terminologie am ehesten dem klassischen Wissenschaftskonzept zuzurechnen (allgemeine und systematische Erkenntnisse über Transformationsprozesse) und transformative Forschung dem zielgebundenen Konzept (transformative Zielerreichung zu unterstützen). Gerade zu dem Thema transformative Forschung gab es einen heftigen Argumentationsaustausch zwischen P. Strohschneider von der Max-Planck-Gesellschaft, A. Grunwald vom Forschungszentrum Karlsruhe und U. Schneidewind vom Wuppertal Institut. Hauptgegenstand der Kontroverse war die Frage, inwieweit eine Wissenschaft, die bewusst transformative Prozesse wie die Energiewende unterstützt, noch den wissenschaftlichen Kriterien der Unabhängigkeit, methodischen Zuverlässigkeit und inhaltlichen Gültigkeit entsprechen kann. Wer diese Kontroverse nachvollziehen will, sei auf die drei Artikel hier verwiesen: Strohschneider 2014, Grunwald 2015, Schneidewind 2015. Eine weitere Unterscheidung im Rahmen transdisziplinärer Forschung betrifft die Dreiteilung in System-, Orientierungs- und Transformationswissen. Hierauf wird in den folgenden Abschnitten noch ausführlicher eingegangen. 5 Zum klassischen Verständnis der Wissenschaft siehe das Schlusskapitel in: Wiltsche 2013, S. 185 ff.

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sen, um sich in einer Sachfrage zu informieren und den Stand des systematischen Wissens kennen zu lernen. Vor allem in den Naturwissenschaften geht es darum, die Prozesse und Mechanismen kausal oder funktional so analysieren zu können, dass Auslöser und deren Folgen unter definierten Randbedingungen bestimmt werden können. Analog dazu versuchen Sozialwissenschaftler, Wechselwirkungen zwischen Verhaltensweisen von Menschen, Organisationen und Gesellschaften besser zu verstehen und auch hier funktionale Beziehungen zu identifizieren. Bei den Geisteswissenschaften geht es dagegen eher um Deutungen im Rahmen von Sinnkontexten von Geschichtlichkeit und Kultur: Aber auch in diesen Wissenschaften gibt es einen Kanon an anerkannten Methoden, um Erkenntnisse und Einsichten methodisch stringent abzuleiten6. Die Ergebnisse der klassischen Forschung vermitteln Einblicke in kausale oder funktionale Abläufe. Deren Kenntnis ist natürlich für die Umsetzung in Politik und Wirtschaft relevant. Wenn ich beispielsweise weiß, welche Anreize bei Verbraucherinnen und Verbrauchern zu größerer Energieeffizienz oder zu mehr Energieeinsparung führen, kann ich bewusst diese Anreize als politische Maßnahmen einführen, um das Ziel der Energiewende besser erreichen zu können. Wenn kausales oder funktionales Wissen praktische Relevanz haben soll, geht es in der Regel über den disziplinären Rahmen einer Wissenschaftsdisziplin heraus. Das Energiesystem ist nicht allein auf der Basis physikalischer, ökonomischer psychologischer oder rechtlicher Erkenntnisse und Zusammenhänge zu verstehen. Vielmehr bedarf es eines integrativen Ansatzes, der die verschiedenen Aspekte des zu verstehenden Phänomens gleichzeitig beleuchtet und vor allem in seine Wechselwirkungen erfasst. Dafür hat sich in der Fachliteratur der Begriff des Systemwissens eingebürgert7. Damit ist ein Wissen gemeint, das die verschiedenen Facetten eines Phänomens in ihrem systemischen Zusammenwirken beschreibt, analysiert und in seinen ganzheitlichen Wechselbeziehungen versteht8. Beim Energiesystem besteht dieser ganzheitliche Zusammenhang in der Wechselwirkung zwischen technischen Neuerungen, den betrieblichen Organisationsformen (wie Unternehmen, Genossenschaft, Prosumern), den staatlichen Regulierungen und den individuellen und institutionellen Verhaltensweisen9. Was im Energiesystem abläuft, ergibt sich aus dem Zusammenwirken dieser vier Einflussgrößen. Von Seiten der wissenschaftlichen Disziplinen sind die Natur-, 6 Einen Überblick über die verschiedenen Perspektiven und Ansätze vermittelt: Balzer 2016. 7 Zum Verhältnis von System-, Orientierungs- und Transformationswissen siehe grundlegend: Jahn 2013. In Bezug auf Energiesysteme siehe: Schippl/Grunwald/Renn 2017, S. 9–34. 8 Nähere Ausführungen dazu in unserem Beitrag: Nanz/Renn/Lawrence 2017, S. 293–296. 9 Renn 2015, S. 9.

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Ingenieur-, Politik-, Rechts- und Verhaltenswissenschaften gefragt, aber nicht als Einzelwissenschaften, um additiv Erkenntnisse beizusteuern, sondern in einem interdisziplinären Austausch, um gerade diese Wechselwirkungen gemeinsam zu thematisieren. Dies ist leichter gefordert als getan: jeder dieser Disziplinen hat ihre eigene Sprache, Methodik und häufig auch Weltsicht. Interdisziplinarität kann nur dann gelingen, wenn sich die Wissenschaften entweder auf eine Leitdisziplin einigt, unter deren semantisches Dach sich die anderen einrichten müssen. Oder man muss vorab einen metadisziplinären Rahmen festhalten, der für alle Erkenntnisse, Vorgehensweisen und Interpretation der einzelnen Wissenschaften einen adäquaten Bezugsrahmen bietet10. Das könnte etwa das Konzept der Nachhaltigkeitswissenschaft (sustainabiliy science) oder stärker methodisch definierte Ansätze wie Technikfolgenabschätzung oder Impact Assessment sein. Interdisziplinarität steht nicht im Gegensatz zum klassischen Wissenschaftsverständnis: nach wie vor gelten die Regeln für Gültigkeit, Zuverlässigkeit und Relevanz, die jede Einzeldisziplin auszeichnen. Der für das klassische Wissenschaftsverständnis so typische neugiergetriebene Ansatz ist bei der interdisziplinären Forschung sogar noch stärker ausgeprägt, weil man in der Tat mehr Neuland zu beackern hat als in der meist besser überschaubaren disziplinären Landschaft. Zudem sind disziplinäre Erkenntnisse oft die Grundvoraussetzung dafür, dass man interdisziplinäre Zusammenhänge entdecken und verstehen kann. Zweifellos gibt es beim klassischen Verständnis von Wissenschaft eine Reihe von Problemen: Ein wesentliches Problem besteht darin, dass bei komplexen und stochastisch wirkenden Wechselbeziehungen ein eindeutig kausales und nicht einmal funktionales Verständnis der Zusammenhänge wissenschaftlich zugänglich ist11. Zudem kommt noch, dass selbst die Kenntnis über funktionale Zusammenhänge nur in wenigen Fällen eine direkte Umsetzung in politisches Handeln erlaubt. So mag ich vielleicht die besonders wirksamen Anreize für energiesparendes Verhalten durch Experimente im Labor ausfindig machen. Bei der Übertragung auf den politischen Alltag können diese Anreize möglicherweise gar nicht greifen, weil die Rahmenbedingungen mit den experimentellen Kontextbedingungen nicht übereinstimmen oder weil es andere politische Bestrebungen gibt, die all die gewählten Anreize in ihrer Wirkung abschwächen. Schließlich sind in einer konkreten politischen Situation immer viele Akteure gleichzeitig tätig, deren Wechselwirkung ich in der Regel gar nicht durch wissenschaftliche Methoden hinreichend genau beschreiben kann12. 10 Vgl. Rehfeldt 2008. 11 Hier sind vor allem die neuen Erkenntnisse aus der Erforschung von Komplexität und Dynamik als Beleg aufzuführen. Siehe für viele: Spiegelhalter/Riesch 2011. 12 Siehe dazu die Kritik an der klassischen Wissenschaft und die ausführliche Begründung für eine neue Form der transformativen Wissenschaft in: Schneidewind/SingerBrodowski 2013.

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2.2 Das zielgebundene Konzept Um das Manko der fehlenden politischen Umsetzbarkeit zu überwinden, gibt es ein zweites Konzept von wissenschaftlicher Forschung. das sich mit dem Begriff der zielgebundenen Forschung (advocacy oder instrumental science) am besten beschreiben lässt13. Nach diesem Konzept geben Politik oder andere Gestalter der gesellschaftlichen Wirklichkeit (wie Wirtschaft oder zivilgesellschaftliche Gruppierungen) der Wissenschaft entweder Ziele vor, die zu bestimmten Zeitpunkten erreicht sein sollen, oder benennen Probleme, die mit Hilfe der Forschung im Sinne eines gemeinsamen Verständnisses, was wünschenswert ist, gelöst werden sollen. Im ersten Falle geben gesellschaftliche Gruppen Zielgrößen vor. Das können zum Beispiel Ziele der Energiewende sein, wie der 80prozentige Ersatz von fossilen durch erneuerbare Energieträger bis zum Jahre 2050, oder gesundheitspolitische Ziele, wie die Ausmerzung von Tuberkulose weltweit bis zum Jahre 2030. Im zweiten Falle geht es um Zustände, die als »problematisch« von bestimmten Gruppen oder auch von der Gesellschaft als Ganzes angesehen werden, die in Richtung eines wünschenswerten Zustandes, wie etwa mehr Nachhaltigkeit, verändert werden sollen. Was wünschenswert ist, wird vorab normativ festgelegt. Das kann in vielen Fällen auf einem impliziten Konsens der Gesellschaft beruhen (mehr Klimaschutz ist besser als weniger) oder im Rahmen eines politischen Diskurses unter Einbindung von ethischer Expertise ausgehandelt worden sein. Niemand wird zum Beispiel etwas dagegen haben, wenn Wissenschaftsteams Vorsorgestrategien entwerfen sollen, um bestimmten Krankheiten, wie Krebs vorzubeugen. Häufig sind es aber auch partielle, interessengebundene Ziele oder Problemsichten, für die wissenschaftliche Expertisen gefragt sind. So können etwa Umweltschutzgruppen oder Wirtschaftsverbände Gutachten in Auftrag geben, die ihre Sicht der behandelten Probleme aufnehmen und Strategien ausarbeiten, die ihren Zielen dienlich sind.14 13 Im Rahmen laufender Transformationsprozesse ist die zielgerichtete Forschung mit der transformativen Forschung weitgehend identisch. Transformative Forschung will den Transformationsprozess aktiv begleiten und unterstützen. Zum Thema advocacy science liegen vor allem Konzepte aus der Ökologie und den Umweltwissenschaften vor. Siehe: Nelson/Vucetich 2009, oder: Meyer/Frumhoff/Hamburg/de la Rosa 2010. 14 Dies wird im klassischen Verständnis oft als problematisch angesehen, wenn sich Wissenschaftler in den Dienst einer Interessen-, Wert- oder Weltanschauungsgruppe stellen. Wenn dies die beteiligten Wissenschaftler aber transparent machen und nach wissenschaftlich belegbaren und nachweislich gangbaren Wegen zur Umsetzung der mit den Interessen verbundenen Zielen suchen, ist das nicht von vornherein problematisch oder sogar verwerflich. Natürlich muss jeder Wissenschaftler und jede Wissenschaftlerin nach eigenem moralischen Urteil entscheiden, ob er oder sie sich vor einem Karren einer Interessengruppe spannen lassen will. Aber Strategien für die Umsetzung von Zielen,

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Unabhängig vom Auftraggeber und deren Interessen oder Anliegen ist es das gemeinsame Merkmal der zielgebundenen Forschung, Optionen oder Lösungsvorschläge für Auftraggeber aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft bereitzustellen, die nach besten Wissen vorgegebene Ziele im vorgegebenen Zeitrahmen erfüllen oder bestimmte Probleme sach- und wertgerecht lösen helfen. Im Idealfall werden nicht nur die verschiedenen Optionen erforscht, sondern auch deren mögliche Nebenwirkungen, um Zielkonflikte für die Auftraggeber aufzuzeigen und mögliche Ausgleichsmaßnahmen bei unvermeidbaren Nebenwirkungen zu entwerfen. Die Wissenschaft ist hier also nicht mehr von Neugier getrieben, sondern soll strategisches oder instrumentelles Wissen bereitstellen, das den Entscheidungsträgern hilft, vorgegebene Ziele möglichst effektiv und effizient zu erreichen15. In der Literatur wird diese zweite Form häufig unter der Rubrik »Orientierungswissen« gefasst16. Dies trifft aber nur auf einen Teil der zielgebundenen Wissenschaft zu: In der Tat ist zunächst Orientierung notwendig, um die Ziele, die angestrebt werden sollen, auch moralisch zu rechtfertigen und (demokratisch) zu legitimieren. Dann aber besteht die wesentliche Aufgabe der Forschungsteams darin, Strategien der Zielerreichung zu entwerfen und deren Wirkungen und Nebenwirkungen abzuschätzen. Das erfordert sowohl analytische wie normative Expertise: analytische Sachkenntnis, um die Wirkungen und Nebenwirkungen zu erfassen, normative Urteilskraft, um die dabei auftretenden Zielkonflikte durch (für die Gesellschaft akzeptable) Abwägungen (trade-offs) aufzulösen oder zumindest konstruktiv anzugehen. Im Bereich des Energiesystems geht es nach diesem Wissenschaftsverständnis um Politikoptionen, die nach bestem wissenschaftlichen Wissen ein vorher festgelegtes Ziel erreichen helfen. Beispielsweise besteht das politisch vereinbarte Ziel in Deutschland darin, bis zum Jahre 2050 80 % der Primärenergie durch erneuerbare Energiequellen zu decken. Aufgabe der Wissenschaft ist es in diesem Falle, Szenarien zu konstruieren, die dieses Ziel zu erreichen versprechen. Gleichzeitig müssen die damit verbundenen Nebenwirkungen, etwa auf Kosten, Versorgungssicherheit oder soziale Akzeptanz untersucht werden. Je nachdem wie diese Analyse der Nebenwirkungen ausfällt, können Wissenschaftler auch

auch von partiellen Zielen zu forschen, ist nicht nur Gang und Gäbe in den Wissenschaften, es ist auch ethisch legitim, sofern alle Zusammenhänge offengelegt werden, die Zielsetzungen nicht von vornherein moralisch fragwürdig oder zweifelhaft sind und nach besten wissenschaftlichen Grundsätzen und Regeln gearbeitet wurde. Siehe hierzu auch: Lenk/Maring 2008. 15 Siehe dazu: Cristi/Horton/Peterson/Banerjee/Peterson 2016. 16 Orientierungswissen wird hier verstanden als ein Wissen, das Menschen dazu befähigt, rational Ziele zu formulieren als auch Strategien und Handlungsoptionen nach ihrer moralischen Qualität zu reflektieren. Siehe dazu ausführlich: Beckmann 2010.

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einen neuen Diskurs über die Ziele auslösen: vielleicht war das Ziel zu ehrgeizig oder auch nicht ehrgeizig genug. Ähnlich wie das klassische Konzept hat auch die zielgebundenen Forschung ihre Tücken. Das Problem besteht darin, dass, wie der Name schon sagt, man in einem vorgegebenen Korsett der Zielsetzung eingebunden ist. Möglicherweise gibt es ja andere Zielvorstellungen, die auf übergeordneter Ebene die mit den Zielen verbundenen Intentionen besser umsetzen könnten. Vielleicht gibt es auch andere Varianten, die mit weniger Nebenwirkungen, die ursprünglich anvisierten Zwecke genau so effektiv (oder noch effektiver) erreichen können. Man denke im Klimaschutz etwa an negative Emissionen oder an einschneidende Änderungen des Lebensstils. Man könnte sich auch vorstellen, dass sich eine klimaverträgliche und umweltfreundliche Energieversorgung mit einem geringeren Prozentsatz als 80 % erneuerbare Energie verwirklichen ließe. Ebenso ist es vorstellbar, dass man mit den entsprechenden Strategien auf wesentlich mehr als 80 Prozent Anteil erneuerbarer Energie bis 2050 kommen kann. Ziele sind ja nicht in Stein gehauen, auch sie müssen im gesellschaftlichen Diskurs angepasst und immer wieder neu reflektiert werden. Darüber hinaus besteht bei der zielgebundenen Variante immer die Gefahr, dass im Konflikt zwischen der Zielerreichung und der wissenschaftlichen Forschung die Loyalität zu den Zielen mehr Gewicht ausübt als die Loyalität zu den methodischen Regeln der Erkenntnisfindung in den jeweiligen Wissenschaften17. Diese Gefahr ist umso mehr gegeben, je stärker das Thema selbst eine interdisziplinäre Herangehensweise erfordert und je mehr es schon aus wissenschaftsinterner Sicht mit großen Unsicherheiten und Mehrdeutigkeiten verbunden ist. Dazu kommt noch, dass zielgebundene Forschung häufig von den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler durchgeführt werden, die selber diese Ziele teilen. Und dann kommt die in der Psychologie so bekannte kognitive Dissonanz ins Spiel, vor der auch gut gebildete Fachleute nicht gefeit sind18. Je mehr ich mich mit einem Ziel oder eine Sichtweise identifizieren, desto eher werte ich Gegenargumente oder Evidenz, die an der Richtigkeit des Ziel zweifeln lassen, ab. Auch beim besten Willen besteht immer die Gefahr, dass die jeweiligen Forschungsteams die für die Zielerfüllung positiven Signale und Ergebnisse aus der wissenschaftlichen Forschung als wichtige Erkenntnisse herausgreifen und die negativen oder ambivalenten Signale geflissentlich übersehen oder in ihrer Bedeutung herunterspielen.

17 Diese Kritik vertritt etwa: Nielsen 2001. 18 Diese Theorie gehört zu den wirkmächtigsten in der Sozialpsychologie. Sie geht auf den Psychologen Leon Festinger zurück: Festinger 1957. Vgl. auch: Beckmann 1984. In Bezug auf Wissenschaft siehe: McIntyre 2017, S. 36 ff.

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2.3 Das katalytische Konzept Die letzte und dritte Variante wissenschaftlicher Forschung habe ich mit dem Konzept der katalytischen Funktion (catalytic science) belegt19. Der Begriff der Katalyse ist in den Naturwissenschaften, vor allem in der Chemie, geläufig, um den Einfluss eines Stoffes, des sog. Katalysators, auf die Reaktionsgeschwindigkeit (positiv oder negativ) eines chemischen Reaktionsprozesses zu beschreiben, ohne dabei selbst in das Reaktionsergebnis einzugehen. Oder wie es der Nobelpreisträger Wilhelm Oswald es ausdrückte: »Ein Katalysator ist eine Substanz, die die Geschwindigkeit einer chemischen Reaktion verändert, ohne selbst in den Produkten zu erscheinen«20. Der Katalysator verbraucht sich also in Prozess der Katalyse nicht. Zum Beispiel: Eine Gruppe von Katalysatoren aus verschiedenen Metalloxiden beschleunigen die Oxidation von Kohlenstoffmonoxid zu Kohlenstoffdioxid bei Raumtemperatur21. Übertragen auf das katalytische Forschungskonzept übernimmt das Wissenschaftsteam die Rolle des Katalysators. Seine Aufgabe besteht darin, systematisch das für eine Problemlösung notwendige Wissen aus der Wissenschaft, aber auch aus anderen Wissensquellen zu sammeln, neu zu ordnen und zum Zweck der gegenseitigen Verständigung aufzubereiten22. Die systematisch zusammengetragenen Wissenselemente werden nach diesem Konzept in eine, für alle Teilnehmer verständliche und nachvollziehbare Form überführt, so dass ein sachgerechter und den pluralen Werten angemessener Diskurs geführt werden kann. In diesem Diskurs treffen die unterschiedlichen Wissensträger mit den Wissensanwendern zusammen und beraten die Ausgangssituation, reflektieren gemeinsam die unterschiedlichen Problemsichten (Frames) und entwickeln sachgerechte und für die Gesamtgesellschaft wertangemessene Lösungsoptionen.

19 Den Vorschlag eines katalytischen Wissenschaftsverständnisses habe ich erstmals 2009 in einem längeren Beitrag vorgeschlagen. Siehe: Renn 2009. Ansonsten findet sich der Begriff nur in angewandten Sozialwissenschaften, etwa zum Thema Kommunikation, Diskurs oder soziale Bewegungen. Ottmar Edenhofer und Martin Korwarsch haben einen wichtigen Aspekt des katalytischen Konzeptes, nämlich die Aufbereitung des Wissens für die Politik- und Gesellschaftsberatung, als kartografische Funktion der Wissenschaft bezeichnet und dazu viele Vorschläge der Implementierung ausgearbeitet. Allerdings deckt dieser Begriff nicht das Design kommunikativer Aushandlungsprozesse von Wissen und Handlungsorientierung ab, wie ich es zentral für die katalytische Funktion ansehe. Siehe: Edenhofer/Kowarsch 2015. Der Begriff der Katalyse selbst wird eher im Zusammenhang von Wissenschaftlern als Katalysatoren von sozialem Wandel (change agents) verwandt. Siehe etwa: Cherns/Jenkins/Sinclair 2001, S. 28. 20 Zitiert nach: BASF 1994, S. 8. 21 http://www.chemie.de/lexikon/Katalysator.html (abgerufen am 13. 8. 2017). 22 Siehe Nanz/Renn/Lawrence 2017, S. 37.

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Das katalytische Wissenschaftsteam wirkt dann als unparteiischer, aber in der Sache kompetenter Architekt und Designer eines Diskurses mit allen den Parteien, die entweder eigenes Wissen zum behandelten Problem beisteuern können oder aber dieses Wissen als Nutzer für kollektiv wirksame Zwecke einsetzen wollen. Dem Katalysator kommt dabei eine neutrale, kommunikationsgestaltende Funktion zu. Im Idealfall kommt man mithilfe des Katalysators zu einer besseren, möglicherweise innovativen Lösung, die von allen Wissensträgern als kompatibel mit ihren Einsichten verstanden wird und die von den politischen Entscheidungsträgern unter dem Gesichtspunkt der Wünschbarkeit als besonders attraktiv beurteilt wird23. In der praktischen Umsetzung katalytischer Wissensbildungsprozesse kommt es selten zu der einen überragenden Lösung. Vielmehr können solche Prozesse eine ganze Palette von Handlungsoptionen mit einem optionsspezifischen Profil an erwünschten und unerwünschten Wirkungen entwerfen, die dann im weiteren politischen Prozess bewertet werden können. Anstelle eines Konsenses über die bestmögliche Handlungsoption steht dann der Konsens über den Dissens, also eine je nach Problemsicht und Argumentationskette differenzierte Palette von funktionsäquivalenten Lösungsoptionen24. So können etwa Optionen der Energiewende, die vorrangig die Versorgungssicherheit betonen, andere Maßnahmen beinhalten als Optionen, die besonders auf Klimaschutz und Verhaltensanpassungen Wert legen. Es ist dann die Frage nach politischen Präferenzen, welche der Optionen man konkret umsetzen will. Hat man mehrere in sich optimierte Handlungsoptionen, spielen deliberative Beteiligungsformen eine zentrale Rolle25. Denn ein katalytisches Forschungskonzept reiht sich nahtlos in ein deliberatives Entscheidungsmodell ein: Die Wissenschaft versucht im Vorfeld, alle relevanten Wissenselemente gemeinsam mit den Wissensträgern zu sammeln und auf das zur Entscheidung stehende Problem anzuwenden. Der deliberatve Diskurs entwickelt dann gemeinsam mit den betroffenen Gruppierungen die verschiedenen Handlungsoptionen, vergleicht deren Wirkungen und Nebenwirkungen in einem Abwägungsprozess und 23 In diesem Aufsatz verwende ich den Begriff des Diskurses im Sinne der Theorie des kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas. Es geht um einen Austausch von Argumenten (Sprechakten), bei dem nicht der Status des Sprechenden sondern die mit jeder Aussage verbundenen Geltungsansprüche zum Maßstab kollektiver Einigung herangezogen werden. Ziel ist ein verständigungsorientiertes Handeln, durch das alle Akteure ihre Geltungsansprüche einbringen und gemeinsam einlösen können. Dazu grundlegend: Habermas 1987, S. 44–71, sowie 114–151. Einen gute Zusammenfassung der Theorie des kommunikativen Handelns in Bezug auf Beteiligung und Partizipation bietet: Schweizer 2008, S. 58–74 sowie S. 206–210; vgl. auch unsere Interpretation in: Renn/Schweizer/Dreyer/Klinke 2007. 24 Giegel 1992, S. 7–17. 25 Siehe Chambers 2003. Sowie: Warren 2002, S. 173–202.

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formuliert daraus Empfehlungen, die bewusst die Zielkonflikte aufzeigen und exemplarisch behandeln26. Der letztendlich bindende Beschluss für die Umsetzung einer Handlungsoption wird abschließend von den dazu legal vorgesehenen politischen Gremien ausgeführt. Die besondere Kompetenz der katalytischen Forschung besteht weniger in der Erforschung der Sachfragen, die mit den zu behandelnden Problemen verbunden sind, als in der Erforschung und Entwicklung von Prozesswissen. Dieses Wissen bezieht sich zunächst auf die Erforschung und Erprobung erfolgversprechender institutioneller Arrangements, die einen verständigungsorientierten Diskurs ermöglichen27. Des Weiteren umfasst dieses Wissen die kommunikativen Methoden und Praktiken, die wissenschaftliches Wissen systematisch für eine gelingende Verständigung zwischen Wissenschaft und gesellschaftlichen Gruppen aufbereiten und die eine Ko-Kreation von Wissen im deliberativen Diskurs unterstützen28. Forschung ist hier nicht wie beim klassischen Konzept durch Neugier getrieben oder wie das zielgebundene Konzept auf eine instrumentelle Hilfestellung für politisch wirksame Maßnahmenpakete ausgerichtet. Vielmehr dient sie im katalytischen Konzept als Designerin für die Zusammenführung unterschiedlicher Wissensbestände und der Genese von Lösungsoptionen zur Bewältigung gemeinsam definierter Problemstellungen. Aus diesem Selbstverständnis heraus beschäftigt sich der katalytische Forschungsansatz vor allem mit den institutionellen Randbedingungen, den geeigneten Formaten und den erfolgversprechenden Moderationsformen für wissenschaftlich gehaltvolle und politisch wirksame Diskurse in der Gesellschaft. Wie die beiden anderen Konzepte, weist auch das Konzept der katalytischen Forschung eine Reihe von Problemen und Defiziten auf. Zunächst einmal sammelt und ordnet es nur das Sachwissen, ohne dazu selbst ein Beitrag zu leisten. 26 Nullmeier/Dietz 2011, S. 307–329. 27 Auch beim Begriff der Verständigungsorientierung beziehe ich mich auf Habermas: »…diejenige Form von sozialer Interaktion, in der die Handlungspläne verschiedener Aktoren durch den Austausch von kommunikativen Akten, und zwar durch eine verständigungsorientierte Benutzung der Sprache (oder entsprechender extraverbaler Äußerungen) koordiniert werden. Soweit die Kommunikation der Verständigung (und nicht der wechselseitigen Beeinflussung) dient, kann sie für Interaktion die Rolle eines Mechanismus der Handlungskoordinierung übernehmen und damit kommunikatives Handeln ermöglichen«. Aus: Habermas 1984, S. 499. 28 Das Wort »Ko-Kreation des Wissens« beruht auf der Vorstellung, dass zur Lösung praktischer Probleme neben dem systematischen Wissen der Wissenschaft auch das Erfahrungswissen von Praktikern und das lokale Wissen von betroffenen Bürgerinnen und Bürger bedeutsam ist. Dies soll nach diesem Konzept in einem kreativen Kommunikationsprozess geschehen, in dem die Wissensgrundlagen offen diskutiert, die Interessen und Werte offengelegt und die gemeinsamen Zielvorstellungen herausgearbeitet werden. Siehe dazu: Apostolakis/Pickett 1998. Und: Van De Ven/Johnson 2006; Palgan/ McCormick 2018.

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Katalytische Forschung ist also auf zumindest einer der beiden anderen Konzepte (klassisch oder zielgebunden) angewiesen, um entsprechende Sachkenntnis in den Prozess einzubringen. Zum zweiten ist die Frage einer erfolgreichen Moderation und Konfliktbearbeitung nicht nur eine Frage von Wissen auf der Basis von wissenschaftlichen Methoden, Vorgehensweisen und Prüfverfahren, sondern auch von kommunikativen Kompetenzen und Fertigkeiten, die nicht-wissenschaftliche Akteure ebenso gut oder vielleicht sogar noch besser beisteuern können29. Katalytische Forschung kann also das Design vorgeben und erforschen, muss aber nicht selber den Prozess der Ko-kreation des Wissens moderieren. Schließlich besteht die besondere Fachkunde bei der analytischen Wissenschaft in der effektiven Steuerung von wissensintegrierenden kommunikativen Prozessen. Hier sind vor allem Expertisen aus Psychologie, Kommunikations- und Sozialwissenschaften gefragt, Erkenntnisse aus der Physik, Chemie oder Geologie sind zum Verständnis der diskutierten Materie hilfreich, sie stellen nicht den eigentlichen Gegenstand der katalytischen Forschung dar. Von daher ist dieses Wissenschaftsverständnis auf nur einige Disziplinen der Wissenschaftslandschaft beschränkt. Das Konzept der katalytischen Forschung hat auch Überschneidungen mit dem in der Debatte um Wissen häufig benutzen Begriff des »Transformationswissens«30. Damit ist ein Wissen gemeint, das konkret Menschen oder Organisationen anleitet, wie Ziele, die aus dem Orientierungswissen abgeleitet wurden, mit Hilfe des Systemwissens (funktionale Abhängigkeiten) in Strategien zur Transformation eines problematischen Ist-Zustandes in einen erwünschten Soll-Zustand überführt werden können. Dabei spielt auch das Prozesswissen um das angemessene institutionelle Arrangement und die Ausgestaltung des Kommunikations- und Entscheidungsprozesses eine wichtige Rolle. Allerdings schwingt beim Transformationswissen auch das für Transformationen erforderliche Sachwissen eine Rolle. Hier ergibt sich eine Unschärfe in der Abgrenzung zum Systemwissen. Dies ist auch ein Grund für meinen Ansatz, drei schärfer abgrenzbare Konzepte von Forschung vorzuschlagen, die zwar Ähnlichkeit mit den drei Wissenstypen haben, diese aber nicht genau abdecken. Kurzum alle drei Konzepte von wissenschaftlicher Forschung (klassisch, zielgebunden und katalytisch) haben ihre spezifischen Stärken und Schwächen. In Tabelle 1 sind die wesentlichen Kennzeichen der drei Konzepte nochmals kompakt zusammengefasst.

29 Webler 1999. 30 Siehe: Schneidewind 2015.

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Ortwin Renn Tabelle 1: Merkmale der drei Konzepte der Wissenschaft im Kontext der Gesellschaftsund Politikberatung (eigene Darstellung) Drei Konzepte der wissenschaftlichen Forschung (für Politik- und Gesellschaftsberatung) Konzept:

Klassisch

zielgebunden

katalytisch

Wissensform:

systematisch

instrumentell

prozessual

Politikleitende Funktion:

Orientierung

Problemlösung

Co-Kreation

Ausdrucksform:

Analysen (kausal)

Szenarien/ Optionen

Design zur Steuerung von Entscheidungs- und Kommunikationsprozessen

Grenzen und Probleme:

Komplexität, Unsicherheit

Fixierung auf Ziele, mangelnde Distanz

Systematisierung kontextabhängiger Erfahrungen

3. Transdisziplinarität als Hybrid der drei Konzepte Wie lässt sich in diesen Dreiklang von klassischem (interdisziplinären), zielorientiertem und katalytischem Forschungskonzept der Begriff der Transdisziplinarität einordnen31. Er scheint quer zu der von mir vorgeschlagenen Terminologie zu stehen. In Begriff der Transdisziplinarität sind nach einschlägiger Literatur zwei wesentliche Aspekte vereint32 : Zum ersten geht es um die Notwendigkeit eines intensiven Austauschs zwischen Wissensproduzenten und Wissensempfänger über alle Phasen des Erkenntnis- und Forschungsprozesses33. Diejenigen, die wissenschaftliches Wissen für politische Entscheidungen nutzen und konkret anwenden wollen, müssen nicht nur die Ergebnisse der Forschung kennen, sondern auch die Kontextbedingungen und die Geltungsbereiche, ohne deren Kenntnis eine sachgerechte Interpretation der Ergebnisse nicht möglich ist. Zudem ist es notwendig, dass die Empfänger des Wissens schon bei der Frage des Framing, also der Ausgangsperspektive der Forschungsarbeiten, mitwirken können, um sicherzustellen, dass die besonderen Fragen, Anliegen und Probleme der Nutzer und Nutzerinnen angemessen berücksichtigt werden. Beispielsweise könnten Vertreterinnen und 31 Zum Begriff der Transdisziplinarität siehe: Lang/Wiek/Bergmann/Stauffacher/ Martens/Moll/Thomas 2012, S. 25–43. Sowie sehr ausführlich in: Bergmann/Jahn/ Knobloch/Krohn/Pohl/Schramm 2010. 32 Stauffacher/Flüeler/Krütli et al 2008. 33 Siehe dazu: Hirsch Hadorn/Biber-Klemm/Grossenbacher-Mansuy/Hoffmann-Riem/ Joye/Pohl/Wiesmann/Zemp 2008, S. 19–42.

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Vertreter aus Politik, Wirtschaft oder Zivilgesellschaft ihre speziellen Probleme bei der Vermittlung von Zielkonflikten oder bei der Suche nach sozial und wirtschaftlich akzeptablen Lösungen zum Angelpunkt eines Forschungsvorhabens machen. Zum zweiten ist transdisziplinäre Vorgehensweise durch eine bewusste Einbindung von Wissensträgern außerhalb der Wissenschaft geprägt34. Gerade für komplexe Fragestellungen sind Erfahrungswissen und häufig auch Kontextwissen der mit dieser Frage beschäftigten Gruppierungen in der Gesellschaft relevant, um nicht nur theoretisch schlüssige, sondern auch praktisch umsetzbare Lösungsvorschläge zu entwickeln. In der Sprache der Transdisziplinarität spricht man hier von Ko-Kreation des Wissens35. Wissensträger aus ganz unterschiedlichen Perspektiven und Lebensbereichen sollen nach diesem Konzept diskursiv eine gemeinsame Wissensgrundlage schaffen, die sich als robuste und praktisch umsetzbare Grundlage für politisches Handeln erweisen soll. Wie man genau solche transdisziplinären Verständigungsprozesse zwischen Wissensträgern und Wissensempfänger organisieren kann und soll, ist in der Literatur umstritten36. Wesentliche Kennzeichen eines solchen Prozesses ist die frühzeitige Einbindung aller relevanter Wissensträger, der forschungsbegleitende Diskurs mit den Nutzerinnen und Nutzern des Wissens sowie der Einsatz von innovativen kommunikativen Verfahren, die einen intensiven Austausch von Argumenten, Beobachtungen und Erfahrungen ermöglichen37. Wenn man die beiden grundlegenden Ziele der transdisziplinären Forschung umsetzen will, gelingt das m. E. nur dann, wenn man die drei Konzepte der Forschung parallel einsetzt und zwar so, dass sie sich gegenseitig ergänzen und in einen integrativen Prozess der Ko-Kreation von Wissen und Bewertungen einmünden. Für den transdisziplinären Austausch zwischen Wissenschaft und Politik sind alle drei Konzepte konstitutiv. Warum? Zum ersten ist es für den transdisziplinären Diskurs entscheidend, mit der Autorität der Wissenschaften Wahrheitsansprüche zu prüfen und »fake news« von »true news« zu differenzieren38. Wir müssen von der postmodernen Vorstellung 34 Jahn 2008, S. 21 ff. 35 Siehe zu diesem Begriff und seiner Verwendung in der transformativen Forschung: Loorbach/Rotmans 2010, S. 25–43. Sowie in Bezug auf Transformationswissenschaften: Vilsmaier/Lang 2014, S. 87–114. Zu den Erfolgsbedingungen siehe: Kaufmann-Hayoz/ Defila/Di Giulio/Winkelmann 2016, S. 289–327. 36 Siehe vor allem die kritischen Bemerkungen in: Brand 2016, S. 23–27. 37 Viele Institutionen, wie auch meine Heimatinstitution, das Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung in Potsdam (IASS), sind der transdisziplinären Forschungsmethode verpflichtet. Mehr Informationen zum IASS findet sich auf der Homepage: http://www.iass-potsdam.de/de (abgerufen am 15. 8. 2016). Eine Beschreibung unserer Vorgehensweise findet sich in: Nanz/Renn/Lawrence 2017, S. 45–47. 38 Dazu ein eindringliches Plädoyer von: Esfeld 2017, verfügbar unter: http://www.

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Abschied nehmen, dass Wissen in beliebiger Form sozial konstruiert sei und es keine übergreifenden Qualitätsansprüche oder Kriterien für Wahrheitsansprüche gäbe. Die jüngst entflammte Diskussion um »fake news«, um Echo-Kammern und um postfaktische Kommunikation ist ein beredtes Zeugnis dafür, dass bei einem Vakuum an wissenschaftliche gesicherten Wissens die Lücke mit Halbwissen und interessengeleiteten Überzeugungen gefüllt wird39. Das ist aber keine ethisch vertretbare Alternative zum Sachwissen! Auch für den transdisziplinären Diskurs werden klassisch arbeitende Forscherteams benötigt, um die Teilnehmenden an einem Diskurs mit dem entsprechenden Faktenwissen auszustatten und Sachfragen aus dem Diskurs nach wissenschaftlich anerkannten Standards zu beantworten. Hier ist auch die ideologiekritische Funktion von Wissenschaft gefragt, Fehlurteile aufgrund von Wunschdenken, intuitiv einleuchtenden, aber oft in die Irre führenden Faustregeln und Plausibilitätsannahmen aufzudecken und diese kritischen Einsichten mit allen am Diskurs beteiligten Parteien zu teilen40. Gleichzeitig ist die Wissenschaft selber nicht immun gegen eigene Fehldeutungen: sie blendet gerne verbleibende Unsicherheiten aus, übersieht die Geltungsgrenzen von Aussagen oder unterdrückt alternative, aber ebenso sachgerechte Auslegungen der vorhandenen Daten41. Gerade wenn Wissenschaft politisch wirksam werden soll, ist es unerlässlich für die beteiligten Wissenschaftsteams, das eigene Wissen stets kritisch zu reflektieren und die Zuverlässigkeit und Robustheit des eingebrachten Wissens durch Metaanalysen und andere Qualitätssicherungsverfahren zu überprüfen. Zum zweiten lebt der transdisziplinäre Diskurs von dem zielgerichteten Wissen von Expertinnen und Experten, die realistische Wege aufzeigen, um die von Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft angestrebten Ziele möglichst effektiv, effizient und mit der geringsten Zahl an unerwünschten Nebenwirkungen zu erspektrum.de/magazin/wissenschaft-erkenntnis-und-ihre-grenzen/1478201 (abgerufen am 3. 4. 2018). 39 »Der sogenannte Echo-Chamber-Effekt verstärkt Nachrichten vor allem innerhalb jener Gruppen, die ohnehin einer bestimmten Ideologie oder politischen Richtung anhängen. Mit anderen Worten: Ob TTIP-Gegner oder Finanzmarktkritiker, ob PegidaAnhänger oder Neokonservative: Sie alle abonnieren auf Facebook oder anderen sozialen Medien vor allem jene Kanäle, deren Feeds ihre Sicht der Dinge bestätigen. Warum dieses System so gut funktioniert? Weil der Mensch nichts so sehr hasst, wie kognitive Schieflagen, den Zweifel, das Infragestellen der eigenen Position. Er fühlt sich am wohlsten, wenn er sich – eben wie in einem Echoraum – mit seiner Meinung in guter Gesellschaft, in einer gefühlten Mehrheit glaubt«. Aus: Ziener 2016, 09.05. o.S., verfügbar unter: http://www.ipg-journal.de/kommentar/artikel/wohlfuehlen-im-echoraum1416/ (abgerufen am 2. 4. 2018). 40 Diese Funktion von Wissenschaft wird besonders ausgeführt in: McIntyre 2017, S. 163 ff. 41 Zu den Grenzen der Naturwissenschaften siehe: Gerlach 1938, S. 313–318. Zu den philosophischen Grundlagen dazu: Psillos 1999, S. 70 ff.

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reichen. Die damit verbundene zielgerichtete Forschung ist nahe an den zu lösenden Problemen ausgerichtet und hilft vor allem bei komplexen und unsicheren Entscheidungskontexten, wissenschaftlich robuste Handlungsoptionen zu entwerfen und deren Folgen abzuschätzen. Ähnlich wie beim klassischen Konzept ist auch hier eine kritische Komponente von großer Bedeutung. Zum einen müssen die Ziele und deren Begründung stets neu reflektiert und abgewogen werden, damit Wissenschaft nicht einfach zum Erfüllungsgehilfen von politischen Kräften wird, zum anderen müssen die Wissenschaftsteams selber so viel Distanz zu den Zielen und Werten ihrer Auftraggeber haben, dass sie selbstkritisch auch nicht genehme Erkenntnisse beachten, verarbeiten und weiterreichen. Zum dritten beruhen transdisziplinäre Prozesse auf einer diskursiven Behandlung der Probleme und deren Lösungsmöglichkeiten unter Beteiligung aller relevanten Gruppen. Diese diskursive Behandlung ist zum einen wegen der Unsicherheit, Mehrdeutigkeit und Frame-Abhängigkeit der wissenschaftlichen Problembeschreibung und –analyse sinnvoll und notwendig, zum anderen erfordert die sich immer weiter ausdehnende Vielfalt an Bewertungen, Interpretationen und Wertzuordnungen einen integrationsfördernden Diskurs42. Solche diskursiven Prozesse der Aneignung relevanter Wissensbestände und deren Einbettung in eine argumentative Abwägung möglichst effektiv zu organisieren und nach rationalen Kriterien von Wissens- und Urteilsbildung zu gestalten, ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Wissenschaft für sich. Hier katalytisch auf der Basis eines robusten Wissens um Kommunikationsprozesse und deren erfolgreiche Gestaltung einzuwirken, ist eine zunehmend relevante Aufgabe der Wissenschaft, wenn sie eine tragende Rolle in der Gestaltung politischer Entscheidungen spielen will. Selbstredend ist auch in diesem dritten Konzept eine kritische und selbstkritische Funktion der Wissenschaft gefragt. Ob ein Design erfolgreich ist, hängt von vielen Randbedingungen ab, die von Diskurs zu Diskurs stark streuen können. Zudem ist Erfolg von Diskursen nicht einfach zu definieren. Erfolg für wen? Allgemeingültige Aussagen zu den Erfolgskriterien von transdisziplinären Diskursen abzuleiten, ist ein mühsames und risikoreiches Unterfangen43. Aber es lohnt sich! Im Idealfall ergänzen sich die drei Konzepte der wissenschaftlichen Forschung gegenseitig und lösen so gemeinsam den Anspruch auf Interdisziplinarität ein. Im Dreiklang der drei Konzepte ist es Aufgabe des katalytische Wissens, die Struktur und den Prozess der Kommunikation zwischen den Wissensträgern und den jeweiligen Wissensnutzern zu organisieren und zu moderieren, während die Vertreter und Vertreterinnen des klassischen Konzeptes das notwendige Hintergrundwissen für alle bereitstellen. Um den teilnehmenden Gruppen wissenschaftliche Unterstützung zu geben, können Forscherteams auf der Basis von gruppenspezifischen oder besser noch von gruppenübergreifenden Zielen und 42 Witmayer/Schäpke 2014, S. 483–496. 43 Wiek 2007, S. 52–57.

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Anliegen erfolgversprechende Umsetzungsstrategien zur Erreichung dieser Ziele entwerfen. Die Integration der drei Konzepte (klassisch, zielgerichtet und katalytisch) in Prozesse deliberativer Politikgestaltung ist aus meiner Sicht der Kernpunkt der interdisziplinären Vorgehensweise. Sie stellt die notwendige soziale Innovation dar, die wir in Deutschland, aber auch in anderen Demokratien dieser Welt, dringend benötigen, um mit den vielen irritierenden Entwicklungen in Politik, Wissenschaft und Gesellschaft konstruktiv umzugehen44.

4. Ausblick Ausgangspunkt des Artikels war die Einsicht, dass eine bessere Einbindung wissenschaftlicher Expertise in die Entscheidungsvorbereitung essentiell ist, damit die relevanten Wissensgrundlagen in die Vorbereitung komplexer, kollektiv verbindlicher Entscheidungen einfließen können. Gerade in Zeiten postfaktischer Politikgestaltung kommt dem Dialog zwischen Wissensproduzenten und Wissensabnehmern eine wichtige Rolle zu. Denn die einfache Formel: »Wissen berät Macht« reicht für ein produktives Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik nicht aus. Keineswegs gibt es in Deutschland ein Mangel an wissenschaftlicher Politikberatung. Nach einschlägigen Publikationen sind es mehrere 100 Beratungsgremien, die allein die Bundesregierung und ihre nachgeschalteten Behörden mit wissenschaftlichen Ratschlägen unterstützen45. Diese Architektur der Beratung ist aber weitgehend darauf ausgerichtet, Empfehlungen auf der Basis von Expertenwissen zu formulieren und an die politischen Entscheidungsträger weiterzuleiten. Es geht als um Legitimation durch Delegation an Fachgremien oder Expertenteams. Dieses klassische Modell der Politikberatung hat sicherlich seine Berechtigung, ist aber in Zeiten der postfaktischen und postdemokratischen Herausforderung unzureichend. Die neuen Formen der Politikberatung sind durch die Stichworte »inklusiv« und »integrativ« am besten zu charakterisieren46. Inklusiv meint dabei die Einbeziehung vieler Quellen von Wissen und Erkenntnis, integrativ die Notwendigkeit, diese unterschiedlichen Wissensbestände, aber auch deren wertgebundene und interessengeleiteten Interpretationen zu Handlungsoptionen zu verdichten, die gemeinsame Zeile reflektieren, Optionen für die Lösung von Zielkonflikte anbieten und von allen getragene Umsetzungsstrategien zur Transformation in eine wünschenswerte Zukunft beinhalten. Beide Ziele, Inklusion und Integration, erfordern eine Synthese der drei hier beschriebenen 44 Zum Thema politische Innovation siehe: Michels 2011. 45 Siehe Sievken 2007, S. 23. Die Zahlen schwanken zwischen 248 und knapp 1 000. Neure Zahlen liegen m. E. nicht vor. 46 Siehe dazu unsere Ausführungen in: Renn/Schweizer 2009, S. 174–185.

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Forschungskonzepte. Das klassische Konzept bringt die systematischen Erkenntnisse über Wirkungen von Politikoptionen ein, das zielgerichtete Konzept erarbeitet Strategien, um die erwünschten Zielsetzungen zu erreichen oder aufgetretene Probleme konstruktiv anzugehen, und das katalytische Konzept bereitet die institutionelle Architektur und das kommunikative Design vor, das notwendig ist, um einen verständigungsorientierten Diskurs zwischen den unterschiedlichen Wissensträgern und Anwendern des Wissens erfolgreich führen zu können. Die Synthese dieser drei Konzepte in einen integrativen Ansatz des Brückenschlags zwischen Wissen und kollektiven Handeln lässt sich mit dem Begriff der Transdisziplinarität fassen. Transdisziplinäre Ansätze integrieren prozessbezogenes, sachbezogenes und strategiebezogenes Wissen und führen im Idealfall zu einer Handlungsoption oder mehreren Handlungsoptionen, die sachlich überzeugend, argumentativ konsistent, moralisch vertretbar und für alle prinzipiell akzeptierbar sind. Was bedeutet dies für die Energiepolitik? Wie Umfragen aus dem letzten Jahr nahelegen, ist die deutsche Bevölkerung nach wie vor der Ansicht, dass die Ziele der Energiewende richtig und politisch notwendig sind. Allerdings sind große Teile der Bevölkerung davon überzeugt, dass die Art der Umsetzung der Energiewende viel zu wünschen übrig lässt. Sie erscheint als teuer, chaotisch, unfair und ungerecht47. Um diesen negativen Eindruck entgegenzuwirken, wäre es erforderlich, einen nationalen Diskurs im Geist der Transdisziplinarität ins Leben zu rufen, so wie es die Ethikkommission 2011 schon gefordert hatte48. In diesen Diskurs müssen die disziplinären und interdisziplinären Erkenntnisse der klassischen Wissenschaft über Potenziale, technische Möglichkeiten und wirtschaftliche Opportunitäten und Zwänge ebenso wie zielführende Strategien mit ihren Wirkungen und Nebenwirkungen einbezogen werden. Beide Wissenselemente müssen dann in einen Prozess integriert werden, der wissenschaftliches Wissen mit dem Erfahrungswissen der beteiligten Gruppen in Einklang bringt und faire Aushandlungen zwischen verschiedenen Interessen und Werten ermöglicht. Die von der Bundesregierung ins Leben gerufenen Kopernikus-Projekte zur Energiewende könnten die Plattform dafür bieten, um diesen transdisziplinären Auftrag aufzunehmen und zu verwirklichen49. Letztendlich wird der Erfolg der 47 Daten aus: Setton/Matuschke/Renn 2017, verfügbar unter: http://doi.org/10.2312/ iass.2017.019. 48 Ethikkommission der Bundesregierung 2011. 49 Mit der Förderinitiative »Kopernikus-Projekte für die Energiewende« sollen neue Wege in der Kooperation von Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft beschritten und die Energieforschung zukünftig effizient und zielgerichtet aufgestellt werden. Diese Initiative ist Teil der »Hightech-Strategie« der Bundesregierung, deren Ziel der weitere Ausbau der Zusammenarbeit von Wissenschaft und Wirtschaft ist. Gleichzeitig unterstützt sie das Fachprogramm »Forschung für Nachhaltigkeit« (FONA3) des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), insbesondere die Leitinitiativen

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Energiewende davon abhängen, wie es gelingt, die Wechselwirkungen zwischen Technik, Organisation, Regulation und Verhalten funktional wie strategisch so genau wie möglich zu erfassen und auf der Basis dieser Erkenntnisse gemeinsam mit allen beteiligten Parteien Umsetzungsoptionen zu entwickeln, die einerseits die übergeordneten Ziele (und Zielkonflikte) der Energiepolitik widerspiegeln und andererseits die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und sozialen Präferenzen der betroffenen Bürgerinnen und Bürger berücksichtigen. Das geht nur, wenn man genügend Expertise über die Architektur und das Design von Prozessen besitzt, die gleichzeitig inklusiv und integrativ wirken.

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»Dass keine Atomphysiker dabei waren, hat mich auch nicht gewundert«. Zur Praxis der Interdisziplinarität aus literaturwissenschaftlicher Perspektive Steffen Martus / Erika Thomalla / Daniel Zimmer

Der Beitrag entwirft eine praxeologische Perspektive auf Interdisziplinarität und beobachtet am Beispiel der Germanistik die Funktionen und Leistungen des Interdisziplinaritätsdiskurses. Ausgehend von der These, dass es sich bei den Auseinandersetzungen um Interdisziplinarität um disziplinspezifische Debatten handelt, wird eine programmatische Ebene des Diskurses von einer pragmatischen unterschieden. Mit Blick auf die Praxisebene eignen sich interdisziplinäre Kooperationen besonders gut dazu, die alltäglichen Routinen und institutionellen Bedingungen der eigenen Disziplin zu verhandeln. Ein weiteres zentrales Argument lautet, dass Disziplinen keine homogenen Einheiten bilden, sondern dass sie sich in Praxisgemeinschaften differenzieren lassen, die über ein je verschiedenes Maß an Interdisziplinaritätsfähigkeit verfügen. Dies hat auch Folgen für die Programmatik der Interdisziplinarität, bei der es weniger um die Zustandsbeschreibungen einer Disziplin als vielmehr um die Lancierung einer bestimmten Auffassung des eigenen Fachs in der innerfachlichen Diskussion geht. The article outlines a praxeological perspective on interdisciplinarity. Using the example of German Studies, it takes into account the functions and capacities of the discourse on interdisciplinarity. Granting that debates about interdisciplinarity are specific to each discipline, the article differentiates a programmatic level of the discourse from a pragmatic one. With respect to the pragmatic level, interdisciplinary cooperation is especially well suited for negotiating the everyday routines and institutional conditions of a discipline. Another central argument is that disciplines are not homogeneous entities, but built from communities of practice with diverging interdisciplinary capabilities. Interdisciplinary programs are therefore not to be understood as factual descriptions but rather as ways to promote a certain view on a discipline within the realm of an internal discussion.

Interdisziplinarität zählt bei aller Kritik zu den verbindlichen Leitnormen der gegenwärtigen Wissenschaft. Auch die germanistische Literaturwissenschaft passt sich in das gängige Narrativ ein: Demnach steigt insbesondere nach 1945 die Anforderung an die Kooperation wissenschaftlicher Fächer, weil die Aufgaben, mit denen sie konfrontiert sind, immer komplexer werden und von einer Disziplin allein nicht mehr gelöst werden können.1 Wer dem state of the art gerecht werden 1 Vgl. exemplarisch Reinalter 2011, S. 369.

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Zur Praxis der Interdisziplinarität aus literaturwissenschaftlicher Perspektive

und zeitgemäß agieren will, muss folglich interdisziplinär arbeiten. Dramatisiert und kritisch begleitet wurde dieser Imperativ in der Germanistik durch eine anhaltende Diskussion um die Verkulturwissenschaftlichung der Disziplin, mithin um eine Aufhebung der Fachgrenzen durch die Erweiterung der Zuständigkeiten oder – negativ gewendet – den Verlust des Gegenstands.2 Eine der vielen Debatten um die Entgrenzung der Germanistik und die Preisgabe ihres Markenkerns wurde im Jahr 1999 in der renommierten Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (DVjs) geführt, in der zwei der Herausgeber gegeneinander antraten: Der Mediävist Walter Haug bemängelte, dass die Germanistik »immer etwas anderes zu sein versucht, als das, was man aufgrund ihrer Bezeichnung von ihr erwartet: nämlich sich als Wissenschaft darzustellen, die eine ihrem Gegenstand, der Literatur, entsprechende Methode des Zugriffs und des Verstehens zu entwickeln und zur Anwendung zu bringen vermag«.3 Der Neugermanist Gerhart von Graevenitz erkannte in der kulturwissenschaftlichen Wende hingegen den zeitgemäßen Trend zur Trans- oder Interdisziplinarität.4 In verschiedenen Varianten wird diese Diskussion vor allem im Rahmen des leidenschaftlich gepflegten germanistischen Krisendiskurses fortgeführt.5 Dabei legen die Akteure häufig ein bestimmtes Set von Thesen immer wieder neu auf, so dass der empirische Gehalt der Debatte bisweilen weniger wichtig ist als die performative Funktion für die fachinterne Verständigung, etwa für die Positionierung der Akteure und die Binnendifferenzierung des Felds sowie für die damit zusammenhängende Legitimation von Forschungsinteressen, Kooperationsneigungen, theoretischen Vorlieben oder privilegierten Gegenständen. Genau dieser Aspekt interessiert uns: Inwiefern erfolgt die Auseinandersetzung mit Interdisziplinarität aus Perspektive eines Fachs? Welche Funktionen haben solche Reflexionen, wenn man die Disziplinarität der Operationen von der Interdisziplinarität der Programme unterscheidet? Bei einer stichprobenartigen quantitativen Untersuchung der letzten fünfzig Jahrgänge der DVjs6 erscheint jedenfalls die interdisziplinäre Ausrichtung im Fußnotenapparat konstant. Zwar verändert sich das privilegierte Fächerspektrum im Verlauf der Zeit, nicht aber die Menge der nicht-germanistischen Referenzen. Angesichts faktischer und 2 So etwa Barner 1997, S. 1–8. 3 Haug 1999, S. 69–93, hier S. 69. 4 Vgl. von Graevenitz 1999, S. 94–115, hier z. B. S. 101. 5 Vgl. Bleumer, Hartmut/Franceschini, Rita/Werber, Nils 2013 (»Turn Turn, Turn, Turn? Oder: Braucht die Germanistik eine germanistische Wende? Eine Rundfrage zum Jubiläum der LiLi«) und Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 2015, S. 483–683 (»Zur Lage der Literaturwissenschaft«). 6 Es handelt sich um eine vorläufige, eher heuristisch zu verstehende Untersuchung, die auf eine Empirisierung der Selbstbeobachtung zielt: Martus/Thomalla/Zimmer 2015, S. 510–520.

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graduell gleichbleibender Interdisziplinarität stellt sich mithin die Frage, was eigentlich gemeint ist, wenn sie vermisst oder als Angriff auf die Fachidentität kritisiert wird. Angesichts der Divergenz von Selbsteinschätzungen und programmatischen Reflexionen auf der einen Seite und den Routinen des Fachs auf der anderen Seite,7 erscheint es uns erforderlich, den praktischen Stellenwert von theoretischen, methodischen und methodologischen Verlautbarungen stärker zu beachten. Die folgenden Überlegungen verstehen sich als Testlauf für diese Verschiebung der Blickrichtung, bei der wir uns für die Schärfung der disziplinären Perspektive interdisziplinär haben anregen lassen: Wir stellen die Frage nach der germanistischen Interdisziplinarität im Anschluss an naturwissenschaftliche science studies im Rahmen einer »Praxeologie der Literaturwissenschaft«.8 Worin also liegen (nach innen) die Funktionen und (nach außen) die Leistungen der Verhandlung von Interdisziplinarität für die literaturwissenschaftliche Germanistik? Wir können lediglich einige Richtungen für Analysen andeuten.9 Die eigentlich erforderlichen empirischen Studien, die eine impressionistische Einschätzung von disziplinären oder interdisziplinären Kulturen korrigieren und zu einer Versachlichung von Debatten beitragen könnten, stehen noch aus.

1. Praxeologie der Interdisziplinarität Um unsere praxeologische Fragerichtung zu vermitteln, beginnen wir mit einem konkreten Beispiel. Eines der renommiertesten Unternehmen geisteswissenschaftlicher Interdisziplinarität, das federführend von Literaturwissenschaftlern verantwortet wurde, war die Tagungsserie der »Forschungsgruppe« Poetik und Hermeneutik. Die Kooperation setzte als »Grundkonsens« voraus, »dass sie auf geisteswissenschaftliche Interdisziplinarität konzentriert sein sollte«.10 Viele Teilnehmer der Kolloquien hatten den Eindruck, dass dieser Veranstaltungskreis »in den Geisteswissenschaften zum ersten Mal in einem größeren Rahmen und auf längere Sicht Interdisziplinarität einübte«11 und dass diese »völlig neue Form 7 Vgl. Winko 2002, S. 334–354; Winko/Jannidis/Lauer 2006, S. 123–154; Willand 2011, S. 279–302. 8 Martus/Spoerhase 2009, S. 89–96 sowie: https://www.literatur.hu-berlin.de/de/pra xeologie. 9 Ganz ausgespart bleibt der Bereich der Digital Humanities, wo sich derzeit historisch ungewohnte Formen der interdisziplinären Kooperation zwischen Fächern einstellen, die zuvor – wie etwa Informatik und Literaturwissenschaft – kaum Berührungspunkte aufwiesen oder sich – wie Sprach- und Literaturwissenschaft – weit voneinander entfernt haben. 10 Stierle 2017, S. 24. 11 Stempel 2017, S. 88.

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der Interdisziplinarität« für eine »Atmosphäre besonderer Art« sorgte – für »ein großes Erlebnis«.12 In den Erinnerungen der »Beteiligten« fallen dabei drei Aspekte auf: Zum Ersten bleibt unklar, was sie eigentlich genau voneinander gelernt, gemeinsam erforscht und an Ergebnissen erlangt haben. Sehr häufig wird die große Bedeutung der Tagungen statuiert, sehr selten expliziert, welche Thesen oder Einsichten konkret darauf zurückgehen:13 »Ich weiß nicht, welche Anregungen es genau waren. Aber ich bin sicher, dass ich Anregungen erfahren habe, sonst wäre ich ja nicht wieder hingegangen«,14 erinnert sich etwa Thomas Luckmann. Während außenstehende Beobachter beim Lesen der überlieferten Protokolle durchaus den Eindruck haben können, dass viel aneinander vorbeigeredet wurde,15 betonen die Akteure die wichtigen »Anregungen« und Anstöße. Diese betreffen insbesondere den »Stil« des wissenschaftlichen Gesprächs, die »sinnliche Lust«16 an der Debatte und die Begegnung mit »kräftigen Persönlichkeiten«.17 Entsprechend vage fallen die Formulierungen aus, mit denen diese Art des interdisziplinären Gesprächs retrospektiv beschrieben wird: »Ich hab mir überlegt, dass viel besser als der Ausdruck ›Interdisziplinarität‹ etwas anderes passt: das GeistHaben zu mehreren und zu genießen, was passiert, wenn man nicht genau weiß, wohin der dialogische Hase rennt«18 ; Interdisziplinarität fungiert für die Beteiligten als »Ideenerwecker« und »Gedankenanreger«.19 Diese Formulierungen deuten zum einen darauf hin, dass sich Effekte interdisziplinärer Zusammenarbeit auf einer Ebene einstellen, die sich wissenschaftstheoretisch und -historisch schwer fassen lässt. Zum anderen ist offen, ob die interdisziplinären ›Anregungen‹ nicht primär für die disziplinäre Arbeit folgenreich waren. Eine zweite Selbstbeobachtung der Teilnehmer von Poetik und Hermeneutik betrifft die Grundlage der Zusammenarbeit: Für die in der eigenen Wahrnehmung gelungene und produktive interdisziplinäre Kooperation sind nicht gemeinsame Methoden, Theorien oder Gegenstände verantwortlich, also gerade nicht jenes Set von Kriterien, das etwa bei der Evaluation von Verbundforschung im Protokoll eine große Rolle spielt und damit die Grundlage für oder gegen eine Förderentscheidung bildet. Die Zusammenarbeit ergibt sich für die Gründergeneration vielmehr aus geteilten Lebenserfahrungen, die nicht zuletzt durch die

12 Meier 2017, S. 210 f. 13 Die Wirkungsgeschichte von Poetik und Hermeneutik insgesamt zeigt eine ähnliche Struktur: Vgl. Spoerhase 2010, S. 122–142. 14 Luckmann 2017, S. 241. 15 Möllmann/Schmitz 2010, S. 46–52, hier S. 50. 16 Stierle 2017, S. 31. 17 Meier 2017, S. 217. 18 Frank 2017, S. 275. 19 Henrich 2017, S. 66.

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Zäsur des Jahres 1945 strukturiert werden.20 Genannt werden häufig ein stets abrufbarer gemeinsamer Bildungshorizont21 sowie jene Begegnungen, Kontakte und Netzwerke, die bereits während des Studiums in Studentenclubs und -verbindungen geknüpft wurden. Dort sollten »neue studentische Lebensformen« entwickelt werden, wie Hans Robert Jauß im Rückblick meinte.22 Diese Idee einer gemeinsamen »Lebensform« leitete in gewisser Hinsicht auch das Poetik und Hermeneutik-Projekt: Die Organisatoren achteten darauf, wer in die Gruppe »passt[e]«23 und sich bereit zeigte, bestimmte »Üblichkeiten«24 innerhalb der Gruppe zu akzeptieren. Aus einer praxeologischen Perspektive stellt sich die Frage nach der Beschaffenheit dieser »Lebensformen« und Orte oder nach den epistemischen Umwelten, die interdisziplinäre Zusammenarbeit erst ermöglichen. Dies führt zu einem dritten Aspekt: Poetik und Hermeneutik setzte zwar auf interdisziplinäre Öffnung, aber selbstverständlich nicht auf beliebige Erweiterung. Im Rückblick stellen die »Beteiligten« sogar infrage, inwiefern es sich (überhaupt) um ein interdisziplinäres Projekt gehandelt hat. Tatsächlich reflektieren die Leitbegriffe »Poetik« und »Hermeneutik« die starke Rolle einer philosophisch orientierten Literaturwissenschaft. Linguistik, Kunstgeschichte, Musikwissenschaft oder Soziologie waren nach dem Eindruck vieler Akteure weniger effektiv vertreten. Ebenso spielte die Geschichtswissenschaft eher eine Nebenrolle. Und die Naturwissenschaften kamen erst gar nicht vor. Es gab offenbar ein intuitives Einverständnis darüber, welche Disziplinen oder disziplinären Bereiche sich unproblematisch verknüpfen lassen. Für diesen unausgesprochenen Konsens spricht auch eine lakonische Erinnerung Thomas Luckmanns: »Dass keine Atomphysiker dabei waren, hat mich auch nicht gewundert.«25 Harald Weinrich unterscheidet daher auch in Bezug auf Poetik und Hermeneutik eine »kleine Interdisziplinarität«, die sich insbesondere zwischen den Philologien abspielt und relativ reibungslos funktioniert, von einer »großen Interdisziplinarität«, die die Fakultätsgrenzen überschreitet. Während die ›kleine Interdisziplinarität‹ im »gewohnte[n] Zusammenspiel der geisteswissenschaftlichen Fächer« und auf dem gemeinsamen intellektuellen Fundament des verbindlichen Philo-

20 Vgl. Ebd., S. 79; Meier 2017, S. 210. 21 Vgl. z. B. Stierle 2017, S. 32, Frank 2017, S. 273. 22 Amslinger 2017, S. 57–62 (Zitat S. 60). 23 Manfred Frank berichtet über Hans Robert Jauß, der als organisatorisches Zentrum von Poetik und Hermeneutik wirkte: »[…] der ging so wie Wotan durch die Welt und schuf sich seine Brünhilden und Walküren: ›Der passt zu uns, und die passt zu uns‹« (Frank 2017, S. 251); zum praxistheoretischen Status von »Passungsverhältnissen« vgl. Jaeggi 2014, S. 114–116. 24 So der Begriff von Karlheinz Stierle: Stierle 2017, S. 34, 39. 25 Luckmann 2017, S. 248.

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sophicums stattfinden kann,26 stellen sich erst auf der Ebene ›großer Interdisziplinarität‹ die eigentlichen Probleme ein.27 Selbst unter den Literaturwissenschaften muss man jedoch noch einmal hierarchisieren: Ein »großes« Fach wie die Germanistik stand eher am Rand. Generell hat Poetik und Hermeneutik in den »kleineren« Philologien sehr viel mehr Nachhall gefunden.28 Schließlich besteht auch innerhalb der beteiligten Fächer Differenzierungsbedarf, weil nicht einfach etwa die innerfachlich renommierten Vertreter integriert wurden, sondern eben ›passende‹ Altphilologen, Anglisten, Germanisten, Romanisten oder Slawisten. Zudem gab es innerhalb der Gruppe unterschiedliche Auffassungen über die interdisziplinären Ansprüche der einzelnen Disziplinen. So wird etwa über Hans Blumenberg berichtet, er halte »nichts von der interdisziplinären Kompetenz der Literaturwissenschaftler, die sich anmaßten, auch in der Philosophie mitreden zu wollen«, nehme aber »selbstverständlich für sich in Anspruch […], in der Literatur und Dichtung tiefe philosophische Einsichten zu haben.«29 Mit anderen Worten: Ob man Poetik und Hermeneutik für interdisziplinär hält, hängt vermutlich wesentlich davon ab, ob die eigenen disziplinären und interdisziplinären Interessen vertreten sind. Nicht eine Disziplin insgesamt verhält sich interdisziplinär oder disziplinär, sondern innerhalb von Disziplinen gibt es Bereiche, die sich mehr oder weniger über-, zwischen- oder innerfachlich orientieren. Derart perspektiviert lassen sich Disziplinen im Hinblick auf die Interdisziplinaritätsfähigkeit und -willigkeit ihrer einzelnen Segmente kartographieren.

2. Wissenschaft als lokalisierte Lebenspraxis Was es bedeutet, Interdisziplinarität als einen Aspekt von wissenschaftlicher Praxis zu behandeln, lässt sich an einem zweiten Beispiel konkretisieren, das mit dem Projekt von Poetik und Hermeneutik in Verbindung steht. Zur Aura des Poetik und Hermeneutik-Projekts trug der Tagungsort der Werner Reimers Stif26 Vgl. Fellmann 2017, S. 112. Wenn am Bielefelder »Zentrum für Interdisziplinäre Forschung« diese »große« Form der Interdisziplinarität in Angriff genommen wurde und wirklich unterschiedliche Fächer gemeinsam getagt haben, »dann siegt am Ende meistens die Soziologie Luhmann!scher Prägung, weil dieses Fach für alle anderen Fächer etwas anzubieten hat, die Physik kann das nicht.« 27 Die Probleme ›großer Interdisziplinarität‹ lassen sich etwa am Beispiel der interdisziplinären Hamburger Forschergruppe Narratologie und den damit verbundenen Institutionen zeigen. Während die interdisziplinäre Zusammenarbeit der Einzelphilologien sich als fruchtbar erwies, weil sie »Gemeinsamkeiten sichtbarer werden« ließ und einen Dialog ermöglichte, bereitete die narratologische Forschung »über die Literaturwissenschaft hinaus […] ungleich größere Probleme«. Aumüller/Smerilli 2012, S. 3. 28 Behrens 2010, S. 150–157, hier S. 157. 29 Stierle 2017, S. 28.

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tung in Bad Homburg erheblich bei. In diesem Zusammenhang muss an eine Trivialität erinnert werden: Interdisziplinäre Forschung benötigt Rahmenbedingungen, etwa personelle Ressourcen, infrastrukturelle Ressourcen wie Arbeitsräume oder Bibliotheken, Ressourcen der Wissensermittlung und -speicherung wie Bibliographien, Publikationsreihen oder Zeitschriften, kommunikative Ressourcen wie Tagungen oder Workshops oder finanzielle Ressourcen.30 Seit 1972 fanden die Poetik und Hermeneutik-Treffen also in einem bestimmten Arrangement statt, zu dem etwa auch das legendäre »Bonanza-Zimmer« gehörte, wo die Beschlüsse über künftige Tagungsthemen und die personelle Zusammensetzung getroffen wurden – das Zimmer trug seinen Namen, weil es der einzige Raum mit TV-Gerät war.31 Bevor die »Forschungsgruppe« in Bad Homburg untergekommen war, gab es zwei alternative Orte, die um den Anspruch einer Reform- und Eliteuniversität konkurrierten und sich zugleich als Anlaufstellen für Poetik und Hermeneutik anboten: Konstanz, wohin viele wichtige Mitglieder der Forschungsgruppe durch die emsige Berufungspolitik von Hans Robert Jauß gelangten,32 und Bielefeld. In Bielefeld brachte sich als ideale Institution das Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) in Stellung – einige Stimmen behaupten sogar, Poetik und Hermeneutik sei generell ein Vorbild für das westfälische Reformprojekt gewesen.33 Zwei Aspekte sind für uns entscheidend: Zum einen stand das ZiF zwar in Verbindung mit der Universität Bielefeld und legte auf die Anbindung an die Universität Wert – es erhielt sogar den Status einer eigenen Fakultät.34 Zum anderen bot es aber einen davon abgeschiedenen Arbeitsbereich, bei dessen Konzeption über die ideale Räumlichkeit für Interdisziplinarität reflektiert wurde. 2008 behauptete der Romanist Harald Weinrich, der drei Jahre als geschäftsführender Direktor des ZiF amtierte und zu den »Stamm-Mitgliedern« von Poetik und Hermeneutik gehörte,35 interdisziplinäre Arbeitsgemeinschaften seien gegenüber dem jeweiligen Veranstaltungsort »relativ indifferent«. In seiner Rede zum vierzigjährigen Jubiläum des ZiF erklärte er die lokalen Bedingungen für irrelevant. Ob Interdisziplinarität in Loccum, Gummersbach, Tutzing oder in Rheda praktiziert werde, habe kaum Auswirkungen auf ihren Erfolg. Ganz beliebig wirkt diese Liste von Orten mit Einwohnerzahlen zwischen acht- und fünfzigtausend Personen und »schlechte[r] Zugverbindung« jedoch nicht. Denn interdisziplinäres Arbeiten gedeiht nach Weinrichs Auffassung vor allem in der 30 Vgl. die dahingehenden Ausführungen an einem konkreten Beispiel bei Aumüller/ Smerilli 2012. 31 Vgl. Boden/Zill 2017, S. 7. 32 Vgl. Amslinger 2017, S. 213–217. 33 Vgl. dagegen Weinrich 2017, S. 134. 34 Vgl. Voßkamp 2005, S. 142. 35 Weinrich 2017, S. 131, 135.

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Abgeschiedenheit. Die Annahme, dass »die guten Arbeitsgemeinschaften sich zur Umwelt hin öffnen, die schlechten hingegen sich abkapseln«, sei »leider« gerade falsch: »Je besser eine Arbeitsgemeinschaft ist, umso konzentrierter arbeitet sie, und um so leidenschaftlicher ist sie auf ihr Thema und sonst nichts bezogen.«36 Die Vorstellung, dass erfolgreiche Interdisziplinarität mit Isolation einhergehe, war möglicherweise ein Motiv für die Entscheidung, das ZiF abseits des städtischen Zentrums am Rand des Teutoburger Walds zu errichten. Ein kleines Dorf ist es geworden, mit ungefähr zwanzig bis dreißig kleinen Häusern. Ich bin mit dem Architekten und Hermann Korte als Assistenten nach Amerika gereist, und wir haben uns solche Institutionen wie Harvard angesehen. Princeton wurde schließlich das Muster für Bielefeld. […] der Hauptsinn des ZiF war […] von Anfang an: Wir richten Forschungsgruppen für ein Jahr ein. Deswegen ist ja dieses Dorf gebaut worden, ein Dorf für zwanzig bis fünfundzwanzig Professoren mit ihren Familien.37

Für eine praxeologische Auffassung von Interdisziplinarität sind solche lokalen Rahmenbedingungen nicht sekundär, sondern essentiell. Wie jede Form der wissenschaftlichen Praxis ist auch die interdisziplinäre Forschung ein Arbeitsgefüge, das bis in die Alltäglichkeiten hineinreicht. Daher müssen die Lebensformen von Wissenschaftlern beim Nachdenken über Interdisziplinarität berücksichtigt werden. Das gilt umso mehr, als gerade die Problematisierung wissenschaftlicher Lebensformen von Beginn an Teil der Debatten um Interdisziplinarität war. Der Begriff wanderte in den 1960er Jahren von den USA nach Deutschland über.38 Er war zunächst mit dem Anliegen verbunden, wissenschaftliche Exzellenz zu fördern. Dieses Anliegen resultierte aus dem Eindruck, dass die »Lehr-, Ausbildungs-, Prüfungs- und Verwaltungsaufgaben« an den Universitäten so stark angewachsen waren, dass für die Forschungstätigkeit selbst kaum noch Zeit blieb.39 Hintergrund der Errichtung interdisziplinärer Institute war deshalb die Idee, profilierte Wissenschaftler für die Arbeit an gemeinsamen Projekten zeitweise von solchen Alltagsverpflichtungen freizustellen. Dies bedeutete auch, den »Alltag« in die Selbstreflexion einzubeziehen. Als Vorbilder galten Institute wie das Coll"ge de France in Paris oder das Institute for Advanced Studies in Princeton, zu denen die bundesrepublikanische Wissenschaft Äquivalente schaffen wollte. 36 Weinrich: Das Zentrum für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld, verfügbar unter: https://www.uni-bielefeld.de/ZIF/Allgemeines/Weinrich.pdf, S. 3 f. 37 Weinrich 2017, S. 135 f. 38 Im US-amerikanischen Raum tauchte der Begriff bereits in den 1920er Jahren auf und wurde zunächst von nationalen Forschungsräten und -komitees genutzt, die eine kooperative Forschungsorganisation anstrebten. Vgl. Frank 1988, S. 139–151, bes. S. 139– 144. 39 Vgl. zu dieser Diagnose Schelsky 1966, S. 72.

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Die ganz alltägliche Arbeitsumgebung der Wissenschaftler spielte in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Dieter Henrich etwa vertrat im Hinblick auf den Standort für erfolgreiche Forschung eine Ansicht, die der Weinrichs geradezu entgegengesetzt ist: Er habe es für »abwegig provinziell« gehalten, Universitäten an peripheren Orten wie Konstanz oder Bielefeld neu zu gründen und nicht auf bereits bestehende Forschungsinfrastrukturen zurückzugreifen. Aufgrund der »Nähe zu einer über Jahrhunderte gewachsenen Bibliothek in Heidelberg« erschien Henrich Mannheim als idealer Ort für eine Universitätsneugründung.40 Henrich, der für räumliche Verdichtung statt Isolation votierte, wies auf die Funktion von Bibliotheken für geisteswissenschaftliche Forschung hin. Für interdisziplinäre Forschung stellt sich entsprechend die Frage, wie Bibliotheken als »interdisziplinäre Orte« aufgebaut sein müssen, um Räume, Körper und Forschungsmaterialien über einen langen Zeitraum hinweg zu koordinieren. Als Grenzobjekte oder »boundary objects«41, die von Akteuren mit unterschiedlichen Forschungsinteressen genutzt werden, tragen sie dazu bei, die Zusammenarbeit der einzelnen Disziplinen zu garantieren und anzuregen. In der von Helmut Schelsky verfassten Denkschrift zur Gründung der Universität Bielefeld wird dieser Punkt programmatisch mit verhandelt: Die Institutsbibliotheken sollten in eine »gegliederte Gesamtbibliothek« integriert und gleichzeitig als »dezentralisierte Abteilungen der Universitätsbibliothek«42 berücksichtigt werden. »Interdisziplinarität«, das zeigt sich an diesem Beispiel, ist ein Reflexionsbegriff, der auf das Gesamtgefüge wissenschaftlicher Praxis zielt. Nicht zuletzt die Praxiskonflikte, die interdisziplinäre Zusammenhänge prägen, tragen dazu bei, dass Aspekte des tacit knowledge und prozedurale Routinen in den Blick geraten, die sich in der Regel schwer in deklaratives Wissen überführen lassen. Der Nachteil besteht allerdings darin, dass disziplinübergreifende Kooperationen unter der Reflexionslast der alltäglichen Bedingungen leicht zusammenbrechen.

3. Funktionen und Leistungen im Spannungsfeld von Wissenschaft und Universität Vor dem Hintergrund von solchen arbeitspraktischen Rahmenbedingungen provoziert die Forderung nach »Interdisziplinarität« auch die Frage, wie sich das Sozialsystem »Wissenschaft« zur Institution »Universität« verhält. Die vielen Funktionen (nach innen) und Leistungen (nach außen),43 die die Institution als Scharnierstelle z. B. zwischen den Systemen von Erziehung, Politik oder Wirt40 Henrich 2017, S. 58. 41 Im Anschluss an Star/Griesemer 1989, S. 387–420. 42 Schelsky 1966, S. 64. 43 Vgl. zu wissenschaftsexternen und -internen Motiven für Interdisziplinarität: Jungert 2013, S. 10.

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schaft erbringen muss, stellt wissenschaftliche Disziplinen bekanntlich vor erhebliche Herausforderungen. Die Debatte um Interdisziplinarität dient als ein Reflexionsmedium, um diese multiplen Adressierungen und Aufgaben sowie die damit verbundene Vielfalt an Normen zu ordnen, zu hierarchisieren und handhabbar zu machen – zumindest auf einer programmatischen Ebene. Mit der Erzählung vom »Forschungsrückstandsbewusstsein«44 deutscher Wissenschaftler in der Nachkriegszeit gegenüber den amerikanischen Elite-Universitäten war eine zweite Auffassung verbunden, die als Narrativ bis heute intakt ist: Die »zunehmende« Ausdifferenzierung der Wissenschaften – so kann man in vielen Beiträgen zur Interdisziplinarität lesen – bringe die Gefahr mit sich, die »Grenzen der Disziplinen zu Erkenntnisgrenzen« werden zu lassen.45 Interdisziplinarität soll aus dieser Perspektive dem Schwund und der Spezialisierung der akademischen Forschung gleichermaßen entgegenwirken und das Humboldt!sche Ideal von der Einheit der Wissenschaft unter neuen Vorzeichen wiederbeleben.46 Adressiert wird damit jedoch weniger ein Problem, das sich aus der Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems ergibt, sondern aus der Ausdifferenzierung institutioneller Strukturen, etwa der Einrichtung von Fachbereichen: Interdisziplinarität gilt ihren Verfechtern als »Reparatur-« und »Kompensationsphänomen« universitärer Fehlentwicklungen.47 Auf der Ebene der Forschung sollen also strukturelle Ausdifferenzierungsprozesse kompensiert werden. Diese ›kurative‹ Funktionsbestimmung von Interdisziplinarität befähigt bezeichnenderweise dazu, den Begriff für ganz unterschiedliche, mitunter sogar gegensätzliche Ziele in Anspruch zu nehmen. Während die ersten Protagonisten interdisziplinärer Projekte in Deutschland – von Helmut Schelsky über Hans Blumenberg und Reinhart Koselleck bis Harald Weinrich – vor allem eine konzentrierte Forschungstätigkeit jenseits des universitären Alltagsgeschäfts anstrebten,48 nahm die Rede über Interdisziplinarität spätestens seit den 1980er Jahren eine andere, politischere Stoßrichtung an. Das »grenzüberschreitende« Potenzial der Interdisziplinarität wurde jetzt nicht mehr primär auf den innerwissenschaftlichen Austausch, sondern vor allem auf die gesellschaftliche und kulturelle Verständigung bezogen. Es gehe darum, so argumentierte beispielsweise Hartmut von Hentig 1987, die »philosophische[] Stumpfheit der Wissen-

44 So der rückblickende Befund Hans Blumenbergs, der die empfundene Rückständigkeit der deutschen Nachkriegswissenschaft maßgeblich auf den »Sputnik-Schock 1957/1958« zurückführte, zit. nach Wagner 2010, S. 63; vgl. auch Amslinger 2013, S. 64. 45 Vgl. exemplarisch Mittelstraß 1987, S. 152. 46 Vgl. Lübbe 1987, S. 29. 47 Mittelstraß 1987, S. 152. 48 Koselleck und Blumenberg zeigten sich daher schon bald enttäuscht über die neuen administrativen Aufgaben, die mit der Organisation der interdisziplinären Projekte einherging. Vgl. Vowinckel 2014, S. 546–550.

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schaften, […] ihre[] Ferne zur Wirklichkeit« zu überwinden.49 Weil interdisziplinäre Zusammenarbeit dazu zwinge, die »fachterminologischen Grenzen« zu überschreiten, so auch die Ansicht Wilhelm Voßkamps, könne sie dazu dienen, »Verständlichkeit über ein wissenschaftliches Fachpublikum hinaus« zu erzeugen.50 Nicht mehr die internen Möglichkeitsbedingungen effizienter Forschung, sondern die externe Kommunikation ihrer Ergebnisse an die nichtakademische Öffentlichkeit erschien nun als Bezugsproblem. Die Erwartungen an Interdisziplinarität reichen mitunter sogar so weit, die Geisteswissenschaften zu ihrer »Orientierungsaufgabe« zurückzuführen, nämlich »Modelle eines sinnvollen Lebens zu entwerfen«.51 In etwas anderer Weise zielen auch neuere Beiträge aus dem Bereich der Interkulturalitätsforschung auf »Austausch« und »Verständigung« ab. Sie begreifen Interdisziplinarität als Chance, um die »Machtansprüche« dominanter Nationalkulturen zu unterlaufen.52 Die interkulturelle Literaturwissenschaft etwa hält Interdisziplinarität für den Ausdruck eines neuen fachlichen Selbstverständnisses, weil sie für das Ende der Nationalphilologien und des von ihnen privilegierten Kanons stehe.53 Auch dieses Verständnis von Interdisziplinarität wirbt mit einer Programmatik der »Grenzüberschreitung«54 – selbst wenn die praktischen Konsequenzen oft vage bleiben. Jedenfalls wird hier offensiv mit dem Renommee- und Leistungsversprechen bestimmter »Paradigmen« argumentiert.55 Je nach disziplinärem Interesse wird Interdisziplinarität also offenbar an Erwartungen der Funktions- oder Leistungssteigerung geknüpft. Während die interdisziplinäre Programmatik in der Nachkriegszeit vor allem als Argument für funktionale Professionalisierung eingesetzt wurde, dominiert nun das Leistungsversprechen interdisziplinärer Kooperationen. Wer die gesellschaftliche Leistung der Literaturwissenschaft gegenüber ihrer Funktion betont – sei es im Namen von Geistes-, Kulturwissenschaft oder Interdisziplinarität –, unterstellt dabei häufig homogene Fachkulturen, die einen so hohen Professionalitätsgrad erreicht haben, dass sie sich von ihrer Umwelt angeblich nicht mehr irritieren lassen. In jedem Fall handelt es sich aber um strategische Argumentationen, die der Positionierung innerhalb des jeweiligen wissenschaftlichen Felds dienen.

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Hentig 1987, S. 51. Voßkamp 1987, S. 99 f. Frühwald u.a 21996, S. 39 f., S. 68. Bohnen 2003, S. 254. Vgl. Gutjahr 1998, S. 141. Ebd., 135. So etwa bei Becker 2013, z. B. S. 50.

Zur Praxis der Interdisziplinarität aus literaturwissenschaftlicher Perspektive

4. Programmatik und Pragmatik So unterschiedlich die diversen interdisziplinären Projekte seit den 1960er Jahren auch motiviert waren – sie teilen in der Regel ein gemeinsames, wissenschaftsgeschichtliches Narrativ: Interdisziplinarität gilt ihnen als relativ junges Phänomen, das gegen eine wachsende oder immer schon vorhandene disziplinäre Verengung, Spezialisierung oder Isolation angetreten sei. Explizit oder implizit liegt dieser These die Vorstellung von einer vergangenen Epoche der (Mono-)Disziplinarität zugrunde, die an einem bestimmten historischen Punkt an ihre Grenzen gekommen sei. Die Wissenschaften hätten sich seit dem 19. Jahrhundert demnach von einer Phase der Disziplinarität zu einer Phase der Interdisziplinarität entwickelt, in der die traditionellen Disziplingrenzen zunehmend verschmelzen.56 Dieser zeitlichen Logik entspricht, dass Interdisziplinarität und Disziplinarität in systematischen Definitionsversuchen häufig in einen Gegensatz gerückt werden. Ein gängiges Postulat lautet, man müsse zunächst definieren, was Disziplinarität sei, um ein angemessenes Verständnis von Interdisziplinarität zu gewinnen.57 Interdisziplinarität stellt dann gleichsam die Negation oder Überschreitung der ersten Definition dar: Wenn der Begriff der Disziplin eine »Einheit« bezeichnet, »die sich durch einen relativ einheitlich definierten Gegenstandsbereich, einheitliche Methodiken und zusammenhängende Fragestellungen auszeichnet«,58 dann fängt interdisziplinäres Arbeiten da an, wo diese Einheit unterlaufen wird, wo also auf fremddisziplinäre Theorien, Gegenstände oder Methoden zurückgegriffen wird. Auch wenn solche Konzeptionalisierungen aus heuristischen Gründen sinnvoll sein mögen, ist fraglich, wie tragfähig die schematische Gegenüberstellung von Disziplinarität und Interdisziplinarität samt der dazugehörigen Metaphorik von Einheit und Grenzüberschreitung in der Praxis ist.59 Zumindest sprechen einige Indizien dafür, dass die »Unterscheidung von disziplinärer und interdisziplinärer Forschung« eher »als eine graduelle, nicht als eine kategoriale angesehen werden muss«.60 Am Beispiel der Germanistik lässt sich dies gut zeigen. Die verbreitete Annahme, dass Interdisziplinarität frühestens ab dem 20. Jahrhundert, mit der Infragestellung der »Dominanz der positivistischen Philologie« Wilhelm Sche-

56 Vgl. Voigt 2013, S. 34. 57 Vgl. z. B. Jungert, 2013, S. 7 f.; Sukopp 2013, S. 19 f. 58 Jahraus 2007, S. 373 f. Jahraus orientiert sich an dieser Stelle vermutlich an systemtheoretischen Bestimmungen von Disziplinarität, insbesondere an Stichweh 1994, S. 15–51. 59 Vgl. zur antithetischen metaphorischen Besetzung von Disziplinarität und Interdisziplinarität Weingart 2000, S. 29; vgl. als Beispiel aus der Germanistik Röcke 2002, S. 342–348. 60 Kaufmann 1987, S. 68.

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rers,61 oder aber sogar erst in der Nachkriegszeit62 Einzug in das Fach erhielt und seitdem ständig zugenommen hat, muss bei genauerem Hinsehen relativiert werden. Bereits die Gründungsväter der Germanistik, Karl Lachmann und Jacob Grimm, ließen sich in ihren philologischen Arbeiten methodisch und theoretisch durch die Angebote anderer Disziplinen inspirieren, etwa durch die philosophische Hermeneutik Friedrich Schleiermachers oder die historische Rechtswissenschaft Friedrich Carl von Savignys.63 Der ›Positivist‹ Wilhelm Scherer orientierte sich wenige Jahrzehnte später an den Ansätzen der zeitgenössischen Naturwissenschaften64 – 1892 wurden dann Literaturhistoriker schon von juristischer Seite vor zu intensiven interdisziplinären Interessen gewarnt: Sie mögen sich der »Invasion naturwissenschaftlicher Denkformen« nicht ergeben.65 Und in den 1920er Jahren gab es neben der Geistesgeschichte, die ein lebensphilosophisches Programm verfolgte, u. a. literatursoziologische Ansätze, die von den Arbeiten zeitgenössischer Soziologen wie Max Weber profitierten.66 Interdisziplinarität ist also lediglich begrifflich, nicht aber praktisch eine Innovation, die erst von der Germanistik der Nachkriegszeit entdeckt wurde. Besonders aufschlussreich ist die wissenschaftshistorische Episode der Scherer-Zeit, weil diese sich als Parallelaktion zum Poetik und Hermeneutik-Projekt rekonstruieren lässt: Scherer begründete den Reformbedarf der deutschen Literaturwissenschaft u. a. aus einem ›Forschungsrückstandsbewusstsein‹ der Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften. Er reagierte auf diese Diagnose im Blick auf das eigene Fach mit der Forderung nach »Theorie« und methodologischer Reflexion, die zu anspruchsvoller Thesenbildung führen sollte. Für diesen theoretical turn der deutschen Philologie, aber auch generell, empfahl er die Orientierung am Reflexionsniveau anderer Wissenschaften. Diese Ansicht teilte er mit einigen jüngeren Kollegen, die sich in den 1860er Jahren regelmäßig trafen: dem Philosophen Wilhelm Dilthey, dem Historiker Bernhard Erdmannsdörffer und Herman Grimm, der Rechtswissenschaften und Philologie studiert hatte und später auf eine kunsthistorische Professur berufen wurde. Das Quartett strebte die Arbeit an einer Universität an – ein Jahrhundert später hätten sie vielleicht auf einen Ruf aus Konstanz hoffen dürfen. Und sie wollten eine interdisziplinäre Zeitschrift gründen, um eine stabile Anlaufstelle für ein »allgemeines Studium der Geisteswissenschaften«, »ungesondert durch Fakultätsunterschiede«, anzubieten.67 Im Programmentwurf heißt es: 61 Für diese Zäsur plädieren Voßkamp 1996, S. 91; Schmidt 2005, S. 53–64. 62 Vgl. Gutjahr 1998, S. 141. 63 Vgl. zum Verhältnis von Schleiermacher und Lachmann z. B. Neuber 2007, S. 57 f.; zum Einfluss Savignys auf die frühe Germanistik siehe Lutz-Hensel 1975, S. 64 ff. 64 Vgl. Rosenberg 1981, S. 101–127. 65 So Adolf Exner (zitiert nach: Albrecht 2015, S. 298). 66 Vgl. Simonis 2000, S. 180. 67 Kindt/Müller 1999, S. 184.

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Zur Praxis der Interdisziplinarität aus literaturwissenschaftlicher Perspektive Wir beabsichtigen, für die Pflege der Geisteswissenschaften in ihrem Zusammenhang eine Zeitschrift zu gründen. Es scheint dem Aufschwung dieser wichtigen Studien besonders hinderlich, wie sie an Geschichte, Philosophie, Philologie, Jurisprudenz, Staatswissenschaften, Theologie vertheilt sind: die Grenzsperren der Facultäten, die scharfe Sonderung der Fachzeitschriften isoliren die Arbeitenden in einem willkührlich herausgehobenen Kreis und hindern dadurch nur zu oft die fruchtbare Gemeinschaft mit anderen Forschungen.68

Das Projekt scheiterte aus unbekannten Gründen. Mit der Deutschen Literaturzeitung realisierte Scherer aber immerhin ein verwandtes Projekt.69 Seine nachgelassene Poetik dokumentiert, wie eminent interdisziplinär seine eigenen Forschungsansätze waren. Wir wollen damit nicht sagen, dass aktuelle interdisziplinäre Heraus- und Anforderungen einfach als Wiederkehr alter Problemstellungen aufgefasst werden sollten – natürlich gibt es eine Fülle von Unterschieden. Es erscheint uns aber vor dem Hintergrund dieser langen Phase praktizierter Interdisziplinarität sinnvoll, prinzipiell zwischen einer programmatischen und einer pragmatischen Ebene von Interdisziplinarität zu unterscheiden. Während man im Bereich programmatischer Interdisziplinarität – die unter anderem in wissensorganisatorischen Zusammenhängen eine wichtige Rolle spielt70 – seit der Mitte des 20. Jahrhunderts durchaus einen Zuwachs beobachten kann, lässt sich das für die Praxis interdisziplinären Arbeitens nicht gleichermaßen behaupten. Darauf deuten auch empirische Untersuchungen hin, die wir eingangs erwähnt haben. Wie die Korpusanalyse der DVjs im Zeitraum von 1960 bis 2009 ergeben hat, zeichnet sich die deutsche Literaturwissenschaft durch eine kontinuierliche Interdisziplinarität aus, die weder ab- noch zunimmt.71 Zwar lässt sich anhand des Zitationsverhaltens ein Wandel der privilegierten Referenzdisziplinen beobachten – so gewinnen etwa Fächer wie die Kulturwissenschaften und die Soziologie an Bedeutung, während musikgeschichtliche und philosophische Arbeiten mit abnehmender Tendenz zitiert werden. Doch der quantitative Grad der Außenorientierung bleibt weitgehend stabil. Nur weil interdisziplinäres Arbeiten nicht immer eigens als solches ausgezeichnet wird, bedeutet das also nicht, dass es nicht existiert. Geht man von diesem Befund vielgestaltiger, aber kontinuierlicher Interdisziplinarität aus, erscheinen die eingangs referierten Ansichten über Verlust oder Erweiterung des germanistischen Gegenstands gleichermaßen unplausibel oder 68 Ebd. 69 Ebd., S. 185. 70 Vgl. zur Bedeutung des Interdisziplinaritätsdiskurses in der Forschungsorganisation, z. B. bei der Formierung von Forschungsgruppen und der Akquise von Projektmitteln Weingart 2000, S. 25 f., 30, 33 f. 71 Vgl. Martus/Thomalla/Zimmer 2015, S. 516.

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zumindest unzulänglich.72 Die Rede von Interdisziplinarität bringt die Vorstellung von (Mono-)Disziplinarität als ihr Gegenbild überhaupt erst hervor, doch an der wissenschaftlichen Praxis geht dieser Dualismus vorbei. Man sollte mehr nach der Funktion von solchen Homogenitätsunterstellungen fragen und sie weniger als empirische Beschreibung eines Fachs auffassen. Das Qualitätskriterium »interdisziplinär« bezeichnet in dieser Hinsicht nicht einfach allgemein Kooperation über Fachgrenzen hinweg, sondern etwa die Integration eines bestimmten Fächerspektrums in eine bestimmte Auffassung der eigenen Disziplin, und zwar aus Perspektive einer bestimmten Feldposition – gerade interdisziplinäre Gesprächszusammenhänge bieten Anlass, die eigene Fachidentität (nicht aber die Identität des Fachs an sich) zu bestimmen.73 Interdisziplinarität ist nicht einfach das Gegenteil von »Disziplinarität« und bezeichnet daher nicht allein pragmatische Aspekte, sondern hat typischerweise programmatische Qualitäten, die auf die richtige Auffassung des eigenen Fachs zielen: Wenn man etwas für interdisziplinär erklärt oder Interdisziplinarität vermisst, positioniert man sich damit im Hinblick auf die Struktur des Fachs und zeichnet ein privilegiertes Fächerspektrum aus.

5. Disziplinäre Innendifferenzierung und Interdisziplinarität Angesichts der beschriebenen Vielfalt und Kontinuität interdisziplinärer Referenzen wäre zu fragen, inwiefern sich Disziplinen überhaupt als »Einheiten« beschreiben lassen. In den vielfältigen Versuchen, Interaktionsmöglichkeiten und Verbindungen zwischen Disziplinen zu bestimmen, wird der Disziplinen-Begriff in der Regel relativ homogen konzipiert. Verständigungsschwierigkeiten etwa werden stets lediglich zwischen Vertretern unterschiedlicher Disziplinen lokalisiert74, die Disziplinen selbst erscheinen als historisch gewachsene Größen, die sich nach innen durch Kohäsionskraft und nach außen durch Abgrenzung auszeichnen.75 Demgegenüber erscheint es aus einer praxeologischen Perspektive empfehlenswert, eine sehr viel stärker binnendifferenzierte Sicht auf Disziplinen einzunehmen.76 Für die Entwicklung der Germanistik seit 1960 zumindest kann 72 Vgl. Ebd., S. 516 f. 73 Vgl. Rhein 2015, S. 283–322. 74 Vgl. Maasen 2000, S. 188 ff.; Voßkamp 1987, S. 99 ff. 75 Vgl. Jahraus 2007, S. 373 f. 76 Vgl. zur Kritik an einem »monistischen« Verständnis von Disziplinen und ihrer Tendenz, »fraktale« Untereinheiten zu bilden Abbott 2001, S. 91 ff.; vgl. im Hinblick auf Interdisziplinarität auch van Laak/Malsch 2010, S. 10: »Sehr schnell wird deutlich, dass es die Literaturwissenschaft als mehr oder weniger homogenes Fach nicht gibt. Eher sollte man von einem ›breite[n] Fächer von Literaturwissenschaften‹ sprechen. Tritt ein Literaturwissenschaftler in einen Dialog mit einer anderen Disziplin, kann deshalb auch nur

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die Hypothese vertreten werden, dass es sich um eine Disziplin mit gleichbleibender Uneinheitlichkeit77 handelt, in der ein relativ großes Spektrum möglichen Forschungsverhaltens existiert. In der Analyse der DVjs erweist sich die Heterogenität der Forschungspraktiken als Normalfall.78 Statt Einheitsvorstellungen auf der Ebene von Disziplinen anzusetzen, scheint es daher sinnvoll, einzelne communities of practice zu identifizieren, die jeweils ihre eigenen und lokal ausgeprägten Standards und Normengefüge ausbilden.79 Auch die Art und Weise, in der diese Praxisgemeinschaften »Seitwärtskompatibilität«80 erzeugen, um ihre Gegenstände, Methoden und Probleme für interdisziplinäre Forschung offen und anschlussfähig zu halten sowie interdisziplinären Forschungsbedarf zu generieren, kann unterschiedlich stark ausfallen. In den Literaturwissenschaften etwa weist die Narratologie eine besonders hohe, die Lyrik- oder Dramentheorie hingegen eine geringere Seitwärtskompatibilität auf. Vor dem Hintergrund dieser Differenzierungen ist die Frage, wie sich Disziplinen bestimmen lassen und wie genau sich Interdisziplinarität und Disziplinarität zueinander verhalten, sehr viel komplexer als gemeinhin angenommen wird. An diese Überlegungen zur Binnendifferenzierung von Disziplinen sowie zur Unterscheidung zwischen Programmatik und Praxis lässt sich eine weitere Beobachtung anschließen, die die Gegenstände der Interdisziplinarität betrifft. Der behauptete Anstieg interdisziplinärer Forschung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts wird unter anderem damit begründet, dass es immer mehr »Probleme« gebe, »die gelöst werden sollen und mit einer einzigen Disziplin nicht mehr bewältigt werden können«.81 Das »wachsende Bewusstsein« von dem »vielschichtigen Charakter« der Probleme, die die modernen Wissenschaften zu lösen haben, nötige sie zur Kooperation.82 Wissenschaftliche Probleme und Gegenstände scheinen aus dieser Perspektive immer schon unabhängig von ihrer konkreten Erforschung zu existieren und den Modus ihrer idealen Bearbeitung oder Lösung bereits zu beinhalten. Viele Ergebnisse der Wissenschaftsforschung widersprechen dieser Auffassung und legen nahe, dass wissenschaftliche Probleme nicht einfach außerhalb von Disziplinen und konkreten Forschungszusammenhängen auftreten, sondern innerhalb solcher Kontexte entworfen und formiert werden. Im Gegensatz zu der Ansicht, dass die Gegenstände der Forschung bereits vorliegen und bloß noch ein Austausch eines ganz bestimmten literaturwissenschaftlichen Ansatzes mit einem je spezifischen Ansatz einer anderen Disziplin stattfinden.« 77 Vgl. Martus/Thomalla/Zimmer 2015, S. 519. 78 Vgl. Ebd., S. 514. 79 Vgl. Martus 2015, S. 49 f.; vgl. zur Formierung disziplinärer Gemeinschaften auch Becher/Trowler 2001, S. 41 ff. 80 Sommer 2015, S. 85, S. 89 (im Anschluss an Henk J. de Vries). 81 Reinalter 2011, S. 369. 82 Schläger 1998, S. 342.

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identifiziert und bearbeitet werden müssen, lässt sich etwa mit Hans-Jörg Rheinberger konstatieren, dass »epistemische Dinge« zunächst durch eine »charakteristische[], irreduzible[] Verschwommenheit und Vagheit«83 gekennzeichnet sind. Sie entstehen zwischen Akteuren und technischen Gegenständen, in komplexen Netzwerken, in die Subjekte und Objekte eingelassen sind, und erweisen sich somit als abhängig von den jeweiligen Praktiken ihrer Erforschung, ihrer disziplinären Vorgeschichte und den auf sie applizierten Normen einer Forschungsgemeinschaft.84 Interdisziplinäre Gegenstände sind ebenso wenig wie andere wissenschaftliche Gegenstände einfach gegeben, sie konstituieren sich vielmehr nur in einem je konkreten Forschungszusammenhang. Im Rahmen disziplinärer Forschungsgemeinschaften liegt die Schwierigkeit interdisziplinären Arbeitens möglicherweise weniger in der Vermittlung von Theorien oder Gegenständen, sondern darin, dass Praktiken und Praxen aufeinander abgestimmt werden müssen. Die eingangs zitierten Äußerungen aus der Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik lokalisieren die Effekte des interdisziplinären Gesprächs auf der »Versuchs- und Aktivitätsseite«85 von Wissenschaft. Ausgehend von einer praxeologisch-holistischen Auffassung von Wissenschaft lässt sich die epistemische Funktion solcher vorläufiger und – wenn man so will – experimenteller Anregungen des interdisziplinären Gesprächs bestimmen.86 Es scheint, als färbe ein bestimmtes Interesse auf die eigene Arbeit ab, als profitiere man von bestimmten Hinweisen auf Gegenstände oder Fragestellungen, vielleicht auch von bestimmten Provokationen und Irritationen der eigenen Routinen durch alternative Aufmerksamkeits- und Habitusformen oder ein fremdes Begriffsrepertoire.87 Interdisziplinarität betrifft nicht nur das explizite und deklarative, sondern auch das implizite und prozedurale Wissen. Wie bereits angemerkt wurde, weckt die Arbeit in interdisziplinären Zusammenhängen gerade die Routinen, die für das eigene Fach selbstverständlich sind, von außen gesehen aber befremdlich wirken.88 Diese eher unterschwellige Leistung von Interdisziplinarität gerät allerdings aus dem Blick, wenn man das Gelingen oder Scheitern interdisziplinärer Projekte nur von ihrer Ergebnisseite aus betrachtet. Das zeigt auch das Beispiel Poetik und Hermeneutik: »Die Bereicherung durch die Kolloquien war immens, dennoch sind aus diesen fruchtbaren Gesprächen dann Einzelleistungen hervorgegangen, die sich mit Poetik und Hermeneutik nicht mehr einfach verrechnen lassen.«89 Interdisziplinäre Anregungen müssen

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Rheinberger 2006, S. 27. Vgl. dazu ausführlich Martus 2015, S. 31. Löffler 2013, S. 161. Vgl. Rheinberger 2005, S. 346. Vgl. dazu das Register von interdisziplinären Bezügen bei Jungert 2013, S. 8–10. Vgl. Rhein 2015, S. 276. Stierle 2017, S. 36.

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letztlich bevorzugt in den eigenen, im Rahmen der Praxisgemeinschaften situierten Forschungszusammenhängen verarbeitet werden. Jede Forschungsgemeinschaft zeichnet sich durch ein komplexes Arrangement von »epistemischen Dingen« und epistemischen Praktiken aus, die von den jeweiligen Akteuren in langfristigen Prozessen inkorporiert werden. Man muss zunächst ein Gespür und Verständnis dafür entwickeln, wie man sich in einem Forschungszusammenhang verhält, welche Fragen produktiv und anschlussfähig sind und welche Einstellungen und Haltungen den zu erforschenden Gegenständen gegenüber einzunehmen sind. Ein routinisiertes Set an Praktiken, die sich zu einer tendenziell holistischen Praxis zusammensetzen, lässt sich nicht ohne Weiteres in andere Forschungszusammenhänge übertragen.90 Um dauerhaft und mit einem ›tieferen‹ Verständnis für andere Fächer interdisziplinär arbeiten zu können und sich in den jeweiligen Praxis- und Normengefügen zurechtzufinden, müsste sich ein wissenschaftlicher Akteur also genau genommen über einen längeren Zeitraum in zwei oder mehreren Disziplinen bewegt haben. Entsprechend gilt auch für interdisziplinäre Zusammenhänge wie Poetik und Hermeneutik, dass sich epistemische Effekte auf der Ebene des »knowing how« insbesondere oder sogar ausschließlich dann einstellen, wenn man zu den »Beteiligten« zählt. Man muss eine gewisse Zeit an einem Ort mit Vertretern anderer Disziplinen zusammen verbracht und gemeinsame »Erfahrenheit«91 erworben haben. Von außen fällt es hingegen oft schwer, diese Effekte wahrzunehmen und zu rekonstruieren. Die Praxis der Interdisziplinarität geht nicht darin auf, »sich jeweils an der geeigneten Stelle einzuarbeiten bzw. sich an geeigneten Quellen Information zu holen.«92 Sie ist in je konkrete Routinen, Schauplätze, Organisationsstrukturen und Arbeitsformen eingebunden, die so zusammenwirken, dass sich ihre Effekte kaum isoliert beobachten lassen und von den Teilnehmern selbst oft nur implizit wahrgenommen werden. Debatten über die Erzeugung und Vermehrung von Interdisziplinarität, so unser vorläufiger Eindruck aus dem Blickwinkel einer literaturwissenschaftlichen Praxeologie, werden vor dem Hintergrund faktisch vorhandener über- und zwischenfachlicher Kooperationen in Disziplinen geführt und sind entsprechend perspektiviert. Interdisziplinär zu lösende Probleme stellen sich für bestimmte disziplinäre Bereiche in spezifischen Hinsichten und Kontexten ein. Ebenso wie manche Felder mehr oder weniger an Zusammenarbeit interessiert sind, überund zwischenfachliche Anregungen also graduell und auf verschiedenen Ebenen untersucht werden sollten, verfügen auch Fächer und Fachspektren über größere oder geringere Affinität zueinander. Dass jedenfalls ganze ›Fächer‹ oder ›Diszi90 Vgl hierzu Martus 22015, S. 1–19, hier bes. S. 17. 91 Vgl. im Anschluss an Ludwig Fleck zu diesem Konzept: Rheinberger 2006, S. 92: »Erfahrung ist eine intellektuelle Errungenschaft. Erfahrenheit das heißt erworbene Intuition, ist eine Tätigkeits- und Lebensform«. 92 Vollmer 2013, S. 59.

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plinen‹ zusammenarbeiten, ist angesichts der Stabilität und Produktivität disziplinär verankerter Arbeits-, Aufmerksamkeits- und Kommunikationsformen eine unrealistische Forderung. So lange die Debatte von überzogenen Homogenitätsvorstellungen ausgeht, kann sie mit einem relativ konstanten Argumentationsreservoir immer wieder neu aufgelegt werden. In der Regel wird zu wenig Energie in Bestandsaufnahmen laufender Überschreitung von Fachgrenzen investiert. Es ist durchaus üblich, dass Theorie- und Programmaktivitäten andere Praktiken verfehlen und der präskriptive Aufwand höher ist als der deskriptive. Erkennt man dies als Teil einer etablierten Praxis an, dann sind Effekte von Interdisziplinaritätsdebatten offenbar nicht allein in der Aufforderung zu mehr Außenkontakten zu suchen. Angesichts der Normalität pragmatischer Interdisziplinarität sollte die programmatische Interdisziplinarität vielmehr im Blick auf ihre innerfachliche Funktion hin beobachtet werden. Weil die Reflexion interdisziplinärer Aktivitäten zumindest unterschwellig das Praxisgefüge einer Disziplin ins Bewusstsein ruft, dienen solche Überlegungen nicht zuletzt dazu, schwer greifbare epistemische Bedingungen und Effekte zu reflektieren: das langwierige Einspielen von Gemeinsamkeiten, den Voraussetzungsreichtum von Kooperationsfähigkeit, die institutionellen Rahmenbedingungen einer universitär situierten Wissenschaft, das spannungsreiche Verhältnis von disziplinären Funktionen und Leistungen oder den eigenen Standpunkt in Relation und Konkurrenz zum wissenschaftlichen Fächerspektrum.

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Interdisziplinarität (in) der Literaturwissenschaft Martina Wagner-Egelhaaf

Die implizite Interdisziplinarität der Literaturwissenschaft ergibt sich aus der spezifischen Welthaltigkeit ihres Gegenstands, der Literatur. Die Interpretation literarischer Texte profitiert notwendig vom Wissen anderer Disziplinen. Aber die Literaturwissenschaft hat auch anderen Fächern etwas anzubieten: ihre Kompetenz in der Analyse der sprachlichen Medialität kultureller und sozialer Phänomene. Der Beitrag skizziert Chancen und Schwierigkeiten interdisziplinärer Kooperation am Beispiel der Autobiographieforschung. Er formuliert die These, dass das Spannungsverhältnis von Referenzialität und Performativität einen zentralen Impuls für die literaturwissenschaftliche Interdisziplinarität darstellt. The implicit interdisciplinarity of literary studies results from the embeddedness of literature in the world. The interpretation of literary texts profits immensely from knowledge gained through other disciplines. However, literary studies can also contribute to other scientific fields, namely, in its capacity to analyze the linguistic mediality of cultural and social phenomena. In this regard, autobiographical research illustrates an excellent example for sketching out the opportunities and problems posed by interdisciplinary collaboration. This essay argues that the inherent tension between referentiality and performativity serves as the main motor driving interdisciplinarity in literary studies today.

Unter Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftlern geht bisweilen die selbstironische Rede, dass die Literaturwissenschaft mit allen anderen Disziplinen kooperieren möchte (und kann) – aber niemand mit ihr. Gesetzt den Fall, dies wäre so, wie könnte man sich diesen betrüblichen Sachverhalt erklären? Tatsächlich hat der ›cultural turn‹ bewirkt, dass die Literaturwissenschaft ihren Gegenstandsbereich über die Literatur hinaus ausgedehnt hat und auf der Grundlage eines textualistischen Kulturverständnisses1 auch andere kulturelle Hervorbringungen wie etwa Filme und Bilder, Geschlechterperformances, Erscheinungen der Mode, Kulturen und Ästhetiken des Essens, materielle Objekte, Werbung, Warenästhetik, Popsongs, die Rhetorik politischer und wissenschaftlicher Texte und vieles mehr in den analytischen Blick genommen hat. Dies tut sie zumeist auf einer semiotischen Grundlage, die davon ausgeht, dass die Kultur zeichenhaft verfasst ist. Und da Zeichen im semiotischen Verständnis gelesen werden können, kann auch die zeichenhaft verfasste Kultur gelesen werden. Und für!s Lesen und Interpretieren ist nun mal die Literaturwissenschaft zuständig. 1 Vgl. Bachmann-Medick 20042.

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Aber mehr noch: Die kulturwissenschaftliche Wende ging mit einem konstruktivistischen Welt- und Kulturverständnis einher, dem die Auffassung zugrunde liegt, dass die Dinge nicht einfach so sind, wie sie sind, sondern dass sie von Menschen geschaffen wurden, dass sie ›konstruiert‹ sind und ihnen ihre kulturelle Konstruktion abgelesen werden kann. In den letzten Jahrzehnten hat sich das literaturwissenschaftliche Interesse verstärkt dem Bereich des Wissens zugewandt und ein Forschungsfeld ausgeprägt, das sich ›Wissenspoetik‹ nennt.2 Dabei geht es um Fragen wie die Darstellung des Wissens, um poetische und ästhetische Präsentationsformen, aber auch um bestimmte Narrative, d. h. vorgeprägte und immer wiederholte, in der Wiederholung auch variierte Erzählmuster, die der Wissensgenerierung oder –repräsentation dienen, um Rhetoriken des Wissens und anderes mehr. In dieser Perspektive treten andere Disziplinen, wie etwa die Naturwissenschaften, Rechtswissenschaften oder auch die Wirtschaftswissenschaften, in den Blickpunkt der literaturwissenschaftlichen Wissensforscher/ innen. Freilich ist es nicht weiter verwunderlich, wenn die Kollegen und Kolleginnen aus diesen Fächern Vorbehalte haben, ihre Disziplin von Angehörigen anderer Disziplinen ›erklärt‹ und vermeintlich gewissermaßen ›dekonstruiert‹ zu sehen. Hinzu kommt, dass Fächer, in denen sogenanntes ›hartes Wissen‹ erzeugt wird, mit den ›weichen‹ Erkenntnissen literatur- und kulturwissenschaftlicher Wissensforschung im Allgemeinen wenig zu beginnen wissen. Doch sind die beschriebenen Ausgriffe der Literaturwissenschaft ins kulturelle Feld und die Wissensproduktion anderer Disziplinen keinesfalls Ausdruck eines modischen Sich-nicht-selbst-Genügens, das man der Literaturwissenschaft manchmal vorwirft. Wenn in der Einleitung des Oxford Handbook of Interdisciplinarity das Bedürfnis nach Interdisziplinarität mit einem zunehmenden Spezialistentum der Geisteswissenschaften, das sie in ihrer wissensintegrativen Rolle hindere, in Verbindung gebracht wird,3 so steht dem gerade die von vielen geschmähte kulturwissenschaftliche Öffnung der Geisteswissenschaften zweifellos entgegen. Und was die spezifisch literaturwissenschaftliche Lust, in fremden Gefilden zu wildern, anbelangt, so hat diese in grundlegender Weise mit ihrem genuinen Gegenstand, der Literatur, zu tun.

Interdisziplinäre Bezüge der Literatur Literaturwissenschaftler sind, schreibt der Romanist Hans-Otto Dill, »zur Interdisziplinarität verdammt«4. Als Kunstform steht die Literatur in einer Reihe mit anderen künstlerischen Ausdrucksformen, vornehmlich der Bildenden Kunst und der Musik. Nicht nur greifen literarische Texte künstlerische und musikali2 Vgl. etwa Köppe 2010 oder Borgards/Neumeyer/Pethes/Wübben 2013. 3 Vgl. Frodemann/Thompson Klein/Mitcham 2010, S. xxxi. 4 Dill 2011, S. 189.

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sche Diskurse ihrer Zeit auf, vielmehr weist die Literatur in ihrer künstlerischen Verfasstheit auch mannigfache Bezüge zu anderen Kunstformen auf. So ist literarische Rede vielfach bildliche Rede. Zu denken ist an den Einsatz von Metaphern oder Symbolen, die Verwendung von Allegorien, aber etwa auch an in literarischen Texten verwendete Ekphrasen – der Schild des Achill bei Homer oder Enites Pferd im Erec Hartmanns von Aue sind berühmte Beispiele. Auch Darstellungsformen wie das Emblem, das sich in der Zeit des Barock großer Beliebtheit erfreute, verbinden literarische Texte mit der bildenden Kunst, so dass Literaturwissenschaftler und Kunsthistorikerinnen in den emblematischen TextBild-Verschränkungen ein gemeinsames Diskussionsfeld vorfinden. Ebenso gibt es gemeinsame Analysefelder mit der Musikwissenschaft, etwa wenn Gedichte zu Liedtexten werden oder aber im Nachdenken über Metrum und Rhythmus. Ausgehend von dem Phänomen der Literaturverfilmung hat sich zunehmend auch eine Zusammenarbeit zwischen Literatur- und Filmwissenschaft entwickelt, umso mehr als der Film wie der Roman ein narratives Genre ist. Die Literatur ist ein äußerst welthaltiger Gegenstand, der in je spezifische historische Zusammenhänge eingelassen ist. Ihnen verdankt sie einerseits ihre Entstehung, andererseits bezieht sie sich vielfach und konstitutiv auf sie. Das bedeutet, dass der/die Literaturhistoriker/in nicht nur über Kenntnisse von literarischen Formen und Gattungen oder texttheoretisches Knowhow verfügen muss, sondern dass er oder sie in der Tat auch Historiker/in sein muss. Gesellschaftliche Bezüge der Literatur stehen ebenfalls genuin im Blickpunkt der Literaturwissenschaft. In den 1960erJahren hat sich daher neben der Sozialgeschichte der Literatur5 die Literatursoziologie als eine eigene Teildisziplin der Literaturwissenschaft herausgebildet. Mit der Popularität des literatursoziologischen Ansatzes von Pierre Bourdieu6 hat diese in der jüngsten Zeit eine Renaissance erlebt.7 Und dass Literatur politisch sein kann, so dass man auch von einer Sparte ›politischer Literatur‹ spricht, rückt die literaturwissenschaftliche Analyse in die Nähe politikwissenschaftlicher Fragestellungen. Gleichermaßen sind literarische Texte eingebunden in geistesgeschichtliche Strömungen; sie partizipieren an den philosophischen Debatten ihrer Zeit, wie dies beispielsweise an den Romantikern, bei denen Literatur und Philosophie ineinander übergehen, besonders offenkundig wird. Gleichermaßen sind Theologie und Religionswissenschaft affin, ist die Literatur, namentlich in ihren historischen Ausprägungen doch vielfach geistliche Literatur. Zu denken wäre etwa an das geistliche Spiel des Mittelalters oder die Texte der Mystikerinnen und Mystiker, die von der Literaturwissenschaft, der Theologie, aber auch von der Philosophie in Anspruch genommen werden.8 Auffallend viele Autoren 5 Vgl. Grimminger 1980–1999. 6 In der Literaturwissenschaft überaus einflussreich wurde Pierre Bourdieus Werk Les r"gles de l!art. Gen"se et structure du champ litt#raire. Vgl. Bourdieu 1992. 7 Vgl. Wagner-Egelhaaf 2015. 8 Vgl. die einflussreiche Studie von Schöne 1958; Weidner 2016.

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der deutschen Literaturgeschichten sind ausgebildete Juristen – zu denken ist beispielsweise an Gryphius, Lohenstein, Goethe, Heine, Kafka oder in der Gegenwart Bernhard Schlink oder Juli Zeh. Seit den 1970er-Jahren hat sich die Erkenntnis breit gemacht, dass es lohnend sein könnte, die systematischen Zusammenhänge zwischen Recht und Literatur auszuloten.9 Im angelsächsischen Bereich spricht man geradezu von einem ›Law-and-Literature-Movement‹.10 Die methodische Nähe zwischen den genannten Fächern – Literaturwissenschaft, Geschichtswissenschaft, Philosophie, Theologie und Rechtswissenschaft – besteht überdies auch darin, dass es sich bei ihnen allen um hermeneutische Disziplinen handelt, deren Geschäft die Auslegung von Texten ist und die sich auf eine gemeinsame Auslegungstradition berufen können. Deren Beginn wird oft bei der Homer-Allegorese gesehen; der mehrfache Schriftsinn, Schleiermacher, Dilthey und Gadamer sind weitere Marksteine des gemeinsamen hermeneutischen Selbstverständnisses. So hebt Oliver Jahraus hervor, dass die Hermeneutik »als eine Theorie des Textverstehens, die in der Theologie, in der Jurisprudenz und in der Literaturwissenschaft eine grundlegende Funktion erfüllt, immer schon potenziell interdisziplinär ausgerichtet«11 ist. Dass die Literaturwissenschaft auch mit der Psychologie im Gespräch ist, weil die Komplexität der menschlichen Psyche nicht nur Gegenstand der Literatur ist, sondern diese auch selbst als literarisch produktiv wahrgenommen wird, ist naheliegend. Die Literaturpsychologie ist daher ein besonderer Zweig der Literaturwissenschaft. Bis heute vermitteln psychoanalytische Deutungen differenzierte und oftmals überraschende Einblicke in literarische Textstrukturen. Nicht zufällig hat sich die Psychoanalyse Freuds oder auch Lacans ihrerseits auf literarische Texte bezogen. Indessen sind es nicht nur die affinen geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen, mit denen die Literaturwissenschaft Dialoge führt, sondern gerade in der jüngsten Zeit ist eine Annäherung an naturwissenschaftliche Themen zu konstatieren. Einzelne Fragestellungen wie beispielsweise das Verhältnis von Darwinismus und Literatur können bereits auf eine längere literaturwissenschaftliche Forschungstradition zurückblicken, während andere disziplinäre Ausrichtungen, etwa das Verhältnis von Literatur und Geologie, erst in der Gegenwart verstärkt Aufmerksamkeit erfahren.12 Wenige Jahrzehnte alt ist auch das Gebiet ›Eco-Criticism‹, das sich dem Thema ›Umwelt‹ und ›Natur‹ aus einer Perspektive zuwendet, die nicht mehr den Menschen und seine Hervorbringungen in den Mittelpunkt stellt, sondern das Zeitalter des Menschen, das sog. ›Anthropozän‹ als eine erdgeschichtliche Phase unter anderen betrachtet und veränderte Aufmerksamkeiten für die literarische Darstellung von Natur und Umwelt, durchaus auch in Verbindung mit einem kritischen politischen Impuls, 9 10 11 12

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Vgl. exemplarisch Lüddersen 20022 ; Pieroth 2015. Vgl. Dolin 2007. Vgl. Jahraus 2007, S. 375. Vgl. Braungart 2009.

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mit sich gebracht hat. Schließlich seien noch Neurologie und Kognitionswissenschaft genannt, die zur Ausprägung der Forschungsfelder ›Neuroscience and Literature‹ und ›Cognitive Poetics‹ geführt haben – die englischen Bezeichnungen weisen darauf hin, dass die Impulse von der angelsächsischen Forschungslandschaft ausgehen. Auch zwischen Medizin und Literatur gibt es Verbindungen, nicht nur weil viele Autoren wie etwa Alfred Döblin oder Gottfried Benn Ärzte waren, sondern aufgrund eines geteilten anthropologischen Interesses.13 Um die Auflistung jener Disziplinen abzuschließen, mit denen die Literaturwissenschaft aufgrund der spezifischen Welthaltigkeit ihres Gegenstands, der Literatur, den Schulterschluss sucht, seien schließlich noch die Wirtschaftswissenschaften genannt – keine Frage, der ›homo oeconomicus‹ kann gleichfalls in der Literatur, die ihrerseits selbstredend ein wirtschaftliches Produkt ist, beobachtet werden.14 Die genannten Öffnungen der Literatur und der Literaturwissenschaft – andere könnten sicherlich hinzugefügt werden – sind freilich noch keine Interdisziplinarität im strengen Sinn, aber, so ist festzuhalten, sie erklären das Begehren von Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftlern, mit anderen Disziplinen, von denen sie sich Aufschluss für das Verständnis des eigenen Objekts, der Literatur, versprechen, in einen Austausch zu treten.

Intradisziplinarität der Literaturwissenschaft Indessen ist nicht nur der ›Außenbeziehungen‹ zu gedenken, sondern die Literaturwissenschaft hat auch ›Innenbezüge‹, d. h. Verbindungen innerhalb der jeweiligen philologischen Einzeldisziplin. Literaturwissenschaft wird innerhalb einzelner philologischer Disziplinen betrieben, in der Germanistik, der Anglistik, der Romanistik, der Slavistik und anderer Fächer mehr, die hier nicht vollständig aufgelistet zu werden brauchen. Die meisten philologischen Einzelfächer teilen sich in die Bereiche Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft. Innerhalb der Fachgeschichten haben sich diese im Lauf der Zeit auseinanderentwickelt, aber sie können auf gemeinsame Anfänge zurückblicken. Und es hängt vom jeweiligen Fach ab, aber durchaus auch von individuellen Fachvertreterinnen und –vertretern, wie nah sie dem Gesamtfach stehen, d. h. wie sehr eine Literaturwissenschaftlerin in ihrer Arbeit auf sprachwissenschaftliche Ansätze zurückgreift oder ob umgekehrt ein Sprachwissenschaftler die Entwicklungen innerhalb der Literaturwissenschaft verfolgt oder sogar in der eigenen Forschung mit literarischen Texten arbeitet. In der Germanistik lässt sich eher ein Auseinanderdividieren zwischen Literatur- und Sprachwissenschaft konstatieren, aber gerade weil dies so ist, zeigen sich in jüngerer Zeit Tendenzen, dem aktiv entgegenzuwirken.15 In den 13 Vgl. etwa Engelhardt 1991 oder Jagow/Steger 2009. 14 Vgl. etwa Rakow 2013. 15 So hat vom 25. bis zum 27. Oktober 2013 an der Universität Vechta eine Tagung

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philologischen Fächern wird in der Regel auch Mediävistik betrieben, d. h. die Auseinandersetzung mit den Sprachen und Literaturen des Mittelalters. In diesen Abteilungen ist die Zusammenarbeit zwischen Sprach- und Literaturwissenschaft näher als in den neueren Abteilungen. Zu gedenken ist unter der Perspektive der Intradisziplinarität natürlich auch der Didaktiken, der Sprach- und der Literaturdidaktik, die enge Kontakte mit den Bildungswissenschaften pflegen.

Fach-Genesen Im Hinblick auf das interdisziplinäre Potenzial der Literaturwissenschaft, und zwar sowohl bezüglich ihrer Intradisziplinarität als auch hinsichtlich ihrer Außenbezüge, verlohnt ein Blick auf die Fachgeschichten. Der Plural ist bewusst gewählt, weil die einzelnen Literaturwissenschaften, d. h. die germanistische, die anglistische, die romanistische etc. selbstredend verschiedene Fachgeschichten haben. Die Germanistik als Disziplin ist ein Produkt der Romantik und in diesen ihren Anfängen, die sich u. a. mit den Namen der Brüder Grimm, Karl Lachmann, Friedrich Heinrich von der Hagen und Georg Friedrich Benecke verbinden, war sie Mediävistik und zwar in erster Linie Sprachwissenschaft. Gegenstand des forscherlichen und kulturpolitischen Interesses der ersten ›Germanisten‹ waren, offenkundig in Anlehnung an die Klassische Philologie, die sog. ›deutschen Altertümer‹, d. h. Textzeugnisse aus der Zeit des Mittelalters. Zu ihnen gehörten auch Rechtstexte wie der Sachsenspiegel. Das deutsche Recht war ein inhärenter Bestandteil der Germanistik – seine juristischen Fachvertreter wurden und werden bis heute auch ›Germanisten‹ genannt. Literaturforschung orientierte sich im 19. Jahrhunderts an den empirischen Wissenschaften; d. h. sie war um Daten und Fakten sowie um die Sicherung von Texten bemüht. Zudem war sie stark historisch ausgerichtet; zahlreiche Literaturgeschichten entstanden im 19. Jahrhundert, etwa die von Georg Gottfried Gervinus.16 Zu einer Trennung von Alt- und Neugermanistik kam es erst in den 1870er-Jahren; im Zuge des aufkommenden Nationalismus begann man allerdings auch, sich für die ›deutsche‹ Literatur späterer Zeiten zu interessieren. 1877 erhielt Wilhelm Scherer in Berlin einen Lehrstuhl für neuere deutsche Literaturgeschichte.17 Die Genese anderer Philologien und damit auch Literaturwissenschaften kann hier nicht rekapituliert werden. Der Hinweis auf die Geschichtlichkeit der Fächer, die sich in ihrer disziplinären Selbstkonstitution oftmals an anderen Fächern orientierten, soll indessen die der Literaturwissenschaft historisch inhärente Neigung zum interdisziplinären Gespräch erklären. Und wie vermerkt haben unterschiedliche Literaunter dem Titel »Literaturlinguistik – philologische Brückenschläge« stattgefunden. Verfügbar unter: www.literaturlinguistik.de (zuletzt aufgerufen am 12. 2. 2017). 16 Gervinus 1835–1842. 17 Zur Geschichte der germanistischen Literaturwissenschaft vgl. Weimar 20032.

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turwissenschaften, d. h. die in verschiedenen Philologien gründenden Literaturwissenschaften, durchaus ihr je eigenes Selbstverständnis und spezifische Profile. Noch heute sind im interphilologischen Austausch unterschiedliche Fachkulturen spürbar, die aber auch mit unterschiedlichen nationalen Wissenschaftskulturen einhergehen. Möchte man den interphilologischen Austausch als eine Form der Interdisziplinarität betrachten, so ist eines literaturwissenschaftlichen Fachs zu gedenken, das den Vergleich zwischen den Literaturen verschiedener Sprachen zum Programm erhoben hat, der Komparatistik bzw., wie sie auch häufig genannt wird, der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft. Gerade die Komparatistik ist es auch, die aufgrund ihrer aus dem Vergleich zwischen Literaturen gewonnen Themen und Motive sehr häufig den Bezug zu benachbarten Wissenschaften, insbesondere der Kunst und der Musik sucht und pflegt. Gleichzeitig geht es der AVL aber auch darum, eine allgemeine, d. h. die Einzelliteraturwissenschaften übergreifende theoretische Grundlegung der literaturwissenschaftlichen Arbeit zu schaffen. Dabei ergeben sich gelegentlich Reibungen mit den theoretisch-methodischen Konventionen in den Nationalphilologien, die wiederum mit den jeweiligen Fachgeschichten zu tun haben.

Theorien- und Methodenvielfalt Die Vielfalt der in den literaturwissenschaftlichen Disziplinen aufgegriffenen und verwendeten Theorien und Methoden, oft verschrien als ›Schulen-‹ oder ›Methodenstreit‹, ist mit ein Grund, warum die Literaturwissenschaft so vielgestaltig ist, dass es schwerfällt, von der Literaturwissenschaft zu sprechen. Von den hermeneutischen Grundlagen des Fachs war bereits die Rede. Ohne an dieser Stelle ein Kompendium literaturwissenschaftlicher Methoden abliefern zu wollen, sei darauf hingewiesen, dass etwa die psychoanalytische Literaturwissenschaft und die sozialgeschichtliche Betrachtung der Literatur, die ebenfalls bereits erwähnt wurden, ohne die hermeneutische Grundlage nicht denkbar sind. Eine veritable Gegenbewegung stellte der aus dem russischen Formalismus hervorgegangene Strukturalismus dar, dem es nicht mehr um das ›Verstehen‹, um ›Sinn‹ und ›Bedeutung‹ im vorausgesetzten Verständnis ging, sondern um die Erkenntnis von Strukturen, die ihrerseits erst Bedeutung hervorbringen. In kritischer Auseinandersetzung, aber auch im Anschluss an den Strukturalismus, entwickelte sich seit den 1960er-Jahren der sog. ›Poststrukturalismus‹, dessen prominenteste und umstrittenste Variante die Dekonstruktion Jacques Derridas war. Michel Foucaults Diskursanalyse fiel in der Literaturwissenschaft ebenfalls auf günstigen Boden, gleichermaßen die Systemtheorie im Anschluss an Niklas Luhmann. Dass die Literatursoziologie mit Pierre Bourdieu eine Renaissance erlebte, wurde ebenfalls schon erwähnt. Insgesamt geht es bei diesen neueren, seit den 1960erJahren in der Literaturwissenschaft aufgegriffenen Ansätzen darum, die Vor-

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stellung, literarische Texte hätten eine bestimmte, durch Auslegung zu identifizierende Bedeutung, zu verabschieden und stattdessen zu analysieren, wie sie soziale, politische oder kulturelle Bedeutung auf der Grundlage ihrer spezifischen sprachlich-semiotischen Medialität prozessieren. Diese – und andere – unterschiedlichen theoretisch-methodischen Ausrichtungen haben zu einer starken Disparität innerhalb der Literaturwissenschaft geführt. Die bemerkenswerteste aktuelle Entwicklung, von der die Literaturwissenschaft zentral betroffen ist, sind die sog. ›Digital Humanities‹, denen es zentral um die Frage geht, wie große Textkorpora ausgewertet werden können und in welcher Weise die Computertechnologie die literaturwissenschaftliche Arbeit unterstützt, aber auch in der Lage ist, sie weiterzuentwickeln bzw. überhaupt neue Fragen zu generieren. Die ›Digital Humanities‹ bringen die Literaturwissenschaft mit der Informatik ins Gespräch. Diese skizzenhafte historische und systematische Auffächerung der Literaturwissenschaft soll auf die inhärente Heterogenität des Fachs18 hinweisen, aber auch zeigen, warum die Literaturwissenschaft prinzipiell interdisziplinär ›veranlagt‹ und daher offen für die interdisziplinäre Zusammenarbeit ist. Was aber, muss man fragen, haben andere Disziplinen von der Zusammenarbeit mit der Literaturwissenschaft?

Das interdisziplinäre Angebot der Literaturwissenschaft Zunächst einmal ist die Literatur ein Medium, das alle denkbaren Themen und Problemstellungen aufgreift, mit denen Menschen und Gemeinschaften konfrontiert sind. Sie gibt Einblicke in menschliche Bewusstseinslagen, aber auch in soziale Konstellationen und Prozesse. Dabei bildet sie nicht so sehr Wirklichkeit ab, sondern gemäß dem in der Poetik des Aristoteles (poet. 9) vorgetragenen Grundsatz, dass sie zeigt, wie es sein könnte, entwirft sie ihre eigenen Wirklichkeiten, perspektiviert und problematisiert sie ›Wirklichkeit‹. Und dies vermag sie v. a. aufgrund ihrer spezifischen sprachlichen Medialität, die vom alltagsweltlichen Sprachgebrauch abweicht. Auf diese Weise bricht die Literatur Routinen auf, ›verfremdet‹ und ›desautomatisiert‹, wie es die Formalisten genannt haben. Dieses Potenzial kann gerade auch im interdisziplinären Gespräch Einsichten eröffnen und Zusammenhänge, die sich der Begriffssprache entziehen, zur Darstellung bringen. So hat es etwa seit den 1960er-Jahren eine methodische Annäherung zwischen Ethnologie und Literaturwissenschaft gegeben, insofern als die Ethnologie aufgrund der Sensibilität ihres Gegenstands – fremde Kulturen – ein kritisches Selbstverständnis gegenüber ihren eigenen Methoden entwickelte und insbesondere die kulturelle (westliche) Bedingtheit ihres eigenen Standpunkts erkannte. In den narrativen, bildhaften und oft die eigene Subjektivität mitthe18 Vgl. dazu auch die Studie von Riesenweber 2017.

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matisierenden Darstellungsformen des literarischen Mediums haben Ethnologinnen und Ethnologen eine probate Möglichkeit für die ethnographische Beschreibung gesehen. Auch Literaten wie etwa Hubert Fichte haben versucht, sich diese methodische Affinität zunutze zu machen, indem sie die Begegnung mit dem ›Fremden‹ oder dem ›Anderen‹ zum poetischen Programm erhoben und sich ihrerseits gewissermaßen im Medium der Literatur ethnographisch betätigten. Weil die Literatur und mit ihr die Literaturwissenschaft um die schöpferische, weniger pathetisch formuliert, die konstruktive Kraft der Sprache weiß, ist sie geneigt, diese allenthalben am Werk zu sehen, auch in außerliterarischen Bereichen. Der linguistic turn der 1960er-Jahre kam ihr dabei natürlich entgegen. Und mehr noch: Die auf den linguistic turn folgenden und gleichsam auf ihm aufsetzenden Folge-turns19, der pictorial turn, der medial turn, der spatial turn, der topographical turn, nicht zu vergessen der cultural turn selbst, der digital turn und wie sie alle heißen, wurden bereitwillig und auf vielfach produktive Weise aufgenommen und literaturwissenschaftlich weiter ausbuchstabiert.20 Seit den 1980er-Jahren verstehen sich viele literaturwissenschaftliche Fachkolleginnen und Fachkollegen als Kulturwissenschaftler/innen.21 Und all jene Disziplinen, die ihrerseits die Fächergrenzen kulturwissenschaftlich erweitert haben, finden in der Literaturwissenschaft eine Gesprächspartnerin, insofern als diese die Gegenstandskonstitution anderer Disziplinen in ihrer kulturellen und diskursiven Sprachlichkeit ernst nimmt. Das alles sind aber lediglich Grundlagen und Voraussetzungen für Interdisziplinarität. Interdisziplinarität kommt nicht automatisch zustande. Sie bedarf einer bewussten Entscheidung und einer Institutionalisierung der interdisziplinären Kooperation.

Institutionen der Interdisziplinarität Es gibt ›schwächere‹ und ›stärkere‹ Formen der Interdisziplinarität.22 Die ›schwächere‹ Form findet sich üblicherweise in den gängigen Forschungsverbünden, die sich ein übergreifendes Thema gesetzt haben und sich aus Teilprojekten unterschiedlicher disziplinärer Herkunft zusammensetzen. Sie kooperieren über gemeinsame Veranstaltungen, Ringvorlesungen, Konferenzen, Diskus19 Vgl. Bachmann-Medick 20145. 20 Diese fachliche Ausdifferenzierung und Grenzerweiterung hat immer wieder zu Selbstverständigungsdebatten innerhalb der Literaturwissenschaften geführt; vgl. z. B. den Band Erhart 2004. 21 Jahraus weist darauf hin, dass die Kulturwissenschaft »zu einem Feld praktizierter Inter- und Transdisziplinarität« geworden ist (vgl. Jahraus 2007, S. 376). 22 Die Attribute ›stärker‹ und ›schwächer‹ sind hier nicht wertend, sondern lediglich beschreibend gemeint.

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sionsgruppen etc., in denen sich die Fachvertreter/innen mit ihren Projekten kennenlernen, zur Kenntnis nehmen und natürlich auch austauschen. Dabei können sie eine Menge voneinander lernen und vielfach fließen Impulse aus anderen Disziplinen in die eigene Forschungsarbeit ein. Letztlich aber wird auch in diesen Verbünden vorwiegend disziplinär gearbeitet. Von einer ›stärkeren‹ oder gar ›starken‹ Form der Interdisziplinarität ist dann zu sprechen, wenn Projekte tatsächlich gemeinsam konzipiert werden, am gleichen Material gearbeitet wird und eine gemeinsame Fragestellung entwickelt wird. Dies ist bei weitem seltener der Fall.23

Interdisziplinarität in der Autobiographieforschung Die Autobiographieforschung ist ein Feld, das sich interdisziplinärer Zusammenarbeit anbietet, weil autobiographische Zeugnisse nicht nur in der Literaturwissenschaft untersucht werden, sondern weil sie auch in der Geschichtswissenschaft, den Sozialwissenschaften, der Theologie, der Philosophie und anderen Disziplinen Beachtung finden.24 Die literaturwissenschaftliche Autobiographieforschung bezieht sich sehr häufig auf die Confessiones (um 400) des Aurelius Augustinus, in denen sie eines des frühesten Zeugnisse für einen zusammenhängenden Lebensbericht sieht.25 In der Theologie aber wurde der Text als theologischer Traktat gelesen, der seine Aussagen lediglich am Beispiel des Lebens seines Verfassers erläutert.26 Hinter diesen verschiedenen Perspektiven stehen unterschiedliche Fachinteressen: die Literaturwissenschaft interessiert sich für die Geschichte einer literarischen Form, die Theologie für die theologische Lehre. Dies sind selbstredend gleichberechtigte, nebeneinander bestehende Interessen, deren Legitimität auch nicht dadurch in Frage gestellt wird, dass sich in der Folgezeit viele Autobiographen und Autobiographinnen, vor allem im 17. und 18. Jahrhundert, auf Augustinus beriefen und ihre Lebensberichte am Modell der Confessiones ausrichteten. D. h. Augustinus hat sein Leben gewiss nicht in der Absicht geschrieben, eine Autobiographie zu verfassen – das Genre gab es im 4. Jahrhundert noch nicht –, sondern tatsächlich eine theologische Schrift am 23 Der von Laak/Malsch 2010 herausgegebene Sammelband enthält eine Reihe von Beiträgen, die gezielt von Angehörigen unterschiedlicher Fächer gemeinsam geschrieben wurden. 24 Vgl. dazu das Handbuch Wagner-Egelhaaf 2019, das im ersten Band Artikel aus 15 verschiedenen Disziplinen zur Autobiographie versammelt. Die Zusammenstellung im Handbuch stellt indessen eine ›schwache‹ Form der Interdisziplinarität im oben beschriebenen Sinn dar. Zu interdisziplinären Ansätzen zur Autobiographie vgl. auch den Band Ulrich/Medick/Schaser 2012. 25 Vgl. Wagner-Egelhaaf 20052, S. 112–118. 26 Vgl. Frederiksen 2007, S. 308; vgl. auch Flasch 2009, S. 9 f.

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Beispiel seines Lebens. Erst in der literarischen Rezeption und dann freilich in der Rezeption durch die Literaturwissenschaft wurden die Confessiones zu einer ›Autobiographie‹. Der theologische Entstehungskontext hat der Autobiographietradition mit dem Motiv der Konversion ein bedeutsames Strukturmoment mitgegeben, das gerade in autobiographischen Zeugnissen des 17. und 18. Jahrhunderts, in der pietistischen Autobiographie, aber auch bei den Puritanern in England und Amerika, eine zentrale Rolle spielt. Literaturwissenschaftlerinnen sehen darin ein Formelement, eine Figur im rhetorischen Sinn, die dem Text ein Gravitationszentrum verleiht, während Theologen – wie könne es auch anders sein – Konversion als wie auch immer zu bewertenden religiösen Akt behandeln.27 Im Fall der Confessiones des Bischofs von Hippo stellt die Rhetorik ein probates Analysefeld dar, auf dem sich Literaturwissenschaft und Theologie begegnen, insofern als der junge Augustinus seine Laufbahn als glänzender Rhetoriker begann und auch der Text der Confessiones hochrhetorisch ist.28 Und nicht zufällig stellt die Predigt seit alters eine prominente Gattung der Rhetoriklehre dar. Der Literaturwissenschaft indessen bietet die Rhetorik ein differenziertes Instrumentarium der auf die sprachliche Figuralität bezogenen Textanalyse. Weil die Autobiographie eine Gattung ist, die systematisch zwischen Literatur und Geschichtsschreibung angesiedelt betrachtet werden kann, steht sie im Fokus sowohl der literaturwissenschaftlichen als auch der geschichtswissenschaftlichen Aufmerksamkeit.29 Grundsätzlich kann man sagen, dass die Autobiographie für die Geschichtswissenschaft eine ›Quelle‹ darstellt, für die Literaturwissenschaft jedoch ein ›Text‹ ist. Allerdings stimmt das auch nur bedingt. Auch Literaturwissenschaftlerinnen können Autobiographien als Quelle lesen, wenn sie z. B. über einen Autor oder eine Autorin arbeiten und weitere Information über das Leben oder das Werk desselben oder derselben aus der Autobiographie gewinnen wollen. Genau in diesem Sinn begründet Goethe die Abfassung seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit; im Vorwort zitiert er den (erfundenen) Brief eines Freundes, der sich in Anbetracht der 1806–08 bei Cotta erschienenen zwölf Teile von Goethes dichterischem Werk weitergehenden Aufschluss über den Autor und den Zusammenhang der Werke wünscht. Darin heißt es: Das Erste also, warum wir Sie ersuchen, ist, daß Sie uns Ihre, bei der neuen Ausgabe, nach gewissen innern Beziehungen geordneten Dichtwerke in einer chronologischen Folge aufführen und sowohl die Lebens- und Gemütszustände, die den Stoff dazu hergegeben,

27 Vgl. den Dialog zwischen Wagner-Egelhaaf 2017, S. 54–70 und Hoeps 2017, S. 71– 79. Um die Frageperspektiven zum Zweck des interdisziplinären Gesprächs bewusst aufeinander zuzuführen, wurde in diesem Band das Medium der ›Stimme‹ als Untersuchungsfokus gewählt. 28 Zu einer rhetorischen Lektüre der Confessiones vgl. etwa Ferrari 1983. 29 Vgl. zu dieser Debatte Depkat 2010; Wagner-Egelhaaf 2010 und dazu Heinze 2010.

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Martina Wagner-Egelhaaf als auch die Beispiele, welche auf Sie gewirkt, nicht weniger die theoretischen Grundsätze, denen Sie gefolgt, in einem gewissen Zusammenhange vertrauen möchten.30

Historikerinnen wie Literaturwissenschaftler haben ein Interesse an historischen Persönlichkeiten, das durch die Lektüre einer Autobiographie zumindest teilweise befriedigt werden kann. Und beide sind sich natürlich immer der in Autobiographien statthabenden Selbststilisierung und der Unzuverlässigkeit des subjektiven Zeugnisses bewusst. Gleichwohl, so lässt sich sagen, geschieht dies bei Historikern eher aus einem mentalitätsgeschichtlichen Interesse heraus, während für die Literaturwissenschaftlerin denn doch in der Regel der autobiographische Text ein literaturgeschichtliches Ereignis darstellt, das um seiner selbst willen ernst genommen werden will. Mag es ein berechtigtes historisch-biographisches Interesse an den »Lebens- und Gemütszuständen« von Johann Wolfgang Goethe geben, erscheint für die systematische Literaturwissenschaft viel mehr die in der oben zitierten Passage aufgebotene Argumentationsfigur, derzufolge ein Freund den Freund bittet, seine Autobiographie zu verfassen, bemerkenswert. Ganz offensichtlich bedarf es zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Rechtfertigung, eine Autobiographie zu schreiben, einen einsichtigen Grund – man kann es nicht einfach tun. Diese Argumentationsfigur wird in der Folgezeit zum Topos, nicht zuletzt auch im wissenschaftlichen Kontext, wo mancher Autor nur ›auf Drängen seiner Freunde‹ sich zu einer Publikation entschlossen hat… Doch sind literaturwissenschaftliche und historische Aufmerksamkeit so eng miteinander verflochten, dass für den Historiker gerade auch die Form des Textes und seine literarische Verfahrensweise einen Zugang zu jener Vergangenheit darstellt, auf deren Spuren er sich befindet. Für die Literaturwissenschaftlerin indes hilft alles historische Wissen, das die Geschichtswissenschaft erarbeitet, potenziell, den Text, um den es ihr geht, besser zu verstehen. Geschichtswissenschaft und Literaturwissenschaft sind also in hohem Maße aufeinander angewiesen31 – ohne dass das, was sie tun, dasselbe wäre. Ein ›starkes‹ interdisziplinäres Projekt wäre es in der Tat, wenn sich Historikerinnen und Literaturwissenschaftler zusammentäten und wirklich gemeinsam an den gleichen Texten arbeiteten. Dies ist in der Regel nicht der Fall, weil sich das literaturwissenschaftliche Interesse an der Autobiographie eher auf literarisch ambitionierte, mit den Grenzen des Genres experimentell umgehende Texte richtet und diese zumeist von Literatinnen und Literaten verfasst werden und weniger von den historischen bzw. politischen Akteuren, welche die Geschichtswissenschaft im Blick hat. Eine wirklich interdisziplinäre Arbeit am gleichen Textmaterial hätte eine präzise gemeinsam 30 Goethe 1986, S. 12. Tatsächlich gibt es einen Brief von Schiller vom 17. 2. 1797, der sich als eine vergleichbare Bitte lesen lässt, doch ist der Brief so, wie ihn Goethe ausführlich wiedergibt, fingiert (vgl. den Kommentar von Klaus-Detlef Müller, 1074). 31 Vgl. den Band Depkat/Pyta 2017; zur Interdisziplinarität der Autobiographieforschung vgl. auch Friedrich 2002, S. 984 f.

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Interdisziplinarität (in) der Literaturwissenschaft

formulierte und auch längerfristig verfolgte Fragestellung zur Voraussetzung. Gängige Praxis sind eher situationsbezogene Begegnungen im Rahmen von Konferenzen, Workshops und, wie erwähnt, institutionalisierten Diskussionsforen innerhalb von Forschungsverbünden.

Disziplinarität und Interdiziplinarität Möglicherweise ist die Vorstellung von einer ›starken Interdisziplinarität‹ im oben dargelegten Sinn eine unerreichbare und vielleicht auch gar nicht unbedingt anzustrebende Vision: Interdisciplinarity represents a new word for a perennial challenge which will never be fully answered. […] [S]uccess at integrating different perspectives and types of knowledge […] is a matter of manner rather than of method, requiring a sensitivity to nuance and context, a flexibility of mind and an adeptness at navigating and translating concepts.32

Es ist ein oft wiederholter Topos, dass es ohne Disziplinarität auch keine Interdisziplinarität geben könne33 : Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssen, um überhaupt interdisziplinär agieren zu können, ihren festen Bezugspunkt innerhalb ihrer eigenen Disziplin haben und die Ergebnisse ihres interdisziplinären Erkenntnisgewinns in ihrer disziplinären Arbeit produktiv umsetzen. Doch: Wissenschaft ist ein Prozess34 und ihre institutionellen Rahmungen, d. h. konkret: die Profile der Disziplinen, sind ständiger Veränderung unterworfen. Deswegen ist es sinnvoll, nicht nur aus einer vermeintlich festen Warte disziplinärer Verankerung in die abenteuerliche Landschaft interdisziplinärer Möglichkeiten zu blicken, sondern die Erfahrung des interdisziplinären Austauschs und der Verunsicherung durch Interdisziplinarität auch als Chance disziplinärer Selbstverständigung und Weiterentwicklung zu begreifen. Freud- und leidvolle Erfahrungen mit interdisziplinärer Forschung, Verständigung und Missverständnisse führen immer auch zu einem geschärften Bewusstsein von den eigenen, oftmals unreflektierten disziplinären Grundlagen und Prägungen. Für die an sprachlichen Konstruktionen, Medialisierungen und Zeichenregimes interessierte Literaturwissenschaft sind gerade Disziplinen ein Korrektiv, die ihre Gewissheiten aus anderen Voraussetzungen beziehen, seien dies empirische Daten, ontologische Grundlagen oder logische Axiome. Referentialität und Performativität sollten nicht gegeneinander ausgespielt, sondern in ihrem Zusammenspiel für die interdisziplinäre Kooperation fruchtbar gemacht werden. Sich mit anderen Diszipli32 Frodemann/Thompson Klein/Mitcham 2010, S. xxxi. 33 Vgl. etwa Voßkamp 1996, S. 88. 34 Vgl. auch Jahraus 2007, S. 377.

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nen ins Verhältnis zu setzen, ohne deren epistemischen Prämissen die Anerkennung zu verweigern, muss für die Literaturwissenschaft eine dauernde Herausforderung des selbstkritischen Nachdenkens über sich selbst bleiben.35 Übrigens, um auf die eingangs kolportierte, selbstironische Klage zurückzukommen: Erfreulicherweise fehlen in kaum einem geistes- oder sozialwissenschaftlichen Forschungsverbund literaturwissenschaftliche Teilprojekte, weil offensichtlich anerkannt wird, dass die Literatur eine unhintergehbare kulturelle Kraft – und die Literaturwissenschaft vom Ansatz her interdisziplinär ist.

Literatur Bachmann-Medick, Doris (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Stuttgart 20042. Bachmann-Medick, Doris: Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Hamburg 20145. Borgards, Roland/Neumeyer, Harald/Pethes, Nicolas/Wübben, Yvonne (Hg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/Weimar 2013. Bourdieu, Pierre: Les r"gles de l!art. Gen"se et structure du champ litt#raire. Paris 1992. Braungart, Georg: ›Literatur und Geologie. Plenarvortrag beim Deutschen Germanistentag in Marburg 2007‹, in: Anz, Thomas (Hg.): Natur – Kultur. Zur Anthropologie von Sprache und Literatur. Paderborn 2009, S. 45–67. Depkat, V.: ›Zum Stand und zu den Perspektiven der Autobiografieforschung in der Geschichtswissenschaft‹, in: BIOS 2010/23, S. 170–187. Depkat, Volker/Pyta, Wolfram (Hg.): Autobiographie als Text und Quelle. Berlin 2017. Dill, Hans-Otto: ›Interdisziplinäre Beziehungen zwischen Literaturwissenschaft und Natur- und Sozialwissenschaften – Defizite und Perspektiven‹, in: Banse, Gerhard/ Fleischer, Lutz-Günther (Hg.): Wissenschaft im Kontext. Inter- und Transdisziplinarität in Theorie und Praxis. Abhandlungen der Leibniz-Sozietät, Bd. 27. Berlin 2011, S. 187–199. Dolin, Kieran: A Critical Introduction to Law and Literature. Cambridge 2007. Engelhardt, Dietrich von: Medizin in der Literatur der Neuzeit. Band 1. Hürtgenwald 1991. Erhart, Walter (Hg.): Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? Stuttgart/Weimar 2004. Ferrari, L. C.: ›Ecce audio vocem de vicina domo (Conf. 8, 12, 29)‹ in: Augustiniana Tijdschrift voor de studie van Sint Augustinus en de Augustijnenorde 1983/33, S. 232– 245. Flasch, Kurt: ›Einleitung‹, in: Flasch, Kurt/Mojsisch, Burkhard (Hg.): Aurelius Augustinus Confessiones/Bekenntnisse, Lateinisch/Deutsch. Stuttgart 2009, S. 5–31. Frederiksen, Paula: ›Die Confessiones (Bekenntnisse)‹, in: Drecoll, Henning Volker (Hg.): Augustin Handbuch. Tübingen 2007, S. 294–309. 35 Vgl. auch Laak/Malsch 2010, S. 8.

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Martina Wagner-Egelhaaf ist die Literaturwissenschaft? Methoden- und Theoriediskussion in den Literaturwissenschaften: kulturelle Besonderheiten und interkultureller Austausch am Beispiel des Interpretationsproblems (1950–1990). Stuttgart/Weimar 1996, S. 87–98. Wagner-Egelhaaf, Martina: Autobiographie. Stuttgart/Weimar 20052. Wagner-Egelhaaf, Martina: ›Zum Stand und zu den Perspektiven der Autobiographieforschung in der Literaturwissenschaft‹ in: BIOS 2010/32, S. 188–200. Wagner-Egelhaaf, Martina: ›Literaturtheorie als Theorie der Gesellschaft?‹, in: Promotionskolleg Literaturtheorie als Theorie der Gesellschaft (Hg.): Literatur – Macht – Gesellschaft. Neue Beiträge zur theoretischen Modellierung des Verhältnisses von Literatur und Gesellschaft. Heidelberg 2015, S. 17–38. Wagner-Egelhaaf, Martina: ›Die Stimme der Konversion‹, in: dies. (Hg.): Stimmen aus dem Jenseits/Vices from Beyond. Ein interdisziplinäres Projekt/An interdisciplinary Project. Würzburg 2017, S. 54–70. Wagner-Egelhaaf, Martina (Hg.): Autobiography/Autofiction. An Interdisciplinary and International Handbook. 3 Bde. Berlin/Boston 2019. Weidner, Daniel (Hg.): Handbuch Literatur und Religion. Stuttgart/Weimar 2016. Weimar, Klaus: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. München 20032.

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Die Rolle der Philosophie in interdisziplinären geisteswissenschaftlichen Arbeitszusammenhängen1 Tim Rojek

Im Rahmen dieses Essays wird die Rolle der Philosophie in interdisziplinären Arbeitszusammenhängen mit einer oder mehreren Geisteswissenschaften näher bestimmt. Dabei werden vier Arten der interdisziplinären Kooperation unterschieden und auf den geisteswissenschaftlichen Fall bezogen. Der Beitrag zielt darauf ab, Hürden und mögliche Konflikte zu identifizieren, die sich in der Zusammenarbeit ergeben können und bietet Maximen an, um zur Vermeidung oder Auflösung derselben beizutragen. Die Stärke der Philosophie wird in ihrer Rolle als Mediator und Moderator, sowie in der Erarbeitung einer gemeinsamen Sprache gesehen. Als problemerzeugend erweisen sich insbesondere die wechselseitigen (Fehl-)Erwartungen und Annahmen zwischen Geisteswissenschaften und Philosophie. Als besondere Herausforderung wird die terminologische Vielfalt in Geisteswissenschaften wie Philosophie ausgemacht. In this essay, the role of philosophy within interdisciplinary contexts of cooperation with one or more disciplines of the humanities is being further outlined. Four types of interdisciplinary cooperation are being distinguished and related to the case of the humanities. The article!s purpose is to identify potential obstacles and conflicts, which might occur while working together, and to offer guidelines to help prevent or solve these. Philosophy!s greatest contribution to cooperation lies in its mediating and moderating function as well as in the development of a common language. Problems particularly arise from (undue) mutual expectations and assumptions between the humanities and philosophy. A further major challenge is posed by the terminological diversity within the humanities and philosophy.

Geisteswissenschaften, Philosophie und Formen der Interdisziplinarität Ziel dieses Beitrags ist es, einen Problemüberblick über die spezifische Rolle, insbesondere die Herausforderungen und Chancen der Philosophie in interdisziplinären Arbeitszusammenhängen zu geben. Der Beitrag konzentriert sich dabei primär auf interdisziplinäre Arbeitszusammenhänge mit den Geisteswissenschaften im weiten Sinne. Unter die geisteswissenschaftlichen Disziplinen im weiten Sinne zählen hier neben den Geschichtswissenschaften und den Philolo1 Der vorliegende Beitrag verbindet systematische Überlegungen zum titelgebenden Problem mit eigenen Erfahrungen typischer Störfälle in interdisziplinären Kontexten.

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gien auch die Gesellschaftswissenschaften (vor allem Politologie, Soziologie, Ökonomie) sowie die Rechtswissenschaften.2 Daher umfassen die Geisteswissenschaften in diesem Sinne sowohl deskriptive Wissenschaften wie auch Normwissenschaften. Dieses Verständnis ist gerechtfertigt, weil zahlreiche geisteswissenschaftliche Fächer selbst von einem Streit über den Geltungsstatus ihrer Aussagen und Theorien hinsichtlich der Frage, ob sie eine deskriptive oder normative Ausrichtung haben, durchzogen sind und man daher als Klassifikationskriterium nicht ohne Weiteres die Normbezogenheit der Disziplinen heranziehen kann, möchte man die zu gewärtigenden innerdisziplinären Selbstverständnisse, auf die man in der interdisziplinären Zusammenarbeit stößt, nicht ignorieren.3 Im Zentrum der Auseinandersetzung werden aber die ›klassischen‹ Geisteswissenschaften, d. h. die Geschichtswissenschaften und die Philologien resp. Literaturwissenschaften stehen.4 Der Sinn einer Reflexion über, in den letzten Jahrzehnten häufig auftretende – und noch häufiger geforderte – Formen der Zusammenarbeit ist darin zu sehen, sich der (möglichen) Schwierigkeiten, Reibungsflächen und Vorerwartungen bewusst zu werden, die mit solchen Kooperationen häufig einherzugehen pflegen. Die Reflexion kann helfen, erwartbare Störungen möglichst rollenadäquat im Sinne der Zusammenarbeit zu lösen. Dabei geht es nicht um Teamfähigkeitsstörungen, die sich auf individuelle Persönlichkeitsmerkmale zurückführen lassen, sondern um Störungen, die aus den wechselseitigen (Vor-)Erwartungen, Hoffnungen und Wünschen bezüglich der Beitragsleistung spezifischer Wissenschaften zum gemeinsamen Geschäft erwachsen. Sich auf solche Reibungspunkte einzustellen, sollte helfen, ihnen im Geist gemeinsamer Problemlösung begegnen zu können.

2 Für die Herausforderungen die für Gesellschaftswissenschaften und Rechtswissenschaften mit interdisziplinärer Kooperation einhergehen vgl. die Beiträge von Renn und Gutmann in diesem Heft. Für nähere Bestimmung der Rede von ›Disziplin‹ und zu Möglichkeiten der Wissenschaftssystematisierung vgl. die ersten beiden Abschnitte des Beitrags von Gethmann in diesem Heft. 3 Für einen Vorschlag, die Rede von Geisteswissenschaften so breit zu gestalten vgl. Hartmann 2012, S. 25–30. Zur historischen Debatte über den Status der Geisteswissenschaften vgl. Brenner 2011; Panteos/Rojek 2016a. 4 Selbstverständlich kann es auch lohnend sein, die potentiellen Störungen in der interdisziplinären Zusammenarbeit für je spezifische Fächer und ihren jeweiligen Bezug zur Philosophie durchzuspielen. Allerdings ist zu vermuten, dass sich die dabei ergebenden Hinweise nicht sonderlich von denjenigen unterscheiden, die sich auf genereller Ebene erzielen lassen. Zudem würde der Adressatenkreis des Beitrags dadurch entweder stark verengt oder der Beitrag unverhältnismäßig lang, wenn man alle potentiellen Bezüge abhandelte (z. B. interdisziplinäre Kooperation: Philosophie – Geschichte; Philosophie – Judaistik; Philosophie – Germanistik; Philosophie – Sphragistik usw.).

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Philosophie in interdisziplinären geisteswissenschaftlichen Arbeitszusammenhängen

Auf je verschiedenen Beschreibungsebenen lassen sich verschiedene Formen der interdisziplinären Kooperation unterscheiden.5 Je nach Beschreibungsebene und auf dieser sichtbar werdenden Form der Kooperation lassen sich unterschiedliche Herausforderungen benennen. Für die Zwecke dieses Beitrags ist es sinnvoll, einerseits zwischen innerwissenschaftlicher vs. transwissenschaftlicher und andererseits zwischen interdisziplinärer und transwissenschaftlicher Kooperation zu unterscheiden.6 Beide Unterscheidungen sind miteinander kombinierbar, wobei nicht jede Form transwissenschaftlicher Kooperation auch interdisziplinär sein muss. Wenn etwa eine Historikerkommission ein Ministerium berät, bzw. in dessen Auftrag historische Forschung (für politische Zwecke) durchführt, dann liegt zwar eine transwissenschaftliche Kooperation, nicht aber zwingend auch eine interdisziplinäre Kooperation vor. Sowohl trans- wie interdisziplinäre Kooperation verlangt eine grundlegende Auseinandersetzung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit der möglichen Beitragsleistung des eigenen Faches. In diesem Beitrag wird es lediglich um den Fall innerwissenschaftlicher interdisziplinärer Kooperation gehen.7 Gerade bei transwissenschaftlicher Kooperation tritt eine zusätzliche Herausforderung auf, nämlich die interdisziplinär erzielten Resultate auch in den entsprechenden außerwissenschaftlichen Bereich (z. B. Politik, Wirtschaft, politische Öffentlichkeit oder mehrere dieser Bereiche) zu vermitteln, womit ganz eigene Kommunikationsund Transformationsschwierigkeiten einhergehen. Freilich wird auch von innerwissenschaftlicher interdisziplinärer Arbeit, deren Resultate mithin ›lediglich‹ wissenschaftsintern vermittelt werden müssen, zunehmend verlangt oder zumindest gewünscht, diese auch einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln, d. h. Kommunikationsformen zu finden, die den Hiatus im Verständnis zwischen Fachwelt und interessierter (oder: zu interessierender) Öffentlichkeit überwindet. Diese Art der Öffentlichkeitsarbeit und ihre Herausforderungen sind aber zu unterscheiden vom Fall transwissenschaftlicher Kooperation. Während im ersten Fall der (weitere) Adressatenkreis unbestimmt ist, oder von den für die Öffentlichkeitsarbeit Zuständigen selbstständig bestimmt werden kann, indem man zu klären sucht, wen man erreichen möchte, um anschließend festzulegen, wie man ihn erreichen möchte, geht die Vermittlung in außerwissenschaftliche Kreise per definitionem mit transwissenschaftlicher Kooperation einher und die Adressatenkreise sind zumeist klar vorgegeben. Daher spricht die Zunahme von allgemeiner Öffentlichkeitsarbeit auch in der wissenschaftsinternen Kooperation nicht gegen die Trennschärfe der vorgeschlagenen Unterscheidung. 5 Aufschlussreich wäre es z. B. die verschiedenen Förderformate der DFG auf die in ihnen möglicherweise angelegten Bruchstellen hinsichtlich interdisziplinärer Kooperation abzuklopfen. 6 Für diese Unterscheidungsvorschläge vgl. Quante 2002, S. 176. 7 Für die Herausforderungen interdisziplinärer Arbeit mit transdisziplinären Zwecken vgl. den Beitrag von Gethmann in diesem Heft.

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Um nun die Arten der interdisziplinären Zusammenarbeit näher zu bestimmen, sollte (a) zwischen eher problemanalysierenden oder problemerhellenden auf der einen und problemlösenden Formen der Zusammenarbeit auf der anderen Seite differenziert werden. Diese Unterscheidung betrifft den Zweck der Kooperation. Strukturell lässt sich des Weiteren (b) eine horizontale von einer vertikalen Kooperation unterscheiden. Bei ersterer liegt sowohl ein gemeinsames Problemverständnis als auch eine gemeinsame Definition des Kooperationsziels vor. Ist eine von beiden Bedingungen nicht erfüllt, dann ist die Kooperation vertikal.8 Dass es überhaupt Fälle sinnvoller interdisziplinärer Zusammenarbeit zwischen Philosophie und Geisteswissenschaft(en) geben kann (und auch faktisch gibt), wird als Prämisse vorausgesetzt. Eine Debatte mit generellen und spezifischen Skeptikern bezüglich interdisziplinärer Zusammenarbeit wird im Folgenden daher nicht geführt. Zudem ist die Rede von ›Philosophie in interdisziplinären geisteswissenschaftlichen Arbeitszusammenhängen‹ nicht so aufzufassen, dass es um die Zusammenarbeit zwischen Philosophie und anderen Geisteswissenschaften ginge. Stattdessen ist es sachgerechter, die Philosophie nicht als Geisteswissenschaft zu klassifizieren. Daher unterscheiden sich die damit einhergehenden Herausforderungen auch von denjenigen der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Geisteswissenschaften. Dabei auftretende Herausforderungen sollen damit nicht kleingeredet werden, sie sind aber qualitativ von anderer Art, da die Geisteswissenschaften selbst – trotz, wie sich zeigen wird, ihrer hohen internen Pluralität und Heterogenität – zumindest auf basaler Ebene ähnliche Problemzugriffe, Verständnisse und Praxen teilen, die sie von der Philosophie und deren Problemzugriff unterscheiden. Letztlich kommt der Philosophie gegenüber sämtlichen Einzelwissenschaften und ihren Großgruppen (z. B. Naturwissenschaften, Geisteswissenschaften, Medizin) eine Sonderrolle zu.9 Eine erste, in interdisziplinären Kontexten – gerade im Umgang mit den Geisteswissenschaften – häufig zu beobachtende Irritation liegt gerade darin, dass die Philosophie oft ebenfalls als Geisteswissenschaft aufgefasst wird. Damit gehen dann entsprechende Erwartungen über Kompetenzen, Interessen und Vorgehensweisen des Philosophen oder der Philosophin, mit dem oder der man es im gemeinsamen Arbeitskontext zu tun hat, einher. Werden diese Erwartungen aufgrund der impliziten oder expliziten wissenschaftstheoretischen Fehleinordnung der Philosophie in den Kreis der Geisteswissenschaften enttäuscht, so droht bereits von Anfang an wechselseitige Frustration in einem möglichen Arbeitszusammenhang, aufgrund des Nichtverstehens des eigentümlichen philosophischen Vorgehens. Daher ist es ratsam, entsprechende Reibungs- und Irritationspunkte möglichst frühzeitig sichtbar zu machen und wechselseitige Sensibilität für die Eigenheiten spezifischer disziplinärer Praxis zu wecken. Bevor auf diesen 8 Zu diesen Sortierungsvorschlägen vgl. Quante 2002, S. 177–179. 9 Vgl. Quante 2015, S. 84–86.

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Punkt eingegangen werden soll, ist aber näher zu klären, um welche Art Wissenschaft es sich bei der Philosophie eigentlich handelt, wenn sie denn keine Geisteswissenschaft ist.

Philosophie als systematische Reflexionsdisziplin. Einige Differenzierungen10 Der Hinweis, bei der Philosophie als Disziplin handele es sich nicht um eine Geisteswissenschaft, löst bei den Vertreterinnen und Vertretern letzterer häufig Irritationen aus. Diese haben zumeist zwei Gründe: einmal neigt man dazu, sich die der Philosophie eigentümlichen Vorgehensweisen als angeglichen an die eigene – historisch-hermeneutische – Arbeit vorzustellen oder aber man hält die (heutigen) Vertreterinnen und Vertreter der Philosophie für Verfechter eines fragwürdigen ›Szientismus‹ oder ›Positivismus‹, die die eigentlich relevanten philosophischen Fragen aufgegeben haben, die nun in Teilen der Geistes- oder Kulturwissenschaften verteidigt würden. Bei beiden Überzeugungen, die zu der entsprechenden Irritation führen können, handelt es sich indes um Missverständnisse aufgrund des eigenen Vorverständnisses. Während erstere Annahme eher in den ›klassischen‹ Geisteswissenschaften, den Geschichtswissenschaften und den Philologien begegnet, wird die zweite eher in denjenigen geisteswissenschaftlichen Disziplinen anzutreffen sein, die sich im Sinne der ›cultural studies‹ verstehen, mithin als normative Disziplin oder Verfechterinnen und Verfechter von normativ-deskriptiven Mischformen nach Bauart kritischer Theorien.11 Freilich sind die Übergänge zu den klassischen Geisteswissenschaften des neunzehnten Jahrhunderts in ihrer heutigen Gestalt dabei fließend. Die so orientierten Geisteswissenschaften gewinnen ihr Verständnis von Philosophie aber zumeist gerade anhand von Theoretikern und Theoretikerinnen, die in der Fachphilosophie selbst eher Randfiguren darstellen, man denke – etwas willkürlich zusammengestellt – an Michel Foucault, Gilles Deleuze, Friedrich Nietzsche, Theodor Adorno, Walter Benjamin, Julia Kristeva oder Jacques Lacan. Alles Denkerinnen und Denker, um einen neutraleren Ausdruck zu verwenden, bei denen die Frage, wie sie sich überhaupt disziplinär verorten lassen, kontrovers diskutiert werden kann. Zum Abschluss dieses Beitrag wird mit der terminologischen Vielfalt und dem Problem antagonistischer Selbstverständnisse und Fachkulturen noch einmal an diesen Punkt angeknüpft. 10 Generell zur Rolle von Philosophie in interdisziplinären Kontexten vgl. Quante 2002, zu den Eigentümlichkeiten und Erwartungen mit denen Philosophie in solchen Arbeitszusammenhängen konfrontiert ist, vgl. ebd., S. 182 f. 11 Damit ist nicht die These vertreten, dass bei umsichtiger Theoriebildung kontrollierbare und sinnvolle Varianten kritischer Theorie möglich (oder auch wirklich) sind.

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Das Selbstverständnis der klassisch ausgerichteten Geisteswissenschaftler und Geisteswissenschaftlerinnen hingegen erwartet von der Philosophie häufig eine historisch vorgehende, quellenkritische Interpretationsarbeit an Texten, die durch historisch-hermeneutische Arbeit dem Verständnis der Gegenwart aufzuschließen sind. Auch hierbei handelt es sich allerdings um ein Missverständnis. Die Philosophie ist keineswegs in diesem Sinne eine ›Textwissenschaft‹. Zwar spielt in ihr die Auseinandersetzung mit historischen Texten und Autoren eine große Rolle. Dies dient aber primär der systematischen Gewinnung guter und gelingender Argumente für die je eigenen philosophischen Probleme.12 Die Philosophie ist gerade deshalb eine primär systematische und nicht historische Disziplin, da sie (1) Antworten auf Geltungsfragen zu geben sucht und (2) als nicht-empirische Disziplin keine Antworten auf objektsprachliche Fragen zu geben vermag, mithin eine Reflexionsrolle auf objektsprachliche (und andere) Geltungsansprüche einnimmt, ohne freilich selbst auf die Formulierung entsprechender Ansprüche skeptisch zu verzichten. Es handelt sich bei ihr um eine »systematische Reflexionsdisziplin« sowohl für den Bereich praktischer, wie theoretischer Geltungsansprüche.13 Theoretische Geltungsansprüche hervorzuheben ist deshalb wichtig, weil es verführerisch sein mag, den Beitrag der Philosophie zu interdisziplinären Zusammenhängen auf ethische Kontexte zu verengen. Von der Anlage der Disziplin selbst her ist eine solche Kompetenzbeschränkung allerdings nicht zu rechtfertigen. Aufgrund der spezifisch begrifflichen und Argumentationstypenbezogenen Kompetenzen, die im (systematischen) Philosophieren eingeübt werden, sowie aufgrund der nicht einzelgegenstandsbezogenen Entgrenzung des philosophischen Gegenstandsbereichs, liegt ihr Beitrag generell in der Problemanalyse und Konsistenzprüfung sowie auch und gerade in wissenschaftstheoretischen Beitragsleistungen zum interdisziplinären Geschäft. Die Sensibilität für terminologische und begriffliche Differenzen, sowie die permanente (Selbst-)Befragung von 12 Das Verhältnis der Philosophie zu ihrer Geschichte zu bestimmen, ist freilich nicht einfach und selbst ein Gegenstand lebhafter innerphilosophischer Kontroversen. Von der These der Irrelevanz der eigenen Geschichte für systematisches Philosophieren bis zu Thesen eines starken Zusammenhangs ist innerphilosophisch alles vertreten. Wichtig ist aber, dass keine dieser Beziehungen das philosophische Geschäft als rein historische Disziplin auffasst. Zwar mag es auch diese Position geben – und nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sie gerade in Deutschland eine gewisse Konjunktur – sie lässt sich aber, da sie die Zwecke verfehlt, von denen die Texte handeln, mit denen sie sich befasst, begründet als philosophieextern zurückweisen. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass ein rein historischer Umgang mit philosophischen Texten zweckfrei sei, er dient lediglich keinen philosophischen Zwecken. Außerdem sollte man einen rein historischen Umgang mit philosophischen Texten von einem philosophischen Umgang mit der Geschichte der Philosophie unterscheiden. Zur innerphilosophischen Debatte vgl. etwa van Ackeren 2016, sowie die Beiträge in ders. 2018. 13 Hartmann 2012, S. 30.

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Philosophie in interdisziplinären geisteswissenschaftlichen Arbeitszusammenhängen

Voraussetzungen (Prämissen, Präsuppositionen) ist konstitutiv für die Philosophie, so dass sie sich für eine interdisziplinäre Mediator- und Moderatorrolle gut eignet.14 Mediator- und Moderatorrolle sollte jedoch nicht mit einer Leit- oder gar Richterfunktion verwechselt werden. Wer in welchen Fällen berechtigterweise auf Fehler und deren Korrektur drängen darf, hängt davon ab, welche Art von Problem vorliegt und wer qua Fachkompetenz berechtigt ist, auf deren Behebung zu drängen. So ist es sicher nicht Aufgabe der Philosophie, etwa die Transkription einer Handschrift zu kritisieren oder aber mögliche Ursachen für den Beginn des Ersten Weltkriegs zu identifizieren. Zwar ist es in interdisziplinären Kontexten natürlich jedem erlaubt, jede Art von Einwand und Argumentation vorzutragen, es ist jedoch anzuraten, sich auf diejenigen Felder zu beschränken, die durch die Kompetenz derjenigen Wissenschaft(en) abgedeckt wird, die man tatsächlich erlernt hat, schon um den Eindruck einer Allzuständigkeit zu vermeiden, der gruppendynamisch häufig für Störungen verantwortlich ist.15 Wer in ein- und derselben Arbeitsgruppe mehrere Rollen abdeckt,16 z. B. weil er sowohl mittellateinischer Philologe mit Handschriftenschwerpunkt als auch Philosoph ist, sollte jeweils deutlich machen, in welcher Rolle, welcher seiner Redebeiträge 14 Vgl. Quante 2015, S. 91 f. 15 Natürlich sind viele wissenschaftliche Streitfragen ohnehin von einer Komplexität, die einfache ›Ja‹ oder ›Nein‹-Antworten, die man an spezifische Wissenschaften delegierte nicht erlauben. Zudem ist es für den obigen Punkt wichtig systematisch zwischen der Berufsrolle einer Wissenschaftlerin oder eines Wissenschaftlers und gültigen und guten Argumentationen unter Einbezug spezifischer Wissensbestände zu differenzieren. Prinzipiell jeder kann zu jedem Bereich einen guten Beitrag leisten. So kann etwa auch ein Kunsthistoriker eine philosophische Argumentation mit guten Gründen kritisieren, dann tritt er aber nicht in seiner Berufsrolle auf, sondern in der eines Philosophen. Da der Fall einer allseitigen Kompetenz aber kaum je vollständig realisiert sein dürfte, bedarf es interdisziplinärer Kooperation und in der ist wechselseitiges Vertrauen in die Kompetenzen anderer unabdingbar. Wer – unabhängig von seiner wissenschaftlichen Qualifikation – alles selbst könnte, der bräuchte ja keine Kooperationspartner aus anderen Disziplinen. Es ist im Regelfall unwahrscheinlich, dass Nicht-Fachwissenschaftler auf dem Spielfeld der Fachwissenschaftlerin sich ähnlich sicher bewegen wie diese. Dennoch zählen letztlich überzeugende Argumente und nicht das bloße Pochen auf die (vorgebliche) eigene Fachkompetenz allein und sachliche Einwände sollten auch nicht mit dem Hinweis auf ›illegale Grenzübertretung‹ abgetan werden, sofern die Grenze sachgerecht übertreten wurde. Zum Verhältnis systematischer zu empirisch-disziplinären Rolleneinteilungen vgl. Panteos/Rojek 2016b, S. 15 f. 16 Systematisch kann jeder jede Rolle einnehmen, im Normalfall bewegt man sich aber nur im Rahmen seiner Ausbildung auch sicher, daher erwartet man bei interdisziplinärer Kooperation vom lateinischen Philologen auch zuverlässigere Sprachkenntnisse im Lateinischen als von einer Germanistin. Könnte aber nicht (zumindest theoretisch) jeder und jede, jede wissenschaftliche Rolle erlernen und einüben, dann beriefe man sich letztlich auf intersubjektiv schlicht unzugängliche Wissensbestände.

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jeweils zu verstehen ist, um Missverständnisse zu vermeiden. Ansonsten gilt zur Störungsvermeidung die Maxime: Kenne die Grenzen deiner Rolle und deine Rolle (und mache beide ggf. explizit)! Gelingende Kooperation verlangt von allen Beteiligten Fachwissenschaftlerinnen und Fachwissenschaftlern die Bereitschaft und Fähigkeit zur Reflexion auf die eigenen disziplinären Stärken und Kompetenzen relativ zur Erhellung oder Lösung des gemeinsamen Problems. Gerade im Fall der Philosophie besteht dieser Beitrag nicht so sehr in der Vermittlung fachinterner Ergebnisse oder Resultate, sondern zeigt sich eher in der Herangehensweise, dem Versuch die Geltungsdimension von Problemen, Fragen, Definitionen und Begriffen präzise zu bestimmen und deren Wert einschätzen zu können. Häufig ist die Philosophie aber mit Anfragen der Art: »Was sagt denn die Philosophie zum Problem xy« konfrontiert.17 Hier gilt es, nicht nur die eigenen Stärken, sondern auch die eigenen Grenzen klar zu benennen. Die Ergebnisse der Philosophie finden sich eher im Bereich der Präsuppositionsanalyse und Abhängigkeitsklärung bestimmter Thesen von bestimmten Prämissen als in dem Aufweis materialer Resultate der Art: »Die These x ist falsch«. Letzteres gibt es zwar auch, hier gebietet es aber die Redlichkeit, darauf hinzuweisen, dass gerade in der Philosophie selbst vieles umstritten ist. Das Maß an Dissens, dass es innerphilosophisch ›auszuhalten‹ gilt, ist für viele andere Wissenschaften häufig irritierend, wenn nicht gar frustrierend. Der ›individuelle‹ Faktor des jeweils beteiligten Philosophen oder der Philosophin kann hier einen erheblich größeren Eintrag machen, als etwa bei einer Rechtswissenschaftlerin, einem Mediziner oder einer Altphilologin. Gerade deshalb sind Anfragen, die eine eindeutige Position ›der‹ Philosophie suggerieren zurückzuweisen und auch selbst ist – je nach Fall – darauf hinzuweisen, dass man von der ggf. in die Kooperation eingebrachten Position innerphilosophisch mit guten Gründen abweichen kann.18 Daraus folgt jedoch nicht, dass philosophische Kritiken, die weniger die Inhalte, denn die Argumentationsform und begriffliche Präzision anderer Wissenschaften (relativ zu den verfolgten Zwecken) betreffen, auf die Vorlieben individueller Fachwissenschaftler zu reduzieren wären. Aus gut begründeten Dissensen folgt eben kein anything goes. Wer letzteres vertritt, dem ist letztlich gleichgültig, welche Position(en) (relativ zu 17 Mitunter wird diese Frage so aufgefasst, als handele es sich bei der Philosophie um eine problemlösende Wissenschaft. M. E. trifft dies aber nur sehr eingeschränkt zu. Primär handelt es sich bei der Philosophie um eine problemanalysierende und erhellende Wissenschaft. Zwar mag es auch philosophische Probleme geben, die tatsächlich in einem alltäglichen Sinne gelöst werden können. Zumindest die Stärke für die interdisziplinäre Kooperation liegt aber sicherlich in der Problemanalyse und -erhellung. 18 Der Hinweis auf grundlegende Dissense in der Forschung, die in der Philosophie allerdings oft bis ins Grundsätzliche reichen (so akzeptieren nicht einmal alle Philosophen, dass es sich bei ihr um eine Wissenschaft handelt), gilt allerdings für jedes im interdisziplinären Rahmen vorgetragene Referat.

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bestimmten Zwecken) vertretbar ist/sind und welche nicht. Dann wird Pluralismus mit Relativismus gleichgesetzt. Nun mag es zwar auch Philosophen und Philosophinnen geben, die letzteres vertreten, eine solche ›Haltungslosigkeit‹ ist aber kaum geeignet für interdisziplinäre Kooperationsarbeit. Überhaupt ist nicht jede philosophische Auffassung für ernsthafte und redliche interdisziplinäre Kooperation geeignet.19 Daraus folgt allerdings keineswegs, dass solche Positionen bereits im innerphilosophischen Diskurs disqualifiziert wären. Letztlich ist es an jeder Philosophin und jedem Philosophen, in der Reflexion über die eigenen philosophischen Überzeugungen zu klären, ob diese geeignet sind, zum Gelingen interdisziplinärer Zusammenarbeit beizutragen. Der Reiz interdisziplinärer Zusammenarbeit besteht gerade für diejenigen Philosophinnen und Philosophen, die ihre Thesen und Argumente auch im Abgleich mit lebensweltlichen und historisch-variablen Annahmen und Bedingungen gewinnen wollen oder aber für die Veränderung ihrer Überzeugungen auf einen Kohärenztest mit der Bewährung von Annahmen unter realweltlichen Kontexten setzen. Vertritt man eine solche Konzeption, dann können nicht nur die Geisteswissenschaften von der Philosophie, sondern umgekehrt auch die Philosophie von den Geisteswissenschaften profitieren. Wie genau die spezifischen Kompetenzen der Philosophie sinnvoll eingebracht werden können, lässt sich allerdings unter bloßer Erläuterung ihrer Sonderrolle allein nicht diskutieren. Diesen Fragen wird in den folgenden Abschnitten unter Bezugnahme auf die Zwecke interdisziplinärer Kooperation, wie auf die Struktur derselben nachgegangen.

Herausforderungen der Zusammenarbeit relativ zu Zweck und Struktur innerwissenschaftlicher interdisziplinärer geisteswissenschaftlich-philosophischer Kooperation Zu differenzieren ist zwischen einer interdisziplinären Kooperation der Philosophie mit einer oder mehrerer Geisteswissenschaften im engen oder im weiten Sinne.20 19 Neben starken Relativismen und skeptischen Positionen, wäre hier auch an metaphilosophische Positionen (seien sie explizit oder implizit) zu denken, die philosophische Erkenntnisse als irrelevant für andere Wissenschaften ansehen, oder aber der Ansicht sind, dass letztlich alle wissenschaftlichen Erkenntnisse Teil der Philosophie seien und mit der je eigenen Kompetenz zu behandeln wären. Wenn wissenschaftliche Disziplinen aber keine Grenzen haben oder aber diese nicht beachtet werden, wird – vor diesem Überzeugungshintergrund – der ›Witz‹ interdisziplinärer Zusammenarbeit verfehlt. 20 Fälle in denen Philosophie, Geisteswissenschaften und weitere wissenschaftliche Großgruppen kooperieren, werden im Folgenden nicht beachtet. Es ist allerdings davon auszugehen, dass zu den hier benannten (potentiellen) Störungen und Hürden weitere

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In beiden Fällen gilt, dass die Ausgangsproblemformulierungen, d. h. der Zweck um dessen willen kooperiert wird, wie er zu Anfang einer interdisziplinären Kooperation vorliegt, zumeist den in der Philosophie üblichen Präzisionsansprüchen nicht genügen wird und der beteiligte Philosoph oder die beteiligte Philosophin hier auf Präzisierung drängen wird, um das Problem in eine ›Fassung zu gießen‹, die bearbeitbarer erscheint.21 Überhaupt wird die Philosophie, ihren Kompetenzen und ihrer Anlage gemäß, viel Zeit und Ressourcen darauf verwenden wollen, das Problem selbst besser zu verstehen, was Zweck der interdisziplinären Kooperation ist. Hier ist eine weitere Störung gewissermaßen vorprogrammiert: Gemessen an den Erwartungen der Philosophie pflegen Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftler gemäß ihrer gelebten Fachkultur einen weitaus ›hemdsärmligeren‹ Umgang mit Ausgangsformulierungen sowie im Rückgriff auf Theorien zur Stützung ihrer empirischen Aussagen. Für das Gelingen interdisziplinärer Kooperation gilt in allen Fällen, dass eine (zumindest weitgehende) Einigung über das Ausgangsproblem und dessen spezifische Formulierung erzielt werden muss. Im Falle der problemerhellenden oder -analysierenden Kooperation bietet das Ausgangsproblem den Anlass für weitere Präzisierungen, die dann den Zweck abgeben. Bei einer problemlösenden Kooperation, ist eine Präzisierung und Klärung soweit nötig, wie es zweckmäßig ist, um eindeutig festlegen zu können, welche Art von Antwort und welche Art von Geltungsstatus hinreichend wären, um als Lösungskandidat zu gelten.22 hinzutreten, auf die gesondert einzugehen wäre. Die meisten der Probleme in der Kooperation zwischen Philosophie und Geisteswissenschaften dürften aber in der vorliegenden Form erhalten bleiben und durch die Hinzunahme weiterer Disziplinen nicht berührt werden. Es kommt also eher zu einer Problemakkumulation aber nicht zu einer Problemveränderung. In Teilen mag es aber zu gruppendynamischen ›Allianzen‹ zwischen verschiedenen Disziplinen kommen, die dann auch auf die zu erwartenden Störungen durchschlagen und in den Selbstverständnissen der jeweiligen Disziplin angelegt sind. 21 Sind mehrere Philosophen oder Philosophinnen an einem interdisziplinären Projekt beteiligt, so sollte entweder darauf geachtet werden, dass diese in ihrem spezifischen Philosophieverständnis nicht völlig voneinander abweichen, um zu vermeiden, dass innerphilosophische Dispute in die gemeinsame Diskussion hineinragen, wo sie für die Kollegen und Kolleginnen anderer Fächer zumeist nicht durchschaubar und in ihrer (möglichen) Relevanz für die gemeinsame Aufgabe nicht einschätzbar sind. Stellt sich heraus, dass solche Dispute nicht zu vermeiden sind, so gelten zwei Maximen, an die sich die beteiligten Philosophen halten sollten: (i) Prüfe sorgfältig, welche Aspekte des Dissenses geklärt werden müssen, um die interdisziplinäre Kooperation gelingen zu lassen! (ii) Führe den Disput so, dass die Relevanz für alle Beteiligten einsichtig wird! 22 Daher ist die Unterscheidung zwischen problemlösend und problemanalysierend auch nicht absolut zu setzen, sondern letztere ist mindestens als Mittel immer auch für die problemlösenden Kooperationen von Relevanz.

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Damit ist nicht gesagt, dass die Analyse des Ausgangsproblems soweit getrieben werden müsste, dass sie innerphilosophischen Ansprüchen genügte, sondern sie muss soweit getrieben werden, wie es zweckmäßig ist, um gemeinsame Arbeit möglich zu machen. Da geisteswissenschaftliche Disziplinen hier meist ›schneller‹ zufrieden sind als die Philosophie, kann deren Aufgabe von den geisteswissenschaftlichen Disziplinen als ›aufhaltend‹ wahrgenommen werden. Man denke an genervte Äußerungen, wie: ›Wann es denn endlich mit der konkreten Arbeit losginge‹, statt dass ›abstrakte‹ Überlegungen angestellt werden.23 Störungen dieser Art können vermieden werden, indem (i) explizit auf die Spezifika philosophischen Arbeitens hingewiesen wird und (ii) deutlich gemacht wird, welche schädlichen Folgen für die Geltung der angestrebten Aussagen folgt, wenn entsprechende Überlegungen nicht angestellt werden. Freilich stellt solche Überzeugungsarbeit immer eine Herausforderung dar. Dies auch deshalb, weil ›philosophische‹ Einwände gern als ›bloß abstrakt‹ oder ›bloß terminologisch‹ abgetan werden. Hier ist es an der Philosophie, auf ihre Kompetenzen zu bestehen und deutlich zu machen, dass etwa ein Hinweis auf eine Äquivokation in der Terminologiebildung, einen Zirkel in der Definition oder einen Genese-Geltungsfehlschluss, genauso ernst genommen werden sollte wie empirische Einwände.24 Als oberste Maxime interdisziplinärer Kooperation gilt aber: Handle so, dass alles, was du tust als Beitrag zur Lösung des gemeinsamen Problems verstanden werden kann!25 23 Viele Geisteswissenschaften sind zudem intern von einem Streit zwischen einem eher theoretischen und einem eher theoriefernen, teils positivistischen Selbstverständnis durchzogen. Dies gilt z. B. tendenziell für die Geschichtswissenschaften oder in der Germanistik im Unterschied zwischen Mediävisten und eher gegenwartsbezogenen Teildisziplinen oder Bereichen. Die Konstatierung solcher Differenzen ist hier selbst nicht evaluativ gemeint, ob und wie viel ›Theorie‹ es jeweils bedarf ist abhängig von den verfolgten Zwecken. Zudem ist es nicht Aufgabe interdisziplinärer Forschung, innerdisziplinäre Kontroversen aufzulösen, sondern diese sind, so sie auf die Zusammenarbeit durchschlagen, soweit stillzustellen, wie es nötig ist, um die gemeinsame Kooperation zu gewährleisten. 24 Worum es hier geht, ist natürlich diskursive ›Waffenanspruchsgleichheit‹. Auch Philosophen und Philosophinnen können in der interdisziplinären Zusammenarbeit ihre Ansprüche überziehen und müssen entsprechend bereit sein, sich belehren zu lassen, sofern sie im Felde fremder Kompetenzen wildern, also etwa anfangen, empirische Hypothesen zu entwickeln und damit ihr Aufgabenfeld überschreiten. Auf dem Spielfeld anderer Wissenschaften gelten auch deren Regeln. Dies ist in alle Richtungen zuzugestehen. Wer zu solcher wechselseitigen Akzeptanz nicht bereit ist, ist für interdisziplinäre Kooperation schlicht ungeeignet. Sollte sich im Extremfall herausstellen, dass die philosophischen Beiträge im interdisziplinären Geschäft kein Gehör finden, ist die Zusammenarbeit zu beenden. Dies gilt natürlich ebenfalls in alle Richtungen. 25 Diese Maxime findet sich (auf Englisch) in Quante 2015, S. 89.

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Zu diesen Beiträgen ist dann auch und gerade die Herstellung eines gemeinsamen Problemverständnisses zu zählen. Im Fall der Kooperation mit einer Geisteswissenschaft ist wechselseitig sicherzustellen, dass ein gemeinsames Problemverständnis vorliegt. Häufig beginnt die interdisziplinäre Zusammenarbeit lediglich mit der wechselseitigen Unterstellung, alle hätten das gleiche Problemverständnis, wobei sich dann rasch herausstellt, dass dies nicht so ist. In diesen Fällen ist es gerade Aufgabe der Philosophie, auf eine Klärung und die Herstellung eines gemeinsamen Problemverständnisses zu drängen.26 Sind mehrere geisteswissenschaftliche Disziplinen beteiligt, liegt die Stärke bezüglich der gemeinsamen Problemherstellung in der oben angesprochenen Mediatoren- bzw. Moderatorenrolle. Eine notwendige Bedingung für die Rede von einem ›gemeinsamen Ausgangsproblem‹ ist, dass allen beteiligten Wissenschaften klar ist, wie sie zu einer Lösung dieses Problem relativ zu ihren Kompetenzen beitragen können.27 Auch für diese Klärung sind mutmaßlich mehrere Gesprächsrunden nötig. Das rasche Drängen auf gemeinsames Weiterschreiten in der Problemexplikation kann wiederum die Form der Problemlösungserheischung oder aber der weitergehenden Problemanalyse annehmen. Wobei in letzterem Fall zu unterscheiden ist zwischen einer weiteren Analyse des Ausgangsproblems zum Verständnis des den interdisziplinären Arbeitszweck konstituierenden gemeinsamen Problemverständnisses oder einem Fortschreiten in der Analyse des durch die 26 Ein hilfreicher Weg, ein gemeinsames Problemverständnis zu erarbeiten, besteht darin, einen gemeinsamen Text zu schreiben, an dem als Autoren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Disziplin beteiligt sind. Wobei der Schreibprozess tatsächlich im Idealfall gemeinsam erfolgt, d. h. es wird in gemeinsamer Diskussion um jeden Satz gerungen. Bei diesem ›interdisziplinären Nahkampf‹ werden zahlreiche implizite Annahmen sichtbar, die dann geklärt werden können und eine fruchtbare Zusammenarbeit möglich machen. Bei interdisziplinären Arbeitszusammenhängen mit sehr vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wird man allerdings nur partiell auf dieses Mittel zurückgreifen können – auch ist es ziemlich zeitintensiv, was es je nach veranschlagter Forschungszeit sinnvoll macht, auf Alternativen zurückzugreifen. Ein Bespiel für den Versuch, ein gemeinsames Problemverständnis über die Auseinandersetzung mit einer potentiellen Konkurrenzposition interdisziplinär zu erarbeiten, bietet der Beitrag von Hoffmann-Rehnitz/Pfister/Quante/Rojek in diesem Heft. 27 Dabei kann sich bei der Herstellung eines solchen Verständnisses im Rahmen fallibler Forschung natürlich herausstellen, dass einige Wissenschaften – anders als zuvor vermutet – doch keinen Beitrag zum Problem leisten können. Hier liegt die Herausforderung dann – gerade in Zeiten drittmittelbewährter Forschung – darin, so redlich zu sein, sich aus entsprechenden Projekten zurückzuziehen, sollte dieser Fall eintreten. Dieses Risiko lässt sich freilich minimieren, indem möglichst im Vorfeld der geplanten Kooperation bereits ein gemeinsames Ausgangsproblemverständnis hergestellt wird, dass zumindest soweit reicht, dass deutlich wird, dass keine Wissenschaft redundanterweise beteiligt ist/wird, etwa nur weil die Ausschreibung eines größeren Projekts dies verlangt.

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Ausgangsproblemformulierung etablierten Forschungsgegenstandes. Gerade unter den Geisteswissenschaften im weiteren Sinne sind solche zu finden, bei denen sich ein eher problemlösungsorientiertes Selbstverständnis finden lässt (z. B. Rechtswissenschaften, Ökonomie), während die meisten ›klassischen‹ Geisteswissenschaften – ähnlich wie die Philosophie – eher zum Typ der problemerhellenden Wissenschaften gehören. Es geht nicht so sehr darum, ein Problem (für weitere Zwecke) zu lösen, sondern darum, etwas besser oder anders als bisher zu verstehen.28 Für die gelingende Zusammenarbeit ist es wichtig, möglichst frühzeitig eine Klärung darüber zu erreichen, ob das gemeinsame Problem eines ist, das einer Lösung zugeführt werden oder aber ein besseres Verständnis eines Phänomens ermöglichen soll. Ein solches gemeinsames Problemverständnis und dessen Herstellung mag für die horizontale Kooperation genügen. Für eine vertikale Kooperation hingegen ist zwar ebenfalls ein basaler Konsens über das zu bearbeitende Problem nötig. Hier kann jedoch die spezifische Problemausarbeitung einer Wissenschaft überantwortet sein, die dann entweder das Problemverständnis oder aber das Kooperationsziel oder im Extremfall beides vorgibt. Meist kommt es in der faktischen Forschungspraxis aber zu Mischformen (je nach Arbeitsschritt usw.). Während es bei problemlösungsorientierter Zusammenarbeit aus Effizienzgründen sinnvoll sein kann, auf eine vertikale Kooperation in einer der drei Formen zu setzen, bietet sich für die Orientierung an Problemerhellung eine vertikale Kooperation eher an, da es hier sehr viel schwieriger ist, ohne genaue Kenntnis der anderen Wissenschaften und der von ihnen erhofften Beiträge und Kompetenzen festzulegen, inwiefern diese das mutmaßliche Problemverständnis und Kooperationsziel überhaupt teilen.29 Wohlgemerkt: Gemäß den hier gegebenen Bestimmungen geht es bei der Unterscheidung zwischen horizontal und vertikal um die Frage, wer welchen Beitrag zum Problemverständnis leisten darf, kann und soll. Davon zu unterscheiden ist die weitere Frage, wo – aufgrund der Probleminhalte und Koopera28 Mit dem Ausdruck ›verstehen‹ wird hier auf die basale Rolle der Hermeneutik als ›Kunstlehre des Verstehens‹ für die Geisteswissenschaften abgestellt. Damit ist weder unterstellt, dass hermeneutische Verfahren z. B. in den Naturwissenschaften keine Rolle spielten – eine grobe Unterscheidung in erklärende und verstehende Wissenschaften taugt m. E. nicht zur wissenschaftssystematischen Klassifikation –, noch ist an spezifische hermeneutische Programme wie diejenigen Gadamers oder Heideggers gedacht. Zur grundlegenden Rolle der Hermeneutik vgl. auch Quante/Rojek 2019, S. 48 f. Zur Hermeneutik generell: Scholz 20163. 29 Auch bei der vertikalen Kooperation besteht durchaus das Risiko, dass von der z. B. das Problemverständnis vorgebenden Wissenschaft Wünsche geäußert werden, die auf Fehlverständnissen der Kompetenzen einer anderen Disziplin aufruhen. In diesem Fall ist frühzeitig zu intervenieren.

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tionsziele – der Schwerpunkt der Arbeit liegt, d. h. wer, wie viel, zu welchen Zwecken zum gemeinsamen Ziel beizutragen hat. So bindet empirische Forschung normalerweise weit mehr personale Ressourcen. Zwar mag es auch Fälle geben, in denen die Philosophie selbst diejenige Wissenschaft bildet, zu deren Problemen von anderen ein Beitrag erwartet wird. In der Regel bietet die Philosophie aufgrund ihrer Stärken in der Mediation und Moderation eher einen Beitrag zu Problemen, die andere Wissenschaftsbereiche – so etwa die Geisteswissenschaften – nicht allein lösen können. Wer etwa als Philosoph oder Philosophin in einem interdisziplinären Rahmen arbeitet, der primär durch historische Projekte dominiert wird, der sollte nicht versuchen, das Ausgangsproblemverständnis so zu verändern, dass es auf einmal um ein Problem geht, dass größtenteils philosophische und nicht historische Kompetenzen verlangt. In diesem Fall wäre jedenfalls die Fachzusammensetzung der interdisziplinären Kooperation zu überdenken. Generell gilt hier die Maxime: Bestimme deinen Beitrag zum gemeinsamen Problemverständnis so, dass die vorhandenen Ressourcen möglichst adäquat genutzt werden! Es hilft schließlich wenig, ein Problem gemeinsam so zu bestimmen, dass man feststellt, dass es bedauerlich ist, dass man über die Ressourcen zur Beantwortung dieses Problems im gegebenen Rahmen gar nicht verfügt.30 Diese Maxime ergibt sich zwanglos aus der oben genannten allgemeinen Maxime für die Partizipation an interdisziplinären Projekten unter der realistischen Bedingung, dass interdisziplinäre Projekte häufig unter Kosten- und Zeitdruck stehen und man zudem mit denjenigen Fächergruppen (und Kolleginnen und Kollegen) auskommen muss, die an der eigenen Universität oder benachbarten Institutionen verortet sind. Im letzten Abschnitt soll nun noch auf einige Störungen hingewiesen werden, die sich im Arbeitsprozess mit den Geisteswissenschaften häufig einstellen und auf die Frage, wie mit diesen umzugehen ist.

Weitere Störungen im innerwissenschaftlichen interdisziplinären geisteswissenschaftlich-philosophischen Arbeitsprozess Neben den bereits angesprochenen Reibungspunkten und Hürden, die vor allem auf wechselseitigen Fehlerwartungen beruhen, sowie den Maximen, wie hier zu reagieren ist, seien zum Abschluss noch zwei ebenfalls sehr häufige Störungen angesprochen: erstens das Problem der Mehrsprachigkeit und zweitens das Problem überschneidender oder antagonistischer Selbstverständnisse. Macht es die Philosophie aufgrund ihrer – relativ zu den Einzelwissenschaften – Sonderrolle anderen Wissenschaften nicht leicht, ihre Einwürfe und Beiträge zu 30 Dies ist zu unterscheiden von dem Fall, in dem aufgrund von Fehlplanung ein Problemverständnis entwickelt wird, dass den eigenen Kompetenzen von vornherein nicht entspricht.

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verstehen, so trägt dazu mit Sicherheit auch das hohe Maß an innerphilosophischer Pluralität nicht nur von Problemverständnissen und Positionen, sondern auch von Terminologien und Theorietypen bei. Es heißt bekanntlich, man bekomme eher zwei Philosophen dazu, dieselbe Zahnbürste zu verwenden als dieselbe Terminologie. Gerade deshalb ist es wichtig, im interdisziplinären Geschäft die eigene Terminologie soweit wie nötig einzuführen. Insbesondere im Falle der Philosophie ist für Nicht-Philosophen häufig nicht klar erkennbar, ob ein Fachterminus vorliegt oder nicht. Zumal die Ausdrücke sich gerade mit denjenigen in den Geisteswissenschaften oft stark überschneiden. Aber umgekehrt gilt auch in den Geisteswissenschaften, dass diese – relativ zu etwa den Naturwissenschaften oder der Medizin – über ein enormes Maß an terminologischer und sprachlicher Varianz verfügen.31 Es gibt hier also nicht nur das für interdisziplinäre Zusammenarbeit stets zu gewärtigende Sprachenproblem zwischen den Disziplinen, sondern sowohl im Falle der Philosophie, wie auch einzelner Geisteswissenschaften innerhalb dieser selbst. Sowohl die Philosophie als auch die Geisteswissenschaften sind bereits inhärent mehrsprachig. Zudem ist die geisteswissenschaftliche Rede häufig bildungssprachlich durchsetzt32, in die gebrauchten Sprachen sind Termini und Begriffe abgesunken, die ihren Ursprung nicht selten in großen Theorieentwürfen, sei es aus der Philosophie oder den Theorieangeboten der Soziologie, haben.33 Durch diese Vielsprachigkeit ist die gemeinsame Kommunikation insbesondere dann gefährdet, wenn den jeweiligen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen nicht mehr deutlich wird, wie ihre Terminologie reguliert ist. So drohen Miss- und Unverständnisse.34 Zu den moderativen Aufgaben der Philosophie gehört es, hier auf Klarheit zu achten, soweit dies für die gemeinsame Arbeit nötig ist. Da in der Philosophie normalerweise weitaus mehr kognitive Ressourcen für Terminologiebildungsund Klassifikations-, wie Definitionskompetenzen aufgewendet werden, liegt hier eine der Stärken für die gemeinsame Arbeit. Wichtig dabei ist die Bereitschaft aller Teilnehmer am interdisziplinären Geschäft, dazuzulernen und entsprechende Klärungsanliegen nicht als bloße Formfragen oder bloßen ›Streit um Worte‹ abzutun, der sich vom ›eigentlich relevanten‹ Inhalt abtrennen ließe. Auch hier gilt, dass entsprechende Terminologiebemühungen einen essentiellen Be31 Weitaus geringer ist dieses Problem bei einigen der Geisteswissenschaften im weiteren Sinne, so vor allem in der Rechtswissenschaft und in Teilen der quantitativen Sozialforschung in der Soziologie. 32 Dies tritt aber je nach ›Stil‹ und philosophischem Habitus auch in der Philosophie auf. 33 Etwa Max Weber oder Niklas Luhmann. 34 Ersteres ist dabei der gefährlichere Fall, da sich Fehlverständnisse oft unerkannt über mehrere Gesprächsrunden forttragen können und dann schließlich auch ihren Niederschlag in Publikationen finden.

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standteil des Gelingens interdisziplinärer Kommunikation und der Entwicklung einer gemeinsamen Sprache darstellen. Dabei bedarf es wechselseitig Geduld, um die mit der gemeinsamen Terminologiebildung sich gelegentlich einstellende Frustration auszuhalten und auf Seiten der beteiligten Philosophinnen und Philosophen Urteilskraft und Augenmaß dafür, wieviel Terminologie relativ zu welchen Definitionsstandards und welchem Grad an Explizitheit für das gemeinsame Geschäft nötig ist. Aufgrund des verschärften Problems der Vielsprachigkeit zwischen Geisteswissenschaften und Philosophie ist der Aufbau einer gemeinsamen Sprache umso wichtiger. Gilt generell für interdisziplinäre Zusammenarbeit, dass jede und jeder an ihr Beteiligte in Grenzen zwei- oder mehrsprachig werden muss, so erhöht sich dieser Anspruch mit Hinzunahme der Geisteswissenschaften beträchtlich. Daher liegt es nahe, eher ein Verständnis für die jeweiligen disziplinären Zugriffsweisen, Fachkulturen und disziplinären Sorgen zu erarbeiten und dann die Sprachenarbeit weitestgehend gemeinsam vorzunehmen, statt sich auf die vielsprachigen Üblichkeiten zu verlassen. Daher die Maxime: Lasse dich auf die Sprachenvielfalt anderer Disziplinen soweit ein, dass eine gemeinsame Sprache (relativ zu den gemeinsamen Zwecken) formulierbar und wechselseitig kontrollierbar wird! Bei der Planung eines interdisziplinären Projekts unter Beteiligung der Geisteswissenschaften ist es aus diesen Gründen ratsam, eine längere Phase nicht nur des wechselseitigen Kennenlernens, sondern auch der gemeinsamen Sprachfindung und –entwicklung vorzusehen. Die Geisteswissenschaften sind in weiten Teilen erst im 19. oder gar 20. Jahrhundert entstanden. Sie übernahmen z. T. Aufgaben und Problemverständnisse, die zuvor der Philosophie zugerechnet wurden. Diese Genese und ihre Auswirkungen auf die Fachkultur dieser Disziplin sollte man sich bewusst machen, um ihr Verhältnis zur Philosophie zu verstehen. Nicht selten bestand die disziplinäre Eigenkonstitution gerade in einer expliziten Abgrenzung gegen die Philosophie, was eine Zusammenarbeit, aufgrund der damit einhergehenden Erwartungen erschwert. Bei dieser Abgrenzung kann es erstens sein, dass die neu konstituierte Disziplin sich selbst als rein empirische Disziplin versteht, die so gesehen von den ›metaphysischen‹ Annahmen der Philosophie endlich frei sei, weshalb philosophische Einwände kaum oder weniger Ernst genommen werden.35 Zweitens kann es der Fall sein, dass die Philosophie als veraltete Wissenschaftsgestalt angesehen wird, deren normative Aufgaben weitaus besser von einer Nachfolgedisziplin übernommen werden kann. Drittens gibt es den Fall, dass eine Nachfolgedisziplin intern zwischen starken normativen und stark deskriptiven Ausrichtungen schwankt, wobei die Philosophie jeweils als Abgrenzungsmedium verwendet wird. Insbesondere die stark theorieaffinen Teile geisteswissenschaftlicher Dis35 Dieses Selbstverständnis begegnet nicht nur in Auseinandersetzung mit Naturwissenschaftlern, sondern durchaus auch in den Geisteswissenschaften.

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ziplinen überschneiden sich im Selbstverständnis häufig mit den philosophischen Aufgaben. Mit diesen Kontroversen umzugehen ist nicht immer leicht, etwa dann, wenn eine Disziplin verdeckte normative Annahmen in ihrem Selbstverständnis aufweist, die geradezu konstitutiv für das eigene Forschen und Arbeiten sind.36 Hier gilt die Maxime: Mache Kontroversen im Selbst- und Fremdverständnis explizit und diskutiere sie – soweit für die gemeinsame Arbeit nötig – mit offenem Visier! Wobei letzteres heißt, die Debatte um etwa verdeckte normative Annahmen offen als eine solche zu führen. Es geht dabei freilich nicht darum – aus Sicht der Philosophie oder Wissenschaftstheorie – fehlgeleitete Selbstverständnisse in bestimmten gelebten Fachkulturen zu reformieren, sondern darum, diese Dissense soweit offenzulegen, dass eine kontrollierte Zusammenarbeit – mit ggf. begründeten Abweichungen – am gemeinsamen Problem möglich wird bzw. bleibt. Macht man sich die hier angerissenen Reibungspunkte und Hürden deutlich und versucht sich an den genannten Maximen zu orientieren, so sollte klarer werden, worauf man sich einlässt und wie man das Risiko von Frustrationen aufgrund scheinbar irreparabler Störungen senken kann, wenn man sich der Herausforderung innerwissenschaftlicher interdisziplinärer geisteswissenschaftlich-philosophischer Zusammenarbeit stellt.

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Tim Rojek Quante, Michael: ›3.2 Virtues and Rational Aspects of Interdisciplinary Research‹, in: Gethmann, Carl Friedrich/Carrier, Martin/Hanekamp, Gerd/Kaiser, Matthias/Kamp, Georg/Lingner, Stephan/Quante, Michael/Thiele, Felix: Interdisciplinary Research and Trans-disciplinary Validity Claims. Cham/Heidelberg/New York/Dordrecht/ London 2015, S. 73–97. Quante, Michael/Rojek, Tim: ›Entscheidungen als Vollzug und im Bericht. Innen- und Außenansichten praktischer Vernunft‹, in: Pfister, Ulrich (Hg.): Kulturen des Entscheidens. Narrative – Praktiken – Ressourcen. Göttingen 2019, S. 37–51. Scholz, Oliver R.: Verstehen und Rationalität. Untersuchungen zu den Grundlagen von Hermeneutik und Sprachphilosophie. Dritte, um ein neues Vorwort ergänzte Auflage. Frankfurt a.M. 20163. Van Ackeren, Marcel: ›Philosophie und die historische Perspektive. Methodische und metaphilosophische Aspekte‹, in: Quante, Michael (Hg.): Geschichte – Gesellschaft – Geltung. XXIII. Deutscher Kongress für Philosophie. Hamburg 2016, S. 853–874. Van Ackeren, Marcel (Hg.): Philosophy and the Historical Perspective. Oxford 2018.

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Diesseits von methodologischem Individualismus und Mentalismus. Auf dem Wege zu einer geistes- und kulturwissenschaftlichen Konzeption des Entscheidens. Reflexionen der Dialektik einer interdisziplinären Problemkonstitution. Philip Hoffmann-Rehnitz / Ulrich Pfister / Michael Quante / Tim Rojek

In diesem Beitrag geht es darum, zu prüfen wie sich ein geistes- und kulturwissenschaftlicher entscheidungstheoretischer Ansatz zu den ›decision sciences‹ verhält. Dabei wird so vorgegangen, dass der eigenständige Ansatz in einer genaueren Auseinandersetzung mit den Grundannahmen der Theoriefamilie der ›decision sciences‹, sowie deren Stärken und Schwächen entwickelt wird. Ein eigenständiges interdisziplinäres Selbstverständnis soll also durch die Reflexion auf potentielle Konkurrenzpositionen im Feld der Entscheidungsforschung befördert werden. Während im ersten Schritt das Verständnis von ›individualistischen Entscheidungstheorien‹ geklärt, wenden wir uns im zweiten Teil mit internen und externen Herausforderungen, vor die individualistische Entscheidungstheorien gestellt sind. Im dritten Teil wird deutlich, dass bei näherer Bestimmung der Rede von ›individualistischen Entscheidungstheorien‹ diese unverträglich mit unserem interdisziplinär verfolgten Ansatz sind. Dieser Ansatz stellt weder eine Ergänzung noch eine direkte Konkurrenz für die ›decision sciences‹ dar, sondern erweitert das Feld des wissenschaftlich zu erforschenden Entscheidensphänomens. This article is an attempt to examine how an approach to decision theory from within the humanities and cultural studies is interrelated with what is generally referred to as ›decision sciences‹. The approach is to develop an independent approach in close comparison to the basic assumptions of the theoretical family of the ›decision sciences‹ as well as their strengths and weaknesses. An independent interdisciplinary self-conception is to be promoted through the reflexion of potential competitive positions within the field of decision research. As a first step the understanding of ›individualistic decision theory‹ is going to be clarified. After that we will turn our attention to the internal and external challenges facing individualistic decision theories. The third part of this article is going to make it clear that at closer delineation the ›individualistic decision theories‹ prove to be incompatible with our interdisciplinary approach. This approach is neither an addition nor a direct competitor to the ›decision sciences‹ but widens the field of phenomena concerning decision making processes to be researched

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Einleitung In diesem Beitrag wird nachgezeichnet, inwieweit sich durch den Versuch, eine geistes- und kulturwissenschaftlich begründete Theorie des Entscheidens zu entwerfen, die sich als Alternative zu herkömmlichen individualistischen Entscheidungstheorien versteht, die Frage nach deren jeweiligen Adäquatheitsbedingungen aus der Reflexion auf die Dialektik dieser Absetzbewegung konstituiert. Die Notwendigkeit eines solchen Versuchs ergibt sich, wenn nach möglichen gemeinsamen theoretischen Grundlagen gefragt wird, die sowohl für philosophisch ausgerichtete wie historische (und andere geistes- und kulturwissenschaftliche) Forschungen, die sich mit Entscheiden auseinandersetzen, geeignet erscheinen und die somit eine gemeinsame (Gesprächs-)Basis für einen interdisziplinären Austausch innerhalb der Geistes- und historischen Kulturwissenschaften bilden können. Der Mainstream der (individualistischen) Entscheidungstheorien, wie sie in den Wirtschafts- und Teilen der Sozial- und Politikwissenschaften vorherrschen, erscheint als ein solcher Ausgangspunkt ungeeignet, da sie in wesentlichen Punkten nicht den konzeptionellen Bedingungen und methodologischen Anforderungen eines Großteils der (aktuellen) kultur- und geisteswissenschaftlichen Forschung entsprechen. Angesichts des großen Einflusses von aus den Wirtschaftswissenschaften stammenden Ansätzen in der gegenwärtigen Entscheidungsforschung stellt sich die Frage nach der Existenz und dem Stellenwert eines genuin geistes- und kulturwissenschaftlichen Zugangs zum Thema des Entscheidens. Um einen solchen alternativen Zugang entwickeln zu können, ist vornehmlich zu klären, wie sich ein solcher Ansatz und die Ansätze der Entscheidungsforschung bisherigen Typs zueinander verhalten: Sind sie vollständig inkompatibel; vollständig komplementär oder gar ineinander übersetzbar? Oder sind sie partiell inkompatibel und partiell komplementär zugleich? Die Dialektik dieser Klärungsprozesse ist ein konstitutiver Bestandteil der Herausbildung des Theoriekerns der zu etablierenden alternativen Konzeption. Unverzichtbar ist dabei die zunehmende Durchdringung und Komplexitätsanreicherung der Problemstellung, für welche die neue Konzeption eine Lösung bieten soll. Um hier weiter zu kommen, ist es erforderlich, sich die internen Weiterentwicklungen und Problematisierungen in der Theoriefamilie anzusehen, von der sich die gesuchte Alternative absetzen soll. Den Ausgangspunkt für die folgenden Ausführungen bildet eine Konzeptualisierung des Entscheidens, die sich als Alternative zu den vorherrschenden individualistischen Entscheidungstheorien versteht und von der wir annehmen, dass sie den Adäquatheitsbedingungen für eine geistes- und kulturwissenschaftliche Entscheidensforschung eher entspricht, als es bisherige Konzeptionen tun, insbesondere wenn sich diese auch für die historische Dimension des Entscheidens interessieren. Grundlegend für eine solche Konzeptualisierung sind drei Annahmen:

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Diesseits von methodologischem Individualismus und Mentalismus

1.) Bei Entscheiden handelt es sich um eine spezifische Form des sinnhaften Handelns. Dies impliziert, dass Entscheiden nicht als Bedingung für sinnhaftes Handeln insgesamt gelten kann. 2.) Entscheiden ist ein prozessualer, sich (im Sinne von Edmund Husserl) in polythetischer Weise konstituierender Vorgang, der seinem Sinn nach auf die Hervorbringung einer Entscheidung bezogen ist. 3.) Der Begriff Entscheiden kann sich sowohl auf mentale wie auch auf soziale Vorgänge beziehen. Allerdings lässt sich soziales Entscheiden nicht aus mentalem Entscheiden ableiten und erklären, ob der umgekehrte Fall möglich ist, lassen wir hier offen. Wir wollen es an dieser Stelle hierbei belassen und verzichten darauf zu explizieren, welche Folgen sich aus diesen Annahmen für eine Konzeptualisierung einer Theorie des Entscheidens ergeben.1 Vielmehr werden wir im Folgenden aufzeigen, dass und warum ein Forschungsprogramm, das auf einer solchen Konzeptualisierung von Entscheiden aufbaut, nicht mit den herkömmlichen individualistischen Entscheidungstheorien verträglich ist. Die Option, dass beide sich als ineinander übersetzbar erweisen und so eine integrierte Entscheidungstheorie entwickelt werden kann, scheidet also aus. Ob beide Konzeptionen sich damit in Konkurrenz befinden, hängt allerdings davon ab, ob sie überhaupt beanspruchen, dieselben Phänomene zu erklären. Ihre Plausibilität bzw. Unplausibilität hängt dann maßgeblich von den mit ihnen verfolgten wissenschaftlichen Zwecken und Erkenntnisinteressen ab. Im Folgenden werden wir zunächst im ersten Teil (1.) klären, was wir unter dem unscharfen Begriff der individualistischen Entscheidungstheorien fassen möchten und worin die paradigmatischen Grundannahmen bestehen, die es erlauben, diese als eine Theoriefamilie zu beschreiben. Es folgt im zweiten Teil (2.) eine kritische Auseinandersetzung mit wesentlichen Problemen, die sich zumindest aus einer geistes- und kulturwissenschaftlichen Perspektive ergeben. In zwei Abschnitten werden zwei für individualistische Entscheidungstheorien zentrale Herausforderungen vorgestellt und diskutiert: (2.1) das Aggregationsproblem und (2.2) das Verhältnis zwischen mentalem Geschehen und sozialem Kontext auf der anderen Seite. Der dritte und letzte Abschnitt (3) bietet ein knappes Fazit und einen Ausblick. Den Aufsatz kennzeichnet insofern eine kritische Absicht, als er sich vornehmlich mit den Prämissen und Grundlagen der individualistischen Entscheidungstheorien auseinandersetzt, von denen wir uns abgrenzen wollen. Allerdings operieren wir dabei auf der Grundlage eines hier nicht weiter ausgeführten Alternativentwurfs, der es überhaupt erst ermöglicht, die grundlegenden Probleme, 1 Vgl. dazu Hoffmann-Rehnitz/Krischer/Pohlig 2018 (vor allem Abschnitt 2) und Drews/Pfister/Wagner-Egelhaaf 2018.sowie Stollberg-Rilinger 2016. Zur geistes- und kulturwissenschaftlichen Perspektive vgl. Quante/Rojek 2018.

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die mit individualistischen Entscheidungstheorien einhergehen und die von diesen weitgehend nicht reflektiert werden, in den Blick zu nehmen. Unsere alternativen Annahmen leiten damit die Dialektik der präsentierten Absetzbewegung an.

1. Individualistische Entscheidungstheorien – ein Problemaufriss Der Begriff der individualistischen Entscheidungstheorien stellt keinen terminologisch fest eingeführten Forschungsbegriff dar. Vielmehr diente er in einer ersten Problemkonstitution dazu, via negationes, und in Form einer Absetzbewegung die innerhalb der sogenannten ›decision sciences‹ dominanten entscheidungstheoretischen Ansätze (zu denen u. a. prominent Rational-ChoiceTheorien zählen) zusammenzufassen. Bei einer näheren Auseinandersetzung erwies sich dieser erste Schritt aufgrund seiner Unterbestimmtheit als unzulänglich. Zunächst galt es zu klären, wodurch sich individualistische Entscheidungstheorien als Theoriefamilie auszeichnen und inwiefern es angemessen ist, diese als ›individualistisch‹ zu bezeichnen.2 Damit ergab sich das Folgeproblem, ob und in welcher Weise sich solche individualistischen Entscheidungstheorien gegenüber anderen, in je verschiedenem Sinne nicht-individualistischen Theorieansätzen abgrenzen lassen. In der Konsequenz war auch zu klären, wie eine solche Abgrenzung durchgeführt werden kann. Den Ausgangspunkt dafür bildet die Frage, inwieweit in den innerhalb der Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften geführten systematischen Debatten bestimmte theoretische Richtungen und Sichtweisen als individualistisch gekennzeichnet werden. ›Individualistisch‹ wird hier in der Regel als Reflexionsbegriff verwendet, durch den etwas und der damit zu bezeichnende Inhalt als etwas (hier: als individualistisch) bezeichnet wird, indem es in Opposition zu einem explizit benannten Gegenbegriff gesetzt wird. In diesem Sinne finden sich eine Vielzahl solcher Oppositionspaare wie etwa: individualistisch individualistisch individualistisch individualistisch individualistisch

vs. vs. vs. vs. vs.

holistisch kollektivistisch totalitaristisch strukturalistisch. sozialtheoretisch

2 Selbstverständlich gibt es nicht nur in Bezug auf Entscheidungen individualistische Theorien; da es uns in diesem Beitrag jedoch ausschließlich um Entscheidungstheorien geht, blenden wir diese umfassendere Extension von »individualistisch« im Folgenden aus.

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In der Sozialphilosophie und der Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaften ist es gebräuchlich, individualistische Theorien dadurch zu charakterisieren, dass sie den Prinzipien des ›methodologischen Individualismus‹ folgen. Allerdings bestehen auch hier unterschiedliche Auffassungen darüber, was darunter genau zu verstehen ist. Den Kern des methodologischen Individualismus bildet dabei die Auffassung, dass soziale (überindividuelle) Phänomenen nur dadurch erklärt werden können, dass sie auf individuelle Handlungen einzelner Akteure reduziert werden.3 Nun folgen nahezu alle Entscheidungstheorien innerhalb der ›decision sciences‹ nicht nur diesem Postulat, sondern sie gehen in aller Regel noch von einer weiteren grundlegenden Annahme aus, die in engem Bezug zu diesem steht, von diesem aber zu unterscheiden ist und die mit Gethmann und Sander als (methodologischer) Mentalismus bezeichnet werden kann.4 Für unsere Zwecke reicht folgende knappe Arbeitsdefinition aus: Unter »Mentalismus« verstehen wir hier die Rückführung von Handlungen auf mentale Ereignisse oder Zustände, die als explanatorisch relevante Größen für die Erklärung individuellen (und unter Umständen auch kollektiven) Handelns (inklusive Redehandelns) postuliert werden.5 Demnach sind die individuellen Handlungen einzelner Akteure in inneren, mentalen bzw. intentionalen Zuständen fundiert, welche die Akteure zum Handeln motivieren. Explanatorisch besteht somit das Ziel darin, individuelle Handlungen mittels solcher intentionaler Zustände, deren Träger genuin individuelle Akteure sind, kausal oder funktional zu erklären. Im Gefolge von Karl Popper wurde die Kennzeichnung »methodologischer Individualismus« (in Verbindung mit den damit eng verbundenen weiterführenden mentalistischen Annahmen) normativ und politisch aufgeladen. Theorien, die gegen die zentrale Forderung des methodologischen Individualismus verstießen, wurde vorgeworfen, normativ inakzeptabel zu sein und zwangsläufig zu politisch unerwünschten Konsequenzen zu führen (bei Popper und in der liberalistischen Tradition der Politischen Philosophie wird dieser Vorwurf vornehmlich als Totalitarismus, einhergehend mit der Beseitigung individueller Grundrechte artikuliert). Dies wirft nicht nur die grundlegende Frage auf, wie sich der methodologische Individualismus (und Mentalismus) zu dem mit diesem Vorwurf vorausgesetzten normativen Individualismus verhält. Auch das Ver3 Zu den divergierenden Verständnissen von »methodologischer Individualismus« vgl. Heath 2015. Der Ausdruck »methodologischer Individualismus« findet sich erstmals bei Webers Student Joseph Schumpeter in dessen Werk »Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie« (Leipzig: Duncker & Humblodt 1908) und wurde von Max Weber theoretisch ausgearbeitet, vgl. Schumpeter 1908. 4 Vgl. zum Mentalismus und systematischen Alternativen zu dieser Konzeption Gethmann/Sander 2007; Mittelstraß 2004. 5 Dies umfasst kausale Relevanz (Ursache) und explanatorische Relevanz (relevanter Aspekte in Kausalerklärungen) gleichermaßen.

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hältnis dieser Konjunktion aus methodologischem und normativen Individualismus zu der Ebene des ontologischen Individualismus (bzw. besser gesagt, diverser möglicher ontologischer Individualismen) gilt es dabei im Blick zu haben. Ontologisch lassen sich mindestens drei Debatten unterscheiden: (i) Individualismus vs. Kollektivismus: Sind Individuen und deren Handlungen durch soziale Gesetze determiniert oder nicht? (ii) Atomismus vs. Holismus: Sind individuelle mentale Zustände sozial konstituiert? (iii) Singularismus vs. Pluralismus: Gibt es genuin plurale Subjekte (z. B. Gruppen, Klassen oder Staaten), denen genuine intentionale Zustände zugeschrieben werden können, welche sich nicht auf die intentionalen Zustände der sie konstituierenden Akteure reduzieren lassen? Diese drei ontologischen Unterscheidungen sind logisch voneinander unabhängig und damit prima facie beliebig kombinierbar, wodurch die systematische Debatte zusätzlich komplizierter wird.6 Der Zugang über die Charakterisierung »methodologischer Individualismus« erweist sich als systematisch problematisch, weil angesichts der gerade konstatierten Komplexität nahezu zwangsläufig divergierende Auffassungen darüber bestehen, was (im Sinne von: welche Prämissenmenge) unter diesen Kennzeichnungen zu verstehen ist. Im interdisziplinären Diskurs zeigt sich zudem, dass mit diesen Opponenten wesentliche Aspekte, die sowohl in den individualistischen entscheidungstheoretischen Debatten selbst als auch aus Sicht der zu entwickelnden geistes- und kulturwissenschaftlichen Alternative als problematisch eingeschätzt werden, gar nicht zu erfassen sind. Für eine weitere Klärung der Gesamtkonstellation ist es deshalb erforderlich, das unterbestimmte Merkmal ›methodologischer Individualismus‹ zu präzisieren und um (mindestens) zwei Merkmale zu erweitern: die Annahme von rational handelnden Akteuren einerseits und die Voraussetzung des Mentalismus bezüglich der relevanten Handlungen und Zustände andererseits. Nur so ist es möglich, die in der Problemkonstitutionsphase gesuchte Grenze zu der alternativen Theoriefamilie angemessen zu ziehen.7 Die diskursive Gesamtlage wird nicht einfacher dadurch, dass die theoretischen Grundsatzdebatten innerhalb der individualistischen Entscheidungstheorien in hohem Maße durch die Diskussion von Rationalitätsannahmen dominiert sind. Mit der Charakterisierung ›rational‹ ist dabei ein komplexes Merkmal angesprochen, das vielfältige Ausdeutungen erfahren hat und Gegenstand einer nahezu unüberschaubaren Debatte innerhalb der Philosophie, aber auch in ei6 Vgl. zu den drei ontologischen Unterscheidungen Pettit/Schweikard 2009. 7 ›Mindestens‹ deshalb, weil der Gang der Forschung möglicherweise erweisen wird, dass weitere Aspekte zu einer systematisch tragfähigen und fruchtbaren Grenzziehung herangezogen werden müssen.

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nigen anderen Disziplinen, war und ist.8 Wir werden diese Schwierigkeiten im Folgenden auffangen können, indem wir von einem intuitiven Vorverständnis von ›rational‹ ausgehen und die – möglicherweise problematischen oder strittigen – Rationalitätspräsuppositionen der Debatte allenfalls explizieren, sofern und soweit dies für unsere Problemkonstitution erforderlich ist. Im Rahmen der entscheidungstheoretischen Debatten der letzten Jahrzehnte haben insbesondere zwei Denkrichtungen das Konzept des rationalen Akteurs in Frage gestellt: Verfechter des Konzepts einer bounded rationality einerseits und die Verhaltensökonomie (behavioral economics) andererseits. Der erste Ansatz betont, dass die Beschaffung von Information mit Kosten verbunden ist, Informationen deshalb niemals vollständig vorliegen und auch die Folgen der zur Auswahl stehenden Optionen häufig nicht sicher bekannt sind. Schließlich ist auch die Befolgung des Nutzenkalküls mit Aufwand verbunden, sodass limitierte Akteure keine Maximierer sind, sondern die Strategie des satisficing verfolgen. Auf den Gedanken der bounded rationality gestützte Ansätze haben sich besonders in der Organisationswissenschaft entwickelt. Die dort entstandenen neoinstitutionalistischen Ansätze lassen sich auch in das Profil eines genuin geschichts- und kulturwissenschaftlichen Gegenentwurfs integrieren. Für die Verhaltensökonomie sei hier exemplarisch Kahneman (2012) erwähnt. Auch dieser Ansatz geht davon aus, dass die einzelnen Handlungsoptionen nur mit bestimmten Wahrscheinlichkeiten zu bestimmten Ergebnissen führen. Wahlhandlungen bzw. Entscheidungen werden somit unter Unsicherheit getroffen, Information steht nie vollständig zur Verfügung. Vor diesem Hintergrund stützt sich die Verhaltensökonomie insbesondere auf die experimentelle Lotterie (vgl. Kahnemann (2012): 344). Damit wird auf eine wichtige Analysemethode der Mathematik des 18. Jahrhunderts zurückgegriffen. Die zentrale Aussage der Verhaltensökonomie lautet, dass Wahlhandlungen nicht das Ergebnis von Kalkülen darstellen, sondern mittels einfacher Faustregeln bzw. Heuristiken getroffen werden, die ihrerseits stark durch Verzerrungen (biases) geprägt werden, z. B. Frames oder die Verzerrung der Verfügbarkeit. Das rationale Akteursmodell wird somit durch ein Konzept des Akteurs ersetzt, welches durch die Befunde der experimentellen Psychologie empirisch gut unterfüttert ist. Als Ergebnis dieser Entwicklung stehen sich in der herkömmlichen Entscheidungsforschung heute drei Ansätze gegenüber:9 (i) Ein klassischer Ansatz, der die Prinzipien des methodologischen Individualismus und Mentalismus mit dem Konzept des rationalen Akteurs verbindet. Aufgrund der relativ einfachen Handhabbarkeit wird er trotz Kritik und Entwicklung alternativer Ansätze nach wie vor verbreitet angewendet. (ii) Die Verhaltensökonomie, die den rationalen Akteur durch ein psychologisches Konzept ersetzt, in dem Wahlhandlungen nicht durch Kalkül und 8 Vgl. Mele/Rawlings 2004; Hahn 2013; Gethmann 1995. 9 Vgl. z. B. Beckert 2013, S. 223.

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Deliberation, sondern durch Faustregeln zustande kommen, die durch Verzerrungen geprägt sind. Die Beziehung zwischen individuellem Handeln und kollektiven Tatbeständen, die sich als Aggregate individuellen Handelns verstehen lassen sollen, wird nicht thematisiert. (iii) Ein ursprünglich auf das Konzept der bounded rationality zurückgehender, später vielfach aufgefächerter Ansatz. Er hegt den Geltungsbereich des rationalen Akteurs ein; einige Zweige des Ansatzes betonen die Relevanz von Institutionen und Handlungsskripten als Rahmen des Entscheidens, was sie prima facie anschlussfähig für eine kulturwissenschaftliche Konzipierung zu machen scheint. Es zeigt sich, dass zwei der Prämissen individualistischer Entscheidungstheorien – methodologischer Individualismus sowie Mentalismus – in dieser Debatte unhinterfragt bleiben. Ob sich im Rahmen der bounded rationality Möglichkeiten bieten den methodologischen Individualismus durch den Einbezug irreduzibel sozialer Tatbestände abzuschwächen oder aufzugeben, bleibt im Kontext einer Alternativkonzeption – dies ist eine weitere Spezifizierung der Problemstellung – zu prüfen.

2. Individualistische Entscheidungstheorien – eine Kritik Unsere These lautet: Ein Großteil der entscheidungstheoretischen Ansätze gerade in den in diesem Feld dominierenden Wirtschaftswissenschaften, vor allem der Mikroökonomik, zeichnet sich durch die Verbindung der Prinzipien des methodologischen Individualismus und des Mentalismus mit der zusätzlichen Annahme von rational handelnden Akteuren aus.10 Innerhalb einer in diesem entscheidungstheoretischen Paradigma geführten Debatte wird in der Regel ausschließlich die letztere Annahme der Akteursrationalität kritisch und umfassend unter anderem unter dem Stichwort ›bounded rationality‹ diskutiert, wenngleich sie auch nicht umfassend zurückgewiesen wird.11 Die anderen Prä10 Dass diese Verbindung logisch nicht zwingend ist, hat beispielsweise Alfred Schütz (1972) gezeigt, der sich beim Entwurf seiner Handlungs- und Entscheidungstheorie zwar an den Prinzipien des methodologischen Individualismus und Mentalismus orientiert, ohne aber einen rationalen Akteur anzunehmen, im Sinne der rational-choice Modelle anzunehmen. 11 Philosophisch ist diese Debatte allerdings nicht neu. Historisch gesehen lässt sich Hegels Kritik an der Verstandesmetaphysik bereits als Kritik an einer reduzierten Vernunftkonzeption verstehen. Spätestens mit der 1947 erstmals erschienenen »Dialektik der Aufklärung« von Horkheimer und Adorno sowie in der 1966 erschienenen »Negativen Dialektik« des letzteren liegt eine philosophische Kritik an einem instrumentalistischen Rationalitätskonzept vor. Auch in der analytischen Philosophie ist diese Debatte

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missenmengen werden dagegen nicht hinterfragt; zumeist sind sie in den Debatten nicht einmal thematisch. 2.1 Zur Kritik am methodologischen Individualismus: das Aggregationsproblem Als Illustration für die zentrale Bedeutung, die dem methodologischen Individualismus vor allem innerhalb der Wirtschaftswissenschaften, wie auch den damit verbundenen Problemen zukommt, mag eines der wichtigsten Lehrbücher für Mikroökonomie dienen.12 Dieses setzt ein mit einem ersten Teil zu »Individual Decision Making«, in dem die individuelle Entscheiderin (›decision maker‹) und ihr ›choice problem‹ bzw. ihr ›individual choice behaviour‹ modelliert werden. Grundlegend sind dabei individuelle Präferenzen bzw. ›Preference Relations‹ sowie ›Choice Rules‹, die in mathematischer Form bestimmt werden. Die paradigmatische Entscheidung ist dabei die im zweiten Kapitel untersuchte Konsumwahl (»Consumer choice«); der erste Satz lautet entsprechend: »The most fundamental decision unit of microeconomic theory is the consumer« (verstanden als ein individueller Akteur). Der erste Abschnitt nach der Einleitung beginnt mit: »The decision problem faced by the consumer in a market economy is to choose consumption levels of the various goods and services that are available on the market.«13 Abgesehen von dem bezeichnenden Umstand, dass hier erstens zwanglos zwischen den Begriffen Wahl und Entscheidung changiert wird und zweitens der Unterschied keine Rolle zu spielen scheint und drittens, dass sich auch keine genaueren Definitionen zu diesen beiden Grundbegriffen finden lassen, diese vielmehr als bekannt und unproblematisch vorausgesetzt werden, werden (Konsum-)Entscheidungen bzw. ›choices‹ als das Ergebnis von auf der Grundlage vorgegebener Tatsachen oder Überzeugungen (Entscheidungsoptionen, Präferenzen, Entscheidungsregeln) logisch abgeleiteten und damit mathematisch modellierbaren Festlegungen konzipiert, welche die individuellen Akteure vornehmen; die perfekt rationale Konsumentin ist daher im Idealfall Mathematikerin oder verfügt zumindest über einen leistungsfähigen Rechner, denn ihr Leben besteht im Lösen formaler und berechenbarer (Entscheidungs- bzw. Wahl-)Probleme. Hier stellt sich dann die Frage, nach welchem Grundprinzip die Konsumentin Entscheidungsprobleme löst.14 Andere Akteure und die Beziehung spätestens seit der Auseinandersetzung von Dennett und Stich auf der Tagesordnung; vgl. zur letzteren die Darstellung in Quante 1995. 12 Vgl. Mas-Colell/Whinston/Green 1995. 13 Mas-Colell/Whinston/Green 1995, S. 17. 14 In der Regel wird von einem rationalen Akteur(smodell) ausgegangen, der bzw. die den individuellen Nutzen maximiert, über Präferenzen verfügt, welche konsistent und

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zu diesen, und damit die Dimension des Sozialen, spielen (wenn überhaupt) nur als externe Effekte eine Rolle. Je nach Modellierung lassen sich so Dilemmata erzeugen, bei denen die individuellen Akteure letztlich auf den Gesamtnutzen hin gesehen suboptimale Resultate erzielen.15 Präferenzen bzw. die individuellen Präferenzrelationen, und damit auch das individuelle Nutzenkalkül der Akteure, werden als der ›Innenwelt‹ des Akteurs zugehörig aufgefasst. Sie sind von Anderen nicht beobachtbar, bestimmen aber das Entscheiden und Handeln der rationalen Akteure. Dies entspricht der mentalistischen Grundannahme. Das eigentliche Erkenntnisziel der Mikroökonomik besteht allerdings darin, auf der Grundlage der Modellierung von individuellen Akteuren bzw. ›Entscheiderinnen‹ theoretische Aussagen über allgemeine ökonomische Zustände wie Marktgleichgewichte und Marktversagen treffen zu können – verstanden als »aggregate economic outcomes«. Allgemeine wirtschaftliche Tatbestände, z. B. Änderungen von abgesetzten Mengen als Folge von Preisänderungen, werden als das (ebenfalls formal bestimmbare) Ergebnis der Aggregation individueller Entscheidungen modelliert. Sie stellen sich als Ergebnis individueller Festlegungen in einer logisch nachvollziehbaren Weise ein. Die Situierung des Themas in einem Marktkontext ist dabei wichtig, denn sie macht es sinnvoll, aggregierte Zustände als Ergebnis dezentraler Festlegungen aufzufassen. Für Situationen, die sich annähernd durch Märkte mit vollständiger Konkurrenz beschreiben lassen, werden die (einschränkenden) Bedingungen untersucht, unter denen sich aus Parametern, die individuelle Entscheidungssituationen charakterisieren, Aussagen über aggregierte Zustände ableiten lassen. Verfügen die Akteure über Marktmacht bzw. stehen sie sich in einem Interaktionskontext gegenüber, so dient insbesondere die Spieltheorie als Verbindungsglied zwischen der individuellen und der aggregierten Ebene. Der locus classicus für die Analyse von kooperativen Entscheidungen in ökonomischen Kontexten und deren Analyse mit den Mitteln der mathematischen Spieltheorie ist das 1944 erstmals erschienene Buch »Theory of Games and Economic Behavior« von John von Neumann und Oskar Morgenstern. Dort schreiben die Autoren: »We hope to establish satisfactorily, after developing a few plausible schematizations, that the typical problems of economic behavior be-

über die Zeit hinweg stabil sind, sowie vollständig informiert ist, d. h. deren Informationskosten gleich null sind. Entscheidungen bzw. Wahlhandlungen sind somit Ergebnis eines individuellen (dem rationalen Individuum im Prinzip vollständig transparenten) Nutzenkalküls. 15 Auf diese u. a. als Gefangenendilemma bekannten Probleme können wir hier nicht eingehen. Es spielt aber auch für die Frage, wie Entscheiden/Entscheidung konzeptionell adäquat gefasst werden kann, eine zentrale Rolle. Sie werden bei Schick 1997: Kap. 5 unter dem Titel »Other People« vorgestellt.

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come strictly identical with the mathematical notions of suitable games of strategy«.16 Die Karriere, die die Spieltheorie seit dem Erscheinen von »Theory of Games and Economic Behavior« in den Wirtschafts- wie auch in den Sozial- und Politikwissenschaften erlebt hat, ist zum einen dadurch bedingt, dass sich die Mikroökonomie als Grundansatz der Volkswirtschaftslehre, nicht zuletzt als Fundierung makroökonomischer Analysen (u. a. Wirtschaftswachstum, monetäre Ökonomie), nach dem zweiten Weltkrieg weitgehend durchsetzte. Darüber hinaus begannen Volkswirte zum anderen seit den 1950er Jahren auch Aussagen über Politik und Gesellschaft zu entwickeln. So entwickelte sich die Neue Politische Ökonomie (public choice, ökonomische Theorie der Politik), die politische Entscheidungsprozesse und das Verhalten politischer Akteure mit Mitteln der volkswirtschaftlichen Theorie expliziert. Neben mikroökonomischen Grundlagen kommt dabei insbesondere die Spieltheorie als Theorie des kooperativen Entscheidens zum Einsatz. Außerdem wandten sich Ökonomen (und dann auch etliche Politik- und Sozialwissenschaftler) im Gefolge der Arbeiten Gary S. Beckers zahlreichen gesellschaftlichen Themen und sozialen Phänomenen wie Familie, Diskriminierung, Kriminalität und Bildung (man denke an das Stichwort: Humankapitaltheorie) zu. Für sozialtheoretische Entwürfe, die das Prinzip des methodologischen Individualismus und das Konzept des rationalen Akteurs auf dem Fundament einer mentalistischen Handlungstheorie aufgreifen, seien hier paradigmatisch Coleman 1990 und Esser 1991 genannt. Vor allem Coleman, an den Esser anschließt, geht davon aus, dass soziale Makrophänomene auf der Grundlage des methodologischen Individualismus bestimmt werden können, und versucht darzulegen, wie dies erfolgen kann. In dem Alternativmodell einer geistes- und kulturwissenschaftlich fundierten Konzeption des Entscheidens ist im Gegensatz hierzu die These zentral, dass die Herausforderung des Übergangs von der Mikro- zur Makroebene bzw. von der individuellen zur sozialen Ebene auf der Grundlage eines Programms, das den Prämissen des methodologischen Individualismus (und Mentalismus) folgt, nicht zu bewältigen ist. Der Dialektik der Problemkonstitution zufolge stellen die Hindernisse, auf die eine individualistische Entscheidungstheorie im Kontext des Aggregationsproblems stößt, eine zentrale Motivation für ein kulturwissenschaftliches Programm der Analyse des Entscheidens und Adäquatheitsbedingungen seiner angemessenen Realisierung bereit. Coleman geht davon aus, dass eine auf der Makroebene angesiedelte Forschungsfrage in drei analytische Schritte aufgespalten werden kann. In seinem Beispiel ist die Forschungsfrage auf der Makroebene angesiedelt; es geht um den Zusammenhang zwischen sozialem Wandel und der Häufigkeit von Revolutio16 Neumann/Morgenstern 2007, S. 2. Der durchschlagende Erfolg der Hoffnung von Neumanns und Morgensterns zeigt sich beispielsweise auch in dem von uns soeben exemplarisch herangezogenen Lehrbuch von Mas-Colell.

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nen. Den Kern der Analyse stellt aber die Mikroebene des individuellen Handels dar, die sich auf das Handlungsmodell des rationalen Akteurs stützt. In einem dieser Analyse vorgelagerten Schritt ist Coleman zufolge zu untersuchen, wie eine gegebene Konstellation auf der Makroebene die Parameter beeinflusst, die im angewandten Handlungsmodell als relevante Aspekte integriert sind. Es gilt also im einfachsten Fall zu prüfen, wie sich eine Konstellation der Makroebene auf die Präferenzen der Akteure, auf die Knappheitsrelationen und auf die Handlungsoptionen, die sich den Akteuren eröffnen, auswirkt. Die in diesem Zusammenhang vorausgesetzten Brückenhypothesen, die Makro- und Mikroebene verbinden, enthalten ein genuin soziales Element, auch wenn sich das die Analyse treibende Handlungsmodell an der Volkswirtschaftslehre ausrichtet.17 Im dritten Schritt der Analyse werden die auf der Mikroebene erfolgten Handlungen bzw. Festlegungen der Einzelakteure zu einem Zustand der Makroebene aggregiert.18 Der in Form einer solchen Aggregationslogik konzipierte Übergang von der Mikro- zur Makroebene wird allerdings aus prinzipiellen Gründen problematisch, wenn angenommen wird, dass Akteure unterschiedliche Eigenschaften aufweisen und damit unterschiedlich auf Umweltbedingungen der Makroebene reagieren und sie damit zu voneinander abweichenden Entscheidungen kommen. Die Mikroökonomie hat darauf mit dem Konzept des repräsentativen Haushalts reagiert. Außerdem weist sie nach, dass es den darin vorausgesetzten Akteur nur unter idealisierten und stark restriktiven Bedingungen gibt. Mit anderen Worten: Die Möglichkeit der Aggregation setzt methodologisch zwangsläufig überaus weitgehende Vereinfachungen voraus.19 Noch schwieriger ist die Lage im Bereich der Sozialwahl (social choice), d. h. der Aggregation der individuellen Entscheidungen von rationalen Akteuren in Körperschaften (und nicht auf Märkten). Dies lässt sich durch das Arrow-Theorem, welches eine zentrale Aussage der ökonomischen Theorie der Politik darstellt, verdeutlichen.20

17 Vgl. dazu auch Esser 1991, S. 42 ff. 18 Dieser Analyseschritt ist nicht nur in ontologischer Hinsicht der voraussetzungsreichste, sondern auch in methodologischer Hinsicht der schwierigste. Es ist für diese Theorieansätze typisch, dass sie an dieser Stelle über allgemeine und programmatische Aussagen, (so z. B. Esser 1991: S. 47 f., nicht hinauskommen, oder aber mit Einzelbeispielen, die nicht zur Verallgemeinerung taugen, gearbeitet wird. Letzteres ist beispielsweise bei Coleman 1990: Kap. 14–15 der Fall. 19 Mas-Colell/Whinston/Green 1995, S. 105–122, 598–606; Colemann 1990, S. 6 erwähnt die Problematik ebenfalls. 20 Konsequenter Weise misst Coleman 1990, S. 374 ff.diesem Theorem bei seiner Erörterung der Aggregationsthematik auch großes Gewicht bei; zu Arrows Theorem vgl. Arrow 1951 sowie die deutschsprachige Einführung Bossert/Stehling 1990.

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Arrows Theorem besagt, dass es bei mindestens drei Akteuren und mindestens drei Optionen kein (formales) Entscheidungsverfahren geben kann, welches die folgende Liste von »natürlichen Bedingungen« im Sinn angemessener Kriterien für die Aggregation individueller Präferenzen gleichzeitig erfüllt: 1. U (Universalität): Die Wohlfahrtsfunktion ist für alle erdenklichen individuellen (vollständigen und transitiven) Präferenzordnungen geeignet, die ordinal21 (nicht intervall-)skaliert werden. 2. I (Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen): Die Präferenzen der Individuen sind unabhängig voneinander und weder semantisch noch psychologisch (oder auf andere Weise) interdependent. 3. N (Nicht-Einschränkung bzw. bürgerliche Souveränität): Jede mögliche soziale (aggregierte) Präferenzordnung soll durch einen Satz individueller Präferenzordnungen erreichbar sein. Nichts hindert Individuen daran, ihre Präferenzen auf aggregierter Ebene zu implementieren. 4. M (Monotonität): Die (ordinale) Rangordnung muss monoton steigen. 5. D: (Nicht-Diktatur): Es gibt keinen Diktator, dessen individuelle Präferenzordnung zugleich die gesellschaftliche Rangordnung darstellt.22 Zur Illustration nehmen wir das Beispiel einer relativen Mehrheitswahl mit fünf Wählenden und vier Alternativen A bis D, die von den Wählenden unterschiedlich präferiert werden:

1. Präferenz 2. Präferenz 3. Präferenz 4. Präferenz

1

2

3

4

5

B D A C

B A D C

A C D B

D C A B

C A D B

Unsere Darstellung geht von der ersten Präferenz aus: Alternative B wird gewinnen, da sie zwei Stimmen auf sich vereint, die anderen nur eine Stimme er21 Das ordinale Skalenniveau lässt als logisch-mathematische Operationen »gleich/ ungleich« sowie »größer als« und »kleiner als« zu, d. h. die absoluten Abstände zwischen den einzelnen Werten spielen keine Rolle für dieses Niveau. Die messbaren Eigenschaften einer Ordinalskala sind Häufigkeit und Reihenfolge. Ein Beispiel wären Schulnoten von sehr gut bis ungenügend. Die Intervallskala hingegen lässt zusätzlich zu den logisch-mathematischen Operationen der Ordinalskala noch Subtraktion und Addition zu, als messbare Eigenschaften ergeben sich so Häufigkeit, Reihenfolge und Abstand. Ein Beispiel ist die Zeitskala (Datumsangaben). 22 Die Bedingungen M und N lassen sich durch das schwache Pareto-Prinzip (P) verbinden: Wenn jede Person in ihrer Präferenzordnung die Alternative A strikt B vorzieht, so gilt dies auch auf gesellschaftlicher Ebene.

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halten. Bedingungen U und D sind erfüllt. Bedingung I ist jedoch nicht erfüllt: Werden Alternativen A und D gestrichen, so rückt bei den Wählenden 3 und 4 die Option C an die erste Stelle, und das Ergebnis wird C (statt B, wie es Bedingung I fordert) sein.23 Arrows Theorem, das sich formal beweisen lässt, offenbart die grundsätzliche Kluft zwischen der Ebene sozialer Kollektive und derjenigen individueller Akteure, die sich in einem am methodologischen Individualismus orientierten Ansatz auftut. Es ist unmöglich, in diesem Rahmen allgemeine und akzeptable Regeln für kollektive Entscheidungen auf der Basis individueller Präferenzen für hinreichend viele Fälle zu formulieren. Dieser Befund motiviert das Forschungsprogramms, die genuin sozialen Kulturen des Entscheidens zum Gegenstand zu machen: Praktiken des Entscheidens stellen eine in den jeweiligen Kontext eingebettete kulturelle Praxis dar. Die Leistungsstärke einer solchen – komplementären oder gar konkurrierenden – Konzeption des Entscheidens wird sich, dies lässt sich aus der Genese der Problemkonstitution ableiten, daran messen lassen (müssen), ob sie an dieser Stelle angemessenere Lösungsvorschläge bereitstellen kann.

2.2 Zur Kritik am Mentalismus: mentales Geschehen und sozialer Kontext Während bestimmte Probleme, die mit den Grundannahmen des methodologischen Individualismus verbunden sind, etwa im Rahmen der Debatte über das Arrow-Theorem in den Blick geraten, ist der Mentalismus innerhalb der ›decision sciences‹ nicht explizit Gegenstand systematischer Reflexion; dies ist allerdings innerhalb der Philosophie durchaus der Fall. Für eine geistes-, kultur- und geschichtswissenschaftliche Forschung ergeben sich dabei methodologisch wesentliche Probleme daraus, dass Handeln (auch explanatorisch) auf mentale Ereignisse und Zustände zurückgeführt und dieses als Äußerung von Vorgängen, die sich in der ›Innensphäre‹ des menschlichen Geistes bzw. Bewusstseins abspielen, konzipiert wird. Solche ›inneren‹ Entitäten – und Entscheiden wird in den individualistischen Entscheidungstheorien in der Regel als solches gefasst – sind empirisch jedoch nicht unmittelbar beobachtbar. Will man sie nicht direkt als explanatorisch irrelevant abtun, könnte man sie bestenfalls abduktiv, als Schluss auf die beste Erklärung, zulassen, dies aber um den Preis, dass die damit erreichte Erklärungsebene selbst kein Gegenstand eines geschichts- oder kulturwissenschaftlichen Zugriffs mehr sein kann. Wenn sie demnach nicht vollständig ausgeblendet und negiert werden soll, dann können sie entweder in Form von Re23 Auch die Bedingung des schwachen Pareto Prinzips ist nicht erfüllt: Angenommen, es gäbe drei Alternativen und alle Wählenden würden B an die erste, C an die zweite und A an die dritte Stelle setzen, so erhielte nur B Stimmen. Die Individuen ziehen C gegenüber A vor, doch dies schlägt sich auf der gesellschaftlichen Ebene nicht nieder.

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präsentationen zum Gegenstand geschichts- oder kulturwissenschaftlicher Untersuchungen werden, oder aber man benötigt Zusatzannahmen, die es ermöglichen, möglichst eindeutige Rückschlüsse auf die Innenwelt der Akteure zuzulassen, so wie dies hermeneutische Ansätze versuchen. Allerdings sind diese in den historischen Kulturwissenschaften in hohem Maße umstritten und werden von einem Großteil der Forschung ebenso mit Skepsis, wenn nicht gar mit Ablehnung betrachtet wie dies bei individualistischen Entscheidungstheorien (etwa Rational-Choice-Ansätze) der Fall ist. Freilich wären dies alles Reparaturversuche im Rahmen der mentalistischen Grundannahme. Offensiv gewendet müsste eine Entscheidungstheorie, die sich dem geistesund kulturwissenschaftlichen Paradigma verpflichtet, dagegen zeigen, dass die ontologischen und methodologischen Annahmen des Mentalismus sich als Fehlprojektionen von und Pseudoerklärungen für ›äußeres‹ Handeln erweisen lassen. Die Rede über solchermaßen konzipiertes ›Inneres‹ müsste sich, dies wäre eine geschichts- oder kulturwissenschaftliche Mindestannahme, als von der sozialen Verfasstheit von Handelnden in lebensweltlichen Interaktionssituationen abhängig rekonstruieren lassen. Diese Problematik wird deutlich, wenn man sich etwa integrativen handlungsund entscheidungstheoretischen Ansätzen zuwendet, wie sie in der Soziologie insbesondere Esser entwickelt hat.24 Esser zählt dabei zu denjenigen Theoretikern, die sich am Paradigma einer individualistisch-mentalistischen Entscheidungs- und Handlungstheorie orientieren und die die Kritik am Konzept des rationalen Akteurs aufgreifen. Dies geschieht unter Rekurs auf spezifisch soziologische Ansätze wie beispielsweise die soziale Institutionentheorie. Diese berücksichtigen die Existenz kognitiver Rahmungen sowie von sozialen Institutionen und mit diesen verbundenen Handlungsskripten. Aus unserer Sicht ist zu prüfen, ob diese Integration gelungen ist. Damit sie gelingen kann, muss insbesondere die mentalistischen Grundannahme der Entscheidungstheorie expliziert und deren Verhältnis zur primär verstehenden soziologischen Institutionentheorie, deren Analyse von genuin sozial konstituierten Akteuren ihren Ausgang nimmt, aufgeklärt werden.25 Wie sich im Folgenden zeigt, bleibt Esser an dieser Stelle eine systematisch plausible Antwort schuldig. Esser (1991: 61–72) nimmt die aus der Debatte um das Konzept der bounded rationality gewonnenen Einsichten auf, indem er die Kognition der Entscheidungssituation sowie die Evaluation und Selektion der Entscheidungsalternati24 Vgl. Esser 1991. 25 Der für die Handlungstheorie und die wissenschaftstheoretische Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften gleichermaßen zentralen Frage nach dem Verhältnis von Erklären und Verstehen können wir in diesem Beitrag nicht nachgehen; für den Kontext der Handlungstheorie vgl. Quante 2016 und für die wissenschaftstheoretischen Aspekte etwa von Wright 1971: Kapitel 1. Für den wissenschaftsphilosophischen Kontext der Geschichtswissenschaften siehe Scholz 2008.

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ven als sozial konstituiert ansieht.26 Die Kognition der Entscheidungssituation wird durch Schemata und Skripte vorstrukturiert. Schemata sind Wissensstrukturen, die wichtige Merkmale eines Gegenstandsbereichs wiedergeben und Beziehungen zwischen diesen Merkmalen beschreiben. Skripte sind Schemata über Ereignisabläufe, die auch umfassendere Projekte übergreifen können, wie beispielsweise die eigene Biographie, welche die im Skript vorgesehenen Entscheidungssituationen kognitiv vorstrukturiert. Dies vereinfacht die Bedingungen der Handlungswahl durch eine Komplexitätsreduktion; die Wahl selbst wird in Essers Ansatz aber mittels des Kriteriums der Nutzenmaximierung modelliert. Evaluation und Selektion von Alternativen werden dabei durch Habits und Frames vorstrukturiert. Habits sind Bündel von Handlungen bzw. Handlungssequenzen, die der Akteur nach Maßgabe bestimmter Situationshinweise als Gesamtheit wählt. Sie beinhalten eine Wahl nach Daumenregeln, Routinen, Rezepten ohne nähere Nachprüfung. Frames bezieht Esser auf die Struktur der Ziele; sie lassen bestimmte Ziele stärker hervortreten als andere Ziele und bestimmen dadurch die Relevanzstruktur einer gegebenen Situation. In der Kombination der Nutzung von Habits und Frames kann »Alltagshandeln […] – so die Folgerung aus der Annahme der bounded rationality – diesen Vereinfachungen ›automatisch‹ folgen.« (Esser 1991: 65). Für die Problemkonstitution einer geistes- und kulturwissenschaftlichen Konzeption des Entscheidens ist nun folgende Frage relevant: Welche Beziehung besteht zwischen der Wahl mit Hilfe von Frames und Habits auf der einen und der rationalen Wahl auf der anderen Seite? Bezogen auf Habits entfaltet Esser das Argument, dass vor der eigentlichen Wahl entschieden wird, ob einem Habit gefolgt oder ein Kalkül der Nutzenmaximierung durchlaufen werden soll. Diese Vorentscheidung selbst wird unter Rückgriff auf die Konzeption des rationalen Akteurs modelliert. Das Kriterium für das Beibehalten eines Habits, also den Verzicht auf das nutzenmaximierende Kalkulieren, ist dabei folgende Bedingung: Der erwartete Nutzen aus einer im Habit nicht vorgesehenen, in diesem Sinne neu in Betracht gezogenen Alternative ist kleiner ist als der erwartete Nutzen aus der auf Grundlage des Habits getroffenen Wahl.27 Zwei Anmerkungen, die sich bei Esser nicht finden, sind an dieser Stelle angebracht: Erstens setzt die Prüfung dieser Bedingung eine sehr gute Informationslage voraus; die Parameter »erwarteter Nutzen aus der neuen Alternative«, »Suchkosten« sowie »Wahrscheinlichkeit des Findens einer besseren Alternative« werden als bekannt vorausgesetzt. Ein Akteur, der unter der Bedingung der 26 Vergleichbar ist auch die Darstellung in Esser 2001: 504 ff. in der sich im Detail eine analoges mentalistisches Vokabular bereits für die Explikation sozialer Konstitution aufweisen ließe. 27 Hinzu kommen die mit der Suche nach einer besseren Alternative verbundenen Kosten, die in Relation zur Wahrscheinlichkeit, erfolgreich eine bessere Alternative zu finden, gestellt werden müssen.

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bounded rationality, also unter der Bedingung unvollständiger Information handelt, wird diese Parameter nicht kennen und entsprechend auch die Prüfung der Bedingung nicht anstellen können. Zweitens setzt die Modellierung der Entscheidungssituation Habit vs. Nutzenkalkül voraus, dass der Akteur einen Habit bereits problematisiert hat. Somit muss jede Situation von vornherein als entscheidungsbedürftig angesehen werden, was der Beschreibung des Alltags als überwiegend durch Entscheidungsroutinen dominierten Strom von Habits zuwiderläuft.28 Festzuhalten ist, dass es nicht sinnvoll ist, die Festlegung, ob eine Situation einer Entscheidung bedarf oder habituell bewältigt wird, ihrerseits als Ergebnis der Anwendung eines Nutzenkalküls zu konzipieren. Die für eine geistes- und kulturwissenschaftliche Alternative naheliegende These ist demgegenüber, dass eine solche Festlegung in der Regel im Rahmen kulturell konstituierter Deutungsräume und sozial geteilter Verhaltenserwartungen erfolgt. Es kann selbstverständlich durchaus so sein, dass sich Akteure bemühen, ihren Nutzen zu maximieren oder im Sinn von satisficing behavior zufriedenstellende Lösungen zu finden. Dies tun sie aber nicht, weil sie in unserem Alternativmodell als rationale Akteure konzipiert sind, sondern deshalb, weil das Nutzenkalkül Teil einer situationsbezogenen und kontextsensitiven Entscheidungskultur ist. Essers Beschreibung der als rational bezeichneten Wahl zwischen verschiedenen Habits sowie die Beschreibung von Routineentscheidungen und seine Behauptung, man lege sich rational auf einen Lebenslauf fest, der den meisten (subjektiv erwarteten) Nutzen verspricht, ist aber vor allem aufgrund des ihm eingeschriebenen Mentalismus problematisch.29 Man trifft, bevor man mithilfe von Habits und Frames wählt, zuerst eine rationale Wahl über die Habits und Frames. Man entscheidet sich also dieser Konzeption zufolge letztlich rational für eine bestimmte Sozialisation. Zum einen ist fraglich, ob dies mit Bezug auf menschliche Personen eine empirisch angemessene Konzeption ist; und zum anderen bleibt unklar, wie ein solches Entscheidungshandeln aussehen sollte. Immerhin, dies ist zumindest die Einsicht der Theorien begrenzter Rationalität, entscheidet der Akteur ja immer auf der Grundlage bestimmter Habits und Frames. Wenn diese jedoch wiederum vorgängig als rational ausgewiesen sein sollen, müssen sie letztlich das Resultat einer rationalen Akteursentscheidung gewesen sein, die frei von Habits und Frames ist. Auf diese Weise werden die Vorzüge der Theorie begrenzter Rationalität jedoch wieder verschenkt. Dies führt entweder dazu, dass Habits und Frames gar nicht zentral für die Theorie 28 Bezüglich der Frames entwickelt Esser ein in den Grundzügen analoges Argument, auf das wir hier nicht weiter eingehen. 29 Vgl. z. B. »Man kann ihre Aneignung [die Aneignung von Habits und Frames; die Verf.] aber auch selbst als eine Art von Handlung interpretieren: man ›entscheidet‹ sich für eine bestimmte Erwartungsstruktur, weil sie als die am besten geeignete ›Strategie‹ zur Verwirklichung bestimmter Ziele erscheint.« Esser 1991, S. 63.

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sind, sondern zu bloßen Behelfswerkzeugen für die alltägliche Praxis degradiert werden. Oder es ergibt sich ein infiniter Regress, in dem jede Entscheidung letztlich auf eine weitere, ihr vorgelagerte kontextfreie rationale Entscheidung zurückzuführen ist.30

3. Fazit und Ausblick Versteht man, wie in diesem Beitrag vorgeschlagen, unter »individualistische Entscheidungstheorie« die Konjunktion folgender drei Annahmen: (i) Modell rationaler Akeure (ii) Prinzip des methodologischen Individualismus (iii) Mentalismus, dann sind diese Ansätze mit geistes- und kulturwissenschaftlichen Entscheidungstheorien unverträglich. Dies liegt nicht an unterschiedlichen Auffassungen von Rationalität oder daran, dass diese im Rahmen eines solchen Alternativparadigmas in einer historischen Perspektive zum Gegenstand der Untersuchung gemacht werden. Denn selbstverständlich beruht auch eine solche historische oder kulturwissenschaftliche Kontextualisierung auf Rationalitätsunterstellungen, deren Geltung sich nicht vollständig in Historisierungen auflösen lässt.31 Zu den Spezifika der verschiedenen Modelle rationaler Akteurschaft, deren Vorund Nachteile im Wesentlichen den Diskursfortschritt im Rahmen der individuellen Entscheidungstheorie bilden, müssen wir uns abgesehen von der Festlegung auf basale Rationalitätspräsuppositionen nicht weiter verhalten, da unsere Alternative gar nicht auf bestimmte Rationalitätsmodellierungen abzielt. Auch zum Prinzip des methodologischen Individualismus kann sich eine solche kulturwissenschaftliche Alternative letztlich agnostisch verhalten.32 Der Mentalismus dagegen, ist mit einem solchen alternativen Forschungsprogramm tatsächlich unverträglich, da es Entscheidungshandeln als öffentliches und beobachtbares, nicht aber als letztlich oder primär inneres oder privates 30 Die Alternative wäre eine Flucht in einen letztlich irrationalistischen Dezisionismus, ein Dilemma, welches man paradigmatisch in Sartres Konzeption des Urentwurfs finden kann. Esser schwankt zudem zwischen der Beschreibung von rationalen mentalen Entscheidungen als Handlungen einerseits und als Widerfahrnissen andererseits. So sollen sich Habits im Normalfall unbewusst auswirken; damit sie dann dennoch als rational ausgewiesen werden können, muss ihnen jedoch in ihrer Vorgeschichte an einer Stelle eine bewusste Entscheidung vorausgegangen sein. Sonst kann Essers Konzeption zufolge keine Handlung vorliegen. 31 Vgl. hierzu Quante/Rojek 2018. 32 Ob dies der Fall ist, hängt allerdings von der jeweiligen genauen Interpretation dieser Prämisse ab.

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Geschehen konzipiert, welches dem öffentlichen Entscheiden vorhergeht. Eine geistes- und kulturwissenschaftliche Konzeption des Entscheidens, auch dies lässt sich als Resultat einer dialektischen Problemkonstitution festhalten, tut also gut daran, den eigenen Ansatz in Abgrenzung zu den Alternativen zu profilieren. Dabei sollten sich, wenn unsere Reflexion der Problemkonstitution angemessen ist, vor allem die Kritik am Mentalismus als zentraler Gesichtspunkt erweisen, während die permanent geführten Debatten über den oszillierenden Status von ›Rationalität‹ als analytischer und normativer Grundbegriff eher als deskriptiver Gegenstand von Interesse ist.

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Heft / Volume 1,2015: Ludger Jansen / Jörg Hardy (Hg.)

Wissenschaft und Aufklärung /Science and Enlightenment

Medizinische Erkenntnistheorie / Medical Epistemology

2019. 162 Seiten, kartoniert € 35,– D ISBN 978-3-8471-0947-1

2015. 123 Seiten, kartoniert € 40,– D ISBN 978-3-8471-0505-3

Heft / Volume 1,2017: Christa Runtenberg (Hg.)

Heft / Volume 1,2014: Jörg Hardy (Hg.)

Angewandte Philosophie und Formen des Philosophierens /Applied Philosophy and Forms of Philosophizing

Angewandte Philosophie / Applied Philosophy

2018. 153 Seiten, kartoniert € 35,– D ISBN 978-3-8471-0844-3

Heft / Volume 1,2016: Oliver R. Scholz (Hg.) Aufklärung heute /

Enlightenment today 2017. 143 Seiten, kartoniert € 35,– D ISBN 978-3-8471-0579-4

2014. 167 Seiten, kartoniert € 40,– D ISBN 978-3-8471-0270-0