Applied Philosophy. An International Journal: Applied Philosophy and Forms of Philosophizing [1 ed.] 9783737008440, 9783847108443

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Applied Philosophy. An International Journal: Applied Philosophy and Forms of Philosophizing [1 ed.]
 9783737008440, 9783847108443

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Angewandte Philosophie. Eine internationale Zeitschrift/ Applied Philosophy. An International Journal Herausgegeben von/Edited by Jörg Hardy, Oliver R. Scholz

Advisory Board: Ruben Apressyan, Kurt Bayertz, Dieter Birnbacher, Dagmar Borchers, Shan Chun, Wolfgang Detel, Stefan Gosepath, Thomas Gutmann, Christoph Horn, Ivan Mikirtumov, Michael Quante, George Rudebusch, Peter Schaber, Reinold Schmücker, Gerhard Schurz, Ludwig Siep, Katja Stoppenbrink, Roman Svetlov, Holm Tetens, Paul Woodruff

Call for papers. Applied Philosophy is a peer-reviewed journal. The journal is published annually. Deadline for papers is July 31. The languages of publication are English, German, and French. Please send articles and correspondence regarding editorial matters to either: Oliver R. Scholz: [email protected], or Jörg Hardy: [email protected]

Angewandte Philosophie. Eine internationale Zeitschrift/ Applied Philosophy. An International Journal Heft/Volume 1|2017 herausgegeben von/edited by Christa Runtenberg

Angewandte Philosophie und Formen des Philosophierens / Applied Philosophy and Forms of Philosophizing

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-8404 ISBN 978-3-7370-0844-0 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2018, V&R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Inhalt Themenschwerpunkt: Angewandte Philosophie und Formen des Philosophierens / Applied Philosophy and Forms of Philosophizing Christa Runtenberg Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Klaus Blesenkemper Kants Denkmaximen und ihre Anwendung als Maximen der Philosophiedidaktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Christa Runtenberg Philosophieren mit Kindern über Fragen von Sterben und Tod im elementarpädagogischen Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Christa Runtenberg Formen des angewandten philosophischen Argumentierens . . . . . . . . . .

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Christian Klager Epistemisches Spielen. Spielen als Methode des Philosophieunterrichts?

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Jens Heinrich Videospiele im Philosophieunterricht? Game Studies im Kontext fachdidaktischer Reflexionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hanno Depner Mit Diagrammen philosophieren? Zur philosophisch relevanten Gestaltung von Anschaulichkeit am Beispiel des Buch-Bausatzes Kant für die Hand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Andreas Kraus Auschwitz, Gedenkstätte und genozidaler Ort – einige unmaßgebliche kursorische Überlegungen zu ihrer philosophiedidaktischen Relevanz . 137

Themenschwerpunkt: Angewandte Philosophie und Formen des Philosophierens / Applied Philosophy and Forms of Philosophizing

Vorwort Christa Runtenberg

Die Zeitschrift »Angewandte Philosophie« widmet sich der angewandten Philosophie, die einen wichtigen Bereich der wissenschaftlichen philosophischen Forschung einnimmt. Das Selbstverständnis der Angewandten Philosophie, wie es auch im Heft 1 /2014 dieser Reihe expliziert wurde, ist die philosophische Analyse und Kommentierung öffentlich relevanter Themen, die für viele Menschen in ihrer Lebenswelt eine wichtige Rolle spielen. Die Angewandte Philosophie vermittelt kritisches Orientierungswissen und ermöglicht Philosophierenden, sich selbstständig kritisch reflexiv mit Fragen und Problemen der Lebenswelt auseinanderzusetzen. Dazu werden das methodische Know-how, die analytischen und hermeneutischen Herangehensweisen und die inhaltlichen Problemlösungsvorschläge aus der Philosophie heran gezogen. Grundlage ist also die in der akademischen Philosophie entwickelte und etablierte Theoriebildung und Methodenreflexion, die das gesamte Spektrum der philosophischen Disziplinen umfasst. Setzte sich das Heft 1/2014 vor allem mit dem Selbstverständnis der Angewandten Philosophie, mit dem philosophischen Begriff der Menschenwürde sowie verschiedenen ethischen Fragen auseinander, liegt der Schwerpunkt dieses Heftes auf Fragen der Vermittlung, des Lehrens und Lernens von Philosophie. Die Philosophiedidaktik ist eine der philosophischen Disziplinen der Angewandten Philosophie, deren grundlegende Fragestellungen schon seit der Antike aufgeworfen werden. Sie beschäftigt sich nicht nur mit der Frage, wie das Philosophieren in der Schule vermittelt und gefördert werden kann. Gerade der Philosophiedidaktik, die die Perspektive der Angewandten Philosophie teilt, geht es um die Förderung des Philosophierens an allen Lernorten mit allen Altersgruppen. Den Altersgruppen und Lernorten entsprechend werden Vorschläge diskutiert, wie das Philosophieren, auch von philosophischen Laien, umgesetzt werden kann. Neben dem Angebot zu philosophieren im Philosophischen Caf# oder Salon, im Kontext nicht schulischer oder universitärer Institutionen, in

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Christa Runtenberg

Kultureinrichtungen, AG!s, Kindertagesstätten etc. geht es um die Debatte dessen, wie und wo das Philosophieren angemessen vermittelt werden kann. Diesem Komplex stellt sich dieses Heft. Aktuelle Debatten werden aufgenommen und weitergeführt. Klaus Blesenkemper macht in seinem Artikel anschaulich, wie man die Regeln des Denkens von Kant fruchtbar machen kann für die Gestaltung von philosophischen Bildungsprozessen. Eine wichtige Frage ist die, wie man mit Kindern im elementarpädagogischen Bereich mit Hilfe von Bilderbüchern angemessen über das sensible Thema »Sterben und Tod« philosophieren kann. Dazu macht der Artikel von Christa Runtenberg theoretisch begründete Praxisvorschläge. Christa Runtenberg stellt zudem Möglichkeiten vor, wie das philosophische Argumentieren gefördert werden kann. Besonders die Methode der philosophischen Problemanalyse, der Dilemma-Debatte und des Gedankenexperiments werden entfaltet. Christian Klager begründet und zeigt auf, wie man spielend philosophieren kann Die Möglichkeit und das Potenzial des Einsatzes von Video- und Computerspielen beim Philosophieren begründet und entwickelt Jens Heinrich. Hanno Depner entfaltet, wie man mit Diagrammen philosophieren kann und erläutert diesen Ansatz anhand des von ihm entwickelten Buch-Bausatz »Kant für die Hand«. Andreas Kraus zeigt auf, was das Philosophieren an wichtigen Orten der Geschichte, hier an der Gedenkstätte Auschwitz leistet. Der Besuch von Gedenkstätten bietet besonderes Potenzial zum Philosophieren, weil die dort gemachten Erfahrungen andere Zugänge zu Fragen eröffnen als das Lesen von Texten. Diese Ausgabe der Zeitschrift Angewandte Philosophie bietet aktuelle Ansatzpunkte dafür, wie das Angewandte Philosophieren organisatorisch an verschiedensten Orten des Lernens umgesetzt werden kann.

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Kants Denkmaximen und ihre Anwendung als Maximen der Philosophiedidaktik Klaus Blesenkemper

Vor und während seiner publizistischen Tätigkeit war Immanuel Kant (1724– 1904) eine Zeitlang Lehrer und Hochschullehrer in einer recht langen Zeitspanne. Von seiner Lehrpraxis ist ziemlich wenig bekannt. Und die diese leitende bzw. kritisch reflektierende didaktischen Theorie spielt im Gesamtwerk eine eher untergeordnete Rolle. Es könnte sich daher lohnen zu prüfen, ob bestimmte Aspekte seiner Philosophie, ihren originären Bezugsrahmen transzendierend, im wohl verstanden Sinne auch didaktisch anwendbar sind, d. h. für philosophische Lehr-Lern-Prozesse fruchtbar gemacht werden können. Kants explizit didaktische Theorie würde so untermauert und ergänzt um seine implizit didaktischen Erwägungen. In dieser Absicht werde ich nach einem kurzen Blick auf Kants Lehrtätigkeit (1.) sein explizites philosophiedidaktisches Konzept umreißen (2.). Dabei steht seine Aufforderung zum Selberdenken bzw. Selbstdenken1 in Abgrenzung zum reinen Kenntniserwerb im Mittelpunkt. Wenn Kant diese Aufforderung mit zwei weiteren Denkmaximen verbindet, verlässt er das direkt-didaktische Feld, bleibt aber – qua Anwendung – sehr wohl didaktisch relevant (3.). Dabei werde ich in einem Exkurs zeigen, dass Anwendung hier nicht nur ein top-down-Ableitungsprozess ist, sondern auch kohärentistisch zur Geltung kommt. Eine Kants Denkmaximen besonders verpflichtete Lehr- bzw. Lernmethode ist das Sokratisches Gespräch, und zwar in der nachkantischen Variante nach Leonard Nelson und Gustav Heckmann. Diese interpretiere ich daher als bereits entfaltete didaktische Anwendung der kantischen Denkmaximen (4.).

1. Kant als Haus- und Hochschullehrer 1724 geboren, hat Kant nach seinem Studium in Königsberg zwei bis drei Hauslehrerstellen angenommen. Sicher ist, dass er zwischen 1747 und 1751, also zwischen dem 23. und 27. Lebensjahr, die drei Söhne des Geistlichen Andersch, anfangs 8 bis 13 Jahre alt, und die drei Söhne des Rittergutbesitzers von Hülsen, anfangs 6 bis 13 Jahre alt, unterrichtet hat. Eine weitere Hauslehrertätigkeit beim 1 »Selberdenken« und »Selbstdenken« – auch getrennt geschrieben – meinen dieselbe Tätigkeit. Beide auch heute nebeneinander gebräuchlichen Komposita werden hier synonym verwandt.

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Klaus Blesenkemper

Grafen Keyserling ist umstritten. Er hat also, wenn er auch Philosophie unterrichtet haben sollte, das gesamte Spektrum von der Kinderphilosophie, über philosophischen Unterricht in der Sekundarstufe I bis zur Oberstufe abgedeckt. Als Feedback auf seine Hauslehrer- bzw. Hofmeistertätigkeit gibt es ein paar briefliche Dank und Hochachtung bezeugende Zeugnisse der ›Zöglinge‹. Kant selbst aber war ob seiner Lehrerkompetenz eher skeptisch. Er glaubte von sich selbst, so sein Schüler und früher Biograf Reinhold Bernhard Jachmann, »dass in der Welt vielleicht nie ein schlechterer Hofmeister gewesen wäre als er [Kant]« (Vorländer 1974, 34 f; vgl. Koch 2003). Vielleicht galt auch für Kant das »learning by teaching« und er hat aus seinen Anfänger-Fehlern als Hauslehrer gelernt. An der Hochschule jedenfalls evaluierte ein Schüler den Dozenten Immanuel Kant geradezu mit der Bestnote: Der Studierende war Johann Gottfried Herder; er bescheinigte dem Hochschullehrer Kant der frühen 60-er Jahre bereits jene didaktischen Qualitäten, die dieser selbst, wie ich zeigen möchte, als Didaktiker von Philosophielehrkräften forderte. »Er [Kant] munterte auf, und zwang angenehm zum Selbstdenken; Despotismus war seinem Gemüt fremde« (Herder 1991, 424). Es kann sich bei dem von Herder beschriebenen nicht-despotischen ›Zwang‹ nur um eine Kraft handeln, die Gemeinsamkeiten mit jenem »eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Argumentes« (Habermas) aufweist. Genauso wenig, wie eigentlich die Annahme eines Arguments erzwungen werden kann, daher »zwanglose[r] Zwang«, so kann auch Selbstdenken nicht durch autoritären Zwang induziert werde. Es ist ein Denken, das im Kern vom Selbst ausgeht, vom anderen allenfalls »angenehm« angeregt werden kann.

2. Kants explizite Philosophiedidaktik In den publizierten und nachgelassenen Texten Kants sowie in den Vorlesungsmitschriften seiner Schüler gibt es einige fachdidaktisch relevante Bemerkungen (vgl. Steenblock 2004). Das gilt für die Vorlesungen über Pädagogik und Logik, für seine Anthropologie und seine berühmte Schrift zur Beantwortung der Frage: »Was ist Aufklärung?«. Vor allem aber ist Kants Ankündigung für seine Vorlesungen des Wintersemester 65/66 (WA 2, 903–917; AA II, 303–314)2 zu nennen. Hier sind besonders hochschuldidaktische Hinweise zu vermuten. Dieser Text ist aber auszugsweise auch in den Band »Texte zur Didaktik der Philosophie« (Meyer 2010) aufgenommen worden. Somit scheint er neben der hochschul- auch eine schuldidaktische Programmatik zu umgreifen. Der zentrale Gedanke wird in 2 Die Druckschriften Kants werden nach Weischedelausgabe zitiert (=WA), ergänzt um die entsprechenden Stellenangaben aus der Akademieausgabe (=AA); weitere Schriften werden ausschließlich nach der AA zitiert.

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der Überschrift der genannten Text-Auswahl herausgehoben: »Nicht Gedanken, sondern denken lernen« (vgl. WA 2, 908; AA II, 306). Die Begründung für die damit verbundene Aufforderung, sie ist zunächst rein negativ, lautet. Ich kann nicht etwas lernen, was zumindest zu dem Zeitpunkt, im Jahre 1765, als Lernstoff nicht vorliegt. »Um also auch Philosophie zu l e r n e n , müßte allererst eine würklich vorhanden sein. Man müßte ein Buch vorzeigen und sagen können: sehet, hie ist Weisheit und zuverlässige Einsicht; lernet es verstehen und fassen, bauet künftighin darauf, so seid ihr Philosophen« (WA 2, 909; AA II, 307). Dieses Buch aber gibt nicht. Eine Verbesserung dieser verdrießlichen philosophie-publizistischen Lage sieht Kant auch zur Zeit der Kritik der reinen Vernunft im Jahre 1787 nicht: Philosophie als solche sei eigentlich nur eine »Idee von einer möglichen Wissenschaft, die nirgend in concreto gegeben ist« (WA 4, 700; AA III, 542). Man könne »keine Philosophie lernen; denn wo ist sie, wer hat sie im Besitze, und woran läßt sie sich erkennen? Man kann nur philosophieren lernen, d. i. das Talent der Vernunft in der Befolgung ihrer allgemeinen Prinzipien an gewissen vorhandenen Versuchen üben …« (ebd). Auch gegen Ende seiner Vorlesungstätigkeit bekräftigt Kant noch einmal seine Skepsis bezüglich der Lernbarkeit von Philosophie. In der von Jäsche herausgegeben Logik-Vorlesung lesen wir: »Man kann […] schon aus dem Grunde Philosophie nicht lernen, weil sie n o c h n i c h t g e g e b e n i s t « (WA 5, 448; AA IX, 25). Ist das nicht arg übertrieben? Verfügen wir nicht zumindest heute im Zeitalter digitalisierter und vielfach sogar kostenlos online einsehbarer Texte der mehr als zweitausend Jahre lebendigen philosophischen Tradition über eine reichhaltige Philosophie? Sollen denn Schülerinnen und Schüler sowie Studierenden die von PhilosophiedozentInnen daraus sorgfältigst ausgewählten Texte der Philosophie nicht zur Kenntnis nehmen? – Dazu Kant: Jein! – »[O]hne Kenntnisse wird man nie ein Philosoph werden, aber nie werden auch Kenntnisse allein den Philosophen ausmachen« (ebd.). Der erste Halbsatz entspricht der Haltung hinter den soeben formulierten einwendenden Fragen. Mit ihm würde ich auf den ersten Blick didaktisch offene Türen einrennen. Doch auch hier lohnt ein genauerer Blick. Welche Kenntnisse hat Kant mit welchem Blick im Auge? – Man ginge wohl zu weit, wollte man in Kant einen Verehrer des Studiums der Geschichte der Philosophie sehen. Er plädiert vielmehr für einen souveränen, selbsteigenen Umgang mit ihr. »Der philosophieren lernen will, darf […] alle Systeme der Philosophie nur als G e s c h i c h t e d e s G e b r a u c h s d e r Ve r n u n f t ansehen und als Objekte der Übung seines philosophischen Talents« (WA 5, 449; AA IX, 26). Heil und unangetastet bleiben die Systeme bei eigenen Übungen dabei in der Regel auch nicht. »Jeder philosophische Denker baut, so zu sagen, auf den Trümmern eines andern sein eigenes Werk« (WA 5, 448; AA IX, 25). Was andere denken und gedacht haben, ist zum Bau des eigenen Gedankengebäudes vielleicht hilfreich, aber keineswegs sakrosankt.

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Kant scheint sich hier als eine Art männliche Trümmerfrau zu begreifen, die aus herumliegenden Steinen einige noch brauchbare aufsammelt und reinigt, damit aus ihnen Neues erbaut werden kann. Es fragt sich nur, wodurch die philosophischen Bauwerke anderer, aus deren Material Kant und echte Selbstdenker neue Gedankengebäude errichten wollen, eigentlich zerstört worden sind. Hat der neue Denker sie vielleicht selbst zerstört? Man kann hier an eine auf Kant gemünzte Bezeichnung von Moses Mendelsohn denken; er hat den Königsberger bekanntlich als »Alleszermalmer« tituliert. Oder ist das alte, in Trümmern liegende Werk durch andere zermalmt worden oder in sich selbst zusammengefallen? – Wir können das hier offen lassen. Kant selbst relativiert klar die Bedeutung der philosophiehistorischen Kenntnisse. Sie haben im Vergleich zum Selbstdenken die geringere Priorität: »Wir werden aber, zum Behuf der Übung im Selbstdenken oder Philosophieren, mehr auf die Methode unseres Vernunftgebrauchs zu sehen haben, als auf die Sätze selbst, zu denen wir durch dieselbe gekommen sind« (WA 5, 450; AA IX, 26). Bekanntlich hat Kant von der Blindheit der Anschauung ohne Begriffe und von der Leere der Begriffe ohne Anschauung gesprochen. In Analogie dazu wage ich trotz der eben zitierten Prioritätssetzung folgende Formulierung mit Blick auf Kants didaktisches Konzept: Philosophische Kenntnisse ohne selbst denkende Verarbeitung bleiben blind; philosophisches Sebstdenken-Können ohne philosophische Kenntnisse bleibt (weitgehend) leer. Der zweite Halbsatz, nach welchem »nie […] Kenntnisse allein den Philosophen ausmachen«, wirkt als provozierender Stachel gegen so manche Lernorganisationsformen und Prüfungsmodalitäten in Schulen und Hochschulen. Um Kants These stark zu machen, dass das Philosoph-Werden über diesen Erwerb weit hinausgehen muss, dass also Lernende das Philosophieren als Selberdenken lernen müssten, mag die bisher skizzierte negative Begründung, wir hätten die Philosophie als solche nicht, noch zu schwach sein. Das Selberdenken darf nicht nur als Ersatz für etwas Fehlendes verstanden werden; seine Dignität werde ich nun ihn ihrem Eigenwert zu begründen versuchen.

3. Drei Denkmaximen Kants, angewandt interpretiert als didaktische Maximen Das Selberdenken als zentrales Moment der kantischen Didaktik begegnet uns immer wieder in einem Trio von drei leicht überschaubaren Maximen. Er erwähnt es, wenn ich recht gezählt habe, immerhin an insgesamt sechzehn Stellen, jeweils leicht variiert (vgl. Blesenkemper 1987, 243–265)3. Bevor ich das kurze Konzept selbst zitiere, hier zunächst die Überschriften, mit denen es jeweils angekündigt und in seiner Bedeutung unterstrichen wird. 3 Die dritte Maxime des Konzeptes habe ich 1987 zu wenig berücksichtigt.

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Die drei Regeln, um die es sich handelt, werden genannt: »Allgemeine Regeln und Bedingungen der Vermeidung des Irrtums überhaupt« (WA 5, 485; AA IX, 57). Das klingt noch relativ bescheiden. Es folgen Steigerungen: »Maximen des gemeinen Menschenverstandes« (WA 8, 390; AA V, 294), »[U]nwandelbare[.] Gebote[.]« »[f]ür die Klasse der Denker« (WA 10, 549; AAVII, 228). Es gehe gar um die »Vorschrift«, »aus sich selbst« »Weisheit« »heraus[zu]bringen« (WA 10, 511; AA VII, 200). Von den 16 Varianten dieses offensichtlich wichtigen Regeltrios hier die späte Fassung aus seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht: »1) S e l b s t denken. 2) Sich (in der [Gemeinschaft] Mitteilung mit Menschen) in die Stelle jedes a n d e r e n zu denken. 3) Jederzeit m i t s i c h s e l b s t e i n s t i m m i g zu denken« (WA 10, 549)4.

Diese allgemein bekannten Regeln sind aus meiner Sicht in sich und in ihrer Anwendbarkeit und Anwendung auf Lehr-Lern-Prozesse noch nicht hinreichend ausgeleuchtet worden.

3.1 »Selbst denken« »Selbst denken« – das ist bekanntlich die Maxime der Aufklärung. »Sapere aude! Habe Mut, dich deines e i g e n e n Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung« (WA 9, 53; AA VIII, 33; vgl. WA 10, 283 Fn; AAVIII, 146 Fn.). Kant fordert in seiner Aufklärungsschrift (1784) von allen, und damit auch von Studierenden und Schülern: ›Du sollst selbst denken. Und du kannst es auch, wenn du nur willst.‹ Schüler jedenfalls wollen das durchaus; sie reagieren aus meiner Erfahrung freudig auf Kants nähere Erläuterung dieser Maxime: »Das erste Prinzip ist negativ (nullius addictus iurare in verba magistri) [auf keines Meisters Worte zu schwören verpflichtet] das der z w a n g s f r e i e n […] Denkungsart« (WA 10, 549; AA VII, S. 228). Dem Lehrer nicht folgen zu müssen, ja nicht einmal zu sollen, klingt aus Schülersicht attraktiv. Auch Hochschuldozenten sollten sich m. E. als kantische »magistri« begreifen. Kant ging es mit der Aufklärungsmaxime, dem Gebot des Selberdenkens, primär um politische und polit-pädagogische Ziele wie Mündigkeit, Emanzipation und Autonomie. 4 Nach Weischedel ist in Kants Handexemplar von 1796/1797 vor das Wort »Mitteilung« noch »[Gemeinschaft]« hinzugefügt worden (vgl. WA 10, 549 u. 817 f). Diese pointierende Ergänzung fehlt im Text und im Apparat der Akademieausgabe (vgl. AA VII, 228).

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Das Gegenbild zu diesen Zielen ist die Metapher vom Eingesperrtsein in einem »Gängelwagen«. Dieser vermeintlichen Gehhilfen bedienen sich – so Kant – jene »Vormünder«, die ihre ›Mündel‹ dumm zu halten versuchen, um sie durch Hinweise auf die Gefahren des Fallens vom Selbergehen bzw. Selberdenken abzuhalten (vgl. WA 9, 53 f.; AA VIII, 35). Gelegentliches Fallen ohne Lauflernhilfen hält Kant aber für weit weniger gefährlich als die Bewegungseinschränkungen durch Gängelinstrumente. Für wie gefährlich Kant das Gängeln im Denken hält, macht er deutlich, wenn er zwei Jahre nach der Aufklärungsschrift bei seinen Mutmaßungen über den Anfang der Geschichte der Menschen (1786) die gesamte Menschheit vor dem Eintritt in ihre Geschichte als Menschheit und damit in ihre Freiheitsgeschichte in einem solchen Gängelwagen be- und gefangen sieht. Kant ist überzeugt, »daß der Ausgang des Menschen aus dem, ihm durch die Vernunft, als erster Aufenthalt seiner Gattung vorgestellten, Paradiese nicht anders, als der Übergang aus der Rohigkeit eines bloß tierischen Geschöpfes in die Menschheit, aus dem Gängelwagen des Instinkts zur Leitung der Vernunft, mit einem Worte: aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit gewesen sei« (WA 9, 92; AAVIII, 115). In der historischen Phase Kants ist die »Vormundschaft der Natur«, wie Kant sie gemeint hat, nicht mehr das Problem. Aber es gibt zu seiner Zeit, wie erwähnt, andere aus Bequemlichkeit akzeptierte Vormünder und Gängeler: »Es ist so bequem unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u. s. w.: so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen« (WA 9, 53; AAVIII, 35). Es scheint so, als wolle Kant das Bücherlesen nun doch ganz dem Selberdenken opfern wollen. Dies stünde dann im Widerspruch zur oben betonten Bedeutung philosophischer Kenntnisse, wie er sie in der Logik-Vorlesung herausgehoben hat. Doch wir müssen genau lesen. Kant wendet sich in der Aufklärungsschrift nur gegen ein Buch, sofern es »für mich« »Verstand« hat, nicht gegen ein Buch mit »Verstand« schlechthin. Es kommt beim Lesen eines Buches darauf an, dass ich mich nicht blind auf dessen »Verstand« verlasse, sondern mir diesen durch meinen eigenen Verstand selbst zu eigen mache. Man solle, so interpretiert Oliver R. Scholz diese Stelle in der Aufklärungsschrift, die in einem Buch »sich kundtuende Stimme anhören, aber ohne durch sie seinen Verstand rein passiv leiten zu lassen. Auch lesen und auslegen soll man vielmehr als mündiges Subjekt, das heißt: indem man sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen bedient. Ein Selbstdenker im Sinne der Aufklärung ist also keineswegs jemand, der die Gedanken anderer Personen nicht zur Kenntnis nimmt, der keine Bücher liest und auslegt; es ist vielmehr jemand, der alles dies und vieles andere auf eine besondere Weise, nämlich selbstdenkend, tut« (Scholz 2011, 54). Hätte Kant das Lesen von Büchern in dem zitierten Satz mit Bausch und Bogen zurückweisen wollen, so hätte er auch alle Hilfen von Seelsorgern und Ärzten ablehnen müssen. Davon kann keine Rede sein. Für meine eigene Gewissensbildung etwa mag ein Seel-

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sorger durchaus entsprechenden Beistand leisten, aber er kann eben nicht »für mich« Gewissen haben. Wo immer die Vernunft – theoretisch wie praktisch – nach Orientierung sucht, ist Selbstdenken angeraten. Entsprechend lesen wir in der kleinen Schrift Was heißt: Sich im Denken orientieren (1786), es bleibe uns nichts anderes übrig, als den »letzten Probierstein der Zulässigkeit eines Urteils […] allein in der Vernunft zu suchen« (WA 5, 275; AAVIII, 140). Oder mit anderen Worten: »Selbstdenken heißt den oberste Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d. i. in seiner eigenen Vernunft) suchen« (WA 5, 278; AA VIII, 146). Wie mit diesem »Probierstein« zu arbeiten ist, hat Scholz, die genannte Schrift zitierend, näher ausgeführt. Kant: »Sich seiner e i g e n e n Vernunft bedienen will nichts weiter sagen, als bei allem dem, was man annehmen soll, sich selbst fragen: ob man es wohl tunlich finde, den Grund, warum man etwas annimmt, oder auch die Regel, die aus dem, was man annimmt, folgt, zum allgemeinen Grundsatz seines Vernunftgebrauchs zu machen?« (WA 5, 283 Fn.; AA VIII, 146 f. Fn.). Unter das kantische Selbstdenken fällt also nicht alles, was dem Selbst irgendwie einfällt (vgl. Scholz 2011, 54), sondern nur das, was im Sinne der genannten Prüfungsfrage des Selbst an das Selbst Bestand hat. »Im Kern handelt es sich um einen Verallgemeinerungstest bezüglich beliebiger Maximen der Urteilsbildung. Nicht zufällig erinnert er an den kategorischen Imperativ als Test moralischer Maximen« (Scholz 2004, 263; vgl. Scholz 2011, 55). Wer diesem »Grundsatz seines Vernunftgebrauchs« folgt und den besagten »Verallgemeinerungstest« durchführt, folgt – so Kant – »bloß der Maxime der S e l b s t e r h a l t u n g der Vernunft« (WA 5, 283 Fn.; AA VIII, 147 Fn.). Soweit Kant zur Maxime des Selberdenkens, entfaltet aus den Ansprüchen der Vernunft an sich selbst und für sich selbst, nämlich für ihre Selbsterhaltung. Bei der didaktischen Anwendung dieser Maxime kommen zusätzlich lern- und kommunikationstheoretische Überlegungen Kants zum Tragen: Weisheit, auch in bescheidenem Umfange, könne man einem anderen »nicht eingießen« (WA 10, S. 511; AA VII, 200). Der Nürnberger Trichter, didaktisch mit guten Gründen längst aus der Mode gekommen, funktioniert eben nicht. Lernen ist auch bereits bei Kant ein aktiver Vorgang, der von einem Lehrer vielleicht veranlasst, aber sicher nicht bewirkt werden kann. »Ich kann einen andern niemals überzeugen als durch seine eigene[n] Gedanken« (AA, XX, 32).5 Und in einem Brief lesen wir prägnant: »Denn nur das, was wir selbst machen können, verstehen wir aus dem 5 Ein ganz ähnliches Verständnis von Lehren entfaltete bereits Thomas von Aquin in der 11. Untersuchung der Quaestiones disputatae de veritate: »Wie man also vom Arzt sagt, daß er die Gesundheit im Kranken nur aufgrund der Eigentätigkeit seiner Natur bewirkt, so gilt auch, daß ein Mensch in einem anderen Wissen nur aufgrund der Selbsttätigkeit von dessen naturhaft angelegter Vernunft bewirken kann, und genau das heißt ›Lehren‹« (Thomas von Aquin 1988, S. 21).

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Grunde« (AA XII, 57). Schon Kant sprach sich also gegen rein reproduzierendes Bulimie-Lernen aus. Darunter versteht man bekanntlich übermäßiges Reinfressen und nach kurzer Zeit unverdaut alles wieder raus, z. B. bei einer Klausur. Immerhin: Man hat es dann geschafft; insofern war man erfolgreich. Aber was wirklich bleibt ist akkumuliertes Vergessen. Daraus folgert Kant didaktisch: »Es ist daher nichts schädlicher, als wenn man die Schüler angewöhnet den Autor nachzumachen oder vielmehr nachzuäffen« (AA XXIV, 2, 866).

Über eine längere, variantenreiche Rezeptionsgeschichte, etwa über Dewey, Piaget und Wygotski, ist solches Denken mutatis mutandis als sozialer oder kultureller Konstruktivismus auch zur Leittheorie moderner Didaktik geworden. Lernende werden nach dieser Theorie verstanden als Konstrukteure und mit anderen zusammen als Ko-Konstrukteure ihrer eigenen Wirklichkeit. Lernprogression ist danach eine Erweiterung des jeweiligen vorhandenen Wirklichkeitsbildes, und zwar in dem Maße, wie Neues anschlussfähig ist an bereits vorläufig bewährte Konstruktionen. Von außen oktroyiertes völlig Neues bleibt außen. Es rauscht vorbei, ohne dass es berührt. Meist wird es nicht einmal als Rauschen wahrgenommen. Ein erfolgreich beschrittener Lernweg hingegen führt den Lernenden zu dem, was für ihn gangbar, viabel ist. Ganz im Sinne eines auf antiautoritäre Aufklärung durch Selbstdenken bedachten Kant beschreibt der Didaktiker Kersten Reich gemäß seiner konstruktivistischen Didaktik Lern- und Motivationsprozesse wie folgt: »Jeder Sinn, denn ich selbst für mich einsehe, jede Regel, die ich aus Einsicht selbst aufgestellt habe, treibt mich mehr an, überzeugt mich stärker und motiviert mich höher, als von außen gesetzter Sinn, den ich nicht oder kaum durchschaue und der nur durch Autorität oder Nicht-Hinterfragen oder äußerlich bleibende Belohnungssysteme gesetzt ist« (Reich 2008, 95). Und ähnlich sieht der Konstruktivist Rolf Arnold »Bildung« deutlich abgehoben von allen Nürnberger-Trichter-Verfahren: »Lehrerinnen, Ausbilder, Hochschullehrer u. a. können nicht wirklich jemanden ›bilden‹, vielmehr ist Bildung eine Art Selbstvollzug, der ermöglicht, angeregt und begleitet werden kann in Formen, die andere sind als die der Intervention« (Arnold 2007, 60). 3.2 »Sich (in der [Gemeinschaft] Mitteilung mit Menschen) in die Stelle jedes anderen zu denken«, 1. Teil Birgit Recki beklagt: »In der Philosophie der Gegenwart hält sich gegen Kants Vernunftkonzeption hartnäckig der Vorwurf des Solipsismus« (Recki 2006, 112; vgl. Blesenkemper 1987). Demgegenüber stellt sie bei Kant die »kommunikativen Elemente der Vernunft« heraus und wählt als Überschrift ihres Aufsatzes jene zweite Maxime, und zwar primär in der Variante der »Kritik der Urteilskraft«: »An der Stelle jedes anderen denken« (WA 8, 390; AA V, 294). Bei der Formu-

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lierung bevorzuge ich die Anthropologie-Version, weil sie auch die Methode bzw. Sozialform zur Realisierung der Denkungsart angibt: »in der Mitteilung mit Menschen«, und zwar in »Gemeinschaft«. Warum Gemeinschaft? Der Einzelne ist in seinem Urteil beschränkt und begrenzt. Erkennt er dies nicht und sucht diese Grenzen nicht zu überwinden, verharrt er in dem, was Kant »logischen Egoismus« nennt (vgl. Blesenkemper 1987, 251). In Vorlesungsnachschriften zur Logik können wir erkennen, dass Kant häufiger diese Art von Egoismus anprangert: »Der logische Egoismus besteht darin, daß ich alle Urtheile nur annehme in Vergleichung mit dem meinigen, so fern sie mit ihm stimmen; und um die Uebereinstimmung mit dem Verstand anderer unbekümmert und gleichgültig bin« (AA XXIV, 1, 427). Und noch schärfer: »Dieser logische so genanndte Egoismus bestehet also in nichts anders, als in der vermeinten aber oftmahls falschen Selbst-Genügsamkeit unsers gantz vor sich seyenden, und so zu sagen: isolirten Verstandes, da man allein vor sich genungsam zu wißen, und alle seine Urtheile unfehlbahr richtig, und unverbeßerlich zu seyn glaubet. und man sieht wohl Leicht ein, daß diese Einbilderische Denckungs Art nicht allein gantz Lächerlich, sonderen so gar der wircklichen Menschheit höchst zu wieder sey« (AA XXIV, 1, 151). Die egoistische Gleichgültigkeit gegenüber dem Urteil anderer ist geradezu un-menschlich. Daher heißt es gemäß der zweiten Maxime, der Mensch solle sich von sich frei machen, liberal werden, und sich zu anderen hin erweitern, den Rollentausch, den Perspektivwechsel vornehmen. Entsprechend erläutert Kant: »[D]as zweite [Prinzip ist] positiv, der liberalen, sich den Begriffen anderer bequemenden Denkungsart« (WA 10, 549; AA VII, 228 f). Eine »erweiterte[.] Denkungsart« zeige ein Mensch, »wenn er sich über die subjektiven Privatbedingungen des Urteils, wozwischen so viele andere wie eingeklammert sind, wegsetzt und aus einem allgemeinen Standpunkte (den er dadurch nur bestimmen kann, daß er sich in den Standpunkt anderer versetzt) über sein eigenes Urteil reflektiert« (WA 8, 391; AA V, 295). Und dieser die Borniertheit des Subjekts überwindende Standpunkt ist keineswegs nur durch innere Befreiung im stillen Kämmerlein, in Einzelarbeit möglich. Kant fordert die reale Kommunikation, und zwar emphatisch: »[W]ie viel und mit welcher Richtigkeit würden wir wohl denken, wenn wir nicht gleichsam in Gemeinschaft mit andern, denen wir unsere und die uns ihre Gedanken mitteilen, dächten!« (WA 5, 280; AA VIII, 144). Mit der hier geforderten »erweiterte[n] Denkungsart« soll nicht das Selbst aufgegeben werden, vielmehr geht es um die Aufgabe einer durch Isolation herbeigeführten Selbstverabsolutierung. Es geht um eine stetige Ausweitung des durch Selbstdenken auszumessenden Horizontes; es geht um Selbstdenken »in Gemeinschaft mit anderen«. So auch in der bereits zitierten Vorlesungsnachschrift: »Die Menschen sind gleichsahm dazu berufen, ihre Vernunft gemeinschaftlich zu gebrauchen, und sich ihrer zu bedienen« (AA XXIV, 1, 151). Warum aber die Einschränkung, nur »gleichsam in Gemeinschaft« oder nur »gleichsahm dazu berufen«? Ist die These, Kant fordere reale Kommunikation

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nicht doch übertrieben? – Die wechselseitige Mitteilungsgemeinschaft, die Kant vor Augen schwebte, war die der »Welt«, und damit meinte er die »Gelehrtenwelt«, die sich über Publikationen austauschen sollte und zu seiner Zeit auch konnte – wenn denn den Gelehrten nicht der »öffentliche Vernunftgebrauch« durch behördliche Zensurmaßnahmen beschnitten, wenn ihnen stattdessen die »Freiheit der Feder« gewährt und garantiert wurde (vgl. Blesenkemper 1987, 46– 49 u. 210–223). Kant hier anzuwenden bedeutet, seinen Intentionen mit gegenwärtigen Öffentlichkeits- und Kommunikationsstrukturen in Verbindung zu setzen und ihn in seinem Sinne weiterzudenken. Der Gemeinschaft, so hatte er bereits in der Kritik der reinen Vernunft ausgeführt, ist als Kategorie der Wechselwirkung das Schema »Zugleichsein« (KrV B 183; WA 3, 192, AA III, 138) zugeordnet. Im Zeichen einer durch Computer und Internet geprägten Kommunikationsstruktur ist ein solches Zugleich weit wörtlicher zu verstehen als noch zu Kants Zeiten. Nunmehr kann in einer Weise der Isolierung des Verstandes entgegen gewirkt werden, von der Kant sicherlich nie zu träumen gewagt hätte. Durch online verfügbare sogenannte »soziale Netzwerke«, Foren, Blogs, Intranets in Schulen und Hochschulen oder andere Online-Austauschplattformen, besteht geradezu just in time die Möglichkeit, die »subjektiven Privatbedingungen des Urteils« wirklich gemeinschaftlich zu überwinden. Das kantische »gleichsam« vor »Gemeinschaft« kann für die heutige Zeit getrost gestrichen werden. Und wenn es durch den präsenteren und direkteren Austausch zu deutlicher spürbaren Kontroversen kommt, würde Kant dies wohl auch begrüßen. In seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, genauer: in seiner Einleitung der drei zitierten didaktischen Maximen würdigt Kant die »Natur«, weil sie die »große Verschiedenheit der Köpfe, in der Art, wie sie eben dieselben Gegenstände, imgleichen sich untereinander ansehen« wie auch »das Reiben derselben an einander und die Verbindung derselben sowohl als ihre Trennung« (WA 10, 548 f.; AA VII, 228) fruchtbar macht. Auch die hier interpretierte zweite Maxime Kants lässt sich auf Lehr-Lern-Prozesse anwenden. In der heutigen Allgemeinen Didaktik werden vor allem kooperative Lernformen favorisiert. Dietlinde Heckt nennt dafür als übergreifende Prinzipien »Think – Pair – Share«. Von diesem Trio behauptet sie, es sei eine »Wiederentdeckung einer wirkungsvollen Methode« (Heckt 2008, 31). Dieses »Wieder« reicht, wie wir sehen, mindestens zurück bis zu Kants Maximen-Trio. Der Prozess des kooperativen Lernens beginnt mit Nicht-Kooperation, nämlich mit dem Denken in Einzelarbeit, mit dem kantischen Selberdenken. Danach tauscht sich der Einzellerner mit einem Lernpartner aus. Dann schließen sich die Paare zu Vierergruppen zusammen und erarbeiten ein gemeinsames Ergebnis. Bei der konkreteren Methode der strukturierten Kontroverse, in der konträre Positionen verarbeitet werden, gehört dazu auch, die Rollen zu tauschen, die Perspektive zu wechseln. Schließlich wird das gemeinsam verantwortete Grup-

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penergebnis im Plenum präsentiert und diskutiert. Pair und Share ist das, was Kant in seiner 2. Maxime im Blick hat. Das Plädoyer für kooperative Lernformen verdankt sich nicht zuletzt der Einsicht, dass es nachhaltiges Lernen fördert. Die Pioniere des kooperativen Lernens, Norm und Kathy Green, haben in einer Lernpyramide veranschaulicht, welche Formen des Lernen mit welchen Prozentanteilen des Behaltens verbunden sind. Während der »Vortrag« mit 5 % sehr schlecht abschneidet, erreicht die »Diskussionsgruppe« mit immerhin 50 % einen recht guten Wert, der nur noch durch »Anwendung und Tun« (75 %) und »andere unterrichten« (90 %) übertroffen wird (Green 2007, 29). Bezüglich der zweiten Denkmaxime Kants sehe ich noch einen weiteren Aspekt: Nach Kant geht es um den Standpunkt »jedes anderen«. Wer ist das? In der Gelehrtenwelt und Gruppe ist das klar: Jedes Mitglied der Wissenschaftsgemeinde bzw. der Gruppe. Aber eine Gemeinschaft muss, wenn sie sich als forschend lernende versteht, ihre Grenzen sprengen. Denn diese sind in der Regel immer noch vergleichsweise privat bzw. isoliert. Es geht darum, mit der »erweiterte[n] Denkungsart« insofern ernst zu machen, als dass auch der Reichtum der philosophischen Tradition einbezogen wird. Es geht hier also um die explizite Berücksichtigung der oben erwähnten philosophischen Kenntnisse, die nicht allein, aber eben auch den Philosophen ausmachen. Solche Kenntnisse müssen vielleicht auch mehr sein als nur ›Trümmer‹, mit denen der Selbstdenker und dann die aktuelle Denkgemeinschaft Neues aufbaut. Aus der hier skizzierten allgemein-didaktischen Perspektive muss in deutlicher Erweiterung der didaktischen Position Kants, d. h. partiell gegen ihn, die zweite Maxime komplementiert werden. Der Hintergrund einer solchen Modifikation ist ein spezifisches Verständnis von Anwendung, das ich im folgenden Exkurs kurz umreißen werde. Exkurs: Was heißt es, Kant didaktisch anzuwenden? Angewandte Philosophie, insbesondere Angewandte Ethik, versteht sich heute nicht nur als top-down-Verfahren, wie es hier für die erste und die bisher interpretierte zweite Maxime zur Geltung kam. Gemäß einer solchen Vorgehensweise wurden Elemente des theoretischen Denkens Kants als Muster und Legitimationsgrund entsprechender Theoreme im Anwendungsfeld Didaktik/Fachdidaktik begriffen. Da es nach Kant allgemein richtig ist, für Selbstdenken und gemeinschaftliches Denken einzutreten, muss das auch für den besonderen Fallbereich des Denkens von Schülerinnen und Schülern gelten – so die Struktur des bisher beanspruchten Anwendungsverfahrens. Bezogen auf den Bereich der Angewandten Ethik macht Kurt Bayertz deutlich, dass dieses Verfahren nur eines von drei denkbaren Anwendungsmodellen ist. Das erste gleiche dem eines Richters, »der (a) die Geltung eines Gesetzes voraussetzt, das er (b) auf einen konkreten Fall anwendet. Seine Aufgabe kann als

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die Subsumtion des einzelnen Falles unter das allgemeine Gesetz beschrieben werden« (Bayertz 2008, 170). Didaktische Maßnahmen auf der Basis konstruktivistischer Lerntheorien und Formen des kooperativen Lernens könnten analog unter die beiden ersten Maximen Kants subsumiert werden. Oder anders formuliert: Jene könnten als aus diesen deduziert betrachtet werden – wenngleich sie nicht tatsächlich aus ihnen abgeleitet wurden. Von den Aufgaben eines Arztes her, der mit einem schwierigen Fall konfrontiert sei, könne nach Bayertz das zweite Modell verständlich gemacht werden. Ein solcher Arzt wird »(a) den Patienten genau untersuchen und alle relevanten medizinischen Fakten zusammentragen; (b) er wird den vorliegenden Fall mit ähnlichen Fällen vergleichen, die ihm in seiner Laufbahn schon vorgekommen sind oder die in der Literatur beschrieben sind; und er wird dann (c) auf der Basis eines so gewonnenen Gesamtbildes seine auf den konkreten einzelnen Fall zugeschnittene Entscheidung treffen« (ebd., 170 f.). In der Didaktik liegt ein Verfahren nach einem solchen kontextualistischen Modell etwa dem Anliegen der »Aktionsforschung« zugrunde. Dabei handelt es sich um Forschungen, die unterrichtende Lehrkräfte an Schulen durchführen, wenn sie auf ein schwieriges didaktisches Problem stoßen, für das sie aus je individueller Erfahrung noch keine Lösung haben. Solche Lehrkräfte tun sich zusammen, sammeln dann zunächst die einschlägigen Daten und Feedbacks zu diesem Problem, interpretieren sie im Lichte verfügbarer didaktischer Forschungen und kommen dann in der »Aktion« zu einem entsprechend veränderten Lehrerhandeln (vgl. Altrichter & Posch 2007, 15 f.). Beide bisher skizzierten Anwendungsmodelle seien – so Bayertz – unzureichend, das kontextualistische etwa schon deshalb, weil in konkreten Situationen der Urteilspraxis bereits mehr oder weniger bewusst allgemeine Theorien zur Geltung kommen. Daher habe sich in der Angewandten Ethik ein drittes, von Rawls! »reflective equilibrium« inspiriertes, vermittelndes Modell bewährt: »Um zu befriedigenden Resultaten zu kommen, müssen wir zwischen der allgemeinen Ebene der Theorien und Prinzipien und der Ebene der konkreten Urteile hinund hergehen; sofern dabei Widersprüche zutage treten, müssen wir diese dadurch ausräumen, dass wir auf einer der beiden Ebenen Änderungen vornehmen: also entweder die Theorie bzw. die Prinzipien modifizieren oder unsere ›wohlüberlegten Urteile‹« (Bayertz 2008, 175). Ein solches kohärentistisches Modell gewinnt auch in der philosophischen Fachdidaktik immer mehr an Bedeutung. Christa Runtenberg sieht in dem Verfahren von Johannes Rohbeck, philosophische Denkrichtungen didaktisch zu transformieren, um daraus primär Methoden für den Philosophieunterricht zu gewinnen, Ähnlichkeiten zum kohärentistischen Vorgehen in der Angewandten Ethik. Das dafür typische »Hin« und »Her« zwischen den Ebenen der Argumentation sei auch in der Didaktik vonnöten. »Die Geltung einer Aussage wird aus ihrer systematischen Stellung in einem Überzeugungssystem mit verschie-

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denen Begründungsebenen, durch ein Netz von Perspektiven, hergeleitet« (Runtenberg 2012, 58). Entsprechend gilt es nun, Kants zweite Maxime zu modifizieren und die damit verbundene These mit Überlegungen zur expliziten Didaktik Kants zu verbinden.

3.3 »Sich (in der [Gemeinschaft] Mitteilung mit Menschen) in die Stelle jedes anderen zu denken«, Fortsetzung Gemäß seiner zweiten Maxime verlangt Kant eine synchrone Erweiterung des Denkhorizontes durch gemeinschaftliches Denken. Eine Modifikation dieses Prinzips besteht darin, diese Gemeinschaft auch diachron zu verstehen. Seine in 2. zitierte These, man könne ohne Kenntnisse kein Philosoph sein, ist mit der zweiten Maxime zu vermitteln. Den ›anderen‹ in dieser didaktischen Maxime verstehe ich damit in zwei Varianten: 1. Es ist der andere der Gesprächsgemeinschaft, dem ich mich direkt mitteile und der mir seine Gedanken mitteilt, auf dass wir als Gemeinschaft jeweils unsere Verstandesisolation und die Privatbedingen des Urteils überwinden können. 2. Es ist der andere (bzw. die vielen anderen), der mir seine Gedanken in Schriftform vielleicht schon vor langer Zeit mitgeteilt hat. Präsent ist er in den Print- und Online-Bibliotheken.

3.4 »Jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken« Kants Kommentare zu dieser Maxime sind in der Regel arg kurz. Das entsprechende Prinzip sei das der »k o n s e q u e n t e n (folgerechten) Denkungsart« (WA, 10 S. 549; AA VII, 228 f). Meist wird darin eine Aufforderung zur logischen Stimmigkeit gesehen. So deutet etwa die Didaktikerin Barbara Brüning: »Als dritte Regel fordert Kant, dass der Mensch jederzeit mit sich ›selbst einstimmig‹ denken soll, also konsequent und folgerichtig. Damit wird angestrebt, Widersprüche zu vermeiden bzw. eine philosophische Meinungsäußerung überlegt, also begrifflich klar und argumentativ folgerichtig in die Diskussion zu bringen« (Brüning 2003, 66). Ich zweifle nicht daran, dass Kant das auch anstrebt. Ob es aber den Kern trifft, bezweifle ich doch sehr. Warum steht diese Maxime an dritter Stelle? Logik hat doch in der Regel propädeutische Funktionen. Kant aber denkt nicht rhapsodisch, sondern systematisch; und wohl auch hier. Meine Argumente: 1. Wollte Kant mit dieser dritten Maxime nur logische Stimmigkeit in den Urteilen meinen, dann würde sie sich kaum von jenem Moment der ersten Maxime abheben, nach welchem es im Selbstdenken auch um einen »Verallgemeinerungstest« zum Zwecke der »Selbsterhaltung der Vernunft« geht. Selbstwidersprüchlichkeit wäre gleichsam der ›Tod‹ des und meines jeweiligen Denkge-

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bäudes. Wie Kant »Selbstdenken« in seiner Orientierungsschrift versteht, impliziert es also bereits konsequentes Denken. 2. Kant ordnet die drei Maximen z. B. in der Kritik der Urteilskraft in einer Steigerungslinie drei Vermögen zu. Wir lesen dort: »Man kann sagen: die erste dieser Maximen ist die Maxime des Verstandes, die zweite der Urteilskraft, die dritte der Vernunft« (WA 8, S. 391; AAV, 295; vgl. AA XV, 1, 716). Und Vernunft ist schließlich das höchste Vermögen, das Vermögen der Prinzipien. 3. Kant bindet die dritte Maxime an die beiden anderen, genauer: an deren Beherrschung. »Die dritte Maxime, nämlich die der konsequenten Denkungsart, ist am schwersten zu erreichen und kann auch nur durch die Verbindung beider ersten, und nach einer zur Fertigkeit gewordenen öfteren Befolgung derselben, erreicht werden« (WA 8, 391; AA V, 295). Wir sehen, die geforderte Konsequenz ist nicht primär die eines dem Subjekt äußerlichen Urteils. Wäre es das, dann gälte es auch unabhängig von den beiden anderen Maximen. Hier aber geht es um eine Einstimmigkeit, um Stimmigkeit des Subjekts »mit sich selbst«. Ich muss für mich folgerichtig sein. Ich muss an mir arbeiten, und zwar nach sinnstiftenden übergreifenden Regeln, die im ernsthaften Diskurs von Selbstdenkern gewonnen werden. Und das sind Prinzipien der Vernunft. Diese Arbeit gelingt nur durch einen beschwerlichen Prozess, der am besten als Bildungsprozess gefasst werden kann. Ich muss selbst denken, dann mein Selbst, im Sinne meiner vorläufigen Position, in Auseinandersetzung mit anderen selbstdenkend verlassen, und das immer wieder, bis es zur Fertigkeit wird, um schließlich alles zu einem stimmigen für mich selbst bedeutsamen Urteil zusammenzubinden.6 Ich würde die Maxime daher so deuten: Ich will die eigene (vorläufige) Stimme mit allen gehörten Stimmen zu einer beständigen und mich persönlich selbst bestimmenden Stimme vereinigen. Oder kürzer: Ich suche danach, mich selbstdenkend im (synchronen und diachronen) Gespräch selbst zu bilden.7 6 In diesem dialektischen Bildungsprozess wird also die Position des Selbst im Hegelschen Sinne aufgehoben: tollere, conservare, elevare – beseitigt, bewahrt und auf eine höhere Ebene gehoben. 7 Gabriele Münnix deutet die 3. Maxime wie folgt: »Das dritte Prinzip schließlich fordert die Selbstkritik, Widersprüche im eigenen Denken nicht gelten zu lassen, diese immer wieder auf Konsistenz zu überprüfen, selbstreflexiv und integer zu sein« (Münnix 2005, 102). Diese Deutung kommt der hier vorliegenden recht nahe, lässt aber noch offen, wie die hier anvisierte Konsistenzprüfung genau erfolgen soll. Dafür ist nach Kant auch der Durchgang durch das gemeinschaftliche Gespräch nötig. Allison sieht treffend den Zusammenhang der dritten Maxime mit den ersten beiden und erfasst so ihre auch persönlichkeitsbezogene Gesamtintention: »Similarly, the maxim of consistent thinking requires not merely logical consistency, but also the integration of the standpoints of self and other into a coherent whole« (Allison 2000, 42). Für den Hinweis auf diesen Aufsatz danke ich Oliver R. Scholz.

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4. Ist die zuletzt formulierte Interpretation ein modifizierendes kohärentistisches Weiterdenken Kantischer Positionen oder bewegt sie sich noch in den von Kant selbst vorgezeichneten Bahnen? Darf »mit sich selbst einstimmig« wirklich so verstanden werden, dass Kant darin eine dezidiert personale Stimmigkeit, eine Stimmigkeit des ganzen Menschen mit sich selbst meint? – Ganz sicher bin ich nicht. – Eine recht bekannte Formulierung in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) scheint mir aber in diese Richtung zu weisen: »Allein es ist ein Unglück, daß der Begriff der Glückseligkeit ein so unbestimmter Begriff ist, daß, obgleich jeder Mensch zu dieser zu gelangen wünscht, er doch niemals bestimmt und mit sich selbst einstimmig [Hervorhebung nicht original] sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle« (WA 6, 47; AA IV, 418). Kant sieht hier jeden Menschen in einem gewissen Zwiespalt: Einerseits will er glückselig werden, andererseits kann er für sich selbst nicht sagen, was er denn mit Blick auf dieses Ziel wollen und wünschen solle. Mit einer ausschließlichen Ausrichtung auf jene nur empirisch zu ermittelnde Momente, die man zur Glückseligkeit zählen mag, würde der Mensch die Stimmigkeit mit sich selbst verfehlen. Er würde zu einem schillernden Chamäleon werden. Mit sich stimmig ist ein Mensch nach Kant bekanntlich nur, wenn er vernünftig und damit auch konsequent nach Glückswürdigkeit strebt. Was das genauer heißt, wird in der späteren Tugendlehre der Metaphysik der Sitten näher ausgeführt; es betrifft insbesondere die Förderung fremder Glückseligkeit und die Selbstvervollkommnung (vgl. Blesenkemper 2001, 215). Auch diese dritte Maxime Kants lässt sich didaktisch und fachdidaktisch anwenden, und zwar wiederum kohärentistisch. Diesmal aber ist nicht von der Didaktik umfassender philosophischer Bildung her Kants zweite Maxime zu komplettieren und insofern neu zu denken, sondern umgekehrt. Von Kant her sind die scheinbar wohlüberlegten Urteile der Mainstreamdidaktik kritisch zu beleuchten und zu revidieren: In einer Zeit, die vom PISA-Schock geprägt, in Lehrplänen, Schulbüchern und Unterricht aller Fächer, auch der Philosophie, eine Kompetenzorientierung verlangt, die primär auf überprüf- und messbaren Output ausgerichtet ist, erscheinen alle didaktischen Erwägungen, die Bildung und das heißt immer Selbstbildung als einen letztlich unabschließbaren und von außen unergründlichen Prozess darstellen, als unzeitgemäß, weil unangepasst (vgl. Balliet et al. 2016). Wenn hier aber die dritte Maxime Kants als Maxime verstanden wird, die unter Einschluss der beiden anderen für den Grundsatz des selbst- und gemeinschaftlich denkenden Selbstbildungsprozesses steht, dann ist damit auch Kompetenzorientierung gemeint, aber eine andere als die auf ökonomische Zwänge reagierende »Ministerial-Didaktik« der Anpassung. (Martens 2012, 103). Die mit der personal interpretierten dritten Maxime gemeinte Kompetenz ist eine allmählich zu erwerbende Befähigung und Bereitschaft zur Aufklärung ohne Gängelwagen.

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4. Das neosokratische Gespräch8 als Anwendung der Denkmaximen Kants »Wer im Ernst philosophische Einsicht vermitteln will, kann nur die Kunst des Philosophierens lehren wollen«. Bei der Lehrkunst komme es darauf an, »die Schüler von Anfang an auf sich zu stellen, sie das Selbstgehen zu lehren, ohne daß sie darum allein gehen«. Diese Bemerkungen stammen nicht von Kant, sondern von Leonard Nelson (1882–1927) aus seinem Vortrag Die sokratische Methode (1922) (Nelson 2002, 34 u. 46 f). Der Titel seines Vortrags und diese zwei kurzen Bemerkungen lassen bereits erkennen, dass sich Nelson didaktisch an Kant und an Sokrates orientiert. An letzteren freilich mit entscheidenden Modifikationen. Nelson nennt seine Lehrmethode »sokratisch«, weil er im antiken Sokrates jenen Lehrer sah, der im Kern nicht belehren, sondern seinen Mitmenschen gegenüber als »Hebamme« bei der Geburt ihrer eigenen Gedanken helfen wollte. Diesem mäeutischen Verfahren liegt die sokratische wie nelsonianische Annahme zugrunde, jeder Mensch sei der Einsicht in das Wahre und Richtige im Prinzip fähig, freilich nur mit entsprechender Anstrengung und Systematik im Vorgehen. »Sokrates ist der erste, der, getragen von dem Vertrauen in die Kraft des menschlichen Geistes, die philosophische Wahrheit zu erkennen, mit diesem Vertrauen die Überzeugung verbindet, daß nicht Einfälle oder äußere Lehre uns diese Wahrheit erschließen, sondern daß nur planmäßiges, unablässiges Nachdenken in der gleichen Richtung uns aus dem Dunkel zu ihrem Licht führt« (Nelson 2002, 42). Wer »äußere Lehre« ablehnt, der befürwortet vice versa die Selbstbelehrung. Sokrates habe die Schüler auf den »Weg des Selbstdenkens« (ebd.) verwiesen. Entsprechend verlangt auch Nelson von jedem Schüler – so verstehen Birnbacher und Krohn Nelson – den kantischen »Mut« aufzubringen, »sich seines eigenen Verstandes zu bedienen« (Birnbacher & Krohn 2002, 7). Das sokratische Gespräch in der Tradition von Leonard Nelson wird häufig neosokratisch genannt, um dessen didaktischen Neuansatz gegenüber dem antiken Vorbild herauszustreichen. Nelson beklagte, »daß die Lehrweise des Sokrates von Fehlern strotzt« (Nelson 2002, 35). Die über weite Strecken monologische Lehre wie auch die vielfach suggestiven Fragen unterminierten den Anspruch, jeder solle selber denken. Nelson selber und vor allem sein Schüler Gustav Heckmann (1898–1996) haben daher für Schule und Hochschule eine eigene sokratische Lehrpraxis entwickelt. Sie unterscheidet sich primär in der Interaktions- und Kommunikationsstruktur von sokratischen Gesprächen des platonischen Sokrates. Die Rolle der Hebamme übernehmen alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer neosokratischen Gesprächsgemeinschaft, die in der Regel nicht mehr als zehn Gesprächspartner umfasst. Der ›Leiter‹ eines solchen Gesprächs – der englische 8 Ein Überblick über Grundlagen und Verfahrensweisen des sokratischen Gesprächs bieten Birnbacher & Krohn 2002 und Blesenkemper 2016.

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Ausdruck »facilitator« ist da sinnfälliger – fungiert als Unterstützer der ›Hebammen‹ (vgl. Heckmann 2002). Zu inhaltlichen Details äußert er sich im Unterschied zum antiken Sokrates möglichst nicht. Gleichwohl muss er in der Sache Vorkenntnisse mitbringen, er muss das Feld möglicher Fragen und Antworten zumindest grob überschauen, denn sonst kann er die Unterstützungsrolle nicht sinnvoll ausfüllen. Er muss etwa in der Lage sein, einen weiterführenden Gedanken als solchen erkennen und für alle akzentuieren zu können. Dafür gibt es einen höchst wirksamen Trick: Wenn ein Teilnehmer einen wichtigen Gedanken äußert, bittet er einen anderen, diesen zu wiederholen. Er solle sich also an der Stelle des anderen setzen (2. Maxime). Der Urheber des Gedanken wird dann gebeten, die gespiegelte Äußerung zu prüfen. Dies kann zu einem längeren Dialog auch mit anderen Teilnehmern führen, bis alle Gesprächspartner sich wirklich verstanden haben (vgl. Blesenkemper 2016, 80). Neben der Verständniserleichterung bei inhaltlicher Zurückhaltung hat der Gesprächsleiter vor allem für den geregelten Ablauf zu sorgen. Dieser klingt in folgender Definition von Gisela Raupach-Strey an: »Ein Sokratisches Gespräch ist eine von der Erfahrung ausgehende, personenbezogene und argumentierende Suche einer Gesprächsgemeinschaft nach der Erkenntnis der Wahrheit über ein philosophisches Problem mit der Absicht, diese Wahrheitserkenntnis nach gemeinsamer Prüfung schließlich in einem konsensfähigen Urteil zu fassen« (Raupach-Strey 2002, 106). Die Untersuchung einer philosophischen Frage beginnt in der Regel mit der genauen schriftlich notierten Entfaltung eines dazu passenden selbst erlebten Beispiels eines Teilnehmers. Die darauf bezogenen Einzelurteile werden dann näher untersucht, indem die sie bestimmenden Prämissen und Voraussetzungen durch die »regressive Methode der Abstraktion« (Nelson 2002, 33) herausdestilliert und in ihren Geltungsansprüchen gemeinsam geprüft werden. Das Ziel ist der Konsens hinsichtlich einer Einsicht mit – nach Heckmann immer nur vorläufigem – Wahrheitsanspruch. Der antike Sokrates diskutierte mit seinen Gesprächspartnern auf dem Marktplatz Fragen, die von diesen ausgingen oder zumindest diese persönlich betrafen. Erinnert sei etwa an die Frage nach der rechten Erziehung von Söhnen, mit denen sich Sokrates gemäß dem Dialog Laches von zwei besorgten Vätern konfrontiert sah. Für das Selberdenken und das gemeinschaftliche Denken im neosokratischen Gespräch eignen sich nur solche Fragen, die es ermöglichen, immer wieder »im Konkreten Fuß zu fassen« (Heckmann 2002, 75). Expertenkenntnisse sind hier nicht gefragt. Dadurch ist der Kreis möglicher Fragen und Themen für neosokratische Gespräche auf grundlegende, meist ethische oder erkenntnistheoretische Fragen eingegrenzt. Dazu zählen etwa: »Was heißt es, Verantwortung zu übernehmen?«, »In welchen Situationen ist Gewalt legitim?«, »Woran erkenne ich, dass ich mich geirrt habe?«, »Unter welchen Bedingungen ist Schadenfreude gerechtfertigt?«, »Was heißt es, eine Einsicht zu gewinnen?«,

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»Was bedeutet es, ein Bild zu verstehen?«, »Was ist Freundschaft?«, »What is my duty to my community?«9 Wie Kant für den Zusammenhang der drei Maximen im Kommentar zur dritten Maxime deutlich gemacht hat, ist auch für das Sokratische Gespräch die gemeinschaftliche, längere Übung durch »öftere[.] Befolgung« der Maximen und Regeln zwingend erforderlich. Und es kommt hier zentral auf die selbst gemachte Erfahrung an, dass Selberdenken in einer Gesprächsgemeinschaft das Vertrauen in die eigene Vernunft stärken, die Kompetenz zu differenziertem Argumentieren fördern und den eigenen Horizont zu erweitern vermag. Schon Nelson schränkte die Aussagekraft seines schulebildenden Vortrags wie folgt ein: »Wollte ich […] von der sokratischen Methode eine rechte Vorstellung geben, so müßte ich meine Rede hier abbrechen und, statt Ihnen etwas vorzutragen, mit Ihnen eine philosophische Frage nach sokratischer Methode behandeln« (Nelson 2002, 21) und dabei zugleich die drei Maximen Kants zur Geltung bringen. Wer überzeugt ist, die drei Maximen Kants seien didaktisch fruchtbar, möge sie auch in Gestalt des Sokratischen Gesprächs zur Geltung bringen. Ein solcher Appell muss als Text notwendig blass bleiben; es fehlt die Unterfütterung durch konkrete Erfahrungen. Nach Abschluss eines neosokratischen Seminars an der Uni Münster reflektierte eine Master-Studentin ihren Selbstbildungsprozess und bewertete ihre Erfahrungen – vielleicht etwas übertrieben, aber doch symptomatisch mit folgenden Worten: »Wirklich philosophiert habe ich in meinem Studium bisher nicht, erst hier in diesem Seminar.«

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Philosophieren mit Kindern über Fragen von Sterben und Tod im elementarpädagogischen Bereich Christa Runtenberg

1. Philosophieren mit Kindern über Fragen von Sterben und Tod im elementarpädagogischen Bereich 1.1 Selbstverständnis und Ziele des Philosophierens mit Kindern über Fragen von Sterben und Tod Das Philosophieren mit Kindern, auch mit Kindern in der Grundschule und im elementarpädagogischen Bereich, ist nach Jahren kontroverser Diskussion inzwischen weitgehend akzeptiert und in verschiedenen Institutionen implementiert. Es gibt sehr verschiedene Ansätze über die angemessene Weise mit Kindern zu philosophieren. Einigkeit besteht in der Auffassung, dass auch kleinere Kinder philosophieren, dass sie staunen und sich wundern, Fragen stellen, argumentieren und ihre Gedanken über die Welt ordnen. Kinder steigen oft und spontan in existenzielle Fragestellungen ein, suchen nach Antworten auf diese Fragen, spielen Fragestellungen durch. Um ihre Bedürfnisse ernst zu nehmen, bei ihren Fähigkeiten anzusetzen und Argumentations-, Reflexions- und Urteilskompetenz zu fördern, brauchen die Kinder Impulse zum Nachdenken, Raum zur Muße und Raum für schöpferische Langeweile und Fantasie. Es ist durchaus möglich mit Kindern im elementarpädagogischen Bereich Gespräche über existenzielle Fragen zu führen, Fragen zum Weiterdenken zu stellen und mittels verschiedenster Wege wie malen oder theatrale Formen philosophische Untersuchungen anzustellen.1 Wichtig für das Philosophieren mit Kindern im elementarpädagogischen Bereich ist, nicht nur zu sprechen und zu argumentieren, sondern eine aktive, eine handelnde Auseinandersetzung, die Arbeit mit dem Körper zu ermöglichen. Kinder können bauend, malend, formend, zeichnend, spielend oder sprechend philosophieren. Ein grundsätzlich angemessener Verlauf des Prozesses des Philosophierens ist es, die Denkbewegung spiralförmig von einem konkreten Ausgangspunkt zu beginnen, von dort zu allgemeineren und abstrakteren Betrachtungen zu gehen und beim eigenen Denken wieder anzukommen. Gespräche lassen sich eröffnen als Reaktion auf Kinderfragen: Woher kommt die Welt? Was kommt nach dem Tod? Können Steine glücklich sein? Was ist Freundschaft? Was sind Gefühle? 1 Schick, Diana: Ich denke, also bin ich! In: Meine Kita. Das didacta Magazin für den Elementarbereich. 01/2015. S. 22 ff. Gaut, Berys / Gaut, Morag: Philosophy for young children. London and New York 2012.

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Wichtige Fragen können durch Geschichten, durch Bücher aufgeworfen werden; und das Sich-Wundern und Staunen kann motiviert werden. Ausgehend von einer philosophisch interessanten und auf ihren Erfahrungsbereich bezogenen Geschichte z. B. setzen Kinder das Gehörte in Argumentation, Gestaltung oder Bewegung und Aktion um. Anschließend wird wieder ein Gespräch über das Umgesetzte geführt. Unterschiedliche Erklärungsversuche sowie unterschiedliche Formen des Denkens stehen im Denken der Kinder in der Regel nebeneinander: naturwissenschaftliche, religiöse, philosophische, magische oder spirituelle Deutungen. Über diese verschiedenen Deutungen lässt sich weiter nachdenken. Den Kindern sollte Raum gegeben werden, um fremde Meinungen und Ansichten hören, verstehen und durchdenken zu lernen, neue Erkenntnisse auf die eigene Sicht beziehen zu lernen und Argumente formulieren und austauschen zu können. Wichtiges Ziel des Philosophierens mit Kindern ist es, das Deuten von Deutungen zu lernen, um zu immer angemesseneren Deutungen zu kommen. Deshalb darf die Leiterin nicht selbst Antworten auf die philosophischen Fragen der Kinder geben, sondern sollte auf die Kinderfragen durch Zurückfragen reagieren und ein partnerschaftliches Gespräch beginnen. In Bezug auf die Problematik »Sterben und Tod« richtet sich z. B. eine zentrale Frage der Kinder nach dem Aufenthaltsort verstorbener Angehöriger: »Wohin kommt Opa nach dem Tod«? Die Erwachsenen sollten nicht selbst antworten, sondern die Frage zurückgeben: »Was denkst Du denn; wohin kommt der Opa nach dem Tod?« Verschiedene Antwortmöglichkeiten können gesammelt, angeboten und besprochen werden. Wichtiges Ziel des Philosophierens ist es, den Kindern verschiedene Weltbilder aufzuzeigen, die es ihnen ermöglichen, jeweils eine eigene Orientierung zu bilden.2

1.2 Entwicklungspsychologische Voraussetzungen In der Philosophiedidaktik ist die Orientierung an den entwicklungs- und moralpsychologischen Ansätzen von Piaget, Kohlberg oder Habermas etabliert. Kohlbergs" und Habermas" Theorien spezifischer Entwicklungen der moralischen Urteilsfähigkeit sowie ihre Stufen-Modelle des frühkindlichen Moralverständnisses sind zwar tatsächlich als heuristisches Instrument hilfreich, sie sind aber auch umstritten und werden empirisch revidiert.3 Edelstein und Keller z. B. zeigen, dass sich ein Verständnis von Verpflichtung und Verantwortlichkeit nicht in 2 Bostelmann, A./Metze, Th.: Zwischen Himmel und Erde. Philosophieren mit Kindern über Leben und Tod. Beltz Weinheim Basel 2005. S. 71. 3 Zur Bestimmung der Moral. Philosophische und sozialwissenschaftliche Beiträge zur Moralforschung. Hrsg. von W. Edelstein und G. Nunner-Winkler. Suhrkamp Verlag F/M 1986. Roew, R.: Kohlbergs Stufenmodell – eine Richtschnur für den Ethikunterricht? In: ZDPE 1/2015. S. 68–72.

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kognitiv-strukturtheoretischen Schritten, sondern in Beziehungen der Reziprozität wie der Freundschaft ausdifferenziert. Der Ursprung interpersonal-moralischer Verpflichtung liegt eher in der Genese von Beziehungen, in denen sich über die Regelhaftigkeit von etablierten Handlungsmustern Gefühlsbeziehungen, Solidarität und moralische Orientierung entwickeln.4 Turiel weist nach, dass Kinder ein klares Konzept von moralischen Regeln besitzen: Sie erkennen Unrecht als Unrecht, sie können das Gebot der Nichtschädigung Dritter von Klugheitsregeln unterscheiden, sie differenzieren zwischen Regeln, die immer und überall gelten und sozialen Konventionen, die durch Autoritäten verändert werden können sowie subjektiven Präferenzen, die dem eigenen Willen unterliegen.5 Die Altruismus-Forschung zeigt, dass Kinder schon früh anderen helfen, trösten, teilen und auf die Notlage anderer Hilfsbedürftiger reagieren.6 Döbert und Nunner-Winkler weisen auf, dass schon junge Kinder ein intrinsisches Regelverständnis haben und kompetente moralische Akteure sind. Sie können ihr Handeln an moralischen Normen orientieren und angemessene moralische Begründungen geben.7 Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass frühkindliches Moralverständnis ein genuines Verständnis der intrinsischen Geltung moralischer Normen umfasst und moralisches Lernen weniger als ein allmählicher, über Stufen verlaufender Erwerb des Standpunkts der Moral aufzufassen ist, sondern eher als Prozess der Anwendung von moralischen Basisregeln auf zunehmend komplexere Kontexte.8 Auch Lernen und die Lernprogression insgesamt verlaufen nicht über starre, altersspezifische Stufen. Kinder verfügen durchaus über viele und komplexe Prinzipien des Denkens. Die Entwicklung verläuft eher über zentrale Formen des Denkens, die im Prozess zunehmender Komplexität nebeneinander bestehen.9 Sterben und Tod stellen für jedes Individuum ein dramatisches Problem dar; man kann ihm nicht entweichen und jeder muss Erfahrungen damit in seinem Leben bewältigen. Auf der anderen Seite gehen in westlichen Kulturen unmittelbare und persönliche Erfahrungen mit dem Sterben zurück; es gibt vielmehr eine Privati4 Keller, M. und Edelstein, W.: Beziehungsverständnis und moralische Reflexion. Eine entwicklungspsychologische Untersuchung. In: Zur Bestimmung der Moral. A. a. O., S. 321–346. 5 Turiel, E.: The development of social knowledge. Morality and convention. Cambridge 1983. 6 Nunner-Winkler, G.: Wissen und Wollen. Ein Beitrag zur frühkindlichen Moralentwicklung. In: A. Honneth/Th. McCarthy/C. Offe/A. Wellmer (Hg.): Zwischenbetrachtungen. Im Prozess der Aufklärung. S. 574–600. Suhrkamp Verlag F / M 1989. 7 Nunner-Winkler, G.: Wissen und Wollen; a. a. O., S. 592–600. 8 Nunner-Winkler, G.: Wissen und Wollen; a. a. O., S. 574–580. 9 Egan, K.: The educated mind. How cognitive tools shape our understanding. University of Chicago Press 1997.

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sierung, Institutionalisierung und weitgehende Invisibilisierung des Sterbens und des Umgangs mit dem toten Körper. Gerade junge Kinder werden von Erwachsenen oft nicht mit Problemen und Themen zu Sterben und Tod konfrontiert, obwohl sie dem Tod begegnen und Fragen sowie Vorstellungen dazu haben. Alterstypische Vorstellungen vom Tod bilden sich durch innere und äußere Einflüsse, durch persönliche, direkte und indirekte Erfahrungen mit dem Tod und sind eingebettet in den Kontext der individuellen Entwicklung, der Gesellschaft und Kultur. Die Vorstellungen, die Kinder mit Sterben und Tod verbinden, sind in der sozialen Interaktion erworbene Einstellungen, ihre Todeskonzepte sind entsprechend individuell. Aus der Perspektive der Entwicklungspsychologie lassen sich dennoch einige grundsätzliche Erkenntnisse gewinnen: Auch wenn kleine Kinder den Tod und seine irreversiblen Folgen häufig noch nicht ganz verstehen, beginnt ihre Beschäftigung mit dem Phänomen zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr.10 Sie erleben den Tod eines Tieres, eines Bekannten oder eines Familienmitglieds; oder sie hören vom Thema durch die Medien. Das führt dazu, dass das Thema »Sterben und Tod« auch für junge Kinder ein sehr wichtiges Thema ist. Zugleich erleben sie häufig durch das Verhalten für sie wichtiger Anderer, dass der Tod etwas Schreckliches, sehr Bedrohliches ist; im Umgang mit auftretenden Ängsten oder Traurigkeit brauchen sie Unterstützung. Vor allem die Angst vor dem Tod von Angehörigen ist für junge Kinder wesentlich. Da sie den Tod noch nicht als irreversibel verstehen können, steht zunächst der unmittelbare Trennungsschmerz im Mittelpunkt. Die Trennung wird aufgrund der Abhängigkeit als Bedrohung, mit Gefühlen der Verlassenheit, Angst, Schmerz und Enttäuschung empfunden. Mit der beginnenden Erkenntnis der Irreversibilität des Todes dramatisiert sich diese Angst, die Einsicht in die Machtlosigkeit und Universalität des Todes entsteht.11 Einige altersabhängige Todesvorstellungen lassen sich, angelehnt an die kindlichen Stufen der Entwicklung nach Piaget, rekonstruieren.12 Die für diesen Kontext relevanten Stufen sind das sensomotorische, aber vor allem das präoperationale und das konkretoperationale Stadium mit den entsprechenden Todesvorstellungen. Das sensomotorische Stadium (0–18 Monate), in dem die sinnliche Wahrnehmung und motorische Aktivität im Vordergrund steht, ist charakterisiert durch die wachsende Objektpermanenz. Die Kinder unterscheiden Personen danach, ob sie ihnen vertraut sind oder nicht. Tod kann nicht von vorübergehender Trennung unterschieden werden; schon die Abwesenheit einer Bezugsperson wirkt verunsichernd und irritierend. Die Kinder spüren aber die Trauer 10 Reinhardt Jan D./Weber, Simone: Die Todes- und Sterbethematik in Kinderbilderbüchern für die Altersklasse bis 5 Jahre. In: Psychologie und Gesellschaftskritik, 32 (273), 55–77; hier: 56. 11 A.a.o., 67. 12 Tausch-Flammer, Daniela: Wenn Kinder nach dem Sterben fragen. Freiburg 1994.

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der Bezugspersonen; sie wollen sie trösten und geben dazu ihren Schnuller oder ihr Kuscheltier ab oder streicheln die Person. Im präoperationalen Stadium (18 Monate–7 Jahre) entwickelt sich das Vorstellungs- und Sprachvermögen. Die Vorstellungen der Kinder sind ego-zentrisch: sie beziehen alles auf sich, erleben sich als Mittelpunkt, trennen nicht zwischen eigenem Erleben und dem Erleben anderer. Sie glauben, dass alle anderen dasselbe fühlen, hören, sehen, wollen wie sie selbst. Empathie- und Unterscheidungsmöglichkeit beginnen erst, sich zu entwickeln. Dieses »Eins-Sein mit der Welt« führt auch zu einem magischen Denken. Der Glaube, durch Willenskraft Ereignisse in der Welt hervorzurufen, ist charakteristisch – das Kind schafft sich eine Welt, in der es Dinge geschehen oder ungeschehen machen kann. Fantasie schließt die Wissens- und Erfahrungslücken. Die Vorstellung z. B. herrscht vor, dass verschwundene Dinge, verstorbene Menschen wieder herbeigewünscht werden können. Diese Vorstellung von Allmacht kann einerseits ein sehr stärkendes Gefühl, andererseits Ursache für Angst- und Schuldgefühle sein, wenn sich das Kind als Verursacher schrecklicher Ereignisse versteht. In diesem Alter, in dem das Denken noch anschaulich ist, fangen die Kinder auch an, Fragen über Sterben und Tod zu stellen. Es gibt noch keine konkrete Vorstellung vom Tod; er wird vor allem als Abwesenheit erlebt und löst Trennungsängste aus. Tod bedeutet so etwas wie Wegsein, Dunkelheit, Trennung, Schlaf. Abstrakte Konstruktionen wie Zeit und Unendlichkeit sind noch nicht begreifbar; beide Kategorien sind nur durch anschauliches Erklären fassbar. Wichtig sind anschauliche Begriffe, um den Tod zu erklären, wie z. B. der Atem geht nicht mehr oder das Herz schlägt nicht mehr. Der Tod wird noch als Zustand erforscht, der nur anderen Personen, vor allem alten Menschen zustoßen kann. Oder er kommt durch Unfälle, Gewalt, Übergriffe von bösen Räubern und Monstern. Die Bösen sterben vor den guten Menschen. Der Tod ist nicht von ewiger Dauer. Man ist nur vorübergehend tot, wer tot ist, kann auch wieder lebendig werden. Die Grenzen und Begrenztheit des Lebens, der Begriff von Endlichkeit ist noch nicht fassbar. Die Bedeutung des Wortes »tot« kann, gerade zu Beginn dieses Stadiums, von den Kindern noch nicht verstanden werden. Allerdings spüren die Kinder, dass der Tod häufig als Tabuthema gilt, ihnen vorenthalten wird und negative Reaktionen auslöst. Das ist für sie irritierend und bedrohlich, vor allem weil sie erleben, dass häufig eine Krankheit ursächlich ist für den Tod; der Tod steht als Drohung dar, wenn sie selbst krank sind. Die Kinder können auch noch nicht zwischen leichten Erkrankungen und lebensbedrohlichen Erkrankungen unterscheiden; sie wissen nicht, wann man sich anstecken kann und inwiefern »Ansteckung« ursächlich ist für das Sterben. Es ist sehr wichtig, um Schuldgefühle zu verhindern, dem Kind klar zu machen, dass es nicht die Macht hat, jemanden, auch wenn er ihm den Tod wünscht, sterben zu lassen. Das Denken der Kinder ist von Animismus geprägt: leblose Dinge werden lebendig gehalten, alles wird beseelt, alles, was sich bewegen lässt, ist auch lebendig. Übergangsobjekte wie das Schnuffeltuch oder das Kuscheltier zeigen die beginnende Bindungsfähigkeit und das Streben nach

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Selbstständigkeit von den Bezugspersonen; der Verlust dieser Objekte löst einen tiefen Schmerz aus. Kinder spielen auch Sterben und Tod, Krieg, Doktorspiele, jemanden tot schießen, selbst tot umfallen, Todes- und Vernichtungswünsche werden laut ausgesprochen. Im Umgang mit dem Tod von Tieren, insbesondere von Haustieren, ist es Kindern wichtig, die Tiere anzufassen und Gräber für die toten Haustiere zu schaffen. Die Kinder brauchen ein aktives Be-Greifen als Erkenntnisweg. Man kann mit ihnen Grabsteine gestalten, Gräber betrachten, den Tierfriedhof oder Friedhöfe für Menschen besuchen, Todesanzeigen anschauen oder gestalten, Formen zu trauern in anderen Kulturen anschauen.13 Interessant im Zusammenhang mit dem Tod von Menschen, vor allem auch nahestehenden Menschen, sind Fragen wie die, was der »Himmel« ist, ob der Verstorbene Opa mit Gott im Himmel wohnt oder an der Himmelspforte steht, ob er vom Himmel aus die Kinder weiter begleitet oder ob die Menschen auf der Erde den Himmel irgendwie erreichen können. Viele Kinder sehen im Himmel den »Ort, wo die Seelen wohnen«.14 Den Tod zu verorten ist für Kinder wichtig. Die Trennung von Körper und Bewusstsein ist für kleine Kinder noch ein unbegreifliches Phänomen. Auch die Frage, wie man weiterleben kann, wenn es gar keinen Himmel geben sollte, ist für sie wichtig. Die Kinder kennen Engel, aus Weihnachtsgeschichten, oder Schutzengel. Sie wissen, dass Engel zu den guten Mächten gehören. Deshalb ist das Basteln von Schutzengeln für sie spannend und instruktiv.15 Im konkretoperationalen Stadium (7–11 Jahre) können die Kinder mit Objekten und Vorstellungen operieren. Diese sind noch immer abhängig von den anschaulichen Erfahrungen. Eine Beweglichkeit des Denkens wird deutlich; mehrere Aspekte eines Gegenstandes oder eines Vorgangs können simultan erfasst und in Beziehung gesetzt werden. Die Verdichtung des Zeitbegriffs wird möglich, Abstraktionen wie die Vorstellung von Unendlichkeit sind aber noch nicht möglich. Der Unterschied zwischen Tod und Lebendigkeit wird verstanden; auch die Unabänderlichkeit und Endgültigkeit des Todes wird erahnt. Obwohl der Tod nach wie vor ein Ereignis ist, das anderen geschieht, wird damit ein Gefühl der Trennung und des Schmerzes verbunden. Meist wird der Tod personifiziert; der »Sensemann« kommt und holt den Sterbenden auf der Erde ab. Diese Personifizierung vergrößert die Angst vor dem Tod. Gleichzeitig geht von dem Themenkomplex Sterben und Tod eine besondere Faszination aus. Das Todesverständnis schwankt zwischen Realität und Fantasie; es besteht der deutliche Wunsch, den Tod besser kennen zu lernen. Das Erforschen toter Tiere, das Interesse an Bestattungsritualen und Friedhöfen führt zu vielen Fragen der 13 Bostelmann, A./Metze, Th.: Zwischen Himmel und Erde. S. 73. 14 Ein von einem Kind gemaltes Symbol des Himmels findet sich in: Frotscher, Sven: Was Symbole erzählen. Militzke Leipzig 2010. S. 37. 15 Bostelmann, A./Metze, Th.: a. a. O., S. 31 f.

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Kinder. Es beginnt eine erste Orientierung an dem Wissen der Erwachsenen, die sich dieser Verantwortung bewusst sein sollten. Die Bewältigung der Trauer über den Abschied gelingt durch Trost und Gehalten-Werden von anderen, die Hoffnung auf ein Jenseits, durch Erinnerung an die Verstorbenen über den Tod hinaus oder das Bewusstsein von Generativität.16 Möglichkeiten der Kinder, damit umzugehen, bestehen im Lesen von Bilderbüchern, Durchführen von Rollenspiele, um Gespür zu schaffen für neue und befremdliche Situationen, das Schreiben von Trauerbriefen oder Liebesbriefen an die Verstorbenen, das Schreiben von Briefen an Gott oder an den Himmel. Die Kinder können auch ein »Denk-Mal-Buch« gestalten oder eine »Denk-Mal« bzw. »Erinnerungs-Kisten« bauen17.

2. Verlaufsformen, Deutungsangebote, Methoden und Medien beim Philosophieren mit Kindern über Sterben und Tod 2.1 Umsetzungsformen und Werkzeuge des Philosophierens mit Kindern Eine Form der Umsetzung beim Philosophieren mit kleinen Kindern kann die »philosophy enquiry« sein.18 Bei dieser Form des Gesprächs sitzt die Leiterin mit den Kindern im Kreis auf dem Fußboden. Zentrale Gesprächsregeln sind auf »philosophischen Helfern«, das sind fröhliche emoticons als Karten, visualisiert. Diese liegen inmitten des Sitzkreises und können von den Kindern gezogen werden, wenn jemand gegen eine Regel verstößt. Ausgehend von einer philosophischen Frage, die durch eine Geschichte, ein Bild etc. aufgeworfen wird, stellt die Gesprächsleiterin Fragen, um Einstellungen der Kinder hervor zu locken. Diese werden weiter reflektiert, in dem neue Aspekte in die Geschichte eingebracht oder weitere Requisiten, die sich in einer philosophischen Box inmitten des Kreises befinden, ins Spiel gebracht werden. Nach einer Phase des Argumentierens, Widersprechens, in Frage-Stellens wird eine Zusammenfassung der enquiry gemacht. Anschließend können die Kinder ihre Erkenntnisse, Auffassungen, Urteile zum Problem in einer praktischen Aktivität umsetzten und die philosophische Sitzung evaluieren, wiederum mit »philosophischen Helfern« (Evaluationskarten, auf denen ein trauriger und ein glücklicher Smiley abgebildet sind).19 Zum Philosophieren mit jungen Kindern ist – auch in Verbindung mit dem Philosophieren mit Bilderbüchern – die sokratische Hebammenkunst geeignet: 16 Ebd., S. 68 ff. 17 Ebd., S. 84 f. 18 Gaut, Berys / Gaut, Morag: Philosophy for young children. A practical guide. London and New York 2012. S. 6–10. 19 Bostelmann, A./Metze, Th: a. a. O., S. 6–10.

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die Gesprächsleiterin sorgt für die »Geburtshilfe« der Gedanken der Kinder.20 Das Vorgehen sieht folgendermaßen aus: zunächst wird eine Grundfrage gestellt wie zum Beispiel: »Was ist der Tod? Was ist eine würdevolle Beerdigung? Was passiert nach dem Tod? Was zeichnet einen Menschen nach seinem Tod aus?«. Ausgehend von der Grundfrage und erster Antwortversuche werden weiterer Hebammenfragen gestellt wie »Stimmt das? Muss das immer so sein?« Anhand des Aufzeigens eines Beispiels oder Gegenbeispiels wird ein Erfahrungsaustausch initiiert: »Gibt es ein Beispiel oder ein Gegenbeispiel, das Deine Meinung unterstützt?« Daran schließt sich eine analytische Auseinandersetzung mit zentralen Begriffen an: »Was meinst Du mit dem Wort ›würdevoll‹? Welche ähnlichen Begriffe, welche Gegenbegriffe gibt es?« Auf die Klärung wichtiger Begriffe folgt die Auseinandersetzung durch differenzierteres Begründen und Einschätzen mit konkreten Beispielen und Gegenbeispielen: »Gib einen Grund an für Deine Bewertung. Was könnte für Deine Auffassung sprechen, was dagegen? Ist das ein überzeugender Grund?« Am Schluss der Auseinandersetzung fasst die Gesprächsleiterin die Ergebnisse zusammen und bezieht sie zurück auf die Grundfrage. Diese Hebammenfragen können entlang von Bilderbüchern gestellt werden und entwickeln sich aus und entlang der jeweiligen Texte.21 Für die Kinder ist es motivierend, ein gleichbleibendes Ritual vor jeder Sitzung durchzuführen; das fokussiert die Aufmerksamkeit. Man kann eine Decke ausbreiten, auf der philosophiert wird. Man kann den Begriff Philosophieren singen, mit rhythmischem Klatschen begleiten und inszenieren; man kann einen Gemeinschaftsball, einen Sprechball gestalten und bei den Gesprächen einsetzen und Gesprächstools, z. B. philosophische Helfer entwickeln, die die Gesprächsregeln beim Philosophieren für alle sichtbar machen.22 Vielfältige Methoden und Medien für das Philosophieren mit Kindern sind inzwischen entwickelt. Es gibt z. B. das Begriffliches Arbeiten, das Gründe finden, Gespräche (auch Sokratische) führen, Gedankenexperimente erproben, das Ausloten von Metaphern, das szenische Interpretieren und Spielen, z. B. die Gestaltung eines Texttheaters, eines Standbilds oder einer situativen Rollenbefragung.23 Kinder können zu Kunstwerken arbeiten, die präsentative wie diskur-

20 Zoller Morf, Eva: Selber denken macht schlau. Philosophieren mit Kindern und Jugendlichen. Anregungen für Schule und Elternhaus. Kempten 2011. S. 30. 21 Zoller Morf, Eva: Selber denken macht schlau. Kempten 2010. S. 46 ff. 22 Zoller Morf, Eva: a. a. O., S. 36–42. 23 Müller, Hans-Joachim: Gedanken symbolisieren – szenisches Interpretieren als Methode des Philosophierens. In: Müller, Hans-Joachim, Pfeiffer, Silke (Hrsg.): Denken als didaktische Zielkompetenz. Philosophieren mit Kindern in der Grundschule. Oldenburg 2004. S. 42–48.

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sive Elemente der Deutung und Auseinandersetzung sinnvoll kombinieren oder ein »visuelles Tagebuch« führen.24 Die notwendigen Medien lassen sich unterscheiden in verbale Medien, visuelle Medien und handlungsbezogene Medien. Zu den verbalen Medien gehören die Fragen der Kinder, Kinderbücher, Sprichwörter, Geschichten, Märchen und Fabeln wie auch kurze philosophische Sätze, Sprüche bzw. Gedankensplitter. Zu den visuellen Medien gehören Zeichnungen, Bilder und Bildergeschichten, Bildkärtchen, Fotos, Filme und Gemälde oder das Karikaturenpuzzle. Zu den handlungsbezogenen Medien gehören Spiele, Kreisspiele und Interaktionsspiele, Sprach- und Argumentationsspiele sowie Rollenspiele oder das Standpunktspiel.25 Möglichkeiten ganz praktisch, auch haptisch zu arbeiten bieten das Schaffen von Kunstwerken, Begriffsmolekülen, Denk-Mal-Kisten etc. Etwas bauen macht Abstraktes konkret, anschaulich. Die Kinder können ihre Ideen und Einfälle sammeln, ordnen, ausstellen und im Anschluss ein Museum der Schätze gestalten. Auf den wichtigen Stellenwert von Bilderbüchern weist Petermann hin. Seiner Auffassung nach können Kinder durchaus philosophieren, weil sie wesentliche Schritte des Philosophierens, die Aristoteles vorschlägt vollziehen. Das umfasst das Staunen, das Warum-Fragen als Haltung; sie stoßen auf Phänomene untersuchen diese genau, sie Beobachten und denken über das ihnen Begegnende nach, sie fragen über Größeres und forschen, denken nach, fragen weiter. Die Arbeit mit Bilderbüchern, sofern sie philosophisch gehaltvoll sind ermöglicht, vier wesentliche Schritte des Philosophierens zu initiieren, die Kants Regeln des Denkens entsprechen: Sich auf konkrete, sinnliche Erfahrungen einlassen, selber denken anlässlich des Deutungsangebot im Bilderbuch, sich dialogisch mit anderen darüber auseinandersetzen, Argumente prüfen und reflexiv zu denken.26

2.2 Schatzkiste des Philosophierens über Sterben und Tod Wichtig für kleine Kinder ist zunächst die biologische Sichtweise. Diese können sie am Ehesten einnehmen, und diese finden sie auch äußerst spannend. Aus biologischer Sicht ist der Tod das Ende des Lebens, des Organismus, des Körpers. Der Tote wird zu »Asche« oder »Erde«. Das Wesen atmet nicht mehr, sein Herz 24 Uhlig, Bettina: 7777777 »details« eines Lebens. Zum Philosophieren mit Kindern zu Kunstwerken. In: Müller, Hans-Joachim, Pfeiffer, Silke (Hrsg.): Denken als didaktische Zielkompetenz. Philosophieren mit Kindern in der Grundschule. Oldenburg 2004. S. 72–80. 25 Schramm, Ingeborg: Methodisches Handbuch für Ethiklehrer (und solche, die es werden wollen). Militzke Leipzig. S. 35–55 ff. 26 Petermann, Hans-Bernhard: Kann ein Hering ertrinken? Philosophieren mit Bilderbüchern. Weinheim und Basel 2004.

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schlägt nicht mehr; der Körper wird steif und kalt. Je nach Alter und Erfahrung der Kinder kann man hirnbiologische und körperbiologische Aspekte unterscheiden. Spannend sind für die Kinder auch religiöse Deutungsangebote. Sie können die Vorstellungen vom Himmel und vom Jenseits in den verschiedenen Religionen durchdenken. Dazu gehören auch Vorstellungen vom Tod als einem Durchgangsstadium in eine andere Existenzform. Konsequenzen für das Verständnis vom Diesseits, vom Leben vor dem Tod, die sich aus religiösen Ansätzen ergeben, können unterschieden werden. Es ist reizvoll auch für junge Kinder, die Gedanken der fernöstlichen Philosophie über Tod und Todesfurcht, über den Sinn des Todes mit dem abendländischen Denken zu vergleichen Über die frühe indische Philosophie lernen sie die Idee einer »Erlösung zu Lebzeiten« und weniger stark rational geprägte Konzepte kennen, bei denen eine Beruhigung durch analytische und logische Beweisführung sich nicht so findet wie in der griechischen Philosophie. Die »Befreiung von materialer Kausalbindung und Identifikation mit dem unvergänglichen reinen Geist« ähnelt den Aspekten aus der antiken griechischen Philosophie.27 Weitere paradigmatische Deutungsangebote lassen sich in der Philosophie der griechischen und römischen Antike finden. Platon setzt sich vor allem im Phaidon mit dem Tod auseinander. Philosophie als »Sterben lernen«, der Tod als Befreiung der Seele vom Körper, ihr Übertritt in die Unsterblichkeit und Aufstieg zu den Ideen, vernünftiger, nicht von Affekten geleiteter Umgang mit der Todesfurcht, Bedeutung der lebenslangen Übung des Lebens und Sterbens.28 Epikur vertritt in seinem Brief an Menoikeus ein materialistisches (atomistisches) sensualistisches Konzept der Seele. Der Tod geht uns nichts an, da er auf Empfindungen beruht, die nicht mehr erfahrbar sind, wenn der Tod da ist. Der Tod ist das Ende des Lebens. Die radikale Endlichkeit des Menschen sollte ermöglichen, das Leben zu einem guten, freudvollen, wenig leidvollen zu machen durch die rechte Erkenntnis und das hedonistische Nutzenkalkül. Er empfiehlt ein differenziertes Programm der Lebenskunst mit dem Ziel der Seelenruhe, kognitiver Umgang mit Furcht und Schmerzen.29 Seneca plädiert dafür das ganze Leben lang das Sterben zu lernen; Sorge um sich heißt Reifung der Seelenruhe, Schulung der Einfachheit, Großzügigkeit, Standhaftigkeit, des Gleichmuts und Leidensfähigkeit. Ziel ist das Erreichen der Sittlichkeit und das Leben im Einklang mit der Natur. Dabei helfen die aufrich27 Einen systematischen und gut auf das Philosophieren mit Kindern zu beziehenden Überblick gibt Stähli, Andreas: ARS MORIENDI und ihre Gegenwart in der Hospizpraxis. Münster 2010; hier S. 137–184. Textauszüge in Freese, H.-L. (Hg.): Gedankenreisen. Philosophische Texte für Jugendliche und Neugierige. Reinbek 1990. S. 267–274. 28 Stähli, Andreas: a. a. O., S. 17–44. 29 Stähli, Andreas: a. a. O., S. 69–97.

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tige Selbstprüfung, ein rechter Umgang mit den Gütern und den Affekten, ein rechtes Zeitverhältnis und eine rechte Haltung zum Schicksal. Angesichts der Endlichkeit, im Bewusstsein zu sterben können wir reifen und ruhig werden. Gefühle, Erschütterungen angesichts des Todes sind menschlich; wir dürfen uns aber nicht von diesen Gefühlen und Ängsten antreiben lassen. »Nicht den Tod fürchten wir, sondern die Vorstellung von ihm.«30 Sterben lernen heißt sich mittels verschiedener Strategien von der Todesfurcht lösen durch rationales Herangehen, Antizipieren des Bevorstehenden, Trost, Leben, jeden Augenblick schätzen. Trauer kann kognitiv bewältigt werden.31 Epiktet rät: Sage nie von einer Sache, auch wenn ein Verwandter gestorben ist, Du habest sie verloren. Sage: »Ich habe sie zurückgegeben.« Man sollte sich nicht wünschen, dass Verwandte und Freund ewig leben, denn dann verlangt man etwas, was nicht im eigenen Verfügungsbereich liegt. Stattdessen übe Dich in dem, was Dir möglich ist; wer frei sein will, darf weder erstreben noch vermeiden, was in der Macht eines anderen liegt. Alles, was Du fürchtest, auch den Tod, sagt Epiktet, halte Dir täglich vor Augen, dann wirst Du niemals kleinliche Gedanken haben.32 Montaigne greift in der Renaissance den antiken Gedanken auf und meint, dass nur wer sterben kann, wirklich frei ist und zu nichts gezwungen werden kann. Denn wer sterben gelernt hat, hat das Dienen verlernt. Nur wer sterben kann, kann auch leben. Der Tod ist das Ende des Lebens, ja, aber nicht sein Ziel und sein Inhalt. Nietzsche ist der Auffassung, dass das einzig Sichere der Tod ist, er ist das Einzige, das alle erwartet. An den Tod denken wollen heißt für ihn, an das Leben zu denken, den Gedanken an das Leben zu wagen. Darauf zielt die Metapher der ewigen Wiederkehr des Gleichen: Lebe so, als ob Du Dein Leben immer wieder genau so leben könntest, jeden einzelnen Tag, jeden Augenblick. Spannende Ansätze bieten verschiedene Sichtweisen aus der Existenzphilosophie. Nach Heidegger, Sartre, Jaspers oder auch Camus beziehen Menschen aus dem Bewusstsein des Todes eine Steigerung des Lebensgefühls. Die Gewissheit einer unbefristeten Existenz würde das Leben entwerten und unerträglich machen. Das Bewusstsein der Sterblichkeit macht uns unsere Individualität und Einmaligkeit bewusst, denn das Sterben ist unsere ureigene Angelegenheit, die uns niemand abnehmen kann. Heidegger sieht den Tod als beständige Gegenwart des »Nicht-Seins im Sein«. Zu unterscheiden ist die Haltung des eigentlichen Seins zum Tode, in der sich der Mensch damit bewusst auseinandersetzt, und die Haltung des uneigentlichen Seins zum Tode: Im Gerede, im Man, in der Flucht vor der Auseinandersetzung wird versucht, sich den Tod vom Leib zu halten. 30 Seneca: Ep. 30,17. Zitiert nach Stähli, A.: a. a. O., S. 112. 31 Zur konstruktiven Kritik siehe Stähli, A.: a. a. O., S. 128–136. 32 Auszug aus Epiktet: Handbuch der Moral; in: Glück. Ein philosophischer Streifzug. Hrsg. Von Sascha Michel. F / M 2007. S. 33–43.

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Sartre sieht im Tod die »Nichtung aller Möglichkeiten«, für Jaspers ist der Tod eine Grenzsituation, in der der Mensch seine Existenz erfährt und erspürt. Instruktiv ist auch die Sichtweise von Albert Camus. Der Tod, die Endlichkeit des irdischen Lebens ist seiner Auffassung nach der Anlass, das Absurde zu verstehen und das Leben zu lieben. Sein Motto ist, im Anschluss an Pindar: »Liebe Seele, trachte nicht nach dem ewigen Leben, sondern schöpfe das Mögliche aus.«33 Vom Tod unmittelbar gibt es keine Erfahrung; man kann höchstens von der Erfahrung des Todes der anderen sprechen. Aus dem Körper ist die Seele verschwunden: die Nutzlosigkeit des Lebens tritt in Erscheinung. Der Mensch ist sterblich, die Hoffnung auf ein Jenseits gibt es nicht, der Tod ist da, ist die einzige Realität. Was muss man nach Camus aus diesen Tatsachen schließen? Wir müssen das Absurde erkennen, »weil die ganze Folgerichtigkeit eines Lebens daraus hervorgehen kann«.34 Der Körper, die Zärtlichkeit werden ihren Platz in dieser sinnlosen Welt wieder einnehmen; das ist der Grund einer tiefen Freiheit, der Grund dafür so viel wie möglich zu leben, tiefe und intensive Erfahrungen zu machen, viele einzelne Augenblicke intensiv und bewusst zu erleben.35 Wilhelm Schmid argumentiert mit dem finalen Argument; angesichts der Endlichkeit des Lebens ist es wichtig, das Leben so zu gestalten, dass es am Ende insgesamt bejahenswert ist. Aus all diesen Deutungsangeboten ergeben sich verschiedene Konsequenzen für das Verständnis vom Diesseits, vom Leben vor dem Tod, von Trauer angesichts des Abschieds oder vom Umgang mit dem Schmerz. Diese Dimensionen können, sofern sie sachangemessen und altersgerecht in Bilderbüchern auftauchen, für das Philosophieren mit Kindern herangezogen werde.

2.3 Bilderbücher beim Philosophieren mit Kindern über Sterben und Tod Einige Bilderbücher sind aufgrund ihrer inhaltlichen, sprachlichen oder bildnerischen Gestaltung für das Philosophieren mit Kindern fruchtbar und Quelle philosophischer Fragen und Antwortversuche. Bild und Text stellen durch ihre enge Wechselbeziehung ein komplexes symbolisches Gebilde dar, in dem Stoffe fiktionalen Charakters erzählt werden. Das Bilderbuch ist ein primär narratives Medium; diese spezifische narrative Form von Wirklichkeitsdeutung lernen Kinder früh kennen. In Bilderbüchern kann Wirklichkeit verfremdet oder karikiert werden, um sie neu oder schärfer zu verstehen; Denkprozesse der Kinder werden angeregt oder Erfahrungen ermöglicht im geschützten Raum. Bilderbü33 Camus, Albert: Tagebücher 1935–1951. Reinbek 1997. S. 157. 34 Camus, Albert: Die absurden Mauern. In: Der Mythos des Sisyphos. Reinbek 2013. S. 40. 35 Camus, Albert: Die absurde Freiheit. In: a. a. O., S. 64–79.

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cher werden zum Anlass, um sich über wichtige Erfahrungen auszutauschen und Argumentationen zu erproben.36 Die Bilder sind in der Regel mehr als eine Übersetzung des gedruckten Wortes oder eine Illustration: eine Parallelität von Bild und Text ist gegeben, wenn beide Erzählformen als produktive Korrespondenz gestaltet werden; Text und Bild können aber auch ineinandergreifen, das Erzählen wechselseitig übernehmen oder kontrapunktisch sein. Die spezifische Sprache des Bilderbuchs, die Wahrnehmung zum Ausdruck bringen und zur Erfahrung machen will, entwickelt sich durch das Wechselspiel von Text und Bild.37 Bilder und Texte können unabhängig voneinander zum Philosophieren auffordern, sie können aber auch eine gemeinsame Basis des Philosophierens bilden. Oft stellen die Kinder selbst Fragen, wenn sie ein Bilderbuch vorgelesen bekommen; diese sollten unbedingt berücksichtig werden. Bilderbücher zeigen konkrete, lebensnahe Beispiele auf, in die sie sich hineinversetzen, von denen sie sich aber auch distanzieren können. Kinder verstehen die Fiktionalität der Bilderbücher und verstehen, dass mit ihnen ihre Fantasie angeregt und ihr hypothetisches Denken gefördert werden soll. Der Nachvollzug der Geschichte fordert einen Perspektivwechsel von den Kindern; verschiedene Auffassungen zum Geschehen fördern die argumentative Kompetenz und Toleranz anderer Sichtweisen. Bilderbücher zum Philosophieren mit Kindern müssen kindgemäß und philosophisch gehaltvoll sein. Sie lassen sich, wo es sich ergibt, mit philosophischen Auffassungen aus der Tradition, mit Kurztexten, Nachtexten, Aphorismen etc. kombinieren. Der philosophische Gehalt (ein Problem, eine Frage, Antwortversuche) steckt in den Büchern selbst. Die Bilderbücher müssen dem Entwicklungsstand der Kinder entsprechen, ihre Neugierde wecken und befriedigen, interessante Antworten geben und neue Fragen aufwerfen. Die Bücher sollten als konkrete Beispiele dienen, die Kinder anregen, ihre Fantasie schulen und Perspektivwechsel und Auseinandersetzung ermöglichen. Die Bilderbücher sollten zum eigenen reflexiven Denken anregen und verschiedene Arbeitsweisen initiieren, so dass die Kinder verschiedene philosophische Methoden und Techniken nutzen können. Bilderbücher sollten auch Gefühle auslösen, das Einfühlen in die Geschichte oder in einen Protagonisten möglich machen. Insbesondere Bilderbücher zum Thema Sterben und Tod sollten Kindern Trost spenden und ihnen einfühlsame Antworten auf ihre verschiedenen Fragen geben. Das Erzählen und gemeinsame Betrachten von Bildern kann Hemmungen und Sprachlosigkeit überwinden. Da die Kinder die Fiktionalität der Geschichte verstehen, entsteht eine Distanz, so dass das jeweilige Thema nicht zu nah an sie herankommt. Durch 36 Pfeiffer, Silke 2005. S. 55. 37 Vgl. Thiele, Jens: Das Bilderbuch; in: Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur, Band I; Grundlagen, Gattungen; hrsg. Von Lange, Günter, Baltmannsweiler 2000. S. 228–245, hier S. 230. Ebenso Petermann 2004. S. 210.

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diese Distanz kann das, was unmittelbar vielleicht unerträglich wäre, vermittelt zugelassen werden. Durch die modellhafte Erfahrung können die Kinder sich mit den Phänomenen Sterben und Tod auseinandersetzen, ohne zu sehr emotional betroffen zu sein. Entscheidend ist, welche Emotionen mit dem Tod verbunden und wie diese verarbeitet werden, welche Arten der Kommunikation über den Tod und mit dem Tod dargestellt werden und welche Art von Jenseitsvorstellungen oder Hoffnungsperspektiven vermittelt werden.38 Die Bilderbücher sollten Fragen aufwerfen, Gesprächs- und Reflexionsanlässe schaffen und das Philosophieren ermöglichen. Die Beschäftigung mit diesem Themenkomplex sollte auch jungen Kindern unbefangen ermöglicht werden. So können sie den Tod und das Sterben als Teil des Lebens begreifen und damit umgehen lernen. Eine inhaltliche Strukturierung des Themas mit einem oder mehreren Büchern ist möglich z. B. nach den vier Fragen Kants: 1. Was kann ich wissen? Woran sterben Menschen? Was ist »tot«? Wie geht man mit toten Körpern um? 2. Was soll ich tun? Was ist eine würdevolle Beerdigung? Wie kann ich mit Verlust, Trauer, Abschied umgehen? Wie kann ich getröstet werden, wenn ein Abschied schmerzt? Wie kann ich andere trösten? 3. Was darf ich hoffen? Was passiert nach dem Tod? Gibt es einen Himmel? Was oder wo ist der Himmel? Wohin geht die Seele? 4. Was ist der Mensch? Sind Leib und Seele Verschiedenes? Was zeichnet einen Menschen nach seinem Tod aus? Welche Gefühle habe ich, wenn jemand Wichtiges stirbt? Wie gehe ich mit Trauer um? Wie zeigt sich Trauer? Der Umgang mit einem ganzen Buch ist genauso fruchtbar wie die Interpretation einzelner Bilder zu bestimmten Fragestellungen.

3. Philosophieren mit ausgewählten Bilderbüchern über Sterben und Tod Es gibt inzwischen eine Flut von Bilder- und Kinderbüchern, die sich mit dem Thema Sterben und Tod auseinander setzten. Viele Bilderbücher arbeiten mit Geschichten über ein sterbendes oder verstorbenes Tier; z. T. agieren darüber hinaus Tiere als Freunde des Verstorbenen. Der Vorteil dieser Bücher ist, dass die Kinder sich zum Einen besser vom Geschehen distanzieren können, da es um 38 Reinhard und Weber: a. a. O., S. 57. Die Autoren fünf Kinderbücher zum Thema vor.

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Tiere geht; zum Anderen können sie sich gut in die Gedanken der Tiere hineinversetzen und in die Gefühle einfühlen, da die Tiere die Einfachheit des Menschen, seine Naivität, die alle Fragen erlaubt und seine Offenheit gegenüber der Wirklichkeit personifizieren. Mit dieser Naivität, mit dem Sich-Wundern, mit der Lust, die Welt frag-würdig zu machen und Neuem auf die Spur zu kommen, beginnt das Philosophieren.39 Es gibt auch Bilderbücher, die das Sterben oder den Tod eines Vertrauten des Kindes, des Vaters, des Freundes, einer Schwester thematisieren. Im Folgenden soll kein Überblick über all diese Bilderbücher gegeben werden, sondern anhand ausgewählter Beispiele gezeigt werden, wie mit Bilderbüchern über dieses sensible Thema schon mit kleinen Kindern philosophiert werden kann.

3.1 Philosophieren mit dem Buch von Max Velthuis: »Was ist das?« fragt der Frosch In dem Buch von Max Velthuis: »Was ist das?« fragt der Frosch40 findet ein Frosch eine tote Amsel. Er führt das Schweinchen an den Ort, wo die Amsel liegt. »Mit der Amsel stimmt was nicht. Sie bewegt sich nicht mehr« (S. 11). Hier können die Kinder rätseln, was los ist mit der Amsel, und darüber sprechen, welche Anzeichen sie heranziehen für ihre Wahrnehmung. Das Schweinchen vermutet, vielleicht schliefe die Amsel nur, glaubt es aber selbst nicht so ganz, und die Ente, die angewatschelt kommt, vermutet, die Amsel habe einen Unfall gehabt oder sei krank. Hier können die Kinder Gedankenblasen zu den Leerstellen des Textes füllen und so die Vermutungen von Schweinchen und Ente bedenken. Dann kommt noch der Hase dazu. Der Hase spricht es aus: »Sie ist tot« (S. 16). »Tot?« fragte der Frosch. »Was ist das?« (S. 16). An dieser Stelle können die Kinder ihre Erklärungen abgeben, vielleicht Bilder malen zu der Frage: Was ist das, tot? Daran anschließend kann gefragt werden, wo man ist, wenn man tot ist. »Alles stirbt einmal, wenn man alt ist« sagt der Hase (17). Diese These lässt sich, selbstverständlich altersgerecht und sensibel, mit den Kindern problematisieren. Vielleicht haben sie schon erlebt, dass jemand stirbt, der nicht alt ist. Diese Erfahrung sollte aufgenommen werden. »Wir müssen die Amsel beerdigen«, sagt der Hase. »Drüben auf dem Hügel ist ein schöner Platz« (S. 18). An dieser Stelle kann man die Kinder fragen, wie eine schöne Beerdigung der Amsel aussehen könnte. Sie können eigene Szenarien entwickeln und im Anschluss erzählen, ob sie schon einmal bei einer Beerdigung waren. Gemeinsam kann überlegt werden, warum »schöne« Beerdigungen wichtig sind. Anschließend werden die weiteren Seiten über die Beerdigung der 39 Vgl. Hering, Jochen: Die Welt frag-würdig machen. Philosophisches Nachdenken mit Kindern im Grundschulalter. Baltmannsweiler 2004. 40 Velthuis, Max: »Was ist das?«, fragt der Frosch. Weinheim Basel 2009.

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Amsel gelesen; der Vorschlag im Bilderbuch wird mit den Vorstellungen der Kinder verglichen. Aspekte wie die Aussage: »Sie hat ihre Ruhe verdient« (S. 21) oder die Bedeutung der »Schönheit« und »Stille« bei einer Beerdigung können angesprochen werden. Ergänzend könnte an dieser Stelle das Buch: »Die besten Beerdigungen der Welt« von Ulf Nilson und Eva Eriksson eingesetzt werden.41 Dieses Buch erzählt die Geschichte dreier Kinder, die an einem langweiligen Tag ein Beerdigungsinstitut gründen, um für alle toten Tiere, die von niemandem mehr betrachtet werden, die besten Beerdigungen der Welt auszurichten. Im Laufe des Tages wird auf diese Weise eine Vielzahl von Tieren beerdigt. Aus dem ursprünglichen Spiel der Kinder wird Realität. Sie setzen sich nicht nur spielerisch mit Beerdigungen auseinander, sondern erfahren, woran die verschiedenen Tiere gestorben sind und setzen sich damit auseinander, wie ein jedes von ihnen ordnungsgemäß und angemessen beigesetzt werden kann. Dieses Bilderbuch bietet eine Fülle an diskursiven und präsentativen Symbolisierungen zur Frage einer würdevollen Beerdigung und ermöglicht eine kindgerechte Auseinandersetzung. Anschließend können die Kinder gefragt werden, was die Tiere nach der Beerdigung wohl machen. Die Vermutungen werden mit dem Ende der Geschichte verglichen: die Tiere spielen Fangen, sie freuen sich über die Sonne, das Leben und das Singen einer anderen Amsel. Es kann diskutiert werden, ob es in Ordnung ist, direkt nach der Beerdigung wieder zu lachen; es kann darüber nachgedacht werden, wie wichtig ist es, sich über das Leben, das der Frosch als »wunderschön« beschreibt, zu freuen. Philosophische Auffassungen von Montaigne und Nietzsche können hier angeschlossen werden. Ein wunderbares Buch für kleine Kinder über wichtige Aspekte des Todes, den Kreislauf des Lebens, die Wichtigkeit eines gelungenen und schönen Lebens, zu dem auch der Tod gehört. Eine Alternative zum diesem Themenkomplex bietet das Buch: »Gehört das so??! Die Geschichte von Elvis.«42 Ein kleines Mädchen trägt in einer knallroten Lackleder-Handtasche ihren toten Vogel Elvis und sucht verzweifelt nach Orten, um mit ihrer Trauer zu leben. Sich erinnern dürfen, ein bewusster Abschied, am Ende auch ein schön gestalteter Abschied helfen dabei, mit der Traurigkeit zu lachen. Dieses Buch eröffnet ähnliche Möglichkeiten wie »Was ist das? Fragt der Frosch«. Die Länge des Buches sowie die Gestaltung der Bilder eignen sich besser für etwas ältere Kinder.

41 Nilsson, Ulf/Eriksson, Eva: Die besten Beerdigungen der Welt. F/M 2009. 42 Schössow, Peter: Gehört das so? Die Geschichte von Elvis. München Wien 2005.

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3.2 Philosophieren mit dem Buch von Wolf Erlbruch: »Ente, Tod und Tulpe« Das Buch thematisiert das Sterben und den Tod einer Ente. Die Ente hat das Gefühl, jemand schleiche hinter ihr her. Es ist der Tod, der sie begleitet, und wie er ihr verrät, nicht erst jetzt, sondern schon ihr ganzes Leben lang. Zuerst ist die Ente erschrocken, aber der Tod lächelt sie an, ist sehr freundlich zu ihr und unternimmt einiges mit ihr. Das Buch von Wolf Erlbruch43 thematisiert mit jeder Doppelseite eine wichtige Facette im Kontext von Sterben und Tod und gibt zu verschiedenen philosophischen Reflexionen Anlass. Es enthält altersangemessene diskursive wie präsentative Ausdrucksformen: die Bilder vom Tod und der Ente sind einfach, groß und freundlich gestaltet; der Text auf jeder Seite besteht aus höchstens drei Sätzen. Der Tod ist gestaltet als freundliches Gespenst mit Totenkopf mit sehr großen Augenhöhlen. Aufgrund der kindlichen Gestalt wirkt er freundlich, fast schutzbedürftig. Das könnte ein Problem sein; möglicherweise führt die freundliche Gestaltung des personifizierten Todes dazu, dass die Kinder ihn sympathisch finden und sich zu ihm hingezogen fühlen. Jede Doppelseite bietet aufgrund der Offenheit der Texte und Bilder Möglichkeiten mit produktions- und handlungsorientierten, szenischen oder dialogischen Verfahren zu arbeiten. Deshalb bietet sich dieses Buch an, als Ganzes zum Philosophieren mit den Kindern eingesetzt zu werden. Zunächst wird, bevor die Geschichte startet, auf einer einzelnen Seite die Ente vorgestellt. Die Kinder können darüber reden, was die Ente für ein Tier ist, wie sie lebt, was sie braucht etc. Dann startet die Geschichte. Die erste Fragestellung könnte sein: »Der Tod gehört zum Leben – sich ein schönes Leben machen«? Die Ente dreht sich um; sie hat das Gefühl, jemand schleiche hinter ihr her. Es ist der Tod, der sie begleitet, die Tulpe hinter dem Rücken. Der Tod ist froh, endlich bemerkt zu werden; er lächelt die Ente an und ist sehr freundlich zu ihr. »Ich bin der Tod«; so stellt er sich vor. Anhand dieser ersten Doppelseite des Buches können die Kinder ein Bild malen oder einen Gedanken- oder Seelenleser der Ente ausfüllen und überlegen, wie es ihr nach dieser Ansprache und Begegnung wohl geht. Die Vorstellungen und das Vorverständnis der Kinder zum Tod können so offen ausgedrückt und deutlich werden. Die Ente ist zunächst erschrocken, fürchtet, vom Tod jetzt geholt zu werden. Aber der Tod erwidert ihr, er komme nicht jetzt plötzlich, um sie zu holen, sondern er sei schon ihr ganzes Leben lang in ihrer Nähe. Hier kann man mit den Kindern überlegen, wie der Tod das meint, er sei immer schon in der Nähe. Es kann problematisiert werden, ob das schlimm ist, wenn der Tod dauernd da ist. 43 Erlbruch, Wolf: Ente, Tod und Tulpe. München 2007.

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Dass der Tod unabdingbar mit dem Leben verknüpft ist und wir ihn nicht verdrängen, sondern mit ihm umzugehen lernen sollten, kann hier thematisiert werden. Er ist immer in der Nähe, nur »für den Fall«. Hier können die Kinder erzählen, in welchen Fällen der Tod kommt. Für Krankheiten, Unfälle, Schicksalsschläge sorgt das Leben dauernd, wirft der Tod ein: »Ich sage nur: Fuchs.« Die Ente bekommt eine Gänsehaut. An dieser Stelle kann man mit den Kindern überlegen, was die Ente aus dieser Ansicht lernen könnte, nachdem sie eine Gänsehaut bekommen hat. Die Kinder könnten Ideen entwickeln, wie die Ente ihr Leben, das sie ja noch hat, gestalten könnte. Das philosophische Argument, sein Leben gut zu gestalten, das »finale Argument«, kann ins Spiel gebracht werden. Dass Leben mit Achtsamkeit gestalten zu lernen ist eine wichtige traditionelle philosophische Perspektive, die hier auch mit einem kurzen philosophischen Zitat thematisiert werden kann. »Was kommt eigentlich nach dem Tod?« Der Tod unternimmt nun einige Abenteuer mit der Ente. Nach dem Gründeln im Teich ist dem Tod kalt, und die Ente wärmt ihn. Dieses starke und eindrucksvolle Bild vermag zunächst ohne den Text Anlass zum Philosophieren sein. Die Kinder können sich gegenseitig anschmiegen, »wärmen« und erleben, wie sich das anfühlt. Die Kinder können dann ihre Gefühle zum Ausdruck bringen und ihre Empfindungen in ein Bild umsetzen. Nach der Auswertung der Bilder kann der Satz ins Spiel gebracht werden: »Ein solches Angebot hatte ihm noch niemand gemacht.« Hier lässt sich besprechen, warum die Menschen den Tod üblicherweise nicht wärmen wollen, die Angst vor dem Tod und die Gründe dafür können offen gemacht werden. Heideggers Ideen vom eigentlichen Sein zum Tode könnten hier eingebracht werden. Das finale Argument von Wilhelm Schmid ist ebenso sehr instruktiv. Am nächsten Morgen ist die Ente recht glücklich, dass sie nicht gestorben ist. Sie fragt sich aber, was denn wäre, wenn sie nun gestorben wäre. An dieser Stelle könnten die Kinder Antworten formulieren, die sie der Ente geben würden. Erste Vorstellungen über das, was nach dem Tod kommen könnte, können hier vorgebracht werden. Die Ente hat schon Verschiedenes von anderen Enten gehört: »Manche Enten sagen, dass man zum Engel wird und auf einer Wolke sitzt und runter auf die Erde gucken kann. … Manche Enten sagen auch, dass es tief unter der Erde eine Hölle gibt, wo man gebraten wird, wenn man keine gute Ente war.« »Erstaunlich, was ihr Enten euch so erzählt« antwortet der Tod. Die Kinder können über die Vorstellungen vom Himmel, von Engeln und von der Hölle sprechen. Jenseitsvorstellungen aus anderen Kulturen, Religionen, er Philosophie können ergänzt werden.44 Die dritte Fragestellung lautet: 44 Siehe hierzu auch: Pfeiffer, Silke; Klager, Christian: Wirklich wahr? S. 56.

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»Wie schrecklich ist es zu sterben? – Kann ich das Sterben gut gestalten«? Der Tod und die Ente klettern auf einen Baum und sehen runter auf den Teich. Die Ente denkt: »So ist es also wenn ich tot bin … Der Teich – allein. Ganz ohne mich.« Die Kinder können die Gefühle der Ente angesichts dieser Erkenntnis, ausgehend von dem Bild, gestalten und eine kleine Szene entwickeln, in der die Ente und der Tod über diese Erkenntnis und die Gefühle, die sie auslöst, sprechen. Die Frage, ob der Mensch den Gedanken seines eigenen Todes überhaupt denken kann, kann im Anschluss an ein kurzes Zitat von Kant diskutiert werden. Der folgende Dialog im Buch kann angeschlossen werden. Das nahende Sterben wird auf den nächsten Seiten zum Ausdruck gebracht: die Ente spürt Unbehagen, ein schwarzer Rabe fliegt vorbei, die abenteuerlichen Unternehmungen werden weniger, stattdessen sitzen Ente und Tod meist schweigend im Gras. Dann, eines Abends, friert die Ente und möchte, dass der Tod sie ein bisschen wärmt. Beide stehen sich, Hand in Hand gegenüber und schauen sich tief in die Augen. An dieser Stelle können die Kinder selbst Hand in Hand stehen, sich in die Augen blicken und erleben, wie dieser Kontakt sich anfühlt. Die Gefühle der Kinder werden besprochen. Dann können sie antizipieren, was im Folgenden wohl in der Geschichte passiert. Sie können ein Ende für die Geschichte erfinden durch die Aufgabe, selbst noch Doppelseiten zu erfinden und zu gestalten. Diese Vorschläge der Kinder lassen sich vorstellen, auswerten und diskutieren.. Anschließend werden wichtige Aspekte, die von den Kindern eingebracht werden, mit dem Ende des Bilderbuches verglichen. Die Frage, ob das Sterben, dem wir ja nicht entgehen können, so gestalten werden kann, das es möglichst wenig schrecklich ist, kann mit den Kindern erörtert werden. Die vierte Fragestellung lautet: »Was ist tot sein? Wie gehen wir mit Verstorbenen gut um?« Die Ente stirbt. Hier kann die Frage aufgeworfen werden, was das genau ist: tot sein. Die ganze Zeit war der Tod als Begleiter schon da, aber nun ist die Ente tot, sie atmet nicht mehr und bewegt sich nicht mehr. Die biologischen Anzeichen können mit den Kindern gesammelt werden: kein Herzschlag mehr zu fühlen, es ist keine Atmung zu bemerken, der Körper ist kalt und steif. Verschiedene Auffassungen zum Tot-Sein, körperbiologische oder hirnbiologische Kriterien können problematisiert werden. Das Wesen ist tot – was geschieht nun mit ihm? Die Frage nach einer angemessenen Bestattung kann aufgeworfen werden. Erfahrungen der Kinder mit Beerdigungen fänden hier Platz. Das Buch: »Die besten Beerdigungen der Welt« kann dazu genutzt werden, Formen von würdigen Beerdigungen mit viel Humor zu besprechen. Man kann mit den Kindern auch einen Friedhof besuchen und Blumen auf Gräber legen. Interessant ist zudem ein Besuch eines Bestatters. Dort können sich die Kinder in einen Sarg legen und ausprobieren, ob der gemütlich genug ist, um dem Verstorbenen würdige Ruhe zu gewähren. Diese vielleicht für Erwachsene befremdlich und bizarr anmutende Erfahrung ist für junge Kinder

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spannend, und sie können auf der Basis ganz praktischer Erfahrungen überlegen, wie es Verstorbenen weiterhin »gut gehen« könnte. Der Tod trägt die Ente zum großen Fluss, legt sie behutsam aufs Wasser, legt ihr die Tulpe auf den Körper und schubst sie vorsichtig an. Die Bedeutung der Tulpe kann mit den Kindern erörtert werden. Sie blüht vor allem im Frühling, rund um Ostern. Die Bedeutung des Osterfestes, die Idee der Auferstehung, des Neuanfangs kann thematisiert werden. Man kann mit den Kindern überlegen, ob es vielleicht notwendig ist, dass etwas zu Ende geht, damit Neues entstehen kann. Auf dem letzten Bild steht der Tod allein am Fluss, die Ente ist nicht mehr zu sehen. Der Tod ist fast ein wenig betrübt. »Aber so war das Leben«. Dieses eindrucksvolle Bild kann, zunächst ohne den Text, gedeutet werden: Wofür steht der Fluss, dessen Ende wir nicht sehen können? Wo ist die Ente? Wie geht es dem Tod, was mag er denken und fühlen? Der Text kann anschließend hinzugenommen werden: Was heißt das: »Aber so war das Leben«? Was will uns der Erzähler damit sagen? Die Kinder können eine Collage gestalten zum Thema: »Wie ist das Leben?« Was gehört alles zum Leben? Die Werke werden wie in einer Galerie ausgestellt und allen zugänglich gemacht. Die verschiedenen Vorstellungen werden diskutiert. Daran anschließend kann ein Gespräch darüber stattfinden, was jeder und jede für sich tun kann, um sein Leben, gerade weil es begrenzt ist, zu einem schönen Leben zu machen. Auch hier können kurze philosophische Aphorismen von Epikur, Montaigne, Wilhelm Schmid in die Reflexion einbezogen werden. Weitere Möglichkeiten im Anschluss an dieses Buch sind die Gestaltung einer dreidimensionalen Bühne und der Figuren Tod, Tulpe und Ente, die Gestaltung von Stabpuppen und eines Stabpuppen-Theaters sowie die konkrete Arbeit mit dem Fluss. Man kann den Fluss auf Papier auslegen und gestalten oder einen echten Fluss aufsuchen. Auf der einen Seite, an einem Ufer werden die Vorstellungen, die mit dem Tod zu tun haben, abgelegt, auf der anderen Seite Vorstellungen, die mit dem Leben zu tun haben.45 Man kann so mit den Kindern anschaulich überlegen, was, angesichts des Todes, im Leben geschehen kann oder sollte. Eine Alternative zu »Ente, Tod und Tulpe« bietet das Buch: »Der Besuch vom kleinen Tod«46, in dem der Tod ebenfalls als freundlicher Begleiter der Menschen dargestellt wird. Er holt aber kein Tier, sondern ein sterbendes Kind ab. Auch in diesem Bilderbuch ist der Tod personalisiert; er ist dargestellt als kindlicher, freundlicher und fürsorglicher Sensemann. Trotz der Freundlichkeit und Fürsorglichkeit haben alle Angst vor seinem Kommen, bis auf Elisewin. Sie freut sich, denn der Tod erlöst sie von Krankheit und Schmerzen. Die beiden freunden sich 45 Arbeitskreis für Jugendliteratur e.V., www.jugendliteratur.org. 46 Crowther, Kitty: Der Besuch vom kleinen Tod. Aus dem Französischen von Maja Vogel. Hamburg 2011.

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an und verbringen eine gewisse Zeit miteinander, bis Elisewin aus dem Totenreich zu den Engeln geht. Zunächst ist der kleine Tod sehr traurig, aber dann kommt Elisewin als Engel wieder zurück zu ihm. Nun holen beide Hand in Hand die Sterbenden ab, und diese haben keine Angst mehr. Dieses Buch ist eher geeignet für etwas ältere Kinder, die den Tod von Menschen schon begreifen und sich mit dem Tod von Kindern auseinandersetzen können.

3.3 Philosophieren mit dem Buch von Amelie Fried und Jacky Gleich: »Hat Opa einen Anzug an?« Mit dem Buch »Hat Opa einen Anzug an?«47, das sich für Kinder ab vier Jahren eignet, können ebenfalls verschiedene mit dem Tod verbundene Vorstellungen, Fragen und Hoffnungen angesprochen werden. Der Tod des geliebten Opas, der mit seinem Anzug und den Anzugsschuhen im Sarg liegt, wirft für den kleinen Bruno wichtige Fragen auf: »Wo ist Opa, im Himmel oder auf dem Friedhof ? Ist die Seele das, was Bruno an Opa liebt? Sind die Seelen im Himmel lebendig? Wie viele Seelen passen in den Himmel? Was bedeutet es tot zu sein? Kann Opa durch den kleinen Cousin wieder zurück kommen?« Nach dem Tod des Opas ist für Bruno die Zeit wie stehengeblieben. Erst ganz allmählich kehrt sein gewohntes Leben zurück. Bruno besucht seinen Opa auf dem Friedhof, pflegt sein Grab und schaut sich ein Foto an, auf dem der Großvater lacht. Wenn der Großvater dort glücklich ist, wo er jetzt ist, darf auch Bruno, so beschließt er selbst, auch wieder ein kleines bisschen glücklich sein. Das Bilderbuch erzählt die Geschichte Brunos, der begreift, dass sein Opa gestorben ist und nie mehr zurück kommt, ihm nicht das Angeln beibringen und ihn trösten kann. Zunächst reagiert Bruno mit Wut und Unverständnis und kann nicht verstehen, wieso Opa ihn allein lässt. Langsam verwandelt sich seine Wut in Trauer und zuletzt in schöne Erinnerungen, die immer weniger schmerzen. Ausgangspunkt für das Philosophieren schafft schon die erste Illustration. Es beginnt durch eine phänomenologische Beschreibung des Bildes. Ein Paar riesengroße Schuhe ragt über ein Stück Holz hinaus, der Kopf eines kleinen rothaarigen Jungen versucht über die Kante zu schauen, versucht zu sehen, was sich dahinter verbirgt und das auch seinem kleinen Hund zu zeigen. Die Holzkante trennt zwei Welten; zwar ragen die Schuhe über die Holzkante hinaus, aber der Junge sieht nur ihre Unterseite. Die Atmosphäre ist durch die dunkle Farbgestaltung düster und geheimnisvoll; sie wirkt dunkel und Angst einflößend. Bruno steht hilflos vor dieser ihm fremden Welt, seine Arme in die Luft gestreckt, Augen und Mund weit geöffnet. Die Frage schließt sich an, was Bruno dort sehen will und 47 Fried, Amelie; Gleich, Jacky: Hat Opa einen Anzug an? München 1997. Ein paar Unterrichtsideen zu diesem Buch finden sich in Pfeiffer, Silke; Klager, Christian: Wirklich wahr? Philosophieren mit Kinderbüchern. Leipzig 2011. S. 57–59.

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wird. Die Bedeutung der zwei getrennten Welten kann erschlossen werden: stehen sie für Leben und Tod, oder für »im Hier- und Jetztsein und Fort-Sein«? Die Kinder könnten einen Titel für das gesamte Bild oder für die beiden dargestellten Welten finden. Brunos Gefühle, die durch seinen Gesichtsausdruck anschaulich werden, könnten von den Kindern visualisiert werden. Anschließend kann darüber gesprochen werden, welche Gefühle die Erfahrung der Trennung auslöst und wie man mit ihnen umgehen kann. Fragen, was nach dem Tod passiert, der Tod des Körpers und der Tod der Person können thematisiert werden durch die Aufnahme der Verbindung von Text und Bild. Xaver sagt nämlich, »Opa ist von uns gegangen«. Das kann Bruno nicht bestätigten, er sieht ja den Opa, er liegt vor ihm, zwar sieht er ihn nicht ganz, aber doch seine Anzugsschuhe. Demnach war Opa »kein bißchen davongegangen«. Dieses Wortspiel kann für das Philosophieren fruchtbar gemacht werden: was heißt »von uns gegangen«? Wohin könnte der Opa gegangen sein? Hier könnten die Vorstellungen der Kinder zu einer Existenz nach dem Tod Platz finden. Sie könnten ein Bild malen, das ihre jeweils eigene Vorstellung zum Ausdruck bringt. Diese werden anschließend vorgestellt und diskutiert. Die Vorschläge der Kinder können dann ergänzt werden mit einem Deutungsangebot aus dem Buch: Brunos Tante Mizzi bekommt ungefähr ein Jahr nach dem Tod des Opas ein Baby. Brunos Mama ist ganz gerührt beim Anblick des Babys und sagt: »Vielleicht ist ja Opa zu uns zurück gekommen.« Man könnte an dieser Stelle mit den Kindern überlegen: was meint die Mutter mit ihrem Satz? Ist sie der Auffassung, etwas von Opa ist, aufgrund ähnlicher Gesichtszüge zurückgekommen? Oder ist ein Teil seiner Seele in dem Baby zu sehen, oder ist gar seine ganze Seele wieder geboren worden? Bruno denkt kurz nach über die Möglichkeit Opa sei wieder gekommen, schließt dann aber nach genauer Betrachtung des Kindes diese Möglichkeit aus: »Der Opa hatte einen Anzug an und die schwarzen Schuhe«. Die Idee der Wiedergeburt, die auch noch einmal vom Vater formuliert wird (»Manche Menschen glauben, dass die Seelen in einem neuen Körper wieder auf die Welt kommen«) könnte an dieser Stelle thematisiert werden. Für Kinder ist diese Idee faszinierend; spielerisch versetzen sie sich gerne in andere Personen oder probieren aus, in eine andere Rolle geboren worden sein. Dieser Ausschnitt der Geschichte könnte dementsprechend in eine kleine Szene transformiert werden, in der auch das Baby und der Opa selbst auftreten. Die Idee der Wiedergeburt könnte so für die Kinder anschaulich werden. Anschließend könnte das Spiel ergänzt werden um Perspektiven aus der buddhistischen Philosophie sowie Jenseitsvorstellungen anderer Religionen und Kulturen. Eine Diskussion über das Leib-Seele-Problem und das, was die Seele ist, kann folgen. Opa kann nur auf dem Friedhof und im Himmel zugleich oder seine Seele in einem anderen Körper sein, wenn man von der Trennung von Leib und Seele ausgeht. Diese für kleine Kinder nur schwer nachzuvollziehende Auffassung sollte vorsichtig und altersgerecht angesprochen werden. Im Buch unterstellt die Mutter, dass Bruno das Problem der Trennung von Leib und Seele und auch, was

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die Seele ist, noch nicht versteht. Sie will die Frage von Bruno abwenden. Auf dem dazu gehörenden Bild erscheint die Mutter riesengroß, und Bruno sieht ganz klein und fragend aus. Die Mutter streicht ihm über den Kopf und schaut äußerst zweifelnd. Man könnte an dieser Stelle Brunos Frage vorlesen: »Wie kann der Opa gleichzeitig auf dem Friedhof sein und im Himmel?« Dann zeigt man den Kindern das Bild und lässt sie aus der Perspektive der Mutter antworten. Die Kinder können der Mutter einen Gedankenleser auf den Kopf setzen und in den Gedankenleser malen oder schreiben, was die Mutter wohl antwortet. So kommen verschiedene Antwortmöglichkeiten und eventuell auch Auffassungen zur Trennung von Seele und Körper zum Ausdruck. Diese können verglichen werden. Anschließend kann verraten werden, dass die Mutter die Frage zu schwierig findet für Bruno. »Das verstehst Du noch nicht«. Die Kinder können bewerten, wie sie die Auffassung der Mutter finden und Gründe dafür angeben, ob die Frage wirklich zu schwierig ist oder nicht. Diese Einschätzungen können kontrastiert werden mit der Auffassung Brunos: Der nämlich wehrt sich dagegen und sagt: »Das verstehe ich schon. Du musst es mir nur erklären.« Die Kinder können einen Brief an die Mutter schreiben oder ein Streitgespräch spielen zwischen der Mutter und Bruno. Kleinere Kinder, die zumeist dem Sichtbaren und Körperlichen mehr verbunden sind, stellen oft, wie auch Bruno es tut, die Frage, wie viele Seelen eigentlich in den Himmel passen und entwickeln die Angst, dass ausgerechnet ihre Seele nicht mehr hinein passen könnte. Ausgangspunkt der weiteren Reflexion über die Seele könnte dann Brunos eigene Seelenvorstellung sein: »Ist die Seele das, was ich am Opa lieb habe?« Die Kinder könnten über diesen Gedanken nachdenken. Bruno will auch wissen, ob die Seele im Himmel eigentlich lebendig ist; der Vater schlägt vor, dass der Opa in der Erinnerung weiter lebt; die Mutter erlebt für sich das Weiterleben des Opas, indem sie Ähnlichkeiten in der nachfolgenden Generation sieht. Diese verschiedenen Perspektiven können in die Auseinandersetzung eingebracht und um philosophische sowie religiöse Deutungen ergänzt werden. Auch die Bedeutung des Beerdigungsrituals kann mit diesem Bilderbuch angesprochen werden. Die Auseinandersetzung kann beginnen mit der zweiten Illustration des Buches und der witzigen Sprachassoziation von Bruno, der zuhört, wie seine Eltern überlegen, ob er mit zur Beerdigung darf: »Beerdigung« klingt so ähnlich wie »Begradigung«. Wenn man also mit Begradigung meint, etwas gerade zu machen, dann muss Beerdigung heißen, aus etwas Erde zu machen. »Wie aus Opa Erde gemacht werden sollte, das musste Bruno unbedingt sehen.« Auf der Illustration sieht Bruno, da er hoch gehalten wird, den Opa im Sarg liegen, mit geschlossenen Augen, im Anzug, die Hände gefaltet, so dass er glaubt, dass Opa nur schlafe. Die Kinder können darüber diskutieren, was Bruno machen sollte: mitgehen zur Beerdigung oder nicht; sie sollten Gründe angeben für ihre Entscheidung. Als einer der Sargträger eine kleine Panne hat und mit seinem schicken Trachtenschuh in eine Pfütze stampft, muss Bruno lachen. Die Leute

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schimpfen ihn aus und signalisieren, er solle still sein. Die Szene ist auf dem zum Text gehörigen Bild eindringlich illustriert. Über diese Wertung können die Kinder nachdenken: Warum darf man auf der Beerdigung nicht lachen? Findet ihr das richtig? In anderen Ländern gibt es andere kulturelle Haltungen. So wird zum Beispiel in Mexiko anders reagiert: Der Tod ist ein Anlass zu einem Fest am Grab des Verstorbenen. Es wird dort der Beerdigungskaffee getrunken; alle sind jetzt froh, lachen wieder, erzählen lustige Geschichten. Warum dürfen die das jetzt, obwohl Bruno auf der Beerdigung nicht lachen durfte? Ist das gut, die Fröhlichkeit nach dem Abschied? Um seine Trauer zu bewältigen, ist für Bruno ein Moment des Alleinseins wichtig, in der Umgebung sein, in der Opa lebte, etwas von ihm festhalten, einfach nur lange aus dem Fenster sehen. Seine Trauer entwickelt sich von Wut über Traurigkeit und Schmerz zu Erinnerung und dem Gedanken wieder glücklich werden zu dürfen. Man kann mit den Kindern über verschiedene Formen zu trauern und den Prozess des Trauerns sprechen. Eine wichtige Frage ist: Sollte es Vorschriften dafür geben, wie und wie lange jemand trauert? Ein weiterer Gesichtspunkt ist die Frage, wer eigentlich Trost braucht und wie man Menschen trösten kann, die jemand verloren haben. Bruno wird auf verschiedene Arten getröstet: man streichelt ihm über den Kopf, er bekommt ein Foto von Opa in einem Rahmen geschenkt, er erbt ein für seinen Opa wichtiges Erinnerungsstück aus seinem Leben, ein kleines Holzschiffchen. Bei der Trauerrede des Pfarrers am Grab weint Brunos Papa. Er fragt: wer tröstet die Erwachsenen? Auch der Gedanke des carpe diem kann mit diesem Bilderbuch angesprochen werden. Als Bruno wissen will, wann er stirbt, antwortet der Vater mit einem Zitat der Indianer. Er sagt es sei nicht wichtig den Zeitpunkt des Todes zu wissen, denn viel wichtiger sei deren Weisheit: »Lebe jeden Tag, als könnte es Dein letzter sein«. Die Worte gefallen Bruno, obwohl er sie nicht so ganz versteht. Gefallen diese Worte Euch auch? Wieso sollte man jeden Tag so leben, also wäre es der letzte? Was würdest Du tun an diesem Tag? Möchtest Du ewig leben? Was spricht dafür, was dagegen? Beim Beerdigungskaffee fragt sich Bruno, warum man nicht zu Opas Lebzeiten ein so schönes Fest gefeiert hat. Wäre das besser gewesen? Ein zwar, vor allem durch die Bilder eher düsteres und dunkles Buch, das aber aus philosophischer Sicht viele relevante Fragen der Kinder zum Thema Tod aufwirft, sehr viele verschiedenen Deutungsvorschläge anbietet und daher eine facettenreiche Fundgrube für das Philosophieren mit Kindern darstellt.

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3.4 Philosophieren mit dem Buch von Kai Lüftner und Katja Gehrmann: »Für immer« In diesem Bilderbuch48 geht es um den Abschied des kleinen Jungen Egon, dessen Vater gestorben ist. Auf dem Weg zum Kindergarten scheint von außen betrachtet alles wie immer zu sein, aber für Egon ist »nichts mehr, wie es war«. Er nennt sich einen »Zurückgebliebenen«, aber nicht im Sinne von Dummheit. Vor dem Krankenbett seines Vaters bastelt er einen Drachen, auf der nächsten Seite ist er allein zu sehen mit seinem Drachen in der Hand. An dieser Stelle kann man mit den Kindern darüber nachdenken, was Egon zugestoßen ist. Die Leerstelle ».. aber nicht so, wie ihr denkt« kann genutzt werden: Was denkt Ihr, was ist Egon passiert? Wenn die Kinder vermuten, dass der Vater gestorben ist, kann überlegt werden: Wieso ist der Vater wohl gestorben? Warum ist nichts mehr wie immer? Inwiefern ist er ein Zurückgebliebener? Die nächsten Bilder veranschaulichen die Gefühle von Egon: er steht auf dem Friedhof vor dem Grab seines Vaters, seinen Drachen unter dem Arm. Die Kinder könnten, ausgehend vom Gesichtsausdruck Egons ein Bild malen zur Frage: Wie mag es Egon gehen? Von unten aus der Erde, in der der Sarg verschwunden ist, sehen wir Egon, der in das tiefe erdige Loch schaut. Hinter ihm steht seine Mutter, ein Eichhörnchen schaut von der anderen Seite ins Grab. Egon formuliert seine Antwort: »Zurück bleiben die, die jemand verloren haben. Für immer«. Dieses mutige Bild drückt die Erfahrung aus, dass Egon in diesem Moment spürt, dass er Abschied nehmen muss, nicht vorüber gehend, sondern dass er einen Verlust erleidet, der für immer ist. Die Tiefe und das Dunkle des Schmerzes, das Für-Sich-Sein mit dem Schmerz, auch wenn andere dabei sind, werden zum Ausdruck gebracht. Ein phänomenologisches Herangehen ist an dieser Stelle angezeigt. Wie lang ist »für immer«? Wie fühlt sich das für Egon an? Die Kinder könnten ein Bild malen, in dem zum Ausdruck gebracht wird, wie Egon sich fühlt. Die Frage schließt sich an, ob und wie man Egon in dieser Situation Trost spenden kann. Daran anschließend können die Kinder Vermutungen anstellen darüber, wie Egon mit dem Verlust und der Traurigkeit umgeht und welche Erfahrungen er dabei macht. Es gibt keine Tabletten und keine Reise ins Glück. »Für immer« fühlt sich an wie das Laufen durch unendliche lange Schlangen wie in einem Labyrinth, aus dem man nicht mehr heraus kommt. Das Bild aus dem Bilderbuch kann mit den Bildern der Kinder verglichen werden. Die Menschen benehmen sich fremd zu einem, sie flüstern, schauen komisch und wissen nur seltsame Sachen zu fragen. Oder sie lachen, spaßen zu laut und zu lustig, so dass Egon sich fast schämen muss. Diese Erfahrung der Tabuisierung von Sterben und Tod, die Überforderung vieler Menschen im Umgang damit könnte auch zum Thema gemacht werden: Warum trauen sich die Menschen nicht, offen 48 Lüftner, Kai; Gehrmann, Katja: Für immer. Weinheim Basel 2013.

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mit Egon zu sprechen? Wovor fürchten sie sich? Heideggers Analyse des eigentlichen Seins zum Tode könnte hier zur Sprache gebracht werden. Egon mag diese ausweichenden Menschen nicht, das weiß er genau, obwohl er sonst nicht weiß, was er im Moment mag. Wie mag es Egon gehen, der sich von seinem Vater für immer verabschieden musste und nun so viele Menschen trifft, die sich nicht trauen, über den Verlust mit Egon zu sprechen, ihn zu trösten? Egon fühlt sich, als ob er fällt, immer weiter, immer weiter fällt. Die meisten Menschen wissen gar nicht, was sie tun sollen; sie sind komplett sprachlos. Egon hat ein gewisses Verständnis dafür: es ist schwer darüber zu sprechen, dass Papa für immer weg ist. Die Kinder könnten an dieser Stelle nach antikem Vorbild einen Trostbrief an Egon schreiben und überlegen, was ihm gut tun würde: in den Arm genommen zu werden oder mit ihm zu weinen? Gibt es überhaupt Trost für einen Verlust für immer, vor allem für den Abschied vom Vater, der sich »viel schlimmer anfühlt als der Abschied von Ferdinand«? Hier könnten die Kinder Vermutungen anstellen, wer Ferdinand ist, warum der Verlust des Vaters noch so viel schlimmer ist und welche Möglichkeiten Egon hat, mit seiner Traurigkeit umzugehen. Sie können überlegen, ob Papa wirklich ganz weg ist, oder ob er Egon doch nahe sein kann. Die Mama von Egon sagt, es wird weitergehen. Egon weiß, Papa ist bei ihm, nicht nur auf einem Foto oder in seinem Herzen, nein, sondern dadurch, dass er selbst ein Stück Papa ist, und auch das für immer. Dieser Gedanke tröstet Egon, der am Ende mit seinem Drachen auf der Wiese steht und ihn in den Himmel steigen lässt. Die anthropologische Grundfrage: Was zeichnet einen Menschen nach seinem Tod aus, wie ist Weiterleben – ohne Jenseitsvorstellungen – zu denken, die Idee von Generativität kann weiter ausgestaltet werden mit dem Buch: »Leb wohl, lieber Dachs«.49 Der Dachs, der keine Angst vor dem Sterben hat, lebt weiter, indem er all seine wichtigen Eigenschaften und Fähigkeiten an seine Freunde weitergegeben hat. In der Erinnerung und der weiteren Gestaltung der »vererbten Eigenschaften«, durch seine Freunde kann der Verstorbene weiter leben. Ebenso kann Egon, mit dem Teil seines Vaters, den er für immer in sich tragen wird, im Kontakt mit ihm, symbolisiert durch den Drachen, sein weiteres Leben gestalten. Ein erfahrungsreiches Buch über den Tod als Ende des Lebens, als Ab-schied für immer, über die Schwierigkeit des Teilens von Traurigkeit und Schmerz, die Bedeutung von vertrauensvollen Beziehungen und die Kraft des Glaubens an die eigene Stärke. »Für immer« – ein mutiges und wunderbares Buch.

49 Varley, Susan: Leb wohl, lieber Dachs. Wien / München 2009.

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3.5 Philosophieren mit dem Buch von Marit Kaldhol: »Abschied von Rune« »Abschied von Rune«50, verfasst von Marit Kaldhol und mit 24 Bildern illustriert von Wenchen Oyen, erzählt die einschneidende und dramatische Geschichte von Sara, die Abschied nehmen muss von ihrem besten Freund Rune, mit dem sie fast jeden Tag gespielt hat. Rune ertrinkt eines Tages beim gemeinsamen Spielen am und auf dem Wasser. Sara steht am Ufer, kann nichts tun, sieht den Körper von Rune bewegungslos auf dem Wasser treiben. Rune ist tot; und Sara lebt mit dem Verlust ihres besten Freundes weiter. Dieses einschneidende, schmerzhafte und unfassbare Erlebnis ist in diesem Buch für Kinder in aller Deutlichkeit, und sogleich in aller Behutsamkeit, dargestellt. Thematisiert werden die Fragen und Gefühle, die Sara nach dem Geschehen beschäftigen und überwältigen, vor allem die Frage, wie der Verlust des besten Freundes überhaupt auszuhalten ist. Einfühlsam werden in diesem Buch säkulare Antwortmöglichkeiten gegeben, die weder religiöse noch metaphysische Hoffnungsperspektiven eröffnen, sondern die Erinnerung, vor allem auch den Trost durch andere und das Gehaltenwerden von anderen stark machen und durch eindrückliche Bilder zum Ausdruck bringen. Eine Auseinandersetzung mit fünf zentralen Fragen zum Thema »Sterben und Tod« kann anhand von fünf Bildern des Buches und mittels der Methoden des Fünf-Finger-Modells51 umgesetzt werden.52 Die erste Frage lautet: »Warum müssen wir sterben; warum gibt es den Tod?« Existenzielle Wandlungserfahrungen werden thematisiert. Im Bilderbuch, auf einer Seite, ist links der leblose, im Wasser treibende Rune so dargestellt, dass man nur seinen roten Pullover zwischen den Steinen sieht. Die Wolke am Himmel ist genauso rot wie dieser Pullover Runes. Auf der rechten Seite sieht man Saras Entsetzen im Gesichtsausdruck. Die Kinder können an das Bild, auf dem Runes Unfall dargestellt ist, analytisch und phänomenologisch herangehen: die Analyse des Aufbaus und der Farbsymbolik kann zur Diskussion über die mögliche Aussage des Bildes führen. Eine anschließende phänomenologische Herangehensweise kann folgende Fragen evozieren: Warum sterben Menschen? Welche Menschen sterben? Was passiert, wenn man tot ist? Was macht man, wenn man tot ist? Woran sterben Menschen? Die Fragen können im Plenum besprochen werden. Instruktiv ist es auch, mit den Kindern ein Interview vorzubereiten, das sie mit den Eltern, anderen Verwandten oder Freunden führen können. Die Er50 Kaldhol, Marit: Abschied von Rune. Hamburg 1987. 51 Wiesen, Brigitte: Mit Bildern philosophieren – aber wie? In: ZDPE Heft 2/2003. S. 130–137. 52 Entwickelt wurden diese Ideen von den Studierenden Laura Schürmanns, AnnKathrin Tinnefeld und Sarah Quade im Kontext eines Seminars zum Philosophieren mit Bilderbüchern im Sommersemester 2011 am Philosophischen Seminar der WWU Münster.

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gebnisse werden in der Lerngruppe vorgestellt und diskutiert. Eine dialektische, kritische Auseinandersetzung mit verschiedensten Antwortmöglichkeiten wird realisiert. Die zweite Frage beschäftigt sich mit Gebräuchen und Ritualen im Umgang mit toten Menschen und den Möglichkeiten, von ihnen Abschied zu nehmen. Hintergrund dafür ist das Bild, auf dem Runes Begräbnis dargestellt ist. Runes Eltern umarmen sich vor dem offenen Grab, Sara spricht mit Runes Schwester, der Priester und weitere schwarz gekleidete Menschen sind zu sehen. Das Bild bringt eine düstere Stimmung zum Ausdruck. In einem ersten Schritt können die Kinder zunächst selbst Vorschläge machen zur Frage: Wie verabschiedet man sich angemessen von einem Verstorbenen? Sie könnten ihre Antworten auf Kärtchen malen oder schreiben. Interkulturelle Antwortmöglichkeiten haben hier ihren Platz und können in die Deutung einbezogen werden. Die Antworten der Kinder werden gemischt, einige werden ausgewertet; die Anonymität der Kinder ist gewahrt, wenn sie das wollen. Die Bildbetrachtung kann wieder analytisch oder phänomenologisch geschehen: wie ist die Farbgestaltung, was löst die Farbgestaltung für Gefühle aus? Wann ist eine Beerdigung »würdevoll«, angemessen? Für die hermeneutische und dialektische Weiterarbeit eignet sich die Einbeziehung des Kinderbuches: »Die besten Beerdigungen der Welt«53. Zudem könnte man mit den Kindern Todesanzeigen analysieren oder gestalten. Spannend ist für sie auch der Besuch eines Bestatters und seiner Räumlichkeiten. Die Kinder interessieren sich sehr dafür, was mit dem Toten geschieht; eine Rundführung durch ein Bestattungsunternehmen ermöglicht ihnen Einblicke, die sie sonst nirgendwo gewinnen können. Die Kinder können auf der Basis ganz praktischer Erfahrungen überlegen, wie es Verstorbenen weiterhin »gut« gehen kann. Die dritte Perspektive wirft die im Buch zentrale Frage auf, welche Gefühle der Tod eines geliebten Menschen auslöst. Auf dem Bild, auf dem Sarah gerade verstanden hat, dass mit ihrem Freund Rune etwas sehr Schreckliches passiert ist, wird ihre Traurigkeit und ihr ohnmächtiges Aufgelöstsein in einer Großdarstellung gezeigt. Die Kinder können, wiederum zunächst phänomenologisch, das Bild beschreiben und die Gefühle, die Sara beherrschen, darlegen. In einer anschließenden Kleingruppenphase können sie, mit Mitteln der szenischen Darstellung, eine Situation gestalten, in der die Gefühle Saras »aufgefangen« werden. Die Aufgabe könnte lauten: Stellt Euch vor, Ihr seid Freunde bzw. Freundinnen von Sara und ihr wisst, dass ihr Sara heute Nachmittag treffen werdet. Wie begegnet ihr Sara? Gestaltet ein Standbild oder eine Situation mit verschiedenen Rollen. Die szenischen Darstellungen werden vorgestellt und ausgewertet. Das Recht, traurig zu sein, dem Gefühl der Traurigkeit Raum geben zu dürfen, kann thematisiert werden. Anschließen könnte sich die Auseinandersetzung mit Ritualen anderer Gesellschaften, vor allem auch solcher, in denen die Toten in einem fröhlichen Fest gefeiert werden. Die Frage, ob man nicht mehr lachen darf, wenn jemand 53 Nilsson, Ulf/Eriksson, Eva: Die besten Beerdigungen der Welt. F / M 2009.

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gestorben ist, kann aufgeworfen werden. Die spezifische Weise von Kindern zu trauern, nämlich wie in eine Pfütze zu springen und wieder hinaus, kann thematisiert werden. Die vierte Perspektive stellt die Frage: Was kommt eigentlich nach dem Tod? Im Buch finden wir die für Kinder recht krasse Antwort, dass Rune für immer, ganz still und ganz allein, und ohne noch jemals Schmerzen zu spüren, unten in der Erde liegen wird. Im Bilderbuch folgen zwei Bilder, die den Winter visualisieren und die einzigen sind, die schwarzweiß gestaltet sind. Auf dem rechten Bild sieht man das Himmelsgewölbe, den Mond, drei ganz kleine Häuser, alles sehr verschwommen. Diese Bild kann man zum Anlass nehmen, darüber nach zu denken, was nach dem Tod kommt. Die Kinder schauen sich dieses ausdrucksstarke Bild, das selbst nichts verspricht, in aller Ruhe und in stiller Betrachtung an. Sie beschäftigen sich dabei mit der Frage, ob »etwas« und »was« nach dem Tod kommt. Ihre Assoziationen verarbeiten sie anschließend, in dem sie selbst ein kleines Werk schaffen, in dem sie ihre Vorstellungen zum Ausdruck bringen, die sie auch anderen erklären können. Sie können malen, eine Collage erstellen, einen Text scheiben etc. Die Werke werden wie in einer Kunstgalerie ausgestellt und allen zugänglich gemacht. Die verschiedenen Vorstellungen, die auch interkulturelle Perspektiven eröffnen, können ausgewertet und diskutiert werden. Die Auseinandersetzung mit philosophischen Gedankensplittern kann sich anschließen. Vor allem bietet sich die materialistische Perspektive Epikurs an, die im Bilderbuch angedeutet wird. Die letzte und im Buch zentrale Perspektive beschäftigt sich mit der Bedeutung von Trost, Trösten, Getröstet-Werden. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie man überhaupt Trost finden kann, wenn jemand Nahestehendes gestorben ist und man möglicherweise nicht daran glaubt, dass der Verstorbene weiter lebt. Das Thema »Trost« ist durch ausdrucksstarke Bilder gestaltet. Nach dem Unfall hält die Großmutter Sara, lässt sie weinen, streichelt sie und spricht sanft mit ihr. Als Sara versteht, dass Rune nie wieder kommt, zu Erde wird, nie mehr mit ihr spielen wird, hält ihre Mutter sie im Arm und lässt sie weinen. Zunächst können die Kinder Geschichten dazu erzählen oder ein Bild malen, wie sie selbst schon einmal getröstet worden sind oder jemanden getröstet haben, dem es schlecht ging oder der sehr traurig war. In der Präsentation werden vielfältige und individuelle Erfahrungen und Bedürfnisse vorgestellt. Alternativ dazu könnte auch hier ein Trostbrief an Sara geschrieben oder eine Szene entwickelt werden, in der zum Ausdruck gebracht wird, wie man selbst am Liebsten getröstet wird. Die Darstellung im Bilderbuch, in der Sara von ihrer Mutter in den Arm genommen wird und durch die schweigende Umarmung Trost erhält, schließt sich an. Mittels phänomenologischer als auch hermeneutischer Verfahren wird das Bild in Kleingruppen einem stummen Schreib- bzw. Mal-Gespräch interpretiert. Die Kinder kommentieren malend oder schreibend auf einem Placemat das in der Mitte abgedruckte Bild. Nach einer gewissen Zeit wird das Placemat gedreht, und die Kinder beschäftigen sich mit dem Kommentar ihres Vorgängers. Der Vorgang

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wird, ohne dass gesprochen wird, so lange wiederholt, bis alle Gruppenmitglieder alle spontanen Kommentare gesehen und darüber nachgedacht haben. Eigene Gefühle und Bewertungen kommen so zum Ausdruck, über die anschließend im Plenum gesprochen werden kann. Auch das vorletzte Bild, auf dem sich Sara auf dem Gepäckträger an die Mutter anschmiegt, nachdem sie das Grab von Rune besucht haben, macht die Bedeutung von menschlicher Nähe stark und kann in die Reflexion einbezogen werden. Ein behutsames Buch über den Tod als Ende des Lebens, als Ab-schied für immer, über die Bedeutung von liebevollen Beziehungen und die Kraft des GehaltenWerdens. »Abschied von Rune« – auch ein mutiges und wunderbares Buch, das man anhand der fünf vorgeschlagenen Bilder, aber auch als Ganzes dem Philosophieren mit Kindern zugrunde legen kann.

3.6 Philosophieren mit dem Buch »Die schlaue Mama Sambona« Das Buch »Die schlaue Mama Sambona«54 spielt auf einer Insel in Afrika, auf der alles besonders schön geordnet ist. Selbst der Tod muss Regeln beachten: er darf höchstens dreimal versuchen, einen Menschen zu seinen Ahnen zu suchen. Erreicht der Tod diesen Menschen nicht, muss er jahrelang warten, bevor er es noch einmal versucht. Die schlaue Mama Sambona, die das Leben sehr liebt und immer alle Hände voll zu tun hat, sorgt mehrmals dafür, dass sie nicht da ist. Beim dritten Mal lädt sie den Tod zu einem wunderschönen Fest ein, bei dem er seine eigentliche Aufgabe vergisst und sich selbst in das Leben verliebt. Ein wunderschönes Bilderbuch, das die zentrale Bedeutung, angesichts der Endlichkeit des Lebens dieses Leben zu einem schönen zu machen, in wunderschönen Bildern gestaltet. Verbindungen zum Umgang mit Sterben und Tod in anderen Kulturen oder zur Philosophie Nietzsches oder Camus können gezogen werden.

54 Schulz, Hermann; Kretschji Tobias: Die schlaue Mama Sambona. Wuppertal 2007.

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Formen des angewandten philosophischen Argumentierens Christa Runtenberg

Das Argumentieren-Können ist eine zentrale Kompetenz des Philosophierens; im Philosophieunterricht ist die Förderung der Argumentationskompetenz wesentlich. Auch in der Welt wird argumentiert, oder es wird eben nicht angemessen argumentiert oder begründet, sondern dogmatisch behauptet, dezisionistisch festgelegt, in Pauschalaussagen geurteilt. Um dem entgegen zu wirken und zu lernen, seine Sicht von sich selbst, seinen Auffassungen zur Welt, seinen Urteilen argumentierend zu begründen ist es wichtig zu verstehen, was überhaupt ein Argument ist, wie man Argumente widerlegen kann und wie man das angemessene Argumentieren aufbauen kann. Dieses Lernenden, auch im Umgang mit Argumentationen großer Philosophen, zu vermitteln, ist ein wichtiger Baustein des Philosophierens. Beim Philosophieren geht es dabei zwar auch um wichtige Aspekte der Logik wie das Bilden von Schlüssen, das Vermeiden von Fehlschlüssen, deduktive und induktive Aussagen, die Gültigkeit von Argumenten, die Angemessenheit von Urteilen oder die Logik von Sätzen. Es geht aber in einem weiteren Verständnis von Argumentation nicht nur um logische Folgerichtigkeit, sondern auch um andere Formen dessen, was angemessene, gültige Überzeugungen charakterisiert, wie Argumentationsstrategien aufgebaut werden können, wie und ob Dilemmata gelöst werden können, genau Geltungsansprüche begründet werden können etc.1 Beim Philosophieren geht es um die Förderung der Argumentationskompetenz, die den Philosophierenden ermöglicht, ihre Überzeugungen zu artikulieren, zum Ausdruck zu bringen, mit anderen darüber in den Austausch zu gehen und Argumente zu kritisieren.

1 Einen Überblick über praxisrelevante Werkzeuge des Argumentierens, des Analysierens, typische Argumentationsmuster, Werkzeuge der Logik und der logischen Analyse, des Lesens und Schreibens gibt Pfister, Jonas: Werkzeuge des Philosophierens. Stuttgart 2013.

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Begriffsanalyse

Ein Modell zur philosophischen Begriffsanalyse stellt Hardy vor, das auch als methodologische Grundlage der Angewandten Philosophie dienen kann.2 Im Anschluss an Wilson begründet Brüning Ansätze zur Begriffsanalyse auch mit jüngeren Kindern. Zur Begriffserläuterung schlägt sie u. a. die Präzisierung verwandter Begriffe durch Modellfälle, die Bildung von Gegenbegriffen, die Wortfelduntersuchung, die Beschäftigung mit Grenzfällen, die Veranschaulichung und die Konkretion durch das Bilden von Sätzen, Strukturskizzen und die etymologische Untersuchung von Begriffen vor. Zur Begriffsexplikation, bei der mit Hilfe von klassifikatorischen Begriffen begriffliche Netzwerke gebildet werden, kann man auch eine Begriffspyramide erstellen oder mit jüngeren Lernenden ein Begriffsmolekül bauen.3

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Bausteine philosophischen und ethischen Argumentierens

Die Grundsätze philosophischen Argumentierens, der Aufbau, der Begriff sowie die Funktion eines Arguments, die logische Rekonstruktion von Argumenten, zentrale Argumentationsmuster, Argumentationsstrategien in der Philosophie sowie die dialektische Struktur des Argumentierens in der Philosophie sind wichtige Bausteine auch im Philosophieunterricht.4 Wichtig ist es den Grundaufbau einer Argumentation, die Unterscheidung von Thesen und Arten von Argumenten (Faktenargument, Autoritätsargument, Analogieargumente etc.), die Wege der Prüfung der formalen und inhaltlichen Schlüssigkeit einer Argumentation, aber auch Regeln des Argumentierens und Diskurses zu kennen.5 Verschiedene Formen und Methoden des Argumentierens stellt Goergen vor, zum Beispiel das Sokratische Gespräch, die Pro- und Contra-Debatte, das Ar-

2 Hardy, Jörg: Philosophische Begriffsanalyse. Ein Vorschlag. In: Ders. / Oliver Scholz (Hg).: Angewandte Philosophie. Eine internationale Zeitschrift. Heft/Volume 1/ 2014. S. 32–48. 3 Brüning, Barbara: Philosophieren in der Sekundarstufe. Methoden und Medien. Weinheim, Basel, Berlin 2003. S. 43–51. Blesenkemper, Klaus et al: Leben leben 1. Stuttgart 2010. S. 52 f. 4 Eine sehr hilfreiche Einführung ist Tetens, Holm: Philosophisches Argumentieren. Eine Einführung. München 2006. 2. Auflage. 5 Praxisorientierte, nicht philosophiespezifische Anleitungen sowie Tipps zur Durchführung von Debatten, Disputationen oder Mediationsverfahren gibt Becker, F.: Argumentieren. Praxisformen des mündlichen Argumentierens. Leipzig 2015.

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Formen des angewandten philosophischen Argumentierens

gumentieren nach dem Toulmin-Schema oder das Argumentieren nach Diskursregeln im Verständnis von Habermas.6 In der Ethik fragen Menschen nach dem, wer sie sein wollen, wie sie handeln wollen, wie sie bestimmte ethisch relevante Entscheidungen rechtfertigen können. Die Schlüssigkeit normativer Argumente gilt in anderem Sinne als die Wahrheit deskriptiver Aussagen. In ethischen Urteilen setzt sich die Konklusion immer aus normativen und deskriptiven Prämissen zusammen. Grundlegende Werkzeuge des aufgeklärten ethischen Argumentierens sind die Kenntnis der Grundform ethischer Argumente, der Praktische Syllogismus, die Unterscheidung von Deskriptionen und Präskriptionen und damit verbundener Probleme wie der naturalistische Fehlschluss und die Ambiguität der in deskriptiven Prämissen benutzten Begriffe.7 Wichtig ist auch die Unterscheidung zentraler Dimensionen der ethischen Kritik wie die Reflexion der Ziele, Mittel, unmittelbaren wie mittelbaren Folgen und Alternativen von bestimmten Optionen.

Ziele Sind die mit der Option verbundenen Ziele moralisch legitim? Mittel Sind die zur Erreichung dieser Ziele genutzten Mittel moralisch erlaubt? (kategorische vs. güterabwägende Argumente) Folgen Welche direkten, unbeabsichtigten, aber absehbaren und welche mittelfristigen Folgen könnte die Option haben? Wie sind die Folgen moralisch zu gewichten? (einschlägige folgenethische Argumentationstypen, jeweils in einer Pro- und ContraVersion) Alternativen Welche, möglicherweise ethisch weniger problematischen, Alternativen gibt es?

6 Goergen, Klaus: Argumentationsschulung. In: Julian Nida-Rümelin/Irina Spiegel/ Markus Tiedemann (Hg.): Handbuch Philosophie und Ethik. Band I: Didaktik und Methodik. Paderborn 2015. S. 214–223. Tetens, H.: A. a. O., S. 161–170. 7 Runtenberg, Chr.: Didaktische Ansätze einer Ethik der Gentechnik. Freiburg 1998. S. 153–188. Tetens, H.: A. a. O., S. 139–170.

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Die wichtigsten Modelle, die bestimmten Entitäten einen grundlegenden moralischen Schutzanspruch zuschreiben wie der Anthropozentrismus, der Pathozentrismus, der Bio- und der Physiozentrismus müssen in ihren Stärken und Schwächen analysiert werden. Grundlegende Argumentationsstrategien wie kategorische oder güterabwägende Urteile, Kriterien der ethischen Güterabwägung und hermeneutische, kontextorientierte Sensibilität sind erforderlich. Verschiedene Begründungsmodelle der Ethik wie das deduktive, das kontextualistische und das kohärentistische Begründungsmodell müssen unterschieden werden.8 Praxisbeispiele zur Förderung der moralischen Urteilskraft zum Thema »Gerechtigkeit«9, über Stereotype, Vorurteile, Helden als Vorbilder, Konzepte des Nachdenkens über die Rolle von Kognition und Intuition, von Vernunft und Gefühl in moralischen Urteilen und zum Thema des ethischen Argumentierens liegen vor.10

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Philosophische Fallanalyse

Eine Form des Argumentierens, die eine neue Aufgabenkultur ermöglicht und auch als Aufgabentyp im Abitur in Philosophie umgesetzt wird, ist die philosophische Fallanalyse11. Sie kann Grundaspekte selbstgesteuerten Lernens realisieren. Die Fallanalyse umfasst sechs Schritte. Der erste Schritt ist die Präsentation und das genaue Lesen des Falls. Der Fall ist realitätsnah aber fiktiv. Er schildert eine konkrete, klar umgrenzte Situation. Er erfordert zum Durchdenken und Beurteilen kein Expertenwissen. Er stellt ein ethisches oder philosophisches Problem in den Vordergrund. Faktenwissen ist wichtig, darf den Fall aber nicht dominieren. Zur Diskussion steht die Frage, was in der geschilderten Situation zu tun ist. Er fordert zu einer Entscheidung zwischen komplexen Handlungsweisen auf, die auch den Charakter moralischer Zwickmühlen annehmen können. Die Leitgesichtspunkt bei diesem Schritt ist die Frage, was das zugrundeliegende Problem in dem Fall ist. 8 Ach, J.S./Siep, L.: Ethik – Zur Einführung. In: Ach, J.S./Bayertz, K./Siep, L.: Grundkurs Ethik. Grundlagen. Paderborn 2008. Vieth, A.: Einführung in die philosophische Ethik. Münster 2015. 9 Schaber, Thomas: Wie Schüler zu Autoren des eigenen Lebens werden. Ein Unterrichtskonzept zur Förderung moralischer Urteilskraft. In: ZDPE 1/2015. S. 26–34. 10 Moralische Urteilsbildung. Hrsg. von D. Schmidt und J. Dietrich. ZDPE 2/2015. 11 EU: Fallanalysen. Heft 4/2017. Franzen, H.: Ethisch urteilen. Paderborn 2009. Pfeifer, V.: Didaktik des Ethikunterrichts. Stuttgart 2003. S. 203–209. Bayrhuber, H./ Harms, U./Kroß, A. (Hg.): Handbuch der praktischen Mikrobiologie und Biotechnik. Bd. 4: Unterrichtsmaterialien zu Gentechnik und Ethik. Hannover 2001. S. 5 f.

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Formen des angewandten philosophischen Argumentierens

Der zweite Schritt ist das Spontanurteil. Die Schülerinnen und Schüler geben ein erstes Urteil auf der Grundlage ihres lebensweltlichen Wissens und Wertens ab. Dieses Urteil, das in Einzelarbeit und mit einer Begründung kurz schriftlich festgehalten werden kann, wird mündlich abgefragt, z. B. durch das Bilden einer Beurteilungslinie oder eine Abstimmung innerhalb der Lerngruppe. Leitfrage ist hier, welche Handlungsoptionen zur Debatte stehen. Im dritten Schritt eignen sich die Lernenden im Rahmen einer Sachverhaltsbzw. Situationsanalyse das nötige Kontextwissen an, um die Situation bzw. den Fall möglichst angemessen einschätzen zu können. Relevante Informationen über rechtliche Hintergründe, genaues naturwissenschaftlich-technisches Wissen über technische Optionen oder sozialwissenschaftlich relevantes Wissen, die Klärung zentraler Begriffe und die Differenzierung ihrer philosophischem Implikationen findet auf dieser Ebene statt. Die Schüler und Schülerinnen klären den Kontext und die Umstände der Situation. Im vierten Schritt wird die ethische bzw. philosophische Analyse durchgeführt. Zunächst werden die Interessen, Werte und Normen, die von der Handlung des Falls berührt werden, differenziert. Die Schülerinnen und Schüler klären die zur Diskussion stehenden Interesse, Werte und Normen aller von der Situation Betroffener. Sie unterscheiden verschiedene Handlungsoptionen mit ihren Folgen, prüfen, inwiefern welche Werte und Normen betroffen sind und sammeln Argumente für oder gegen die verschiedenen Handlungsoptionen. Daran anschließend werden die den Werten und Normen zugrundeliegenden grundlegenden Argumentationstypen12, Moraltheorien und Moralkonzepte reflektiert. Die Schülerinnen und Schüler durchdenken, wie man als Anhänger einer Ethik X,Y,Z argumentieren würde. Sie knüpfen so Rückbezüge zu den ihnen bekannten ethischen bzw. philosophischen Positionen und ordnen den konkreten Fall in die weitere philosophische Diskussion ein. Im letzten Schritt wird ein moralisches oder philosophisches Urteil gefällt. Vor dem Hintergrund des Erarbeiteten formulieren die Schülerinnen und Schüler ihr Urteil und prüfen noch einmal die sich daraus ergebenden Konsequenzen. Sie reflektieren, wie sie zu diesem Urteil gekommen sind, vergleichen ihr Urteil mit dem Spontanurteil, prüfen ihre Haltung zum Fall und zu ihrer eigenen Urteilsfindung und stellen dann ihre Ergebnisse zur Diskussion. Sie können ihr Urteil und ihre Argumentation z. B. in Form eines Essays, Leserbriefs, Kommentars oder Artikels auch schriftlich veröffentlichen.

12 Runtenberg, Chr.: Philosophiedidaktik. Paderborn 2016. S. 99.

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Rhetorik

Die Rhetorik, die Redekunst, wurde lange in der Philosophiedidaktik nicht berücksichtigt, obwohl Aristoteles eine spannende und auch gegenwärtig sehr anschlussfähige Konzeption begründet hat. Aristoteles hat eine systematische Theorie entwickelt. Für ihn ist die Rhetorik kein Mittel des Überredens, sondern die Erforschung der Elemente, die zum Überzeugen und Überzeugtwerden beitragen. Er nennt drei Faktoren, die den Erfolg einer Rede beeinflussen, den Charakter des Redners (ethos), die Absicht des Redners in Bezug auf den Zuhörer (pathos) und den Inhalt der Rede selbst (logos). Der Redner muss unterrichten, emotional bewegen und gefallen. Das Modell von Aristoteles gehörte vor allem in der Spätantike, im Mittelalter und in der Renaissance zum Studium jedes Theologen und Philosophen. Später blieb die Rhetorik bis in die Gegenwart hinein Bestandteil der Erziehung. Für die Fachdidaktik ist sie interessant, weil sie lehrt, wie man angemessen in der Rede, in konkreten Situationen überzeugen kann. Sie verbindet den philosophischen Anspruch auf Geltung von Argumenten mit der Pragmatik der Kommunikation, die andere überzeugen will.13 In den meisten Modellen philosophischen sowie ethischen Argumentierens kommen Elemente der Rhetorik nur implizit ins Spiel. Hier werden vor allem der praktische Syllogismus, die Erweiterung der Argumentation zu einer Argumentationskette oder die Verkürzung eines Arguments in einer Elementarform als Werkzeuge relevant. Das sind drei Weisen des Argumentierens, die je nach Situation unterschiedlich genutzt werden können. Aristoteles schlägt in der Rhetorik für konkrete Situationen, die kürzere Argumentationen benötigen, den Terminus Enthymem vor, worunter eine verkürzte Form des Syllogismus zu verstehen ist. Diese kurze Form ist sinnvoll, wenn Zuhörer die vollständige Argumentation nicht nachvollziehen können, gelangweilt oder überfordert sind. Die Kunst ist, das Nötige zu sagen und mit einprägsamen Formeln zu überzeugen. Weiterhin speist sich die Überzeugungskraft von Argumenten durch die Topoi, die Grundüberzeugungen, welche die Gesprächspartner immer schon mitbringen. Topoi, Orte, sind Plätze herrschender Meinungen, mit denen ein Redner rechnen muss. Die Kunst der Rede besteht darin, diese Meinungen zu antizipieren, daran anzuschließen und sie behutsam zu verändern. Wichtig ist auch die Nutzung von Beispielen, um in Argumentationen die Aspekte der konkreten Situation veranschaulichen zu können. Dialektik und Dialogik als Kunst der Gesprächsführung werden in die Rede des einzelnen Redners übertragen, er nimmt gewissermaßen die widersprüchlichen Perspektiven mit auf und baut sie ein in den Vortrag.

13 Rohbeck, J.: Rhetorik und Philosophiedidaktik. In: Ders.: Didaktik der Philosophie und Ethik. Dresden 2008. S. 213–227.

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Formen des angewandten philosophischen Argumentierens

Die einzelnen Elemente der Rhetorik, die Arbeit mit Enthymemen, mit Topoi und Beispielen sowie der dialektischen Struktur können sinnvoll Eingang in das Sprechen, aber auch in das Schreiben von Texten im Philosophieunterricht.

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Gedankenexperimente

Philosophieren heißt mit Gedanken spielen und experimentieren. In Gedanken können wir mögliche Welten erkunden, mit den Flügeln der Phantasie können wir uns in alternative Wirklichkeiten begeben, fremde Wesen kennen lernen und auf diese Weise der logischen, ontologischen oder ethischen Analyse das Verständnis von Wirklichkeit, Werten oder Gründen prüfen. Das Gedankenexperiment ist ein lange gepflegtes und bewährtes Mittel des Denkens und Philosophierens. Erwähnt schon bei Lichtenberg, in die Wissenschaftsphilosophie eingeführt von Ernst Mach, in der Geschichte der Naturwissenschaft genutzt von Galilei, Leibniz, Newton, Darwin, Einstein, Schrödinger, Heisenberg und anderen ist in der Philosophie vor allem für Hume die experimentelle Methode die philosophische Methode schlechthin.14 Das Gedankenexperiment hat in der Fachdidaktik besonders durch HansLudwig Freese, G.W. Betram und Helmut Engels besonderes Gewicht bekommen. Denn besonders Kinder und Jugendliche lassen sich gerne und leicht auf Gedankenexperimente ein; sie schätzen es, sich auf Gedankenreisen zu begeben, eine Welt jenseits der Realität auszudenken oder sich mit Möglichkeiten oder gar dem Unmöglichen zu beschäftigen. Ganz grundsätzlich sind Gedankenexperimente wohldurchdachte »Was-wäre-wenn-Überlegungen«, die verschiedenen Formen der gedanklichen Klärung von Sachverhalten, dem Prüfen von Intuitionen, dem Gewinnen von Erkenntnis dienen. Zurückgreifen kann man auf Gedankenexperimente aus der Literatur, aus Filmen, aus philosophischen Texten oder auf eigene Gedankenexperimente. Grundlegende Aspekte müssen allerdings beachtet werden, wenn die einfache was-wäre-wenn-Frage, ein Gedankenspiel, nicht mit einem Gedankenexperiment im verwechselt werden soll. Zu einem Gedankenexperiment gehören, wie zum Experiment im naturwissenschaftlichen Unterricht, fünf Aspekte, die zentral sind: a) der thematische Kontext, in dem das Experiment eingesetzt wird, b) die Versuchsanordnung oder Experimentalbasis mit der zentralen Annahme, die geprüft werden soll und meistens fiktiv oder sogar irreal und kontrafaktisch ist, c) die Experimentieranweisung, d) die Durchführung des Experiments und e) die Auswertung des Er14 Siehe hierzu: Freese, Hans-Ludwig: Was wäre wenn …? Gedankenexperimente beim Philosophieren mit Kindern. In: Philosophieren mit Kindern. Rostocker Philosophische Manuskripte Heft 3 1996. S. 37–47; hier S. 37 ff. Michel, Jan G.: Mit Gedanken experimentieren: Eine Fallstudie in der Philosophie des Geistes. In: Die Suche nach dem Geist. Hrsg. von Jan G. Michel und Gernot Münster. Münster 2013. S. 81–120.

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gebnisses.15 Neben diesen internen Merkmalen gehören noch externe Merkmale, die die argumentative Funktion des Gedankenexperiments betreffen. Dieses dient nicht zur Illustration von Sachverhalten, sondern sie dienen ausdrücklich der eigenen philosophischen Argumentation.16 Gedankenexperimente können im Unterricht auf verschiedenen didaktischen Qualitätsstufen eingesetzt werden, die jeweils mit verschiedenen Bildungszielen verbunden sind. Zur selbstständigen Konstruktion von Gedanken-experimenten, die auch die Schüler und Schülerinnen lernen können, gehören u. a. die fokussierende Abstraktion (das Wesentliche der Sache scharf in den Blick nehmen), das hypothetische Fürwahrhalten (eine einzelne Annahme für wahr halten und das prüfen), die fiktive Analogie (eine parallele, strukturell analoge Situation erfinden), die fiktive Nichtung (Dinge in Gedanken zunichtemachen oder nicht existieren lassen) oder die experimentelle Umkehrung (eine versuchsweise vorgenommene Umkehrung in Gedanken durchspielen).17 Gedankenexperimente ermöglichen es, dass Einsichten und Erkenntnisse, die man unterbewusst schon in sich trägt, bewusst werden und reflektiert werden können. Sie besitzen eine wichtige heuristische Funktion und stark motivierende Kraft, da die Schüler und Schülerinnen mittels phantasievoller Szenarien eigenes Denken, Gedanken durchspielen können und erproben können. Gedankenexperimente können Gefühle wecken wie das philosophische Staunen, metaphysisches Erschauern oder das Angerührt-Werden.18 Ein berühmtes Gedankenexperiment, das noch um die Experimentieranleitung ergänzt werden muss, stammt von Robert Nozick.

15 Engels, Helmut: Gedankenexperimente. In: Julian Nida-Rümelin/Irina Spiegel/ Markus Tiedemann (Hg.): Handbuch Philosophie und Ethik. Band I: Didaktik und Methodik. Paderborn 2015. S. 187–196. 16 Siehe hierzu Michel, Jan G.: a. a. O.; S. 101, 117–120. Ebenso Tetens, H: Philosophisches Argumentieren. S. 116–125. 17 Engels, Helmut: Überlegungen zum Gedankenexperiment im Unterricht. In: EU 3/ 2001. S. 11–17; hier S. 15 f. Ders.: »Nehmen wir an …« Das Gedankenexperiment in didaktischer Absicht. Weinheim und Basel 2004. Freese, Hans-Ludwig: Abenteuer im Kopf – Philosophische Gedankenexperimente. Berlin 1995. 18 Beispiele in: Engels, Helmut (2004).

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Formen des angewandten philosophischen Argumentierens Robert Nozick (1938–2002): Die Erlebnismaschine Stellen Sie sich eine Maschine vor, die Ihnen jede beliebige Erfahrung (oder Folge von Erfahrungen) vermitteln könnte, die Sie sich wünschen würden. Wenn Sie an diese Erfahrungsmaschine angeschlossen sind, können Sie die Erfahrung haben, ein großes Gedicht zu schreiben oder den Weltfrieden herbeizuführen oder jemanden zu lieben und wiedergeliebt zu werden. Sie können die Empfindungsfreuden dieser Dinge erfahren, wie sie sich ›von innen‹ anfühlen. Sie können Ihre Erfahrungen für den nächsten Tag oder die kommende Woche oder das kommende Jahr oder gar für den Rest Ihres Lebens programmieren. Wenn Ihre Phantasie verarmt ist, können Sie die Bibliothek der Vorschläge benutzen, die aus Biographien ausgezogen und von Romanciers und Psychologen ergänzt worden sind. Sie können Ihre kühnsten Träume ›von innen heraus‹ leben. Andere Menschen haben auch dieselbe Möglichkeit zum Gebrauch dieser Maschinen, die, wie wir annehmen wollen, durch freundliche und zuverlässige Wesen von einer anderen Galaxie zur Verfügung gestellt werden, so dass Sie eine Anschließung nicht deshalb abzulehnen brauchen, weil Sie anderen helfen möchten. Die Frage ist nicht, ob man die Maschine vorübergehend ausprobieren sollte, sondern, ob man sich für den Rest seines Lebens hineinsetzen sollte. Wenn man sie betreten hat, wird man sich nicht daran erinnern, dass man dies getan hat, so werden keine Freuden dadurch zerstört werden, dass man sie als maschinell produziert durchschaut. […] Würden Sie sich dafür entscheiden, dies für den Rest Ihres Lebens zu tun? Nozick, Robert: Vom richtigen, guten und glücklichen Leben (amerik. Original 1989), München/Wien: Hanser 1991, S. 114 f.; abgedruckt in: Engels, Helmut: »Nehmen wir an …«, Das Gedankenexperiment in didaktischer Absicht, Weinheim 2004: Beltz: S. 133 f.

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Die Dilemma-Methode

Die Dilemma-Methode gilt, vor allem seit der Etablierung des Schulfachs Lebensgestaltung, Ethik, Religionskunde als geeignete Methode zur Aufnahme und Thematisierung von moralischen Problemsituationen, sogenannten moralischen »Zwickmühlen«. Dilemma heißt in der formalen Argumentation, es liegt eine Schlussfigur vor, die von einer solchen zweigliedrigen Annahme ausgeht, dass die logische Schlussfolgerung nicht nur unter der Prämisse P gilt, sondern auch unter der Prämisse Nicht-P gilt. In der Moralphilosophie bezeichnet ein Dilemma eine Situation, in der zwei grundlegende, als gültig erachtete moralische Werte oder normative Prinzipien miteinander kollidieren und bei der Befolgung der einen die andere notwendigerweise verletzt werden muss. Das moralische Dilemma hat die Form: (i) Es ist geboten, a zu tun. (ii) Es ist geboten, b zu tun. (iii) Ich kann nicht zugleich a und b

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tun.19 Es liegt also ein moralischer Konflikt vor, bei dessen Lösung ein grundlegender als richtig erachteter anderer Wert, der auch affektiv und motivationsbezogen wichtig ist, missachtet werden muss. Innerhalb der philosophischen Ethik gibt es eine Debatte darüber, ob es moralische Dilemmata überhaupt gibt, also solche, die sich tatsächlich nicht auflösen lassen oder ob letzten Endes nach der Reflexion eine Rangordnung der Werte hergestellt werden kann. Plädiert Boshammer20 dafür, dass es solche moralischen Dilemmata nicht gibt, weil sie sich, wenn auch mit Bedauern über das MissachtenMüssen eines Wertes, doch lösen lassen, argumentieren viele andere, dass es unauflösbare Dilemmata gibt, die besonderer moralischer Urteilskompetenzen bedürfen wie die Einsicht in komplexe Urteilsebenen oder Empathie-Fähigkeit. Egal, ob wir davon ausgehen, dass solche dilemmatischen Situationen letzten Endes auflösbar sind oder nicht, ist doch unstrittig, dass es moralische Zwickmühlen dieser Art gibt, über die methodisch nachzudenken aus didaktischer Sicht sehr fruchtbar ist, weil die Arbeit mit moralischen Zwickmühlen die Argumentationskompetenz der Lernenden fördern kann sowohl in selbsttätigen als auch gruppendynamischen Arbeitsprozessen. Die didaktische Funktion der Arbeit mit solchen Dilemma-Situationen oder moralischen Zwickmühlen liegt darin, grundlegende Werte und Prinzipien angesichts von konkreten moralischen Problemsituationen miteinander zu vergleichen, abzuwägen versuchen, ihre Geltung zu begründen und ihre Reichweite zur reflektieren. Mit der Dilemma-Methode lassen sich Kompetenzen ethischer Urteilskraft fördern. Die Dilemma-Methode basiert auf den Untersuchungen des amerikanischen Entwicklungspsychologen Lawrence Kohlberg zur Moralentwicklung von Kindern und Jugendlichen. Zwar werden Kohlbergs psychologischen Prämissen, sein Stufenschema und das Exponieren eines spezifischen Verständnisses von Moral von vielen Seiten kritisiert.21 Die Orientierung an konkreten moralischen Problemen und die eigenständige ethische Analyse des Problems als Methode der Normreflexion werden aber geschätzt.22 Die Dilemma-

19 Williams, Bernard: Ethical Consistency. Zitiert nach Zoglauer, Th.: Die Methode des Überlegungsgleichgewichtes in der moralischen Urteilsbildung. In: Die Zukunft des Wissens. Hrsg. von Jürgen Mittelstraß. Konstanz 1999. S. 977–984; hier S. 977. Ebenso Pfeiffer, Volker: Didaktik des Ethikunterrichts. Bausteine einer integrativen Wertevermittlung. S. 185. 20 Boshammer, Susanne: Eine Frage der Moral? In: Ach, J.S./Bayertz, K./Siep, L.: Grundkurs Ethik. Grundlagen. Paderborn 2008. S. 213–221. In diesem Artikel findet sich auch ein spannendes Kartenspiel zum Debattieren von moralischen Zwickmühlen. 21 Siehe hierzu zum Beispiel Rolf, Bernd: »Wie soll ich mich entscheiden?« Dilemmata im Philosophie- und Ethikunterricht. In: EU 3 / 2001. S. 18–22. 22 Raters, Marie-Luise: Das moralische Dilemma im Ethik-Unterricht. Moralphilosophische Überlegungen zur Dilemma-Methode nach Lawrence Kohlberg. Dresden

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Formen des angewandten philosophischen Argumentierens

Methode, die von Lind23, Blesenkemper24 und anderen weiter entwickelt wurde, ermöglicht es, die moralischen Intuitionen bewusst zu machen, auf den Begriff zu bringen, zu analysieren und zu differenzieren. Die methodischen und didaktischen Einwände müssen Lehrenden bewusst sein und die Grenzen der Methode im Blick behalten lassen.25 Grundlage der Dilemma-Methode können Geschichten sein26, die klassischen oder selbst erfahrenen oder konstruierten Dilemmata. Im Unterricht werden die Ausgangssituationen zum Anlass genommen, in einem methodischen Verfahren eine Klärung relevanter Werte, die Geltung der dahinterliegenden normativen Prinzipien und ihrer Hierarchisierung zu prüfen. Die Schüler und Schülerinnen werden mit einer Zwickmühle konfrontiert, nehmen eine erste Standortbestimmung vor, sammeln Werte, die relevant sind, beziehen diese auf dahinter liegende Prinzipien und überlegen, in welcher Weise diese gewichtet werden sollen. Nach der Entwicklung eines ethischen Urteils werden die Konsequenzen, die sich aus der getroffenen Entscheidung ergeben, noch einmal überprüft. Das Grundschema der Dilemma-Methode lässt sich in vielfacher Weise modifizieren.27 Eine Strukturierungsmöglichkeit ist die folgende:

2011. Siehe auch: Raters, Marie-Luise: Das moralische Dilemma. Antinomie der praktischen Vernunft. Freiburg / München 2013. Zoglauer, Th.: A. a. O., S. 977; S. 983 f. 23 Lind, Georg: Moral ist lehrbar. Handbuch zur Theorie und Praxis moralischer und demokratischer Bildung. München 2003. 24 Blesenkemper, Klaus: Dilemmadiskussion. In: Julian Nida-Rümelin/Irina Spiegel/ Markus Tiedemann (Hg.): Handbuch Philosophie und Ethik. Band I: Didaktik und Methodik. Paderborn 2015. S. 178–187. 25 A. a. O.; S. 91 ff. Raters begründet in ihrem Ansatz eine 7. Stufe des begründeten Prinzipienverstoßes. 26 Mutzbauer, Monika: Dilemma-Geschichten. Ethik Jahrgangsstufen 5–10. München 2006. 27 Rolf, Bernd: »Wie soll ich mich entscheiden?« In: EU 3 / 2001. S. 20; Pfeiffer, Volker: A. a. O., S. 190 ff. zellux.net.

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Christa Runtenberg Arbeitsblatt zur Bearbeitung moralischer Zwickmühlen (Dilemma-Situationen) Darstellung der moralischen Zwickmühle Handlungsoptionen und unmittelbare Folgen

Option 1:

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Werte, die durch die Handlungen berührt werden; Normen, die betroffen sind: Argumente für die Optionen:

So würde man argumentieren als Anhänger einer …

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Epistemisches Spielen. Spielen als Methode des Philosophieunterrichts? Christian Klager

Spielen im Philosophie- und Ethikunterricht steht noch immer im Verdacht, ein Pausenfüller zu sein, welcher seine Berechtigung mehr aus den nahenden Ferien denn aus seiner methodischen Legitimation erhält. Wenn Spielen einen Mehrwert für das Philosophieren bieten soll, dann kann dieser nur darin zu finden sein, dass das Spiel methodische Elemente erhält, die eine Aneignung und Reflexion der Welt und ihrer Deutungen ermöglicht. Dafür sind unterschiedliche Wege denkbar; man könnte das Spiel hinsichtlich seiner narrativen Zeichen oder seines Systemcharakters interpretieren oder die präsentativ-symbolischen Formen explizieren. Ebenso können die performativen Akte und die Performanz von Spielen untersucht und gedeutet werden. Diese Ansätze verweisen – trotz unterschiedlicher Zeichen- oder Symbolparadigma – auf einen eher hermeneutischen Ansatz eines philosophischen Spielens, der sich auch auf andere Medien des Philosophieunterrichts wie Filme, Bilder oder Gedichte anwenden lässt. Das Spiel im Philosophieunterricht wäre demnach nur ein Formativ, welches in der Analyse und Bearbeitung durch die philosophischen Methoden einen philosophischen Charakter bekäme. An drei Positionen der Philosophie kann exemplarisch gezeigt werden, dass das Spiel keineswegs allein in symbol- und zeichentheoretischer Hinsicht erklärt werden kann und dass sein Potenzial auch auf einer anderen Ebene liegt. Dafür ist zunächst das Spiel vom Spielen zu unterscheiden. So wie Schülerinnen und Schüler keine Philosophie lernen, sondern das Philosophieren, ist der Philosophieunterricht gut darin beraten, den Akt des Spielens zu fokussieren und nicht allein dem Medium Spiel die volle Aufmerksamkeit zu schenken.

Spielen als Spiegeln des Wirklicheren Bereits durch Platon wird das Spielen in zwei Aspekten betrachtet, die unmittelbar aufeinander wirken. Einerseits ist das Spiel – gleichsam als Schatten der eigentlichen Dinge – das Spiegelbild der Wirklichkeit, wie sie die Gegenstände im Höhlengleichnis an die Wand werfen. Andererseits ist das Spiel ein Mittel der Dichter, über Wahrheit zu sprechen und daher einer immanenten (Schrift-)Kritik der Philosophie ausgesetzt. Wie passt das nun zueinander?

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Christian Klager

Zunächst ist das Spiel mimesis zu einer ontologisch echteren Welt, die wir als Wirklichkeit begreifen, wie das Geschriebene stets nur ein Abbild des Gesagten ist oder das Gemalte nur aussieht, als wäre es lebendig1. In dieser Funktion ist es zum einen der Widerschein einer echten Welt – was erstere nicht zwangsläufig weniger echt macht, aber zweitere zwingend voraussetzt. Trotz dieser epistemischen Verweisfunktion, ist das Spiel Mittelpunkt der platonischen Dichter- und Schriftkritik, in der eine spielerisch-künstlerische Weltdeutung als unangemessen gilt, da die ursprüngliche Wahrheit allein von der Philosophie beschrieben und nur im angemessenen Gespräch erlangt wird2. Ein Erspielen der Welt – im Sinne eines Erkennens der Welt – ist im rational-platonischen Verständnis ebenso wenig möglich wie ein Begreifen der Welt allein in der Dimension der Kunst. Ohne die Philosophie, ohne den Logos ist ein Verstehen der Wahrheit im Sinne Platons nicht denkbar3. Der Verweischarakter des Spiels ist jedoch folgenreicher als die pejorative Abwertung der Spielerei es vermuten lässt: Das Spiel ist als Widerschein (Ebene 3) der von uns sinnlichen wahrgenommenen Wirklichkeit (Ebene 2) nur eine Spiegelung der Spiegelung der wahren Ideen (Ebene 1); das Spiel ist demnach dreifach von der Wahrheit entfernt. Wenn es nun jedoch etwas zeigt, das sich in der von uns sinnlich wahrgenommenen Wirklichkeit nicht wiederfinden lässt, ist es offenbar in der Lage, Ideen abzubilden und die mittlere Stufe – also die Welt, die wir als Wirklichkeit wahrnehmen – zu überspringen. Damit ist das Spiel ein Verweis auf etwas, das philosophisch ergründet werden muss und ähnlich wie eine sprachliche Analogie oder ein Gleichnis zu betrachten, die methodisch wirksam sind. Auch Platons Texte selber sind – zum Beispiel in ihrer Funktion eines literarisch nicht wenig aufgeladenen Rollenspiels mit sokratischer Ironie – Abbilder, die auf eine echtere Wirklichkeit verweisen: Die schriftlichen Dialoge Platons sind mimesis mündlicher Dialoge; sie spielen dem Leser ein Gespräch vor, das gar kein lebendiges Gespräch mehr ist, weil bereits feststeht, wie es ausgehen wird. In diesem Sinne spielt Platon mit selbstreferenziellem, ironischem Augenzwinkern, indem er über Schriftkritik schreibt. Das Höhlengleichnis – als prominentes Beispiel – bildet nicht Menschen in einer Höhle ab, die dort durch Schatten getäuscht werden – dann wäre es kein Gleichnis. Es steht vielmehr als Verweis für eine komplexe Wirklichkeit, die wir als die unsere begreifen und die doch – so zeigt es uns Platon – epistemisch defizitär und im Vergleich mit den überdauernden Ideen unechter ist, als wir es uns jemals vorstellen können. Gerade aber weil wir es uns nicht vorstellen können, verwendet Platon diese Gleichnisstruktur, in der Menschen agieren, über 1 Vgl. Platon: Phaidros, 275d, 276a; vgl. Platon: Politeia, 597e–602b. 2 Vgl. Platon: Phaidros, 274c–278b; vgl. Eugen Fink: Spiel als Weltsymbol. Hrsg. Von Cathrin Nielsen und Hans Rainer Sepp. Eugen Fink Gesamtausgabe. Band 7. Freiburg, München 2010. S. 99 f.; vgl. Alexander Aichele: Philosophie als Spiel. Platon – Kant – Nietzsche. Berlin 2000. S. 37–75. 3 Vgl. auch Fink, a.a.O. S. 109–121.; vgl. auch Aichele, a.a.O. S. 48–52.

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Epistemisches Spielen. Spielen als Methode des Philosophieunterrichts?

deren Naivität wir nur den Kopf schütteln können. Er hätte seine ontologischen Vorstellungen sicher auch ohne Gleichnis vermitteln können; das Höhlengleichnis, eine eingebettete Narration mit allen Merkmalen der literarischen Fiktionalität, ist jedoch offensichtlich methodisch die beste Wahl, um uns die Wahrheit näher zu bringen. Wenn das Spiel die gleiche Funktion hat, indem es auf eine ontologisch höhere Wirklichkeit – und damit Wahrheit – verweist, ist an dieser Funktion nichts Pejoratives zu entdecken. Selbst wenn Platon das Spiel nicht konkret als methodisches Werkzeug der Philosophie benennt, ist es doch als das sprachlich fixierte Gleichnis oder die geschriebene Metapher ein Mittel, um sich der Wahrheit aller Schriftkritik trotzend anzunähern: »Wunderbar und viel besser als die anderen Spielereien ist das Spiel, von dem du sprichst, wenn einer mit Worten spielen kann und erzählt von Gerechtigkeit und anderen Dingen […]«4. Da der Dichter nicht bewusst zur Wahrheit hinarbeitet, ist allein der Philosoph in der Lage richtig zu spielen5. Diese methodisch wirksame Verweisstruktur bleibt auch dann bestehen, wenn man von einem diffusen oder naiven Modell von Wirklichkeit ausgeht. Da im Spielbegriff eine gewisse Opposition von Spiel und Wirklichkeit immanent ist – was einen fließenden Übergang nicht ausschließt – verweisen Spiele stets immer auch auf ein Gegenüber und sind allein aus diesem Grund als philosophisches Medium zu verstehen, welches untersucht und im Verhältnis zu einer zu definierenden Wirklichkeit verortet werden kann. Einfach gesagt: Weil Spiele Spiele sind, muss es noch eine weitere Form von Wirklichkeit geben. Eine solche Analyse bietet sich nicht nur in epistemisch-ontologischen Bereichen an. Auch in der Ethik ist es wichtig, eine philosophische Anwendung von einer praktischen Anwendung unterscheiden zu können, wobei die Spiel-Wirklichkeit-Analogie helfen kann: Die Angewandte Ethik wendet im Beispiel der Medizinethik keine ärztlichen Verfahren an, sondern denkt darüber nach, wie ethische Prinzipien in einer Anwendungssituation wirken können. Philosophieren ist in dieser Analogie ein Spielen mit den medizinischen Möglichkeiten und ihren ethischen Implikationen. Die Bedeutungsdimensionen eines solchen philosophischen Selbstverständnisses sollten auch im Philosophie- und Ethikunterricht auf einer Metaebene problematisiert werden.

Spielen als Kontemplation In seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen untersucht Schiller die Persönlichkeit des Menschen in einer Bildungsabsicht und unterscheidet zwischen einer Sinnlichkeit und einer Selbsttätigkeit des Geistes6. Die 4 Platon: Phaidros 276e. 5 Vgl. Aichele, a.a.O. S. 55–75. 6 Vgl. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe

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Frage, vor der er sich sieht, besteht darin, wie der Geist – der nur als »Form und leeres Vermögen«7 zu verstehen ist – von seiner Anlage zur Verwirklichung gelangen kann, obwohl er keine erkennbare Beziehung zur Materie hat. Die Antwort besteht in der Formulierung zweier Fundamentalgesetze: Zum einen muss der Mensch alles verwirklichen und zur Welt machen, was nur geistige Form ist, andererseits muss Welt zur Form werden. Beide Gesetze beschreibt Schiller als Triebe – im Sinne eines Getriebenwerdens oder einer Notwendigkeit – zur physischen Weltwahrnehmung und zum stofflichen, endlichen Sein (Stofftrieb) sowie zur vernünftigen Reflexion und zum absoluten, unendlichen Sein (Formtrieb)8. Dieser in der europäischen Philosophie nicht unbekannte Dualismus zwischen einer res extensa und einer res cogitans verschmilzt bei Schiller mit aufklärerischen Idealen, die den Formtrieb für sich zum Geist der Gattung und zur »IdeenEinheit«9 stilisiert, welcher Urteile fällen und die Wahrheit zu erkennen vermag – wäre nicht der antagonistisch wirkende Stofftrieb. Nur im angemessenen Ausgleich und im Wechselverhältnis beider Kräfte wird der Mensch überhaupt erst Mensch10, autonom und frei »und, anstatt sich an die Welt zu verlieren, [wird er] diese vielmehr mit der ganzen Unendlichkeit ihrer Erscheinungen in sich ziehen und der Einheit seiner Vernunft unterwerfen.«11 In dieser perfekten Balance zwischen Form- und Stofftrieb, in welcher der Mensch gleichzeitig verständiger Geist und fühlende Materie ist, erkennt Schiller einen dritten Trieb, den er Spieltrieb12 nennt. Im Spiel ist der Mensch Alles; Stoff und Form, Gefühl und Vernunft, Sinnlichkeit und Moral. Er versteht sich, seine Stellung in der Welt, seinen Dualismus und sein Sein. Nicht überraschend erklärt Schiller daher, dass Ästhetik genau an diesem Punkt zu finden sei und Schönheit und Spiel identisch sind13. Spielen kann als das reine Verstehen, das Begreifen und Erkennen im Schönen beschrieben werden; »der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt«14. Die Ästhetik weist in doppelter Hinsicht auf diese Erkenntnis hin: Wenn durch das Anschauen des Objekts nicht nur das Objekt selber gesehen wird, sondern das Objekt als Teil eines Ganzen, als Verweis und Bezug verstanden wird, offenbart sich die Form hinter der Gestalt und das Ansehen als Methode zur Welt-Anschauung, die zur

von Briefen. Mit den Augustenburger Briefen herausgegeben von Klaus L. Berghahn. Stuttgart 2006. Brief 11 – S. 45. 7 Ebd. 8 Vgl. Schiller, a.a.O. Brief 12 – S. 46–48. 9 Schiller, a.a.O. Brief 12 – S. 49. 10 Vgl. Schiller, a.a.O. Brief 14 – S. 55. 11 Schiller, a.a.O. Brief 13 – S. 52. 12 Schiller, a.a.O. Brief 14 – S. 56. 13 Vgl. Schiller, a.a.O. Brief 15 – S. 58–60. 14 Schiller, a.a.O. Brief 15 – S. 62 f.

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Epistemisches Spielen. Spielen als Methode des Philosophieunterrichts?

Erschaffung von Welt im ästhetischen Sinne und damit in das ästhetische Spiel übergeht15. Schillers Spielbegriff ist in methodischer Hinsicht differenziert zu betrachten. Zum einen ist das Spielen als Begreifen und Formen der Welt ein anthropologisches Moment, das man nicht besser als mit Methode, Kontemplation oder Verstehen beschreiben könnte und das daher in methodologischer Hinsicht keinen Zweifel offen lässt, dass wir uns (nur) genau dann, wenn wir spielen, die Welt aneignen können. Zum anderen ist die Offenheit des Spielbegriffes und die Schwierigkeit einer idealiter gedachten Balance zwischen Form- und Stofftrieb ein Hindernis, den Spieltrieb realisiert zu sehen. Doch das abstrakte Spiel ist keine Metapher, die nur uneigentlich auf das konkrete Spiel verweist, wie es beispielsweise Berg versteht16. Schiller begreift das Spiel auch historisch als konstituierendes Moment, welches den Menschen zum Menschen macht: Die Freude am Schein, die Maskierung und das Spiel sind bereits Grundelemente des Menschlichen17. So wie Philosophieren als Kulturtechnik verstanden wird18, kann Spielen in ähnlichem Sinne als zu erlernende Fähigkeit mit allen dazugehörigen Fortschritten gelten. Spielen – wie Philosophieren selber – als legitimes Moment des Menschlichseins zu begreifen, schließt damit die Lücke zwischen Anthropologie und Epistemologie. Nicht allein die Fähigkeit zum Denken oder zum Schaffen bestimmt den Menschen in seiner Einzigartigkeit, sondern die Fähigkeit zum Spielen im Sinne einer ästhetischen Weltaneignung. Der homo ludens ist daher eine angemessene Beschreibung des Menschen, wie sie bereits Huizinga fordert19. Für das Spiel in einer methodischen Betrachtung bedeutet dies, dass eine Interpretation der im Spiel erfahrenen und verstanden Gegenstände der Welt nicht erneut gedeutet werden müssen. Es wäre widersprüchlich, wenn der Mensch im Spiel zwischen Form und Stoff versteht und dieses Verständnis anschließend erneut durch eine methodische Überarbeitung verstehen müsste. Eine diskursive oder symbolische Aufarbeitung dessen, was der Mensch im Innersten weiß, 15 Vgl. Schiller, a.a.O. Brief 26/27 – S. 109–117. 16 Vgl. Stefan Berg: Ein Zwischen denken. Überlegungen zum Spiel in Schillers Über die ästhetische Erziehung. In: Stefan Berg, Hartmut von Sass (Hgg.): Spielzüge. Zur Dialektik des Spiels und seinem metaphorischen Mehrwert. Freiburg, München 2014. S. 190–195; insbesondere S. 192 f. 17 Vgl. Schiller, a.a.O. Brief 26 – S. 107 f.; Vgl. auch Roger Caillois: Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch. Aus dem Französischen von Sigrid von Massenbach. München, Wien 1958. 18 Vgl. Ekkehard Martens: Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts. Philosophieren als elementare Kulturtechnik. Hannover 2003. S. 30–33. 19 Vgl. Johan Huizinga: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. In engster Zusammenarbeit mit dem Verfasser aus dem Niederländischen übertragen von H. Nachod. Reinbek bei Hamburg 202006. S. 7 f.; 14 f.

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scheint weder nötig noch sinnvoll. Für eine Anwendung des Spiels in der Schule ist dies jedoch ein vorschnelles Urteil. Bildungssituation können nicht in jeder Hinsicht darauf vertrauen, dass die perfekte Balance zwischen Stoff- und Formtrieb gerade immer dann vorhanden ist, wenn es zur Stunde klingelt; das wahre Menschsein ist durch äußere Umstände – von den Zahnschmerzen, über den Liebeskummer bis hin zu den Gedanken an die nächste Mathematikklausur – eingeschränkt. Der eine Trieb überwiegt vielleicht zeitweise den anderen – was Schiller ohnehin für recht wahrscheinlich hält20 – und das Verhältnis ist nicht in vollem Maße Spiel. Für solche Momente ist eine unterstützende methodische Einbettung des Spiels nicht nur sinnvoll, sondern notwendig. Sie gibt als methodische Reflexion der im Spiel erfahrenen und verstandenen Zusammenhänge Aufschluss über den Verstehensprozess selber und sichert die Ergebnisse im Vergleich mit denen anderer Spieler. Eine solche Einbettung mildert auch den mythischen Eindruck, den Schillers Formtrieb als objektiv verstehender Geist hinterlässt, indem die subjektiven Ergebnisse Einzelner in einen intersubjektiven Kontext gestellt und verglichen werden. Zwar bleibt Schillers ursprüngliches Argument damit unangetastet – das reine Begreifen im Spiel ist auch ohne Interpretation möglich. In philosophischen Bildungssituationen schadet es allerdings auch nicht, einen weiteren Blick zu wagen.

Spielen mit dem Weltsymbol In Opposition zu Platon und in Anlehnung an Schiller begreift Fink das Spiel als Grundphänomen des menschlichen Lebens, in dem dieses im wahrsten Sinne des Wortes ist. Dieses Sein hat eine zweifache Verweisstrukur, da der Mensch nicht nur einfach ist, sondern sich auf sein Dasein bezieht21. Anders als andere menschliche Grundphänomene wie der stets bevorstehende Tod, Arbeit, Macht, Herrschaft oder Liebe, ist das Spiel jedoch nicht an einem Endzweck, der wohl am besten als Sinn verstanden wird, orientiert. Das hießt nicht, dass das Spiel keinen Sinn in sich hätte: Mit der Abgrenzung gegenüber anderen Tätigkeiten des Menschen und der Ausgrenzung aus der Ontologie eines Endzweckes gerät das Spiel in die Dichotomie von Sein und Schein, in der die Frage nach dem NurScheinen als geistiges Erbe Platons offensichtlich ist. Fink kommt zum Schluss, dass das Spiel – selbst als Spielweltschein – nicht einfach nichts sein kann, wenn wir dazu in der Lage sind, darin zu sein, darin zu spielen oder in seltenen Fällen gar darin zu leben22. Eine reine Beschränkung auf eine Spiegelung einer höheren Wirklichkeit ist damit jedoch noch nichts entgegengesetzt. Für Fink nimmt der ontologische Schein des Spiels eine wesentliche Rolle in seinen Überlegungen ein, 20 Vgl. Schiller, a.a.O. Brief 13 – S. 50; in Schillers Fußnote zu dieser Problematik. 21 Vgl. Fink, a.a.O. S. 15 f. 22 Vgl. Fink, a.a.O. S. 26.

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die erst in der Überwindung Platons konsistent werden können. Dazu verwendet er die genannte doppelte Verweisstruktur erneut, indem er das menschliche Spiel als Verweis auf das Weltganze begreift, während das Spiel gleichzeitig in Opposition zum Sein der Welt bleibt. Dieser Verweis ist als Repräsentation zu verstehen und kann nur unter dem Gebrauch eines spezifischen Symbolbegriffes gültig sein23. Ein Symbol ist in diesem Verständnis – ähnlich wie bei Cassirer24 – nicht ein Zeichen für etwas anderes – wie wir es von sprachlichen Zeichen kennen, die für etwas in einer Realität stehen – sondern es gibt den Verweis auch auf sich selbst25. Für eine Differenzierung könnte man daher mit sprachlicher Feinheit zunächst meinen, Zeichen repräsentieren während Symbole allein präsentieren; da das Symbol sich aber in einer Binnenweltlichkeit26 auf sich selbst bezieht, ist es selbst auch als repräsentativ zu verstehen. Mit etwas metaphysischem Überschuss benennt Fink diesen Unterschied, indem er das Symbol als »welttief«27 beschreibt, das in seiner Verweisung auf das Weltganze zur einer »Welt-Anschauung«28 führt. Als ein Einzelnes, das auf ein Ganzes verweist, ist jedes Symbol daher stets nur bruchstückhaft und als Fragment zu begreifen29, das ergänzt und in seinem Verhältnis zum Ganzen ausgedeutet werden muss. Das Spiel ist in diesem Sinne plausibel als Weltsymbol und Weltfragment, das in einem klar definierten Verhältnis zur Welt statt der Welt gegenüber steht. Welt unterteilt Fink schließlich in vier Kategorien: (1) Eine Form von Innerweltlichkeit, die sich in einer Form von Spielsphäre denken lässt, in der das Spiel vollzogen wird; (2) das Walten der Welt, das nicht als (Menschen-)Spiel zu begreifen ist, weil es eine Ganzheit innehat, die im Fragment nicht wiedergefunden werden kann; (3) ein Verhältnis – im Sinne eines Verständnisses – zur Welt; (4) eine Weltlichkeit, die durch Freude, Lust und Sinnlichkeit bestimmt wird30. Mit dem Abgrenzungscharakter der Punkte 1 und 4 gegenüber verschiedenen Opponenten ist das Spiel als Sphäre notwendig in einer anderen Dimension der Wirklichkeit zu verorten; nur wenn Welt und/oder Kultur tatsächlich gespielt werden können, ist ein Übergang zwischen den herausgearbeiteten Sphären der Wirklichkeit möglich. Das wäre mit Fink in der Tat möglich, wenn der Begriff der Welt ausgeweitet würde und diese all das ist, was ist – was das Spiel einschlösse31. 23 24 25 26 27 28 29 30 31

Vgl. Fink, a.a.O. S. 48 f. Vgl. Ernst Cassirer: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. Darmstadt 81997. Vgl. Fink, a.a.O. S. 123. Vgl. Fink, a.a.O. S. 130. Fink, a.a.O. S. 123. Fink, a.a.O. S. 126. Vgl. Fink, a.a.O. S. 129 und S. 137. Vgl. Fink, a.a.O. S. 208–212. Ganz ähnlich formuliert Fink es zunächst selber – vgl. Fink, a.a.O. S. 195.

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Mit der Auffassung der dritten Kategorie ließe sich dies in einer epistemischen Dimension fortsetzen, in der die Welt im Spiel entdeckt und verstanden wird, was nur möglich ist, wenn die Welt nicht nur das Spiel enthält, sondern wenn auch das Spiel die Welt enthalten kann. Da die Begriffe Welt und Spiel keine Schachteln sind, müssen sie ohnehin nicht ineinander gestapelt werden; es bietet sich das Modell einen fließenden Überganges an. Nur so ist Finks Schluss verständlich, der zusammenfasst, dass der Mensch sich – in anthropologischer wie ontologischepistemischer Lesart – im Spiel transzendiert und sich seiner Wirklichkeit zu Gunsten von Möglichkeiten entledigt. Damit eröffnet das Spiel in anthropologischer Hinsicht einen Spielraum des Ausprobierens, des Entrinnens und der Weltöffnung, die dem Menschen Freiheiten jenseits der Notwendigkeiten der Welt bietet; das Spiel ist Ekstase des Menschen zur Welt32. Gleichzeitig ist das Spiel in symbolischem Verständnis Welt, in der Sein und Schein in ein untrennbares Verhältnis treten. Über Fink hinaus ist nicht nur der »Rückschein der Welt«33 im Spiel zu beobachten, sondern im Sinne des selbstverweisenden Symbols die Welt selber. Unsere Deutung von Phänomenen in der Welt nehmen wir daher zum einen im Spiel vor, was dem Spiel selber eine epistemische Dimension verleiht, und zum anderen als34 Spiel vor, indem wir es als Interpretationsmodell auf die Welt anwenden. Mit Verweis auf die Augen mit grünen Gläsern von Kleist35, könnte man von einer Spielbrille sprechen, durch die man die Welt anschaut und ent-deckt. Im Gegensatz zum Problem der unbewussten grünen Gläser, ist die Spielbrille aber methodisch aufsetz- und abnehmbar, so dass eine Interpretation der Welt als Spiel nachvollziehbar wird. Schwieriger zu beschreiben ist die Dimension der Erkenntnis im Spiel. Eine wissenschaftlich oder wenigstens rational geprägte Untersuchung binnenweltlicher Phänomene im gleichzeitigen fiebrigen Zustand des Spielens ist kaum möglich – »[d]er spielende Mensch denkt nicht und der denkende Mensch spielt nicht.«36 Dennoch entdeckt der Spieler kontemplativ Zusammenhänge, begreift Mechanismen und erkennt Strategien; er hat schöpferische Einfälle und entwickelt Lösungen für einfache und komplexe Probleme. Dieses Phänomen ist in der Philosophie nicht unbekannt: In der Wissenschaftstheorie verweist Popper in ähnlicher Weise auf einen Entdeckungszusammenhang und die dazugehörige Begründung oder Erklärung. Während die wissenschaftliche Hypothesenbildung als Entdeckungszusammenhang durch wissenschaftliche Mechanismen kaum

32 Vgl. Fink, a.a.O. S. 214–216. 33 Fink, a.a.O. S. 215. 34 Vgl. Fink, a.a.O. S. 253. 35 Brief vom 22. März 1801 an Wilhelmine von Zenge; Vgl. Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Band 4. Hrsg. von Ilse-Marie Barth. Frankfurt am Main 1997. S. 205. 36 Fink, a.a.O. S. 76.

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oder gar nicht zu beschreiben ist, ist allein der Rechtfertigungszusammenhang primär rational geprägt und Fokus einer methodologischen Diskussion37.

Spielen in methodischer Absicht Für das Spielen in methodischer Absicht im Philosophie- und Ethikunterricht ist diese Unterscheidung wichtig: Im Spiel selbst entdeckt oder erkennt der Mensch; in einer Anschlusshandlung erklärt und reflektiert er in begrifflicher Arbeit, was er entdeckt oder erkannt hat. Ein methodisches Spielen besteht also aus beiden Elementen: Entdeckung und Erkenntnis (Spielen) Ordnung, Reflexion und Erklärung (Anschlusshandlung)

> methodisches Spielen

Dieses Modell des methodischen Spiels behauptet nicht, dass Erkenntnisse im Spiel weniger wert wären und dass sie per se diskursiv, begrifflich und rational (nach-)erklärt und geordnet werden müssten. Allein für eine methodische Auseinandersetzung, die über die intuitive und individuelle Erkenntnis des Einzelnen in einer Kontemplation hinausgeht, ist eine Form der sozialen Objektivierung notwendig, um ein Anschlusshandeln gewährleisten zu können. Methoden der Rechtfertigung und Überprüfung sind in der Philosophie mannigfaltig vorhanden. Spielen ist damit schließlich als eine besondere Form des Philosophierens zu verstehen, in der auf unterschiedliche Weisen ein Zugang zur Welt erlangt werden kann. Neben dem Schreiben narrativer Texte und dem Schaffen und Ansehen von Kunst verweist auch die symbolische Struktur des Spiels selber und das Verhältnis zur Welt auf eine epistemische Funktion des Spielens. Im Spielen transzendiert sich der Mensch in eine Spielsphäre jenseits des allein Möglichen und erlangt die Optionen, auch das Unmögliche zu testen und zu denken. Das Spiel erweitert den Menschen daher anthropologisch um die Dimension des Als-ob und macht ihn wirklich weltoffen – auch indem er die Spielbrille als Interpretationsmodus auf die Welt selber anwendet. Schließlich ist Spielen nicht ohne den Begriff des Schönen zu verstehen, in dem eine kontemplative Erkenntnis des Wahren zu erlangen ist, die jenseits einer Interpretation steht. Spielen steht damit in philosophischer Tradition und ergänzt einen begriff- und symbolorientierten Philosophieunterricht um eine eigene Sphäre des Als-ob, die methodisch zum Beispiel in Gedankenexperimenten, Utopien, Filmen und Geschichten zum Philosophieren etabliert ist. Über die narrative Fiktion hinaus bietet das Spiel einen Raum des Tätigseins, in dem philosophische Probleme 37 Vgl. Karl Popper: Logik der Forschung. Wien 1935.

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selber gelöst und erfahren werden können, was wiederum zu einer anschließenden Situation der Deutung führt.

Bei-Spiele Die Anwendungsmöglichkeiten eines solchen Spielbegriffes sind vielfältig und widersprechen einer Interpretation der Zeichen im Spiel nicht zwangsläufig. Selbst das Lesen und Deuten narrativer Texte gehört im weitesten Sinne in den hier herausgearbeiteten Spielbegriff in methodischer Absicht. Dennoch ist es besonders das Tätigsein selber, welches im Fokus eines durch Ganzheitlichkeit, Schülerzentrierung sowie Handlungs- und Problemorientierung gekennzeichneten Unterrichts steht, der das Erlebnis als pädagogisches Instrument begreift. Die beiden folgenden fünf Spiele können als Beispiele auf ein Verstehen im Spielen selber und einige didaktische und methodische Anschlussmöglichkeiten verweisen.

Der Fall Turing Zwei Schüler spielen in einem Schreibgespräch die folgende dialogische Situation (welche phänomenologisch am PC, Tablet oder Smartphone mehr Reiz bietet): Ein Spieler versucht seinen Computer oder sein Tablet abzuschalten, während der andere Spieler als eben dieser Rechner Gründe vorbringt, warum es ein Unrecht oder gar unmoralisch wäre, das Gerät herunterzufahren. Die Situation kann durch den Lehrer narrativ eingekleidet werden und durch eine Geschichte begleitet sein, die auch auf futuristische Sorgen einer ScienceFiction-Welt hindeutet, in der die Roboter sich nicht mehr einfach abschalten lassen wollen. Das Spiel deutet weniger auf das Problem künstlicher Intelligenz hin, als es im ersten Moment scheint, sondern könnte als ethisches Solipsismusproblem auch analog zu einer Ethik der Tiere, Pflanzen oder Steine angewendet werden; zudem ergänzen existenzphilosophische Fragen eine Auswertungssituation. Da anschließend an das schriftliche Rollenspiel ein Produkt vorliegt, lassen sich die beiden Schritte des Spiels und der Deutung gut voneinander differenzieren.

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Was bin ich?38 Die in der Tabelle genannten Situationen werden als Kärtchen ausgeschnitten und an verschiedene Gruppen verteilt, die jene in Rollenspielen nachspielen. Dabei sollen die Schüler zunächst zwischen einer vernünftigen und einer emotionalen Reaktion unterscheiden und die Alternativen ausprobieren.

Ihr habt den Zug nach Hause verpasst.

Ihr wurdet beim Fußball besiegt. Schon wieder…!

Ihr habt alle schlechte Laune.

Ihr seid die schönsten Ihr seid unheimJungen und Mädchen lich fröhlich. der Klasse.

Einer von euch ist Ihr seid leider ziemlich dumm – aber ein sehr verglücklich. wöhntes Kind.

Mathematik macht euch besonders viel Spaß.

Ihr seid süchtig nach Schokolade.

Ihr ekelt euch vor der Farbe Grün.

Ihr seid die mutigsten Jungen und Mädchen der Klasse. Ihr seid sehr verliebt ineinander.

Die Situationen werden anschließend der gesamten Klasse vorgestellt, die errät, ob die emotionale oder vernünftige Version dargeboten wurde. Anschlussoptionen liegen in der Untersuchung, ob es für alle Situationen eine vernünftige und emotionale Reaktion gegeben hätte, worin sich Emotionalität und Vernunft unterscheiden und ob sie sich dichotom ausschließen müssen. Thematisch könnte nach der gesellschaftlichen Norm in der Reaktion auf die genannten Situationen gefragt werden, die sich philosophiehistorisch stoisch oder epikureisch problematisieren lassen.

Vater, Vater, Kind Im Aufbrechen klassischer Vorurteile werden stereotype Familiensituationen (Abendessen, Zeugnistag, Vorstellen der neuen Freundin etc.) nachgespielt, in denen die Mutter-Vater-Kind-Rollen neu besetzt werden. Dabei sind ganz unterschiedliche Ideen denkbar, die Hetero-, Homo- und Transsexualität ebenso aufgreifen wie offene und tradierte Modelle von Patchwork- oder Großfamilien. Rollenspiele dieser Art sind unter kulturphilosophischen Fragen ebenso einsetzbar wie unter anthropologischen oder ethischen Erwägungen. 38 Vgl. Silke Pfeiffer, Christian Klager: Spielend Philosophieren. Leipzig 2012. S. 98.

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Der Hilfe-Parcours Auf einer Wiese mit Bäumen (oder einem Schulhof mit Pfählen) werden Seile an den Stämmen befestigt, die einen Parcours bilden, der mit verbundenen Augen durchlaufen werden soll. Die Spielregeln sind simpel und lauten: 1. Taste dich am Seil den Parcours entlang und finde den Ausgang. 2. Wenn du glaubst, den Ausgang gefunden zu haben, rufe laut Ausgang und ein Spielleiter wird zu dir kommen und dir erklären, ob du Recht hast. Binde noch nicht das Tuch ab! 3. Wenn du Hilfe benötigst, rufe laut Ich bitte um Hilfe! und ein Spielleiter wird zu dir kommen und dir helfen. Der Witz des Spiels besteht darin, dass der Parcours so erstellt wird, dass es keinen Ausgang gibt und das Seil, an dem man sich entlangtastet, zwar auf verschlungenen Wegen aber doch im Kreis verläuft. Der Ausgang aus dem Parcours besteht allein darin, um Hilfe zu rufen. Erfahrungsgemäß ruft dieses Spiel Verwirrung und in seiner Auflösung Frustration hervor, weil gerade ältere Schüler nicht um Hilfe bitte möchten. Das Spiel bietet Anschlussmöglichkeiten in mehrfacher Hinsicht: In einer Vermittlung kann es im Bereich der Ethik zum Aspekt Zivilcourage oder Mündigkeit eingesetzt werden aber auch metaphysisch stellt sich etwa die Frage, ob der Ausgang aus einem Seilparcours in einer sprachlichen Äußerung gefunden werden kann, so dass sich sprachphilosophische Untersuchungen zum Beispiel zu Sprechakten anbieten.

Der Sturm der Zweifel Jeder überlegt sich einen Satz, den er für wahr und sicher hält. Ein Partner versucht Zweifel an dieser Aussage aufkommen zu lassen und muss überzeugt werden, dass diese Zweifel unbegründet sind. Beispiele für solche Aussagen wären: – Am 24. Dezember ist Heiligabend. – Ich habe Zahnweh. – 7+4=11 – Ich habe ein Gehirn. – Es gibt ein Land namens Amerika. Das Spiel eignet sich besonders zur Frage nach wahrem und sicherem Wissen und zeigt gleichzeitig die Grenzen menschlicher Entdeckungen und der Überzeugungskraft von Argumentation auf. Gleichzeitig gibt das Spiel Anlass zur Reflexion über die Sicherheit alltäglichen Wissens und führt damit in den methodischen Zweifel der Skeptiker ein.

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Videospiele im Philosophieunterricht? Game Studies im Kontext fachdidaktischer Reflexionen Jens Heinrich

Press any key to start the game Videospiele sind keine einseitigen und kurzlebigen Entertainmentprodukte, sondern erlauben interessante und komplexe Zugänge aus mehreren wissenschaftlichen Disziplinen. Diese These soll in dem vorliegenden Beitrag diskutiert, untermauert und für den Gebrauch im Philosophieunterricht fruchtbar gemacht werden. Denn Videospiele besitzen längst einen festen Platz im Alltag Jugendlicher und können daher nicht ausgeklammert werden, wenn sich Schule und Fachdidaktik nicht zu weit von der Lebenswirklichkeit ihrer Lerner entfernen möchten. Videospiele besitzen ein weitestgehend negatives öffentliches Image. Dies liegt zum Einen wohl darin begründet, dass neue Medien stets kritischen Blicken unterliegen und als »Projektionsfläche für konservativ-kulturpessimistischen Skeptizismus«1 dienen, weswegen sie häufig ins Kreuzfeuer populärwissenschaftlicher Publizisten geraten, die über verschiedene Nachrichtenkanäle ihre Thesen verbreiten und so die öffentliche Wahrnehmung beeinflussen.2 Zum Anderen sind gerade Videospiele ein willkommener Sündenbock für Amokläufe wie beispielsweise der in Erfurt 2002 oder in Winnenden 2009.3 Dadurch, dass populäre Nachrichtenkanäle und Politiker die Ursache solcher Taten in Videospielen sehen, bleibt das Image von Videospielen in der öffentlichen Debatte weiterhin negativ. Dadurch rücken jedoch Aspekte in den Hintergrund, die ein wesentlich größeres Erklärungspotential für derartige Gewalttaten bieten: »Politicians who get hot and heavy about violence in video games usually don!t want to worry about such contexts – contexts like poverty, bad parenting, and a culture that celebrates greed, war, and winning […] we ban games, books and movies to save ourselves from a handful of disturbed teenagers who would have been better served by better families and schools.«4

1 Jost, Roland und Axel Krommer: Vorwort. In: Comics und Computerspiele im Deutschunterricht. Fachwissenschaftliche und fachdidaktische Aspekte. Hrsg. von Roland Jost und Axel Krommer. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2011. S. VII. 2 Vgl. ebd., S. VIIff. 3 Vgl. ebd., S. IXf. 4 Gee, James P.: Good video games + good learning. Collected Essays on Video

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Dies wird von Forschungen unterstützt, die belegen, dass Videospiele an sich keinen schädlichen Einfluss auf die Spieler haben und dass Studien, die einen solchen Einfluss angeblich beweisen, erhebliche Defizite in der wissenschaftlichen Fundierung aufweisen und daher nicht dazu geeignet sind, qualitative Urteile über die Wirkung von Videospielen zu treffen.5 Es wird natürlich nicht vorbehaltlos befürwortet, dass Kinder und Jugendliche Zugang zu Gewalt darstellenden Videospielen haben sollten. In diesem Beitrag werden jedoch die Mechanismen und Strukturen, die hinter Videospielen allgemein stehen, analysiert, denn »[w]ir alle – Eltern, Lehrer, Politiker, Kinder – brauchen nicht mehr Kontrolle, sondern mehr Verständnis.«6 Dieses Verständnis betrifft zugleich Eltern und ihre Kinder, denn »Tatsache ist […] dass […] Computerspiele eine bedeutende Rolle im (Welt-)Wissen und in der ästhetischen Erfahrung von Jugendlichen spielen«7. Das heißt, dass Kinder als auch Erwachsene einen kompetenten Umgang mit Videospielen erlernen müssen. Insbesondere Eltern müssen ihren Kindern diesen verantwortungsvollen Umgang nicht nur mit Videospielen, sondern mit sämtlichen Medien beibringen.8 Werden Kinder hingegen in der Benutzung von Medien allein gelassen, dann wundert es nicht, wenn sie von Gewaltdarstellungen, die sich schließlich nicht nur in Videospielen, sondern auch in Filmen und Büchern finden, verstört werden. Das Ziel der Medienkompetenz im Umgang mit Videospielen soll ein »reflective state of mind«9 sein. Medien wie Videospiele sind daher nicht intrinsisch gut oder schlecht, entscheidend ist, wie die Benutzer mit den Medien umgehen und in welche Kontexte sie eingebettet werden.10 Darüber hinaus ist es erstaunlich, wie lange die akademische Welt Videospiele vernachlässigt hat. Dies mag zum Einen daran liegen, dass sie als Spiele für Kinder gelten, zum Anderen, dass sie als triviale Entertainmentprodukte abgestempelt werden.11 Doch Videospiele haben das Potential, äußerst komplex und vielfältig Games, Learning and Literacy. New York u. a.: Lang 2007 (= New literacies and digital epistomologies 27). S. 11. 5 Vgl. Schott, Gareth und Maria Kambouri: Social Play and Learning. In: Computer Games. Text, Narrative and Play. Hrsg. von Diane Carr u. a. Cambridge: Polity 2006. S. 119–132. 6 Jones, Gerard: Kinder brauchen Monster. Vom Umgang mit Gewaltphantasien. Berlin: Ullstein 2005. S. 274. 7 Jost und Krommer: Vorwort. S. XI. 8 Vgl. Laschet, Armin: Grußwort. Computerspiele und Politik: Zwischen Wirtschaftspolitik, Jugendmedienschutz und Bildungspolitik. In: Clash of Realities. Computerspiele und soziale Wirklichkeit. Hrsg. von Winfred Kaminski und Martin Lorber. München: Kopaed 2006. S. 10 f. 9 Gee, James P.: What video games have to teach us about learning and literacy. Revised and Updated Edition. New York u. a.: Palgrave Macmillan 2007. S. 13. 10 Vgl. Gee: Good video games + good learning. S. 7 f. 11 Vgl. Newman, James: Videogames. London u. a.: Routledge 2004. S. 5.

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Game Studies im Kontext fachdidaktischer Reflexionen

zu sein, sodass sich eine Beschäftigung damit auch im akademischen Bereich lohnt. Obwohl Videospiele Ansätze aus mehreren wissenschaftlichen Disziplinen ermöglichen, ist eine philosophische Perspektive äußerst rar. Vereinzelt lassen sich Essays über beispielsweise die ästhetische Qualität von Videospielen ausmachen, was jedoch gänzlich fehlt, ist ein fachdidaktischer Ansatz, der es Philosophen ermöglicht, Videospiele gewinnbringend in den Philosophieunterricht unterzubringen. Dieser Beitrag soll ein Schritt in diese Richtung sein. Er soll daher eine fachdidaktische Grundlage zur philosophischen Beschäftigung von und mit Videospielen in Lehr- und Lernkontexten legen und zeigen, dass eine Beschäftigung mit Videospielen (nicht nur im Philosophieunterricht) äußerst fruchtbar sein kann und sich zudem fachdidaktisch begründen lässt. Um dies zu erreichen, sollen verschiedene Aspekte und Ergebnisse der Game Studies, die wissenschaftliche Disziplin, die sich mit Spielen und insbesondere mit Videospielen beschäftigt, mit Erkenntnissen der Philosophie und ihrer Didaktik verknüpft werden. Dadurch entstehen Kontexte, in denen Videospiele philosophische Fragen aufwerfen und bereits inhärent philosophisch sind. Die Leitfrage lautet daher: Welches Potential haben Videospiele für die Philosophie und inwiefern besitzen sie einen Mehrwert im Unterricht? Dazu wird wie folgt vorgegangen. Zunächst soll die noch junge Disziplin der Game Studies vorgestellt werden, um anschließend ein deutliches Bild von Videospielen an sich, ihren Besonderheiten und der akademischen Beschäftigung mit diesem Medium zu bekommen. Im Anschluss daran werden Videospiele in den Kontext der Fachdidaktik gestellt. Dabei werden sie über die symbolischen Formen als alternative Weltausschnitte analysiert, wonach sich eine philosophische Betrachtung rechtfertigen lässt. So wird sich zeigen, dass einige Videospiele dafür geeignet sind, beispielsweise moralisches Denken und Handeln zu unterstützen und aktiv zu fördern. Dass Videospiele nicht ausschließlich positive Aspekte, sei es in ihrem Inhalt oder ihrer Wirkung, enthalten, wird selbstverständlich nicht ausgeschlossen. In diesem Beitrag soll jedoch der Fokus auf die positiven Aspekte von Videospielen gelegt werden, um ihre Notwendigkeit für die Philosophie und ihre Didaktik zu demonstrieren. Es sollte sich am Ende der Arbeit gezeigt haben, dass Videospiele aufgrund ihrer komplexen und multiperspektivischen Struktur ernst genommen werden müssen, wenn sich die (akademische und schulische) Beschäftigung mit ihnen und vor allem die Fachdidaktik nicht zu weit von der Realität der Lerner entfernen möchte. Was Videospiele sind, worin ihre Besonderheiten liegen und weshalb sich die Beschäftigung mit ihnen im akademischen und vor allem schulischen Bereich lohnt (und mittlerweile als unumgänglich darstellt), stellen die wichtigsten Ergebnisse dieser Arbeit dar.

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Level 1: Game Studies Dieses Kapitel beinhaltet die Darstellung der wissenschaftlichen Disziplin, die sich mit Spielen und insbesondere mit Videospielen beschäftigt. Zusätzlich werden die Besonderheiten dieser analysiert, um sie von anderen Medien abzugrenzen. Dieser Überblick dient somit als Grundlage für die weitere Betrachtung des potentiellen Mehrwertes von Videospielen in schulischen Kontexten. Die Erkenntnisse der Game Studies und die Besonderheiten von Videospielen legen die Basis für eine Perspektive, die dem Medium der Videospiele gerecht wird und sie adäquat beschreibt.

1.1 Was Videospiele (nicht) sind Um eine stringente Argumentation zu ermöglichen, muss der Untersuchungsgegenstand zunächst beschrieben und analysiert werden. Wie sich herausstellen wird, ist dies bei Videospielen jedoch nicht ohne weiteres möglich, weshalb eine genaue Definition, die Aspekte aller Videospiele beinhaltet, nur schwer möglich ist. Daher kann sich einer Definition nur über die Darstellung verschiedener medientypischer Aspekte genähert werden. Das Videospiel12 ist ein noch verhältnismäßig junges Medium. Das genaue Datum der Entstehung ist dabei umstritten. So sehen manche Quellen das 1958 12 Der Begriff »Videospiele« wird in dieser Arbeit im Bewusstsein dessen verwendet, dass der Begriff nicht unumstritten ist. So existieren Bezeichnungen wie »Computerspiele«, »interaktive Spiele« oder »elektronische Spiele« in der Forschungsdebatte. »Videospiel« wird verwendet, da andere Begriffe weitestgehend ungeeignet für die Beschreibung des Mediums erscheinen. »Elektronische Spiele« ist zu weit gefasst, da so auch Spiele in die Debatte geraten, die nicht zwangsläufig auf einem Bildschirm dargestellt werden, während »interaktive Spiele« tautologisch ist, denn welches Spiel erfordert kein Eingreifen seitens der Spieler, auch wenn Videospiele eine besondere Form der Interaktion beinhalten? (Vgl. Mäyrä, Frans: An introduction to game studies. Games in culture. London u. a.: SAGE 2010. S. 6.). »Computerspiele« kann unter der Prämisse verwendet werden, dass nicht ausschließlich Spiele gemeint sind, die auf einem Personal Computer gespielt werden, sondern auch auf Konsolen, Handhelds o. ä. verwendbar sind. Auch »Videospiele« ist kein vollständig adäquater Begriff, um das Medium zu beschreiben, da die Etymologie nahelegt, dass ein Primat auf dem Sehen liegt, was bei der zu beschreibenden Sorte von Spielen jedoch ausdrücklich nicht der Fall ist. Dennoch soll der Begriff »Videospiele« weiterhin verwendet werden, da dieser dem Wesen des Mediums, neben »Computerspiele«, womöglich am nächsten kommt und da die Beobachterperspektive eine wichtige Rolle im Spielprozess einnimmt – dazu jedoch an späterer Stelle mehr. Eine Bezeichnung, die die Gesamtheit der Phänomene von Videospielen umfasst und adäquat wiedergibt, muss daher noch gefunden werden.

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fertig gestellte Tennis for Two13 als das erste Videospiel an, andere hingegen nennen das 1962 am Massachusetts Institute of Technology programmierte Spacewar14.15 Gemeinsam hatten jedoch beide Programmierarbeiten, dass sie kein Selbstzweck waren. Sie wurden nicht programmiert, um Spiele zu kreieren, sondern für Experimente nutzbar zu machen, beispielsweise um die MenschComputer-Interaktion zu untersuchen.16 Jahre später transzendierten die Spiele jedoch die Schotten der Labore und wurden markttauglich.17 Nach anfänglicher Industrie-Krise konnten sich Videospiele am Markt behaupten, sodass ArcadeSpielhallen18 nun nicht mehr die einzige Möglichkeit waren, Videospiele zu spielen und so die ersten Heimkonsolen ihren Weg in die Wohnzimmer fanden. Aus einer weiteren Krise, die der Überproduktion qualitativ minderwertiger Spiele geschuldet war und eine Sättigung des Marktes nach sich zog, ging die Firma Nintendo eindeutig als Gewinner hervor und demonstrierte mit Hilfe Shigeru Miyamotos, dem geistigen Vater der bis heute erfolgreichen Mario-, Zelda- und Donkey Kong-Reihen, eindrucksvoll das kreative und visionäre Potential von Videospielen. Videospiele waren Mitte der 1980er Jahre endgültig am Massenmarkt angekommen und nicht nur im Besitz von einigen wenigen Technikinteressierten, sondern begeisterten (und begeistern) mehrere darauf folgende Generationen.19 Die Videospielbranche hat daher eine recht bewegte Vergangenheit.20 Was jedoch die Jahre über konstant geblieben ist, ist die weitestgehend negative Rezeption vor allem in den Populärmedien. Wie bereits einleitend dargestellt, besitzen Videospiele nur bedingt kulturelle Akzeptanz und wurden (und werden) »als Low Culture Trash verunglimpft – bestenfalls als eine Zeitverschwendung und schlimmstenfalls als eine Quelle kriminellen und soziopathischen Verhaltens.«21 Es wird dabei häufig übersehen, dass ein Medium an sich zwangsläufig 13 Tennis for Two. William Higinbotham. William Higinbotham 1958. 14 Spacewar. Steve Russell u. a. Massachusetts Institute of Technology 1962. 15 Vgl. Newman: Videogames. S. 1 f. 16 Vgl. Malliet, Steven und Gust de Meyer: The History of the Video Game. In: Handbook of computer game studies. Hrsg. von Joost Raessens und Jeffrey Goldstein. Massachusetts: MIT Press 2005. S. 23 ff. 17 Vgl. ebd. 18 Arcades sind Spielautomaten, die es dem Spieler erlauben, gegen Münzeinwurf das auf dem Arcade-Automaten installierte Spiel zu spielen. 19 Vgl. Malliet und de Meyer: The History of the Video Game. S. 23–38. 20 Für weitere Einblicke in die Videospielhistorie eignen sich neben dem von Malliet und de Meyer folgende Werke: Vgl. dazu: Herz, Jessie C.: Joystick nation. How videogames gobbled our money, won our hearts and rewired our minds. London: Abacus 1997. Und: Kent, Steve L.: The ultimate history of video games. From Pong to Pok#mon and beyond. The story behind the craze that touched our lives and changed the world. New York: Three Rivers Press 2001. 21 Aarseth, Espen: Warum Game Studies? In: Clash of Realities. Computerspiele und

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keine negativen Effekte hervorruft – entscheidend sind die Kompetenzen im Umgang damit. Videospiele stellen keine Ausnahme dar, denn schließlich »gibt es ebenso viele gute und schlechte Spiele, wie es gute und schlechte Bücher gibt«22, Videospiele präsentieren ihre Inhalte lediglich auf anderen Wegen. Allzu überspitzte Forschungsmeinungen tragen womöglich zu dieser negativen Wahrnehmung bei. So konzentrieren sich einige empirische Untersuchungen von Videospielen ausschließlich auf einen bestimmten Aspekt,23 werden dem Medium als Gesamtes damit jedoch nicht gerecht, da sie den Blick auf nur ein bestimmtes Merkmal richten, ohne beispielsweise Reziprozitätseffekte von Immersion und Agency24 zu betrachten, was somit einen enormen Teil dessen ausklammert, was Videospiele im Kern bewirken und ihre Wirkungen so auf ein gefährliches Maß reduziert und sie somit simplifiziert werden. Es zeigt sich, dass Videospiele nicht nach traditionellen Maßstäben beurteilt werden können. Viele Hilfsmittel, die bei der Literatur- oder Filmanalyse erfolgreich sind, versagen ihren Dienst bei Videospielen, da sie einen aktiven Rezipienten verlangen. Zwar ist dieser bei Büchern oder Filmen natürlich nicht rein passiv – der Interpretationsvorgang von Büchern oder Filmen benötigt selbstverständlich aktives Mitdenken, um hermeneutische Prozesse in Gang zu setzen – jedoch verlangen Videospiele ein Eingreifen in die Spielwelt seitens der Rezipienten, »Games are both object and process; they can!t be read as texts or listened to as music, they must be played.«25 Ohne den Rezipienten geschieht nichts, während ein Film auch ohne Zutun des Zuschauers weiterläuft. Auch wenn Videospiele Teile aus anderen Medien besitzen (beispielsweise filmische Inszenierungen oder literarisch-narrative Erzählungen), besteht ein großer Teil ihrer besonderen Wirkungs- und Faszinationskraft in der Möglichkeit, direkt in die Spielwelt einzugreifen und diese verändern zu können: »Meaning is not embedded within the game, but rather is revealed through use.«26 Spieler werden daher

soziale Wirklichkeit. Hrsg. von Winfred Kaminski und Martin Lorber. München: Kopaed 2006. S. 22. 22 Ebd. 23 Vgl. Trippe, Rebecca: Virtuelle Gemeinschaften in Online-Rollenspielen. Eine empirische Untersuchung der sozialen Strukturen in MMORPGs. Berlin: LIT 2009 (= Game Studies 1). S. 36–48. 24 Zu diesen Begriffen folgt eine Beschreibung und Erläuterung am Ende des Kapitels. 25 Aarseth, Espen: Computer Game Studies, Year One. In: Game Studies 1 (2001). (Das Journal »Game Studies. The international journal of computer game research.« kann online unter www.gamestudies.org abgerufen werden. Die Beiträge sind leider nicht im PDF-Format verfügbar, weshalb keine allgemein zitierbaren Seitenzahlen angegeben werden können.) 26 Newman: Videogames. S. 2.

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im wörtlichen Sinn als nomina agentis zu Spielern, Videospiele erfordern »player activity«27. Soweit zu der ersten Annäherung an Videospiele. Auch wenn keine endgültige Definition gefunden werden kann, so ließen sie sich doch folgendermaßen beschreiben: Videospiele sind digitale Medien, in denen der Rezipient mittels eines Eingabemediums aktiv in das Spielgeschehen eingreifen muss, um es voran zu treiben und gestaltet es dadurch im Rahmen der Spielregeln selbst. Sie sind also keine passiven Medien, da der Mehrwert im Selber-Spielen liegt.

1.2 Vorstellung der Game Studies Nachdem eine Arbeitsdefinition von Videospielen etabliert wurde, soll nun die wissenschaftliche Disziplin zu Wort kommen, die Videospiele als ihren Forschungsgegenstand ansieht. Dabei soll ein besonderer Fokus auf der Debatte liegen, die die Game Studies in ihrer noch jungen Tradition bisher am nachhaltigsten beeinflusst hat: Narratologie vs. Ludologie. Da ein flächendeckender Überblick über die Forschungsfelder der Game Studies in dieser Arbeit nicht zu leisten ist, soll diese Debatte exemplarisch angeführt werden, weil sie am deutlichsten zeigt, welche Schwierigkeiten sich ergeben, wenn Videospiele in ein akademisches Licht gerückt werden – und welche Chancen daraus erwachsen können. Espen Aarseth rief 2001 die wissenschaftliche Disziplin aus,28 die vorher aus eher ungeordneten und orientierungslos scheinenden Einzelbeiträgen bestand und keinen auf Konsens beruhenden Namen trug. Nachdem nun ein Forum für das gemeinsame Forschungsinteresse geschaffen wurde, sahen sich die Game Studies mit einem Problem konfrontiert: »Game studies is faced with the double challenge of creating its own identity, while at the same time maintaining an active dialogue with the other disciplines.«29 Dies zeigt sich besonders deutlich an dem Konflikt, der zwischen Narratologen und Ludologen ausgetragen wurde. Narratologie stammt aus dem Bereich der Literaturwissenschaft und beschreibt die Lehre des Erzählens.30 Ludologie umfasst die Lehre von den exklusiv spielerischen Qualitäten von Spielen.31 Ludologen vertreten den Standpunkt, dass Spiele, insbesondere Videospiele, nach ihren intrinsischen Kriterien beurteilt werden sollten, denn »[g]ames are not a kind of cinema, or literature, but colonising attempts from both these fields have 27 Ebd., S. 16. 28 Vgl. Aarseth: Computer Game Studies, Year One. 29 Mäyrä: An introduction to game studies. S. 5. 30 Vgl. Schmid, Wolf: Elemente der Narratologie. 3. erweiterte und überarbeitete Auflage. Berlin und Boston: de Gruyter 2014. S. 1 ff. 31 Vgl. Mäyrä: An introduction to game studies. S. 8 f.

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already happened«32. Einflüsse von außen, das heißt, anderer wissenschaftlicher Disziplinen, die versuchen, Videospiele für ihr Fachgebiet zu beanspruchen, müssen minimiert, wenn nicht sogar gänzlich ausgeschaltet werden, wenn Videospiele adäquat betrachtet werden sollen. Narratologen halten dies nicht für ausgeschlossen und stimmen dem sogar weitestgehend zu, jedoch stellen sie heraus, dass die meisten Videospiele (wenn auch nicht alle) erzählerische Aspekte beinhalten und daher aus einer narratologischen Perspektive heraus betrachtet werden können. Nach anfangs verhärteten Fronten lösten sich die Spannungen auf und Vertreter beider Standpunkte näherten sich einander an. Es herrscht nun insofern Konsens, dass Videospiele zwar Einflüsse von anderen Medien wie Filme und Bücher besitzen, dennoch nicht ausschließlich aus einer Perspektive heraus betrachtet werden dürfen – Videospiele müssen anhand eines explizit für sie geschaffenen Instrumentariums betrachtet und beurteilt werden, nicht mit solchen, die für andere Medien geschaffen wurden, auch wenn diese Überschneidungen mit Videospielen besitzen und daher hilfreich sein können.33 Dennoch können manche Methoden aus anderen Wissenschaftsbereichen zum Teil auf Videospiele angewendet werden, solange das ludische Potential dieser nicht außer Acht gelassen wird und stets Bestandteil der Reflexion ist. Videospiele können daher nicht vollständig beschrieben werden, wenn sie auf einen bestimmten Aspekt reduziert werden, sie benötigen einen multi-perspektivischen Zugang, um all den in ihnen enthaltenen Phänomenen gerecht zu werden. Auch Espen Aarseth erkannte, dass eine reduktionistische Betrachtung des Mediums diesem nicht gerecht werden könne, da »Spiele […] Forschungsgegenstände [sind], die regelrecht nach Interdisziplinarität schreien.«34 Von diesem Standpunkt aus erscheint die Sorge der Ludologen, dass andere wissenschaftliche Disziplinen versuchen könnten, Videospiele in ihren Wissenschaftskanon zu absorbieren, unbegründet, denn gerade in ihrer Multi- und Interdisziplinarität liegt ihre große Stärke. So können viele Wissenschaften, »multidisciplinary and dialectical«35, sich auf dem Feld der Videospiele erproben und Forschungen betreiben, was der Wissensgenerierung über Videospiele enorme Vorteile verschafft.36 So kann eine mediengerechte Annäherung an Videospiele geleistet werden, nämlich indem sie als das untersucht werden, was sie in ihrem Wesen sind:

32 Aarseth: Computer Game Studies, Year One. 33 Vgl. Frasca, Gonzalo: Ludologists love stories, too: notes from a debate that never took place. Online abrufbar unter: www.ludology.org. 34 Aarseth: Warum Game Studies? S. 19. 35 Mäyrä: An introduction to game studies. S. 3. 36 Vgl. Bopp, Matthias u. a.: Einleitung. In: »See? I!m real…«. Multidisziplinäre Zugänge zum Computerspiel am Beispiel von ›Silent Hill‹. Hrsg. von Britta Neitzel, Matthias Bopp und Rolf F. Nohr. Münster: Lit 2004 (= Medien!Welten 4). S. 7 f.

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»Hybridkonstruktionen«37. Doch sie schwanken nicht nur zwischen den Polen »aus ludischen und narrativen Elementen«38, sondern lassen sich auch aus der Perspektive verschiedener Wissenschaften wie Soziologie, Psychologie oder Literaturwissenschaft betrachten. Daher ist es ihr multi- und interdisziplinärer Charakter, der Videospiele und die Game Studies auszeichnet. So können sie aus mehreren Perspektiven heraus beschrieben und analysiert werden, was den Zugang zu ihnen enorm erleichtert – nicht nur im akademischen Bereich, sondern auch im schulischen, da sie durch ihre Interdisziplinarität in vielen Unterrichtsfächern sinnvoll eingesetzt werden können. Zwar haben die Game Studies in Zukunft noch einige Aufgaben vor sich,39 »[b]ut the different emphases and foci for the study of games remain, and that is the single most valuable contribution of this debate for game studies: games can be several different things, depending on how one approaches them«40. Interdisziplinarität eröffnet daher Chancen.

1.3 Besonderheiten von Videospielen Es wurde festgestellt, dass die große Faszinationskraft von Videospielen darin besteht, dass sie gespielt werden müssen. Die entscheidende Frage, die sich daraus ergibt, ist: Was für Wirkungen entstehen aus dem Selber-Spielen? Im Folgenden sollen die medienspezifischen Wirkungen, die sich zum Teil exklusiv in Videospielen aufweisen lassen, erläutert werden, um eine theoretische Grundlage für Überlegungen zu bieten, die das bildungstheoretische Potential von Videospielen im schulischen Kontext belegen.41

37 Beil, Benjamin: First person perspectives. Point of view und figurenzentrierte Erzählform im Film und im Computerspiel. Siegensche Diss. Münster: Lit 2010 (= Medien!Welten 14). S. 53. 38 Ebd. 39 Ein Aufzählung möglicher Herausforderungen geben Bernard Perron und Mark J. P. Wolf. Vgl. dazu: Perron, Bernard und Mark J. P. Wolf: Introduction. In: The video game theory reader 2. Hrsg. von Bernard Perron und Mark J. P. Wolf. New York u. a.: Routledge 2009. S. 1–22 40 Mäyrä: An introduction to game studies. S. 10. 41 Die folgenden Aspekte erheben dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es existieren weitere Konzepte, die die Phänomene während der Spieler-Videospiel-Interaktion beschreiben, jedoch unterscheiden sich diese häufig nur marginal von den hier vorgestellten, weswegen die folgenden Ausführungen den wissenschaftlichen Diskurs mit hohem Repräsentationsgehalt darstellen. Zusätzlich sei erwähnt, dass die vorgestellten Konzepte in aller Kürze und Prägnanz dargestellt werden, weswegen hier nur die Kernaspekte Erwähnung finden.

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1.3.1 Interaktivität Der bedeutende Unterschied, der Videospiele von anderen Medien abgrenzt, ist ihr Potential, den Spieler in die dargestellte Welt direkt eingreifen lassen zu können. Diese Art der Einwirkung in die Spielwelt wird als Interaktivität verstanden, die bei Videospielen »nicht nur voluntaristisch, sondern obligatorisch«42 ist: »Das Eingreifen der Nutzer ist zwingend notwendig, damit die Spiele funktionieren können. Somit nehmen die Spieler nicht bloß eine zentrale Beobachterperspektive ein, sondern werden gleichfalls zu einem konstitutiven Element in der Entstehung des konkreten medialen Inhalts bzw. Geschehens.«43 Interessanterweise findet die Interaktion nicht nur zwischen der jeweiligen Hardware (PC, Konsole, Handheld, …) und dem Spieler statt, sondern überschreitet die Grenze des Dargestellten und lässt den Spieler einen Teil der Spielwelt selbst sein – er wird zu einer Machtinstanz innerhalb der virtuellen Welt.44 Durch die aktive Teilhabe des Spielers an der dargestellten Welt entstehen »Handlungsnotwendigkeiten«45 und vor allem »Selbstwirksamkeit«46, die Marie-Laure Ryan als »autotelic activity«47 beschreibt. Videospiele brauchen keinen Anreiz von außen, ihr Ziel liegt in ihnen, im Spielen selbst.48 Die Interaktivität lässt sich exemplarisch an dem Videospiel The Last of Us49 zeigen. Beispielsweise müssen Gegner durch gezieltes Werfen von Steinen oder Flaschen abgelenkt werden, um an ihnen vorbei schleichen zu können. Gegner patrouillieren auf bestimmten Pfaden, die dem Spieler das Weiterkommen erschweren, daher muss der Spieler in diese Routinen eingreifen und mit unterschiedlichen Mitteln seinen Weg durch die Situationen bahnen. Der virtuelle Raum wird dabei zu einem Feld mit verschiedenen Handlungsmöglichkeiten, in das der Spieler aktiv eingreifen muss. 42 Breuer, Johannes: Mittendrin – statt nur dabei. Die Interaktivität des Dispositivs Computerspiel und ihre Auswirkungen auf die Spieler. In: Gefangen im Flow? Ästhetik und dispositive Strukturen von Computerspielen. Hrsg. von Michael Mosel. Boizenburg: VWH 2009. S. 183. 43 Ebd. 44 Vgl. ebd., S. 184. 45 Ebd. 46 Ebd., S. 186. 47 Ryan, Marie-Laure: Narrative as Virtual Reality. Immersion and Interactivity in Literature and Electronic Media. Baltimore: John Hopkins University Press 2001. S. 308. 48 Vgl. ebd., S. 308 ff. 49 The Last of Us. Naughty Dog. Sony Computer Entertainment 2013. Der Spieler steuert Joel – einen der Protagonisten des Spiels – durch eine postapokalyptische Welt, deren Überlebende ein Heilmittel für eine ausgebrochene Seuche suchen. Am Anfang der Katastrophe verliert Joel seine Tochter Sarah und verliert dadurch sämtlichen Antrieb – lediglich der reine Überlebensinstinkt hält ihn am Leben. Im Verlauf des Spiels trifft er jedoch auf Ellie, durch die er neuen Mut schöpft und die vermutlich der Schlüssel für das Heilmittel ist.

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Abbildung 1: The Last of Us. Durch gezieltes Werfen einer Flasche oder eines Ziegelsteins können die Gegner (rote Ovale) aufgrund des vom Spieler verursachten Geräusches (gelber Stern) von ihren Pfaden kurzzeitig abgelenkt werden, damit der Spieler an ihnen vorbei schleichen kann.

Doch auch wenn Videospiele keine absolute interaktive Freiheit ermöglichen, liegt ihr Mehrwert in der Tatsache, dass sie generell interaktiv sind und innerhalb ihrer Grenzen einen freien Handlungsspielraum ermöglichen. Diese Interaktivität ermöglicht zwei entscheidende Wirkungen, Immersion und Agency, die im Folgenden erläutert werden. 1.3.2 Immersion Die Immersion ist ein Phänomen, das im Medium der Videospiele durch ihren interaktiven Charakter hervorgerufen wird, jedoch nicht ausschließlich in diesen zu finden ist. Allerdings ermöglichen sie eine besonders intensive Immersion, da direkt mit ihnen interagiert werden kann. Immersion beschreibt »the sensation of being surrounded by a completely other reality, as different as water is from air, that takes over all of our attention, our whole perceptual apparatus«50. Durch die Interaktivität der Spielwelt ist »[d]as Ergebnis […] in erster Linie eine Form kognitiver Beschäftigung, eine innere Aktivierung des Spielers.«51 Das Gefühl, tatsächlich im Spiel zu sein,52 hat einen enormen Einfluss auf die Gefühlswelt des Spielers. Ein Teil der Erzählwelt zu sein, und diese nicht nur von 50 Murray, Janet H.: Hamlet on the Holodeck. The Future of Narrative in Cyberspace. 4. Auflage. Cambridge: MIT Press 2001. S. 98. 51 Pietschmann, Daniel: Das Erleben virtueller Welten. Involvierung, Immersion und Engagement in Computerspielen. Boizenburg: VWH 2009. S. 11. 52 Dabei existieren Parallelen zu dem von Mihaly Csikszentmihaly beschriebenen

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außen kontrollieren zu können, ermöglicht eine starke Identifikation mit den handelnden Figuren auf motivationaler und emotionaler Ebene.

Abbildung 2: The Last of Us. Der Spielercharakter Joel aus der Third-Person-Perspective.

Die Ziele und emotionalen Bindungen des Avatars53 werden nicht ausschließlich über die Narrative vermittelt (wie es bei Büchern und Filmen der Fall ist), sondern durch das Spielen selbst. Interessant hierbei ist, dass eine Voraussetzung für immersive Spielpraxis eine »willing suspension of disbelief«54 darstellt, ein bedeutender Topos der Literaturwissenschaft in Bezug auf Fiktion. So werden Orte, Ereignisse, Personen etc., die Abweichungen von der Realität beinhalten, in einer ansonsten stimmigen und kohärenten Erzählwelt willentlich akzeptiert.55 So ist es möglich, Geschichten beispielsweise in ein Fantasy-Setting zu verlagern, in dem Magie, Drachen und Feen existieren, ohne dass der Rezipient dieses als »falsch« wahrnimmt, da die Geschichte nicht mit der Realität übereinstimmt. Janet Murray erweitert dieses Verständnis: »We do not suspend disbelief so much as we actively create belief. Flow-Erleben. Vgl. dazu: Csikszentmihaly, Mihaly: Das Flow-Erlebnis. Jenseits von Angst und Langeweile: Im Tun aufgehen. 9. Auflage. Stuttgart: Klett-Cotta 2005. Zu Flow und Videospiele: Vgl. dazu: Pietschmann, Daniel: Das Erleben virtueller Welten. Involvierung, Immersion und Engagement in Computerspielen. Boizenburg: VWH 2009. S. 55 ff. 53 Die Spielfigur, die der Spieler kontrolliert; gewissermaßen die Repräsentation des Spielers in der Spielwelt, mithilfe dessen in die Spielwelt eingegriffen werden kann. 54 Coleridge, Samuel T.: Biographia Literaria. Oxford: Clarendon Press 1907. S. 6. 55 Vgl. ebd., S. 6 ff.

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Because of our desire to experience immersion, we focus our attention on the enveloping world and we use our intelligence to reinforce rather than to question the reality of the experience.«56 Der Spieler ignoriert daher weniger die Inkohärenzen zur Realität, die während des Spielens auftreten, sondern erschafft sich die Spielwelt während des Spielens gedanklich selbst und gestaltet sie mit, um eine intensive Immersion zu erleben.57 Es existiert daher gewissermaßen keine Inkompatibilität zur Welt außerhalb des Videospiels – die Spielwelt ist in diesem Fall eine eigenständige, alternative Wirklichkeit, die nicht in Konkurrenz zur Welt außerhalb des Spiels steht.58 So können fiktive, in der Spielwelt dargestellte Emotionen real vom Spieler empfunden werden. Die Immersion beschreibt also das Versinken (und Sich-begeistern-lassen) in der Spielwelt. Während dies auch von Büchern oder Filmen hervorgerufen werden kann, besteht bei Videospielen eine andere und intensivere Art der Immersion, da es sich nicht um eine bloße Teilhabe an den Geschehnissen handelt, sondern um eine tatsächliche Existenz in der Spielwelt, die durch Interaktivität hervorgerufen wird. Dies zeigt sich ebenfalls in The Last of Us. Zu Beginn des Spiels steuert der Spieler für kurze Zeit Joels Tochter Sarah.

Abbildung 3: The Last of Us. Der Spieler übernimmt für kurze Zeit die Steuerung von Joels Tochter Sarah, wodurch sich die emotionale Verbindung zu ihr und ihrem Vater erhöht.

56 Murray: Hamlet on the Holodeck. S. 110. 57 Vgl. ebd., S. 110 ff. 58 Vgl. ebd.

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Dadurch hat der Spieler bereits ein emotionales Band zu dieser Spielfigur geknüpft, was das Gefühl des Verlusts, nachdem Sarah im weiteren Verlauf des Spiels stirbt, potenziert, da der aktive Part an dem Geschehen zum Teil über Sarah geschieht – der Spieler fühlt sich für die Figur verantwortlich. So wird, ohne dass dies explizit in der Geschichte vermittelt wurde, die Teilnahme an Joels Emotionen, nachdem er Ellie trifft, verstärkt, da sich der Tod Sarahs nicht nur in der Narration niederschlägt, sondern ein Teil des Spielerlebens darstellt. 1.3.3 Agency Die Agency ist eng mit den vorangegangenen Begriffen der Interaktivität und Immersion verknüpft. »Agency is the satisfying power to take meaningful action and see the results of our decisions and choices«59, sie beschreibt den Einfluss, den der Spieler auf die Spielwelt hat und dass diese ihm ein Feedback gibt.60 Daher grenzt sich Agency von Interaktivität ab, indem sie die Entscheidungen, die der Spieler im Laufe des Spiels trifft, mit den tatsächlichen Auswirkungen auf den Spielverlauf koppelt, »Absichten, Entscheidungen und Handlungen eines Spielers wirken sich also auf den Verlauf des Spiels aus und generieren eine interaktive Erfahrung«61, daher stehen Agency und Interaktivität in einem reziproken Verhältnis, da Interaktivität ohne Agency nicht zu denken ist, während Agency Interaktivität bereits impliziert und voraussetzt.62 Von enormer Bedeutung ist, dass die Handlungen des Spielers spürbare, nachvollziehbare und entscheidende Auswirkungen auf die Spielwelt haben,63 »[j]e höher der Grad an Agency ist, umso höher ist der Grad an Interaktivität, umso stärker kann ein Spieler Einfluss auf den Verlauf einer Spielhandlung nehmen.«64 Dies lässt sich abermals mit The Last of Us verdeutlichen. Aufgrund der Interaktivität wird es dem Spieler ermöglicht, die spärlich verteilten Ressourcen zu sammeln und sich zu entscheiden, welche Gegenstände er damit herstellen möchte. Diese Entscheidung kann jedoch dazu führen – abhängig von der jeweiligen Spielweise – dass bestimmte Gegenstände nicht hergestellt werden können, da Materialien fehlen, die für die Herstellung eines anderen Gegenstandes gebraucht wurden. So kann es vorkommen, dass der Spieler nur noch wenig Energie besitzt, sich aber keine Verbände zur Heilung herstellen kann, da er sich zuvor dafür entschieden hat, offensiv zu spielen und Molotov-Cocktails hergestellt hat, die die gleichen Materialien wie Verbände benötigen. Die Entscheidungen der 59 60 61 62 63 64

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Ebd., S. 126. Vgl. Widra: Auf dem Weg zu wahrer »agency«. S. 29. Ebd. Vgl. ebd., S. 35. Vgl. ebd., S. 43. Ebd., S. 57.

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Abbildung 4: The Last of Us. Menü zur Herstellung von Gegenständen.

Spieler haben daher immensen Einfluss auf den weiteren Spielverlauf und die Spielweise. Es hat sich gezeigt, dass die Besonderheiten von Videospielen, Interaktivität, Immersion und Agency, nicht getrennt von einander betrachtet werden dürfen, da sie in reziproken Verhältnissen stehen:

Abbildung 5: Interaktivitäts-Trias

Ohne Interaktivität ist es nicht möglich, die Konsequenzen der Spielerhandlungen wahrzunehmen, daher existiert ohne Interaktivität keine Agency. Ohne Agency wäre Interaktivität sinnlos, da kein persistenter Einfluss auf die Spielwelt genommen werden könnte. Bei starker Immersion hat der Spieler das Gefühl, dass seine Handlungen Gewicht besitzen und diese die Spielwelt nachhaltig beeinflussen. Das Eingreifen in die Spielwelt und das Erleben von Konsequenzen der Spielerhandlungen verstärkt dabei die Immersion. Freilich sind nicht alle Videospiele gleichermaßen von den genannten Aspekten durchdrungen und müs-

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sen daher graduell betrachtet werden. Die besseren65 ermöglichen einen hohen Grad aller drei beteiligten Aspekte. Diese Trias zeigt besonders deutlich, wie bedeutsam das Selber-Spielen von Videospielen ist, denn »[o]hne den Spieler existiert das Spiel nicht.«66

Level 2: Videospiele im fachdidaktischen Kontext Nachdem Videospiele und ihre spezifischen Besonderheiten dargestellt wurden, sollen sie nun in Verbindung zur Philosophiedidaktik gebracht werden. Dazu muss zunächst das in dieser Arbeit zugrunde gelegte Verständnis von Philosophie geklärt werden, um die Bedingung der Möglichkeit von Videospielen im Unterricht zu klären. Darauf folgt die fachdidaktische Verknüpfung von Videospielen und Philosophie über die symbolischen Formen nach Ernst Cassirer und diskursiver und präsentativer Symbole nach Susanne Langer in der Interpretation von Susanne Nordhofen. Anschließend werden Parallelen zur Angewandten Philosophie gezogen, um herauszustellen, inwiefern Videospiele sich mit den Zielen des Philosophieunterrichts verbinden lassen. Dieses Kapitel bildet daher das theoretische Fundament für die fachdidaktische Begründung von Videospielen im Philosophieunterricht und zeigt ihre Relevanz für philosophisches Denken. 2.1 Prämissen Die Arbeitsfrage dieses Kapitels lautet nicht »Was ist Philosophie?«, sondern »Welches Verständnis von Philosophie dient als Basis weiterer Überlegungen?«, um Videospiele sinnvoll in den Philosophieunterricht einbringen zu können. Die Argumentation führt darauf hinaus, dass Videospiele genau das fördern können, was nach diesem Verständnis von Philosophie als wichtig erachtet wird, weshalb der Einsatz im Unterricht von großem Nutzen sein kann. Philosophie wird in diesem Zusammenhang nicht als die Summe der Teile ihrer einzelnen Wissensbereiche verstanden. Es geht nicht um die Akkumulation von Wissen oder gar das Auswendiglernen von Theorien. Vielmehr soll sie als eine Disziplin gelten, die nahe an der Realität ihrer Lerner steht, es geht um eine

65 Dieses Adjektiv ist in diesem Zusammenhang nicht im Sinne eines qualitativen Werturteils zu verstehen, sondern bezieht sich auf solche Videospiele, die die genannten Wirkungen besonders deutlich hervorrufen können. 66 Mosel, Michael: Das Computerspiel-Dispositiv. Analyse der ideologischen Effekte beim Computerspielen. In: Gefangen im Flow? Ästhetik und dispositive Strukturen von Computerspielen. Hrsg. von Michael Mosel. Boizenburg: VWH 2009. S. 175.

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»bestimmte philosophische Praxis oder Haltung«67 als Ergebnis »reflektierter, bewusster Lebensführung«68, die über zentrale philosophische Methoden erreicht wird. So steht dieses Verständnis von Philosophie in aristotelischer Tradition: Der Zweifel und das Staunen über Erscheinungen in der Welt bilden die Anfänge allen philosophischen Denkens, was durch die »Tätigkeit des Philosophierens«69 gestärkt und gefestigt wird.70 Dieses reflektierende Moment in der Einstellung zur Welt äußert sich im konsequenten und logischen Denken, das auch alltägliche Situationen durchdringt. Getreu dem kantischen Motto des sapere aude gilt es, diese »kritische[] Reflexions- und Urteilsfähigkeit«71 autonom und selbstständig anzuwenden, was innerhalb einer ständig komplexer werdenden Welt zunehmend an Bedeutung gewinnt.72 Die Komplexität der Welt gedanklich zu ordnen und das Selbst darin einzubinden sind Resultate (selbst-)reflexiver Prozesse, in denen die Aufgabe der Philosophie in diesem Zusammenhang deutlich wird, nämlich Prozesse dieser Art anzuregen und Hilfestellungen zu geben. Daher ist Philosophie »nicht nur Denken, sondern qualifiziertes Denken«73 und bezieht sich »in diesem Sinne […] auf eine Vielzahl an Reflexionshandlungen, die letztlich zu einem besseren Verständnis der Welt und des Einzelnen beitragen können.«74 Es wird sich zeigen, dass Videospiele mit diesem Verständnis von Philosophie wertvolle Dienste in der Vermittlung solcher Denkweisen leisten können.

67 Petermann, Hans-Bernhard: Kann ein Hering ertrinken? Philosophieren mit Bilderbüchern. Weinheim und Basel: Beltz 2007. S. 27. 68 Ebd. 69 Ebd., S. 44. 70 Vgl. ebd., S. 44 f. 71 Steenblock, Volker: Philosophie und Lebenswelt. Beiträge zur Didaktik der Philosophie und Ethik. Hannover: Siebert 2012. S. 34. 72 Vgl. ebd. 73 Schmidt, Hans J.: Zum Philosophieren verpflichten? Unfrisierte Überlegungen eines Nichtphilosophen. In: Philosophieren in der Grundschule. Hrsg. von Heiner Hastedt und Christian Thies. Rostock: Universität 1999 (= Rostocker Philosophische Manuskripte 7). S. 81. 74 Pfeiffer, Silke: Reflexions- und Handlungskompetenz als zentrales Ziel des Philosophierens mit Kindern in der Grundschule. In: Bildungsphilosophie. Grundlagen, Methoden, Perspektiven. Hrsg. von Rudolf Rehn. Freiburg u. a.: Alber 2008 (= Pädagogik und Philosophie 1). S. 209.

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2.2 Symbolische Formen Nachdem ein spezifisches Verständnis von Philosophie etabliert wurde, soll nun die theoretische Grundlage von Videospielen im Kontext der Fachdidaktik gelegt werden. Dies geschieht im Folgenden pointiert über die symbolischen Formen Ernst Cassirers und ihre Erweiterung nach Susanne Langer in der Interpretation von Susanne Nordhofen. Der Fokus liegt dabei auf den Ausführungen Nordhofens,75 da zum Einen eine ausführliche Beschäftigung mit den Theorien Cassirers und Langers den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde und zum Anderen, da die Anwendung der symbolischen Formen und ihre Bedeutung für alternative Medien im Vordergrund steht, was von Nordhofen insbesondere in der möglichen Anwendung diskutiert wurde. Dies wird dazu benötigt, um Videospiele für den Unterricht begründbar zu machen. Susanne Langer erweiterte das Konzept der symbolischen Formen Ernst Cassirers über diskursive und präsentative Symbole. Diskursive Symbole drücken ihre Bedeutung sukzessiv aus,76 »folgen der grammatisch-syntaktischen Struktur, die die Sprache als ihr Bedeutungssystem ihnen vorgibt«77 und »verdanken sich dem logisch-argumentativen Denken«78. Präsentative Symbole hingegen sind mehrdeutig, drücken ihre Bedeutung simultan aus und sind nur in ihrem Gesamtzusammenhang wirksam,79 sie »zeigen im Moment alles vor, nicht in einer Reihung wie das diskursive Symbol.«80 Durch Sprache bedingt herrscht häufig ein Primat der diskursiven Symbole vor (häufig auch in schulischen Kontexten), da sie »das Medium der Verständigung und zugleich Gegenstand der Reflexion«81 ist, jedoch sind sie nicht der alleinige Träger von Bedeutung, da sich die Wirklichkeit dem Menschen auf verschiedene Arten vermittelt.82 Die gedanklichen Bilder, die beispielsweise ein Gemälde evozieren kann, sind zu den präsentativen Symbolen 75 Es sei angemerkt, dass Susanne Nordhofen ihre Beschäftigung mit symbolischen Formen in den Kontext des Philosophierens mit Kindern gestellt hat. Jedoch finden sich genügend Anknüpfungspunkte zu Videospielen, um diese Theorie für das Medium nutzbar zu machen. 76 Vgl. Calvert, Charles und Kristina Calvert: Philosophieren mit Fabeln. Heinsberg: Dieck 2001. S. 10. 77 Ebd. 78 Ebd. 79 Vgl. ebd. 80 Nordhofen, Susanne: Literatur und symbolische Form. Der Beitrag der CassirerTradition zur ästhetischen Erziehung und Literaturdidaktik. Hannover: Siebert 2003. S. 56. 81 Nordhofen, Susanne: Didaktik der symbolischen Formen. Über den Versuch, das Philosophieren mit Kindern philosophisch zu begründen. In: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 2 (1998). S. 129. 82 Vgl. Nordhofen: Literatur und symbolische Form. S. 55 f.

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zu rechnen, da sie ihre Bedeutung simultan ausdrücken und erst in der Gesamtbetrachtung ihren Sinn entfalten. Diese Bilder sind denen, die diskursive Symbole hervorrufen können, jedoch nicht unter- sondern nebengeordnet, so »erweitern die präsentativen Symbole auch das Feld der Rationalität. Nicht nur in dem, was diskursiv gesagt werden kann, zeigt sie sich, sondern auch in dem, was präsentativ formuliert ist, prägt sich eine bestimmte Art von Rationalität aus, die ein Äquivalent zur logischen Struktur in sich enthält […] Der Bereich der Rationalität wird so neu abgesteckt.«83

In diesem Konzept werden also die verschiedenen Zugänge zur Wirklichkeit beschrieben, von denen keiner eine bessere oder schlechtere Alternative darstellt, sondern lediglich eine andere Art der Wirklichkeitsbetrachtung aufweist.84 Damit wird eine Balance zwischen diskursiven und präsentativen Symbolen hergestellt, da beide gleichermaßen »einen eigenen Status von Rationalität beanspruchen können […] Es gibt verschiedene symbolische Ebenen, über ein Thema nachzudenken […] Dementsprechend ist ein Bild nicht weniger rational als ein Text, er ist auf andere Weise rational.«85 Bedeutung kann daher auf verschiedene Art und Weise ausgedrückt werden, da der Zugang zur Wirklichkeit auf mehreren Wegen erfolgen kann. Ob dies über diskursive Symbole wie Texte oder präsentative Symbole wie Bilder geschieht, ist für den Erkenntnisprozess irrelevant, da kein »korrekter« Zugang zur Wirklichkeit existiert. 2.3 Interaktive Symbole Die Verbindung von Videospielen zu den symbolischen Formen soll im folgenden Abschnitt diskutiert werden. Inwiefern sie auf das Konzept der symbolischen Formen anwendbar sind, stellt dabei die Grundlage der Überlegungen dar. Die Theorie der symbolischen Formen findet ihre Anwendung in der Fachdidaktik häufig in Bezug auf das Philosophieren mit Kindern anhand von Bildern und Bilderbüchern. Da die Wirklichkeit für den Menschen über »Symbolbildungsprozesse«86 strukturiert ist und die verschiedenen Varianten dieser gleichwertig nebeneinander stehen, gelingt der Zugang zur Wirklichkeit über jegliche Art von Symbolen, die eine Bedeutung transferieren, so »ist das Bild die symbolische Form, in der das Kind den Wirklichkeitsstrukturen ad hoc Bedeutung beimisst.«87 83 84 85 86 87

Ebd., S. 56 f. Vgl. Calvert und Calvert: Philosophieren mit Fabeln. S. 11. Nordhofen: Didaktik der symbolischen Formen. S. 131. Calvert und Calvert: Philosophieren mit Fabeln. S. 9. Engel, Renate: Philosophieren mit Bilderbüchern – Präsentative und diskursive

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Jedoch lässt sich die symbolische Form nicht nur in Bilderbüchern in Bezug auf das Philosophieren mit Kindern ausmachen, sondern ebenso in Videospielen. Bestätigt wird diese These, wenn Videospiele in den Kontext der diskursiven und präsentativen Symbole gestellt werden. Bemerkenswerterweise sind beide Formen gleichermaßen in Videospielen enthalten. Zunächst präsentieren Videospiele ihre Inhalte zum Teil über diskursive Symbole, insbesondere über sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten. So sind die Dialoge der Figuren mit Synchronsprechern vertont oder erscheinen in einer Textbox auf dem Bildschirm. Die Navigation durch die Spielmenüs erfolgt ebenfalls über die Darstellung sprachlicher Zeichen. Besonders auffällig ist jedoch der Anteil diskursiver Symbole in der Struktur des Spiels selbst. Ein Videospiel hat einen Anfang und ein Ende.88 Um von einem Punkt zu dem anderen zu gelangen, muss das Spiel über die einzelnen Stationen durchgespielt werden. Diese Stationen stehen jedoch in einer bestimmten, spielspezifischen Reihenfolge, die zwar durch Interaktion des Spielers verändert werden kann, aber dennoch nacheinander absolviert werden muss und daher einer gewissen Struktur folgt. Dies sind Merkmale diskursiver Symbole – ihre Bedeutung wird sukzessiv durch den Spielfortschritt offenbart (was sich auch darin zeigt, dass das Spiel jederzeit pausierbar ist).89 Allerdings sind Videospiele nicht auf ihre sprachlichen und strukturellen Anteile reduzierbar. Die einzelnen Spieletappen erfolgen zwar sukzessiv, jedoch ist ihre Bedeutung keineswegs »eindeutig und allgemein«90, erst wenn das Spiel durchgespielt wurde und die einzelnen Stationen in den Gesamtkontext eingeordnet werden können, offenbart sich ihre Bedeutung in Gänze.91 Einem Bild ähnlich lässt sich ihre Bedeutung »nicht aus der Analyse der einzelnen Bestandteile […] folgern«92, denn das hieße, ihre einzigartigen Mechaniken (Interaktivität, Narrativität, Gameplay etc.), die über das Zusammenwirken ihrer Teile entstehen, außer Acht zu lassen. Erst durch die Betrachtung aller Bestandteile zusammen können sie adäquat analysiert werden, sodass sie ihren Sinn offenbaren können. So ist ein Videospiel wie »[e]in Kunstwerk […] eben mehr als die

Momente im Philosophieren mit Kindern. In: Kinder philosophieren. Hrsg. von Dieter Krohn, Barbara Neißer und Nora Walter. Berlin: LIT 2012 (= Sokratisches Philosophieren 14). S. 217. 88 Wie die Definition dieser beiden Begriffe im Kontext der Game Studies ausfällt, sei an dieser Stelle aus Platzgründen ausgeklammert. 89 Zu den Merkmalen diskursiver Symbole: Vgl. Calvert und Calvert: Philosophieren mit Fabeln. S. 10. 90 Calvert und Calvert: Philosophieren mit Fabeln. S. 10. 91 Zu den Merkmalen präsentativer Symbole: Vgl. Calvert und Calvert: Philosophieren mit Fabeln. S. 10. 92 Calvert und Calvert: Philosophieren mit Fabeln. S. 10.

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Summe seiner Bestandteile«93 und »verweist über sich hinaus«94, womit Videospiele auch Merkmale von präsentativen Symbolen aufweisen. Videospiele stellen sich in diesem Zusammenhang als eine Mischform aus diskursiven und präsentativen Symbolen dar. Die genauen Anteile beider Formen können von Spiel zu Spiel variieren und lassen sich daher eher graduell als absolut zuordnen. Jedoch sind Videospiele nicht nur ein Hybrid dieser Formen, sondern fügen eine weitere Ebene der Wirklichkeitsdarstellung hinzu: Interaktivität. So sind die vom Verstand zu interpretierenden Symbole nicht statisch, sondern dynamisch, da Videospiele dem Spieler erlauben, aktiv in den Symbolbildungsprozess einzugreifen, da die aus dem Videospiel entstehenden Bedeutungen vom Spieler veränderbar sind. Nordhofen stellte in Bezug auf die symbolischen Formen fest, »daß [sic!] die verschiedenen geistigen Ausdrucksformen die Welt nicht einfach abbilden wie ein Spiegel, sondern daß [sic!] sie jeweils eigene Bildwelten produzieren«95. Videospiele fügen dem jedoch einen weiteren Aspekt hinzu: »Das Computerspiel verdoppelt im Gegensatz zum Spiegelbild die Realität nicht, es erweitert sie«96 und zwar um Interaktivität und den damit einhergehenden Aspekten.97 Daher wird vorgeschlagen, die Nische, die Videospiele in Bezug auf die symbolischen Formen ausfüllen, als Arbeitshypothese mit »interaktive Symbole« zu betiteln. Interaktive Symbole betonen die Prozesshaftigkeit der Symbolbildung. Diskursive und präsentative Symbole sind in ihrer Form eher passiv – erst der deutende Umgang lässt eine aktive Beschäftigung mit ihnen zu. Interaktive Symbole hingegen sind jedoch intrinsisch von aktiver Natur, da Subjekt (der Spieler) und Objekt (das Videospiel) in einer Tätigkeit aufeinander bezogen sind: »Games are both object and process.«98 Der Spieler und das Spiel sind nicht isoliert voneinander, sondern entwickeln erst in einem reziproken Verhältnis ihre besondere Dynamik. Die Doppelung der Spielerperspektive ermöglicht dabei diesen Vorgang, da die Verbindung von Subjekt und Objekt während des Spielens äquivalent ist zu der Handlungsposition des Spielers im Spiel selbst (Objekt) und die Beobachterposition als Person, die das Spiel spielt (Subjekt).99 Das praktisch anwendbare Wissen, das sich der Spieler aneignen muss, um das Spiel zu beherrschen, erscheint dabei als eine praktische, kognitive Kompetenz, die untrennbar 93 Nordhofen: Didaktik der symbolischen Formen. S. 129. 94 Ebd. 95 Nordhofen: Literatur und symbolische Form. S. 49. 96 Neitzel, Britta: Computerspiele(n): Medium oder (Kultur-)Technik? In: Die Medien und ihre Technik. Theorien, Modelle, Geschichte. Hrsg. von Harro Segeberg. Marburg: Schüren 2004 (= Schriftenreihe der Gesellschaft für Medienwissenschaft 11). S. 501. 97 Vgl. ebd., S. 502. 98 Aarseth: Computer Game Studies, Year One. 99 Vgl. Neitzel: Gespielte Geschichten. S. 56 f.

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mit dem Subjekt verbunden ist. Der Spieler erlangt so ein gewisses Know-How im Spielprozess, da er die einzelnen Teilbereiche der verschiedenen Struktursysteme im Spiel erkennen, auf neue Situationen übertragen und anwenden kann, was ohne eine Übersicht über das gesamte System nicht möglich wäre.100 Interaktive Symbole bezeichnen daher zum Einen den aktiven Deutungsprozess der Spieler (da Videospiele ein Eingreifen in die Spielwelt erfordern), zum Anderen die Kompetenz von einem praktisch anwendbaren, übergeordnetem Wissen eines bestimmten Systems und fördern daher den strukturierten und reflexiven Umgang mit der Wirklichkeit. Damit zeigt sich, dass Videospiele Bestandteile diskursiver und präsentativer Symbole besitzen. Wie die klassischen symbolischen Formen »Kunst, Mythos, Religion, Sprache, Wissenschaft, Technik und Philosophie […] bilden [sie] Wirklichkeit nicht einfach ab, das liefe auf eine Verdoppelung hinaus, sondern sie gestalten sie perspektivisch je nach ihren unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten, weisen aber auch über die Welt hinaus.«101 Damit stehen Videospiele gleichwertig neben anderen Realitätsformen und ermöglichen daher einen alternativen und – als interaktive Symbole – strukturierten und metareflexiven Zugang zur Wirklichkeit, was sie für die Fachdidaktik interessant macht, da so über Videospiele philosophische Themen behandelt werden können.

2.4 Didaktische Anmerkungen Nachdem Videospiele aus einem fachdidaktischen Kontext heraus begründet wurden, soll nun ein Bezug zur Didaktik hergestellt werden. Es soll geklärt werden, inwiefern sich Videospiele für die Anwendung im Philosophieunterricht eignen und wie sie im Einklang mit dem etablierten Verständnis von Philosophie stehen. Die Philosophie wurde als ein aktiver, bewusster Akt des Denkens verstanden. Die Tätigkeit des Philosophierens, der »reflektierte, thematische Bezug auf das Denken«102 ist dabei mit dem Ziel verbunden, »spezifische[] philosophische[] Kompetenzen wie die Argumentations-, Reflexions- und Urteilskompetenz der Lernenden«103 zu fördern.104 Von entscheidender Bedeutung in der Vermittlung

100 Vgl. Gee: What video games have to teach us about learning and literacy. S. 19 ff. 101 Nordhofen: Didaktik der symbolischen Formen. S. 129. 102 Martens, Ekkehard: Anschaulich philosophieren – (wie) geht das? In: Anschaulich philosophieren. Mit Märchen, Fabeln, Bildern und Filmen. Hrsg. von Barbara Brüning und Ekkehard Martens. Weinheim und Basel: Beltz 2007 (= Philosophie und Ethik unterrichten 5). S. 10. 103 Runtenberg, Christa: Wenn Philosophie auf Lebenswelt trifft. Verbindungslinien zwischen Angewandter Philosophie, Philosophiedidaktik und dem Philosophieren mit

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von Philosophie im Unterricht ist jedoch, dass sie »angemessen mit der Lebenswelt, den Erfahrungen der Lernenden verbunden«105 wird. Ein solch anwendungsorientierter Ansatz der Angewandten Philosophie ermöglicht daher ein breites Spektrum von Möglichkeiten, philosophische Fragestellungen in alltagsnahen Situationen aufzuweisen und sie mit Hilfe dieser in einen Kontext philosophischen Denkens zu stellen.106 In diesen Überlegungen zeigt sich deutlich ein Anknüpfungspunkt von Videospielen zur Philosophie. Im Kontext des Philosophieunterrichts »muß [sic!] es [dem Lehrer] gelingen, den Schüler auf den Weg des Denkens zu schicken«107, wobei »[d]em philosophischen Denken […] sein Medium nicht gleichgültig«108 ist. Wulff Rehfus etablierte den Begriff der »Sekundärmedien«109 (»nicht-philosophische Materialien«110), die Schüler zum philosophischen Denken anregen sollen. Das Verhältnis von »Primär- und Sekundärmedien«111 ist dabei »komplementär. Der Philosophieunterricht kann weder auf die einen noch auf die anderen verzichten.«112 Die Wahl des Mediums gewinnt daher im Philosophieunterricht an enormer Bedeutung, denn entscheidend ist, dass die Medien dazu in der Lage sind, den Prozess des philosophischen Denkens in Gang zu setzen.113 So erhalten Videospiele ihre Relevanz im Philosophieunterricht, da sie eingesetzt werden können, um zu philosophischen Fragestellungen zu gelangen. Der Denkvorgang nimmt dabei seinen Ausgang bei Videospielen und gelangt von dort aus zu philosophischen Theorien und Methoden, die anschließend wieder anwendungsbezogen auf das Medium übertragen werden können.114 Videospiele fügen jedoch eine weitere Ebene der philosophischen Beschäftigung mit ihnen hinzu, da ihre interaktiven Qualitäten den Rezipienten zusätzlich fordern und insbesondere für die Anwendung im Unterricht interessant sind, Kindern. In: Angewandte Philosophie. Hrsg. von Christa Runtenberg und Johannes Rohbeck. Dresden: Thelem 2012. S. 57. 104 Vgl. Martens: Anschaulich philosophieren – (wie) geht das? S. 9 f. 105 Runtenberg: Wenn Philosophie auf Lebenswelt trifft. S. 57. 106 Vgl. ebd., S. 61 ff. 107 Rehfus, Wulff D.: Medien im Philosophieunterricht. In: Handbuch des PhilosophieUnterrichts. Hrsg. von Wulff D. Rehfus und Horst Becker. Düsseldorf: Schwann 1986. S. 318. 108 Ebd., S. 317. 109 Ebd., S. 318. 110 Ebd. 111 Ebd., S. 320. 112 Ebd. 113 Vgl. ebd., S. 320. 114 Vgl. Müller, Hans-Joachim: Gedanken symbolisieren – szenisches Interpretieren als Methode des Philosophierens. In: Denken als didaktische Zielkompetenz. Philosophieren mit Kindern in der Grundschule. Hrsg. von Hans- Joachim Müller und Silke Pfeiffer. Baltmannsweiler: Schneider 2004. S. 42.

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denn »[d]er Mensch behält in dem […] was er selbst ausführt 90 Prozent«115, im Gegensatz zu anderen medialen Formen wie Filmen oder Büchern, bei denen das Lesen, Hören oder Sehen im Vordergrund steht, aber bei denen weit weniger im Gedächtnis bleibt.116 So können bestimmte philosophische Theorien oder Methoden nicht nur über das Medium zugänglich gemacht, sondern direkt in einer den meisten Schülern vertrauten Umgebung praktisch angewendet werden. Wenn sich der Kurs beispielsweise mit Ethik und Moral beschäftigt, können Videospiele, die moralische Entscheidungen nicht nur narrativ thematisieren, sondern auch im Gameplay erfordern, enorm zum Verständnis philosophischer Theorien beitragen und darüber hinaus ihre praktische Bedeutsamkeit demonstrieren. Philosophische Theorien und Methoden können daher im Kontext der Videospiele in das Modell der »didaktischen Transformation«117 nach Johannes Rohbeck eingeordnet werden. Im Kontext der Videospiele stellt sich die didaktische Transformation so dar, dass bestimmte philosophische Denkrichtungen nicht in einer heruntergebrochenen Variante mit den Schülern erarbeitet werden, sondern ausgehend von philosophischen Methoden geeignete Medien dargeboten werden, die dafür geeignet sind, dass die Schüler die philosophischen Konzepte in einen für sie verständlichen Rahmen erfassen und anschließend in die Praxis umsetzen können.118 In dem selbsttätigen Umgang mit dem Medium können die Schüler ihre eigenen Gedanken und Erfahrungen einbringen, wodurch Videospiele eine Plattform darstellen, auf der die Schüler einen alternativen Zugang zur Philosophie ermöglicht bekommen.119 Es hat sich gezeigt, dass Videospiele über einen fachdidaktischen Kontext heraus begründet werden können. Als interaktive Symbole ermöglichen sie einen alternativen und strukturierten Zugang zur Wirklichkeit und können daher für 115 Peters, Jörg und Bernd Rolf: Spielfilme im Ethik- und Philosophieunterricht. In: Anschaulich philosophieren. Mit Märchen, Fabeln, Bildern und Filmen. Hrsg. von Barbara Brüning und Ekkehard Martens. Weinheim und Basel: Beltz 2007 (= Philosophie und Ethik unterrichten 5). S. 118. 116 Vgl. ebd. 117 Rohbeck, Johannes: Didaktik der Philosophie und Ethik. 2. Auflage. Dresden: Thelem 2010. S. 13. 118 Vgl. ebd., S. 77 f. 119 Dies alles kann natürlich nur unter der Voraussetzung geschehen, dass die Schüler adäquat und mit konkreten Aufgaben und Arbeitsanweisungen begleitet werden. Der Sinn von Videospielen im Unterricht soll es nicht sein, mit den Schülern in den Computerraum zu gehen, ihnen ein Spiel vorzugeben und dann den Raum zu verlassen. Bei Videospielen – wie bei jedem anderen Medium auch – ist es wichtig, dass sie einen strukturierten Umgang damit erlernen und wissen, worauf sie achten müssen, damit Videospiele gewinnbringend mit philosophischen Theorien und Methoden verknüpft werden können.

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philosophische Fragestellungen nutzbar gemacht werden. Damit ist die Möglichkeit gegeben, sie im Philosophieunterricht anwenden zu können, da sie als Sekundärmedien die Schüler zum philosophischen Denken anregen können.120 Durch ihre interaktiven Qualitäten tragen sie dem eingangs etablierten philosophischen Verständnis Rechnung, einen reflexiven Umgang mit der Welt zu fördern – ganz im Sinne Kants: »[N]icht Gedanken, sondern denken lernen«121.

Exit the game Dieser Beitrag diente dazu, eine Grundlage für das Zusammenspiel von (Philosophie-)Unterricht und Videospielen zu legen. Dies geschah über eine fachdidaktische Herangehensweise, aber es lassen sich noch wesentlich mehr Anknüpfungspunkte finden, die die Philosophie mit Videospielen verbinden – interessante Werke dazu sind bereits erschienen.122 Die Beschäftigung mit Videospielen im (Philosophie-)Unterricht steckt noch in ihren Kinderschuhen. Doch auch wenn sie weitestgehend als ernstzunehmendes Medium belächelt werden und der Vorschlag, Videospiele gewinnbringend im Unterricht einzusetzen eher mit Empörung und Ablehnung quittiert wird als mit offenem Interesse und der Wahrnehmung einer Chance, (Philosophie-)Unterricht motivierender und alltagsnaher zu gestalten, bieten sie ein breites Spektrum an Möglichkeiten für den Einsatz im schulischen Alltag und offenbaren ein komplexes, vielfältiges und reichhaltiges Forschungsfeld, auf dem sich nicht nur etablierte Disziplinen neu erproben können, sondern auf dessen Nährboden reichlich Raum für kreative und moderne Ideen Platz haben. Die Augen vor etwas zu verschließen, was schon längst ein fester Bestandteil im Alltag der Lernenden ist, hieße nicht nur, ungenutztes Potential brach liegen zu lassen, sondern auch, dem dynamischen, sich ständig weiter entwickelnden Bildungssystem ein Stopp-Schild in den Weg zu stellen, um Tradition über Fortschritt zu stellen, anstelle beide gleich gewichtet nebeneinander zu betrachten. Die Fachdidaktik entwickelt sich für und um die Lernenden herum, nicht umgekehrt. Videospiele können einen enormen Beitrag dazu leisten, Unterricht spannender und motivierender zu gestalten, ohne dass ein Verlust der Fachlichkeit zu befürchten ist. 120 Dass Videospiele nicht nur zu philosophischen Fragestellungen führen können, sondern in ihrer Struktur undThemen inhärent philosophisch sind und damit zum Teil als Primärmedien genutzt werden können, wird im weiteren Verlauf der Arbeit diskutiert. 121 Kant, Immanuel: Nicht Gedanken, sondern denken lernen. In: Texte zur Didaktik der Philosophie. Hrsg. von Kirsten Meyer. Stuttgart: Reclam 2010. S. 73. 122 Vgl. Merrill, Dan: Immortal Childhood. Online abrufbar unter: http://www.zel dainformer.com/articles/immortal_childhood.

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Wenn ich etwas in meiner langjährigen Karriere als Spieler über Videospiele gelernt habe, dann ist es, dass sie tief empfundene Emotionen evozieren können – sie können uns zum Lachen oder Weinen bringen, sie können uns in kindliches Staunen versetzen, während wir auf eigene Faust eine neue, unbekannte und faszinierende Welt erkunden und dabei Figuren kennenlernen, die wir lieben lernen und die uns unser ganzes Leben lang begleiten. Sie erlauben uns, die Wirklichkeit auf eine andere Art zu begreifen. Videospiele sind so viel mehr als nur Entertainmentprodukte. Sie erfordern ein selbsttätiges, ständig reflexives Eingreifen in die Spielwelt, um Sinn zu ergeben und können so nicht nur die Spielwelt, sondern auch die Welt der Spieler verändern.

Abbildung 6: Super Mario World 2: Yoshi!s Island123

Bibliographie Aarseth, Espen: Computer Game Studies, Year One. In: Game Studies 1 (2001). Aarseth, Espen: Warum Game Studies? In: Clash of Realities. Computerspiele und soziale Wirklichkeit. Hrsg. von Winfred Kaminski und Martin Lorber. München: Kopaed 2006. S. 17–23. Beil, Benjamin: First person perspectives. Point of view und figurenzentrierte Erzählform im Film und im Computerspiel. Siegensche Diss. Münster: Lit 2010 (= Medien!Welten 14). Bopp, Matthias: Didaktische Methoden in Silent Hill 2. Das Computerspiel als arrangierte Lernumgebung. In: »See? I!m real…«. Multidisziplinäre Zugänge zum Computerspiel am Beispiel von ›Silent Hill‹. Hrsg. von Britta Neitzel, Matthias Bopp und Rolf F. Nohr. Münster: Lit 2004 (= Medien!Welten 4). S. 74–95. Breuer, Johannes: Mittendrin – statt nur dabei. Die Interaktivität des Dispositivs Computerspiel und ihre Auswirkungen auf die Spieler. In: Gefangen im Flow? Ästhetik 123 Nintendo EAD und SRD. Nintendo 1995.

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Game Studies im Kontext fachdidaktischer Reflexionen und dispositive Strukturen von Computerspielen. Hrsg. von Michael Mosel. Boizenburg: VWH 2009. S. 181–211. Calvert, Charles und Kristina Calvert: Philosophieren mit Fabeln. Heinsberg: Dieck 2001. Coleridge, Samuel T.: Biographia Literaria. Oxford: Clarendon Press 1907. Csikszentmihaly, Mihaly: Das Flow-Erlebnis. Jenseits von Angst und Langeweile: Im Tun aufgehen. 9. Auflage. Stuttgart: Klett-Cotta 2005. Engel, Renate: Philosophieren mit Bilderbüchern – Präsentative und diskursive Momente im Philosophieren mit Kindern. In: Kinder philosophieren. Hrsg. von Dieter Krohn, Barbara Neißer und Nora Walter. Berlin: LIT 2012 (= Sokratisches Philosophieren 14). S. 207–235. Frasca, Gonzalo: Ludologists love stories, too: notes from a debate that never took place. Online abrufbar unter: www.ludology.org. Gee, James P.: Good video games + good learning. Collected Essays on Video Games, Learning and Literacy. New York u. a.: Lang 2007 (= New literacies and digital epistomologies 27). Gee, James P.: What video games have to teach us about learning and literacy. Revised and Updated Edition. New York u. a.: Palgrave Macmillan 2007. Herz, Jessie C.: Joystick nation. How videogames gobbled our money, won our hearts and rewired our minds. London: Abacus 1997. Jones, Gerard: Kinder brauchen Monster. Vom Umgang mit Gewaltphantasien. Berlin: Ullstein 2005. Jost, Roland und Axel Krommer: Vorwort. In: Comics und Computerspiele im Deutschunterricht. Fachwissenschaftliche und fachdidaktische Aspekte. Hrsg. von Roland Jost und Axel Krommer. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2011. S. VII–XV. Kant, Immanuel: Nicht Gedanken, sondern denken lernen. In: Texte zur Didaktik der Philosophie. Hrsg. von Kirsten Meyer. Stuttgart: Reclam 2010. S. 71–75. Kent, Steve L.: The ultimate history of video games. From Pong to Pok#mon and beyond. The story behind the craze that touched our lives and changed the world. New York: Three Rivers Press 2001. Laschet, Armin: Grußwort. Computerspiele und Politik: Zwischen Wirtschaftspolitik, Jugendmedienschutz und Bildungspolitik. In: Clash of Realities. Computerspiele und soziale Wirklichkeit. Hrsg. von Winfred Kaminski und Martin Lorber. München: Kopaed 2006. S. 9–13. Malliet, Steven und Gust de Meyer: The History of the Video Game. In: Handbook of computer game studies. Hrsg. von Joost Raessens und Jeffrey Goldstein. Massachusetts: MIT Press 2005. S. 23–45. Martens, Ekkehard: Anschaulich philosophieren – (wie) geht das? In: Anschaulich philosophieren. Mit Märchen, Fabeln, Bildern und Filmen. Hrsg. von Barbara Brüning und Ekkehard Martens. Weinheim und Basel: Beltz 2007 (= Philosophie und Ethik unterrichten 5). S. 9–17. Mäyrä, Frans: An introduction to game studies. Games in culture. London u. a.: SAGE 2010. Merrill, Dan: Immortal Childhood. Online abrufbar unter: http://www.zeldainformer. com/articles/immortal_childhood#.U9K2r2NXq70.

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Jens Heinrich Mosel, Michael: Das Computerspiel-Dispositiv. Analyse der ideologischen Effekte beim Computerspielen. In: Gefangen im Flow? Ästhetik und dispositive Strukturen von Computerspielen. Hrsg. von Michael Mosel. Boizenburg: VWH 2009. S. 153–179. Murray, Janet H.: Hamlet on the Holodeck. The Future of Narrative in Cyberspace. 4. Auflage. Cambridge: MIT Press 2001. Müller, Hans-Joachim: Gedanken symbolisieren – szenisches Interpretieren als Methode des Philosophierens. In: Denken als didaktische Zielkompetenz. Philosophieren mit Kindern in der Grundschule. Hrsg. von Hans-Joachim Müller und Silke Pfeiffer. Baltmannsweiler: Schneider 2004. S. 42–48. Neitzel, Britta: Computerspiele(n): Medium oder (Kultur-)Technik? In: Die Medien und ihre Technik. Theorien, Modelle, Geschichte. Hrsg. von Harro Segeberg. Marburg: Schüren 2004 (= Schriftenreihe der Gesellschaft für Medienwissenschaft 11). S. 492– 507. Newman, James: Videogames. London u. a.: Routledge 2004. Nordhofen, Susanne: Didaktik der symbolischen Formen. Über den Versuch, das Philosophieren mit Kindern philosophisch zu begründen. In: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 2 (1998). S. 127–132. Nordhofen, Susanne: Literatur und symbolische Form. Der Beitrag der Cassirer-Tradition zur ästhetischen Erziehung und Literaturdidaktik. Hannover: Siebert 2003. Perron, Bernard und Mark J. P. Wolf: Introduction. In: The video game theory reader 2. Hrsg. von Bernard Perron und Mark J. P. Wolf. New York u. a.: Routledge 2009. S. 1– 22. Petermann, Hans-Bernhard: Kann ein Hering ertrinken? Philosophieren mit Bilderbüchern. Weinheim und Basel: Beltz 2007. Peters, Jörg und Bernd Rolf: Spielfilme im Ethik- und Philosophieunterricht. In: Anschaulich philosophieren. Mit Märchen, Fabeln, Bildern und Filmen. Hrsg. von Barbara Brüning und Ekkehard Martens. Weinheim und Basel: Beltz 2007 (= Philosophie und Ethik unterrichten 5). S. 116–136. Pfeiffer, Silke: Reflexions- und Handlungskompetenz als zentrales Ziel des Philosophierens mit Kindern in der Grundschule. In: Bildungsphilosophie. Grundlagen, Methoden, Perspektiven. Hrsg. von Rudolf Rehn. Freiburg u. a.: Alber 2008 (= Pädagogik und Philosophie 1). S. 208–217. Pietschmann, Daniel: Das Erleben virtueller Welten. Involvierung, Immersion und Engagement in Computerspielen. Boizenburg: VWH 2009. Rehfus, Wulff D.: Medien im Philosophieunterricht. In: Handbuch des PhilosophieUnterrichts. Hrsg. von Wulff D. Rehfus und Horst Becker. Düsseldorf: Schwann 1986. S. 315–321. Runtenberg, Christa: Wenn Philosophie auf Lebenswelt trifft. Verbindungslinien zwischen Angewandter Philosophie, Philosophiedidaktik und dem Philosophieren mit Kindern. In: Angewandte Philosophie. Hrsg. von Christa Runtenberg und Johannes Rohbeck. Dresden: Thelem 2012. S. 55–64. Ryan, Marie-Laure: Narrative as Virtual Reality. Immersion and Interactivity in Literature and Electronic Media. Baltimore: John Hopkins University Press 2001. Schmid, Wolf: Elemente der Narratologie. 3. erweiterte und überarbeitete Auflage. Berlin und Boston: de Gruyter 2014.

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Game Studies im Kontext fachdidaktischer Reflexionen Schmidt, Hans J.: Zum Philosophieren verpflichten? Unfrisierte Überlegungen eines Nichtphilosophen. In: Philosophieren in der Grundschule. Hrsg. von Heiner Hastedt und Christian Thies. Rostock: Universität 1999 (= Rostocker Philosophische Manuskripte 7). S. 79–84. Schott, Gareth und Maria Kambouri: Social Play and Learning. In: Computer Games. Text, Narrative and Play. Hrsg. von Diane Carr u. a. Cambridge: Polity 2006. S. 119– 132. Steenblock, Volker: Philosophie und Lebenswelt. Beiträge zur Didaktik der Philosophie und Ethik. Hannover: Siebert 2012. Trippe, Rebecca: Virtuelle Gemeinschaften in Online-Rollenspielen. Eine empirische Untersuchung der sozialen Strukturen in MMORPGs. Berlin: LIT 2009 (= Game Studies 1). Widra, Thomas: Auf dem Weg zu wahrer »agency«. Theorie und Bestandsaufnahme der Einflussnahme auf die Handlung in Computerspielen. In: Gefangen im Flow? Ästhetik und dispositive Strukturen von Computerspielen. Hrsg. von Michael Mosel. Boizenburg: VWH 2009. S. 29–60.

Ludographie Spacewar. Steve Russell u. a. Massachusetts Institute of Technology 1962. Tennis for Two. William Higinbotham. William Higinbotham 1958. The Last of Us. Naughty Dog. Sony Computer Entertainment 2013.

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Mit Diagrammen philosophieren? Zur philosophisch relevanten Gestaltung von Anschaulichkeit am Beispiel des Buch-Bausatzes Kant für die Hand Hanno Depner

Die frühen 1990er Jahre verzeichnen in den Geisteswissenschaften eine Hinwendung zur Bildlichkeit: »imagic turn«1 (1991; Ferdinand Fellmann), »pictorial turn«2 (1992; William Mitchell), »visualistic turn«3 (1993; Klaus Sachs-Hombach), »iconic turn«4 (1994; Gottfried Boehm) werden konstatiert. Spätestens seitdem hat die wissenschaftliche Beschäftigung mit Bildern in zahlreichen Disziplinen und nicht zuletzt interdisziplinär Hochkonjunktur. In den Fokus der akademischen Aufmerksamkeit ist dabei ein ganz besonderer Aspekt der Bildlichkeit gerückt: die epistemische Valenz des Visuellen. Ihr zollt mitunter sogar die traditionell bilderskeptische Philosophie Tribut. Die vielbeschworene Nobilitierung von Bildern geht allerdings – in der akademischen Philosophie – nicht so weit, dass Bilder vom Untersuchungsgegenstand zum Medium des Philosophierens avanciert wären. Vor allem Kunstwerke und numerische, oft computergenerierte Simulationen und Visualisierungen sowie von den Neuen Medien entwickelte ikonische Kommunikationsmittel werden erforscht; eigene philosophische Visualisierungsstrategien werden hingegen kaum ansatzweise entwickelt.5Wie traditionell üblich, wird der Einsatz von Bildern in der Philosophie weiterhin der Didaktik und Popularisierung überlassen. Auch auf den beiden letztgenannten Gebieten lässt sich – ebenfalls in den frühen 1990er Jahren – eine Wende beobachten. 1992 widmen sich zwei Ausgaben der vierteljährlichen »Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik« den Themen »In Bildern denken« und »Bilddidaktik«. Bereits im Jahr davor bemerken die Verfasser des neu erschienenen dtv-Atlas Philosophie im Vorwort: »Mit dem Versuch, philosophische Gedanken in Form von Bildern und Graphiken zu veranschaulichen, wird hier weitgehend Neuland für die Darstellung der Philosophie betreten.« Dieser Versuch hat sich inzwischen als außerordentlich er1 Fellmann 1991, 26. 2 Mitchell 1992, 89 ff. 3 Sachs-Hombach 1993, 10. 4 Boehm 1994, 13. 5 Meine Untersuchungen beziehen sich auf die deutsch- und englischsprachigen Kulturkreise. Mir ist im Detail nicht bekannt, ob es andernorts vergleichbare Traditionen oder gegenwärtige Entwicklungen gibt.

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Zur philosophisch relevanten Gestaltung von Anschaulichkeit

folgreich erwiesen.6 Ähnlich großer Beliebtheit erfreuen sich Philosophie-Comics, deren Menge inzwischen fast unüberschaubar geworden ist. Dass solche Entwicklungen in der akademischen Philosophie weitgehend ignoriert oder skeptisch beäugt werden,7 ist nicht in allen Fällen gerechtfertigt, wie ich in diesem Text anhand von neuem Anschauungsmaterial zeigen möchte. Während Bilder mitunter Wissen lediglich simulieren mögen, in anderen Kontexten ganz in ihrer Vermittlungsfunktion aufgehen und damit philosophisch irrelevant sind, übersteigt ihre Verwendung gemäß bestimmter Visualisierungsstrategien die Grenze zum philosophischen Erkenntnisgewinn. Solche Strategien beschreiten nicht nur in der Philosophiedidaktik neue Wege, sondern sie beleben auch – mit zeitgenössischen Mitteln und vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Herausforderungen der Philosophie durch Medienwandel und postmoderne Erkenntniskrise – eine eher randständige Tradition der Philosophie selbst. Sie können als philosophisch relevante visuelle Argumentationsweisen und Impulse für die weitere Entwicklung der Philosophie gelten, insofern sie auf genuin philosophische Fragestellungen, Probleme und Traditionen reagieren und sich als neuartig-unbegriffliche Antworten, Kommentare, Belegmaterialien zeigen. Eine Vorstellung von einer derartigen Wirkungsweise einer philosophischen Visualisierungsstrategie vermag die Analyse meines Buch-Bausatzes Kant für die Hand8 zu vermitteln, die hier im Vordergrund stehen soll. Den Ausgangspunkt dafür bildet eine möglichst sachliche Beschreibung des Buch-Bausatzes (I). Nach einer Einordnung bildlicher Darstellungen von Philosophie überhaupt in die Geschichte und die aktuelle Situation der Philosophie (II), erfolgt die Hervorhebung bedeutender Eigenschaften und Möglichkeiten von Diagrammen (III). Anschließend wird die Gestaltung einiger Diagramme – insbesondere das in Kant für die Hand angelegte Diagramm – näher in den Blick genommen und deren philosophische Relevanz erörtert (IV). Zuletzt bildet die philosophische Relevanz diagrammatischer Ephemerität – in Kontrastierung zu ihrer Operativität – Anlass zu einer weiteren Analyse eines Gestaltungsaspekts des Buch-Bausatzes, bevor eine kritische Bewertung der im Titel dieses Aufsatzes gestellten Frage den Text beschließt (VI).

I Kant für die Hand ist kein gewöhnliches Buch zum Lesen allein. Wie sein Untertitel verspricht, verbirgt sich darin nichts weniger als »Die ›Kritik der reinen Vernunft‹ zum Basteln und Begreifen«. Den acht Kapiteln, in denen der Leser 6 Bisher sind 17 Auflagen erschienen (Stand: Januar 2018). 7 Wie in den Analysen des Literaturwissenschaftlers und gelernten Philosophen Uwe Pörksen, vgl. Pörksen 1994. 8 Depner 2011.

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schrittweise in Immanuel Kants Hauptwerk eingeführt wird, sind verschiedene Bastelteile zugeordnet. Sie bestehen aus farbig bedrucktem Karton und können aus den Bogen im hinteren Teil des Buches gelöst werden. Während der Leser sich in den Kapiteln über »Kants Leben und Werk«, »Philosophische Hintergründe«, die verschiedenen Erkenntnisvermögen sowie die »Transzendentale Methodenlehre« informiert und mit jeweils kurzen, prägnanten Texten in die Begrifflichkeit der Kritik der reinen Vernunft eingeführt wird, ist er eingeladen, die jeweiligen Bastelteile nach Vorgabe einer bildlichen Anleitung zusammenzukleben. (Abb. 1 zeigt die Bastelarbeit des 2. Kapitels, das über Hintergründe informiert.) Der Zusammenhang zwischen Textinhalten und Bastelarbeit besteht zunächst lediglich darin, dass die Bastelteile mit den Begriffen und Zitaten beschriftet sind, die in den Infotexten erläutert werden. Die für das Trocknen des Klebstoffs benötigten Pausen beim manuellen Werkeln schaffen die Gelegenheit zur kontemplativen Vertiefung des Gelesenen. Die Bastelei geht jedoch nach abgeschlossener Lektüre noch weiter: Nun werden alle Bastelteile miteinander verbunden und zu einem Würfel zusammengesetzt (Abb. 2). Dieser Würfel wiederum lässt sich ausklappen. Zieht man an der Lasche mit der Aufschrift »Transzendentale Elementarlehre«, tut sich eine Öffnung ins Würfelinnere auf und ein Teil des Inhalts entfaltet sich stufenweise nach außen und gibt »Ästhetik«, »Analytik« und »Dialektik« frei (Abb. 3). Den Aufschriften und einer nun sichtbar gewordenen, alle Teile verbindenden Pfeillinie lässt sich entnehmen, dass damit der Erkenntnisprozess anschaulich gemacht ist, wie Kant ihn in der Kritik der reinen Vernunft darstellt. Als erstes Erkenntnisvermögen zeigt sich im Würfelinneren das »Anschauungsvermögen«, das dem sich als Erkenntnis konstituierenden »Ding an sich« die Formen von »Raum« und »Zeit« aufprägt: jeweils eine ausgestanzte Kreis- und eine Quadratform in den zwei nach innen schwingenden Türen des Erkenntnisportals. Die »Urteilskraft« – im neu ausgeklappten »Analytik«-Quader befindlich, der dem Aufbau der Kritik gemäß auf die »Ästhetik« folgt – ordnet die »Anschauungen« den »Begriffen« zu, wobei die »Kategorien« von vier Regalen mit jeweils drei Schubfächern dargestellt werden, in deren Böden sich Beispielsätze finden lassen. Ihnen gegenüber befinden sich die ebenfalls als Schubkastensystem konstruierten »Grundsätze«. In den darüber situierten »Dialektik«Quader führt inwändig eine Rampe von den Urteilen hinauf zu den Schlüssen. Sie lassen sich drei ebenfalls nach oben strebenden Sprungfedern oder schwankenden Türmchen gleichenden Papp-Elementen zuordnen: den Ideen »Seele«, »Welt« und »Gott«. Anhand der dünnen, kreisförmig geführten Verstrebungen vermag man nachzuvollziehen, wie das Erkenntnisstreben im Bereich der Metaphysik ins Kreisen und Schwanken der »Paralogismen«, »Antinomien« und des »Ideals« gerät – gerade weil es hoch hinaus will.

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Zur philosophisch relevanten Gestaltung von Anschaulichkeit

Abb. 1: »Philosophische Hintergründe der ›Kritik der reinen Vernunft‹«, aus: Depner 2011, S. 13

Abb. 2: »Aufbau und Gliederung der ›Kritik der reinen Vernunft‹«, aus: Depner 2011, S. 40 f

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Abb. 3: »Die Elementarlehre«, aus: Depner 2011, S. 42

Abb. 4: »Gesamtübersicht der ›Kritik der reinen Vernunft‹«, aus: Depner 2011, S. 45

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Zur philosophisch relevanten Gestaltung von Anschaulichkeit

Weniger hochfahrend – wiederum ganz im Sinne Kants – zeigt sich die »Methodenlehre«, die sich als zweiter Teil der Kritik abgesondert von den Quadern der einzelnen Erkenntnisvermögen, die deren ersten Teil bilden, ausklappen lässt. Ihre vier ausziehbaren Arme (die Hauptstücke »Disziplin«, »Kanon«, »Architektonik« und »Geschichte«) verschränken sich zu einem bescheidenen Dach des Vernunftgebrauchs in praktischer Hinsicht bzw. zu einem Fundament für zukünftige philosophische Bemühungen. Bei der Betrachtung des so entfalteten Bauplans der Kritik der reinen Vernunft vermag sich der Leser auf einen Blick zu orientieren und darüber klar zu werden, an welcher Stelle des Gesamtgefüges und in welchem Zusammenhang ein bestimmtes Problem steht, um auf diese Weise den jederzeit gefährdeten Überblick über das komplexe Werk Kants zu behalten (Abb. 4). Beim Zusammenklappen und erneuten Ausfalten des »Kant-Würfels« prägen sich – so steht zu erwarten – Begrifflichkeit und Aufbau immer stärker ein und regen wiederholt zur Reflexion an.

II Diese erste, annähernde Beschreibung des Buch-Bausatzes hebt vor allem seine Eignung als Einführung, insbesondere den Aspekt seiner Anschaulichkeit hervor, einer Eigenschaft, die für ihre pädagogische Wirksamkeit geschätzt wird.9 Anschaulichkeit ist besonders geeignet, Interesse zu wecken, zur eingehenden Beschäftigung anzuregen und die Merkbarkeit zu erhöhen.10 Bilder haben den Vorteil, »auf einen Blick« übersehen werden zu können, und sie sind – ebenso wie bildhafte, anschauliche Sprache – besonders leicht aufzufassen.11 Doch diese Aspekte stehen nicht im Mittelpunkt der hier angestellten Überlegungen. Stattdessen soll begründet werden, dass das, wodurch sich Kant für die Hand von anderen Einführungen unterscheidet, also die spezifischen Formen der darin wirksamen Anschaulichkeit, nicht nur kurios aber ansonsten belanglos ist, sondern einen ernstzunehmenden Beitrag zur Philosophie – besonders in ihrer aktuellen Situation – darstellt. Zu diesem Zweck soll zunächst gezeigt werden, auf welche Weise bildliche Darstellungen von Philosophie überhaupt als Reaktionen auf spezifische Fragestellungen, Probleme und Traditionen von Philosophie gelten können. Als erster Bildkritiker gilt gemeinhin Platon. Im 10. Buch des Staats moniert er (bzw. sein Protagonist Sokrates), dass die Konkretheit von Bildern nicht für die höchste, nämlich die abstrakte Erkenntnis tauge.12 Bilder wirkten durch Überwältigung, statt durch die Ordnung der Begriffsarbeit. In der Philosophie (und 9 10 11 12

Vgl. Burkard 2012, 29. Vgl. auch Stoellger 2011, 19. Vgl. auch Burkard 2012, 32ff sowie Nordhofen 2003, 99 f. Vgl. Rep. 595a–608b.

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darüber hinaus) etabliert sich schließlich eine überaus wirkungsmächtige hierarchisierte Dichotomie zwischen Begriff und Bild, Logos und Aisthesis, Verstand und Anschauung, Diskursivität und Ikonizität13. In einer wichtigen, vielleicht der prägenden Strömung der Philosophie, die man – zugegeben sehr schematisch – als ikonoklastische, rationalistische oder logozentristische Tradition charakterisieren könnte, wird versucht, Philosophie nach dem Vorbild von Mathematik und Logik oder den Naturwissenschaften zu gestalten: Die philosophische Sprache soll sich deren Gesetzen und Formen annähern, um die maximale Gewissheit ihrer Erkenntnisse zu gewährleisten, die im Übrigen gern als vermittlungsunabhängig idealisiert werden. Heute ist diese Tradition wohl am ausgeprägtesten in der analytischen, aber auch insgesamt in der akademischen Philosophie wirksam, insofern diese als Wahrerin nicht-anschaulicher Methoden und Standards auftritt14 und aufgrund ihrer Institutionalisierung eine Art Alleinvertretungsanspruch der Philosophie erworben hat und behauptet.15

13 Die Liste von Gegensatzpaaren ließe sich noch eine Weile fortsetzen. Ich greife bei den Begriffsgegenüberstellungen auf ähnliche Kontrastierungen in Texten von Krämer, Nordhofen, Heßler/Mersch und Bauer/Ernst zurück: Vgl. Krämer 2009, 95; Nordhofen 2003, 102; Heßler/Mersch 2009, 14; Bauer/Ernst 2010, 313. 14 Man sollte sich durch die Formelhaftigkeit der hier gezeichneten Tradition nicht täuschen lassen und sie als bloßen Popanz abtun. Den Affekt gegen das Bild und andere Formen des vermeintlich Nicht-Rationalen gibt es wirklich, und er äußert sich mitunter höchst real und schlagkräftig. »Nicht umsonst wird die approbierte Wissenschaft zur Wut gereizt, wann immer in ihrem Umkreis sich regt, was sie der Kunst attribuiert, um in ihrem eigenen Betrieb ungeschoren zu bleiben«, formuliert Adorno 1970 in seiner Ästhetischen Theorie (Adorno 1995, 344). 1992 bildet sich gegen die Verleihung der Ehrendoktorwürde an Jacques Derrida durch die Universität Cambridge eine internationale Allianz, der analytische Philosophen vom Rang eines Willard van Orman Quine angehören. Sie werfen Derrida in einem offenen Brief vor, seine Texte ließen Klarheit und Stringenz vermissen, seien eine Übertragung der Stilmittel von Dadaisten und Konkreter Poesie in die Sphäre des Akademischen und überschritten damit die Grenze der Wissenschaft. 15 Als Philosoph wird nur ernst genommen, wer an einer Hochschule das Fach Philosophie belegt und die entsprechenden Prüfungen bestanden hat, und zwar umso mehr, als er sich außerhalb der traditionellen Formen von hoch formalisiertem Aufsatz und abgelesenem Vortrag bewegt. Anschauliche Vermittlungsformate (die nicht zu verwechseln sind mit dem Schreiben über Anschaulichkeit) werden gern ausgeschlossen und mit dem Vorwurf des Populismus leicht abqualifiziert: Man vergleiche etwa immer wieder aufflackernde Diskussionen um Peter Sloterdijk und Richard David Precht (oder aber das historische Beispiel Friedrich Nietzsches). Gibt es überhaupt Philosophie jenseits der Universität? Ja, zumindest an Schulen und auf Philosophiefestivals, vgl. Schnädelbach 1995, 39 und den Newsletter der Deutschen Gesellschaft für Philosophie im Monat September 2012.

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Der Bevorzugung des Begriffs gegenüber dem Bild lässt sich eine eigene Tradition der Hochschätzung der Bildlichkeit gegenüberstellen, deren Geschichte ebenfalls einen Ausgangspunkt bei Platon hat16. Seit der Aufklärung und besonders seit der Romantik differenziert sich die ästhetische Erfahrung als Gegensatz und Korrektiv eines rationalistisch verengten Wissensbegriffs aus. In diese Traditionslinie reiht sich in jüngster Zeit Gottfried Boehm, der mit seiner Rede vom »iconic turn« impliziert, dass inzwischen eine Wende vom Logos der Sprache zum Bild eingeleitet, wenn nicht erreicht sei. Diese Wende passt in die kulturellen Transformationen unserer Zeit, die mit Medienwandel (Niedergang der Dominanz der Schrift, Bilderflut, Ästhetisierung der Lebenswelt) und Pluralisierung auch die Philosophie verändern und sie praktisch, kritisch, orientierend werden lassen, wo sie nicht bedeutungslos geworden ist.17 Wolfgang Welsch ist nur einer von vielen, die betont haben, dass »nicht Wahrnehmung gegen Denken oder Imagination gegen Reflexion ausgespielt werden kann«.18 In Wirklichkeit sind auch Begriff und Bild auf vielfache Weise miteinander verbunden. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass ihre Gegensätze nicht oft gegeneinander ausgespielt worden wären. Nur auf diese – zuspitzende – Weise kann der »iconic turn« als Nachfolger des »linguistic turn« verstanden werden, nur so erscheint die enorme Hochschätzung des Bildes verständlich. Der Glanz, in dem das Bild erstrahlt, muss umso heller gezeichnet werden, als sich bei der wissenschaftlichen, also textuellen Betrachtung »unweigerlich«, wie Boehm melancholisch formuliert, der »Schatten der Sprache […] über das Ikonische legt«.19 Hier zeigt sich, dass – wenn auch der verengte Erkenntnisbegriff der ikonoklastischen, rationalistischen Tradition in postmodernen Zeiten an Glaubwürdigkeit verloren hat – die Tradition des anschaulichen Denkens keineswegs ohne Probleme ist. Ihr stellt sich die Frage, wie sie die Grenze einer nicht-begrifflichen, praktischen Erkenntnis ziehen will – wiederum traditionell-begrifflich oder mit einer anschauungsgesättigten, innovativen Begrifflichkeit oder, jedenfalls primär, unbegrifflich? – und ob sie sich selbst als nicht-begriffliche Erkenntnis konstituieren kann, ohne sich im Vermittlungsprozess der Willkür des Rezipienten auszuliefern.

16 Dass Platon hier als Stammvater zweier konträrer Traditionslinien in der Philosophie aufgeführt wird, weist darauf hin, dass es sich bei diesen Strömungen um schematische Überzeichnungen handelt, die oft genug im selben Werk und im selben Autor – wie eben bei Platon – eng verbunden sind. Dennoch kann man den Strömungen verschiedene Schulen zuordnen (z. B. der klassischen analytischen bzw. Wissenschaftsphilosophie – vgl. Steinbrenner/Winko 1997, 9 – und der postmoderne Philosophie), und sie konstituieren eine typische Spannung innerhalb der Philosophie. 17 Vgl. Schnädelbach 1995, 39; vgl. auch Welsch 1991, 56 ff. 18 Welsch 1991, 53. 19 Boehm 2004, 33.

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Nach Boehm müssen »theoretische Argumentationen« sowohl dafür sorgen, dass Bildbetrachtung angesichts einer »vermeintlichen visuellen Unschuld der Bilder« nicht in ein Vegetieren der »Sprachlosigkeit« gerät20, als auch die vorschnelle sprachliche Decodierung vermeiden, durch die das Bild zum bloßen »Substitut«, zur »Illustration«, zum »Abbild« wird21. Die Bilddidaktik – zum Beispiel bei Susanne Nordhofen im Anschluss an Cassirer und Goodman – argumentiert ganz im Sinne des »iconic turn«. Sie will die ästhetische Erfahrung einsetzen, um im Sinne eines »Wissens von unten«22 die Schüler zu eigenen Gedanken zu ermächtigen und damit den begrifflich eingeschränkten Zugang zu Erkenntnis zu erweitern.23 Um allerdings Bilder im Unterricht nicht einfach als interessantes Anschauungsmaterial zu benutzen – im Sinne eines »Wissens von oben« –, ist die Instanz des ästhetisch und didaktisch kompetenten Lehrers nötig. Aus dem Horizont ihrer Disziplin heraus richtet Nordhofen ihre Bemühungen also auf die didaktische Ermächtigung des Lehrers und beschränkt den Einsatz von Bildern auf die Unterrichtssituation; sie geht nicht so weit, Visualisierungsstrategien für performatives Philosophieren mit Bildern vor einem unbeschränkten Rezipientenkreis (zu dem nicht nur Schüler und Laien, sondern gerade auch Experten zählen können) zu reflektieren. Im Unterschied zu Bildtheorien des »iconic turn« und der Bilddidaktik reagieren bildliche Darstellungen von Philosophie auf die Probleme des anschaulichen Denkens, indem sie eine doppelte Akzentverschiebung vornehmen. Zum einen vermeiden sie – gleichsam als Konsequenz der Hochschätzung des Bildes – die Begrifflichkeit und wählen ihren medialen Schwerpunkt primär in der Bildlichkeit. Und zum anderen werten sie die Rolle des Rezipienten auf, indem sie ihm zumuten, mit nur geringer begrifflicher Hilfe und ohne Hilfestellung durch eine personelle Autorität nicht-begriffliche Erkenntnisse zu sammeln.24 Diese doppelte Akzentverschiebung wird von der diagrammatischen Darstellung von Philosophie noch einmal betont – jedoch auf ganz eigene Weise. Die diagrammatische Darstellung wählt eine Darstellungsform, die sowohl Begriff und Bild verbindet als auch besonders deutlich im praktischen Gebrauch verankert ist, sich damit die Rezeptionstätigkeit als Aktivität vorstellt, dabei aber die Rezeptionssituation nicht einschränkt.

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Vgl. ebd., 30. Vgl. ebd., 35. Nordhofen 2003, 100. Ebd., 109; vgl. auch Martens 2007, 9 ff. Vgl. etwa das Visualisierungskonzept von Veronika Reichl (Reichl 2008).

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III Neuere Bildtheorien und vor allem die junge Disziplin der »Diagrammatik«25 bemühen sich weniger um eine Konturierung der Gegensätzlichkeit und Abgrenzung von Begriff und Bild als vielmehr darum, diese Trennung zu hinterfragen.26 Damit gerät das (ästhetische) Bild aus dem Fokus, und das Diagramm rückt in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Das Diagramm verbindet auf spezifische Weise die Eigenschaften von Text und Bild. Es gilt als besonders abstrakte und philosophie-affine Darstellungsform. Im Zuge der Diagrammatik sind zwar einige seiner Aspekte untersucht worden, mit der Gestaltung des Diagramms im engeren Sinne beschäftigen sich allerdings eher philosophie-fremde Disziplinen, weswegen die philosophische Relevanz der Gestaltung von Diagrammen bisher Neuland darstellt. Meine hier nur knapp dargestellten Überlegungen dazu knüpfen an Nelson Goodman an. Nach Goodman handelt es sich beim Diagramm typischerweise um eine Art schematisches Bild,27 das sich durch die semiotische Eigenschaft der relativen syntaktischen »Abschwächung« vom »repräsentationaleren«28 Bild unterscheidet. Mit dem Beispiel eines Holzschnitts des japanischen Künstlers Hokusai verdeutlicht Goodman seine Analyse: Anders als bei der gezackten Linie eines Elektrokardiogramm-Ausschnitts sei bei der künstlerischen Darstellung des Umrisses des Fudschijama jedes Detail der Linienführung relevant.29 Die Grenzen des Diagramms zu anderen Darstellungsformen (Goodman: Symbolsystemen) sind jedoch fließend.30 In einem extremen Fall – um den es Goodman nicht geht – kann das Diagramm sogar die semiotischen Eigenschaften von Texten annehmen, deren Syntax »dif25 2003 sprechen Bogen/Thürlemann in einem grundlegenden Aufsatz erstmalig vom »diagrammatic turn«; vgl. Bogen/Thürlemann 2003, 3. 26 Vgl. den Titel von Bogen/Thürlemann 2003: »Jenseits der Opposition von Text und Bild. Überlegungen zu einer Theorie des Diagramms und des Diagrammatischen« sowie Krämer 2006 und Mersch 2006a, 106. 27 Vgl. Goodman 1995, 232. Genau genommen spricht Goodman hier nicht von »Bildern«, sondern von »semantisch dichten Systemen«. Die Vereinfachung seiner Terminologie erfolgt hier aus Gründen der Zuspitzung. Sie ist mit dem Anspruch verbunden, Goodmans Position nicht zu verfälschen, und mag erlaubt sein, wo seine Analysen nur als Ausgangspunkt für weitere Überlegungen genutzt werden. 28 Ebd. 29 Vgl. ebd., 212. 30 »Während die Grenze zwischen bildlichen und nicht-bildlichen Systemen scharf zu ziehen ist, handelt es sich bei der Abgrenzung von Vollbildern und anderen analogen Systemen (wie diagrammatischen Systemen) um eine graduelle Angelegenheit«, formuliert Scholz, dessen Hauptsatz ich zustimme, anders als seinem Nebensatz: Vgl. Goodman 1995, 213. Im Übrigen möchte Scholz auf den Gebrauch der Bilder/Diagramme hinaus, wozu ich in Abschnitt V auch komme. Vgl. Scholz 2004, 128.

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ferenziert« ist (im Gegensatz zur »dichten« Syntax von Bildern). Texte greifen nämlich auf ein Arsenal definierter oder »differenzierter« Elemente (wie Buchstaben) zurück, deren konkrete Ausgestaltung differieren kann, solange sie kenntlich bleiben, und zwischen denen sich eine ungestaltete Fläche befindet. Ganz analog lassen sich einfache Diagramme konstruieren, auch wenn sie neben Buchstaben, Satzzeichen und Ziffern zusätzlich Pfeile und Linien enthalten, deren Ausgestaltung ungleich relevanter zu sein scheint als beispielsweise die Buchstabenober- oder -unterlängen: doch es sind digitale Diagramme vorstellbar, die mit wenigen Linien (horizontal, vertikal, diagonal in jeweils drei verschiedenen Längen) und entsprechend wenigen Pfeilen auskommen.31 Mit Rainer Totzke könnte man formulieren, dass diese Diagramme einer »relativ strengen Syntax« unterliegen. »Das heißt, es gibt im konkreten Fall sehr klare Regeln für deren korrekte Erstellung und Lesung. Verfahren wie die Vorformatierung der diagrammatischen Inskriptionsflächen durch Koordinatensysteme, in die dann Messwerte eingetragen werden, kreieren eine relativ strenge ›Syntax‹.«32 Solche Diagramme – seien sie nun syntaktisch differenziert oder dicht – sind als Kreis-, Balken-, Säulen-, Linien-, Punkt- oder Streudiagramme bekannt.33 Ihre Form setzt mustergültig den Anspruch an Diagramme um, komplexe Zusammenhänge anschaulich, übersichtlich und leicht zugänglich zu machen. In einem anderen Extremfall können Diagramme die semiotischen Eigenschaften von Bildern annehmen. Wenn ein Diagramm nicht ersichtlich mit einer Standardsoftware erstellt, sondern etwa dem Layout einer bestimmten Zeitung gemäß designt ist, wird – wie bei einem Bild – jedes visuelle Detail relevant, weil damit beispielsweise die Seriosität dieser Zeitung auf das Diagramm übertragen wird: Einem visuell ungeübten Betrachter mag das entgehen, ein geschultes Auge liest das so gestaltete Diagramm entsprechend oder erkennt vielleicht sogar die Mittel, die diesen Effekt bewirken.34 Je syntaktisch freier ein Diagramm ist, desto mehr Kompetenz wird für sein Verständnis erforderlich (und ebenso gilt umgekehrt: Mit je mehr Kompetenz 31 Man denke an die plumpen ersten computergenerierten Diagramme. Hier zeigt sich übrigens, dass die Grenze zwischen digital (differenziert) und analog (dicht), mit der Goodman arbeitet, zwar streng gezogen werden kann, aber diese Grenzziehung ab einem bestimmten Maßstab irrelevant wird, genauso wie wir Pixel zwar immer messen, ab einer bestimmten Auflösung aber nicht mehr mit dem bloßen Auge wahrnehmen können. 32 Totzke 2012, 424. 33 Vgl. Ballstaedt 2012, 65 ff. 34 Noch weiter geht die ästhetische Gestaltung bei Diagrammen, die keinem bereits etablierten Schema folgen, sondern entsprechend dem Sachverhalt oder den Verhältnissen ganz neu entworfen werden müssen. Hier hat sich mit der rasanten Verbreitung von Infografiken seit den 1970er Jahren eine eigene Disziplin entwickelt, zu der nicht zuletzt die grafische Gestaltung gehört. Ihr bekanntester Vertreter, Edward R. Tufte, hat sich in zahlreichen Büchern der ästhetischen Gestaltung von Diagrammen gewidmet.

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man ein Diagramm betrachtet, umso stärker befreit man sich von konventionellen und vordergründigen Lesarten). So können Diagramme, wie Bilder, eine »erkenntnisaufschließende« Funktion erhalten. In »diagrammatische[n] Darstellungen, die einer weniger strengen ›Syntax‹ folgen […] existieren recht freie, offene, provisorische bzw. transitorische Regeln der Produktion und der Lesung dieser Diagramme. Als Laboratorien epistemischen Schreibens/Zeichnens sind diese Arten diagrammatischer Artefakte oftmals sogar gerade darauf angelegt, spielerisch zu ›verfremden‹ und dabei möglichst viele kreative Assoziations- und Interpretationsspielräume zu eröffnen.«3536

IV Die Bandbreite der Gestaltungsmöglichkeit von Diagrammen ist also umfangreich und für ihre Wirksamkeit relevant. Die Grenzen lassen sich sogar so weit fassen – wozu die Diagrammatik tendiert37 –, dass beinahe alles als Diagramm verstanden werden kann oder in den Anwendungsbereich der Diagrammatik fällt: literarische Texte, Bilder, Theateraufführungen, Filme, Computerspiele, Gencodes etc. Entgegen diesem Trend zu einer »Einebnung der Gattungsunterschiede« geht es mir hier um Diagramme im engeren Sinne. Anders als Krämer, die sich aus dem gleichen Grund den materiellen Eigenschaften von Diagrammen widmet,38 möchte ich deren ästhetische Gestaltung untersuchen – und zwar anhand der leitenden Frage, wie Diagramme gestaltet sein müssen, um philosophisch relevant zu sein. Bei der diagrammatischen Darstellung von Philosophie finden sich die bekanntesten Diagramm-Formen (Liniendiagramme etc.) kaum. Ein mitunter zu pädagogischen Zwecken eingesetztes Diagramm mit relativ starrer Syntax setzt die Philosophen einer Epoche zueinander in Bezug: An einer Zeitachse ausgerichtete Balken zeigen die Lebensspanne einzelner Philosophen an. Sie sind mitunter verschieden eingefärbt, um »Gruppen« oder »Schulen« voneinander abzugrenzen. Es bietet sich an, eine Karte in das Diagramm zu integrieren, um die jeweiligen Wirkungsstätten anzuzeigen (Abb. 5). In ähnlicher Weise lässt sich Leben und Werk eines einzelnen Philosophen in Phasen darstellen (Abb 6). Beim in der Philosophie am häufigsten eingesetzten Diagrammtyp – dem Baumdiagramm – ist die Syntax noch freier. Es setzt keine mathematischen 35 Totzke 2012, 424. 36 Normalerweise sind sie es nicht, aber Diagramme können auch Kunst sein. Vgl. die Arbeiten von Jorinde Voigt, die ihren Ausgangspunkt übrigens in der diagrammatischen Darstellung philosophischer Texte hatten, vgl. http://www.goethe.de/ins/gb/lp/prj/mtg/ men/kun/voi/deindex.htm [12.10.12]. 37 Vgl. Bauer/Ernst 2010 oder Stjernfelt 2007. 38 Bzw. »Spatialität« und »Graphismus«, vgl. Krämer 2011.

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Größen, sondern Begriffe miteinander in Beziehung, manchmal nur wenige, bisweilen sehr viele. Auch wenn an dieser Stelle die bekannten historischen Diagramme von Joachim von Fiore, Raimundus Lullus, Petrus Ramus und anderen einzuordnen wären, untersuche ich im Folgenden aus Platzgründen nur diagrammatische Visualisierungen eines einzigen philosophischen Werkes: der Kritik der reinen Vernunft. Bei deren Darstellung können sowohl formaler Aufbau (also die Anordnung der Kapitel bzw. das Organisationsprinzip des Textes) als auch inhaltlicher Aufbau (also die Themen oder Argumentationen im Verlauf) oder eine Kombination aus beidem visuell umgesetzt werden. Die Tafel aus der Encylopaedia Londinensis (1824) zeigt den inhaltlichen Aufbau sehr grob mit der sich von oben nach unten entwickelnden Anordnung wichtiger Begriffe, die in kurzen Erläuterungssätzen vorgestellt werden. Figurale Elemente setzen visuelle Marken und betonen Ordnung und Übersichtlichkeit der Darstellung (Abb. 7)39. Das erste Kant-Diagramm im dtv-Atlas Philosophie konzentriert sich hingegen auf die Darstellung des formalen Aufbaus der Kritik der reinen Vernunft, ist dabei aber etwas ausführlicher und stellt die einzelnen Kapitel (bzw. Teile, Abteilungen, Bücher und Hauptstücke) in ihrem Ablauf ebenfalls von oben nach unten gegliedert vor (Abb. 8). Die inhaltliche Darstellung ist nicht integriert, sondern einzelne Inhalte (Ästhetik, Verstandesbegriffe, Analytik, Antinomien und Architektonik) werden in nachfolgenden Diagrammen des dtv-Atlas gesondert dargestellt, die dann auch vereinzelt figurale Elemente enthalten.

Abb. 5: »Übersicht: Deutscher Idealismus« in: Kunzmann/Burkard/Wiedmann und Weiß (Illustrationen) 2002, S. 134 39

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Vgl. auch Burkard 2012, 32.

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Abb. 6: »Nietzsches Leben und Werk«, in: Kunzmann/Burkard/Wiedmann und Weiß (Illustrationen) 2002, S. 176

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Abb. 7: »A Table of the Elements of the Mind« von Richard Williamson, in: Burkard 2012, S. 33

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Abb. 8: »Aufbau der Kritik der reinen Vernunft«, in: Kunzmann/Burkard/Wiedmann und Weiß (Illustrationen) 2002, S. 136

Abb. 9: »Critique of Pure Reason – Main Parts« von Marco C. Bettoni, Quelle: Internet

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Abb. 10: »Inventarium der reinen spekulativen Vernunft«, in: Störig 1987, S. 405

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Abb. 11a,b,c: »Kant postmodern« von Axel Weiß, in: Burkard 2012, S. 34 f

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Ein Vergleich dieser beiden Diagramme sowie der diagrammatischen Darstellungen des Kybernetikers Marco C. Bettoni (Abb. 9) und des Wissenschaftsjournalisten Hans Joachim Störig in seiner populären Geschichte der Philosophie (Abb. 10) zeigt eine relative gestalterische Vielheit, die doch von dem durch Kant scharf konturierten Aufbau seines Werks in Grenzen gehalten wird. Eine Gemeinsamkeit der letztgenannten vier Diagramme, die nicht dem gemeinsamen Bezug auf die Kritik der reinen Vernunft geschuldet ist, besteht darin, dass die Gestaltung möglichst sachlich und neutral gehalten ist. Ein Blick auf die postmoderne Neufassung der Kant-Tafel der Encylopaedia Londinensis durch den Illustrator des dtv-Atlas Philosophie, Axel Weiß, kann diesen Punkt verdeutlichen: deren Gestaltung könnte expressiv genannt werden, jedenfalls ist sie nicht sachlich und neutral (Abb. 11a,b,c). Ihre Syntax ist so wenig starr, dass die landläufige Funktion des Diagramms überschritten und neben der Darstellung der Kritik der reinen Vernunft ein Kommentar dazu möglich wird: Im vorliegenden Fall wäre vielleicht die Kantsche Arbeit an der Abgrenzung der Begriffe vor dem Hintergrund der postmodernen Fixierung auf fließende Übergänge thematisiert. Auch Kant für die Hand folgt einer Visualisierungsstrategie, die nicht in jeder Beziehung auf sachliche und neutrale Darstellung setzt, wodurch neben der bloß dienenden Funktion ein Kommentar zum Dargestellten möglich wird.40 Der Kant-Würfel weckt durch seine Gestaltung Assoziationen wie »verschachtelt« oder »Schubladendenken«. Er kann wie eine Karikatur wirken, die Kants berüchtigten Schreibstil wie auch seine Hingabe an eine Philosophie nach dem »Schulbegriff«41 aufs Korn nimmt, und die gleichzeitig bestimmte Aspekte der Philosophie (bzw. einer bestimmten Auffassung von Philosophie, womit hier natürlich der verengte Erkenntnisbegriff der ikonoklastischen, rationalistischen Tradition gemeint wäre) überzeichnet. Besonders komisch mag wirken, dass diese »strenge« Auffassung von Philosophie, die sich gerne besonders exklusiv gibt, profaniert und als Bastelkram, als Kinderspielzeug dargestellt wird. Die Karikatur lässt sich allerdings auch als mahnende Erinnerung daran verstehen, dass Philosophie kein bloßes Begriffs- und Glasperlenspiel sein soll, sondern Erfahrungen auslösen und praktisch werden muss: Genau in diesem Sinne hat Kant – trotz seiner Hingabe an den »Schulbegriff« – die Philosophie verstanden, und die Karikatur des Kant-Würfels wäre also gleichzeitig eine Hommage. Entscheidend ist, dass im Wahrnehmen dieses ästhetischen Kommentars ein höherstufiges Erkennen wirksam wird, das Vorkenntnisse und Bildkompetenz erfordert – andernfalls würde die Karikatur als Abbild missverstanden. Erst ein bestimmtes Vorverständnis von Philosophie und von Kant, das im Erkennen der Karikatur bestätigt, kritisiert oder im Idealfall hinterfragt wird, ermöglicht die 40 In der analytischeren Terminologie von Dieter Mersch: zum »transitiven« tritt das »intransitive Zeigen«, vgl. Mersch 2006b, 415. 41 KrV B866.

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emotionale Reaktion der nicht-begrifflichen Erkenntnis. Demgegenüber bleibt unerheblich, ob der Kant-Würfel als Witz oder als Zumutung, als treffende oder vorbeizielende Karikatur wahrgenommen wird. Philosophisch relevant ist die nicht-begriffliche Erkenntnis nun nicht allein schon darum, weil in der Übersetzung eines klassischen Werks der Philosophie in einen überraschenden Kontext eine bestimmte »Weise der Welterzeugung« (Goodman) wirksam, sondern Welterzeugung im Allgemeinen durchsichtig wird. Diese gemeinhin der Kunst zugeschriebene Funktion42 ist deswegen philosophisch bedeutsam, weil so auf die medialen Bedingungen von Erkenntnis aufmerksam gemacht werden kann, ohne diese Bedingungen als reifizierte Objekte von Erkenntnis zu verkennen. Dieter Mersch hat darauf aufmerksam gemacht, dass der »konstitutionellen Unsichtbarkeit« von Medien angemessener durch eine an der Kunst ausgerichtete Optimierung von »Störung«, die »Fraktur oder Verfremdung« oder nicht zuletzt durch den Transfer von Medien (»die Übersetzung von einem Medium in andere«) zu begegnen wäre.43 Ludwig Jäger argumentiert ganz ähnlich: Medien können die zwei komplementären »Aggregatzustände« der Transparenz und der Störung annehmen, deren Wechsel durch eine »Remediatisierung« oder die »Erosion habitualisierter Bezugsrahmen« herbeigeführt werde.44 Insofern werden die ständig übersehenen medialen Bedingungen von Erkenntnis überhaupt erst in einer auffälligen medialen Verfremdung sichtbar – in einem »Normenwechsel«, wie Jäger in Bezug auf Goodman formuliert.45

V Während in der – ob phänomenologisch, kunsthistorisch oder semiotisch geprägten – Bildwissenschaft jüngst eine »handlungsorientierte Wende« stattgefunden hat46 und »Bildspiele« (Scholz), »Bildakte« (Bredekamp), »Bildhandeln« (Sachs-Hombach) bzw. die Interaktivität von Bildern (Wiesing) in den Vordergrund gerückt worden sind, beschäftigt sich die Diagrammatik schon wegen ihres Untersuchungsgebietes in besonderer Weise mit dem Gebrauch von Visualität. Praxiseingebundenheit und Operativität47 sind nämlich Gebrauchsmerkmale, durch die sich gerade Diagramme auszeichnen, die sozusagen immer schon in42 Vgl. Bauer/Ernst 2010, 88. 43 Vgl. Mersch 2004, 78–93. 44 Vgl. Jäger (2004), 61 ff. 45 Vgl. ebd. 46 Vgl. Beyer/Lohoff 2005 sowie Seja 2009, 9. 47 »Die besondere Stärke der genuinen Diagramme beruht […] auf dem, was man ihre pragmatische Potenz nennen könnte. Mehr als andere Diskursformen sind Diagramme darauf hin angelegt, Nachfolgehandlungen nach sich zu ziehen.« Vgl. Bogen/ Thürlemann 2003, 22.

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teraktive Bilder sind. Sie lassen sich mit gutem Recht als »nützliche Bilder« (Boehm) oder »Gebrauchsbilder« (Majetschak)48 charakterisieren und werden oft zu einem bestimmten Zweck eingesetzt, ob der Architekt den Grundriss eines Hauses damit erprobt oder vermittelt,49 ob eine Mindmap erstellt wird, um Gedanken für Inhalt und Strukturierung eines Textes sammelnd zu ordnen, ob ein Nomogramm eine bestimmte mentale Rechenoperation externalisiert50 oder ein geometrischer Beweis geführt wird.51 Philosophisch ist diese oft euphorisch hervorgehobene Eigenschaft nicht allein deshalb relevant, weil Diagramme Unsichtbares sichtbar machen und Wissen konstituierend generieren – das tun Texte (bzw. arbiträre Symbole) auf ihre Weise auch und Bilder sowieso. Aber Diagrammen haftet durch ihre Verwurzelung in der Praxis etwas Ephemeres und Kontingentes an, was sie als wenig geeignete Darstellungsform der überzeitlichen, wahrnehmungsunabhängigen Erkenntnis der rationalistischen, logozentristischen Tradition erscheinen lässt. Insofern sind sie weniger »›metaphysik‹- und ›reifizierungsanfällig‹«52 als beispielsweise wissenschaftliche Texte. Man vergleiche nur einmal die geringe Anzahl von Diagrammen, die als »klassisch« oder kanonisch gelten und somit metaphysikverdächtig wären (das Periodensystem und die Kantsche Kategorientafel mögen darunter fallen) mit der unvergleichlich höheren Anzahl »klassischer« oder kanonischer philosophischer Texte. Diagramme werden eben gewöhnlich als Dienstleister oder Vorstufen gebraucht und wahrgenommen, die zumeist Texten dienen oder Texte vorbereiten (– während Bildern, ebenfalls anders als Diagrammen, oft die Autonomie ästhetischer Kunstwerke zugesprochen wird). Es sei hier dahingestellt, ob die in ihrer Operativität wurzelnde Ephemerität von Diagrammen eher auf deren intrinsische Eigenschaften zurückzuführen ist oder auf ihren kulturell fundierten Gebrauch; jedenfalls soll hier plausibel werden, dass die Ephemerität von Diagrammen durch ihre Gestaltung hervorgehoben werden kann – ein Aspekt, dem gegenüber der auf diagrammatische Operativität fokussierte Blick blind ist.53 Im Falle von Kant für die Hand geschieht dies durch die Erweiterung der diagrammatischen Syntax zum Bausatz. Der Rezipient erlebt die Kritik der reinen Vernunft als körperliche Performance. Der Vorgang des Bastelns ist deutlich abhängig von kontingenten Umständen, der Zeit, dem Aufwand sowie individuellen Fähigkeiten und Eigenheiten (ohne ein zielloser, unkontrollierter Schaffensprozess zu sein). Dabei ist das Medium des Bastelbo48 Krämer 2009, 94 f. 49 Ein Lieblingsbeispiel von Bauer/Ernst, vgl. Bauer/Ernst 2010, 46. 50 Vgl. Krämer 2012, 89. 51 Das Lieblingsbeispiel des Vaters der Diagrammatik, Peirce, vgl. Stjernfelt 2007, xvi. 52 Totzke 2012, 425. 53 Krämers Konzept diagrammatischer Operativität fällt letztlich die »aisthetische Fülle der Inskription« zum Opfer. Vgl. Krämer 2012, 92.

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gens und seine Gestaltung von Belang: Es müssen Papierelemente in die Hand genommen, geknickt, sorgfältig zusammengeklebt werden. Anders als das Lesen eines Buches betont die sensomotorische Herausforderung des Bastelns die körperliche, durchaus uneinheitliche Grundlage von Erkenntnis und zeigt deutliche Spuren beim Ergebnis des Rezeptionsprozesses. Auch das anschließende Operieren mit dem Kant-Würfel verändert ihn relativ stark. Die Spannung des Papiers gibt mit mehrmaligem Betätigen der Klapp- und Schiebemechanismen nach und lässt im Verschleiß – anders als bei virtuellen Darstellungen und deutlicher als bei Büchern, die Jahrhunderte in Bibliotheken überdauern – Ephemerität erfahrbar werden.

VI Natürlich können auch Diagramme nicht ihre Erkenntnisfunktion kontrollieren und weder ihre Wahrnehmung noch die Wirkung ihrer unbegrifflichen Einsichten garantieren – auch in diesem Sinne optimierte Diagramme wie der Kant-Würfel sind dazu nicht in der Lage. Visualität ist immer der Möglichkeit ausgesetzt, bloß anschaulich-plakativ, bloß als populistisch oder belehrend wahrgenommen zu werden. Diese Gefahr besteht, und sie ist wahrscheinlich größer als bei philosophischen Texten. Bogen/Thürlemann sprechen davon, dass Diagramme »zu semiotischen Objekten mit quasi magischem Charakter« werden können, »in denen der Sinn […] in einer objektiven, überindividuellen Setzung evident zu werden scheint«.54 Bauer/Ernst diagnostizieren – in ihrer Begrifflichkeit – analog: »Dies scheint die Kehrseite der Diagrammatik zu sein: Eine von ihrer Kontingenz, das heißt von der Möglichkeit zur Rekonfiguration abgekoppelte Konfiguration.«55 Visualisierungsstrategien können diese Gefahr nicht ausschließen, aber sie können ihr eine angemessene Gestaltung entgegensetzen. Durch die Darstellungsform des Diagramms nutzt Kant für die Hand diese Gefahr produktiv: Der Bastler, der sich den Kant-Würfel zufrieden ins Regal stellt, um seine Beschäftigung mit Kant und der Philosophie damit vorerst abzuschließen, kann sich nun immerhin – in Kants Werk und in der Philosophie – besser orientieren oder überhaupt zum ersten Mal orientieren, was ja schon viel ist. Kant für die Hand ist aber nicht nur ein neutral gestaltetes Diagramm, sondern ein ungewöhnliches, neuartiges Diagramm; es ist nicht nur ein Lehrmittel und eine Art pädagogisches Tafelbild, sondern auch ein karikierendes Schaubild, nicht ein metaphysikanfälliges Bild der Welt, sondern ein ephemer optimiertes Bastelobjekt, das den Rezipienten fordert und ihm zusätzlich zu begrifflicher auch nicht-begriffliche Erkenntnis vermitteln kann. Dadurch erwächst die Chance, ein Potential zu entfalten, das wahrscheinlich größer ist als bei philosophischen Texten: Gut gestal54 55

Bogen/Thürlemann 2003, 22. Bauer/Ernst 2010, 335.

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Hanno Depner

tete Anschaulichkeit vermag, mit dem »Schatten der Sprache« zu spielen, im Zeitalter des Medienwandels eine neue Balance zwischen Begriff und Bild zu finden und der Philosophie damit einen zukunftsfähigen Pfad zu weisen. Dieser Pfad ist kein Königsweg und auch keine »Heeresstraße« (wie Kant seine kritische Philosophie nennt).56 Doch er endet weder notwendig im Abgrund des Populismus noch führt er notwendig an einem didaktischen Geländer entlang, gar in ein umzäuntes Gebiet pädagogisch vordefinierter Wissensinhalte; aber ihm folgend auf die Spur der Erkenntnis gebracht zu werden – das scheint gerade heute aus* sichtsreich.

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Auschwitz, Gedenkstätte und genozidaler Ort – einige unmaßgebliche kursorische Überlegungen zu ihrer philosophiedidaktischen Relevanz Andreas Kraus

Gedenkstätten für die Opfer des NS-Genozids und Terrors waren und sind in mehrfacher Hinsicht in einer ambivalenten Zuschreibungssituation: Häufig ungeliebt von der Bevölkerung des Ortes, mit dem ihr Name verbunden ist; über lange Jahre, vor allem im Land der Täter, ein kümmerliches Dasein führend gegen den Mainstream der verdrängenden politischen Kultur; geleugnet und relativiert von der revisionistischen Geschichtsschreibung; als Orte symbolischer und identitätsstiftender Politik manchmal instrumentalisiert und genutzt für die spezifischen Zwecke politischen Kalküls und die jeweilige politische Herrschaftslegitimation. Wer mit ihnen zu tun hat, verfällt bisweilen in eine merkwürdige, nicht zufällig an die Sprache verschworener Bruderschaften erinnernde, pseudoreligiöse Semantik: es geht häufig um »freiwillige Zeichen der Sühne«, um den »Dienst des Gedenkens« oder einen »Marsch der Lebenden« – kurz: sie werden dort zu Objekten und Projekten von Befindlichkeiten, die ihnen einen höheren, gewissermaßen metaphysischen Sinn zuschreiben, an dem sich die moralisch und politisch bessere Intention bewähren soll.

Also – etwas holzschnittartig zugespitzt – Indifferenz, Abwehr, Leugnung und Instrumentalisierung auf der einen Seite und emotional aufgeladene Kategorien wie Betroffenheit, Mahnung, Erinnerung, Zukunft u.v.a.m. auf der anderen Seite Kein Wunder, dass die Relevanz der Gedenkstätten auch zunehmend unter dem Gesichtspunkt diskutiert wird, was sie als Orte des Lernens zu bieten haben. Jedenfalls lässt sich neben einem Anwachsen der Literatur zu diesem Thema in den letzten beiden Jahrzehnten auch eine Zunahme der pädagogischen Mitarbeiterstellen in den Gedenkstätten konstatieren, d. h. es findet offensichtlich ein Paradigmenwechsel in den Gedenkstätten statt, der sicherlich mit dem zeitlichen Abstand zu den Verbrechen zu tun hat. Wenn die historische Nähe schwindet und damit das Gedenken mittelbar oder unmittelbar Beteiligter abnimmt, wird die pädagogische Vermittlung des Geschehens umso bedeutsamer. Ich bin mir nicht sicher, ob es gerechtfertigt ist, deshalb schon von einer Gedenkstättenpädagogik zu reden; immerhin suggeriert ein solcher Begriff, es gäbe eine entsprechende

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Teildisziplin der Pädagogik, und gleichzeitig ordnet er damit Gedenkstätten, d. h. Orte des ehemaligen Mordens, pädagogischen Interessen und Intentionen unter – er instrumentalisiert sie, wenn auch sicherlich in guter Absicht. Zweifelsohne jedoch sind Gedenkstätten besondere Orte des Lernens, und zwar auch solche, die nicht auf historischem Gelände oder in historischen Gebäuden existieren und keine Mordstätten waren, wie etwa Yad Vashem und Lohamei Haghetaot in Israel oder das Holocaust Memorial in Washington eindrucksvoll demonstrieren. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Frage, ob, was und wie man in Gedenkstätten lernen könne oder müsse, ebenfalls umstritten ist. Während einige kategorisch bestreiten, dass man aus Auschwitz oder in Auschwitz (ich verwende diesen Begriff – und folge darin Adorno – hier gleichzeitig als Synonym für diesen historischen Ort, für NS-Gedenkstätten überhaupt und als abstraktes Symbol für die Shoah; ich gehe hier auch nicht auf die Frage ein, wie es sich mit Gedenkstätten verhält, die an andere Genozide erinnern) etwas lernen könne, wird für andere der Besuch in einer Gedenkstätte zu einem deus ex machina, d. h. sie verbinden damit die Vorstellung einer quasi automatischen Immunisierung gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus. Die erste Vorstellung folgt dabei einer Geschichtsmetaphysik, die Auschwitz als das schlechthin Negative, als »Niemandsland des Verstehens« interpretiert und damit Lernen, weil es Verstehen impliziert, schon als Möglichkeit bestreitet. Dann bleibt beim Besuch einer Gedenkstätte, falls überhaupt, nur noch der Weg des emotionalen Ritus übrig, der auf eine kategoriale und kognitive Synthesis des Geschehenen verzichtet. Die zweite Vorstellung unterstellt einen Mechanismus wie den Nürnberger Trichter, in der lernende und denkende Menschen nur als Objekte bzw. passive Rezipienten vorkommen – die Staatsdoktrin des Antifaschismus in der ehemaligen DDR, mit dem Pflichtbesuchsprogramm in den Gedenkstätten war eine der flächendeckenden Varianten dieser Form von Pädagogik. Eine naive Betroffenheitspädagogik kann man dieser Variante sicherlich ebenfalls zurechnen Ähnlich wie bei vielen anderen pädagogischen Prozessen wissen wir allerdings relativ wenig über die Wirkung unseres Bemühens. Eine qualifizierte Evaluation über die Auswirkungen des Besuches von Gedenkstätten existiert nur in Ansätzen; die Einführung von Lernzielkontrollen zur Überprüfung von Lernergebnissen, wie wir sie in der Schule haben, wäre ein fast schon blasphemischer Gedanke (»Wie viele Menschen wurden in Auschwitz ermordet? Bitte ankreuzen«). Fraglich ist in diesem Zusammenhang ohnehin die Verwendung eines aus der schulischen Pädagogik stammenden Lernbegriffs, der meistens repetierbare und quasi emotional neutrale Kognitionen zum Gegenstand hat. Auch mit einem adäquaten Kompetenzbegriff verhält es sich ähnlich – was sollte man unter einem Kompetenzerwerb beim Besuch in Auschwitz oder Bergen-Belsen verstehen? Interessanterweise gibt es in der Philosophiedidaktik keine explizite und ernsthafte Auseinandersetzung mit der Shoah und den Orten, an denen sie geschah. Das Feld wird der Geschichtsdidaktik überlassen. Interessant ist dieser

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Befund aus mehreren Gründen. Zum einen prägte ein Philosoph – kein Historiker! –, nämlich Adorno, das programmatische Postulat einer als kategorischer Imperativ zu verstehenden »Erziehung nach Auschwitz«, der gegenüber jede andere philosophiedidaktische und pädagogische Intention absolut sekundär sei – so sehr nebensächlich angesichts des Geschehens, dass für Adorno eine Begründung dieser Forderung in den 60er Jahren völlig abwegig erschien. Nun könnte man sicherlich argumentieren, dass die Karawane der Geschichte mittlerweile weiter gezogen ist, dass die Brisanz der Shoah und die Traumatisierungen, die sie auch in den theoretischen Reflexionen – wie beispielhaft in den »Meditationen zur Metaphysik« in der »Negativen Dialektik« vom gleichen Autor nachzulesen ist –, hinterlassen hat, ihrerseits Historie werden und damit der Furie des Verschwindens sich unterordnen müssen; zumal sich neue Menschheitsbedrohungen (Internationaler Terrorismus, Verteilungskämpfe, Klimawandel, etc.) am Horizont abzeichnen, die unserer Aufmerksamkeit bedürfen. Das Argument ist sicherlich berechtigt, unterschlägt aber die paradigmatische Bedeutung der Shoah als historischem Kulminationspunkt, als Geschichtszeichen für Entmenschlichung schlechthin. Und es unterschlägt, dass die Konstitution des internationalen Systems nach 1945, zumindest versucht hat und immer noch versucht, als Konsequenz aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts, das Völkerrecht und die Menschenrechte quasi anti-genozidal in Stellung zu bringen und zu institutionalisieren. Ob das immer gelungen ist, ist eine andere Frage, aber große Teile unserer humanen zivilisatorischen Bemühungen sind nicht ohne diesen Impuls zu verstehen. Eine aktuelle Philosophie der Menschenrechte, die sich in diese Bemühungen einreiht, und eine Philosophiedidaktik, die deren Begründungspotential als Bezugspunkt ihrer Legitimation heranzieht, sind allenfalls rudimentär vorhanden. Zumindest wäre das ein interessantes Projekt für eine international und universal sich verstehende Philosophiedidaktik. Meine Absicht ist es an dieser Stelle nicht, hier ein derartiges Unterfangen argumentativ zu beginnen, sondern nur die Begründungsperspektiven zu erwähnen, die sich aus dem konstatierten Defizit ergeben können. Ein anderer Grund: NS-Gedenkstätten werden in der Regel der Kategorie »außerschulischer Lernort« subsumiert, zu der man aus schulischer Sicht »Exkursionen« plant. Das ist eine etwas harmlose Semantik, wenn man bedenkt, dass man sich mit Schülerinnen und Schülern zu einer Mordstätte und zu einem Ort sich begibt, an dem unvorstellbares Grauen herrschte. Auch zur Frage des Besuches von Gedenkstätten hat die Philosophiedidaktik bisher kaum oder keine konzeptionellen bzw. legitimierenden Überlegungen vorgelegt. Sie müssten sich sicherlich, wenn sie entfaltet würden, der Frage stellen, was ein »philosophischer Ort« ist, was das Besondere dieses Ortes ist, der es rechtfertigt, sich unter philosophiedidaktischen Gesichtspunkten mit ihm zu befassen. Wenn man bei aller Vorläufigkeit annimmt, dass ein philosophischer Ort ein solcher ist, der uns die Auseinandersetzung mit radikalen, kritischen und existentiellen Fragen aufnötigt, dann wird man sicherlich zugestehen müssen, dass die Gedenkstätte ein

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genuin philosophischer Ort ist, der genau das tut – wie vielleicht kein zweiter auf diesem Planeten. Ich möchte im Folgenden einige Thesen und dazugehörige Überlegungen formulieren, die für mich den Charakter einer philosophiedidaktischen Rechtfertigung des Besuches von NS-Gedenkstätten haben. Ich werde dabei nicht auf Forschungsergebnisse oder theoretische Konzepte zurückgreifen (können), sondern mich auf subjektive Erfahrungen vor allem mit der Gedenkstätte AuschwitzBirkenau stützen und notwendigerweise kursorisch bleiben. Gleichzeitig wird es mir aber auch um die Bedingungen der Möglichkeit des Lernens in Gedenkstätten überhaupt gehen. Dabei versuche ich einen Lernbegriff zu verwenden, der aufs Engste mit der Frage verknüpft ist, was es heißt, das Leben einer Person zu führen, der also auch Konsequenzen hinsichtlich unserer Existenz als moralisches Wesen hat. Und ich möchte vorweg schicken, dass die Systematik meiner Überlegungen aufsteigender Natur ist, d. h. die vorhergehenden Thesen und Überlegungen gehen jeweils in die später formulierten mit ein.

Die Kenntnis der realen und historischen Existenz des genozidalen Ortes ist mehr als ihre Unkenntnis – die Gedenkstätte als ontologisches Faktum Vor allen weiterführenden didaktischen Intentionen, geschichtstheoretischen Interpretationen und Zuschreibungsinteressen dürfte darin die Hauptmotivation der meisten Besucher von Gedenkstätten liegen: den Ort zu sehen, kennen zu lernen, zu besuchen, an dem sich das, was mit seinem Namen verknüpft ist, ereignete. Ganz banal fallen unter diese Kategorie natürlich sight-seeing-Touristen, die einen Abstecher machen, Autofahrer, die aus einem spontanen Impuls einem Hinweisschild folgen, Reisegruppen mit einem halben Tag Gedenkstätte im Programm, Schüler- und Jugendgruppen mit ihren Lehrern oder Betreuern, die in der Nähe sind oder aus der Nähe kommen oder etwa Reisegruppen aus SüdKorea, die z. B. Auschwitz im Rahmen einer Europa-Reise deshalb besuchen, weil es auf der UNESCO-Liste steht. Zweifelsohne stellen die Touristen die Mehrheit der Besucher. Nehmen Sie als Beispiel mich: Vor ein paar Jahren absolvierte ich mit einer Tutorgruppe des 13. Jahrgangs eines Gymnasiums eine Studienfahrt nach Prag. Mit mir waren zwei weitere Kollegen mit ihren Schülern unterwegs; das spart Kosten. Innerhalb des einwöchigen Programms haben wir eine Exkursion nach Theresienstadt vereinbart – nach dem Motto: wenn wir schon mal dort sind, dann sollten wir auch Theresienstadt sehen. Das war übrigens auch Konsens bei den Schülern. Sie wären vermutlich allein nicht auf diese Idee gekommen, aber es leuchtete ihnen unmittelbar ein, dass es eine gute und sinnvolle Gelegenheit sei, sozusagen dazugehöre. Wenige Einwände betrafen allenfalls den Charakter des Ortes, der einen traurig machen könne und damit Einfluss habe auf den restlichen

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Aufenthalt in Prag. Niemand hat sich auf diesen Besuch z. B. durch eine entsprechende Lektüre besonders vorbereitet. Ähnliches veranstaltete ein anderer Kollege von mir mit der Gedenkstätte in Auschwitz; ein Besuch gehört zum Programm während der Studienfahrt nach Krakau. Aus der Perspektive ambitionierter und diskursiv vorgehender Lernprozesse sind diese »normalen« Gedenkstättenbesuche, die sich weitgehend auf eine passive Rezeption beschränken, selbst wenn sie an eine Führung durch die Gedenkstätte gekoppelt sind, naturgemäß nicht sehr fruchtbar. Denn die Rezeption vermischt sich mit dem historischen Alltagsbewusstsein der Besucher und ist weitgehend einer reflektierten Auseinandersetzung mit dem Wahrgenommenen entzogen, d. h. welche Schlussfolgerungen die Besucher aus der Besichtigung ziehen, hängt an ihren je individuellen Voraussetzungen, Präkonzepten und Dispositionen. Ein Neonazi kann Auschwitz durchaus als empirische Bestätigung der Auschwitz-Lüge perzipieren; ein Vertriebener kann sich darin bestätigt fühlen, dass die Gedenkstätte nur der Ablenkung von seinem durch die Vertreibung zugefügten Leid diene; ein Pole kann Auschwitz als Affirmation der polnischen Opferrolle sehen und Birkenau als überbewertetes Symbol des Holocaust geringer schätzen; fast spiegelbildlich dazu können junge Israelis diese Gedenkstätte interpretieren. Für die normalen sight-seeing-Touristen wäre Auschwitz dann so etwas wie eine Gruselkammer der modernen Welt, ein Erlebnispark oder eine Sehenswürdigkeit wie Legoland, das Salzbergwerk in Wielitzka oder ähnliches. Wollte man es aus konstruktivistischer Sicht erkenntnistheoretisch formulieren, dann könnte man sagen, dass sich jeder die Gedenkstätte konstruiert, die er braucht. Eine der Leitsätze des Konstruktivismus ist ja, dass die Wahrnehmung und Interpretation der äußeren Realität wesentlich von der subjektiven Konstruktion abhängt, also davon, wie jeder einzelne die Realität wahrnehmen möchte. Aber trotz dieser konstruktivistischen Problematik, trotz der psychologischen Projektionsbedürfnisse unserer Gehirne und der je individuellen Dispositionen bei der passiven Rezeption bei »normalen« Gedenkstättenbesuchen existiert so etwas wie die ontologische Priorität des räumlich und zeitlich wahrnehmbaren Faktums. Das Objekt der Wahrnehmung führt auch ein Eigenleben, unabhängig vom wahrnehmenden Subjekt. Denn die Besucher fahren in der Regel eine Gedenkstätte, um etwas zu sehen oder kennen zu lernen, dass sie bisher so nicht kannten. Es existiert also die implizite Unterstellung eines vom Subjekt und seiner inneren kognitiven Welt Unterschiedenen, Neuen, und wir müssen bei den meisten Besuchern die intrinsische Motivation unterstellen, dieses Neue zu erfahren. Es findet also ein gewollter Kenntniszuwachs statt, und sei er noch so banal. Sätze wie: »Ich wusste ja gar nicht, dass im Stammlager in Auschwitz hauptsächlich Polen inhaftiert waren und ermordet wurden und dass es auch Birkenau gab, wo in erster Linie Juden, aber auch Sinti und Roma ermordet wurden. Bisher dachte ich, dass Auschwitz ein Lager war!«, fallen in diese Rubrik. Und insofern bietet die Ge-

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denkstätte die Möglichkeit, Sätze dieser Art nach dem Besuch formulieren zu können. Man muss schon ziemlich abgeschottet sein und seine eigene innere Welt verabsolutieren, um die wahrgenommene Faktizität räumlicher und zeitlicher Andersartigkeit und Neuheit bruchlos in das eigene, bisher dominierende Weltbild integrieren zu können. Natürlich hätte man die Informationen über die Gedenkstätte und das Lager auch nachlesen können; aber wir wissen, dass eine demonstratio ad oculos überzeugender und nachhaltiger ist als die unverbindliche Lektüre im stillen Kämmerlein. Der Besucher macht ähnliches wie das Gericht beim Lokaltermin. Er sucht den Ort eines Verbrechens auf, um die Lokalitäten in Augenschein zu nehmen. Er wird damit zum mittelbaren Zeugen der Zeit und des Ortes und kann später, nach dem Besuch, als Vermittler tätig werden, indem er Nachbarn oder Mitschülern erzählt, was er gesehen und gehört hat. Und in der Tat kann man hier die Statistik bemühen: Je mehr Menschen die Gedenkstätten besuchen, desto weniger wird sich Unkenntnis in der Gesellschaft verbreiten können. Wir müssen uns also grundsätzlich für die Existenz der Gedenkstätte, als Dokumentationsort des crime of crime – des genozidalen Verbrechens – einsetzen; und dazu gehört auch der ganz banale Besuch. Damit ist natürlich noch nichts über die Qualität des Besuches und der Kenntnis ausgesagt.

Die Dimensionen des Mordes werden präsenter; die Gedenkstätte liefert die ästhetische Anschauung zum abstrakten Begriff Sprache ist ein abstraktes Symbolsystem, das auf Konventionen beruht. Ein lautoder schriftsprachliches Symbol hat in der Regel nichts mit dem symbolisierten Sachverhalt gemein. Sprache ist, so Watzlawick, digital. Wir müssen erst lernen, welche Bedeutung den sprachlichen Symbolen, die wir benutzen oder die uns neu begegnen, zukommt. Lernen besteht im Wesentlichen aus diesem Vorgang. Ortsnamen wie »Sobibor« oder »Maidanek«, Begriffe wie »Shoah«, Daten wie der »27. Januar« tauchen zwar u. U. in der Schule und im Klassenraum auf, aber sie bleiben häufig abstrakt. Und selbst wenn sie erklärt werden, so sind die verwendeten Erklärungen doch wiederum sprachliche Symbole, Abstraktionen vom wirklichen Sachverhalt. »Begriffe ohne Anschauung«, sagt Kant in einer berühmten Sentenz in seiner ,Kritik der reinen Vernunft", »sind leer«, um dann fortzufahren: »Anschauung ohne Begriffe ist blind«. Die Gedenkstätte liefert die Anschauung zum abstrakten Begriff der »Shoah«, des Terrors, der Vernichtung, sie hilft ihn zu konkretisieren. Wir wissen, dass die überwiegende Mehrheit unserer Sinneswahrnehmung über den visuellen Kanal funktioniert. Und es macht in der Tat einen wesentlichen Unterschied aus, ob ich im Klassenraum höre und lese, dass Birkenau ein riesiges Lager war, oder ob ich auf dem ehemaligen Hauptwachturm stehe und meinen Blick über das Areal

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schweifen lasse. In der Regel wird der Betrachter überwältigt von den sinnlichen Eindrücken; er wird ohne weiteres zugestehen, dass er es sich so nicht habe vorstellen können. Nur sehr guter Literatur oder Verfilmung gelingt es, eine solche Nähe oder Dichte der Empfindung in meinem Vorstellungsvermögen zu generieren. In der philosophischen Tradition ist Ästhetik die Wissenschaft von den Sinneswahrnehmungen. Man kann daher mit einigem Recht sagen, dass die Gedenkstätte eine ästhetische Funktion hat, eine wichtige Rolle dabei spielt, dass die historischen Begriffe, die wir diesbezüglich bilden oder besitzen, nicht »leer« bleiben, sondern mit konkreten Sinneswahrnehmungen gefüllt werden. Das gilt aber nicht nur für Erkenntnisurteile, die wir hinsichtlich von Daten, Sachverhalten oder Ereignissen bilden, sondern es kommt noch die eigentümliche Qualität ästhetischer Urteile selbst hinzu. Zwischen den Sinnen und dem Verstand, also dem kognitiven Vermögen der Begriffsbildung, verortete Kant die Einbildungskraft. Sie ist es, die mich oben auf dem Wachturm über Birkenau die schwer kommunizierbaren Empfindungen spüren lässt. Mein logisches Erkenntnisurteil würde z. B. lauten: »Birkenau ist aber ein großes Areal!«, aber die ästhetischen Qualitäten dieses Anblicks gehen, weil sie mit Emotionen und Gefühlen verknüpft sind, darüber hinaus. Die sinnlichen Wahrnehmungen, in diesem Fall die visuellen von der Ausdehnung, erzeugen mit Hilfe der Einbildungskraft z. B. Gefühle der Überwältigung, der Leere. Gleichzeitig versuchen wir, uns die Züge oder die Menschen auf der Rampe vorzustellen, weil wir wissen, was sich hier abgespielt hat. Das bleibt aber notgedrungen unvollständig und unrealistisch, weil unser Bewusstsein natürlich weiß, dass dieser Ort heute in einer anderen historischen Realität existiert. Unsere Einbildungskraft nötigt uns dazu. Ein ganzer Kontext von Assoziationen, sozusagen ein freies Spiel von Eindrücken, Fragmenten und Begriffen, wird gestartet, abhängig von der subjektiven Befindlichkeit, der Qualität der Einbildungskraft des Betrachters und eben dieser räumlichen Präsenz, den visuellen Modalitäten, die mein Gehirn wahrnimmt. Es gibt mehrere Orte in der ästhetischen Topografie einer Gedenkstätte, an denen ein kluger Guide seine Gruppe den sinnlichen Eindrücken des Ortes überlässt. Und in der Regel ist dann jeder Betrachter mit sich und dem Ort allein. Es gibt Gedenkstätten, wie z. B. Treblinka, in denen wir es fast nur mit einer künstlich und künstlerisch gestalteten Topografie zu tun haben. Da sie dem freien Spiel der Einbildungskraft genügend Raum lässt, gelingt es ihr, Gefühle von Verlust, Leere und Trauer zu generieren, die in einem adäquaten Bezug zum Ort der Vernichtung stehen. Auch Claude Lanzmann machte sich in seinem Film »Shoah« die ästhetische Wirkung sinnlicher Submodalitäten und die Einbildungskraft zu Nutze. Der dramaturgische Trick von »Shoah« besteht darin, das Unvorstellbare vorstellbar zu machen, indem er es gerade nicht dokumentarisch abbildet, sondern indem er es ästhetisch transformiert. »Shoah« zwingt den Betrachter, seine Einbildungs-

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kraft einzusetzen, also selbst kognitiv und vorstellend aktiv zu werden. Ich erinnere nur an die Szene mit Abram Bomba, einem Überlebendem, der als Friseur in Treblinka tätig war und den Menschen, die zur Vergasung bestimmt waren, die Haare schneiden musste. Im Film schildert er seine Tätigkeit, während er einem Freund in Tel Aviv die Haare frisiert. Die auditiven Wahrnehmungen der Erzählung von Bomba und die visuellen der gesehenen Handlung versuchen wir beim Betrachten dieser Szene zusammenzubringen; wir erzeugen unwillkürlich eine Reihe von Assoziationen zu dieser Szene, versuchen uns vorzustellen, wie es wohl war, als Bomba tatsächlich den Frauen von Treblinka die Haare scheren musste. Oder die Szenen mit den mündlichen Berichten von Filip Müller, einem Überlebenden des Sonderkommandos, die aus dem Off kommen, während die Kamera uns durch die Szenerie der gesprengten Gaskammern und Krematorien von Birkenau führt. Schüler der Oberstufe haben mir mehrfach versichert, dass keine andere filmische Dokumentation, die sie im Geschichtsunterricht über den Holocaust gesehen hätten, sie so berührt hätte wie diese Szenen. Erstmals hätten sie das Gefühl gehabt, verstanden zu haben, was geschehen sei. Im Klassenraum kann dies allerdings nur sehr begrenzt geleistet werden, weil die sinnlichen Eindrücke medial begrenzter sind (durch den Film, die Erzählung, die Lyrik, etc.) und die Einbildungskraft weniger konkretes Material zur Verfügung hat, an dem sie die Vorstellungen und inneren Bilder entwickeln kann. Gleichzeitig hat die Gedenkstätte, die sich am historischen Ort befindet, noch den Vorteil der Authentizität. Im Klassenraum wird immer der didaktisch inszenierte Charakter der Vorstellungen präsent bleiben; in der Gedenkstätte ist der Ort selbst präsent. Interessanterweise sind es vor allen Dingen »unscheinbare Reste«, die nach meinen Erfahrungen Jugendliche fesseln, nicht die Plätze und Orte in den Gedenkstätten, die für öffentliche Gedenkriten genutzt werden und an denen man die Kränze niederlegt. Seien es in Bergen-Belsen die abseits gelegenen und nunmehr von Jugendgruppen freigelegten Überreste von Baracken oder in Birkenau die kleine Sammelstelle für die Löffel und Gabeln der Ermordeten. Unabhängig von den unterschiedlichen Vorinformationen und den alltagskulturell vermittelten Interpretationsschemata scheint mir hier, in dieser ästhetischen Präsenz der Gedenkstätte, ein Zugang zu liegen, der transkulturell und transnational die gleichen Gefühle, Eindrücke und Kognitionen bei Menschen freisetzen kann. Freilich hat diese ästhetische Qualität der Gedenkstätte einen Preis: Sie ist schwer kommunizierbar. Auf die während der Pause von Mitschülern zu Hause gestellte Frage: »Und, wie war es in Auschwitz?« gibt es keine zureichende Antwort. Die Gefühle und die inneren Bilder, die man als Besucher in der Gedenkstätte hat, kann man anderen, die nicht als Besucher dort waren, nicht mitteilen. Die Unangemessenheit der sprachlichen Artikulation ist jedem bewusst; heraus kämen allenfalls banale Aussagen.

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Die Anschauung, sagte Kant, bleibt ohne Begriffe allerdings blind. Es sollte also bei Gedenkstättenbesuchen auch um Begreifen, um Erkenntnisse gehen.

Das Wissen um das Handeln von »Menschen in Auschwitz« kann das eigene Handlungsrepertoire und die Urteilskompetenz erweitern Dass Täter wie Opfer auch ordinary people waren, ganz normale Menschen, ist eine der erschreckendsten und gleichzeitig erstaunlichsten Einsichten, die man von einer Gedenkstätte mitnehmen kann. Die Ausstellung im ehemaligen Sauna-Gebäude in Auschwitz-Birkenau vermittelt einen Eindruck vom Vorkriegs-Leben polnischer jüdischer Bürger, die in Auschwitz ermordet wurden. Wir sehen sie in ihrer normalen Alltagswelt, noch nicht gezeichnet vom Schrecken des Lagers wie die Häftlingsgesichter in der Galerie in der Ausstellung im Museum. Das macht sie uns mit-menschlich. Das normale und nicht exponierte Antlitz des Anderen bringt ihn uns nahe. Wir beginnen zu verstehen, dass es kein Verbrechen außerhalb von Raum und Zeit war, das hier stattgefunden hat, sondern dass ganz normalen Menschen, Familien, Kindern, Wehrlosen etwas angetan wurde, das unmittelbar unseren Abscheu und unser Erschrecken hervorruft. Selbst wenn wir wenig oder gar nichts über sie und ihr Leben wissen, so spüren wir doch ihnen gegenüber den moralischen Impuls, es ungeschehen machen zu wollen. Es ist keine rationale ethische Überlegung, die uns angesichts der Vorstellung, dass diese Menschen ermordet wurden, diese Tat nach angemessener moralischer Beurteilung verurteilen lässt; sondern unmittelbar, quasi auf der somatisch-emotionalen Ebene macht sich der moralische Impuls bemerkbar. Das ist meines Erachtens eine Basisvoraussetzung unseres Daseins als einer moralischen Person, ein unmittelbares spontanes Empfinden für Ungerechtigkeit, Leid und Trauer. Wir können es in Auschwitz spüren, und ich glaube, dass es innerhalb der Persönlichkeitsbildung eine wichtige Erfahrung ist, die man machen sollte – und nach meinem Eindruck ist diese Erfahrung vor allem für junge Menschen wichtig. Vertieft man sich in die Lebensbedingungen der Menschen, die als Häftlinge in Auschwitz waren, wird man mit einem ganzen Ensemble von Fragen konfrontiert, auf die es keine einfache Antwort gibt. Hermann Langbein, der selbst dort Häftling war, hat sie und die Verhaltensweisen der Täter in seinem Buch »Menschen in Auschwitz« untersucht. Es ist m. E. das Beste, was es dazu, neben der Literatur der Vernichtung, der Lager und der Ghettos z. B. von Levi, Wiesel, Amery, Borowski, Kertesz, Semprun, Hilsenrath und anderen, gibt – und es spricht vieles dafür, Auszüge dieses Buches mit Jugendlichen an diesem Ort, zu lesen. Sinnvoll erscheint mir, die Fragestellungen zu bearbeiten, in denen moralische Dilemmata deutlich werden oder in denen man etwas über die Funktionsweise

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der menschlichen Psyche erfahren kann. Dazu kann man sich geeignete Personen oder systematische Fragen vornehmen und in gemeinsamer oder arbeitsteiliger Lektüre bearbeiten. Dazu zählt etwa die Frage des Verhaltens der Ärzte in Auschwitz, die zwar den hippokratischen Eid geschworen haben, aber ihn in Auschwitz permanent brachen. Es stellt sich die analytische Frage, wie sie dies vermochten. Wie ist man als Mensch in der Lage, einem anderen »lebendfrisches Material« zu entnehmen, wie wir es im Tagebuch des Arztes Kremer nachlesen können? Oder eine Figur wie Dr. Wirths, ebenfalls Arzt in Auschwitz, bei dem der erwähnte Hermann Langbein als Häftlingsschreiber tätig war. Langbein schildert ihn uns als durchaus zugänglichen Menschen, der sich teilweise um die Verbesserung von Lebensbedingungen der Häftlinge gekümmert hat, aber gleichzeitig bei Selektionen und medizinischen Versuchen mitwirkte. Man kann hierbei etwas lernen über Vorgänge der Verdrängung, der Abspaltung von Unangenehmen aus dem gegenwärtigen Bewusstsein, von männerbündischen Gruppendynamiken, von situativen Zwängen, von der Wirkung von Aufstiegs- und Erfolgsaspirationen auf das eigene Verhalten u.v.a.m. »Normalungetüme« nannte Adorno die Täter – eine sehr treffende Charakterisierung, die das Erstaunen darüber, wozu einigermaßen normale Menschen unter bestimmten Bedingungen in der Lage sind, begrifflich zu fassen versucht. Auch die Bearbeitung der Frage des Widerstandes seitens der Häftlinge scheint mir im oben skizzierten Sinne ein geeigneter Lerngegenstand zu sein. Widerstand ist je gerade für Jugendliche, die sich in ihren Pubertätskonflikten befinden, ein mythologischer bzw. mystifizierter Begriff. Sie verbinden damit häufig heroische politische Akte. Im Lager ging es aber zuallererst darum, der Logik des Ermordet-Werdens den Impuls des Überlebens entgegenzusetzen. Widerstand bedeutete auch, Reste des zivilen Lebens zu bewahren, der Entsolidarisierung durch die Struktur der mörderischen Lebensverhältnisse mit der Teilung eines Stückes Brot entgegenzuwirken. Widerstand bedeutete auch, aus Klugheitserwägungen Menschen von Todeslisten zu streichen und dafür andere, chancenlose an deren Stelle zu setzen, damit die Anzahl der Selektierten wieder stimmte und die SS nichts merkte. »Widerstand« war im Lager kein nur heroischer Begriff; der »Preis des Lebens« bedeutete häufig genug, den Tod anderer Mithäftlinge billigend in Kauf zu nehmen. Das Handeln von Menschen in Auschwitz interpretierbar und verstehbar zu machen, sollte eine der wesentlichen Intentionen von Lernprozessen der geschilderten Art sein. Sinnvoll ist es, sich dabei die narrativ nachvollziehbare Struktur von exemplarischen Situationen oder Szenen zunutze zu machen. Situationen sind kleinere, überschaubare Handlungseinheiten, in denen Menschen handeln und uns etwas über die Intentionen und Motive ihres Handelns verraten, in denen ihre innere Welt deutlich wird. Sie sind didaktisch ausgesprochen fruchtbar, weil sie überschaubar und nachvollziehbar sind; und sie sind meistens konkret und anschaulich. Ich versetze mich in die geschilderte Situation hinein, versuche sie mir vorzustellen und mit Hilfe meiner eigenen inneren Welt die

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Beweggründe anderer Handelnder zu analysieren und im Hinblick auf Handlungsalternativen zu bewerten. Am Ort des Geschehens selbst kann mir die topographische Nähe, wie ich bei meiner vorherigen These schon erwähnte, das Verstehen erleichtern. Die Frage, wie ich selbst in der Situation gehandelt hätte, ob ich Täter, Opfer oder Zuschauer – um die Typologie von Hilberg zu verwenden – gewesen wäre, drängt sich mir auf und beunruhigt mich. Darin scheint mir eine der Kernfragen einer »Erziehung nach Auschwitz« zu liegen. Indirekt verwendet z. B. die Gedenkstätte »Haus der Wannseekonferenz« in ihrer Bildungsarbeit dieses Konzept, wenn sie mit berufsbezogenen Adressatengruppen arbeitet und diese mit dem Verhalten ihrer Berufskollegen während der »Shoah« konfrontiert. Wir wissen wenig darüber, welche Persönlichkeitseigenschaften vorhanden sein müssen, damit ein Mensch einem anderen hilft bzw. damit er ihn nicht quält oder verfolgt, wenn er dazu aufgefordert wird. Noch weniger wissen wir darüber, wie wir im Sozialisationsprozess, in den familiären Binnenstrukturen und in den gesellschaftlichen Einrichtungen, solche Eigenschaften erzeugen können. Aber wir wissen annähernd, was sich in den Lagern ereignete, mit welchen Begründungen und aus welchen Motiven heraus Subjekte hier handelten. D. h. aus der Auseinandersetzung mit diesen Begründungen und Motiven, mit der Organisation, Struktur und dem Kontext des Lagers und der Vernichtung können wir zumindest lernen, wie es war und was nicht sein soll. Im Ergebnis können die eigenen moralischen und sozialen Kognitionen, mit denen man die Welt verstehen und beurteilen will, differenzierter und komplexer sein, das Alltagsbewusstsein verliert Teile seiner Naivität. Lohnenswert kann es sein, den Aufenthalt in einer Gedenkstätte anhand der vier berühmten Fragen von Immanuel Kant: »Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?« auszuwerten. Die Form der Fragen, die das eigene Subjekt um Beantwortung bittet, nötigt, an diesem Ort gestellt, zu einer grundsätzlichen Reflexion. Antworten zur Wissensfrage könnten sein, dass Sachverhalte, Daten, Vorstellungen im Hinblick auf Organisation, Funktion und Geschichte des Lagers und einzelner Gruppen im Lager klarer geworden seien, wenngleich es prinzipiell kaum zu verstehen und vorstellbar sei, was hier passierte; zur ethischen Frage könnte vor allem die Verpflichtung auf universale Menschenrechte und deren Durchsetzung in den Vordergrund gestellt werden, die mich als Person zu Engagement verpflichtet; zur dritten Frage würde sicher die Hoffnung artikuliert, dass sich »Auschwitz« nicht wiederhole. Es ist aber auch damit zu rechnen, dass das allerdings, auch unter Bezug auf aktuelle Völkermorde und Menschenrechtsverletzungen, skeptisch zu sehen ist; evtl. kann auch das Theodizee-Problem in diesem Kontext aufgeworfen werden. Die letzte Frage nach der Anthropologie des Menschen würde wahrscheinlich ambivalent beantwortet; der Mensch als Wesen, das sowohl zu gutem Handeln in der Lage ist als auch dazu, als Mörder in Auschwitz zu fungieren.

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Wichtig für die Organisation von Lernprozessen in einer Gedenkstätte ist die Verlagerung von der Rezeptivität zur Aktivität der Lernenden. Sie selbst sollten sich den Ort und die Geschehnisse aneignen, sich damit auseinandersetzen und die Ergebnisse ihrer Tätigkeit präsentieren. Den Lehrern und Mitarbeitern der Gedenkstätte fällt dann die Rolle als Moderator oder Begleiter im Lernprozess zu; sie stellen die Rahmenbedingungen zur Verfügung und geben Hilfestellung. Aus der Lernpsychologie wissen wir, dass die eigene Aktivität einen höheren Grad der Auseinandersetzung und der Identifikation mit dem Lerngegenstand bewirkt. Das geht natürlich zu Lasten der historischen und begrifflichen Genauigkeit und verlangt im Vorfeld eine rigide didaktische Reduktion der Komplexität des riesigen Lerngegenstands Gedenkstätte, vor allem in Auschwitz, der größten Gedenkstätte. Aber die lernpsychologischen Vorteile überwiegen bei weitem. Der Sinn des Besuches in der Gedenkstätte wird vor allem dadurch einleuchtend, dass Topographie und Erkenntnis, Anschauung und Begriff zusammenkommen und als echter Lern- und Erkenntniszuwachs von den Jugendlichen realisiert werden können. Trotz des historischen und moralischen Erkenntniszuwachses, den an Lernprozessen orientierte Gedenkstättenbesuche bewirken können, bleibt in aller Regel doch das Gefühl zurück (und muss es auch!), dass es eine Hermeneutik des Versuchs ist, der unternommen wurde. »Auschwitz« ist zwar kein »Niemandsland des Verstehens«, hat aber zweifellos einen »Rätselcharakter«, um einen Begriff aus Adornos »Ästhetischer Theorie« zu bemühen. Ich schließe die Erörterung dieser These mit einem Zitat des dialektischen Altmeisters aus der »Minima Moralia«: »Was die Deutschen begangen haben, entzieht sich dem Verständnis, zumal dem psychologischen, wie denn in der Tat die Gräuel mehr als planvollblinde und entfremdete Schreckmaßnahmen verübt zu sein scheinen denn als spontane Befriedigungen. Nach den Berichten der Zeugen ward lustlos gefoltert, lustlos gemordet und darum vielleicht gerade so über alles Maß hinaus. Dennoch sieht das Bewusstsein, das dem Unsagbaren standhalten möchte, immer wieder auf den Versuch zu begreifen sich zurückgeworfen. (…)«

Als Orte der Diskrepanz fördern Gedenkstätten die Zunahme von Empathie und moralischer Sensibilität Unsere Alltagswelt ist eine Welt zivilisierter und habitueller Gewohnheiten. Wir gehen zur Arbeit, in die Schule, haben das normale Familien- und Lebenschaos. Innerhalb dieses Alltags-Settings entwickeln wir unsere moralischen Intuitionen, die weitgehend an dieser Umwelt orientiert sind, d. h. wir internalisieren in der Regel diejenigen Normen und Zwänge, in die wir eingebettet sind. Manchmal werden wir in unserer normalen Alltagswelt mit Situationen konfrontiert, die uns neu sind, die unsere moralischen oder emotionalen Intuitionen erschüttern, in Frage stellen. Schreckliche Unfälle, Unvorhergesehenes, Schick-

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salsschläge können uns aus der normalen Bahn des Alltags werfen, lassen uns unsere bisher geltende normative Selbstvergewisserung hinterfragen. Ein Hochleistungssportler, der plötzlich zum Krüppel wird; ein glückliches Pärchen, das sich auf das Baby freut und die Diagnose »Down Syndrom« vom Gynäkologen mitgeteilt bekommt; ein unbescholtener Facharbeiter mit Familie, der seinen Arbeitsplatz verliert – sie alle müssen ihre Alltagssituationen neu definieren, sich neu im Handeln orientieren. So schrecklich genug diese Schicksalsschläge auch für die einzelnen sind, in der Regel haben unsere Gesellschaften in ihrer normativen und sozialen Textur Institutionen und Verhaltensrichtlinien zur Verfügung, die es nach einer Phase der Unsicherheit gewährleisten, dass wir uns in der Welt wieder neu einrichten, die uns mit dem Schicksal versöhnen bzw. eine Lösung erlauben, die zivil und normal ist. Krankenhäuser, Arbeitsämter, Friedhöfe, Gefängnisse, Psychiatrien, Einrichtungen für Behinderte – wenn man nicht hin muss, wird man diese und andere Einrichtungen für menschliche Schicksale nur ungern besuchen. Aber sie gehören doch zu uns. In der Erinnerung der Überlebenden wird das Lager häufig als »anderer Planet« beschrieben, d. h. es handelte sich dort um eine soziologisch beschreibbare Einrichtung, die so sehr außerhalb des normalen menschlichen Vorstellungsvermögens situiert war, dass sie im ersten Moment nur als surreale science fiction wahrgenommen werden konnte. Der unsagbare Terror, die permanente Angst um das eigene Leben, die Panik beim Anblick einer Uniform, die unbeschreiblichen hygienischen Verhältnisse, die Fülle und Enge, der Geruch nach verbranntem Menschenfleisch, die physischen Überforderungen durch mangelnden Schlaf, mangelnde Ernährung, durch Krankheiten und Arbeit, das Fehlen von Rückzugsmöglichkeiten, von Privatem – es war ein psychischer und emotionaler Dauerstress, der selbst mit dem psychologischen Terminus der »Extremsituation« nur unzureichend beschrieben ist. Das Lager war ein Ort der Diskrepanz, so sehr abweichend vom normalen zivilen Alltag und den dort geltenden Verhaltensnormen, dass auch unser Vorstellungsvermögen heute nicht ausreicht, uns nur annähernd über Analogien ein Bild zu machen von den Zuständen, die im Lager herrschten. Dazu gesellen sich die Absurdität und die Banalität, die an den Verwaltungsdokumenten, mit denen die Lagerbürokratie Tod und Terror organisierten, ablesbar ist. Als Besucher der Gedenkstätte werden wir mit dieser unvorstellbaren Diskrepanz im Ansatz konfrontiert; sie ist überall spürbar. Wenn wir durch diesen Ort der vollendeten De-Humanisierung, der Entmenschlichung gehen, dann wissen wir intuitiv, dass wir eigentlich nicht hier sein dürften, dass es ein Sakrileg ist, wenn wir, als Lebende und wohlbehütete Alltagsmenschen die Reste der Baracken betreten, über die im Boden von Birkenau verstreute Asche der Ermordeten gehen. Oder die Stehzellen im Todesblock, die schwarze Wand im Hof – es ist nicht der Blick des neutralen, lediglich am Sachverhalt und der Faktizität von Terror und Vernichtung interessierten Betrachters, mit dem wir durch die

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Gedenkstätte streifen. Die Gedenkstätte konfrontiert uns mit dem Gegenmodell unseres zivilisierten Lebens, sie zwingt uns unmittelbar in eine ethische Parteinahme für die Entrechteten und Ermordeten; man muss nicht erst lange seine moralische Wahrnehmungskompetenz bemühen, um sich die Frage zu stellen, was an diesem Ort Unrechtes geschehen ist. Die im normalen ethischen und sozialen Alltagshandeln vermittelten zivilisatorischen und menschenrechtlichen Standards – »Mord, Folter, Hunger, Entprivatisierung etc. dürfen nicht sein!« – werden in der Regel bewusster realisiert, wenn man mit einem Arrangement konfrontiert ist, in dem sie nicht gelten oder galten. Für Auschwitz gilt das in einem absoluten, nicht nur relativen Sinne. Es gibt keinerlei Rechtfertigung für das hier Geschehene. Da diese normativen Standards in unseren Gesellschaften zumeist gelten, impliziert die Konfrontation mit der absoluten Diskrepanz eine Schärfung der sozialen und ethischen Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit. Moralische Sensibilität, moralische Intuitionen nehmen zu; empfundene Empathie für die Opfer wird übertragbar auf andere Kontexte. Wer in Birkenau war und erfahren hat, dass und wie die Sinti und Roma hier ermordet wurden, wird sensibilisiert für ihr Lebensschicksal und auch das von Asylbewerbern in unseren heutigen Gesellschaften; wer am Ort der »Shoah« war, wird sich fragen, ob der jüdische Friedhof in der eigenen Gemeinde in einem würdigen Zustand ist. Natürlich ist die Frage der Transferierung auf andere normative Kontexte immer ein Problem; es kann leicht zu unangemessenen Bezügen kommen. Ich erinnere nur daran – ohne das jetzt weiter erörtern zu wollen –, dass die Nato ihr Bombardement Serbiens unter Rückgriff auf den moralischen Bezugspunkt »Auschwitz« begründet hat. Ob man z. B. die gegenwärtige Debatte um die Gen- und Biotechnologie ohne weiteres auf das Handeln der NS-Ärzte in Auschwitz beziehen kann, ist sicherlich ebenfalls zu bezweifeln. Zweifelsohne muss man aber, gerade in Deutschland, vor dem Hintergrund der »Medizin ohne Menschlichkeit« und mit dem historischen Wissen, normative Eckpunkte artikulieren. Die historische Diskrepanz, die absolute Negativität von Auschwitz, dient sozusagen als deontologisches Warndreieck im Rahmen von slippery slope-Argumenten, die uns mahnt, in unserem gegenwärtigen Handeln nicht auf eine »rutschige Bahn« zu geraten. In Analogie zum Begriff der kognitiven Dissonanzen könnte man auch formulieren, dass die Gedenkstätte ethische Dissonanzen hervorruft. In der Regel wird das von den Jugendlichen auch so wahrgenommen, wobei die Frage der Transferierungen natürlich abhängig ist von den Kontexten, in denen sie leben und den kognitiven Fähigkeiten, die sie zur Verfügung haben. Für wichtig halte ich es, dass die Lehrer oder Guides »Auschwitz« nicht zu einem moralischemotionalen Zwangserlebnis machen. Dagegen sprechen nicht nur das Überwältigungsverbot, was wir z. B. in der Politikdidaktik kennen, sondern auch entwicklungspsychologische Gründe. Die Persönlichkeit von Jugendlichen ist noch

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fragil, die normativen Orientierungen sind noch in der Entwicklung, die Affektstruktur ist noch nicht stabil – all das spricht dafür, »Auschwitz« als ein Lernangebot zu offerieren, aus dem die normativen Konsequenzen autonom gezogen werden sollten und nicht nach der Vorgabe moralischer Betroffenheit oder Empörung.

Die »Berührung mit dem Tod« und die Solidarität der Sterblichen Psychiater, die sich nach dem Krieg mit den Traumata der überlebenden Opfer beschäftigten, haben eine eigene Kategorisierung des KZ-Syndroms versucht. William Nederland hat sehr treffend von einer »Berührung mit dem Tod« gesprochen, der sie im Lager ausgesetzt waren und die ihre Persönlichkeit entscheidend geprägt, traumatisiert hat. Eine Ahnung davon kann die Gedenkstätte heute noch vermitteln. Birkenau ist der größte »Friedhof« der Welt. Auch wir sind als Besucher vom Tod, der dort stattgefunden hat, berührt. Ähnliches, wenngleich stark abgemildert, ereignet sich, wenn wir einen Friedhof aufsuchen. Der fremde Tod der anderen berührt mich, den Lebenden. Ich werde mir meiner eigenen Vergänglichkeit und Hinfälligkeit bewusst, werde also mit Grundfragen meiner individuellen Existenz konfrontiert. Gerade für Jugendliche ist dies eine Begegnung mit Fragestellungen, die sie normalerweise nicht haben – und im ernsthaften Umgang damit können sie ein Stück weit reifen. Insofern ist die Gedenkstätte auch ein ritueller Ort, ein Ort des Eingedenkens des Todes, der »melete thanatu«. Viele Besucher kommen ja in die Gedenkstätten nicht deshalb, weil sie hier lernen oder verstehen wollen, sondern weil sie hier ihre toten Angehörigen wissen. Das unterscheidet natürlich die mittelbaren oder unmittelbaren Angehörigen von uns. Wir haben keinen persönlichen Verlust zu beklagen. Aber auch unser Besuch dient der Erinnerung, freilich einer abstrakten, nicht an konkrete Personen gebunden; wir legen auch Blumen nieder, gedenken der Toten, verhalten uns nicht wie in einem normalen Museum. Die ikonische Symbolik der Gedenkstätte ist die des Todes, nicht des Lebens. Und im Unterschied zum Friedhof ist die Symbolik nicht friedlich, denn der Tod, den die Ermordeten gestorben sind, war kein im weiteren Sinne natürliches Ende des Lebens. Die Erinnerung an die Toten kann sich nicht versöhnlich geben, ihr Tod lässt sich mit dem nachfolgenden Leben nicht vereinbaren; es bleibt uns allenfalls eine negative Erinnerung – uns Deutschen sowieso. Unsere Erinnerung ist gleichzeitig immer von Scham durchsetzt; das unterscheidet uns Deutsche und auch die deutschen Jugendlichen deutlich von den anderen, wenn wir diesen Ort besuchen. Die ausgestellten Dokumente des Verwaltungsmassenmordes sind alle in deutscher Sprache. Wir können sie lesen ….

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Insofern ist es kulturgeschichtlich eine Leistung, wenn nicht nur der eigenen zu beklagenden Opfer gedacht wird, sondern wenn man im Land der Täter selbst der Ermordeten gedenkt. Wie ich zu Beginn schon kurz erwähnte, mussten die Gedenkstätten häufig genug gegen die herrschende Meinung durchgesetzt werden. Negative Erinnerung heißt, sich an »die anderen« zu erinnern, an diejenigen die, soziologisch gesprochen, nicht zur eigenen Gruppe gehören, sondern zur Gruppe der Fremden. Im Hause des Henkers muss daher vom Strick gesprochen werden. Denn üblicherweise erinnern sich menschliche Gesellschaften nur ihrer eigenen Toten, und üblicherweise werden die Toten und die Tode verklärt oder mythologisiert. Die Kriegerdenkmale in den Ortschaften sind ein gutes Beispiel dafür – die gefallenen Soldaten werden, ob es ihnen recht ist oder nicht, zu Helden erklärt, die für das Vaterland gestorben sind. Ihr Tod wird mit einem Sinn versehen und damit wieder mit dem Leben der Gesellschaft versöhnt; wer das in Frage stellt, ist persona non grata. Negative Erinnerung bedeutet daher auch, den Ort und den Namen der Ermordung frei zu halten von symbolischen Besetzungen heute Lebender. Das ist dabei durchaus wörtlich zu nehmen. Der Streit um die Kreuze von Auschwitz bezog sich gerade auf diesen Aspekt, auf die Frage, wem die Toten gehören – dem polnischen Katholizismus oder dem Judentum. Sie gehören aber niemandem, nur sich selbst; ihr Tod ist mit keinem Sinn zu versehen, weder damals noch heute. Und sie taugen weder dazu, Objekte einer Religion noch einer Zivilreligion zu sein. Negative Erinnerung ist daher auch inklusive Erinnerung, d. h. keine Opfergruppe darf unterschlagen oder geringer geschätzt werden. Das bedeutet nicht, dass man sich nicht religiöser Riten bedienen kann, um der Ermordeten zu gedenken. Interessanterweise haben ja nur die Religionen über die Jahrtausende eine Symbolsprache entwickelt, die es erlaubt, den Schrecken des Todes zu bannen und kulturelle Rituale des Umgangs mit ihm zur Verfügung zu stellen. Die moderne und säkulare Welt hat in dieser Hinsicht wenig Überzeugendes anzubieten. Insofern konfrontiert uns die Gedenkstätte auch mit der Frage, wie wir als Individuum und als Kollektiv mit dem Tod umgehen. Sinnvoll ist es aus meiner Sicht, dieses zu thematisieren und innerhalb der Gruppe die Frage des angemessenen Umgangs mit diesem Tod an diesem Ort zu diskutieren. Das wird und kann kein zufriedenstellendes Ergebnis haben können, da es sich ja auch um eine höchst individuelle und emotional berührende Frage handelt, aber u. U. findet ja ein Reflektions- bzw. sogar Einigungsprozess statt, der zumindest die genannten Probleme in das Bewusstsein der Jugendlichen ruft. Die Rolle des Lehrers bzw. Begleiters sehe ich auch hierbei nicht darin, Vorgaben zu machen, sondern Prozesse des Nachdenkens zu initiieren. Das stellt hohe Anforderungen an ihn, da ihm angesichts des Todes seine traditionelle Lehrerrolle auch wenig weiterhilft und er hier als sterbliche Person gefordert ist. Die Gedenkstätte ist der Ort, der diese Prozesse des Nachdenkens ermöglichen kann. Dass nicht Einzelsubjekte als solche ermordet wurden, sondern ganze Ethnien und Menschengruppen, dass die Häftlinge mit einer Nummer versehen ihrer

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Individualität beraubt wurden und sie einen namenlosen Tod starben, der sie zudem als Vergaste und anschließend Verbrannte nur zu einem »Grab in den Lüften« (Celan) berechtigte, radikalisiert die Fragestellungen, ebenso wie der Tod der Kinder und Wehrlosen und der Vorgang der Selektion an der Rampe: Die Entscheidung über kurzes Weiterleben oder direkten Tod durch eine kleine Handbewegung des SS-Arztes. Unvorstellbar auch die Tätigkeit der Mitglieder der Sonderkommandos von Birkenau, meist von der SS speziell ausgewählte junge jüdische Männer, die die Leichen aus den Gaskammern holen mussten und in die Verbrennungsöfen schieben mussten, bevor sie nach wenigen Wochen selbst von der SS getötet wurden. Wer sich in die Interviews der wenigen Überlebenden dieser Häftlingsgruppe vertieft, der ahnt, wie schwer das Weiterleben gefallen ist und dass es deutlich grausamere Schicksale als das des Sisyphos gibt. Der Tod der Opfer konfrontiert uns heute Lebenden mit einer Reihe beunruhigender Fragen – mehr nicht, aber auch nicht weniger. Die intensive Auseinandersetzung mit diesen Fragen kann zu einem wichtigen Stück subjektiver Persönlichkeits- und Bewusstseinsbildung beitragen, wie sie andernorts kaum so intensiv und tiefgreifend möglich ist. Wie in einem Brennglas werden in Auschwitz viele dieser Kernfragen unserer menschlichen Existenz negativ gebündelt und auf uns zurückgestrahlt. Anknüpfungspunkte für eine Transferierung in philosophiedidaktische Kontexte gibt es genügend.

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