Angewandte Philosophie. Eine internationale Zeitschrift / Applied Philosophy. An International Journal: Heft/Volume 1,2016 [1 ed.] 9783737005791, 9783847105794

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Angewandte Philosophie. Eine internationale Zeitschrift / Applied Philosophy. An International Journal: Heft/Volume 1,2016 [1 ed.]
 9783737005791, 9783847105794

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Angewandte Philosophie. Eine internationale Zeitschrift/ Applied Philosophy. An International Journal Herausgegeben von/Edited by Jörg Hardy, Oliver R. Scholz

Editorial Assistant: Laila Filali Advisory Board: Ruben Apressyan, Kurt Bayertz, Dieter Birnbacher, Dagmar Borchers, Shan Chun, Wolfgang Detel, Stefan Gosepath, Thomas Gutmann, Christoph Horn, Ivan Mikirtumov, Michael Quante, George Rudebusch, Peter Schaber, Reinold Schmücker, Gerhard Schurz, Ludwig Siep, Katja Stoppenbrink, Roman Svetlov, Holm Tetens, Paul Woodruff

Call for papers. Applied Philosophy is a peer-reviewed journal. The journal is published annually. Deadline for papers is July 31. The languages of publication are English, German, and French. Please send articles and correspondence regarding editorial matters to either: Oliver R. Scholz: [email protected], or Jörg Hardy: [email protected]

Angewandte Philosophie. Eine internationale Zeitschrift/ Applied Philosophy. An International Journal Heft/Volume 1|2016 herausgegeben von/edited by Oliver R. Scholz

Aufklärung heute / Enlightenment today

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-8404 ISBN 978-3-7370-0579-1 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2017, V&R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Inhalt Themenschwerpunkt: Aufklärung heute / Enlightenment today Oliver R. Scholz Zur Einführung: Stichwort »Aufklärung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Werner Schneiders Vernunft und Versuchung. Über Aufklärung und ihre Alternativen . . . .

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Rainer Enskat Die Dialektik der Aufklärung. Ihre logische, kognitive und geschichtliche Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jörg Hardy Sokratische Aufklärung – Überlegungen zu Platons »Apologie des Sokrates« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Katja Stoppenbrink "crire pour agir – Zur Aktualität der französischen Aufklärung in der Figur des FranÅois-Marie Arouet, genannt Voltaire . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Oliver R. Scholz Wie voraussetzungsreich ist Kants Aufklärungsprogramm? . . . . . . . . . . . 103 Andreas Vieth Die Armut der Aufklärung über die Moral der Weltarmut. Eine metaphilosophische Betrachtung über angewandte Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Matthias Hoesch Was kann philosophische Aufklärung mit Blick auf die Flüchtlingskrise leisten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

Themenschwerpunkt: Aufklärung heute / Enlightenment today

Zur Einführung: Stichwort »Aufklärung« Oliver R. Scholz

1. »Aufklärung«: Programm, Bewegung, Epoche Was war und was ist Aufklärung? Was macht allenfalls ihren Kern aus? Welche Folgen hatte und hat sie? Und dann: Wie ist sie insgesamt zu bewerten? Ist sie gescheitert? War sie vielleicht von Anfang an verfehlt, oder ist sie es wert, heute und morgen fortgesetzt zu werden? Bevor man daran geht, Antworten auf diese Fragen zu geben, muss man sich klar machen, dass der Begriff »Aufklärung« systematisch mehrdeutig ist. Dies ist nichts Ungewöhnliches und auch nicht weiter schlimm. Man tut jedoch gut daran, die im Folgenden erläuterten Unterscheidungen bei der Rekonstruktion und Bewertung zu berücksichtigen. Primär bedeutet »Aufklärung« (1.) ein Programm, ein Bündel von Ideen und Idealen, Zielsetzungen, Forderungen und Maximen. Ohne die mannigfachen Unterschiede herunterzuspielen, kann man den Kern des Programms idealtypisch folgendermaßen fassen: Der Mensch soll sich mittels des richtigen Gebrauchs seiner eigenen Seelenvermögen, insbesondere seines Verstandes und seiner Urteilskraft, selbst befreien und kognitiv, vor allem aber moralisch (»sittlich«) vervollkommnen. Von dieser Reform der Denkungsart versprach man sich eine Besserung der Verhältnisse in allen Lebensbereichen – von den Wissenschaften und Künsten über Erziehung, Religion und Moral bis hin zu Recht und Politik. Als Voraussetzungen für die Verwirklichung dieses Programms wurden zwei besonders hervorgehoben: (i) die allgemeine Menschenvernunft als Naturanlage und (ii) die Gewährung von Grundfreiheiten (wie Denk-, Rede- und Publikationsfreiheit) als äußere Bedingung. Bezüglich des Aufklärungsprogramms stellen sich Fragen, die am besten mit philosophischen Mitteln zu untersuchen sind: Welche Ideen, Ziele und Maximen gehören zum Programm der Aufklärung? Welche sind besonders zentral? Wie lässt sich das Programm rechtfertigen? Lässt es sich überhaupt verwirklichen? Welche positiven oder negativen Folgen sind von der Realisierung des Programms zu erwarten? Obwohl Programme aller Art in unserem Leben eine eminente Rolle spielen, ist der Begriff des »Programms« noch kaum untersucht worden. Ich beschränke

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mich in diesem Zusammenhang auf Hinweise, die für die folgenden Beiträge von Belang sind. Programme brauchen nicht explizit formuliert und kodifiziert zu werden; die sie konstituierenden Ideen und Regeln können lange Zeit implizite Geltung besitzen. Typischerweise wird das jeweilige Programm jedoch früher oder später in Manifesten, Programmschriften und Rückblicken explizit gemacht. Auch die Bezeichnung des Programms wird oft erst relativ spät geprägt – im Falle der Aufklärung erst im 17. und 18. Jahrhundert (Stuke 1972; Schneiders 1997). Programme können zu verschiedenen Zeiten und sie können mehr oder weniger gut und vollständig realisiert werden. Typischerweise bleibt die Verwirklichung bei den ersten Anläufen hinter dem Programm zurück. Auch das Programm der Aufklärung ist sicher bei weitem noch nicht in allen Bereichen mit dem höchsten Vollkommenheitsgrad verwirklicht worden. Bei Programmen ist es oft sinnvoll und klärend, zwischen Kern und Beiwerk zu unterscheiden; zumindest gibt es typischerweise graduelle Abstufungen zwischen zentraleren und periphereren Elementen. Auch bei der Rekonstruktion, Beurteilung und Bewertung des Programms der Aufklärung kommt es darauf an, zwischen Kern und Beiwerk zu unterscheiden. Programme wandeln sich historisch. Insbesondere können sich die Vorstellungen davon ändern, wie der Kern eines Programms am besten zu realisieren ist. Auf der einen Seite kann sich beispielsweise zeigen, dass bestimmte Programmpunkte zu ambitioniert waren, so dass man sie vernünftigerweise abschwächen oder ganz aufgeben muss. Auf der anderen Seite können Mittel entwickelt oder verbessert werden, um ein Programm überhaupt erst einmal zu realisieren. Dies – Aufklärung als Programm – ist also der Sache nach der primäre Sinn. Abgeleitet können dann auch (2.) soziale und politische Bewegungen, die sich bemühen, dieses Programm zu verwirklichen, und (3.) eine Epoche, die durch es maßgeblich geprägt ist, »Aufklärung« heißen. Auch wenn wir es, wie heute gerne betont wird, nicht mit einem einheitlichen Programm, sondern eher mit einer Familie verschiedener, wenngleich verwandter Aufklärungsprogramme zu tun haben, ist die kategoriale Differenz zwischen Programm, Bewegung und Epoche zu beachten. Der Hinweis auf die systematische Mehrdeutigkeit des Aufklärungsbegriffs und die sachliche Priorität des Programms ist also keineswegs eine müßige Haarspalterei; er zielt auf Unterschiede von allergrößter Bedeutung – nicht zuletzt, wenn es um die Beurteilung der Aufklärung geht. Es macht einen fundamentalen Unterschied, ob das Programm, die Bewegung oder die Epoche kritisch beurteilt und positiv oder negativ bewertet werden soll.

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Zur Einführung: Stichwort »Aufklärung«

2. Die Aufklärung: Das Programm Trotz vielfältiger regionaler und nationaler Unterschiede lässt sich meines Erachtens ein nicht-trivialer Kern der Aufklärungsprogramme identifizieren. Nach Ernst Cassirers immer noch lesenswerter Darstellung Die Philosophie der Aufklärung wird die Aufklärung »von wenigen großen Haupt- und Grundgedanken beherrscht« (Cassirer 1932, S. XII). Norbert Hinske hat eine für die Orientierung nützliche und inzwischen in der Forschung bewährte Typologie entwickelt, der zufolge man in dem Programm der Aufklärung näherhin unterscheiden kann: (1) Basisideen, (2) »positive« Programmideen, (3) »negative« Kampfideen sowie – aus jedem dieser drei Typen von Hauptideen – abgeleitete Ideen (Hinske 1985, Sp. 392; 1990, S. 412). Diese Ideen sind durchgängig philosophischen Ursprungs (Hinske 1990, S. 410; Schneiders 1997, S. 12–15; Kreimendahl 2000, S. 16–22). Viele verbinden mit der Aufklärung an erster Stelle die Kampfideen, also das, wogegen sie gekämpft hat: Den Kampf angesagt hat sie den dunklen und verworrenen Vorstellungen, den Vorurteilen, dem Aberglauben, der Schwärmerei und dem Fanatismus. Seit der Idolenlehre von Francis Bacon (1561–1626) und dem methodischen Zweifel von Ren' Descartes (1596–1650) stand die Befreiung von Vorurteilen und Voreingenommenheiten aller Art auf der philosophischen Agenda. Bereits die Frühaufklärer Pierre Bayle (1647–1706) und Bernard le Bovier de Fontenelle (1657–1757) hatten in ihren Werken eine umfangreiche »Enzyklopädie der Irrtümer und Schwächen« des menschlichen Geistes zusammengetragen (Schalk 1977, S. 85). In den Logiklehrbüchern, zunehmend auch in selbständigen Abhandlungen wurden differenzierte Vorurteilstheorien entwickelt, die das Wesen, die Hauptarten und die Ursachen von Vorurteilen behandelten (Schneiders 1983; Reisinger/Scholz 2001). Vor allem John Locke (1632– 1704) und Immanuel Kant (1724–1804) arbeiteten genauer heraus, dass Vorurteile nicht in erster Linie irrige Einzelurteile, sondern schwer abzulegende irrationale Urteilsmaximen sind. In der kritiklosen Übernahme von voreingenommenen und abergläubischen Meinungen zeigt sich ein schädlicher Hang zur Heteronomie der Vernunft, den jede einzelne Person gegen äußere und innere Widerstände überwinden muss (Reisinger/Scholz 2001). Um Aberglauben und Schwärmerei zu vermeiden, galt es zunächst, die Reichweite und die Grenzen der menschlichen Erkenntnisvermögen zu bestimmen, was Locke in seinem Essay concerning Human Understanding begonnen und Kant in seiner kritischen Philosophie mit verbesserten Mitteln fortgeführt und vertieft hat. Positiv tritt die Aufklärung für eine kritische Eklektik, für Selbstdenken und Mündigkeit, allgemein: für Selbstbestimmung im Denken und Handeln, ein. Die Idee der Eklektik war seinerzeit mit einem eindeutig positiven Wertakzent versehen: Gemäß dem Motto »Prüft aber alles; und das Gute behaltet!« (1. Thess. 5, 21) sollte die Vielfalt der Meinungen kritisch geprüft und mit Hilfe eines selbständigen, nur der Wahrheitssuche verpflichteten Urteils die besten davon ausgewählt werden (Hinske 1985, Sp. 393 f.; ders. 1990, S. 417 ff.; Albrecht 1994). Ein

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Synkretismus, der wahllos Heterogenes zusammenstellt, wurde ebenso abgelehnt wie ein philosophisches Sektierertum, bei dem die Aussprüche des Schulhauptes unkritisch nachgebetet werden. John Locke formulierte in seinem Essay die Forderung, »that […] we […] made use rather of our own Thoughts«, mit anderen Worten: »employ our own Reason« (Locke I, iv, 23; 1975, S. 101). Nach Denis Diderot (1713–1784) ist der Eklektiker ein Philosoph, der – indem er sich von Vorurteilen, Traditionen und Autoritäten frei macht – es wagt, selbst zu denken [»ose penser de lui-mÞme«] (Diderot 1976, S. 111). Und Voltaire ruft die Leser in seinem Dictionnaire philosophique) auf: »[…] osez penser par vous-mÞme.« (Voltaire 1954, S. 280) Nach Immanuel Kant (1724–1804) ist Aufklärung geradezu »die Maxime, jederzeit selbst zu denken«, wobei Selbstdenken bedeutet: »den Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d.i. in seiner eigenen Vernunft) suchen.« (AAVIII, S. 146) Da Unmündigkeit »das Unvermögen« ist, »sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen«, kann Aufklärung folgerichtig auch als »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« charakterisiert werden (AA VIII, S. 35). Zur Selbstaufklärung braucht es nicht nur den Verstand als Vermögen, sondern auch die Kraft des Willens zum richtigen, konsequenten und standhaften Gebrauch dieses Vermögens. »Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!« (AA VIII, S. 35) wird damit zum Wahlspruch der Aufklärung. Zu den Basisideen der Aufklärung gehören die Idee einer Bestimmung des Menschen (vgl. Spalding [1748] 2006; dazu Brandt 2007, Macor 2013) und die Annahme einer allgemeinen Menschenvernunft, worin – in Kants schönen Worten – »ein jeder seine Stimme hat« (Kritik der reinen Vernunft, A 752/B 780). Das anthropologische Selbstverständnis der Aufklärung geht von der wesentlichen Gleichheit der menschlichen Natur und ihrer Bestimmung aus: Jeder Mensch ist mit den gleichen Seelenvermögen ausgestattet, insbesondere mit einer Vernunft, die er dazu gebrauchen soll, zu verstehen, was man sein muss, um ein Mensch zu sein, und sich dadurch des Menschseins würdig zu machen (Kant, AA XX, S. 41). Unter den abgeleiteten Ideen sind die Ideen der Unparteilichkeit, der Liberalität bzw. Toleranz, des Kosmopolitismus (Weltbürgertums), der Öffentlichkeit und der Druck- und Pressefreiheit hervorzuheben (Hinske 1986; Scholz 2006). Hauptmedium der Aufklärung ist der öffentliche Diskurs. Alles, selbst Religion und Gesetzgebung, muß sich im »Zeitalter der Kritik« der freien und öffentlichen Prüfung unterwerfen (Kritik der reinen Vernunft, A XI).

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Zur Einführung: Stichwort »Aufklärung«

3. Die Aufklärung: Bewegungen, Zentren und Konstellationen Geistige, soziale und politische Bewegungen sind konkrete Vorgänge in Raum und Zeit. Sie fangen irgendwann irgendwo an und können sich in der Folge mehr und mehr ausbreiten; sie können ins Stocken geraten und an ein Ende gelangen, aber auch fortdauern. Sie können durch Gegenbewegungen gestört, gebremst und schlimmstenfalls zerstört werden. Die neuzeitliche Bewegung der Aufklärung erfasste große Teile Europas und strahlte auf Nord- und Lateinamerika aus. Als Kernländer wurden traditionell England, Frankreich und Deutschland genannt. Dies ist in mehrfacher Hinsicht zu korrigieren und zu ergänzen. Statt von »England« sollte man von »Großbritannien« sprechen, da es eine bedeutende schottische Aufklärung gab. Und zumindest die Niederlande sollte man zu den Kernländern hinzuzählen. Heute wird die Ausstrahlung der Aufklärung auf das gesamte Europa und darüber hinaus erforscht (vgl. Schneiders (Hrsg.) 1995; Delon (Hrsg.) 1997; Schneiders (Hrsg.) 2003; Thoma (Hrsg.) 2015). Die Bewegung wurde beflügelt durch die großen Erfindungen der Neuzeit (Buchdruck, Seekompass, Fernrohr, Mikroskop, Thermometer, Blitzableiter, Schiffsuhr etc.), die fortschreitend verbessert wurden, und durch die wissenschaftliche Revolution des 16. und 17. Jahrhunderts (Kopernikus, Galilei, Kepler u. a.), die in der großen Synthese Isaac Newtons (1643–1727) gipfelte. Die modernen Wissenschaften dringen immer weiter in den Mikrokosmos und den Makrokosmos und ihre Gesetze vor. Entdeckungsreisen erweiterten die Kenntnis der Erde und der auf ihr lebenden Menschen, Tiere und Pflanzen in nie gekanntem Maße. Die berühmten Weltumsegelungen von James Cook (1728–1779) sind dafür ein eindrucksvolles Beispiel: »In einem gleichen Zeitraum hat niemand je die Grenzen unseres Wissens in gleichem Maße erweitert«, konstatierte Georg Forster (Forster 2008, S. 25). Besonders prägend waren die Erfahrungen der konfessionellen Spaltung und der religiösen Intoleranz, die sich immer wieder in Kriegen und Verfolgung manifestierte. Viele suchten in dieser Situation einen neutralen Bezugspunkt jenseits der religiösen Differenzen. Dafür boten sich zum einen die theologiefreien, weltanschaulich neutralen Naturwissenschaften an; auf der anderen Seite suchte man nach einer überkonfessionellen Vernunftreligion, als deren Kern man ein bestimmtes Verständnis von Moral und Tugend ansah. Parallel dazu entstanden quantitativ und qualitativ neue Formen von Öffentlichkeit: Der Buchmarkt expandierte enorm; zahllose Tages- und Wochenzeitungen, moralische Wochenschriften, gelehrte Zeitschriften, Lesegesellschaften, Salons und Clubs, Schulen, Universitäten, Akademien und gelehrte Sozietäten wurden gegründet, Bibliotheken, Museen und Botanische Gärten für breitere Kreise geöffnet. Daneben blühten Geheimgesellschaften und clandestine Zirkel. Vielerorts entwickelte sich die Aufklärung von einer philosophisch-literarischen Strömung zu einer sozialen Reformbewegung oder – wie in Nordamerika

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und Frankreich – zu Unabhängigkeitsbewegungen und politischen Revolutionen. In Recht und Verwaltung, im Schul- und Unterrichtswesen sowie in allen anderen Lebensbereichen wurden bedeutende Reformen durchgesetzt: Sie reichen von der Kodifizierung der Grundrechte und der Verfassung über die Abschaffung des Hexereidelikts, der Folter und der Leibeigenschaft bis zu ungezählten Reformen im Kleinen. Die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung mit der Declaration of Independence (1776), der Bill of Rights of Virginia (1776) und der amerikanischen Verfassung (1787) und die Französische Revolution mit ihrer D&claration des Droits de l!Homme et du Citoyen (1789) sind konkrete politische Folgen der europäischen Aufklärung.

4. Die Aufklärung: Die Epoche Mit »Aufklärung« im Sinne einer Epoche bezieht man sich zumeist auf das 18. Jahrhundert. Diese Angabe ist freilich allzu grob und ungenau. Dies hat mehrere Gründe. Zum einen gibt es bei geistesgeschichtlichen Epochen keine scharfe Grenze zwischen Vorgeschichte und Geschichte. Soll man die Vorurteilskritik von Francis Bacon und Ren' Descartes bereits zur Aufklärung rechnen? Beginnt die Aufklärung in Frankreich mit Bayle und Fontenelle oder erst mit Voltaire und Diderot? Sind Gottfried Wilhelm Leibniz und Samuel Pufendorf Vorbereiter der Aufklärung in Deutschland oder sind sie selbst bereits frühe Aufklärer? Solche und ähnliche Fragen sind aufgrund der unvermeidlichen Vagheit von Epochenbegriffen nicht eindeutig zu beantworten. Zum anderen sind erneut die regionalen und nationalen Unterschiede zu beachten. In Großbritannien, Frankreich und den Niederlanden ist die Aufklärung bereits um die Mitte des 17. Jahrhunderts sichtbar; in Deutschland kann man den Beginn der Frühaufklärung in den 1680er Jahren ansetzen. In anderen Ländern kann sie erst später Fuß fassen; und in vielen Weltgegenden wird sie bekanntlich bis heute unterdrückt, bekämpft und verfolgt. Den Beginn der Aufklärung kann man an bestimmten Schlüsselereignissen in den jeweiligen Ländern festzumachen versuchen. In Großbritannien schuf die »Glorious Revolution« von 1688/89 förderliche politische Voraussetzungen: Das Parlament – und nicht mehr der König – ist nun der Souverän des Staates. Im Bereich der Wissenschaften und der Philosophie sind drei Ereignisse hervorzuheben: die Gründung der Royal Society of London for Improving Natural Knowledge (1660), Isaac Newtons Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (1687) und die einflussreichen Hauptwerke von John Locke: sein Essay concerning Human Understanding (1689) und A Letter concerning Toleration (1689), die Two Treatises of Government (1690), gefolgt von Some Thoughts concerning Education (1693). Lockes nüchterne Staats- und Erziehungslehre fand breite

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Zustimmung und prägte, ergänzt um die politische Ökonomie von Adam Smith (1723–1790), den angloamerikanischen Liberalismus. In Frankreich standen im Gegenteil religiöse und politische Katastrophen am Beginn der Aufklärungsbewegung, allen voran die Widerrufung des Edikts von Nantes im Jahre 1685, das den calvinistischen Protestanten (Hugenotten) seit 1598 Religionsfreiheit gewährt hatte. Frankreich präsentierte sich nun wieder als repressiver und religiös intoleranter absolutistischer Staat mit einem selbstherrlichen König an der Spitze. So erklärt sich der oppositionelle, in vielen politischen, sozialen und religiösen Fragen radikal kritische Charakter der französischen Aufklärung. Träger dieser Bewegung sind die »philosophes«, ein neuer sozialer Typus des umtriebigen Literaten und vielseitigen Intellektuellen. Viele von ihnen lernten die französischen Gefängnisse von innen kennen. Voltaire und Diderot können als Prototypen gelten. Das Zentrum der französischen Aufklärung ist Paris. Das sichtbarste Manifest des neuen Geistes, Skandal und Bestseller zugleich, ist die große Encyclop&die, die zwischen 1751 und 1766 in siebzehn Textbänden erschien und bis zum Jahre 1772 von zehn Bänden mit Bildtafeln gefolgt wurde. Da es im Zeitalter der Aufklärung keinen einheitlichen Staat namens »Deutschland« gab, konnte es kein großes politisches Ereignis sein, das die neue Zeit einläutete. Hier war es eine auf den ersten Blick wenig spektakuläre, zunächst nur inneruniversitäre Begebenheit, die sich im Nachhinein als Anfang eines geistig-kulturellen Wandlungsprozesses erwies: Christian Thomasius (1655– 1728) kündigte 1687 Vorlesungen in deutscher Sprache an, um die deutsche Sprache als Unterrichts- und Wissenschaftssprache (neben dem Lateinischen) einzuführen. Mit dieser und anderen Initiativen und Reformversuchen lebte er die »libertas philosophandi« publikums- und breitenwirksam vor (Zenker 2012, S. 160 ff.). Christian Wolff (1679–1754) und Johann Christoph Gottsched (1700– 1766) folgten ihm in den nächsten Generationen darin. Träger der deutschen Aufklärung waren zunächst Universitätsprofessoren und reformgesinnte protestantische Geistliche, unter Friedrich II. dann auch hohe Beamte des preußischen Staates. Allerdings hat die neuere Forschung gezeigt, dass es hierzulande auch zahlreiche Radikalaufklärer gab, die jedoch weitgehend im Untergrund wirkten. Besonders kennzeichnend für die deutsche Geistesgeschichte ist, dass es in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts zu einer weitläufigen und intensiven Reflexion und öffentlichen Debatte über Wesen und Definition, Ziele und Erfolge, Gefahren und Grenzen der Aufklärung kam (Schneiders 1974; Ciafardone 1983, dt. 1990, Teil V). Die berühmten Stellungnahmen von Moses Mendelssohn und Immanuel Kant, die im Jahre 1784 in der Berlinischen Monatsschrift erschienen, sind nur die bekanntesten Zeugnisse dieser Debatte (vgl. die Auswahlausgaben Hinske (Hrsg.) 1973, 41990; Weber (Hrsg.) 1986).

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5. Kritik und Verteidigung der Aufklärung Die Aufklärung hat als Programm, Bewegung und Epoche unterschiedliche Bewertungen und Reaktionen erfahren. Legitim ist die oft erhobene Forderung, die Aufklärung solle sich selbst aufklären; freilich stellt dies keinen Einwand dar: Es ist vielmehr ganz im Sinne des Aufklärungsprogramms, auch auf sich selbst angewendet zu werden: Konsequente Aufklärung schloss immer schon Aufklärung der Aufklärung ein (Schneiders 1974, S. 27). Die Aufklärung stieß jedoch auch auf offene Ablehnung. Lang ist die Liste dessen, was ihr vorgeworfen wird (vgl. etwa Schmidt (Hrsg.) 1996, S. 1). Sturm und Drang, Klassik und Romantik brandmarkten sie als einseitige Vergötzung von Verstand und Nützlichkeit und setzten ihr Gefühl, Glauben und Genie entgegen. Die Vertreter des sog. Deutschen Idealismus stempelten sie als »platt« und »matt« ab – als platt im Vergleich zu den eigenen geistigen Höhenflügen, als matt im Vergleich zur französischen Aufklärung. Konservative wie Edmund Burke (1729–1797) verabscheuten die Französische Revolution und verteidigten die Orientierung an Tradition und Autoritäten, ja selbst an Vorurteilen. Max Horkheimer (1895–1973) und Theodor W. Adorno (1903–1969) machten die Aufklärung schließlich pauschal für eine Verabsolutierung der »instrumentellen Vernunft« zum Zwecke totaler Natur- und Menschenbeherrschung verantwortlich; als solche müsse sie immer wieder in Mythos und Barbarei »umschlagen« (Horkheimer 1985).1 Inzwischen plädieren manche Historiker dafür, die Aufklärung vollständig zu den Akten zu legen. Davon »sich auf die Suche nach dem Programm der Aufklärung zu begeben«, wie wir es eben versucht haben, halten die Hallenser Historiker Andreas Pecˇ ar und Damien Tricoire rein gar nichts (Pecˇ ar/Tricoire 2015, S. 180). Sie wollen in ihrer Streitschrift Falsche Freunde. War die Aufklärung wirklich die Geburtsstunde der Moderne? überhaupt nur noch den Epochenbegriff gelten lassen; und diese Epoche der Aufklärung, in der sie nurmehr eine eitle Selbstinszenierung geltungssüchtiger Intellektueller zu sehen vermögen, solle man endlich behandeln »wie jede andere« (Pecˇ ar/Tricoire 2015, S. 181).

6. Und heute? Ist die Aufklärung demnach vorbei und erledigt? Hat sie uns nichts mehr zu sagen? Offenbar nicht! Denn nach der historischen Epoche der Aufklärung gab und gibt es – ebenso wie vor ihr – der Sache nach verbreitet ein subjektives 1 Zu einigen dieser Kritikpunkte vgl. Darnton 1996 und 2003, Scholz 2006 sowie die Beiträge in diesem Heft.

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Bedürfnis nach Aufklärung und vor allem objektiven Aufklärungsbedarf (Enskat 2008). Ernsthafte Aufklärungsbemühungen hatte bereits Sokrates unternommen, und auch im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit hat man einzelne Ideen der Aufklärung (z. B. Toleranz- und Freiheitsforderungen) reflektiert und propagiert, bevor sich die zunächst vereinzelten Aufklärungsbemühungen seit dem 17. Jahrhundert zu einer breiten politischen, sozialen und kulturellen Reformbewegung mit begrifflich differenzierten Aufklärungsprogrammen verdichteten. Wie steht es heute mit der Aufklärung? Wo hinkt sie immer noch ihren eigenen Idealen hinterher? (Louden 2007) In welchen Bereichen gibt es alte oder neue Aufklärungsdefizite? (Enskat 2008) Können wir im 21. Jahrhundert an die Aufklärungsprogramme der sokratischen und der neuzeitlichen Aufklärung anschließen oder müssen diese angesichts tiefgreifender technischer, ökonomischer und politischer Veränderungen (Globalisierung, deregulierter Kapitalismus, moderne Informationsgesellschaft, neue Formen von Gewalt, Krieg und Terror, und vieles mehr) revidiert, angepasst oder sogar aufgegeben werden? Es bleibt im Einzelfall zu prüfen, welche der oben angedeuteten Bedenken und Anklagen die Aufklärung tatsächlich in ihrem Kern treffen. Unbestreitbar (und wenig überraschend) ist, dass die Epoche der Aufklärung wie auch manche spätere Aufklärungsbewegungen in zahlreichen Belangen hinter ihren eigenen Forderungen zurückblieben. Die Frage, in welchen Punkten das Programm der Aufklärung wünschenswert und realisierbar ist, stellt sich dagegen auch heute mit unverminderter Dringlichkeit. Die folgenden Beiträge widmen sich verschiedenen Aspekten dieser Frage und der mit ihr einhergehenden Bedenken. (I) Eine erste Gruppe erörtert ideengeschichtliche und philosophische Grundlagen, freilich bereits mit Blick auf aktuelle Anwendungen: Werner Schneiders untersucht Aufklärung und Gegenaufklärung zunächst als historische Phänomene und dann vor diesem Hintergrund als aktuelle Probleme und Herausforderungen. Ein trauriges Beispiel sind die gefährlichen Mischungen von religiösem und politischem Fanatismus, die heute verstärkt zu beobachten sind. Rainer Enskat greift die Rede von der »Dialektik der Aufklärung« auf, die durch die aufklärungskritischen Reflexionen von Horkheimer und Adorno zur gängigen Münze geworden ist, aber wenig zur Diagnose von Aufklärungsphänomenen beigetragen hat; um diesem Mangel abzuhelfen, arbeitet Enskat einen klaren Sinn derjenigen »Dialektik« heraus, in die eine szientistische Aufklärungskonzeption gerät, die Aufklärung allein durch Wissenschaft zustande bringen will (vgl. auch Enskat 2008). Am Ende seines Beitrags veranschaulicht er die zunächst abstrakt analysierte Problematik am konkreten Fall der Entdeckung der Kernspaltung und ihren vielfältigen Folgelasten. (II) Eine zweite Gruppe erinnert an bedeutende Gestalten der Aufklärung: an Sokrates, den Ahnherrn und ersten Märtyrer der Aufklärung (Jörg Hardy), an Voltaire, den Prototyp des kämpferischen, aktiv in Justiz und Politik eingreifenden Intellektuellen (Katja Stoppenbrink) und an Immanuel Kant, der

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es unternommen hat, die Basis-, Programm- und Kampfideen der Aufklärung und ihre Folgeideen anthropologisch, erkenntnistheoretisch und politisch zu begründen (Oliver R. Scholz). (III) Eine dritte Gruppe von Beiträgen wendet sich besonders aktuellen Anwendungsfragen zu: dem Skandal der Weltarmut (Andreas Vieth) und der gegenwärtigen Flüchtlingskrise (Matthias Hoesch). In zukünftigen Heften dieser Zeitschrift soll die Diskussion darüber, ob die Aufklärung uns heute noch etwas zu sagen hat, fortgesetzt werden. Vorschläge und Anregungen dazu sind den Herausgebern jederzeit willkommen.

Eine kleine Bibliographie zur Aufklärung: Verzeichnis der zitierten Schriften nebst Hinweisen auf Nachschlagewerke und weiterführende Literatur Albrecht, Michael: Eklektik. Eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophieund Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt 1994. Brandt, Reinhard: Die Bestimmung des Menschen bei Kant, Hamburg 2007. Brandt, Reinhard: Trotzdem: Aufklärung, in: Merkur 71, Nr. 813, 2017, S. 92–96. Brockdorff, Cay von: Die englische Aufklärungsphilosophie, München 1924. Brockdorff, Cay von: Die deutsche Aufklärungsphilosophie, München 1926. Bronner, Stephen Eric: Reclaiming the Enlightenment. Toward a Politics of Radical Engagement, New York 2004. Cassirer, Ernst: Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1932. Ciafardone, Raffaele: L!Illuminismo tedesco, Torino 1983; deutsche Ausgabe: Die Philosophie der deutschen Aufklärung. Texte und Darstellung, deutsche Bearbeitung von Norbert Hinske und Rainer Specht, Stuttgart 1990. Darnton, Robert: George Washingtons falsche Zähne oder Noch einmal: Was ist Aufklärung? Übersetzt von Henning Ritter, München 1996. Darnton, Robert: George Washington!s False Teeth: An Unconventional Guide to the Eighteenth Century, New York 2003. Delon, Michel (Hrsg.): Dictionnaire Europ&en des Lumi%res, Paris 1997. Diderot, Denis: Oeuvres Compl%tes, Tome VII, hg. v. John Lough und Jacques Proust, Paris 1976. Enskat, Rainer: Bedingungen der Aufklärung. Philosophische Untersuchungen zu einer Aufgabe der Urteilskraft, Weilerswist 2008. Ewald, Oskar: Französische Aufklärungsphilosophie, München 1924. Forster, Georg: James Cook, der Entdecker, hg. v. Frank Vorpahl, Berlin 2008. Funke, Gerhard (Hrsg.): Die Aufklärung, Stuttgart 1963. Gay, Peter: The Enlightenment: An Interpretation, London 1966. Hazard, Paul: La crise de la conscience europ&nne 1680–1715, Zwei Bände, Paris 1935; deutsche Ausgabe: Die Krise des europäischen Geistes 1680–1715, aus dem Französischen übertragen von Harriet Wegener, mit einer Einführung von Professor Carlo Schmid, Hamburg 1939, 51965. Hazard, Paul: La pens&e europ&nne au XVIIIe si%cle de Montesquieu $ Lessing, Paris 1946; deutsche Ausgabe: Die Herrschaft der Vernunft. Das europäische Denken im

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Vernunft und Versuchung. Über Aufklärung und ihre Alternativen Werner Schneiders

I.

Kurze Aufklärung über Aufklärung

Das deutsche Wort Aufklärung, für das es in anderen Sprachen anscheinend keine genaue Entsprechung gibt, bezeichnet vor allem zweierlei: erstens einen spezifischen Akt der Erkenntnis sowie die daraus resultierende spezifische Erkenntnismitteilung, zweitens eine Epoche der geistigen Entwicklung einiger europäischer Völker bzw. die in dieser Epoche dominierende geistige Strömung. Der Zusammenhang beider Begriffe oder vielmehr Begriffskomplexe ist offenkundig. Das Zeitalter der Aufklärung heißt so, nannte sich sogar gelegentlich selbst so, weil es die Aufklärung als vordringliche Erkenntnisart und die aufklärerische Erkenntnismitteilung als vordringliche Aufgabe verstand. Die Idee der Aufklärung, ihr Konzept oder Projekt, bedarf allerdings selbst der Aufklärung, und natürlich darf der Unterschied zwischen Intention und Realisation, also der Unterschied zwischen dem abstrakten Aufklärungsmodell und den geschichtlichen Erscheinungsformen der Aufklärung, nicht übersehen werden. Aufklärung als Erkenntnisakt zielt, ganz allgemein gesprochen, auf Wahrheit, nämlich auf Wahrheit durch Klarheit. Dieser Erkenntnisversuch, die Suche nach Wahrheit durch Klarheit, beruht auf der Erfahrung, dass fast alles unklar ist – viele Dinge liegen sogar im Dunkeln, und die meisten Menschen tappen, blind oder sogar verblendet, im Dunkeln. Möglicherweise gibt es sogar genug Menschen, die ein Interesse daran haben, dass andere Menschen, ja sogar sie selbst, im Dunkeln verbleiben. Jedenfalls herrscht letztlich Unklarheit bzw. Scheinklarheit über das, was wirklich ist: über Tatsachen und Sachzusammenhänge, über Begriffe und geistige Zusammenhänge, und nicht zuletzt auch über Personen, Institutionen und Organisationen. Um diese Verhältnisse zu klären, muss Licht in das Dunkel der Dinge und Begriffe gebracht werden. Zur Aufklärung gehören Erhellung und Klärung, Aufdeckung und Entwirrung. Aufklärung als Erhellung und Klärung, durch Information und Berichtigung ist Kampf gegen die Dunkelheit der Unwissenheit und die Scheinklarheit des Pseudowissens, vor allem Kampf gegen Irrtümer, Fehlurteile und Vorurteile. Aufklärung ist also zunächst Kritik, insofern Negation. Es geht um die Aufdeckung des Unwissens wie des Pseudowissens, der Verblendung sowie deren Ursachen und Folgen. Daher auch um die Analyse der Erkenntnishindernisse, der inneren wie der äußeren, der individuellen wie der kollektiven, der intellektuellen wie der emotionalen, der selbstverschuldeten wie der fremdverschuldeten. Und dieser Kampf gegen Erkenntnishindernisse, vor allem gegen Blendwerke und

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Irrlichter, ist gegebenenfalls auch ein Kampf gegen Menschen, gegen einzelne Personen wie gegen ganze Institutionen oder Organisationen. Aufklärung ist, wenn sie irgendwie gegründet sein soll, zunächst Selbstaufklärung. Sie ist ein Erkenntnisakt, durch den mir selbst etwas klar wird bzw. durch den ich mir selbst etwas klar mache, d. h. Klarheit gewinne und so mir selbst klar werde, also nicht zuletzt auch Erkenntnis meiner selbst. Diese Selbstaufklärung kann direkt als Selbsterkenntnis oder indirekt durch Sacherkenntnis erfolgen. Erst wenn ich selbst irgendwie Klarheit gewonnen habe, kann ich einem anderen Menschen oder sogar vielen anderen Menschen sinnvoll etwas mitteilen; die, wenn man so will, Fremdaufklärung setzt Selbstaufklärung voraus, zumindest den Anspruch auf eine gewisse Aufgeklärtheit. In der Aufklärung als Information und Kritik wird dann aus dem mehr oder weniger spontanen Akt der Selbstaufklärung eine mehr oder weniger bewusste und gezielte Aufklärung anderer Menschen, die sogar programmatisch sein kann. Offensichtlich entsteht aus der Erfahrung der Selbstaufklärung immer wieder das Bedürfnis, seine Erkenntnis auch anderen Menschen mitzuteilen, auch andere Menschen von ihrer Unwissenheit und ihrem Pseudowissen zu befreien. Aufklärung, die als Selbstaufklärung inneres Handeln ist, wird als Aufklärung von andern, die sich auch, gegebenenfalls sogar gegenseitig, aufklären können, nach außen tätig. Aufklärung, die Licht in das Dunkel der Unwissenheit und Klarheit in die Wirrungen des Geistes bzw. die Fehlentwicklungen der Wirklichkeit zu bringen versucht, muss sich der natürlichen Erkenntniskraft des Menschen bedienen, also des erfahrungsgestützten Denkens bzw. der durch das Denken analysierten Erfahrung. Sie ist rationales, weitgehend diskursives Denken, auch wenn dieses vielleicht nur eine vorhergehende Erfahrung auswertet und kontrolliert. Aufklärung muss sich, wenn sie sich selbst für möglich halten soll, mit welchen Einschränkungen auch immer, auf das lumen naturale, die natürliche Kraft des Verstandes bzw. der Vernunft, stützen, wenn nicht verlassen; Aufklärung ist eine natürliche, rationale Tätigkeit, nicht bloße Intuition oder geistige Anschauung, schon gar nicht das Empfangen einer ›übernatürlichen‹ Erfahrung. Die Entwicklung der Vernunft durch die Reinigung von Erkenntnishindernissen und Pseudowissen, z. B. Vorurteilen, muss daher ihr erstes Ziel sein. Vernunft, die sich selbst gegen Unvernunft behaupten will, ist nicht nur Bedingung, sondern auch oberstes Ziel der Aufklärung, sie ist unabdingbar. Vernunft, z. B. im richtigen Gebrauch des Verstandes, setzt allerdings eine gewisse Freiheit voraus, und zwar zunächst innere Freiheit, vor allem Denkfreiheit. Diese aber kann sich nur entfalten, wenn das Denken von innen wie von außen, von inneren wie äußeren Hindernissen bzw. Beschränkungen, frei ist, befreit wird bzw. sich selbst allmählich befreit. Insofern ist auch Freiheit ein unabdingbares Ziel der Aufklärung. Vernunft und Freiheit sind oberste (allerdings immer noch näher zu bestimmende) Leitideen aller Aufklärung – daher kann Aufklärung, mit wechselnder Akzentuierung, mehr ›rationalistisch‹ oder mehr ›emanzipatorisch‹ auftreten. So oder so geht es dabei um eine grundsätzliche, eine Art existentielle Weiterent-

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wicklung des Menschen, des einzelnen Menschen wie der Menschheit im Ganzen. Die rationalistisch-emanzipatorische Aufklärung hofft unvermeidlich auf Fortschritte, sie muss diese für möglich halten – Aufklärer sind der Absicht nach Weltverbesserer. Aufklärung ist letztlich praktisch ambitioniert, und zwar, als Berichtigung der Begriffe wie als Intention auf Veränderung der Wirklichkeit, kritisch-praktisch. Sie kann daher nicht nur pädagogisch, sondern auch politisch pointiert werden. Aufklärung als abstraktes Modell einer spezifischen Erkenntnis und einer spezifischen Erkenntnismitteilung ist eine Sache, eine andere ist ihre geschichtliche Erscheinungsform. Als Kampf mit der geschichtlichen Situation ist sie selbst geschichtlich. Aufklärung hat es wahrscheinlich immer schon gegeben, wenn auch nicht immer in gleichem Maße. Sie ist, wenn der Begriff genügend weit gefasst wird, im Prinzip jederzeit möglich. Allerdings, wenn man nicht die mythische Erklärung der Wirklichkeit und die wiederholte Ersetzung eines Mythos durch einen anderen schon Aufklärung nennen will, muss man ihren greifbaren Anfang in einer gewissen Mythenkritik suchen – nicht in der bloßen Kritik des alten Mythos, die den Kampf des neuen gegen den alten begleitet, sondern in dem der Absicht nach grundsätzlichen Anspruch auf freies Denken und kritische Vernunft, wie er sich z. B. schon in der Antike als Kampf gegen Meinungen und Mythen zeigt. Erst wenn Mythen als solche in Frage gestellt, Meinungen grundsätzlich hinterfragt werden, beginnt Aufklärung in einem konkreteren Sinn des Wortes. Exemplarisch wird Aufklärung, extensiv wie intensiv, allerdings erst im 18. Jahrhundert sichtbar und als solche begriffen.

II. Aufklärung und Gegenaufklärung als historische Phänomene 1.

Aufklärung – ein ›rationalistisches‹ Fortschrittsprojekt

Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts war eine Antwort auf die miserablen geistigen und gesellschaftlichen Verhältnisse im 17. Jahrhundert, insbesondere eine Reaktion auf die religiöse und die damit verknüpfte politische (und soziale) Situation. Die nicht aufhörenden religiösen bzw. theologischen Streitigkeiten und die verbreiteten Tendenzen zum politischen Absolutismus erzwangen geradezu Überlegungen, die aus der Misere herausführen könnten. Die Aufklärung verstand sich, jedenfalls in ihren Anfängen, wesentlich als eine geistige Erneuerungsbewegung. Sie begann als eine große Ernüchterung, nicht zuletzt als Emanzipation aus der Vormundschaft der streitbaren Religionswächter. Und angesichts der im 17. Jahrhundert aufkommenden modernen Naturwissenschaft schien es sogar ein Hoffnungssignal zu geben, nämlich, dass eine allgemeingültige theologiefreie Erkenntnis möglich sei; es entstand eine Art Hoffnung auf Vernunft, ein engagierter Wille zur Vernunft. Das Zeitalter der Aufklärung ist das Zeitalter der Vernunft. Allerdings hieß es zunächst zumeist noch, es gehe um

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mehr Verstand; denn der Verstand galt traditionell als das höchste und umfassende Erkenntnisvermögen. Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts wird der inzwischen etwas abgenutzte Begriff Verstand in Deutschland durch den Begriff Vernunft ersetzt und dabei der Begriff Verstand sozusagen degradiert. Herrschaft des Verstandes hieß am Ende des 18. Jahrhunderts etwas anderes als am Anfang der Aufklärung. Aufgrund ihrer Entstehungsbedingungen hatte die Aufklärung von vornherein ein gespanntes Verhältnis zur christlichen Religion und zu der sie begleitenden Offenbarungstheologie, auch wenn beides formell zunächst meist unangefochten blieb – Religion als solche wird selten in Frage gestellt. Vielmehr setzten sich gerade auf diesem Gebiet die Ambitionen der Aufklärer auf vernunftorientiertes Denken vielfach durch. So wurden schon früh die bereits vorhandenen Vorstellungen von einer vernünftigen Religion und einer natürlichen Theologie mit Nachdruck weiterentwickelt und mit Toleranzforderungen verbunden. Dabei konnten sowohl theistische als auch deistische Positionen entwickelt werden, atheistische hingegen gab es nur vereinzelt. Im Allgemeinen galt die religionskritische Tendenz der Aufklärung mehr einigen Erscheinungsformen der Religion als der Religion als solcher – auch wenn die Selbstbehauptung der Vernunft noch wesentlich durch die biblische Religion bestimmt blieb. Dabei verlagerte sich das Interesse von der religiösen Auseinandersetzung auf mehr irdische Probleme, insbesondere auf Probleme der Moral. Anthropologische Fragen verdrängten die theologischen Fragen. Für das mehr oder weniger säkularisierte Denken besteht die Gottesliebe wesentlich in der Menschenliebe. Der Versuch, vor allem in der sogenannten Naturrechtslehre, allgemeingültige Normen für eine vernünftige Daseinsordnung zu entwickeln, bemüht sich, möglichst ohne Theologie auszukommen. Die Philosophie, die jetzt Philosophie für alle Menschen sein will, ersetzt die Theologie als Leitwissenschaft. Das Zeitalter der Aufklärung ist das philosophische Zeitalter. Das neue Vertrauen in die Vernunft bzw. den Verstand, die Akzentverlagerung vom Glauben auf die Vernunft bzw. den Verstand führte zu einem verstärkten Interesse an Erkenntnisproblemen, und zwar sowohl erkenntnistheoretisch wie erkenntnispraktisch. In der Erkenntnistheorie setzt die Aufklärung – teils mehr rationalistisch, teils mehr empiristisch – auf eine erfahrungsbasierte Vernunft bzw. auf eine durch Vernunft kontrollierte Erfahrung. Mehr als je zuvor ging es ihr jedoch um erkenntnispraktische Probleme, es ging vor allem um die Ausbesserung des Verstandes bzw. die Reinigung der Vernunft durch die Befreiung von Vorurteilen. Als erster Grund der Herrschaft der Unvernunft galt zwar die verbreitete Unwissenheit, das Hauptproblem aber war das dogmatisierte Pseudowissen und dessen affektive Selbstbehauptung. Anscheinend kam es zuerst vor allem darauf an, die Hindernisse des geistigen wie auch des gesellschaftlichen Fortschritts beiseite zu räumen, nämlich neben den basalen Vorurteilen auch Aberglauben, Schwärmerei und Fanatismus als offenbar religiös bzw. pseudoreligiös bestimmte Erscheinungsformen der Unvernunft. Die Aufklärung beginnt

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wesentlich als Kampf gegen die Vorurteile und bleibt, bis in die Selbstkritik der Vernunft, Vorurteilskritik. Das 18. Jahrhundert ist ein Jahrhundert der Kritik. Aufklärung als sozusagen respektlose Reinigung der Vernunft von Vorurteilen kann, wenn sie gelingt, als Selbstbefreiung wie als Befreiung durch andere Menschen geschehen. Beide Formen der rationalistisch-emanzipatorischen Aufklärung, die Emanzipation wie die unabdingbare Selbstemanzipation, setzen die Möglichkeit von Freiheit voraus. Nicht nur das Selbstdenken bedarf der Freiheit, auch zur Akzeptanz, ja sogar zur Verweigerung einer von anderen angebotenen Erkenntnis bedarf es der Freiheit. Insofern impliziert die Forderung, vernünftig zu werden, unvermeidlich ein Freiheitspostulat. Zwar geht es der Aufklärung zunächst nur um innere Freiheit, aber die von ihr immer wieder verlangte Freiheit zu denken ist meist auch schon gegen äußere Beschränkungen der Freiheit gerichtet. Die Forderung nach Denkfreiheit führt daher letztendlich zur Forderung nach Handlungsfreiheit. Dieser emanzipatorische Charakter der Aufklärung wird allerdings erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts deutlicher und führt dann zu expliziten Freiheitsparolen. Vernunft und Freiheit sind die grundlegenden, teils impliziten, teils expliziten Leitideen sowohl der eher ›rationalistischen‹ wie der eher ›emanzipatorischen‹ Aufklärung. Und so wie die Vermehrung der Erkenntnis für die Aufklärung kein Selbstzweck ist, so auch nicht der Gewinn an innerer oder äußerer Freiheit. Selbstdenken und Selbstbestimmung sollen den Menschen als ganzen bessern, vor allem moralisch weiterbringen. Erst auf der Grundlage der Entwicklung einer neuen moralischen Gesinnung scheint den meisten Aufklärern auch eine durchgreifende, nicht nur politische Reform der Gesellschaft möglich. Obwohl sie im Hinblick auf die möglichen Fortschritte der Menschheit keineswegs oberflächlich optimistisch, z. T. sogar sehr skeptisch war, blieb die Aufklärung dennoch grundsätzlich durch die Hoffnung auf nicht nur äußerliche Fortschritte bestimmt und dabei natürlich auch immer wieder anfällig für Illusionen. Sie hoffte auf eine Gesellschaft tugendhafter Bürger. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verlor die Aufklärung erkennbar an innovativer Kraft und allgemeiner Anerkennung. Sie begann Überdruss zu erzeugen, sie war banal geworden; ihre Ideen konnten durch ihre ständige Wiederholung dogmatisch und oberflächlich erscheinen. Zwar hatte es einige bis heute nachwirkende Fortschritte gegeben. Der Hexenglaube war juristisch praktisch nicht mehr relevant, die Folter war weitgehend abgeschafft, Medizin und Gesetzgebung hatten erkennbare Fortschritte gemacht, die Pädagogik hatte sich zu einer eigenständigen Lehre entwickelt. Viele Verhältnisse hatten sich, auch schon vor der Französischen Revolution, grundlegend geändert. Insofern hatte sich die Aufklärung selbst sozusagen überlebt, z. T. jedenfalls überflüssig gemacht. Aber natürlich hatte sie ihre Hauptziele, die allgemeine Verbreitung von Vernunft und Freiheit, nicht erreicht, die Menschen waren nicht erkennbar besser geworden. So konnte schon bald die Frage auftauchen, ob die Aufklärung gescheitert war. Alte aufklärungsresistente Gegenströmungen, die es im Grunde

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immer gegeben hatte, aber auch neue antiaufklärerische Tendenzen, die z. T. sogar erst durch die Aufklärung ermöglicht worden waren, konnten immer größeren Einfluss gewinnen. Die Romantik warf ihre Schatten voraus. 2.

Romantik – eine ›emotionalistische‹ Gegenaufklärung

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatten sich, neben den alten, verstärkt verschiedene neue aufklärungskritische Tendenzen entwickelt, die dann um 1800 ihren ersten Höhepunkt in der Romantik erreichten. Die Romantik, die sich, zumindest vereinzelt, zunächst noch als höhere Aufklärung verstanden hatte, wurde die erfolgreichste Gegenbewegung zur Aufklärung. Mit ihr scheint in vielen Hinsichten und für lange Zeit eine Art Gegenaufklärung gesiegt zu haben, nämlich die Absage an die sogenannte Verstandesaufklärung (jetzt in dem pejorativen Sinn des Wortes) mit ihrem sogenannten platten Rationalismus. Die Romantik war, offenkundig anders als die Aufklärung, insgesamt weniger philosophisch, mehr literarisch bzw. poetisch interessiert, entfaltete aber darüber hinaus ihren Einfluss in vielen Bereichen des Geisteslebens, auch in den neuartigen politischen Auseinandersetzungen und nicht zuletzt auf dem Gebiet der Religion. Und natürlich war sie eine in sich selbst höchst differenzierte Bewegung, nicht nur mit ihren Entwicklungsstufen, sie war auch in den verschiedenen Ländern unterschiedlich ausgeprägt. Dennoch lassen sich wie im Falle der Aufklärung einige gemeinsame Grundzüge ausmachen, die sich weitgehend aus ihrer Absage an die als gefühlsarm geschmähte Aufklärung ergeben. Die Bedeutung von Vernunft und Verstand als Organe der Wirklichkeitserfassung wird durch das jetzt erst wirklich entdeckte Gefühl begrenzt; der rationale Zugriff auf die Wirklichkeit greift nach der Überzeugung der Romantiker zu kurz. Das irrationale Gefühl ist dem Denken überlegen, es ist ein geradezu metaphysisches Organ. An die Stelle des Rationalismus tritt ein gewisser Emotionalismus, dessen Freiraum und Basis allerdings erst durch die Aufklärung, z. T. auch durch aufklärungskritische Bewegungen, geschaffen worden war. Die Romantiker gehen davon aus, dass, außer den alltäglichen Dingen, also jenseits der bekannten banalen Wirklichkeit, noch ein anderes, höheres oder tieferes Sein existiert. Dieses geheimnisvolle, dunkle Sein kann eigentlich nur erahnt oder erfühlt werden, nicht nüchtern kritisch begriffen werden. Die wahre Wirklichkeit, eine faszinierende numinose Wirklichkeit, aber auch eine imaginäre phantastische Welt, ist eine romantische, gewissermaßen romanhafte Welt, nämlich eine quasi poetische Wirklichkeit, die gegebenenfalls durch Poetisierung der prosaischen Welt erreicht werden kann. Das Hauptinteresse galt daher allem, was als übernatürlich erschien, auch dem fiktionalen Übernatürlichen, also z. B. den Märchen und Mythen. Die Romantik hat ein weitgehend ästhetisches Verhältnis zur Wirklichkeit, sie entdeckt auf ihre Weise die Schönheit, aber auch die Abgründigkeit der Welt; ihre wesentliche, gefühlte und gefühlvolle Beziehung zur

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Tiefe des Seins ist die Ahnung bzw. Sehnsucht. So entdeckt die Romantik, über die psychologischen Ansätze der Spätaufklärung weit hinausgehend, bisher vernachlässigte oder sogar verdrängte und verdammte tiefere Schichten des Ich. Das Ich macht jetzt ganz neue Ansprüche auf Tiefe. Der Mensch ist nicht nur das bekannte animal rationale, das außerdem noch unter Affekten leidet, die es zu zügeln gilt, er ist unaufhebbar zutiefst irrational, durch seine Gefühle, vor allem durch sein Unbewusstes, seine Träume, Sehnsüchte und Ahnungen, Hoffnungen und Befürchtungen bestimmt. Die Romantik interessiert sich nicht für die allgemeine Menschenvernunft, sie rehabilitiert bzw. entdeckt und glorifiziert das individuelle Gemüt. An die Stelle des aufklärerischen, vernunftorientierten Selbstdenkens, das gegen das bloße subjektive Meinen gerichtet war, tritt das Recht des Subjekts auf sein Fühlen, sein Ahnen und Imaginieren, die Selbstbehauptung des weltschöpferischen Subjekts. Doch kann das Ich sich auch aus der Welt zurückziehen und sich verschließen. So oder so entwickelt sich eine neue Form von Innerlichkeit. Durch die romantische Wendung ins Innere, das erahnte Innere der Welt und das erfühlte Innerste des Ich, ändert sich die bisherige Religiosität und damit das Verhältnis zur überlieferten Religion. Die geheimnisvolle Tiefe des Seins ist nur z. T. mit der übernatürlichen Wirklichkeit der christlichen Offenbarung verwandt. Es entsteht ein gefühlsbetonter Glaube, eine neue, z. T. schwärmerische oder überschwängliche Gefühlsfrömmigkeit, nicht nur als Kunst- und Naturfrömmigkeit, sondern auch als Glaubensfrömmigkeit im engeren Sinne des Wortes. In der Romantik findet, im Vergleich mit der tendenziell entchristianisierten Vernunftreligion in der Aufklärung, gefühlsmäßig eine gewisse Rechristianisierung, ja Rekatholisierung, statt; das Interesse am vernunftorientierten Fortschritt der Menschheit wird durch ein neues religiöses Interesse zurückgedrängt. Aus dieser Perspektive kann dann sogar das seit der Renaissance als dunkel verdammte Mittelalter rehabilitiert und, vor allem für die bildende Kunst, zu einem goldenen Zeitalter erklärt werden; Geschichte wird nun nicht mehr als Fortschrittsgeschehen gedacht, sondern zumindest z. T. als Verfallsgeschichte. So ändert sich in der Romantik das Verhältnis zur Vergangenheit im Ganzen und damit das Verhältnis zur Geschichte überhaupt. Die Romantik entdeckt die Schönheit der Vergangenheit und den Wert der Überlieferung, sie beginnt sich für alte Geschichten, Sagen und Legenden, nicht zuletzt für Ruinen, zu interessieren und betreibt mit neuem Elan Geschichtsforschung. Der Mensch wird nun mehr und mehr als geschichtliches Lebewesen verstanden, Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie gewinnen an Boden. So konnte sich auch ein gewisser Traditionalismus entwickeln und damit eine Nähe zur politischen Restauration, die Neubewertung der Traditionen konnte sehr schnell zu politischer Romantik führen. Maßgeblich für das Verständnis der politischen Wirklichkeit war nun nicht mehr die Idee einer bürgerlichen Gesellschaft, die als vernünftige, zugleich patriotisch und kosmopolitisch gesinnte Vertragsgesellschaft selbstbestimmter In-

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dividuen gedacht wurde, sondern die Vorstellung einer urtümlichen, durch Gemeinsamkeiten verschiedenster Art begründeten Volksgemeinschaft. Die Romantik war eine nicht zu unterschätzende Korrektur der Aufklärung. Sie hat mit Nachdruck darauf aufmerksam gemacht, dass der aufklärerische Zugriff auf die Wirklichkeit zu kurz greifen könnte, sie hat auf das Recht der geschichtlichen Individualität aufmerksam gemacht. Aber durch ihr negatives Verhältnis zur Alltagswirklichkeit wurde sie selbst sehr schnell wirklichkeitsfremd. Da sie sich selbst einer höheren Wirklichkeit verpflichtet fühlte, entfernte sie sich immer weiter von der sich rasant entwickelnden Wirklichkeit des beginnenden industriellen Zeitalters und verlor so relativ schnell an Substanz und innovativer Kraft. Gleichwohl beeinflusst sie, wenn auch in defizienter Gestalt, noch lange, im Grunde bis heute, die Mentalität vieler Menschen, vor allem das Privatleben. Die Flucht vor der allgemeinen Alltagswirklichkeit bei fortwirkenden romantischen Gefühlen einerseits und die Notwendigkeit einer tendenziell rationalen, bürgerlichen Existenz andererseits führten zu unterschiedlichen Formen der Entzweiung und des Arrangements. Am Ende degeneriert die Romantik nicht selten – mehr oder weniger – zum privaten Rückzugsraum mit sentimentalen Accessoires, sie wird zu einer kompensatorischen Begleiterscheinung der modernen Leistungsgesellschaft – zusehends gewollter, künstlicher und am Ende sogar käuflich (mit dem in der Arbeitswelt erworbenen Geld).

III. Aufklärung und Gegenaufklärung als aktuelle Probleme 1.

Aufklärung als Kritik und Kritik der Aufklärung

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der auch eine Folge des (nicht nur politischen) Irrationalismus war, kam es, z. T. mit einiger Verzögerung, wenigstens hier und da zu einer gewissen Ernüchterung oder Besinnung – in politisch-praktischer, aber auch allgemein in geistiger Hinsicht; es kam in den alten Kernländern der Aufklärung, jedenfalls hier und da, zu einem, z. T. bis heute andauernden Interesse an den Ideen der Aufklärung. Eine neue Aufklärung schien in Gang zu kommen, eine zukünftige Herrschaft der Vernunft schien nicht ausgeschlossen. Allerdings, wenn sich die neue Aufklärung auf die alte bezog, dann geschah dies doch meist mit deutlicher Distanzierung bzw. sehr selektiv. Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts galt als naiv und inhaltlich überholt, ihre Ziele erschienen zumindest z. T. als obsolet. Im Grunde ging es jedoch auch jetzt wieder um die alten Ideale, die alten Gegner und damit auch um die alten Probleme aller Aufklärung und damit um Aufklärung als Problem. Auch für die neue Aufklärung waren Vernunft und Freiheit wesentliche Leitideen, im Grunde unbestrittene Normen. Im Unterschied zur Aufklärung des 18. Jahrhunderts lag der Akzent jetzt jedoch eindeutig auf Freiheit, die neue Aufklärung gab sich vor allem emanzipatorisch, weniger rationalistisch. Dies

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hatte nicht zuletzt seinen Grund darin, dass der individuelle Verstandesgebrauch inzwischen selbstverständlicher geworden war, gründete aber auch in dem verstärkten Verlangen nach Freiheit angesichts der vielen politischen Unterdrückungen im 20. Jahrhundert. Insofern war die neue Aufklärung politischer als die des 18. Jahrhunderts, sie konnte sich als betont gesellschaftskritisch verstehen. Im Prinzip existierten zwar immer noch die alten Feindbilder, die Vorurteile (und darauf basierend Aberglaube, Schwärmerei und Fanatismus), aber es gab auch neue Gegner wie den Totalitarismus, was zu einer allgemeinen Kritik des sogenannten Autoritarismus führen konnte. Und es gab, angesichts der gesellschaftlichen Realitäten, aber auch aufgrund neuer Wertsetzungen, eine neue, weit verbreitete Kritik an Rassismus und Sexismus. Daher bedurfte es neben der Gesellschaftskritik, die die Fehlformen bzw. Fehlentwicklungen der Gesellschaft analysiert, vor allem der Ideologiekritik, die als das politische Erbe der alten Vorurteilskritik verstanden werden konnte. Allerdings, wo es Aufklärungsbestrebungen gibt, da gibt es auch Gegenbewegungen, und deren Vertreter erheben dann Vorwürfe, die nicht immer neu sind. So kann z. B. die Radikalität der aufklärerischen Kritik als haltlos bekämpft werden, der Aufklärung aber auch eine verborgene Dogmatik angelastet werden. Vor allem aber können alte und neue Gegenpositionen stark gemacht werden, z. B. durch Insistieren auf Gefühl oder Glauben. Solche Kontrastprogramme sind bis heute vielfach populär, jedoch nicht selten wenig durchdacht; die Debatten werden vordergründig geführt, die Motive bleiben oft verborgen. In der Tat ist Aufklärung zunächst Kritik, also primär negativ. Sie ist z. B. die Negation alles dessen, was einer möglichen Erkenntnis entgegensteht, daher als konkrete Aufklärung bestimmte Negation. Aufklärung als Kritik richtet sich gegen die allüberall dominierende Maskerade dessen, was ist; sie will den Schein zerstören, der das Sein verdeckt, vor allem das Scheinwissen, das wirkliches Wissen unmöglich macht. Echter positiver Substanz kann und will Aufklärung nichts anhaben. Natürlich gibt es auch Pseudokritik, also Pseudoaufklärung, aber dann muss diese ebenfalls kritisiert werden. Kritik kann unangebracht, oberflächlich, sogar oberflächlich radikal sein, sie kann nicht nur zutreffen, sie kann auch vorbeigreifen. Sie kann sogar entgegen ihrer Intention dogmatisch werden. Wahre Aufklärung müsste daher eigentlich immer auch selbstkritisch sein. Der Kritikvorwurf ist im Grunde kein Votum gegen Kritik, sondern ein Votum für mehr oder bessere Kritik. Grundsätzlich ist Kritik jedenfalls unverzichtbar, wenn nicht alles Denken und Sprechen willkürliche Behauptung bleiben soll. Auch die Gegenaufklärung ist tendenziell und formal selbst eine Art von Aufklärung und Kritik; auch eine grundsätzliche Kritik von Kritik, eine sozusagen antikritische Kritik, wäre wieder Kritik, gewissermaßen Metakritik. Allerdings, Aufklärung ist keine totale Skepsis und auch keine permanente Erkenntnisrevolution, sie positioniert sich aufgrund ihrer Suppositionen immer wieder als erkannte Wahrheit. Jede Negation ist im Grunde auch eine Position. Da aber die neuen Erkenntnisse vermutlich auch keine endgültigen Erkenntnisse sind, ist sie selbst immer wieder

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mit Pseudoerkenntnissen kontaminiert und bedarf daher immer wieder der Besinnung und einer Erneuerung der Kritik. Neben dem Vorwurf, die Aufklärung verbleibe in der bloßen Negation, gibt es den entgegengesetzten Vorwurf, die aufklärerische Kritik sei als solche selbst dogmatisch, was wiederum unterschiedlich gemeint sein kann. In der Tat, da Aufklärung keine bloße Negation ist, da sie, indem sie etwas als falsch zu erweisen versucht, Position bezieht, d. h. bis zum Widerruf etwas zu erkennen behauptet, ist sie, trotz ihrer Neigung zur Skepsis und obwohl an sich ergebnisoffen, möglicherweise unwillkürlich und unwissentlich dogmatisch. Daher wird an früheren Aufklärungsbewegungen wie der des 18. Jahrhunderts im Nachhinein deutlich, dass noch vieles als selbstverständlich gegolten hat, was später vehement bezweifelt wurde. Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass Aufklärung immer auch pervertieren kann und sich selbst, zumindest partiell, zum Dogma, z. B. zur einzig möglichen Erkenntnisart, erklären kann. Aber Aufklärung als Selbstbehauptung der Vernunft ist als solche keine sich selbst dogmatisierende Behauptung von bestimmten Erkenntnissen, sondern der Absicht nach eine sich selbst begründende Erkenntnis und reflektierende Erkenntnisart. Sie kann sich im Prinzip selbst in Frage stellen. Die Vorwürfe, die Aufklärung sei zu kritisch oder zu dogmatisch, sie verharre in bloßer Kritik oder verhehle ihren eigenen Dogmatismus, treten als rationale Überlegungen auf. Sie können daher auf der Ebene der Vernunft diskutiert und tendenziell aufgeklärt werden. Schwieriger ist das bei den populären Standardvorwürfen, die Aufklärung verkenne die Bedeutung des Gefühls und des Glaubens. Hier werden Gegenpositionen als unvermittelte und unvermittelbare Behauptungen in den Raum gestellt, die als unhintergehbare Grunderfahrungen nur schwer angreifbar zu sein scheinen; denn hier scheinen sich unvordenkliche Wertungen, im Grunde verschiedene Weltanschauungen, schlechthin gegenüberzustehen. Allerdings, während die Aufklärung sich selbst reflektieren und rational, etwa als unabdingbare Erkenntnisstufe, rechtfertigen kann, können die Positionen des Gefühls und des Glaubens anscheinend nur behauptet werden. Es sei denn, ihre Vertreter begeben sich auf das Feld vernünftiger Argumentation, also auf das Gebiet der Aufklärung, die sie doch bekämpfen wollen. Dann lassen sich die beiden Vorwürfe, die Aufklärung verkenne die Bedeutung des Gefühls und des Glaubens, ja, sie verberge ihren eigenen Glauben, rational diskutieren. Seit der Romantik ist es ein beliebter Vorwurf gegen die Aufklärung, Aufklärer seien Rationalisten und Rationalisten hätten keine oder doch kaum Gefühle. Ganz abgesehen davon, wie man dies belastbar feststellen könnte, stellt sich die Frage, was genau mit dieser These gemeint sein könnte. Da die Dominanz des Verstandes in gewissen Bereichen wie Wissenschaft und Technik unbestreitbar und unverzichtbar ist und da andererseits die Dominanz der Gefühle in emotionalen Beziehungen wie Liebe und Sympathie offenkundig ist, scheint eine Diskussion über das Verhältnis von Verstand bzw. Vernunft einerseits und Gefühl andererseits auf die Frage hinauszulaufen, ob das Leben im Allgemeinen mehr

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durch den Verstand bzw. die Vernunft oder mehr durch Gefühle geleitet werde bzw. geleitet werden sollte. Allerdings setzt eine solche Fragestellung einen schroffen und klaren Gegensatz von Denken und Fühlen voraus. Es gibt jedoch nicht nur den kalten Verstand einerseits und das warme Gefühl andererseits, es gibt auch den klaren Verstand einerseits und das dunkle Gefühl andererseits, aber auch das oberflächliche und das verworrene Denken einerseits und das klare und tiefe Fühlen, das deutliche, starke und feste Gefühl andererseits, es gibt die chaotischen Gefühle, aber auch das unausgegorene Denken. So oder so existiert jedoch ein gewisses Gefälle zwischen Verstand und Vernunft einerseits und Gefühl oder Fühlen andererseits. Gefühle sind, anders als das Denken, nicht als solche selbstreflexiv; Gefühle, die sich selbst verstehen wollen, bedürfen des vernünftigen Denkens. Das Denken kann über das Fühlen nachdenken, das Fühlen hingegen kann zwar das Denken in Frage stellen, muss sich dann aber für alle weitere Klärung des Denkens bedienen. Das Fühlen ist, wenn es nicht selbst als Erkenntnisorgan, z. B. als eine Art intuitives Denken, verstanden wird, als solches gewissermaßen blind; es kann als solches das Denken nicht eigentlich erkennen und kontrollieren, wohl aber gegebenenfalls dessen Unklarheiten oder Unsicherheiten fühlen. Außerdem sind Gefühle, obwohl sie z. B. als Ahnungen der Beginn von Erkenntnis sein können, selbst von irgendwelchen Vorstellungen, also von einer gewissen Erkenntnis, abhängig. Der Versuch, das Verhältnis von Gefühl und Verstand bzw. Vernunft vernünftig zu diskutieren, anstatt bloße Behauptungen aufzustellen, kann nicht darauf abzielen, Gefühle grundsätzlich zu diskreditieren, Gefühle generell zu unterdrücken oder das Vertrauen in Gefühle als prinzipiell verfehlt hinzustellen. Die Frage ist nur, ob ein Gefühl, das sich gegen jede Aufklärung wehrt, das sich in sich verschließt und sich selbst dogmatisiert, mit Recht gegen Verstand und Vernunft, kognitives und normatives Denken, ausgespielt werden kann, ob trotziges Insistieren auf erleuchtete Subjektivität eine echte Alternative für potentiell kommunikatives, allgemeinen Prinzipien verpflichtetes Denken sein kann. Und last not least ist darauf hinzuweisen, dass die argumentative Verteidigung des Gefühls sich selbst immer schon auf die Ebene rationalen Denkens begeben hat. Der Vorwurf, die Aufklärung missachte die Bedeutung der Gefühle, wird nicht selten von dem Vorwurf begleitet, die als solche tendenziell glaubenskritische Aufklärung beruhe selbst auf einem Glauben, nämlich dem Glauben an die Vernunft. Das ist als Feststellung in gewisser Weise richtig, aber auch deutlich zu differenzieren. Erstens geht jede Erkenntnis von einer Meinung, nämlich einer noch unbewiesenen und vielleicht sogar unbeweisbaren Vermutung und insofern in gewisser Weise von einem Glauben aus. Aber Glaube ist nicht gleich Glaube, sowohl was das Objekt des Glaubens angeht als auch die Weise des Glaubens. Glaube kann erkenntnisorientiert sein oder blind, ja verblendet bzw. selbstverblendet nur sich selbst behaupten, und er kann für Einwände offen und erkenntniswillig sein. Zweitens ist der Glaube an die Vernunft, soweit er überhaupt Glaube ist und nicht als Überzeugung auf klarer Einsicht beruht, also die

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Selbstbejahung der Vernunft, nicht dasselbe wie der Glaube an irgendeinen Vizliputzli. Der Glaube an die Vernunft, also der Glaube der Vernunft an sich selbst (an die Möglichkeit und Notwendigkeit vernünftigen Denkens, auf der Basis der Sinneswahrnehmung und mit Hilfe des Verstandes), kann sich selbst vernünftig begründen; er ist kommunikationsfähig und offen für Kritik. Selbst die möglichen Grenzen der Vernunft lassen sich noch vernünftig eruieren. Die Behauptung, die Anerkennung der Vernunft bzw. die Akzeptanz der Dominanz des Verstandes beruhe auch nur auf einem Glauben, ist meist nicht rein erkenntnistheoretischer Art. Sie beruht vielfach auf einem Glaubensverständnis religiöser Art, das den eigenen Glauben defensiv als mindestens gleichberechtigt neben die sogenannte Vernunftgläubigkeit stellen möchte. Eines der stärksten Motive aller Aufklärungskritik dürfte jedenfalls religiöser oder doch quasi-religiöser Art sein. Menschen haben immer an die Existenz eines höheren Seins geglaubt und auf eine Beziehung dazu gehofft; das Sinnverlangen der Menschen hat ihre Alltagswelt immer transzendiert und ein höheres, nicht nur vernunftgegründetes Wissen gesucht. Und diese Heilshoffnungen haben immer wieder zu kurzschlüssigen Antworten auf weitreichende Fragen geführt, das Erlösungsbedürfnis hat immer wieder Illusionen aller Art produziert. Daher die manchmal geradezu reflexhafte Abwehr aller kritischen Aufklärung, nämlich ihres religionskritischen Potentials, ihrer Aberglaubenskritik, ihres Bemühens, absurde Sinnangebote oder Sinnversprechen zu untersuchen und bloßzustellen. Menschen können sehr aufklärungsresistent, d. h. auch sehr enttäuschungsresistent, sein. Aufklärungsversuche stoßen immer wieder auf Gegenaufklärung, oftmals nicht nur auf passiven Widerstand, sondern auch auf aktive, konkrete wie prinzipielle Gegenwehr. Allerdings ist die Abwehr der Aufklärung, falls sie nicht blind oder gar gewaltsam, sondern argumentativ erfolgt, im Grunde, wenn auch vielleicht unbewusst und unwillkürlich, selbst eine Art Aufklärungsversuch – wenn auch wahrscheinlich nicht mit dem Ziel, Vernunft und Freiheit zu verbreiten, d. h. sich wie die bekämpfte Aufklärung für das Selbstdenken und die Selbstbestimmung der Individuen zu engagieren, sondern eher mit dem Ziel, als selbstaufgeklärter Führer der Menschheit die anscheinend dummen Menschen paternalistisch zu regieren, gegebenenfalls aber auch mit dem Ziel, sie zu verdummen. Selbsternannte Glaubensführer und fremdgesteuerte Leichtgläubige gibt es jederzeit genug. Aber wenn Aufklärung nicht mit brutaler Gewalt verhindert wird, kann sie die Gegenaufklärung, sie sei argumentative Metakritik oder bloße Verunklarung, getrost auf dem Feld des Denkens erwarten, als einen der vielen Kombattanten im Streit um die erstrebte wahre Aufklärung.

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2.

Modernismus und Remythisierung

Mit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts beginnt die Moderne, ohne die Aufklärung wäre die Moderne nicht möglich geworden. Wie immer man diese Entwicklung deuten will, feststeht, dass sich im 18. Jahrhundert sowohl die alteuropäische Gesellschaftsordnung wie die damit verbundene Geisteshaltung aufzulösen beginnt. Die Entwicklung von Wissenschaft und Technik hat dann bekanntlich zu einer weltweiten Industriegesellschaft mit globalem Handel und globalen Informationen geführt, und die Aufklärung scheint zu dieser Entwicklung die passende, ja grundlegende Ideologie geliefert zu haben und immer noch zu liefern: das Ideal eines von Vorurteilen freien, selbstbestimmten Individuums als Träger dieser Leistungsgesellschaft (die sich allerdings auch als besinnungslose Spaßgesellschaft mit oberflächlicher oder scheinbarer Aufklärung formieren kann). Zwar war die Aufklärung des 18. Jahrhunderts nicht die einzige Ursache der Entwicklung einer modernen, kritisch-rationalen, tendenziell liberalen und toleranten Geisteshaltung, aber sie förderte zweifellos das schon im 17. Jahrhundert beginnende wissenschaftlich-technische Weltverständnis, so wie sie selbst durch die ersten Erfolge der modernen Naturwissenschaften positiv provoziert worden war. Wissenschaftliche Wirklichkeitserkenntnis und technische Weltgestaltung einerseits, Aufklärung oder geistige Aufgeschlossenheit andererseits sind zweifellos affin und oftmals miteinander verknüpft, wenn auch nicht notwendigerweise aneinander gekoppelt. Denn bei aller, heute schon fast globalen Modernität kann von einem neuen, jetzt globalen aufgeklärten Zeitalter bzw. Zeitalter der Aufklärung wohl kaum die Rede sein. Zweifellos sind in einigen Weltgegenden einige Arten von Vorurteilen, Aberglauben, Schwärmerei und Fanatismus so gut wie verschwunden, zweifellos gibt es zwischenzeitlich immer wieder Bemühungen um Vernunft. Insofern könnte man, sozusagen komplementär zum wissenschaftlich-technischen Fortschritt, einen gewissen Fortschritt des nüchternen Denkens in manchen Lebensbereichen konstatieren. Von einem globalen Sieg der Aufklärung kann jedoch keine Rede sein. Ein endgültiger Sieg der Aufklärung ist sogar grundsätzlich unmöglich, denn die Dunkelheit reproduziert sich allüberall und immer wieder. Alle Menschen werden unwissend und blind geboren, sie müssen erst zur Vernunft gebracht werden; die meisten Menschen werden überdies schon in ihrer Kindheit durch Fehlinformationen oder Desinformationen, Indoktrinationen sowie falsche Erziehung fehlgeleitet. Aufklärung hinkt immer hinterher. Außerdem erreicht die Aufklärung wahrscheinlich selten diejenigen, die ihrer am meisten bedürfen. Vor allem aber bleibt Aufklärung nie unangefochten. Es gibt immer noch und immer wieder die sogenannte Gegenaufklärung, und diese scheint vor allem religiös oder pseudoreligiös, oft aber auch politisch motiviert zu sein. Die punktuelle Konjunktur der Aufklärung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sah sich von Anfang an mit einer neuen, meist religiös motivierten Gegenaufklärung, mit einer Verachtung der Vernunft und einer Geringschätzung der Freiheit, kon-

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frontiert. Neben der rationalistischen Ernüchterung und emanzipatorischen Aufbruchsstimmung in einigen Ländern, ja sogar schon vor ihr, gab es auch im 20. Jahrhundert immer wieder emotionalistische, ja sogar fundamentalistische Erneuerungen der überlieferten, meist tendenziell paternalistischen Religionen. Alte und neue, meist nur erneuerte Mythen stellen sich nicht nur der Aufklärung, sondern dem Geist der Moderne überhaupt in den Weg, und dies nicht nur bei Modernisierungsverlierern; aus der Perspektive der Religion kann die moderne Welt anscheinend nur als gottlos und sündig erscheinen. Ganze Gesellschaften versuchen immer noch, sich gegen die Moderne und insbesondere gegen Aufklärung abzuschotten. Allerdings gab und gibt es nicht nur die totale Abwehr der Moderne, etwa aus Angst, sondern auch das schizophren anmutende Nebeneinander von archaischer Religion und wissenschaftlich-technischer Moderne, nicht nur in einzelnen Individuen, sondern in ganzen Gesellschaften, ja es gibt sogar die Instrumentalisierung der Moderne, z. B. ihrer Waffen, im Dienst alter Religionen. Offensichtlich existiert zu allen Zeiten, auch inmitten der modernen Welt und vor allem an ihren Rändern, ein sozusagen metaphysisches Sinnbedürfnis, ein ruheloses Bedürfnis nach einem Mehr als Wissenschaft und Technik, Wohlstand und Vergnügen, nach einem höheren, tieferen oder letzten Sinn. Der methodische Atheismus der modernen Wissenschaften hat die Sinnfrage grundsätzlich ausgeklammert und dahingestellt sein lassen, aber damit ist das Sinnproblem nicht aus der Welt oder vielmehr aus dem Leben verschwunden. Angesichts des unausdenklichen Leidens in aller Welt und vor dem Hintergrund des menschlichen Endlichkeitsbewusstseins bleibt das Bedürfnis nach einem Trost spendenden Sinn und Sein. Dieser unerschöpfliche Ursprung der Religion wird wohl nicht aufhören zu existieren. Da die Menschen, von den vermutlich wenigen wirklichen Atheisten einmal abgesehen, weltweit und seit Urzeiten religiös waren und es, trotz gewachsener religiöser Gleichgültigkeit in vielen Weltgegenden, in der einen oder anderen Form, immer noch sind, kann man mit gutem Grund vermuten, dass der Mensch, so wie er ein vernünftiges Lebewesen ist, auch von Natur aus eine Art religiöses oder metaphysisches Lebewesen ist. Aus seiner tiefgründenden, oftmals vielleicht sogar unbewussten Grundunzufriedenheit oder Heilsbedürftigkeit entstehen die vielen Versuche, Antworten auf die Sinn- oder Heilsfrage zu finden. Und die Versuchung, ja Verführung zu dem Glauben, sie gefunden zu haben, ist groß; das religiöse Wunschdenken lässt sich kaum zügeln. Hoffnungen und Ansprüche beflügeln die Einbildungskraft, es entstehen vielfältige Mythen und Mysterien, nicht selten völlig abwegige, absurde oder aberwitzige Vorstellungswelten, die jeder normalen Vernunft Hohn sprechen. Zwar mögen alle Glaubensformen darin verwandt sein, dass sie ein höheres Sein vermuten und suchen, in ihren konkreten Ausformungen sind sie oftmals grundverschieden, übertrumpfen sich mit ihren Vorstellungen und bekämpfen sich sogar. Die bunte Vielfalt der Religionen, die sich alle für die wahre Religion halten, muss die Vernunft misstrauisch machen. Ein der Absicht nach illusionsloses Denken wird immer wieder den Verdacht entwickeln, dass alle Religionen

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– zumindest auch – Aberglauben sind. Und es kann mit gutem Grund vermuten, dass die zahllosen Heilsversprechen leere Versprechen sind. Aufklärung ist daher immer wieder religionskritisch. Allerdings ist es etwas anderes, mysteriöse Sinnangebote zu kritisieren oder den Grund des Sinnverlangens zu leugnen. Aufklärung wird daher zwar nicht den Grund aller Religiosität bestreiten, aber sie wird versuchen, selbst den Versuchungen des religiösen Wunschdenkens zu widerstehen. Aufklärung ist auf vielen Gebieten, um nicht zu sagen, immer und überall nötig. Allerdings, auch wenn sie wesentlich Kritik ist, in gewisser Weise sogar missionarische Kritik, sollte sie sich ihrer Grenzen bewusst bleiben und nur behutsam agieren, nicht zuletzt deshalb, weil sie selbst gewisse Bedürfnisse, nämlich das Verlangen nach Heil oder Trost, vermutlich nicht befriedigen kann. Desillusionierung kann eine gefährliche Leere erzeugen. Wem ist welche Aufklärung zuzumuten, darf man jedem jeden noch so illusionären Halt nehmen? Muss man nicht ohnehin – letztlich – jedem seinen Glauben lassen? Es gehört zur selbstkritischen Aufklärung, nicht überall und jederzeit über alles aufklären zu wollen oder zu müssen, vielmehr harmlosen Glauben bzw. Aberglauben dulden zu können. Aufklärung ist nicht bedingungslos radikaler Rationalismus, sie ist tendenziell gründlich, aber nicht jederzeit rücksichtslos – im Grunde kann sie nur ein Angebot sein, man kann sie nicht erzwingen und sollte sie nicht aufdrängen.

IV. Aufklärung – eine alternativlose Hoffnung Das Grundübel, mit dem die Aufklärung zu kämpfen hat, ist das Vorurteil. Der bedrohlichste Hauptfeind, mit dem das nüchterne Denken konfrontiert ist, dürfte jedoch der Fanatismus sein, das aggressiv gewordene religiöse oder politische Vorurteil, die militante Wahnvorstellung. Der Fanatismus beruht, erkenntnistheoretisch bzw. erkenntnispraktisch betrachtet, auf einem Vorurteil, und zwar auf einer fixen Idee, einer eklatant abwegigen Vorstellung, konkreter betrachtet, auf einem starrsinnigen Aberglauben, und er ist auch eine Abart oder Folge einer umtriebigen Schwärmerei, also einer hochemotionalen vernunftfeindlichen Geisteshaltung. Vorurteile, Aberglauben und Schwärmerei können bereits gewisse fanatische Züge mit sich führen, aber Fanatismus ist als solcher auch eine eigene, sehr spezifische Geisteshaltung. Das Vorurteil wird im Fanatismus zur Obsession. Fanatiker sind Eiferer, nicht nur harmlose Spinner, sie sind radikal, extensiv wie intensiv, der radikale Inhalt ihrer Vorstellungen entspricht ihrer radikalen Geistesverfassung, und auch Minimalfanatiker, z. B. stille Fanatiker, sind noch hitzige Gläubige. Oft sind es Menschen, die versuchen, irgendeine eigene Frustration oder Leere zu überwinden oder zu verdrängen, die versuchen, ihren eigenen verborgenen, nicht selten verhehlten Nihilismus mit Hilfe einer radikalen Ideologie zu erklären und zu überwinden. Die persönliche, problematische, nicht selten halt- und heillose Situation oder Labilität des Ich wird durch den Gewinn eines höchsten, alles erklärenden und alles absolut rettenden, fun-

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damentalen Prinzips ruhig gestellt. Fanatiker verlangen daher immer wieder nach einer totalen und sofortigen Lösung ihrer Probleme, gegebenenfalls durch Märtyrertod. Vor allem Weltanschauungen, die in der Politik und mehr noch in der Religion auf radikale Weltveränderung ausgerichtet sind, ziehen sinn- oder heilsbedürftige, meist zugleich ehrgeizige und engstirnige Menschen an (von den vielen Ersatzreligionen und dem Fanatismuspotential ihrer Vertreter einmal ganz abgesehen). Diese sind dann nicht selten zugleich politisch und religiös radikal und daher oft weder wirklich politisch noch wirklich religiös, sondern auf religiöse Weise politisch oder politisch religiös. Allerdings, wenn Religion politisiert und Politik religiös, z. B. heilsgeschichtlich, verstanden wird, werden letztlich beide depraviert. Die Affinität zwischen religiösem und politischem Fanatismus erklärt sich aus dem tendenziellen Fundamentalismus oder Absolutismus beider. Wer fanatisch ist, denkt nicht nur irgendwie kurzschlüssig, so wie jeder, der irgendeinem Vorurteil erliegt. Der Fanatiker glaubt, im Besitz einer absoluten Wahrheit zu sein; er ist der existenzisolierenden Versuchung erlegen, in einer besonderen Beziehung zur Wahrheit, zu Gott oder irgendeinem letztgültigen Prinzip zu stehen. Fanatiker halten sich für Erleuchtete und sind Besessene, und weil sie sich, außer vielleicht von Gesinnungsgenossen, grundsätzlich unverstanden fühlen, sind sie nicht dialogfähig; Fanatiker sind besonders aufklärungsresistent, für Argumente nicht aufnahmebereit; dass ihre Weltanschauung bekannten Fakten oder normaler Logik widerspricht, können und wollen sie nicht sehen, sie sind selbstverblendet, realitätsresistent und denkunwillig. Weil sie nicht nur borniert sind, wie im Grunde alle Menschen, sondern geradezu blind und blindwütig, sind sie gemeingefährlich. Sie sind potentiell oder vielmehr prinzipiell gewalttätig, zunächst geistig, auch gegen sich selbst, dann aber nicht selten auch physisch, gegebenenfalls sogar gegen verdächtige Mitglieder der eigenen Heilsgemeinschaft. Sie können die Existenz Andersgläubiger, durch die sie sich immer wieder in Frage gestellt fühlen, nicht aushalten. Sie glauben, das absolut Gute, dem alles andere als das absolut Böse gegenübersteht, zu kennen, und können daher versuchen, als rücksichtslose Gesinnungstäter Tugend durch Terror zu verbreiten. Wer im Namen des Absoluten, als dessen Instrument oder Organ, handelt, dem können alle Mittel recht sein, um das Böse zu vernichten. Und diese nicht selten rauschhafte Neigung zur terroristischen Durchsetzung der eigenen Wahrheit ist wegen der Verwundbarkeit der modernen Zivilisation gefährlicher denn je, denn die Zahl der gestressten, desorientierten, geistig verwirrten oder sogar seelisch kranken Menschen, nimmt offenbar zu. Und eine Handvoll entschlossener Fanatiker kann einen globalen Religionskrieg anzetteln und die Welt in Brand setzen. Gegen das irrationale Gewaltpotential des Fanatismus scheint nur kluge Gegengewalt zu helfen, präventive und operative Maßnahmen können und müssen gezielt dem Terror entgegenwirken. Physische Aktionen können allerdings nur die Symptome oder Auswüchse des Fanatismus bekämpfen, mit Gewalt allein

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Vernunft und Versuchung. Über Aufklärung und ihre Alternativen

lässt sich das Grundübel des gewaltbereiten Fundamentalismus nicht ausrotten, diese immer wiederkehrende und anscheinend sogar ansteckende Krankheit kaum entscheidend begrenzen. Bleibt also nur, zumindest komplementär, der Weg der Aufklärung, der rationalen Argumentation, der geistigen Konfrontation. Zwar sind Lebenslügen und Neurosenwahlen kaum zu korrigieren, aber auch Fanatiker, Wirrköpfe und gewaltbereite Verzweifelte, müssen nicht absolut erfahrungs- und besinnungsunfähig sein. Vielleicht kommt doch einmal irgendwo irgendetwas an. Auch wenn Aufklärung manchmal aussichtslos zu sein scheint, es ist nicht ausgeschlossen, dass Menschen zur Vernunft kommen können. Aufklärung ist, weil alternativlos, unverzichtbar.

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In memoriam Wolfgang Wieland

I Es war ein einzigartiger symbolischer Akt der Selbstbehauptung, als ein bedeutender deutscher Philosoph jüdischer Herkunft ein Jahr vor dem nationalsozialistischen Aufbruch in die deutsche Katastrophe die Öffentlichkeit durch die Publikation seines Buchs Die Philosophie der Aufklärung1 daran erinnerte, daß sie Aufklärung jederzeit dringend nötig hat und doch gerade in der konkreten geschichtlichen Situation am meisten vermissen ließ. Die damals schon einhundertfünfzig Jahre alte Zuversicht Kants, daß »ein Publicum sich selbst aufkläre, … wenn man ihm nur Freiheit läßt«,2 hatte getrogen. Wohl war Kant von Grund auf skeptisch genug gewesen, in Rechnung zu stellen, daß auch »… ein Publicum nur langsam zur Aufklärung gelangen [kann]«.3 Doch daß ein Publikum auch dann, wenn man ihm diese Freiheit gelassen hat, einem Regime »von persönlichem Despotism und gewinnsüchtiger und herrschsüchtiger Unterdrückung«4 freiwillig zur Macht verhelfen würde, hatte weit jenseits seines realgeschichtlichen Erwartungshorizonts gelegen. Indessen hatte Cassirer mit Blick auf das Ganze der überlieferten Philosophie der Aufklärung unter Rückgriff auf eine Formulierung im Ersten Teil von Goethes Faust eingeräumt, daß die Aufklärung »… zu jenen Gedanken-Webermeisterstückchen gehört, ›wo Ein Tritt tausend Fäden regt, Die Schifflein herüber, hinüber schießen, Die Fäden ungesehen fließen‹«.5 Im Rückblick auf das nur äußerst schwer faßbare »Ganze dieser hin und hergehenden, dieser unablässigfluktuierenden Bewegung«6 namens Aufklärung hat man zwar versucht, ihm durch die Taufe auf den alt-griechischen Namen der Dialektik einen philoso1 Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen (1932), Hamburg 1998. 2 Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: was ist Aufklärung? (1784), in: Kant!s gesammelte Werke (sog. Akademie-Ausgabe = Ak.), Bd. VIII, S. 36. 3 Ebd. 4 Ebd. 5 Cassirer, Aufklärung, S. XIII. 6 Ebd.

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Die Dialektik der Aufklärung. Ihre logische, kognitive und geschichtliche Form

phischen Nimbus zu verleihen.7 Doch zur Klärung einer nachvollziehbaren, also methodisch kontrollierbaren Form dieser Dialektik hat dieser Nimbus bisher nicht verholfen und daher ebenso wenig zu einer Möglichkeit, konkrete Fälle einer entsprechenden ›dialektischen Bewegung‹ treffend zu diagnostizieren und trennscharf zu analysieren. Der lange und dunkle Schatten, den, wie man im 18. Jahrhundert gelegentlich ironisch sagte, die ›tumultuarische Methode‹ von Horkheimers und Adornos legendär gewordenen Reflexionen geworfen hat,8 verdunkelt bis heute fast alles, was unter dem Namen der Dialektik und insbesondere der Dialektik der Aufklärung zur Sprache gebracht wird. Die Rede von der Dialektik ist seither nicht nur im öffentlichen Diskurs weitgehend zu einer vagen und daher auch beliebig instrumentalisierbaren rhetorischen Phrase sowohl der Selbststilisierung wie der Polemik geworden. Dennoch lassen sich bei genauerem Hinsehen einige von den charakteristischen Komponenten sichtbar machen, die die Aufklärung zu einer zwar komplexen, aber gleichwohl klar durchschaubaren Angelegenheit einer bestimmten Form von Dialektik stempeln. Wenigstens die ganz zentralen Klassiker der Philosophie – Platon, Aristoteles und Kant, aber teilweise auch Hegel – haben Muster einer Dialektik vor Augen geführt, wie sie nur möglich ist, wenn man an ihr vor allem eine entsprechend befähigte kognitive Instanz beteiligt sein läßt – wenn es sich bei der Dialektik also um eine Form der um Einsicht und Erkenntnis bemühten, klar durchschaubaren Anstrengungen handelt.

II Die Bemühungen um die Aufklärung haben allerdings, wenn man einmal von Platons-Sonnensymbolik für die Orientierung an der Idee des Guten absieht, bekanntlich erst spät zu einem wohlartikulierten Bewußtsein ihrer selbst geführt. In seiner Geburtsphase während des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts hat sich dies Selbstbewußtsein nicht nur den seither konventionell gewordenen Namen zu geben gewußt. Es hat auch die lange verborgen gebliebene Leitfrage »Was ist Aufklärung?«9 zu formulieren gewußt. Kants berühmte Antwort10 überstrahlt 7 Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947. 8 Vgl. hierzu vom Verf., Dialektik der Aufklärung? Revisionen diesseits und jenseits des Bannkreises eines Buchs, in: Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte, Band 23, Jg. 2012, S. 385– 424. 9 Zur erstmaligen Formulierung der Leitfrage vgl. Johann Friedrich Zöllner, »Ist es ratsam, das Ehebündnis nicht ferner durch die Religion zu sancieren?« (1783), wieder abgedr. in: Was ist Aufklärung? (Hg. N. Hinske) (1973), Darmstadt 41990, S. 107–116, hier: S. 115*.

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zwar zu Unrecht Mendelssohns gleichzeitige subtil durchdachte Antwort mit Kriterien des Wissenswerten.11 Doch vor allem haben die inzwischen inflationär gebrauchten Aufklärungsformeln Kants längst die Diagnosen in Vergessenheit geraten lassen, durch die er nicht nur die kognitive Instanz beim Namen genannt hat, von der die Fruchtbarkeit der Bemühungen um Aufklärung abhängt. Durch diese Diagnosen hat er insbesondere die strukturelle Geschichtlichkeit der Aufklärung ins Bewußtsein gehoben, indem er den wichtigsten kognitiven Fortschritt seines Jahrhunderts »der gereiften12 Urteilskraft … des Zeitalters«13 zuschreibt. Es ist diese geschichtlich gereifte, aber noch längst nicht vollkommene Urteilskraft, der es zu danken ist, daß »… wir jetzt in einem … Zeitalter der Aufklärung [leben]«, wenngleich noch nicht »in einem aufgeklärten Zeitalter« – denn »daran fehlt noch viel«.14 Doch ganz unabhängig vom jeweils erreichten geschichtlichen Niveau kann dies Niveau bei jedem Menschen nur »in dem, was ihm zu wissen obliegt, die Aufklärung«15 ausmachen. Die Aufklärung ist daher nicht nur vor allem auf die kognitive Instanz namens Urteilskraft angewiesen. Darüber hinaus obliegt es den Menschen in jeder neuen geschichtlichen Situation sogar immer wieder von neuem, mit Hilfe eben dieser mehr oder weniger gereiften kognitiven Instanz das jeweilige kognitive Desiderat des ihm obliegenden Wissens zu beurteilen. Dies ist indessen nicht nur eine Aufgabe der an geschichtsinvarianten Bedingungen orientierten Vernunft, auch nicht der Vernunft »in ihrem praktischen Gebrauche«.16 Denn auch die Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch ist auf »eine durch Erfahrung geschärfte Urteilskraft«17 angewiesen. Der Grad der Aufklärung hängt vom Grad der durch Erfahrung geschichtlich geschärften Reife der Urteilskraft ab. Indessen ruft noch 1876 Friedrich Nietzsche hilfesuchend aus: »Aber wo fände sich ein Mittel, Urtheilskraft zu pflanzen!«.18 Mit Blick auf die universell werdende Rolle der Wissenschaft fragt knapp fünfzig Jahre später Max Weber: »Welches ist der Beruf der Wissenschaft innerhalb des Gesamtlebens der 10 Kant, Aufklärung, S. 35. 11 Vgl. Moses Mendelssohn, »Über die Frage: was heißt aufklären?«, in: ders., Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, Stuttgart, Bad Canstatt 1971 ff., Bd. 6, 1, S. 113– 19, hier: S. 117; vgl. hierzu vom Verf.: Bedingungen der Aufklärung. Philosophische Untersuchungen zu einer Aufgabe der Urteilskraft, Weilerswist 2008, bes. S. 624–28. 12 Hervorhebung R.E. 13 Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781, 1787), Hamburg 1956, A XI. 14 Kant, Aufklärung, S. 40. 15 S. 39, Hervorhebung R.E. 16 KrV, A 809, B 837. 17 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Ak. IV, S. 389. 18 Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: ders., Werke. Kritische Gesamtausgabe. Dritte Abtlg. Erster Band, Berlin/New York, 1972, S. 283.

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Menschheit? Welches ihr Wert?«19 sowie was ist »… wichtig im Sinn von »wissenswert«?«20, und diagnostiziert: »Da stecken nun offenbar alle unsere Probleme darin«.21 Schließlich verwendet er mit Hilfe des Ausrufs aus dem Wächterlied der Jesaja-Orakel ein dramatisches Gegenbild zum Bild von der lichten Tageshelle der Aufklärung: »Wächter, wie lange noch Nacht?«22 Die Reifung der Urteilskraft für eine angemessene Beantwortung dieser Fragen scheint mindestens einhundertfünfzig Jahre lang verzögert gewesen zu sein. Sogar ein halbes Jahrhundert nach Webers Wiederholung dieser Problemstellung waren die Fragen nach dem, was den Menschen ›zu wissen obliegt‹, also nach dem Wissenswerten und insbesondere nach dem Beitrag der Wissenschaften zum Wissenswerten nicht nur nach wie vor offen und aktuell.23 Gewachsen ist diesen Fragen nur eine »Dialektik …, eine planmäßig geführte Reflexion darauf, wie mit der Wissenschaft und ihren Ergebnissen umzugehen sei«.24 Doch Kant hat am Ende seiner jahrzehntelangen erkenntnistheoretischen Auseinandersetzungen mit der Frage, »was denn dasjenige für eine geheime Kraft sei, wodurch das Urteilen möglich wird«,25 zu Antworten gefunden, deren aphoristische Zuspitzung auf die zentralen Aufklärungs-Funktionen der Urteilskraft aufmerksam machen: »Worauf kommt!s an? (fragt die) Urteilskraft«26, »Sie weiß … den springenden Punkt zu treffen (denn er ist nur ein einziger), worauf es ankommt«.27 Sie ist »ein besonderes Talent …, vorläufig zu urteilen …, wo die Wahrheit wohl möchte zu finden sein«.28 In der Dialektik, die Kant in aller disziplinären Förmlichkeit präsentiert, übt die Urteilskraft diese Funktionen aus. Die formale Struktur, durch die diese Dialektik gleichsam auf dem Sprung ist, ein generalisierbares methodisches und diagnostisches Muster zu zeigen, hat Kant im ersten Anlauf und in aller methodischen Strenge im Rahmen der Transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft erprobt. Die Beispiele für die 19 Max Weber, Wissenschaft als Beruf, in: ders., Gesamtausgabe, i. A. d. Kommission für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Hg. H. Baier et al., Tübingen 1984 ff., Bd 17 (Hg. W. J. Mommsen u. W. Schluchter), Tübingen 1992, S. 88. 20 S. 93. 21 Ebd. 22 S. 111. 23 Vgl. Wolfgang Wieland, Möglichkeiten der Wissenschaftstheorie, in: Hermeneutik und Dialektik. Festschrift für H.-G- Gadamer zum 70. Geburtstag (Hrsg. R.Bubner, C Kramer, R. Wiehl), Bd. I, Tübingen 1970, S. 31–56. 24 S. 53. 25 Kant, Über die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren, Ak. II, S. 60; vgl. hierzu vom Verf., Bedingungen der Aufklärung. Philosophische Untersuchungen zu einer Aufgabe der Urteilskraft, Weilerswist 2008, bes. S. 523–557. 26 Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Ak. VII, S. 228. 27 Ebd. 28 S. 223, Hervorhebung R.E.

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Fehlleistungen der Urteilskraft, die Kant hier erörtert, hängen zwar von tief in ihrem kognitiven Haushalt verborgenen Strukturen ab. Doch auch mit Blick auf solche Fehlleistungen der Urteilskraft gilt, daß »… Wahrheit sowohl als Irrtum, mithin auch der Schein, als die Verleitung zum letzteren, nur im Urteile … anzutreffen [sind]«.29 Er analysiert die gemeinsame Struktur dieser Fehlleistungen am Beispiel von vier paarweise einander ausschließenden Urteilen über die Weltim-ganzen. Besonders musterhaft und suggestiv sind die Beispiele von zwei einander ausschließenden Urteilen über die zeitliche Anfänglichkeit bzw. Unanfänglichkeit sowie über die räumliche Endlichkeit bzw. Unendlichkeit der Weltim-ganzen: 1. »Die Welt hat einen Anfang in der Zeit, und ist dem Raum nach auch in Grenzen eingeschlossen«30 bzw. 1.1. »Die Welt hat keinen Anfang, und keine Grenzen im Raume, sondern ist, sowohl in Ansehung der Zeit, als des Raumes, unendlich«.31 In Form einer ausschließenden Alternative sieht dieser ›Widerstreit‹ also so aus: ›Entweder hat die Welt einen Anfang in der Zeit, und ist dem Raum nach auch in Grenzen eingeschlossen, oder die Welt hat keinen Anfang, und keine Grenzen im Raume, sondern ist, sowohl in Ansehung der Zeit, als des Raumes, unendlich.‹ Der Widerstreit zwischen allen solchen Urteilen über die Welt-im-ganzen »entdeckt …, daß in der Voraussetzung eine Falschheit steckt«.32 Im Licht seiner im konstruktiven Teil der Kritik der reinen Vernunft formulierten Theorie der Erfahrung machen solche Urteile von einer gemeinsamen ›Falschheit, die in ihren Voraussetzungen steckt‹, Gebrauch, von der unerfüllten Voraussetzung, daß die Welt-im-ganzen ein Gegenstand möglicher Erfahrung sei.33 Es ist die von Kant im Horizont seiner transzendentalen Theorie der Erfahrung entdeckte und analysierte Struktur der Fälle, in denen Produkte der Urteilskraft von unerfüllten Voraussetzungen Gebrauch machen, wodurch ein Licht auch auf methodisch kontrollierbare Formen der Dialektik der Aufklärung fallen kann. An sich bildet die Konzeption der unerfüllten Voraussetzungen von alternativen Urteilen über denselben Bezugsgegenstand schon seit längerem einen festen Bestandteil der modernen Logik.34 Zu den traditionellen Lehrbuch-Beispielen 29 A 293, B 350. 30 KrV, A 426, B 454. 31 A 427, B 455. 32 A 507, B 535, Hervorhebung R.E. 33 Die treffliche Formel von gemeinsamen unerfüllten Voraussetzungen zur Charakterisierung ›einer Falschheit in der Voraussetzung‹ hat Günther Patzig, Art. Widerspruch, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe (Hg. Hermann Krings, Hans Michael Baumgartner und Christoph Wild), Band 6, München 1973, S. 1694–1702, bes. S. 1697 f., in die Behandlung dieses Problems eingeführt. 34 Vgl. Peter F. Strawson, Introduction to Logical Theory (1952), London 1971, bes. S. 174–177. Strawson macht die wichtige Einschränkung, daß gemeinsame unerfüllte Voraussetzungen (presuppositions) nur bei assertorisch gebrauchten positiven und negativen Sätzen, also bei Behauptungen (statements) über denselben Bezugsgegenstand ins

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gehört die Alternative: Entweder ist der gegenwärtige König von Frankreich kahlköpfig oder er hat mehr oder weniger volles Haupthaar – mit der unerfüllten Voraussetzung, daß Frankreich gegenwärtig einen König zum Staatsoberhaupt hat. Die von Kant analysierte Dialektik hat die komplexe Form eines Wechselspiels, an dem logische, kognitive und geschichtliche Formen beteiligt sind: Die logischen Formen zeigen sich durch Urteile, die gemeinsam von unerfüllten Voraussetzungen Gebrauch machen, sowie durch Urteile, die stattdessen von erfüllten Voraussetzungen Gebrauch machen; die kognitiven Formen zeigen sich durch Einsichten, die die unerfüllten Voraussetzungen durchschauen, revidieren und korrigieren sowie von den stattdessen erfüllten Voraussetzungen Gebrauch machen; ihre geschichtlichen Formen zeigen sich in der nachträglichen Überwindung von früher und mehr oder weniger lange gehegten Urteilen mit unerfüllten Voraussetzungen. Der komplexe theoretische, spezifisch transzendentale Rahmen, in dem Kant dem von ihm diagnostizierten dialektischen Typus eines Wechselspiels von kognitiven Fehlleistungen und Selbstkorrekturen der Urteilskraft auf die Spur gekommen ist, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß dieser Typus nicht im mindesten an diesen transzendentalen Rahmen gebunden ist. Mit gutem Grund hat Kant selbst seine Konzeption dieses Wechselspiels der Urteilskraft für die Analyse nicht-transzendentaler Fälle geöffnet, in denen es »selbst der gemeinen Vernunft« widerfährt, »welche mehrmalen in den Fall gerät, sich mit sich selbst zu entzweien.«35 Die Umstände haben es gefügt, daß Kant einen solchen Fall ausgerechnet am Beispiel des klassischen Symbols der Aufklärung exemplifiziert.36 Denn es ist die Sonne, deren kinematisches Verhältnis zur Erde beständig mehr oder weniger stillschweigend zur Diskussion steht, wenn es um die Frage der zutreffenden Beschreibung der Bewegungsformen von anderen sichtbaren Himmelskörpern geht. Die fast schon legendären vor-kopernikanischen Komplizierungen einer angemessenen Venus-Kinematik bildeten bekanntlich einen provozierenden Grenzfall und daher in gewisser Weise den beständigen Testfall für die Richtigkeit einer Antwort auf diese Frage. Bevor die heliozentrische Hypothese unter Rückgriff auf alle verfügbaren Beschreibungen, Berechnungen und hypothetischen Erklärungen von Bewegungsformen sichtbarer Himmelskörper allen Ernstes in den Mittelpunkt der kinematischen Erklärungshypothesen gerückt wurde, war daher, streng genommen, sowohl jede positive wie jede Gewicht fallen, aber nicht bei gebrauchs-neutralen Sätzen (sentences). In Kants Theorie sind Urteile niemals gebrauchs-neutral, weil ein Urteil gemäß der »genau bestimmten Definition eines Urteils überhaupt … eine Handlung [ist]« (Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Ak. IV, S. 475*, Hervorhebung R.E.), die stets in irgendeinem Modus, normalerweise im assertorischen Modus, also behauptend vollzogen wird. 35 A 461, B 489, Hervorhebung R.E. 36 Vgl. B XVI ff.

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negative kinematische Beurteilung eines Himmelskörpers weder kohärent akzeptabel noch kohärent verwerfbar, weil sie gemeinsam von der unerfüllten Voraussetzung Gebrauch machten, daß die Sonne sich um die Erde bewege. Solange die ›gemeine Vernunft‹ der Experten von dieser unerfüllten empirischen Voraussetzung Gebrauch machte, hatte ihre Urteilskraft den Grad methodischer Reife noch nicht erlangt, der sie in die Lage versetzt hätte, im wissenschaftsgeschichtlich unaufhörlich wachsenden Komplex der verfügbaren empirischen, meßtechnischen, rechnerischen und theoretischen Elemente den ›springenden Punkt (denn er ist nur ein einziger) zu treffen‹ (Kant) – also die unerfüllte Voraussetzung der Geozentrik zu durchschauen und zu verwerfen und durch die erfüllte Voraussetzung der Heliozentrik zu korrigieren und zu ersetzen. Z. B. mit Blick auf die vergleichsweise raffinierte geozentrische Theorie des Eudoxos kann man eine entsprechende Alternative mit unerfüllter Voraussetzung so formulieren: Entweder bewegt sich Venus auf ihrem Epizykel um eine Kristallkugel, die ihrerseits auf der Deferenten-Bahn direkt um die Erde kreist, oder Venus bewegt sich selbst auf der Deferenten-Bahn direkt um die Erde. Die gemeinsame unerfüllte Voraussetzung ist, daß Venus sich um die Erde bewegt. Es liegt auf der Hand, daß die Wissenschaftsgeschichte bis in die Gegenwart eine Mehrzahl von Fällen bietet, in denen ein Fortschritt dieselbe geschichtliche, kognitive und logische Struktur der Überwindung einer mehr oder weniger lange gehegten unerfüllten Voraussetzung der Forschung durch eine erstmals durchschaute erfüllte Voraussetzung der weiteren Forschung zeigt. In dem Maß, in dem dies der Fall ist, ist die Wissenschaftsgeschichte von einer Dialektik der wissenschaftlichen Urteilskraft geprägt. In der jüngeren Wissenschaftsgeschichte hat sich diese Struktur 1938 bedeutsamerweise gerade mit der die Menschheitsgeschichte so tief und weit verändernden Entdeckung der Kernspaltung durch die Kernchemiker Otto Hahn und Fritz Straßmann gezeigt.37 Die Frage, ob Atome spaltbar seien oder nicht, war von Kernphysikern weder ernsthaft erörtert noch experimentell geprüft worden, weil sie die unerfüllte Voraussetzung hegten, daß die Bindungsenergien innerhalb der Atome zu groß seien, als daß sie durch Kräfte von außen überwunden werden könnten. Diese unerfüllte kernphysikalische Voraussetzung lag offensichtlich einer irrigen Alternative zugrunde: Entweder sind Atome resistent gegen natürliche Kernspaltungen oder sie sind resistent gegen experimentelle Kernspaltungen.38 Erst die unintendierten, aber umgehend

37 Vgl. hierzu Fritz Krafft, Im Schatten der Sensation, Weinheim/Florida/Basel 1981, bes. S. 74–112. 38 1972 konnten französische Physiker an Hand von Erz aus den mittlerweile stillgelegten Uranminen Oklo und Mounana im afrikanischen Staat Gabun ermitteln, daß sich in dem dortigen Uranvorkommen vor rund zwei Milliarden Jahren auf natürliche Weise eine Kettenreaktion in Gang gesetzt und einen natürlichen Kernreaktor gebildet hatte; vgl. hierzu F. Gauthier-Lafaye, 2 billion year old natural analogs for nuclear waste

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auch von anderen Chemikern und von Physikern reproduzierten chemo-experimentellen Spaltungs-Befunde von Hahn und Straßmann 1938 sowie Lise Meitners und Otto Frischs 1939 wenige Wochen spätere physikalische Erklärung der experimentell schon entdeckten Tatsache der Kernspaltung konnten zeigen, daß eine in allem Ernst am Tröpfchen-Modell des Atoms orientierte Auffassung die Möglichkeit der Atom-Spaltung schon länger hätte mit guten Gründen realistischerweise ins Auge fassen lassen können.39

III Indessen sollte es zu denken geben, daß die wichtigste Aufgabe, die der wissenschaftlichen Forschung in Abhängigkeit von der Entdeckung mehr oder weniger verborgener Tatsachen gestellt ist, gerade in der deutschen Sprache in demselben metaphorischen Komplex verortet wird wie die Aufklärung – in den Klarheit, Licht und gleichsam Sonne unter die Tatsachen bringenden Erklärungen von Tatsachen. Der szientistische Aufklärungs-Enthusiasmus, der im 18. Jahrhundert in der von d!Alembert und Diderot organisierten Encyclop&die ou Dictionaire Raisonn& des Sciences, des Arts et des M&tiers sein bedeutsamstes Denkmal gefunden hat, wird vor allem von der Ausstrahlung getragen, die von den immer rascher sich mehrenden weitreichenden Erklärungsleistungen ausgehen, die mit Symbolgestalten wie Kepler, Kopernikus, Galilei und Newton ihre spektakulären Anfänge genommen haben. Bis in unsere Gegenwart hat diese Ausstrahlung durch eine geradezu exponentielle Vermehrung von Erklärungen durch fundamentale wissenschaftliche Entdeckungen dazu geführt, daß diese Form des wissenschaftlichen Fortschritts weithin als das neuzeitliche Kennzeichen der Aufklärung interpretiert wird. Man wird, wenn es um die Aufgabe, die Struktur und die Früchte einer so bedeutsamen geschichtlichen Bewegung wie die der Aufklärung geht, nicht ernsthaft um Worte streiten wollen. Umso wichtiger ist es, auf die wohl bedeutendsten Zeugnisse zu achten, die schon mitten im legendären Jahrhundert der Aufklärung eine Dialektik der Aufklärung anzeigen, in der die szientistische Aufklärungskonzeption befangen ist. Umso bedeutsamer ist es daher, daß das bedeutendste Zeugnis dieser Konzeption deren zentrale unerfüllte Voraussetzung gerade unter Aspekten der Praktischen Philosophie einhandelt. Diese unerfüllte Voraussetzung zeichnet sich am klarsten in dem von Diderot formulierten disposal. The natural nuclear fission reactors in Gabon (Africa), in: C. R. Physique 3, Nr. 7, S. 839–849 (2002). 39 Vgl. hierzu Niels Bohrs vielsagende Reaktion im Januar 1939 auf Frischs entsprechende Mitteilung: »Ach, was für Idioten wir doch alle waren. Ach, das ist ja wunderbar! Genauso muß es sein«, zitiert bei Patricia Rife, Lise Meitner. Ein Leben für die Wissenschaft (amerik. 1990), Hamburg 1992, S. 264.

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Programm einer Aufklärung durch Wissenschaft ab. Diese Form der Aufklärung sollte durch zwei Faktoren gefördert werden: Durch Vermehrung der Entdekkungen der Wissenschaft40 und dadurch, daß diese Entdeckungen (im Stil einer Enzyklopädie) gesammelt und geordnet werden41. Beide Faktoren, so argumentiert Diderot, dienen dem Ziel, daß viel mehr Menschen aufgeklärt seien.42 Diese Zielsetzung könne man indessen nur vertreten, indem man die absolute Nützlichkeit der Wissenschaften als eine Gegebenheit annimmt.43 Damit ist das klassische Konzept der Aufklärung durch Wissenschaft mit einer unerfüllten Voraussetzung verbunden. Auf diese unerfüllte Voraussetzung hat Kant nur ein Jahrzehnt nach der Propagierung dieser Form von Aufklärung aufmerksam gemacht, indem er eine sich abzeichnende kognitive Folgelast gerade des Fortschritts der wissenschaftlichen Forschung durch Entdeckungen in den Blick nimmt: »Die wissenswürdigen Dinge häufen sich zu unseren Zeiten. Bald wird unsere Fähigkeit zu schwach und unsere Lebenszeit zu kurz sein, nur den nützlichsten Teil daraus zu fassen«.44 Damit ist bereits, wenngleich implizit und in der knappsten möglichen Form, der springende Punkt getroffen, in dem sich die unerfüllte Voraussetzung des szientistischen Aufklärungsmodells unter Aspekten der Praxis zeigt: Die Nützlichkeit einer wissenschaftlichen Entdeckung ist nicht eine ihrer internen, gleichsam gratis und ›absolut‹, also unbedingt mitgelieferten Komponenten. Sie ist vielmehr ein externer und bedingter sowie der externen Beurteilung bedürftiger und fähiger praktischer Charakter. Dieser praktische Charakter kann ihr nur unter der Bedingung attestiert werden, daß ihr möglicher Gebrauch mit Blick auf spezifische Umstände eines bestimmten Situationstyps des alltäglichen praktischen Lebens als ein nützlicher praktischer Gebrauch beurteilt, ›gefaßt‹ werden kann. Dieser praktische Charakter führt im Licht einer solchen externen Beurteilung mehr oder weniger wahrscheinlich zu einem wohlverstandenen Nutzen und ebenso wahrscheinlich zu keinem erkennbaren Nachteil oder gar Schaden der unter den Umständen dieser Situation lebenden Menschen, wenn man von der jeweils thematischen Entdeckung einen entsprechenden praktischen Gebrauch macht. Diese funktionale Nützlichkeit wissenschaftlicher Entdeckungen hat einen ausschließlich kognitiven Ursprung in den praktischen Einschätzungen, durch die die Urteilskraft ihrem möglichen praktischen Gebrauch eine solche bedingte, also nicht-absolute Nützlichkeit attestiert. Die von Diderot so prominent behauptete absolute Nützlichkeit wissenschaftlicher Entdeckungen bildet daher aus einem einfachen formalen Grund 40 »l!un d!augmenter la masse des Connaissances par des d'scouvertes«, Encyclop'die, Art. Encyclop'die, S. 637. 41 »l!autre de rapprocher les descouvertes et de les ordonner entre elles«, ebd. 42 »$ fin que beaucoup plus d!hommes soient 'clair's«, ebd. 43 »En prenant l!utilit' absolue des sciences pour une donn'e«, Encyclop'die, Art. Chymie, S. 451, Hervorhebung R.E. 44 Kant, Die Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren, in: Ak. II, S. 57.

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den Kern einer Dialektik der praktischen Aufklärung durch Wissenschaft: Die alternativen Urteile, daß entweder alleine die absolute Nützlichkeit der Wissenschaft die Aufklärung fördere oder daß nicht alleine die absolute Nützlichkeit der Wissenschaft die Aufklärung fördere, machen von der unerfüllten Voraussetzung Gebrauch, daß die Wissenschaft absolut nützlich sei. Der Gebrauch dieser unerfüllten Voraussetzung ist das charakteristische Indiz einer im szientistischen Nützlichkeitsoptimismus befangenen Urteilskraft. Ihre Überwindung ist eine Angelegenheit der Einsicht, in deren Licht eine durch Erfahrung geschärfte und geschichtlich gereifte Urteilskraft die bloß funktionale Nützlichkeit durchschaut, die wissenschaftlichen Erkenntnissen durch externe Beurteilungen der Formen ihrer praktischen Brauchbarkeit zufällt. Diese funktionale Nützlichkeit wissenschaftlicher Entdeckungen läßt die apraktische Grundstruktur wissenschaftlicher Erkenntnisse, ihre traditionell so apostrophierte Reinheit zwar unangetastet. Dennoch braucht sie selbstverständlich nicht übersehen zu lassen, daß sich die funktionale Nützlichkeit der Wissenschaft für alle Lebensbedingungen der Menschen inzwischen in so überreichem Maß erwiesen hat, daß es geradezu unmoralisch wäre, diese praktische Fruchtbarkeit nicht auch durch die Wissenschaftspolitik so kraftvoll wie möglich und nützlich zu fördern. Spätestens seit den Anfängen der naturwissenschaftlichen Fundierung der Klinischen Medizin im 19. Jahrhundert, speziell der klinischen Fundierung der ärztlichen medikamentösen Therapeutik im 20. Jahrhundert und der revolutionären ingenieurswissenschaftlich fundierten Erleichterung der allgemeinen Lebensbedingungen schon seit der Mitte des 18. Jahrhunderts45 ist die funktionale Nützlichkeit der Wissenschaft zu einer weltweiten Evidenz geworden. Die vielzitierte praktische Ambivalenz der Wissenschaft macht lediglich auf die Kehrseite ihrer funktionalen Nützlichkeit aufmerksam – auf ihre funktionale Schädlichkeit. Denn so wie die Nützlichkeit einer wissenschaftlichen Erkenntnis ausschließlich eine Funktion der zutreffenden praktischen Beurteilung der wahrscheinlichen Konsequenzen ihres in der Praxis möglichen Gebrauchs bildet, bildet ihre Schädlichkeit ausschließlich eine Funktion der irrigen Beurteilung ihrer wahrscheinlichen Konsequenzen ihres in der Praxis möglichen Gebrauchs.

IV Die zentrale Rolle ist unübersehbar, in der Autoren wie Diderot und Kant die praktische Orientierung der Aufklärung zum ersten Mal unter dem inzwischen konventionell gewordenen Namen der Aufklärung zur Sprache gebracht haben. 45 Vgl. hierzu David S. Landes, The Unbound Prometheus. Technical Change and Industrial Development in Western Europe from 1750 to the Present (1969), Cambridge/ New York 1999.

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Umso wichtiger ist es, die Tragweite zu berücksichtigen, die diese Orientierung für die Dialektik der Aufklärung mit sich bringt, wenn man mit ihrer Hilfe die überragende kognitive Rolle ins Fadenkreuz rückt, die der neuzeitlichen Wissenschaft, vor allem der neuzeitlichen Naturwissenschaft seit dem Beginn der industriellen Dauerrevolutionierung des praktischen Alltagslebens zugefallen ist. Es ist kein Zufall, daß sich diese Rolle früher oder später gerade unter Aspekten der Praxis mit einer Dialektik der Aufklärung und deren spezifischen logischen, kognitiven und geschichtlichen Form verbunden hat. Besonders klar, sogar in radikaler Form zeigt sich diese dreifache Form am Paradigma der weltgeschichtlich so bedeutsam gewordenen Entdeckung der Kernspaltung. Ganz ungeachtet der innerwissenschaftlichen, apraktischen Dialektik, die sich hier im Spannungsverhältnis zwischen Kernchemie und Kernphysik ergeben hat,46 haben sich hier gerade auch unter Aspekten der Praxis paradigmatische Formen der Dialektik der Aufklärung gezeigt. Denn nachdem Hahn und Straßmann ihre bahnbrechende Entdeckung der Tatsache der Kernspaltung gelungen war, konnten sie mit den damals zur Verfügung stehenden kernchemischen Mitteln, aber unter Verwendung von objektiv unerfüllten kernphysikalischen Voraussetzungen urteilen, daß die von ihnen verwandte Technik entweder keine nützlichen oder keine schädliche Wirkungen zeitigen könne. Im Gegensatz dazu verfügten die Kernphysiker wenig später – sogleich Anfang des Jahres 1939 – dank Meitners und Frischs kernphysikalischen Forschungen nicht nur über die durch Hahns und Straßmanns Entdeckung provozierte kernphysikalische Erklärung der Tatsache der Kernspaltung.47 Vor allem verfügten sie nach den ersten Abschätzungen der Energiebilanzen kettenraktiven Kernspaltungen im Laufe des weiteren Jahres unter Aspekten der Praxis über das Konzept einer Kernwaffe mit den verheerenden Wirkungen von deren praktischem Gebrauch. Sie konnten also unter Verwendung objektiv erfüllter kernphysikalischer Voraussetzungen urteilen, daß der waffentechnische Gebrauch kettenreaktiver Kernspaltungen extrem schädliche Wirkungen unter den davon betroffenen Menschen zeitigen werde.48 Die geradezu dramatische Form der Überwindung insbesondere von Hahns unerfüllter Voraussetzung der praktischen Neutralität seiner und Straßmanns Entdeckung zeigt sich darin, daß erst »[d]ie Arbeit Joliot-Curies in Paris, die Messungen an Sekundärneutronen vornahmen, … Hahn [überzeugte], daß Atomwaffen möglich waren. Er diskutierte die Möglichkeit mit Carl Friedrich von Weizsäcker. Die Aussichten wirkten tief deprimierend auf ihn«:49 »Aber wenn

46 Vgl. hierzu oben S. 8 f. 47 Vgl. Rife, Meitner, S. 262–72. 48 Vgl. Mark Walker. Die Uranmaschine. Mythos und Wirklichkeit der deutschen Atombombe (amerik. 1989), Berlin 1990, S. 27–30. 49 Thomas Powers, Heisenbergs Krieg. Die Geheimgeschichte der deutschen Atombombe (amerik. 1993), Hamburg 1993, S. 86.

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meine Arbeit zu einer Kernwaffe führen sollte«, teilte er von Weizsäcker ohne Umschweife mit, »bringe ich mich um«.50 Bemerkenswert mit Blick auf die Formkomponenten der Dialektik dieser nahezu tragischen Gestalt der Aufklärung ist die auffällige Kürze der geschichtlichen Zeitspanne von kaum einem Jahr, in dem die logische und die kognitive Fehlleistung überwunden wurde, in der die Urteilskraft kernchemischer Entdekker der Kernspaltung mit ihrer Auffassung von der praktischen Neutralität ihrer Spaltungstechnik zunächst befangen war. Doch es liegt auch auf der Hand, daß diese geschichtliche Kürze vor allem dem ungewöhnlichen wissenschaftsinternen Umstand zuzuschreiben ist, daß es eine kernchemische Entdeckung war, die der Urteilskraft der Kernphysiker geradezu im Handumdrehen zur an sich schon länger möglich gewesenen Einsicht in die Tauglichkeit des Tröpfchenmodells des Atoms verholfen hat, die unerfüllte Voraussetzung der Auffassung von der NichtSpaltbarkeit des Atoms zu überwinden. Solche im wahrsten Sinne des Wortes interdisziplinären Konstellationen – vor allem mit dieser geradezu menschheitsgeschichtlichen Tragweite – sind vermutlich zu selten, um daraus eine Regel für die Dialektik der Aufklärung zu gewinnen. Umso bemerkenswerter mit Blick auf den geschichtlichen Gestaltwandel dieser Dialektik ist deren Fortsetzung gleichsam unter den umgekehrten Vorzeichen einer unablässigen direkten Praxisorientierung. Denn der nach dem Zweiten Weltkrieg und nach den verheerenden Folgen des ersten Atombombenabwurfs weltweit aufkommende Enthusiasmus für die friedliche Nutzung der Kernenergie war vor allem bei dem ebenso weltweiten ›Publikum, das sich allenfalls langsam selbst aufklärt‹ (Kant), offensichtlich nicht nur von einer einzigen unerfüllten Voraussetzung getragen. Aufrufe wie Atome für den Frieden sowie die uneingeschränkte Zuversicht, daß »die Atomenergie zu einem Segen für Hunderte von Millionen Menschen werde, die noch im Schatten leben« (SPD), waren zwar nur allzu verständliche und berechtigte Ausdrucksformen dieses Enthusiasmus. In der Genfer UNO-Konferenz über die friedliche Nutzung der Kernenergie von 1955 wurde diese Bewegung sogar durch einen internationalen regierungsamtlichen Polyzentrismus gebündelt und zur weltweiten geschichtlichen Tragweite gebracht. Doch die Überzeugung vom uneingeschränkten Nutzen der friedlichen Verwendung der Kernenergie war ebenso wie die Überzeugung von deren uneingeschränkter Schadensneutralität von derselben gemeinsamen unerfüllten Voraussetzung getragen. Die Dialektik der Aufklärung der Urteilskraft über diese unerfüllte Voraussetzung der Öffentlichkeit vollzog sich bis heute in 50 S. 32, sowie die Quelle in der anhängenden Endnote 9; vgl. hierzu auch die Hinweise auf die entsprechende Stimmung Hahns während der Internierung in Farm-Hall nach den Nachrichten von den verheerenden Wirkungen des ersten Atombomben-Abwurfs auf Hiroshima bei Dieter Hoffmann (Hrsg.), Operation Epsilon. Die Farm-HallProtokolle oder Die Angst vor der deutschen Atombombe, Berlin 1993, bes. S. 145–46 sowie 157 ff.

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mehreren kleinen Schritten, die durchweg die logische, kognitive und geschichtliche Form der Überwindungen von jeweils neuen unerfüllten Voraussetzungen hatten. So wurden die ersten aufkommenden Fragen der Reaktorsicherheit – also Fragen der praktischen Risiken für die in der Umgebung von Reaktoren lebenden Menschen – während der UNO-Konferenz allenfalls am Rande und vor allem in verschwindend kleinen Zirkeln von wenigen Experten erörtert. Umso klarer wurde der Enthusiasmus dieser Bewegung in ihrer zweiten Phase von der unerfüllten Voraussetzung begleitet, daß außer der Sorge um diese Risiken keine weitere praktische Sorge von der friedlichen Nutzung der Kernenergie hervorgerufen werden könne. Die logische, kognitive und geschichtliche Form, mit der die Dialektik der Aufklärung der Öffentlichkeit diesseits und jenseits der verschwindend kleinen Expertenkreise durch diese unerfüllte Voraussetzung verbunden war, war daher nach wie vor an die Überzeugung gebunden, daß das Maß des Nutzens der friedlichen Verwendung der Kernenergie ohne jegliches Risiko sei. Die Überzeugung, daß sich ein entsprechendes Risiko mit dem der Reaktorsicherheit erschöpfe, blieb länger eine diskrete Angelegenheit von Experten. Wo gleichwohl in der Öffentlichkeit allmählich ein Bewußtsein erwachte, das auf die beim Betrieb eines Reaktors entstehenden abgebrannten, aber immer noch radioaktiven Kernbrennstoffe gerichtet war, war es zunächst an eine trügerische, von einer unerfüllten Voraussetzung getragene Hoffnung gebunden: Ihre Risikoträchtigkeit lasse sich entweder durch Verwendung im Rahmen des sogenannten Brennstoffkreislaufs restlos neutralisieren oder die sich abzeichnende extreme Menge der anfallenden radioaktiven Abfälle lasse sich durch Entsorgung dieser Abfälle in Endlagerstätten restlos neutralisieren.51 Noch in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre konnten naturwissenschaftliche und volkswirtschaftliche Experten im Rahmen einer Behandlung des ganzen Themenkreises der Kernenergie ernsthaft und mit Anspruch auf Grundsätzlichkeit die Auffassung vertreten, daß die »aus Sicherheitsgründen notwendige Beseitigung der in Kernkraftwerken und Wiederaufbereitungsanlagen anfallenden radioaktiven Abfälle … nach dem gegenwärtigem Stand der Technik gefahrlos [ist] und … in erster Linie organisatorische Probleme auf[wirft]«.52 Indessen fragt sich, in der wievielten Linie jenseits dieser ›ersten Linie‹ die schon zwanzig Jahre früher im Namen der Strahlenbiologie und der Strahlenmedizin formulierte Mahnung rangiert: »Die biologisch-medizinische Seite der Strahlenwirkung auf den Menschen ist heute schon gegenüber dem technischen Fortschritt zurückgeblieben. Wie sich in Zukunft die Strahlenbelastung des Menschen mit allen 51 Vgl. zum ganzen Problemkreis unter naturwissenschaftlichen und volkswirtschaftlichen Aspekten Hans Michaelis, Kernenergie, München 1977, bes. S. 374–89. 52 S. 382; ähnlich beschwichtigend urteilt unter Aspekten der Technik und der Organisation – allerdings schon zwanzig Jahre früher – Carl Friedrich von Weizsäcker, Atomenergie und Atomzeitalter. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt am Main 1957, S. 125– 26.

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ihren Folgen entwickeln wird, ist abhängig von der Bereitschaft der Verantwortlichen, die Biophysik, die Strahlenbiologie, die Strahlengenetik und die Strahlenmedizin zu fördern und auf ihre eindringlich warnende Stimme zu hören«.53 Es ist daher kein Zufall, daß die Autoren für die Struktur der Dialektik der Aufklärung auf ihrem ureigensten Feld in einem Maß sensibilisiert sind, das sie auch ohne jegliche philosophische Ambitionen befähigt, ein Paradigma dieser Dialektik zu formulieren: »Die Geschichte der Strahlenbiologie lehrt aber, daß jedes Urteil über Strahlenschäden, das allein auf gesicherten Ergebnissen basiert, stets zu mild lautete gegenüber der Wirklichkeit, wie sie durch später gewonnene Einsichten gegeben war!«.54 Nur allzu offensichtlich ist die optimistische technische und organisatorische Urteilskraft der ›ersten Linie‹ in einer tiefgehenden unerfüllten Voraussetzung befangen, deren Unerfülltheit sich zuverlässig, eindringlich und dauerhaft nur der vom ärztlichen Ethos und vom medizinisch-naturwissenschaftlichen Sachverstand gelenkten Tiefendiagnose enthüllt – in der unerfüllten Voraussetzung, daß entweder die Sicherung der Nützlichkeit oder die Abwendung der Schädlichkeit der friedlichen Verwendung der Kernenergie ausschließlich eine technische und organisatorische Angelegenheit sei. Damit sind vier inzwischen mit immer größerer Schärfe ans Licht getretene Probleme noch gar nicht berührt: Wie können die riesigen Mengen radioaktiven Atommülls in Endlagern mit hinreichender Sicherheit entsorgt werden? Für welches Maß hinreichender Sicherheit dieser Endlager muß und kann zunächst mit Blick auf die gegenwärtig lebenden Generationen gesorgt werden? Und für welches Maß an Sicherheit zukünftiger Generationen kann und muß angesichts der mindestens Jahrzehntausende währenden Halbwertzeiten der radioaktiven Kernstoffe in diesem Müll gesorgt werden, wenn man einerseits die diversen Formen der für Menschen gefährlichen Grade an Durchlässigkeit der Endlager für die Radioaktivität dieser Stoffe in Rechnung stellt und wenn man andererseits die gänzlich unvorhersehbaren Geschicke in Rechnung stellt, die diesen Endlagerstätten während dieser HalbwertZeitspannen sowohl durch Naturkatastrophen wie durch uninfomierte oder unintendierte oder intentionale anthropogene Eingriffe widerfahren können? Das pure Faktum des weltweit ungebremsten Betriebs von Atomreaktoren macht jedenfalls angesichts der geschichtlichen Fälle mehr oder weniger verheerender Irrtumsanfälligkeiten der Menschen offensichtlich von der unerfüllten Voraussetzung Gebrauch, daß diese Antworten entweder ohne jegliches Irrtumsrisiko oder mit vernachlässigenswert kleinem Irrtumsrisiko zugunsten eines technisch und organisatorisch uneingeschränkt nützlichen friedlichen Reaktorbetriebs beantwortet werden können. 53 Hans Marquardt/Gerhard Schubert, Die Strahlengefährdung des Menschen durch Atomenergie. Probleme der Strahlenbiologie im technischen Zeitalter, Hamburg 1959, S. 170, Hervorhebungen R.E. 54 S. 169, Hervorhebungen R.E.

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V Damit ist die Dialektik der Aufklärung in einem präzisierbaren Sinne auf einem strukturellen Höhepunkt angelangt. Denn Urteile über die mit technischen und organisatorischen Mitteln für alle Zukunft gesicherte Nützlichkeit und Unschädlichkeit des Atomreaktor-Betriebs spottet angesichts der unaufhörlich praktisch relevanten Zeiträume dieser Zukunft buchstäblich allen bisher gemachten Erfahrungen mit der Irrtumsanfälligkeit der Menschen. Doch bei der Dialektik der Aufklärung handelt es sich nur allzu offensichtlich um eine logische, kognitive und geschichtliche Form der Betätigung und der möglichen Resultate der Urteilskraft, die von einer speziellen Form der Irrtumsanfälligkeit und Selbstkorrekturfähigkeit der conditio humana abhängt. Diese Form von Irrtumsanfälligkeit und Selbstkorrekturfähigkeit führt unter wechselnden geschichtlichen Umständen zu Fällen einer Dialektik von jeweils mindestens zwei alternativen Urteilen, die einander durch ihre Inhalte ausschließen, aber mit einer gemeinsamen unerfüllten, jedoch korrigierbaren Voraussetzung verbunden sind. Von den von Kant analysierten transzendental-kosmologischen Irrtümern auf Grund unerfüllter Voraussetzungen unterscheiden sich solche Fälle dadurch, daß sie nicht, wie Kant für seine transzendentalen Paradigmen zu zeigen sucht, von einem antinomischen, also gesetzförmigen ›Widerstreit der Vernunft mit sich selbst‹ abhängen. Sie hängen stattdessen von kontingenten Irrtümern einer jeweils noch nicht ›durch Erfahrung hinreichend geschärften und geschichtlich gereiften Urteilskraft‹ ab. Der mit dieser kontingenten Irrtumsträchtigkeit und ebenso kontingenten Selbstkorrekturfähigkeit verbundenen Dialektik der Aufklärung kann man sich im Medium der Reflexion über die Aufklärung nur dann entziehen, wenn man ein quasimanichäisches Geschichtsbild kultiviert, in dem spätestens mit dem so apostrophierten »bürgerlich aufklärerischen Element Homers«55 ein prinzipiell unkorrigierbares menschheitsgeschichtliches Verhängnis überliefert ist, das nur noch die unausweichliche eschatologische Aussicht bereit hält, daß »… die vollends aufgeklärte Erde … im Zeichen triumphalen Unheils [strahlt]«.56 Doch zur klassischen Philosophie – von Platons sokratischen Dialogen bis zu Hegels Phänomenologie des Geistes – gehört eine planmäßig kultivierte Skepsis, die die kontingente Irrtumsanfälligkeit des Menschen ebenso prinzipiell in Rechnung stellt wie seine kontingente Selbstkorrekturfähigkeit. Die dialektische Form des geschichtlichen Wechselspiels von Irrtum und Selbstkorrektur ist unter den mannigfachen Formen dieses Wechselspiel zwar vergleichsweise selten und wohl umso seltener je gravierender und geschichtlich nachhaltiger ihre praktischen Tragweiten sind. Dennoch machen die Lehrbuchbeispiele der Logiker vom Typ: Entweder ist der gegenwärtige deutsche Kanzler kahlköpfig oder er besitzt 55 56

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Horkheimer/Adorno, Dialektik, S. 58. S. 13.

Die Dialektik der Aufklärung. Ihre logische, kognitive und geschichtliche Form

mehr oder weniger volles Haupthaar, darauf aufmerksam, daß Alternativen mit gemeinsamen unerfüllten Voraussetzungen nicht prinzipiell an eine geschichtliche Bedeutsamkeit ihres Inhalts gebunden sind. Doch wer mangels zureichender politischer Informationen oder gar politischer Bildung z. B. im Rahmen einer Bundestagswahl mit der Alternative: Entweder wähle ich die Person, die derzeit die Regierung führt, oder die Person, die derzeit die parlamentarische Opposition führt, zur Wahl geht, wird sich wegen einer unerfüllten Voraussetzung über die personellen und die prozeduralen Wahlmöglichkeiten in seinem Wahlkreis immerhin und zumindest vorläufig mit der praktischen Konsequenz abfinden müssen, entweder auf eine Wahl zu verzichten oder auf gut Glück zu wählen. Indessen liegen wenigstens in solchen alltäglichen Fällen individueller Irrtümer die Selbstkorrekturmöglichkeiten glücklicherweise eher erfreulich nahe. Doch Kants vorsichtig-skeptische Zuversicht, daß ein Publikum sich wenigstens langsam über das, was ihm zu wissen obliegt, aufklären könne, ist zunehmend durch eine strukturelle Erschwernis in Bedrängnis geraten. Seit die wissenschaftliche Forschung mit allen ihren disziplinären Verzweigungen und Verästelungen zu einem festen, allgegenwärtigen und weltweiten Faktor der Gestaltung der Lebensbedingungen der Menschen geworden ist, gehört die Dialektik der Aufklärung der Urteilskraft zum unumgänglichen Schrittgesetz dieser wissenschaftsbasierten Lebensgestaltung. Denn nicht nur die Urteilskraft des Publikums, das Kant im Auge hatte, ist durch die Aufgabe tendenziell überfordert, die aus praktisch-politischen Gründen wissenswerten wissenschaftlichen Erkenntnisse angemessen einzuschätzen. Vor allem auch die Urteilskraft der Parlamente, für deren moderne, erst in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts endgültig entstandene Gestalt Kant noch gar keinen Blick haben konnte, ist durch die Aufgabe tendenziell überfordert, wissenschaftliche Erkenntnisse darüber hinaus in gemeinwohldienliche Gesetze zu überführen. Bereits die chronischen wissenschaftsinternen Kontroversen um die empirisch jeweils am besten bewährten Hypothesen tauchen jede wissenschaftliche Politik-Beratung in ein von der Urteilskraft der praktisch-politischen Instanzen nur schwer aufzulösendes Zwielicht. Mehr oder weniger gravierende, wenngleich auch mehr oder weniger flüchtige Irrtümer mit mehr oder weniger gravierenden praktischen Konsequenzen sind daher schon aus wissenschaftsinternen Gründen wahrscheinlich. Die Zuversicht, daß solche Irrtümer und die durch sie begünstigten praktischen Unzuträglichkeiten auch in aller Zukunft früher oder später, aber stets rechtzeitig korrigiert, also durch eine aufgeklärter gewordene Urteilskraft überwunden werden können, bildet gegenwärtig offensichtlich eine notwendige Voraussetzung sowohl der politischen Praxis wie der Wachsamkeit ihres Publikums. Ob und in welchem Maß diese Zuversicht ihrerseits entweder auf einer erfüllten oder auf einer unerfüllten Voraussetzung beruht, hängt vor allem davon ab, in welchem Maß es allen maßgeblich Beteiligten gelingen wird, unablässig und gründlich die zentralen kognitiven Tugenden der Urteilskraft zu kultivieren und zu üben – die Skepsis und deren praktische Modi der Vorsicht, der Umsicht und der Rücksicht.

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Sokratische Aufklärung – Überlegungen zu Platons »Apologie des Sokrates« Jörg Hardy

Für Ernst Heitsch

Die Rede von »Aufklärung« bezieht sich nicht lediglich auf eine bestimmte historische Epoche, sondern auch auf ein philosophisches Programm, das in verschiedenen Zeiten unter verschiedenen Namen betrieben wurde, und die Aufklärungsbemühungen der Vergangenheit können und mögen zu jeder Zeit weiterhin verständlich und attraktiv sein. Wenn Aufklärung – als Programm – die Befreiung der Menschen von teils selbst, teils von anderen geschmiedeten gedanklichen und sozialen Fesseln ist, dann ist die Sokratische Philosophie, die uns in Platons Schriften überliefert ist, ein Programm der Aufklärung.1 Sokratische Aufklärung ist die leidenschaftlich logische Analyse der Bedingungen eines gelingenden Lebens und der ermutigende Appell an jeden Menschen, die Möglichkeiten der Vernunft auf eine von Täuschungen unbeirrte Weise zu verwirklichen.2 Kant charakterisiert Aufklärung als »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmüdigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.«3 Sapere aude! Kant möchte den Menschen Mut machen, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Zum ›Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit‹ kraft des erfolgreichen Gebrauchs des eigenen Nachdenkens ›ohne Leitung eines anderen‹, vor allem ohne die unheilvoll fremdbestimmte Leitung durch Vorurteile, ermutigt auch Sokrates seine Zeitgenossen in Platons Apologie des Sokrates (die im Folgenden als Apologie bezeichnet sei). In Platons Apologie verteidigt Sokrates seine Tätigkeit des Fragens und Prüfens mit dem Hinweis darauf, daß der Gott ihm gebietet, ein philosophierendes Leben zu führen und sich selbst und andere zu prüfen (Apologie 28e4–6). Das Fragen und Prüfen möchte und könnte er niemals aufgeben, denn ein »unge1 Zum Sokratischen Beitrag zur abendländischen Aufklärung vgl. auch Enskat 2007: 73–98. Die Rede von der Aufklärung als Programm erläutert Oliver Scholz in der Einführung zu diesem Heft: Zur Einfu¨ hrung: Stichwort »Aufklärung«. 2 Zur Sokratischen Auffassung eines gelingenden Lebens vgl. Blößner 1997, Brickhouse/Smith 2010, Detel 1998, Hardy 2010a, 2011, 2014, Rudebusch 1999, 2009, Smith 2016, Stemmer 1989 und Wolf 1996. 3 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage Was ist Aufklärung?, in: Berlinische Monatsschrift im Dezember 1784: 481–494.

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Sokratische Aufklärung – Überlegungen zu Platons »Apologie des Sokrates«

prüftes Leben« ist für ihn nicht lebenswert (37e3–38a7). Sokrates lädt seine Mitmenschen dazu ein, ebenfalls ihre Lebensweise zu prüfen, sich um sich selbst und um ihre gute, glückszuträgliche seelische Verfassung zu (Apologie 29d2– 30b4) und über ihre Lebensführung Rechenschaft zu geben (Laches 187e6– 188c2). Die Sokratische Idee eines prüfenden Lebens läßt sich zugleich als eine öffentliche Aufklärung verstehen, die Platon in der Apologie in drei Akten in Szene setzt.

1. Erster Akt: Die Wahrheit jenseits der Vorurteile In der offiziellen Anklage wird Sokrates bemerkenswerterweise nicht zur Last gelegt, ein bestimmtes Gesetz Athens gebrochen zu haben. Die Ankläger werfen Sokrates vielmehr vor, was man seinerzeit offenbar nach Belieben jedem Philosophierenden, d. h. jedem forschenden Menschen vorgeworfen hat, nämlich über die Dinge am Himmel und unter der Erde zu spekulieren, so die Götter Athens nicht anzuerkennen und schwächere Gründe unredlicherweise als stärkere erscheinen zu lassen und so auch die Jugend Athens zu verderben. Die Ankläger, Meletos, der die Klage vorgebracht hat, und Anytos und Lykon, die ihn darin unterstützt haben, dürften wohl versucht haben, in dem Prozeß gegen Sokrates aus Gerüchten und Vorurteilen über Sokrates Kapital zu schlagen. Deshalb eröffnet Sokrates seine Verteidigungsrede mit dem Hinweis darauf, daß er sich gegen zwei Gruppen von Klägern zu verteidigen habe, nämlich nicht allein gegen die offiziellen Ankläger, sondern auch gegen anonyme Ankläger in der Form der Gerüchte, die seit langer Zeit über ihn kursieren. Sokrates möchte Licht in das Dunkel der Vorurteile bringen: Zuerst also muß ich mich, ihr Männer von Athen, gegen die Unwahrheiten der älteren Beschuldigungen und gegen die älteren Ankläger verteidigen, dann gegen die späteren. Groß nämlich ist die Zahl derer, die als Kläger gegen mich bei euch aufgetreten sind und das seit langem, viele Jahre schon, ohne ein wahres Wort zu sagen. Und diese Leute fürchte ich mehr als Anytos und seine Gruppe, obwohl auch sie gefährlich sind. Doch gefährlicher, ihr Männer, sind jene, die viele von euch, die ihr ihnen schon von Jugend auf ausgeliefert wart, beeinflußt haben und nur allzu unwahre Beschuldigungen gegen mich vorbrachten, es gäbe da einen gewissen Sokrates, einen klugen Mann, der über die Dinge am Himmel spekuliere und alles untersuche, was unter der Erde ist, und der (in Diskussionen und vor Gericht) die schwächere Sache zur stärkeren mache. Die Leute, ihr Männer von Athen, die dieses Gerücht verbreiten, sind die gefährlichen meiner Ankläger. Denn wer das hört, glaubt, daß die, die solche Untersuchungen anstellen, keine Götter anerkennen. Ferner sind diese Ankläger zahlreich und mit ihren Beschuldigungen schon seit langem am Werk, und zudem haben sie in einem Alter zu euch geredet, da ihr allzu gutgläubig wart, einige von euch noch Kinder und Jugendliche, und sie tragen ihre Klagen geradezu in Abwesenheit des Angeklagten vor, wo keiner sich verteidigt. Was die Sache aber besonders schwierig macht, nicht einmal ihre Namen kann man erfahren und

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Jörg Hardy angehen. … Alle die aber, die aus Gründen des Neides und der Verleumdung euch irrezuführen suchten, aber auch die, die, da selbst überzeugt, andere überredeten, gegen alle die bin ich gänzlich machtlos; denn keinen von ihnen kann ich hier auftreten lassen und einem Kreuzverhör unterziehen, sondern ich muss mich verteidigen wie ein Schattenboxer und Fragen stellen, wo niemand antwortet. Geht also auch ihr, wie ich, davon aus, daß es zwei Gruppen von Anklägern gegen mich gibt, die einen, die soeben ihre Beschuldigungen gegen mich vorgebracht haben, und die anderen, die, wie gesagt, schon lange tätig sind, und seid überzeugt, daß ich mich zuerst gegen sie verteidigen muß; denn auch ihr habt sie und ihre Beschuldigungen zuerst gehört und viel intensiver als hier die späteren (Apologie 18a7–e4).4

Sokrates bestreitet, jemals im Sinne der Anklage über ›Dinge im Himmel und unter der Erde‹ spekuliert oder ein schwächeres Argument zum stärkeren gemacht zu haben. Die möglichen ›Dinge im Himmel und unter der Erde‹ sind Sokrates! Sache nicht. Sokrates kennt sich lediglich mit den »erotischen Dingen« (Symposium 201d) aus, d. h. mit der Suche nach Wissen, verfügt über ein »menschliches Wissen«, das er in der Apologie präzise erläutern wird, und er denkt gemeinsam mit anderen Menschen über die Tugend (arete), d. h. über eine glückszuträgliche seelische Verfassung und über das gelingende Leben nach – über diese Themen spricht Sokrates jederzeit mit jedem Menschen (Apologie 38a1–8). Sokrates möchte seine Mitmenschen nicht zuletzt vor dem Übel der misologia, dem tiefen Mißtrauen in Argumente, bewahren (Phaidon 89c1–91c6), und Platons Dialoge zeigen offenbar nicht, daß Sokrates schwächere Argumente als die stärkeren erscheinen läßt. Aber wie könnte es Sokrates gelingen, seine Richter unter den Bedingungen einer Prozeßordnung, die ihm für seine Verteidigung bestenfalls zwei Reden mit wenig Zeit und ohne die Möglichkeit eines Kreuzverhörs der Ankläger oder möglicher Zeugen gewährt,5 von der Wahrheit zu überzeugen? Im Theaitet (172c2–173c6) gibt Sokrates zu bedenken, daß ein Redner vor Gericht, wo es doch oft um einen Wettlauf um Leben und Tod geht, unter dem Zwang der knappen Zeit, der Vorgaben der Prozeßordnung, der Manipulationen des Gegners und der Erwartungen der Richter, zwangsläufig fremdbestimmt ist. In der Apologie ist Sokrates selbst in dieser Situation. Und was tut er? Er berichtet die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Das ist, wenn die Wahrheit nicht hoch im Kurs steht, riskant. Selbst dann, wenn der Angeklagte Sokrates mehr Zeit für seine Verteidigung hätte, die Ankläger mehrfach befragen und glaubwürdige Zeugen aufrufen könnte, ständen seine Chancen nicht allzu gut. Denn Gerüchte lassen sich 4 Die hier zitierten Übersetzungen aus der Apologie des Sokrates sind, mit geringfügigen Änderungen, diejenigen von Ernst Heitsch 22004a, dem ein für das Verständnis der Apologie wegweisender sprachlicher und philosophischer Kommentar zu verdanken ist. Die Übersetzungen aus Symposium und Theaitet in diesem Beitrag sind meine eigenen Vorschläge. 5 Dazu Brickhouse/Smith 1989: 24–27 und Heitsch 2000: 3–8, 2004: 41, 62.

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nicht wirklich entkräften, weil diejenigen, die sie verbreiten, und auch diejenigen, die ihnen gerne glauben wollen, nicht vorrangig an der Wahrheit interessiert sind. Dennoch vermag Sokrates die Gerüchte in der Apologie jedenfalls zu widerlegen; er braucht seine Hörer lediglich an das zu erinnern, was sie selbst, aus ihrer eigenen Erfahrung, über ihn wissen. Die meisten der Mitglieder der Jury, zu der Sokrates spricht, sind vertraut mit den Gesprächen, die er zeitlebens mit ihnen geführt hat. Dieses Wissen ruft Sokrates ihnen in Erinnerung; er erinnert seine wahrheitsgeneigten Zuhörer und Richter daran, daß der seinerzeit offenbar geradezu sprichwörtliche Vorwurf, ›sich nicht an die Götter zu halten und das schwächere Argument zum stärkeren zu machen‹, gegen jeden Philosophierenden vorgebracht werde und er selbst allerdings nichts dergleichen jemals getan habe: »Als Zeugen aber biete ich auf die Mehrzahl von euch selbst, und ich denke, ihr solltet euch gegenseitig informieren und erzählen, die ihr mich jemals diskutieren gehört habt – und viele von euch haben das –, erzählt also einander, ob jemals einer von euch auch nur das Geringste über solche Dinge von mir in der Diskussion gehört hat, und daraus werdet ihr sehen, daß es genau so auch mit dem anderen steht, was die Menge von mir behauptet« (19d1–7). Wer Sokrates aus eigener Erfahrung kennt und ehrlich zu sich selbst ist, weiß sehr wohl, daß die Vorurteile über Sokrates falsch und in der Tat Verleumdungen sind. Ein Zeugnis der glückszuträglichen Wissenssuche ist Platons Dialog Laches: Nikias, ein hoch angesehener Bürger Athens, hält ein flammendes Plädoyer für die gemeinsame Rechenschaftgabe mit Sokrates (Laches 187e6–188c2) und jeder der im Laches anwesenden Gesprächspartner, gerade auch Lysimachos, der Sokrates zuvor persönlich gar nicht kannte, möchte die Gespräche mit Sokrates gerne fortsetzen (200c2–d4). Lysimachos bittet Sokrates darum, »den jungen Leuten dabei zu helfen, möglichst gut zu werden« (200d7–8). Diese Worte erinnern an die Apologie (30a7–b2), in der Sokrates seine Mitbu¨ rger gemahnt, sich um ihre Seele zu ku¨ mmern, »so daß sie möglichst gut werde«. Sokrates gibt allerdings keinen Unterricht, ist niemandes Lehrer gewesen (Apologie 33a5–b8), sondern er untersucht mit seinen Gesprächpartnern deren Meinungen und Lebensführung (Laches 187d6–188a3).

2. Zweiter Akt: Die Sorge um Gedanken und das »menschliche Wissen« Wenn Sokrates! Zuhörer die Wahrheit erkennen, die Sokrates ihnen in Erinnerung bringt, und sich so von eigenen Vorurteilen zu befreien vermögen, dann gebrauchen sie ihre ungetrübte Urteilsfähigkeit, nämlich das »menschliche Wissen«, das Sokrates mit ihnen teilt. Die Explikation dieses Wissens ist der zweite Akt der Aufklärung in der Apologie. Sokrates kann sich gut vorstellen, daß seine geneigten Zuhörer sich gerade nach der so offenkundigen Einsicht in die Wahrheit über Sokrates fragen werden, was ihm denn gleichwohl den üblen Ruf ein-

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gebracht habe, den er soeben so einfach als eine Verleumdung zu entlarven vermochte. Um auf diese Frage zu antworten, erläutert Sokrates das Wissen, das ihm wohl den Ruf eingebracht habe, gegen den er sich an Ort und Stelle verteidigt: Nun könnte einer von euch vielleicht einwerfen: »Aber Sokrates, was ist es denn, was du treibst? Woher stammen diese Verleumdungen gegen dich? Denn ohne daß du etwas Ungewöhnliches machst, ist doch wohl ein derartiges Gerede nicht entstanden, wenn du nicht etwas anderes tätest als die meisten. Sag uns also, was es ist, damit wir nicht aufs Geratewohl über dich urteilen.« Wer so spricht, scheint mir recht zu haben, und ich will versuchen, euch zu zeigen, was das eigentlich ist, das mir den Titel (klug sc.) und den üblen Ruf eingebracht hat. Hört also. … Ich habe nämlich, ihr Männer von Athen, allein wegen eines Wissens diesen Titel erhalten. Und wegen welchen Wissens also? Was vielleicht menschliches Wissen ist. Wirklich nämlich scheine ich darin kompetent zu sein. Die aber, von denen ich eben sprach, möchten wohl übermenschliches Wissen haben, oder ich weiß nicht, was ich sagen soll. Denn ich habe es nicht, und wer das Gegenteil behauptet, lügt und redet, um mich zu verleumden. … Als Zeugen … für mein Wissen, ob es denn ein Wissen ist und was für eines, nenne ich euch den Gott in Delphi. Chairephon kennt ihr ja wohl. Er war mein Freund von Jugend auf, gehörte mit euch zur Gruppe der Demokraten, nahm teil an der Emigration und kehrte mit euch zurück. Und ihr wißt ja, wie Chairephon war, wie heftig in allem, was er sich vornahm. Und so ging er denn einst auch nach Delphi und wagte es, das Orakel zu fragen …, er fragte also, ob jemand größeres Wissen habe als ich. Und die Pythia gab zur Antwort, es gäbe niemanden, der mehr wisse. … Paßt nun auf, weshalb ich das erzähle. Ich will euch ja erklären, wie es zu meiner Verleumdung gekommen ist. Denn als ich das hörte, überlegte ich folgendes: »Was eigentlich meint der Gott und was eigentlich deutet er mit seinem Rätsel an? Ich bin mir ja doch bewußt, daß ich absolut nichts weiß. Was also meint er, wenn er behauptet, ich wisse am meisten? Denn daß er nicht lügt, ist jedenfalls sicher. Denn das verbietet ihm die göttliche Ordnung.« Und lange Zeit war ich ratlos, was er eigentlich meint (Apologie 20c4–21b7).

Von seinem Freund Chairephon erfährt Sokrates, Chairephon habe das Orakel von Delphi befragt, um zu hören, ob es einen Menschen gibt, der klüger ist als Sokrates, und der Gott von Delphi habe ihm durch seine Prophetin Pythia geantwortet, niemand sei klüger als Sokrates (21a7). Über diesen Orakelspruch ist Sokrates höchst erstaunt, denn er selbst ist sehr davon überzeugt, keineswegs klug zu sein. Da indes der Gott von Delphi niemals lügen kann (21b6–7), sieht Sokrates sich vor die Aufgabe gestellt, den Orakelspruch zu prüfen, um herauszufinden, ob er klug ist oder nicht. Nach einer Zeit der Ratlosgkeit macht Sokrates sich ans Werk, das Orakel zu verstehen und sucht diejenigen auf, die er selbst für klug hält: Dann aber, durchaus zögernd, machte ich mich daran, die Sache auf folgende Weise zu prüfen: Ich wandte mich an einen von denen, die im Rufe stehen, klug zu sein, in der Meinung, wenn irgendwo, dann hier das Orakel widerlegen und seinem Spruch entgegnen zu können: »Dieser ist klüger als ich, du aber hast das von mir behauptet.« Als ich nun diesen Mann genauer betrachtete – mit Namen brauche ich ihn nicht zu nennen; es war

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Sokratische Aufklärung – Überlegungen zu Platons »Apologie des Sokrates« einer der Politiker … –, und als ich mich mit ihm unterhielt, da gewann ich den Eindruck, daß dieser Mann zwar vielen anderen Menschen und besonders sich selbst klug zu sein schien, daß er es aber nicht sei. Daraufhin versuchte ich ihm zu zeigen, daß er zwar glaube, klug zu sein, es aber nicht ist. Und so kam es, daß ich mich bei ihm und vielen der Anwesenden verhaßt gemacht hatte. Als ich ihn verließ, erwog ich daher bei mir, daß ich jedenfalls diesem Menschen an Klugheit überlegen sei; denn etwas wirklich Wichtiges scheint keiner von uns beiden zu wissen, doch er glaubt etwas zu wissen, ohne es zu wissen, ich aber, wie ich es denn nicht weiß, glaube es auch nicht. Ich scheine also jedenfalls ihm gegenüber um genau dieses Wenige klüger zu sein, daß ich, was immer ich nicht weiß, auch nicht zu wissen glaube. Danach wandte ich mich an einen von denen, die für noch klüger gehalten wurden als jener, und gewann genau denselben Eindruck, und so machte ich mich auch bei ihm und vielen anderen verhaßt. Danach nun ging ich der Reihe nach vor … (und) ich machte etwa die folgende Erfahrung: Die, die am meisten geschätzt wurden, schienen mir, wenn ich sie im Sinne des Gottes prüfte, fast am bedürftigsten zu sein, andere aber, die als unbedeutender galten, schienen mir, was die Vernunft angeht, tüchtiger zu sein. … Nach den Politikern wandte ich mich an die Dichter …, in der Erwartung, dort in aller Öffentlichkeit festzustellen, daß ich weniger klug sei als sie. … Und ich bemerkte, daß die Dichter wegen ihrer Dichtkunst überzeugt waren, auch sonst sehr klug zu sein, wo sie es nicht waren. … Schließlich also ging ich zu den Handwerkern. Denn ich war mir bewußt, so gut wie nichts zu verstehen, von ihnen aber wußte ich, daß ich dort viele schöne Kenntnisse finden würde. Und darin täuschte ich mich nicht, denn sie wußten, was ich nicht wußte, und insofern waren sie klüger als ich. Aber … denselben Fehler, den die Dichter hatten, schienen mir auch die tüchtigen Handwerker zu haben: weil sie ihre Kunst gut beherrschten, beanspruchte jeder auch in den wichtigsten Fragen besonders kompetent zu sein, und dieser Irrtum warf einen Schatten auf jene Klugheit. So also fragte ich mich im Namen des Orakels, ob ich es vorzöge, so zu sein, wie ich bin, weder im Besitz ihrer Tüchtigkeit noch behaftet mit ihrem Irrtum, oder aber beides zu haben. Und ich antwortete mir und dem Orakel, es sei besser für mich, zu sein, wie ich bin. … In Wahrheit hat wirkliches Wissen nur der Gott, und er sagt mit diesem Orakelspruch, daß das menschliche Wissen nur wenig und nichts wert ist. Und er scheint von diesem Sokrates hier zu sprechen, doch nur meinen Namen dabei gebraucht zu haben, indem er mich als Beispiel nimmt, als ob er sagte: »Der von euch, ihr Menschen, ist der klügste, der wie Sokrates erkannt hat, daß er in Wahrheit, was das Wissen angeht, nichts wert ist.« (Apologie 21b7–23b7)

Sokrates verfügt über »menschliches Wissen«, im Unterschied zu einem perfekten Wissen, das den Göttern vorbehalten sei (20d6–9, 23a5–7). Sokrates weiß, was er weiß oder nicht weiß, und glaubt nicht zu wissen, was er eben nicht weiß (21d6–8, 23a5–b4). Das »menschliche Wissen« ist also ein Wissen zweiter Ordnung, d. h. ein Wissen über epistemische Sachverhalte, und dieses Wissen ist auch das entscheidende Instrument der Meinungsprüfung. Das menschliche Wissen ist der Grund dafür, daß ›niemand klüger als Sokrates ist‹. Jeder Mensch verfügt über dieses Wissen, wenn es ihm wichtig ist und er sich um dieses Wissen bemüht. Wenn wir unsere Meinungen erfolgreich prüfen, haben wir in jedem Falle reflektierte

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und in einigen Fällen auch gerechtfertigte und verfügbare Meinungen, die im Sinne des Menon »in der Seele bleiben« (98a5–6). Das Wissen zweiter Ordnung, das Sokrates das »menschliche Wissen« nennt, fehlt den ignoranten Experten, den Politikern, Dichtern und Handwerkern, die er auf seiner Odyssee kennengelernt und befragt hat. Die ignoranten Experten verfügen zwar durchaus über ein Wissen über die Sachverhalte ihrer jeweiligen Disziplin, doch sie haben auch den Anspruch, über Wissen über andere wichtige Dinge zu verfügen, das ihnen jedoch nicht wirklich zu Gebote steht. Deshalb scheinen sie klug zu sein, ohne es wirklich zu sein (21c8–d1). Den ignoranten Experten fehlt das Wissen über das, was sie selbst wissen oder nicht wissen, also ein Wissen zweiter Ordnung über den epistemischen Status ihrer Meinungen (21c8–d8, 22c4–8, 22d4–e6). Ignoranz ist gerne von Eitelkeit begleitet. Der wahre Grund der Vorurteile über Sokrates ist denn auch die gekränkte Eitelkeit ignoranter Experten mit politischem Einfluß – die drei Ankläger Meletos, Anytos und Lykon gehören jeweils zu einer der drei Expertengruppen, die Sokrates befragt und beschämt hat: »Aus diesem Prüfungsverfahren … habe ich mir viele Feindschaften zugezogen …, so daß es durch sie zu vielen Verleumdungen gekommen ist und ich diesen Titel trage, nämlich klug zu sein. Denn gewöhnlich meinen die Anwesenden, ich selbst sei dort kompetent, wo immer ich einem anderen Unkenntnis nachweise« (22e7–23a5, vgl. 18a7–19a7). In Wahrheit jedoch beansprucht Sokrates gar kein Wissen, das er anderen vorenthielte; sein menschliches Wissen teilt er mit allen anderen Menschen – dafür bräuchte er sich in der Sache freilich nicht einmal auf das Orakel von Delphi zu berufen, denn die gemeinsame Wissenssuche wird deutlich wohl in jeder Diskussion, die Sokrates mit seinen Gesprächspartnern in Platons Dialogen führt. Sokrates! Verteidigungsrede enthält en passant auch eine kleine Theorie der Vorurteile. Vorurteile sind zumeist wohl unwahre, in jedem Falle aber ungeprüfte, unbewiesene Meinungen über eine Person oder eine Gruppe von Personen. Die Urheber von Vorurteilen hegen Ressentiments gegen eine Person oder Personengruppe und bleiben anonym, um sich so der Rechenschaftgabe und das Vorurteil einer kritischen Prüfung entziehen zu können. Entlarven kann man Vorurteile selbstverständlich nur dann, wenn man die Wahrheit kennt, die in den Vorurteilen entstellt wird. Wer zuvor einem Vorurteil Glauben geschenkt hat, kann die gegebenenfalls falsche, jedenfalls aber ungeprüfte und unbewiesene Meinung, die er sich zu eigen gemacht hat, mit Hilfe der eigenen Urteilsfähigkeit korrigieren, sobald er entweder selbst die Wahrheit kennt oder jedenfalls einsieht, daß er sich in der Tat eine ungeprüfte Meinung zu eigen gemacht hat – eine Meinung, die seine gedankliche Selbstbestimmung unterläuft.

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Sokratische Aufklärung – Überlegungen zu Platons »Apologie des Sokrates«

3. Drei kognitive Stufen: Perfektion, Wissenssuche und Ignoranz Sokrates unterscheidet in der Apologie drei kognitive Stufen und zwei (menschliche) epistemische Einstellungen: (1) Perfektion: Das perfekte (göttliche) Wissen ist ein vollkommen täuschungsfreier Zustand, der für Menschen nicht erreichbar ist (23a5–6). Auf dieser Stufe bräuchte man sich nicht um Wissen zu bemühen und weder seine Meinungen noch seine charakterliche Einstellung zu prüfen. Das perfekte Wissen ist ein epistemisches und eudämonistisches Ideal. (2) Wissenssuche und menschliches Wissen: Wer weiß, was er weiß oder nicht weiß, verfügt über ein Wissen zweiter Ordnung, mit dessen Hilfe er seine Meinungen prüft und sich in jedem Falle reflektierte und in einigen Fällen auch gerechtfertigte Meinungen bildet. Wer sich über den epistemischen Status seiner Meinungen im klaren ist, gehört zu den klugen und klügsten Menschen (21d6–8, 23a5–b4). Die Wissenssuche (und Wissensliebe) ist überdies ein insgesamt reflektiertes Selbstverhältnis einer Person; wenn wir nach Wissen über das gelingende Leben streben, dann arbeiten wir an uns selbst und versuchen, »möglichst gut zu werden« (39d6–8), prüfen also nicht allein unsere Meinungen, sondern auch unsere Handlungsmotive und Ziele. (3) Ignoranz: Wer Wissen beansprucht, über das er nicht verfügt, und wissen könnte, daß er nicht weiß, was er zu wissen glaubt, ist ein Ignorant, der klug zu sein scheint, ohne es wirklich zu sein (21c8–d1). Ignoranz ist ein vermeidbarer Mangel eines Wissens zweiter Ordnung. Der Ignorant ist nicht (oder jedenfalls nicht in einem hinreichenden Maße) bereit, seine Meinungen zu prüfen, hat deshalb zahlreiche vermeidbare unreflektierte Meinungen und befindet sich deshalb in einer unvorteilhaften seelischen Verfassung – ohne auch dies zu wissen. In einem Zustand vermeidbarer Ignoranz befindet sich auch, wer Vorurteilen leichtfertig glaubt. Was heißt es, daß das vermeintliche Wissen der ignoranten Experten auch einen Schatten auf deren Klugheit, auf das Expertenwissen wirft (22d8–e1)? Eine Vermutung liegt nahe: Experten haben die Aufgabe, ihre Fähigkeiten zum Wohle aller Menschen einzusetzen, aber sie können anderen Menschen auch sehr schaden (Gorgias 464a1–465a2). Der gute, glückszuträgliche Gebrauch jedes Expertenwissens erfordert, wie Sokrates im Charmides (174c3–d1) betont, das »Wissen vom Guten und Schlechten« – und wohl ebenfalls das Wissen zweiter Ordnung, das jemanden vor vermeintlichem Wissen bewahrt. Wenn Experten ihre Wissensansprüche nicht ausreichend prüfen, werden ihnen auch in der Ausübung ihrer Kunst Fehler unterlaufen. Vermeidbare Expertenignoranz gefährdet das Wohlergehen der Menschen, die auf Experten vertrauen.6 Das »menschliche Wissen« hat Sokrates zufolge zwar nur geringen Wert (23a7), weil kein Mensch etwas wirklich Wichtiges wirklich weiß (21d4, 22d7). 6 Vgl. dazu Hardy 2010b.

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Aber für die Menschen ist das »menschliche Wissen« durchaus wertvoll, denn es ist eben dasjenige Wissen, das Menschen aus eigener Kraft gewinnen und stetig verbessern können. Interessanterweise betont Sokrates sogleich nach seinem Hinweis auf den geringen Wert des menschlichen Wissens, daß er aufgrund eben dieser Einsicht niemals aufhört, seine Zeitgenossen zu befragen und zu prüfen (23b4–7): »Das also ist es, weshalb ich auch jetzt noch im Namen des Gottes herumgehe und suche und nachforsche unter Bürgern und Freunden, wann immer ich jemanden für klug halte. Und wenn ich den Eindruck gewinne, er ist es nicht, dann helfe ich dem Gott und zeige dem Betreffenden, daß er kein Wissen hat.« Das »Fragen und Prüfen« ist für Sokrates immerhin das größte Gut (38a1–7), weshalb er das Fragen und Prüfen selbst nach dem Tode fortsetzen würde (41a– c4). Da Sokrates den Orakelspruch so versteht, daß er lediglich ein Beispiel für die Klugheit ist, die darin besteht, zu wissen, was er weiß oder nicht weiß (23a7–b4), steht dieses Wissen in der Tat jedem Menschen zur Verfügung – wenn man sich um dieses Wissen bemüht. Ein Gegenstück zur Erläuterung des menschlichen Wissens in der Apologie bietet das Gespräch zwischen Sokrates und Diotima im Symposium.

4. Der epistemische Eros im Symposium Sokrates verdankt seine Leidenschaft für die Wissenssuche Diotima (Symposium 201d). Im Symposium berichtet Sokrates ein Gespräch, das er einmal mit Diotima über die Natur des Eros geführt habe. Sokrates hatte zunächst folgende Meinung über den Halbgott Eros: Wenn Eros nach dem Guten und Schönen strebt, so könne er selbst wohl nicht gut und schön sein, und deshalb liege die Annahme nahe, daß Eros hässlich und schlecht ist. Diotima hat Sokrates sodann gezeigt, daß seine ursprüngliche Annahme auf einer falschen Alternative beruht. Der Halbgott Eros bewegt sich zwischen der menschlichen und der göttlichen Welt; er ist nicht selbst gut und schön, sondern er strebe nach dem Guten und Schönen. Mit anderen Worten: Die beiden Annahmen, Eros sei gut und schön oder schlecht und häßlich, bilden ein konträres, aber kein kontradiktorisches Paar. Es gibt eine dritte Möglichkeit: Eros ist selbst weder gut und schön noch schlecht und häßlich; Eros ist vielmehr das beständige Streben nach dem Guten und Schönen. Von vergleichbarer Art sei die Situation, in der man sich befindet, wenn man wahre Meinungen, aber noch kein Wissen hat. Diotima ist sich sicher, daß Sokrates mit dieser Situation gut vertraut ist, und sie erläutert diesen kognitiven Interimszustand so: Es gibt etwas zwischen Wissen und Unwissenheit. Was ist es? Eine richtige Meinung zu haben, ohne über sie Rechenschaft geben zu können … Dies ist weder [die Situation] etwas zu wissen, denn wie könnte etwas Wissen sein, was ohne Begründung ist, noch ist dies Unwissenheit, denn wie könnte etwas Unwissenheit sein, wenn es die Wahrheit trifft.

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Sokratische Aufklärung – Überlegungen zu Platons »Apologie des Sokrates« Eine richtige Meinung zu haben ist offensichtlich etwas zwischen Wissen und Unwissenheit (Symposium 202a1–9).

Sokrates stimmt Diotima zu. Vergleichbar sind Eros und die kognitive Situation, wahre Meinungen, aber kein Wissen zu besitzen, in der Hinsicht, daß die Tatsache, daß ein bestimmter Zustand einer bestimmten Eigenschaft ermangelt, in beiden Fällen die Möglichkeit nicht ausschließt, den Mangel zu überwinden und sich damit in einen besseren Zustand zu bringen. Mit anderen Worten: Das Streben nach der Überwindung eines Mangels ist das tertium comparationis des Halbgottes Eros und der Situation, über eine richtige, aber noch unbegründete Meinung zu verfügen. Wie Eros den Mangel, selbst gut und schön zu sein, durch das Streben nach dem Guten und Schönen überwindet, so verbessert eine Person ihre kognitive Situation, eine richtige, aber noch unbegründete Meinung zu haben, dadurch, daß sie ihre Meinung zu begründen sucht. Wenn Diotimas Vergleich zutrifft, strebt derjenige, der über wahre, noch unbegründete Meinungen verfügt, nach dem Wissen, das ihm, wie er weiß, fehlt. Was Diotima in 202a1–9 beschreibt, ist deshalb, genau betrachtet, eine reflektierte epistemische Situation mit einem Wissen zweiter Ordnung. Wahre Meinungen zu haben bedeutet ja nicht in jedem Falle auch zu wissen, daß eine wahre Meinung zwischen Unwissen und Wissen liegt. Zuweilen glauben Menschen sogar etwas zu wissen, obwohl sich noch nicht einmal wissen, ob ihre Meinung wahr ist – so etwa die ignoranten Experten, denen Sokrates begegnet ist. In dem Interimszustand, den Diotima mit dem Eros vergleicht, befindet man sich vielmehr erst dann, wenn man sich über den Unterschied zwischen einer möglicherweise wahren Meinung und Wissen über einen bestimmten Sachverhalt ausdrücklich im klaren ist und sich um Wissen bemüht. Mit anderen Worten: Wer nach Wissen strebt, verfügt über reflektierte Meinungen, d. h. über Meinungen, über deren epistemischen Status er sich nicht täuscht. Im weiteren Verlauf des Gesprächs, das Sokrates berichtet, vergleicht Diotima Eros mit den Philosophierenden, d. h. mit denen, die nach Wissen streben. Weder die Götter noch die Unwissenden philosophieren. Die Götter brauchen nicht nach Wissen zu suchen – denn sie haben es schon – und die Ignoranten wollen es nicht, jedenfalls nicht vorrangig und nicht in jedem Falle, denn sie glauben, über Wissen zu verfügen, das ihnen tatsächlich fehlt. Die Philosophierenden sind diejenigen, die den vorrangigen Wunsch nach Wissen haben und deshalb nach Wissen streben (Symposium 204a–b, vgl. Lysis 218a–b). Diotima sagt bemerkenswerterweise in dem obigen Zitat, daß man auch dann noch nicht über Wissen verfügt, wenn man über wahre Meinungen verfügt, über diese Meinungen aber nicht Rechenschaft zu geben vermag. Die Wissenssuche ist demnach vor allem eine Einstellung zu den eigenen Meinungen, die sowohl ein Wissen zweiter Ordnung als auch eine genuin epistemische Motivation enthält: Wenn jemand weiß, daß er lediglich über eine wahre Meinung verfügt, dann meint er, daß etwas der Fall ist, und weiß, daß er nicht weiß, ob es wirklich so ist. Was ihm

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in dieser epistemischen Situation fehlt, ist die Wahrheitsgewißheit der begründeten Meinungen, die er sich wünscht. Die im Sinne des Symposium noch unbegründeten Meinungen sind, wie es im Menon (97e–98a) heißt, flüchtige Gestalten. Solche Meinungen drängen – jedenfalls für jemanden, der sie eben so auffasst – geradezu nach einer Verbesserung ihres epistemischen Status. Wenn man nun weiß, daß man mit einer wahren und begründeten Meinung über Wissen verfügt, und wenn man über Wissen verfügen möchte, so wird man seine Meinungen begründen wollen.7 Das ist die Einstellung der Wissenssuche, in der man über »menschliches Wissen« verfügt.

5. Sokratische Mäeutik im Theaitet Ein weiteres Gegenstück zur sokratischen Aufklärung in der Apologie bietet die Passage im Theaitet, in der Sokrates seine eigene hauptberufliche Tätigkeit des Fragens und Prüfens mit dem Handwerk der Hebammen vergleicht (149a1– 151d8): »Mit meiner Geburtshilfe verhält es sich ansonsten genau so wie mit ihrer (der tatsächlichen Hebammenkunst sc.). Der Unterschied zwischen beidem besteht jedoch darin, daß meine Kunst Männern und nicht Frauen Geburtshilfe leistet und ihre gebärenden Seelen und nicht ihre Körper behandelt. Das Wichtigste an meiner Kunst ist nun die Fähigkeit, mit allen Mitteln zu prüfen, ob das Nachdenken eines jungen Mannes ein Phantom und etwas Falsches oder etwas Lebenskräftiges und Wahres hervorgebracht hat. Auch in dieser Hinsicht trifft auf mich dasselbe wie auf die Hebammen zu: ich selbst bringe keine klugen Gedanken hervor. … Das hat folgenden Grund: Die Geburtshilfe gebietet mir der Gott, das Gebären aber hat er mir vorenthalten. Ich selbst bin also überhaupt nicht klug und kann auch keinen Fund als Erzeugnis meiner Seele vorweisen. Einige aber von denen, die mit mir zusammen sind, zeigen zwar anfangs recht wenig Klugheit, aber alle, denen der Gott es vergönnt, machen im Verlauf unseres Zusammenseins für sich selbst und auch für die anderen überraschende Fortschritte. Und sie lernen dabei offenkundig nie auch nur irgend etwas von mir, sondern finden selbst viele schöne Dinge in sich und bringen sie hervor. Aber ich bin es, der sie, mit Gottes Hilfe, von ihren Gedanken entbindet« (Theaitet 150b6–d8).

Sokrates! Darstellung der epistemischen Hebammenkunst im Theaitet, auf die er ganz am Ende des Dialoges noch einmal zurück kommt (210b11–c5), enthält im Blick auf das sokratische Selbstportrait in der Apologie vier bemerkenswerte Details. Sokrates ist nicht mit eigenen klugen Gedanken schwanger (150c3–d2), ist auch niemandes Lehrer (vgl. Apologie 33a5–6), sondern er hilft seinen Ge7 Eine ausführliche, vorzügliche Interpretation des epistemischen Eros im Symposium bietet Detel 1998.

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sprächspartnern bei der Entwicklung ihrer Gedanken. Sokrates! Auskunft, er selbst habe gar keine eigenen klugen Gedanken vorzuweisen, ist – wenn Apologie und Theaitet in Platons Absicht vereinbar sein sollen – indes wohl nicht so zu verstehen, daß sie auch das Wissen zweiter Ordnung einschlösse, das er in der Apologie das »menschliche Wissen« nennt. Vermutlich möchte Sokrates an Ort und Stelle sagen, daß er selbst als Geburtshelfer seinen Gesprächspartnern Fragen stellt und in der Tat ausschließlich deren Antworten prüft, ohne eigene Vorschläge zur Beantwortung seiner Fragen zu machen. Einige seiner Gesprächspartner machen unerwartete Fortschritte und entdecken in sich selbst »viele schöne Dinge« (150d7–8), nämlich diskussionsfähige Gedanken, während sich andere von ihm und der gemeinsamen Rechenschaftgabe abgewandt und so keine Fortschritte gemacht hätten (150d2–151a6). Mit anderen Worten: Die sokratische Gedankengeburtshilfe richtet sich an die gedankliche Selbstbestimmung seiner Gesprächspartner; Sokrates möchte seine Gesprächspartner selbst erkennen lassen, was sie wissen oder nicht wissen. Die wichtigste Aufgabe der sokratischen Kunst besteht darin, wahre und verständliche Gedanken von unverständlichen Gedanken zu unterscheiden (150a9– b4, b9–c3). Der Gott Artemis verbiete Sokrates, je »etwas Falsches zu akzeptieren und etwas Wahres zu verwerfen« (151d2–3). Freilich beruft Sokrates sich nicht lediglich auf den göttlichen Auftrag, die Gedanken seiner Gesprächspartner fehlerfrei prüfen zu sollen, sondern er nimmt auch die Fähigkeit in Anspruch, diesen Auftrag erfüllen zu können. Wenn Sokrates nun in der Tat in der Lage ist, eine Meinung allen möglichen Tests zu unterziehen, und er dabei niemals einen Irrtum zuläßt oder eine Wahrheit verwirft, dann verfügt er über die jedenfalls methodisch infallible Fähigkeit, die epistemische Qualität von Meinungen zu prüfen, und er verfügt ebenfalls über eine Theorie adäquater Definitionen. Sokrates verfügt nach eigenem Bekunden über seine Hebammenkunft nur insgeheim (149a7). Seine Gesprächspartner scheinen zunächst einmal gar nicht zu wissen, daß Sokrates ihnen bei der Entwicklung ihrer eigenen Gedanken hilft. Auch mit diesem Hinweis scheint Sokrates die Erfahrung zum Ausdruck zu bringen, daß einige seiner Gesprächspartner das Ziel der epistemischen Geburtshilfe mißverstehen und so möglicherweise auch geneigt sind, den Gerüchten Glauben zu schenken, die Sokrates in der Apologie aufzuklären sucht. Sokrates versichert Theaitet am Ende der komplexen Erörterungen des gleichnamigen Dialoges, Theaitet wisse nun jedenfalls, was er weiß und nicht weiß, und er fügt hinzu, es sei eben dies und nicht mehr, was seine Hebammenkunst zu bewirken vermöge (Theaitet 210b11–c5). Auch diese Auskunft ist sehr gehaltvoll. Das Wissen zweiter Ordnung über die eigenen Hypothesen und Wissensansprüche ist zwar das einzige Wissen, das man mit der Hilfe der Sokratischen Mäeutik zu gewinnen vermag, aber dieses Wissen hat es in sich: Wenn man weiß, was man über einen ganz bestimmten Sachverhalt weiß oder nicht weiß, und zwar deshalb, weil man seine spontanen Meinungen erfolgreich geprüft und auf diesem Wege Irrtümer (und vermeintliches Wissen) eingesehen und überwunden

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hat, dann weiß man auch, auf welche Weise man seine spontanen Meinungen erfolgreich prüft, hat also Methoden kennengelernt, mit deren Hilfe man ein Wissen zweiter Ordnung gewinnt. Mit anderen Worten: Wenn man über ein Wissen zweiter Ordnung verfügt, mit dessen Hilfe man tatsächliches von vermeintlichem Wissen zu unterscheiden vermag, dann weiß man auch, was es grundsätzlich heißt, etwas zu wissen oder nicht zu wissen. Deshalb enthält das Wissen zweiter Ordnung – der Möglichkeit nach – auch ein generelles methodologisches Wissen, und zwar eine Theorie adäquater Definitionen und das Wissen über den modus operandi der Wissenssuche, d. h. vor allem die Kenntnis logischer Regeln (siehe dazu den Anhang dieses Aufsatzes). Durch weiteres Nachdenken kann man dieses Wissen anreichern, und wenn man es in der Form einer vollständigen Theorie darstellen wollte, so gelangte man schließlich – modern gesprochen – zu einem Kalkül des natürlichen Schließens.

6. Die sokratische Wissenssuche Sokrates arbeitet in Platons Dialogen mit zwei verschiedenen Konzepten eines Wissens erster Ordnung. Als Wissen in einem engeren (sehr anspruchsvollen Sinne) charakterisiert er das Wissen, u¨ ber das man dann verfu¨ gt(e), wenn man genau weiß, was F ist, und F vollständig zu definieren vermag. Dieses Wissen ist ein perfektes, nicht weiter verbesserungsfähiges Wissen. Als Wissen in einem weiteren (weniger anspruchsvollen Sinne) charakterisiert Sokrates die wahren und verfügbaren Meinungen u¨ ber bestimmte Eigenschaften von F, die man durch den erfolgreichen Gebrauch wahrheitssichernder und irrtumsvermeidender Methoden gewinnt. Das Ziel der sokratischen Fragen sind formal und inhaltlich korrekte, vollständige Antworten auf Was-ist-F?-Fragen, d. h. erklärende Definitionen (so z. B. in Laches 191d1–e11). Am Anfang einer sokratischen Untersuchung stehen Meinungen in der Funktion hypothetischer Definitionen. Es gibt viele Sachverhalte, die man problemlos definieren kann, so etwa exakte Größengleichheit (Phaidon), lineare Inkommensurabilität oder auch Lehm und die Sonne (Theaitet). In Platons Dialogen gelingt es aber niemandem, eine bestimmte Tugend oder eine insgesamt gute seelische Verfassung zu definieren. Gleichwohl ermöglicht die erfolgreiche Meinungspru¨ fung in jedem Falle (i) ein Wissen zweiter Ordnung über den epistemischen Status der eigenen Meinungen und (ii) in einigen Fällen auch ein Wissen erster Ordnung in der Form begründeter wahrer Meinungen u¨ ber die Gegenstände der sokratischen Was-ist-F?-Fragen und schließlich auch (iii) ein Wissen über adäquate Definitionen und logische Regeln.8 8 Die Gegenstände von Definitionsfragen, die man in der Platonforschung üblicherweise Ideen nennt, sind abstrakte Entitäten, die räumlich, zeitlich und qualitativ unveränderlich und ebenfalls die Gegenstände exakten Wissens sind, vgl. dazu mit

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Wenn man seine Meinungen pru¨ ft, so fragt man sich, ob man sich eine bestimmte Meinung unter den jeweils bestmöglichen epistemischen Bedingungen gebildet hat und bestätigt oder korrigiert schließlich diese Meinung. Wie man das macht, demonstriert Sokrates in Platons Dialogen auf Schritt und Tritt. Ein Wissen zweiter Ordnung ist das erste Ergebnis des Nachdenkens u¨ ber die eigenen Meinungen: Wenn man eine bestimmte Meinung erfolgreich gepru¨ ft hat, dann weiß man, ob man sich diese Meinung unter den jeweils bestmöglichen epistemischen Bedingungen gebildet, also alle jeweils relevanten und verfu¨ gbaren logischen und empirischen Gru¨ nde, die fu¨ r oder gegen eine Meinung sprechen, beru¨ cksichtigt hat. Wenn man das weiß, kann man noch einmal u¨ ber den Sachverhalt seiner urspru¨ nglichen Meinung nachdenken, sich eine neue, gegebenenfalls besser begru¨ ndete Meinung u¨ ber denselben Sachverhalt bilden und so die urspru¨ ngliche Meinung bestätigen, korrigieren oder ganz aufgeben. Wenn man die Gru¨ nde, die gegen eine bestimmte Annahme sprechen, genau kennt, dann weiß man auch, daß man eben genau diese Gru¨ nde (und Einwände) in einer nächsten und besseren Antwort zu beru¨ cksichtigen hat. Ein Beispiel aus dem Laches: Die Frage, was Tapferkeit ist, beantwortet Laches zunächst mit dem Vorschlag, jemand sei genau dann tapfer, wenn er auf eine beharrliche und kluge Weise mit Gefahren umgeht. Sokrates fragt Laches, ob er jede tapfere Handlung für anerkennenswert hält, und weist ihn darauf hin, daß nicht jede beharrliche, kluge Handlung anerkennenswert ist. Wenn nun jede tapfere Handlung anerkennenswert, aber nicht jede beharrliche, kluge Handlung anerkennenswert ist, dann ist nicht bereits jeder tapfer, der auf eine beharrliche und kluge Weise mit Gefahren umgeht. Laches erkennt jetzt die Unvereinbarkeit der drei genannten Meinungen, die er zuvor nicht bedacht hatte, und korrigiert seinen urspru¨ nglichen Vorschlag u¨ ber die Tapferkeit (Laches 192c-d). Das zweite Ergebnis der erfolgreichen Meinungspru¨ fung ist ein Wissen erster Ordnung in der Form derjenigen Meinungen, die Sokrates im Menon (98a5–8) als wahre, »befestigte« und »bleibende« Meinungen oder in der Politeia (534b–d) als widerstandsfähige Erklärungen charakterisiert. Dies sind Meinungen, die man sich auf eine verlässliche, wahrheitsfördernde und irrtumsvermeidende Art und Weise unter den jeweils bestmöglichen epistemischen Bedingungen gebildet hat, die man zum Zeitpunkt der Urteilsbildung kennt und auch selbst herzustellen vermag. Das ist, wie gesagt, genau dann der Fall, wenn man in der Bildung einer bestimmten Meinung, daß p, alle einem selbst jeweils bekannten und verfu¨ gbaren Textbelegen Hardy 2011: 71–106, Patzig 1996 und Wieland 1999. Im Theaitet (201c–202d) charakterisiert Sokrates das fallible, aber gleichwohl begründete Wissen über einen bestimmten Sachverhalt als eine mit einer Erklärung (logos) verknüpfte Meinung, erwägt die genannte Charakterisierung dort auch als eine Definition von Wissen und diskutiert die Einwände, die gegen eine solche Definition sprechen (vgl. dazu Hardy 2001: 217– 301). Enskat 2003, 2011 erläutert die systematische Relevanz der Platonischen Wissenskonzeption.

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relevanten empirischen und logischen Gru¨ nde beru¨ cksichtigt hat, die fu¨ r oder gegen eine bestimmte Meinung sprechen. Die befestigten wahren Meinungen, die in der Seele bleiben (Menon 98a5–6), sind verfügbare Meinungen; sie stehen ihrem Urheber in der Weise zur Verfügung, daß er ausdrücklich weiß, daß er ganz bestimmte Meinungen über einen Sachverhalt hat, ihren Gehalt also genau kennt, diese Meinungen mit anderen Meinungen logisch und explanatorisch verknüpfen kann und auf der Grundlage dieser Meinungen auch zielführend zu handeln vermag (Menon 97e6–98a1). Die Wissenssuche erfolgt in drei Schritten: (1) Explikation einer bestimmten Meinung über F, die als eine hypothetische Definition von F zur Diskussion steht, (2) Prüfung dieser Meinung, (3) Korrektur oder Bekräftigung der ursprünglichen Meinung. Im Erfolgsfalle führt die Meinungsprüfung zu einer wahren, begründeten und verfügbaren Meinung. Ausdrücklich kommentiert Sokrates den Prozeß der Meinungspru¨ fung im Menon.9

7. Aus Fehlern lernen – die Geometriestunde im Menon Sokrates möchte in Menon 82b9–85b7 zeigen, daß etwas zu lernen heißt, sich an etwas zu erinnern (81a5–e2), wobei die Rede von Erinnerung genau betrachtet die Explikation eines potentiellen Wissens bedeutet. Sokrates stellt seinem Gesprächspartner (der ein Sklave im Hause des Menon ist) eine kleine geometrische Aufgabe (82a7–e3), für deren korrekte Lösung sein Gesprächspartner vor allem das Wissen zweiter Ordnung benötigt und auch tatsächlich erfolgreich zum Einsatz bringt, das Sokrates in der Apologie das menschliche Wissen nennt. Im Ausgang von einem gegebenen Quadrat gilt es, die Länge der Seite des Quadrats mit dem doppelten Flächeninhalt des Ausgangsquadrats zu bestimmen. Das ist die Diagonale des Ausgangsquadrats. Zunächst zeichnet Sokrates ein Quadrat, in das er auch die Diagonalen einträgt. Sokrates! Gesprächspartner steht daher die gesuchte Seite des doppelt so großen Quadrats durchaus vor Augen, nur weiß er eben zunächst noch nicht, daß es sich in der Tat um die gesuchte Seite handelt. Sokrates erweitert dann die Ausgangszeichung zu einer Zeichnung mit vier Quadraten und stellt dabei bestimmte Fragen, auf die der Schüler so antwortet, daß er schließlich erkennt, daß die Diagonale des gegebenen Quadrats die gesuchte Seite ist. Die Geometrielektion gliedert sich in drei Schritte. (1) Der Schüler gibt zuerst eine falsche Antwort (82e2–3); er meint, das gesuchte Quadrat sei das Quadrat mit der doppelten Seitenlänge des Ausgangsquadrats. Sokrates kommentiert diese erste Antwort ausdrücklich so, daß sein Gesprächspartner zu wissen glaube, was er tatsächlich nicht weiß (82e4–13). Die Lektion beginnt also mit einer falschen Meinung, die ihr Urheber für wahr hält. (2) Nach der Einsicht in seinen 9 Für eine detaillierte Strukturanalyse sokratischer Untersuchungen vgl. Benson 2000, Hardy 2011, Heitsch 2004b und Stemmer 1992.

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Fehler erkennt der Schüler, daß seine erste Antwort falsch war und er nicht über Wissen verfügte (82e14–84a2), obwohl er zuvor dachte, er habe Wissen (82e1–9). Das ist der entscheidende Schritt auf dem Weg zum tatsächlichen Wissen (84a3– c9). Der Schüler weiß jetzt, was er nicht weiß, zuvor jedoch zu wissen glaubte, und er hat jetzt auch den Wunsch, nach Wissen zu suchen (84b10–c1). (3) Im weiteren Verlauf der Geometriestunde findet der Schüler schließlich die korrekte Lösung der Aufgabe. Er erkennt, daß das gesuchte Quadrat mit dem doppelten Flächeninhalt des Ausgangsquadrats eine Seitenlänge hat, die der Diagonale des Ausgangsquadrats gleich ist. Diese korrekte Auskunft bezeichnet Sokrates zunächst nicht als Wissen, sondern als eine wahre Meinung (85b8–c10). Durch wiederholte Übungen gewinnt man schließlich jedoch ein genaues Wissen (85c11– d1). Das gilt sowohl für die Geometrie als auch für Gegenstände anderer Art (85e1–3).10 Im Menon nimmt der Weg des Lernens durch Irrtumseinsicht und Fehlerkorrektur seinen Ausgang von einem vermeintlichen Wissen, führt zu der Einsicht, daß man etwas nicht weiß, und schließlich zu einem tatsächlichen Wissen des gesuchten Sachverhalts. Der entscheidende Schritt zum Wissen ist die Fehlerkorrektur, die wiederum eine Veränderung der Einstellung zu den eigenen Meinungen erfordert. Der Schüler erkennt schließlich den geometrischen Sachverhalt, der ja der Sache nach offen zu Tage liegt (die gesuchte Größe ist von Anfang an in den Sand gezeichnet). Der Übergang von einer Meinung, daß p, zum Wissen, daß p, bedeutet den Erwerb eines entsprechenden propositionalen Wissens. Dieser Übergang wird an späterer Stelle im Menon weiter erläutert (96d5–98b6).11 Das Wissen über einen bestimmten geometrischen Sachverhalt, das Sokrates! Gesprächspartner im Menon erlangt, geht einher mit einem Wissen zweiter Ordnung – mit der Einsicht, daß er zuvor eine tatsächlich falsche Meinung für Wissen gehalten hat. Zu wissen, daß man lediglich über eine Meinung verfügt, bedeutet, nicht irrtümlich zu glauben, etwas zu wissen. Diese Einsicht verändert zwar nicht den propositionalen Gehalt einer bestimmten Meinung. Aber sie verändert den epistemischen Status einer Meinung. Mit der Einsicht in vermeintliches Wissen und der Überwindung dieses Zustands gewinnt eine Person ein Wissen zweiter Ordnung: das Wissen davon, daß sie eine möglicherweise wahre Meinung hat, deren Wahrheit jedoch erst dann gesichert ist, wenn sie diese

10 Wenn das Wissen über einen bestimmten Sachverhalt durch wiederholte Übungen gefestigt wird, hat man auch die Möglichkeit, auf der Grundlage eines bestimmten Wissens weitere Sachverhalte zu entdecken. Um das Beispiel der Geometriestunde des Menon zu variieren: Wenn man einen Beweis für die Inkommensurabilität der Seitenlänge eines Quadrats mit dem Flächeninhalt 2 (d. h. die Irrationalität der Quadratwurzel der Zahl 2) gefunden hat, kann man sinnvollerweise versuchen, diesen Beweis zu verallgemeinern (vgl. Theaitet 147e–148b). 11 Vgl. dazu Hardy 2011: 200–209.

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Meinung zu rechtfertigen, so etwa durch wiederholte Überprüfung zu bestätigen vermag. Das Wissen zweiter Ordnung ermöglicht auch die Überwindung möglicher Aporien. Auf den ersten Blick enden die sokratischen Untersuchungen stets in einer Aporie, d. h. in einem Widerspruch, den man nicht überwinden kann. Doch so ist es nicht. Die Erörterung hypothetischer Definitionen führt zwar sehr oft zu dem Problem, daß ein Gesprächspartner eine ganz bestimmte Frage, die sich zuvor aus einer Was-ist-F?-Frage ergeben hat, nicht beantworten kann, und auch Sokrates nun einmal keine solche Antwort gibt. Aber nicht jedes Problem ist eine Aporie. Probleme sind lösbar, Aporien sind es nicht. In einer wirklich aporetischen, ausweglosen Situation befindet man sich erst dann, wenn man eine bestimmte Frage nicht beantworten kann und ebenfalls nicht weiß, welches Wissen man denn bräuchte, um diese Frage beantworten zu können. In den meisten, auf den ersten Blick aporetischen Situationen in Platons Dialogen ist jedoch recht klar, welche ganz bestimmte Frage man mit Hilfe welchen Wissens zu beantworten hätte. Zwei schöne Beispiele dafür bietet erneut der Laches. In diesem Dialog läuft das Gespräch zwischen Sokrates und Laches darauf hinaus, daß Laches die Tapferkeit so zu definieren hätte, daß jede tapfere Handlung beharrlich, klug und auch anerkennenswert ist. Und das Gespräch zwischen Sokrates und Nikias läuft darauf hinaus, daß Nikias seine eigene, von Sokrates inspirierte These, der zufolge der Tapfere über das Wissen allgemeiner gefährlicher oder unbedenklicher Sachverhalte verfügt (Laches 194d1–2, d4–5), so zu interpretieren hätte, daß sie mit einer anderen unproblematischen These, der Nikias ebenfalls zustimmt, nämlich der These, die Tapferkeit sei nur eines der vielen Elemente einer insgesamt guten seelischen Verfassung (198a4–b1), vereinbar ist. In beiden Fällen ist das jeweils erforderliche Wissen der Sache nach verfügbar und die Probleme sind lösbar.12 Wer sich ernsthaft auf Sokrates! Fragen einläßt, nimmt die Einstellung der Wissenssuche (philo-sophia) ein und kann den epistemischen Status seiner Meinungen erkennen und verbessern. Wenn Sokrates das Ziel seiner Fragen und die Methode der Beantwortung dieser Fragen klar erläutert, ohne selbst abschließende Antworten auf seine Fragen vorzugeben, so möchte er seine Gesprächspartner selbst herausfinden lassen, was sie u¨ ber eine Sache wissen oder nicht wissen (Theaitet 210b11–c5). Darin besteht die Sokratische Sorge um Gedanken. Mit anderen Worten: Die Rechenschaftgabe macht jemanden zu einem selbstbestimmten Urheber seiner Meinungen. Die Sorge um Gedanken ist auch die Voraussetzung für die Sorge um die Seele, die Sokrates sich zur Aufgabe

12 Zum Laches vgl. Hardy 2014: 113–168. Zur Überwindung der Aporien in verschiedenen Fru¨ hdialogen Platons vgl. auch die schöne, instruktive Studie von Erler 1987: 259–267.

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macht.13 Die Erläuterung dieser Aufgabe ist der dritte Akt der öffentlichen Aufklärung in der Apologie.

8. Dritter Akt: Die Sorge um die Seele Nachdem Sokrates die Vorurteile über seine Person entlarvt und das menschliche Wissen erläutert hat, das er mit seinen wahrheitsgeneigten Mitmenschen teilt, erwägt er die Möglichkeit, die Jury werde ihn freisprechen, falls er fortan darauf verzichtet, nach Wahrheit und Wissen zu suchen, und er erklärt der Jury, daß er seine fragende und prüfende Lebensweise im Interesse seiner Mitbürger niemals aufgeben könne: »Mein bester Mann, du, ein Athener, aus der bedeutendsten und ob ihrer Kultur und Stärke angesehensten Stadt, schämst du dich nicht, dich um Geld zu sorgen, daß du möglichst viel davon hast, und um Ruhm und Ehre, um Einsicht aber und um Wahrheit und um deine Seele, daß sie möglichst gut wird, sorgst und kümmerst du dich nicht?« Und wenn einer von euch widerspricht und behauptet, er kümmere sich darum, dann lasse ich nicht sofort von ihm ab und gehe weiter, sondern stelle ihm Fragen, prüfe ihn und zwinge ihn zu antworten, und wenn ich den Eindruck habe, er besitze keine Tüchtigkeit, behaupte das aber, dann mache ich ihm Vorwürfe, daß er das Wertvollste am geringsten achtet und das Wertlose höher. … Denn das gebietet der Gott, dessen seid gewiß, und ich glaube, daß euch in der Stadt noch nie ein größeres Gut zuteil geworden ist als dieser mein dem Gott gewidmete Dienst. Denn nichts anderes tue ich, wenn ich umhergehe, als die Jüngeren und Älteren unter euch zu mahnen, euch nicht vor allem um leibliches Wohl und Hab und Gut zu sorgen und nicht so intensiv wie um die Seele, daß sie möglichst gut wird: wobei ich erläutere: ›Nicht aus Reichtum kommt Tüchtigkeit, sondern aus Tüchtigkeit Reichtum und alle anderen menschlichen Güter im Privaten und Öffentlichen.‹ (Apologie 29d2–30a7).

Sokrates ist davon überzeugt, daß jeder Mensch sich vorrangig um Einsicht und eine bestmögliche seelische Verfassung kümmern sollte, weil man von möglichen Gütern wie Reichtum und Ansehen nur dann einen wirklich glückszuträglichen Gebrauch zu machen vermag, wenn man sich in einer guten seelischen Verfassung befindet. Wenn Sokrates auf Menschen trifft, die behaupten, sich um ihre seelische Verfassung zu kümmern, stellt er sie auf die Probe, prüft ihren Anspruch, sich gut um sich selbst zu kümmern, und appelliert dabei an das eigene Interesse seiner Mitmenschen. Darauf kommt es an. Was Sokrates mit der Ermahnung zur Sorge um die Seele im Blick hat, ist die Tatsache gemeinsamer Ansprüche, Forderungen und Werte. Mit der Behauptung, sich gut um etwas zu kümmern, erhebt man den Anspruch, eine bestimmte Fä13 Sorge ist das philosophische Leitmotiv der Apologie des Sokrates, vgl. dazu Heitsch 2004a: 187–189.

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higkeit erfolgreich ausgeübt und somit eine bestimmte Leistung erbracht zu haben. Das ist dann der Fall, wenn man die Forderungen erfüllt hat, die man selbst an die erfolgreiche Ausübung einer bestimmten Fähigkeit und an entsprechende Leistungen stellt. Die Ansprüche und Forderungen, die wir an eine erfolgreiche Ausübung unserer eigenen glücksrelevanten Fähigkeiten stellen, bringen gemeinsame Werte zum Ausdruck; wir teilen sie mit anderen Menschen, weil wir annehmen, daß auch sie die erfolgreiche oder jedenfalls erfolgversprechende Ausübung ihrer glücksrelevanten Fähigkeiten für wertvoll halten. Im Falle der Prüfung von Meinungen geht es um epistemische Forderungen, d. h. um Forderungen, die wir an eine erfolgreiche Meinungsbildung stellen. Wenn man behauptet, zu wissen, daß etwas der Fall ist, erhebt man den Anspruch, gemeinsame epistemische Forderungen erfüllt zu haben und seine Meinung deshalb gegenüber anderen Menschen rechtfertigen, also zeigen zu können, daß man mit guten Gründen glaubt, daß etwas der Fall ist. So verhält es sich Sokrates zufolge nun auch mit der Sorge um eine insgesamt gute, glückszuträgliche seelische Verfassung. Jeder Mensch hat den Anspruch, für sich selbst Sorge zu tragen und anderen zeigen zu können, daß er diesen Anspruch in seinen privaten und öffentlichen Handlungen erfüllt. Deshalb appelliert Sokrates an die Scham seiner Mitbürger. Scham empfindet man dann, wenn man Ansprüche, die man an sich selbst stellt, nicht erfüllt hat (vgl. etwa Laches 179c1–d2). Wer behauptet, er ku¨mmere sich um seine gute seelische Verfassung, erhebt den Anspruch, gemeinsame Forderungen an ein gelingendes Leben in seinem eigenen öffentlichen und privaten Handeln, so etwa durch die erfolgreiche Ausübung seines Berufes, die Wahrnehmung öffentlicher Ämter oder die Erziehung seiner Kinder, zu erfüllen und anderen dies auch zeigen zu können. Wer sich nun fragt, was er tun soll, ist sich nicht sicher, ob er sich wirklich gut um sich selbst kümmert, rechnet damit, daß er sich in seinen Überzeugungen über ein gelingendes Leben irrt, und möchte wissen, wirklich wissen, ob bestimmte Handlungen, die ihm wu¨ nschenswert zu sein scheinen, tatsächlich wu¨ nschenswert sind.

9. Ein Interpretationsvorschlag zur sokratischen Sorge um die Seele: Allgemeine, vorrangige Lebensziele Die ›Sorge um die Seele‹, von der Sokrates in der Apologie spricht, ist das Bemühen um eine glückszuträgliche seelische Verfassung, in der man über die Fähigkeiten und Handlungskompetenzen verfügt, die man für ein gelingendes Leben braucht. Das Glu¨ck, das Sokrates im Blick hat, können wir im Sinne allgemeiner, vorrangiger Handlungsziele verstehen. Mit unseren je besonderen u¨berlegten Handlungen verfolgen wir stets auch allgemeine, vorrangige Ziele. Ein allgemeines, vorrangiges Ziel ist eines, das wir aus bestimmten Gru¨ nden fu¨ r besonders wu¨ nschenswert halten, mit verschiedenen Handlungen aus jeweils denselben Gru¨ nden anstreben und uns deshalb in jedem Falle fu¨ r die Handlungen

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entscheiden, die diesem Ziel dienen. Wenn ich am fru¨ hen Morgen eines jeden Tages zehn Kilometer laufe, so verfolge ich mit diesen je besonderen Handlungen das allgemeine Ziel, gesund zu bleiben. Andere Menschen mögen mit der gleichen Handlung andere allgemeine Ziele verfolgen; jemand mag etwa deshalb an jedem Tag zehn Kilometer laufen, weil er sich auf einen Marathonlauf vorbereitet und damit wiederum das allgemeine Ziel verfolgt, seine körperliche Leistungsfähigkeit zu steigern. Wenn man zwischen alternativen Handlungen zu wählen hat, entscheidet man sich im Blick auf ein allgemeines, vorrangiges Ziel fu¨ r die Handlung, mit der man eben dieses Ziel am besten erreichen kann. Wenn wir uns dafu¨ r entscheiden, einer karitativen Organisation Geld zu spenden, das wir auch fu¨ r eine Weltreise einsetzen könnten, so geben wir dem Ziel, anderen Menschen zu helfen, den Vorrang vor dem Ziel, neue Länder und Kulturen kennenzulernen, obwohl wir auch das fu¨ r sehr wu¨ nschenswert halten. Sokrates gibt dem Ziel, den Gesetzen Athens zu gehorchen, den Vorrang vor anderen Zielen, wenn er sich gegen eine mögliche Flucht aus dem Gefängnis entscheidet. Freilich kann man bestimmte Handlungen auch um ihrer selbst willen ausu¨ ben, so etwa Schach spielen oder Tango tanzen; in diesen Fällen ist eben die Ausfu¨ hrung einer Handlung um ihrer selbst willen ein vorrangiges Ziel. Wir können zwei Arten von allgemeinen, vorrangigen Zielen unterscheiden: inhaltliche und modale Ziele. Allgemeine, vorrangige, inhaltliche Ziele sind etwa Gu¨ ter wie Gesundheit, Reichtum, Schönheit oder Ansehen, die Sokrates gelegentlich aufzählt (Apologie 30b–c, Euthydem 278e–282a, Menon 87d–88d). Menschen haben freilich unterschiedliche, je individuelle Vorstellungen von ihrem Glu¨ ck und verfolgen in ihrem Leben verschiedene allgemeine, vorrangige, inhaltliche Ziele. Es gibt jedoch auch Ziele, die wir dann verfolgen, wenn wir etwas auf eine erfolgreiche Art und Weise tun wollen und uns deshalb darum bemu¨ hen, bestimmte Fähigkeiten auf eine bestmögliche Weise auszuu¨ ben (oder zu verbessern). Nennen wir solche Ziele allgemeine, vorrangige, modale Ziele. Modale und inhaltliche Ziele werden freilich in der Regel gemeinsam angestrebt. Dennoch können wir die beiden Arten von Zielen begrifflich so voneinander unterscheiden, daß wir mit dem Erstreben eines inhaltlichen Ziels in erster Linie einen bestimmten Zustand in der Welt herstellen (oder auch vermeiden) möchten und mit dem Erstreben eines modalen Ziels, wie gesagt, in erster Linie eine bestimmte Fähigkeit erfolgreich ausu¨ ben und etwas auf eine erfolgreiche (oder jedenfalls erfolgversprechende) Art und Weise tun möchten. Sokrates möchte in Platons Dialogen offenbar zeigen, daß jeder Mensch im Sinne seines Glu¨ cksstrebens drei (nach unserer Wortwahl) allgemeine, vorrangige, modale Ziele verfolgen sollte, um seine (je individuellen) inhaltlichen Lebensziele erreichen zu können, und zwar (i) das jeweils bestmögliche Wissen u¨ ber Sachverhalte, (ii) das von Wissen bestimmte Handeln und (iii) das gerechte, d. h. moralische Handeln. Mit anderen Worten: Wir möchten unsere Urteilsfähigkeit so ausu¨ ben, daß wir wissen, wie es sich mit einer Sache verhält. Wir möchten unsere Fähigkeit, etwas zu wollen, so ausu¨ ben, daß wir unser Wollen von (dem

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jeweils bestmöglichen) Wissen u¨ ber vorteilhafte Handlungen bestimmen lassen. Und wir möchten in unseren Handlungen auf die glu¨ cksrelevanten Interessen anderer Menschen Ru¨ cksicht nehmen. Wenn man im Sinne der Apologie (29d2– 30a7) für sich selbst und seine Seele Sorge trägt, dann bemu¨ ht man sich in erster Linie um die erfolgreiche und bestmögliche Ausu¨ bung dieser Fähigkeiten. Das Interesse an einer erfolgreichen Ausu¨ bung der ersten beiden Fähigkeiten scheint auf den ersten Blick eine Selbstverständlichkeit zu sein. Wenn Sokrates seine Gesprächspartner daran erinnert, daß sie diese Fähigkeiten nicht vernachlässigen du¨ rfen, so geht es ihm aber wohl um eine besondere – keineswegs selbstverständliche – Sorgfalt und Genauigkeit des Nachdenkens. Wenn man sehr sorgfältig und genau u¨ ber die eigenen Meinungen und Absichten nachdenkt, wird man auf viele mögliche Beeinträchtigungen des gelingenden, glu¨ ckszuträglichen Urteilens und Wollens aufmerksam, die man aus eigener Kraft vermeiden kann. Die erfolgreiche Rechenschaftgabe bewahrt eine Person vor einem schlechten, glu¨ cksabträglichen Gebrauch ihrer seelischen Fähigkeiten. Wenn man wirklich alles, wovon man auf irgendeine Weise Gebrauch macht, auf eine gute oder schlechte Weise gebrauchen kann, so trifft dies auch auf Handlungskompetenzen zu. Im Menon sagt Sokrates ausdru¨ cklich, daß die seelischen Eigenschaften nur mit Wissen auf eine wirklich gute Weise gebraucht werden: »Fu¨ hrt nicht u¨ berhaupt alles, was die Seele unternimmt und mit einer gewissen Beharrlichkeit betreibt, unter der Anleitung von Wissen zum guten Gelingen (eudaimonia) und bei mangelndem Wissen zum Gegenteil? – So scheint es zu sein« (Menon 88c1–4). Eine Handlungskompetenz wird auf eine glu¨ ckszuträgliche Weise gebraucht, wenn man die Handlungen ausfu¨ hrt, die man nach dem jeweils besten Wissen fu¨ r gut, d. h. glu¨ ckszuträglich, hält, und die Handlungen unterlässt, von denen man weiß, daß man eben nicht genau genug weiß, ob sie tatsächlich gut oder schlecht sind. Auf eine schlechte, glu¨ cksabträgliche Weise wird eine Handlungskompetenz gebraucht, wenn man vermeidbarerweise ohne ein jeweils bestmögliches Wissen – oder gar wider besseres Wissen – eine bestimmte Handlung ausfu¨ hrt. Wenn Sokrates seine Gesprächspartner paradoxerweise davon u¨ berzeugen will, daß sie bestimmte glu¨ cksentscheidende Interessen haben, so nimmt er offenbar an, daß einige Gesprächspartner nicht wissen, daß bestimmte Handlungen oder Unterlassungen in der Tat in ihrem eigenen Interesse sind. Das gilt in besonderer Weise fu¨ r das moralische Handeln. Sokrates ist davon u¨ berzeugt, daß Menschen ihre allgemeinen, vorrangigen Lebensziele nur gemeinsam und nur dann erreichen können, wenn sie gegenseitig auf ihre glu¨ cksrelevanten Interessen Ru¨ cksicht nehmen und deshalb moralische Forderungen akzeptieren. Das moralische (gerechte) Handeln ist deshalb sowohl um seiner Folgen willen als auch um seiner selbst willen vorrangig wünschenswert. Das ist das große Beweisziel der Politeia (I 343a1–354c3, IV 441c9–V 449a6, IX 580c9–592b6, X 612a8–614a4).14

14 Vgl. dazu den Interpretationsvorschlag in Hardy 2011: 251–281.

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Sokratische Aufklärung – Überlegungen zu Platons »Apologie des Sokrates«

Wenn wir uns um eine gute seelische Verfassung kümmern, dann prüfen und bewerten wir auch unsere Wünsche und Handlungsmotive. Freilich können wir Wu¨ nsche nicht in derselben Weise pru¨ fen wie Meinungen, denn Wu¨ nsche haben keine Wahrheitsbedingungen, sondern Erfu¨ llungsbedingungen. Aber wir können die Meinungen u¨ ber wu¨ nschenswerte Sachverhalte pru¨ fen, die mit unseren Wu¨ nschen verknu¨ pft sind, und wir können der Verknu¨ pfung von Meinung und Wunsch, die jeweils eine bestimmte Handlungsabsicht bildet, auf einer volitionalen Ebene zweiter Ordnung ausdru¨ cklich zustimmen oder nicht zustimmen. Wir können unsere Absichten ebenso prüfen und korrigieren wie unsere Meinungen, indem wir uns fragen und darüber nachdenken, ob bestimmte Handlungen in bestimmten Situationen tatsächlich oder nur scheinbar glückszuträglich sind. An diese Art der Selbstaufklärung gemahnt Sokrates in der Apologie (29d2– 30a7). Handlungen sind das Ergebnis von Meinungen, die mit Wu¨ nschen verknu¨ pft sind. Wenn man seine Meinungen u¨ ber möglicherweise wu¨ nschenswerte Handlungen erfolgreich gepru¨ ft hat, so weiß man (im Sinne eines jeweils bestmöglichen Wissens), daß eine bestimmte Handlung tatsächlich das ist, was man im Sinne seines Glu¨ cksstrebens tun will. Mit anderen Worten: Die sokratisch verstandene Rechenschaftgabe macht jemanden auch zu einem selbstbestimmten Urheber seiner u¨ berlegten Absichten.

10. Drei Dimensionen der sokratischen Aufklärung Sokratische Aufklärung ist die gemeinsame Sorge um gedankliche Selbstbestimmung. Sokrates ermutigt seine Gesprächspartner, ihre Gedanken als das Ergebnis ihrer eigenen kognitiven Leistungen ernst zu nehmen und wert zu schätzen, ihre Meinungen aufrichtig und präzise auszudru¨ cken und deren logischen Raum auszuloten. Wenn das eigene Leben gelingen soll, sollte es wohl zuallererst gelingen, sich über die eigenen Gedanken Klarheit zu verschaffen. Sokrates appelliert an das eigene Verstehen seiner Gesprächspartner. Wirklich verstanden hat man nur das, was man selbst verstanden hat. Allein das eigene Verstehen schafft wirkliches Wissen. Das aus eigener Kraft gewonnene Wissen kann man auch mit anderen teilen und gemeinsam verantworten (Laches 184d5– e9). Sokrates appelliert auch an den Wunsch, mit Wissen handeln zu wollen. Wir gehen keinen Schritt, ohne zu glauben, daß wir wissen, was wir tun. Wir pru¨ fen unsere Meinungen und Absichten, weil wir wissen, daß wir uns in unseren spontanen Meinungen u¨ ber wu¨ nschenswerte Handlungen und auch in unseren spontanen Handlungsabsichten irren können. Wenn man weiß, daß man sich u¨ ber das, was (fu¨ r einen selbst und andere Menschen) tatsächlich gut ist, irren kann, sollte man u¨ ber das eigene Handeln so genau und sorgfältig nachdenken, daß man jedenfalls die Irrtu¨ mer vermeidet, die man durch das eigene, genaue und sorgfältige Nachdenken in der Tat vermeiden kann.

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In der Apologie unternimmt Sokrates eine dreifache Aufklärung. Mit der Widerlegung der Vorurteile über seine eigene Person, die an Ort und Stelle an diejenigen gerichtet ist, die über ihn zu Gericht sitzen, demonstriert Sokrates in exemplarischer Form den möglichen Sieg der Wahrheit über die Vorurteile. Die Erläuterung des »menschlichen Wissens« ist eine Aufklärung über ein Wissen zweiter Ordnung, mit dessen Hilfe wir in jedem Falle reflektierte Meinungen gewinnen und wissen, was wir wissen oder nicht wissen. Mit der Erläuterung der Sorge um die Seele entwirft Sokrates schließlich ein Programm der Aufklärung als Lebensform; das prüfende Leben ist ein aufgeklärtes Leben, jenseits der Vorurteile und Täuschungen.

Anhang: Der modus operandi Sokratischer Untersuchungen Das Ziel einer sokratischen Was-ist-F?-Frage ist eine explizite und erklärungskräftige Definition. Platon verfu¨ gt freilich nicht u¨ ber den modernen Begriff einer adäquaten Definition, aber Dialoge wie etwa der Laches (191c7–192b8) zeigen recht klar, daß es in der fu¨ r Sokrates akzeptablen Beantwortung einer Was-ist-F?Frage der Sache nach um eine explizite Definition geht. Das Definiendum einer Definition ist der zu definierende allgemeine Sachverhalt, so etwa im Laches die Tapferkeit; es umfasst die Menge aller Dinge, die unter das Definiens fallen, so etwa jeden Fall einer tapferen charakterlichen Einstellung oder einer tapferen Handlung. Das Definiens enthält eine oder mehrere allquantifizierte Aussage(n) u¨ ber den allgemeinen Sachverhalt F, und das Definiens einer erklärenden Definition von F nennt auch die notwendigen und hinreichenden Bedingungen fu¨ r das Bestehen des Sachverhalts F, so etwa die Bedingungen fu¨ r tapferes Handeln. Zu wissen, »was etwas ist«, heißt zu wissen, unter welchen Bedingungen ein bestimmter Sachverhalt besteht. Auf präzise Weise bringt man eine explizite Definition in der Form einer allquantifizierten Bikonditionalaussage zum Ausdruck: Fu¨ r jedes X gilt, daß X genau dann die Eigenschaft F hat, wenn X die Eigenschaften {E1, …, En} hat. Mit anderen Worten: Wenn X die Eigenschaften {E1, …, En} hat, dann besteht der Sachverhalt ›X ist F‹. In Platons Dialogen werden Definitionen im allgemeinen in der Form eines einfachen Behauptungssatzes wie etwa »Tapferkeit ist kluge Beharrlichkeit« ausgedru¨ ckt, an dessen Subjektstelle das Nomen steht, das den zu definierenden Sachverhalt bezeichnet und an dessen Prädikatstelle das Definiens steht. Die Kopula »ist« erfu¨ llt in solchen definitionsäquivalenten Behauptungssätzen die Funktion des logischen Bikonditionaloperators. In einer adäquaten Definition sind Definiens und Definiendum extensionsund intensionsgleich. Die Extension ist die Menge aller Einzeldinge und Sachverhalte, die unter das Definiens fallen; diese Menge ist gemeint, wenn Sokrates im Laches von dem spricht, ›was in allen Fällen der Tapferkeit dasselbe ist‹ (191e9–11). Die Intension ist der Informationsgehalt des Definiens; sie ist das,

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was man u¨ ber einen Sachverhalt F weiß, wenn man versteht, was die Aussagen des Definiens bedeuten. Die Bedeutung einer Annahme zu verstehen, heißt, deren Wahrheitsbedingungen zu kennen, und wenn man die Bedeutung eines Definiens versteht, also die Wahrheitsbedingungen der darin enthaltenen Aussagen kennt, dann kennt man auch die Bedingungen fu¨ r den korrekten Gebrauch des entsprechenden Prädikats (generellen Terminus) »F«. Eine Definition von F ist insofern auch eine Erläuterung der Bedeutung des Wortes »F«, das in der Regel als ein freies Lexem auftritt und als (syntaktisches und logisches) Prädikat die Funktion erfu¨ llt, einem Einzelding eine bestimmte Eigenschaft zuzusprechen, so etwa in den Satzformen »Person P ist tapfer« oder »Handlung H ist eine tapfere Handlung«. Sokrates prüft im Laches, ob tatsächlich jeder Fall des Definiendum Tapferkeit, unter das jeweils vorgeschlagene Definiens fällt (und umgekehrt) und ob man unter dem, was man »F«, so etwa »Tapferkeit« oder »Schnelligkeit«, nennt, in jedem Falle genau das versteht, was der Inhalt des Definiens ist, was also jeweils als eine Auskunft u¨ ber das, »was etwas ist«, zur Diskussion steht. Wenn Sokrates danach fragt, »welche Fähigkeit, und zwar dieselbe bei Lust und Schmerz und allem, was wir gerade genannt haben (die Tapferkeit), ist und somit Tapferkeit heißt« (192b5–8), so hat er die Extension und die Intension des Definiens der Tapferkeit im Blick. Im Euthyphron, in dem es um eine Definition der Frömmigkeit geht, charakterisiert Sokrates den Gegenstand der entsprechenden Definitionsfrage als dasjenige, was in jeder frommen (oder nicht frommen) Handlung jeweils »sich selbst gleich ist« (5c8–d6). Das bedeutet: Mit einem generellen Terminus »F« wie »tapfer« oder »fromm« beziehen wir uns nicht allein auf ein Einzelding oder singuläres Ereignis, wie etwa eine ganz bestimmte tapfere oder fromme Handlung, sondern stets auch auf den allgemeinen Sachverhalt (oder die allgemeine Eigenschaft) F. Die Definitionsvorschläge in den sokratischen Dialogen haben folgende Form: Fu¨ r jedes X gilt: X hat genau dann die Eigenschaft F, wenn X die Eigenschaften {E1,…,En} hat. Ein Beispiel dafür ist eine Definition von Tapferkeit im Laches (192b9–d12): Fu¨ r jede Person gilt, daß sie genau dann tapfer ist, wenn sie sich beharrlich einer Gefahr stellt und ihre Handlungsweise sowohl klug als auch anerkennenswert ist. Auf dieser Grundlage kann man eine Definition im Blick auf weitere Instanzen von F informativ anreichern und das Definiens von F anhand exemplarischer Sachverhalte mit den Eigenschaften {E1,…,En} erläutern und veranschaulichen. Konstruieren wir zwei Beispiele: Wenn eine Person genau dann tapfer ist, wenn sie sich beharrlich einer Gefahr stellt und ihre Handlungsweise sowohl klug als auch anerkennenswert ist, und wenn jede Person, die sich einer langwierigen medizinischen Therapie unterzieht, sich beharrlich einer Gefahr stellt (nämlich der Gefahr, die von ihrer Erkrankung ausgeht) und diese Handlungsweise klug und anerkennenswert ist, dann ist jeder tapfer, der sich einer langwierigen medizinischen Therapie unterzieht. Und wenn ein Kapitän eine gefährliche Überfahrt von Athen nach Troja oder von Venedig nach Zypern

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unternimmt, das Schiff mit nautischer Klugheit fu¨ hrt und seine Seefahrt anerkennenswert ist (weil er Agamemnon nach Troja oder Othello nach Zypern bringt), dann handelt er tapfer. Aus dem genannten Definitionsprinzip ergibt sich auch ein Grundsatz, den Sokrates in der Widerlegung von Definitionen oft gebraucht: Wenn es mindestens ein X gibt, das zwar einige, aber nicht jede der F definierenden Eigenschaften {E1,…,En} hat, dann ist es ebenfalls nicht der Fall, daß jedes X die Eigenschaft F hat. Sokrates wendet dieses Pinzip zusammen mit der logischen Regel der reductio ad absurdum an, indem er zwei einander widersprechende Annahmen u¨ ber das jeweilige Definiendum, denen sein Gesprächspartner zustimmt, zusammenfu¨ gt und daraus ableiten kann, daß der Definitionsvorschlag falsch ist. Die Diskussion zwischen Sokrates und Laches enthält zwei Beispiele fu¨ r dieses Widerlegungsmuster (192b9–193d10). Laches! erster Definitionsvorschlag lautet: Fu¨ r jede Person und jede Handlung gilt, daß eine Person genau dann tapfer ist, wenn sie sich mit ihrer Handlungsweise beharrlich einer Gefahr stellt. Wenn eine Handlung tapfer ist, dann ist sie auch anerkennenswert. Nun sind aber einige Handlungen, mit denen eine Person sich beharrlich einer Gefahr stellt, nicht anerkennenswert. Also ist es nicht der Fall, daß jede Person genau dann tapfer ist, wenn sie sich beharrlich einer Gefahr stellt. Der zweite Vorschlag lautet: Tapfer ist eine Person genau dann, wenn sie sich auf beharrliche und kluge Weise einer Gefahr stellt. Aber einige solche Handlungen sind ebenfalls nicht anerkennenswert. Also ist es nicht der Fall, daß jede Person genau dann tapfer ist, wenn sie sich beharrlich und klug einer Gefahr stellt. Eine erklärende Definition von F nennt auch die notwendigen und hinreichenden Bedingungen dafu¨ r, daß ein ganz bestimmter, singulärer Sachverhalt, d. h. eine ganz bestimmte, raum-zeitlich beschreibbare Situation besteht, auf welche die Definition von F zutrifft. Die besonderen Situationen, die unter die Definition von F fallen, sind (logisch gesprochen) Instanzen von F. Der Gegenstand einer Definition ist aber insofern in jedem Falle ein allgemeiner Sachverhalt, als eine Definition sich nicht auf eine besondere Situation als solche bezieht, sondern die Bedingungen dafu¨ r nennt, daß eine besondere Situation die Eigenschaften hat, die jede Situation dieser Art, d. h. jede Instanz von F, hat (z. B. Laches 198c9–199a9). Diese logische Tatsache hat auch eine heuristische Bedeutung: Wenn die Gesprächspartner in Platons Dialogen pru¨ fen, ob ein Definitionsvorschlag jeden Fall von F erfasst (und erklärt), so können sie zum einen neue Fälle von F bzw. neue Eigenschaften von F entdecken, die sie zunächst noch nicht bedacht hatten, oder sie werden zum anderen auf Fälle aufmerksam, die zwar zunächst vermeintlich, tatsächlich aber nicht unter das Definiens »F« fallen. So können sie das Definiens einer hypothetischen Definition, d. h. die Beschreibung eines Sachverhalts F, gegebenenfalls neu bestimmen und auch den Umfang des Definiendum gegebenenfalls erweitern oder einschränken. Sokratische Untersuchungen verknüpfen so zwei gedankliche Operationen miteinander: Sokrates und seine wahrheitsgeneigten Gesprächspartner pru¨ fen

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einerseits, ob bestimmte Fälle von F zeigen, was der allgemeine Sachverhalt F ist, und andererseits, ob ein bestimmtes Einzelding in der Tat eine Instanz von F ist. In beiden Fällen gehen sie von einer zweifachen Hypothese aus: Sie nehmen zunächst einmal an, daß der gesuchte allgemeine Sachverhalt F bestimmte Eigenschaften hat, und fragen, ob eine mögliche Instanz von F alle diese Eigenschaften hat, und sie nehmen an, daß bestimmte Fälle tatsächlich Instanzen von F sind, und fragen, ob die Definition von F alle diese Fälle vollständig erfasst. Im Laches prüfen die Gesprächspartner zum einen, ob die Handlungen, mit denen jemand auf beharrliche und kluge Weise eine Gefahr zu bewältigen sucht, zeigen, daß die Tapferkeit in jedem Falle genau darin (oder jedenfalls darin) besteht, und sie pru¨ fen zum anderen, ob etwa das Verhalten von Soldaten, die mit technischer Überlegenheit und in der Überzahl beharrlich und klug ihre Gegner bekämpfen, wirklich tapfer ist (192e1–193c12). So werden zwei Fragen zugleich erörtert: Was ist F? und: Ist dieses besondere X eine Instanz von F? Deshalb können in der Pru¨ fung hypothetischer Definitionen sowohl die (möglichen oder tatsächlichen) konkreten Fälle von F genau erläutert als auch die jeweiligen Definitionsvorschläge gegebenenfalls korrigiert und verbessert werden. Sokrates versucht auf diese Weise ein Überlegungsgleichgewicht zwischen plausiblen hypothetischen Definitionen und allgemein akzeptierten Meinungen u¨ ber konkrete Fälle von F, so etwa u¨ ber unzweifelhafte Fälle tapferen Handelns, herzustellen.

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!crire pour agir – Zur Aktualität der französischen Aufklärung in der Figur des FranÅois-Marie Arouet, genannt Voltaire Katja Stoppenbrink

Il combattit les ath'es et les fanatiques. Il inspira la tol'rance, il r'clama les droits de l!homme contre la servitude de la f'odalit'. Po&te, historien, philosophe, il agrandit l!esprit humain, et lui apprit $ Þtre libre. (Inschrift zum Epitaph von Voltaire im Pariser Panth'on)1 Voltaire est plus qu!un chef d!'tats, c!est un chef d!id'es. (Victor Hugo [1878])2 Un 'crivain 'clips' par l!'normit' mÞme de son nom propre, devenu quasiment un nom commun […]. Ah, la fatalit' des œuvres perÅues, $ tort ou $ raison, comme moins 'clatantes, moins intelligentes, que leurs auteurs! La mis'rable gloire des 'crivains, des penseurs, qui 'crasent leurs propres livres sous le poids de leur r'putation et du fracas qu!elle fait! Pauvre Voltaire… Pauvre Candide… Pauvres Lettres philosophiques… Inconnu au bataillon, tout cela, de la »pens'e 68« et de ses r'f'rents… (Bernard-Henri L'vy [22011, 8])3

1 Dreizehn Jahre nach seinem Tod am 30. Mai 1778 wurden Voltaires sterbliche Überreste am 11. Juli 1791 in das Panth'on überführt. 2 Zitiert bei Cronk (2009, 1). Victor Hugo hat 1878 eine Gedenkrede zum hundertsten Todestag Voltaires gehalten, in der er herausstellte, dass bis zum 17. Jh. der jeweilige Herrscher zum Eponym der Epoche wurde (etwa: ›das Zeitalter Ludwigs XIV.‹), für das 18. Jh. davon aber abgewichen wurde: Es gilt Hugo als das Zeitalter Voltaires. 3 »Ein Schriftsteller der, von der Größe seines eigenen Namens [alternativ: Eigennamens] in den Schatten gestellt, gleichsam zu einem gewöhnlichen Namen [alternativ: Allgemeinbegriff] geworden ist […]. Das ist das Schicksal der Werke, die – zu Recht oder zu Unrecht – als weniger durchschlagend, weniger intelligent als ihre Verfasser angesehen werden. Die bedauernswerte Berühmtheit der Schriftsteller und Denker, deren eigene Bücher von dem Gewicht und Getöse ihres Ruhmes erdrückt werden! Armer Voltaire … Armer Candide … Arme Lettres philosophiques … All das den ›68ern‹ und ihren Nachfolgern völlig unbekannt …« (Meine Übers., K.S.)

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I.

Einleitung

Hat ›die Aufklärung‹ uns Heutigen noch etwas zu sagen? Kann das Licht der ›Lumi&res‹ in sinnvoller Weise gegenwärtige Verhältnisse erhellen helfen? Ist nicht insbesondere die ›französische Aufklärung‹ – hier zunächst verstanden als Epoche der Philosophiegeschichte – von den nachfolgenden (insbesondere post-) revolutionären Ereignissen entweder bestätigt oder ad absurdum geführt worden? – Ein Standardvorwurf späterer Philosophengenerationen gegenüber ›der Aufklärung‹ richtet sich gegen deren tatsächliche oder vermeintliche ›Ahistorizität‹. Der Vorwurf ist, auch das ist ein Gemeinplatz, mehrdeutig. Er kann sich mindestens gegen folgende mutmaßliche Merkmale der Philosophie der Aufklärung richten: 1. Mangelndes Interesse an (Philosophie-) Geschichte, d. h. an genetisch-historischen Zusammenhängen; 2. mangelnde historische Kontextualisierung vermeintlich überzeitlicher Philosopheme, u. a. durch interpretative Vernachlässigung historischer Zusammenhänge; 3. mangelnde Anerkennung von ›Geschichte‹ als Geltungsgrund (in ethischer wie epistemischer Hinsicht), d. h. Verkennung etwaiger fundierend-normativer historischer Zusammenhänge; 4. Mangel an bzw. mangelbehaftete Geschichtsphilosophie. Der letztgenannte Punkt ist in verschiedenen Versionen der Philosophie der Aufklärung vorgehalten worden. So wird etwa das Fehlen einer diesen Namen verdienenden ›Geschichtsphilosophie‹ im Sinne einer ›Philosophie der Geschichte‹ beklagt, oder es werden die unterschiedlichen geschichtsphilosophischen Entwürfe in ihrer inhaltlichen Ausrichtung kritisiert. So wird der Aufklärungsphilosophie gern ein simpler oder naiver Fortschrittsglaube attestiert, apriorische und universalistische Begründungsmodelle sowie die behauptete Überzeitlichkeit der Vernunft als Geschichtsvergessenheit ausgewiesen, mangelnde Differenzierung zwischen Aufklärung als Zustand (ahistorisch) und Vorgang mit auszuzeichnendem Resultat (zeitlich-prozesshaft) angeprangert. Diese Vorwürfe sind in logischer Hinsicht nicht miteinander kompatibel, sollten also nicht zugleich erhoben werden, tauchen aber in der einen oder anderen Form immer wieder auf. Im Zentrum des Interesses soll vor diesem Hintergrund in der Folge ein paradigmatischer Vertreter der französischen Aufklärung stehen: FranÅois-Marie Arouet, genannt Voltaire (1694–1778). Er gilt als emblematische Figur der französischen Aufklärung, ja der Aufklärung schlechthin – und man kommt nicht umhin, zu konstatieren, dass ihm gerade dieser Umstand in bestimmter Hinsicht zum Verhängnis geworden ist. Man ziehe illustrativ dazu etwa das Eingangszitat von L'vy heran, dem französischen philosophe, der, was den Status eines öffentlichen Intellektuellen (public intellectual) angeht, im Frankreich der Ge-

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Zur Aktualität der französischen Aufklärung in der Figur des Voltaire

genwart eine ähnliche und ähnlich umstrittene Rolle einnehmen dürfte wie Voltaire zu seiner Zeit.4 In der Selbstbezeichnung referiert Voltaire auf sich als einen »Philosophen«5. Da mein Ziel keine minutiös-exegetische Studie, sondern eine Nachfrage aus aktuellem Anlass ist, muss entsprechend eine mittlere Flughöhe gewählt, kann lediglich zu ausgewählten Orten Sichtflug unternommen werden. Mindestens drei Probleme verbinden sich mit der These einer nachhaltigen und gegenwärtigen Aktualität der französischen Aufklärung in der Figur Voltaires als einem ihrer Hauptrepräsentanten. Ihm wird u. a. vorgeworfen: (i) Er bezeuge eine ›naive Modernität‹, weise also eine zu simple, eindimensionale geschichtsphilosophische Ausrichtung (i.E. Fortschrittsgläubigkeit) auf.6 (ii) Er interessiere sich vor allem für überholte, aristokratisch-absolutistische Gesellschaftsverhältnisse. Seine vor-republikanischen Überlegungen seien spätestens seit den nachfolgenden revolutionären Geschehnissen obsolet geworden, faktisch in Vergessenheit geraten – und zwar zu Recht.7 (iii) Er habe im Vergleich zu den Denkern der ›radikalen Aufklärung‹ wenig Interessantes (alternativ: wenig Profundes, Substantielles, Spektakuläres, zu Ende Gedachtes) zu bieten, sei der weniger ambitionierte, eher feuilletonistisch publizierende und an Popularität interessierte Denker (›philosophe‹ im pejorativen Sinne).8 Die verbreitete Diagnose lautet: Obschon ihm (im Gegensatz etwa zu Diderot) ein prominenter Platz im Panth'on (vgl. die vorangestellte Inschrift) der französischen Republik zukommt, ist Voltaires Philosophie, so sie sich als solche ausweisen lässt, in Vergessenheit geraten und trifft heute nur noch auf antiqua4 Vgl. den instruktiven Beitrag von Beeson und Cronk, in dem sie fragen, ob Voltaire »philosopher or philosophe« war, und zu dem nur vordergründig rhetorisch gemeinten Schluss gelangen (2009, 62): »It is his unfailing sense of the telling expression that helps making Voltaire the consummate philosophe.« 5 So heißt es etwa im Essai sur les mœurs et l!esprit des nations im Vorwort (1829 [1756], 247): »En vous instruisant en philosophe de ce qui concerne ce globe, vous portez d!abord votre vue sur l!Orient, berceau de tous les arts, et qui a tout donn' $ l!Occident.« Ayer (1994 [1986], 123) weist auf den Übertreibungscharakter der vergleichenden Darstellung Voltaires hin. Man mag dies auch als (zeittypischen?) Exotismus deuten. Zum Essai und zu seiner geschichtsphilosophischen Deutung vgl. unter III. 6 Diese Aufassung scheint bei Brumfitt (1958; 1963) durch, wenngleich er sich um ein ausgewogenes Urteil bemüht. 7 Bereits der Voltaire grundsätzlich wohlgesinnte Condorcet leitet die der Werkausgabe vorangestellte Biographie Vie de Voltaire (1883 [1789], 189) in diesem Sinne äußerst kritisch ein. 8 Vgl. Blom (2010, 89 f.); Israel (2001).

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risches, bestenfalls kontemplatives Interesse, bietet aber keine aktuelle, ›applikative‹ Dimension. – Ich werde im Folgenden Beweisstücke gegen die drei vorgebrachten Punkte versammeln, mich aber nicht primär auf die üblichen thematischen foci auf Toleranz und Meinungsfreiheit als von Voltaire philosophisch begründeten und mit Engagement propagierten Werten beziehen, sondern die Frage der ›Ahistorizität‹ der Aufklärung und die geschichtsphilosophische Ausrichtung Voltaires ins Zentrum meiner Überlegungen stellen. Auch diese gewöhnlich vernachlässigte Seite Voltaires ist, so meine These, geeignet, die Aktualität seines Œuvre zu prüfen und – im Ergebnis – zu bestätigen. Voltaire hat zahlreiche Geschichtswerke verfasst. In quantitativer Hinsicht machen diese einen nicht zu unterschätzenden Teil seines Œuvre aus. Er hat sich in diesen histoires beispielsweise mit den französischen Königen Ludwig XIV.9 und Ludwig XV.10, dem schwedischem König Karl XII.11 (1730) und dem Zaren Peter dem Großen12 befasst. Auch hat Voltaire den Anlauf zu einer Weltgeschichte genommen – wenngleich sehr selektiv und sehr evaluativ. Diese Ansätze finden sich sowohl in der 1765 unter Pseudonym in Amsterdam veröffentlichten La Philosophie de l!Histoire, par feu l!abb& Bazin sowie im Essai sur les mœurs et l!esprit des nations (1756). Beide Werke sind im Ergebnis weder als histoire universelle13 noch als Geschichtsphilosophie einzuordnen und am angemessensten wohl als anthropologische Abhandlungen mit kulturgeschichtlicher Grundierung zu kennzeichnen. Voltaire interessiert sich für die Vielfalt der Formen menschlichen Zusammenlebens, nimmt aber trotz aller kulturellen und religiösen Variation eine universale14 menschliche Natur an. Auch lässt sich mit Bezug auf Voltaire ein Nexus zwischen dem programmatischen und dem epochebezogenen Verständnis von ›Aufklärung‹ aufzeigen. Voltaire hat ein dezidiert programmatisches Selbstverständnis und verortet sich selbst in diachroner Perspektive in den Zusammenhang der ›Lumi&res‹, etwa im Trait& sur la tol&rance (2003 [1763], 29 f.): »Le temps, la raison qui fait tant de progr&s, les bons livres, la douceur de la soci't', n!ont-ils points p'n'tr' chez ceux

9 Im Original Le si%cle de Louis XIV (verfasst ab 1733, Erstveröffentlichung 1752). 10 Im Original Pr&cis du si%cle de Louis XV (1768; Erstveröffentlichung 1762). 11 Im Original Histoire de Charles XII. 12 Im Original Histoire de l!empire de Russie sous Pierre le Grand, 2 Bde. (1759 und 1763). 13 Anders aber in seinem biographischen Abriss Shank (2015): »a pioneering work of universal history«. 14 Vgl. Vyverberg (1989, 136): Trotz seiner ethnographischen Bemühungen, die menschliche kulturelle Vielfalt zu erfassen, gibt Voltaire niemals die Annahme eines »theoretical concept of a basic human nature« auf – ja es stellt für seinen normativen Egalitarismus einen zentralen ›point de rep&re‹ dar.

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Zur Aktualität der französischen Aufklärung in der Figur des Voltaire

qui conduisent l!esprit de ces peuples?et nej nous apercevons-nous pas que presque toute l!Europe a chang' de face depuis environ cinquante ann'es?«15 Ich komme zu meinen Thesen im Einzelnen: Erstens versteht Voltaire Historiographie als Aufklärung in diesem programmatisch-emphatischen Sinne (II), zweitens lässt sich für ihn ein eigenes und eigenständiges geschichtsphilosophisches Profil aufweisen (III), drittens stellt sich die Frage nach der inhaltlichen Schwerpunktsetzung im Rahmen dieses geschichtsphilosophischen Entwurfs. Im Zentrum steht bei Voltaire hier das Spannungsfeld, das sich zwischen Determinismus und Deismus sowie zwischen der Freiheit des Menschen und dem (deskriptiv unterstellten und normativ geforderten) Fortschritt der Vernunft auftut (IV). Aus dem letztgenannten Punkt ergeben sich schließlich Gegenwartsbezüge, die zur Affirmation der Aktualitätsthese beitragen (V).

II. Historiographie als Aufklärung Aus heutiger Perspektive gelten die Geschichtswerke Voltaires als dem ›Ancien R'gime‹ verhaftet. Die (post-)revolutionäre Geschichtsschreibung hat die Anerkennung und den Status der Voltaireschen Werke zunichte16 gemacht; eine angemessene Einschätzung fällt schwer. So kann Ayer (1994 [1986], 103) zu dem Urteil gelangen: »Es ist nicht allgemein bekannt, daß Voltaire der Verfasser umfangreicher historischer Werke war.« Doch Voltaire hatte durchaus direkten Einfluss zu seiner Zeit, war weithin beachtet und ist von anderen Historikern oder historisch arbeitenden Philosophen, in England etwa David Hume, Edward Gibbon, William Robertson oder David Ramsay, rezipiert worden. Nachzeichnen lässt sich die Ambivalenz der Rezeption des Historikers Voltaire am besten anhand der französischen Geschichtsschreibung17 – im 19. Jahrhundert etwa durch Michelet.18 Versetzen wir uns aber in die prärevolutionäre Zeit Voltaires und vergleichen wir Voltaires Werke mit der vorangehenden Geschichtsschreibung, so fallen vor allem folgende Merkmale des Voltaireschen Schaffens ins Auge: Voltaires Geschichtsschreibung zeichnet sich aus durch 15 »Die Zeit, die Vernunft haben solchen Fortschritt gemacht; die guten Bücher, die Milde der Gesellschaft, haben sie nicht etwa Einzug gehalten bei denen, die den Geist dieser Völker leiten? Und sehen wir nicht, dass fast ganz Europa seit ungefähr fünfzig Jahren sein Gesicht ganz verändert hat?« (Meine Übersetzung, K.S.) 16 Vgl. Leigh (2004, 215) mit Beispielen von Condorcet. 17 Vgl. die Beiträge zu »Voltaire et l!histoire nationale« in der Revue Voltaire (2010, no. 10). 18 Jules Michelet (1798–1874). Vgl. den erhellenden Beitrag von Petitier (2010), der Textstellen von Voltaire und Michelet vergleicht, die nach heutigen Maßstäben unter Plagiatsverdacht geraten müssten.

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(a) moralische Exempla, (b) kulturhistorische Kontextualisierung, (c) beispielsweise die Einbettung des Handelns ›großer Männer‹ (Könige) in ihren sozialen, ökonomischen und kulturellen Rahmen, (d) ›Modernität‹ sowie (e) polemische Kritik – die aber in den Geschichtswerken weniger hervortritt als in anderen, literarisch-philosophischen Texten, nicht zuletzt im berühmten Candide. Zu (a): Es ließe sich einwenden, gerade der Gebrauch von exempla sei Zeichen einer früheren, vormodernen Geschichtsschreibung, das nicht geeignet sei, Voltaire als Wegbereiter einer ›modernen‹ Form der Historiographie auszuweisen, der bereits als Vorläufer der die Geschichte als Wissenschaft konstituierenden Vertreter des Fachs gelten kann. Doch findet Voltaire die moralischen exempla nicht in antiken Darstellungen, sondern in seiner Gegenwart und der unmittelbar vorangehenden Zeit, die er als ›modern‹ charakterisiert. Es zeigt sich darin implizit der Fortschrittsglaube Voltaires, der sich auch auf moralische Fragen erstreckt. Zu (b) und (c): In der Kontextualisierung liegt die wesentliche Innovation der Geschichtsschreibung Voltaires. Weischedel unterscheidet grob zwei Verständnisweisen der ›Geschichtlichkeit‹ eines bestimmten Zeitalters. Zunächst kann die Rede von der ›Geschichtlichkeit‹ schlicht bedeuten: »Geschichte treibend« (1948, 482), in einem weiteren und nach Weischedel »eigentlichen Sinne« heißt ein Zeitalter »›geschichtlich‹, wenn es die Vergangenheit als den Weg zur Gegenwart und diese als bestimmt durch die Vergangenheit versteht« (ibid.). In Bezug auf die zweite Dimension nimmt Weischedel eine Graduierbarkeit an. Den Extremfall weist er als »historistisch« (1948, 483) aus: »Die Gegenwart wird dann durch die Macht des Gewesenen erdrückt; man lebt in dem Bewußtsein, alles Entscheidende sei schon geschehen« (ibid.). Für Weischedel gilt Voltaire als Erfinder der kulturgeschichtlichen Befassung mit Geschichte (Weischedel 1948, 483); er steht nicht allein mit diesem Urteil. Auch für Ayer (1994 [1986], 201) wurde Voltaire »als Historiker […] schon immer unterschätzt.« Als Beleg mag der Beginn des Si%cle de Louis XIV dienen: Voltaire kündigt gleich zu Beginn des ersten Kapitels des Si%cle an, er wolle in diesem Werk »versuchen, der Nachwelt nicht die Thaten eines einzelnen Mannes, sondern das Wesen der Menschen im aufgeklärtesten aller bisherigen Zeitalter schildern«19 ; für ihn hat »[j]edes Jahrhundert […] Helden und Staatsmänner hervorgebracht, […] und für den, der sich bloß Thatsachen ins Gedächtnis prägen will, sind die Geschichten der einzelnen Völker sämtlich von nahezu gleichem Werte.« Dies 19 Dieses und die nachfolgenden wörtlichen Zitate folgen der deutschen Übersetzung bei Ayer (1994 [1986], 109 f.), die einer historischen Textausgabe entnommen ist (Das Zeitalter Ludwigs XIV., Leipzig 1885).

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kann zwar durchaus im Sinne einer Rankeschen Historik avant la lettre gelesen werden, nach der eine jede Epoche ›unmittelbar zu Gott‹ sei, Wertungen dem menschlichen Beobachter nicht erlaubt. Voltaire aber scheut vor Wertungen keineswegs zurück, vielmehr zeichnet sich seine Geschichtsschreibung gerade dadurch aus, dass er dezidiert eigene evaluative Urteile fällt – mal mehr, mal weniger gut begründet. Er unterscheidet in der Geschichte Ludwigs XIV. »nur vier Zeitalter in der Geschichte der Welt«. Dies gelte für jeden, »der denkt und […] Geschmack hat«, denn »diese vier glücklichen Zeitalter sind diejenigen, in denen die Künste perfektioniert wurden und die, indem sie der Größe des menschlichen Geistes dienten, der Nachwelt als Beispiel gelten.« Dazu zählt er das antike Griechenland Philipps und Alexanders von Makedonien, das Rom Cäsars und Augustus!, die Zeit nach dem Ende Konstantinopels 1453 sowie das Zeitalter Ludwigs XIV. Dies erinnert, wenn auch nicht inhaltlich und in der teleologischen Ausrichtung, so wenigstens in seiner formalen Gestaltung an Hegels Zeitalterunterscheidung in der Rechtsphilosophie. In den Domänen der Philosophie, der Literatur, der Künste und der Wissenschaften sieht Voltaire in der nachfolgenden patriotischen Eloge das Frankreich der Zeit als führend an – und verkennt die Beiträge der Denker und Künstler anderer Länder, die er an anderer Stelle (etwa den Lettres philosophiques) ganz besonders hervorhebt. Voltaire erzählt eine partielle Fortschrittsgeschichte: »Die Künste sind allerdings nicht weiter gediehen als unter den Mediceern, den Cäsaren und den Macedoniern – aber die menschliche Vernunft im allgemeinen hat sich vervollkommnet.«20 Zwar ist – und dies rechtfertigt die separate Ausweisung von (c) – Voltaire von den Versuchen einer ›Geschichte von unten‹ der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weit entfernt. Doch hat er – freilich überhaupt nicht so radikal wie etwa Brecht 1935 in den Fragen eines lesenden Arbeiters, der nachhakte, ob Cäsar, der die Gallier schlug, nicht wenigstens einen Koch bei sich hatte – bereits die soziale Einbettung der Akteure erfasst. Im Ergebnis bleibt es bei Voltaire aber ›der König‹, der handelt. Voltaire läge es fern, den Blick lediglich auf strukturelle oder materielle Determinanten von Geschichte zu werfen. So steht bei Voltaire stets ›der handelnde Mensch‹ im Zentrum. Diese Betonung menschlicher Freiheit trotz all ihrer Begrenzungen und Beschränkungen zeichnet Voltaires Geschichtsschreibung aus und kann zudem als wesentliches Merkmal seiner Geschichtsphilosophie (und Philosophie überhaupt) herausgestellt werden (dazu sogleich unter III und IV). Zu (d): Voltaire bezeichnet sich selbst als ›modern‹ und grenzt sich so von früheren Historiographen ab. Dieses Prozedere ist aus der Scholastik altbekannt (›les anciens‹/›antiqui‹ – ›les modernes‹/›moderni‹), doch kommt es inhaltlich 20 Für die deutsche Übersetzung siehe wiederum Ayer (1994 [1986], 110). Vgl. das Original (2015 [1768], 37): »Tous les arts, $ la v'rit', n!ont point 't' pouss's plus loin que sous les M'dicis, sous les Auguste et les Alexandre; mais la raison humaine en g'n'ral s!est perfectionn'e.«

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darauf an, was Voltaire, dem selbst so sehr daran gelegen ist, als ›modern‹ zu gelten, eine ›moderne‹ Art der Geschichtsschreibung zu praktizieren, unter diesem Epithet versteht. Voltaire findet, bildlich gesprochen, die Moderne in England: In den Lettres sur les Anglais (oder, zunächst in englischer Sprache verfasst: Letters concerning the English nation 1733), die später als Lettres philosophiques als eines der philosophischen Hauptwerke Voltaires gelten, notiert er Beobachtungen über religiöse Vielfalt und Toleranz, Handel und wissenschaftliche Entwicklung, die er während seines Londoner Exils in den Jahren 1726 bis 1728 gemacht hat. Voltaire hat damit selbst für eine Dissemination ›moderner‹, inhaltlich-aufklärerischer Denkweisen sorgen wollen. Entsprechend kommt Weischedel (1948, 483) zu dem Ergebnis: »Als charakteristischer Vertreter des aufklärerischen Verständnisses von der Geschichte dient Voltaire.« Dies ist nicht etwa im Sinne der romantischen These der ›Ungeschichtlichkeit der Aufklärung‹ zu verstehen, sondern im buchstäblichen Sinne erudierender Erhellung und Wahrheitssuche (›enlightenment‹; vgl. auch Weischedel 1948, 481). La Philosophie de l!histoire (1765) mag dies verdeutlichen. Dabei handelt es sich nicht um eine ›Geschichtsphilosophie‹ in einem analytisch-systematischen Sinne, sondern um eine programmatische Ausrichtung der Geschichtsschreibung, die Voltaire – unter Pseudonym – wie folgt einleitet: Sie wünschen, dass die Philosophen die Alte Geschichte geschrieben hätten, weil Sie sie als Philosoph lesen wollen. Sie suchen allein die nützlichen Wahrheiten, und Sie haben, sagen Sie, fast nur unnütze Irrtümer gefunden. Machen wir uns daran, uns gemeinsam aufzuklären; versuchen wir, einige wertvolle Denkmäler unter den Ruinen der Jahrhunderte auszugraben. (Meine Übersetzung, K.S.21)

Voltaire tritt für eine quellenkritische, der Wahrheit verpflichtete Geschichtsschreibung ein. Dabei entwickelt er an seinem epistemologischen Empirismus orientierte Ansprüche an Methode und Quellenauswahl des Historikers. Am kondensiertesten finden sich diese Überlegungen und Forderungen Voltaires in seinem Beitrag zur Encyclop&die von Diderot und d!Alembert mit dem Titel ›Histoire‹ (1765b), der mit einer Kurzdefinition beginnt: »c!est le r'cit des faits donn's pour vrais; au contraire de la fable, qui est le r'cit des faits donn's pour faux«. An anderer Stelle führt Voltaire aus, es könne keine ›historische Gewissheit‹, lediglich Wahrscheinlichkeiten geben. Er bringt Beispiele unterschiedlicher Typen von Quellen und mahnt zur Vorsicht bei der Interpretation etwa von Münzen, die mitunter lediglich der Eloge eines Feldherrn dienen – dieser muss den behaupteten Sieg aber gar nicht errungen haben! Zu (e), dem Stilmittel polemischer Kritik, ist schließlich wenig Spezifisches mit Blick auf die historiographischen Werke Voltaires hinzuzufügen. Polemik und Ironie sind wesentliche Merkmale aller Schriften Voltaires. Man kommt nicht 21 Vgl. im Original Voltaire (1765a, 1).

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umhin, Voltaires Historiographie als durch und durch von individuellen Wertungen geprägte, wenig quellengesättigte, ganz absichtlich überzogene Beurteilungen historischer Akteure anzusehen. Selbst nach journalistischen Maßstäben, die sich in ethischer Hinsicht von wissenschaftlichen gar nicht so sehr unterscheiden mögen, wäre Voltaire nicht in der politischen Berichterstattung, sondern im Feuilleton zu verorten. Er hätte gewiss selbst nichts dagegen gehabt – war sein Ansinnen doch stets, sich einzumischen, Einfluss zu nehmen, die Verhältnisse zu verändern. Für dieses Ziel war seine spitze Feder gewiss ein probates Mittel.

III. Geschichtsphilosophie bei Voltaire Zwar ist es Voltaire, »der zuerst den Ausdruck ›philosophie de l!histoire‹ geprägt hat« (Weischedel (1948, 483), doch ist fraglich, ob er eine solche überhaupt vorgelegt hat.22 In seinem Essai sur les mœurs et l!esprit des nations (nachfolgend: Essai) von 1756 entwickelt Voltaire eine vergleichende Kulturgeschichte, indem er Völker in ihrer historisch-kulturellen Entwicklung Revue passieren lässt – und mit Wertungen nicht zurückhaltend umgeht. Die Sitten, Gebräuche und religiösen Praktiken werden nach ihrer ›Rationalität‹ charakterisiert; Voltaire scheut sich nicht, bestimmte südamerikanische indigene religiöse Bräuche als ›irrational‹ zu qualifizieren. Es geht ihm um den Fortschritt der Vernunft. Damit ist das ›Dass‹ einer Geschichtsphilosophie im Ansatz beantwortet. Wenig aussagekräftig ist der tour d!horizon, den Voltaire im Essai unternimmt, allerdings mit Blick auf die inhaltlichen Fragen, das ›Wie‹ seiner Geschichtsphilosophie. Es lässt sich, wie gesagt, eine (zumindest mögliche) Fortschrittsgeschichte entnehmen; ein ›Ende der Geschichte‹ ist nicht vorgesehen. Der Essai gibt, wenn auch oft nur implizit, Auskunft über zentrale philosophische Auffassungen Voltaires, so etwa seinen moralphilosophischen Universalismus und normativen Egalitarismus. Voltaire fügt seinen Stellungnahmen zahlreiche ›verwässernde‹ zusätzliche Details hinzu; im Kern lassen sich diese Positionen aber – bei wohlwollender Lesart – Ausführungen wie den folgenden entnehmen: Zunächst verurteilt Voltaire die Sklaverei in französischen Kolonialgebieten und fragt sich, warum Frankreich an diesen Praktiken überhaupt teilnimmt. Er betont in konsequentialistisch-utilitaristischem Kalkül avant la lettre, dass sich der Betrieb von Kolonien und der Sklavenhandel gemessen an den zu beklagenden Opfern im Ergebnis ›nicht lohnen‹. Nicht ohne Ironie prangert Voltaire an:

22 Vgl. Leigh (2004, 87): »We should not however assume that, because he was the first person to bring together the words ›philosophy of history‹, Voltaire was necessarily the first to have a philosophy of history, or indeed that he had one at all.«

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Katja Stoppenbrink Wir sagen ihnen, daß sie Menschen wie wir sind, daß sie durch das Blut eines für sie gestorbenen Gottes versöhnt werden, und doch läßt man sie wie Lastthiere arbeiten, und nährt sie schlechter als diese; wenn sie entfliehen wollen, haut man ihnen ein Bein ab und läßt sie an dem Baum der Zuckermühle drehen, nachdem man ihnen ein hölzernes Bein gegeben hat. Und doch wagen wir es von einem Völkerrecht zu sprechen.23

Er geht von anthropologischen Gemeinsamkeiten und kulturübergreifenden gemeinsamen Inhalten einer Minimalmoral aus: »Alle diese Völker gleichen uns nur durch die Leidenschaften, und durch die allgemeine Vernunft, welche diesen Leidenschaften die Wage (sic!) hält und allen Herzen das Gesetz einprägt: ›Thue nichts, was Du nicht willst, daß man Dir auch thue.‹ Zwei Züge sind es, welche die Natur diesen so vielen verschiedenen Menschenarten eingeprägt und zwei ewige Bande, womit sie dieselben trotz allem, was sie entzweit, verbindet […].«24

Wenngleich der Essai gemeinsam mit der 1765 der Ausgabe vorangestellten Philosophie de l!histoire als das geschichtsphilosophische Hauptwerk Voltaires gelten mag, bietet jenseits seines Charakters als literarisch-ironische Antwort auf die Grundfrage der Theodizee und als Ridikülisierung der ›besten aller möglichen Welten‹ eines Leibniz Voltaires berühmtes Werk Candide ou l!optimisme (1759) ertragreiche Hinweise zur Beantwortung der Frage, welche geschichtsphilosophische Position Voltaire einnehmen mag. Besonders der vielzitierte narrative Kulminationspunkt am Schluss des Werks erweist sich als aufschlussreich und soll daher hier ausführlich wiedergegeben werden: »Lasst uns arbeiten, ohne nachzudenken,« sagte [der Philosoph] Martin, »das ist das einzige Mittel, das Leben erträglich zu gestalten.« […] Die ganze kleine Gesellschaft machte sich diese lobenswerte Devise zueigen. Jeder machte sich daran, seine Talente zu entfalten. Das kleine Stück Land brachte eine Menge ein. Kunigunde war in Wirklichkeit ziemlich häßlich; aber sie wurde eine hervorragende Konditorin. Paquette stickte; die Alte kümmerte sich um die Wäsche. […] Pangloss schließlich sagte hin und wieder zu Candide: »Alle Ereignisse sind in dieser besten aller möglichen Welten miteinander verbunden. Denn wenn Sie nicht wegen der Liebe zu Fräulein Kunigunde mit großen Tritten in den Hintern von einem schönen Schloss gejagt,j der Inquisition unterworfen worden wären, Amerika zu Fuß durchschritten, dem Baron gut eins mit dem Schwert übergezogen hätten […], so äßen Sie jetzt nicht hier kandierte Zitronen und Pistazien.« Daraufhin antwortet Candide: »Das ist gut gesagt […], aber wir müssen unseren Garten bestellen.«25 (Meine Übers., K.S.)

23 Deutsche Übersetzung bei Ayer (1994 [1986], 122). 24 Deutsche Übersetzung bei Ayer (1994 [1986], 124). 25 Im Original bei Voltaire (1988 [1759], Kap. 30, S. 162 und 164).

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Was ergibt sich nun aus der Zusammenschau des Essai und des Candide für die Frage nach einer Geschichtsphilosophie Voltaires? Mindestens die folgenden fünf Punkte lassen sich ausmachen: 1. Wenn wir unter ›Geschichtsphilosophie‹ die ausgewiesene Befassung mit Begriff, Bedeutung und Struktur von ›Geschichte‹ verstehen, wie dies spätere Philosophen vor allem seit dem ›historistischen‹ neunzehnten Jahrhundert in Bezug auf und in Auseinandersetzung mit Hegel getan haben, so kommen wir zu einer negativen Antwort. Le philosophe ist kein Geschichtsphilosoph im Sinne von Herder, Hegel, Nietzsche oder Marx. Auch die Philosophie de l!histoire ist nicht in diesem Sinne zu verstehen.26 Voltaire hat keinen metahistorischen Begriff von Geschichte; das überzeitliche Ziel seines Interesses ist allenfalls die Erkenntnis einer ›menschlichen Natur‹, das Geschichtsstudium dient ihm insofern dazu, Gemeinsamkeiten des genre humain auszumachen. Auch wenn der Nachweis schwer zu führen ist, so darf man annehmen, dass sich hier Einflüsse Humes! auf Voltaire zeigen. 2. Nun lässt sich aber auch die These vertreten, es könne keine Geschichtsschreibung ohne Geschichtsphilosophie geben; jeder Historiker, sei er auch noch so philosophisch ›unmusikalisch‹, mache zumindest implizit als geschichtsphilosophisch zu charakterisierende Annahmen – möglicherweise auch gegen die eigene explizite Intention, wenn etwa der behauptete Anspruch von ›Theoriefreiheit‹ zu einer eigenen Theorie wird. In einem solchen impliziten Sinne wird in der Literatur der Essai nebst Philosophie de l!histoire als geschichtsphilosophisches ›Hauptwerk‹ Voltaires bezeichnet. Nach meiner Auffassung lässt sich dieses Urteil nicht aufrechterhalten; Voltaire agiert hier als Epigone Montesquieus, indem er Völker und deren ›Eigenarten‹ in historisch-kultureller Abfolge Revue passieren lässt und durch eine spezifische, eigen(artig)en Kriterien folgende normativ-evaluative Brille aburteilt, gar abkanzelt. Die Schwächen, die Voltaire Montesquieu zum Vorwurf macht, finden sich in ähnlicher Form auch in Voltaires Werk. – Für eine anspruchsvollere Lesart des Essai und der vorangestellten Philosophie de l!histoire plädiert Volpilhac-Auger (2009, 147): »Voltaire succeeds in formulating, albeit somewhat belatedly, a ›philosophy of history‹«, denn – und dieser weiteren These stimme ich, was die Bedeutung der kritischen Geschichtsschreibung in toto anbelangt, zu: »[…] history emerges as a key element in his campaign to "craser l!Inf#me, and so becomes part of Voltaire!s ›philosophy‹.« (Siehe dazu oben meine zweite zentrale These: Geschichtsschreibung als Aufklärung (II).) 3. Wenn wir auf der Suche nach einer impliziten Geschichtsphilosophie fündig werden wollen, so haben wir uns nach der hier vertretenen Auffassung eher dem auch ›philosophisch‹ zu lesenden Hauptwerk Voltaires zuzuwenden: der ironisch-polemischen, bei näherer Analyse aber durchaus gehaltvollen Satire des Candide. Natürlich ist dieses Werk Opfer seiner Bekanntheit und wohl 26 Vgl. Leigh (2004, 88 f.).

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auch Beliebtheit geworden; insofern hat es selbst seine ›Geschichte‹. Schließt man sich der verbreiteten Position an, vor der Entwicklung der dezidierten Historik des neunzehnten Jahrhunderts sei nicht von Geschichtswissenschaft als ›Wissenschaft‹ auszugehen, könne ›Geschichtsphilosophie‹ nur als ›Theodizee‹ aufgefunden werden, so hat Voltaire hier seine ›Anti-Theodizee‹ vorgelegt. Angesichts seines Deismus wird man wohl nicht von ›negativer Theodizee‹ sprechen können; er streicht nicht ›Gott‹ aus der Rechnung, sondern verzichtet vielmehr auf die Fragestellung des ›unde malum‹, um aufzuzeigen, wie erratisch-beliebig das Böse ins Leben tritt, wie unvorhersehbar die Zeitläufte, wie kontingent menschliche Leben diesen ausgesetzt sind. Hier nun lassen sich die Merkmale einer Geschichtsphilosophie impliciter ausmachen: (a) Kein Telos: Geschichte verläuft für Voltaire nicht gerichtet auf ein bestimmtes Ziel hin. Es wird keine bestimmte Struktur als Idealverlauf zugrunde gelegt: Vorwärts-, Seitwärts-, Rückswärtsbewegungen sind möglich. Bereits damit hat er sich von der gemeinhin der ›Aufklärung‹ zugeschriebenen linearen Fortschrittsgläubigkeit entfernt. Leigh (2004, 91) drückt diesen Sachverhalt sehr drastisch aus – auch unter Hinweis auf den Candide: »Those thinkers who purport to find totalising explanations for the course of history crop up in Voltaire!s stories only as cranks, like Pangloss or Sidrac, determined to bend the variety of historical occurrence into their a priori moulds.« Als ›Spinner‹ oder ›komische Vögel‹ werden hier die Figuren dargestellt, die für den Geschichtsverlauf eine alles erfassende Erklärung zu bieten haben. Voltaires erkenntnistheoretischer Empirismus ›passt‹ zu einer solchen Auffassung von der Realität historischer Abläufe: Wir erfassen einzelne Ereignisse und können keine Gerichtetheit auf ein bestimmtes Ziel hin unterstellen – bestenfalls darauf hoffen. (b) Determinismus: Voltaire geht zugleich von einer vollständig determinierten Welt aus. In seinem Dictionnaire philosophique findet sich unter dem Eintrag ›Schicksal‹ (Destin) der Hinweis, dass zwar der Bauer »glaubt, es habe zufällig auf sein Feld gehagelt«, doch »der Philosoph weiß, daß es keinen Zufall gibt«27. Doch tun sich hier Probleme auf: Wie passen diese Positionen (a) und (b) zusammen? Handelt es sich um einen ungerichteten Determinismus? Wie ist dies mit den Fortschrittsvorstellungen, die Voltaire zweifelsohne zumindest zuweilen hegt (siehe sogleich unter c), in Einklang zu bringen? – Voltaire kommt es auf das menschliche Handeln an: Er ist Kompatibilist. Die menschliche Handlungsfreiheit 27 Dictionnaire philosophique (1994 [1769], 229); dt. Übersetzung bei Ayer (1994 [1986], 136). Vgl. auch Le Philosophe ignorant (22011 [1766], 40): »Il n!y a point de milieu entre la n'cessit' et le hasard; et vous savez qu!il n!y a point de hasard: donc tout ce qui arrive est n'cessaire.«

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bleibt für ihn auch in einer kausal bestimmten Welt erhalten. Candide lehrt zudem, dass es auf die Haltung ankommt, welche die Menschen gegenüber dieser Welt einnehmen. (c) Keine notwendige Fortschrittsgeschichte: Während Voltaire seine Fortschrittshoffnung niemals aufgibt, ist ›Fortschritt‹ für ihn nicht selbstverständlich, sondern ebenfalls kontingent. Der Zeit entsprechend wird nicht auf ›technischen‹, sondern ›moralischen‹ Fortschritt abgestellt. Voltaire erzählt aber weder in einem seiner Geschichtswerke noch in seinem literarischen Werk eine lineare (moralische) Fortschrittsgeschichte der Menschheit. Vielmehr lässt sich etwa der Candide holzschnittartig als eine fortdauernde Suche nach dem privaten Glück verstehen. Candide versucht zeitlebens vergebens, seine Kunigunde zu heiraten. Als es ihm endlich gelingt, ist sie alt und häßlich. Eine Familie zu gründen, ist ihm nicht vergönnt. Doch machen die Protagonisten des Candide aus der Not eine Tugend und bieten dem geneigten Leser ein Exempel an Lebenskunst: Sie bilden ihre Talente aus und kultivieren ihren Garten. (d) Praktische Freiheit: Die Menschen sind nach Voltaire frei, ihr Schicksal zu bestimmen; erscheint die Welt den Menschen auch als Abfolge unglücklicher Widerfahrnisse, so können die Verhältnisse trotz dieser wahrgenommenen Kontingenzen doch aktiv gestaltet werden. Im Unterschied zu Kant kennt Voltaire nicht die Pflicht zur Selbstvervollkommnung. Voltaire hält es für ratsam, sich angesichts der oftmals unerklärlichen Ereignisse in der Welt auf die eigenen Fähigkeiten zu besinnen und gewissermaßen das ›kleine‹ private Glück anzustreben. In diesem Sinne lässt sich die ›Moral von der Geschicht!‹ im Candide als prudentieller, hypothetischer Imperativ verstehen: Wenn man im Leben nach Glück und Wohlergehen strebt – und Voltaire dürfte, ohne dies explizit zu machen, mit Kant übereinstimmen, dass dies ein von allen Menschen geteiltes, sozusagen anthropologisch konstantes telos ist – so empfiehlt es sich, die eigenen Talente auszubilden und zu versuchen, im Rahmen der begrenzten Möglichkeiten ein gutes Leben zu führen. (e) Säkularisierung eschatologischer Elemente: Der ›Garten‹ versinnbildlicht die Möglichkeit, zumindest temporäres irdisches Glück zu finden. Es findet am Ende des Candide eine Momentaufnahme statt, sozusagen eine Stillstellung28 des Geschichtsverlaufs: Trotz körperlichen Verfalls (Kuni28 Für Pearson (1993, 123) bietet die Schlussszene des Candide »only an illusion of closure: the final, famous aphorism fails to hide much uncertainty […]«. Dem ist hinsichtlich der Möglichkeiten verschiedener Lesarten zuzustimmen. Sicherlich gibt es in der Gartenszene ein Spannungsverhältnis zwischen Aktivitität und Passivität, Rückzug ins Private und Engagement ›in der Welt‹ – doch können intertextuelle Abgleiche Voltaires eigene Position durchaus klären: Er plädiert für Aktivität und Engagement – gerade darin besteht der ›Witz‹ des berühmten Aphorismus.

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gunde) und widriger Umstände genügt ein kleines Stück bebaubaren Bodens, um Lebensfreude (kandierte Früchte, Pistazien) zu schaffen, Talente, und seien sie noch so gering, zu entfalten (P#tisserie, Hausarbeit, Sticken). Es ließe sich einwenden, es sei ein Zerrbild einer biedermeierlich-spießigen bürgerlichen Idylle, das Voltaire hier entwirft. Mehr als fraglich sei es, dass Voltaire sich den Ratschlag Candides, den eigenen Garten zu bearbeiten, selbst zueigen mache. Dafür mag der erklärte Verzicht der Philosophen auf ihre ureigene Tätigkeit des Denkens und der Reflexion zugunsten bloßer Gartenarbeit sprechen. Doch das ›travaillons sans raisonner‹ des Philosophen Martin lässt mehrere Lesarten zu. So muss es nicht als Absage an den bios theoretikos gelesen werden,29 sondern kann auch als Aufforderung (›Travaillons!‹) zu verstehen sein, angesichts des Übels und Unglücks in der Welt endlich mit dem hyperreflexiven Hadern aufzuhören (›sans raisonner‹) und sich einer erfüllenden Beschäftigung zu widmen. Diese soll der Entfaltung der je eigenen Talente dienen. Für den Philosophen nun besteht diese Tätigkeit im Denken. Damit stellt Voltaire, dem Programm der Aufklärung entsprechend, den perfektiblen Menschen in den Vordergrund, der in der Besinnung auf die eigenen Fähigkeiten den widrigsten Lebensumständen die Stirn zu bieten vermag.

IV. Fortschritt der Vernunft und Freiheit des Menschen Progr%s. Voltaire hat stets an die Möglichkeit der Verbesserung der Verhältnisse für den Menschen geglaubt – der wichtigste promoteur dieses Fortschritts ist für ihn der Mensch selbst. Er hält – nicht anders als Kant – den Menschen für (selbst)verbesserungsfähig. Dieser Prozess ist aber für Voltaire weder selbstverständlich noch besitzt er einen klar definierten Endpunkt. Der homme perfectible kann, wenn er sich dafür entscheidet, zum Besseren streben. Er muss es aber nicht tun. Auch ist nicht klar, worin dieses ›Bessere‹ jeweils bestehen mag. Im Unterschied zu Kant postuliert Voltaire keine ›Pflicht‹ zur Selbstvervollkommnung. Für Weischedel handelt es sich bei der vermeintlichen Ungeschichtlichkeit der Aufklärung weniger um mangelndes Bewusstsein der Historizität alles Gegenwärtigen »als vielmehr eine besondere Art, sich zur Geschichte zu verhalten« (Weischedel 1948, 482). Der sich auch gegen Widerstände behauptende Fortschrittsglaube mag eine solche Haltung zum Ausdruck bringen, ein gemeinsames Merkmal vieler Aufklärer sein. In den Details finden sich aber so grundlegende Unterschiede, dass es unredlich wäre, anhand des bloßen Fortschrittskriteriums die Denker der Aufklärung (im historischen Sinne) auch in einem inhaltlichprogrammatischen Sinne über einen Kamm zu scheren. Zu den nach der hier 29 So auch Bottiglia (1964, 113 f.).

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vorgeschlagenen Lesart auch philosophisch aus heutiger Perspektive bedeutendster Werke Voltaires zählen Candide und der Trait& sur la tol&rance30 mehr als die Lettres philosophiques und der Essai. Die Aktualität Voltaires als Aufklärer im programmatischen Sinne kann vor allem auf die beiden erstgenannten, später entstandenen Werke gegründet werden; die beiden letztgenannten Texte haben ihre aufklärerische Wirkung vor allem zu ihrer Zeit entfaltet, etwa durch die Befreiung der Geschichte von Aberglauben, Legenden und anderen Unwahrheiten. Der Candide hingegen lässt sich mit seinem englischen Übersetzer Pearson als aufklärerischer Bildungsroman (conte de formation31) lesen: »It is education, then, the process of enlightenment, which gives shape to experience, and not only for Candide.«32 Handlungs-, nicht Willensfreiheit. Voltaire vertritt einen Kompatibilismus und differenziert zudem zwischen Willens- und Handlungsfreiheit. Hier kann man mit guten Gründen konträre Auffassungen vertreten: Im Rahmen einer higher orderKonzeption menschlichen Wollens oder Wünschens kann man die von Voltaire als »absurd«33 abgelehnten Möglichkeiten eines ›Wunsches x zu wünschen, dass y‹ oder eines ›Willens v, zu wollen, dass w‹ und mithin eine Art ›konativen Voluntarismus‹ annehmen. In der Betonung der Handlungsfreiheit folgt Voltaire grosso modo Locke (nach eigenem Bekunden). In einer einschlägigen Passage in Le Philosophe ignorant heißt es (22011 [1766], 38): Wirklich frei zu sein, das bedeutet, handeln zu können. Wenn ich machen kann, was ich will, darin besteht meine Freiheit; aber ich will notwendigerweise das, was ich will; anderenfalls würde ich ohne Grund, ohne Ursache wollen – was unmöglich ist. Meine Freiheit besteht darin, zu gehen, wenn ich gehen will, und dass ich nicht die Gicht habe. (Meine Übers., K.S.)

Voltaire handelt hier in sehr verkürzter Weise ganz unterschiedliche Fragen ab. Deutlich wird zumindest seine Bestimmung von Freiheit als Handlungsfreiheit. Willensfreiheit besteht nach Voltaire nicht. Doch Voltaire ist kein analytischer Denker, der die Probleme von Determinismus und Willensfreiheit auch nur ansatzweise systematisch durchdacht hätte. Glück und Lebenskunst. Will man Voltaires Candide auf einen Sinnspruch reduzieren, so genügt die Lektüre des dreißigsten Kapitels, der Schlussfolgerung, um zu resümieren: ›Das Glück ist mit den Tüchtigen.‹ Der von Candide und den Philosophen Pangloss und Martin konsultierte türkische Derwisch vertritt die These, dass »die Arbeit drei große Übel von uns abhält: die Langeweile, die

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Vgl. ähnlich Cranston (1986, 36). Pearson (1993, 115). Ibid. (1993, 119). Vgl. Le Philosophe ignorant (22011 [1766], 75).

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Untugend und die Bedürftigkeit«34 (meine Übers., K.S.). Nach der Interpretation von Pearson (1993, 118) lernt Candide am Ende drei Dinge: »that opting out is no solution to the problems of living; that the metaphysical dimension of the problem of evil is best ignored; and that work is the secret to happiness.« Dies steht in Einklang mit Voltaires Einschätzung der Bedeutung des Handels für ein Gemeinwesen. Im zehnten seiner Philosophischen Briefen berichtet Voltaire aus England: Ich weiß indes nicht, wer einem Staat dienlicher ist, ein sorgfältig gepuderter Herr, welcher genau angeben kann, zu welcher Stunde sich der König erhebt […], oder ein Kaufmann, der seinem Lande zu Reichtum verhilft, von seinem Kabinett aus bis Surat und Kairo reichende Anordnungen erteilt und am Gedeihen der Welt mitwirkt.35

Nach Voltaires anthropologischer Bestimmung ist der Mensch »zum Tätigsein geboren«36. Für Voltaire ist der Mensch »unter allen Tieren […] das perfekteste, das glücklichste und dasjenige, das am längsten lebt. Statt uns zu wundern und uns über das Unglück und die Kürze des Lebens zu beklagen, sollten wir daher ins Staunen geraten und uns zu unserem Glück und seiner Dauer beglückwünschen«37. Entsprechend der empiristischen Grundauffassung Voltaires, der sich stark von Locke beeinflussen lässt, kommen unsere Ideen ›von außen‹; dies gilt für Voltaire auch für die Quellen von Wohlbefinden und Glück: »Ein Mensch ist glücklich, wenn er Vergnügen empfindet. Vergnügen kommt aber wie alle unsere Empfindungen und Ideen von äußeren Gegenständen.«38 Dieser hedonistische Zug lässt sich an einigen Stellen bei Voltaire finden – er wird aber stets flankiert durch die Betonung der Bedeutung des Tätigseins sowohl für das eigene Glück als auch für Freiheit und Wohlergehen der anderen. Voltaire ist trotz manch anderslautender Behauptung aber auch kein uneingeschränkter Utilitarist avant la lettre: Er kennt starke ›deontological constraints‹, etwa wenn er im Trait& sur la tol&rance (2003 [1763], 99) die Praxis einer, wie es heißt, »kleinen Sekte in Dänemark« verurteilt, die gerade getauften Säuglinge zu töten, um ihnen einen direkten Weg ins Paradies zu ermöglichen: »[…] il n!est pas permis de faire un 34 Vgl. Voltaire (1988 [1759], Kap. 30, 161). 35 Dt. Übers. bei Ayer (1994 [1986], 58). Die französische Version ist für meinen Punkt sprechender, da sie vom bonheur du monde, dem ›Glück‹ der Welt spricht (1986 [1734], 76): »Je ne sais pourtant lequel est le plus utile $ un "tat, ou un seigneur bien poudr' qui sait pr'cis'ment $ quelle heure le roi se l&ve […], ou un n'gociant qui enrichit son pays, donne de son cabinet des ordres $ Surate et au Caire, et contribue au bonheur du monde.« 36 Meine Übers. (K.S.) von Voltaire (1986 [1734], 171). 37 Meine Übers. (K.S.) von Voltaire (1986 [1734], 173). 38 Im Original (1986 [1734], 176): »Celui-l$ est actuellement heureux qui a du plaisir, et ce plaisir ne peut venir que de dehors. Nous ne pouvans avoir de sensations ni d!id'es que par les objets ext'rieurs […]«. Dt. Übers. hier übernommen aus Ayer (1994 [1986], 87).

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petit mal pour un grand bien; […] ils n!avaient aucun droit sur la vie de ces petits enfants.«39

V. Fazit: !crire pour agir Was folgt für Voltaire aus Vernunft und Freiheit des Menschen? – In der Literatur wird von den 1760er Jahren als Zeit der ›Kampagnen‹ Voltaires gesprochen. Er geht in dieser Zeit über historisch-literarische Anliegen hinaus und engagiert sich in mehreren Fällen aktiv zugunsten einzelner Opfer staatlicher Intoleranz und Gewalt: Auf die gleichgelagerten Fälle40 der ›affaire Calas‹ (1762) und der ›affaire Sirven‹ (1764) folgen der Fall des Chevalier de La Barre41 (1766), der, fälschlich der Blasphemie verdächtigt, auf grausame Weise gefoltert und hingerichtet wird, sowie weitere Beispiele, in denen Voltaire sich aktiv zugunsten von Justizopfern und Leidtragenden ungerechter Gesellschaftsverhältnisse einsetzt. Der Fall der Familie Calas bildet den Hintergrund von Voltaires Trait& sur la tol&rance von 1763, seinem zentralen kirchen- und justizkritischen Werk. Cranston (1986, 50) kommt angesichts dieser aktiven Einmischung zu dem Urteil, dass, »while Voltaire might proclaim that everyone should be content to cultivate his own garden, Voltaire himself was the last person to obey that injunction.« Das Engagement Voltaires42 wird damit zwar zutreffend herausgestellt, Candide aber zu eng gelesen: Die Kultivierung des eigenen Gartens ist eine Möglichkeit, Zufriedenheit zu erlangen – dies schließt aber keineswegs aus, anderen dazu zu verhelfen, diese Möglichkeit ebenfalls zu erhalten. Das Tätigsein steht bei Voltaire im Vordergrund, »[…] it is not enjoyment that he is defending so much as action«, so sein Biograph Mason (1981, 33); treffend auch in den Worten seines Übersetzers Pearson (1993, 120): The farm outside Constantinople is a pragmatist!s paradise: […] a garden of human beings in which the talent of each is a plant to be nurtured so that society as a whole benefits while the individual finds fulfilment. 39 »[…] es ist nicht erlaubt, ein geringes Übel zugunsten eines großen Guten zu verüben; […] sie hatten kein Recht in Bezug auf das Leben dieser kleinen Kinder« (meine Übersetzung, K.S.). 40 Beide protestantischen Familienväter wurden zu Unrecht des Mordes an einem Familienmitglied für schuldig befunden. Motiv der behaupteten Morde soll jeweils die beabsichtigte Konversion des Familienmitgliedes zum Katholizismus gewesen sein. 41 Zum Chevalier de la Barre findet sich mit dezidiert ironisch-rechtspolitischer Kontextualisierung eine Passage im 1769 hinzugefügten Eintrag ›Folter‹ (›Torture‹) in Voltaires Dictionnaire philosophique (1994 [1769], 502). 42 Zu weiteren Fällen, in denen sich Voltaire für die Opfer von – nach heutiger Diktion – Menschenrechtsverstößen der Justiz eingesetzt hat, vgl. Cranston (1986, 51 f.).

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Hierin zeigen sich auch die im achtzehnten Jahrhundert vorgreifenden Prinzipien der Arbeitsteilung und der Gleichheit des normativen Status: Statt feudalistische Fron- oder Sklavendienste zu leisten, sind in Candides Garten alle »engaged in the principle of collective labour that includes each and every member«43. Esprit critique. Voltaire ist zunächst und vor allem ein Kritiker der Verhältnisse seiner Zeit. Er etabliert die ›Kritik‹ als zentrale Idee nicht nur der französischen Aufklärung. Vor allem übt Voltaire Religionskritik; er wendet sich gegen Religionskriege und Fanatismus aller Art. Seine eigene Haltung zur Religion ist Gegenstand andauernder Kontroversen. Für Voltaire steht die Menschlichkeit im Vordergrund, nicht die Wahrheit. Metaphysik interessiert ihn kaum; von der Philosophie erwartet er sich primär Orientierung im Leben: […] was tut es, ob die Materie ewig oder erschaffen ist? Gott ist gleichermaßen unser unbedingter Herr. Nach einem enttrümmerten Chaos müssen wir genauso tugendhaft sein wie nach einem Chaos, das aus nichts erschaffen wurde; so gut wie keine dieser metaphysischen Fragen bestimmt, wie man sein Leben führen muß. Es ist mit solchen Streitgesprächen wie mit den nichtigen Reden, die man bei Tische hält: jeder vergißt nach dem Essen, was er gesagt hat, und geht, wohin Nutzen und Neigung ihn rufen.44

Wenn ihm auch wenig an systematischen Fragen der (theoretischen) Philosophie gelegen ist, so hat Voltaire aber ein Kant nicht unähnliches aufklärerisches Ziel: eigenständiges, kritisches Denken fördern. Das ›Habe Mut Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen!‹ firmiert bei Voltaire etwa bereits 1764 im Dictionnaire philosophique unter dem Stichwort ›libert' de penser‹ (Denkfreiheit): »Il ne tient qu!$ vous d!apprendre $ penser […]› vous Þtes n' avec de l!esprit […] tout homme peut s!instruire […] osez penser par vous-mÞme.«45 Insbesondere: Historischer Kritizismus. Ausgehend von der Beschäftigung mit Voltaires Geschichtsschreibung und Geschichtsphilosophie lässt er sich als Vertreter eines historischen Kritizismus avant la lettre ausweisen. Er verabscheut die bloß chronikartigen Aufzählungen vergangener Ereignisse und setzt an die Stelle

43 Stewart (2009, 134). Die Konklusion (ibid., 137), dass Candide Voltaires bevorzugte moralische Themen, das Nichtschadens- und das Toleranzprinzip, »verkörpere«, überstrapaziert die Textgrundlage. Allenfalls eine Lektion zu den Grenzen der Toleranz mag das Schlusskapitel des Candide abgeben: »Though Pangloss may be a fool and Martin a crank, there is room for them in the garden. But not for the baron, who is himself intolerant« – nämlich indem er zeitlebens die Hochzeit der adligen Kunigunde mit dem dahergelaufenen Candide verhindert. 44 Aus dem Dictionnaire philosophique (1994 [1769], 380), Art. ›Materie‹ (Mati%re). Die deutsche Übersetzung ist Ayer (1994 [1986], 153) entnommen. 45 Ibid. (1994 [1769], 358). – »Es kommt nur auf Sie selbst an, denken zu lernen; Sie sind mit Verstand [esprit] geboren […] jedermann kann sich bilden […] wagen Sie, selbst zu denken.« (Meine Übers., K.S.)

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solcher res gestae eine Geschichtsschreibung, die sich als res scriptae46 um eine nachvollziehbare Selektion und Beurteilung relevanter Begebenheiten und Entwicklungen bemüht. Er praktiziert die Abkehr von der emblematischen, legendenreichen Beschäftigung mit antiker Geschichte hin zu einer kontextualisierten, quellenorientierten, zugleich aber ›engagierten‹ (durchaus polemischen, ironischen, übertreibenden) Geschichtsschreibung. Insofern nimmt Voltaire einerseits die Kontextualisierungen einer Kulturgeschichte späteren Datums vorweg (vgl. etwa die Schule der französischen Annales bis hin zur heutigen ubiquitären Kulturgeschichte), bietet quellenkritisches Bewusstsein (ante Droysen et al.) und erweist sich stilistisch als Vorgänger heutiger narrativer Historiographie angelsächsischer Prägung, welche geschäftstüchtig die Unterscheidung ernsthaftakademischer und unterhaltsam-publikumsorientierter Geschichtsschreibung ignoriert. Vor allem aber: menschliche Freiheit. Die Beschäftigung mit der Geschichte ist für Voltaire im Ergebnis lediglich ›Mittel zum Zweck‹. Ihm geht es um die Freilegung der Möglichkeit menschlicher Freiheit. Während man in der Gegenwart die rechts- und sozialphilosophische Dimension der Unterscheidung von ›in Freiheit‹ leben und ›frei‹ im Sinne von ›selbstbestimmt‹ leben beispielsweise unter Hinweis auf Isaiah Berlins doppelte Freiheitskonzeption (negative vs. positive Freiheit) zu fassen versuchen und für die ethisch-moralische Dimension auf den Terminus der ›Autonomie‹ ausweichen könnte, findet sich bei Voltaire noch keine entsprechende Differenzierung des Freiheitsbegriffs. Terminologisch kennt er den Begriff der ›Autonomie‹47 noch nicht, wenngleich es ihm der Sache nach um individuelle Selbstbestimmung geht.48 Eine freie, autonome Lebensführung ist nur in Freiheit möglich. Entsprechend übt Voltaire unverblümte Kirchen- und sehr konkrete Justizkritik – beides durchaus in rechtspolitischer Absicht. In einem berühmt49 gewordenen Diktum stellt er heraus: »Jean-Jacques n!'crit que pour 'crire et moi j!'cris pour agir«.50 Ausgerechnet Isaiah Berlin hat in seiner Kritik an rationalistisch überhöhtem Aufklärungs- und Systemdenken auch Voltaire51 einbezogen, der doch selbst jegliches Systemdenken verabscheute und als Vertreter eines epistemologischen Empirismus, axiologischen Pluralismus und politischen Liberalismus einzuordnen ist. 46 Vgl. zu dieser Gegenüberstellung Volpilhac-Auger (2009, 139 f., 142 f.). 47 Zur ›Erfindung‹ von ›Autonomie‹ vgl. Schneewind (1998). 48 Vgl. die Quintessenz von Gluckmann im Interview mit Bisson 2015: »Etre voltairien, c!est apprendre $ Þtre autonome dans la conduite de son destin.« Auf diese Sentenz lassen sich die Aktualisierungsbemühungen allerdings nicht reduzieren – vgl. sogleich. 49 Vgl. Gallo (2008). 50 Gemeint ist Rousseau: »Jean-Jacques schreibt nur, um zu schreiben, und ich schreibe, um zu handeln.« (Brief Voltaires vom 25. April 1767 an den Pastor Jacob Vernes, einen regelmäßigen Korrespondenzpartner). 51 Berlin (22013 [1990], 161 ff.).

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Philosophe engag&. Voltaires Leben steht exemplarisch für politische Einmischung auch gegen Widerstände und unter Gefahr der Einkerkerung (Voltaire saß von Mai 1717 bis April 1718 sowie im April 1726 im Gefängnis der Bastille) und Exilierung: Schließlich ergibt sich doch – auch wenn ich diese naheliegenden Felder hier bewusst ausgeklammert habe – ein offensichtlicher Nexus zur religiösen Toleranz und Meinungsfreiheit als zentralen Themen in Voltaires ›gesellschaftsphilosophischem‹ Werk. Hier ist die Aktualität am plausibelsten. Voltaire nimmt eine wohlverstandene Laizität im Sinne der Trennung zweier Sphären vorweg. Das Verhältnis von Religion und Politik ist klar: Der Staat hat sich aus der Religion (aus jedweder Konfession oder Religion) herauszuhalten. Zugleich ist aber negative und positive Religionsfreiheit als Teil einer umfassend verstandenen Freiheit der Lebensführung (Meinungs-, Glaubens- und Gewissensfreiheit sind nur einige Facetten davon) zu gewährleisten. Das impliziert eine mitunter für die Mehrheitsgesellschaft nur schwer zu ertragende (wörtlich: zu ›tolerierende‹) Koexistenz unterschiedlicher Lebensweisen einschließlich ungewöhnlicher und symbolisch fragwürdiger Kleidungsstücke. Voltaire vertritt hier einen angelsächsisch geprägten philosophischen Liberalismus avant la lettre. Man denke etwa an die Problematik des Burkaverbots oder auch nur die Aufregung um den Burkini, die im Sommer 2016 Frankreich und schließlich ganz Europa erfasste; die Entscheidung52 des obersten französischen Verwaltungsgerichts, des Conseil d!Etat, liegt hier ganz auf der Linie von Voltaire: Das Verbot, diese Badekleidung zu tragen, stellt »eine schwerwiegende und offenkundig ungesetzliche Verletzung der Grundfreiheiten dar, bei denen es sich um die Bewegungsfreiheit, die Gewissensfreiheit und die persönliche Freiheit handelt« (Punkt 6 der Entscheidung53). Voltaire ist ein streitbarer Ankläger ungerechter Verhältnisse, ein ›philosophe engag&‹; er macht sich für eine Strafrechtsreform stark und ist als einer der französischen Wegbereiter der Idee universeller Menschenrechte54 anzusehen, die schließlich in der D&claration des Droits de l!Homme et du Citoyen (DDHC 1789) ihren Ausdruck gefunden haben. Insbesondere seine letzte Schrift, Prix de

52 Conseil d!"tat, ordonnance du 26 ao%t 2016, abrufbar unter: http://www.conseiletat.fr/Decisions-Avis-Publications/Decisions/Selection-des-decisions-faisant-l-objet-dune-communication-particuliere/CE-ordonnance-du-26-aout-2016-Ligue-des-droits-de-lhomme-et-autres-association-de-defense-des-droits-de-l-homme-collectif-contre-l-islamo phobie-en-France. 53 In deutscher Sprache abrufbar unter: http://arianeinternet.conseil-etat.fr/aria neinternet/de/ViewRoot.asp?View=Html&DMode=Html&PushDirectUrl=1&Item= 1&fond=DCE_DE&Page=1&querytype=advanced&NbEltPerPages=4&Pluriels=False &Synonymes=False&dec_id_t=402742. 54 Vgl. etwa den Trait& sur la tol&rance (2003 [1763], 111) zum Prinzip der ›fraternit&‹: »[…] il faut regarder tous les hommes comme nos fr&res.«

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la Justice et de l!Humanit&, eine Preisschrift von 1778, listet seine vernunftrechtlichen Auffassungen auf. Belege für die tatsächliche Aktualität insbesondere des Toleranzmanifests lassen sich zahlreiche55 finden. Gepaart mit dem gegenwärtig auf die Bühne der internationalen Gemeinschaft zurückgekehrten Pessimismus ergibt sich aus Voltaires Freiheits- und Toleranzbotschaft ein Aufruf zum Handeln, zur Verteidigung der freiheitlichen, kosmopolitischen und universalen Werte gegen Angriffe aller Couleur, Populismen und Fanatismen aller Art. – Wenn das nicht eine allzu unbequeme Aktualität wäre. Voltaires Leben und Werk sowie die allenthalben aufzufindende Voltairekritik mögen ein eigenes Lehrstück zur vielzitierten ›Dialektik der Aufklärung‹ (Horkheimer/Adorno 1944) abgeben: Manchen56 geht es, so scheint es, vor allem um die Entthronung eines übermäßig glorifizierten Helden der Aufklärung im entlarvenden, ideologiekritischen Gestus. Voltaires Vielseitigkeit lässt sich ausschlachten (›philosophe‹ statt ›Philosoph‹), seine negativen Charakterzüge lassen sich gegen ihn verwenden; das Bemühen um Toleranz, Offenheit und Transparenz als Kultur öffentlicher und privater Institutionen, seien es Medien, Schulen oder Universitäten, kann sich zu einem die Meinungsvielfalt beschneidenden Klima von ›political correctness‹ steigern und damit den eigenen erklärten Zielen zuwider laufen. Übertragen auf heutige Verhältnisse darf man vermuten: Voltaire selbst hätte im Sinne einer Vorwärtsverteidigung der in Rede stehenden Werte auf derlei Auswüchse aufmerksam gemacht. Das ›Durchwursteln‹, das Streben nach Widerstandskraft oder Resilienz den Widerfahrnissen und insbesondere Widrigkeiten gegenüber (Voltaires Leben), die Rückschläge auf der Suche nach dem guten Leben (Candide), die durchwachsene Bilanz des utopischen Entwurfs (der Garten, den es zu kultivieren gilt) sind zentral für das Voltairesche Aufklärungsverständnis. Salopp gesagt: Voltaire zufolge ist Fortschritt zwar möglich, macht aber viel Arbeit. Ayer (1994 [1986], 202) kommt zu einem abschließenden Urteil von erstaunlicher Aktualität: Wenn wir aber unseren Blick über England hinaus weiten und Phänomene beobachten wie beispielsweise das Wiederaufflackern des religiösen Fundamentalismus in den Vereinigten Staaten, die Schrecken des religiösen Fanatismus im Mittleren Osten, die erschreckende Gefahr, die die Verstocktheit der politischen Intoleranz für die ganze Welt bedeutet, dann müssen wir uns eingestehen, daß wir noch immer dem großen Vorbild von Voltaire in Sachen Klarheit, Scharfsinn, intellektuelle Redlichkeit und Zivilcourage nachstreben können.

55 Bisson (2015), Lepenies (2015), s. n. (2015), um nur einige zu nennen. 56 So präsentiert etwa Martin (2006), der auch zum äußerst umstrittenen ›Schwarzbuch der Französischen Revolution‹ (Paris: Editions du Cerf 2008) beigetragen hat, eine krass negative Charakterstudie Voltaires.

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Auch Voltaires eigener Appell57 »in diesem Jahrhundert, das die Morgenröte der Vernunft« darstellt, doch in dem »einige Köpfe der Hydra des Fanatismus wieder aufleben«, lässt sich auf die Gegenwart übertragen: Es scheint, dass ihr Gift [dasjenige der Hydra des Fanatismus; K.S.] weniger tödlich ist, ihre Mäuler weniger verschlingend. […] aber das Monster besteht noch immer: jeder, der die Wahrheit sucht, riskiert, verfolgt zu werden. Sollen wir untätig in der Dunkelheit bleiben? […] ich glaube, dass die Wahrheit sich genauso wenig vor diesen Monstern verstecken darf wie man nicht aus Angst, vergiftet zu werden, darauf verzichten darf, Nahrung zu sich zu nehmen.

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Zur Aktualität der französischen Aufklärung in der Figur des Voltaire L'vy, Bernard-Henri (22011 [2008]): Pr'face, in: Voltaire: Le Philosophe ignorant [1766], Paris: Librairie G'n'rale FranÅaise, 7–18. Martin, Xavier (2006): Voltaire m'connu: Aspects cach's de l!humanisme des Lumi&res (1750–1800), Poitiers: Editions Dominique Martin Morin. Mason, Haydn Trevor (1981): Voltaire. A Biography, London: Granada. Pearson, Roger (1993): The Candid Conte: Candide ou l!optimisme, in: Ders.: The Fables of Reason. A Study of Voltaire!s ›Contes Philosophiques‹, Oxford: Clarendon Press, Kap. 8, 110–136. Petitier, Paule (2010): Le Voltaire de Michelet, in: Voltaire et l!histoire nationale (Revue Voltaire, n8 10), Paris: Presses de l!Universit' Paris-Sorbonne, 39–51. Schneewind, Jerome B. (1998): The Invention of Autonomy. A History of Modern Moral Philosophy, Cambridge: Cambridge University Press. Shank, J. B. (2015): Eintrag ›Voltaire‹, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2015 Edition), hg. von Edward N. Zalta, https://plato.stanford.edu/archives/ fall2015/entries/voltaire. Sine nomine [hpi/AP] (2015): 250 Jahre alte Kampfschrift für Toleranz. Voltaire stürmt Bestsellerlisten, in: Spiegel Online vom 28. 01. 2015, http://www.spiegel.de/kultur/li teratur/frankreich-voltaire-mit-abhandlung-ueber-die-toleranz-bestseller-liste-a-101 5476.html. Stewart, Philip (2009): Candide, in: The Cambridge Companion to Voltaire, hg. von Nicholas Cronk, Cambridge: Cambridge University Press, 125–138. Volpilhac-Auger, Catherine (2009): Voltaire and history, in: The Cambridge Companion to Voltaire, hg. von Nicholas Cronk, Cambridge: Cambridge University Press, 139– 152. Voltaire [FranÅois-Marie Arouet, genannt] (1982 [1730]): Geschichte Karls XII. [Histoire de Charles XII], Frankfurt am Main: Insel. Voltaire [FranÅois-Marie Arouet, genannt] (1986 [1734]): Lettres philosophiques, hg. von Fr'd'ric Deloffre, Paris: "ditions Gallimard. Voltaire [FranÅois-Marie Arouet, genannt] (2015 [1768; Erstveröffentlichung 1752 in Berlin, verfasst ab 1733]): Le si&cle de Louis XIV, kommentiert von Ren' Pomeau mit einem Vorwort von Nicholas Cronk, Paris: Editions Gallimard. Voltaire [FranÅois-Marie Arouet, genannt] (1829 [1756]): Essai sur les mœurs et l!esprit des nations, et sur les principaux faits de l!histoire, depuis Charlemagne jusqu!$ Louis XIII, Bd. 1 (inklusive der Introduction [ursprünglich Discours pr&liminaire bzw. als einzelnes Werk 1765 unter Pseudonym veröffentlicht als La philosophie de l!histoire, par feu l!abb& Bazin]), avec pr'faces, avertissements, notes, etc. par M. Beuchot, in: Oeuvres de Voltaire, tome XV, Paris: Lef&vre sowie Werdet und Lequien Fils, abrufbar unter: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k375239. Voltaire [FranÅois-Marie Arouet, genannt] (1988 [1759]): Candide ou l!optimisme. In: Candide, Zadig et autres contes. Paris: Biblioth&ques Latt&s, S. 7–164. Voltaire [FranÅois-Marie Arouet, genannt] (2003 [1763]): Trait' sur la Tol'rance $ l!occasion de la mort de Jean Calas (1763), hg. von Jacques Van den Heuvel, Paris: Gallimard (auf der Grundlage der Ausgabe Folio Classique no. 672, 1975). Voltaire [FranÅois-Marie Arouet, genannt] (1765a): La Philosophie de l!Histoire, par feu l!abb' Bazin, Amsterdam: Changuion, Reproduktion des Originals abrufbar unter: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k57060758?rk=214593;2.

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Katja Stoppenbrink Voltaire [FranÅois-Marie Arouet, genannt] (1765b): Artikel ›Histoire‹, in: Encyclop'die, ou dictionnaire raisonn' des sciences, des arts et des m'tiers, par une soci't' de gens de lettres, hg. von Denis Diderot und Jean le Rond d!Alembert, Paris: Briasson, David, Le Breton, Durand, Bd. 8, 220–225, abrufbar unter: http://obvil.paris-sorbonne.fr/ corpus/critique/voltaire_encyclopedie.html#Histoire. Voltaire [FranÅois-Marie Arouet, genannt] (22011 [1766]): Le Philosophe ignorant, Paris: Librairie G'n'rale FranÅaise. Voltaire [FranÅois-Marie Arouet, genannt] (1994 [1769]): Dictionnaire philosophique, hg. von Alain Pons, Paris: Gallimard (Collection Folio classique). [Erstausgabe 1764 unter dem Titel Dictionnaire philosophique portatif, d. h. ›tragbares philosophisches Wörterbuch‹. Als Publikationsort wird London angegeben; tatsächlich aber findet der Druck heimlich in Genf bei Gabriel Grasset statt.] Voltaire [FranÅois-Marie Arouet, genannt] (1771): Artikel »Conscience. Section I. De la conscience du bien et du mal«, in: Ders.: Questions sur l!Encyclop'die, par amateurs, 9 Bde., Bd. 4, Genf: Cramer, abrufbar unter: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k6424 0674/f85.item. Voltaire [FranÅois-Marie Arouet, genannt] (1778): Prix de la Justice et de l!Humanit'; Reproduktion des Original abrufbar unter: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k5705 868k. Vyverberg, Henry (1989): Human Nature, Cultural Diversity, and the French Enlightenment, New York, Oxford: Oxford University Press. Weischedel, Wilhelm (1948): Voltaire und das Problem der Geschichte, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 2 (4), 481–498. Alle zitierten Webseiten sind zuletzt am 12. 06. 2017 abgerufen worden.

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Wie voraussetzungsreich ist Kants Aufklärungsprogramm? Oliver R. Scholz

Wie anspruchsvoll, wie voraussetzungsreich ist das Aufklärungsprogramm? Im Folgenden soll diese grundsätzliche und allgemeine Frage einmal am Beispiel des Aufklärungsprogramms von Immanuel Kant (1724–1804) erörtert werden: Worin besteht dieses Programm eigentlich? Wie voraussetzungsreich ist es? Sind diese Voraussetzungen problematisch? Sind sie kohärent? Stellen sie womöglich eine Überforderung dar?

1. Aufklärung: Programm, Bewegung, Epoche Bevor ich mich der Hauptfrage zuwende, ist eine begriffliche Klärung vonnöten. Der Terminus »Aufklärung« ist nämlich systematisch mehrdeutig.1 Primär bedeutet »Aufklärung« (1.) ein Programm, ein Bündel von Ideen und Idealen, Zielsetzungen, Forderungen und Maximen. Ohne die mannigfachen Unterschiede herunterzuspielen, kann man den Kern des Programms idealtypisch folgendermaßen fassen: Der Mensch soll sich mittels der Reifung und des richtigen Gebrauchs seiner eigenen Seelenvermögen, insbesondere seines Verstandes und seiner Urteilskraft, selbst befreien und kognitiv, vor allem aber moralisch (»sittlich«) vervollkommnen. Als Voraussetzungen für die Verwirklichung dieses Programms wurden zwei besonders hervorgehoben: (i) die allgemeine Menschenvernunft als Naturanlage und (ii) die Gewährung von Grundfreiheiten (wie Denk-, Rede- und Publikationsfreiheit) als äußere Bedingung. Der Hinweis auf diese systematische Mehrdeutigkeit und die Priorität des Programmbegriffs ist wichtig – gerade, wenn es um die kritische Beurteilung und Bewertung der Aufklärung geht. Es macht offenbar einen großen Unterschied, ob (1.) das Programm, (2.) die Bewegung oder (3.) die Epoche beurteilt werden soll.

2. Das Programm der Aufklärung Wenden wir uns nach dieser Klärung dem Programm der Aufklärung zu, speziell Kants Aufklärungsprogramm. Ohne die besonderen historischen Anlässe und Kontexte zu verkennen (dazu Hinske 1973/41990; Schulz 1974), konzentriere ich 1 Ausführlicheres dazu in der Einführung dieses Heftes.

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Oliver R. Scholz

mich hier auf die systematische Kohärenz und Rechtfertigung des Programms: Wie hängen die Ideen der Aufklärung Kant zufolge miteinander zusammen? Wie gut sind ihre Ziele und Ideale begründet? Sind sie realistisch oder überfordern sie uns? Erst nach einer Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen ist eine gerechte Beurteilung und Bewertung des Aufklärungsprogramms möglich. Unter den tragenden Ideen der Aufklärung kann man mit Norbert Hinske zwischen Basisideen, (positiven) Programmideen und (negativen) Kampfideen sowie abgeleiteten Ideen unterscheiden (Hinske 1990). Viele verbinden mit der Aufklärung an erster Stelle das, wogegen sie gekämpft hat: Vorurteile, Aberglauben, Schwärmerei, Fanatismus und anderes mehr. Neben diesen Kampfideen sollte man freilich nicht vergessen, wofür sie positiv eintrat: Selbstdenken, Mündigkeit, Selbstvervollkommnung u. a. Im Hintergrund stehen Basisideen wie die Idee der Bestimmung des Menschen und die Idee der allgemeinen Menschenvernunft. Schließlich gibt es eine ganze Reihe wichtiger Ideen, die aus den genannten drei Gruppen abgeleitet werden können: Publikationsfreiheit, Toleranz, Kosmopolitismus etc.

3. Das Aufklärungsprogramm in Kants Philosophie Kant hat sich zu allen Ideen der Aufklärung ausführlich geäußert. Dies geschieht nicht nur in seinen Logik- und Anthropologie-Vorlesungen und in den kleinen Beiträgen zur Berlinischen Monatsschrift, allen voran dem Aufsatz »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«, sondern auch in den kritischen Hauptwerken. So findet man in der Kritik der reinen Vernunft besonders in den »Vorreden« und in der »Methodenlehre« Überlegungen zu seinem Aufklärungsprogramm. In der Kritik der Urteilskraft enthält insbesondere der Exkurs über die »Maximen des gemeinen Menschenverstandes« im § 40 bedeutsame Ausführungen zu den Ideen der Aufklärung. Die Liste ließe sich verlängern. Wie im Folgenden deutlich werden soll, hat der Königsberger Philosoph wesentlich zur Klärung, Präzisierung und Systematisierung der leitenden Aufklärungsideen beigetragen. Mit etwas Zuspitzung kann man sagen: (These 1) Kant hat das Aufklärungsprogramm auf Prinzipien gebracht. Oder genauer: (These 1*) Kant hat das Programm der Aufklärung als ein System von Maximen dargestellt. In allen Fällen gelingt ihm eine genauere Herausarbeitung der jeweiligen Idee sowie ihrer Zusammenhänge mit anderen Aufklärungsideen; und diese Systematisierungsleistungen stehen in direktem Zusammenhang mit seinem erkenntniskritischen Unternehmen und dessen Folgen für die praktische Philosophie. Wie ich betonen möchte, ist Kants Arbeit am Aufklärungsprogramm weder eine späte noch eine periphere Bemühung. Vielmehr gilt, wiederum pointiert gesagt:

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Wie voraussetzungsreich ist Kants Aufklärungsprogramm?

(These 2) Kants gesamte theoretische und praktische Philosophie dient direkt oder indirekt der Begründung des Aufklärungsprogramms. Leitfaden dieses Unternehmens ist (a) die Idee der Freiheit, insbesondere in ihrem positiven Verständnis als Autonomie, Selbstgesetzgebung. Drei weitere Leitideen begleiten und ergänzen diese zentrale Leitidee: (b) die Idee der Selbsterkenntnis der Vernunft – samt ihrer Grenzen, (c) die Idee der Gesetzmäßigkeit – und zwar sowohl des Reichs der Natur als auch des Reichs der Freiheit, (d) schließlich die Idee des Weltbürgertums, d. h. die Idee, daß wir als autonomiefähige Personen zugleich Weltbürger in einer wesentlich gemeinschaftlichen Welt sind.

4. Was ist Aufklärung? Kants Antworten Im Folgenden werde ich zunächst Kants Explikationen des Aufklärungsbegriffs kommentieren und miteinander vergleichen. Auf den ersten Blick könnte es scheinen, als habe Kant den Terminus »Aufklärung« an verschiedenen Stellen unterschiedlich erläutert. Horst Stuke gibt dem Kant gewidmeten Abschnitt seines vielgelesenen Artikels »Aufklärung« in den Geschichtlichen Grundbegriffen geradezu die Überschrift: »Die Mehrdeutigkeit des Aufklärungsbegriffs bei Kant«.2 Obsessiv suchen er und viele andere bei Kant nach schädlichen Vieldeutigkeiten und Ungereimtheiten. Ich möchte dagegen verdeutlichen, dass Kants Konzeption des Aufklärungsprogramms einen klar identifizierbaren und gut nachvollziehbaren Kern hat. Dabei gehe ich mit Bedacht nicht in chronologischer Reihenfolge vor, sondern setze ein mit einer besonders klaren Charakterisierung des Aufklärungsprogramms, um im Ausgang von ihr andere Äußerungen zu beleuchten. Ich beginne deshalb mit einer Anmerkung aus dem 1786 erschienenen Aufsatz »Was heißt: Sich im Denken orientieren?« In diesem Beitrag zur Berlinischen Monatsschrift reagierte Kant auf eine Gefährdung der Aufklärungsbewegung durch die neue Gefühlsphilosophie von Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819) und anderen.3 Der Aufsatz gipfelte in zwei Appellen; der zweite lautete: Freunde des Menschengeschlechts und dessen, was ihm am heiligsten ist! Nehmt an, was Euch nach sorgfältiger und aufrichtiger Prüfung am glaubwürdigsten scheint, es mögen nun Facta, es mögen Vernunftgründe sein; nur streitet der Vernunft nicht das, was sie zum höchsten Gut auf Erden macht, nämlich das Vorrecht ab, der letzte Probierstein der 2 Stuke 1972, 243, 265–272. 3 Der unmittelbare Anlaß ist bekanntlich der Jacobi-Mendelssohn-Streit (auch »Spinozismus-Streit« oder »Pantheismus-Streit« genannt), der durch Jacobis Schrift »Über die Lehre des Spinoza, in Briefen an Herrn Moses Mendelssohn« (1785) ausgelöst worden war.

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Oliver R. Scholz Wahrheit zu sein. Widrigenfalls werdet Ihr, dieser Freiheit [= der Freiheit im Denken; ORS] unwürdig, sie auch sicherlich einbüßen und dieses Unglück noch dazu dem übrigen, schuldlosen Theile über den Hals ziehen, der sonst wohl gesinnt gewesen wäre, sich seiner Freiheit gesetzmäßig und dadurch auch zweckmäßig zum Weltbesten zu bedienen! (AA VIII 146 f.)

An den Begriff »Probierstein der Wahrheit« (Wahrheitskriterium) ist die folgende Anmerkung angehängt, die vollständig zitiert zu werden verdient: Selbstdenken heißt den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d.i. in seiner eigenen Vernunft) suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung. Dazu gehört nun eben so viel nicht, als sich diejenigen einbilden, welche die Aufklärung in Kenntnisse setzen: da sie vielmehr ein negativer Grundsatz im Gebrauch seines Erkenntnisvermögens ist, und öfter der, so an Kenntnissen überaus reich ist, im Gebrauch derselben am wenigsten aufgeklärt ist. Sich seiner eigenen Vernunft bedienen, will nichts weiter sagen, als bei allem dem, was man annehmen soll, sich selbst fragen: ob man es wohl thunlich finde, den Grund, warum man etwas annimmt, oder auch die Regel, die aus dem, was man annimmt, folgt, zum allgemeinen Grundsatze seines Vernunftgebrauchs zu machen. Diese Probe kann ein jeder mit sich selbst anstellen; und er wird Aberglauben und Schwärmerei bei dieser Prüfung alsbald verschwinden sehen, wenn er gleich bei weitem die Kenntnisse nicht hat, beide aus objektiven Gründen zu widerlegen. Denn er bedient sich bloß der Maxime der Selbsterhaltung der Vernunft. Aufklärung in einzelnen Subjekten durch Erziehung zu gründen, ist also gar leicht; man muß nur früh anfangen, die jungen Köpfe zu dieser Reflexion zu gewöhnen. Ein Zeitalter aber aufzuklären, ist sehr langwierig; denn es finden sich viele äußere Hindernisse, welche jene Erziehungsart theils verbieten, theils erschweren. (AA VIII 146 f.)

Aus dieser Anmerkung lassen sich eine Reihe von Definitionen und Maximen herauspräparieren: (Definition 1) Die Aufklärung ist die Maxime, jederzeit selbst zu denken. (Maxime 1) Maxime: Du sollst jederzeit selbst denken! (Definition 2) Selbstdenken heißt das oberste Wahrheitskriterium in seiner eigenen Vernunft zu suchen. (Maxime 2) Maxime: Du sollst das oberste Wahrheitskriterium jederzeit in Deiner eigenen Vernunft suchen! (Definition 3) Sich seiner eigenen Vernunft bedienen heißt, sich bei allen zu beurteilenden Gedankeninhalten fragen, ob es tunlich ist, den Grund, aus dem man etwas annimmt (oder auch die Regel, die aus dem, was man annimmt, folgt) zu einem allgemeinen Grundsatz seines Vernunftgebrauchs zu machen! (Maxime 3) Maxime: Du sollst Dich bei allen zu beurteilenden Gedankeninhalten fragen, ob es tunlich ist, den Grund, aus dem Du etwas annimmst (oder auch die Regel, die aus dem, was Du annimmst, folgt) zu einem allgemeinen Grundsatz Deines Vernunftgebrauchs zu machen!

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Wie voraussetzungsreich ist Kants Aufklärungsprogramm?

Aufklärung besteht also nicht in dem materialen Besitz von Kenntnissen, in irgendwelchen spezifischen Denkinhalten, Lehren oder Kenntnissen, die man etwa in einer Liste zusammenfassen und dann jedermann einpauken könnte; sie ist vielmehr »ein negativer Grundsatz im Gebrauche unseres Erkenntnisvermögens.« (AA VIII 146) Im Kern handelt es sich um einen Verallgemeinerungstest bezüglich beliebiger Maximen der Überzeugungsbildung und -festigung. Nicht zufällig erinnert er an den kategorischen Imperativ als Test moralischer Maximen; der oft gerügte formale Charakter erweist sich in beiden Fällen – dem theoretischen und dem praktischen – als eine Stärke. Ein wichtiger Fingerzeig besteht schließlich in dem Umstand, dass die Anmerkung zu Selbstdenken und Aufklärung dem Begriff »Probierstein der Wahrheit« angehängt ist. Wie wir sehen werden, hängt Kants Aufklärungsprogramm tatsächlich aufs engste mit seiner Wahrheitstheorie, und zwar genauer: mit seiner Lehre von den Wahrheitskriterien, zusammen.

5. Was ist Aufklärung? Kants berühmteste Antwort Nach diesen Klärungen wenden wir uns dem locus classicus zu, dem Aufsatz »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« (1784): »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« (AAVIII 35), so lautet die berühmte Eingangsformel von Kants »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« Halten wir fest: (Definition 4) Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Diese vielzitierte Formel wird erst zu völliger Klarheit gebracht, wenn man in sie die Bestimmungen einsetzt, die Kant im Anschluß daran für die zentralen Begriffe gibt. Unter Unmündigkeit versteht Kant »das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.« (AA VIII 35) Selbstverschuldet ist solche Unmündigkeit, wenn sie nicht auf einem Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes beruht. Insgesamt ergibt sich also: (Definition 4*) Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seinem an einem Mangel der Entschließung und des Mutes (nicht an einem Mangel des Verstandes) liegenden (und insofern selbstverschuldeten) Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Merkwürdig – im Doppelsinn von »bemerkenswert« und »seltsam« – bleibt das Geschrei, das von Hamann bis heute wegen des Zusatzes »selbst verschuldet« erhoben wurde. Wenn man liest, welche Dummheiten und Gemeinheiten Kant in diesem Zusammenhang zugetraut worden sind, beginnt man geradezu an die Wirksamkeit eines eigentümlichen Willens zum Mißverstehen zu glauben. »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.« Was besagt dieser erste Satz der »Beantwortung«? Fragen wir

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uns als erstes nach seinem Status. Es handelt sich ersichtlich um den Versuch einer Definition. Dafür spricht nicht nur der Wortlaut, sondern auch der Textzusammenhang. Der gesamte erste Absatz ist als direkte Antwort auf die Frage »Was ist Aufklärung?« intendiert. Der erste Satz bringt die Definition des Begriffs »Aufklärung«. Der zweite und dritte Satz liefern Definitionen zentraler in der Aufklärungsdefinition gebrauchter Begriffe: »Unmündigkeit« und »selbstverschuldet«. Der letzte Satz leitet daraus die Maxime der Aufklärung ab – in einer freien und anspielungsreichen Deutung des Horaz-Wortes »Sapere aude!«4 Auf den ersten Absatz, der sich der Definitionsaufgabe entledigt hat, folgen Betrachtungen über die Ursachen der Unmündigkeit und über geeignete und zugleich zulässige Gegenmittel. Kehren wir nun zu der Frage zurück, ob in dem Satze »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit« etwas Anstößiges behauptet wird. Zunächst kann man fragen, ob in dem so geschmähten Satz überhaupt eine inhaltliche Behauptung getroffen wird, das hängt davon ab, ob mit der Definition das Wesen der Aufklärung mit behauptender Kraft zum Ausdruck gebracht oder lediglich ein Begriff erläutert wird; in Kants Terminologie: ob es sich um ein synthetisches oder um ein analytisches Urteil handelt. Entscheidend ist etwas anderes: dass der Zusatz »selbst verschuldet« einschränkend zu verstehen ist: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner Unmündigkeit, soweit sie selbst verschuldet ist.«5 Dass das Beiwort »selbst verschuldet« einschränkend gebraucht ist, zeigt unmißverständlich der dritte Satz: »Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn sie nicht auf einem Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes beruht. [Meine Hervorhebung; ORS]« Kants Kritiker haben den berühmten ersten Satz in einer heroischen Anstrengung des Mißverstehens anders gelesen, etwa folgendermaßen: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner Unmündigkeit; und die Unmündigkeit ist in jedem Falle selbst verschuldet.« oder gar so: »Wer nicht aufgeklärt ist, ist in jedem Falle selbst schuld daran.« Es sollte klar sein, dass dies den Inhalt von Kants Satz nicht trifft. Freilich äußert Kant auch Vermutungen über die Ursachen der Unmündigkeit und darüber, wer für die Unmündigkeit verantwortlich ist. Dies geschieht, wie gesagt, in den Absätzen, die auf den ersten folgen. Kant trennt natürlich methodisch zwischen Definition und Diagnose:

4 Vgl. dazu Scholz 2015. 5 Machen wir die Gegenprobe und lassen den Zusatz einmal fort: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner Unmündigkeit.« Diese Definition wäre ungeeignet; sie hätte Geschrei verdient. Ganz unsinnig wäre: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus fremdverschuldeter Unmündigkeit.«

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Wie voraussetzungsreich ist Kants Aufklärungsprogramm? Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. (AA VIII 35)

Über diese diagnostische Hypothese mag man natürlich streiten. Kausale Hypothesen sind bekanntlich immer schwer zu beweisen. Ganz abwegig scheint Kants Diagnose aber nicht zu sein. Für jede einzelne Person ist es nach Kant schwer, sich aus der zur zweiten Natur gewordenen Unmündigkeit zu befreien. Dass hingegen ein Publikum sich aufkläre, sei nicht nur leichter möglich, sondern »beinahe unausbleiblich«, sofern man diesem Publikum die dazu nötige Freiheit läßt. Diese Freiheit ist die, »von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen.« (AAVIII 36) Die räsonnierende Öffentlichkeit wird damit zum Medium der Aufklärung, wobei die Freiheit zu solchem Räsonnieren die entscheidende rechtliche und politische Voraussetzung der Aufklärung ist. Zu beachten ist dabei, dass das gemeinschaftliche öffentliche Raisonnieren für Kant keineswegs nur aufklärungsstrategische oder didaktische Bedeutung hat; vielmehr kommt der Diskussionsgemeinschaft eine prinzipielle erkenntnistheoretische Bedeutung zu (vgl. Hegselmann 1985, IX–X; Hinske 1986; Scholz 2006).

6. Aufklärung, Wahrheitskriterien und Denkungsart Das geht aus Kants differenzierter Wahrheitstheorie hervor, die wir jetzt kurz betrachten wollen. Kant unterscheidet zunächst zwischen Wahrheitsdefinition und Wahrheitskriterien. Tatsächlich ist es bei vielen Begriffen sinnvoll, zwischen Definitionen des Begriffs und Kriterien für die korrekte Anwendung des Begriffs zu unterscheiden, so auch bei der Wahrheit. Bei der Definition eines Begriffs geht es um die semantische Frage: Was bedeutet der Begriff ? Bei dem Kriterium für die korrekte Anwendung des Begriffs geht es um die epistemische Frage: Wie kann ich erkennen, ob das, was der Begriff bezeichnet, vorliegt? Mit der Nominaldefinition von »Wahrheit« als der »Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande« (KrV B 82) macht sich Kant die traditionelle Adäquations- oder Korrespondenztheorie der Wahrheit zu Eigen, wie er sie etwa bei Aristoteles und Thomas von Aquin vorfinden konnte. Auf der Seite der Kriterien ist weiter zu unterscheiden zwischen Wahrheitskriterien der Materie (d. h. dem Inhalt) und Wahrheitskriterien der Form nach. Die formalen Wahrheitskriterien werden durch die allgemeinen Gesetze des Verstandes, allen voran den Satz vom Widerspruch, bereitgestellt (KrV B 83). Wie Kant zu Recht betont, kann es dagegen kein allgemeines materiales Wahrheitskriterium geben: »[…] von der Wahrheit der Erkenntnis der Materie nach lässt sich kein allgemeines Kennzeichen verlangen […].« (KrV B 83) Die Wahr-

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heitskriterien unterscheiden sich naturgemäß nach den Gegenständen und Beschaffenheiten, über die geurteilt wird. Aber wir stehen in diesem Punkt doch nicht mit ganz leeren Händen da. In der »Methodenlehre« am Ende der ersten Kritik wird deutlich, dass man immerhin eine notwendige Bedingung angeben kann: die Möglichkeit, das Urteil »mitzuteilen und das Fürwahrhalten für jedes Menschen Vernunft gültig zu befinden.« (KrV B 848 f.) Das intersubjektive Moment dieses äußerlichen Wahrheitskriteriums wird in mehreren Schriften aufschlußreich entfaltet. Schon in dem Aufsatz »Was heißt: Sich im Denken orientieren?« heißt es dazu: […] wie viel und mit welcher Richtigkeit würden wir wohl denken, wenn wir nicht gleichsam in Gemeinschaft mit anderen, denen wir unsere und die uns ihre Gedanken mittheilen, dächten! Also kann man wohl sagen, daß diejenige äußere Gewalt, welche die Freiheit, seine Gedanken öffentlich mitzuteilen, den Menschen entreißt, ihnen auch die Freiheit zu denken nehme […]. (AA VIII 144)

Der § 40 der Kritik der Urteilskraft enthält unter dem Titel »Vom Geschmacke als einer Art des sensus communis« eine Skizze von Kants Theorie der Intersubjektivität. Der Geschmack als »sensus communis aestheticus«, als ästhetischer Gemeinsinn, ist dem »sensus communis logicus«, dem gemeinen oder, wie man auch sagt, gesunden Menschenverstand, verwandt. Kant fügt in diesem Zusammenhang mit Bedacht ein zentrales aufklärerisches Lehrstück ein: eine Übersicht über die »Maximen des gemeinen Menschenverstandes« (AAV: 294; vgl. AAVII 200, 228 f.; AA IX 57): 1. Selbstdenken; 2. an der Stelle jedes anderen denken; 3. jederzeit mit sich selbst einstimmig denken. Oder etwas ausführlicher: (MGM 1) Du sollst jederzeit selbst denken! (MGM 2) Du sollst an der Stelle jedes anderen denken! (MGM 3) Du sollst jederzeit mit Dir selbst einstimmig denken! Die grundlegende Maxime des Selbstdenkens heißt auch Maxime der vorurteilsfreien Denkungsart oder noch grundsätzlicher Maxime einer niemals passiven (sondern autonomen) Vernunft. Die Aufklärung kann – insbesondere als Bekämpfung von Aberglauben und von Vorurteilen überhaupt – als Befreiung von dem Zustand der passiven Vernunft gekennzeichnet werden. Der Maxime des Selbstdenkens wird nun charakteristischer Weise die Maxime des an-der-Stelle-jedes-anderen-Denkens gleichberechtigt zur Seite gestellt. Diese Maxime der Intersubjektivität heißt auch Maxime der erweiterten Denkungsart. Das zugehörige Verfahren besteht darin, sich bei der Urteilsbildung nach Kräften in den Standpunkt anderer Personen zu versetzen, um sich von Privatbedingungen des Urteils frei zu machen und einen allgemeinen Standpunkt zu bestimmen, aus dem man über sein eigenes Urteil kritisch reflektiert. In der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) unterscheidet Kant mehrere Formen des Egoismus, von denen für unseren Zusammenhang die Eigenliebe des Verstandes, der sog. logische Egoismus, von Interesse ist:

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Wie voraussetzungsreich ist Kants Aufklärungsprogramm? Der logische Egoist hält es für unnötig, sein Urteil auch am Verstande anderer zu prüfen; gleich als ob er dieses Probiersteins (criterium veritatis externum) gar nicht bedürfe. Es ist aber so gewiss, dass wir dieses Mittels, uns der Wahrheit unseres Urteils zu versichern, nicht entbehren können, dass es vielleicht der wichtigste Grund ist, warum das gelehrte Volk so dringend nach der Freiheit der Feder schreit; weil, wenn diese verweigert wird, uns zugleich ein großes Mittel entzogen wird, die Richtigkeit unserer Urteile zu prüfen, und wir dem Irrtum preisgegeben werden. (AA VII 128 f.)

Die einzige sinnvolle Alternative zum logischen Egoismus ist der logische Pluralismus, die erweiterte Denkungsart des Weltbürgers: Dem Egoism kann nur der Pluralism entgegengesetzt werden, d. i.: die Denkungsart: sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen bloßen Weltbürger zu betrachten und zu verhalten. (AA VII 130, vgl. 219)

Der aufgeklärte Mensch ist also nicht allein in rechtlicher und politischer, sondern auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht ein Weltbürger. Die dritte Maxime ist die der »konsequenten«, »folgerechten« oder »bündigen« Denkungsart; sie zielt auf Konsistenz, oder allgemeiner: Kohärenz im Verstandesgebrauch. Kant betont die Notwendigkeit und den Zusammenhang aller drei Maximen, wobei der Maxime des Selbstdenkens freilich der erste Rang gebührt. Ohne vorurteilsfreie Denkungsart (MGM 1) wäre es kaum möglich, einen allgemeinen Standpunkt einzunehmen (MGM 2); und ohne Befolgung von (MGM 1) und (MGM 2) könnte das Bemühen um Konsistenz (MGM 3) auch in einem intern konsistenten System von Vorurteilen und Aberglauben stecken bleiben. Freilich würden bei strenger Anwendung einer Maxime des kohärenten Verstandesgebrauches die meisten Formen von Vorurteilen und Aberglauben kaum längere Zeit bestehen können.

7. Aufklärung, Wahrheitskriterien und Publikationsfreiheit Zu den abgeleiteten Ideen der Aufklärung gehören die Ideen der Öffentlichkeit und der Publikationsfreiheit. Für Kant ergeben sie sich direkt aus seiner Lehre von den Wahrheitskriterien und der eben betrachteten Maxime des logischen Pluralismus. Dies wird sehr schön aus Norbert Hinskes Rekonstruktion der Kantischen Argumentation ersichtlich (Hinske 1986, 45): Der Mensch hat die moralische Pflicht, die Ergebnisse seines eigenen Nachdenkens allen anderen zur Prüfung vorzulegen und deren Urteil als äußeres Kriterium der Wahrheit zu betrachten. Jede Pflicht aber ist untrennbar mit dem Recht verbunden, von allen denjenigen Mitteln Gebrauch zu machen, die zu ihrer Erfüllung notwendig sind.

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Oliver R. Scholz Also hat der Mensch ein Recht darauf, von allen den Mitteln Gebrauch zu machen, die notwendig sind, um die Ergebnisse seines eigenen Nachdenkens allen anderen zur Prüfung vorzulegen. Bei der Publikationsfreiheit handelt es sich um ein derartiges Mittel, ja sie ist sogar das einzig sichere Mittel, dieses Ziel auch tatsächlich zu erreichen. Also hat der Mensch ein Recht auf Publikationsfreiheit.

8. Ein Einwand Zum Abschluß möchte ich das Aufklärungsprogramm gegen einen fundamentalen Einwand verteidigen. Zuvor möchte ich anmerken, daß die meisten ablehnenden Reaktionen sich nicht zum geistigen Niveau eines Einwandes emporgeschwungen haben. In einer früheren Arbeit habe ich drei typische Reaktionen unterschieden (und kritisiert): Historisierung, Resignation, Denunziation (Scholz 2006). Daneben gibt es aber auch ernstzunehmende Einwände. Der Einwand, den ich diskutieren möchte, lautet, allgemein gesprochen: Das Programm der Aufklärung ist nicht realisierbar. Ich möchte mich bei dieser Gelegenheit mit einer besonderen Variante beschäftigen. Dazu muß ich etwas ausholen. Das Programm der Aufklärung scheint auf eine deontologische Auffassung von epistemischer Rechtfertigung festgelegt zu sein, d. h.: Es werden epistemische Sollenssätze oder Normen formuliert, in denen epistemische Gebote, Verbote oder Erlaubnisse zum Ausdruck kommen. Nun gilt natürlich auch in diesem Bereich: Sollen impliziert Können. Menschliche Erkenntnis sollte im Sinn der neuzeitlichen Aufklärung in der Tat etwas sein, das individuell zurechenbar und verantwortbar ist.6 In neuerer Zeit sind schwere Bedenken gegen deontologische Auffassungen von epistemischer Rechtfertigung erhoben worden.7 Sie setzen einen doxastischen Voluntarismus voraus, d. h., die Auffassung, dass unsere Überzeugungsbildung unserer willentlichen Kontrolle unterliegt, so lautet der Einwand, und dieser doxastische Voluntarismus sei unhaltbar. Immer wieder wird daraufhin gewiesen, dass unsere Überzeugungen nicht unserer willentlichen Kontrolle unterliegen; insbesondere gelte dies für Wahrnehmungsüberzeugungen, introspektive Überzeugungen, Erinnerungsüberzeugungen und Überzeugungen, die auf Schlüssen beruhen. Eine umfassende erkenntnistheoretische Diskussion ist in diesem Rahmen natürlich nicht möglich. Wir können uns für unsere Zwecke auf zwei Fragen konzentrieren: 6 Vgl. z. B. Descartes, AT X, 424–425 und Leibniz, NE II, XXIX, 4: »blamable […] en mon pouvoir« (1962, 265); dazu die Hinweise bei Gäbe 1976, 80 u. 86. 7 Vgl. besonders Alston 1989, Kapitel 5 und ders. 2005, Kapitel 4.

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Wie voraussetzungsreich ist Kants Aufklärungsprogramm?

(Q 1) Welche Art von Voluntarismus setzt das Programm der Aufklärung tatsächlich voraus? (Q 2) Ist dieser Voluntarismus unplausibel und das Programm der Aufklärung damit als undurchführbar entlarvt? Zunächst ist klar, daß stärker differenziert werden müsste, zum einen zwischen unterschiedlich starken voluntaristischen Thesen und zum anderen zwischen den unterschiedlichen doxastischen Einstellungen8 und subdoxastischen Zuständen. Für unseren Zusammenhang genügt es jedoch, auf einen entscheidenden Unterschied hinzuweisen. Sicherlich bin ich in dem, was ich – aufgrund von Wahrnehmungen, Erinnerungen oder Schlüssen – glaube, nicht so frei, wie in dem, was ich mir etwa in meiner Phantasie vorstelle. Und das ist ja auch gut so! Denken Sie an die Wahrnehmung: Wahrnehmungsmeinungen wären von geringem Nutzen, wenn sie nicht zu einem wichtigen Teil von den Eigenschaften der äußeren Wirklichkeit abhingen. Was wir aber in jedem Falle beeinflussen und steuern können, ist die Art und Weise, wie wir etwas untersuchen. Mit anderen Worten: Was wir wählen können, sind Forschungsmaximen. Den Ausdruck »Forschung« möchte ich dabei in einem weiten Sinne verstanden wissen, der nicht auf wissenschaftliche Forschung beschränkt ist. Wenn ich nicht erkennen kann, ob ein Turm, den ich in der Ferne erblicke, rund oder eckig ist, kann ich näher herangehen. Wenn ich ein Geräusch nicht identifizieren kann, kann ich versuchen, genauer hinzuhören oder störende Nebengeräusche auszuschalten. Wenn ich unsicher bin, ob das Resultat der Rechnung stimmt, kann ich noch einmal nachrechnen. Wenn ich im Zweifel bin, ob ich einem Zeitungsbericht Glauben schenken soll, kann ich Berichte aus anderen Zeitungen zum Vergleich heranziehen etc. Allgemeiner gesagt: Wir sind oft in der Lage, unsere epistemische Position zu verbessern. Vor allem aber sind wir in der Lage, zwischen allgemeinen epistemischen Hintergrundeinstellungen und den entsprechenden Forschungsmaximen zu wählen, und für die jeweilige Wahl sind wir dann auch verantwortlich. Kant hat das Problem klar gesehen. In der Jäsche-Logik wirft er die Frage auf: »[…] Ob das Wollen einen Einfluß auf unsere Urteile habe?« (AA IX 73) Kant räumt ein: »Unmittelbar hat der Wille keinen Einfluß auf das Fürwahrhalten; dies 8 Selbst bei den gerne bemühten Wahrnehmungsmeinungen liegen die Dinge komplizierter, als es zunächst scheinen möchte. Betrachten wir ein Beispiel, das aus dem Leben gegriffen ist. Mir fällt es oft schwer, in Warenhäusern zu erkennen, ob ein Stoff (etwa eines Anzugs) schwarz oder dunkelblau ist. Das dürfte zum einen an einer gewissen Farbschwäche meiner Augen, zum anderen an der in Warenhäusern üblichen elektrischen Beleuchtung liegen – beides mögliche Einflüsse, deren ich mir bewußt bin. Meinen Wahrnehmungseindruck kann ich natürlich nicht direkt, sondern allenfalls indirekt beeinflussen (z. B. kann ich mit dem Anzug ans Tageslicht gehen); aber ich kann mein Wahrnehmungsurteil zurückhalten. Meines Erachtens unterschätzen viele gegenwärtige Erkenntnistheoretiker unsere Möglichkeiten der Urteilsenthaltung.

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wäre auch sehr ungereimt.« (AA IX 73) Er erkennt jedoch die Möglichkeit eines Einflusses auf den Verstandesgebrauch und damit eines indirekten Einflusses auf die zu bildende Überzeugung an: »Sofern aber der Wille den Verstand entweder zur Nachforschung antreibt oder davon abhält, muß man ihm einen Einfluß auf den Gebrauch des Verstandes und mithin auch mittelbar auf die Überzeugung selbst zugestehen, da diese so sehr von dem Gebrauche des Verstandes abhängt.« (AA IX 74) Und schließlich ist nach Kant eine kritische Zurückhaltung des Urteils möglich; wir können (und sollen) der Maxime folgen, »ein bloß vorläufiges Urtheil nicht zu einem bestimmenden werden zu lassen.« (AA IX 74)9 Handelt man gegen diese Maxime, drohen Vorurteile.10 Der Aufklärer Kant braucht also keineswegs vorauszusetzen, jede einzelne Überzeugung unterliege einer direkten willentlichen Kontrolle. Er hält Menschen allerdings für frei, zwischen Maximen der Überzeugungsbildung zu wählen und sich so für eine bestimmte Denkungsart zu entscheiden. Allgemein gesagt: (These 3) Kants Aufklärungsprogramm setzt voraus, daß Menschen zwischen Maximen wählen können. Dabei unterlag Kant keineswegs einer naiven Illusion, dies sei leicht. Es ist vielmehr schwer, aber eben durchaus möglich: »Die wichtigste Revolution in dem Innern des Menschen ist: »der Ausgang desselben aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«. Statt dessen, daß bis dahin andere für ihn dachten und er bloß nachahmte oder am Gängelbande sich leiten ließ, wagt er es jetzt, mit eigenen Füßen auf dem Boden der Erfahrung, wenn gleich noch wackelnd, fortzuschreiten.« (AA VII 229)

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Wie voraussetzungsreich ist Kants Aufklärungsprogramm? Gäbe, Lüder (1976): »Zur Aprioritätsproblematik bei Leibniz-Locke in ihrem Verhältnis zu Descartes und Kant«, in: Hans Wagner (Hrsg.), Sinnlichkeit und Verstand in der deutschen und französischen Philosophie von Descartes bis Hegel, Bonn, 75–106. Hegselmann, Rainer (1985): Formale Dialektik. Ein Beitrag zu einer Theorie des rationalen Argumentierens, Hamburg. Hinske, Norbert (1986): »Pluralismus und Publikationsfreiheit im Denken Kants«, in: Johannes Schwardtländer/ Dieter Willoweit (Hrsg.), Meinungsfreiheit – Grundgedanken und Geschichte in Europa und USA, Kehl am Rhein, 31–49. Hinske, Norbert (1990): »Die tragenden Grundideen der deutschen Aufklärung. Versuch einer Typologie«, in: Raffaele Ciafardone (Hrsg.), Die Philosophie der deutschen Aufklärung. Texte und Darstellung, Deutsche Bearbeitung von Rainer Specht und Norbert Hinske, Stuttgart, 407–458. Hinske, Norbert (1998): Zwischen Aufklärung und Vernunftkritik. Studien zum Kantschen Logikcorpus, Stuttgart-Bad Cannstatt. Hinske, Norbert (Hrsg.) (1973): Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift, Darmstadt 1973, 4. Aufl. 1990. Leibniz, Gottfried Wilhelm (1962): Nouveaux Essais sur l!Entendement Humain, hrsg. von der Leibniz-Forschungsstelle der Universität Münster, Berlin. (zit. als NE) Mayer, Verena (2002): »Kants epistemische Imperative als Kriterien der Rationalität«, in: Grenzen und Grenzüberschreitungen, XIX. Deutscher Kongreß für Philosophie, Sektionsbeiträge, Bonn, 187–195. Reisinger, Klaus (2001): »Urteil, vorläufiges«, in: Joachim Ritter et al. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel, Band 11: U-V, 473–479. Reisinger, Klaus/ Scholz, Oliver R. (2001): »Vorurteil I.«, in: Joachim Ritter et al. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel, Band 11: U-V, 1250–1263. Scholz, Oliver R. (2004): »›… den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d.i. in seiner eigenen Vernunft) suchen‹ – Immanuel Kants Präzisierung und Formalisierung des Aufklärungsprogramms«, in: Sabine Doy' et al. (Hrsg.), Metaphysik und Kritik (Festschrift für Manfred Baum zum 65. Geburtstag), Berlin/New York, 251–264. Scholz, Oliver R. (2006): »Aufklärung: Von der Erkenntnistheorie zur Politik – Das Beispiel Immanuel Kant«, in: Logical Analysis and History of Philosophy/ Philosophiegeschichte und logische Analyse, Band 9, 156–172. Scholz, Oliver R. (2015): »Sapere aude!«, in: Kant-Lexikon, Band 3, hg. v. Marcus Willaschek, Jürgen Stolzenberg, Georg Mohr und Stefano Bacin, Berlin/New York, 1997– 1998. Schulz, Eberhard Günter (1974): »Kant und die Berliner Aufklärung«, in: Gerhard Funke (Hrsg.), Akten des 4. Internationalen Kant-Kongresses, Berlin/New York, Teil II.1, 60–80. Schulz, Eberhard Günter (2005): Durch Selbstdenken zur Freiheit. Beiträge zur Geschichte der Philosophie im Zeitalter der Aufklärung, Hildesheim/Zürich/New York. Stuke, Horst (1972): »Aufklärung«, in: Otto Brunner et al. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 1 (A-D), Stuttgart, 243–342.

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Die Armut der Aufklärung über die Moral der Weltarmut. Eine metaphilosophische Betrachtung über angewandte Ethik Andreas Vieth

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Einleitung

Das Thema Weltarmut und Ethik ist ebenso bedrückend wie konzeptionell hoffnungslos.1 Es ist bedrückend, weil wir Teil einer Welt sind, in der wir vermutlich in irgendeinem Sinne auch ganz persönlich mitverantwortlich sind für Hunger, Unterdrückung und dafür, dass Millionen Menschen ein Leben in entwürdigender Armut führen müssen. Es ist konzeptionell hoffnungslos, weil wir keine klare Vorstellung davon gewinnen, wie genau wir verantwortlich sind. Wir kaufen Waren, die unter menschenverachtenden Bedingungen produziert werden. Aber auch wir sind bloß kleine Rädchen im globalen wirtschaftlichen Geflecht. Uns verantwortlich zu machen, scheint ebenso berechtigt, wie uns als machtlos darzustellen. Es ist eine Aufgabe des Menschen, sich selbst aus dem Zustand seiner eigenen selbstverschuldeten Unmündigkeit herauszuführen. Das Individuum muss in diesem Sinne persönlich an sich arbeiten und sich bilden. Andere sind daran vielleicht als Lehrer, Freunde und als Pädagogen in einem weiten Sinne beteiligt. Aufklärung ist ein kultureller Auftrag der Vernunft. Das Projekt aber und das Ziel ist primär individuell. Worin besteht es? Nun, im Detail ist das Ziel der Aufklärung komplex und vielschichtig. Aber drei Dinge stellen doch herausragende Momente des Projektes dar: Neben der Konzentration auf das Individuum sind der Kampf gegen seine Vorurteile zu nennen, die Vernunft als Aufklärungsinstanz und die Hinwendung auf die empirische Welt als Ankerpunkt. Das pädagogische Ziel der Aufklärung läuft etwas stark fokussiert auf Erlösung durch Vernunft hinaus. Oberflächlich ist diese Erlösung individuell, aber da die Vernunft in jedem vernünftigen Wesen dieselbe ist, führt der Vernunftglaube auch zur allgemeinen Erlösung. An dieser Stelle soll eine Weiche etabliert werden. Die Betrachtung soll im Folgenden einerseits philosophisch-ethisch eine Erörterung des Problems der Weltarmut sein, insofern aus der Tatsache unsäglicher und uns Reiche beschämender Armut moralische Forderungen an uns resultieren (Abschnitt 1–3). Andererseits soll metaphilosophisch eine Perspektive auf diese Debatte gewon1 Sehr verdienstvoll ist der Band »Weltarmut und Ethik«, in dem diese Debatte erstmals auf deutsch verfügbar ist (Bleisch, Anwander, 2007). Für die gesamte Debatte grundlegend sind die Artikel in Pogge, Moellendorf 2008 und Pogge, Horton 2008.

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Die Armut der Aufklärung über die Moral der Weltarmut

nen werden, die zeigt, dass Aufklärung noch viel mehr ist. Die Darstellung der ethischen Debatte in der philosophischen Diskussion ist defizitär, weil sie nicht gewillt ist, sich selbst über ihre eigenen Vorurteile aufzuklären. Dieser Unwille hat verschiede Aspekte, auf die später eingegangen werden soll (Abschnitt 4). Im Folgenden möchte ich zuerst nur zeigen, dass das moralische Problem der Weltarmut in der philosophischen Debatte unangemessen behandelt wird. Es geht mir um eine methodische Beobachtung: Den vielfältigen und widersprüchlichen Linien der Debatte liegt die gemeinsame Annahme zugrunde, dass die moralische Kategorie der Verantwortung basal ist. Es werden Konzepte entwickelt, um zu verstehen, wie und warum wir für Weltarmut verantwortlich sind. Die Debatte sollte sich jedoch – so meine These – auf die Kategorie der Solidarität konzentrieren. Das bedeutet, dass man auch positive Antworten suchen muss auf Fragen nach unserer Natur als politische und soziale Lebewesen. Zunächst soll die Weiche also in die philosophische Richtung führen. Abschließend jedoch soll ein Schritt zurück und eine Umwendung auf die metaphilosophische Seite hinter der Weiche führen. Vor der Weiche steht unsere verbitterte Empörung über den Skandal der Weltarmut – sie leitet uns auf beide Seiten hinter ihr. Als aufgeklärter Philosoph muss man um beide Seiten hinter der Weiche wissen. (1) Zunächst werde ich die beiden Hauptstränge der Debatte skizzieren. Die Position Peter Singers und die von Thomas Pogge sind exemplarisch für ein methodisches Dilemma in der Debatte über Weltarmut und Ethik. Beide versuchen vor dem Hintergrund der Ursachen von und Verantwortlichkeit für Armut Pflichten und korrespondierende Rechte zu bestimmen. Methodisch führt diese Strategie in ein Dilemma. (2) Ich muss daher anschließend zeigen, warum die moralische Kategorie der Verantwortung zu kurz greift. Meine These wird sein, dass moralische und rechtliche Verantwortung zumeist nur personal gedeutet werden kann und daher individuell. Das Problem der Debatte werde ich als methodischen Individualismus bezeichnen. (3) Dass der methodische Individualismus durch die Kategorie der Solidarität überwunden werden kann, kann ich in meinen Ausführungen nicht zeigen. Mein Ziel ist vorsichtiger: Es geht darum, dass Personen sich ihrer komplexen, variablen und hierarchischen Natur als gesellschaftliche Wesen bewusst werden müssen. Verantwortung lässt sich nur vor dem Hintergrund einer Konzeption unserer sozialen und politischen Natur verstehen. (4) Abschließend soll die andere Seite der Weiche erkundet werden, um metaphilosophische Rückschlüsse aus der Debatte zu motivieren.

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Weltarmut und Ethik: Das Grundproblem

In der umfangreichen Debatte gibt es zwei Grundstrategien, die philosophisch gesehen verwandt sind. Es wird versucht, über die Bestimmung von positiven oder negativen Pflichten zu einer Konkretisierung der moralischen Anforderungen an unser Handeln zu gelangen. Peter Singer schlägt dabei eine ethische Strategie ein,

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Andreas Vieth

Thomas Pogge eine sozialphilosophische. Singer zeigt, dass weit reichende Hilfe unsererseits im strengen Sinne geboten ist und nicht bloß moralisch wünschenswert. Pogge sieht Forderungen an unsere Hilfsbereitschaft als wünschenswert an, aber eigentlich müssen wir Armut verhindern, indem wir die Weltordnung verändern. Ich werde beide Ansätze kurz skizzieren, um das Dilemma der beiden Strategien herauszuarbeiten.

1.1 Die ethische Strategie: Peter Singer Peter Singer versucht das moralische Problem der Weltarmut im Rahmen eines an universalistischen Normen orientierten Ansatzes zu erfassen.2 Er geht dabei davon aus, dass Leiden etwas Schlechtes darstellt. Man wird ihm sicherlich ohne weiteres folgen, wenn man an das durch Armut bewirkte Leid durch Hunger und entwürdigende Arbeitsbedingungen denkt. Er geht ferner davon aus, dass man unter zwei Bedingungen verpflichtet ist, Leid zu verhindern: (i) Es steht in unserer Macht. (ii) Wir müssen nichts von moralischer Bedeutung opfern. Nun steht es in Zeiten eines internationalen Finanzmarktes und ebenso internationaler Hilfsorganisationen in der Macht eines jeden, zu helfen. Man kann und muss so viel Geld spenden, wie es möglich ist, ohne selbst gegen moralische Normen zu verstoßen. Singer selbst geht hier sehr weit. Man muss sich klar sein, dass aus moralischer Sicht die Bildung der eigenen Kinder gegenüber dem Hunger von Kindern in Afrika keinen relevanten Gesichtspunkt darstellt. Die Neigung, die Summe Geldes für hungernde Kinder zu reduzieren, damit die eigenen Kinder in die Schule gehen können, ist nach Singer zwar psychologisch verständlich, sie sei aber moralisch unerheblich. Sein Ansatz lebt von der suggestiven Kraft eines Beispiels, das in der Debatte zum Standard geworden ist: Wir sollen uns, um das ethische Problem der Weltarmut zu verstehen, die Notlage eines ertrinkenden Kindes vorstellen. Wir sind auf ganz einfache Weise verpflichtet es zu retten. Es ist moralisch unerheblich, wenn andere nicht helfen. Wenn ein ertrinkendes Kind unserer Hilfe bedarf und wir beim Versuch, es zu retten, nicht unser Leben aufs Spiel setzen, sondern nur unseren feinen Anzug, dann müssen wir helfen, auch wenn andere tatenlos herumstehen. Radikal wird diese Analogie von Singer auf das Problem der Weltarmut angewendet. Wichtig ist, dass man nach Singer durch die beiden genannten 2 Singer 1972. Singer argumentiert in diesem Aufsatz und in späteren Beiträgen zu dieser Grundproblematik deontologisch (Leiden ist intrinsisch schlecht; es gibt universale und nicht-supererogatorische Hilfspflichten). Vgl. Singer 2004. Singer scheint davon auszugehen, dass man als Philosoph in der Ethik konsequenzialistisch und deontologisch zu vergleichbaren Positionen kommt (vgl. 2004, 99 f.).

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Bedingungen moralisch verpflichtet ist zu Hilfeleistung. Es handelt sich nicht um supererogatorische Pflichten.3 Singer will den Bereich der Pflichten ausweiten auf Hilfsleistungen, von denen wir im Allgemeinen sagen würden, dass sie moralisch wünschenswert, aber nicht streng verpflichtend sind. Dieser Position wird in der Debatte eine moralische Überforderung der Individuen vorgeworfen. Um den Kern der Position für meine Diskussion zu präparieren, möchte ich die Position Singers skizzenhaft charakterisieren. Nach Singer sind wir individuell zu einer weltweiten Umverteilung der Güter verpflichtet, die das Armutsgefälle effektiv nivelliert: (a) Adressaten von moralischen Pflichten sind wir Reichen als Individuen. Wir haben die Pflicht, Armut als schlechten Zustand der Welt zu beseitigen. Wenn wir alle diese Pflicht erkennen und ihr nachkommen, sind die motivationalen Grundlagen für eine effektive Nivellierung des Armutsgefälles gegeben. (b) Pflichten sind »durchschlagend«. Das heißt: Sie werden als eine direkte Beziehung zwischen den verpflichteten Reichen und den Armen als Objekten unserer Hilfspflichten konzipiert. (c) Individuen können sich nicht durch Verweis auf die Unterlassungen anderer und auch nicht durch Verweis auf komplexe soziale Beziehungsgeflechte aus der Verantwortung stehlen: Familienverantwortung, sozialstaatliche Loyalität, Staatszugehörigkeit usw. entschuldigen uns nicht und sind keine relevanten Gewichte moralischer Abwägung. Eine Gerechtigkeitskonzeption dieser Art kann als egalitaristisch und individualistisch bezeichnet werden, weil sie die soziale Natur des Menschen ignoriert: Sowohl der Pflichtadressat als auch leidende Personen stehen über alle biografischen, kulturellen, rechtlichen, psychologischen Grenzen hinweg in einer direkten Beziehung zueinander. Insoweit wir dieser Verantwortung gegenüber dem Leid nicht nachkommen, sind wir unsererseits verantwortlich für das Leid. Gegen diese ethische Perspektive bringt Pogge eine sozialphilosophische ins Spiel.

1.2 Die sozialphilosophische Strategie: Thomas Pogge Pogge geht davon aus, dass unser Menschenrechtsverständnis im Wesentlichen negative Pflichten begründet (Pogge 2007, 2007a). Menschenrechte sagen uns, was wir nicht tun sollen, geben aber keine primär positive Handlungsanweisung: Wir sollen nicht foltern, aber in welcher Weise wir mit anderen zusammenleben 3 Für eine komplexere Analyse des Pflichtenbegriffs und unseres Rechtsverständnisses vgl. Ashford 2007 und Miller 2007. Eine komplexere Analyse ist philosophisch und gerechtigkeitstheoretisch angemessener, aber letztlich kann Singer immer wieder provozierend klar und unerbittlich den Finger in die richtige Wunde legen.

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sollen, wird uns durch diese Anweisung nicht klar. Für den Ansatz Pogges ist nun wichtig, dass er nicht wie Singer an interaktionellen Pflichten interessiert ist, sondern an institutionellen. Weltarmut ist primär ein Problem von Institutionen, die als solche vorhersehbare und zugleich vermeidbare Menschenrechtsdefizite bewirken: Die institutionelle Weltordnung übt strukturelle Gewalt aus, als deren Folge wir es mit Weltarmut zu tun haben. Dies ist ein Defizit bei der Realisierung der Menschenrechte, das wir als Philosophen konzeptionell klar erfassen müssen. Natürlich ist die These der strukturellen Gewalt problematisch, aber ich möchte sie an dieser Stelle als gegeben voraussetzen: Die ökonomische, rechtliche und politische Weltordnung soll also als kausal für Armut verantwortlich erachtet werden. Man muss diese kausale Relevanz der Weltordnung und darüber hinaus unsere individuelle Beteiligung an den Mechanismen des weltweiten Austausches betrachten. Im Kontext solcher Reflexionen kommt man zu Vorstellungen von Normverletzungen und unseren daraus resultierenden Verpflichtungen. Wie sehen nun unsere Handlungen aus, wenn wir Armut vermeiden wollen? Wir können beispielsweise etwas tun, indem wir bei uns in Deutschland, aber auch auf internationaler Bühne, Bestechung als Mittel unternehmerischer Tätigkeit wirkungsvoll einschränken. Man kann Bestechungsgelder nicht mehr steuerlich begünstigen oder man stellt sie für das Ausland ebenso unter Strafe, wie dies im Inland normalerweise bereits gilt. Die internationalen Finanz- und Rohstoffmärkte sind ein weiterer klassischer Ansatzpunkt zur Veränderung der Weltordnung, die Verfolgung sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen im Ausland ein relativ aktueller. Die gerechte Umgestaltung der rechtlichen und institutionellen Strukturen dieser Ordnung ist geboten, weil Weltarmut ein moralisches Problem ist. Unsere Pflichten bleiben aber negativ: Wir müssen Strukturen verändern, die den Armen bisher versperrte Lebenschancen eröffnen. Es geht dabei um Chancen, die uns unser Reichtum heute als Freiheiten eröffnet. Die neue Weltordnung soll diese Freiheiten auch den Armen eröffnen. Wie zuvor bei Singer soll die Position Pogges skizzenhaft charakterisiert werden: (a) Die Adressaten von moralischen Pflichten sind im Wesentlichen Institutionen, die so gestaltet werden sollen, dass sie keinen Schaden verursachen. Die Pflichten sind aber negativ, so dass die resultierenden konkreten »Verpflichtungen« spezifiziert werden müssen. (b) Pflichten sind jedoch nicht – wie die im Ansatz von Singer – ohne Weiteres durchschlagend, da wir nicht direkte Pflichten gegenüber den durch Weltarmut Leidenden haben. Vielmehr richten sich unsere Pflichten auf die Veränderung der Struktur der Weltordnung. Wir müssen also – kurz gesagt – die Ursachen der Armut beseitigen und nicht primär Armut selbst als Wirkung. (c) Sofern wir dieser Pflicht nicht oder nicht erfolgreich nachkommen, müssen wir für die Schädigungen, insofern wir für sie als verantwortlich zu gelten

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haben, Entschädigung leisten. Die moralische Kategorie der Verantwortung ist also auch in Pogges Ansatz in gewissem Sinne »durchschlagend«. Pogges Ansatz ist daher vornehmlich sozialphilosophisch konzipiert. Aber: Wie komplex die globalen Beziehungen jedoch auch immer sind, letztlich beginnen sie mit unserem eigenen Handeln, wenn wir Einkaufen gehen, reisen oder Auto fahren. Aus der Perspektive Singers verlieren wir zwischen dem klaren normativen Pflichtenhimmel und unserer irdischen Suche nach Verpflichtungen unser Gefühl für Verantwortung. Wir stehen nun in der Debatte vor einem Dilemma. 1.3 Das Singer-Pogge-Dilemma Die Debatte in der politischen Philosophie folgt nun in vielen Verästelungen den beiden Hörnern des Dilemmas: Bei der Suche nach einer Bestimmung der Verantwortlichkeiten für Weltarmut gibt man eine moralische Antwort im Sinne Singers, durch die die Individuen moralisch überfordert und die Hilfe ineffektiv organisiert zu werden scheint. Dagegen steht eine sozialphilosophische Antwort im Sinne Pogges. Durch die Konzentration auf Institutionen scheint einerseits der wahre Verursacher von Armut besser ausgemacht und die philosophische Antwort insgesamt konstruktiver zu sein. Allerdings fehlt ihr eine vergleichbare motivationale Grundlage, wie wir sie bei Singer finden. Bei der Suche nach einer angemessenen Konzeption moralischer und kollektiver Verantwortung entstehen in der Diskussion zur Thematik feine Verästelungen, die aber das Grundproblem der beiden Hörner des Singer-Pogge-Dilemmas nicht überwinden.

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Das Dilemma der »Verantwortung«: Der methodische Individualismus

Natürlich wird meine skizzenhafte Darstellung weder Singer noch Pogge wirklich gerecht. Natürlich entwickelt sich die Diskussion über Singer und Pogge hinaus sehr differenziert. Dennoch kreist die Debatte um die Bestimmung eines angemessenen Verantwortungskonzeptes. Für die Frage nach der Verantwortung sind zwei Dinge zentral: (i) Man muss sich zunächst fragen, welches die relevanten Normen sind. (ii) Man muss sich fragen, wer von uns auf welche Weise diese Normen verletzt und wie er den Schaden wieder gut machen kann. Wir denken beispielsweise, dass die Tatsache, dass Menschen aufgrund der ökonomischen, politischen, rechtlichen Ordnung unserer Welt verhungern, ihre Menschenrechte verletzt. Zu dieser Verletzung meinen wir ganz konkret beizutragen, wenn wir beispielsweise sagen, dass wir mit Autos fahren, die neuerdings durch nachwachsende Brennstoffe betrieben werden. Diese Brennstoffe werden teilweise auf Kosten der weltweiten Nahrungsmittelproduktion in der Land-

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wirtschaft hergestellt. Deshalb hungern manche Menschen in der Welt. Das Singer-Pogge-Dilemma resultiert nun aus voneinander unabhängigen methodischen Problemen. Am Beispiel des Problems der nachwachsenden Rohstoffe möchte ich dies schematisch durch vier Beobachtungen erläutern: – Erste Beobachtung: Wir sind zumeist nur dann moralisch verantwortlich für Hunger, wenn wir durch unser Handeln in einer relevanten kausalen Beziehung zu einer Normverletzung stehen. Unsere Energiepolitik scheint hier relevant. Umweltschutz bei uns führt in der Dritten Welt zu ansteigenden Nahrungsmittelpreisen und zu Hunger. Wir sind für den Hunger verantwortlich. – Zweite Beobachtung: Es ist nun aber so, dass wir oft auch für Dinge verantwortlich sind, ohne dass die kausale Beteiligung eindeutig wäre. So gilt im Straßenverkehr die Regel: Wer auffährt, hat Schuld. Es ist einfach pragmatisch, so zu verfahren, obwohl der Fahrer vorne, wenn er bremst, durchaus auch als Verursacher gelten könnte. Verantwortlichkeit bemisst sich hier danach, wer besser in der Lage ist, den Unfall zu vermeiden. – Dritte Beobachtung: Hungersnöte entstehen auch durch Naturkatastrophen. Betrachtet man das Spendeverhalten in diesen Fällen, scheinen sich viele den Leidenden auch verbunden zu fühlen, ohne Verursacher zu sein. Man fühlt sich verantwortlich, etwas zu tun. – Vierte Beobachtung: Normverletzungen sind jedoch nie isoliert von einander zu betrachten. Unser Verhalten im Umweltschutz ist natürlich auch moralisch berechtigt, insofern wir zukünftiges Leid durch widrige Weltzustände verhindern wollen. Diese Beobachtungen zeigen, dass moralische Verantwortung sich nicht in Fragen nach der Zurechnung von Handlungsfolgen erschöpft. Selbst wo es um Zurechnung von Schadensereignissen geht, spielt »Kausalität« nicht immer eine ausschlaggebende Rolle. Selbst wenn wir uns Dinge zurechnen müssen und selbst wenn unsere Ursächlichkeit relevant ist, müssen wir bestimmte Normverletzungen möglicherweise in Relation zu anderen relevanten Normen sehen. Das Singer-Pogge-Dilemma besteht nun darin, dass man zu unterschiedlichen Bestimmungen der Verantwortungen und daraus resultierenden Pflichten kommt, ohne dass man sich in der Beschreibung der Phänomene uneinig wäre. Der Debatte über die Weltarmut entgehen dabei wichtige Gründe für ein angemessenes Verantwortungskonzept. Als Grund für diese Blindheit der Debatte möchte ich drei Merkmale eines methodischen Individualismus benennen, der für die Debatte kennzeichnend ist: 1 Singers ethischer Ansatzpunkt ist im Wesentlichen die Handlungsmotivation. Wir rechnen uns zumindest solche Handlungen kausal zu, zu denen wir motiviert wurden. Unsere Motivationen eröffnen uns zugleich Einsichten in unser Verhältnis zu Normen, weil wir beispielsweise gute oder schlechte Absichten haben. Oft haben wird die Auffassung: Wenn wir alle so wären wie Jesus, wäre

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die Welt moralisch gut. Ich möchte dieses Moment als motivationalen Individualismus bezeichnen. 2 Dagegen steht die sozialphilosophische Perspektive von Pogge. Er würde vielleicht eher sagen: Selbst wenn wir alle so wären wie Jesus, dann können wir trotzdem ein moralisch verantwortliches Rädchen im Getriebe einer Weltordnung sein. Denn sie verursacht ungerechte Zustände. Die Weltordnung muss nun im Wesentlichen so gestaltet sein, dass sie bestimmten normativen Gesichtspunkten gerecht wird. Die Wirtschaftordnung verursacht Hunger und führt somit spezifisch zu einer Verletzung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit. Dies möchte ich aufgrund der Konzentration auf spezifische Pflichten als einen normativen Individualismus bezeichnen. 3 Die Ansätze von Pogge und Singer sind überdies anlassbezogen. Sie gehen von Schadensfällen aus, die einer Korrektur bedürfen. Singer geht davon aus, dass wir durch Hunger und Armut zu Hilfsleistungen verpflichtet sind. Pogge motiviert Korrekturen an der Weltordnung nur insoweit als sie Schäden verursacht. Es geht also in der Diskussion um Reflexionen über Schadenskorrekturen. Solche Reflexionen setzen eine Bestimmung spezifischer Verantwortungsbeziehungen voraus. Ich möchte dieses Merkmal der Diskussion als reflexiven Individualismus bezeichnen. Die Bedeutung dieser Merkmale eines methodischen Individualismus in motivationaler, normativer und reflexiver Hinsicht steht ganz in der Tradition der modernen politischen Philosophie, die sich heute zumeist an John Rawls orientiert. Der Liberalismus steht letztlich in der Tradition der Vertragstheorie. Er konzentriert sich auf eine Konzeption der individuellen Freiheit, die zwar durch Rechte und Pflichten begrenzt wird. Jedoch nur insoweit als eine pluralistische Lebensführung gewisser Rahmenbedingungen zur Sicherung gleicher Lebenschancen bedarf. Ich sehe das Singer-Pogge-Dilemma als ein Resultat des methodischen Individualismus an. Der methodische Individualismus folgt als dem für die Moderne charakteristischen politischen Egalitarismus. Er bleibt jedoch defizitär, weil auch im Rahmen des Pluralismus die Gemeinschaftlichkeit von Individuen unterschiedliche Formen annehmen kann.

3

»Solidarität« als Ausweg?

Wie ich am Anfang betonte, sollen meine Überlegungen kein direkter Beitrag zur Diskussion über Weltarmut und Ethik sein. Es geht mir vielmehr darum, durch methodische Überlegungen eine neue Perspektive in der Debatte zu eröffnen. – Meines Erachtens zeigt Singers Ansatz, dass wir die motivationale Seite ernst nehmen müssen: Wir sind moralisch involviert. Aber es müssen berechtigte Normen sein, die uns motivieren, und sie dürfen uns nicht moralisch überfordern.

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– Meines Erachtens zeigt Pogges Ansatz, dass wir in den seltensten Fällen auf einfache Weise involviert sind. Wir sind Teil komplexer sozialer Strukturen, in denen wir in unterschiedlicher Weise verantwortlich sind für Dinge, zu denen wir allenfalls sehr vermittelt beitragen. Die Komplexität unserer sozialen Beziehungen darf aber nicht als Vorwand benutzt werden, um sich aus der Verantwortung zu stehlen.4 Folgt man der Singer-Seite des Dilemmas stellt sich moralische Überforderung der Individuen zwangsläufig ein. Folgt man der Pogge-Seite, dann verliert sich im Gewirr der globalen Interaktionen jede Verantwortlichkeit für schreiendes Unrecht. Meines Erachtens sind die Anliegen beider Seiten des Dilemmas moralisch und ethisch berechtigt. Meine These ist: Unsere Solidarität ist in diesem Kontext gegenüber unserer Verantwortung primär oder – wie zu Beginn formuliert: – basal. Für die moralische Seite des Dilemmas ist Solidarität jedoch eher authentische Verbundenheit in der Pflichterfüllung gegenüber anderen; für die sozialphilosophische Seite des Dilemmas ist Solidarität eher von abstrakter Bedeutung, insofern sie ein Gerechtigkeitsmerkmal nationaler und internationaler Institutionen ist, sofern sie menschenrechtskonform gestaltet sind. (Vgl. Derpmann [2009].) Weder bei Singer noch bei Pogge spielt Solidarität konzeptionell eine zentrale Rolle. Im Rahmen meiner hier formulierten Überlegungen kann ich kein Solidaritätskonzept ausarbeiten oder die Funktion dieses Begriffes in einer Gerechtigkeitstheorie entwickeln. Ich möchte einige wenige Merkmale benennen, um deutlich zu machen, dass Solidarität gegenüber Verantwortlichkeit die primäre Kategorie darstellt. Wenn wir Solidarität fordern, dann reden wir über eine Mitverantwortlichkeit für einander. Ich will nur anhand von fünf Beobachtungen einige Aspekte von Solidarität skizzieren: (1) Solidarität ist sowohl inklusiv als auch exklusiv. Im Gegensatz zu Caritas oder Barmherzigkeit schließt Solidarität immer einige ein und andere aus. Solidarität ist bezogen auf Individuen einer Gemeinschaft im Unterschied zu anderen Individuen außerhalb. Die Arbeiter sind beim Streik untereinander solidarisch gegen die Kapitalisten. Aber nicht nur Kapitalisten, sondern auch Frauen und andere Arbeitslose sind »draußen« und damit außerhalb der Solidaritätsforderung. (2) Man sollte besser von Solidaritäten im Plural sprechen. Denn wir sind als Individuen Mitglieder vieler Gemeinschaften: Wir sind Arbeiter, Familienmitglieder, gehören im Gegensatz zu den Alten zu einer produktiven Ge4 Die Komplexität analysiert Pogge als differenzierende Betrachtung unterschiedlicher Formen ursächlicher Verstrickung in Armut (Pogge 2007, 15–30). Vgl. auch: »Justice looks at the matter through a more complex prism, that always at least raises the question of whether the suffering in question is merited or deserved in some way and who if anyone may be responsible for its occurrence« (Campbell 2007, 65).

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neration, sind gesund und leistungsfähig, aber wir sind auch Deutsche und damit Reiche usw. Die Zugehörigkeit zu solchen Gemeinschaften bindet uns spezifisch gemäß den Konstitutionsprinzipien der Gemeinschaften an die Mitglieder und trennt uns von den Nicht-Mitgliedern. (3) Diese Pluralität von Gemeinschaften ist bezogen auf uns als Individuen komplex, vielfältig und hierarchisch. Wir fühlen uns motivational an viele Gemeinschaften gebunden. Manche gehören dem privaten Bereich unseres Lebens an, manche dem öffentlichen. Manche binden uns abstrakt an die Normen des Rechts, andere binden uns allgemein an mögliche Schicksalsgenossen, weitere konkret an Individuen unseres Umfeldes. Immer binden uns Gemeinschaften spezifisch an ihre konstitutiven Prinzipien. (4) Zumeist wird Solidarität mit Leidenden, Schwachen, Benachteiligten, Entrechteten gefordert. Aber Solidarität hilft nicht nur einem bestehenden Mangel ab. Solidarität mit Kranken im solidarischen Versicherungssystem gibt uns als Gesunden ein Sicherheitsgefühl, insofern wir erkennen, dass die Gemeinschaft Kranken beisteht. In Freundschaften finden wir auch dann emotionalen Halt, wenn wir gerade keinen Freundschaftsdienst benötigen, sondern einfach nur Dinge gemeinsam tun. (5) Wir fühlen uns den Gemeinschaften unseres Lebens verpflichtet. Motivational ist das durchaus plausibel. Aber inwiefern ist unsere Mitverantwortlichkeit für andere gerechtfertigt? Gemeinschaftsmotivationen können unmoralisch sein. Ob Sie es sind, hängt aber davon ab, ob die normativen Prinzipien der Gemeinschaften unmoralisch sind: Aktive Solidarität unter Räubern ist unmoralisch, weil Räuberbanden unmoralisch sind. Ich möchte diese kursorischen Anmerkungen zur Solidarität auf drei Merkmale fokussieren. Hierdurch wird es möglich, zu klären, warum Verantwortung gegenüber Solidarität in diesem Kontext sekundär ist. Als Haltung von Individuen ist Solidarität motivational. Wir sind willige Diener vieler Herren. Solidarische Mitverantwortung für andere ist spezifisch, sie ist motivational wirksam und sie ist gerechtfertigt. In diesen drei Hinsichten – (i) Spezifizität, (ii) Motivationalität, (iii) Normativität – ist Solidarität konzeptionell in der Lage, die beiden Hörner des Singer-Pogge-Dilemmas zu überwinden. (ad i) In welcher Weise wir für irgendetwas verantwortlich sind, ergibt sich spezifisch aus unserer Zugehörigkeit zu Gemeinschaften. (ad ii) Diese spezifische Zugehörigkeit motiviert uns, weil wir in vielen Hinsichten von anderen abhängig sind. (ad iii) In unseren Gemeinschaftsmotivationen sind wir gerechtfertigt, wenn die Konstitutionsprinzipien unserer Gemeinschaften legitim sind. An dieser Stelle mag es als ein Taschenspielertrick erscheinen, eine dilemmatische Diskussion durch Einführung eines neuen Konzeptes lösen zu wollen, das offensichtlich nicht in den Diskussionskontext passt. Man zerschlägt vielleicht einfach nur den Knoten. Der hier angedeutete Weg ist aber – hoffentlich – gerade kein Trick. Ein Grund für das Dilemma ist, dass Singer und Pogge zwar beide

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Egalitaristen sind. In der politischen Philosophie hat man heute diesbezüglich (glücklicherweise!) keine relevante Alternative zur Verfügung. Gleichheit ist aber politisch vieldeutig. Solidarität taucht als Begriff in der Politischen Philosophie zu einem Zeitpunkt auf, als man vor der Aufgabe stand, das soziale Wesen des Menschen neu zu denken. Man wollte im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert zwar ständisches Denken überwinden. Das bedeutet, dass man alle Menschen als moralisch gleichwertig verstehen wollte. (Soweit so gut!) Die Politische Philosophie hat sich aber in zwei Hinsichten die Aufgabe bewahrt, moralische Ungleichheiten zu rechtfertigen. Dieser Punkt kann mit Verweis auf die aristotelische Politik ein wenig präzisiert werden. Für Aristoteles sind in der Politischen Philosophie drei Fragen wesentlich: (1) Welche Menschen sind als Bürger und damit als Gleiche anzusehen? (2) Wie stabilisiert man eine Gesellschaft, in der es Arme und Reiche gibt? (3) Wie geht man damit um, dass Gleiche sich politisch in Herrschende und Beherrscht-Werdende ausdifferenzieren müssen? Nur die erste Frage wird heute nicht mehr ernsthaft diskutiert. Alle Menschen sind gleich an Rechten. Philosophische Konzepte, die als Antworten auf die beiden anderen Fragen gelten können, kann man für den Moment grob in eher liberalistische oder eher kommunitaristische einteilen. Moralisch sind Arme gegenüber Reichen insofern ungleich, als sich soziale Anerkennung auch mit Wohlstand verbinden (dürfen). Moralisch sind Herrschende gegenüber Beherrschten insofern ungleich, als nur die einen entscheiden und befehlen (dürfen). Für Aristoteles sind beide Ungleichheit nur unter bestimmten Bedingungen akzeptabel. Armut darf die Gemeinschaft nicht destabilisieren. Herrschaft von Gleichen über Gleiche muss abwechseln. Der wesentliche Unterschied einer liberalistischen oder kommunitaristischen Antwortstrategie ist aber das Bild von sozialer Gemeinschaft, das Vertretern der einen oder der anderen Richtung normativ vorschwebt. Das oben von mir herausgearbeitete Dilemma beruht also weniger auf einem Dissens darüber, ob einer der beiden Vertreter bessere Konzepte im Kontext der globalen Armutsproblematik anbieten kann. Das Dilemma in dieser Debatte verweist vielmehr auf andere Probleme der Politischen Philosophie. Meine Strategie, das Dilemma aufzulösen, beruht also auf der These, dass in der Debatte der eigentliche Dissens gar nicht diskutiert wird. Peter Singer ist nicht ein Autor, der moralischer argumentiert als Thomas Pogge. Er ist ein weniger liberalistischer Autor. Diese Konstellation entgeht den Autoren, weil sie einem methodischen Individualismus verpflichtet sind. Wie auch immer ein angemessenes Konzept der Solidarität philosophisch ausgearbeitet werden könnte, muss hier offen bleiben.5 Für meine Analyse der Debatte um Weltarmut und Ethik ist Solidarität deshalb relevant, weil deutlich wird, dass Verantwortung wesentlich Mitverantwortung ist, die sich aus unserer 5

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Vgl. Vieth 2015, Kap. 13.

Die Armut der Aufklärung über die Moral der Weltarmut

Abhängigkeit von anderen und unserer Bezogenheit auf andere ergibt. Individuelle und kollektive Verantwortung kann nur vor dem Hintergrund einer Konzeption unserer sozialen und politischen Natur bestimmt werden. Im Rahmen einer solchen Konzeption finden die vielfältigen Gemeinschaften, deren Mitglieder wir sind, normative Ankerpunkte. Konzeptionell primär ist Solidarität gegenüber Verantwortung, weil Verantwortlichkeit für andere nur vor dem Hintergrund unserer Beziehungen zu anderen spezifisch bestimmt werden kann. Verantwortung kann im Kontext der politischen Philosophie heute eher liberalistisch oder eher kommunitaristisch gedacht werden. Darum geht es. Auf der einen Seite hinter der Weiche kann man folgendes Ergebnis festhalten: Singer und Pogge wollen dagegen Verantwortung für Armut konzeptionell ausarbeiten. Sie wollen Verantwortung spezifisch, motivational und normativ bestimmen. Sie blenden aber aus, dass sie ein unterschiedliches Bild von menschlicher Gemeinschaftlichkeit vor Augen haben. Das Dilemma der Diskussion, das ich an diesen beiden Protagonisten der Debatte festmache, ist ein Ergebnis der Abneigung der modernen Philosophie gegen eine konzeptionelle Ausarbeitung unserer sozialen und politischen Natur. Ohne plausible Bilder von menschlicher Gemeinschaftlichkeit gibt es keine Antwort auf globale Armutsfragen. Verantwortungsfragen können also nur vor dem Hintergrund von Solidaritätsantworten gestellt werden.

4

Metaphilosophische Aufklärung

Tritt man zurück und begibt sich nun auf die andere Seite der Weiche, so kann man einige Gewissheiten über philosophische Aufklärung bei Seite räumen. Wendet man den Aufklärungsauftrag auf die Philosophie selbst an, dann kann man in diesem Sinne zurücktreten und metaphilosophische Anregungen gewinnen: (1) Es gibt einen methodischen Individualismus, der darin besteht, bestimmte einzelne Positionen in einer Debatte systematisch und konzeptionell voneinander abzugrenzen und klar herauszuarbeiten. Wenn man eine solche Abgrenzungsstrategie verfolgt, hat man am Ende einzelne und isolierte Positionen, die durch ihre argumentative Kraft deutlich machen, warum und wofür man moralisch oder politisch plädiert. Auch in der praktischen oder politischen Philosophie ist aber ein solches Plädoyer nur eine Aufgabe des Philosophierens. Eine andere ergibt sich daraus, dass man seine Position, für die man zwar mit guten Gründen, aber doch im Grundsatz willkürlich plädiert, im Vergleich zu anderen Positionen sehen sollte. Man kann Debatten nicht abschließend zugunsten einzelner Positionen klären, auch wenn diese methodisch solide entwickelt sind. Erwartet man als Philosoph Anderes, neigt man zur Übergriffigkeit: Isolierte Positionen greifen als Antworten auf

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Orientierungsfragen in das Leben ein.6 Das ist bedenklich. Der Grund ist schlicht die Tatsache, dass es irreduzibel andere Positionen gibt, die ebenso methodisch solide ausgearbeitet werden können. (2) In einer Debatte, wie der zum Thema »Weltarmut und Ethik«, darf man nicht immer darauf vertrauen und das Ziel verfolgen, mit vernünftigen Argumenten zu erweisen, dass diese oder jene Position angemessen oder unangemessen ist. Hierin liegt ein Vernunftglaube in Bezug auf philosophische Methodik, die die eigenen theoretischen Vorlieben oder bestimmte moralische oder politische Ergebnisse willkürlich für zwingende Forderungen der Philosophie erachtet. In einer professionellen philosophischen Debatte gibt es immer einen Dissens in vielen Hinsichten und daher verschiedene Positionen, deren Pluralität irreduzibel ist. Diese philosophische Pluralität spiegelt die moralische Pluralität in der Kultur wider. Als Philosoph kann man seine professionelle Praxis im Dienste der Vernunft auch so verstehen, dass man mit Gründen, Konzepten und Theorien normative Gegebenheiten artikuliert.7 Eine solche Artikulation von rationalen Strukturen ist nötig, um Dissens diskutierbar zu machen. Aber die ihr innewohnende Tendenz zur Übergriffigkeit und ihr methodischer Individualismus überdehnen die Leistungsfähigkeit solcher Artikulationen. (3) In dieser Haltung der Überdehnung wird eine gewisse professionelle Nervosität deutlich.8 Historisch gesehen wirft man der Aufklärung vor, zu sehr an den empirischen Naturwissenschaften orientiert zu sein. Aber gerade metaphilosophisch muss man doch festhalten, dass der dezisionistische Charakter, der zur professionellen Artikulation von namhaften Positionen führt, die empirische Komplexität und die irreduzible Pluralität normativer Problemhorizonte unangemessen reduziert. Denn der Philosoph entscheidet sich für eine bestimmte Strategie, die nicht alternativlos ist, auch wenn die möglichen Optionen für solche Strategien nicht der Beliebigkeit anheimfallen können. Philosophisch gesehen ist dieser Dezisionismus ein schwacher Strohhalm. Man hat guten Grund dazu, sich an ihm um so nervöser festzuhalten. Man könnte diese metaphilosophischen Überlegungen zur Armut einer philosophischen Aufklärung über den moralischen Skandal der Weltarmut larmoyant finden. Sie rühren jedoch an ein Problem jeder Art wissenschaftlicher Aufklärung, das in der Philosophie immer mal wieder gesehen wird. Denn schon die pyrrhonische Skepsis machte es sich zur Aufgabe, dogmatische Tendenzen und die aus ihnen resultierende falsche Beruhigung und unnötige Beunruhigung metaphilosophisch zu kritisieren. Weil nun aber der moralische Skandal der 6 7 8

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Vieth 2016b. Vieth 2016a. Vieth 2015, Kap. 2.

Die Armut der Aufklärung über die Moral der Weltarmut

Weltarmut ganz sicher auch für die Philosophie eine Aufgabe ist, sollte man einerseits mit dogmatischen Positionen seiner Empörung artikulierenden Ausdruck geben, aber andererseits die Übergriffigkeiten als Resultat professioneller Nervosität erkennen und thematisieren.

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Literatur

Ashford, Elizabeth, 2007, Unsere Pflichten gegenüber Menschen in chronischer Armut, in: Bleisch, Schaber, 2007, 195–211. Bleisch, Barbara, Schaber, Peter, 2007, Weltarmut und Ethik, Paderborn: mentis. Campbell, Tom, 2007, Poverty as a Violation of Human Rights: Inhumanity or Injustice?, in: Freedom from Poverty as a Human Right, Oxford: Oxford Univ. Pr., S. 55–74. Derpmann, Simon, 2009, Solidarity and Cosmopolitanism, in: Ethical Theory and Moral Practice 12, 303–315. Miller, David, 2007, Wer ist für globale Armut verantwortlich?, in: Bleisch, Schaber, 2007, 153–170. Pogge, Thomas, 2007, Severe Poverty as a Human Rights Violation, in: Freedom from Poverty as a Human Right, Oxford: Oxford Univ. Pr., S. 11–53. Pogge, Thomas, 2007a, Anerkannt und doch verletzt durch internationales Recht, Die Menschenrechte der Armen, in: Bleisch, Schaber 2007, 95–138. Pogge, Thomas, Horton, Keith, 2008, Global Ethics, Seminal Essays (= Global Responsibilities, Bd. 2), St. Paul: Paragon. Pogge, Thomas, Moellendorf, Darrel, 2008, Global Justice, Seminal Essays (= Global Responsibilities, Bd. 1), St. Paul: Paragon. Singer, Peter, 1972, Famine, Affluence, and Morality, in: Philosophy and Public Affairs 1, 229–243 (dt.: Hunger, Wohlstand und Moral, übers. v. Esther Imhof und Dunja Jaber, in Bleisch, Anwander, 2007, 37–51). Singer, Peter, 2004, One World, The Ethics of Globalization, 2. Aufl., New Haven, London: Yale Univ. Pr. Vieth, Andreas, 2015, Einführung in die Philosophische Ethik (andreasvieth.de/person/ publikationen/, B-04). Vieth, Andreas, 2016a, Contra Pros und Contras, Worum geht es eigentlich? (andreasvieth.de/person/publikationen/, A-38). Vieth, Andreas, 2016b, Schwangerschaftsethik, Moralische, soziale und ökonomische Übergriffigkeiten (andreasvieth.de/person/publikationen/, A-36).

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Was kann philosophische Aufklärung mit Blick auf die Flüchtlingskrise leisten? Matthias Hoesch

Versteht man ›Aufklärung‹ nicht als Epoche, sondern als Programm, so lässt sich ihr Kern als die Idee beschreiben, dass alle Menschen, soweit sie dazu fähig sind, ihre Vernunft gebrauchen sollten, um sich von Vorurteilen zu lösen, sich von geistigen Autoritäten zu befreien und dadurch zu eigenen, kritisch geprüften Urteilen zu gelangen, die letztlich zu selbstbestimmten Entscheidungen führen. Mit diesem Kern des Aufklärungsprogramms sind einige politische Forderungen verbunden, etwa die Forderung nach bestimmten Freiheitsrechten, die sowohl eine solche eigene Urteilsbildung ermöglichen als auch Freiräume schaffen, ein Leben gemäß den gewonnenen Überzeugungen führen zu können. Strittig in der akademischen Debatte ist dabei, wie voraussetzungs- und folgenreich ›das‹ Aufklärungsprogramm bzw. seine verschiedenen Varianten zu sehen sind. Liegt der Aufklärungsidee eine Überzeugung über den Wert der Vernunft zugrunde, die selbst einen quasi-dogmatischen Charakter einnimmt und die möglicherweise von manchen Kulturen oder ›umfassenden Lehren‹ zu Recht zurückgewiesen werden kann? Und folgen aus den Idealen des Aufklärungsprogramms konkrete substantielle Überzeugungen über Wert und Unwert von verschiedenen Lebensentwürfen oder über konkrete Normen; oder beinhaltet das Aufklärungsprogramm eine reine Prozedur der Prüfung von Geltungsansprüchen, die ergebnisoffen einen ›Pluralismus vernünftiger Lehren‹ (Rawls) zulässt? Wenn in öffentlichen Diskursen ›Aufklärung‹ als Kampfbegriff gebraucht wird, soll nicht selten die Gegenseite entweder diskreditiert werden, weil sie entweder ein materielles Wertsystem vertrete, welches den Werten der Aufklärung widerspreche; oder weil sie die von der Aufklärung geforderte Ergebnisoffenheit gerade nicht mitbringe. Solche Debatten illustrieren eine Schwierigkeit, die im Aufklärungsbegriff selbst angelegt zu sein scheint. Angesichts dieser offenen Probleme ist fraglich, ob der Anspruch, mit Blick auf die emotionsgeladenen, erheblichen Meinungsdissense zum Umgang mit der Flüchtlingskrise philosophische Aufklärung leisten zu wollen, überhaupt haltbar sein kann. Schließlich könnte sich dieser Anspruch als bloße Rhetorik entpuppen, die eine der in der Öffentlichkeit vertretenen Meinungen als die wahre ausweisen soll, anstatt einen Pluralismus an Perspektiven, Meinungsbildern und gerechtfertigten Urteilen zu akzeptieren. Auch wenn ich nicht ausschließen will, dass zumindest in einigen Hinsichten eine stärkere Variante des Aufklärungsgedankens verteidigt werden kann,

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Was kann philosophische Aufklärung mit Blick auf die Flüchtlingskrise leisten?

möchte mich aus diesem Grund im Folgenden, wenn ich mich der normativen Bewertung der aktuellen Flüchtlingskrise zuwende, auf eine bescheidene Form des Aufklärungsgedankens zurückziehen. Um zu motivieren, weshalb Aufklärung wichtig ist, werde ich mich daher nicht auf Rationalitätsanforderungen an persönliche Lebensentwürfe beziehen, sondern lediglich auf die Ideale des demokratischen Diskurses, die als weitgehend geteilt betrachtet werden können; eine aufgeklärte demokratische Öffentlichkeit stellt ohne Zweifel eines der vorrangigen Ziele des Aufklärungsprogramms unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts dar. Und statt auf letzte Wahrheiten in der normativen Analyse zu zielen, die sich durch eine ›aufgeklärte‹ Sicht möglicherweise ergeben könnten, möchte ich lediglich ein paar normative Grundsätze des Commonsense einführen, die auf eine ziemlich breite Zustimmung stoßen dürften, und prüfen, ob deren Anwendung zu substantiellen Antworten auf die Frage führt, wie sich potentielle Aufnahmestaaten in der Flüchtlingskrise verhalten sollten. Konsistenz in der Anwendung von Grundsätzen, deren Anerkennung ich voraussetze, sowie eine einigermaßen vollständige Berücksichtigung der relevanten Akteure und ihrer grundlegenden Interessen ist alles, was ich anstrebe; weitergehende Ideale, die zuweilen mit dem Begriff der Aufklärung verbunden werden, setze ich nicht voraus. Daraus ergibt sich der folgende Aufbau des Beitrags: Im ersten Schritt möchte ich motivieren, weshalb philosophische Aufklärung für den demokratischen Diskurs um die Flüchtlingskrise besonders wichtig ist. Anschließend versuche ich zu zeigen, aus welchen allgemein anerkannten Prinzipien moralische Pflichten gegenüber Flüchtlingen folgen. Drittens gehe ich kurz der Frage nach, wie diesen Pflichten nachzukommen wäre, wenn alle verpflichteten Staaten mitzuwirken bereit wären. Abschließend formuliere ich Prinzipien für Staaten angesichts der Tatsache, dass viele andere Staaten nicht bereit sind, ihren fairen Anteil zu übernehmen.

1. Demokratie im Zeichen der Flüchtlingskrise Kein anderes Thema beschäftigt die demokratische Öffentlichkeit der Länder Mitteleuropas seit Mitte 2015 so stark wie die Flüchtlingskrise; und folgt man den Einschätzungen vieler Soziologen, Politikwissenschaftlern und Journalisten, wird globale Migration auch in den nächsten Jahrzehnten ein prägendes Phänomen bleiben. Doch warum ist (philosophische) Aufklärung für die Diskurse rund um die Flüchtlingskrise wichtig, vielleicht sogar wichtiger als bei anderen Fragen, die öffentliche Aufmerksamkeit erfahren? Aus welchem Grund auch immer man demokratische Entscheidungen für wertvoll hält, wird man zugestehen, dass diese ein gewisses Maß an ›aufgeklärter‹ Meinungsbildung erfordern. Schon wer nur einfach seine eigenen Interessen im Diskurs geltend machen möchte, muss sich ausreichend darüber im Klaren sein,

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was er eigentlich will und welche politischen Entscheidungen voraussichtlich die Möglichkeit beeinflussen werden, das Gewollte zu erreichen. Für die emotional angeheizte Debatte zur Flüchtlingskrise bedeutet dies zum Mindesten, dass kritisch hinterfragt werden sollte, welche der vorgebrachten Ängste vor Überfremdung oder vor Kriminalität eine begründete Basis haben, und zu welchem Teil sie ohne eine solche Basis aus der psychologischen Struktur des menschlichen Erlebens entspringen oder von Ideologien geprägt werden. Bei näherem Hinsehen fordert der demokratische Diskurs über Migration aber noch viel mehr als die Aufklärung über das wohlverstandene Eigeninteresse. Zwar gibt es im politischen Denken zumindest der westlichen Welt eine tief verwurzelte Annahme, dass Staaten im Prinzip frei sind, die Zuwanderung durch demokratische Entscheidungen nach Belieben zu regeln und zu beschränken. Diese Annahme liegt unausgesprochen den meisten neuzeitlichen Konzepten politischen Denkens zugrunde; ihre erste explizite und systematische Ausarbeitung erfährt sie vermutlich in Henry Sidgwicks Elements of Politics (1891): »a state must obviously have the right to admit aliens on its own terms, imposing any conditions on entrance or any tolls on transit, and subjecting them to any legal restrictions or disabilities that it may deem expedient. […] it may legitimately exclude them altogether« (248). Bis heute machen Staaten, die sich an der Bewältigung der Flüchtlingskrise nicht beteiligen möchten, dieses Recht geltend, und sie begründen dies mit dem Wert der demokratischen Entscheidung ihrer Bevölkerung, keine Flüchtlinge aufnehmen zu wollen. Doch bei genauerer Betrachtung erweist sich diese Argumentation als problematisch – vielleicht wie ein dogmatisch gesetztes Vorurteil, das in einer neuen politischen Situation plötzlich unter Rechtfertigungsdruck gerät. Demokratie bezieht ihre Legitimation (in verschiedenen Varianten und mit verschiedenen Begründungen) aus der Idee, dass die Adressaten von Gesetzen zugleich deren Autoren sein sollten. Demnach sollte jeder, der einem Gesetz unterworfen ist, die Möglichkeit haben, dieses Gesetz auf demokratischem Weg in Frage zu stellen oder zu ändern. Potentielle Immigranten sind von dieser Möglichkeit aber ausgeschlossen: Sie haben meist keine Möglichkeit, ihre Interessen im demokratischen Prozess der potentiellen Aufnahmestaaten angemessen zu artikulieren, und sie haben erst recht keine Möglichkeit, durch Teilnahme an Wahlen die politischen Entscheidungen zu beeinflussen. Aus dieser Überlegung scheint sich auf den ersten Blick die Schlussfolgerung zu ergeben, dass nur eine globale Demokratie das Migrationsproblem angemessen lösen könnte. Dieser Schluss ist zwar naheliegend, aber nicht zwingend. Denn es bleibt die Möglichkeit bestehen, dass die Interessen potentieller Immigranten berücksichtigt werden, ohne dass diese formal beteiligt werden müssen – in etwa so, wie wir auch verpflichtet sind, die Interessen zukünftiger Generationen zu berücksichtigen, obwohl wir sie nicht in den Prozess einbinden können. Die Pointe dabei ist: Wir können uns aus moralischer Sicht (die völkerrechtliche Beurteilung mag anders sein) nur dann auf den Wert unserer demokratischen

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Entscheidung berufen, Flüchtlinge aufzunehmen oder abzuweisen, wenn wir zuvor die Interessen der Flüchtlinge angemessen berücksichtigt haben.1 Damit stehen wir vor dem Problem, dass unklar ist, wie diese angemessene Berücksichtigung aussieht, was also unsere moralischen Pflichten sind angesichts der Tatsache, dass viele Menschen ihre Heimat unfreiwillig verlassen. Während uns in anderen Zusammenhängen sehr klar zu sein scheint, was die faire Berücksichtigung anderer von uns fordert, gehen die Meinungen über den richtigen Umgang mit den Herausforderungen der Flüchtlingskrise sehr stark auseinander. Die gigantischen Zahlen von Migranten und Migrationswilligen auf der einen Seite und das hohe Niveau an Sozialstaatlichkeit und Spezialisierung der Arbeitsmärkte auf der anderen Seite scheinen uns in eine historisch neuartige Situation zu bringen, in der wir uns nicht mehr auf Erfahrungswerte berufen können, wenn wir die Dinge normativ beurteilen wollen. Wir haben offenbar, wie Thomas Grundmann und Achim Stephan treffend schreiben, den »normativen Kompass verloren«2, wenn es um Fragen nach dem Umgang mit der Flüchtlingskrise geht. Was nottut, ist daher die Aufklärung unseres normativen Denkens in der Hinsicht, dass wir die normativen Aspekte der Flüchtlingsfrage sorgfältig herausarbeiten und diejenigen normativen Grundsätze, die wir in anderen, vertrauteren Bereichen bejahen, auf die Situation anwenden. Dennoch können Philosophen nicht von sich behaupten, dass sie ›ethische Experten‹ wären, deren Spezialwissen im Idealfall von der Öffentlichkeit einfach übernommen werden sollte. Diese Selbstbeschränkung des Geltungsanspruchs der Philosophie hat im Wesentlichen zwei Ursachen: Zum einen verfügen Philosophen nicht über das erforderliche sozialwissenschaftliche Knowhow. Thomas Schramme hat daraus sogar den Schluss gezogen, dass der Versuch, normative Fragen zur Flüchtlingskrise von Philosophen beantworten zu lassen, notwendig nur zu »trivialen und hoffnungslos unterkomplexen Analysen«3 führen wird. Dem kann entgegengehalten werden, dass sich zumindest einige Grundlinien der normativen Analyse auch mit geringen sozialwissenschaftlichen Kenntnissen durchführen lassen und dass diese Grundlinien angesichts der öffentlichen Debatten offenkundig nicht trivial zu sein scheinen. Zum anderen zeigen die anhaltenden Kontroversen in der praktischen Philosophie, dass sich in philosophischen Diskursen nicht ohne Weiteres unstrittige Wahrheiten generieren lassen; stattdessen lebt angewandte Ethik davon, dass normative Fragen von allen Diskursteilnehmern immer neu analysiert und verhandelt werden. Die folgende Argumentation4 versteht sich als ein Vorschlag in 1 Dieser Zusammenhang von Demokratie und Migrationsethik wurde wirkmächtig in Abizadeh 2008 herausgearbeitet. 2 Grundmann/Stephan 2016, 9. 3 2015, 383. 4 Die folgende Argumentation stellt eine überarbeitete, in einiger Hinsicht weiterentwickelte Fassung meines Beitrags Hoesch 2016 dar.

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diesem Sinne. Das ›Selberdenken‹, das seit Kant mit der Idee der Aufklärung eng verbunden ist, bleibt im demokratischen Diskurs unerlässlich.

2. Warum haben wir Pflichten gegenüber Flüchtlingen? Auch wenn die wenigsten Teilnehmer der öffentlichen Debatte behaupten, dass Staaten wie Deutschland keinerlei moralische Veranlassung haben, Flüchtlinge bei uns aufzunehmen, gibt es doch sehr unterschiedliche Auffassungen darüber, wie stark unsere Pflichten gegenüber Flüchtlingen zu werten sind. Dabei wird sogar in der akademischen Debatte oft so getan, als hätten unsere Pflichten genau einen Grund, nämlich den humanitären Gedanken der Nothilfe, und dieser könne schnell von anderen Handlungsgründen, wie etwa dem Eigeninteresse, aufgewogen werden. Ein erster Schritt der normativen Analyse soll diese Annahmen kritisch hinterfragen. Es zeigt sich, dass sich drei Verpflichtungsgründe unterscheiden lassen, die zusammengenommen eine sehr starke Verpflichtung gegenüber Flüchtlingen nahelegen. 1.

Verpflichtungsgrund: Allgemeine Hilfspflicht

Es ist ein allgemein anerkannter moralischer Grundsatz, dass Menschen geholfen werden muss, die unverschuldet in eine schlimme Notlage geraten sind. In der Philosophie hat sich das Beispiel eines Ertrinkenden eingebürgert, um diese Art der Verpflichtung exemplarisch vorzuführen: Wer an einem See vorübergeht und bemerkt, wie jemand zu ertrinken droht, ist zur Hilfeleistung verpflichtet. Und das auch dann, wenn er dabei das Risiko einer Erkältung in Kauf nimmt. Von der Hilfspflicht befreit ist nur, wer sich mit dem Rettungsversuch selbst in eine ähnlich gefährliche Lage bringen würde. Die Situation von (potentiellen) Flüchtlingen ist hinreichend analog: Sie sind ohne eigenes Verschulden in eine Lage gekommen, in der sie auf die Hilfe anderer angewiesen sind. Grundsätzlich gilt, dass nicht die Art der Notlage für die Frage relevant ist, ob geholfen werden muss, sondern ihre Schwere. Es geht also aus moralischer Perspektive hier nicht um die Frage, ob jemand politisch verfolgt wird oder aber unter einer Hungersnot leidet, sondern um die Frage, ob menschliche Grundbedürfnisse akut bedroht sind. Wann dies vorliegt, unterliegt der immer neuen Interpretation durch Humanwissenschaften, Gerichte und Öffentlichkeit. Allerdings ist nicht ganz klar, zu welcher Art Hilfeleistung andere Staaten dadurch verpflichtet werden. Denn man kann grundsätzlich zwischen zwei Arten von Hilfestellung unterscheiden: Hilfe vor Ort und Hilfe durch Aufnahme in einen anderen Staat. Verschiedene Arten von Notlagen sind in dieser Hinsicht womöglich unterschiedlich zu behandeln. Hungersnöte können oft besser vor Ort

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bekämpft werden, während politische Verfolgungen oder Bürgerkriege in der Regel nicht durch Einwirken von außen ›abgestellt‹ werden können. Es liegt nahe, von den potentiellen Aufnahmestaaten zu fordern, dass genau diejenigen als Flüchtlinge aufgenommen werden, denen vor Ort nicht angemessen geholfen werden kann. Versucht man, diese moralische Regel in positives Recht zu übersetzen, so wird man um eine möglichst exakte Bestimmung der Bedingungen des Flüchtlingsstatus nicht umhin kommen. Es ist also im Prinzip moralisch legitim, den rechtlichen Status eines Flüchtlings für Personen zu reservieren, die bestimmte Kriterien erfüllen, wie es die Genfer Flüchtlingskonvention versucht. Man wird aber, wenn man sich an dem genannten moralischen Grundsatz orientiert, auch vielen Bürgerkriegsvertriebenen, Binnenflüchtlingen und Klimaflüchtlingen den rechtlichen Status eines Flüchtlings zuerkennen müssen, und nicht nur politisch Verfolgten, die sich im Ausland befinden. Die Situation wird dadurch verkompliziert, dass die meisten Staaten ihrer moralischen Pflicht, vor Ort zu helfen, nicht ausreichend nachkommen. Natürlich ist es schwer zu sagen, wann genau das gebotene Mindestmaß an Pflichterfüllung erreicht ist. Aber legt man etwa die mit den Millenniumszielen eingegangene Selbstverpflichtung der Industriestaaten zugrunde, im Kampf gegen globalen Hunger wenigstens 0,7 % des BIP für Entwicklungszusammenarbeit auszugeben – ein sehr moderates Maß! –, so gibt es kaum eine Handvoll Staaten, die von sich sagen könnten, ihre Pflicht der Hilfe vor Ort erfüllt zu haben. Wer jedoch zur Hilfe vor Ort verpflichtet ist, aber dieser Pflicht nicht nachkommt, dem kann abverlangt werden, auf andere Weise Ersatz zu leisten. Daher ergibt sich aus der allgemeinen Hilfspflicht, wendet man sie auf die Situation von Flüchtlingen an, der folgende Grundsatz: Potentielle Aufnahmeländer müssen all diejenigen Zuwanderungswilligen aufnehmen, die in ihrem Herkunftsland unverschuldet ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen können und denen vor Ort entweder nicht geholfen werden kann oder faktisch nicht geholfen wird.

Zur Hilfe verpflichtet sind grundsätzlich natürlich alle Staaten, die dazu in der Lage sind. Allerdings bleibt die Frage, wie eine faire Verteilung der Lasten, die aus der Hilfspflicht erwachsen, unter den hilfsfähigen Staaten aussieht. Hierfür kann man einen anderen weit geteilten Grundsatz heranziehen, nämlich das Prinzip, dass jeder nach seinen Fähigkeiten helfen muss. Wer besonders gut helfen kann, ist auch zu größerer Hilfeleistung verpflichtet. Gehen zwei Personen an einem See vorbei, von denen die eine gesund und ein hervorragender Schwimmer ist, die andere hingegen schwächlich und an einer Erkältung laboriert, so sollte – ceteris paribus – der erstgenannte ins Wasser springen. Akzeptiert man diesen Grundsatz, so gilt:

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Matthias Hoesch Je besser ein Staat wirtschaftlich dasteht und je erfolgversprechender er Flüchtlinge in die Gesellschaft integrieren kann, desto größeren Anteil an der Gesamtzahl an Flüchtlingen sollte er übernehmen.

2.

Verpflichtungsgrund: Wiedergutmachung

Nicht weniger anerkannt als der Grundsatz einer allgemeinen Hilfspflicht ist das Prinzip der Wiedergutmachung von verursachtem Leid. Solche Wiedergutmachungsansprüche können nicht nur von einzelnen Flüchtlingen vorgebracht werden; in drei Hinsichten kann man relativ pauschal davon sprechen, dass Ansprüche von Flüchtlingsgruppen bestehen – auch wenn in allen drei Punkten berechtigte sozialwissenschaftliche Kontroversen darüber zu erwarten sind, in welchem Ausmaß sie zutreffen: Erstens trägt das globale Wirtschaftssystem, wie beispielsweise mit Bezug auf das TRIPS Agreement oft angemerkt worden ist, allem Anschein nach aktiv dazu bei, dass arme Länder ihre Armut nicht überwinden können.5 Durch ihre Mitwirkung an der Errichtung und der Erhaltung dieses ungerechten Systems fügen die Industriestaaten den Entwicklungsländern systematisch einen Schaden zu. Daraus ergibt sich zunächst die Forderung, das globale Wirtschaftssystem zu ändern oder zumindest Kompensationszahlungen einzuführen. Solange beiderlei nicht geschieht, kann man von den Industriestaaten aber erwarten, den verursachten Schaden durch die Aufnahme von sogenannten Armutsflüchtlingen wiedergutzumachen. Zweitens tragen viele potentielle Aufnahmestaaten eine Mitverantwortung am Ausbruch und der Eskalation von Bürgerkriegen. Hierbei spielt das globale Finanzsystem, das Despoten den Aufbau von Armeen erleichtert, ebenso eine Rolle wie der Waffenhandel und die Außenpolitik vieler Staaten, die allem Anschein nach in der jüngeren Vergangenheit ihre Interessen in anderen Teilen der Welt derart verfolgt haben, dass von einer Mitschuld an Konflikten gesprochen werden kann. Eine Wiedergutmachung dafür kann durch die Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen erfolgen. Drittens – und das dürfte der mit Abstand am wenigsten kontroverse, weil wissenschaftlich besser messbare Fall sein – tragen die Industriestaaten durch einen überdurchschnittlich hohen Ausstoß von Emissionen in überdurchschnittlichem Maß zum Klimawandel bei, der zahlreiche Gebiete entweder schon unbewohnbar gemacht hat oder doch in absehbarer Zeit unbewohnbar machen wird. Daraus ergeben sich klarerweise Ansprüche von Klimaflüchtlingen. Die hier genannten Wiedergutmachungspflichten bestehen gegenüber Teilgruppen von denjenigen, die bereits oben als Flüchtlinge genannt worden sind. Sie begründen daher inhaltlich keine neuen Pflichten, sind aber doch äußerst relevant 5 Vgl. insbesondere die Analysen von Pogge 2011.

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für die Frage, wie die Last der Flüchtlingsbewältigung unter den Aufnahmestaaten zu verteilen sind. Halten wir daher fest: Wiedergutmachungsansprüche können bestimmten Flüchtlingen besondere Rechte einräumen, von bestimmten Staaten aufgenommen zu werden. Sofern pauschale Wiedergutmachungspflichten angenommen werden, müssen die Lasten der Flüchtlingsaufnahme nach dem Verursacherprinzip verteilt werden.

3.

Verpflichtungsgrund: Territoriale Gerechtigkeit

Wie bereits gesagt, ist im Völkerrecht und im politischen Denken der Neuzeit und der Gegenwart die Überzeugung fest verankert, dass Staaten frei über Zuwanderung entscheiden können. Diese Überzeugung wird in der philosophischen Debatte aktuell massiv in Frage gestellt. Es hat sich eine eigene Richtung von Theoretikern etabliert, die ›closed borders‹ und damit jegliche Einreisebeschränkungen prinzipiell für illegitim halten. Menschen hätten demnach ein Recht, sich ihren Wohnort global frei auszuwählen. Auch wenn man diese radikale Position nicht teilt, legt die Debatte offen, dass die Existenz von ›closed borders‹ in hohem Maß rechtfertigungsbedürftig ist und, wenn ›closed borders‹ denn legitim sein sollen, eine wichtige Qualifikation mit Bezug auf Flüchtlinge erfordert. Auch wenn diese These dem Commonsense möglicherweise auf den ersten Blick entgegensteht, lässt auch sie sich aus weit geteilten Grundsätzen abzuleiten: Auf Dinge, die niemand erzeugt hat, sondern die einfach vorhanden sind, kann kein Mensch ein besonderes Anrecht erheben; alle Menschen befinden sich in der gleichen Position, wenn sie einen Anspruch auf Benutzung oder einen Eigentumsanspruch erheben. Die Erdkugel ist keine Schöpfung der Menschen, sondern sie wird einfach vorgefunden. Entsprechend kann aus moralischer Sicht niemand ein besonderes Recht geltend machen, dass ihm ein größerer Anteil an der Erdoberfläche zustehe als einem anderen. In der philosophischen Tradition schon seit der Spätscholastik, aber auch bei Denkern wie Kant und Marx ist dieser weit geteilten Intuition oft Rechnung getragen worden, indem ein »ursprünglicher Gemeinbesitz« angenommen worden ist. Zur Erdkugel gehört im Wesentlichen die Erdoberfläche, die dauerhaft besiedelt und dazu genutzt werden kann, Nahrungsmittel zu produzieren. Staaten erheben aber einen besonderen Anspruch auf einen Teil der Erdoberfläche; sie schließen die Mehrzahl der Menschheit vom dem Gebrauch ihres jeweiligen Staatsgebiets aus. Dieser Anspruch muss allen Ausgeschlossenen gegenüber gerechtfertigt werden können, und zwar mit Argumenten, die diese bejahen können. Natürlich lässt sich mit philosophischen Mitteln nicht exakt bestimmen, unter welchen Bedingungen alle Ausgeschlossenen ausreichend Gründe haben, partikulare Gebietsansprüche zu akzeptieren. Aber es lässt sich

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immerhin eine Mindestbedingung angeben: Die Ausgeschlossenen können diese Gebietsansprüche nur dann akzeptieren, wenn diejenigen Staaten, die einen Teil der Erdoberfläche für sich beanspruchen, zugleich eine gewisse Verantwortung dafür übernehmen, dass dem Rest der Menschheit noch ausreichend Erdoberfläche übrig bleibt, die besiedelt und genutzt werden kann. Eine jede Regelung, die dazu führen würde, dass manche sich nirgends mehr in zumutbarer Weise aufhalten können, wäre nicht allgemein akzeptabel. Menschen, die am Ort ihrer Herkunft ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen können, ist es aber nicht zumutbar, dass sie sich an diesem Ort länger aufhalten. Lässt sich die Situation vor Ort nicht ändern, sind Flüchtlinge daher aus dem Prinzip territorialer Gerechtigkeit von anderen Ländern aufzunehmen. Formulieren wir auch hierfür einen Grundsatz: Menschen, denen das Verbleiben auf dem Territorium ihrer Herkunft nicht zugemutet werden kann, sind aufgrund des ursprünglich paritätischen Rechts auf Nutzung der Erdoberfläche von anderen Ländern aufzunehmen.

Pflichten, die sich aus diesem Grundsatz ergeben, verpflichten die gleichen Staaten und begünstigen die gleiche Gruppe von Menschen wie die Pflichten, die oben aus der allgemeinen Hilfspflicht abgeleitet wurden. In zwei Hinsichten fügt das Prinzip territorialer Gerechtigkeit aber Wesentliches hinzu: Erstens zeigt das Prinzip, dass unsere Pflichten gegenüber Flüchtlingen nicht nur bloße Hilfspflichten sind, sondern dass wir Flüchtlingen Unterstützung schulden, gewissermaßen als Ausgleich für unseren Anspruch, ein partikulares Staatsgebiet mit Grenzen zu umgeben. Zweitens ist an der Verpflichtung aus territorialer Gerechtigkeit besonders interessant, dass im Hinblick auf die Frage nach einer fairen Verteilung der Flüchtlinge auf die potentiellen Aufnahmestaaten die territoriale Dimension mit in den Fokus gerät. Denn je größer der Anteil an nutzbarer Erdoberfläche ist, den ein Staat gemessen an der Größe seiner Bevölkerung für sich beansprucht, desto größer ist die Verantwortung, die er gegenüber dem Rest der Menschheit übernehmen muss. Somit gilt: Je geringer die Bevölkerungsdichte (gemessen an nutzbarem Land), desto mehr Anteil an der Gesamtzahl der Flüchtlinge sollte ein Staat übernehmen.

3. Wie wäre diesen Pflichten nachzukommen, wenn alle potentiellen Aufnahmestaaten mitmachen würden? Was folgt aus diesen drei Verpflichtungsgründen? Stellen wir uns zunächst vor, dass alle potentiellen Aufnahmestaaten bereit wären, ihrer Verpflichtung nachzukommen – man könnte das die Bedingungen einer ›idealen Theorie‹ nennen. Sieht man einmal davon ab, dass es große Streitigkeiten über die sozialwissen-

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schaftliche Beurteilung der relevanten Fakten sowie über die Gewichtung der drei Verpflichtungsgründe zueinander geben wird, wäre die normative Beurteilung in einer solchen Welt relativ einfach. Zusammengenommen ergibt sich aus den drei genannten Gründen eine relativ starke Verpflichtung, potentiellen Flüchtlingen vor Ort zu helfen und all diejenigen, bei denen dies nicht geht oder unterlassen wird, in andere Staaten aufzunehmen. Genau wie bei der Rettung eines Ertrinkenden das Risiko einer Erkältung in Kauf genommen werden muss, können sich die Industriestaaten nicht einfach mit dem Hinweis von dieser Pflicht lossprechen, dass die Aufnahme von Flüchtlingen mit Kosten verschiedener Art verbunden sei. Solange alle Staaten kooperieren, wären die Kosten pro Staat in jedem Fall sehr überschaubar. Staaten wären demnach moralisch gehalten, eine internationale Organisation (etwa das UN-Flüchtlingshilfswerk) zu beauftragen, Flüchtlinge nach einem Verteilungsschlüssel, der sich an den oben genannten Kriterien orientiert, global auf potentielle Aufnahmeländer zu verteilen. Flüchtlingslager, die nah am Herkunftsstaat situiert sind und zwar das schiere Überleben, aber keine gesellschaftliche Eingliederung ermöglichen, sind nur zulässig, wenn die Fluchtursache voraussichtlich nach kurzer Zeit behoben sein wird und zu erwarten ist, dass die Menschen wieder in ihre Heimat zurückkehren können. Wer aber sollte bei einer solchen Verteilung als Flüchtling anerkannt werden? Aus dem Gesagten ergibt sich, dass all denjenigen der Status eines Flüchtlings zuzuerkennen ist, die in ihrem Heimatstaat ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen können. Dazu zählen insbesondere auch die Flüchtlingsgruppen, die im Zusammenhang mit Wiedergutmachungsansprüchen genannt wurden, also Bürgerkriegsflüchtlinge, Klimaflüchtlinge sowie – sofern Staaten keine geeignete Entwicklungshilfe leisten und das Welthandelssystem nicht fair gestalten – diejenigen, die oft als Armutsflüchtlinge bezeichnet werden (– ein deutlich engerer Begriff als der des ›Wirtschaftsmigranten‹). Keine Rolle für die Frage, ob jemand als Flüchtling von einem anderen Land aufgenommen werden sollte, darf aus moralischer Sicht dagegen spielen, ob der potentielle Flüchtling die finanziellen Mittel dafür mitbringt, eine weite Reise anzutreten. Dem, der in einem See zu ertrinken droht, würden wir auch kaum zurufen, dass wir ihn genau dann retten kommen, wenn er es noch bis zu einer bestimmten gedachten Linie aus eigener Kraft schafft. Kurzum: In einer idealen Welt müsste das UN-Flüchtlingshilfswerk nach Möglichkeit die Reise der Flüchtlinge organisieren, vielleicht so, wie heute sogenannte »Kontingentflüchtlinge« teilweise in die Aufnahmeländer eingeflogen werden.

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4. Wie sollten sich Staaten verhalten, wenn andere Staaten ihre Mithilfe an der Bewältigung des Flüchtlingsaufkommens verweigern? In der realen Welt sind nicht alle Staaten bereit, in einem fairen Maß bei der Bewältigung des Flüchtlingsaufkommens zu kooperieren. Eine Theorie, die auslotet, an welchen Grundsätzen wir uns unter diesen Bedingungen orientieren sollten, kann man als ›nicht-ideale‹ Theorie bezeichnen. In der nicht-idealen Theorie gibt es kein internationales Verteilsystem, sondern Flüchtlinge reisen entweder als Kontingentflüchtlinge auf Einladung von einzelnen Staaten ein oder sie machen sich selbst auf den Weg. Betrachtet man die Pflichten eines einzelnen Staates innerhalb der nichtidealen Theorie, sind zwei Fälle zu unterscheiden, ein relativ einfacher und ein komplizierter: Im ersten Fall hat der Staat durch von selbst einreisende Flüchtlinge, denen er den Status eines Flüchtlings zuerkennt, sein Soll, das nach der idealen Theorie berechnet wird, noch nicht erreicht; im zweiten Fall hat er es überschritten. Die Beurteilung des ersten Falls scheint einfach zu sein: Solange ein Staat unterhalb des Solls liegt, ist er verpflichtet, Kontingentflüchtlinge aufzunehmen oder anderen, überlasteten Staaten Flüchtlinge abzunehmen. Es gibt keinen Grund, weshalb die Tatsache, dass andere nicht mitmachen, die eigene Pflicht minimieren sollte. So wäre Deutschland vor einigen Jahren vermutlich moralisch verpflichtet gewesen, deutlich mehr als die 2013/2014 insgesamt 20 000 von Bund und Innenministerkonferenz bewilligten syrischen Kontingentflüchtlinge nach Deutschland einzuladen. Der zweite Fall ist weniger einfach. Ist ein Staat, sobald er sein Soll erreicht hat, von weiteren Pflichten gegenüber Flüchtlingen befreit? Oder muss er, wenn andere ihren Teil nicht erfüllen, einspringen und deren Anteil mit übernehmen? Manche Staaten, die sich seit 2015 an der Bewältigung der Flüchtlingskrise besonders beteiligt haben – insbesondere Schweden, Dänemark, Österreich und Deutschland –, dürften aktuell vor dieser Frage stehen. Diese Frage offenbart eine Disanalogie zwischen der Rettung des Ertrinkenden und der Aufnahme von Flüchtlingen. Bislang wurde eine Analogie gezogen zwischen dem einzelnen Spaziergänger und der Gesamtheit der potentiellen Aufnahmestaaten: So wie der einzelne Spaziergänger für den Ertrinkenden die letzte Rettungschance darstellt, ist die Gesamtheit der potentiellen Aufnahmestaaten die einzige Chance des Flüchtlings. In der nicht-idealen Theorie wird die Gesamtheit der potentiellen Aufnahmestaaten durch einzelne Staaten ersetzt. Es gibt nicht mehr den einzelnen Spaziergänger, der durch die Spezifik der Situation für den Ertrinkenden zur einzigen Rettungschance wird und daher unter einer besonderen Verpflichtung steht. Versuchen wir, zunächst die Situation von potentiellen Kontingentflüchtlingen gemäß der neuen Fragestellung zu analysieren. Sind Staaten in der nicht-idealen

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Theorie verpflichtet, auch über das Erreichen ihres fairen Anteils hinaus Kontingentflüchtlinge aufzunehmen? Zur Analyse der Situation prüfen wir zunächst die Ansprüche der Flüchtlinge: Wem gegenüber haben Flüchtlinge, die noch keinen Aufnahmestaat gefunden haben, ein moralisches Recht auf Aufnahme? Doch offenbar gegenüber denjenigen Staaten, die ihren fairen Anteil noch nicht erreicht haben. Bemühen wir sodann einen unparteiischen Standpunkt: Wen würde ein Außenstehender kritisieren, wenn diese Flüchtlinge keinen Aufnahmestaat finden sollten? Wiederum die Staaten, die sich nicht ausreichend beteiligen. Versuchen wir, eine – zugebenermaßen merkwürdige – Analogie zur Rettung Ertrinkender zu ziehen: Wenn zehn Spaziergänger an einem Teich mit zehn Ertrinkenden vorübergehen, und neun Spaziergänger retten jeweils einen, der zehnte aber ertrinkt. Die neun wird kaum jemand wegen unterlassener Hilfestellung vor einen Richter zerren, den zehnten schon. Selbstverständlich wird jeder urteilen, dass es schön gewesen wäre, wenn einer der neun auch den zehnten Ertrinkenden gerettet hätte. Aber keinem der neun wird man in einem strengen Sinn eine Unterlassung vorwerfen. Daraus kann man folgern, dass die Aufnahme von weiteren Kontingentflüchtlingen nicht mehr moralisch gefordert ist, sobald der faire Anteil erreicht ist. Sie wäre eine supererogatorische Handlung, die besonderen moralischen Beifall verdiente, aber nicht eingefordert werden kann. Anders stellt sich die Situation von Flüchtlingen dar, die von selbst kommen: Wenn sie einmal vor unserer Grenze oder auf unserem Territorium stehen, hieße die Einreiseverweigerung, dass wir möglicherweise aktiv dazu beitragen würden, dass eine Rettung ausbleibt – vergleichbar mit einem Ertrinkenden, der sich an ein Rettungsboot klammert und dann vom Kapitän mit Gewalt ins Wasser zurückgestoßen wird. Nach der weit geteilten Intuition muss dieser Fall anders beurteilt werden, und trotz einiger Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, folgen die meisten moralphilosophischen Theorien dieser Intuition. Doch müssen wir hier wiederum zwei Fälle unterscheiden: Im ersten Fall versuchen Flüchtlinge, direkt aus ihren Herkunftsländern in ein Land einzureisen – also die Situation in der Türkei oder auf Lampedusa. Wie im Beispiel des Ertrinkenden ist der Aufnahmestaat aktuell die einzige Rettungschance des Eingereisten; ihn zurückzuschicken, würde das Risiko schwerer Nachteile für den Flüchtling bedeuten, überspitzt gesagt so, wie wenn ein Ertrinkender vom Rettungsboot zurück in die Fluten gestoßen wird. Selbstverständlich darf der Aufnahmestaat versuchen, den Flüchtling an einen Staat weiterzugeben, der sein Soll noch nicht erfüllt hat. Aber gelingt ihm das nicht (was innerhalb der nicht-idealen Theorie vorkommen wird), so muss er den Flüchtling ›behalten‹. Im anderen Fall möchten Flüchtlinge aus einem Drittstaat einreisen – von Ungarn nach Österreich, von Österreich nach Deutschland, von Deutschland nach Dänemark usw. Gesetzt den Fall, dass das völkerrechtliche Prinzip des NonRefoulement in diesen Ländern gilt, und damit sichergestellt wird, dass kein Flüchtling bei einer akuten Gefährdung in seine Heimat zurückgeführt wird,

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ändert sich die Fragestellung fundamental: Es geht jetzt nicht mehr direkt darum, welche Pflichten wir gegenüber Flüchtlingen haben, sondern um die Frage, welche Pflichten wir angesichts der Flüchtlingskrise gegenüber unseren Nachbarstaaten haben. Lassen wir den Flüchtling nicht einreisen, muss ihn unser Nachbarstaat bei sich aufnehmen.6 Aus dem Ideal einer möglichst fairen Verteilung der Lasten ergibt sich in diesem Fall, dass wir Grenzen genau dann ›dichtmachen‹ (oder Flüchtlinge gemäß der Dublin-Verordnung an den Nachbarstaat ›zurückgeben‹) dürfen, wenn der Nachbarstaat sein Soll nicht stärker übererfüllt hat als wir. Denn andernfalls würden wir durch unser Verhalten aktiv daran mitwirken, dass die Verteilung der Flüchtlinge noch ungerechter wird, als sie ohnehin schon ist. Wir würden uns nicht fair gegenüber dem Nachbarland verhalten, wenn wir diesem gezielt eine größere Last aufbürden, als wir selbst zu übernehmen bereit sind. Daraus folgt wiederum, dass Obergrenzen, die einzelne Staaten im Alleingang beschließen, per se moralisch illegitim sind. Denn die Frage, wie viele Flüchtlinge ein Staat aufnehmen muss bzw. nicht abweisen darf, lässt sich unter den Voraussetzungen der nicht-idealen Theorie nicht in absoluten Zahlen bestimmen, sondern hängt von Umständen, wie etwa der Situation in den Nachbarländern, ab. Das provoziert allerdings einen Einwand: Wenn es keine Obergrenzen geben darf, die ein einzelner Staat für sich festlegt, kann dann nicht der Fall eintreten, dass es moralisch gefordert ist, so viele Flüchtlinge aufzunehmen, dass das Funktionieren demokratischer Strukturen, sogar die öffentliche Ordnung überhaupt in Gefahr ist? Wie wäre das mit dem althergebrachten Grundsatz ›ultra posse nemo obligatur‹ zu vereinbaren? Für Länder wie Deutschland, Österreich und die Schweiz, die typischerweise Flüchtlinge von Drittstaaten aufnehmen, stellt sich die Situation in der Regel so dar, dass sie nach der nicht-idealen Theorie nur dann das Funktionieren der eigenen öffentlichen Ordnung riskieren müssen, wenn die Nachbarländer diesen Punkt auch bereits erreicht haben (denn sonst müssten sie nach meiner Argumentation ja keine Flüchtlinge von den Nachbarstaaten einreisen lassen). Führen wir uns aber nochmals das Prinzip der Fairness gegenüber anderen Staaten vor Augen: Aus einer unparteiischen Perspektive gesehen ist es einerlei, ob Land x oder Land y im Chaos versinkt. Wir haben keine generelle Berechtigung, den Schutz unserer eigenen Gesellschaft auf Kosten der Bevölkerung des Nachbarstaates zu betreiben. 6 Das philosophische Modell abstrahiert an dieser Stelle von der realen Schwierigkeit, dass in vielen Fällen auch die sogenannten sicheren Drittstaaten keinen vergleichbaren Flüchtlingsschutz leisten oder keine Integration ermöglichen. Möchte ein Flüchtling von Italien nach Österreich weiterreisen, so gilt zwar, dass der Flüchtling, wenn man ihn nicht weiterreisen lässt, nicht in seine Heimat zurückgeführt wird. Er genießt aber in Italien nach Auskunft der Menschenrechtsorganisationen keinen angemessenen Grundrechtsschutz. Die Realität ist in diesem Punkt also komplexer, als hier dargestellt.

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Doch sind dann nicht die Anrainerstaaten von Bürgerkriegsländern aufgerufen, ihre Grenzen im Extremfall für Flüchtlinge zu schließen, auch wenn jene dadurch in einer eigentlich unzumutbaren Situation im Stich gelassen werden? Im schlimmsten Fall wäre dies sicher zulässig. Es bleibt zu hoffen, dass in solchen Fällen Maßnahmen des UN-Flüchtlingswerks Katastrophen verhindern können und sich auch unter Bedingungen der nicht-idealen Theorie ausreichend Staaten finden lassen, die Kontingentflüchtlinge bei sich aufnehmen. Letztlich zeigt dieses Szenario vor allem, dass die nicht-ideale Theorie nicht der letzte Zweck politischen Handelns bleiben darf; eine schrittweise Annäherung an die ideale Theorie darf aus moralischer Sicht nicht aus den Augen verloren werden. Welchen Grundsatz legt also zusammengenommen die normative Analyse der Flüchtlingskrise nahe, wenn man die offengelegten Prämissen akzeptiert? Unter der Voraussetzung, dass sich massive Nachteile für die Bevölkerung der Aufnahmestaaten vermeiden lassen, müssen wir, obwohl wir unser nach der idealen Theorie bestimmtes Soll bereits überschritten haben, ohne Obergrenze all diejenigen Menschen als Flüchtlinge aufnehmen, die sich auf oder vor unserem Territorium befinden; denen eine Rückführung in ihr Heimatland nicht zugemutet werden kann, weil sie ihre Grundbedürfnisse dort nicht befriedigen können; und die wir faktisch nicht einem potentiellen Aufnahmestaat überlassen können, der sein Soll weniger stark erfüllt als wir. Auch wenn im Detail viele Fragen offen bleiben, könnte dieser Grundsatz in einer sich aufklärenden Öffentlichkeit auf relativ breite Zustimmung stoßen.

Literatur Abizadeh, Arash 2008: Democratic Theory and Border Coercion: No Right to Unilaterally Control Your Own Borders, in: Political Theory 36 (1), 37–65. Grundmann, Thomas/Stephan, Achim 2016: Vorwort, in: dies. (Hg.): Welche und wie viele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen? Philosophische Essays, Stuttgart, 7–12. Henry Sidgwick: The Elements of Politics, 3. Auflage, London 1908. Hoesch, Matthias 2016: Allgemeine Hilfspflicht, territoriale Gerechtigkeit und Wiedergutmachung: Drei Kriterien für eine faire Verteilung von Flüchtlingen – und wann sie irrelevant werden, in: Thomas Grundmann/Achim Stephan (Hg.): Welche und wie viele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen? Stuttgart 2016, 15–30. Pogge, Thomas 2011: Weltarmut und Menschenrechte, Berlin/New York. Schramme, Thomas 2015: Wenn Philosophen aus der Hüfte schießen, Zeitschrift für Praktische Philosophie 2 (2), 377–384.

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