Antimuslimischer Rassismus und Islamfeindlichkeit [1 ed.] 9783737009560, 9783847109563

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Antimuslimischer Rassismus und Islamfeindlichkeit [1 ed.]
 9783737009560, 9783847109563

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Veröffentlichungen des Instituts für Islamische Theologie der Universität Osnabrück

Band 7

Herausgegeben von Bülent UÅar, Martina Blasberg-Kuhnke, Rauf Ceylan und Andreas Pott

Die ersten vier Bände dieser Reihe sind unter dem alten Reihentitel »Veröffentlichungen des Zentrums für Interkulturelle Islamstudien der Universität Osnabrück« erschienen.

Bülent UÅar / Wassilis Kassis (Hg.)

Antimuslimischer Rassismus und Islamfeindlichkeit Mit 3 Abbildungen

V& R unipress Universitätsverlag Osnabrück

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. Verçffentlichungen des UniversitÐtsverlags Osnabrþck erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung des Bundesministeriums fþr Bildung und Forschung.  2019, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung:  Imago/Christian Ditsch Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-5324 ISBN 978-3-7370-0956-0

Inhalt

Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bülent UÅar / Vanessa Walker Muslime in Europa: Zur Relation von Integration und Religion . . . . . .

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Farid Hafez Antimuslimischer Rassismus und Islamophobie: Worüber sprechen wir?

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Naime C ¸ akır Das Eigene und das Fremde – zwischen Heterophobie und Rassismus . .

77

Hendrik Cremer Rassistische Hate Speech und Meinungsfreiheit

. . . . . . . . . . . . . . 103

Iman Attia Unzumutbare Koexistenz. Rassialisierungsprozesse von Muslimen und Musliminnen in historischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Wolfgang Benz Angst vor Muslimen als Gefahr für unsere Demokratie

. . . . . . . . . . 141

Achim Bühl Strategien gegen den antimuslimischen Rassismus . . . . . . . . . . . . . 149 Yasemin El-Menouar Der Islam im Diskurs der Massenmedien in Deutschland . . . . . . . . . 169 Asmaa Soliman Junge Muslime in Deutschland und deren Kritik an Islamophobie im Netz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

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Inhalt

Nina Mühe Muslimische Religiosität als Stigma – Wie muslimische Schüler und Schülerinnen mit Stigmatisierung an den Schulen umgehen . . . . . . . 197 Esra Özyürek Neutraler öffentlicher Raum und individuelle Wahl als zentrale Mythen von Islamophobie und Homophobie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Luis Manuel Hern#ndez Aguilar Institutionalisierung des anti-muslimischen Rassismus im Staat. Reflektionen über die Deutsche Islam Konferenz . . . . . . . . . . . . . . 217 Sabine Berghahn Juristische und politisch-gesetzgeberische Diskurse zum Kopftuch . . . . 233 Linda Supik »99999999 Blicke jeden Tag, manchmal als Blick: Studiert die hier?« – Erfahrungsberichte von muslimischen Studierenden an Hochschulen in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Wassilis Kassis / Patricia Heller Islamfeindlichkeit als negative Schwarmintelligenz: Universitäten – Orte der Toleranz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Christian Röther »Die Erweckung war 9/11« – Einblicke in die Biografien antiislamischer Aktivistinnen und Aktivisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Cem Serkan YalÅın Rechtspopulismus: Vorurteile aus sozialpsychologischer Sicht

. . . . . . 309

AutorInnenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

Prolog

In Zeiten unübersehbarer Polarisierung der Gesellschaft durch die Stärkung rechtspopulistischer Agitation, welche derzeit wohl weltweit zu beobachten ist, gehen Ausgrenzungs- und Diskriminierungstendenzen häufig mit xenophoben Grundhaltungen einher, die zumeist in kulturellen Mustern verortet und identifiziert werden. Ganz konkret gesprochen zeigt sich dies besonders an islamfeindlichen beziehungsweise antimuslimischen Ressentiments, deren Äußerung und Verbreitung schon lange nicht mehr den einzelnen politisch extremen Rändern vorbehalten zu sein scheint. Auch eine andere besorgniserregende Entwicklung verdient in diesem Zusammenhang eine besondere Aufmerksamkeit: So können etwa der steigende Fundamentalismus und Extremismus sowohl innerhalb vieler muslimischer Länder als auch unter einzelnen Gemeinden in der Diaspora aufgrund der gegenseitigen Essentialisierung und Dämonisierung als zweite Seite dieser Medaille betrachtet werden. Diese gegenwärtigen politischen Tendenzen werden sich wohl auch dauerhaft auf die gesamte politische Landschaft auswirken. Ungeachtet dieser allgemeinen Stoßrichtung zeichnen sich die einzelnen antiislamischen Grundströmungen durch eine in sich plurale Zusammensetzung aus, weshalb diese auch nicht alle pauschal miteinander gleichgesetzt werden sollten. So sind etwa in den westlichen Gesellschaften Haltungen zu finden, die eher auf Vorurteilen aus Angst und Unkenntnis beruhen, bis hin zu einer bewusst islamfeindlich-ideologischen Agitation. Durch die Neuauflage älterer, mittlerweile als »klassisch« zu bezeichnender rassistischer Denkfiguren innerhalb islamfeindlicher Bewegungen lässt sich feststellen, dass sich sowohl der von vielen besiegt geglaubte Rassismus wie auch ein essentialisierender Kulturalismus in Europa in einem neuen, aber gleichzeitig doch nahezu zeitlosen Kleid zu zeigen vermag. Der vorliegende Band ist das Ergebnis des internationalen Kongresses »Antimuslimischer Rassismus und Islamfeindlichkeit in Deutschland und Europa«, der durch das Institut für Islamische Theologie an der Universität Osnabrück vom 14.–16. 01. 2016 veranstaltet wurde. Hierin enthalten sind die zahlreichen

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Prolog

Beiträge der Teilnehmer dieser Tagung, mit Ausnahme u. a. von John L. Esposito, Andreas Zick, Yasemin Karakas¸og˘lu und Naika Foroutan, denen es leider nicht mehr möglich war, ihre Beiträge hierzu schriftlich einzureichen. Die einzelnen Beiträge gingen in unterschiedlicher zeitlicher Reihenfolge ein und weisen daher jeweils einen unterschiedlichen Aktualitässtand auf. Außerdem wurde bewusst auf eine artikelübergreifende Vereinheitlichung hinsichtlich Anrede und Gendering verzichtet. Für die großzügige Förderung dieser internationalen Tagung wie auch dieses Tagungsbandes durch das BMBF und die Stiftung Mercator sind wir sehr dankbar. Für die professionelle und geduldige Lektoratstätigkeit haben wir uns bei Dr. Helga Leinweber zu bedanken. Bülent UÅar, Osnabrück und Wassilis Kassis, Zürich im Juni 2018

Bülent UÅar / Vanessa Walker

Muslime in Europa: Zur Relation von Integration und Religion

Das Thema »Islamfeindlichkeit« stellt zwar ein unübersehbar aktuelles, wissenschaftlich jedoch bislang nur unzureichend erforschtes Thema dar. Dies gilt es dringend zu ändern, sollen nicht undifferenzierte Halbwahrheiten den öffentlichen Raum überlasten. Zu Beginn gilt es nachdrücklich zu unterstreichen, dass Muslim- und Islamfeindlichkeit keine rein aus dem Zeitgeist und der aktuellen Geschichte gewachsenen gruppenpsychologischen Phänomene sind, sondern dass es sich hierbei um eine Unterform gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit handelt. Menschen werden in diesem Kontext ausschließlich aufgrund ihrer Glaubenszugehörigkeit pauschal abgewertet und diffamiert. In der wissenschaftlichen Forschung existieren ganz mannigfaltige Ansätze, die sich dem Phänomen der Muslim- beziehungsweise Islamfeindlichkeit widmen.1 Zentral ist hierbei auch die weitgehende Uneinigkeit unter den Forschern, wie nun das zu beschreibende Phänomen genau bezeichnet werden soll. Zwar werden sowohl die Begriffe »Islamfeindlichkeit«2 als auch »Muslimfeindlichkeit« in 1 So ist etwa der Ansatz einer sozialpsychologischen bzw. sozialpsychologisch orientierten Vorurteilsforschung verbreitet. In Abgrenzung zur kritischen Rassismusforschung, welche verstärkt gesellschaftlich-machtstrukturelle Ebenen im Blickfeld hat, wird in der sozialpsychologischen Vorurteilsforschung jedoch Abstand von einer pauschalen Gleichsetzung der Ablehnung von Muslimen als Muslime mit Rassismus genommen. Rassistische Hintergründe können zwar auch eine tragende Rolle spielen, doch ist nicht jedes Vorurteil selbst in Rassismus eingebettet. Siehe hierfür Andreas Zick, Das Vorurteil über Muslime, in: Peter Antes/ Rauf Ceylan (Hg.), Muslime in Deutschland. Historische Bestandsaufnahme, aktuelle Entwicklungen und zukünftige Forschungsfragen, Wiesbaden 2017, S. 39–57. Für nähere Informationen zur Vorurteilsforschung allgemein siehe Werner Bergmann, Vorurteile, in: Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus, Bd. 3, Begriffe, Theorien, Ideologien, Berlin 2010, S. 343–346. 2 Häufig synonym verwendet wird auch der Begriff »Islamophobie«, der jedoch mehr verschleiert, als er aufdeckt. Die Bezeichnung als Phobie legt Vorstellungen nahe, dass es sich dabei um eine (psychologische) Phobie handle. Dies führt im Diskurs in der Regel zu keiner besonderen Differenzierung, sondern eher zu Verhinderung von Kritik durch Pathologisierung des Sprechers. Siehe hierzu Armin Pfahl-Traughber, Die fehlende Trennschärfe des »Islamophobie«-Konzepts für die Vorurteilsforschung. Ein Plädoyer für das Alternativ-Konzept »Antimuslimismus« bzw. »Muslimenfeindlichkeit«, in: Gideon Botsch et al. (Hg.), Islamo-

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der Regel benutzt, um dasselbe zugrundeliegende Phänomen zu bezeichnen, nämlich eine Feindseligkeit und kategorische Abwertung muslimischer Menschen aufgrund ihres – tatsächlichen oder imaginierten – »Muslimischseins«, doch unterscheiden sich beide Begriffe zumindest hinsichtlich ihrer Semantik. Während sich der Begriff der Islamfeindlichkeit viel stärker auf eine kategorische, feindselige Abwertung des Islam als Religion bezieht, rückt der Begriff der Muslimfeindlichkeit den Blick viel stärker auf den Menschen selbst. Eine häufig geäußerte Kritik am Begriff der Islamfeindlichkeit besteht daher in dem Vorwurf, dass mit derartigen Begrifflichkeiten die Grenze zwischen einer zu verurteilenden gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit einerseits und legitimer Religionskritik andererseits zu verschwimmen beginne – oder gar bewusst zum verschwimmen gebracht werde –, da es letztlich jedem Menschen freigestellt bliebe, jeglicher Religion feindlich gegenüber eingestellt zu sein, ohne dabei den Fehler zu begehen, diese ablehnende Haltung auf deren Anhänger als Menschen zu übertragen. So erscheint der Begriff der Muslimfeindlichkeit erst einmal die semantisch unproblematischere Variante zu sein, doch vermag dies nur scheinbar zu überzeugen. Nicht nur, dass es sicherlich nicht der vielfach erlebbaren Realität entspricht, derart künstlich in Feindseligkeiten gegenüber einer Weltanschauung und Neutralität gegenüber ihren Anhängern zu unterscheiden, sondern ist es auch so, dass bei einer zu vorschnellen Konzentration auf Muslime als das Objekt der Feindschaft einiges aus dem Blickfeld zu geraten droht. So ist es nicht möglich, mit dem Begriff der Muslimfeindlichkeit allein die derart ideologisch aufgeladene Essentialisierung des Islam sowie die tief geprägte Feindschaft eines beträchtlichen Teils europäischer Intellektueller und opinion leaders der Vergangenheit und Gegenwart dem Islam gegenüber, welcher als die hassenswerte Gegenthese zur eigenen Utopie entworfen wird, auch nur annähernd abbilden zu können. Ebenso zu erwähnen ist, dass einige Forscher auf Unterschiede in der Konzeption zwischen Muslimfeindlichkeit und dem sogenannten antimuslimischen Rassismus, welcher besonders vonseiten der kritischen Rassismusforschung gebraucht wird, hinweisen.3 Hierbei ist es jedoch ebenfalls notwendig, zwischen den unterschiedlichen historischen Ausprägungsformen des Rassismus zu unterscheiden. Grundsätzlich lässt sich zunächst in einen biologistischen Rassismus – welcher der ältere der beiden ist – und in einen kulturalistischen Rassisphobie und Antisemitismus – ein umstrittener Vergleich, Berlin/Boston 2012, S. 11–28, bes. S. 14f; Luzie H. Kahlweiß/Samuel Salzborn, »Islamophobie«. Zur konzeptionellen und empirischen Fragwürdigkeit einer umstrittenen Kategorie, in: ebd., S. 51–64, bes. S. 51 u. 54ff. 3 Vgl. Alexander Häusler, Feindbild Moslem: Türöffner von Rechtsaußen hinein in die Mitte?, in: Gideon Botsch et al. (Hg.), Islamophobie und Antisemitismus – ein umstrittener Vergleich, Berlin/Boston 2012, S. 170ff.

Muslime in Europa: Zur Relation von Integration und Religion

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mus trennen. Der biologistische Rassismus, der seinen Höhepunkt in den faschistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts erlebte, aber auch bis heute nicht gänzlich von der Bildfläche verschwunden ist, konstruiert eine auf biologischen Merkmalen begründete, damit vererbbare und kaum bis gar nicht beeinflussbare unterschiedliche Konstitution und auch Wertigkeit von menschlichen ›Rassen‹, welche sich auch bei jedem individuellen Mitglied dieser ›Rassen‹ niederschlügen.4 Diese biologischen Merkmale, die sich ebenfalls in psychischen und mentalen Beschaffenheiten äußerten, seien, wie auch die ›Rasse‹ selbst, nicht veränderbar. Der kulturalistische Rassismus – auch Kulturrassismus genannt – wiederum trennt sich weitgehend von den biologischen Konnotationen des ersten, übernimmt jedoch große Teile der Zuschreibungen und damit auch der hieraus folgenden Implikationen. Der kulturalistische Rassismus, der sich vor allem seit der Dekolonialisierung in rassistischen und populistischen Bewegungen durchsetzt, geht etwa davon aus, dass es unterschiedliche und miteinander unvereinbare Kulturen gäbe, die jedes der ihr zugehörigen Individuen so tief ins Mark prägten, dass diese stets an dieser untrennbar verhaftet blieben.5 Der kulturalistische Rassismus wird daher auch häufig als ›Rassismus ohne Rassen‹6 beschrieben und ist die inzwischen verbreitetere und gewissermaßen gesellschaftsfähigere Form des Rassismus in Europa – auch wenn im Zuge der Sarrazin-Debatte erneut biologistische Zuschreibungen populär wurden.7 Besonders deutlich ist diese Verschiebung etwa an dem Beispiel des bosnischstämmigen NPD-Politikers Safet Babic´ (geb. 1981) nachzuvollziehen. Als der Gastarbeitersohn Babic´ Ende der 1990er-Jahre in der NPD-Jugendorganisation Junge Nationaldemokraten (heute: Junge Nationalisten, JN) eintreten wollte, löste er mit seiner letztlich erfolgreichen Aufnahme einen bundesweiten Eklat innerhalb des rechtsextremen Milieus aus. Sieben zu fünf Stimmen votierten für seine Aufnahme, doch war dieser Entscheid, einen »Volksfremden« in die völkische Partei aufzunehmen, für einen Großteil der JN-Funktionäre, besonders der ostdeutschen, untragbar. Der damalige JN-Bundesvorsitzende Sascha Roßmüller als auch der JN-Aktivist Alexander von Webenau hingegen sahen dies

4 Vgl. Johannes Zuber, Gegenwärtiger Rassismus in Deutschland. Zwischen Biologie und kultureller Identität, Göttingen 2015, S. 44ff. 5 Vgl. Naime C ¸ akır, Islamfeindlichkeit. Anatomie eines Feindbildes in Deutschland, Bielefeld 2014, S. 119ff. 6 So bereits von Ptienne Balibar im Jahr 1989 bezeichnet. Siehe Ptienne Balibar, »Gibt es einen »neuen Rassismus«?«, in: Das Argument, Vol. 31, H. 3, 1989, S. 369–380. 7 Vgl. Christoph Butterwegge, Sarrazynismus, Rechtspopulismus und Rassismus. Das neu-alte Sprechen über Migration und Integration, in: Hans-Joachim Roth et al. (Hg.), Sprache und Sprechen im Kontext von Migration. Worüber man sprechen kann und worüber man (nicht) sprechen soll, Wiesbaden 2013, S. 88.

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anders. Für sie zählte nicht nur das »nordische Aussehen« Babic´s, sondern ebenso auch der Fakt, dass dieser »viel mehr Deutscher als einige von uns« sei.8 Wenn diese Vorstellung sicherlich auch bis heute nicht von jedem NPDSympathisanten geteilt werden dürfte, so ist diese Begründung doch sehr aufschlussreich. Sie steht stellvertretend für einen Wandel hin zu einem stärker kulturalistisch orientierten Weltbild, der sich selbst offenbar bis in rechtsextreme Kreise vollzog. In der Mehrzahl der rechtspopulistischen bis rechtsintellektuellen Gruppierungen und Bewegungen, besonders etwa innerhalb der sogenannten Neuen Rechten (bes. Frankreich, Deutschland) beziehungsweise altright (USA), wird diese Form des Rassismus vertreten, der sich auch in diesem anverwandten Ansätzen wie dem Ethnopluralismus niederschlägt. Dieser in der Theorie vielschichtig imaginable, in der Praxis aber einseitig (und ohnehin essentialistisch) angedachte und umgesetzte Ansatz ist darauf angelegt, zwar das heiße Eisen einer unterschiedlichen Wertigkeit von Menschen mindestens öffentlich unangetastet zu lassen, aber im Gegenzug zu postulieren, dass es unterschiedliche Kulturkreise gäbe, und diese nicht miteinander gemischt werden könnten und auch nicht sollten.9 Das Ziel sei es daher, die Kulturen räumlich und ideell voneinander abzuschotten, da alles andere ohnehin auch schlicht unnatürlich sei – oder gar die Vorstufe zum Ethnozid darstelle. Der historisch kaum zu leugnende Fakt, dass Kulturen nicht derart essentialistisch zu verstehen sind, und gerade auch die – nicht in dieser Pauschalität als ein einziger Kulturkreis existierende – ›abendländische Kultur‹ sich in besonderem Maße durch ihre stetigen Kulturfusionen zwischen hellenistischen, römischen, germanischen, slawischen, semitisch-orientalischen etc. Einflüssen, auszeichnet, wird schlichtweg ausgeblendet. In kulturrassistischen wie auch speziell ethnopluralistischen Publikationen wird dabei zumeist auch von einem »islamischen Kulturkreis« gesprochen, der – oft angelehnt an Samuel Huntingtons Clash of Civilizations – eine Art Antithese zum »westlichen Kulturkreis« bilde. Damit gehen auch Darstellungen einher, welche die großen Konflikte unserer Zeit sowohl auf lokaler als auch globaler Ebene vor dem Hintergrund eines Kampfes zwischen diesen bei8 Der Spiegel, Äußerst nordisches Aussehen, 26/1999, S. 18. 9 Das Kultur- und Identitätsverständnis ist jedoch auch im Ethnopluralismus durch seine ethnische Aufladung biologistisch beeinflusst und daher auch nicht ganz frei von klassischrassistischen Vorstellungen. Was den Ethnopluralismus jedoch von letzterem unterscheidet, ist die – zu einem guten Teil jedoch nur als Feigenblatt geäußerte – Distanzierung von der Idee, dass es höhere und niedere ›Rassen‹, Ethnien etc. gäbe, und die Zugehörigkeit zu einer höheren die Unterdrückung, Diskriminierung, Ausbeutung oder gar Vernichtung der niederen rechtfertige. Von Seiten der Ethnopluralisten wird diese Distanzierung als Beweis dafür genommen, dass der Ethnopluralismus nicht rassistisch, ja sogar antirassistisch sei, da das zentrale Anliegen dessen hierin begründet liege, die ethnisch-kulturelle Vielfalt aller Völker auf der Welt zu erhalten. Siehe hierzu etwa den Vordenker der Neuen Rechten: Alain de Benoist, Kulturrevolution von rechts, Dresden 2017, S. 83–104.

Muslime in Europa: Zur Relation von Integration und Religion

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den »Kulturkreisen« deuten. Dies stellt eine gewisse Verschiebung im Vergleich zu früheren Zeiten dar, in denen rassistische – auch kulturrassistische – Gruppierungen noch »Türken raus« skandierten, um ihrem Hass und ihrer Ausländerfeindlichkeit Ausdruck zu verleihen. Spätestens seit dem 11. September jedoch gewinnt es zunehmend an Attraktivität, Türken, Araber, Nordafrikaner etc. nicht mehr als diese alleine zu sehen, sondern vorrangig in ihrer Betrachtung als »die Muslime«.10 Der Islam wird hierbei zu einer Kultur essentialisiert, die im Gegensatz zu einem ebenso imaginierten homogenen Europa steht. Durch dieses Interpretationsmuster übertragen sich derartige kulturrassistische Zuschreibungen auch automatisch auf scheinbare Muslime, die tatsächlich gar keine sind, aber aufgrund ihres Aussehens, ihrer Kleidung oder Bräuche für solche gehalten werden – wie etwa iranische Atheisten, kurdische Yeziden oder arabische Christen. Aus diesem Grund wird auch von manchen Forschern von einem antiislamischen Ethnizismus gesprochen, da einerseits eine offensichtliche Islamfeindlichkeit vorliegt, aber auch ihre scheinbaren Anhänger im Sinne einer Ethnie in einen Topf miteinander geworfen werden.11

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Feindbild Islam – Anatomie eines öffentlichen Diskurses

Unter diesen Vorzeichen wird auch verständlich, warum es offenbar zu keiner großen Beachtung in der öffentlichen Wahrnehmung kam, dass das Wort »Ausländerfeindlichkeit« in medialen Diskursen inzwischen völlig ausgetilgt und faktisch durch »Islamfeindlichkeit« ersetzt wurde. Dies führt wiederum zu einer weiteren Konzentration auf Muslime als eine Art Antithese und Fremdkörper in den europäischen Gesellschaften. Dabei ist die nationale und ethnische Zusammensetzung der Muslime in Europa eine höchst heterogene, wie Studien zeigen. Im Falle von Frankreich, der Niederlande und des Vereinigten Königreichs erklärt sich die muslimische Präsenz dieser Länder vor allem durch die Zuwanderung aus Ländern ihrer ehemaligen Kolonien und Imperien. Im Falle von Deutschland ist die muslimische Migration hingegen zum überwiegenden Teil auf die Arbeitsmigration der Gastarbeiter zurückzuführen. Wichtig erscheint außerdem die Feststellung, dass die meisten zugewanderten Muslime der Gastarbeiterära in Deutschland üblicherweise eher aus unteren Bildungsschichten entstammen. Noch bevor diese die großen Hauptstädte ihrer alten Heimat, wie etwa Istanbul oder Ankara, zu Gesicht bekamen, ließen sie sich in großen Metropolregionen, wie etwa dem Ruhrgebiet, in einem Land nieder, 10 Vgl. Nina Clara Tiesler, Muslime in Europa. Religion und Identitätspolitiken unter veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen, Münster 2006, S. 124. 11 Vgl. Naime C ¸ akır, Islamfeindlichkeit, S. 145f.

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dessen Sprache sie in aller Regel nicht einmal sprechen konnten. In der gegenwärtigen Debatte wird diese enorme Integrationsleistung seitens der aus eher einfachen Verhältnissen entstammenden Gastarbeiter regelrecht ignoriert.12 Von den bis zum Betrachtungsjahr 2011 in Deutschland geschätzt lebenden 3 295 084 Muslimen entfiel der Löwenanteil auf aus der Türkei zugewanderte Gastarbeiter und deren Nachfahren (ca. 2 223 619 Muslime) sowie in kleinerem Umfang auf Zuwanderer aus Südosteuropa (ca. 316 026 Muslime).13 Doch nur vier Jahre später hat sich diese nationale wie ethnische Zusammensetzung nachdrücklich verschoben: Bedingt durch die Zuwanderung der Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und Afghanistan sind Ende 2015 von den vormals 67,5 % (2011) nur noch 50,6 % türkischstämmig.14 Der Anteil der seit 2011 neu zugewanderten Muslime beträgt zum selben Zeitpunkt 27,3 % an der Gesamtzahl der Muslime.15 Insgesamt lebten also gegen Jahresende 2015 zwischen 4,4 und 4,7 Mio. Muslime in Deutschland – das macht auch nach dem rapiden Anstieg durch die Zuwanderung von Flüchtlingen lediglich einen Anteil von 5,4 bis 5,7 % an der Gesamtbevölkerung aus. Das bedeutet, dass sich die Anzahl der Muslime in Deutschland bis Ende des Jahres 2015 durch den Zustrom der Flüchtlinge lediglich um etwas mehr als ein Prozent erhöht hat.16 Über die Entwicklungen, die über den 31. Dezember 2015 hinausgehen, liegen derzeit noch keine validen Daten vor. Trotz dieser marginal wirkenden Anzahl bilden die Muslime ein beliebtes Ziel rechtspopulistischer wie auch rechtsextremer Agitation, wenn etwa von einer schleichenden Islamisierung oder gar von einer geplanten »Umvolkung« gesprochen wird.17 Tatsächlich bestehen in unserer Gegenwart im rechtspopulistischen Milieu in Deutschland – nebst nach wie vor bestehender latenter antisemitischer Grundtendenzen – kaum noch Probleme mit polnischen oder italienischen Migranten, vielmehr bilden im Wesentlichen die Muslime das neue Feindbild europäischer Gesellschaften – insbesondere eben am rechten Rand. Doch auch außerhalb des rechtspopulistischen Milieus und hinsichtlich der konkreten Einstellungen zu den verschiedenen Religionsgemeinschaften sind 12 Vgl. Bülent Ucar, Einführende Gedanken, Frankfurt am Main 2013, S. 13. 13 Anja Stichs, »Wie viele Muslime leben in Deutschland? Eine Hochrechnung über die Anzahl der Muslime in Deutschland zum Stand 31. Dezember 2015«, 2016, S. 22. www.bamf.de/Sha redDocs/Anlagen/DE/Publikationen/WorkingPapers/wp71-zahl-muslime-deutschland.pdf (letzter Zugriff 02. 06. 2018). Sämtliche Zahlenangaben, die aus dieser Studie für diesen Text entnommen wurden, entsprechen der mittleren Anzahl innerhalb eines für sozialwissenschaftliche Erhebungen üblichen 95 %-Konfidenzintervall. Für minimale und maximale Anzahl siehe ebd. 14 Vgl. ebd., S. 31. 15 Vgl. ebd., S. 5. 16 Vgl. ebd., S. 29. 17 Für einen ersten (und sehr eindrücklichen) Eindruck dieser Verschwörungstheorien siehe dazu ein Blog der rechtsextremen Identitären Bewegung unter dem Tag Umvolkung, URL: www.identitaere-bewegung.de/tag/Umvolkung (letzter Zugriff 14. 05. 2018).

Muslime in Europa: Zur Relation von Integration und Religion

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die Haltungen der europäischen Mehrheitsgesellschaften gegenüber Muslimen von allen Haltungen gegenüber nicht-christlichen Religionsgemeinschaften die mit Abstand negativsten.18 Dies ist der Fall, obwohl anzunehmen ist, dass der Großteil der Menschen, die den Islam kritisieren oder ihm gar feindlich gegenüberstehen, sich selbst nie oder kaum intensiv mit ihm auseinandergesetzt hat. Wer in Deutschland über den Islam oder auch Islamfeindlichkeit sprechen möchte, der muss sich darüber bewusst sein, dass hier immer eine Gemengelage an konfliktbeladenen Themensetzungen historischer, politischer, soziokultureller und ideologischer Natur zutage tritt. Dass dem Islam als solchem eine derart eklatante Bedeutung zugewiesen wird, an dem sich abgegrenzt und abgearbeitet werden kann, mag womöglich dadurch begründet sein, dass mit dem Zerfall der Sowjetunion – und somit mit dem Wegfall eines zuvor vorherrschenden Feindbildes – eine beständige Abgrenzungsmarke weggefallen ist. Vor diesem Hintergrund erscheint es nur logisch, dass einige Denker wie Samuel Huntington in den 1990er-Jahren die Zukunft politischer Konflikte als Konflikte zwischen »dem Westen« und »dem Islam« zu deuten begannen. In den Medien erfolgte daraufhin eine Fokussierung auf den Islam, wodurch ein neues Feindbild entstand, das durch zahlreiche Kriege, Bürgerkriege und Putsche untermauert werden konnte. Hier sind Afghanistan, der Erste und Zweite Irakkrieg, Somalia, der Jemen, Palästina, Bosnien, Tschetschenien, Gaza, der Libanon, Algerien, Ägypten und Syrien zu nennen. Sämtliche Formen von politischen, sozialen, kulturellen, historischen und ökonomischen Spannungen und Schieflagen werden mit einer neuen, häufig monokausal gestrickten Analysekategorie betrachtet: dem Islam! Nur wenigen Themen gilt in den deutschsprachigen Medien eine derart ungeteilte Aufmerksamkeit wie dem Thema »Islam«. Dabei überwiegen nicht nur ganz bestimmte Themensetzungen, sondern auch eine häufig tendenziöse Deutung, die das allgemeine Islambild der Öffentlichkeit sehr nachhaltig prägt. Eine Studie über die Berichterstattung deutscher öffentlich-rechtlicher Fernsehsender ergab, dass in mehr als 80 % der Magazinbeiträge, die den Islam thematisieren, eine negative Konnotation durch Themen wie Terrorismus, politische Konflikte, religiöser Intoleranz, Fundamentalismus, Frauenfeindlichkeit, Integrationsprobleme und Menschenrechtsverletzungen im Vordergrund steht.19 Doch gilt dieser Befund nicht nur für das öffentlich-rechtliche Fernsehen, sondern mindestens auch im gleichen Maße für den Großteil der privaten Me18 Vgl. Detlef Pollack, »Bevölkerungsumfrage des Exzellenzclusters ›Religion und Politik‹«, 2010, URL: https://www.uni-muenster.de/Religion-und-Politik/aktuelles/2010/dez/Gastbei trag_Pollack.html (letzter Zugriff 14. 05. 2018). 19 Vgl. Kai Hafez/Carola Richter, »Das Islambild von ARD und ZDF«, in: Aus Politik und Zeitgeschehen, H. 26–27, 2007, S. 40–46.

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dienerzeugnisse.20 Sowohl Magazine wie der Stern, der Focus als auch der Spiegel sind bekannt für ihre Titelcover, in denen der Islam und die Muslime in einen überwiegend sehr negativen, mindestens jedoch sehr erotisierend-exotisierenden Zusammenhang gesetzt werden. Entweder sind Muslime dort die »unheimliche[n] Gäste«21 oder »unbekannte Nachbarn«22 – ihr Glaube wiederum wird als »die geheimnisvolle Religion«23 bezeichnet. Dazu werden entsprechende Titelbilder häufig durch eine erotisierende Bebilderung begleitet, etwa durch stark geschminkte und lasziv blickende junge Frauen, wahlweise mit Kopftuch oder Niqab. Ebenfalls häufig sieht man auch Motive von großen, fast uniform gekleideten Menschenmassen aus der Halbtotale und dazu im Titel gebrauchten politischen Begriffen, wie etwa der Begriff der »Weltmacht Islam«.24 Dies passt zur allgemeinen Tendenz, den Islam als eine handelnde Person darzustellen, so erschien auch ein Magazin mit dem Titel: »Was will der Islam?«25 Wenn Deutschsein und Islam jedoch miteinander verknüpft werden, geschieht dies häufig im Zusammenhang mit Terrorismus und Islamismus. So titelte der Focus über »[d]ie deutsche Islamisten-AG«.26 Die Auswirkungen, die diese wertende und einseitige Verknüpfung auf den Verlauf des weiteren Diskurses und auch auf das Selbstbild hier lebender Muslime nehmen, sind teilweise als äußerst fatal zu betrachten. So wird auch die Besetzung von Talkshows überwiegend durch solche Überlegungen bestimmt, welche eine möglichst hohe Quote vor Qualität setzen, und entsprechend werden sodann an die eingeladenen Gäste auch suggestive Fragen gestellt, die nur darauf ausgelegt sind, zu polarisieren. Aus diesem Grunde dominieren seit jeher einfache, stumpfe Parolen und Denkfiguren den medialen Diskurs. Dies zeigt sich auch anhand der Meinungsführerschaften, die häufig aus den ewig selben Personen bestehen und keinen Raum für Widerspruch gegen populäre Deutungsmuster zulassen. Die Akteure der öffentlichen Debatten, insbesondere erkennbar anhand diverser Talkshows, mutieren damit zu reinen Stichwortgebern. Eine zentrale Rolle spielen hierbei auch die »muslimischen« Islamkritiker. Einerseits gelten sie besonders bei nichtmuslimischen Rezipienten als Experten qua Herkunft, andererseits lässt sich beobachten, wie dies auch nicht gerade selten dafür benutzt wird, sich dem Rassismusvorwurf zu 20 Für eine medienwissenschaftliche Analyse medialer islamfeindlicher Stereotypisierungen siehe Martina Thiele, Medien und Stereotype. Konturen eines Forschungsfeldes, Bielefeld 2015, S. 214–228. 21 So das Titelcover des Focus vom 22. November 2004. 22 So das Titelcover des Stern vom 12. Oktober 2006. 23 So das Titelcover des Stern vom 2. Dezember 2004. 24 So das Titelcover des Focus vom 1. Oktober 2001. 25 So das Titelcover des Liborius vom 16. Dezember 2010. 26 So das Titelcover des Focus vom 2. Februar 2009.

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entziehen, da man hier ja nur jemanden sprechen ließe, der ganz unschuldige Kritik an seiner eigenen Bezugsgruppe äußere. Aufgrund ihrer Bedeutung für den Diskurs ist es wichtig, nach den eigentlichen Kompetenzen dieser jeweiligen Islamkritiker zu fragen. So ist gegen eine fundierte und informierte Kritik grundsätzlich nichts einzuwenden, ja, sie ist sogar als notwendig zu betrachten. Jedoch geschieht es nur allzu häufig, dass die Kritiker ihre eigenen Kompetenzen bei Weitem überschreiten – und etwa über islamwissenschaftliche, politikwissenschaftliche, historische oder soziologische Sachverhalte sprechen, die nicht zu ihren eigenen Kompetenzen zählen, deren Fehlen aber durch anekdotische Evidenz wettgemacht werden soll. Auch gilt es kritisch zu prüfen, welchen Grad der Repräsentativität diese bekannten Kritiker haben. Es kommt nicht selten vor, dass sehr extreme Lebensläufe von den betroffenen Kritikern als statistisch völlig normal deklariert werden, und damit beim Rezipienten ein bestimmtes Bild erzeugt oder verstärkt werden soll.27 Dies geht nicht zuletzt auch zulasten der Betroffenen selbst, da sich in der Folge eine unsachliche Debatte voller Alarmismus aufbaut, die nicht mehr dazu in der Lage ist, konstruktiv zu einer Lösung beizutragen. Im Gegenteil, hierbei schreitet eine weitere Homogenisierung und Dichotomisierung der Muslime voran. »Wusste ich doch schon immer, dass die alle so sind«, ist eine übliche und hochgradig gefährliche Reaktion, die diesen Mustern seitens des Rezipienten ob dieser Darstellungsmuster folgt. Der Schaden, den einige dieser Menschen anrichten, ist nicht geringer, als der, der von rechtsradikalen Kräften in diesem Land verursacht wird. Diffamie, üble Nachrede, Hetze und kollektive Herabwürdigung dürfen auch im bürgerlichen, intellektuellen Gewand mit scheinbar immunisierendem Bezug auf die Meinungsfreiheit unter keinen Umständen als zulässig erachtet werden. Gleichwohl muss eine kritische Auseinandersetzung mit dem Islam und den Muslimen immer möglich bleiben. In diesem Zusammenhang können ausschließlich Aufklärungsarbeit und sachliche Differenzierung weiterhelfen. Die ideologische Bedeutung des Islamdiskurses zeigt sich auch an der Wiederverwertung alter historischer Vorurteile durch einige essentialistisch denkende Welterklärer. Thomas Petersen weist hierbei darauf hin, dass einiges dafürspricht, »[…] dass die Vorstellung, wonach die Islamische Welt und der Westen kulturelle Gegenpole sind, tief im Unterbewusstsein der Bevölkerung verankert ist. Nichts hat die Deutschen mitten in der Zeit ihrer schärfsten konfessionellen Auseinandersetzungen 27 Für weitere Strategien und wiederkehrende Argumentationsmuster siehe Thorsten Gerald Schneiders, Die Schattenseite der Islamkritik Darstellung und Analyse der Argumentationsstrategien von Henryk M. Broder, Ralph Giordano, Necla Kelek, Alice Schwarzer und anderen, in: Thorsten Gerald Schneiders (Hg.), Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen, Wiesbaden 2010, S. 417–442.

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im 17. Jahrhundert so sehr geeint wie der Warnruf, die Türken stünden vor Wien. ›Die Türken‹ und mit ihnen die gesamte islamische Welt, das waren stets ›die anderen‹.«28

So können Muslime per se als gefährlich empfunden werden, schließlich seien sie es schon immer gewesen, wie die Geschichte doch zeige. Diese imaginierte Gefahrensituation zieht sich auch in einer negativ besetzten Assoziation fort. So assoziierten in einer Allensbacher Umfrage vom Mai 2015 ganze 68 % der Befragten mit dem Islam als Glauben Fanatismus und Radikalität, mit Nächstenliebe verbanden ihn hingegen nur 12 %. 11 % brachten den Islam mit Wohltätigkeit in Verbindung, und nur 5 % der Befragten sahen eine Verbindung zwischen dem Islam und den Werten »Offenheit« und »Toleranz«.29 Auch wenn sich die Mehrheitsgesellschaft selbst als offen und tolerant wähnen mag, so entwirft eine Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahre 2017 ein ganz anderes Bild: So wurden Nichtmuslime aus mehreren europäischen Ländern danach befragt, ob sie Vorbehalte gegen Muslime in ihrer Nachbarschaft hegten. Die stärkste Ablehnung zeigten die nichtmuslimischen Österreicher : 28 % der Befragten antworteten mit Ablehnung. Den geringsten Wert ergaben die Franzosen mit 14 %. Dazwischen bewegen sich die Ergebnisse für Deutschland (19 %), das Vereinigte Königreich (21 %) und die Schweiz (17 %).30 Dabei ist in der Frage noch nicht einmal zwischen Kulturmuslimen und tatsächlich erkennbar religiös Praktizierenden differenziert worden. Eine Forschungsfrage der Allensbacher Studie aus dem Jahre 2012 lautete: »Wenn jemand sagt: ›Es ist zwar Privatsache, aber es gefällt mir nicht, wenn ich hier in Deutschland Frauen mit Kopftüchern sehe.‹ Geht Ihnen das auch so, oder geht Ihnen das nicht so?« Eine relative Mehrheit von 47 % der Befragten gab zu Protokoll, dass es ihnen auch so ginge, lediglich 34 % erhoben Einspruch. Bemerkenswert ist jedoch, dass in den alten Bundesländern etwas mehr Menschen (48 %) zustimmten als in den neuen (45 %). Es scheint daher keine Frage der Gewöhnung zu sein, ob der Anblick kopftuchtragender Frauen zu Irritationsgefühlen führt oder nicht, vielmehr lassen sich Aversionen demnach also nicht so leicht abnutzen. So ist es auch nicht verwunderlich, dass ein Großteil der Bevölkerung mit Unverständnis auf Aussagen deutscher Politiker wie denen des ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff reagiert, als er verkündete, dass der Islam selbstverständlich inzwischen auch zu Deutschland gehöre. Im Mai 2015 äußerten lediglich 22 % der Befragten, sie würden Wulffs Statement zustimmen können. Fast zwei Drittel 28 Thomas Petersen, »Sorgen und Hilfsbereitschaft. Die Einstellungen der Deutschen zur Flüchtlingskrise«, in: Forschung und Lehre, Vol. 23, H. 1, 2016, S. 20. 29 Vgl. ebd., S. 21. 30 Religionsmonitor 2017, »Muslime in Europa – integriert aber nicht akzeptiert?«, URL: https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikatio nen/Studie_LW_Religionsmonitor-2017_Muslime-in-Europa.pdf (letzter Zugriff 02. 06. 2018), 2017, S. 18.

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(63 %) lehnten diese Aussage hingegen ab. Derartige Befunde müssen ernst genommen werden, denn sie deuten nicht nur auf etwaige Integrationsprobleme seitens einiger migrantischen Gruppen, sondern auch auf eklatante Integrationsprobleme seitens der autochthonen nichtmuslimischen Bevölkerung hin, die sich den Veränderungen der Zeit erkennbar konsequent verweigern möchte.31 In der öffentlichen Debatte um den Islam herrschen neben dieser expliziten normativ begründeten Verweigerungshaltung auch viele Verzerrungen vor. Es erfolgt nicht selten eine völlig unpräzise und unlogische Vermischung der Prozesse »Migration« und »Integration« mit der Religion, was klare Analysen beinahe unmöglich macht. Hieran schließen auch die Versuche an, dem Islam die religiöse Wesenseigenschaft abzusprechen und ihn als politische (insbesondere totalitaristische oder auch faschistische) Ideologie darzustellen, wie dies zunehmend sowohl durch rechte als auch linke Kräfte geschieht.32 Dies liegt in einer bestimmten politischen Motivation begründet, die islamfeindliche Agitation in das Gewand scheinbar legitimer Faschismuskritik packen möchte und quasi in einem Rutsch auch die Gleichsetzung des eliminatorischen Antisemitismus mit der islamischen Religion und den Vergleich von Muslimen und Nazis ermöglicht.33 Dies ist nicht zuletzt auch als besonders spannend wie auch aufschlussreich vor dem Hintergrund zu betrachten, dass zu einer Zeit, als noch Kommunismus und die UdSSR als die größte globale Bedrohung westlicherseits imaginiert wurden, viele scheinbar aufgeklärte Beobachter des politischen Weltgeschehens sich allzu oft darin einig waren, eine tiefe geistige Wahlver-

31 Vgl. Thomas Petersen, »Sorgen um Hilfsbereitschaft«, S. 21. Siehe auch die Aussage des Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble »Wir können nicht den Gang der Geschichte aufhalten. Alle müssen sich damit auseinandersetzen, dass der Islam ein Teil unseres Landes geworden ist«, Focus 31. 3. 2018. 32 Dies wird im deutschsprachigen Raum der Gegenwart besonders prominent durch Hamed Abdelsamad vertreten, der behauptet, dass der Faschismus im Islam bereits von Beginn an angelegt gewesen sei. Vgl. ders., Der islamische Faschismus. Eine Analyse, München 2014. Zur Geschichte und Funktionalität früherer Vergleiche mit Islam und Faschismus siehe Reinhard Schulze, »Islamofascism: Four Avenues to the Use of an Epithet«, in: Die Welt des Islams, Vol. 52, 2012, S. 290–330. Besonderer Beliebtheit erfreut sich diese Denkfigur, die sodann auf den Islam als Ganzes essentialistisch übertragen wird, innerhalb dezidiert islamfeindlicher Bewegungen und Organe wie PI News, sonstigen rechten wie auch QuerfrontStrömungen sowie auch besonders innerhalb großer Teile der Antideutschen. Für eine informierte Kritik dieser These siehe Armin Pfahl-Traugbher, Der Islamismus ist kein grüner Faschismus, sondern ein religiöser Extremismus Eine kritische Prüfung einschlägiger Kriterien anlässlich einer öffentlichen Debatte, in: Thorsten Gerald Schneiders (Hg.), Salafismus in Deutschland. Ursprünge und Gefahren einer islamisch-fundamentalistischen Bewegung, Bielefeld 2014, S. 149–170; Moshe Zuckermann, »›Islamofascism‹. Remarks on a Current Ideologeme«, in: Die Welt des Islams, Vol. 52, 2012, S. 351–369. 33 Vgl. Stefan Wild, »›Islamofascism‹? Introduction«, in: Die Welt des Islams, Vol. 52, 2012, S. 228f.

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wandtschaft zwischen Islam und Kommunismus zu sehen.34 In diesen antagonistischen Deutungsschemata zeigt sich auch eine fatale Einigkeit zwischen Islamhassern und Islamfanatikern beiderseits.35 Die breite Mitte jedoch – all die Muslime, die seit Jahrzehnten mitten in der deutschen Gesellschaft leben und eigentlich längst unter Beweis gestellt haben, dass der Islam in Deutschland weder politisch-ideologisch noch totalitaristisch ausgelegt und ausgelebt werden muss – wird in all diesen Betrachtungen schlicht ausgeblendet. Die Folgen dieser unausgewogenen Informationssituation in Bezug auf den Islam scheinen dann nahezu unausweichlich: Unbehagen, Ängste, Irritationen, brennende Moscheen, restriktive Islamregelungen, Kopftuchverbote und abwehrende Haltungen staatlicher Stellen gegenüber berechtigten muslimischen Interessen, die grundsätzlich rechtlich garantiert sind. Diese Ängste sollen nicht klein geredet oder gar als »falsch« etikettiert werden, denn schließlich sind sie existent, und sie wegreden zu wollen, ändert nichts an ihrem Bestehen. Trotz all dieser Problemlagen und diskursiven Besonderheiten kommt es (mit einiger Verzögerung) in Deutschland gerade zu einer zunehmenden, wenn auch weit ausbaufähigen Anerkennung muslimischer Glaubensgemeinschaften. Als Beispiel hierfür können etwa die Etablierung der Islamischen Theologie an deutschen Universitäten oder auch die Etablierung eines islamischen Religionsunterrichts innerhalb öffentlicher Schulen gesehen werden. Dieser Schritt des Islam in öffentliche Institutionen hinein begründet sich dabei nicht nur in dem Wunsch, muslimischen Kindern und angehenden Theologen eine ihnen zustehende religiöse Bildung zukommen zu lassen, sondern auch und insbesondere in der rechtlichen und gesellschaftlichen Gleichstellung des Islam. Ist nicht genau dies mit Integration gleichzusetzen? Die positiven und dynamischen Entwicklungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass in Bezug auf den Islam längst nicht mehr von einem ungerechtfertigten »Hinterhof-Dasein« gesprochen werden kann; vielmehr präsentieren und artikulieren sich die Muslime selbstbewusst und selbstverständlich in der Öffentlichkeit, was als äußerst progressiv zu werten ist, wenngleich ein Zustand der Normalität noch fern und die Behebung von Defiziten in der Gesamtgesellschaft freilich noch zu leisten ist. Doch ist 34 Vgl. ebd. S. 230f. 35 Siehe hierzu auch Alexander Häusler/Rainer Roeser, Geliebter Feind? Islamismus als Mobilisierungsressource der extremen Rechten, in: Thorsten Gerald Schneiders (Hg.), Salafismus in Deutschland. Ursprünge und Gefahren einer islamisch-fundamentalistischen Bewegung, Bielefeld 2014, S. 301–318. In diesem Geiste ist es wohl auch zu erklären, dass es zeitweise zu einer kurzen und vorsichtigen Annäherung zwischen NPD und der panislamistischen Hizbut Tahrir kam, bevor diese letztere im Jahre 2003 schlussendlich in Deutschland verboten wurde. Vgl. Claudia Dantschke, Zwischen Feindbild und Partner: Die extreme Rechte und der Islamismus, in: Stephan Braun/Alexander Geisler/Martin Gester (Hg.), Strategien der extremen Rechten. Hintergründe – Analysen – Antworten, 1. Auflage, Wiesbaden 2009, S. 440–460.

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es zu beobachten, dass es auch gerade die gestiegene Sichtbarkeit ›des Islam‹ innerhalb der deutschen Gesellschaft ist, die zu Gefühlen der Irritation beiträgt, besonders vor dem Hintergrund der gestiegenen Diversifizierung der Gesellschaft hinsichtlich ihrer ethnischen Zusammensetzung, die als eine Folge der Globalisierungsentwicklungen betrachtet werden kann. Muslime, vor allem muslimische Frauen mit Kopftuch, werden in dieser Lesart der Welt zu einem Epitom der ›feindlichen Übernahme‹ und Verdrängung der eigenen sozialen Gruppe. Entgegen üblicher Klischees sind es jedoch nicht einfach nur die bereits Abgehängten, sondern eben auch Personen der Mittelschicht, welche durch hiermit verbundene Globalisierungs- und Abstiegsängste auf die Straße und in die Hände rechtspopulistischer Bewegungen getrieben werden.36 Die Folgen dessen für das gesellschaftliche Klima lassen sich auch bei wenig Fantasie leicht erahnen.

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»Der Islam ist die Lösung!« – Über fundamentalistische und modernistische Reformdiskurse

Die aus dieser Gemengelage folgenden, aber auch bereits zuvor spürbaren alltäglichen, häufig ökonomisch und sozial begründeten Fremdheits- beziehungsweise Diskriminierungserfahrungen gehen auch mit einer wechselseitigen Essentialisierung und Kulturalisierung religiöser Grundhaltungen einher, was wiederum zu einer verzerrten Darstellung religiöser Selbstwahrnehmungen führt. Der Islam wird hier von Teilen seiner Anhänger und auch Gegner nicht als eine Glaubensüberzeugung und religiöse Lebensform internalisiert, vielmehr ist er in diesem Prozess zu einer Schablone, einem Vehikel von Aus- und Abgrenzung umfunktionalisiert worden. So kann es nicht überraschen, dass einige Gruppierungen den Islam als politische Werbefläche für sich selbst entdeckt haben.37 Vereinfachende und pauschale Rufe nach einer schnellstmöglichen Wiedererrichtung des Kalifats mit der Losung »der Islam ist die Lösung«38 als 36 Vgl. Bertelsmann-Stiftung, »Globalisierungsangst oder Wertekonflikt? Wer in Europa populistische Parteien wählt und warum«, 2016, S. 3ff, URL: www.bertelsmann-stiftung.de/fi leadmin/files/user_upload/EZ_eupinions_Fear_Studie_2016_DT.pdf (letzter Zugriff 02. 06. 2018). 37 Für einen guten ersten Überblick über islamistische Bewegungen in Deutschland siehe Mathias Rohe, Islamismus in Deutschland. Einige Anmerkungen zum Thema, in: Thorsten Gerald Schneiders (Hg.), Islamverherrlichung. Wenn Kritik zum Tabu wird, Wiesbaden 2010, S. 173–184. 38 Diese Losung lässt sich auf die Muslimbrüder zurückführen, die mit dieser – man würde heute: populistischen Losung sagen – eine radikale Verneinung des Kolonialismus und Säkularismus zum Ausdruck bringen wollten, vgl. Gilles Kepel, Jihad: The Trail of Political Islam, London 2006, S. 293. In diesem Kontext entwickelte sich der Rückbezug auf die Re-

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Allheilmittel für sämtliche Pathologien, welche die Muslime und muslimische Gesellschaften befallen haben, führen zu einer allgemeinen Zunahme an fundamentalistischen Einstellungen. Dabei ist allerdings zu beachten, dass es ganz mannigfaltige Definitionen von Fundamentalismus gibt – und nur allzu häufig wird über Fundamentalismus gesprochen, ohne diesen überhaupt hinreichend zu definieren. Tatsächlich fungiert dieser Begriff hin und wieder auch lediglich als ein Ausschlussstempel, unter dessen Bezugnahme man unliebsame Meinungen und Personen ganz einfach aus dem Diskurs ausschließen kann. Gelegentlich werden daher Rufe laut, auf diesen Begriff gänzlich zu verzichten, teilweise auch mit dem Hinweis, dass er zu sehr auf den historischen Kontext des christlichen Fundamentalismus geprägt sei. Doch kann dieser Begriff auch für die Forschung nützlich sein, vorausgesetzt, er wurde hinreichend definiert. Denn das, was mit Fundamentalismus umrissen werden soll, ist tatsächlich beobachtbar und empirisch nachvollziehbar. In seiner allgemeinsten und offensten Definition kann der Fundamentalismus etwa als ein Sammelbegriff für »sehr unterschiedliche Phänomene, überwiegend jedoch religiös-politische und weltanschauliche Strömungen [definiert werden], die auf einer nicht hinterfragbaren Letztbegründung beruhen. Aus der Meinung heraus, dass der eigene Glaube (die eigene Weltanschauung) durch Häresien oder Verunreinigungen entstellt sei, propagieren Fundamentalisten häufig in intoleranter, bisweilen auch gewalttätiger Weise eine Orientierung an für ursprünglich gehaltenen, bisweilen auch wörtlich genommenen (Glaubens-) Fundamenten.«39 Bislang existieren nur vereinzelte Studien, die sich speziell einem Vergleich der fundamentalistischen Einstellungen unter Muslimen und Nichtmuslimen in europäischen Ländern widmen. Als eine der Ausnahmen kann hier etwa die SCIIS-Studie (Six Country Immigrant Integration Comparative Survey) des Wirtschaftszentrum Berlin (WZB) gelten. Hierfür wurden im Jahre 2008 rund 9000 Personen mit türkischem oder marokkanischem Migrationshintergrund sowie eine einheimische Vergleichsgruppe aus sechs verschiedenen europäischen Ländern befragt (Deutschland, Frankreich, Niederlande, Schweden, Belgien und Österreich). Zugrunde gelegt wurde der Studie die Fundamentalismusdefinition von Bob Altemeyer und Bruce Hunsberger, welche den Fundamentalismus anhand von drei Merkmalen festmacht: a) die Gläubigen sollen zu den ewigen und unabänderlichen Regeln, die in der Vergangenheit festgelegt wurden, zurückkehren. b) Diese Regeln lassen nur eine Interpretation zu und ligion von einer jenseitsbezogenen, erbaulich-spirituellen Erdung zu einem durch und durch politisch-essentialistischen Ventil, von dem erwartet wurde, sämtliche Probleme des Diesseits im Sinne einer politischen Utopie lösen zu können. 39 Johann Heiss, Fundamentalismus, in: Fernand Kreff et al. (Hg.), Lexikon der Globalisierung, Bielefeld 2011, S. 91.

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sind für alle Gläubigen bindend. c) Religiöse Regeln haben Vorrang vor weltlichen Gesetzen. Entsprechend lauteten die Fragen an die Probanden dann folgendermaßen: a) »Christen [Muslime] sollten zu den Wurzeln des Christentums [Islam] zurückkehren.« b) »Es gibt nur eine Auslegung der Bibel [des Korans] und alle Christen [Muslime] müssen sich daranhalten.« c) »Die Regeln der Bibel [des Korans] sind mir wichtiger als die Gesetze [von Deutschland; bzw. des anderen Landes, in dem die Studie durchgeführt wurde].«40

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Hierbei sollte erwähnt werden, dass diese Fragestellungen zwar einen gewissen Rückschluss auf fundamentalistische Haltungen liefern können, jedoch keineswegs so eindeutig sind, wie sie auf den ersten Blick erscheinen, da in keiner der drei Fragen geklärt wird, wovon überhaupt genau die Rede ist. So würden etwa alle überzeugten Vertreter der sogenannten ›modernistischen Salafı¯ya‹ (nicht zu verwechseln mit dem heutigen Salafismus)41 um den zwar antikolonial argumentierenden, in der Wirkung jedoch westlich orientierten Reformer Muhammad Abduh (gest. 1905) diesen beziehungsweise den meisten dieser ˙ Fragestellungen zustimmen, aber ganz sicher etwas anderes damit meinen als etwa ein Anhänger der afghanischen Taliban oder des Ayatollah Khomeini. Dennoch erlauben die Ergebnisse der Studie gewisse Rückschlüsse, die jedoch aus den genannten Gründen mit etwas an Vorsicht zu genießen sind. So stimmten fast 60 % der Aussage zu, dass Muslime zu den Wurzeln des Islam zurückkehren sollten. 75 % meinten wiederum, dass es nur eine bindende Auslegung des Koran gäbe, die für die Muslime insgesamt verpflichtend sei. 65 % gaben an, dass ihnen religiöse Regeln wichtiger seien als die Gesetze des Landes, in dem sie leben.42 Auch hier gilt zu beachten, dass dies nicht unbedingt die Implikationen in sich tragen muss, die dies auf den ersten Blick suggeriert. Ein

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40 Vgl. Ruud Koopmans, »Fundamentalismus und Fremdenfeindlichkeit. Muslime und Christen im europäischen Vergleich«, in: WZB Mitteilungen, Heft 142, Dezember 2013, S. 22. 41 Für weitere Informationen siehe Encyclopaedia of Islam, Second Edition (EI2), »Salafiyya«, Brill Online Reference, 2013, http://referenceworks.brillonline.com/entries/encyclopaediaof-islam-2/salafiyyaCOM_0982 (letzter Zugriff 14. 05. 2018); Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass diese Bezeichnung in der Forschung zwar gängig, aber historisch nicht unumstritten ist. Es spricht einiges dafür, dass die Gruppierung um Abduh, die sog. Mana¯rSchule, sich selbst nicht programmatisch als Salafı¯ya verstanden hat, sondern v. a. ab den 1920er-Jahren von westlichen Islamwissenschaftlern in der Retrospektive aus eher subjektiven Gründen so bezeichnet wurde. Für nähere Informationen siehe Henri LauziHre, »What We Mean Versus What They Meant by »Salafi«: A Reply to Frank Griffel«, in: Die Welt des Islams, 2016, Vol. 56, S. 89–96; ders., »The Construction of Salafiyya: Reconsidering Salafism from the Perspective of Conceptual History«, in: International Journal of Middle East Studies, Vol. 42, H. 3, August 2010, S. 369–389. 42 Vgl. Ruud Koopmans, »Fundamentalismus und Fremdenfeindlichkeit«, S. 22f.

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beliebter Topos unter pro-westlichen und reformistischen Muslimen, seit geraumer Zeit auch innerhalb der Mehrheit der Mainstream-Gelehrten, ist etwa der Verweis darauf, dass ein Muslim sich ohnehin an die Gesetze des Landes halten müsse, in dem er lebe – denn hierauf würde der Islam ausdrücklich verpflichten.43 Auch wenn dies faktisch eine Akzeptanz der hiesigen Gesetze und Ordnungen mit sich bringt, ist die Argumentationsgrundlage eine religiöse. Dies als Fundamentalismus zu bezeichnen, würde sicherlich weit an dem vorbeigehen, was man eigentlich damit zu bezeichnen bezweckt. Außerdem bedürfte es einer weiteren Überprüfung, was die Befragten konkret als Konfliktfall zwischen Religion und säkularem Gesetz empfänden und wie dieser dann im Einzelfall von jenen aufgelöst wird. So kann es einem Muslim sicherlich nicht verübelt werden, dass er die transzendentale Bedeutung seiner religiösen Schriften ganz grundsätzlich über eine etwaige rechtspositivistische Einstellung stellt.44 Im Gegenteil ist es jedem gläubigen Menschen jedweder religiösen Zugehörigkeit seitens des deutschen Grundgesetzes als ausdrückliche und unveräußerliche Freiheit zugestanden, Einstellungen vertreten zu dürfen, die in Konflikt mit hiesigen Gesetzesvorgaben geraten. Dies betrifft beispielsweise in mustergültiger Weise auch die römisch-katholische Kirche mit ihrer nachhaltigen Weigerung, das Priesteramt für Frauen zu öffnen und ebenso ihrer Praxis, in das Privatleben ihrer Beschäftigten und Geistlichen einzugreifen, etwa wenn Ehestandsfragen über eine Einstellung oder Ablehnung entscheiden. Auch wenn dies unter anderem eindeutig gegen Gesetzesvorgaben der Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern verstoßen müsste, ist diese Verfahrensweise seitens der Religionsgemeinschaften staatlicherseits durch das Grundgesetz geschützt. Religionen müssen daher nicht völlig »grundgesetzkonform« sein, wie dies etwa durch einige rechtspopulistische Agitatoren von Muslimen und ihrer Religion gefordert wird.45 Lediglich, wenn die grundlegenden Prinzipien des demokratisch verfassten Staates in Gefahr sind, liegt es juristisch in der Handlungsgewalt des Staates, hier einzugreifen. Doch dies trifft offenkundig, wie an der unveränderten Rechtspraxis des Verfassungsgerichts in dieser Causa zu sehen ist, nicht auf die Weigerung der katholischen Kirche zu, die grundgesetzliche Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau auch auf liturgische und rituelle Ämter 43 Siehe hierzu mit weiteren Nachweisen Bülent Ucar, Recht als Mittel zur Reform von Religion und Gesellschaft. Die türkische Debatte um die Scharia und die Rechtsschulen im 20. Jahrhundert, Würzburg 2005, S. 253f. 44 Vgl. hierzu auch die Positionen des Bundesverfassungsgerichts, welche der ehemalige Bundesrichter Dieter Grimm in einem Zeitungsartikel prägnant wiedergibt. Ders., »Grundgesetzlich irrelevant«, in: FAZ 22. 4. 2016. 45 So etwa prominent von den AfD-Politikern Nicolas Fest und Beatrix von Storch gefordert. Zu von Storch siehe FAZ, »Von Storch: ›Islam nicht mit Grundgesetz vereinbar‹«, 2017, http:// www.faz.net/aktuell/politik/inland/von-storch-islam-nicht-mit-grundgesetz-vereinbar-141 82472.html (letzter Zugriff 10. 06. 2018).

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auszuweiten. Begründet wird dies nicht zuletzt mit dem Verweis auf grundlegende religiöse Traditionen und Fundamente der religiösen Auslegung, die offenkundig für die römisch-katholische Kirche als unverrückbar gelten, sowie durch die Bevorzugung der über Jahrhunderte gewachsenen religiösen Tradition gegenüber tagespolitischen Einzeldiskussionen. Dies als Fundamentalismus zu bezeichnen wäre sicherlich fragwürdig. Dennoch wird freilich auch ein nennenswerter Anteil unter den Befragten tatsächlich fundamentalistische Einstellungen im engeren Sinne konsequent vertreten, etwa indem er säkulares Recht ganz allgemein für unverbindlich hält und der Meinung ist, dass der Koran ihr »Gesetzbuch« oder ihre »Verfassung« sei, wie dies auch aus zahlreichen islamistischen Bewegungen zu hören ist. Der Definition der Studie zufolge gilt als durchgängig fundamentalistisch, wer alle drei Fragen zustimmend beantwortet, was summa summarum 44 % der befragten Muslime ausmacht. Interessant ist auch, dass türkische Sunniten etwas seltener darunter fielen (45 %) als die Befragten mit marokkanischem Hintergrund (50 %); auf Deutschland bezogen sind dies knapp 30 %. Im Vergleich zu den befragten Christen jedoch fällt auf, dass diese eklatant seltener zustimmend zu allen drei Fragen antworteten – nur 4 % könnten nach der obigen Definition als Fundamentalisten bezeichnet werden, von denen die meisten auf freikirchliche Strömungen entfallen (vor allem sogenannte Evangelikale).46 Den Ergebnissen der Studie zufolge sind diese als fundamentalistisch bezeichneten Ansichten unter jungen wie älteren Muslimen gleichermaßen anzutreffen, bei jungen Christen jedoch wesentlich seltener ausgeprägt als bei älteren. An dieser Stelle wird auch die Widersprüchlichkeit der empirischen Datenlage deutlich, denn einer Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2015 zufolge gaben 90 % der »hochreligiösen sunnitischen Muslime« an, dass sie die Demokratie für eine »gute Regierungsform« hielten.47 Die Zustimmungswerte der mittel- und weniger religiösen Sunniten entsprechen diesem Befund weitgehend. Bei derselben Befragung gaben ebenfalls 93 % der ›hochreligiösen sunnitischen Muslime‹ an, dass eine Offenheit gegenüber allen Religion gelten sollte.48 Während diesen Ergebnissen zufolge die größten Teile der hochreligiösen sunnitischen Muslime als aufgeklärt, kontaktfreudig und vorurteilsfrei zu gelten haben, so trifft dies wohl nach diesem Ergebnis bei Weitem nicht auf die nichtmuslimische Mehrheitsbevölkerung zu. Wie diese beiden Befunde letztlich miteinander zu harmonisieren sind, bedarf einer weiteren, tieferen empirischen Untersuchung.49 46 Vgl. ebd., S. 23. 47 Vgl. Religionsmonitor 2015, »Sonderauswertung Islam«, https://www.bertelsmann-stiftung. de/fileadmin/files/Projekte/51_Religionsmonitor/Zusammenfassung_der_Sonderauswer tung.pdf (letzter Zugriff 02. 06. 2018), 2015, S. 4. 48 Vgl. ebd. 49 Bemerkenswert ist an dieser Stelle auch, dass etwa 90 % der kopftuchtragenden Studentin-

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Fundamentalistische Verschwörungstheorien und Antisemitismus in Deutschland und Europa

Als weiteres Merkmal fundamentalistischer Einstellungen überprüfte die Studie des WZB auch bestimmte gruppenbezogene Menschenfeindlichkeitsformen, wie etwa Homophobie, Antisemitismus und ›Verschwörungsphantasien‹50 gegenüber der westlichen Kultur (bei Muslimen) beziehungsweise den Muslimen (bei Christen). So lauteten diese Items: a) »Ich möchte keine Homosexuellen als Freunde haben«, b) »Juden kann man nicht trauen« und c) »Die Muslime wollen die westliche Kultur zerstören« beziehungsweise »Die westlichen Länder wollen den Islam zerstören«. Die Studie ergab, dass trotz des geringen Fundamentalismus bei den befragten europäischen Christen, diese keineswegs selten zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit neigten. 9 % der europäischen Christen seien offen antisemitisch – bei den deutschen Christen waren es sogar 11 %. Homophobe Einstellungen unter europäischen Christen seien mit 13 %, unter deutschen mit 10 % vertreten. Ganze 23 % der europäischen Christen – und 17 % der deutschen – wiederum identifizierten sich mit den islamfeindlichen Verschwörungstheorien. Jedoch konnten sich nur 1,6 % der europäischen Christen mit all diesen Items identifizieren. Für die europäischen Muslime fielen diese Zahlen noch erschreckender aus: 60 % stimmten zu, keine Homosexuellen als Freunde haben zu wollen und 45 % gaben zu Protokoll, dass man Juden nicht trauen könne. Ganze 45 %, so die Autoren der Studie, glaubten wiederum an anti-westliche Verschwörungstheorien über eine geplante Zerstörung des nen, die nach allgemeinen Bewertungsskalen gemeinhin als hochgradig religiös eingestuft werden, in Deutschland noch 2006 für eine vom Volk gewählte Regierung votierten, statt eine Regierung von Gottes Gnaden herbeizusehnen. Vgl. Frank Jessen/Ulrich von WilamowitzMoellendorff, Das Kopftuch – Entschleierung eines Symbols?, Sankt Augustin/Berlin, September 2006, Zukunftsforum Politik Broschürenreihe herausgegeben von der KonradAdenauer-Stiftung e.V., S. 39. 50 Der Begriff wurde dem Originalwortlaut der Studie entnommen. Besonders im deutschsprachigen Raum besteht eine gewisse Empfindlichkeit gegenüber dem sonst international gängigsten Begriff der Verschwörungstheorie (und seiner fremdsprachlichen Entsprechungen), welche einige Forscher zu einer schier unbändigen Kreativität in der Suche nach Alternativbegriffen führt, siehe hierzu etwa Armin Pfahl-Traughber, »Bausteine« zu einer Theorie über »Verschwörungstheorien«: Definitionen, Erscheinungsformen, Funktionen und Ursachen, in: Helmut Reinalter (Hg.), Verschwörungstheorien. Theorie – Geschichte – Wirkung, Innsbruck 2002, S. 30–44.Dieses Unbehagen gründet auf der Annahme, dass Verschwörungstheorien keine richtigen (wissenschaftlichen) Theorien und gar pauschal epistemologisch falsch seien. Für eine elaborierte Kritik dieses Paradigmas und politische Hintergründe seiner Entstehung siehe David Coady, Gerüchte, Verschwörungstheorien und Propaganda, in: Andreas Anton/Michael Schetsche/Michael Walter (Hg.), Konspiration. Soziologie des Verschwörungsdenkens, Wiesbaden 2014, S. 277–300. Zu beachten bleibt aber, dass sich die unterschiedlichen (wissenschaftlichen) Perspektiven auf Verschwörungstheorien in Teilen auf Unterschiede in der Definition zurückführen lassen.

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Islam.51 Was jedoch von den Autoren der Studie weitgehend unbeachtet bleibt, ist die interessante Verschiebung auf beiden Seiten: Während die einheimischen Christen nach einer Zerstörung des Westens durch Muslime gefragt werden, werden die Muslime nach einer Zerstörung des Islam durch den Westen gefragt. Dass damit letztlich auch all das an essentialistischen Grunddeutungen perpetuiert wird, was schon angesprochen wurde, kann vor diesem Hintergrund nicht wirklich überraschen. Inwieweit dieses Item daher suggestive Kraft besitzt, da es durchaus an bereits längst und mindestens implizit stets vorhandene Vorstellungen andockt, bleibt eine weitere offene Frage. Knapp 25 % der Muslime zeigten der Studie zufolge wiederum all den genannten Fremdgruppen gegenüber eine Abneigung. An dieser Stelle ist es sehr interessant zu betrachten, dass trotz der als stärker fundamentalistisch deklarierten Einstellungen die marokkanischstämmigen Muslime eine wesentlich geringere Fremdgruppenfeindlichkeit erzielten (17 %) als die türkischstämmigen Muslime (30 %).52 Gleichzeitig betonen die Autoren der Studie, dass Muslime zwar den Ergebnissen zufolge relativ stärker zu fundamentalistischen oder fremdgruppenfeindlichen Einstellungen tendierten, dies aber in absoluten Zahlen gesehen immer noch weniger sei als die Anzahl der entsprechenden fundamentalistischen beziehungsweise fremdgruppenfeindlichen Christen. Tatsächlich ist kaum zu leugnen, dass der Antisemitismus auch unter Muslimen in Deutschland ein nicht zu verleugnendes Problem ist. Auch wenn die allgemeine empirische Lage hierzu momentan noch eher dürftig ausfällt, weist der gegenwärtige Kenntnisstand auf diese Entwicklung hin und attestiert er eine grundsätzlich höhere Verbreitung antisemitischer Denkfiguren unter Muslimen als unter den Nichtmuslimen in Mittel-, West- und Nordeuropa.53 Die Verbreitung antisemitischer Sujets unter Muslimen in Deutschland wie auch deren historischer Genese überhaupt hängt jedenfalls mit einer Reihe sehr unterschiedlicher Faktoren zusammen, die sich teilweise untereinander bedingen und beeinflussen. Zu nennen wären hier etwa der Einfluss des Nahostkonflikts und einer essentialistischen Deutung dieses Geschehens, die Agitation islamistischer 51 Ruud Koopmans, »Fundamentalismus und Fremdenfeindlichkeit«, S. 23f. 52 Vgl. ebd., S. 24. 53 Vgl. Günter Jikeli, Antisemitic Attitudes among Muslims in Europe: A Survey Review, in: Charles Asher Small (Hg.), ISGAP Occasional Paper Series, N. 1, Mai 2015; ders., Muslimischer Antisemitismus in Europa. Aktuelle Ergebnisse der empirischen Forschung, in: Marc Grimm/Bodo Kahmann (Hg.), Antisemitismus im 21. Jahrhundert. Virulenz einer alten Feindschaft in Zeiten von Islamismus und Terror, Berlin 2018, S. 120ff; Andreas Zick, »Verbreitung von Antisemitismus in der deutschen Bevölkerung. Ergebnisse ausgewählter repräsentativer Umfragen Expertise für den unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus«, März 2017, S. 60ff, URL: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichun gen/themen/heimat-integration/antisemitismus/antisemitismus-expertisen.pdf ?__blob= publicationFile& v=3 (letzter Zugriff 07. 11. 2018)

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Bewegungen (aber ebenso auch die Nachwehen arabisch-nationalistischer Ideologisierung) und darüber hinaus auch die Verbreitung europäischer und an europäische Denkmuster angelehnte totale54 Verschwörungstheorien.55 Besonders bedeutsam ist auch an dieser Stelle der Hinweis, dass etwa unter nichtmuslimischen Arabern und anderen Ethnien, die im arabischen Raum seit Anfang des 20. Jahrhunderts sozialisiert worden sind, der Antisemitismus keineswegs selten anzutreffen ist.56 Überhaupt sind (totale) Verschwörungstheorien hinsichtlich ihrer Funktion zentral für den modernen Antisemitismus. So ist ein Großteil aller totalen Verschwörungstheorien entweder in sich inhärent und offensichtlich oder aber latent antisemitisch konzipiert.57 Als inhärent und offensichtlich antisemitisch zu betrachten ist etwa das Phantasma der ›jüdischen Weltverschwörung‹ oder überhaupt des ›Weltjudentums‹, wohingegen einige sich derzeit im Umlauf befindliche Verschwörungstheorien insofern als latent antisemitisch zu bezeichnen sind, als dass sie auf Motive des klassischen Antisemitismus zurückgreifen, hierbei jedoch nie den Begriff ›Jude‹ im Munde führen, sondern eher auf verhüllenderes und doppelbödigeres Vokabular zurückgreifen, wie etwa die ›internationale Hochfinanz‹. Diese Entwicklung ist das Produkt einer historischen Entwicklung, an deren Anfang zunächst noch ganz andere Gruppierungen standen, denen man die Absicht oder Realisierung einer globalen Verschwörung unterstellte, namentlich den Freimaurern bzw. Jesuiten.58 Während zu Beginn der Genese dieser Verschwörungstheorien im

54 Das Konzept der totalen Verschwörungstheorie basiert auf der Unterscheidung von Marc Lutter. Darunter zählt bspw. auch die weltweit geläufigste Verschwörungstheorie der ›jüdischen Weltverschwörung‹. Für nähere Informationen zu totalen Verschwörungstheorien siehe Marc Lutter, Sie kontrollieren alles! Verschwörungstheorien als Phänomen der Postmoderne und ihre Verbreitung über das Internet, München 2001, S. 19–20. 55 Vgl. Michael Kiefer, Antisemitismus in den islamischen Gesellschaften. Der Palästina-Konflikt und der Transfer eines Feindbildes, Düsseldorf 2002, S. 44–121; ders., Islamisierter Antisemitismus, in: Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus, Bd. 3, Begriffe, Theorien, Ideologien, Berlin 2010, S. 133–136. 56 Dies betrifft einerseits die historische Entwicklung, bei der orthodoxe (Balkan, Türkei) und arabische Christen eine wesentliche Rolle in der Übersetzung antisemitischer Hetzschriften und deren Verbreitung spielten, wie etwa bei den Protokollen der Weisen von Zion, als auch die zeitgenössische Verbreitung unter den Bevölkerungsgruppen arabischer Länder. Zur Entstehung und Verbreitung des Antisemitismus im ehemaligen Osmanischen Reich und der arabischen Welt siehe Michael Kiefer, Antisemitismus in den islamischen Gesellschaften. Der Palästina-Konflikt und der Transfer eines Feindbildes, Düsseldorf 2002, S. 44–121. 57 Vgl. Juliane Wetzel, Verschwörungstheorien, in: Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus, Bd. 3, Begriffe, Theorien, Ideologien, Berlin 2010, S. 335–337. 58 Siehe zu den historischen Hintergründen von antifreimaurerischen beziehungsweise antiaufklärerischen sowie antijesuitischen Verschwörungstheorien: Ralf Klausnitzer, Poesie und Konspiration. Beziehungssinn und Zeichenökonomie von Verschwörungsszenarien in Publizistik, Literatur und Wissenschaft 1750–1850, Berlin/New York 2007; Claus Oberhauser, Die verschwörungstheoretische Trias: Barruel – Robison – Starck, Innsbruck/Wien/Bozen 2013.

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18. Jahrhundert den Juden selbst noch kein besonderes Interesse galt,59 änderte sich dies ein für alle Mal spätestens ab dem 19. Jahrhundert und gilt fast unverändert bis heute fort.60 Unzählige der heute verbreiteten totalen Verschwörungstheorien vermischen sogar die Freimaurer, Illuminaten, Juden und sogar die katholischen Jesuiten in einen Guss;61 so ist auch die Verwendung von Begrifflichkeiten wie ›Illuminati‹ bzw. ›Freimaurer‹ in der Praxis heutiger Verschwörungstheoretiker zumeist inhärent oder latent antisemitisch konnotiert. Antisemitische Verschwörungstheorien spielen durch die Bank weg eine entscheidende Rolle vieler moderner politischer Bewegungen und Strömungen. Sowohl innerhalb großer Teile der rechten, teilweise auch innerhalb linker Strömungen62 sowie innerhalb der meisten islamistischen Bewegungen heutiger Tage sind sie ein nicht mehr wegzudenkendes Grundmotiv. Als besonders problematisch sind auch jene Formen des Antisemitismus anzusehen, die sich nach außen hin versuchen als legitime Staatskritik darzustellen – wie etwa der sogenannte ›antizionistische Antisemitismus‹ – die aber häufig ebenso von antisemitischen Vorstellungen und entsprechenden Verschwörungstheorien angetrieben werden.63 Dabei wird gegenwärtig besonders von einigen rechtspopu-

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Speziell zu antijesuitischen Verschwörungstheorien siehe Stephan Gregory, Die Fabrik der Fiktionen, S. 68ff. Vgl. ebd., S. 51ff. Vgl. Juliane Wetzel, Verschwörungstheorien, S. 335–337; Matthew Lange, Bankjuden, in: Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus, Bd. 3, Begriffe, Theorien, Ideologien, Berlin 2010, S. 41–42. Zu den Hintergründen dieses Wandels siehe etwa Stephan Gregory, Die Fabrik der Fiktionen, S. 54ff. So etwa beispielhaft an den publizistischen Ergüssen des 2018 verstorbenen Ernst Köwing, besser bekannt als Der Honigmann, ersichtlich, der etwa Angela Merkel als die Tochter Adolf Hitlers, Jüdin, Illuminatin und Jesuitin bezeichnete. Kurz nach dem Tode des wegen Volksverhetzung vorbestraften Köwings wurde dessen Seite vom Netz genommen. Doch sind diese Vermischungen bei der breiten Masse der totalen Verschwörungstheoretiker nicht minder populär. Siehe hierfür exemplarisch Martin Bartonitz, »Zusammenhänge von Jesuiten, Zionisten und Illuminaten«, 22. 10. 2017, https://faszinationmensch.com/2017/10/22/ zusammenhaenge-von-jesuiten-zionisten-und-illuminaten/ (letzter Zugriff 07. 11. 2018), Anders, »Jesuiten 1890 – Führer der jüdischen Elite – schufen zionistisches Werkzeug: den Antisemitismus. Jüdische NWO Elite infiltriert und nutzt Freimaurerei, um Christenheit und westliche Kultur zu vernichten«, 26. 02. 2015, https://new.euro-med.dk/20150226-jesuiten1890-fuhrer-der-judischen-elite-schufen-zionistisches-werkzeug-den-antisemitismus-judi sche-nwo-elite-infiltriert-und-nutzt-freimaurerei-um-christenheit-und-westliche-kulturzu-vernich.php (letzter Zugriff 07. 11. 2018) und der weiteren mehr. Siehe auch Martin Kloke, Linker Antisemitismus, in: Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus, Bd. 3, Begriffe, Theorien, Ideologien, Berlin 2010, S. 192–195; Timo Stein, Zwischen Antisemitismus und Israelkritik. Antizionismus in der deutschen Linken, Wiesbaden 2011. Zu den unterschiedlichen Arten und Ausprägungsformen des antizionistischen Antisemitismus siehe Mario Keßler, Antizionismus, in: Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus, Bd. 3, Begriffe, Theorien, Ideologien, Berlin 2010, S. 22–24; zur antisemitischen

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listischen Akteuren der zumeist unterschwellige Versuch unternommen, die bis heute beobachtbare Verankerung antisemitischer Vorstellungen innerhalb großer Teile der deutschen (nichtmuslimischen) Mehrheitsgesellschaft zu leugnen, indem bewusst die Muslime für einen angeblichen (Re-)Import des Antisemitismus in die deutsche Gesellschaft verantwortlich gezeichnet werden.64 Diese durchsichtige Taktik ist nicht nur angesichts des Holocausts an Dreistigkeit kaum zu überbieten, sondern verkennt auch die Hintergründe der Entstehung des vor allem vom Deutschland der Nachkriegszeit ausgehenden sogenannten sekundären Antisemitismus bzw. Sekundärantisemitismus.65 Außerdem lässt diese These unbeachtet, dass, anders als in den allermeisten Herkunftsregionen hiesiger Muslime mit Migrationshintergrund, antisemitische Diskurse in der deutschsprachigen Öffentlichkeit stark stigmatisiert sind. Das bringt den Antisemitismus in der deutschen Mehrheitsgesellschaft nicht zum Verschwinden, sondern lediglich in dessen Latenz.66 Dennoch wird die Frage der Solidarität zu Israel nicht selten als ein Feigenblatt benutzt, um quasi nicht nur die Freiheit, sondern auch die moralische Verpflichtung zu haben, sich gegen Muslime zu positionieren. Gerade weil man solidarisch mit »den Juden« (lies: Israel, als »einzige Demokratie im Nahen Osten«) sei, müsse man »ihren Feinden«, »den Bespielung des Antizionismus siehe Klaus Holz, Die Gegenwart des Antisemitismus. Islamistische, demokratische und antizionistische Judenfeindschaft, Hamburg 2005, S. 97f. 64 So behauptet dies etwa der AfD-Politiker Georg Pazderski, siehe www.afd.de/georg-pazder ski-deutschland-hat-antisemitismus-importiert/. Dies ist nicht ganz frei von Ironie, wenn man sich vor Augen führt, dass es selbst ein grassierendes Antisemitismusproblem innerhalb der AfD zu geben scheint. Antisemitische Äußerungen und/oder Verstrickungen werden bspw. von den AfD-Politikern Wolfgang Gedeon, Gottfried Klasen und Peter Felser berichtet. Trotz der zahlreichen Medienberichte über antisemitische Äußerungen oder Produktionen dieser Personen behauptet der religionspolitische Sprecher der AfD im Bundestag, Volker Münz, felsenfest, dass es keinen Antisemitismus in seiner Partei gebe. Siehe hierzu Stefan Herlein, »Münz (AfD): ›Ich sehe keinen Antisemitismus in unserer Partei‹«, 6. 10. 2018, URL: https://www.deutschlandfunk.de/kritik-juedischer-verbaende-muenz-afd-ich-sehe-keinen. 694.de.html?dram:article_id=429876 (letzter Zugriff 07. 11. 2018). Wenn Antisemitismus von AfD-Politikern problematisiert wird, dann fast ausschließlich im Zusammenhang mit Muslimen, siehe hierzu besonders Georg Pazderskis öffentliche Agitationen. Dies stellt eine sehr durchsichtige Ablenkstrategie dar. Zur zähen und diskontinuierlich verlaufenden Delegitimation von antisemitischen Vorstellungen, die auch weit nach 1945 noch vorzufinden sind siehe auch Werner Bergmann, Antisemitismus in Deutschland von 1945 bis heute, in: Samuel Salzborn (Hg.), Antisemitismus. Geschichte und Gegenwart, Gießen 2004, S. 51–80. 65 Siehe hierzu Werner Bergmann, Sekundärer Antisemitismus, in: Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus, Bd. 3, Begriffe, Theorien, Ideologien, Berlin 2010, S. 300–302. 66 Heiko Beyer und Ivar Krumpal haben hierzu eine interessante experimentelle Studie mit Probanden aus Deutschland produziert, die sich der Komplexität der Thematik annimmt, dabei ebenso den antizionistischen und sekundären Antisemitismus berücksichtigt und zu einigen sehr spannenden Beobachtungen gelangt. Siehe hierzu Heiko Breyer/Ivar Krumpal, »The Communication Latency of Antisemitic Attitudes: An Experimental Study«, in: Charles Asher Small (Hg.), Global Antisemitism: A Crisis of Modernity, Volume I: Conceptual Approaches, New York 2013, S. 85–99.

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Muslimen«, gegenüber hart und unversöhnlich sein, um kein Verräter der Demokratie, Freiheit und Menschenwürde zu sein. Ein inszenierter Philosemitismus67 gehört daher zum guten Ton vieler islamfeindlicher rechtspopulistischer Bewegungen;68 ganz ungeachtet der Tatsache, dass sich selbst unter diesen scheinbar philosemitischen Bewegungen auch eine signifikante Anzahl antisemitischer Menschenfeinde befindet.69 Vor diesem Hintergrund ist auch der bei vielen islamfeindlichen und populistischen Bewegungen beliebte Narrativ des »jüdisch-christlichen Abendlandes« zu verstehen, welcher eine ahistorische Rückprojektion darstellt, der die Jahrhunderte alte und tief verwurzelte antijudaistische und antisemitische Geschichte Europas zu glätten versucht und lediglich als identifikatorische Abgrenzungsfolie zum Islam und den Muslimen betrachtet werden kann.70 Der Hintergrund für diese Entwicklung liegt zum Teil an einem öffentlichkeitswirksamen Ablenkmanöver im Zuge diskursiver Verschiebungen, zum anderen liegt hierin auch der Wunsch nach politischen Kooperationspartnern innerhalb der israelischen Rechten verborgen. Hiervon wird sich der Erwerb eines politischen ›Persilscheins‹ erhofft, der rechte Positionen auch für die politische Mitte anschlussfähiger macht.71 Auch in linken Bewegungen, wie etwa 67 Der Philosemitimus ist eine totale Spiegelung des Antisemitismus. Während Antisemiten den Juden und jenen, die als solche von ihnen identifiziert werden, unzählige negative Stereotype zuweisen, lehnen Philosemiten diese ab und verbinden mit dem Judentum und als jüdisch markierten Personen durchweg positive Stereotype. Es existieren unterschiedliche Unterformen des Philosemitismus, etwa der christlich-missionarische, der liberal-humanitäre, utilitaristische und sekundäre Philosemitismus. Der sekundäre Philosemitismus ist besonders für den deutschen Kontext der Nachkriegszeit von besonderer Bedeutung, da er eine Art der Schuldabwehr darstellt. Auch wenn der Philosemitismus zunächst vielleicht auf manchen wie eine vernünftige Antwort auf den Antisemitismus erscheinen mag, ist dieser ebenso höchst problematisch, da auch in ihm Juden als ›Andere‹ behandelt werden und es auch hier nicht um jüdische Individuen, sondern um politische symbolische Abstraktionen geht. Vgl. Claudia Curio, Philosemitismus, in: Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus, Bd. 3, Begriffe, Theorien, Ideologien, Berlin 2010, S. 266–268. 68 Vgl. Evelien Gans, »Hamas, Hamas, alle Juden ins Gas« – Die Geschichte und Bedeutung einer antisemitischen Parole in den Niederlanden von 1945 bis 2010, in: Günther Jikeli et al. (Hg.), Umstrittene Geschichte. Ansichten zum Holocaust unter Muslimen im internationalen Vergleich, Frankfurt a.M. 2013, S. 169–172. 69 Siehe Fn. 57. Siehe hierzu außerdem die Gemeinsame Erklärung gegen die AfD, die von mehr als 40 jüdischen Institutionen unterzeichnet worden ist, vgl. Zentralrat der Juden et al., »Gemeinsame Erklärung gegen die AfD. AfD – keine Alternative für Juden!«, o.D., URL: https://www.zentralratderjuden.de/fileadmin/user_upload/pdfs/Gemeinsame_Erklaerung_ gegen_die_AfD_.pdf (letzter Zugriff 07. 11. 2018). Hierin wird die AfD speziell als menschenverachtend, antidemokratisch und in weiten Teilen rechtsradikal sowie als antisemitisch bezeichnet. Zu den Unterzeichnern gehörten u. a. der Zentralrat der Juden, die Allgemeine Rabbinerkonferenz Deutschland, das Rabbinerseminar zu Berlin als auch das Abraham-Geiger-Kolleg. 70 Vgl. Moshe Zuckermann, »›Islamofascism‹«, S. 358. 71 Vgl. Alexander Häusler, Feindbild Muslim, S. 179–182.

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innerhalb der sog. Antideutschen, spielt die dichotome Weltbildkonstruktion zwischen Islamfeindlichkeit und einem zum unhinterfragbaren Glaubensdogma erhobenen (zumeist sekundären) Philosemitismus eine entscheidende Rolle.72 Das Item, das in der WZB-Studie verwendet wurde, um antisemitische Haltungen zu erspüren, kann der ganzen Komplexität der Thematik jedenfalls wahrlich nicht gerecht werden, da hierbei versucht wurde, ein sowohl in Theorie als auch Praxis unglaublich vielschichtiges Phänomen auf ein einziges Frageitem zu reduzieren. Dennoch können die in der Studie erzielten Ergebnisse von größter Relevanz sein, vorausgesetzt jedoch, man ist sich ihrer Aussagekraft bewusst.

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Salafistische Mobilisierung als besondere Bedrohungslage

Die grundsätzliche Bedrohungslage durch fundamentalistische Einstellungen kann jedenfalls nicht geleugnet werden. Besonders problematische Entwicklungen betreffen hier etwa auch eine wachsende Mobilisierung vonseiten des islamischen Extremismus. Die sicherlich bekannteste – und bis dato am stärksten wachsende – Unterform des islamischen Extremismus oder extremistischen Islamismus stellt der Salafismus73 dar. In den vergangenen Jahrzehnten entwickelten sich ganz unterschiedliche Ansätze, die mannigfaltigen Strömungen innerhalb des Salafismus zu kategorisieren. Die bis heute maßgeblichste Definition, auf der auch die meisten späteren Definitionen aufbauen, stammt von dem US-amerikanischen Politologen Quintan Wiktorowicz, der den Salafismus anhand einer divergierenden praktisch-politischen Methodik (manhagˇ)74 in drei Kategorien aufteilt: in die Puristen (alternativ : Quietisten),

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72 Vgl. Claudia Curio, Philosemitismus, S. 268. 73 Im Rahmen dieses Artikels soll der Begriff des Salafismus als eine Art umbrella term auch auf den Wahhabismus angewendet werden. Dies geschieht vor allem vor dem Hintergrund der wechselseitigen Beeinflussung und Durchdringung zwischen dem saudischen Wahhabismus und einem – vor allem heutzutage – stärker international ausgerichteten Salafismus. Dennoch besitzt der saudische Wahhabismus bestimmte Eigenschaften, die ihn von sonstigen salafistischen Bewegungen stark absetzen. Für weitere Informationen vgl. Mohammed Gharaibeh, Zum Verhältnis von Wahhabiten und Salafisten, in: Thorsten Gerald Schneiders (Hg.), Salafismus in Deutschland. Ursprünge und Gefahren einer islamisch-fundamentalistischen Bewegung, Bielefeld 2014, S. 117–124. 74 Wiktorowicz nimmt an, dass sich der Salafismus allgemein anhand dreier Kategorien definieren lasse, von denen die zwei ersten alle salafistischen Bewegungen miteinander teilten: Hinsichtlich ihrer Glaubenslehre ( aqı¯da), ihrer Rechtsmethodologie (usu¯l al-fiqh) und ihrer praktischen Methodik (manhagˇ). Lediglich innerhalb des letzteren erg˙ äben sich laut Wiktorowicz Differenzen, auf deren Basis er in die drei o.g. Kategorien differenziert. Diese Behauptung ist jedoch in ihrer Pauschalität nicht zu stützen, da auch innerhalb der aqı¯da und des usu¯l al-fiqh innerhalb salafistischer Bewegungen eine große Heterogenität vor˙ herrscht. Siehe hierzu auch Mohammad Gharaibeh, Zur Glaubenslehre des Salafismus, in: Behnam T. Said/Hazim Fouad (Hg.), Salafismus. Auf der Suche nach dem wahren Islam,

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die Politicos und die Dschihadisten.75 Die Puristen, so Wiktorowicz, zeichneten sich dadurch aus, dass sie eine radikale Abkehr von sämtlichen politischen Betätigungen fordern, zugunsten einer literalistischen und puristischen Umsetzung dessen, was sie als die Gebote Gottes ausmachen. Der Fokus liegt dabei stets auf dem Individuum. Eine Hinwendung der Gesellschaft zum »wahren Islam« sei nur möglich, wenn alle Muslime von selbst, durch innere Läuterung und daraus folgenden Handlungen, zu diesem zuerst zurückfänden. Die Politicos wiederum verfolgen die Absicht, mithilfe konkreter politischer Mittel (etwa Proteste, Kundgebungen, aber auch Wahlen o. ä. sind möglich) die Gesellschaft als Ganzes nach ihren Vorstellungen zu »islamisieren«. Mit dem Begriff des Dschihadisten werden wiederum jene bezeichnet, welche die beiden ersten Formen aus unterschiedlichen Gründen ablehnen und als Mittel der Wahl einen offensiven, bewaffneten Kampf propagieren, der die asymmetrische Kriegsführung inklusive Attenate miteinschließt.76 Auch wenn es manch einem außenstehenden Beobachter so erscheinen mag, entstanden diese Gruppierungen nicht ex nihilo. Den Zahlen des Bundesverfassungsschutzes zufolge betrug die Zahl der Salafisten in Deutschland im Jahr 2011 bereits 3800 Personen,77 die sich bis zum September 2017 wiederum auf 9700 Personen gesteigert habe.78 Der Bundesverfassungsschutz geht wiederum von etwa 10 300 Salafisten für den Stand vom September 2017 aus, etwa 20 % davon seien wiederum derzeit in Haft.79 Das Bundeskriminalamt geht derzeit

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Freiburg i.Br. 2014, 108ff; Justyna Nedza, »Salafismus« – Überlegungen zur Schärfung einer Analysekategorie, in: ebd., S. 90ff; Bacem Dziri, »Das Gebet des Propheten, als ob Du es sehen würdest« – Der Salafismus als »Rechtsschule« des Propheten?, in: ebd., S. 143ff; Joas Wagemakers, Salafistische Strömungen und ihre Sicht auf al-wala’ wa-l bara’ (Loyalität und Lossagung), in: ebd., S. 55f. Quintan Wiktorowicz, »The Anatomy of the Salafi Movement«, in: Studies in Conflict & Terrorism, Vol. 29, H. 3, 2006, S. 207ff. Diese Einteilung ist jedoch auch idealtypisch zu verstehen, Mischfiguren sind nicht selten. So klassifiziert etwa Joas Wagemakers Abu¯ Muhammad al-Maqdisı¯ als eine Mischform aus dem ˙ puristischen/quietistischen und dem dschihadistischen Typus, da dieser zwar Selbstmordattentate und Terroranschläge theoretisch für legitim hält, diese in der Praxis jedoch ablehnt, da sie den Muslimen international schaden würden. Politische Agitation im Sinne der Politicos lehnt er hingegen entschieden ab und betrachtet Demokratie – selbst wenn sie nur als Mittel zum Zweck benutzt werde – als eine Form des Götzendiensts (sˇirk). Vgl. Joas Wagemakers, A Quietist Jihadi. The Ideology and Influence of Abu Muhammad al-Maqdisi, Cambride 2012. Vgl. Verfassungsschutz, »Verfassungsschutzbericht 2011«, S. 251, URL: http://dx.doi.org/10. 15496/publikation-4678 (letzter Zugriff 14. 05. 2018). Vgl. Verfassungsschutz, »Verfassungsschutzbericht 2016«, S. 160, URL: www.bmi.bund.de/ SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/verfassung/vsb-2016.pdf (letzter Zugriff 14. 05. 2018). Vgl. Verfassungsschutz, »Salafistische Bestrebungen«, URL: www.verfassungsschutz.de/de/ arbeitsfelder/af-islamismus-und-islamistischer-terrorismus/was-ist-islamismus/salafisti sche-bestrebungen (letzter Zugriff 14. 05. 2018).

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(Stand: März 2018) von etwa 760 Gefährdern aus dem islamistisch-extremistischen Bereich aus.80 Während die Anhängerzahlen der anderen islamistischen Bewegungen seit Jahren stagniert und teilweise sogar rückläufig ist, verzeichnet die salafistische – und darunter insbesondere auch die dschihadistische – Szene also seit Jahren einen stetigen, augenscheinlich ungebrochenen Zuwachs.81 Diesen Zahlen gehen jahrelange, teils jahrzehntelange Bemühungen seitens der Anwerber voraus, vor allem junge Menschen, die sich auf Sinnsuche befinden, durch die Bereitstellung eines in sich abgeschlossenen Sinnangebots mit festen sozialen Regeln und oft flachen Hierarchien, für sich zu gewinnen. Zu Beginn der salafistischen Agitation in Deutschland ungefähr in den späten 1990er-Jahren waren es jedoch zunächst nur Puristen und Politicos, die in Deutschland aktiv waren.82 Zwar gab es über die Jahre auch sehr vereinzelt bereits dschihadistische Netzwerke, die al-Qaida nahestanden, doch änderte sich dies ein für alle Mal erst mit dem Beginn des Arabischen Frühlings im Jahre 2014.83 Ab diesem Zeitpunkt begann sich zunehmend auch eine eigene Jugendkultur um den Dschihadismus zu bilden, die eine besondere Anziehungskraft in der salafistischen Mobilisierung auszustrahlen scheint.84 Der Anstieg dschihadistischer Beeinflussung innerhalb der salafistischen Szene in Deutschland äußert sich auch in der gestiegenen Bedrohungslage durch Attentate und Attacken. Zwar gab es seit dem Jahr 2000 bereits eine Vielzahl von Anschlagsversuchen, die jedoch bis zuletzt selten nach Plan verliefen. Im Jahr 2011 kam es durch die Ermordung zweier USSoldaten erstmals zu einer realen Wahrnehmung religiös-extremistischer Terrortaten, die nicht schon in der Planungsphase vereitelt wurden. Seit dem Jahr 2016 hat sich die Gefahr religiös-extremistischen Terrors in Deutschland zugespitzt: Über das ganze Jahr verteilt kam es zu vier verschiedenen Attacken und Attentaten in Deutschland, die ihrerseits einen wie auch immer gearteten Bezug zum IS aufwiesen. Eine besondere Bedrohungslage geht vor allem durch die dem IS-Kampfgebiet zurückgereisten Personen hervor, wie etwa der Anschlag auf das Jüdische Museum in Brüssel zeigte. Seit 2012 sind (zum Stand 18. September 2018) bereits mehr als 1000 deutsche Dschihadisten in syrische und irakische Kriegsgebiete ausgereist, von denen etwa ein Drittel bereits wieder nach Deutschland zurückgekehrt ist. Mehr als ein Fünftel dieser ausgereisten Dschi80 Vgl. ZDF, »Laut Bundeskriminalamt rund 760 Gefährder in Deutschland«, URL: www.zdf.de/ nachrichten/heute/laut-bundeskriminalamt-rund-760-gefaehrder-in-deutschland-100. html (letzter Zugriff 11. 05. 2018). 81 Vgl. Verfassungsschutz, »Verfassungsschutzbericht 2017«, S. 167, 172f. 82 Vgl. Nina Wiedl, Geschichte des Salafismus in Deutschland, in: Behnam T.Said/Hazim Fouad (Hg.), Salafismus. Auf der Suche nach dem wahren Islam, Freiburg i.Br. 2014, S. 411–441. 83 Vgl. ebd. 84 Vgl. Rauf Ceylan, Zur Kontextualisierung des Untersuchungsgegenstandes, in: Michael Kiefer et al., »Lasset uns in sha’a Allah ein Plan machen«, Wiesbaden 2018, S. 17ff.

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hadisten ist weiblich, insgesamt liegt der Altersdurchschnitt unter 30 Jahren.85 Auch wenn bislang keiner dieser Rückkehrer in Deutschland terroristisch aktiv geworden ist, so lässt sich die besondere Bedrohungslage durch sie nicht leugnen. Der Verfassungsschutz beobachtet daher auch Rückkehrer als potentielle Gefährder. Doch wie kommt es überhaupt zu diesem Anstieg an religiösem Extremismus in Deutschland? Im populären Diskurs wie auch in der wissenschaftlichen Literatur existieren die unterschiedlichsten Erklärungsmodelle, welche es sich auf die Fahnen geschrieben haben, Radikalisierungsprozesse erklären zu wollen. Einige davon konzentrieren sich eher auf die Ebene ideologischer Mobilisierung,86 andere auf makro-, mikro- oder sonstige mesosoziologische Komponenten. Dabei müssen sich diese Ansätze weder gegenseitig ausschließen noch ist es sinnvoll, den einen Ansatz als dem anderen pauschal für überlegen zu halten, da die Gründe für die Radikalisierung bei jedem Individuum anders gelagert sind. Als von Ideologie unabhängige und häufig wiederkehrende Überschneidungen innerhalb extremistischer Milieus zeigen sich dabei unter anderem eine autoritäre Erziehung und eine gewalttätige Vorgeschichte in der Familie, ebenso labile Persönlichkeitsstrukturen und Diskriminierungserfahrungen, die dann im Zuge einer Aufwertungsideologie mit nur scheinbar legitimer Aggression heimgezahlt werden können.87 Radikalisierung ist ein Zusammenspiel von individuellen Persönlichkeits- und Sozialisationsfaktoren sowie von Gelegenheitsstrukturen, wie etwa bestehende Bekanntschaften in die Szene. Es lässt sich kein bestimmter Auslöser festmachen, der den anderen überwiegen würde. Außerdem sollte von einer bis weit in die 1970er-Jahre in wissenschaftlichen Publikationen gängigen und bis heute im populären Diskurs immer wiederkehrenden Pathologisierung der Radikalen gewarnt werden, da dies empirisch offenbar nicht haltbar ist.88 Das Knüpfen von Kontakten zu vormals Nichtradikalen ist jedoch vonseiten der Anwerber gewollt und teilweise geplant. Es findet eine regelrechte Rekru85 Vgl. Verfassungsschutz, »Islamistisch motivierte Reisebewegungen in Richtung Syrien/Irak«, o.D., URL: https://www.verfassungsschutz.de/de/arbeitsfelder/af-islamismus-und-islamisti scher-terrorismus/zahlen-und-fakten-islamismus/zuf-is-reisebewegungen-in-richtung-sy rien-irak (letzter Zugriff 07. 11. 2018). 86 Beispielsweise Asef Bayat in seinem wegweisenden Artikel über die Analyse der ideologischen Mobilisierung islamistischer Bewegungen, der auf den Ansätzen der Social Movement Theory basiert. Siehe Asef Bayat, »Islamism and Social Movement Theory«, in: Third World Quarterly, Vol. 26, H. 6, 2005, S. 891–908. 87 Vgl. Claudia Dantschke, Da habe ich etwas gesehen, was mir einen Sinn gibt. Was macht Salafismus attraktiv und wie kann man diesem entgegenwirken?, in: Behnam T. Said/Hazim Fouad (Hg.), Salafismus. Auf der Suche nach dem wahren Islam, Freiburg i.Br. 2014, S. 481–489. 88 Vgl. Paul Gill/Emily Corner, »There and Back Again: The Study of Mental Disorder and Terrorist Involvement«, in: American Psychologist, Vol. 72, H. 3, 2017, S. 239.

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tierung durch politische Salafisten statt, die oft nach den gleichen Mustern verfährt. Sie suchen gezielt nach Personen, auf welche die genannten Kriterien zutreffen. Dies betrifft in besonderem Maße jugendliche Muslime, die in ihrer Suche nach Identität von den Salafisten in ihrer »muslimischen Identität« gestärkt werden, und damit einen Moment der Aufwertung gegenüber erlebten oder imaginierten Diskriminierungserfahrungen bieten. Die Anwerbung durch Dschihadisten folgt dabei einem sehr speziellen Muster, das auf den Personentyp abgestimmt ist, der sich vom Dschihadismus angezogen fühlt. Dabei suchen zahlreiche Dschihadismus-Sympathisanten nicht unbedingt nach einem ideologischen Halt als vielmehr nach Abenteuer, Anerkennung und materiellen Gütern.89 Die Motivation ist daher häufig weniger religiös geprägt, als es nach außen hin den Anschein macht. Gerade der IS (›Islamischer Staat‹) hat es perfektioniert, diesen Typus für sich zu gewinnen und ihm eine Erfolgsaussicht zu bieten. Aufgrund der geringeren Bedeutung ideologischer Komponenten vollzieht sich der Radikalisierungsprozess bei dieser Strömung des Salafismus daher auch für gewöhnlich deutlich schneller als bei politischen Salafisten. Ist man sich nun all diesen Hintergründen bewusst, stellt sich unweigerlich die Frage nach der richtigen Umgangsweise mit diesen problematischen Entwicklungen. Dabei muss in verschiedene Formen der (staatlichen) Repression – wie etwa die Überwachung von Gefährdern und Ausreiseverbote –, Intervention und Prävention unterschieden werden. Intervention bezieht sich im Gegensatz zu Prävention grundsätzlich auf bereits radikalisierte Menschen, die Prävention soll entsprechend ihrer Namensgebung eine Radikalisierung wiederum bereits vor dem Entstehen verhindern.90 Im Bereich der Intervention gibt es zum gegenwärtigen Standpunkt nur wenige handfeste Projekte – oft mangelt es an strukturellen Zugangsvoraussetzungen, aber auch an Personal, das sowohl pädagogisch als auch islamwissenschaftlich oder theologisch gut ausgebildet ist. Eine zentrale Brückenfunktion können daher in Zukunft speziell ausgebildete religionspädagogische Sozialarbeiter hierbei einnehmen. Doch auch darüber hinaus gibt es eine Reihe weiterer Ansätze, die diskutiert werden können und müssen. In diesem Zusammenhang sollte es jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass glaubwürdige Handlungsansätze auch einen seinerseits glaubwürdigen Staat erfordern. Vielen radikalisierten Menschen, die meinen, für das Richtige zu kämpfen, fällt auch die wiederkehrende Doppelzüngigkeit westlicher Staaten auf, wenn sie sich etwa gegen Terrorismus aussprechen, aber Staaten wie Saudi-

89 Vgl. Ralf Altenhof/Sarah Bunk/Melanie Piepenschneider, Politischer Extremismus im Vergleich, Berlin 2017, S. 34. 90 Vgl. Michael Kiefer, Radikalisierungsprävention in Deutschland – ein Problemaufriss, in: Ahmet Toprak/Gerrit Weitzel (Hg.), Salafismus in Deutschland, Wiesbaden 2017, S. 132f.

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Arabien unterstützen, die aufgrund eigener Machtpolitik ihre Nachbarländer bekriegen oder zu destabilisieren versuchen. Diese Entwicklungen und Gefahren für die deutsche Gesellschaft dürfen ebenso wenig ausgeblendet wie die Gefahren der Islamfeindlichkeit ignoriert werden, denn ganz im Gegenteil: Was ausgeblendet wird, das wächst. Zweifelsohne gibt es Sexisten, antisozialistische Judenhasser, Extremisten, Fanatiker, antidemokratische Totalitaristen und verblendete Gewaltverherrlicher auch unter Muslimen, jedoch sind jegliche Pauschalisierungen mit dem Ziel der Kollektivierung aller Muslime sowie einer subtilen Schuldzuweisung mit oder ohne Fokussierung auf den Islam selbst Gift für den gesellschaftlichen Frieden, denn dies würde eine Stärkung eben dieser abseitigen Ränder bedeuten. Durch PEGIDA und Gesinnungsgenossen darf trotz aller berechtigten Kritik religiösen Extremisten kein unzulässiger Anteil an politischen Diskursen gegeben werden. Es muss sichtbar und verständlich werden, wo die Denkfehler liegen. Eine aufgeklärte, mündige demokratisch verfasste Gesellschaft hat zwischen frommen, religiösen Menschen, deren Freiheiten in diesem Bereich zu den elementaren Menschenrechten gehören, und den Fanatikern, die den Islam als Glaube entstellen und pervertieren, zu unterscheiden. Dies zeigt sich besonders darin, dass die größten Leidtragenden dieses religiös gekleideten Extremismus und Wahns, der sich unter anderem in Terroranschlägen manifestiert, die Muslime selbst sind.91 In den Kernländern sterben sie zu Millionen, sie müssen ihre Wohnorte verlassen, werden vergewaltigt, sterben auf der Flucht, und nicht wenige sind auch deswegen zu Waisen geworden. Die gesamte Infrastruktur ist zerstört.

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Gelebte und gefühlte Religion im Kontext des säkularisierten Europas

Bei all dieser Hassrhetorik, Politisierung und Essentialisierung geht der Blick darauf völlig verloren, dass Religionen nicht nur in ihren Äußerungsformen vielschichtig sind, sondern eine Bedeutung in sich tragen, die auch allgemein im Europa der heutigen Zeit gerne hin und wieder vergessen wird. Zu häufig wird Religion, wie sämtliche Ausprägungen menschlicher Kultur, zuvorderst unter Aspekten der ökonomischen Nutzbarmachung betrachtet. Doch gerade hier gilt es zu betonen, dass die monotheistischen Religionen mit ihrem transzendentalen Bezug auch in den Zeiten von ökonomischen Optimierungszwängen einen Eigenwert behalten, der nicht primär in Kategorien von Nützlichkeit und Funktionalität zu denken ist. Im Gegensatz zu der im 20. Jahrhundert verbrei-

91 Vgl. Rüdiger Lohlker, Theologie der Gewalt. Das Beispiel IS, Wien 2016, S. 9.

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teten Säkularisierungsthese, nach der in der modernen Gesellschaft die Glaubensüberzeugungen permanent schwächer würden und immer weniger Einfluss auf kulturelle und politische Geschehnisse ausübten, ist die Religion – insbesondere der Islam – trotzdem nicht aus dem Alltag der Menschen im 21. Jahrhundert verschwunden. Ohnehin steht diese Meistererzählung auch ein wenig im Dienst einer Selbstberuhigung der säkularisierten europäischen Eliten.92 Tatsächlich hat sie zumindest auf den ersten Blick in den letzten Dekaden weltweit an Bedeutung gewonnen. Nicht umsonst wird auch an dieser Stelle von einigen Denkern wie etwa Martin Riesebrodt von einer »Rückkehr der Religionen« gesprochen. So führt die große Mehrheit der derzeit in Deutschland lebenden Muslime ihr Leben weiterhin in einer religiösen Verbundenheit. So ergab die Erhebung des Religionsmonitors 2017 auch, dass 50 % der deutschen Muslime als mittelreligiös und 40 % als hochreligiös einzustufen seien – im Kontrast zu 50 % mittel religiösen und 16 % hochreligiösen deutschen Nichtmuslimen.93 Allerdings sind immer weniger Menschen in der modernen Gesellschaft in Liturgie und Lehren des Islam eingebunden. Es zeigt sich häufig, dass viele Menschen nicht mehr über elementare Kenntnisse religiöser Traditionen verfügen und sich eine – mal schleichende, mal offene – sukzessive Verweltlichung, und damit einhergehend auch eine Pluralisierung religiöser Lebensentwürfe, in der Bevölkerung verbreitet. Dies zeigt sich auch in einer zunehmenden religiösen Individualisierung (Stichwort: »Patchwork-Religion«), die ebenfalls mit einer weitgehenden Relativierung traditioneller religiöser Lebenswürfe einhergeht. Die gegenwärtige empirische Studienlage deutet jedoch daraufhin, dass sich von dieser Individualisierung vor allem Menschen angesprochen fühlen, die sich den Kirchen nicht vollkommen abgewandt haben und diesen rituellen Praktiken, nicht aber ihre individuelle Lebensgestaltung und Spiritualität überlassen möchten.94 Die in unserer demokratischen Verfassung gewährleistete Religionsfreiheit ermöglicht es jedem Individuum, jedwede religiöse Einstellung einzunehmen und auszuleben. Diese Palette der Möglichkeiten kann jedoch auch den oben erwähnten fundamentalistischen Ideologien in die Hände spielen, da diese klare, verlässliche Strukturen und weitestgehend widerspruchsfrei wirkende Interpretationsrahmen aufweisen – ganz im Gegensatz zu dem unübersichtlichen und vielfältigen Markt der Religionen. 92 Vgl. Jos8 Casanova, Europas Angst vor der Religion, Berlin 2009, S. 8–16; ders., »Secular Imaginaries: Introduction«, in: International Journal of Politics, Culture and Society, Vol. 21, H. 1/4, 2008, S. 1–4. 93 Vgl. Religionsmonitor 2017, »Muslime in Europa – integriert aber nicht akzeptiert?«, S. 36. 94 Vgl. Gert Pickel, Religionssoziologie. Eine Einführung in zentrale Themenbereiche, Wiesbaden 2011, S. 191–192; außerdem vgl. Detlef Pollack/Gert Pickel, »De-Institutionalisierung des Religiösen und religiöse Individualisierung in Ost- und Westdeutschland«, in: KZfSS, 55 (2003), S. 454 u. 460–461.

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Auch wenn sich an diesem Umstand vermutlich einmal mehr die tiefe Widersprüchlichkeit und Janusköpfigkeit der (Post-)Moderne zeigt, so kann selbstverständlich nicht außer Acht gelassen werden, dass diese Art der religiösen Ausdrucksform zwar global zu wachsen scheint, jedoch auf wenig Gegenliebe stößt. Dies betrifft nicht nur islamischen Fundamentalismus, sondern ebenso auch die christlichen Evangelikalen, orthodoxe jüdische Bewegungen ebenso wie Strömungen in den anderen Weltreligionen. Der Fundamentalismus bietet mit seinem immanenten Rückbezug und seinen scheinbar völlig unverrückbaren Traditionen nicht nur einen Gegenpart zu den unüberblickbaren rasanten Entwicklungen in heutigen Zeiten, sondern auch einen festen Orientierungspunkt und ein in sich geschlossenes Sinnangebot. Fundamentalistische Gemeinschaften bieten Stabilität, eine feste Einbindung in eine ideelle Gemeinschaft, einfache Weltbilder, schlichte Erklärungen und leicht nachvollziehbare Lösungsansätze. Die faktische Komplexität unseres Zeitalters erfährt hier eine für den Einzelnen entlastende, aber unzulässige Reduktion.

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Empirische Erhebungen zu Integration und Diskriminierung der Muslime in Deutschland und Europa

Wenn es also darum geht, Islamfeindlichkeit theoretisch und empirisch zu erforschen, so gilt es auch im gleichen Atemzug, mehr empirische Forschung zu den Haltungen der hier lebenden Muslime in Bezug auf bestimmte gesellschaftliche und theologische Streitthemen auf den Weg zu bringen. So kann eine Argumentationsgrundlage zeigen, was Muslime in Deutschland wirklich denken und welche Position sie einnehmen. Hier zeigt sich die Forschungslage noch als weit ausbaufähig. Neben den bereits eingangs erwähnten Studien lassen sich an dieser Stelle auch die Ergebnisse des Religionsmonitors 2017 diskutieren, der sich besonders der Integrationsfrage verschrieben hat, ebenso wie hier die Sonderauswertung des Religionsmonitors 2015 (Bertelsmann-Stiftung) zu nennen ist, der anführt, dass 90 % der »hochreligiösen sunnitischen Muslime« die Demokratie für eine »gute Regierungsform« hielten. Die Zustimmungswerte der mittel- und weniger religiösen Sunniten entsprechen diesem Befund weitgehend. Bei derselben Befragung gaben ebenfalls 93 % der hochreligiösen sunnitischen Muslime an, dass eine Offenheit gegenüber allen Religion gelten sollte. Während diesen Ergebnissen zufolge der Großteil der »hochreligiösen« sunnitischen Muslime als aufgeklärt, kontaktfreudig und vorurteilsfrei zu gelten habe, trifft dies offenbar bei Weitem nicht auf die nichtmuslimische Mehrheitsbevöl-

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kerung zu, wie deren Antwortverhalten hinsichtlich der Frageitems zu Bedrohungsgefühlen durch muslimische Mitbürger zeigt.95 Auch die Ergebnisse des Religionsmonitors 2017 zeigen, dass diese Bekenntnisse zu Offenheit und Toleranz keine Lippenbekenntnisse sind. Im Fokus dieser Studie lagen die Länder Deutschland, Österreich, Schweiz, das Vereinigte Königreich und Frankreich. Um nach der Erörterung dieser Vorbedingungen zu erforschen, wie sich das Integrationsverhalten der Muslime in Europa tatsächlich darstellt, untersuchten die Forscher des Religionsmonitors 2017 die Sozialintegration der Muslime, die theoretisch auf der Unterscheidung von David Lockwood basiert. Lockwood unterschied einerseits in Sozial- und andererseits in Systemintegration. Sozialintegration bezeichnet die »individuell[e] Perspektive sozialen Handelns«96, während die Systemintegration die systemische Dimension behandelt, wie dies etwa durch globalisierte Märkte und Nationalstaaten geschieht. Wichtig ist diese Trennung vor dem Hintergrund, da bei ungenügender Differenzierung zwischen diesen beiden Sphären leicht der Eindruck entstehen kann, dass bestimmte Individuen oder Gruppen sehr gut in die Gesellschaft integriert seien, dies allerdings beispielsweise nur auf einer wirtschaftlichen, nicht aber auf einer sozialen Stufe der Fall sein mag. Dieses Konzept wurde von Hartmut Esser maßgeblich weiterentwickelt und von den Autoren des Religionsmonitors 2017 aufgegriffen. Esser unterschied in vier zentrale Dimensionen der Sozialintegration: die Akkulturation, die Platzierung, die Interaktion und die Identifikation. Akkulturation meint hier eine kognitive Integration, also den Erwerb von Sprache, Bildungskapital und Ähnlichem. Platzierung bedeutet die strukturelle Integration, das heißt die Einnahme höherer beruflicher, wirtschaftlicher und sozialer Positionen, was vor allem an Arbeit und Einkommen gemessen wird. Mit Interaktion ist der (regelmäßige) Umgang von Minderheiten mit der Mehrheitsgesellschaft gemeint. Identifikation bezieht sich auf die Identifikation mit dem Aufnahmeland beziehungsweise die Aufnahmegesellschaft.97 Zur Überprüfung der ersten Dimension, der Akkulturation, fragten die Forscher danach, ob die Sprache der Aufnahmegesellschaft die erste Sprache war, die im Kindesalter gelernt wurde. Dabei wurden die Antwortmöglichkeiten »ja« und »ja, aber gemeinsam mit einer anderen Sprache« zu einem einfachen »ja« zusammengefasst. Wichtig ist dieses Item, da die Akkulturation gewissermaßen die erste Grundbedingung für eine gelungene Integration in die Mehrheitsgesellschaft darstellt, da hier nicht nur Zugangsbedingungen wie sprachliche Fä95 Vgl. Michail Logvinov, Muslim- und Islamfeindlichkeit in Deutschland: Begriffe und Befunde im europäischen Vergleich, Wiesbaden 2017, S. 13. 96 Religionsmonitor 2017, Muslime in Europa, S. 24. 97 Vgl. ebd.

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higkeiten, sondern überhaupt auch ein gewisses Grundverständnis der sozialen Regeln der Mehrheitsgesellschaft angedacht sind. Dieses ist wiederum nur durch den Erwerb der Landessprache zu beziehen, da Interaktion maßgeblich über Sprache erfolgt. Während die erste Migrantengeneration in Deutschland nur zu 23 % angab, die Landessprache in der frühen Kindheit gelernt zu haben, so sind es in der zweiten Generation bereits 73 %. Am schlechtesten war das Ergebnis für die Schweiz: 22 % in der ersten und 57 % in der zweiten Generation. Die französischen Muslime wiederum, die auch bedingt durch die koloniale Vorgeschichte ihrer überwiegenden Herkunftsländer einen gewissen Heimvorteil besitzen, gaben in der ersten Generation mit 57 % und in der zweiten Generation mit 93 % an, die Landessprache bereits in der frühen Kindheit erworben zu haben..98 Dies deutet auf eine erstaunlich hohe Akkulturation hin. Bezüglich der Arbeitsmarktintegration schlossen die Forscher mit dem Ergebnis, dass es keinen signifikanten, pauschalen Unterschied zwischen Muslimen und Nichtmuslimen in Bezug auf die Arbeitstätigkeit gäbe. So sind nur einzelne länderspezifische Unterschiede in der Verteilung von Teilzeitjobs und Vollzeitarbeitstätigkeit sowie geschlechtsspezifische Unterschiede zu sehen, die in sich allerdings alle nicht sehr signifikant seien. Die Aufteilung von Arbeitsverhältnissen und Arbeitslosigkeit ist im Falle von Deutschland beispielsweise unter Muslimen wie Nichtmuslimen nahezu identisch. Beträchtlich scheint der Unterschied nur unter den französischen Muslimen zu sein: Hier sind etwa nur 52 % der Muslime in Vollzeitbeschäftigung tätig, jedoch 67 % der Nichtmuslime. Auch im Falle der Arbeitslosigkeit lässt sich ein ähnliches Ergebnis sehen: Ganze 14 % der französischen Muslime sind arbeitslos, jedoch nur 8 % der Nichtmuslime. Insgesamt jedoch lässt sich kein länderübergreifender Trend festmachen und fraglich ist, inwieweit diese Ergebnisse selbstverschuldet oder das Ergebnis struktureller Benachteiligung oder rassistischer Praktiken sind. An dieser Stelle sind sicherlich auch die Ergebnisse derselben Studie bezüglich Diskriminierungserfahrungen von Bedeutung. Hierfür wurden die Probanden gefragt, ob sie sich an ein Ereignis erinnern können, bei dem sie etwa von offiziellen Stellen oder am Arbeitsplatz in den letzten zwölf Monaten diskriminiert worden seien – wichtig ist diese Fragestellung vor diesem Hintergrund, da Diskriminierung im Einzelfall nicht objektiv messbar ist und letztlich auch vielmehr die Empfindung von Diskriminierung auf das Integrationsverhalten der Betroffenen Einfluss nimmt. Die Befragten wurden gebeten, anzugeben, ob sie sich in den letzten zwölf Monaten etwa bei Amtsgängen, Bewerbungen, etc. diskriminiert gefühlt haben. Grundsätzlich ist festzustellen, dass die Empfindung, in den vergangenen zwölf Monaten nie diskriminiert worden zu sein, bei beiden Generationen in etwa gleich verteilt ist und nur geringfügig voneinander 98 Vgl. ebd., S. 28.

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abweicht. In der Regel fühlt sich die zweite Generation etwas häufiger diskriminiert. Die Autoren der Studie führen dies darauf zurück, dass einerseits das Problembewusstsein bei der zweiten Generation aufgrund einer besseren Anbindung an die Mehrheitsgesellschaft deutlicher zu spüren sei und andererseits diese überhaupt viel eher versuchen würden, ihren angestammten sozialen und wirtschaftlichen Platz für einen besseren zu verlassen. Den besten Wert erreichen hier die Eidgenossen mit 65 %, die angaben, nicht diskriminiert worden zu sein – 66 % in der ersten und 63 % in der zweiten Generation. Weit abgeschlagen liegt hier Österreich: Nur 32 % in der ersten und 33 % in der zweiten Generation gaben an, in den letzten zwölf Monaten nicht diskriminiert worden zu sein. Das Ergebnis für Deutschland wiederum liegt nahe an dem der Schweiz: 64 % in der ersten und 62 % in der zweiten Generation gaben an, in den letzten zwölf Monaten nicht Opfer von Diskriminierungspraktiken geworden zu sein.99 Auch wenn – bis auf Österreich – die Ergebnisse recht positiv ausfallen, besteht dennoch die Frage, ob der Zeitraum von zwölf Monaten geeignet ist, um strukturelle Diskriminierung passend einzufangen, da Wohnungssuche, Arbeitsplatzwechsel und Amtsgänge eher selten alle in diesen Zeitraum fallen. In Bezug auf die dritte Sozialdimension nach Hartmut Esser, der Interaktion, zeigen Muslime den Ergebnissen der Studie zufolge allgemein ein recht hohes Maß an interreligiösen Kontakten, wobei aufgrund der Fragestellung der Studie nicht pauschal gesagt werden kann, dass diese interreligiösen Kontakte tatsächlich zu Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft bestehen. Allerdings eignet sich das Ergebnis dennoch, um ein weitverbreitetes Vorurteil, nämlich, dass Muslime vornehmlich »unter sich« blieben und den Anhängern anderer Religionen pauschal mit Ablehnung begegnen würden, zu entkräften. Auch hier nehmen die Eidgenossen wieder den besten Platz ein: Ganze 87 % der ersten und 88 % in der zweiten Generation gaben an, eher bis sehr häufig in ihrer Freizeit Kontakte zu den Angehörigen anderer Religionen zu pflegen. Die deutschen und französischen Muslime liegen direkt dahinter auf dem zweiten Platz mit jeweils 78 %, wenn man beide Generationen zusammenrechnet – in der ersten Generation sind es 73 % (Deutschland) beziehungsweise 74 % (Frankreich) und 84 % (Deutschland) beziehungsweise 82 % (Frankreich) in der zweiten. Am schlechtesten schneiden auch hier wieder die österreichischen Muslime ab: Nur 57 % der ersten Generation gaben an, in ihrer Freizeit eher bis sehr häufig Kontakte zu Nichtmuslimen zu pflegen. In der zweiten Generation wuchs die Zahl zwar schon auf 70 %, aber es ergibt sich mit einem Mittelwert von 62 % eine recht geringe Zahl. Ob die geringe Anzahl an interreligiösen Kontakten ursächlich für eine größere Ablehnung seitens der Mehrheitsgesellschaft ist, welche sich wiederum anhand der Diskriminierung beobachten lässt, oder ob das 99 Vgl. ebd., S. 37.

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Gegenteil der Fall ist, können die Autoren der Studie nicht festmachen. Generell ist aber bei allen Ländern ein leichter bis mittlerer Anstieg an nichtmuslimischen Kontakten in der zweiten Generation festzustellen.100 Die Forscher überprüften weitergehend neben den Freizeitkontakten an und für sich auch die interreligiöse Durchmischung des Freundeskreises selbst der Muslime. In der Studie dargestellt wurde die Anzahl an prozentualen Fällen, die angaben, dass ihr Freundeskreis mindestens zur Hälfte aus Nichtmuslimen bestünde. Den höchsten Wert erreichen die Schweizer Muslime: 77 % in der ersten und 76 % in der zweiten Generation bestätigen diesen Befund. Deutschland liegt in einem Mittelfeld von 64 % in der ersten und 63 % in der zweiten Generation. Das schlechteste Ergebnis liefert das Vereinigte Königreich: Hier sagten nur 50 % der befragten Muslime über sich aus, dass ihr Freundeskreis mindestens zur Hälfte aus Nichtmuslimen bestünde – 39 % in der ersten, dafür aber mit einem beachtlichen prozentualen Anstieg ganze 57 % in der zweiten Generation.101 Zur Überprüfung der vierten Dimension, der Identifikation, fragten die Forscher nach der individuellen Verbundenheit mit dem Aufnahmeland. Dies ist bedeutsam vor dem Hintergrund, dass alle die eingangs genannten Items zwar ein gewisses Bild abgeben, allerdings keine Aussage darüber treffen können, wie es um das allgemeine Identitätsgefühl der jeweiligen Muslime bestellt ist. Eine niedrige Identifikation bei gleichzeitig guten Ausgangsbedingungen der anderen Sozialdimensionen würde sicherlich ebenso viel über zugrundeliegende Dynamiken verraten wie auch eine hohe Identifikation bei seinerseits schlechteren Ausgangsbedingungen. Auch die Abnahme einer Identifikation mit dem Aufnahmeland in der zweiten Generation wäre ein ausdrücklicher Hinweis auf problematische Entwicklungen – wie es sich beispielsweise nur im Falle Frankreichs belegen lässt. Während in allen Fällen der betrachteten europäischen Länder von der ersten auf die zweite Generation die Identifikation der Befragten prozentual ansteigt, so verzeichnet die Identifikation im Falle Frankreichs einen Rückgang von 99 % in der ersten Generation auf 92 % in der zweiten. Für die Schweiz und Deutschland liegen die prozentualen Werte in beiden Generationen über 95 % (Deutschland 96 %, Schweiz 98 %). Großbritannien verzeichnet einen Anstieg von 87 % in der ersten Generation auf 90 % für die zweite. Die erste Generation der Muslime in Österreich wiederum fühlt sich nur 87 %, die zweite Generation zu 92 % mit dem Aufnahmeland verbunden.102 Um auf die zentrale Frage der Studie zurückzukommen, welchen Einfluss 100 Vgl. ebd., S. 32. 101 Vgl. ebd., S. 38. 102 Vgl. ebd., S. 33.

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speziell auch die Religiosität und nicht nur ein formales Bekenntnis auf das Integrationsverhalten hat, widmeten sich die Autoren ebenfalls auch der Ermittlung der Religiosität, die sie theoretisch auf dem Konzept von Stefan Huber basierten: Religiosität wird hier gemessen anhand des Zusammenspiels zwischen intellektuellen Voraussetzungen (z. B. kognitive Auseinandersetzung mit dem Glauben), Glaubensinhalten, Glaubenspraxis und religiöser beziehungsweise spiritueller Erfahrung.103 Dazu wurden den Probanden lediglich sieben Fragen gestellt, welche die Religiosität in einen Zentralindex zusammenfassen sollten. Gemäß der Interpretation der Forscher erreichte Großbritannien im Zentralitätsindex der Religiosität den höchsten Wert und die Schweiz den niedrigsten. Der Wert für Deutschland bewegt sich im Bereich der unteren Hälfte zwischen beiden Polen.104 Die Religiosität der befragten Nichtmuslime und Muslime wurde im Anschluss daran in drei Kategorien eingeteilt, von denen »mittelreligiös« den Mittelwert darstellt. Die beiden anderen Extreme sind »wenig religiös« und »hochreligiös«. Zwar ist es verständlich, dass insbesondere bei Telefonumfragen wie dem Religionsmonitor 2017 stark darauf geachtet werden muss, insgesamt nur wenig Zeit von den Probanden zu beanspruchen, allerdings bleibt vor diesem Hintergrund offen, ob nur sieben Fragen dafür ausreichen, um festmachen zu können, ob jemand etwa »hochreligiös« ist. Problematisch ist dies nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund, dass hier sehr stark der Betrachtungswinkel der Forscher zum Tragen kommt. Allgemein lässt sich feststellen, dass Muslime nach der Definition der Studie durchschnittlich wesentlich religiöser sind als ihre nichtmuslimischen Mitbürger. Das größte Gefälle zwischen Muslimen und Nichtmuslimen besteht im Vereinigten Königreich, wo nur 2 % der befragten Muslime unter »wenig religiös« subsumiert werden, im Gegensatz zu ganzen 44 % der Nichtmuslime. Wiederum 64 % der Muslime im Vereinigten Königreich werden als »hochreligiös« eingestuft, jedoch nur 11 % der Nichtmuslime. Ebenfalls groß sind die Unterschiede im Falle von Frankreich, Österreich und Deutschland. In Deutschland gelten 11 % der Muslime als »wenig religiös«, im Vergleich zu 34 % der Nichtmuslime. Jeweils 50 % der deutschen Muslime und Nichtmuslime gelten als »mittelreligiös«. Den obersten Wert »hochreligiös« erlangen die deutschen Muslime mit 40 %, wohingegen nur 16 % der Nichtmuslime diesen Wert erreichen. Am ausgeglichensten zwischen Muslimen und Nichtmuslimen ist das Verhältnis in der calvinistisch geprägten Schweiz: Hier stehen 13 % der »wenig religiösen« Muslime 19 % »wenig religiösen« Schweizern gegenüber, 61 % »mittelreligiöse« Muslime

103 Vgl. ebd., S. 12. 104 Vgl. ebd., S. 35.

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zu 58 % »mittelreligiösen« Nichtmuslimen und 26 % »hochreligiöse« Muslime zu 23 % »hochreligiöse« Nichtmuslime.105 Als etwas problematisch hervorzuheben ist die Behauptung der Autoren, dass die deutlich höhere Religiosität der Muslime durch eine Entkoppelung beim Integrationsprozess oder als bewusste Abgrenzung zu verstehen sein könnte. Hier schwingt implizit eine Wertung durch die Brille der europäischen Säkularisierungstheorie mit. Zur Überprüfung der eigentlichen Forschungsfrage, inwieweit die muslimische Religiosität Einfluss auf den Integrationsprozess nimmt, wird am Ende der Studie die Sozialintegration der Muslime nach deren Religiositätsgrad gefiltert. Die Autoren führen aus, dass sich die Sozialdimension der Akkulturation als nicht signifikant erwies, die Platzierung hingegen einen leichten Einfluss hat, Interaktion und Identifikation aber einen stärkeren.106 Die Autoren ziehen aus den bereits dargelegten Ergebnissen den Schluss, dass die Diskriminierungserfahrungen, das Sozialkapital und die Wohngegend keinen unbedingten Einfluss darauf haben, als muslimischer Migrant eine hohe (berufliche) Platzierung zu erreichen. Die Akkulturation und die Interaktion hingegen hingen, wie sie erwarteten, mit den Platzierungschancen zusammen, da bei erhöhter Akkulturation und hoher Interaktion mit der Mehrheitsgesellschaft die Wahrscheinlichkeit einer hohen Platzierung steigt. Außerdem betonen sie, dass das Geschlecht als Variable ebenfalls einen leichten Einfluss nimmt: Muslimische Migrantinnen erreichen eine insgesamt etwas geringere Wahrscheinlichkeit, eine höhere Platzierung zu erlangen. Das führen die beiden Autoren maßgeblich auf diesem Milieu inhärente Gründe zurück, etwa dass traditionelle Rollenbilder und die Hausfrauenrolle bei muslimischen Frauen sehr viel stärker ausgeprägt seien als etwa inneralb der Mehrheitsgesellschaft. Inwiefern hier nicht auch Diskriminierungen aufgrund eines Kopftuchs eine Rolle spielen, lässt die Studie offen. Auch schließen die Forscher aus den Ergebnissen, dass eine erhöhte Religiosität zwar nicht per se ein Integrationshindernis an sich darstellt, jedoch grundsätzlich eine höhere Platzierung erschwere. Als Ausnahme gilt dabei jedoch das Vereinigte Königreich. Hier ist es durchaus gut möglich, für »hochreligiöse« Muslime eine hohe Platzierung zu erreichen, was damit erklärt wird, dass die institutionelle Anerkennung islamischer Religionsgemeinschaften und damit verbundene Stellen bevorzugt an »hochreligiöse« Muslime vergeben werden könnten – weshalb hier die erhöhte Religiosität also ein eher nützliches Kriterium ist. Insgesamt schließen die Forscher mit einem positiven Befund über das Integrationsverhalten der breiten Masse der Muslime in Deutschland.

105 Vgl. ebd., S. 36. 106 Vgl. ebd., S. 42.

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Gemeinsame Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft

All diese hoch komplexen und plural geschichteten Befunde wie Entwicklungen werden im öffentlichen Diskurs kaum sachlich debattiert. Zu schnell ist man sich darüber einig, dass dieses Problem allein an den Muslimen selbst oder am Faktor Islam läge. Diese Angaben können nur als stellvertretend und bruchstückhaft gesehen werden. In der Tat ließe sich diese Liste fast beliebig fortsetzen. Zuletzt sei jedoch darauf hingewiesen, dass die seit 2015 aus dem Nahen Osten und aus Afghanistan zugereisten Flüchtlinge in den Erhebungen der Bertelsmann-Studien nicht enthalten sind. Es ist anzunehmen, dass viele der hier gegenwärtig lebenden Flüchtlinge und jene, die auch in Zukunft noch in den Aufnahmeländern verweilen werden, teilweise ganz andere Einstellungen und Vorstellungen mitbringen. Dies ist eine weitere Herausforderung, der man sich wohl auch zwingend stellen muss. Überhaupt stellt die Flüchtlingsthematik eine nicht nur nationale, sondern ebenso auch eine globale Herausforderung dar. Einer offiziellen Statistik der UNHCR lebten im Jahr 2016 rund 65,5 Millionen Menschen gezwungenermaßen dauerhaft in einem vormals fremden Land, 22,5 Mio. von ihnen zählen als Flüchtlinge.107 Auswanderung ist riskant, die Zukunft ist in den meisten Fällen ungewiss – in schwierigen Zeiten wie diesen neigen Menschen dazu, sich erneut an ihren Gott zu wenden, auch um Orientierung und Identität in einer fremden Umgebung zu finden. Religion kann hier eine Bindung an die Heimat ermöglichen, aber auch eine notwendige Brücke in den Alltag schlagen und als Antrieb das Handeln der Gläubigen strukturieren. Bei all diesen komplexen und teils in sich widersprüchlichen Entwicklungen ergeben sich unzählige Fragen von zentraler Bedeutung für die Zukunft von Religionen in Deutschland und Europa: Wie kann es der Gesellschaft gelingen, mit der immer größer werden religiösen Vielfalt umzugehen? Was sind die Konsequenzen der Wiederbelebung kollektiver Identitäten mit Bezug auf (andere) religiöse Bekenntnisse? Hier ist entscheidend und zukunftsweisend, wie uns das Management des Zusammenlebens der wachsenden religiös und kulturell pluralisierten Gesellschaft gelingt; etwa durch das Eingehen auf sich verändernde gesellschaftliche Bedürfnisse, wie zum Beispiel die Arbeit mit Geflüchteten und die religionssensible Altenpflege. Gleichzeitig muss darauf geachtet werden, dass sich keine neuen kollektivistischen Feindbilder mit weitergehenden Folgen verfestigen. Die Gefahr einer gesellschaftlichen Polarisierung aufgrund religiöser Zugehörigkeit wird in diesem Kontext zuweilen kleingeredet. Dies verstärkt den Rückzug 107 Vgl. UNHCR, »Figures at a glance. Statistical Yearbook«, 2017, http://www.unhcr.org/fig ures-at-a-glance.html (letzter Zugriff 10. 06. 2018).

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muslimischer Gemeinschaften auf alternative, vor allem mit der Herkunft verbundene Identitäten aufgrund von entgegengebrachter Ablehnung. Von der medialen Aufmerksamkeit und der neuen Popularität des Islam im öffentlichen Diskurs darf man sich in diesem Kontext jedenfalls nicht täuschen lassen, da dieser eher einen oberflächlichen, politisierten Zugang zum Islam bietet. An dieser Stelle herrschen in der Öffentlichkeit wie auch in der Theologie viel politisches Gerede, Wunschdenken und manipulierte Engführung mit wenig theologischer sowie spiritueller Substanz vor. Es reicht jedoch nicht aus, diese Entwicklungen nur zu thematisieren, denn wenn wir Integration so verstehen, dass alle Teile ihre Verschiedenheit behalten und gemeinsam ein neues Selbstverständnis entwickeln, bedeutet dies, bezogen auf die Integration der Muslime in Deutschland, dass die einzelnen Teile – die christliche, muslimische, jüdische, atheistische oder andersgläubige Bevölkerung – ihre Unterschiedlichkeiten beibehalten und sich dennoch als ein Ganzes, nämlich als deutsche Staatsbürger und Europäer, verstehen und damit auch eine Gemeinschaft werden. Der Ausweg aus all diesen Missständen und Fehlentwicklungen heißt daher, stets im Dialog zu bleiben, Gemeinsamkeiten hervorzuheben, Differenzen auszutauschen und auszuhalten sowie menschenverachtendes Verhalten zu verurteilen. Im inneren Verhältnis ist wiederum die Ausprägung einer europäisch-islamischen Identität notwendig, die einerseits die Herkunft nicht leugnet, aber andererseits an die Lebenswirklichkeit in Deutschland anschlussfähig ist. Gelebte Vielfalt in Einheit wird in Zeiten von Säkularisierung, Individualisierung und Rechtspopulismus auch für die Muslime in Deutschland und Europa überlebenswichtig sein. Repressive Maßnahmen von Politik und Mehrheitsgesellschaft können diesen Prozess nachhaltig stören und erschweren, aber langfristig nicht verhindern. Eine gelungene gesellschaftliche Integration verläuft in diesem Sinne über Anerkennung, Partizipation, Gleichberechtigung und schließlich Normalität. Erst wenn die Öffentlichkeit genauso »gewöhnlich« mit dem Islam umgeht wie auch mit allen anderen Religionen. werden die Muslime in Deutschland angekommen sein. Religionen können einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, dass Menschen Maß und Mitte halten, sich innerlich und spirituell erbauen, Werte generieren, sich sozial engagieren und sich ihrer eigenen Vergänglichkeit bewusst werden. Religionen wirken letztlich wie Medizin: Wohldosiert können sie helfen, eine Falschdosierung kann jedoch tödliche Folgen haben. Doch nicht nur falsch dosierte Religion selbst kann wie Gift wirken, das Gleiche kann über jede Form der gruppenbezogenen Abwertung von Menschen gesagt werden, und so ist auch die grassierende Islamfeindlichkeit als ein solches zu verstehen. Wenn sich nun dieser Sammelband als ein Beitrag für die Vertiefung der Forschungslage zu Islamfeindlichkeit versteht, kann er dennoch nur einen kleinen Anteil daran leisten, den es weiterhin und unablässig zu vertiefen gilt. Die angedeuteten zahlreichen Perspektiven auf Islam- und Muslimfeind-

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lichkeit zeichnen sich auch an den Beiträgen dieses Bandes ab. Dabei bestehen die unterschiedlichsten Ansätze, die stets abhängig von der ihr zugrunde gelegten theoretischen Fundierung sind. Im Wesentlichen gibt es zwei bedeutende Theorieschulen, die die wissenschaftliche Debatte prägen, nämlich einerseits die Islamophobieforschung mit Vorurteilsforschung (Benz, Esposito usw.) und die postkoloniale rassismustheoretische Tradition (Berkeley-Schule, Bazian, Attia, Shooman) andererseits (siehe dazu Dr. Hafez in diesem Band). In Bezug auf die Vergleichbarkeit und Einordnung der Islam- und Muslimfeindlichkeit existieren daher auch ebenso unterschiedliche Ansätze, von denen einige etwa Parallelen zwischen dem modernen Antisemitismus und der Islamfeindlichkeit ziehen. Allerdings kann es auch sehr perspektivöffnend sein, die Islamfeindlichkeit mit Homophobie zu vergleichen, denn beide Ressentiments richten sich auf eine Diskriminierung eines von der Norm abweichenden Lebensstils. Erwartet wird von beiden die vollständige Assimilation in der Mehrheitsgesellschaft (siehe dazu Dr. Özyürek). Wichtig bei der Betrachtung der zeitgenössischen Islamfeindlichkeit ist auch der Blick auf die Vergangenheit und die historische Genese des Rassismus und die rassifizierten Stereotypen, die damals wie heute stets dazu dienten, eine Aufwertung des Eigenen und die Fremdbestimmung des Anderen zu erreichen und damit die eigenen Machtstrukturen zu konsolidieren. Dabei ist ein historischer Wechsel von erbbiologisch argumentierenden zu kulturalistischen neo-rassistischen Diskursfiguten bemerkbar, in welchem letzteren es jedoch auch zu einer erkennbaren Rennaissance des »Völkischen« kam (siehe dazu Dr. C ¸ akır). Rassistische und verhetzende islamfeindliche Stereotypisierungen sind dabei nicht nur in offensichtlich rechtsradikalen bis rechtsextremen Bewegungen, sondern von der Mitte der Gesellschaft bis hin zu linken Strömungen zu finden (zu der heterogenen islamfeindlichen Aktivistenszene siehe Dr. Röther). So zeigt sich auch immer mehr, dass rassistische und muslimfeindliche Hate Speech nicht nur aus extremen politischen Lagern kommt, sondern nachweislich immer mehr aus der Mitte der Gesellschaft selbst. Obwohl dem deutschen Strafgesetz nach rassistische Äußerungen nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt werden, sondern als Verletzung der Menschenwürde strafbar sind, so gibt es dennoch – trotz Abmahnungen der CERD und ECRI – keine wirksame Regelung davon, was denn nun rassistische Äußerungen seien. So ist es möglich, dass Akteure wie Thilo Sarrazin ihre Thesen rechtlich unbehelligt weiterverbreiten können (siehe dazu Dr. Cremer). Und auch wenn dies selten thematisiert wird, weil es nicht zu dem gängigen Narrativ des aufgeklärten Europas und der humanistisch gesinnten EU passt, lässt sich dennoch feststellen, dass nicht nur der Antisemitismus, sondern auch der Rassismus in Europa eine lange Tradition hat – wie dies etwa besonders deutlich am Fall des zwangschristianisierten Andalusien wird (siehe dazu Prof. Attia). Die Ergründung is-

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lamfeindlicher Vorurteile ist jedoch nicht nur historisch, sondern auch auf sozialpsychologischer Ebene notwendig (siehe dazu YalÅın). Ebenso bedeutsam ist es, die Auswirkungen der staatlichen Sicherheits- und Interventionspolitik in Bezug auf Terrorismus und Islamismus auf die allgemeine Stimmung zu analysieren. Auch die Deutsche Islamkonferenz (DIK) spielt hierbei eine nicht zu unterschätzende Rolle, da sie, verstanden als eine Art verlängerter Arm des Sicherheitsapparats, einen antimuslimischen Rassismus perpetuieren kann, indem sie den Islam und damit auch seine Anhänger als eine potentielle Gefahr betrachtet und die Potenz der muslimischen Vertreter nutzt, um dieser Gefahr entgegenzuwirken (siehe Dr. Aguilar). All diese Zusammenhänge wirken sich auch sehr deutlich auf den weiteren Verlauf des öffentlichen und medialen Diskurses auf. Seit der Islamischen Revolution im Iran, der späteren Salman-Rushdie-Affäre und ganz besonders verstärkt seit 9/11 hat im medialen Diskurs eine durchweg negative Konnotation des Islam derart Überhang genommen, dass er fast ausschließlich mit Terror, Gewalt, Krieg, Hass, Angst und Gefahr in Zusammenhang gebracht wird. Dieses Zerrbild, welches die Medien damit schaffen, hat einen großen Anteil an der Zuspitzung der öffentlichen Wahrnehmung und ebenso eine Mitschuld an der Popularisierung rechtsextremer Einstellungen (siehe dazu Dr. El-Menouar). Dies trägt sich letztlich bis in jene Orte und Insitutionen fort, die in der populären Sicht als Horte und Epitome der Aufklärung und Freiheitlichkeit verstanden werden, nämlich den Universitäten (siehe hierzu Prof. Dr. Kassis/ Heller). Doch sollten Muslime hierbei nicht nur als Opfer stilisiert werden. Bedingt dadurch, dass sie in dem dargestellten öffentlichen Diskurs kaum eine Rolle als Teilnehmer spielen, kreieren Muslime auch ganz selbstbewusst einen Gegenöffentlichkeitsdiskurs, in dem sie bestrebt sind, einerseits das vom Öffentlichkeitsdiskurs falsch repräsentierte Selbstbild zu regenerieren und dieses wiederum real und selbst zu definieren (siehe dazu Dr. Soliman). Dabei sind die Zugangsbedingungen für eine derartige Selbstermächtigung nicht gerade einfach. Obwohl dies in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird und von vielen als schon längt überwunden gilt, so lässt sich feststellen, dass es bis heute noch teils starke Diskriminierungen selbst im Bildungssektor gibt (siehe dazu Dr. Mühe und Dr. Supik). Diese Diskriminierungen geschehen einerseits aufgrund eines muslimisch anmutenden Namens, eines fremdländischen Äußeren oder auch ganz besonders konkret am Tragen eines Kopftuchs als eindeutiges Identifikationsmerkmal. Interessant ist hierbei, dass die heute immer noch populäre und nicht abzureißen wollende Kopftuchdebatte erstmalig dann ins Rollen gebracht wurde, als die Lehramtsanwärterin Fereshta Ludin das Recht einzuklagen versuchte, mit Kopftuch im öffentlichen Dienst beschäftigt zu werden wie auch ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen ohne Kopftuch (siehe dazu Dr. Berghahn).

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Entwicklungen wie diese zeigen die deutliche Gefahr, welche die Islam- und Muslimfeindlichkeit für eine Demokratie bedeuten (siehe Prof. em. Benz). Doch sind all diese Entwicklungen nicht unabänderlich. Aus diesem Grund ist es wichtig, Strategien gegen die Verbreitung eines antimuslimischen Rassismus zu entwickeln und zu fördern (siehe Prof. Bühl). Der Rückgriff auf säkulare Diskurse und Theorien der Soziologie bei Erklärungsversuchen von sogenannten islamkritischen und -feindlichen sowie antimuslimischen Grundmustern – sowie auch solchen, die ohne ideologisch gefestigte Feindseligkeit ganz allgemein von einer tiefgreifenden Angst und Unsicherheit gegenüber dem Islam geprägt sind – in modernen Kontexten ist vor dem Hintergrund einer zunehmend vernetzten Gesellschaft und einer interdisziplinär verstandenen Theologie sicher plausibel und notwendig. Neben gesellschaftspolitischen, ökonomischen und kulturellen Aspekten hat dieser Diskurs aber auch theologische Gesichtspunkte, die nicht wegzudenken sind. Die einseitig medial aufgebauschte und fokussierte islamkritische und antimuslimische Stimmungsmache in weiten Teilen der Medien führt bei vielen Muslimen, die sich unverstanden und bedrängt fühlen, häufig zu einer Verinnerlichung von Opfernarrativen und einem Rückzug aus der Öffentlichkeit. Gleichzeitig geht dieser Prozess auf muslimischer Seite mit dem Aufbau neuer Stereotypen und Ressentiments einher, Entfremdungsprozesse werden verstärkt beobachtet und die von xenophoben Kreisen erwünschte Polarisierung wird hierdurch zu einer self-fulfilling prophecy. Fehlende Empathie und Rücksichtnahme auf plausible Ängste und Sorgen von anderen Menschen führt zeitgleich zu einer unkritischen Selbstwahrnehmung. Die Frage nach den konkreten realen Kausalitäten und übergeordneten religiösen Gründen wird in diesem Beziehungsgeflecht weitestgehend ausgeklammert. Man übt sich eher in einer Art unproduktiver Selbstbemitleidung. Tatsächlich wäre es geboten, in theologischer Hinsicht die Resilienz mit Bezug auf den intensiven oder fehlenden Glauben an den allmächtigen Gott in Bezug auf das Gebet und die eigene spirituelle Erbauung zu stellen. Der Koran als die entscheidende normative Bezugsquelle der Muslime hebt in diesem Kontext beide Ebenen, nämlich die Anrufung Gottes durch das Gebet und die aktive Gelduldsausübung, das keineswegs als eine resignierende Grundeinstellung verstanden werden darf, wechselwirkend und ausgleichend hervor. Nur wenn beide Grundparameter kongruent zueinanderstehen, also die absolute Bindung und Hoffnung durch dikr und du a an eine übernatürliche ¯ Meta-Macht und die aktive diesseitige Bemühung mit innerer Gelassenheit als eine konkretisierte Form des sabr, wird man auch religiöse Elemente zur ˙ Selbstfindung und Reflexion generieren können. Und sucht Hilfe in Geduld und Gebet (Koran 2:45).

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Farid Hafez

Antimuslimischer Rassismus und Islamophobie: Worüber sprechen wir?

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Einleitung

Zu Beginn dieses Bandes drängt sich die fundamentale Frage auf: Worüber sprechen wir eigentlich? Was meinen wir, wenn wir über antimuslimischen Rassismus oder Islamophobie sprechen? Gerade bei einem – im engeren Sinne – so jungen Forschungsgebiet, das zudem in der öffentlichen Debatte derart kontrovers diskutiert wird, kann eine Theoriedebatte helfen, nicht ins Fettnäpfchen der beliebigen Verwendung eines zentralen Begriffes zu treten. An dieser Stelle wird keine – im Unterschied zum anglophonen Sprachraum und besonders im deutschsprachigen Raum anzutreffende – Begriffsdebatte, die sich in erster Linie an der Semantik und Etymologie der Begriffe abarbeitet,1 erfolgen, sondern wird es versucht, zentrale Eckpfeiler in der Entwicklung der Islamophobieforschung sowie unterschiedliche theoretische Zugänge zu diesem Forschungsgegenstand aufzuzeigen. Je nach Definition können unterschiedliche Anfänge für die Erforschung von antimuslimischem Rassismus ausgemacht werden. Fern der Frage der exakten Datierung sowie der Chronologie der Entwicklung des Begriffs, mit der sich manche Autoren und Autorinnen näher auseinandergesetzt haben,2 geht dieser Beitrag einer anderen Frage nach: Er diskutiert unterschiedliche konzeptionelle 1 Der Verfasser behauptet, dass es sich im publizistischen Rahmen dabei oftmals um eine Scheindebatte handelt, hinter der sich eine Strategie der Verleugnung des Phänomens per se versteckt, die manchmal so weit geht, die ›Islamkritik‹ im Sinne einer allgemeinen Religionskritik als legitimen Deckmantel für die Verbreitung antimuslimischer Rassismen zu verkaufen. Siehe kritisch hierzu: Yasemin Shooman, Angst vor dem Islam oder Rassismus gegen Muslime? Zur Einordnung antimuslimischer Diskurse aus rassismustheoretischer Perspektive, in: Reinhold Bernhardt/Ernst Fürlinger (Hg.), Öffentliches Ärgernis? Moscheebaukonflikte in Deutschland, Österreich, und der Schweiz, Beiträge zu einer Theologie der Religionen, Band 12, 2015, Zürich: TVZ, S. 141–159. Hingegen ist im akademischen Raum die Begriffsdebatte oftmals mit konzeptionellen Fragestellungen verbunden, die in diesem Artikel aufgegriffen werden. 2 Christopher Allen, Islamophobia, Aldershot et al. 2010.

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Zugänge zum Begriff der Islamophobie beziehungsweise des antimuslimischen Rassismus und identifiziert verschiedene Strömungen, die sich in den letzten 10 bis 15 Jahren rund um die Erforschung dieses Phänomens herauskristallisiert haben. Im Falle von organisierten Bestrebungen – Zentren, Periodika, Konferenzen – ist vorsichtig von bestimmten ›Schulen‹, die sich in der Erforschung der Islamophobie und des antimuslimischen Rassismus einnisten, zu sprechen. Bevor die konzeptionellen Unterschiede in der Theoretisierung von Islamophobie und antimuslimischem Rassismus zur Sprache kommen, werden zu Beginn zentrale Debatten nachgezeichnet und danach in der aktuellen Literatur breit geteilte Annahmen zu diesen Theorien besprochen.

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Der Islam und die Islamophobie

Der ›Islam‹ ist als Begriff ein fester Bestandteil des öffentlichen Diskurses. Dies veranschaulicht eine Reihe von Arbeiten rund um die Auseinandersetzung mit der Frage, welche Rolle der Islam in westlichen Gesellschaften spielt oder spielen solle. Das bezeugen nicht zuletzt die Debatten rund um Thilo Sarrazins Bestseller Deutschland schafft sich ab und die Rolle von PEGIDA in der deutschen Gesellschaft und Politik bis hin zu der Debatte um die Massenvergewaltigungen in der Silvesternacht in Köln zum 1. Januar 2016. In diesem Islam-Diskurs erscheint es vielen Beteiligten und insbesondere den anscheinend primär betroffenen Personen – nämlich der als ›Personen islamischen Glaubens‹ markierten Gruppe –, als ginge es tatsächlich um eine Debatte über ›den Islam‹ oder die eben Genannten. Diese Annahme, dass es in der Islamophobie um die realen Muslime und Musliminnen und den Islam geht, gilt als die größte konzeptionelle Schwachstelle des Islamophobiebegriffs, wie er erstmals 1997 von dem britischen Think Tank Runnymede Trust in eine akademische Debatte eingeführt wurde. Tatsächlich war es der Bericht dieser antirassistischen Einrichtung, die den Begriff vor allem im anglophonen Sprachraum nach seiner ersten Benutzung im Jahre 1910 als Beschreibung der französischen Kolonialhaltung gegenüber Algerien popularisierte.3 Die Grundkritik an der Definition des Runnymede Trust geht dahin, dass sie mit zwei Kategorien operiert, den ›Islam‹ und ›die Muslime und Musliminnen‹ ontologisiert und entweder einen positiven oder einen negativen Zugang zu diesen bietet (Orig.: closed views vs. open views). Damit konterkarierte dieser Definitionsversuch das zentrale Anliegen der zeitgenössischen Rassismuskritik, die darin besteht, rassistische Konstruktionen zu dekonstruieren und diese nicht mithilfe einer Ontologisierung zu stabilisieren und zu 3 Ebd.

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reproduzieren. Diese Stoßrichtung hat vermutlich primär damit zu tun, dass die für den Bericht verantwortliche Commission on British Muslims and Islamophobia eine interreligiös zusammengesetzte Gruppe war, der auch sich selbst als Muslime und Musliminnen markierende NGO-Aktivisten angehörten. Die unmittelbare Betroffenheit, die oftmals eine Agenda der positiven Selbstmarkierung evoziert, wie sie etwa aus der afroamerikanischen Bewegung bekannt ist,4 könnte hier auch als Grund für dieses Verlangen nach einem positiv markierten Begriff von ›Islam‹ und ›Muslim-Sein‹ anzusehen sein. In einigen wenigen Arbeiten zur Islamophobie klingt diese Essentialisierung des Islam, die auf eine positive Markierung setzt, bis heute nach. Somit trug dieser Definitionsversuch dazu bei, ähnlich wie im Begriff ›Fremdenfeindlichkeit‹, die den Begriff des Fremden immer wieder neu bestätigt und damit stabilisiert,5 den Islam als reale Kategorie zu konstruieren. Dennoch gibt es hier einen Unterschied: Eine Selbstmarkierung als ›Fremder‹ ist im Gegensatz zur Fremdmarkierung als ›Muslim‹ vermutlich seltener anzufinden. Unabhängig davon lag genau darin die Absicht des Runnymede-Berichts über die Islamophobie: aufzuzeigen, dass die Muslime und Musliminnen einer neuen Form des Rassismus, die sich primär entlang der Markierung ›Religion‹ abarbeitet, ausgesetzt sind. Nicht mehr allein somatische Marker seien Ansatzpunkte für eine rassistische Ausgrenzung von (oftmals aus Pakistan und Indien stammenden britischen) Muslimen und Musliminnen, sondern die Religion. Dies hätte es notwendig gemacht, einen eigenen Begriff zu kreieren, der diesem neuen Trend einen Namen geben könne. Diese gesellschaftspolitische Absicht steht hinter dem bedeutsamsten Definitionsversuch von ›Islamophobie‹. Gleichzeitig stellte dieser erste Definitionsversuch einige grundsätzliche Überlegungen an, die auch heute noch als zentrale Aspekte des IslamophobieVerständnisses rezipiert werden. Dazu gehört, dass der Islam und seine Gläubigen aus islamophober Sicht homogenisiert (Orig.: monolithische Sicht), abgewertet (Orig.: Inferiorität) und in manichäischer Form (Orig.: Feindschaft) gedeutet werden, was in Diskriminierung mündet.6 In der Zwischenzeit wurde das Konzept in unterschiedliche Richtungen weiterentwickelt. Der britische Historiker Brian Klug spricht 15 Jahre später vom »Mündigwerden eines Konzeptes«, das zu Beginn noch wenig theoretisch fundiert war.7 Im nächsten Kapitel wird eine wichtige Zäsur in der Debatte um die Is-

4 Stuart Hall, Neue Ethnizitäten, in: ders.: Rassismus und kulturelle Identität, Vol. 226. Hamburg 1994, S. 15–25. 5 Mark Terkessidis, Die Banalität des Rassismus: Migranten zweiter Generation entwickeln eine neue Perspektive, Bielefeldt 2004, S. 53–66. 6 Ebd. 7 Brian Klug, »Islamophobia: A concept comes of age«, in: Ethnicities 12.5 (2012), S. 665–681.

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lamophobie eingeführt, welche diese an ein Rassismusverständnis, wie es heute von vielen Autoren und Autorinnen vertreten wird, herangeführt hat.8

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Die Imagination der antimuslimischen Rassisten und Islamophoben

In Anlehnung an die Rassismusforschung im Allgemeinen und die Antisemitismusforschung im Speziellen ist die Erkenntnis, dass das Judentum und die realen Jüdinnen und Juden voneinander zu trennen sind, auch auf die Islamophobieforschung zu übertragen. Der Psychoanalytiker Jean-Paul Sartre stellte dieses Theorem in seiner Schrift Psychoanalyse des Antisemitismus deutlich dar : »Wenn es keinen Juden gäbe, der Antisemit würde ihn erfinden.«9 Mit ihm sowie mit Edward Said in Orientalism kann gesagt werden: Die Imagination des Islam ist vor allem die Projektionsfläche eigener Schwächen und Wünsche.10 So dient die im öffentlichen Islam-Diskurs immer wiederkehrende Aussage, nicht alle Muslime seien Terroristen, aber alle Terroristen seien Muslime, als ein anschauliches Beispiel für die Kraft der Imagination. Diese Aussage vermittelt uns weniger etwas von realen Umständen; sie sagt vielmehr etwas über die Darstellung – also die Imagination – des Terrors in der medialen Berichterstattung aus;11 dies, weil der Begriff ›Muslim‹ ebenso wie jener der ›Juden‹ im Antisemitismus – wie bereits gesagt – ein abstrakter Begriff zur Verdeckung psychischer Vorgänge ist. Wie Sartre sagte, schaffe »nicht die Erfahrung den Begriff des Juden, sondern das Vorurteil fälscht die Erfahrung«12. Das heißt, dass wir notwendigerweise nicht über reale Formen des ›Islam‹ sprechen, sondern vielmehr über Bilder des Islam, die zur Imagination des ›Eigenen‹ und ›Fremden‹ dienen. Dem ›muslimischen Anderen‹ werden in islamophoben Diskursen projektiv eigene Mängel unterstellt, die jedoch negativ gerahmt werden. Wenn im Weiteren von der Imagination des muslimischen ›Anderen‹ die Rede ist, wird die Imagination nicht in einem radikal-konstruktivistischen Sinne von ›erfunden‹ verwendet, sondern der Begriff lehnt sich hier an Benedict Anderson an, der den Terminus imagined13 im Sinne von ›vorge8 Wulf D. Hund, Rassismus. Soziologische Themen, Bielefeld 2007, S. 10–15. 9 Jean-Paul Sartre, Betrachtungen zur Judenfrage. Psychoanalyse des Antisemitismus, Zürich 1948, S. 10f. 10 Edward Said, Orientalism, New York 1979, xvii. 11 Sebastian Friedrich/Hannah Schultes, »Mediale Verbindungen – antimuslimische Effekte«, in: Journal für Psychologie 21.1 (2013). 12 Jean-Paul Sartre, Betrachtungen zur Judenfrage, S. 10f. 13 Benedikt Anderson, Die Erfindung der Nation: Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt a.M. 1983.

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stellt‹ gebraucht, um den »Doppelsinn von Imagination und ›Miteinander bekanntgemacht werden‹«14 zu erfassen. Eine Auseinandersetzung mit der Islamophobie ist damit keine Auseinandersetzung mit ›dem Islam‹, sondern mit der Dominanzkultur15 in jenen Gesellschaften, in denen ein antimuslimischer Rassismus verortet wird. Dies bedeutet, dass es keinesfalls nur um den Islam geht; es geht auch vordergründig weniger um die Beschaffenheit der Islamophobie, denn diese gibt uns nur Auskunft darüber, wie die islamophoben Dominanzgesellschaften selbst beschaffen sind. In diesem Sinne bringt es der Antisemitismusforscher Wolfgang Benz mit einer seiner zuletzt veröffentlichten Arbeiten Die Feinde aus dem Morgenland. Wie die Angst vor den Muslimen unsere Demokratie gefährdet16 auf den Punkt: Es geht um die Demokratie, die alle ihr Angehörigen, egal welches Religionsbekenntnis sie besitzen, betrifft.

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Rassistische Essentialisierung

Zurück zum Doppelsinn der Imagination bei Anderson, denn diese führt durch die Hintertür in den Begriff des Islam und in unser Verständnis des antimuslimischen Rassismus ein, denn die Abgrenzung und Ausgrenzung der Islamophoben zielt auf eine vermeintliche Selbstvergewisserung theologischer und gesellschaftlicher, aber auch polit-ideologischer Identitäten ab. In diesem Beziehungsgeflecht sind die islamophoben Akteure und die Islamophoben »alte Bekannte«, um es in Anlehnung an den postkolonialen Denker und Psychoanalytiker Frantz Fanon auszudrücken, der diese Bezeichnung für den Kolonialherren und den Kolonialisierten verwendete. Beide »kennen« sich und tatsächlich erschafft der Erste den Zweiten erst in und durch das Kolonialsystem.17 Ebenso sind nach dem 11. September sowohl ein Mehr als auch ein Meer an muslimischen Gläubigen entstanden: eine Masse an Menschen, die vorher nicht existierte, die unter dem Deckmantel des ›Fremden‹ und des ›Eigenen‹ geführt wurde, die aber aus der Asche der Zwillingstürme, die sich über den Globus verteilte, erschaffen wurde. Das führt zu einem weiteren wichtigen Hinweis: der zentralen Bedeutung der ›Islamisierung‹ im Phänomen der Islamophobie, wie sie bereits von Aziz Al-Azmeh in seinem 1993 erstmals erschienenen Werk Islam 14 Thomas Mergel, Nachwort, in: Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation: Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt a.M. 2005, S. 283. 15 Iman Attia/Swantje Köbsell/Nivedita Prasad (Hg.), Dominanzkultur Reloaded. Neue Texte zu gesellschaftlichen Machtverhältnissen und ihren Wechselwirkungen, Bielefeld 2015. 16 Wolfgang Benz, Die Feinde aus dem Morgenland. Wie die Angst vor den Muslimen unsere Demokratie gefährdet, München 2012. 17 Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Vorwort von Jean-Paul Sartre, Frankfurt a.M. 1981, S. 30.

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and Modernities18 dargelegt wurde. Darin spricht er über die »Islamisierung des Islam« und meint, es bestehe aufgrund der gleichsamen Essentialisierung des Islam durch islamische Fundamentalisten auf der einen und Orientalisten auf der anderen Seite eine »objektive Komplizenschaft«19. Ebenso wie in der Weltanschauung des Rassismus die Kategorie der Rasse erschaffen und essentialisiert wird, so geschieht dies beim antimuslimischen Rassismus durch die Reduktion und Verabsolutierung der Kategorie ›Islam‹ als unüberwindbare und ewige Kategorie des Seins. Der ›Islam‹ wird zu einer ontologischen Kategorie. Der 11. September wie auch weitere Terroranschläge sogenannter ›Islamisten‹ waren nämlich niemals der Ursprung der Islamophobie. Sie erlaubten es lediglich, eine bereits bestehende Denkstruktur kolonialen Denkens expansiv zu erweitern.20 Darin liegt auch einer der großen Trugschlüsse jener Akteure, die sich selbst – nicht im Sinne eines Stigmas, sondern im Sinne eines spirituellen Bekenntnisses – in diesem Diskurs als Muslime und Musliminnen markieren. Der Trugschluss besteht darin, zu meinen, der Begriff des Muslims im Islam-Diskurs sei rational und könne mit der konkreten Erfahrung mit den ›guten‹ Muslimen verändert werden. Europa kann so gesehen nie durch die Hand der imaginierten oder realen Muslime von der Islamophobie geheilt werden. Es bedarf einer Selbstheilung, indem Europa seine eigenen rassistischen Strukturen überwindet. Es ist das ausbeuterische Herrschaftsverhältnis, das es zu überwinden gilt.

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Islamophobie als Vorurteilsforschung

Der vom Runnymede Trust offerierte Zugang basiert auf der Annahme eines ›guten Islam‹, der dem bösen Bild des ›Islam‹ in der Islamophobie entgegengestellt wird. Trotz der rassismustheoretisch informierten Kritik arbeiten – wenn auch oft nur implizit – auch akademische Einrichtungen mit der Figur des guten Muslims. So etwa die am Prince Alwaleed bin Talal Center for Muslim-Christian Understanding an der Georgetown University ansässige Forschungseinrichtung The Bridge Initiative; diese definiert Islamophobie folgendermaßen: »Islamophobia is prejudice towards or discrimination against Muslims due to their religion, or perceived religious, national, or ethnic identity associated with Islam.«21

18 Aziz Al-Azmeh, Die Islamisierung des Islam. Imaginäre Welten einer politischen Theologie, Frankfurt a. M./New York 1996. 19 Ebd., S. 7. 20 Achille Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft, Frankfurt a.M. 2014, S. 23. 21 »Islamophobie ist ein Vorurteil gegenüber oder Diskriminierung von Muslimen aufgrund ihrer Religion oder ihrer angenommenen religiösen, nationalen oder ethnischen Identität,

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Beispielhaft heißt es in einem Video, das den Vorwahlkampf der US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen behandelt, dass Donald Trump sich hinsichtlich der Muslime irren würde (Wrong About Muslims).22 Damit operiert dieses Islamophobiekonzept mit dem real existierenden ›guten‹ vs. ›bösen‹ Muslim. Dieser Zugang findet sich implizit bei einer Reihe von Autoren und Autorinnen, die sich mit der Islamophobie auseinandersetzen, und der damit nahtlos an die Definition des Runnymede Trust anknüpft. Dieser Ansatz wird im Folgenden ›Ansatz der Vorurteilsforschung‹ genannt, da er das Konzept der ›Fremdenangst‹ in der Sozialpsychologie berücksichtigt und Vorurteile als sozialpsychologische Verhaltensmuster zu erklären versucht.23 Teilweise kann auch der Ansatz des ehemaligen Leiters des Zentrums für Antisemitismusforschung, Wolfgang Benz, in diesem Zusammenhang gesehen werden. Er zählt in der deutschsprachigen Literatur sicherlich zu einem der ersten Autoren, die sich des Konzepts der Islamophobie (unter den Namen ›Islamfeindschaft‹ und ›Islamfeindlichkeit‹) bedient und diese vor allem mithilfe der Erkenntnisse der Antisemitismusforschung bereichert haben.24 Gleichzeitig wird in diesen Schriften Islamfeindschaft beziehungsweise Islamfeindlichkeit als »Ressentiment« definiert.25 Ressentiments definiert Benz als »gefährlich, sie beginnen als Vorurteil mit der Tendenz, in Hass gegen stigmatisierte Individuen, gegen Gruppen, ethnische, religiöse oder nationale Gemeinschaften zu kulminieren, in Hass, der sich durch Gewalt entlädt«.26 Obwohl das Jahrbuch für Islamophobieforschung in der Theoretisierung von Beginn an breiter aufgestellt war,27 so knüpfte es dennoch an Benz’ Vorschlag der Bereicherung der Erforschung von Islamophobie durch die Antisemitismusforschung an. Benz betrachtet das Phänomen der Islamfeindschaft explizit aus der Perspektive der Vorurteilsforschung28 und ordnet es sozialpsychologisch ein.29 Zwar

22 23 24 25 26 27 28

die mit dem Islam assoziiert wird.« The Bridge Initiative, What is Islamophobia?, http://brid ge.georgetown.edu/what-is-islamophobia/ (letzter Zugriff 14. 01. 2016). Bridge Initiative Team, VIDEO: Donald Trump – Wrong About Muslims, March 1, 2016 http:// bridge.georgetown.edu/donald-trump-wrong-about-muslims/ (letzter Zugriff 25. 03. 2016). Hans-Gerd Jaschke, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit: Begriffe. Positionen. Praxisfelder, Heidelberg 2013. Vgl. Wolfgang Benz (Hg.), Islamfeindschaft und ihr Kontext: Dokumentation der Konferenz »Feindbild Muslim – Feindbild Jude«, Berlin 2009, sowie zuletzt: Wolfgang Benz, Antisemitismus und Islamkritik: Bilanz und Perspektive, Berlin 2011. Farid Hafez, Anstelle eines Vorworts, in: ders. (Hg.), Jahrbuch für Islamophobieforschung 2010, Bozen et al. 2010, S. 7–22. Wolfgang Benz, Antisemitismus und Islamkritik. Bilanz und Perspektive, Berlin 2011, S. 161. Ders., Anstelle eines Vorworts, in: Jahrbuch für Islamophobieforschung 2010, Bozen, Innsbruck, Wien S. 7–22. Wolfgang Benz, Einführung zur Konferenz ›Feindbild Muslim – Feindbild Jude‹, in: Ders.: Islamfeindschaft und ihr Kontext. Dokumentation der Konferenz ›Feindbild Muslim – Feindbild Jude‹, Berlin 2009, S. 9–20.

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spricht er auch über Mehrheits- und Minderheitsverhältnisse als zentrale Bestandteile von Antisemitismus und Muslimfeindschaft,30 die Dimensionen von Macht und Herrschaft fehlen jedoch in der Konzeptionalisierung von Islamfeindlichkeit, was bei anderen Autoren und Autorinnen weitaus mehr im Zentrum steht. Das gilt sowohl für jene Arbeiten, welche die Islamophobie als institutionellen Macht-Wissen-Komplex verstehen, wenn sie mithilfe des Foucault’schen Diskursbegriffs Islamophobie oder antimuslimischen Rassismus analysieren, wie es bei einigen Arbeiten31 der Fall war, als auch für jene, die Islamophobie von Beginn an theoretisch im Kontext eines globalgeschichtlichen institutionalisierten Rassismus32 von institutionalisiertem Rassismus,33 Rassifizierung34 und epistemischer Gewalt35 konzeptionalisiert haben. Dieser Ansatz lässt sich am besten mit dem Begriff der postkolonialen Verortung der Islamophobieforschung umreißen, wobei auch hier unterschiedliche thematische Schwerpunktsetzungen erkennbar sind.

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Postkoloniale Verortung der Islamophobieforschung

Ermächtigen sich manche Kräfte des Islam, produzieren sie ein scheinbar kohärentes Wissen in Abgrenzung zum ›Eigenen‹, um genau jene Macht zu entfalten, das ›Eigene‹ überhaupt erst regierbar zu machen? Die Perspektive auf Macht und Herrschaft weist all jene Zugänge der Konzeptionalisierung von Islamophobie zurück, die diese auf die Vorurteilsforschung reduziert oder darin gar nur ein Ressentiment sieht. Entgegen dieser Definition sieht die in der herrschaftskritischen Tradition dekolonialen Denkens stehende Berkeley Schule der Islamophobia Studies, die das neben dem Jahrbuch für Islamophobieforschung einzige englischsprachige Periodikum, das Islamophobia Studies Journal, herausgibt, Islamophobie als Produkt von Herrschaftsstrukturen. So heißt es in

29 Ders., Antisemitismus und Islamkritik, S. 165. 30 Ebd., S. 183. 31 Farid Hafez, Islamophober Populismus: Moschee- und Minarettbauverbote österreichischer Parlamentsparteien, Wiesbaden 2010. 32 Ramon Grosfoguel, »The Multiple Faces of Islamophobia«, in: Islamophobia Studies Journal, Vol. 1, N. 1, Frühjahr 2012, S. 9–33. 33 Hatem Bazian, »Muslims – Enemies of the State: The New Counter-Intelligence Program (COINTELPRO)«, in: Islamophobia Studies Journal, Vol. 1, N. 1, Frühjahr 2012, S. 163–206. 34 Nasar Meer & Tariq Modood, »For ›Jewish‹ Read ›Muslim‹? Islamophobia as a Form of Racialisation of Ethno-Religious Groups in Britain Today«, in: Islamophobia Studies Journal, Vol. 1, N. 1, Frühjahr 2012, S. 34–53. 35 Mohammad H. Tamdgidi› »Beyond Islamophobia and Islamophilias Western Epistemic Racisms: Revisiting Runnymede Trust’s Definition in a World-History Context«, in: Islamophobia Studies Journal, Vol. 1, N. 1, Frühjahr 2012, S. 54–81.

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der Definition des Islamophobia Research and Documentation Project, das am Center for Race and Gender an der University of California angesiedelt ist: »Islamophobie ist eine erfundene Angst oder ein Vorurteil, welches durch existierende eurozentrische und orientalistische globale Herrschaftsstrukturen geschürt wird. Sie richtet sich mittels Aufrechterhaltung und Ausweitung existierender Disparitäten in ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Beziehungen gegen eine vermeintliche oder reale muslimische Gefahr. Dabei rationalisiert sie die Notwendigkeit von Gewaltanwendung als Mittel zur Herstellung einer ›zivilisatorischen Rehabilitation‹ der anvisierten Gemeinschaft (muslimisch oder nicht). Islamophobie schreibt eine globale rassistische Struktur fort und bestätigt diese zum Erhalt und zum Ausbau ungleicher Ressourcenverteilung« (Übers. d. Autors).36

Diese auf eine Kritik globaler, postkolonialer, rassistischer Machtstrukturen abzielende Perspektive konzentriert ihre Analyse und Kritik islamophober Diskurse auf die Machtebene und versteht die Wissensproduktion und die Narrative des antimuslimischen Rassismus in hegemonialen islamophoben Diskursen nicht als den zentralen Fokus der Analyse. Damit zielt die Berkeley Schule in ihren Islamophobia Studies tatsächlich auf einen größeren Rahmen und lässt sich in eine Tradition eingliedern, die wie Immanuel Wallerstein die Geschichte des »modernen Weltsystems« als »eine Geschichte der Expansion europäischer Staaten und Völker in den Rest der Welt«37 sieht. Als eine Besonderheit der kapitalistischen Weltwirtschaft sieht Wallerstein das Hervorbringen einer Epistemologie, die ihre Handlungsfähigkeit rationalisiert, indem sie diese legitimiert, bewahrt und expandiert.38 Dabei kann der zeitgenössische antimuslimische Rassismus/die Islamophobie auf alttradierte Bilder zurückgreifen, die sich im Gefolge der globalen Expansion westlicher Herrschaftsräume auf der Erde herausgebildet haben.39 Mit einem in der Empirie weniger globalen Zugang, theoretisch sich dennoch aber auf postkoloniale Theorien beziehenden Ansatz argumentierte bereits sehr früh in Deutschland (1994) die Autorin Iman Attia.40 In ihren Publikationen griff sie erneut das Thema des antimuslimischen Rassismus auf, als dieser offensichtlich gesellschaftlich virulenter wurde. So begreift sie die Beschäftigung mit ihm in dem 2007 veröffentlichten Sammelband Orient- und IslamBilder. Interdisziplinäre Beiträge zu Orientalismus und antimuslimischem Rassismus als Beitrag zur Dekonstruktion gesellschaftlicher Konstruktionsprozesse. Ihr geht 36 What is Islamophobia? 23. 1. 2015, http://www.irdproject.com/ [letzter Zugriff 25. 03. 2016]. 37 Immanuel Wallerstein, Die Barbarei der anderen. Europäischer Universalismus, Berlin 2007, S. 11. 38 Ebd., S. 59. 39 Ziauddin Sardar, Der fremde Orient. Geschichte eines Vorurteils, Berlin 2002, S. 35. 40 Iman Attia, Antiislamischer Rassismus. Stereotypen – Erfahrungen – Machtverhältnisse, in: Siegfried Jäger (Hg.), Aus der Werkstatt: Antirassistische Praxen, Duisburg 1994, S. 210–228.

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es um eine »hegemoniekritische Revision dominanter Bilder und Diskurse […], die im Dienste der Machtsicherung stehen«41. Attia begreift antimuslimischen Rassismus als Variante des Kulturrassismus, in dem »Religion […] kulturalisiert und zu wesentlichen Bestandteilen der kulturellen Selbst- und Fremdbezeichnung verschmolzen«42 wird. In diesem breiteren Rassismuskonzept, das von einer Rassifizierung von tatsächlicher oder zugeschriebener Religionszugehörigkeit ausgeht, bewegen sich zudem weitere deutschsprachige Arbeiten rund um Iman Attia, wie etwa jene von Yasemin Shooman, die explizit den Terminus des antimuslimischen Rassismus bevorzugen. Dies tut Letztere mit dem Verweis auf die Kritik an der Verwendung des Begriffs durch den Runnymede-Trust.43 Im deutschsprachigen Raum verwendet ein Gutteil der Autoren und Autorinnen diesen Begriff als Gegensatz zum Islamophobiebegriff, den sie als nicht rassismustheoretisch gerahmt wahrnehmen, obwohl Shooman eingesteht, dass im angelsächsischen Sprachraum dies immer mehr der Fall ist.44 Dabei ist festzuhalten, dass dies bei vielen bereits sehr früh passierte und nicht erst einen neueren Ansatz in der Erforschung von Islamophobie darstellt.45 Fanny Uri-Müller kritisierte in einer der ersten für Österreich erschienenen Arbeiten zur Islamophobie, dass hier der Begriff zwar explizit als »weit definierter Rassismus-Begriff verortet«46, dieser weite Rassismusbegriff aber nicht genauer definiert wird.47 So wurde in der ersten Ausgabe des damals noch ausschließlich deutschsprachigen Jahrbuchs für Islamophobieforschung darauf hingewiesen, dass die Frage der Beziehung von Rassismus und Islamophobie auch davon abhinge, welchen Rassismusbegriff man verwende – denn so vielfältig die Definitionen von Rassismus sind, so vielfältig seien auch die Antworten auf diese Frage.48 Wird also ein »Rassismus

41 Iman Attia, Kulturrassismus und Gesellschaftskritik, in: dies. (Hg.), Orient- und IslamBilder : interdisziplinäre Beiträge zu Orientalismus und antimuslimischem Rassismus, Münster 2007, S. 5–7. 42 Ebd., S. 9. 43 Yasemin Shooman, Angst vor dem Islam oder Rassismus gegen Muslime? Zur Einordnung antimuslimischer Diskurse aus rassismustheoretischer Perspektive, in: Reinhold Bernhardt/ Ernst Fürlinger (Hg.), Öffentliches Ärgernis? Moscheebaukonflikte in Deutschland, Österreich, und der Schweiz. Beiträge zu einer Theologie der Religionen, Band 12, Zürich 2015, S. 141–159. 44 Vgl. ebd., S. 154. 45 Robert Miles/Malcolm Brown, Racism. Key Ideas, London 2003, S. 29f. 46 John Bunzl/Farid Hafez, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Islamophobie in Österreich. Bozen, Innsbruck, Wien 2009, S. 7. 47 Fanny Müller-Uri, Antimuslimischer Rassismus, Wien 2014, S. 105. 48 Farid Hafez, Anstelle eines Vorworts, in: ders. (Hg.), Jahrbuch für Islamophobieforschung 2010, Bozen et al. 2010, S. 7–22.

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ohne Rassen«49 im Sinne eines Kulturrassismus propagiert, wo im antimuslimischen Rassismus der identitäre Aspekt der Religion in den Vordergrund gestellt wird? Oder wird aufgrund dieser Hervorhebung von Religion in der Konstruktion von Differenz gerade der Unterschied in den Konzepten gemacht, der eigentlich nur ein semantischer ist? In diese Richtung argumentiert etwa Malcolm Brown, der eine analytische Unterscheidung zwischen der Rassifizierung (racialization) einer ethnischen Gruppe auf der einen Seite und einer religiösen Gruppe auf der anderen Seite vornimmt. Letztere würde nicht primär biologische und somatische Unterschiede in den Vordergrund stellen, meint er.50 Diese Unterscheidung zwischen Rassifizierung und Rassismus weisen andere Autoren zurück. Ein breiteres Verständnis von Rassismus, welches den Begriff der Rasse im Rassismuskonzept abstrahiert, erlaubt es auch, antimuslimischen Rassismus und Islamophobie in ein solches Rassismuskonzept einzugliedern. In diesem Sinne wurde für das Jahrbuch für Islamophobieforschung folgende Definition als theoretisches Konzept, unabhängig von der jeweiligen disziplinären Herangehensweise, vorgeschlagen: »Islamophobie ist antimuslimischer Rassismus. Wie auch die Antisemitismusforschung zeigt, verweisen semantische und etymologische Komponenten von Begriffen notwendigerweise nicht auf die vollständige Bedeutung dieser sowie auf ihre Verwendung. So ist es auch im Falle von Islamophobieforschung. Heute wird der Begriff der Islamophobie selbstverständlich in der akademischen Landschaft ebenso wie in der öffentlichen Sphäre verwendet. Kritik an MuslimInnen sowie an der islamischen Religion ist nicht gleichzusetzen mit Islamophobie. Islamophobie bedeutet, dass eine dominante Gruppe von Menschen Macht erstrebt, stabilisiert und ausweitet, indem sie einen Sündenbock imaginiert, der real existiert oder auch nicht, und diesen Sündenbock von den Ressourcen, Rechten und der Definition eines kollektiven ›Wir‹ ausschließt. Islamophobie arbeitet mit der Figur einer statischen islamischen Identität, die negativ konnotiert ist und auf die Masse der imaginierten MuslimInnen generalisiert ausgeweitet wird. Gleichzeitig sind islamophobe Bilder fließend und verändern sich in unterschiedlichen Kontexten, denn Islamophobie sagt uns mehr über die Islamophoben aus, als sie uns etwas über ›den Islam‹ oder ›die MuslimInnen‹ sagen würde.«51

In Österreich wäre Fanny Müller-Uri zu nennen, die diesen Ansatz theoretisch weiter ausformuliert hat. Die Autorin begreift den antimuslimischen Rassismus in erster Linie als herrschaftsgeprägtes soziales Verhältnis, womit sich »in der Figur ›des Muslims‹ […] die Ökonomisierung wie Kulturalisierung des Sozia49 Ptienne Balibar/Immanuel Wallerstein/Michael Haupt, Rasse, Klasse, Nation: Ambivalente Identitäten, Hamburg 1990, S. 28. 50 Malcolm Brown, Conceptualising racism and Islamophobia, in: Jessika Ter Wal (Hg.), Comparative Perspectives on Racism, Aldershot et al. 2000, S. 74. 51 Farid Hafez, Arbeitsdefinition von Islamophobie, URL: http://jahrbuch-islamophobie.de/ islamophobia/, 2015.

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len« konzentriere. Antimuslimischen Rassismus versteht sie dabei »als zentrale Dimension der hegemonialen Struktur westlicher Gesellschaften«52. Hier geht es in einem größeren Bild um ein strukturelles Verständnis von Rassismus. Dabei steht nicht im Fokus, eine dritte Person als »Rassist« zu benennen, sondern sich selbst unserer rassistischen Praktiken, die in unsere Sozialisation und in unsere Wissensbestände eingeschrieben sind, bewusst zu werden. Eine Unterteilung, die sich für andere Autoren und Autorinnen daraus ergibt, ist jene in einen »strukturellen, impliziten bzw. unbewusst mitlaufenden racial othering, das all unsere Handlungen begleiten kann, und einem offensichtlich fokussierten, expliziten und bewussten doing race«53. Damit wird eine Erweiterung der Debatte über Rassismus bezweckt, die besonders im deutschsprachigen Raum, wo der Rassismus sowie der Antisemitismus oftmals als mit dem Nationalsozialismus untergegangenes und höchstens in rechten Zirkeln vorzufindendes Phänomen begrenzt wird, vonnöten scheint. Der Begriff der Ausländerfeindlichkeit oder Fremdenfeindlichkeit würde genau diese Abgrenzung von einem tiefgründigen Rassismus, der als Herrschaftsverhältnis und soziales Verhältnis verstanden wird, suggerieren, die tatsächlich nicht vorhanden ist. Mit dem Begriff der Dominanzgesellschaft kann genau diese strukturelle Dimension des antimuslimischen Rassismus angesprochen werden. In diesem Zusammenhang wird der antimuslimische Rassismus als »herrschaftlich geprägtes soziales Verhältnis«54 verstanden, und in Anlehnung an Gayatri Spivak als ideologischer Diskurs, symbolische oder epistemische Gewalt, die in einem asymmetrischen Machtverhältnis der Abwertung des Anderen und der Aufwertung des Eigenen dient.55 Notwendigerweise bedienen wir uns damit eines breiten Rassismusbegriffs, der von manchen Autoren und Autorinnen unter dem Begriff des Neo- oder Kulturrassismus läuft, der den Begriff der Rasse – analytisch wie auch historisch – als Produkt des Rassismus begreift. Konsequenterweise haben andere, wie etwa Mark Terkessidis, den Begriff der racialization – also der Rassifizierung – breiter gefasst. Racialization beschreibt Terkessidis als Prozess, »in dem einerseits eine Gruppe von Menschen mittels bestimmter Merkmale als natürliche Gruppe festgelegt und gleichzeitig die Natur dieser Gruppe im Verhältnis zur eigenen Gruppe formuliert wird«56. Tatsächlich kam es bereits nach der öffentlichen Diskreditierung des Rassebegriffs nach 1945 zu einer Restrukturierung rassistischer Argumentationsweisen. Bereits Fanon erklärte 1956: »Der 52 Fanny Müller-Uri, Antimuslimischer Rassismus, S. 127. 53 Florian Kreutzer, Stigma ›Kopftuch‹. Zur rassistischen Produktion von Andersheit (unter Mitarbeit von Sümeyye Demir), Bielefeld 2015, S. 21. 54 Fanny Müller-Uri, Antimuslimischer Rassismus, S. 62. 55 Ebd., S. 68. 56 Mark Terkessidis, Die Banalität des Rassismus. Migranten der zweiten Generation entwickeln eine neue Perspektive, Bielefeld 2004, S. 98.

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Rassismus, der sich rational, individuell, genotypisch und phänotypisch determiniert gibt, verwandelt sich in einen kulturellen Rassismus«.57 Ähnlich erklärte auch Theodor W. Adorno zwei Jahre davor: »Das vornehme Wort Kultur tritt anstelle des verpönten Ausdrucks Rasse, bleibt aber ein bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch.«58 Wenn hier also vom antimuslimischen Rassismus gesprochen wird, dann wird damit gemeint, dass »ein essentialistisch gedachtes Kulturkonzept als funktionales Äquivalent des biologistischen Rassebegriffs auftritt«59, das in diesem Falle nicht nur auf Kultur, sondern eben auch auf Religion übertragen wird. Im Kern steht die Naturalisierung einer kulturellen oder religiösen Differenz, die den ideologischen Kern aller Rassismen ausmacht.60 So galten bereits die Juden im antisemitischen Denken als »mentale Rasse« sowie als die »kulturell nicht Assimilierbaren«.61 Und so wird heute die Figur des Muslims als Gegenstand imaginiert, die in einem Kollektiv entindividualisiert und in einem gleichen Muster muslimischer Kultur konstruiert wird. Bezugnehmend auf Foucault, Gramsci und Derrida erklärt Iman Attia in Bezug auf Europa, dass »Ausbeutung […] nicht mehr ausschließlich oder primär über direkte Gewalt« funktioniere, sondern »mit kultureller Hegemonialisierung einher[gehe]«. »Die Fokussierung von Kultur«, so Attia weiter, »verortet damit Kultur als drittes Element neben Struktur und Subjekt«62. Dies dient im Weiteren dem Regierbarmachen dieser ›Gefahr‹. Wie Attia an anderer Stelle darlegt, werden »antimuslimische Diskurse als Selbstverteidigung präsentiert – analog zur nationalsozialistischen und rechtsextremen Präsentation antisemitischer Diskurse als Selbstverteidigung«63. Vor dem Hintergrund eines Hegemonialwerdens islamophober Diskurse erklärt sich auch ein Stück weit die offizielle Islampolitik in vielen europäischen Ländern.

57 Frantz Fanon, Rassismus und Kultur, in: ders.: Für eine afrikanische Revolution. Politische Schriften, Frankfurt a.M. 1972, S. 40. 58 Theodor W. Adorno, Schuld und Abwehr. Eine qualitative Analyse zum Gruppenexperiment, in: ders. Gesammelte Schriften, Bd. 9.2 (Soziologische Schriften II.2), Frankfurt a.M. 2003, S. 277. 59 Fanny Müller-Uri, Antimuslimischer Rassismus, S. 91. 60 Ebd., S. 96. 61 Ebd., S. 97. 62 Iman Attia, Die ›westliche Kultur‹ und ihr Anderes. Zur Dekonstruktion von Orientalismus und antimuslimischen Rassismus, Bielefeld 2009, S. 23. 63 Ebd., S. 89.

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Die Wiederkehr der Figur des Muslims

Bezugnehmend auf die Dimensionen ›Herrschaft‹, ›Macht‹ und ›Hegemonie‹ als zentrale Bestandteile der Islamophobie ist im Zusammenhang mit dem Verweis auf die imaginative Konstruktion von Islam und Muslim zu betonen, dass diese im zweiten Schritt ›real‹ werden, weil sie aus dem Diskurs hervorgebracht und, wie Fanon schreibt, schließlich »alte Bekannte«64 werden. So sehr sie auch Ausdruck gesellschaftlicher Konstruktionsprozesse sind, gilt dennoch: Kategorien von Ethnie, Rasse oder Religion werden erschaffen und erscheinen real.65 Sie sind nicht nur in der Imagination real, sondern stellen auch reale Gegenstände dar, die es zu regieren gilt, die zu unterwerfen sind, an denen Macht ausgeübt wird, wie Edward Said in seinem Werk Orientalismus als Machtdiskurs zur Vorherrschaft des Westens über den Nicht-Westen attestierte.66 So hat etwa Levent Teczan in seinem Essay Das muslimische Subjekt veranschaulicht, dass der Kampf um die Deutung des Islam bei Weitem kein neues Phänomen ist. Die »Schaffung eines europäischen Islams«67, so Tezcan, sei eine von mehreren Kontinuitäten, die sich in einem vergleichenden Blick auf die Islampolitik der deutschen Kolonialkongresse 1905 und 1910 sowie der seit 2006 stattfindenden Deutschen Islam Konferenz zeige. Tezcan bezeichnet mit diesem Begriff des ›europäischen Islam‹ jenen ›Islam‹, der im Islamdiskurs als ›zivilisationskompatibel‹ markiert wird. Deutungshoheit besitzen in diesem Fall die herrschenden Eliten, die keinen neutralen oder universalen Zivilisationsbegriff vertreten – sollte es einen solchen überhaupt geben –, sondern einen aus ihrer partikularen Sicht herausgenommenen universalisierten Zivilisationsbegriff. Er meint die Konstruktion eines Islam, der eingegliedert werden kann, muslimische Subjekte, die nicht gegen die Ordnung aufbegehren, die also im Sinne von Foucaults Gouvernementalitätstheorie regierbar gemacht werden. Mit diesem Schritt verschränkt sich auch wieder die Frage des imaginierten Islambildes im antimuslimischen Rassismus mit dem muslimischen Subjekt, das um seine Existenzberechtigung inmitten dieses hegemonialen Diskurses kämpft. Und das prägt aus der Sicht des Verfassers, wie man gerade in Deutschland mit seinen neuen Strukturen akademischer Einrichtungen der Islamischen Theologie sieht, nicht zuletzt auch die sich selbst als ›muslimisch‹ markierenden Akteure. In diesen Anmerkungen wird nicht auf den Begriff des Subjektes des späten Foucaults Bezug genommen, wo es ihm darum geht, Technologien des Selbst zur 64 65 66 67

Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde 1981, S. 30. Wolf-Dietrich Bukow, Feindbild: Minderheit. Ethnisierung und ihre Ziele, Opladen 1996. Edward Said, Orientalism, New York 1978. Hervorhebung im Original. Levent Tezcan, Das muslimische Subjekt. Verfangen im Dialog der Deutschen Islam Konferenz, Konstanz 2012, S. 23.

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Emanzipierung desselben zur Herausforderung existierender Machtbeziehungen zu benutzen, sondern es geht im Gegenteil darum, vor dem Hintergrund der Verflechtung von Macht und Wissen im Diskurs im Sinne von Stuart Halls Rezeption von Foucault68 darauf hinzuweisen, dass sich jedes Subjekt Regeln und Konventionen zu unterwerfen hat.69 In den Worten von Foucault heißt es zum Subjekt: »Das Wort Subjekt hat zwei Bedeutungen: es bezeichnet das Subjekt, das der Herrschaft eines anderen unterworfen ist und in seiner Abhängigkeit steht; und es bezeichnet das Subjekt, das durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis an seine eigene Identität gebunden ist.«70

Der Autor bezieht sich hier vordergründig auf die erste der beiden Definitionen. Das muslimische Subjekt kann im Kontext der assimilativen Islampolitik daher als diszipliniertes Subjekt gedeutet werden, das sich im asymmetrischen Verhältnis des Bittstellers den ideologischen Normen homogen konstruierter nationaler Identität zu unterwerfen hat, die in ihrer Konsequenz eine Assimilation bedeuten.71 Im publizistischen wie auch im publizistisch-theologischen Islamdiskurs ist diese Haltung nicht nur bei besonders exponierten Personen, die wie etwa Hamed Abdel Samad in Der islamische Faschismus dem Islam einen intrinsischen Faschismus unterstellen, zu sehen. Wunderbar drückt dies Johann von Magdeburg aus, der um das Jahr 1790 herum gedichtet haben soll: »Jud’ und Heid’ und Muselmann, Ist er brav, sei unser Mann«.72

Es scheint, als würde die Theorie der Zweiteilung, wie sie der afro-amerikanische Denker William Edward Burghardt Du Bois (1868–1963) mit seinem Konzept des ›doppelten Bewusstseins‹ beschrieben hatte, heute auch auf die sich selbst muslimisch markierenden Personen plagen: ›Doppeltes Bewusstsein‹ bedeutet bei Du Bois: »[…] this sense of always looking at one’s self through the eyes of others, of measuring one’s soul by the tape of a world that looks on in amused contempt and pity. One ever feels his twoness, – an American, a Negro; two souls, two thoughts, two unreconciled

68 Stuart Hall (Hg.), Representation: Cultural Representations and Signifying Practices, London 1997, S. 55f. 69 Michel Foucault, Schriften, Band IV, 1980–1988, Frankfurt a.M. 2005, S. 759. 70 Michel Foucault, Subjekt und Macht, in: ders. (Hg.), Schriften in vier Bänden, Band 4, Frankfurt a.M. 2001, S. 275. 71 Michel Foucault, Discipline and Punish: The Birth of the Prison, New York 1977, S. 170. 72 Johann von Magdeburg: »Jud’ und Heid’ und Muselmann, Ist er brav, sei unser Mann«, http:// paschamd.jimdo.com/biographien/heinrich-zschokke/.

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strivings; two warring ideals in one dark body, whose dogged strength alone keeps it from being torn asunder«73

Du Bois sprach dazumal über die Wünsche jener, die wie er selbst immer danach trachteten, Amerikaner und Schwarzer zugleich sein zu können. Sie vermögen es nicht mehr, aus diesem dichotomischen Gegensatz, der sich in ihrem Leben tagtäglich manifestiert, auszubrechen. Deutscher oder Muslim, Demokrat oder Muslim? Oder gehört der Islam zu Deutschland? Ist der Islam demokratisch, barmherzig etc.? Diese Debatten verweisen auf gerade diesen diskursiven Druck, dem die erschaffenen Muslime ausgesetzt werden. Ähnlich sprach auch Fanon über die Begierde ehemalig kolonialisierter Subjekte, weiß sein zu wollen.74 Diese Übernahme dichotomischer Kategorien und die ›Weißwerdung‹ funktionieren bis in unsere Tage, wie etwa für die slowakische Gemeinde der Roma nachgezeichnet wurde.75 Sehen wir diese Begierde bei all jenen, die jenseits akademischer Demut den Islamofaschismus als Wesen des Islam beschreiben? Zu guter Letzt zeigt sich damit, dass durch die Hintertür die Kategorie des ›Muslim‹ wieder in Erscheinung tritt. Von den unmittelbar betroffenen Gruppen werden unterschiedliche ›Empowerment‹-Strategien angewandt, um diesem Rassismus etwas entgegenzusetzen. Und die Dominanzgesellschaft bedient sich der muslimischen Kronzeugen, die eine Befreiung vom Islam predigen.76

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Conclusio

Mit diesem Beitrag wurde ein Überblick über die theoretische Entwicklung der Islamophobiefoschung in den letzten 15 Jahren gegeben. Es kann von einer Herausbildung unterschiedlicher Schulen gesprochen werden: zum einen die Schule, welche die Islamophobieforschung in ihrer wissenschaftlichen Auseinandersetzung in erster Linie im Anschluss an eine Vorurteilsforschung betreibt. Stellvertretend hierfür wären in Deutschland der Ansatz des Historikers Wolfgang Benz und in den USA der Ansatz rund um den Politik- und Religionswissenschaftler John Esposito an der Georgetown University zu nennen. Für den zweiten Ansatz, 73 William Edward Burghardt Du Bois, The Souls of Black Folk, New York 1996, S. 5. 74 Frantz Fanon, Black Skin, White Masks, New York 2008. 75 Barbara Tiefenbacher, »Weil die Weißen es so möchten«. Rassismus gegen Roma/Romnija in der Slowakei aus der Perspektive der Critical Whiteness Studies. Eine Annäherung, in: Geine Drews-Sylla & Renata Makarska (Hg.), Neue alte Rassismen? Differenz und Exklusion in Europa nach 1989, Bielefeld 2015, S. 69–102. 76 Yasemin Shooman, Einblick gewähren in die Welt der Muslime. ›Authentische Stimmen‹ und ›Kronzeugenschaft‹ in antimuslimischen Diskursen, in: Iman Attia, Swantje Köbsell & Nivedita Prasad (Hg.), Dominanzkultur Reloaded. Neue Texte zu gesellschaftlichen Machtverhältnissen und ihren Wechselwirkungen, Bielefeld 2015, S. 47–58.

Worüber sprechen wir?

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der Islamophobie primär in einem asymmetrischen Machtverhältnis verortet und theoretisch insbesondere an postkoloniale Arbeiten anknüpft, wäre die Berkeley Schule rund um Hatem Bazian zu nennen. Insbesondere knüpfen die Arbeiten von Iman Attia, Yasemin Shooman und Fanny Uri-Müller an rassismustheoretische Ansätze an. Das Jahrbuch für Islamophobieforschung reflektierte von Anfang an den zentralen Aspekt der Macht- und Herrschaftsdimension, stand pragmatisch aber unterschiedlichen Ansätzen offen gegenüber. Zwischen der Berkeley Schule und den deutschsprachigen Arbeiten zeichnet sich vor allem ein thematischer Unterschied ab, der an eine unterschiedliche theoretische Auffassung geknüpft ist. Die Berkeley Schule sieht die Islamophobie als Produkt von Herrschaftsstrukturen und nimmt damit explizit polit-ökonomische sowie soziale Ungleichheitsverhältnisse in den Blick. Das geschieht in der theoretischen Annahme zwar auch bei manchen deutschsprachigen Theoretikern und Theoretikerinnen wie Fanny Müller-Uri, die den antimuslimischen Rassismus als herrschaftsgeprägtes soziales Verhältnis versteht, jedoch folgten oftmals keine Arbeiten, die sich explizit dieser Dimension des antimuslimischen Rassismus widmeten. Es wird sich in Zukunft zeigen, ob dieser Trend der Entwicklung beider Schulen der Islamophobieforschung weiter anhalten wird, aber auch, ob die Ambitionen akademischer Einrichtungen zur Islamophobieforschung, wie sie in regelmäßigen Konferenzen und Periodika Niederschlag finden, auch ihren Ansprüchen nachkommen werden, ungerechte Herrschaftsverhältnisse aufzuzeigen und diese zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Kritik zu machen.

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Naime C ¸ akır

Das Eigene und das Fremde – zwischen Heterophobie und Rassismus

In vielen europäischen Ländern manifestiert sich das Fremde wesentlich entlang der islamischen Religionszugehörigkeit, die insbesondere infolge der Entkolonialisierung in den 1950er- und 1960er-Jahren und der dadurch ausgelösten postkolonialen Wanderungen aus Nordafrika und durch die Gastarbeiterwelle der »Pioniermigranten« aus muslimisch geprägten Ländern zunehmend ins Blickfeld der Öffentlichkeit geriet. Mit der sichtbaren Zunahme der religiösen Orientierung und den damit verbundenen Riten und Symbolen wuchs offenkundig die Skepsis gegenüber dieser aus der Fremde importierten Religion, die mittlerweile längst in den europäischen Metropolen angekommen ist. Sowohl die Bleibeorientierung der ehemaligen Einwanderer als auch die damit verbundene Loslösung des Islam aus seinen ursprünglichen Kernländern (Entterritorialisierung) kennzeichnen den neuen sichtbar gewordenen »europäischen Islam«, der die Identitätskonstruktionen des »Eigenen« insgesamt zu erschüttern scheint, weshalb diese Entwicklung eine massive Abwehr bis hin zur Feindlichkeit gegenüber dem Islam auszulösen scheint. Die neuen »europäischen Muslime« versuchen zunehmend, öffentliche Räume religiös zu besetzen und einen eigenen Weg zwischen Moderne und Tradition zu finden. Hierbei geht es dieser Generation in weiten Teilen längst nicht mehr um eine bloße Konservierung des vom jeweiligen Herkunftsland importierten elterlichen Religionsverständnisses, sondern sie sind vielmehr im Sinne einer relativen Entkoppelung des Islam von der Herkunftskultur darum bemüht, im Rückgriff auf die Primärquellen des Islam ein enttraditionalisiertes, gewissermaßen »reines« Islamverständnis zu entwickeln und zu rekonstruieren und diesen Islam öffentlich sichtbar und lebbar zu machen. Insofern findet mit diesem Bemühen um ein neues Religionsverständnis nicht nur eine Entterritorialisierung des Islam statt, sondern auch eine Form der Enttraditionalisierung, bei der es unter anderem darum geht, den Islam in die europäische Kultur zu implementieren. Dieser Prozess der Integration löst Abwehrreaktionen aus, wodurch der Islam nicht nur zum zentralen Differenzmarker zwischen dem Eigenen und dem Fremden wird, sondern zunehmend als feindlicher Antagonist zum Eigenen

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erlebt wird1 Im deutschen Kontext lässt sich dieser Prozess im Rahmen der Integrationsbemühungen der Nachkommen der ehemaligen Gastarbeitergeneration aufzeigen. Im Zuge von Bleibeorientierung und zunehmendem Selbstbewusstsein der zweiten und der dritten Generation wurden die etablierten Rollen des Gastgebers und des Gastes infrage gestellt, weshalb es einer Neujustierung der Rollen innerhalb des Gesellschaftsgefüges bedurfte, die die Marginalisierung der mittlerweile etablierten Einwanderer weiterhin zu gewährleisten hatte. Hierbei werden antiislamische Vorurteile und Feindbilder als Mechanismen der sozialen Ausgrenzung gegenüber Menschen muslimischen Glaubens genutzt, um insbesondere diejenigen, die bereits in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind, an die randständigen Positionen der Gesellschaft zu binden.2 Im weiteren Fortgang der vorliegenden Analyse wird aufzuzeigen sein, dass diese »moderne Form der Islamfeindlichkeit« als »Ethnizismus« mit seinen unterschiedlichen Spielarten zu fassen ist. Dies wird an konkreten Beispielen aktueller islamfeindlicher Positionen aufgezeigt.

1

Ethnisierung des Islam: vom Gastarbeiter zum Muslim3

In den ersten 20 Jahren der Migration spielte die Religiosität des »Gast«-Arbeiters der ersten Generation zunächst nur eine marginale Rolle für das »EigenKulturelle« der Residenzgesellschaft, da der muslimische Gastarbeiter seinen Glauben, wenn überhaupt, abseits in seiner provisorischen Unterkunft (und später in den typischen Hinterhofmoscheen) praktizierte. Nun haben die Gäste – und insbesondere deren Nachkommen – schon längst die ihnen zugewiesene Gastrolle verlassen, die sie in den 1960er- und 1970er-Jahren auch räumlich in das innere Ausland (Türkenschulen/Wohnviertel in randständigen Bezirken oder Hinterhofmoscheen etc.) verwies, die eine Nicht-Beachtung im Sinne einer »Vergegnung« ermöglichte. Durch die nicht mehr zu übersehende Realität der Bleibeorientierung und dem damit verbundenen Nachzug der Familienmitglieder kam es sowohl für die Residenzgesellschaft als auch für die Einwanderer zu einem »Figurationswandel der deutschen Einwanderungsgesellschaft«, der sich unter anderem als »Rangordnungskonflikt« äußerte, im Zuge dessen sowohl die Alteingesessenen von ihrem selbstverständlich eingenommenen machtvol-

1 Vgl. Naime C ¸ akır, Islamfeindlichkeit, Bielefeld 2014, S. 144ff. 2 Vgl. ebd. 3 Vgl. zu diesem Abschnitt C ¸ akır, Naime, Feindbild Islam: antiislamischer Ethnizismus. In: Klöcker, M./Tworuschka, U. (Hg.): Handbuch der Religionen, Olzog Verlag, München, 46, Ergänzungslieferung 2015, IV-3.15, S. 1–18.

Das Eigene und das Fremde – zwischen Heterophobie und Rassismus

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len »Gastgeberstatus« als auch die Zugewanderten von ihrer »Gastrolle« sukzessive abrücken mussten.4 Der nun sesshaft gewordene »Gast«-Arbeiter und insbesondere seine in Deutschland geborenen Nachkommen wurden faktisch deutsche Staatsbürger mit entsprechenden staatsbürgerlichen Rechten. Somit wurde das in Deutschland geborene und dort sozialisierte und ausgebildete »Gast-Arbeiter-Kind« zugestandenermaßen ein »ausländischer Mitbürger« beziehungsweise ein Mitbürger »mit Migrationshintergrund«, der nun ganz selbstverständlich – eben als deutscher Staatsbürger – die gleichen Rechte (insbesondere die der verfassungsrechtlich zugesicherten freien Religionsausübung) und Pflichten für sich beanspruchen konnte beziehungsweise wie seine Mitbürger ohne Migrationshintergrund auf sich nehmen musste. Als mündige Bürger dieses Landes beanspruchen sie nun Rechte und Rollen, die für sie nicht vorgesehen waren, weshalb es einer Neujustierung der Rollen innerhalb des Gesellschaftsgefüges bedurfte. Mit diesem sozialen Figurationswandel trat der nun »sichtbar« gewordene Gast-Arbeiter (und insbesondere seine Nachkommen) aus der anonymen Position des »Niemand« heraus und wurde damit im Sinne Zygmunt Baumans zum »uneindeutigen« und damit zum unkalkulierbaren »Fremden im Eigenen« beziehungsweise zu einem mit Ambivalenz behafteten unidentifizierbaren »Dritten«, der aus der Perspektive des Eigenen die imaginierten Grenzen zwischen »Eigenem« und »Fremdem« aufzulösen droht.5 Demnach stellt die muslimische (Einwanderungs-)Gruppe das mit Ambivalenzstrukturen behaftete »uneindeutige Dritte« innerhalb des nationalstaatlichen Gebildes dar, und stellt damit dessen angestrebte homogene Identitätskriterien potenziell infrage.6 Mit Bezug auf diese Überlegungen lässt sich schließen, dass der im Zuge der Akkulturation mehr oder weniger assimilierte Zugewanderte, der aus islamisch geprägten Ländern nach Deutschland kam, tendenziell der Fremde7 im Status »des Dritten« bleibt, dem man latent miss4 Jörg Hüttermann, Moscheekonflikte im Figurationsprozess der Einwanderungsgesellschaft, Frankfurt a.M. 2011, S. 57. 5 Vgl. Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz, Hamburg 1991, S. 26. 6 Vgl. Sevasti Trubeta, Die Konstitution von Minderheiten und die Ethnisierung sozialer und politischer Konflikte, Frankfurt a.M. 1999, S. 35. 7 Hier wird Fremdheit nicht als eine anthropologische Konstante aufgefasst. Vielmehr wird Fremdheit – im Gegensatz zum alltagstheoretischen Verständnis vom Fremden – als soziale Konstruktion verstanden. In diesem Konstruktionsprozess können Menschen, obgleich sie seit Jahrhunderten im nationalstaatlichen Sinne Staatsbürger sind, anhand bestimmter Merkmale, wie Religion, Kultur und Sprache, als Fremde markiert werden. In diesem Sinne kann der »Fremde« auch über Jahrhunderte hinweg im nationalstaatlichen Sinne ein Einheimischer sein. Insofern ist es unerheblich, ob diejenigen, die dem islamischen Kollektiv zugeordnet werden, hier geboren oder aus anderen Ländern zugereist oder deutsche Muslime

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traut. Es ist genau das ihm anhaftende Unentscheidbare beziehungsweise ein »Weder-Noch«, das aus der Perspektive des Eigenen tendenziell – je nach gesellschaftspolitischer oder sozialökonomischer Lage – aus dem undefinierbaren »Dritten« einen Freund oder Feind zu machen imstande ist.8 Für Bauman kennzeichnet dies die über Jahrhunderte andauernde Situation des jüdischen Bevölkerungsanteils in Europa. Der bekennende Jude konnte sich ebenso wenig wie der assimilierte Jude diesem zugeschriebenen Status des »Dritten« entziehen. Was immer er tat oder wie auch immer er sich gab, er blieb als Jude stets verhaftet im Status »des Dritten«. Somit blieb der Jude der »Fremde im Innern« und als solcher ging von ihm eine latente Gefahr für die Identität der »Gruppe der Eigenen« aus.9 Dies ist die eine Seite, die vom Fremden auszugehen scheint. Auf der anderen Seite bedarf es des Fremden zur Grenzmarkierung zum Eigenen, da ohne die als irritierend bis gefährlich erlebten Wesensmerkmale und Eigenschaften des Fremden (als des »ganz Anderen des Eigenen«) das davon abzugrenzende, positiv konnotierte Eigene definitorisch nicht zu fassen ist. Insofern ist der Fremde einerseits im Zuge der Beseitigung von Ambivalenzstrukturen einem unaufhörlichen Assimilations- oder Ausgrenzungsdruck in Richtung der »eigenen Identitätsauffassung« ausgesetzt, andererseits bildet er als Abgrenzungsmerkmal zum Eigenen der Residenzgesellschaft die unersetzliche Kontrastfolie für die Konstituierung der eigenen kulturell-religiösen und nationalen Identitätsauffassung. Diesem Assimilations- und Ausgrenzungsdruck sind nun insbesondere die Nachkommen der Gastarbeitergeneration ausgesetzt, die in Deutschland geboren sind, dort ihre Bildungsabschlüsse erlangt haben und sich selbstbewusst zum Glauben ihrer Eltern bekennen. Dies führt zu der paradoxen Situation, dass vor allem diejenigen Muslime als besonders suspekt gelten, die sich als Deutsche muslimischen Glaubens begreifen und sich als selbstbewusste deutsche Mitbürger/innen zu erkennen geben, womit sie in der Selbstwahrnehmung des Eigenen die konstruierte deutsche Leitkultur-Idee gefährlich zu bedrohen scheinen. Insofern widerspräche hier die allseits bekundete Integration im Sinne eines dialogischen Einbringens der kulturellen und religiösen Werte von Minderheiten in die Residenzgesellschaft den nationalstaatlich-kulturellen Identitätsbemühungen, die gerade dann hochgehalten werden müssen, wenn das Eigene einem größeren Bedrohungspotenzial ausgesetzt zu sein scheint, wie dies zum

sind. Es geht vielmehr darum, dass diese gegenüber der Gruppe der Eigenen als Gruppe der Fremden markiert wird. 8 Vgl. Naime C ¸ akır, Islamfeindlichkeit, Bielefeld 2014, S. 57ff. 9 Vgl. Zygmunt Bauman, Dialektik der Ordnung, Hamburg 1994, S. 50.

Das Eigene und das Fremde – zwischen Heterophobie und Rassismus

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Beispiel die aufflammende Debatte der Leitkultur-Idee zeigte, die im Jahre 2000 die Politik und die Medien bestimmte. Solange »der Türke« eben als Türke erkennbar war, konnte er in seinem erkennbaren Anders-Sein als der Andere des Eigenen typisiert, als Grenze zum Eigenen markiert und gegebenenfalls im sozialen Miteinander ignoriert werden. Er war im Grunde aus nationalstaatlich-identitätssichernder Perspektive »bedeutungs«-los. Indem sich »der Türke« zunehmend als Deutscher mit gleichen Rechten und Pflichten eines Bürgers deutscher Staatszugehörigkeit begriff und sich als solcher zu erkennen gab, geriet er verstärkt als der »Fremde im Eigenen« mit seinen irritierend erlebten ethnisch-kulturellen Werten in den Blick.10 Demnach besteht eines der »Hauptvergehen« aller Immigranten darin, dass sie nicht nur nicht mehr aus Deutschland wegzugehen gedenken, sondern zunehmend für sich beanspruchen, Deutsche und (teilweise) gleichermaßen bekennende Muslime und Musliminnen mit Macht- und Anerkennungsansprüchen zu sein. Das heißt: Mit der wachsenden Teilhabe an gesellschaftspolitischen Prozessen und dem allmählichen Verlust des Gastarbeiterstatus in Richtung Staatsbürger mit gleichen Rechten und Pflichten verschob sich die ehemals auf die Herkunft bezogene kategoriale Bestimmung der Gastarbeitergeneration (»Türke«) auf deren fremdreligiöse Orientierung (»Islam«).11 Seit den 1990er-Jahren findet somit die Differenzkonstruktion in Deutschland nicht nur entlang eines ethnisch begrenzten Kulturverständnisses statt, sondern auch entlang einer ethnisierten Weltanschauung, welche die islamische Religion als das Gegenbild zur christlich-abendländischen Kultur in den Blick nimmt und

10 Offenbar wurde erst ab diesem Zeitpunkt das wenig beachtete Kopftuch der sich bis dahin unsichtbar gebenden Gastarbeiterfrauen zum gesellschaftspolitischen Problem, als eben jene jungen, Kopftuch tragenden Musliminnen mit höheren Bildungsabschlüssen begannen, sichtbar in entsprechende Berufe mit höherem Prestige zu drängen und dort nicht bereit waren, ihr Kopftuch abzunehmen. Damit wurden sie gegenüber ihren Mitbürgerinnen zur sichtbaren und ernstzunehmenden Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, und das Kopftuch dieser Frauen wurde nun per se, wie dem hessischen Verfassungsbericht des Jahres 2004 zu entnehmen war, zur »Fahne für Islamisten« – eine Bewertung, die in ähnlicher Weise selbst noch im Jahre 2015 von prominenter Seite vorgenommen wurde. So kritisierte anlässlich eines Interviews der frühere Präsident des nordrhein-westfälischen Verfassungsgerichtshofs, Michael Bertrams, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Januar 2015, muslimischen Lehrerinnen das Kopftuch im Unterricht zu erlauben, mit den Hinweis, dass das Kopftuch mit einem »trojanischen Pferd« zu vergleichen sei. Es handele sich hierbei seitens »aggressiver Ansprüche der islamischen Verbände und ihrer Wortführer« im Wesentlichen um den Versuch, »Gesellschaftspolitik im Gerichtssaal zu machen und den Wulf-Merkel’schen Programmsatz ›Der Islam gehört zu Deutschland‹ verfassungsrechtlich abzusichern.« (vgl. Frankfurter Rundschau, 17. 03. 2015, S. 5.) 11 Vgl. Naime C ¸ akır, Islamfeindlichkeit, S. 144.

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diese auf dem Wege einer zunehmend undifferenzierten Essentialisierung und Homogenisierung ethnisiert. Die moderne Form der Islamfeindlichkeit knüpft an diesen Ethnisierungsprozess an und konstruiert Muslime nicht nur als das »Andere des Eigenen«, sondern auch als das »Fremde im Eigenen«, das dem Eigenen feindlich gegenübersteht. Diese moderne Form der Islamfeindlichkeit zeigt sich in ihrer Konstruktionsweise im Sinne einer Neo-Ethnizität12 als »Ethnizismus«, mit dem, je nach positiver oder negativer Bedeutungskonstruktion, sowohl die Ungleichheit als auch die Ungleichwertigkeit verschiedener Gruppen postuliert werden kann.13

2

Ethnizismus – die moderne Form der Islamfeindlichkeit

Von einem solchen Ethnizismus wäre demnach zu sprechen, wenn im Sinne einer Neo-Ethnizität sowohl Differenzkonstruktionen vollzogen als auch eine Semantik der Ungleichheit oder Ungleichwertigkeit mit impliziten Ressentiments transportiert werden, wobei eine solche Ethnifizierung (noch) nicht ideologisch im Sinne einer rassistischen Ideologie fixiert sein muss.14 Ethnizismus kann sich auch in scheinbarer Anerkennung jeweiliger kultureller Unterschiede und als Toleranz gegenüber dem Fremden zeigen, da auch hier die Unvereinbarkeit der Lebensweisen unterschiedlicher Kulturen und Ethnien die Ausgangsbasis bildet. Demgegenüber impliziert der Neo-Rassismus eine »Ideologie der Ungleichwertigkeit« zum Zwecke der Hierarchisierung und Durchsetzung von Macht, dem der Ethnizismus gewissermaßen vorgeschaltet beziehungsweise inhärent ist. Dies soll heißen, dass auf Kulturen, Ethnien und Religionen bezogene Differenzkonstruktionen – ob auf offenen oder implizit negativen Diskriminierungen oder auf positiven, vom Gedanken der Toleranz und Anerkennung getragenen Intentionen beruhend – per se essentialistische Vorstellungen und simplifizierende Typisierungen von heterogenen sozialen Strukturen transportieren. Insofern bilden diese die Grundvoraussetzung für neo-rassistische 12 Vgl. Oliver Roy, Der islamische Weg nach Westen. Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung, Bonn 2006, S. 129. 13 Vgl. ebd. 14 Bei dieser Differenzkonstruktion beobachten wir die Konstruktion neuer Gruppen und Identifikationen im Sinne eines aufeinander bezogenen Prozesses von Selbst- und Fremdzuschreibungen, die sich im Sinne einer Produktion und Reproduktion einer jeweiligen imaginären Werte-Gemeinschaft mithilfe bestimmter Strategien sozialer Verortungen konstituiert und vor diesem Hintergrund ein Identitäts- und Solidaritätsbewusstsein ausbildet, das durch spezifische Ein- und Ausschließungsprozesse gekennzeichnet ist.

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Positionen. Dennoch ist diese Form von Differenzkonstruktion nicht gleich Rassismus, da sich hier lediglich eine Semantik der Ungleichheit mit simplifizierenden Vorurteilen und Typisierungen paart, die nicht per se von unkorrigierbaren Vorurteilen und einem geschlossenen Feindbild durchdrungen sind, die es rechtfertigten, von einem differenzialistischen Rassismus oder einem »antiislamischen Ethnizismus« zu sprechen. Deshalb ist hier zwischen einem »islambezogenen Ethnizismus« und einem »antiislamischen Ethnizismus« zu unterscheiden.

2.1

Auf den Islam bezogener Ethnizismus

Mit einem auf den Islam bezogenen Ethnizismus sind folgende charakteristische Merkmale angesprochen: (1.) die Konstruktion einer ethnisch verstandenen Religionsgemeinschaft (der Muslime), die essentialistisch gedeutet wird und das Andere des Eigenen symbolisiert; (2.) ein damit verbundener Glaube, der aus seinem komplexen religionsgeschichtlichen Hintergrund herausgelöst und als eine Reihe überkommener kultureller Muster gesehen wird, die als solche nicht mehr mit dem spirituellen Leben einer Person verbunden sind, und in der (3.) die Heterogenität der islamischen Religion und die Vielfalt des muslimischen Lebens unberücksichtigt bleiben. Der jeweilige Mensch mit seiner Lebenswelt, seiner Weltauffassung und seinem Wertebekenntnis wird primär als Angehöriger einer ethnisch verstandenen islamischen Religion gesehen, sodass (4.) die Religion als Differenzmarker einen Masterstatus bei der Zuweisung von Identität und Zugehörigkeit bekommt, ungeachtet dessen, wie die betroffene Person es mit ihrer Religion hält. Im Grunde findet hier eine »Kulturalisierung beziehungsweise Ethnisierung« statt, mit der der »Fremde« beispielsweise als »der Türke« oder – im Zuge der hier aufgezeigten Ethnisierung von Religion – als »der Moslem« mit seinem Glauben (»dem Islam«) im Sinne eines statisch-unveränderlichen »Kollektivsubjekts« substantiviert wird.15 Die Grenze zwischen einem islambezogenen und einem antiislamischen Ethnizismus ist bisweilen sehr schmal, da hier zunächst die gleichen Konstruktionsmechanismen wirksam sind, die sich jeweils – je nach dem Charakter der Intention gegenüber dem Anderen des Eigenen – zu einer positiven oder negativen Haltung gegenüber dem Anderen des Eigenen entwickeln können. Insofern darf hier nicht übersehen werden, dass neben den offenbar zunehmenden rassistischen Erscheinungen bereits äußerst konstruktive dialogische 15 Vgl. Jörg Hüttermann, Moscheekonflikte im Figurationsprozess der Einwanderungsgesellschaft, Frankfurt a.M. 2011, S. 50ff.

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Initiativen in einer Gesellschaft mit Menschen unterschiedlichster ethnischer und religiöser Herkunft existieren, und dass dort in einem demokratischen Miteinander immer wieder neu an gemeinsamen, verständnisvollen Wegen mit dem jeweiligen Fremden im Eigenen gearbeitet wird. All dies gibt dazu Anlass, eine wesentliche inhaltliche wie terminologische Unterscheidung zwischen der Ethnisierung einer Religion – hier des Islam – und eines darauf bezogenen Rassismus vorzunehmen. Da der Terminus »Rassismus« meist assoziativ mit dem biologischen Rassismus und den darauf begründeten Naturalisierungsdiskursen (»Rassialismus«) verbunden ist, bedarf es beim »antiislamischen Ethnizimus«, den wir dem differenzialistischen Rassismus zuordnen, einer anderen, davon abzugrenzenden inhaltlichen und terminologischen Bestimmung.

2.2

Antiislamischer Ethnizismus

Die auf antiislamische Vorurteile und Feindbilder bezogenen Termini, die teilweise synonym benutzt werden, reichen von Islamfeindlichkeit16 oder Islamophobie17 beziehungsweise einem islamophoben Populismus18 bis hin zum antimuslimischen Rassismus.19 Grundlegend für einen »antiislamischen Ethnizismus« ist, wie beschrieben, zunächst ein impliziter Mechanismus einer Ethnisierung des Islam im Sinne einer ethnisch verstandenen Religionsgemeinschaft. Von einem eigentlichen antiislamischen Ethnizismus wäre dann zu sprechen, wenn im Zuge eines »islambezogenen Ethnizismus« spezifische Feindbildkonstruktionen hinzukommen, wie (1.) eine kompromisslose Unterscheidung, Gegensetzung und völlige Unvereinbarkeit von Eigen- und Fremdgruppe, die sich in gegensätzlichen religiösen und weltanschaulichen Gesichtspunkten und einer diskriminierendabwertenden Charakterisierung der als homogen imaginierten »Fremd-Gruppe« äußert, die der eigenen positiven Einschätzung diametral gegenübersteht. (2.) Wenn diese Fremdgruppe auf wenige Merkmale reduziert wird, (3.) dieser Angriffsabsichten unterstellt und (4.) negative Denkweisen, Gefühle und Motive zugeschrieben werden, weshalb es (5.) aus der eigenen Bedrohungsperspektive plausibel erscheinen muss, diese zu erwidern oder ihnen zuvorzukommen und 16 Vgl. Thorsten Gerald Schneiders, Islamfeindlichkeit, Wiesbaden 2009; Sabine Schiffer, Die Darstellung des Islams in der Presse, Erlangen-Nürnberg 2011, S. 22. 17 Vgl. Farid Hafez, Jahrbuch für Islamophobieforschung, Innsbruck 2010, S. 19. 18 Vgl. Wilhelm Heitmeyer, Deutsche Zustände, 2003–2010 [b]; Farid Hafez, Jahrbuch für Islamophobieforschung 2010, S. 16. 19 Vgl. Iman Attia, »Die westliche Kultur« und ihr Anderes, Bielefeld 2009; Ilka Eickhof, Antimuslimischer Rassismus in Deutschland, Berlin 2010.

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sich (6.) der Akteur des Eigenen aus den genannten Gründen nachvollziehbar als defensiv und positiv wahrnimmt.20 Mit dem so konstruierten Feindbild verbinden sich in der Regel bestimmte verschwörungstheoretische Muster, die den potenziellen Feind als sehr mächtig und bedrohlich imaginieren, um damit die zu treffenden Abwehrmaßnahmen begründen zu können. Ein »antiislamischer Ethnizismus« ist demnach keine Religionskritik, da es sich hier um keine sachlich-fundierte Auseinandersetzung mit den islamischen Quellen beziehungsweise mit der islamischen Geistesgeschichte und deren kulturellem Erbe handelt. Dort sind nicht die persönliche Religiosität oder die religiöse Praxis entscheidend, sondern die im Zuge des Konstituierungsgebildes »Ethnie« vorgenommene Zugehörigkeit zu einer Menschengruppe und deren Herkunft, womit die darauf bezogenen Vorurteile, Ressentiments und Diskriminierungen einen ethnifizierenden Charakter analog zur »Rassialisierung« erhalten. Deshalb sind aus dieser Perspektive ethnifizierende Simplifizierungen, Stereotypen und Vorurteile im Sinne eines »Feindbildes Islam« in ihren Mechanismen einem Neo-Rassismus zuzuordnen, wie an den nachfolgenden konkreten Beispielen gezeigt werden kann. Die Besonderheit dieses »Ethnizismus« besteht auf der einen Seite darin, in (schein-)humanitärer Absicht – also in scheinbarer Distanzierung zu biologistischen Positionen des wissenschaftlichen Rassismus – die »Anerkennung der Unterschiedlichkeit« und die »Gleichwertigkeit der Kulturen« zu betonen; andererseits jedoch – gewissermaßen »mixophobisch« – vor jeglicher Kulturvermischung (»Multikulturalismus«) und einer damit prognostizierten Auflösung des Eigenen zu warnen, wie dies insbesondere bei den folgenden gegen den Islam gerichteten Protest-»Bewegungen« zu beobachten ist.

3.

Programmatische Islamfeindlichkeit

PEGIDA – die »Wir-sind-das-Volk-Bewegung« Seit dem 20. Oktober 2014 fanden mitten in der sächsischen Hauptstadt Dresden Woche für Woche regelmäßig Montagsdemonstrationen unter dem Namen Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (PEGIDA) statt, die dort mit dem Slogan »Wir sind das Volk« der ehemaligen DDR-Bürgerrechtsbewegung 1989/1990 unverhohlen assoziativ an die Montagsdemonstrationen der DDR-Protestbewegung zu erinnern beabsichtigten. An den Protesten nah-

20 Vgl. Thomas Kliche, »Islam« in Stereotyp, Fluktuat und Matrize, Münster 2000, S. 116.

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men zahlreiche Menschen teil und trugen dabei Protestschilder mit Aufschriften wie »Der ISLAM ist die Pest des 21. Jahrhunderts«.21 In ihren besten Zeiten mobilisierte die Bewegung dort mehr als 20 000 Menschen, weshalb sie nationale und internationale Aufmerksamkeit erregte. Studien zur PEGIDA-Bewegung22 zeigen, dass PEGIDA-Demonstranten sich mehrheitlich aus Männern der bürgerlichen Mitte mit entsprechendem Bildungshintergrund zusammensetzen und eben nicht zu den »Abgehängten« der Gesellschaft zu zählen sind. Angelehnt an PEGIDA-Dresden fand die Bewegung auch Nachahmer in anderen deutschen Groß-Städten wie Leipzig (LEGIDA), Bonn (BOGIDA), Düsseldorf (DÜGIDA), Köln (KÖGIDA), Kassel (KAGIDA) und Frankfurt/Main (FRAGIDA). Allerdings konnte PEGIDA im Westen Deutschlands nicht an den Erfolg in Dresden anknüpfen, was sicherlich neben den internen Querelen auch daran lag, dass überall dort, wo PEGIDA auftrat, sie mit großen Gegendemonstrationen rechnen musste. Wie ist PEGIDA nun einzuordnen? Eine erste Analyse liefert hierzu eine Studie des Autorenteams unter der Koordination von Prof. Dr. Rucht vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).23 Das Autorenteam sieht in PEGIDA eine Bewegung, die sich »als eine Kritik an etablierter Politik, als eine umfassende Systemkritik und als Forderung nach einer Reform der Demokratie« verstehen lasse, in der der »Themenkomplex Einwanderungs-, Asyl- und Integrationspolitik« eine wichtige Rolle spiele und die »so präsente Medienkritik nur gelegentlich zum Ausdruck gebracht« werde.24 Die Forschergruppe widerspricht in ihrer zusammenfassenden Einschätzung deutlich dem Bild, das auch immer wieder von Politikern und Wissenschaftlern zu hören war, dass es sich bei PEGIDA »in der Mehrheit um harmlose, wenngleich von Sorgen geplagte Normalbürger handelt.«25 Im Kern gehe es dort »um die Artikulation von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und zugespitzter, um einen kaum verhüllten Rassismus«26, so die Autoren der Untersuchung. Eine fast zeitgleiche Studie (2015) der Technischen Universität Dresden (TUD) unter der Leitung von Prof. Dr. Vorländer sieht in der PEGIDA-Bewegung eine Protestbewegung mit rechtspopulistischem Zungenschlag. Man kommt dort zur Einschätzung, dass sich die Bewegung zwar ihrem Namen nach »gegen die Islamisierung des 21 Abgebildet in einer Nachrichtenmeldung des MDR Sachsen zur Veröffentlichung der Leipziger Mitte-Studie, vom 15. 06. 2016, URL: http://www.mdr.de/sachsen/studie-islam-demo kratie-enthemmte-mitte-100_zc-ecc53a13_zs-570f6b3d.html (letzter Zugriff 20. 11. 2016). 22 Hierzu zählt auch die Studie, die im Januar 2015 an der Universität Göttingen durchgeführt wurde. 23 Vgl. Dieter Rucht et al., Protestforschung am Limit, Berlin 2015. 24 Ebd., S. 27, 51. 25 Vgl. ebd., S. 51. 26 Ebd.

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Abendlandes« wende, wobei das Hauptmotiv ihres Protestes in erster Linie in einer generellen »Unzufriedenheit mit der Politik« zu suchen sei. Erst an zweiter Stelle würde die Kritik an Medien und Öffentlichkeit stehen, und an dritter Stelle folgten »grundlegende Ressentiments gegenüber Zuwanderern und Asylbewerbern«, wobei »Vorbehalte gegen Muslime bzw. dem Islam« besonders ausgeprägt seien.27 Nun scheint PEGIDA deutlich an Wirkkraft verloren zu haben. Ob sich PEGIDA weiterhin destabilisieren wird, wie dies seit Mitte Januar 2015 zu beobachten ist, oder sich durch tragfähige Strukturen stabilisiert und ein regionales Phänomen von »Wende-Enttäuschten« wird, bleibt noch abzuwarten.28

AfD – die »Wutbürger-Partei« gegen das Fremde »Ich will Moscheen lieber im Orient sehen« (Hans-Thomas Tillschneider)29

Die im Jahre 2013 als Reaktion auf die Euro-Rettungspolitik gegründete politische Partei Alternative für Deutschland (AfD) entwickelte sich nach einem monatelangen innerparteilichen Machtkampf im Jahre 2015 – der zum Ausschluss beziehungsweise zum Austritt einiger ursprünglicher AfD-Begründer führte – immer mehr zu einer gegen die Asyl-Politik der Bundesregierung gerichteten rechtspopulistischen Anti-Islam-Partei, was sich unter anderem auch darin äußerte, dass sich die AfD ideologisch der außerparlamentarischen Akteurin PEGIDA immer mehr anzunähern begann, wie bereits frühe demoskopische Untersuchungen im Jahre 2014 zeigten. So äußerten 86 % der AfD-Anhänger Verständnis für PEGIDA-Demonstrationen, und 71 % stimmten der Aussage »Der Islam hat einen so großen Einfluss, dass Protestmärsche wie PEGIDA gerechtfertigt sind« zu. Alexander Gauland, Parteivize und AfD-Fraktionschef in Brandenburg30, sieht PEGIDA gar als einen »natürlichen Verbündeten«, da viele PEGIDA-Forderungen denen der AfD entsprächen.31 Im April 2016 verdichtete sich durch entsprechende Pressemitteilungen der 27 Hans Vorländer/Maik Herold/Steven Schäller, »Wer geht zu PEGIDA und warum? Eine empirische Untersuchung von PEGIDA-Demonstranten in Dresden«, 2015, URL: https://tu-dres den.de/gsw/phil/powi/poltheo/ressourcen/dateien/news/vorlaender_herold_schaeller_PEGI DA_studie (letzter Zugriff: 20. 11. 2016). 28 Vgl. Alexander Häusler (Hg.), Die Alternative für Deutschland, Wiesbaden 2016; Naime C ¸ akır, PEGIDA: Islamfeindlichkeit aus der Mitte der Gesellschaft, in: ebd., S. 149–162. 29 Interview: Nora Schareika mit Hans-Thomas Tillschneider, »Ich will Moscheen lieber im Orient sehen«, URL: http://ntv.de/politik/Ich-will-Moscheen-lieber-im-Orient-sehen-arti cle17604966.html (letzter Zugriff: 20.11. 2016). 30 Stand Frühjahr 2017. 31 Felix Korsch, Natürliche Verbündete?, in: Häusler, Alexander (Hg.), Die »Alternative für Deutschland« – Entwicklung und politische Verortung, Wiesbaden 2016, S. 112f., 117.

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Eindruck, dass die AfD beabsichtige, eine scharfe Anti-Islam-Politik in den Fokus ihrer Programmatik zu stellen. Von AfD-Politikern wurde dort bereits im Vorfeld betont, der Islam sei als Religion unvereinbar mit dem Grundgesetz. So bezeichnete die stellvertretende Parteivorsitzende und Europaabgeordnete Beatrix von Storch den Islam als eine dem Grundgesetz widersprechende »politische Ideologie«. Sie plädierte für ein Verbot von Minaretten, da diese ein islamisches Herrschaftssymbol darstellten, und ein Verbot von Muezzinrufen, mit denen betont würde, dass es außer Allah keinen anderen Gott gebe. Alexander Gauland, der die in seinen Augen fehlgeleitete Asylpolitik (»Asyl-Wahn«) als »Geschenk« für die AfD bezeichnete, bekundete, der Islam sei »keine Religion wie das katholische oder protestantische Christentum, sondern intellektuell immer mit der Übernahme des Staates verbunden«32. Deshalb sei die Islamisierung Deutschlands eine große Gefahr. Er wandte sich zudem gegen die Auffassung, dass es neben der fundamentalen Ausrichtung des Islam einen aufgeklärten Islam gebe, der mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung vereinbar sei. Der ehemalige stellvertretende Chefredakteur der Bild am Sonntag, Nicolaus Fest (Sohn des ehemaligen FAZ-Herausgebers und Hitler-Biografen Joachim Fest), der seit dem 6. Oktober 2016 Mitglied der AfD ist und dessen publizierte islamfeindliche Positionen schon früher seitens des Presserates als »weit über die Meinungsfreiheit hinausgehend« gerügt wurden, geht hier noch wesentlich weiter. Für ihn ist der Islam »keine Religion, sondern eine totalitäre Bewegung wie der Stalinismus«. Er fordert deshalb, »mit dem Islam ebenso zu verfahren, wie mit den Nazis: bekämpfen, wo immer das möglich ist.« Er sehe für Deutschland keine andere Möglichkeit, als »alle Moscheen zu schließen.«33 Die AfD fixierte schließlich anlässlich ihres Bundesparteitages vom 30.4./1. 5. 2016 ihre Anti-Islam-Rhetorik in ihrem Grundsatzprogramm. Dort wird im Unterpunkt 7.6.1 programmatisch festgehalten: »Der Islam gehört nicht zu Deutschland«. Die vorab allseits betonte Formulierung, der Islam sei mit dem Grundgesetz unvereinbar, findet sich in dem Beschluss allerdings nicht.34 Diese aggressiv artikulierte Form der Islamfeindlichkeit der PEGIDA, der AfD sowie in den einschlägigen Internetportalen knüpft bereits an vorhandene Ressentiments gegenüber Muslimen und an die Ausländerfeindlichkeit an. 32 Vgl. o. V., AfD wird zur Anti-Islam-Partei, FAZ-Sonntagszeitung, 17.04. 2016, S. 1. 33 Markus Decker, Prominentes neues AfD-Mitglied, Frankfurter Rundschau, 06. 10. 2016, Jg. 72., Nr. 233, S. 5.; Ferdinand Otto, »Ein neuer Scharfmacher für die AfD«, URL: http:// www.zeit.de/politik/2016–10/nicolaus-fest-journalist-afd-beitritt-islam (letzter Zugriff: 20. 11. 2016). 34 Alternative für Deutschland, »Grundsatzprogramm der Alternative für Deutschland, Vorlage zum Bundesparteitag am 30. 04. 2016/01. 05. 2016«, S. 34, URL: https://alternativefuer.de/wpcontent/uploads/sites/7/2016/03/Leitantrag-Grundsatzprogramm-AfD.pdf (letzter Zugriff: 20. 11. 2016).

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Hierbei werden bei der Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschengruppen nicht mehr nur die unterschiedlichen nationalen Kategorien bemüht, sondern es wird die absolute Heterogenität einer 1,5 Milliarden großen Menschengruppe im Sinne der Reduzierung von Komplexität über Länder-, Sprachund Kulturgrenzen hinweg als homogene Einheit dem Islam zugeordnet. Darüber hinaus kann die Islamfeindlichkeit auf tatsächliche oder vermeintliche Evidenzen hinweisen, die eben auch, wie gezeigt, von der sogenannten »Mitte« geteilt werden. Die Islamfeindlichkeit erfährt somit nicht die gleiche Ächtung wie dies andere Formen des Rassismus gegenüber anderen Menschengruppen erfahren. Dadurch scheinen sich bestimmte Gruppen oder Personen aus dem rechtsextremistischen oder rechtspopulistischen Spektrum moralisch legitimiert zu sehen, ihre »Kultur« und die »westlichen Werte« nicht nur mit verbaler Gewalt zu verteidigen. Hierbei bieten gegen die liberale und offene Gesellschaft gerichtete Parteien – wie die AfD in Deutschland und andere europäische Parteien – gegenüber Parteien mit einem geschlossenen rassistischen Weltbild (z. B. NPD) Menschen, die nicht in ihrer Gesamtheit ein solches Weltbild vertreten, eine politische Heimat, ohne dass diese Parteien unter der Vorgabe einer gegen das Fremde gerichteten europäisch-kulturellen Rettungstat einen impliziten Rassismus offenbaren müssten.35 Inzwischen scheint es zu einem ideologischen Zusammenschluss der AfD mit PEGIDA gekommen zu sein36, worauf ein am 1.9. 2018 gemeinsam mit PEGIDA begangener »Schweigemarsch« schließen lässt, der als Reaktion auf die Ermordung eines 35-jährigen Mannes anlässlich des Stadtfestes in Chemnitz am 26.8. 2018 ins Leben gerufen wurde und dem sich auch die rechtspopulistische Wählervereinigung »Pro Chemnitz«37 anschloss. Gemäß eines AfD-Parteibeschlusses, dass es AfD-Mitgliedern zukünftig gestattet sei, gemeinsam mit PEGIDA zu demonstrieren, war das 2016 beschlossene Kooperationsverbot der AfD mit dem ausländerfeindlichen PEGIDA-Bündnis vorher aufgehoben38, was sich konkret darin äußerte, dass an diesem »Marsch« neben dem thüringischen AfD-Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke auch der höchst umstrittene PEGIDA-

35 Beispiele hierzu: Ukip-Partei in England, Front National in Frankreich oder Geert Wilders PVV-Partei in Holland. 36 Seit dem 19.12. 2014 ist die Protestbewegung unter dem Kürzel PEGIDA als Verein eingetragen. 37 Der Chef von Pro Chemnitz ist nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes ein langjähriger rechtsextremer Szeneaktivist, vgl. https://www.mdr.de/nachrichten/politik/regional/anwalts kammer-ueberprueft-pro-chemnitz-chef-100.html (Zugriff: 13.10. 2013). 38 https://www.zeit.de/news/2018-03/04/parteibeschluss-afd-politiker-duerfen-bei-pegida-auf treten-180304-99-333607.

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Mitbegründer Lutz Bachmann teilnahm. Diese nun mit Höcke vollzogene ideologische Annäherung zeichnete sich allerdings schon länger ab (s. o.). Es muss jedoch eingeräumt hier werden, dass nicht alle AfD-Wähler einen antimuslimischen Rassismus mit entsprechendem Hasspotenzial pflegen. Ein nicht unerheblicher Teil dürfte im Zuge eines auf den Islam bezogenen Ethnizismus Ängsten und Vorurteilen aufsitzen, aber wohl (noch) nicht von einer Ideologie der Ungleichwertigkeit oder von einem geschlossenen Feindbild gegenüber dem Islam durchdrungen sein.

Die unheilvolle Wiedergeburt des »Völkischen« Mit dem häufig proklamierten PEGIDA-Protestslogan »Wir sind das Volk« sollen stellvertretend für alle Deutschen nicht nur konkrete Maßnahmen gegen das Fremde im Eigenen eingefordert, sondern es soll wohl auch sukzessive das sogenannte »Völkische« wieder hoffähig gemacht werden. Im Zuge der Hervorhebung der Besonderheit des eigenen »Volkes« scheint man sich allenthalben einer Enttabuisierung nationalsozialistisch kontaminierten Vokabulars bedienen zu wollen. So äußerte die ehemalige AfD-Vorsitzende Frauke Petry, die inzwischen nach innerparteilichen Auseinandersetzungen im Jahre 2017 aus der AfD ausgetreten ist, anlässlich eines Interviews in der Welt am Sonntag im September 2016 die Absicht, den Begriff »völkisch« im Sprachgebrauch wieder positiv belegen zu wollen. Sie plädierte dafür, dass man zukünftig einen entspannten Umgang mit unserer Nation und dem Begriff »Volk« zu pflegen habe. Mit der Terminologie »völkisch«, mit dem man um 1870 das Wort »national« gewissermaßen eindeutschte, wird hier in einer mehr oder weniger bewussten Geschichtsvergessenheit eine nationalistische Einstellung transportiert, um explizit auf die ethnisch reine Gemeinschaft des »eigenen Volkes« zu verweisen. In scheinbar naiver historischer Unkenntnis bleibt hier ausgeklammert, dass es in vornazistischer Zeit insbesondere die sogenannte »Völkische Bewegung« war, die als ein wesentlicher Wegbereiter des Nationalsozialismus fungierte. Zur Zeit des Nationalsozialismus ging man schließlich vor dem Hintergrund einer »völkischen Rassentheorie« daran, die Rassereinheit des eigenen Volkes als Rasseeinheit zu belegen und diese mittels »rassenhygienischer Maßnahmen« zu bewahren.39 Bis in die Gegenwart spielt ein als »völkische Strömung« bezeichneter Rechtsextremismus zunehmend eine hochproblematische Rolle, vor dem von verschiedenen institutionellen Seiten gewarnt wird.40 Mit dem zunehmenden 39 Vgl. Naime C ¸ akır, Islamfeindlichkeit, Bielefeld 2014, S. 83–129. 40 Vgl. Uwe Puschner, »Die völkische Bewegung«, Bundeszentrale für politische Bildung (bpb

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Gebrauch dieser Vokabel wird eine sprachliche Enttabuisierung sichtbar, mit der es in jüngerer Zeit gewissermaßen selbst innerhalb etablierter Parteien für einzelne Personen opportun zu werden scheint, sich nationalsozialistisch belasteter Terminologien zu bedienen, wie dies beispielsweise der »Umvolkungs«Tweet im Kurznachrichtendienst Twitter der sächsischen CDU-Bundestagsabgeordneten Bettina Kudla zeigt, die mit diesem Begriff, der im Nationalsozialismus die »Germanisierung« deutschfreundlicher Bevölkerungsgruppen in eroberten Gebieten Osteuropas bezeichnete, die Asylpolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel kritisierte, wobei Kudla hiermit wohl die »Umvolkung« des deutschen Volkes durch zunehmende Überfremdung zu beklagen beabsichtigte.41 »Volk« war nach nationalsozialistischer Definition, daran sei erinnert, eine aus einer bestimmten Rasse (im Nationalsozialismus: die arisch-deutsche Herrenrasse) hervorgegangene höhere Lebenseinheit, in der die Rasse die »völkische« Eigenart bestimmte und der Einzelne als »Volkspersönlichkeit« in der »Volksgemeinschaft« aufging.42 Das »Volk« war in diesem Verständnis »die höchstwertige, sittlichste und damit in letzter Folgerung einzig religiöse Gemeinschaft«, an die der einzelne Mensch als »Volkspersönlichkeit«43 durch »ein göttliches Gesetz« gebunden war.44 In dem scheinbar harmlosen Gebrauch des Begriffs »Volk« schwingen demnach wohl nicht ganz unbeabsichtigt bei einigen AfD-Vertretern mehr oder weniger offen völkisch-nationalistische Positionen mit. Dies wird besonders deutlich in den politischen Agitationen des Thüringer AfD-Vorsitzenden Björn Höcke, der seit Mai 2016 heftig zu verhindern bemüht ist, dass in Thüringen eine von Muslimen geplante Moschee gebaut wird.45 Höcke propagiert in seinen Reden ein völkisches, auf deutscher Abstammung beruhendes »Selbstbestimmungsrecht« und vertritt somit im Grunde Positionen eines biologischen »wissenschaftlichen Rassismus«, die später zur Zeit des Nationalsozialismus die

41 42 43

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7. 7. 2016), URL: http//www.bpb/politik/extremismus/rechtsextremismus/230022/die-voelkische-bewegung. Christian Bommarius, »Scharfe Kritik an Nazi-Vokabular«, Frankfurter Rundschau, 26. 09. 2016, Jg. 72./Nr. 225, S. 5. Jakob Graf, Vererbungslehre, Rassenkunde und Erbgesundheitspflege, München 1935, S. 208. Der »Volkspersönlichkeit« war damit nach der Devise »Du bist nichts, Dein Volk ist alles« die »heilige Verpflichtung« überantwortet, »alle Lebenserscheinungen unseres Volkes mit nationalsozialistischem revolutionärem Geist zu erfüllen« und damit als oberste Aufgabe das nationalsozialistische Postulat der Rassereinheit und Rassezüchtung im Sinne der nationalsozialistischen »Rassenhygiene« des auserwählten Volkes zu gewährleisten (vgl. Friedrich Schmidt, Das Reich als Aufgabe, Berlin 1940, S. 70). Friedrich Schmidt, Das Reich als Aufgabe, Berlin 1940, S. 69. Claus Peter Müller, »AfD-Politiker Höcke relativiert Religionsfreiheit für Muslime«, FAZ.net 18. 05. 2016, URL: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/hoecke-relativiert-religionsfrei heit-fuer-muslime-14239945.html (letzter Zugriff: 20. 11. 2016).

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ideologische Basis rassehygienischer Maßnahmen bildeten.46 Ganz in diesem rassialistisch-biologistischen Sinne eines solchen »wissenschaftlichen Rassismus« bezieht sich Höcke, so seine Aussagen, unter anderem auf das »Reproduktionsverhalten von Afrikanern« und warnt davor, dass durch deren praktizierte »r-Strategie« letzthin die deutsche Identität und ethnische Homogenität gefährdet sei, da die hierdurch bedingte hohe Geburtenrate der in Europa praktizierten »K-Strategie« quantitativ überlegen sei.47

Die Sicherung nationaler Identität – die »Identitäre Bewegung« (IB) »Eine neue politische Strömung ergreift Europa. Sie hat ein Ziel, ein Symbol, ein Thema: Identität.«48

In den gegen das Fremde gerichteten Blogs sogenannter Volksinitiativen und entsprechender rechtspopulistischer Parteienstrukturen dominiert eine zunehmende Furcht vor dem Verlust oder einer Aufweichung der eigenen nationalen Identität und einer darauf begründeten Leitkultur. So forderte der Thüringer AfD-Landeschef Björn Höcke ein Treffen der AfD-Bundesvorsitzenden Frauke Petry mit Marie Le Pen vom französischen Front National insbesondere deshalb, weil auch sie sich »wie die AfD gegen eine weitere Überfremdung und für den Erhalt der Identität der europäischen Völker« einsetze.49 Wohin der AfD-Weg führen sollte, deutete der AfD-Vorsitzende und Landesvorsitzende der AfD in Baden-Württemberg Jörg Meuthen, Professor an der Hochschule Kehl und seit den letzten Bundestagswahlen (2017) Mitglied der AfD-Bundestagsfraktion, an, der anlässlich eines AfD-Parteitages frenetischen Beifall erntete, als er betonte, das zukünftige Parteiprogramm werde »weg vom links-rot-grün versifften 68er-Deutschland führen«, womit er die seitens der AfD-Wahrnehmung empfundene fortschreitende Identitätsauflösung durch die 46 Mit diesem so bezeichneten und mittlerweile etablierten Begriff »wissenschaftlicher Rassismus« ist eben jener im 19. Jahrhundert entstandene Rassismus gemeint, der mittels anthropologisch-biologischer Hypothesen zum Mensch-Sein angeborene Wesensmerkmale begründete, die sich als spezifische Rassemerkmale phänotypisch bezüglich äußerer Erscheinung (z. B. Hautfarbe), Charakter, Intelligenz und Verhalten auswirken sollten und somit zur Grundlage einer Rassehierarchie heranzuziehen waren, wie sie sich der Nationalsozialismus zu eigen machte. 47 Hajo Funke, Von Wutbürgern und Brandstiftern, Berlin 2016, S. 87. 48 Markus Willinger, Die identitäre Generation – eine Kriegserklärung an die 68er, London 2013, S. 8. 49 Vgl. Nora Schareika, Wo die AfD die deutsche Identität ausgräbt, n-tv 10. 05. 2016, URL: http://www.n-tv.de/politik/Wo-die-AfD-die-deutsche-Identitaet-ausgraebt-article17658701. html (letzter Zugriff: 20. 11. 2016).

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praktizierte »Multikultipolitik« der etablierten »Altparteien« andeutete.50 Der Sprecher der Patriotischen Plattform (PP)51, Hans-Thomas Tillschneider, ein an der Universität Bayreuth als Assistent lehrender deutscher Islamwissenschaftler und Abgeordneter der AfD im Landtag von Sachsen-Anhalt, äußerte anlässlich eines Interviews die Meinung, dass durch die Globalisierung »unsere deutsche Identität« irritiert würde, weshalb sich »Fragen nach Identität, nach der Rückbesinnung auf das Eigene und zur Angst vor Identitätsverlust« stellten. Er sei auch deshalb vor vielen Jahren »in den Osten« gezogen, da diese Gegenden dort »so schön deutsch« seien, etwas, was »im Westen« verlorengegangen sei. Tillschneider geht es demnach primär, wie er ausdrücklich betont, um die Wahrung der deutschen Identität, weshalb er auch die Identitäre Bewegung unterstütze.52 Dabei geht vergessen, dass sich mittlerweile bereits durch frühere Arbeitsmigrationsbewegungen eine kaum zu überschauende Zahl von importierten Gewohnheiten aus den dortigen Herkunftsregionen der Arbeitsmigranten ganz selbstverständlich eingedeutscht hat. Die Vorstellung einer »deutschen Leitkultur« ist inhaltlich an eine sogenannte »europäisch-kulturelle Identität« gebunden, bei deren Bestimmung sich zwei Grundpositionen unterscheiden lassen: (1) ein historischer Substanzialismus, mit dem die inhaltlichen Merkmale der kulturellen Besonderheit Europas in Bezug auf die Geschichte und die geisteshistorischen Wurzeln wie Aufklärung und modernes Wissenschaftsverständnis gesehen werden, und eine (2) Orientierung am Christentum, wonach religiöse Glaubenssysteme – im gegebenen Fall die Unvereinbarkeit zweier Religionen (Christentum und Islam) – ein generelles Kennzeichen der Grenzen von Kulturräumen darstellen sollen.53 Die Bewahrung eines solchen diffus gespürten, ahistorischen Identitätskonstruktes »Europäische Leitkultur« betont in jüngerer Zeit insbesondere auch die aus Frankreich stammende Identitäre Bewegung, die neben weiteren neuen Erscheinungen wie die Reichsbürger-Bewegung als mögliches Bindeglied zwischen AfD, PEGIDA und der Neuen Rechten angesehen werden kann. Sie versteht sich »als metapolitischer und aktivistischer Arm der Neuen Rechten in Abgrenzung 50 Jörg Köpke/Jan Sternberg, »Der Stuttgarter Rechtsruck«, Hannoversche Allgemeine 30. 04. 2016, URL: www.haz.de/Nachrichten/Politik/Deutschland-Welt/AfD-Parteitag-in-Stuttgart (letzter Zugriff: 20. 11. 2016). 51 Die Patriotische Plattform ist nach eigenem Bekunden ein loser Zusammenschluss von Mitgliedern der AfD, denen die völkischen Ziele ihrer Partei nicht weit genug gehen (vgl. www.patriotische-plattform.de). 52 Nora Schareika, »Ich will Moscheen lieber im Orient sehen«, n-tv 02. 05. 2016, URL: http :// www.n-tv.de/politik/Ich-will-Moscheen-lieber-im-Orient-sehen-article17604966.html (letzter Zugriff: 20. 11. 2016). 53 Demnach ist ganz im Sinne Huntingtons die Religion die zentrale Größe zur Abgrenzung verschiedener Kulturräume; vgl. Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen, München/Wien 1997.

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zur Alten Rechten (Nationalisten, Rassisten, Neonazis etc.)« und hebt im Sinne eines »Ethnopluralismus« die »Anerkennung und Achtung einer jeden Ethnie und Kultur und ihrer Souveränität in ihrem geschichtlich gewachsenen Gebiet« hervor.54 Demnach ist jegliche Ethnie und Kultur als gleichermaßen wertvoll anzusehen, die sich und ihre identifikatorischen Besonderheiten jedoch lediglich in ihrem angestammten Herkunftsgebiet zu entfalten und zu bewahren habe. Die Begriffe »Kultur« und »Identität« bleiben dabei vage. Sie sind lediglich imaginierte unveränderliche, statische Unterscheidungsmerkmale von Menschengruppen, die für jegliche Projektionen offenbleiben. Einwanderung (wie insbesondere die dadurch bedingte drohende Islamisierung Deutschlands) vernichtet aus der Perspektive der Identitären durch den damit verbundenen »großen Austausch« Jahrtausende alte Kulturen.55 Wie nahe die AfD mittlerweile der Identitären Bewegung steht, zeigen die anlässlich eines Interviews im rechtspopulistischen Magazin Compact56 getätigten Äußerungen des AfD-Vize Alexander Gauland, der trotz offizieller Abgrenzung des AfD-Bundesvorstandes von der Identitären Bewegung Mitglieder derselben aufforderte, der AfD beizutreten. Gauland erwarte, »dass Menschen, die wie die AfD denken, bei uns mitmachen.« Björn Höcke attestierte im gleichen Interview dieser vom Verfassungsschutz beobachteten rechtsextremen Identitären Bewegung einen »intelligenten Esprit«.57 Im Grunde sind mit diesem »Esprit« Ängste vor einer deutsch-nationalen Identitätsauflösung durch Überfremdung angesprochen, die eben auch die AfD formuliert und deren Ursachen sie zu bekämpfen beabsichtigt. So wird im Grundsatzprogramm der AfD unter Punkt 7.2 Deutsche Leitkultur statt Multikulturalismus ausdrücklich betont, dass man sich zur »deutschen Leitkultur« bekenne, die sich, wie es dort heißt, im Wesentlichen aus drei Quellen speise: »erstens der religiösen Überlieferung des Christentums, zweitens der wissenschaftlich-humanistischen Tradition, deren antike Wurzeln in Renaissance und Aufklärung erneuert wurden, und drittens dem römischen Recht, auf dem unser Rechtsstaat fußt«. Als »zentrales Element« der deutschen Identität, so heißt es dort weiter, sei die deutsche Sprache anzusehen. Es gelte hier, »einer falsch verstandenen Internationalisierung« entgegenzuwirken, mit der die deutsche 54 URL: www.identitaere-bewegung.de/idee & tat/ (letzter Zugriff: 26. 09. 2016). 55 Vgl. Markus Wehner, »Rassisten im neuen Gewand«, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 24. 04. 2016, Nr. 16, S. 2., Konrad Litschko, »Verstecken? Die Zeiten sind vorbei«, taz.de 04. 10. 2016, URL: http://www.taz.de/!5341830/ (letzter Zugriff: 20. 11. 2016). 56 Das Compact Magazin wird von Jürgen Elsässer herausgegeben (vgl. Julian Bruns/Kathrin Glösel/Natascha Strobl, Die Identitären, Münster 2016, S. 162). 57 n-tv, »Gauland fordert Identitäre zu AfD-Beitritt auf«, 18. 10. 2016, URL: www.ntv.de/politik/ Gauland-fordert-Identitaere-zu-AfD-Beitritt-auf-article18880341.html (letzter Zugriff: 18. 10. 2016).

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Sprache durch das Englische ersetzt beziehungsweise »gegendert« würde. Im Übrigen sei, wie es im Punkt 8.1.2 heißt, die »Gender-Forschung« gänzlich abzuschaffen.58 Auch der von der Presse als »philosophischer Kopf« beziehungsweise als »Parteiphilosoph« der AfD bezeichnete Sloterdijk-Schüler und stellvertretender Landesvorsitzender der AfD in Baden-Württemberg, Marc Jongen, sieht in der derzeitigen Asyl- und Einwanderungspolitik als logische Folge den Verlust der deutschen Sprache und des deutschen Staates. Nach ihm leidet die Bundesrepublik an einer »thymothischen Unterversorgung«, einer Armut an Zorn und Wut, weshalb man in einem »68er-verseuchten Deutschland« nicht mehr bereit sei, das Eigene zu schützen und zu verteidigen.59 Vielmehr stelle man in einem übertriebenen, letztlich neurotischen Humanismus »das Fremde über das Eigene« und mache sich gewissermaßen »zum Knecht der Einwanderer«. Weil es in Deutschland an einer Wehrhaftigkeit gegenüber anderen Kulturen – insbesondere der des Islam – mangele, erfordere es nach einer »historischen Phase der Differenz und der Nichtidentität, der Abkehr vom Eigenen« einer Erhöhung des »thymotischen« Energielevels beziehungsweise eines erhöhten Erregungswillen zum Zorn, zum Stolz und zur Selbstbehauptung der Deutschen gegenüber dem Fremden. Mit »Thymos« (Vermögen der Emotion und Affektivität) bezieht sich Jongen auf eine der von Platon neben »Logos« (Vermögen der Vernunft) und »Eros« (Vermögen der Begierde, der Lust) genannten drei Seelenvermögen des Menschen, die nach altgriechischer Tradition allerdings durch das Seelenvermögen der Vernunft in der Balance zu halten waren, was Jongen in seinen Überlegungen großzügig vernachlässigt.60 Gemeint ist hier offensichtlich ein zu mobilisierendes Wutpotenzial deutscher Gesinnungspatrioten gegen einen durch ungezügelte Einwanderung verursachten Auflösungsprozess nationaler Identitätsstrukturen. Bezüglich des Deutsch-Seins fordert Jongen die Wiedereinführung des »Abstammungsprinzips im Staatsbürgerrecht«, da die Identität eines Volkes, so Jongen, eine Mischung aus Herkunft, aus Kultur und aus rechtlichen Rahmenbedingungen sei und der Pass allein noch keinen Deutschen mache. Was den AfD-Satz »der Islam gehöre nicht zu Deutschland« angeht, sieht Jongen primär eine programmatische Abgrenzung von dem vom ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff und von der Bundeskanzlerin Angela Merkel ausgesprochenen Satz »Der Islam gehört zu Deutschland«. 58 Alternative für Deutschland, »Grundsatzprogramm der Alternative für Deutschland, Vorlage zum Bundesparteitag am 30. 04. 2016/01. 05. 2016«, S. 34, URL: https://alternativefuer.de/wpcontent/uploads/sites/7/2016/03/Leitantrag-Grundsatzprogramm-AfD.pdf (letzter Zugriff: 20. 11. 2016). 59 Hajo Funke, Von Wutbürgern und Brandstiftern, S. 111. 60 Vgl. Michael Bordt, Platon, Freiburg 1999, S. 82–84; Hajo Funke, Von Wutbürgern und Brandstiftern, S. 111.

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Obschon besonders in den Sozialwissenschaften der Identitätsdiskurs ein hochkomplexes uneinheitliches Forschungsfeld darstellt, in dem Identität vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Erfahrungs- und Interaktionsprozessen thematisiert und problematisiert wird, was zu einem heterogen-dynamischen Verständnis von menschlicher Identität führen muss,61 herrscht hier ein schlichter essentialistisch-monolithischer Identitätsbegriff vor, der sich wohl eher an einem vielfach proklamierten Leitkulturbegriff orientiert, nach dem neben der Religion und anderen »abendländischen« Traditionen bestimmte selbstverständlich gelebte Lebens-»Gewohnheiten« im Eigenen gewissermaßen in den Stand ewig bestehender und einzigartiger europäisch-deutscher Identitätsfaktoren erhoben werden, die es gegenüber fremden Einflüssen zu schützen gilt. Hier wird geflissentlich übersehen, dass Deutschland schon über Generationen hinweg von fremden Kulturen partiell mitgeprägt wird und es insofern dort keine faktisch dominante genuin einheimische Kultur gibt, die nicht von anderen Kulturen mit beeinflusst wurde.62 Auch das sogenannte »Nationale«, das im Zusammenhang einer »nationalpatriotischen deutschen Identität« postuliert wird, ist eine Konstruktion, die historisch auf die nationalstaatlichen Bestrebungen des 19. Jahrhunderts zurückgeht, mit denen man zum Zwecke der Machterhaltung bestehender Dynastien bemüht war, mittels der Propagierung bestimmter Elemente der eigenen Kultur und Ethnie eine imaginäre, nationale gesellschaftliche Identität zu konstruieren: ein Konstrukt zur Schaffung eines ethnischen Nationalismus beziehungsweise einer imaginierten ethnischen Gemeinschaft als Nation.63 Der Begriff »Nation« bedeutet demnach zunächst nichts anderes, als dass einer Gruppe von Menschen gewisse konstruierte Gattungsbegriffe (Volk, Staat, Nation, Ethnie) als wesentliche externe nationale und interne Unterscheidungsmerkmale (das Eigene) zugeordnet werden, um sie von anderen Menschengruppen (das Andere des Eigenen; der Fremde respektive der gegen das Eigene gerichtete Feind) zu unterscheiden und gegebenenfalls »uneinsichtige« nationalresistente Menschengruppen im Eigenen – wie die Geschichte an vielen Beispielen belegt – in das vorgegebene nationale Identitätskorsett unter Verzicht eigener kulturell-ethnischer Besonderheiten (Sprache, Religion etc.) zwingen zu können.64 61 Vgl. Ingrid Jungwirth, Zum Identitätsdiskurs in den Sozialwissenschaften, Bielefeld 2007. 62 Vgl. Jens Jessen, Sprengstoff Leitkultur, DIE ZEIT, 23. 09. 2016, Nr. 40, S. 39. 63 Vgl. Sevasti Trubeta, Die Konstitution von Minderheiten und die Ethnisierung sozialer und politischer Konflikte, S. 32–36; Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation, Frankfurt a.M. 1988, S. 91, 159. 64 Es handelte sich hierbei im Grunde um »imaginäre Gemeinschaften«, die gewissermaßen die Grundvoraussetzung zur Identifikation mit dem zu bildenden nationalen Staatsgefüge bildeten und zur Unterscheidung von »Zugehörigen« und »Nicht-Zugehörigen« zu dienen

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»Allen nationalen Sehnsüchten, Mythen und Visionen im westeuropäischen Raum bleibt jedoch nüchtern entgegenzuhalten: Die Gesellschaften, die in den modernen Territorialstaaten in Europa zusammenleben, sind keine homogenen Gebilde. Die Völker waren immer schon vielgliedriger und disparater, als es die Idee der nationalen Einheit suggeriert.«65

In diesen nationalstaatlichen Konstruktionen war und ist es üblich, andere Menschen des Eigenen in homogene Gruppen (Türken, Muslime etc.) zusammenzufassen und in der Logik des Prinzips der »radikalen Inkommensurabilität«66 als grundsätzlich verschieden zur eigenen kulturellen Identität in eine hierarchische Rangordnung zu bringen. Kultur, Religion und insbesondere Identität werden hier gewissermaßen als unveränderliches, quasi naturalisiertes Wesensmerkmal gesetzt, um im Zuge einer ideologischen Bedeutungskonstituierung zur Verschleierung eigentlicher Machtinteressen eine Rechtfertigung für Aus- und Einschließungspraktiken von Menschengruppen zu haben. Es ist offensichtlich, dass insbesondere eine zu starke und vor allen Dingen undifferenzierte nationalistische Identifizierung mit dem eigenen Land gleichzeitig mit menschenfeindlichen Abwertungen gegenüber denjenigen Menschengruppen verbunden ist, die gewissermaßen im dialektischen Sinne in Abgrenzung zum Eigenen als unerwünschtes Gegenüber zur Stabilisierung des eigenen nationalen Identitätsgefühls funktionalisiert werden. Mit Verweis auf Habermas und Sternberg favorisieren Becker et al. deshalb gegenüber einem problematischen »traditionellen Nationalismus« einen »Verfassungspatriotismus«, mit dem eine »wertebezogene, an Demokratie und deren Wertekanon ausgerichtete Bindung« verknüpft sein sollte.67

hatten. Die Argumente für die propagierte nationale Einheit lieferten hierzu prä-nationale »Körperschaften« wie politische Parteien, Gewerkschaften und Regierungen eines Nationalstaates, die darum bemüht waren, sich als »Nation« entlang nationaler Identifizierungen mittels definitorischer Zugehörigkeit zu positionieren, wozu hierzu »die ethnische, religiöse, sprachliche und kulturelle Homogenität« des Eigenen propagiert wurde. Gleichzeitig wurden und werden (nach wie vor) in diesem nationalen Konstruktionsprozess die »Bewohner des beherrschten Territoriums« als »Einheimische« definiert, die als »Untertanen« des neu gegründeten nationalen Gefüges mit »Freundschaftsrechten« ausgestattet werden (vgl. Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz, Hamburg 2005, S. 180f.). 65 Emanuel Richter, Die Einbürgerung des Islams, Bonn 2005, S. 3. 66 Pierre-Andre Taguieff, Die ideologischen Metamorphosen des Rassismus und die Krise des Antirassismus, Hamburg 1991, S. 237. 67 Julia Becker/Ulrich Wagner/Oliver Christ, Nationalismus und Patriotismus als Ursache von Fremdenfeindlichkeit, Frankfurt a.M. 2007, S. 131.

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Fazit

Insgesamt gesehen zeigen sich die aufgezeigten islamfeindlichen Positionen der AfD und der Identitären mehrheitlich im Umkreis der neo-rassistischen Ideologie. Als ein solcher kulturalistischer Rassismus grenzt er sich unter Verzicht von früheren erbbiologischen Begründungen bewusst von rassebiologischen Positionen ab, um dafür – beispielsweise im Umfeld des Problemkomplexes »Immigration« – auf Ersatzbegrifflichkeiten wie Ethnie und Kultur auszuweichen. Gemeint ist hiermit ein »Rassismus ohne Rassen«, der nicht mehr die Über- oder Unterlegenheit bestimmter Völker oder Volksgruppen hervorhebt, sondern primär »die Schädlichkeit jeder Grenzvermischung und die Unvereinbarkeit der Lebensweisen und Traditionen« behauptet und sich schließlich als »differentialistischer Neorassismus« auf dem »Prinzip der radikalen Inkommensurabilität« der verschiedenen kulturellen Formen begründet.68 Als »Träger des wahren Anti-Rassismus« rehabilitiert er somit die »kollektive Aggressivität« und »Xenophobie« als gewissermaßen natürliche Reaktion auf das Fremde.69 Dies meint wohl auch Marc Jongen wenn er, wie gezeigt, von einer notwendigen Erhöhung des »thymotischen Energielevels« des deutschen Volkes zur Abwehr des Fremden im Eigenen fordert. Bei einzelnen AfD-Mitgliedern reichen sogar die propagierten »völkischen« Positionen schon verdächtig nahe an hochproblematische alte rechtsnationale Ideologien heran, wie dies insbesondere bei Björn Höcke deutlich wird. Er sieht in der Abkehr vom Nationalsozialismus der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte eine »70-jährige Neurotisierung des deutschen Volkes«, die durch die Studentenbewegung der 1960er-Jahre zu einem selbstvernichtenden »Multikulti-Wahn« geführt habe und fordert demgegenüber die »genetisch saubere Produktion« von »ethnisch reinen Deutschen«. Indem er in diesem Zusammenhang das Reproduktionsverhalten von Afrikanern erwähnt, bemüht er altbewährte Positionen der wissenschaftlich-biologistischen Rassentheorie und zeigt sich damit eindeutig als ein Vertreter eines solchen Rassismus.70 Bei 68 Etienne Balibar/Immanuel Wallerstein, Rasse, Klasse, Nation, Hamburg/Berlin 1992, S. 28; Pierre-Andre Taguieff, Die ideologischen Metamorphosen des Rassismus, S. 237. 69 Vgl. Ptienne Balibar/Immanuel Wallerstein, Rasse, Klasse, Nation, S. 31. 70 Hajo Funke bezieht sich in Von Wutbürgern und Brandstiftern, Berlin 2016, S. 90, 92 unter anderem auf Untersuchungen des Kompetenzzentrums Rechtsextremismus der FriedrichSchiller-Universität Jena (2016). Der Publizist und Chefredakteur der Wochenzeitung Junge Freiheit, Dieter Stein – ein Vertreter der Neuen Rechten – distanzierte sich im Gegensatz zu Gauland ausdrücklich von Höckes rassistischen Positionen und forderte die AfD auf, sich von solchen »radikalen Sektierern« zu trennen, um nicht die einmalige Chance zu verspielen, sich als »frische, moderne politische Alternative zu etablieren« (Volker Zastrow, »Höckes Rassentheorie«, FAZ 20. 12. 2015, URL: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/neue-rech te-hoeckes-rassentheorie-13975575.html (letzter Zugriff 20. 11. 2016)).

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einigen anderen Vertretern der AfD, wie der Fraktion der Patriotischen Plattform (PP) am äußersten rechten Flügel der Partei, die nach eigenem Bekunden ein loser Zusammenschluss von Mitgliedern der AfD ist, denen offenbar die völkischen Ziele ihrer Partei nicht weit genug gehen, wird man sehen, wie weit diese avisierten Ziele noch führen werden. Die Identitären vertreten anstelle einer im Zuge des »wissenschaftlichen Rassismus« postulierten Überlegenheit bestimmter Rassen einen Ethnopluralismus, der mit einem Postulat strikt voneinander abzugrenzender Ethnien verbunden ist. Gefordert ist damit eine kulturelle Reinerhaltung von »völkischen« Gemeinschaften, die nicht im biologistischen Sinne nach ihrer Abstammung, sondern nach ihrer Zugehörigkeit zur eigenen Kultur zu unterscheiden sind. Unterschiedliche Kulturen sollten demnach nicht miteinander »vermischt« werden, da, wie dies insbesondere Samuel Huntington betont, ein Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen die Hauptursache globaler Konflikte sei.71 Damit wurde die Biologisierung zugunsten einer ahistorischen Kulturalisierung verdrängt, Rasse wurde durch Kultur ersetzt und die vormalige »interrassistische Ungleichheit« wurde zur »interkulturellen Differenz«.72 Insgesamt gesehen kann bei den gezeigten Positionen im Hinblick auf den Islam von einem antiislamischen Ethnizismus gesprochen werden, wobei, wie bereits erwähnt, die Grenzen zwischen einem »antiislamischen Ethnizismus« und einem »islambezogenen Ethnizismus« fließend sind.

Literatur Alternative für Deutschland, »Grundsatzprogramm der Alternative für Deutschland, Vorlage zum Bundesparteitag am 30. 04. 2016/01. 05. 2016«, URL: https://alternativef uer.de/wp-content/uploads/sites/7/2016/03/Leitantrag-Grundsatzprogramm-AfD.pdf [letzter Zugriff: 20. 11. 2016]. Anderson, Benedict, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts, Frankfurt a.M. 1988. Attia, Iman, Die »westliche Kultur« und ihr Anderes. Zur Destruktion von Orientalismus und antimuslimischem Rassismus, Bielefeld 2009. Balibar, Ptienne/Wallerstein, Immanuel, Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten, Hamburg/Berlin 1992. Bauman, Zygmunt, Moderne und Ambivalenz, in: Bielefeld, Ulrich (Hg.), Das Eigene und das Fremde, Neuer Rassismus in der Alten Welt?, Hamburg 1991, S. 10–23. Bauman, Zygmunt, Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1994. Bauman, Zygmunt, Moderne und Ambivalenz, Hamburg 2005. 71 Vgl. Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen, München/Wien 1997. 72 Vgl. Pierre-Andre Taguieff, Die ideologischen Metamorphosen, S. 238.

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Becker, Julia/Wagner, Ulrich/Christ, Oliver, Nationalismus und Patriotismus als Ursache von Fremdenfeindlichkeit, in: Heitmeyer, Wilhelm (Hg.), Deutsche Zustände. Folge 5, Frankfurt a.M. 2007, S. 131–149. Bommarius, Christian, Scharfe Kritik an Nazi-Vokabular, Frankfurter Rundschau 26. 09. 2016, 72. Jg., Nr. 225; S. 5. Bordt, Michael, Platon, Freiburg 1999. Bruns, Julia/Glösel, Kathrin/Strobl, Natascha, DIE IDENTITÄREN, Handbuch zur Jugendbewegung der Neuen Rechten in Europa, 2. erw. Aufl., Münster 2016. Cakir, Naime, Islamfeindlichkeit. Anatomie eines Feindbildes in Deutschland, Bielefeld 2014. Cakir, Naime, PEGIDA: Islamfeindlichkeit aus der Mitte der Gesellschaft, in: Häusler, Alexander (Hg.), Die Alternative für Deutschland. Programmatik, Entwicklung und politische Verortung, Wiesbaden 2016, S. 149–162. Cakir, Naime, Feindbild Islam: antiislamischer Ethnizismus, in: Klöcker, M./ Tworuschka, U. (Hg.), Handbuch der Religionen, Olzog Verlag, München, 46. Ergänzungslieferung 2015, IV-3.15, S. 1–18. Decker, Marcus, Prominentes neues AfD-Mitglied, Frankfurter Rundschau, 06. 10. 2016, 72. Jg., Nr. 233, S. 5. Eickhof, Ilka, Antimuslimischer Rassismus in Deutschland, Berlin 2010. Funke, Hajo, Von Wutbürgern und Brandstiftern. AfD – Pegida – Gewaltnetze, Berlin 2016. Graf, Jakob, Vererbungslehre, Rassenkunde und Erbgesundheitspflege, 3. erw. Aufl., München 1935. Hafez, Farid, Jahrbuch für Islamophobieforschung 2010. Deutschland – Österreich – Schweiz, Innsbruck 2010. Häusler, Alexander, Die Alternative für Deutschland. Programmatik, Entwicklung und politische Verortung, Wiesbaden 2016. Huntington, Samuel P., Kampf der Kulturen, 6. erw. Aufl., München/Wien 1997. Hüttermann, Jörg, Moscheekonflikte im Figurationsprozess der Einwanderungsgesellschaft: eine soziologische Analyse, in: Krüger-Potratz, Marianne/Schiffauer, Werner, Migrationsreport 2010. Fakten – Analysen – Perspektiven, Frankfurt/Main 2011, S. 39–82. Jessen, Jens, Sprengstoff Leitkultur, DIE ZEIT, 23.09. 2016, Nr. 40, S. 39. Jungwirth, Ingrid, Zum Identitätsdiskurs in den Sozialwissenschaften, Bielefeld 2007. Klein, Anna/Groß, Eva/Zick, Andreas, Menschenfeindliche Zustände, in: Zick, Andreas/ Klein, Anna, Fragile Mitte – Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2014, Bonn 2014, S. 61–83. Kliche, Thomas, »Islam« in Stereotyp, Fluktuat und Matrize, in: Wasmuth, Jennifer (Hg.), Zwischen Fremd- und Feindbildern. Interdisziplinäre Beiträge zu Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Münster 2000, S. 116–150. Köpke, Jörg/Sternberg, Jan, »Der Stuttgarter Rechtsruck«, Hannoversche Allgemeine 30. 04. 2016, URL: www.haz.de/Nachrichten/Politik/Deutschland-Welt/AfD-Partei tag-in-Stuttgart (letzter Zugriff: 20. 11. 2016). Korsch, Felix, »Natürliche Verbündete«? Die Pegida-Debatte in der AfD zwischen Anziehung und Ablehnung, in: Häusler, Alexander (Hg.), Die »Alternative für Deutschland« – Entwicklung und politische Verortung, Wiesbaden 2016, S. 111–134.

Das Eigene und das Fremde – zwischen Heterophobie und Rassismus

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Hendrik Cremer

Rassistische Hate Speech und Meinungsfreiheit

1.

Rassistische Positionen im öffentlichen Raum

Rassistische Positionen werden in Deutschland im öffentlichen Raum – in Reden, Interviews, bei Demonstrationen, in Publikationen, auf Wahlplakaten, im Internet – sowohl von rechtsextremen Parteien und Organisationen als auch von Personen und Organisationen vertreten, die nicht klar dem rechtsextremen Spektrum zuzuordnen sind, bis hin in die gesellschaftliche Mitte. Die Einstellungsforschung zeigt, dass Stereotype und Einstellungen, die sich gegen Juden, Sinti und Roma, Muslime, Flüchtlinge und Migranten richten, weit über rechtsextreme Milieus hinaus verbreitet sind.1 Eine neuere Entwicklung zeigte sich angesichts der Ende 2014 in Dresden begonnenen PEGIDA-Demonstrationen. Solche Demonstrationen haben insofern eine neue Qualität, als an ihnen sowohl Personen aus dem rechtsextremen als auch aus dem bürgerlichen Spektrum teilnehmen. Dabei werden rassistische Stereotype und Einstellungen offen auf die Straße getragen, wobei die Teilnehmer auch gegen Andersdenkende, Politikerinnen und Politiker und Journalisten hetzen. Seit 2014 zog auch die Partei AfD (Alternative für Deutschland) in mehrere Landesparlamente ein. Führungspersonen der Partei sympathisieren offen mit der PEGIDA-Bewegung oder vertreten auch selbst rassistische Positionen. Bereits in den Jahren zuvor verstärkten sich rassistische Positionen in öffentlichen Debatten zu den Themen Integration, Asyl und Migration. Exemplarisch ist zum einen die vom Politiker und damaligen Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank Thilo Sarrazin ausgelöste Debatte in den Jahren 2009 und 2010 zu nennen, der in renommierten Verlagen und Zeitschriften rassistische Thesen vor allem gegen Türken, Araber und Muslime verbreitete.2 Sinti und 1 Siehe etwa Andreas Zick/Anna Klein, Fragile Mitte. Feindselige Zustände, Bonn 2014. 2 Deutsches Institut für Menschenrechte, Stellungnahme des Deutschen Instituts für Menschenrechte im Verfahren vor dem UN-Antirassismus-Ausschuss Türkischer Bund in Berlin-

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Roma wurden ebenso, auch von Politikern etablierter Parteien, zur Zielscheibe in Debatten um Asyl und Freizügigkeit in der Europäischen Union.3 Zudem plakatierte die rechtsextreme Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) in der Vergangenheit in diversen Wahlkämpfen Plakate mit antiziganistischer, antisemitischer sowie antimuslimischer Zielrichtung.4 Demgegenüber gibt es auch deutliche Gegenreaktionen. Viele Menschen demonstrieren bundesweit gegen Rassismus und für eine vielfältige deutsche Gesellschaft, in der Flüchtlinge willkommen sind. Die Bundeskanzlerin, der Justiz- und der Außenminister etwa forderten die Menschen in Deutschland wiederholt auf, rassistischen Slogans und Bewegungen nicht zu folgen.

2.

Einschränkung der Meinungsfreiheit durch Strafrecht nur als letztes Mittel

Zwar kann und muss der Staat rassistischen Positionen, die im öffentlichen Raum geäußert werden, auch mit strafrechtlichen Mitteln Grenzen setzen, das Strafrecht darf aber grundsätzlich nur das letzte Mittel sein. Die Meinungsfreiheit ist ein zentrales Menschenrecht; sie ist Bedingung für die volle Entfaltung der Persönlichkeit, Grundlage einer freien und demokratischen Gesellschaft und sichert die Förderung und den Schutz aller Menschenrechte ab. Diese Einschätzung teilen internationale Menschenrechtsgremien,5 der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)6 und das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfG).7 Die Meinungsfreiheit ist für die freiheitlich-demokratische

3 4

5 6 7

Brandenburg e.V./Deutschland (Beschwerde Nr. 48/2010), Dezember 2011, http://www.insti tut-fuer-menschenrechte.de/uploads/tx_commerce/Stellungnahme_DIMR_im_Verfahren_ vor_dem_UN_Antirassismus_Ausschuss_TBB_Deutschland.pdf (letzter Zugriff: 7. 4. 2016); Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI), Bericht über Deutschland (fünfte Prüfungsrunde), 2014, Ziffer 35ff., http://www.coe.int/t/dghl/monitoring/ecri/Coun try-by-country/Germany/DEU-CbC-V-2014-002-DEU.pdf. Hendrik Cremer, Die Asyldebatte in Deutschland 20 Jahre nach dem Asylkompromiss, Berlin 2013. Siehe dazu Stefanie Schmahl, Rechtsgutachten über den Umgang mit rassistischen Wahlkampfplakaten der NPD, 2015, URL: http://www.jura.uni-wuerzburg.de/fileadmin/02140200/ user_upload/Aktuelles_Ankuendigungen/Gutachten_Wahlkampfplakate.pdf (letzter Zugriff: 7. 4. 2016). Vgl. etwa Menschenrechtsausschuss, Allgemeine Bemerkung Nr. 34 (Article 19: Freedom of opinion and expression) vom 21. 7. 2011, UN-Dok. CCPR/C/GC/34, Ziffer 2. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Observer und Guardian gegen Vereinigtes Königreich, Urteil vom 26. 11. 1991, Antragsnummer 13585/88, Ziffer 59. Siehe etwa Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 15. 1. 1958, Aktenzeichen 1 BvR 400/51, Ziffer 31.

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Staatsordnung »schlechthin konstituierend«8, so formuliert es das Bundesverfassungsgericht. Es sind gerade auch Meinungen geschützt, die von herrschenden Vorstellungen abweichen. Sie verlieren diesen Schutz auch dann nicht, wenn sie scharf und überzogen geäußert werden.9 Reden, die Anstoß erregen, ist grundsätzlich mit Gegenrede und nicht mit staatlicher Regulierung zu antworten.10

3.

Menschenrechtliche Pflicht des Staates zum Schutz vor rassistischen Äußerungen

In der deutschen Rechtsordnung macht sich unter anderem nach § 130 Absatz 1 Nr. 2 Strafgesetzbuch (StGB) strafbar, wer durch seine Äußerungen die Menschenwürde anderer angreift.11 Der § 130 StGB setzt damit eine staatliche Schutzpflicht um, die sich aus Artikel 1 des Grundgesetzes ergibt. In Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes heißt es: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« Darüber hinaus dient § 130 Absatz 1 Nr. 2 StGB auch der Umsetzung menschenrechtlicher Verpflichtungen Deutschlands, zu denen auch das UN-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form rassistischer Diskriminierung (ICERD) zählt. Dieses Übereinkommen enthält ausdrückliche Verpflichtungen der Vertragsstaaten, bestimmte Äußerungen von Personen als strafbare Handlung einzustufen. Dazu gehört, die Verbreitung rassistischen Gedankenguts (»dissemination of ideas based on racial superiority«) zu einer nach dem Gesetz strafbaren Handlung zu erklären (Art. 4 a) ICERD). Das Übereinkommen formuliert damit eine menschenrechtliche Schutzpflicht des Staates, der zufolge die Meinungsfreiheit zum Schutz vor bestimmten rassistischen Äußerungen durch den Erlass von Strafnormen einzuschränken ist. Hierbei erstreckt sich die Schutzpflicht aus ICERD auch auf rassistische Äußerungen, die am Kriterium der Religion anknüpfen, wie etwa im Fall antisemitischer oder antimuslimischer 8 Ebd. 9 Vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 4. 2. 2010, Aktenzeichen 1 BvR 369/04, 1 BvR 370/04, 1 BvR 371/04, Ziffer 22; Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil vom 7. 12. 1976, Handyside gegen Vereinigtes Königreich, Antragsnummer 5493/72, Ziffer 49; Menschenrechtsausschuss, Allgemeine Bemerkung Nr. 34 (Article 19: Freedom of opinion and expression) vom 21. 7. 2011, UN Dok. CCPR/C/GC/34, Ziffer 11, unter Bezugnahme auf Ross gegen Canada, Communication No 736/97, Entscheidung vom 18. 10. 2000, CCPR/C/70/ D/736/1997. 10 Vgl. Stefanie Schmahl, Rechtsgutachten über den Umgang mit rassistischen Wahlkampfplakaten der NPD, 2015, S. 36. 11 Vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 4. 2. 2010, Aktenzeichen 1 BvR369/04, 1 BvR 370/04, 1 BvR 371/04, Ziffer 26ff.

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Äußerungen.12 Davon betroffen können nicht nur gläubige Juden oder Muslime sein, sondern auch diejenigen, denen etwa aufgrund bestimmter äußerlicher Merkmale oder ihrer Herkunft ein jüdischer oder islamischer Glaube unterstellt wird. Die staatliche Verpflichtung, die Verbreitung rassistischen Gedankenguts gemäß Art. 4 a) ICERD unter Strafe zu stellen, ist mit der Einheit und Unteilbarkeit der Menschenrechte zu begründen. Rassistische Äußerungen im Sinne von Art. 4 a) ICERD leugnen grundlegend die Gleichheit aller Menschen und stellen damit das Fundament der Menschenrechte infrage, wie es schon in Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 niedergelegt ist: die Gleichheit aller an Würde und Rechten. Die Meinungsfreiheit ist daher nicht so weit zu verstehen, dass durch sie rassistische Äußerungen im Sinne des Art. 4 a) ICERD geschützt würden;13 der Staat hat vielmehr seiner aus dem Grundgesetz erwachsenden Schutzfunktion und seinen menschenrechtlichen Schutzpflichten nachzukommen. Staatliche Pflichten zum Schutz vor rassistischen Äußerungen lassen sich überdies auch dem Internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte (IPbpR)14 wie auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Europäischen Menschenrechtskonvention entnehmen. Die strafrechtliche Sanktionierung von Äußerungen, die rassistisches Gedankengut verbreiten, berücksichtigt zugleich, welche Wirkungen und Folgen solche Verbalangriffe haben können. Rassistische Verbalangriffe sind Bestandteil und Konsequenz gesellschaftlicher Prozesse, in denen Macht eine wesentliche Rolle spielt. Die Erfahrung mit Rassismus – auf der auch ICERD basiert – zeigt, dass sich rassistische Diskurse auf sehr gefährliche Weise ausbreiten und die Grundlage eines auf Menschenrechten beruhenden und den Menschenrechten verpflichteten Gemeinwesens unterminieren, wenn die Staaten ihnen nicht effektiv entgegentreten. Die Sanktionierung rassistischer Verbalangriffe zielt deshalb auch darauf ab, dem sogenannten »silencing effect« wirksam entgegenzutreten, wonach Minderheiten durch verbale Einschüchterungen »mundtot« gemacht werden und ihnen das fundamentale Recht auf gleichberechtigte Teilhabe und Freiheit abgesprochen werden soll. In diesem Sinne sind die gegenseitige Achtung der

12 Vgl. Stefanie Schmahl, Rechtsgutachten über den Umgang mit rassistischen Wahlkampfplakaten der NPD, S. 58. 13 Vgl. UN-Ausschuss gegen rassistische Diskriminierung, Communication No. 43/2008, UNDok. CERD/C/77/D/43/2008, Entscheidung vom 21. 9. 2010, Ziffer 7.6; Rainer Grote/Nicola Wenzel, Kapitel 18: Meinungsfreiheit, Tübingen 2013, Randnr. 74 und 124. 14 Siehe Art. 20 IPbpR.

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menschlichen Würde und das Verbot rassistischer Verbalangriffe ebenfalls konstitutiv für eine freiheitliche plurale Demokratie.15 Ein wesentlicher Grund für die Untersagung rassistischer Verbalangriffe beruht außerdem darauf, dass sie sich immer weiter ausbreiten und damit zu einer spezifischen gesellschaftlichen Stimmung beitragen können, die auch die Anwendung von rassistischer Gewalt befördern kann.16 Bei der Verbreitung rassistischen Gedankenguts geht es nicht nur um die Präsentation von Überzeugungen und Meinungen, sondern um Bedrohungen für konkrete Personengruppen und das friedliche Miteinander. Die Meinungsfreiheit darf und kann daher auch kein Freifahrtschein für rassistische Diffamierungen sein, die anderen die Anerkennung als Menschen mit gleicher Würde und gleichen Rechten absprechen. Ein Staat, der dabei tatenlos zuschaut, trägt selbst zur Erosion der Meinungsfreiheit bei. Erst Grenzen der Freiheit schaffen die Möglichkeitsbedingungen für die Freiheit aller. Daher sind auch entsprechende Strafgesetze erforderlich und geboten, die bei Grenzüberschreitungen konsequent anzuwenden sind.17 Zugleich müssen die Gefahren für eine übermäßige Einschränkung der Meinungsfreiheit berücksichtigt werden.

4.

Zum Spannungsverhältnis zwischen Meinungsfreiheit und dem Verbot rassistischer Verbalangriffe

Allgemeingültige Kriterien, nach denen sich abschließend bestimmen ließe, ob eine Aussage erstens rassistisch und zweitens strafrechtlich zu sanktionieren ist, lassen sich anhand der Spruchpraxis internationaler Menschenrechtsgremien wie auch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht ausmachen. Die dazu bisher ergangenen Entscheidungen fallen eher einzelfallorientiert aus.18 In den Entscheidungen, in denen internationale Menschenrechtsgremien und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte der staatlichen Schutzpflicht zum Schutz vor rassistischen Äußerungen Vorrang gegenüber der Meinungsfreiheit eingeräumt haben, finden sich auch unterschiedliche rechtsdogmatische Begründungsansätze. So gibt es zum Beispiel Entscheidungen, in denen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einen Missbrauch der Meinungs15 Stefanie Schmahl, Rechtsgutachten, S. 40. 16 Vgl. ebd., S. 41ff., mit weiteren Nachweisen. 17 Vgl. Stefanie Schmahl, Rechtsgutachten, S. 40; Helene Bubrowski, Wer Hass sät, wird Gewalt ernten, in: FAZ vom 19. 10. 2015, http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/meinungsfrei heit-versus-hetze-wer-hass-saet-wird-gewalt-ernten-13863450.html (letzter Zugriff: 7. 4. 2016). 18 Vgl. Stefanie Schmahl, Rechtsgutachten, S. 18f.

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freiheit19 angenommen hat, mit der Konsequenz, dass die zu beurteilende Äußerung nicht dem Schutz der Meinungsfreiheit unterlag und daher zulässigerweise strafrechtlich sanktioniert worden sei. Andere Entscheidungen des Gerichtshofes sahen die zu beurteilende Aussage zwar im Schutzbereich der Meinungsfreiheit, hielten die strafrechtliche Sanktionierung auf der Grundlage der menschenrechtlichen Schutzpflicht des Staates vor rassistischen Äußerungen aber gleichwohl für verhältnismäßig und damit gerechtfertigt.20 Ob eine Äußerung strafrechtlich zu sanktionieren ist, hängt in erster Linie von ihrer inhaltlichen Aussage ab. Weitere Aspekte, beispielsweise unter welchen Umständen eine Äußerung getätigt worden ist, können ebenso relevant sein und für oder gegen eine strafrechtliche Sanktionierung sprechen. Im Übrigen müssen strafrechtliche Sanktionierungen einer Meinungsäußerung auch dem Verhältnismäßigkeitsmaßstab genügen: Art und Höhe der Sanktion müssen verhältnismäßig sein. Im Einklang mit der Spruchpraxis des UN-Ausschusses gegen rassistische Diskriminierung kann es im Einzelfall mitunter auch ausreichen, wenn der Staat nicht strafrechtliche, sondern andere – etwa disziplinarrechtliche – Sanktionen vornimmt, um seiner menschenrechtlichen Schutzpflicht aus Art. 4 ICERD zu genügen.

5.

Umgang mit rassistischen Wahlkampfplakaten

Ein vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten zum Umgang mit rassistischen Wahlkampfplakaten vom Oktober 201521 kommt in diesem Zusammenhang zu dem Ergebnis, dass je nach Konstellation ordnungsrechtliche Maßnahmen Strafsanktionen vorzuziehen, ja sogar als die einzig statthafte Reaktion anzusehen seien. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip gebiete es, von einer strafrechtlichen Sanktion Abstand zu nehmen, wenn das legitime Ziel – die Verhinderung rassistischer Propaganda – auch durch weniger einschneidende Mittel erreicht werden könne. Nach dem Rechtsgutachten müssen Wahlplakate mit rassistischen Inhalten aufgrund der menschenrechtlichen Schutzpflicht des Staates aus Art. 4 ICERD auch entfernt werden, wenn sie in ihren inhaltlichen Aussagen keinen Straftatbestand des deutschen Strafrechts erfüllen. Demgegenüber haben die Verwaltungsgerichte in der deutschen Rechtspraxis bisher maßgeblich darauf abgestellt, ob Wahlplakate den Straftatbestand der Volksverhetzung gemäß § 130 19 Der Gerichtshof nimmt hier Bezug auf Artikel 17 EMRK (Verbot des Missbrauchs der Rechte). 20 Siehe zu alledem auch Rainer Grote/Nicola Wenzel, Kapitel 18: Meinungsfreiheit, Tübingen 2013, Randnr. 35ff. und 124. 21 Stefanie Schmahl, Rechtsgutachten.

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Strafgesetzbuch (StGB) erfüllen. Das vom Justizministerium in Auftrag gegebene Gutachten stellt diese Rechtspraxis mit Blick auf zukünftige Wahlkämpfe nun zu Recht infrage. Jenseits der Frage, ob ein Wahlkampfplakat mit rassistischen Inhalten einen Straftatbestand des deutschen Strafrechts erfüllt, existiert eine sich aus ICERD ergebende menschenrechtliche Schutzpflicht, demzufolge Wahlkampfplakate abgehängt werden müssen, wenn sie Aussagen beinhalten, die nach ICERD zu unterbinden sind. Das Rechtsgutachten bietet Behörden damit eine juristische Argumentationshilfe, Wahlplakate mit rassistischen Inhalten in zukünftigen Wahlkämpfen entfernen zu lassen.

6.

Schutz vor rassistischen Äußerungen in der deutschen Strafrechtspraxis

Strafbar macht sich nach § 130 Absatz 1 Nr. 2 StGB, wer durch seine Äußerungen die Menschenwürde anderer angreift.22 Ein solcher Angriff setzt keinen Angriff auf das biologische Lebensrecht voraus, zumal solche Äußerungen regelmäßig die Voraussetzungen der Aufstachelung zum Hass oder zur Aufforderung zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen als eine weitere Tatbestandsvariante der Volksverhetzung (§ 130 Absatz 1 Nr. 1 StGB) erfüllen dürften. Im Übrigen gilt es, den Schutz der Menschenwürde vom Schutz des Lebens zu unterscheiden. Ein Angriff auf die Menschenwürde ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dann anzunehmen, wenn den angegriffenen Personen ihr Recht abgesprochen wird, als gleichwertige Persönlichkeiten in der staatlichen Gemeinschaft zu leben und sie als minderwertige Wesen behandelt werden.23 In der Praxis ist es ganz überwiegend ein Delikt, bei dem Äußerungen von rechtsextremen Tätern geahndet werden, die gegen gesellschaftliche Minderheiten hetzen. Vor allem dann, wenn sich die Täter mit der NS-Rassenideologie identifizieren oder wenn die Äußerungen damit in einem affirmativen Zusammenhang stehen, wird ein Angriff auf die Menschenwürde und eine Verwirklichung von § 130 Absatz 1 Nr. 2 StGB bejaht.24 Ob Äußerungen rassistisch im Sinne von Art. 4 a) ICERD und deshalb als ein Angriff auf die Menschenwürde gemäß 130 StGB zu werten sind, wird in der Rechtspraxis allerdings häufig nicht als Frage aufgeworfen. Eine explizite Prüfung danach, ob eine Äußerung als rassistisch zu bewerten ist, findet in der Regel 22 Vgl. etwa Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 4. 2. 2010, Aktenzeichen 1 BvR 369/04, 1 BvR 370/04, 1 BvR 371/04, Ziffer 26ff. 23 Vgl. Thomas Fischer, Strafgesetzbuch, München 2015, § 130 StGB, Randnr. 12a und Randnr. 3. 24 Vgl. ebd.

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nicht statt. Zwar wurde im Jahr 2011 eine auf Rechtsakte der EU und des Europarats zurückgehende Gesetzesänderung vorgenommen,25 und obwohl der Gesetzeswortlaut von § 130 StGB seitdem explizit darauf hinweist, dass es gerade rassistische Äußerungen sein können, die die Menschenwürde anderer angreifen, so scheint sich dennoch kein Prüfungsmaßstab zu etablieren, bei dem Äußerungen explizit danach bewertet werden, ob sie rassistisches Gedankengut beinhalten.26 Ein Grund dafür könnte in der – in ihrer Formulierung misslungenen – Gesetzesänderung zu suchen sein, die auf verbale Angriffe gegen eine »rassische Gruppe« abstellt. Schutz vor rassistischen Äußerungen im deutschen Strafrecht kann sich des Weiteren aus dem Straftatbestand der Beleidigung in § 185 StGB ergeben. Der § 185 StGB schützt aber nur vor Beleidigungen von Einzelpersonen. Mehrere Einzelpersonen als Angehörige einer Personenmehrheit können zwar unter einer Kollektivbezeichnung beleidigt werden, nach der Rechtsprechung müssen allerdings alle Angehörigen einer Gruppe und damit alle beleidigten Personen individuell bestimmbar sein. Die Konsequenz daraus ist, dass § 185 StGB in der Regel keinen Schutz vor rassistischen Äußerungen bietet, die sich nicht konkret gegen individuell bestimmbare Personen richten.

7.

Der »Fall Sarrazin« als Beispiel für ein zu enges Verständnis von Rassismus in Deutschland

In Deutschland ist von Rassismus häufig nur dann die Rede, wenn es um organisierten und gewalttätigen Rechtsextremismus geht. Dementsprechend wurde Deutschland in den vergangenen Jahren gleich von mehreren internationalen und europäischen Fachgremien zur Bekämpfung von Rassismus kritisiert. Der UN-Ausschuss gegen rassistische Diskriminierung (CERD) hat Deutschland bereits im Jahr 2008 empfohlen, den Rassismusbegriff und den Ansatz in der Bekämpfung von Rassismus zu erweitern.27 Gleiches hat die Eu25 Die Gesetzesänderung setzt den Rahmenbeschluss 2008/913/JI des Rates vom 28. November 2008 zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sowie das Zusatzprotokoll vom 28. Januar 2003 zum Übereinkommen des Europarats vom 23. November 2001 über Computerkriminalität betreffend die Kriminalisierung mittels Computersystemen begangener Handlungen rassistischer und fremdenfeindlicher Art um. 26 Vgl. Thomas Fischer, Strafgesetzbuch, München 2015, § 130, Randnr. 4. 27 Vgl. UN-Ausschuss gegen rassistische Diskriminierung, Concluding observations of the Committee on the Elimination of Racial Discrimination, Germany, 22. 9. 2008, UN-Dok. CERD/C/DEU/CO/18. Ziffer 15. Vgl. ebenso ders., Concluding observations on the combined nineteenth to twenty-second periodic reports of Germany, 15. 5. 2015, UN-Dok. CERD/C/DEU/ CO/19–22, Ziffer 7.

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ropäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz des Europarats (ECRI) im Jahre 2009 angemahnt,28 ebenso wie der UN-Sonderberichterstatter über Rassismus in seinem im Juni 2010 im UN-Menschenrechtsrat vorgestellten Bericht über Deutschland.29 Als ein Beispiel für ein zu enges Verständnis von Rassismus in Deutschland kann der Fall dienen, in dem es um ein Interview mit Thilo Sarrazin geht, das im September 2009 in der Kulturzeitschrift Lettre International veröffentlicht und im Jahr 2013 zum Gegenstand einer Entscheidung durch den UN-Ausschuss gegen rassistische Diskriminierung (CERD) mit Sitz in Genf wurde.30

7.1

Sarrazins zentrale Aussagen im Lettre-Interview

Das mit Thilo Sarrazin geführte Interview erschien unter der Überschrift »Klasse statt Masse«. Anlass des Interviews war, dass die Zeitschrift 20 Jahre nach dem Mauerfall prominente Personen zur Entwicklung der Stadt Berlin befragt hat. Sarrazin, seit über 30 Jahren in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, war zu dieser Zeit Mitglied im Vorstand der Deutschen Bundesbank und damit Inhaber eines hohen öffentlichen Amtes. Auch zuvor hatte er – etwa als Finanzsenator von Berlin – öffentliche Ämter in Deutschland inne. Das Interview löste nicht nur heftige Reaktionen und Diskussionen in der Öffentlichkeit aus. Die SPD leitete wegen der Interviewäußerungen ein innerparteiliches Sanktionsverfahren (Parteiordnungsverfahren) ein. In dem Verfahren wurde ein wissenschaftliches Gutachten31 erstellt, das Äußerungen von Sarrazin im Interview als eindeutig rassistisch qualifiziert. Dennoch führte das Verfahren nicht zu einem Parteiausschluss wegen Verletzung der Grundsätze der Partei. Auch zahlreiche Strafanzeigen wegen Volksverhetzung gemäß § 130 Strafgesetzbuch und Beleidigung gemäß § 185 Strafgesetzbuch blieben ohne Konsequenzen – die zuständige Staatsanwaltschaft Berlin hat das eingeleitete Ermittlungsverfahren eingestellt, da sie keine strafbaren Äußerungen Sarrazins erkennen konnte. Weitere öffentliche Äußerungen Sarrazins, die dem Interview 28 Vgl. ECRI-Bericht über Deutschland (vierte Prüfungsrunde) 2009, S. 8 und Ziffer 79ff. http:// www.coe.int/t/dghl/monitoring/ecri/Country-by-country/Germany/DEU-CbC-IV-2009019-DEU.pdf (letzter Zugriff: 8. 4. 2016). 29 Vgl. Githu Muigai, Report of the Special Rapporteur on contemporary forms of racism, racial discrimination, xenophobia and related intolerance. Mission to Germany, 2010, Ziffer 77(a)). 30 Communication No. 48/2010, UN-Dok. CERD/C/82/D/48/2010, Entscheidung vom 4. 4. 2013. 31 Gideon Botsch, Gutachten im Auftrag des SPD-Kreisverbandes Spandau und der SPD-Abteilung Alt-Pankow zur Frage »Sind die Äußerungen von Dr. Thilo Sarrazin im Interview in der Zeitschrift Lettre International (deutsche Ausgabe, Heft 86) als rassistisch zu bewerten?«, 2009, URL: https://www.tagesschau.de/inland/gutachtensarrazin100.pdf (letzter Zugriff: 7. 4. 2016).

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folgten, insbesondere in seinem im August 2010 veröffentlichten Buch Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen waren ebenso Gegenstand von Strafanzeigen. Soweit ersichtlich, sind sämtliche Ermittlungsverfahren gegen Sarrazin eingestellt worden. Ein zweites Parteiordnungsverfahren, welches von der SPD nach der Veröffentlichung des Buchs eingeleitet wurde, führte ebenfalls zu keinem Parteiausschluss. Sarrazins Ausführungen in den einschlägigen Passagen des Lettre International-Interviews weisen inhaltlich, im sprachlichen Duktus wie auch in den Begrifflichkeiten (»negative Auslese«, »Unterschichtengeburten«, »Kerngruppen der Jugoslawen«) starke Parallelen zu rassenbiologischen Schriften aus dem 19. Jahrhundert und dem Anfang des 20. Jahrhunderts auf, in denen Menschen nach pseudowissenschaftlichen Kriterien in unterschiedliche »Rassen« eingeteilt und soziale wie ökonomische Unterschiede zwischen Gruppen von Menschen auf ererbte und angeborene Unterschiede zurückgeführt wurden. Auch wenn der Begriff »Degeneration« selbst nicht fällt, redet Sarrazin wie im völkisch-elitären Degenerationsdiskurs von einer »fortwährenden negativen Auslese«, der zufolge die »Bildungspopulation« in Berlin »von Generation zu Generation dümmer« werde. Seine Vorstellung, Berlin zu einer Stadt der »Elite« zu machen, fußt auf einer biopolitischen Programmatik, die er unter anderem mit dem Begriff des »Auswachsens« umschreibt. So äußert Sarrazin in dem Interview, dass sich ein Teil der Berliner Bevölkerung »auswachsen« müsse, womit er meint, dass ein Teil der Bevölkerung aussterben müsse, wie er auf Nachfrage in dem Interview bestätigt: Frage: »Wenn Sie sagen »auswachsen«, meinen Sie damit, dass die Leute sterben und sich diese Schicht nicht neu generiert durch Kinder, Enkel usw.?« Antwort Sarrazin: »Niels Bohr hat gesagt, er hat noch nie jemanden kennengelernt, der seine wissenschaftliche Meinung geändert hat. Wissenschaftliche Meinungen sind immer nur ausgestorben. Und das ist auch sonst so.«

Was Sarrazin in dem Interview anregt, ist demzufolge auch nichts anderes als ein eugenisches Projekt zum »Auswachsen« unbrauchbaren Lebens.32 Sarrazin nimmt mit dem Begriff des »Auswachsens« eine Unterteilung von Menschen in lebenswert und nicht lebenswert vor. Er schlägt deshalb unter anderem vor, Sozialzuwendungen für Einwanderer komplett zu streichen (»Meine Vorstellung wäre: generell kein Zuzug mehr außer für Hochqualifizierte und perspektivisch

32 Christian Staas, »Schickes Ödland Großstadt, Die Sarrazin-Debatte geht am Kern des Skandals vorbei: Der Text ist ungeheuerlicher, als es seine rassistischen Pointen ohnehin schon vermuten lassen«, in: Zeit Online, 28. 10. 2009, http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgesche hen/2009-10/sarrazin-grossstadt-berlin (letzter Zugriff: 7. 4. 2016).

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keine Transferleistungen mehr für Einwanderer«) und ihnen damit auch das physische Existenzminimum vorzuenthalten. Sarrazins Äußerungen in dem Interview zeichnen sich außerdem dadurch aus, dass er die Bevölkerung nach dem Muster »Wir« und die »Anderen« in unterschiedliche Gruppen unterteilt (»Wir müssen uns einmal die unterschiedlichen ›Migrantengruppen‹ anschauen.«). Zu einer Gruppe, die Sarrazin bei der Kategorisierung der Bevölkerung bildet, zählt er »die Türken«, deren Mitgliedern er mehrmals und in unterschiedlichen Passagen des Interviews in verallgemeinernder und herabwürdigender Weise negative Eigenschaften und Verhaltensweisen zuschreibt. Er zweckentfremdet den Begriff »türkisch« und verwendet ihn als ein Synonym für einen fest stehenden Ausdruck mit negativer Bedeutung. (»Bei den Kerngruppen der Jugoslawen sieht man dann schon eher »türkische« Probleme«). Die Aussagen sind dadurch gekennzeichnet, dass Sarrazin die Menschen verspottet und verächtlich macht (»keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel«). Gleichzeitig schürt er – in kriegerischer Rhetorik – Ängste vor ihnen (»Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate«). Im Anschluss an diesen Satz wertet er »die Türken« auch im direkten Vergleich mit anderen Personengruppen ab: »Das würde mir gefallen, wenn es osteuropäische Juden wären mit einem um 15 Prozent höheren IQ als dem der deutschen Bevölkerung.« Auch durch die Wahl der Begriffe, mit denen er Menschen beschreibt, macht er die Menschen verächtlich. Er spricht über sie wie über Massenware (»Ständig werden Bräute nachgeliefert« […] »und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert.«)

7.2

Relativierung rassistischer Äußerungen im öffentlichen Diskurs

Nicht wenige Kommentatoren haben Sarrazins Thesen und Diffamierungen im Interview – wie auch später in der Debatte zu seinem Buch – zwar verurteilt, kamen aber zu dem Schluss, dass er im Kern bestehende Probleme anspreche. Damit spielten sie der Dramaturgie von Sarrazins Auftritt als Provokateur und Tabubrecher direkt in die Hände. Die Reaktionen, die er ausgelöst hat, richteten sich vor allem gegen den Ton und die Schärfe seiner Äußerungen. Dass Sarrazin ein Menschenbild präsentiert, das mit dem Grundgesetz und den Menschenrechten als Fundament der deutschen Gesellschaftsordnung nicht in Einklang zu bringen ist und zudem politische Forderungen erhebt, die zuvor allein rechtsextremen Parteien zugeordnet wurden, fand in der Debatte nur teilweise Berücksichtigung. Oft wurde auf die Meinungsfreiheit verwiesen, um Sarrazin gegen Kritik zu verteidigen. Einige Medien und Kommentatoren sahen

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sogar in der an Sarrazins Thesen geäußerten Kritik die Meinungsfreiheit infrage gestellt. Nur selten wurde in der Debatte die Frage aufgeworfen, welche Wirkungen und Konsequenzen die Debatte bei den Betroffenen und in ihrem Alltag auslöst. Die bestehende Schutzpflicht des Staates gegenüber den unmittelbar von rassistischen Äußerungen Betroffenen und die Pflicht des Staates, Rassismus wirksam zu bekämpfen, waren kaum Gegenstand der Debatte. Ob sich Sarrazin aufgrund seiner Äußerungen strafbar gemacht haben könnte, hat in der Debatte nur eine untergeordnete Rolle gespielt.

7.3

Die Entscheidung des UN-Ausschusses gegen rassistische Diskriminierung (CERD)

Im Jahr 2013 wurde das Interview in Lettre International Gegenstand einer Entscheidung durch den UN-Ausschuss gegen rassistische Diskriminierung (CERD).33 Der Ausschuss hat in der am 4. April 2013 veröffentlichten Entscheidung mit 17 Stimmen gegen eine festgestellt, dass Deutschland durch unzureichende strafrechtliche Ermittlungen der Berliner Staatsanwaltschaft gegen Thilo Sarrazin das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form rassistischer Diskriminierung (ICERD) verletzt hat. Zwar sind Entscheidungen von UNAusschüssen etwa im Unterschied zu Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht verbindlich, dies bedeutet jedoch nicht, dass sie wirkungslos wären. Wegen der Unabhängigkeit und des Sachverstands der Ausschussmitglieder kommt UN-Ausschüssen grundsätzlich eine hohe Autorität zu. Zudem darf man erwarten, dass die Staaten, die sich einem Individualbeschwerdeverfahren unterwerfen, die Entscheidungen des jeweiligen Vertragsorgans akzeptieren und berücksichtigen.34 Die Entscheidung geht auf eine Beschwerde des Türkischen Bundes BerlinBrandenburg (TBB) zurück, die er im Juli 2010 bei CERD eingereicht hat. Er hat vorgebracht, seine Mitglieder, türkeistämmige Menschen in Berlin, seien durch die deutschen Behörden nicht ausreichend vor rassistischen Äußerungen geschützt worden. Der TBB und mehrere Einzelpersonen hatten zuvor wegen des Interviews Strafanzeige gegen Sarrazin gestellt. Das daraufhin eingeleitete Ermittlungsverfahren wurde eingestellt, Beschwerden bei der Generalstaatsanwaltschaft Berlin gegen die Einstellung des Ermittlungsverfahrens blieben erfolglos. CERD hat in der Entscheidung keinen Zweifel daran gelassen, dass er die 33 Communication No. 48/2010, UN-Dok. CERD/C/82/D/48/2010, Entscheidung vom 4. 4. 2013. 34 Vgl. Stefanie Schmahl, Rechtsgutachten, S. 5f., mit weiteren Nachweisen.

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Äußerungen Sarrazins für rassistisches Gedankengut im Sinne von Art. 4 a) ICERD hält. Unter Bezugnahme auf zahlreiche Äußerungen in dem Interview über die türkeistämmige Bevölkerung (»Turkish population«) in Berlin, kommt der Ausschuss zu dem Ergebnis, dass diese als rassistisches Gedankengut (»ideas of racial superiority«) im Sinne des Art. 4 a) ICERD einzuordnen sind.35 Er stellt fest, dass Sarrazins Äußerungen anderen den Respekt als Menschen absprechen (»denying respect as human beings«) und pauschale Zuweisungen negativer Eigenschaften an die türkeistämmige Bevölkerung vornehmen (»and depicting generalized negative characteristics of the Turkish population«). Hinsichtlich der Vertragsverletzung hat CERD darauf abgestellt, dass das eingeleitete Ermittlungsverfahren nicht effektiv durchgeführt und unter Verletzung von ICERD eingestellt worden ist.36 Bei der Entscheidung des Ausschusses ging es demnach im Kern um die Frage des effektiven Rechtsschutzes: Der Ausschuss hat geprüft, ob die deutschen Behörden durch ineffektive strafrechtliche Verfolgung ihre Pflicht aus Art. 6 ICERD, effektiven Schutz zu gewährleisten, verletzt haben. Art. 6 ICERD begründet ein Recht auf wirksamen Schutz und wirksame Rechtsbehelfe im nationalen Rechtsraum gegen mögliche Verstöße aus dem Übereinkommen. Demnach haben die Vertragsstaaten in jedem Einzelfall effektiven Rechtsschutz gegen mögliche Verstöße aus ICERD zu gewährleisten. Im zugrunde liegenden Fall hat der Ausschuss mit Blick auf die staatliche Verpflichtung aus Art. 4 a) ICERD eine Rechtsverletzung im Sinne des Art. 6 ICERD festgestellt. Geht es um die Frage ineffektiver Strafverfolgung wegen der Verbreitung rassistischen Gedankenguts (Art. 4 a) ICERD), so kommt der Ausschuss nach seiner ständigen Spruchpraxis nur dann zu einer Rechtsverletzung von Art. 6 ICERD, wenn sie evident willkürlich (»manifestly arbitrary«) erfolgte oder einer Rechtsverweigerung (»amount to denial of justice«) gleichkommt.37 An diesem Maßstab hat der Ausschuss auch in diesem Fall festgehalten;38 dabei ist er zum Ergebnis einer Rechtsverletzung gekommen. Der Ausschuss hebt hierzu hervor, dass Deutschland seine Pflicht versäumt hat, eine effektive Untersuchung anzustellen, die der Frage nachgeht, ob Sarrazins Äußerungen auf eine Verbreitung rassistischen Gedankenguts hinauslie-

35 Communication No. 48/2010, UN-Dok. CERD/C/82/D/48/2010, Entscheidung vom 4. 4. 2013, Ziffer 12.6. 36 Vgl. Communication No. 48/2010, UN-Dok. CERD/C/82/D/48/2010, Entscheidung vom 4. 4. 2013, Ziffer 12.8. 37 Vgl. UN-Ausschuss gegen rassistische Diskriminierung (CERD), Communication No. 38/ 2006, Entscheidung vom 3. 3. 2006, UN-Dok. CERD/C/72/D/38/2006, Ziffer 7.7. 38 Vgl. Ders.: Communication No. 48/2010, UN-Dok. CERD/C/82/D/48/2010, Entscheidung vom 4. 4. 2013, Ziffer 12.5.

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fen.39 Die Berliner Staatsanwaltschaft hat den rassistischen Inhalt von Sarrazins Aussagen nämlich nicht nur im Ergebnis außer Acht gelassen, sie hat die Frage, ob die Äußerungen Sarrazins rassistisch sind, gar nicht als speziellen Prüfungsmaßstab herangezogen. Auseinandersetzungen mit der Frage, ob die Äußerungen als rassistisch einzuordnen sind, sind dem Einstellungsbescheid der Berliner Staatsanwaltschaft40 und dem zustimmenden Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft41 nicht zu entnehmen. In den Erörterungen der Frage, ob die Äußerungen als Angriff auf die Menschenwürde gemäß § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB zu werten seien, finden sich stattdessen Kontexterwägungen, die evident sachwidrig sind, wenn es um die Frage geht, wie die Äußerungen zu bewerten sind. So hat die Staatsanwaltschaft im Einstellungsbescheid bei der Frage, wie die Äußerungen Sarrazins zu verstehen und zu bewerten sind, auf das Editorial der Zeitschrift abgestellt, in der das Interview erschienen ist. Es ist indes schlicht nicht nachvollziehbar, inwiefern das Editorial der Zeitschrift Aufschluss darüber geben soll, wie die Äußerungen Sarrazins in dem Interview zu bewerten sind. Das Editorial ändert nichts am Gesagten des Interviewten und dessen Inhalt. Bei der Frage, wie die Äußerungen Sarrazins zu verstehen und zu bewerten sind, kann es des Weiteren nicht darum gehen, dass er zuvor Finanzsenator in Berlin war. Die Staatsanwaltschaft trifft im Einstellungsbescheid hingegen folgende Aussagen: »Unstreitig ist der Beschuldigte als ehemaliger Finanzsenator Berlins mit den vielfältigen Problemen der Stadt bestens vertraut; seine Äußerungen fußen auf seiner mehrjährigen politischen Arbeit in Berlin und den daraus gewonnenen Einsichten.«

Außerdem finden sich im Einstellungsbescheid auch noch folgende Ausführungen zu Sarrazins Äußerungen: »Führt man die in der Tat vielfach drastischen und polemischen Äußerungen des Beschuldigten auf ihren Kerngehalt zurück, so beschäftigt er sich im Ergebnis mit sozialen Problemen Berlins, die in anderer, sachlicherer Form immer wieder Gegenstand medialer Berichterstattung und gesellschaftspolitischer Diskussionen waren bzw. sind.«

Mit einer solchen Interpretation von Sarrazins Äußerungen, nach der er sich im Kerngehalt mit sozialen Problemen Berlins beschäftige, werden seine Äußerungen verharmlost. Objektive Kriterien, nach denen zu beurteilen ist, ob seine 39 Ebd., Ziffer 12.8: »[…] the State party failed its duty to carry out an effective investigation whether or not Mr. Sarrazin’s statements amounted to dissemination of ideas based upon racial superiority«. 40 Geschäftszeichen: 81 Js 4071/09. 41 Geschäftszeichen: 1 Zs 3191/09.

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Äußerungen rassistisches Gedankengut im Sinne von Art. 4 a) ICERD beinhalten, werden ausgeblendet. Neben der Feststellung einer Rechtsverletzung hat der Ausschuss auch allgemeine über den Einzelfall hinausgehende Empfehlungen an Deutschland abgeben. So soll Deutschland die bestehende Gesetzgebung und Praxis im Bereich der Strafverfolgung rassistischer Äußerungen überprüfen.42

7.4

Kritik an der Entscheidung des UN-Ausschusses

Die Entscheidung von CERD hat in Deutschland Widerspruch und Kritik ausgelöst. Dabei ruft die Diskussion um die Entscheidung wieder die Frage nach dem Verständnis von Rassismus in Deutschland hervor. Teilweise wird erkennbar, dass sich die Kritik nicht nur gegen die Entscheidung des UN-Ausschusses richtet, sondern auch gegen Art 4 a) ICERD, weil er der Meinungsfreiheit in Bezug auf die Verbreitung rassistischen Gedankenguts überhaupt Grenzen setzt. Kritik im deutschen juristischen Schrifttum an der Entscheidung des Ausschusses, die bezweifelt, dass es sich bei den Äußerungen Sarrazins um rassistisches Gedankengut gemäß Art. 4 a) ICERD handelt, setzt daran an, dass Sarrazin seine Aussagen in dem Interview auf »Türken« beziehe. So wird in diesem Zusammenhang die Frage aufgeworfen, ob Türken als »Rasse« betrachtet werden könnten, zumal der Begriff »Türke« in erster Linie bedeute, Bürger eines anderen Staates, nämlich der Türkei, zu sein. Unterscheidungen, die an die Staatsangehörigkeit anknüpften, seien nach ICERD wiederum zulässig. Die Entscheidung erkläre demgegenüber nicht, wie sie dazu komme, Türken als »Rasse« zu interpretieren, sodass sich »an einem Kernpunkt der Entscheidung eine Hohlstelle« fände.43 Zu dieser Kritik ist zunächst festzuhalten, dass ICERD zwar Unterscheidungen zulässt, sei es durch den Staat, sei es durch private Akteure, wenn sie zwischen Staatsangehörigen einerseits und allen Nicht-Staatsangehörigen anderseits differenzieren. Gleichwohl können auch solche Unterscheidungen rassistische Dimensionen annehmen, worauf CERD in der Vergangenheit bereits mehrfach hingewiesen hat.44 Überdies lässt das Übereinkommen gemäß Art. 1 42 Vgl. UN-Ausschuss gegen rassistische Diskriminierung (CERD), Communication No. 48/ 2010, UN-Dok. CERD/C/82/D/48/2010, Entscheidung vom 4. 4. 2013, Ziffer 14. 43 Christian Tomuschat, »Der ›Fall Sarrazin‹ vor dem UN-Rassendiskriminierungsausschuss«, in: Europäische Grundrechte Zeitschrift, 2013, S. 264. 44 Vgl. General Recommendation No. 30 on discrimination against non citizens, 19. 08. 2004, Ziffer 4; Communication No. 10/1997, Entscheidung vom 6. 4. 1999, UN-Dok. CERD/C/54/D/ 10/1997, Ziffer 9.3; vgl. ebenso Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz

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Abs. 1 ICERD keine Diskriminierungen zu, wenn sie Menschen aus einem bestimmten Staat treffen, also auf die nationale Herkunft (»national origin«) von Menschen abstellen.45 Äußerungen, die sich gegen eine in Deutschland (Berlin) lebende Bevölkerungsgruppe richten, die Sarrazin als »die Türken« konstruiert, knüpfen am Merkmal der nationalen Herkunft im Sinne von Art. 1 Abs. 1 ICERD an, sodass es sich bei den Äußerungen Sarrazins selbstverständlich um rassistisches Gedankengut im Sinne des Art. 4a) ICERD handeln kann. Der Begriff »Rasse« in ICERD – und anderen Menschenrechtsabkommen, die rassistische Diskriminierungen untersagen – ist so zu lesen, dass er sich auf die dahinterstehende rassistische Konstruktion von Menschengruppen bezieht. Schließlich gehen rassistische Konzepte historisch auf die Idee zurück, Menschen anhand biologistischer Kriterien – wie etwa Hautfarbe oder Gesichtszüge – zu klassifizieren.46 Dabei werden aus einer Vielzahl visuell sichtbarer körperlicher Eigenschaften einzelne Merkmale herausgegriffen und Grenzen zwischen den variierenden körperlichen Merkmalen von Menschen gezogen. Auf dieser Grundlage werden Menschen unterschieden und ihnen pauschal bestimmte Eigenschaften oder Verhaltensmuster zugeschrieben.47 Dem entsprechend ist der Begriff »Rasse« auch nicht in einem biologistischen, sondern in einem soziologischen Sinn zu verstehen, im Sinne einer sozialen Konstruktion.48 Der Grund für die Verwendung des Begriffs in menschenrechtlichen Verträgen zum Schutz vor Rassismus liegt darin, dass die für Rassismus typische Kategorisierung von Menschen historisch mit dem Begriff/der Kategorie »Rasse« erfolgte. Die Kritik an der Entscheidung von CERD kann damit als Beispiel dafür dienen, wie wenig Wissen und Verständigung es im deutschen juristischen Schrifttum beim Thema »Rassismus« gibt: Da sich die Frage, ob Türken als »Rasse« betrachtet werden können, gar nicht stellt,49 fehlt der Kritik jede

45

46 47 48 49

(ECRI), Allgemeine politische Empfehlung Nr. 7: Nationale Gesetzgebung zur Bekämpfung von Rassismus, 2002, S. 5. Bezüglich der Begrifflichkeiten in der Definition von Art. 1 Abs. 1 ICERD sei darauf hingewiesen, dass es sich bei ICERD mittlerweile um ein relativ »altes« Dokument handelt; dies gilt ebenso für die deutsche amtliche Übersetzung des Dokuments. Statt »nationaler Ursprung« und »Volkstum«, welche die deutsche Übersetzung verwendet, wären die Begriffe »national origin« und »ethnic origin« nach heutigem Sprachgebrauch mit »nationale Herkunft« und »ethnische Herkunft« zu übersetzen. Vgl. auch Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Urteil vom 13. 12. 2005, Antragsnummer 55762/00 u. 55974/00 (Timishev gegen Russland), Ziffer 55. Vgl. am Beispiel der Hautfarbe Susan Arndt, Hautfarbe, Münster 2011, S. 332ff. Siehe dazu etwa Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI), Allgemeine politische Empfehlung Nr. 7: Nationale Gesetzgebung zur Bekämpfung von Rassismus, 2002, S. 5. Siehe dazu genauer Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI), Allgemeine politische Empfehlung Nr. 7: Nationale Gesetzgebung zur Bekämpfung von Ras-

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Grundlage.Und mehr noch: Indem die Kritik den Konventionstext von ICERD wörtlich nimmt und von der Existenz menschlicher »Rassen« ausgeht, basiert sie auf der Vorstellung rassistischer Positionen, die Menschen in unterschiedliche »Rassen« einteilen. Gegen die Einordnung von Sarrazins Äußerungen als rassistisches Gedankengut gemäß Art. 4 a) ICERD wird ebenso eingewandt, dass es Sarrazin in dem Interview gar nicht darum gegangen sei, »Türken« in besonderer Weise zu brandmarken, da sich in dem Interview ebenso Äußerungen fänden, die sich gegen die eingesessene deutsche Bevölkerung in Berlin richteten. Seine Äußerungen seien daher so zu verstehen, dass sie sich gegen eine breite Unterschicht richteten, die es in Berlin gebe und zu der Sarrazin auch einen Teil der eingesessenen deutschen Bevölkerung zähle.50 An diesem Einwand ist allein zutreffend, dass Sarrazins Beschreibung der Berliner Bevölkerung nicht nur rassistisch ist, sondern ebenso Ausdruck einer tief sitzenden Abneigung gegenüber sozial schwach gestellten Menschen, bei der die Probleme unterprivilegierter Menschen und deren Position der Benachteiligung grundsätzlich ausgeblendet werden.51 Sarrazin bringt ein Menschenbild zum Ausdruck, in dem Menschen grundsätzlich nach ihrem ökonomischen Nutzen bemessen werden. Rassistische Äußerungen in einem Interview verlieren ihren rassistischen Gehalt aber nicht dadurch, dass sich in dem Interview ebenso Äußerungen finden, die sich gegen unterprivilegierte Menschen richten. Rassismus und die Herabwürdigung sozial schwach gestellter Menschen schließen sich nicht gegenseitig aus. Es ist vielmehr ein bekanntes Phänomen, dass rassistische Positionen mit menschenverachtenden Ansichten über sozial schwach gestellte Menschen einhergehen können.52

sismus, 2002, S. 5; Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD), Positionspapier der ISD zum Begriff »Rasse« in Gesetzen, 2015, http://isdonline.de/wp-content/uploads/2015/03/ Positionspapier-der-ISD-zum-Begriff-%E2%80%9ERasse_-.pdf (letzter Zugriff: 8. 4. 2016); Hendrik Cremer, Ein Grundgesetz ohne »Rasse«. Vorschlag für eine Änderung von Artikel 3 Grundgesetz, Berlin 2010. Ders., »… und welcher Rasse gehören Sie an?« Zur Problematik des Begriffs »Rasse« in der Gesetzgebung, Deutsches Institut für Menschenrechte, 2. aktualisierte Auflage, Berlin 2009. 50 Christian Tomuschat, Der ›Fall Sarrazin‹, S. 264. 51 Vgl. Christian Staas, »Schickes Ödland Großstadt«, in: Zeit Online, 28. 10. 2009. 52 Vgl. Gideon Botsch, Gutachten im Auftrag des SPD-Kreisverbandes Spandau und der SPDAbteilung Alt-Pankow zur Frage »Sind die Äußerungen von Dr. Thilo Sarrazin im Interview in der Zeitschrift Lettre International (deutsche Ausgabe, Heft 86) als rassistisch zu bewerten?«, 2009, https://www.tagesschau.de/inland/gutachtensarrazin100.pdf (letzter Zugriff: 7. 4. 2016); Andreas Zick/Anna Klein, Fragile Mitte. Feindselige Zustände, Bonn 2014.

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Kommission des Europarats stimmt UN-Ausschuss zu

Sowohl die öffentliche Debatte zu Sarrazins Thesen als auch die Entscheidung der Berliner Staatsanwaltschaft zur Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen Sarrazin haben deutlich gemacht, dass in Deutschland ein zu enges Verständnis von Rassismus vorherrscht. Rassismus setzt kein Gedankengut voraus, das auf biologistischen Theorien von Abstammung und Vererbung basiert.53 Es ist erst recht nicht erforderlich, dass Menschen dabei begrifflich nach unterschiedlichen »Rassen« eingeteilt werden. Häufig wird der Rassismus der Gegenwart unter Bezugnahme auf Merkmale wie »Kultur« oder »Religion« begründet. In Sarrazins Aussagen lassen sich sowohl kulturalistische als auch biologistische Argumentationsmuster finden; dennoch wurde die Dimension seiner Thesen in der Debatte allzu oft verkannt. Um die rassistischen Inhalte seiner Aussagen zu kaschieren und dem Vorwurf von Rassismus vorzubeugen, hat er in Interviews regelmäßig hervorgehoben, dass er ja nicht von »Rassen« oder »Ethnien« spreche, sondern auf die »Kultur« von Menschen Bezug nehme.54 Die Reaktionen in der medialen Öffentlichkeit zeigten, dass Sarrazin mit diesem Kunstgriff weitgehend Erfolg hatte. Mit seinen biologistischen Thesen nimmt er aber sogar Rückgriff auf ein Gedankengut, welches die geistige Grundlage des Nationalsozialismus bildete. Vor diesem Hintergrund hat auch die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz des Europarats (ECRI) in ihrem aktuellen Bericht über Deutschland die Entscheidung von CERD befürwortet.55 Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) hat die Kommission zudem auf die Ähnlichkeit der Äußerungen von Thilo Sarrazin mit jenen abgestellt, die Jean Marie Le Pen, Gründer der französischen Partei Front National, in einem vergleichbaren Fall geäußert habe. Der EGMR sah die Äußerungen Le Pens nicht durch die Meinungsfreiheit geschützt und hat deren strafrechtliche Sanktionierung durch Frankreich daher auch nicht beanstandet.56 CERD habe daher aus gutem Grund entschieden, dass das Ausbleiben

53 Vgl. Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI), Allgemeine politische Empfehlung Nr. 7: Nationale Gesetzgebung zur Bekämpfung von Rassismus, 2002, S. 5; Wiebke Scharathow/Claus Melter/Rudolf Leiprecht/Paul Mecheril, Rassismuskritik, Schwalbach 2011, S. 10ff. 54 Vgl. etwa Capital, 2010, S. 92. 55 Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI), ECRI-Bericht über Deutschland (fünfte Prüfungsrunde) 2014, Ziffer 35ff., http://www.coe.int/t/dghl/monito ring/ecri/Country-by-country/Germany/DEU-CbC-V-2014-002-DEU.pdf (letzter Zugriff: 8. 4. 2016). 56 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Entscheidung vom 20. 4. 2010, Le Pen gegen Frankreich, Nr. 18788/09.

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wirksamer Ermittlung nach den Äußerungen von Sarrazin eine Verletzung von ICERD darstellt.57 Der »Fall Sarrazin« zeigt damit ein grundsätzliches Defizit beim Schutz vor Rassismus in Deutschland auf, wobei es im Speziellen um die mangelnde Beachtung der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 4 a) ICERD geht. Dem mangelnden Schutz, der aus dem vorherrschenden engen Verständnis von Rassismus resultiert, liegt eine – auch in Ministerien, Behörden und Gerichten – weit verbreitete Fehleinschätzung zugrunde, dass Rassismus nur ein Phänomen in rechtsextremen Milieus sei, nicht aber in der gesamten Gesellschaft. Der unzureichende Schutz kann sich demzufolge dadurch ausdrücken, dass rassistische Äußerungen nur dann als solche erkannt werden, wenn die Täter rechtsextremen Organisationen angehören. Hierbei wird ausgeblendet, dass auch Äußerungen von Personen in öffentlichen Ämtern und herausgehobener gesellschaftlicher Position rassistisch sein können. Die Ausführungen der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren gegen Sarrazin haben dieses Defizit besonders deutlich gemacht. Kontexterwägungen, wie sie im Einstellungsbescheid der Berliner Staatsanwaltschaft aufgeführt werden, führen im Übrigen dazu, dass menschenrechtlich gebotener Schutz vor rassistischen Äußerungen durch nationales Strafrecht keine Beachtung findet. Sie führen im Speziellen dazu, dass Personen des öffentlichen Lebens und/oder Amtsträger einen besonderen und damit willkürlichen Schutz genießen, wenn sie sich rassistisch äußern. Die damit einhergehende Legitimierung solcher Äußerungen durch die Justiz eines Staates ist besonders gravierend. Sie befördert die Etablierung und Akzeptanz von Rassismus in der Gesellschaft, im Staat und in seinen Institutionen.

8.

Fazit

Das vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz in Auftrag gegebene Rechtsgutachten über den Umgang mit rassistischen Wahlkampfplakaten vom Oktober 2015 leistet einen wichtigen Beitrag zur Untersagung rassistischer Positionierungen im öffentlichen Raum. Es bietet den Behörden in zukünftigen Wahlkämpfen eine juristische Argumentationshilfe, Wahlplakate mit rassistischen Inhalten entfernen zu lassen. Aus der Entscheidung von CERD im »Fall Sarrazin« wurden von Deutschland bisher keine Konsequenzen gezogen. Zuletzt im Mai 2015 hat CERD Deutschland daran erinnert, die bestehende Gesetzgebung und Praxis im Bereich der Straf57 Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI), ECRI-Bericht über Deutschland (fünfte Prüfungsrunde) 2014, Ziffer 39.

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verfolgung rassistischer Äußerungen zu überprüfen und Maßnahmen zur gezielten Qualifizierung der Justiz angemahnt, damit rassistische Äußerungen von der Justiz als solche erkannt und den menschenrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands entsprechend bewertet werden.58 In die gleiche Richtung gehen die Empfehlungen von ECRI59 und des Menschenrechtskommissars des Europarats in seinem im Oktober 2015 erschienenen Bericht zu Deutschland.60 Bund und Länder haben nun in der Abschlusserklärung des Justizgipfels vom März 2016 reagiert; sie haben darin ihre Absicht zum Ausdruck gebracht, spezifische Fortbildungsmodule in diesem Feld zu entwickeln. Es ist im Übrigen gewiss, dass sich rassistische Hetzer und ihre Sympathisanten durch eine strafrechtliche Verfolgung oder ordnungsrechtliche Maßnahmen wie das Entfernen von Plakaten in dem Gefühl bestärkt sehen, dass ihnen das angebliche linksliberale Meinungskartell aus »Altparteien« und »Lügenpresse« den Mund verbietet.61 Einzelne fühlen sich durch die zunehmende verbale Hetze ermutigt, zu Gewalt zu greifen. Das Attentat auf die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker im Oktober 2015 kann als ein Beispiel dafür dienen, das die fortschreitende Radikalisierung deutlich macht. Um seinem Anspruch gerecht zu werden, darf der Rechtsstaat dort, wo es geboten ist, hingegen nicht vor ordnungs- und strafrechtlichen Maßnahmen gegen rassistische Hetze zurückschrecken. Es geht im Falle rassistischer Verbalangriffe nicht nur um den grund- und menschenrechtlichen Schutz für die diffamierten Gruppen, etwa nach Deutschland geflohene Menschen oder Angehörige von Minderheiten – es geht um das Einschreiten des Staates gegen Angriffe auf die demokratische Gesellschaft und die Menschenrechte insgesamt.

Literaturverzeichnis Arndt, Susan, Hautfarbe, in: Arndt, Susan/Ofuatey-Alazard, Nadja (Hg.), Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache, Münster 2011, S. 332–342. 58 UN-Ausschuss gegen rassistische Diskriminierung (CERD), Concluding observations on the combined nineteenth to twenty-second periodic reports of Germany, 15. 5. 2015, UN-Dok. CERD/C/DEU/CO/19–22, Ziffer 19 und 9. 59 Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI), ECRI-Bericht über Deutschland (fünfte Prüfungsrunde) 2014, Ziffer 6ff. und 26f. 60 Nils Muizˇnieks, Menschenrechtskommissar des Europarats, »Bericht nach seinem Besuch in Deutschland am 24. April und vom 4. bis zum 8. Mai 2015«, 1. 10. 2015, http://www.institutfuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/Europarat_Dokumente/Be richt_Menschenrechtskommissar_Deutschland_2015_de.pdf (letzter Zugriff: 7. 4. 2016). 61 Helene Bubrowski, »Wer Hass sät, wird Gewalt ernten«, in: FAZ vom 19. 10. 2015.

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Botsch, Gideon, »Gutachten im Auftrag des SPD-Kreisverbandes Spandau und der SPDAbteilung Alt-Pankow zur Frage ›Sind die Äußerungen von Dr. Thilo Sarrazin im Interview in der Zeitschrift Lettre International (deutsche Ausgabe, Heft 86) als rassistisch zu bewerten?‹«, 22. 12. 2009, URL: https://www.tagesschau.de/inland/gutachtensarra zin100.pdf (letzter Zugriff: 7. 4. 2016). Bubrowski, Helene, »Wer Hass sät, wird Gewalt ernten«, in: FAZ, 19. 10. 2015, http://www. faz.net/aktuell/politik/inland/meinungsfreiheit-versus-hetze-wer-hass-saet-wird-ge walt-ernten-13863450.html (letzter Zugriff: 7. 4. 2016). Capital, Ich habe das Buch mit Gewinn gelesen, Streitgespräch, Capital 10/2010, S. 91–94. Cremer, Hendrik, Die Asyldebatte in Deutschland 20 Jahre nach dem Asylkompromiss, Deutsches Institut für Menschenrechte (Hg.), Berlin 2013. Ders., Ein Grundgesetz ohne »Rasse«. Vorschlag für eine Änderung von Artikel 3 Grundgesetz, Deutsches Institut für Menschenrechte (Hg.), Berlin 2010. Ders., »… und welcher Rasse gehören Sie an?« Zur Problematik des Begriffs »Rasse« in der Gesetzgebung, Deutsches Institut für Menschenrechte (Hg.), 2. aktualisierte Auflage, Berlin 2009. Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI), »ECRI-Bericht über Deutschland (fünfte Prüfungsrunde)«, 25. 2. 2014, URL: http://www.coe.int/t/dghl/mo nitoring/ecri/Country-by-country/Germany/DEU-CbC-V-2014-002-DEU.pdf (letzter Zugriff: 8. 4. 2016). Dies., »ECRI-Bericht über Deutschland (vierte Prüfungsrunde)«, Straßburg, 26. 05. 2009, URL: http://www.coe.int/t/dghl/monitoring/ecri/Country-by-country/Germany/DEUCbC-IV-2009-019-DEU.pdf (letzter Zugriff: 8. 4. 2016). Dies., »Allgemeine politische Empfehlung Nr. 7: Nationale Gesetzgebung zur Bekämpfung von Rassismus«, Straßburg, 13. 12. 2002, URL: http://www.coe.int/t/dghl/monitoring/ ecri/activities/GPR/EN/Recommendation_N7/REC7-2003-8-DEU.pdf (letzter Zugriff: 8. 4. 2016). Fischer, Thomas, Strafgesetzbuch, München 622015. Grote, Rainer/Wenzel, Nicola, Kapitel 18: Meinungsfreiheit, in: Dörr, Oliver/Grote, Rainer/ Marauhn, Thilo (Hg.), EMRK/GG Konkordanzkommentar, Tübingen 2013. Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD), »Positionspapier der ISD zum Begriff »Rasse« in Gesetzen«, 2. 3. 2015, URL: http://isdonline.de/wp-content/uploads/2015/ 03/Positionspapier-der-ISD-zum-Begriff-%E2%80%9ERasse_-.pdf (letzter Zugriff: 8. 4. 2016). Menschenrechtsausschuss, Allgemeine Bemerkung Nr. 34 (Article 19: Freedom of opinion and expression), 21. 7. 2011, UN-Dok. CCPR/C/GC/34. Muigai, Githu, Report of the Special Rapporteur on contemporary forms of racism, racial discrimination, xenophobia and related intolerance. Mission to Germany, 22. 2. 2010, UN-Dok. AHRC/14/43/Add.2. Muizˇnieks, Nils, »Menschenrechtskommissar des Europarats, Bericht nach seinem Besuch in Deutschland am 24. April und vom 4. bis zum 8. Mai 2015«, 1. 10. 2015, http://www. institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/Europarat_Doku mente/Bericht_Menschenrechtskommissar_Deutschland_2015_de.pdf (letzter Zugriff: 8. 4. 2016).

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Iman Attia

Unzumutbare Koexistenz. Rassialisierungsprozesse von Muslimen und Musliminnen in historischer Perspektive

Rassismus richtet sich gegen Menschen wegen dessen, was sie (vermeintlich) sind, und nicht gegen das, was sie tun oder denken. Da Muslime und Musliminnen die Freiheit hätten zu wählen, ob und welcher Religion sie anhängen, und die Kritik sich gegen ihren Glauben und ihre religiös begründeten Handlungen richte, handele es sich nicht um Rassismus. Außerdem sei Religionszugehörigkeit kein ›Rassemerkmal‹. Maßnahmen, die Personen muslimischen Glaubens davon abhielten, ihren Glauben zu leben, könnten deswegen nicht als diskriminierend, ausgrenzend oder gar rassistisch bezeichnet werden. Schließlich hätten sie sich entschieden, so zu denken und zu handeln, und müssten die Konsequenzen hierfür tragen. Und ›wir‹ müssten ›uns‹ davor schützen dürfen, ›uns‹ und unsere Kinder und Frauen sowie ›unsere‹ Gesellschaft und Kultur. Denn ›wir‹ seien anderen Traditionen und Idealen verpflichtet und auf einem anderen Entwicklungs- und Zivilisationsniveau angekommen. Diese Argumentation beziehungsweise Teile und Variationen hiervon liegen antimuslimischen Äußerungen und Handlungen zugrunde, allerdings nicht nur jenen von PEGIDA, AfD und anderen Gruppierungen am rechten Rand. Im Folgenden geht es um verschiedene Dimensionen dieser Argumentation, und zwar im Einzelnen darum, dass – Muslime und Musliminnen sich freiwillig dazu entschieden hätten, dem Islam anzugehören und sich damit selbst ausgrenzten, – Religion mit Rasse nichts zu tun habe, – sich die Kritik und die Maßnahmen gegen den Islam als Religion und den damit zusammenhängenden Handlungen von Muslimen und Musliminnen richteten, – es sich dabei nicht um Diskriminierung, Ausgrenzung oder Rassismus handele, sondern um legitime Kritik mit dem Ziel, ›uns‹ vor einer Bedrohung zu schützen, denn die christlich-säkularen respektive muslimischen Gesellschaften, Kulturen und Religionen seien miteinander unvereinbar, und die christlich-säkularen stünden auf einem höheren zivilisatorischen Niveau.

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Diese Argumentation ist nicht neu. Sie reicht zurück bis 1492.

Die christliche Ordnung der Welt Das Jahr 1492 markiert den zentralen Ausgangspunkt für den modernen Rassismus und damit eine der grundlegenden Dimensionen des modernen Weltsystems. Das Datum symbolisiert die interne und externe Bemächtigung von Land und Leuten: Die externe Bemächtigung bezieht sich auf die europäische Expansion, beginnend mit der Vertreibung und Tötung der indigenen Bevölkerung Amerikas und der Ausbeutung und Zerstörung ihrer Kultur und Natur. Legitimiert wurde der erste Genozid in der Menschheitsgeschichte damit, dass Menschen ohne (monotheistischen) Glauben keine Seele hätten und deswegen (noch) nicht als menschlich anzusehen und zu behandeln seien.1 In Valladolid ließ sich 1550 der spanische Herrscher Karl V. vom aristotelischen Humanisten Sepffllveda und dem christlichen Humanisten Las Casas beraten, um zu klären, wie mit der indigenen Bevölkerung umzugehen sei. Zur Disposition stand, ob ihre Bekehrung und Ausbeutung oder ihre Vertreibung und Bekämpfung bis zum Tod angemessener seien. Der Ausgangspunkt beider Argumentationen war, dass die indigene Bevölkerung nicht christlich und dies schlicht nicht hinnehmbar sei. Sie unterschieden sich lediglich darin, wie mit diesem Umstand umzugehen sei. Die als Disput oder Kontroverse von Valladolid bekannt gewordene Auseinandersetzung legte den Grundstein für alle folgenden Debatten zu Kolonialisierungen, Genoziden, Zivilisierungsmissionen und ›Kriegen gegen den Terror‹.2 Die interne Bemächtigung bezieht sich auf die Christianisierung Europas. Einen Höhepunkt bildete die Vertreibung der jüdischen und der muslimischen Bevölkerung aus al-Andalus, der Iberischen Halbinsel. Im Unterschied zu den externen Anderen, die keinen (monotheistischen) Glauben hatten, wurde den internen Anderen vorgeworfen, den falschen (nicht-christlichen) Glauben zu haben.3 Die jüdische Bevölkerung wurde zunächst vor die Wahl gestellt, zum Christentum zu konvertieren oder zu migrieren. Die letzten Juden und Jüdinnen wurden 1492 vertrieben; viele von ihnen migrierten nach Saloniki, wo sie eine Zeitlang die Bevölkerungsmehrheit stellten, und ins Osmanische Reich, wo sie

1 Vgl. Ramjn Grosfoguel/Eric Mielants, »The Long-Duree Entanglement Between Islamophobia and Racism in the Modern/Colonial Capitalist/Patriarchal World-System. An Introduction«, in: Human Architecture: Journal of the Sociology of Self-Knowledge, 5, 2006, 1–12. 2 Vgl. Immanuel Wallerstein, Die Barbarei der anderen. Europäischer Universalismus, Berlin 2010, S. 11f. 3 Vgl. Ramjn Grosfoguel/Eric Mielants, »The Long-Duree Entanglement«, S. 2f.

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als Sephardim willkommen geheißen wurden.4 Der muslimischen Bevölkerung dagegen wurde zunächst zugesichert, dass sie unter spanisch-katholischer Herrschaft ebenso toleriert würden wie zuvor die katholische und die jüdische Bevölkerung unter arabisch-amazighisch-muslimischer Herrschaft. Bald, nachdem die spanisch-katholische Unterwerfung von al-Andalus 1492 abgeschlossen war, wurde die muslimische Bevölkerung jedoch ebenfalls vor die Wahl gestellt zu konvertieren oder zu migrieren; letztlich wurde sie 1609 von der Iberischen Halbinsel nach Nordafrika deportiert.

Zwangschristianisierung und Vertreibung 1492 fiel Granada, die letzte arabisch-amazighisch-muslimische Stadt des einstigen al-Andalus auf der Iberischen Halbinsel, an die katholisch-spanische Krone. Die arabisch- oder amazighischsprachigen Eroberer aus Nordafrika hatten 711 n. Chr. die germanischen Westgoten, die seit dem 5. Jahrhundert auf der Iberischen Halbinsel herrschten, besiegt und sich in al-Andalus angesiedelt.5 Die neuen Herrscher führten Regelungen zur Toleranz der christlichen und jüdischen Bevölkerung und zur Koexi-stenz aller Religionsgemeinschaften ein. Mit der Auflage, eine spezielle Steuer zu entrichten, konnten die christlichen und jüdischen Gemeinschaften unter muslimischer Herrschaft ihren Glauben leben und nach innen hin eigenen Gesetzen folgen. Obgleich es zu Konversionen kam, missionierten die muslimischen Herrscher aus verschiedenen Gründen nicht.6 Als die katholisch-spanische Herrschaft sukzessive an Boden gewann, schränkte sie die Toleranz zunehmend ein: Zunächst war eine ›tolerante Segregation‹ der Religionsgemeinschaften möglich, ihr folgte eine Phase ›strikter Diskriminierung‹, schließlich wurde die vollständige und gewaltsame Assimilierung durchgesetzt: »Everyone now had to conform to one single religious, cultural and political policy«.7 Die katholisch-spanische Herrschaft hielt die religiöse und später auch kulturelle Homogenität der Bevölkerung für eine notwendige Voraussetzung einer vereinigten Gesellschaft. FranÅois Soyer analysiert den Prozess der Rassialisierung von Muslimen und Musliminnen und arbeitet ihre Kulturalisierung als wichtiges Bindeglied zwischen Religion und ›Rasse‹ heraus. Er sieht einige Parallelen zu den aktuellen Islamdiskursen und -politiken. 1526 wurde in Granada ein Programm erlassen, um die muslimische Bevölkerung religiös und kulturell zu assimilieren. Dem4 Vgl. Maurits S. Berger, A Brief History of Islam in Europe. Thirteen Centuries of Creed, Conflict and Coexistence, Leiden 2014, S. 122. 5 Vgl. ebd., S. 41. 6 Vgl. ebd., S. 45. 7 Vgl. ebd., S. 88.

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nach mussten sie sich wie Christen und Christinnen kleiden, die Frauen durften sich nicht nach muslimischen Geboten bedecken, die arabischsprachige Bevölkerung durfte kein mehr Arabisch sprechen oder schreiben, ihre Bücher und Dokumente wurden konfisziert. Die muslimische Bevölkerung durfte ihre Badehäuser nicht mehr benutzen, weil befürchtet wurde, dass dort das Gemeindeleben fortbestehen könne und die muslimischen Gläubigen sich für ihre Gebete waschen würden. Freitags und sonntags mussten sie ihre Haustüren offenstehen lassen, um sicherzustellen, dass sie keine muslimischen Freitagsgebete verrichteten, sondern den christlichen Sonntag feierten.8 Auch wurden die Zirkumzision (Beschneidung) und das Schächten verboten.9 1527 erklärte sich Spanien für ›religiös gereinigt‹; wer noch nicht freiwillig konvertiert war, wurde zwangschristianisiert.10 Die zur Konversion gezwungenen und von spanisch-christlicher Seite aus als ›Moriscos‹ bezeichneten Muslime und Musliminnen praktizierten ihren Glauben zum Teil im Geheimen weiter. Die Herrschenden sahen die Sicherheit Spaniens bedroht: Häresie, so wurde befürchtet, würde Gott verärgern und Unglück über Spanien bringen. Auch wurde den ›Moriscos‹ vorgeworfen, mit dem verfeindeten muslimischen Osmanischen Reich zu sympathisieren; sie wurden zunehmend als Sicherheitsproblem eingestuft. ›Moriscos‹ wurden als eigene ›Rasse‹ und Nation auf der Grundlage ihrer fremden Kultur, die religiös definiert wurde, eingeordnet. »Moriscos perceived as racially different from the ›old‹ Christians, who claimed descent from the Germanic (Visi)Goths as opposed to the allegedly semitic Arab descent of the Moriscos«.11 In einer Petition, die 1545 in Valladolid eingereicht wurde, war von »cristianos y cristianas de nacijn« im Unterschied zu den »moros« die Rede.12 Der rassistische Begriff des ›Mohren‹ ist hiervon abgeleitet und bezog sich ursprünglich auf die muslimische Bevölkerung der Iberischen Halbinsel und später auch Nordafrikas. Ab 1571 diskutierte das Königshaus unter Philip II. eine ›endgültige Lösung des Morisco-Problems‹. Erwogen wurden Massendeportationen nach Nordamerika, Verschiffung und Ertränken, Versklavung bis zum Tod, Kastration und Sterilisation.13 Die Kriege gegen England und Frankreich banden aber die per8 Vgl. FranÅois Soyer, »Faith, culture and feat: comparing Islamophobia in early modern Spain and twenty-first-century Europe«, in: Ethnic and Racial Studies 36: 3, 2012, S. S. 402. (dt. Übersetzung i. E. in: Iman Attia/Mariam Popal (Hg.), Grenzziehungen aufspüren und verwischen, Münster 2018). 9 Vgl. Maurits Berger, A Brief History, S. 127. 10 Vgl. ebd., S. 124. 11 Vgl. Ebd. 12 Vgl. FranÅois Soyer, Faith, culture and feat, S. 404. 13 Vgl. ebd.

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sonellen und materiellen Mittel, sodass die Überlegungen nicht umgesetzt wurden. Nach dem Friedensschluss setzte der Thronfolger Philip III. 1609 die Massendeportation von ca. 300 000 zwangschristianisierten Muslimen und Musliminnen nach Nordafrika systematisch durch.14 Diese Vertreibung machte in einem langen Prozess aus Bürgern und Bürgerinnen Fremde, die zunächst zu inneren und später zu äußeren Feinden erklärt wurden. FranÅois Soyer spricht in diesem Zusammenhang von einer ›ethnischen Säuberung‹: »[…] hundreds of thousands of Muslims, who considered themselves to be as much native Spaniards as the rest of the population, were ethnically cleansed by a government that considered them to be both culturally alien and a direct threat to the security of the Church and the state in which they lived«.15

»Reinheit des Blutes« Mit der Deportation der muslimischen Bevölkerung von der Iberischen Halbinsel endet häufig die Erzählung ihrer Verfolgungsgeschichte im heutigen Spanien. Aus Sicht der Rassismusforschung verdient aber eine weitere historische Entwicklung Aufmerksamkeit. 1449 wurde in Toledo, das bereits seit 1085 unter katholisch-spanischer Herrschaft stand, ein Statut erlassen, das die ›Blutreinheit‹ zu einer relevanten Kategorie erhob. Sie sollte sicherstellen, »[…] dass conversos jüdischer Herkunft […] weder private noch öffentliche Ämter bekleiden dürfen, von denen aus sie den schönen [= reinen] Altchristen Unrecht zufügen, sie beleidigen oder schlecht behandeln könnten. Ebensowenig dürfen jene Neuchristen vor Gericht als Zeugen gegen Altchristen aussagen.«16

Als Vorlage zu diesem Gesetz diente vermutlich eine stadtrechtliche Satzung aus dem Jahr 1118, wonach »kein Jude und kein Konvertit der ersten Generation Befehlsgewalt über einen Christen in Toledo und in seinem Gebiet«17 haben dürfe. Gesetze und Bestimmungen, die Christen gegenüber Juden Privilegien einräumten, waren nicht neu. Solange noch Christen und Christinnen unter muslimischer Herrschaft lebten, blieb die muslimische Bevölkerung von diesen Regelungen ausgenommen, um die christliche Bevölkerung unter muslimischer Herrschaft nicht zu gefährden. Die Sentencia-Estatuto von 1449 wurde durch 14 Vgl. ebd., S. 408f. 15 Ebd., S. 413. 16 Sentencia-Estatuto zitiert nach und übersetzt von Max Sebasti#n Hering Torres, Rassismus in der Vormoderne. Die »Reinheit des Blutes« im Spanien der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M./ New York 2006, S. 40. 17 Zit. n. ebd., S. 41.

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Intervention des Papstes aufgehoben, er hatte die Unterscheidung zwischen Altund Neuchristen verurteilt. Auch ein königliches Ratsmitglied hatte zu bedenken gegeben, dass eine Diskriminierung der neuchristlichen Bevölkerung dazu führen könne, dass diese in muslimische Städte übersiedelten. Zudem müsse zwischen Häretikern und echten Konvertiten unterschieden werden, sonst werde die »reinigende Wirkung der Taufe«18 infrage gestellt. Dennoch diente die Sentencia-Estatuto von Toledo als Vorlage zur Einführung der limpieza de sangre in »die Zentren der Macht«19, in »Universitäten, Militärorden, Domkapiteln, religiösen Orden, Stadträten, Zünften und anderen Institutionen wie etwa der Inquisition«20. Bei den limpieza de sangre (Statuten zur Reinheit des Blutes) handelt es sich um genealogische Nachforschungen, die bereits in den Dreißigerjahren und deutlicher formalisiert ab Mitte des 16. Jahrhunderts angewendet wurden.21 Auf ihrer Grundlage wurde bei ›verdächtigen‹ oder denunzierten Stellenanwärtern überprüft, ob sie einer »generacijn de confesos o de moriscos«22 angehörten. Die Abstammung von jüdischen oder muslimischen Vorfahren wurde mehrere Generationen zurück verfolgt und orientierte sich nicht an der aktuellen Religionszugehörigkeit, auch nicht an religiösen oder kulturellen Praktiken, sondern allein an »›Blut‹, ›Rasse‹ und ›Herkunft‹«23 eines Kandidaten für ein mächtiges Amt beziehungsweise die Ausbildung zu einem solchen. Max Sebasti#n Hering Torres argumentiert, dass derartige Maßnahmen zu einem Zeitpunkt eingerichtet wurden, als Konversion und Assimilation sowie die ›Vermischung‹ der Bevölkerungsgruppen so weit fortgeschritten waren, dass nicht mehr entlang ihrer (ehemaligen) Religionszugehörigkeit zwischen ihnen unterschieden werden konnte. Regelungen und aufwändige Untersuchungen wurden zur anhaltenden Privilegierung von Christen notwendig, da die Nachbarschaft nicht mehr wusste, wer auf eine ›reine‹ Abstammung zurückblicken konnte. Diese Argumentation wäre es wert, weitere historisch vergleichende Studien zum Antisemitismus um die Jahrhundertwende zum 20. sowie zum antimuslimischen Rassismus um die Wende zum 21. Jahrhundert anzustellen. Hier sollen die skizzierten Anmerkungen genügen, um in Erinnerung zu rufen, dass die (ehemals) jüdische und muslimische Bevölkerung Spaniens in einem langen Konstruktionsprozess zunächst als religiös, später als kulturell und anschließend als ›rassisch‹ fremd diskriminiert, verfolgt und vertrieben wurde. Es handelt sich demnach auch bei der Rassialisierung von Muslimen und Musli18 19 20 21 22 23

Ebd., S. 48. Ebd., S. 63. Ebd., S. 64. Vgl. ebd., S. 64ff. Ebd., S. 78. Ebd., S. 91.

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minnen nicht um ein neues Phänomen, bei dem Kultur als Kategorie den Begriff der ›Rasse‹ ersetzt. Etienne Balibar (1990), der diesbezüglich häufig zitiert wird, unterscheidet zwar aktuelle Formen des differentialistischen Rassismus von älteren. Er argumentiert aber, dass heute »das vorherrschende Thema nicht mehr die biologische Vererbung, sondern die Unaufhebbarkeit der kulturellen Differenzen ist«24. Gleichzeitig führt er aus, dass es »[…] immer schon einen Rassismus gegeben [hat], für den der pseudobiologische Rassenbegriff kein wesentlicher Springpunkt war […]. Sein Prototyp ist der Antisemitismus. Der moderne Antisemitismus – jener also, der sich im Europa der Aufklärung herauszukristallisieren beginnt, d. h. ausgehend von der etatistischen und nationalistischen Wendung, die das Spanien der Reconquista und der Inquisition dem theologischen Antijudaismus gegeben haben – ist bereits ein ›kulturalistischer‹ Rassismus«25.

Die Rassialisierung von Muslimen und Musliminnen lässt sich auf den gleichen Ort und die gleiche Zeit zurückverfolgen, obzwar seinerzeit die limpieza de sangre vor allem gegen Juden gerichtet waren und die historischen Entwicklungen von Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus vorher und seitdem jeweils eigene Verläufe mit diversen Schnittstellen genommen haben.

Die rassi(sti)sche Ordnung Europas Die rassistische Ordnung und Bemächtigung der modernen Welt fand ihren Anfang in der Unterscheidung zwischen Dazugehörigen auf der einen Seite und inneren beziehungsweise äußeren Feinden auf der anderen entlang der Kategorie der Religion. Die muslimische und jüdische Bevölkerung konnte zunächst zwischen Konversion und Vertreibung wählen. Der Zwang zu religiöser Anpassung wurde um Forderungen und Maßnahmen zur kulturellen Assimilierung erweitert. Letztlich trug auch dies nicht dazu bei, Muslime und Musliminnen sowie Juden und Jüdinnen unter christlicher Herrschaft zu akzeptieren, auch nicht nach ihrer freiwilligen oder erzwungenen Konversion. Für Junaid Rana nimmt die Rassialisierung der indigenen Bevölkerung Amerikas nach dem Modell der religiös-rassischen Einteilung von Menschen hier ihren Anfang: »The prospect of conversion or death for Jews and Muslims was itself the act of shifting the religious into racial conceptions. For the explorers, it is important to note that

24 Ptienne Balibar, Gibt es einen »Neo-Rassismus«?, in: Ptienne Balibar/Immanuel (Hg.), Rasse – Klasse – Nation. Ambivalente Identitäten, Hamburg/Berlin 1990, S. 28. 25 Ebd., S. 32.

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Muslims and Jews constituted an early category of religious-racial order to transpose onto indigenous groups of the New World in the form of racial thought.«26

Die falsche (jüdische oder muslimische) Religion oder keine monotheistische Religion (indigene Bevölkerung) zu haben, wird zum Modell für die spätere, biologische Rassialisierung von Menschen. Erst im Zuge der Vernaturwissenschaftlichung und Säkularisierung westlicher Gesellschaften und moderner Wissensordnungen ersetzten biologische Kategorien weitgehend die religiösen. Sowohl biologische als auch religiöse Essentialisierungen und Homogenisierungen gehen mit der Kulturalisierung der jeweiligen (konstruierten oder tatsächlichen) Gruppen einher, wenngleich in unterschiedlichen Weisen und mit verschiedenen Gewichtungen. Rassismus wird heute häufig mit Schattierungen der Hautfarbe assoziiert, die mit kulturellen und sozialen Kategorien ins Verhältnis gesetzt werden. Koloniale Rassialisierungen werden dann von nationalsozialistischen unterschieden, die zwar auch als Rassismus definiert, aber – unter Vernachlässigung des Rassismus gegen Sinti und Roma – in erster Linie als Antisemitismus theoretisiert werden. Demgegenüber zeigen die Prozesse um das Jahr 1492, dass die Rassialisierung von inneren und äußeren ›Fremden‹ ihren Anfang im Zusammenhang mit der Bedeutung, die der Religion beigemessen wurde, nahm, und dass Religion zunehmend als ›Rassemerkmal‹ eingesetzt wurde, um eine soziale Ordnung zu legitimieren. Es spielte keine maßgebliche Rolle, ob oder wie religiös die ›Anderen‹ tatsächlich waren; ihre Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, ihre Sprache und Kultur sowie die Herkunft ihrer Vorfahren genügten, um sie zu unerwünschten Personen zu erklären und aus mächtigen Positionen oder dem Gemeinwesen insgesamt zu entfernen. Auch heute richten sich antimuslimische Diskurse nicht ausschließlich und nicht primär gegen Muslime und Musliminnen als Gläubige, sondern gegen Personen, die als muslimisch gedeutet werden. Dazu gehören natürlich auch Gläubige. Aber indem diese Menschen auf der Grundlage eines Konglomerats aus Herkunft, Kultur und Religion markiert werden und der Islam in ihre Kultur und Körper eingeschrieben wird, gibt es kein Entrinnen – und betrifft damit auch Gläubige in anderer Weise, als wenn es tatsächlich um Glaubensfragen ginge. Insofern ist das Argument hinfällig, es handele sich bei religiös konnotierter und legitimierter Diskriminierung und Verfolgung nicht um Rassismus, da Muslime und Musliminnen die Wahl hätten, sich dazu zu bekennen oder nicht,

26 Junaid Rana, »Islam and Black America. The Story of Islamophobia«, in: Souls, 9: 2, 2007, S. 152 (dt. Übersetzung i. E. in Iman Attia/Mariam Popal (Hg.), Grenzziehungen aufspüren und verwischen, Münster 2018).

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während der Rassismus gegen das, was man ist, und nicht gegen das, was man tut oder denkt, gerichtet sei.27

Zwischen Veranderung und Anpassungsimperativ Zurück zu 1492: Die katholisch-spanischen Edikte zielten darauf ab, die muslimische Bevölkerung zunächst religiös und später kulturell zu assimilieren; letztlich wurde ihre Anpassungsfähigkeit negiert, sie wurden rassialisiert und deportiert. Diese Veranderung beruhte teils auf realen Differenzen zwischen den Religionsgemeinschaften, die aber unter arabisch-muslimischer Herrschaft nicht dazu geführt hatten, die Koexistenz grundsätzlich infrage zu stellen. Vielmehr kam es in verschiedenen Kontexten zu Überschneidungen und Grenzüberschreitungen zwischen den Gemeinschaften. Seitdem haben in unterschiedlichen Konstellationen Muslime und Musliminnen unter christlicher sowie Christen und Christinnen unter muslimischer Herrschaft gelebt. Es ist zu weiteren Migrationsbewegungen und Grenzverschiebungen gekommen, Kulturkontakte und Mehrfachzugehörigkeiten führten zu De- und Rezentrierungen, zu Grenzverwischung und erneuter Grenzziehung, zu Hybridisierung und ›Leitkultur‹-Debatten. Religion spielt in keiner gegenwärtigen Gesellschaft mehr jene Rolle, die ihr im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit auf dem eurasischen Kontinent und im Mittelmeerraum zukam. Gleichwohl manifestiert sich die Gleichzeitigkeit von Anpassungsimperativ und rassialisierender Differenzmarkierung in aktuellen antimuslimischen Diskursen und Praktiken. Der ›Muslimtest‹ etwa, der zwischen 2006 und 2011 in Baden-Württemberg zunächst regelmäßig und später nach Gutdünken in Einbürgerungsverfahren eingesetzt wurde, spricht Muslime und Musliminnen als ›essentiell Andere‹ an und knüpft Staatsbürgerschaft an kulturelle und politische Assimilation. Religion, Kultur und Nation amalgamieren in einer Weise, die zwei in sich geschlossene, voneinander zu unterscheidende national-kulturell-religiöse Container entwirft. Der Fragebogen überprüfte nicht die politische Gesinnung sowie die kulturellen Werte und Normen von gläubigen Muslimen und Musliminnen; vielmehr mussten die 30 Fragen von Staatsangehörigen der 57 Mitgliedstaaten der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) beantwortet werden, wenn sie die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen wollten. Es spielte keine Rolle, ob die Einbürgerungswilligen als Personen im Verdacht standen, eine der dort zur Disposition gestellten Positionen zu vertreten. Es waren alle Personen verdächtig, die qua Staatsbürgerschaft als ›muslimisch‹ identifiziert wurden. Ihr 27 Vgl. Nasar Meer/Tariq Modood, »Refutations of racism in the ›Muslim question‹«, in: Patterns of Prejudice, 43: 3, 2009, S. 335–354.

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tatsächliches Bekenntnis zum Islam (oder einer anderen oder keiner Religion), ihre Interpretation des Islam und ihre Lebensführung waren irrelevant. Ausschlaggebend war allein, dass sie bis zur Beantragung der deutschen Staatsbürgerschaft den Pass eines Mitgliedstaates der Organisation der Islamischen Konferenz in den Händen hielten. Alles in allem entwirft der Fragebogen folgende Zusammenhänge: – Muslime und Musliminnen könnten durch ihre nationale Herkunft identifiziert werden; – sie seien alle gleich und ›uns‹ aufgrund ihrer Kultur fremd; – sie seien unzivilisiert und vormodern. – Die Staatsbürgerschaft wird an ein Konglomerat aus Herkunft-ReligionKultur gebunden, – Bürgerrechte werden nur jenen gewährt, die kulturell assimiliert und politisch opportun sind, – der deutsche Staat hat das Recht, seine Bürger und Bürgerinnen (in spe) auf ihre Gesinnung und ihren Lebenswandel (auch jenseits strafrechtlich relevanter Fragen) hin zu überprüfen. Einbürgerungsverfahren stellen offizielle, staatliche, politisch bedeutsame, rechtlich kodifizierte und institutionell verankerte Instrumente zur Regulierung und Kontrolle der Bevölkerung dar. Dem ›Muslimtest‹ liegt die Vorstellung zugrunde, die Bürgerschaft entlang von Herkunft-Religion-Kultur vereinheitlichen zu können. Er trennt assimilierte Fremde von fremden Fremden. Letztere sind unerwünscht, es gilt daher, ihre dauerhafte Ansiedlung und ihre gleichberechtigte Teilhabe zu verhindern. Die Grenze, die zwischen ›Muslimen‹ und ›Deutschen‹ gezogen wird, verläuft entlang der Themen ›Sexismus‹, ›Patriarchat‹, ›Homophobie‹, ›Antisemitismus‹, ›Gewalt‹ und ›Terrorismus‹ – all dies scheint in Deutschland überwunden zu sein. Demgegenüber, so die Assoziation, die der Fragebogen weckt, seien in der Bundesrepublik Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Säkularismus die Regel. Einbürgerungswillige Personen, die qua nationalstaatlicher Identifikationspapiere als Muslime und Musliminnen vermutet wurden, mussten beispielsweise folgende Fragen beantworten:28 »In Deutschland können politische Parteien und Vereine wegen verfassungsfeindlicher Betätigung verboten werden. Würden Sie trotz eines solchen Verbots die Partei oder den Verein doch unterstützen? Unter welchen Umständen?«

28 Rainer Grell, »Dichtung und Wahrheit: Die Geschichte des ›Muslimtests‹ in Baden-Württemberg. 30 Fragen, die die Welt erregten (nicht nur die islamische)«, 2006. URL: http://www. pi-news.net/wp/uploads/2008/02/muslimtest.pdf (letzter Zugriff 10. 03. 2016).

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»In Deutschland kann die Polizei bei gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Eheleuten einschreiten und zur Abwehr von weiteren Gefahren den Täter für einige Tage aus der Wohnung verweisen. Was halten Sie davon?« »In Deutschland kann jeder bei entsprechender Ausbildung nahezu jeden Beruf ergreifen. Was halten Sie davon? Sind Sie der Meinung, dass bestimmte Berufe nur Männern oder nur Frauen vorbehalten sein sollten? Wenn ja, welche und warum?« »Was halten Sie davon, dass Eltern ihre Kinder zwangsweise verheiraten? Glauben Sie, dass solche Ehen mit der Menschenwürde vereinbar sind?« »Sie haben von den Anschlägen am 11. September 2001 in New York und am 11. März 2004 in Madrid gehört. Waren die Täter in Ihren Augen Terroristen oder Freiheitskämpfer? Erläutern Sie Ihre Aussage.« »Stellen Sie sich vor, Ihr volljähriger Sohn kommt zu Ihnen und erklärt, er sei homosexuell und möchte gern mit einem anderen Mann zusammenleben. Wie reagieren Sie?«

Auch in den USA fand eine Verschränkung von Nation-Kultur-Religion statt, die die Verleihung der Staatsbürgerschaft an Muslime und Musliminnen mit Hinweis auf ihre kulturelle Fremdheit infrage stellte. Zwischen 1790 und 1952 wurde die US-amerikanische Staatsbürgerschaft nur an freie, weiße Personen vergeben, ohne zu definieren, wer weiß sei. Moustafa Bayoumi (2006) zitiert den Fall eines der ersten einbürgerungswilligen Araber, der 1942 mit folgender Begründung abgewiesen wurde: »Arabs are not white persons within the meaning of the Nationality Act […] Apart from the dark skin of the Arabs, […] it is well known that they are a part of the Mohammedan world and that a wide gulf separates their culture from that of the predominately Christian peoples of Europe. It cannot be expected that as a class they would readily intermarry with our population and be assimilated into our civilization.«29

Dieser Argumentation liegt eine Vorstellung zugrunde, der zufolge Nation kulturell zu vereinheitlichen und Kultur religiös determiniert sei. Nationen und Personen werden kulturalisiert, die Assimilation von Fremden an eine als homogen vorgestellte Kultur wird gefordert und gleichzeitig als unmöglich befunden, auch die Koexistenz verschiedener Religionen und Kulturen scheint unzumutbar zu sein. Das katholische Spanien um 1492, die christlichen USA um 1942 und das christlich-säkulare Deutschland um 2006 weisen diesbezüglich einige Parallelen auf.

29 Moustafa Bayoumi, »Racing Religion«, in: The Centennial Review 6: 2, 267–293, 2006, hier S. 269 (dt. Übersetzung i. E. in: Iman Attia/Mariam Popal (Hg.), Grenzziehungen aufspüren und verwischen, Münster 2018).

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Zwischen Bedrohungsszenarien und Sicherheitspolitiken Die arabisch-amazighisch-muslimische (und jüdische) zwangschristianisierte Bevölkerung der Iberischen Halbinsel verhinderte – so der Vorwurf – durch ihre Fremdheit nicht nur die kulturell-religiöse Einheit der Nation. Da diese Personen nicht freiwillig konvertierten, sondern zu Konversion und Assimilation gezwungen werden mussten, trauten ihnen Krone und Kirche nicht und nahmen die ›Moriscos‹ (und die ›Conversos‹) als Bedrohung wahr. Die Sicherheit des katholischen Spaniens stehe gleich doppelt auf dem Spiel: Gott könne den spanischen Christen zürnen, weil unter ihnen Krypto-Muslime lebten, die zwar (zwangsweise) getauft worden seien, aber im Verborgenen weiterhin ihrem muslimischen Glauben folgten. Zudem sei die politische Sicherheit des katholischen Landes bedroht, weil angenommen wurde, dass die muslimische Bevölkerung Spaniens mit dem muslimischen Osmanischen Reich paktierte und Spanien von innen heraus verriet. Bedrohungsszenarien und Sicherheitsdiskurse liegen eng beieinander. Auch hierzu gibt es Parallelen zu aktuellen Diskursen und Politiken. In verschiedenen europäischen Staaten wurden nach 9/11 Verfahren zum ›religious profiling‹ eingesetzt. Demnach dürfen Angehörige der Polizei auch ohne konkreten Anfangsverdacht Personen, die bestimmten Personengruppen angehören, sicherheitsdienstlich behandeln. In Deutschland macht sich verdächtig, wer so aussieht, als käme er »[…] from an Islamic state‹, aged between 18 and 24 and not previously have come to the notice of the criminal investigation department. Who is more suspect than a young Muslim man with no police record?«30 Im Jahr 2002 wurde in der Bundesrepublik ein Programm zur Früherkennung ›islamistischer Gefährder‹ eingerichtet. »Nach dieser Definition hat ein sog. Gefährder weder eine Straftat begangen, noch muss es konkrete Anhaltspunkte dafür geben, dass er oder sie dies versuchen wird. […] Der Begriff richtet sich explizit gegen unverdächtige Personen«.31 Diese werden – ohne ihr Wissen – von den Islamismusdienststellen des polizeilichen Staatsschutzes ohne richterlichen Beschluss überwacht; persönliche und personenbezogene Daten werden gespeichert und an Verfassungsschutzämter oder ausländische Behörden übermittelt.32 Die Beobachtung kann über Monate und Jahre andauern und wird von eigens eingerichteten Observationsgruppen durchgeführt.33 30 Liz Fekete, A Suitable Enemy. Racism, Migration and Islamophobia in Europe, London/New York 2009, S. 49. 31 Charles von Denkowski, »Die formelle soziale Kontrolle des Jihadismus sowie der islamfeindlich motivierten Kriminalität – werden beide Phänomene in der Bundesrepublik Deutschland angemessen behandelt?«, in: Farid Hafez (Hg.), Jahrbuch für Islamophobieforschung 2014, S. 42–65, hier S. 43. 32 Vgl. ebd., S. 45.

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Als Teil des ›War on Terror‹ wurde im Jahr 2002 in den USA das National Security Entry-Exit Registration System, kurz special registration, eingerichtet. Es handelte sich dabei um eine staatlich beauftragte Datenspeicherung und Personenüberwachung, der sich alle männlichen Personen über 16 Jahren unterziehen mussten, die aus ausgewählten Ländern in die USA einreisten oder sich bereits dort aufhielten. Ihnen wurden Fingerabdrücke abgenommen, sie wurden fotografiert und mussten unter Eid Fragen zu ihrer politischen Meinung und ihrem religiösen Glauben beantworten. Sie mussten ihren Status nachweisen und ihre Adresse und Kreditnummer hinterlegen, Studien- oder Berufsnachweise erbringen und zwei US-Bürger/innen als Bürgen angeben.34 Die special registration trug allerdings in keinem Fall dazu bei, einen Bezug zu einer terroristischen Tat herzustellen.35 Demgegenüber habe, so Moustafa Bayoumi, die USRegierung durch special registration im Endeffekt die Religion beziehungsweise den Islam rassialisiert. Auch hier wurden Muslime aufgrund ihrer nationalen Herkunft als solche identifiziert. Indes, so Junaid Rana, ist die ›muslimische Welt‹ divers »in terms of nationality, language, ethnicity, culture, and other markers of difference«36, Muslime und Musliminnen würden jedoch im Rahmen von ›racial profiling‹ als singuläre ›rassische‹ Gruppe behandelt und aufgrund ihrer äußeren Erscheinung ›erkannt‹. Wie aber, so fragt er, sieht eine solche Person aus? Die moderne Konfiguration von Rassismus habe religiöse mit rassischen Merkmalen ins Verhältnis gesetzt. Der antimuslimische Rassismus habe Muslime und Musliminnen allgemein in spezifischen historischen Kontexten unterschiedlich bezeichnet, etwa als ›Sarazenen‹, ›Mohren‹, ›Türken‹, ›Araber‹ oder ›Orientalen‹. Im US-amerikanischen ›War on Terror‹ werde ›der Muslim‹ als Eingewanderter ›rassisch‹ formiert und als Bedrohung behandelt: »Anti-immigrant racism und Islamophobia incorporate the Muslim into the U.S. racial formation in several social and cultural groups to become a singular threat: the Muslim.«37 Die Sicherheitspolitiken in Europa und in den USA werden mit der Bedrohung, die von Muslimen und Musliminnen ausgehe, begründet. Sie wird als terroristische Gewalt wahrgenommen, die gegen die kulturellen Werte des ›Westens‹ gerichtet sei. Sie adressieren diese Menschen als religiös-kulturellnational Fremde. Insofern gehören die Sicherheitspolitiken und der Anpassungsimperativ zusammen.

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Vgl. ebd., S. 44. Vgl. Moustafa Bayoumi, Racing Religion, S. 271. Vgl. ebd., S. 272. Junaid Rana, Islam and Black America, S. 149. Ebd., S. 159.

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Fazit Zurück zur Eingangsthese, wonach es sich bei Äußerungen und Handlungen gegen Muslime und Musliminnen nicht um Rassismus handele: – Dass sich Muslime und Musliminnen freiwillig dazu entschieden, dieser Glaubensrichtung anzugehören, ist in dieser Allgemeinheit und insbesondere im Zusammenhang mit dem Islamdiskurs und antimuslimischen Maßnahmen nicht richtig: Wer als Muslim oder Muslimin gilt, entscheidet nicht immer die Person selbst. – Dass Religion nichts mit Rasse zu tun habe, ist gleich doppelt falsch: Auch wenn es viele Unterschiede zwischen Menschen gibt, so bedeutet das nicht, dass es ›Rassen‹ gäbe (auch nicht entlang von Hautfarben). Im Unterschied zur Feststellung, dass jeder Mensch einzigartig ist oder auch jener, dass Menschen sich aufgrund von Erfahrungen oder Interessen (zeitweilig) zusammenschließen und (gleichzeitig verschiedenen) sozialen Gruppen angehören können, ist das ›Rassekonzept‹ ein essentialisierendes, homogenisierendes, hierarchisches Ordnungsprinzip. Es gibt also nicht nur keine muslimische ›Rasse‹, sondern es gibt gar keine ›Rassen‹. Zudem hat sich der Rassismus nicht unabhängig von Religion entwickelt, im Gegenteil: Die Ursprünge des Rassismus liegen in der Veranderung und Vertreibung oder Entmenschlichung und Ermordung entlang religiöser Ordnungen. – Kritik und Maßnahmen richteten sich gegen den Islam und den damit zusammenhängenden Handlungen seiner Angehörigen: Das ist nur zum Teil richtig, denn die Einbürgerungsverfahren in der BRD und den USA, die polizeilichen Maßnahmen in den USA und der EU sowie die »Statuten der Reinheit des Blutes« haben mit Religion nichts zu tun, die Vertreibung aus alAndalus nur bedingt; die Berufsverbote für Kopftuch tragende Frauen dagegen zielen auf ihre religiösen Praktiken. – Dass es sich bei den Maßnahmen nicht um Diskriminierung, Ausgrenzung oder Rassismus handele, sondern darum, ›uns‹ zu schützen, ist falsch: Der ›Muslimtest‹ beispielsweise hat nicht zum Schutz durch Integration beigetragen, sondern dazu, Misstrauen zu schüren und auf Distanz zu gehen. – Dass die christlichen respektive muslimischen Gesellschaften, Kulturen und Religionen einander derart fremd und miteinander unvereinbar seien, konnte bislang nicht nachgewiesen werden. Historisch haben muslimische, christliche und jüdische Bevölkerungsgruppen über lange Zeiträume neben- und miteinander gelebt, auch heute gibt es in der Regel keine Probleme zwischen ihnen. Erst die wiederholten Versuche, (kulturell und religiös) homogene Nationen zu schaffen, haben zu Unterscheidungen entlang (vermeintlich) religiöser Zugehörigkeit geführt.

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– Das höhere zivilisatorische Niveau, Demokratie, Pluralität, Toleranz und Minderheitenrechte, die es erlaubten, zwischen ›uns‹ auf der einen Seite und ›Muslimen und Musliminnen‹ auf der anderen zu unterscheiden, scheinen an ihre Grenzen zu stoßen, wenn es dabei um einen zivilisatorischen Umgang und die Rechte und Lebensweisen von Menschen geht, die als muslimisch gedeutet werden. Zwangschristianisierung, genealogische Erforschung der ›Reinheit des Blutes‹, religiöse, kulturelle und ethnische ›Säuberungen‹, Vertreibungen und Deportationen, religiös-kulturelle Homogenisierung, Leitkultur-Debatten und Anpassungsimperativ, Verdächtigung, Überwachung und Registrierung verweisen auf ein zivilisatorisches Niveau, das nicht als Vorbild geeignet ist. Der antimuslimische Rassismus richtet sich gegen als muslimisch markierte Menschen wegen dessen, was sie (vermeintlich) sind, und nicht gegen das, was sie denken oder tun. Das hat Folgen für Interventionen und Koalitionen, wenn sie wirksam sein wollen.

Literatur Attia, Iman/KeskinkılıÅ, Ozan, Islamophobie und antimuslimischer Rassismus, in: Mecheril, Paul (Hg.), Handbuch Migrationspädagogik, Weinheim 2016. Balibar, Ptienne, »Gibt es einen ›Neo-Rassismus‹?«, in: Balibar, Ptienne/Wallerstein, Immanuel (Hg.), Rasse – Klasse – Nation. Ambivalente Identitäten, Hamburg/Berlin 1990, S. 23–38. Bayoumi, Moustafa, »Racing Religion«, in: The Centennial Review 6: 2, 2006, S. 267–293. Berger, Maurits S., A Brief History of Islam in Europe. Thirteen Centuries of Creed, Conflict and Coexistence, Leiden 2014. Denkowski, Charles von, »Die formelle soziale Kontrolle des Jihadismus sowie der islamfeindlich motivierten Kriminalität – werden beide Phänomene in der Bundesrepublik Deutschland angemessen behandelt?«, in: Hafez, Farid (Hg.): Jahrbuch für Islamophobieforschung 2014, S. 42–65. Fekete, Liz, A Suitable Enemy. Racism, Migration and Islamophobia in Europe, London/ New York 2009. Grell, Rainer, »Dichtung und Wahrheit: Die Geschichte des ›Muslimtests‹ in Baden-Württemberg. 30 Fragen, die die Welt erregten (nicht nur die islamische)«, 2006, URL: http:// www.pi-news.net/wp/uploads/2008/02/muslimtest.pdf (letzter Zugriff 10. 03. 2016). Grosfoguel, Ramjn/Mielants, Eric, »The Long-Duree Entanglement Between Islamophobia and Racism in the Modern/Colonial Capitalist/Patriarchal World-System. An Introduction«, in: Human Architecture: Journal of the Sociology of Self-Knowledge, 5, 2006, S. 1–12. Hering Torres, Max Sebasti#n, Rassismus in der Vormoderne. Die »Reinheit des Blutes« im Spanien der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M./New York 2006.

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Iman Attia

Meer, Nasar/Modood, Tariq, »Refutations of racism in the ›Muslim question‹«, in: Patterns of Prejudice, 43: 3, 2009, S. 335–354. Rana, Junaid, »Islam and Black America. The Story of Islamophobia«, in: Souls 9: 2, 2007, S. 148–161. Soyer, FranÅois, »Faith, culture and feat: comparing Islamophobia in early modern Spain and twenty-first-century Europe«, in: Ethnic and Racial Studies, 36: 3, 2012, S. 399–416. Wallerstein, Immanuel, Die Barbarei der anderen. Europäischer Universalismus, Berlin 2010.

Wolfgang Benz

Angst vor Muslimen als Gefahr für unsere Demokratie

Ein Kulturrassismus, der sich als Religionskritik am Islam ausgibt, beherrscht die Agenda in vielen Ländern Europas. Aus der Gewissheit der eigenen kulturellen Höherwertigkeit wird die Notwendigkeit der Ablehnung anderer begründet. Der konservative US-amerikanische Politologe Samuel Huntington hat ein Erklärungsmodell zur Wiederkehr der Religion im öffentlichen Leben vorgelegt, die er in einem »Kampf der Kulturen« (clash of civilisations) wirkungsmächtig sieht. Die Denkfigur wurde populär und dient über die Religion hinaus als Chiffre der kulturellen Ausgrenzung.1 Die Hinweise auf die Rückständigkeit traditioneller islamischer Gesellschaften, auf dort ausgeübte oder vermutete fremdartige Sitten und Gebräuche, auf Despotie, Diktatur und angebliche Unfähigkeit zur Demokratie münden im Verdikt über die Religion, die nach der Überzeugung der Islamfeinde nichts anderes ist als eine politische Handlungsanweisung zur Erringung der Herrschaft über die Welt. Seit dem 11. September 2001 stehen alle Muslime unter dem Generalverdacht des Terrorismus oder der Beihilfe dazu oder mindestens der Bereitschaft zur Gewalt. Auch semantische Auswirkungen hatte der Anschlag in New York. Sprach man davor von Türken oder Arabern oder Jugoslawen, so werden seitdem Emigranten über ihre Religion oder den Kulturkreis, aus dem sie kommen, als Muslime definiert. Und damit sind sie pauschal definiert, das heißt als Gruppe mit bestimmten Eigenschaften ausgestattet. Dazu gehört auch die weit verbreitete Skepsis hinsichtlich ihrer Akkulturationsbereitschaft.2 Das Internet ist ein wichtiges, ja zentrales Medium der Verständigung über die

1 Samuel Huntington, Kampf der Kulturen, München 1996. Vgl. dagegen Martin Riesebrodt, Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der »Kampf der Kulturen«, München 2000. 2 Yasemin Shooman, »…weil ihre Kultur so ist«. Narrative des antimuslimischen Rassismus, Bielefeld 2014; Wolfgang Benz, Die Feinde aus dem Morgenland. Wie die Angst vor Muslimen unsere Demokratie gefährdet, München 2012; Patrick Bahners, Die Panikmacher. Die deutsche Angst vor dem Islam. Eine Streitschrift, München 2011; Thorsten Gerald Schneiders (Hg.), Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen, Wiesbaden 2009.

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Wolfgang Benz

Gefährlichkeit des Islam und die postulierte Ausgrenzung von Muslimen. Die folgende Botschaft ist ein typisches Beispiel: »›Der Islam soll sich in Europa modernisieren.‹ Der Islam soll gar nichts mehr. Der soll einfach endlich abhauen! Hier ist Ende Gelände. Und zwar im territorialen Sinne. Dieses Europa, dieses Territorium wird nicht an den Islam verschleudert. Nicht mehr. Mit anderen Worten: Ihr hattet eure Chance, und das über 3 Generationen. Ihr habt gezeigt, daß ihr nicht das geringste Interesse an einer Veränderung habt und daß der Islam nicht reformierbar ist, weil er es nicht sein will und nicht sein darf. Der Islam ist der Islam und bleibt der Islam. Er muß einfach nur territorial begrenzt werden. Dabei ist die Ausweisung von Kriminellen ein guter Anfang. Da die meisten dieser Bürschchen ziemlich kriminell sind.«3

Das Posting enthält die gängigen Ingredienzen des Verdikts über den Islam: Reformunfähigkeit, Aggressivität, Kriminalität. Die Ressentiments werden im Einzelnen ausgeführt und gipfeln, wie in unzähligen Bekenntnissen auf der Bloggerszene, in der Forderung nach der Vertreibung der Muslime aus Europa und der Verhinderung jeden weiteren Zuzugs. Für die verbreiteten Ressentiments gegen den Islam und gegen Bürger, die Muslime sind oder als solche wahrgenommen werden, gibt es keinen allgemein akzeptierten Begriff. Akteure des Diskurses, die sich als Islamkritiker verstehen und so bezeichnen, verwahren sich erbittert gegen den Terminus »Islamophobie«, da sie die Diagnose ihrer Überzeugungen als wahnhaft ablehnen und die von ihnen beschworenen Gefahren nicht als Ausfluss von Hysterie oder Fanatismus und schon gar nicht als Phobie gewertet wissen möchten. Durch den Begriff »Phobie«, der krankhafte Angstzustände bezeichnet, fühlen sie sich stigmatisiert, da sie darauf beharren, dass die Gefahren, vor denen sie warnen, in der Realität existieren. Die Islamkritiker beanspruchen Glauben und Gefolgschaft und definieren jeden als Feind, der ihrer Weltsicht widerspricht oder Trugbilder entlarvt, die der Fantasie ihrer Vordenker entsprungen sind. Zu definieren ist das aktuelle Phänomen »Islamfeindschaft« als Ressentiment gegen eine Minderheit von Bürgern beziehungsweise in unserer Gesellschaft lebenden Menschen, die mit religiösen, kulturellen, ethnischen und politischen Argumenten diskriminiert und ausgegrenzt werden. Die Definition einer Gruppe über ihre Herkunft, kulturelle Tradition, Religion, ökonomische und soziale Situation usw. als »anders«, also als »fremd« und deshalb »feindlich«, vereinfacht den Umgang mit ihr, weil er auf Ablehnung und Ausgrenzung reduziert werden kann. Gleichzeitig stärkt dieses Verhalten das Selbstbewusstsein der Mehrheit, die die Minderheit ausgrenzt. Im primitivsten Falle verdichtet sich 3 Kommentar Nr. 39 von »eagle1«, 26. 2. 2016, 13.21 Uhr : http://michael-mannheimer.net/ 2016/02/25/fall-clausnitz-wie-medien-und-politik-ihr-volk-verteufeln/, eingesehen am 23. 3. 2016.

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das Unbehagen zum Hass auf die »feindliche« Gruppe. Die Konstruktion des inneren Feindes, die den Muslimen in der Gesellschaft bestimmte negative Rollen zuweist und andere verweigert, bestätigt zentrale Erkenntnisse der Vorurteilsforschung. Die pauschale Ablehnung des Islam wird nicht nur durch die Stigmatisierung des Individuums über seine Religion oder Kultur praktiziert, wofür in der Verbindung mit ethnischen Ressentiments der Begriff »Kulturrassismus« in Gebrauch ist. Die Gleichsetzung des Islam als Ganzes mit Fanatikern, die Religion zur Durchsetzung extremistischer Ziele mit terroristischen Methoden missbrauchen, kommt dazu. Jeder Muslim wird verdächtigt, Sympathisant oder Unterstützer von radikalen Vereinigungen zu sein. Das ist beabsichtigt und ein wesentliches Element der Ausgrenzungsstrategie. Die Vielfalt des Islam und die Friedfertigkeit der Mehrheit der Muslime werden durch eine pauschalisierende »Islamkritik« negiert – das ist ihr erstes Anliegen, und die Verhinderung der Integration ist ihr Ziel. Werkzeuge dazu sind die fremdenfeindlichen und kulturrassistischen Konstrukte der Muslimfeindschaft. Gemeindebildungen im Zeichen der Ablehnung und Ausgrenzung von Muslimen, organisiert in der Pro-Bewegung, in der Alternative für Deutschland (AfD), bei Pegida und parallel dazu in Internet-Blogs4, erfolgen über Stereotype und Klischees, die von Demagogen vorgegeben und mit Überzeugung in den Gemeinden deklamiert werden. Der missionarische Eifer, der im Netz und in Botschaften an bestimmte Personen an den Tag gelegt wird, ist beträchtlich. Vergleichsweise originell ist eine Zuschrift, in der konstatiert wird, »der Islam« bekämpfe politisch und praktisch Liberalismus, Pluralismus und Aufklärung, und jeder Erklärungsversuch für Probleme des Zusammenlebens sei a priori Unsinn: »Die Haupt›schuld‹ oder die Hauptursache für antidemokratische, antirechtsstaatliche, liberalismusfeindliche, antipluralistische, nicht integrationsbereite Grundeinstellungen von Muslimen in ›fehlenden Integrationsangeboten‹ oder sonst was zu suchen außerhalb der Ideologie des Islam selbst, das ist so, als würden Sie Denken und Handeln eines Hitler oder Goebels [sic!] mit ›fehlenden Intergrationsangeboten‹ [sic!] der Weimarer Republik erklären wollen.«5

Die Junge Freiheit, das Organ der Neuen Rechten, dem man kaum fremdenfreundliche Absichten oder gar Sympathien für den Islam nachsagen kann,6 4 Vgl. Agnieszka Satola/Joachim Spanger, Die Achse des Guten – die Sprache(n) des antimuslimischen Rassismus im Netz, in: Gudrun Hentges/Kristina Nottbohm/Mechthild M. Jansen/ Jamila Adamov, Sprache – Macht – Rassismus, Berlin 2014, S. 243–264. 5 Zuschrift an den Verfasser vom 9. 10. 2015 »Gerede einer Islamophobin?«. 6 Helmut Kellershohn (Hg.), Die »Deutsche Stimme« der »Jungen Freiheit«, München 2013,

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brachte ein Interview mit »Polens bekanntester Polit-Aktivistin«, der bekennenden Islamophobin Miriam Shaded, die ihren christlich-syrischen Vater, einen evangelischen Pastor, als Nachweis ihrer Kompetenz zur Beurteilung des Islam anführt. In Warschau geboren ist Miriam Shaded glühende polnische Patriotin. Zur Abwehr von »Feinden« hantiert sie mit Verschwörungsphantasien. So sieht sie Flüchtlinge nicht als Notleidende, sondern als Soldaten einer Invasionsarmee. Im Originalton lautet das so: »Erstens: Viele Muslime stellen sich als schlimmer verfolgt dar als die Christen – das ist eine Lüge. Zweitens: Die Einwanderer, die zu uns kommen, sind meist keineswegs die Schwächsten und Elendsten. Es kommen vielmehr die Jungen und Starken. Drittens: Lassen wir massenhaft Muslime nach Europa, produzieren wir hierzulande neue Gefahren, Leid und Opfer. Das ist unverantwortlich! Viertens: Ich kenne den Islam, und deshalb verstehe ich, daß es sich in Wirklichkeit um eine Invasion handelt.«

Die Wirkung ihrer impertinenten Weltsicht beschränkt sich, wie das Interview zeigt, das in den sozialen Netzen verbreitet wird, längst nicht mehr auf ihre polnische Heimat oder auf fundamentalistische Protestanten.7 Nach einem abgebrochenen Studium der evangelischen Theologie ist sie als rabiate »Islamkritikerin« die Galionsfigur nationalkonservativer christlicher Fremdenfeindschaft in Polen. Die Junge Freiheit gibt sich angesichts ihrer radikalen Parolen und Totschlagargumente skeptisch, um desto wirkungsvoller damit per Zitation »islamkritische« Propaganda zu treiben. Sie sei islamophob und habe gute Gründe dafür, sagt Miriam Shaded. Als Demagogin ergreift sie absolut einseitig Partei und propagiert eine schlichte Welterklärung durch absolute Feindbilder. Zu den wirkungsvollen islamfeindlichen Zerrbildern gehört das der muslimischen Frau. Die Reduktion der muslimischen Frau zum recht- und willenlosen Geschöpf, unterdrückt durch Gebote der Religion und die Dominanz der jeweiligen männlichen Bezugsperson, bildet eine Denkfigur, die medial überaus beliebt und verbreitet ist. Die Parameter des Bildes der muslimischen Frau im aktuellen »islamkritischen« Diskurs bilden Stereotype, die aus der Religion und aus vermuteten Traditionen und Gesellschaftsbildern gewonnen sind. Rechtlosigkeit und Unterdrückung werden als Gebote der Religion unterstellt; unter Verweis auf angebliche Inhalte des Koran werden muslimische Frauen generell als Opfer männlicher Gewalt gesehen. Gleichzeitig sind »Allahs rechtlose Töchter« Instrumente des imaginierten islamischen Angriffs auf Europa: Die Trägerinnen des wütend bekämpften Kopftuches bilden im Wochenbett die Speerspitze der Islamisierung des Abendlandes, wie das im Publikum und in den Medien weiterverbreitete Klischee lautet. S. 60–134. Ders., »Die jungkonservative Neue Rechte zwischen Realpolitik und politischem Existenzialismus«, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 63 (2015), S. 721–740. 7 »Es ist eine Invasion«, in: Junge Freiheit, 4. 12. 2015.

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Die im Denken der Mehrheit tief verwurzelte Dichotomie zwischen »dem Islam« und »dem Westen« instrumentalisierend, beanspruchen Sprecherinnen und Sprecher aus dem Kulturkreis des Islam mit demonstrativer Distanz zu ihrer Herkunft die Rolle der kompetenten Zeugenschaft gegen den Islam, persönliche Erfahrungen verallgemeinernd und dadurch Glaubhaftigkeit suggerierend, die ihnen von den Medien bereitwillig zugebilligt wird. In Diensten der Islamkritiker bestätigen sie deren konstruierte Schreckensbilder vom grundsätzlich antimodernen und deshalb reformunfähigen Islam. Die gefährlichen Wirkungen der Muslimfeindschaft für unsere Demokratie sind inzwischen alltäglich zu beobachten und zu erfahren. Das Ressentiment »Fremdenfeindschaft« brachte einst die Leitkulturdebatte und jüngst die Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (PEGIDA) hervor. Zehntausende gehen in Dresden und anderswo auf die Straße, um als Komparserie den Hetzparolen dubioser Demagogen folgend die Wut der Bürger darzustellen. Feindschaft gegen den Islam ist der gemeinsame Nenner für viele ihrer Ängste und Obsessionen.8 Die Ethnisierung sozialer Probleme hat, wie PEGIDA zeigt, einen Kulturrassismus hervorgebracht, der an das alte Übel anknüpft, Menschen aufgrund ihrer Herkunft als höher- oder minderwertig zu klassifizieren. Minderheiten sind damit zugleich als Gefahr für die Mehrheit stigmatisiert. Wagenburgmentalität innerhalb der Mehrheitsgesellschaft und das Verlangen, Intoleranz als Tugend zur Abwehr vermeintlicher Gefahren zu kanonisieren, sind Reaktionen der Unsicherheit. Die Botschaft, die populistische Ideologen verbreiten, findet den Nährboden in existenziellen Ängsten der Bürger. Die Adressaten sind resistent gegen rationale Argumente, denn Bedrohungsszenarien und Verschwörungsphantasien sind wirkungsvoller als alle Vernunft und jede Logik. Hasserfüllte Einheimische demonstrieren derzeit gegen Asylsuchende aus dem Bürgerkrieg. Der Aufruhr engstirniger Bosheit gegen Flüchtlinge ist symptomatisch für den Zustand der Gesellschaft: Etwa 700 Brandanschläge gegen Unterkünfte von Flüchtlingen sind 2015 verübt worden. Die Saat der Ausländerfeinde ist aufgegangen, die Schläger und Brandstifter der NPD und sonstiger rechtsextremer Observanz führen aus, was räsonierender und pöbelnder Mittelstand vor Wohnheimen und auf PEGIDA-»Spaziergängen« intendiert. Die volle Wahrheit ist aber noch viel schlimmer, denn es sind nicht nur Neonazis, die Molotowcocktails in Wohnheime werfen. Der Fremdenhass kommt aus der Mitte der Gesellschaft. Die als europakritische Alternative für Deutschland gegründete Partei wetteifert inzwischen mit der rechtsextremen NPD und präsentiert sich

8 Wolfgang Benz, »Auftrumpfendes Unbehagen. Der politische Protest der Pegida-Bewegung«, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 63(2015), S. 759–776.

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als undemokratische Bewegung gegen Ausländer gegen Toleranz und Humanität an der Seite von Pegida. Der Strom der Flüchtlinge, die in Europa Zuflucht suchen, in deren Heimat Bürgerkrieg herrscht oder auch »nur« existenzielle wirtschaftliche Not, hat in Deutschland zwar viel Verständnis und Hilfsbereitschaft ausgelöst, aber auch beschämenden Fremdenhass. Als seien sie persönlich bedrängt, als würden sie individuell zur Kasse gebeten, als gäbe es eine fundamentale Bedrohung der Wohlstandsgesellschaft, randalierten Bürger in Tröglitz, in Freital oder Heidenau, in Clausnitz und Bautzen nächtelang vor Flüchtlingsunterkünften, grölten ausländerfeindliche Parolen, übten Gewalt. Brandstiftung gegen Wohnheime, als vorbeugende Maßnahme zur Abwehr von Flüchtlingen, artet seit Sommer 2015 zum Volkssport aus. Politik und Medien verurteilen zwar mit kräftigen Worten die Rechtsextremisten für das traurige und beängstigende Geschehen, aber oft ohne Bewusstsein dafür, wo die Grenzen zwischen berechtigter Sorge und Hass gegen Unschuldige verlaufen,9 denn der Rechtsextremismus im Denken, Fühlen und Handeln beginnt schon in der Mitte der Gesellschaft, und er ist mehr als eine Randerscheinung, von der man sich leicht distanzieren kann. Demagogen setzen die Zeichen, Rechtsextreme fachen die Wut der Unbedarften an. Die Täter und ihre Sympathisanten gehören zum Kreis der Wohlsituierten, die keine materiellen Sorgen haben, denen nichts weggenommen wird, die aber, von Ressentiments geleitet, glauben, etwas verteidigen zu müssen, das sie für bedroht halten. Und die vermeintliche Bedrohung wird als Chiffre benutzt für Ängste und Frustrationen, unter denen die Menschen leiden, die der Kanzlerin das Verdikt »Volksverräterin« entgegengrölen, unbehelligt einen Galgen für sie bei der Demonstration herumtragen oder als Flüchtlingsunterkünfte vorgesehene Häuser abfackeln. Im Hass gegen Fremde und besonders gegen Muslime bündelt sich der Unmut aufgebrachter Bürger. Flüchtlinge und Notleidende sind die Ziele ihrer Wut, die tatsächlich andere Ursachen hat. Die Ethnisierung sozialer Probleme dient als leicht nachvollziehbare Erklärung mannigfachen Unbehagens und vieler sozialer Schwierigkeiten, und die als Problemlösung vorgeschlagenen drastischen Politikkonzepte treffen die Wünsche vieler. Solche Erlösungsbotschaften entsprechen den Bedürfnissen der Unzufriedenen, denen Selbstbehauptung angesichts imaginärer Gefahren oberstes Gebot ist, womit sie ihre Bedrohungs-, Überfremdungs- und Existenzängste ausagieren. Die PEGIDA-Gefolgschaft besteht laut seriösen sozialwissenschaftlichen Studien10 mehrheitlich aus überdurchschnittlich gut Gebildeten und Verdie9 Angelika Benz, »Tröglitz und anderswo. Fremdenhass in der Mitte der Gesellschaft«, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 63 (2015), S. 777–791. 10 Hans Vorländer/Maik Herold/Steven Schöller, Wer geht zu PEGIDA und warum? Eine em-

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nenden. Arbeiter und Unterschichten sind wenig bis kaum vertreten, als Beschäftigungsstatus überwiegt das Angestelltenverhältnis. Nach den Umfragen sind es gut situierte Leute, ähnlich der Lesergemeinde Thilo Sarrazins. PEGIDA ist ein Versuch zur Gemeindebildung gleichgesinnter Bürger, die sich – aus welchen Gründen auch immer – unbehaglich fühlen: Weil sie komplizierte Zusammenhänge der Politik nicht verstehen, weil sie Probleme mit dem System der repräsentativen Demokratie haben, weil sie ihre Vorstellungen von Gerechtigkeit im Rechtsstaat nicht verwirklicht sehen. Den Bindekitt bilden Ängste und das Bedürfnis nach schlichten Welterklärungen.11 Die Programmlosigkeit, mobilisiert mit Versatzstücken wie Islamfeindschaft, Xenophobie und Nationalpatriotismus, füttert Unzufriedene beim Gemeinschaftserlebnis des Umzugs und der Kundgebung mit Phrasen, lässt sie Parolen skandieren und Aufbegehren darstellen und entlässt sie zurück in eine politische Verdrießlichkeit. Der Flüchtlingsstrom hat die Pegida-Bewegung vor dem Versanden in die Bedeutungslosigkeit gerettet: Hass gegen Fremde, kanalisiert in der Ablehnung von Muslimen, hat ihr neuen Zulauf beschert. Die Protestgemeinde, die sich unter der Flagge »Islamkritik« aus der Mitte der Gesellschaft rekrutiert, hat durch die Mobilisierung von Ressentiments eine Brückenfunktion zum Rechtsradikalismus, auch und obwohl sie dies öffentlich vehement bestreitet. Allein die Selbstdarstellung der Wünsche und Abneigungen diffusen Protestes – gegen Fremde, gegen die Eliten in Politik, Gesellschaft, Medien – in den Formen der Stigmatisierung, Denunziation und der Ausgrenzung von Minderheiten ist die Einladung an Extremismus und zur Gewalt und eine Absage an die Demokratie.12

pirische Untersuchung von PEGIDA-Demonstranten in Dresden 2015; Lars Geiges/Stine Marg/Franz Walter, Pegida. Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft, Bielefeld 2015, S. 61ff. 11 Priska Daphi et al., Protestforschung am Limit. Eine soziologische Annäherung an Pegida, Berlin 2015; Göttinger Institut für Demokratieforschung, »Pegida. Aktuelle Forschungsergebnisse zu den Pegida-Protesten«, Göttingen 2015, http://www.demokratie-goettingen.de/ blog/studie-zu-pegida; Phillip Becher/Christian Begass/Josef Kraft, Der Aufstand des Abendlandes: AfD, PEGIDA & Co. Vom Salon auf die Straße, Köln 2015. 12 Daniel Bax, Angst ums Abendland. Warum wir uns nicht vor Muslimen, sondern vor den Islamfeinden fürchten sollten, Frankfurt a.M. 2015; Wolfgang Benz (Hg.), Fremdenfeinde und Wutbürger, Berlin 2016.

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Wolfgang Benz

Literaturverzeichnis Bahners, Patrick, Die Panikmacher. Die deutsche Angst vor dem Islam. Eine Streitschrift, München 2011. Bax, Daniel, Angst ums Abendland. Warum wir uns nicht vor Muslimen, sondern vor den Islamfeinden fürchten sollten, Frankfurt a.M. 2015. Becher, Phillip/Begass, Christian/Kraft, Josef, Der Aufstand des Abendlandes: AfD, PEGIDA & Co. Vom Salon auf die Straße, Köln 2015. Benz, Angelika, »Tröglitz und anderswo. Fremdenhass in der Mitte der Gesellschaft«, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 63 (2015), S. 777–791. Benz, Wolfgang, »Auftrumpfendes Unbehagen. Der politische Protest der Pegida-Bewegung«, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 63(2015), S. 759–776. Ders., Die Feinde aus dem Morgenland. Wie die Angst vor Muslimen unsere Demokratie gefährdet, München 2012. Ders. (Hg.), Fremdenfeinde und Wutbürger, Berlin 2016. Daphi, Priska et al., Protestforschung am Limit. Eine soziologische Annäherung an Pegida, Berlin 2015. Geiges, Lars/Marg, Stine/Walter, Franz, Pegida. Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft, Bielefeld 2015, S. 61ff. Göttinger Institut für Demokratieforschung, »Pegida. Aktuelle Forschungsergebnisse zu den Pegida-Protesten«, Göttingen 2015, http://www.demokratie-goettingen.de/blog/ studie-zu-pegida. Huntington, Samuel, Kampf der Kulturen, München 1996. Kellershohn, Helmut, (Hg.), Die »Deutsche Stimme« der »Jungen Freiheit«, München 2013, S. 60–134. Ders., »Die jungkonservative Neue Rechte zwischen Realpolitik und politischem Existenzialismus«, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 63(2015), S. 721–740. Riesebrodt, Martin, Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der »Kampf der Kulturen«, München 2000. Satola, Agnieszka/Spanger, Joachim, Die Achse des Guten – die Sprache(n) des antimuslimischen Rassismus im Netz, in: Hentges/Gudrun et al. (Hg.), Sprache – Macht – Rassismus, Berlin 2014, S. 243–264. Schneiders, Thorsten Gerald, (Hg.), Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen, Wiesbaden 2009. Shooman, Yasemin, »…weil ihre Kultur so ist«. Narrative des antimuslimischen Rassismus, Bielefeld 2014. Vorländer, Hans/Herold, Maik/Schöller, Steven, Wer geht zu PEGIDA und warum? Eine empirische Untersuchung von PEGIDA-Demonstranten in Dresden 2015.

Achim Bühl

Strategien gegen den antimuslimischen Rassismus

Ein Entwurf von Strategien setzt Klarheit über das Phänomen, gegen das die hier zu skizzierenden gesellschaftlichen wie politischen Konzepte der Gegenwehr positioniert werden sollen, voraus. Auffallend ist die noch immer benutzte Vielfalt der Begrifflichkeiten. Die Rede ist von Islamophobie, Islamfeindlichkeit und antimuslimischem Rassismus, was darauf verweist, dass in den vergangenen Jahren eine Verständigung über den adäquaten Terminus nicht erzielt werden konnte. Votiert wird für die Bezeichnung »antimuslimischer Rassismus«. Dieses Votum bliebe indes bei Missachtung des Sachverhalts, dass auch der Terminus »Rassismus« kontrovers ist, gleichfalls problematisch. So definiert etwa Wikipedia den Rassismus in doppelter Weise falsch, und zwar zum einen als Ideologie sowie zum anderen als Phänomen, welches »biologische Rassen« konstruiert und diese als höher- und minderwertig hierarchisiert. Bezugnehmend auf diese falsche definitorische Basis wird der Sachverhalt des antimuslimischen Rassismus im Netz zumeist hinterfragt und höhnisch wie folgt kommentiert: »Seit wann sind Muslime eine Rasse? Ist mir nicht bekannt. Grober Blödsinn, ›antimuslimischen Rassismus‹ gibt es nicht. Soll einzig und allein nötige Kritik am Islam mundtot machen.« In diesem Sinne äußerte sich auch die antimuslimische Rassistin Necla Kelek in einem taz-Artikel.1 Für die Entwicklung von Strategien gegen den antimuslimischen Rassismus sind sowohl die definitorische Schärfe des Terminus »Rassismus« als auch der Abschied von jeglicher Mystifizierung des Rassismus von Relevanz. Der Rassismus ist keine Phobie, er ist kein Vorurteil, er ist weder ein Missverständnis noch ein Bildungs- oder Kenntnisproblem. Der Rassist ist in der Regel weder eine psychisch gestörte Persönlichkeit noch eine verängstigte Person, die den »Fremden« fürchtet wie ein Arachnophobiker die Spinne oder ein Klaustrophobiker den engen Raum. Der Rassismus ist ein Macht- und Herrschaftsverhältnis; es geht um Vorteilswahrung beziehungsweise Vorteilsaneignung. Rassistisch Dominante beabsichtigen, eine Gruppe rassistisch Dominierter zu be1 Necla Kelek, »Muslime missbrauchen Rassismusbegriff«, taz vom 15. 03. 2009.

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herrschen oder zu unterdrücken, zu vertreiben oder im schlimmsten Fall gar zu töten, um sich ökonomische, soziale, kulturelle wie politische Ressourcen auf Kosten der gezielt zu Fremden konstruierten Gruppe anzueignen. Rassistisches Verhalten ist primär intentionales Verhalten, es ist rational und strategisch dimensioniert. Der Rassist verfolgt klare Ziele, erkennbare Absichten und Konzepte, um seine Interessen auf Kosten anderer durchzusetzen. Der Rassist spaltet die Gesellschaft in eine »Wir-Gruppe« und eine »Fremdgruppe«, um mittels der sozial konstruierten Gruppenbildung eine Vorrangstellung, die ihm soziale, ökonomische sowie kulturelle »Extragewinne« verspricht, zu etablieren und aufrechtzuerhalten. Der Rassismus geht von der Mitte der Gesellschaft aus, er ist in ihren Herrschafts- und Machtstrukturen verankert und wirkt von dort aus in die sozialen Ränder, welche die beabsichtigte rassistische Intention absorbieren und reflektieren. Rassistisch Dominante aus der Mitte der Gesellschaft, unter anderem in Gestalt rassistischer Intellektueller, benutzen diverse Strategien, um den Rassismus in der sozialen Peripherie zu verankern, wie beispielsweise das Schüren von Neid, Missgunst und sozialer Ängste im Kontext dystopischer Szenarien gesellschaftlicher Entwicklung. Psychoanalytische wie sozialpsychologische Elemente stellen somit integrale Bestandteile des Phänomens dar ; sie sind jedoch nur innerhalb der Rahmung von Macht und Herrschaft zu verorten und interpretabel. Während die soziologische Seite die Essenz des Rassismus reflektiert, spiegeln die psychologische und die psychoanalytische Seite relevante Mechanismen der Mobilisierung und massensuggestiven Verankerung und Verbreiterung des Phänomens wider. Die Angst vor dem sozialen Verfall, vor Verlust der eigenen sozialen Position, vor unbekannten Krankheiten, vor Kriminalität und Gewalt ist die psychologische Seite des strategischen Ensembles eines gesellschaftlichen Verhältnisses, welches der massenpsychologischen Verankerung bedarf. Neben der soziologischen und psychologischen Seite verfügt der Rassismus schließlich auch über eine ökonomische Seite, insofern er mit Phänomenen unmittelbarer Ausbeutung, Lohnstratifizierung sowie der Ausplünderung subalterner Arbeitskräfte im Kontext einer globalen Wirtschaft verbunden ist. Die Spaltung der Gesellschaft in eine Wir-Gruppe sowie eine Fremdgruppe bedarf im rassistischen Konstrukt eines Differenzkriteriums. Dieses Differenzkriterium ist zwar unabdingbar, aber bezüglich seiner konkreten Natur letztendlich belanglos. Unabhängig davon, ob es sich um eine reale oder um eine rein fiktive Größe handelt, stellt das Differenzkriterium immer ein soziales Konstrukt dar, dessen sich der Rassist bei der Spaltung bedient und das er entsprechend seiner Intention, antagonistische, unüberbrückbare sowie quasi vererbbare Gegensätze zu konstruieren, imaginär ausmalt. Als Differenzkriterium kann somit auch eine Religionszugehörigkeit dienen beziehungsweise der zu konstruierenden Fremdgruppe zugeschrieben werden.

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Beim antimuslimischen Rassismus bedient sich der Rassist streng genommen eines Ensembles von Kriterien, bestehend aus vier sozial konstruierten Differenzmerkmalen: erstens der Religionszugehörigkeit (Islam), zweitens der Kultur, drittens der Sozialstruktur (deutlich verknüpft mit ideologischen Elementen des Klassismus) und viertens den Relikten biologistischer Rassetheorien, die den Terminus des »Semiten« oder »Orientalen« bemühen. Fragt man im Nachhinein danach, was eigentlich das Neue am Sarrazin-Diskurs war, so ließe sich dies mit folgendem Satz beantworten: Das qualitativ Neue am Sarrazin-Diskurs besteht in der Einführung des Prinzips der Rückkoppelungsschleifen, insofern Sarrazin alle anderen Differenzkriterien des antimuslimischen Rassismus mit dem Islam verkoppelt. Im Sinne generalisierender oder essentialisierender Diskurse lauten die Rückkoppelungen bei Sarrazin wie folgt: ›Die Muslime sind so, weil ihre Kultur so ist. Ihre Kultur ist so, weil ihre Religion so ist‹ oder ›Die Migranten aus dem türkischen beziehungsweise arabischen Raum leisten keinen Beitrag für das volkswirtschaftliche Gesamtvermögen, weil ihre Religion keine protestantische Ethik wie im Christentum kennt‹ usw. Nach dem 11. September erhält der Islam im Ensemble der Differenzkriterien des antimuslimischen Rassismus somit nicht nur eine gänzlich andere hierarchische Position zugeschrieben – nämlich die des ersten Ranges –, sondern er wird zusätzlich für die vermeintliche Ausprägung der anderen Unterscheidungsmerkmale des Differenzensembles verantwortlich gemacht, was seine herausgehobene Stellung innerhalb des Konstruktionsprozesses weiter unterstreicht. Um auf diese Neuerung innerhalb der ideologischen Muster aufmerksam zu machen, benutzte auch der Autor eine Zeitlang den Terminus »Islamfeindlichkeit« statt wie nunmehr den Begriff »antimuslimischer Rassismus«. Um Strategien gegen den antimuslimischen Rassismus zu entwickeln, bedarf es einer korrekten Dimensionierung des Rassismus. Wie bei anderen Rassismen auch, so lassen sich beim antimuslimischen Rassismus fünf Dimensionen konstatieren, an welche Gegenstrategien andocken können, und zwar a) die strukturelle Seite, b) die institutionelle Seite, c) unmittelbar gewaltförmige Erscheinungen, d) die alltägliche Seite sowie schließlich e) narrative und diskursive Rassifizierungstechniken. Die diskursive Seite des Rassismus wird hier bewusst als letzter Aspekt genannt, um darauf hinzuweisen, dass der Rassismus primär struktureller wie institutioneller Natur und demzufolge zwar ideologisch zu kontern ist, jedoch vor allem strukturell wie institutionell bekämpft werden muss. Beginnen wir unsere Skizze potenzieller Gegenstrategien folglich mit der strukturellen Seite des antimuslimischen Rassismus. Unter Strukturen verstehen wir Gebilde, welche über eine multipel formende Kraft verfügen, die also gewissermaßen der Gesellschaft ihren Stempel aufdrücken und multi-institutionell

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wirkungsmächtig sind. Im Kontext des antimuslimischen Rassismus handelt es sich im Wesentlichen um sechs hyperprägende Formungen: 1) Der Islam ist in Deutschland nicht mit anderen Religionsgemeinschaften gleichgestellt. Er ist keine Körperschaft des öffentlichen Rechts. Dies hat gravierende Konsequenzen unter anderem bezüglich der visuellen Wahrnehmung des Islam (Stichwort »Moscheebauten«: Wo darf gebaut werden, wie findet die Finanzierung statt etc.), bezüglich der materiellen Ausstattung der Gemeinden, hinsichtlich der Wahrnehmung ihrer funktionellen Verpflichtungen sowie auf den ideologischen Diskurs bezüglich der Zugehörigkeit des Islam zu Deutschland. Nichtmuslime wie Muslime müssen die Gleichstellung des Islam durchsetzen; der Islam hat in allen deutschen Bundesländern eine Körperschaft des öffentlichen Rechts zu werden, zumal dies das Substrat darstellt, um der ideologischen Debatte, der Islam gehöre vermeintlich nicht zu Deutschland, materiell den Boden unter den Füßen zu entziehen. 2) Das Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst: Empirische Daten der letzten Jahre belegen hochgradig, dass es sich beim Kopftuchverbot im öffentlichen Raum um eine rassistische Struktur handelt, insofern sie sowohl Diskriminierungen im privatwirtschaftlichen Sektor wie gleichfalls im alltäglichen Bereich produziert. Wäre dem Mörder von Marwa El-Sherbini gleich bei seiner Ankunft in Deutschland durch eine kopftuchtragende Polizistin signalisiert worden, dass Sätze wie ›Ihr habt kein Recht hier zu leben‹ in Deutschland keinesfalls auf Akzeptanz stoßen, so wäre es vermutlich nicht zur weiteren Eskalation gekommen. Weibliche Beamte mit Kopftuch wären von hoher Symbolkraft, um die nicht nur faktisch gegebene Existenz des Islam und von Muslimen in Deutschland zu spiegeln, sondern auch deren gesellschaftliche Akzeptanz als unhinterfragter Bestandteil deutscher Kultur und Sozialität, als essentieller Bestandteil des Wir-Kollektivs. Es ist folglich die Aufgabe sowohl der nichtmuslimischen als auch der muslimischen Bevölkerung dafür Sorge zu tragen, dass Kopftuchverbote wie sogenannte Neutralitätsgebote annulliert werden, die muslimische Frauen ausgrenzen, welche eine religiöse Bekleidungsvorschrift als religiöse Alltagspraxis leben wollen. De facto wird jedoch das BVG-Urteil vom 27. Januar 20152 wenn überhaupt, dann nur äußerst zögerlich und halbherzig umgesetzt. Seitens des Bundesjustizministeriums ist derzeit keine nennenswerte Aktivität erkennbar, um dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts in den Ländern faktische Rechtskräftigkeit zu verleihen. Offensichtlich ist diesbezüglich gesellschaftlicher Druck erforderlich, der das Tragen eines Kopftuchs nicht einzig bei Lehrerinnen, sondern im (verbeamteten) öffentlichen Dienst als generelles Persönlichkeitsrecht verankert.

2 1 BvR 471/10, 1BvR 1181/10.

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3) Das »Ius-sanguinis-Prinzip« des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts: Zwar mag der Erhalt der deutschen Staatsbürgerschaft kein Allheilmittel gegen den Rassismus sein, doch die Verfügung oder Nichtverfügung über den deutschen Pass bildet gleichwohl in Deutschland noch immer eines der strukturellen Fundamente des Rassismus. Die Erteilung des Dokuments ist aufs Engste mit dem »Recht des Blutes« verzahnt, welches auf dem Reichs- und Staatsangehörigkeitsrecht des deutschen Kaiserreichs aus dem Jahr 1913 beruht, dessen § 4 lautete: »Durch die Geburt erwirbt das eheliche Kind eines Deutschen die Staatsangehörigkeit des Vaters (…)«. Die Regulierung der deutschen Staatsangehörigkeit nährt die Vorstellung der Existenz generationenübergreifender »Biodeutscher«, eines Deutschen erster Klasse wie eines Deutschen per »Gnadenakt«, und verfügt so über eine gesellschaftlich prägende Ordnungsstruktur mit institutionell multipler Wirkung, von der nicht zuletzt Muslime wie Musliminnen in diskriminatorischer Hinsicht betroffen sind. Rassistisch Dominante können sich durch das Festhalten des deutschen Staates am »Prinzip des Völkischen«, welches seitens des deutschen Nationalsozialismus in ideologischer wie in praktischer Hinsicht qualitativ verschärft wurde, darauf stützen, dass sie als die »eigentlichen Deutschen« zählen, denen bei öffentlichen Institutionen, bei der Ressourcenverteilung, der Arbeitsvergabe sowie bei Privilegien Vorrang zu gewähren sei. Die Vorstellung einer »blutsmäßigen Abstammung« ist ein Nährboden für rassistisches Gedankengut und repliziert das Bewusstsein vom »Fremden«, vom »Ausländer«, von der Erfordernis der »Reinerhaltung der Rasse« sowie der »Bewahrung des völkischen Charakters« der Nation. Das »Ius sanguinis« bildet eines der Kernelemente des strukturellen Rassismus, insofern es sich um ein materielles Substrat handelt, welches die Gesamtgesellschaft in all ihren Institutionen formt und das Bewusstsein von einer scheinbar existenten natürlichen Gegebenheit des »Wir« und »Ihr« prägt. Durch das immanente Vererbbarkeitskonstrukt verfestigt das »Ius sanguinis« Vorstellungen biologistischer Rassetheorien; es stellt die gesetzliche Normierung der Vorrangstellung rassistisch Dominanter dar, die ihre Gruppenzugehörigkeit und Vormachtposition juristisch gestützt an die Kinder weitergeben, wodurch die sozial konstruierte Differenz zwischen der dominanten und der beherrschten Gruppe verewigt wird. Die materiell fixierte Vererbbarkeit der Dominanz per Gesetz stützt Ideologeme von der Existenz einer biologischen Mitgliedschaft und einer ehernen »Nationalkultur«, die den Eingebürgerten muslimischen Glaubens, auch wenn dieser nunmehr die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, zum »nicht eigentlich Deutschen« und seine Religion zu einer Glaubensrichtung, die nicht zu Deutschland gehöre, konstruieren. Das »Ius-sanguinis-Prinzip« verfügt somit über ein hohes Maß an struktureller Exklusionspotenz. Antirassistische Kräfte haben stattdessen den Grundsatz durchzusetzen, dass jeder, der hier in

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Deutschland geboren wird, auch Deutscher zu sein hat – und dies ohne weitere Einschränkungen oder Bedingungsklauseln, insoweit er beziehungsweise seine Eltern dies wünschen. Zwar erfolgten mit dem reformierten Staatsangehörigkeitsrecht aus dem Jahr 2000 in Deutschland diesbezüglich erste Schritte, diese sind insgesamt jedoch noch viel zu zaghaft. Einwenden ließe sich gegen die obige Argumentation, dass außer Deutschland auch zahlreiche weitere Länder die Dominanz des Abstammungsprinzips kennen. Der Einwand übersieht indes die Spezifik der deutschen Geschichte und die ideologische Verankerung sogenannter »Rasselehren« im Bewusstsein weiter Teile der deutschen Bevölkerung bis auf die heutigen Tage. 4) Die Regulierung der Einbürgerung: Die jahrzehntelang aufrechterhaltene Ablehnung beziehungsweise Leugnung, ein Einwanderungsland zu sein, sowie die Erschwernisse bei der Einbürgerung haben praktisch wie ideologisch die »Wir-Ihr-Spaltung« innerhalb der deutschen Gesellschaft verfestigt. Dies trifft ebenso für die Art und Weise der Regulierung der Einbürgerung zu. Diskurse wie die »Leitkulturdebatte« im Jahr 2000 haben keine »Zugehörigkeitskultur« geschaffen, sondern ein Klima der Ausgrenzung erzeugt. Die in Deutschland offiziell gültigen Einwanderungstests stellen zwar in der Regel keine intellektuelle Hürde dar, praktizieren indes noch immer die Vorstellung, dass ein Deutscher derjenige ist, der sich dem »völkischen Charakter« anpasst, der seine eigene Identität aufgibt, der sich ohne Wenn und Aber für sein »Deutschsein« entscheidet. »Deutschsein« wird auf diese Weise zu einer statisch homogenen Kulturgröße, zu einem naturalisierten und essentialisierten Entweder-oderPrinzip, dem nur durch bedingungslose Assimilation durch ein Aufgehen im »biologischen Volkskörper« zu entsprechen sei. Einbürgerungstests suggerieren Menschen, die häufig bereits Jahre in Deutschland leben, nicht nur, dass sie noch immer nicht dazugehören, sondern dass sie sich erst noch zu beweisen hätten. Statt eines »Du gehörst zu uns« gegenüber Menschen, die als Arbeitskräfte ins Land gerufen wurden und häufig bereits Jahrzehnte ihres Lebens hier gelebt und gearbeitet haben, werden neue, nicht zuletzt psychologische Hürden aufgebaut, die Abwehr oder ein »nicht Willkommen« signalisieren. Ein negativer Höhepunkt diesbezüglich stellte der sogenannte »Anti-Muslim-Test« dar, der als offizieller Gesprächsleitfaden im Rahmen des Einbürgerungsverfahrens seitens des Landes Baden-Württemberg diente, um Personen muslimischen Glaubens im Geiste einer Kollektivverdachtsthese auf »Verfassungstreue« zu befragen, und der sich antimuslimischer Stereotype bediente, die den einzubürgernden Muslim als potenziell gewalttätig, patriarchal, archaisch, homophob, antisemitisch und terroristisch diffamierten. Die Regulierung der derzeitigen Einbürgerung stellt eine rassistische Struktur dar, insofern sie die Spaltung nicht abbaut, sondern diese sowohl im Bewusstsein der rassistisch Dominanten als auch im Denken der rassistisch Beherrschten auf neue Weise mit Leben versieht. Sym-

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ptomatisch ist hierfür die Frage 295 des staatlichen Einbürgerungstests, in der danach gefragt wird, welche Religion die europäische und deutsche Kultur geprägt hat. Die Antwortvorgaben lauten: »der Hinduismus, das Christentum, der Buddhismus, der Islam«. Während das Judentum bezeichnenderweise erst gar nicht genannt wird, gilt die Antwort »der Islam« als falsch. Bevor ein »muslimischer Bewerber« die Staatsbürgerschaft erhält, wird er auf diese Weise bereits zum Staatsbürger zweiter Klasse konstruiert. Im Unterschied zum »Biodeutschen« wird seine Religion als nicht dazugehörig sowie als kulturirrelevante Größe für den deutschsprachigen Raum charakterisiert. Die Antwort normiert auf diese Weise »das Christliche« zum Standard, »das Muslimische« hingegen zur kultur- und geschichtslosen Abweichung; der (christliche) geborene Deutsche wird zur Norm, während der vom Standard abweichende (muslimische) Eingebürgerte sich mit einer »Staatsbürgerschaft zweiter Klasse« zufrieden geben muss, einer dazugehörenden Nichtzugehörigkeit, welche für Personen, die nicht in Deutschland aufgewachsen sind, derzeit weiterhin die Optionspflicht einschließt, das heißt die Entscheidung zugunsten einer singulären Staatsbürgerschaft. Ebenso signalisieren die aktuell erforderlichen Bedingungen3, die jemand zu erfüllen hat, dass man keineswegs deutsch ist, wenn man in Deutschland geboren wurde, falls es der Person am erforderlichen »Blutsnachweis« fehlt, über den Spätaussiedler wie Russlanddeutsche im biologistischen Konstrukt des »Deutschseins« vergleichsweise verfügen. 5) Das Einwanderungsland Deutschland verwehrt Menschen noch immer das demokratische Wahlrecht. Für die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus besitzen beispielsweise derzeit über 14 % der volljährigen Berliner/innen kein Wahlrecht. Dies stellt nicht nur eine Ausgrenzung bezüglich des Wählens dar, sondern ist darüber hinaus ein Symbol konstruierter Nichtzugehörigkeit, welche die Fragmentierung »Deutscher = Wähler«, »Nichtdeutscher = Nichtwähler« vertieft und somit Vorstellungen des »Wir« und »Ihr« verfestigt. Per Wahlrecht wird in europäischen Einwanderungsländern auf diese Weise eine Ausgrenzung praktiziert, die sowohl über eine förmliche als auch über eine symbolische Relevanz verfügt. Wie einfach es geht, demonstrieren Länder wie Schweden, Dänemark und die Niederlande, die zumindest das Wahlrecht auf kommunaler Ebene in aktiver wie in passiver Hinsicht verwirklicht haben. 6) Die Verwendung des Terminus »Rasse«. Es ist eine der größten deutschen Nachkriegslegenden, dass die Begrifflichkeit »Rasse« sowie »wissenschaftliche Rassetheorien« nach 1945 diskreditiert gewesen seien. Davon kann keine Rede sein, was bereits die Tatsache belegt, dass es bis heute weder ein »rassefreies« Grundgesetz noch ein »rassefreies« Antidiskriminierungsgesetz gibt. Rassismus fängt dann an, wenn der Terminus »Rasse« als biologische Größe benutzt wird. 3 § 29 Abs. 1a, 5 Staatsangehörigkeitsgesetz.

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Es gibt keine »Menschenrassen«! Vermeintliche »Menschenrassen« sind nichts als die Erfindung des Rassisten, auch wenn sich vereinzelte Humanbiologen auf der Basis von Divergenzen im Microsatellitenbereich im Kontext moderner Gensequenzierung eifrigst um ein Revival des biologistisch-orientierten Rassismus bemühen. Antirassistische Kräfte müssen erst noch durchsetzen, dass das Wort »Rasse« in Deutschland im Kontext der Suggestion einer Existenz naturwissenschaftlicher »Menschenrassen« mit Tabu belegt wird. Der Terminus »Rasse« spaltet tagtäglich und erklärt unter anderem Menschen aus arabischen Herkunftsländern zu einer anderen »Rasse« (»orientalische Rasse«) und untermauert auf diese Art und Weise ideologisch den »Zugehörigkeits- wie Nichtzugehörigkeitsdiskurs« oder den antimuslimischen Rassismus. Die zuletzt genannten Punkte weisen darauf hin, dass sich der antimuslimische Rassismus nicht strikt vom antimigrantischen Rassismus trennen lässt, insofern er mit diesem eng verwoben ist. Die sechs Punkte bezüglich der strukturellen Seite des antimuslimischen Rassismus verdeutlichen darüber hinaus, dass der strukturelle Rassismus aufs Engste mit der staatlichen Seite verbunden ist. Folglich ist es die Aufgabe antirassistischer Kräfte, staatlichen Antirassismus in verstärktem Maße einzufordern, also ein entschiedeneres Agieren des Staates diesbezüglich durchzusetzen. Als Beispiel des staatlichen Antirassismus lässt sich das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) anführen, auf das zu wenig Bezug genommen wird. Verwiesen sei an dieser Stelle auf das Antidiskriminierungsnetzwerk des Türkischen Bundes Berlin-Brandenburg.4 Die Zielstellung des Netzwerks besteht unter anderem darin, die Alltäglichkeit der Diskriminierung von Muslimen und Musliminnen sichtbar zu machen und gestützt auf das AGG Gegensteuerungselemente zu entwickeln, wozu Informationsveranstaltungen hinsichtlich der geltenden Antidiskriminierungsvorschriften, die Etablierung von Beratungsstellen sowie die Ernennung von Antidiskriminierungsbeauftragten in den Gemeinden zählen. Das Projekt des Türkischen Bundes in Kooperation mit Inssan e.V. stellt einen wichtigen antirassistischen Strategieansatz dar, insofern Betroffene zum Sprechen gebracht und zugleich aufgefordert werden, mittels der institutionellen Etablierung eines Erhebungs- wie Beschwerdemanagements aktiv zu werden. Auf diese Weise wird zugleich die zentrale Schwäche des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, welches personell wie finanziell unterausgestattete Strukturen lediglich auf bundesstaatlicher Ebene vorsieht, per zivilgesellschaftlicher Untermauerung ausgeglichen. Das Antidiskriminierungsnetzwerk des Türki4 Vgl. u. a. Nuran Yigit, Netzwerk gegen Diskriminierung von Muslimen, in: Tagungsband Muslimfeindlichkeit – Phänomen und Gegenstrategien. Beiträge der Fachtagung der Deutschen Islam Konferenz am 4. und 5. Dezember 2012 in Berlin, Berlin 2013, S. 115–117.

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schen Bundes führte bislang zahlreiche Informationsveranstaltungen durch und leistete darüber hinaus empirisch nützliche Arbeit. Von den in der ersten Phase gemeldeten Diskriminierungsfällen (N = 273) wurden 58 % von Frauen gemeldet, darunter 88 % bezüglich des Kopftuchs.5 »In Folge der Beratung und Netzwerkarbeit konnte 2011 erstmals ein Urteil gegen einen diskriminierenden Zahnarzt in Berlin erwirkt werden, der die kopftuchtragende Bewerberin nur unter der Bedingung, das Kopftuch abzunehmen, einstellen wollte.«6

Das Pilotprojekt des Türkischen Bundes ließe sich seitens der Zivilgesellschaft gesamtgesellschaftlich übernehmen, das heißt, dass möglichst viele gesellschaftliche Institutionen dazu übergehen sollten, Antidiskriminierungsbeauftragte zu etablieren und Strukturen zu schaffen, die als institutionelle Anlaufstellen dienen, um Fälle zu erfassen, die Beratungstätigkeit zu koordinieren, juristischen Beistand zu leisten, Öffentlichkeitsarbeit zu verrichten sowie ein Bewusstsein über die Alltäglichkeit der antimuslimisch-rassistischen Diskriminierung zu schaffen. Zivilgesellschaftlich ließe sich so nicht nur an das Antidiskriminierungsgesetz anknüpfen, sondern selbiges durch eine primär dezentrale Anlage vom Kopf auf die Füße stellen. Sollte diese Orientierung ihre Sinnhaftigkeit und Effektivität unter Beweis stellen, so ließen sich in einem weiteren Schritt Stellen sowie die finanzielle Ausstattung für die Dezentralisierung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes seitens der Zivilgesellschaft einfordern. Damit wären wir bei der institutionellen Seite des Rassismus angelangt, wobei exemplarisch zwei gesellschaftliche Institutionen angesprochen werden, und zwar die Bereiche »Polizei« sowie »Schule und Universitäten« und hierbei wiederum nur zentrale Sachverhalte.7 Bei der Polizei stellt »Racial Profiling«, wovon in wachsendem Maß auch Muslime betroffen sind, eines der gravierendsten Beispiele bezüglich des institutionellen Rassismus dar. Die Problematik fängt bereits beim Terminus an, der wie so viele andere Begriffe suggeriert, dass es »Rassen« gebe. Korrekterweise ist der Sachverhalt somit als »Racist Profiling« zu bezeichnen. »Racist Profiling« meint, dass Kontrollen seitens der Polizei, von Zollbeamten, Sicherheitskräften oder Beamten der Einwanderungsbehörde nicht auf objektivierbare Verdachtsmomente gestützt sind, sondern der »Logik der Rassifizierung« folgen, sodass »nichtweiße Personen« überproportional 5 Vgl. ebd., S. 116. 6 Ebd., S. 117. 7 Bezüglich der Entwicklung von Forderungen für den Arbeitsmarkt sowie weiterer gesellschaftlicher Institutionen siehe Aliyeh Yegane Arani, Antimuslimischer Rassismus und Islamfeindlichkeit in Deutschland. Alternativbericht zum 19.–22. Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland nach Artikel 9 des internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form der »Rassen«diskriminierung (ICERD), Berlin 2015.

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kontrolliert werden. »Racist Profiling« benutzt Merkmale, die den Spielarten des Rassismus als klassische Differenzkriterien dienen, wie »ethnische Zugehörigkeit«, Hautfarbe, Religion oder die »ausländisch« anmutende Kleidung einer Person. Von »Racist Profiling« sind in den USA wie auch in Deutschland vor allem Menschen mit schwarzer Hautfarbe betroffen sowie im Kontext des antimuslimischen Rassismus in Europa und den USA Personen, denen ein vermeintlich »typisch muslimisches Aussehen« attestiert wird. »Racist Profiling« verstößt nicht nur gegen den Gleichheitsgrundsatz, das Diskriminierungsverbot sowie die Menschenrechte, sondern verstärkt ebenso rassistisches Denken in der Gesamtbevölkerung. Personen, die etwa im Zug, im Bahnhofs- oder Flughafenbereich entsprechender Personenkontrollen gewahr werden, verinnerlichen auf diese Weise ein rassistisch geprägtes Gefahrenbild. Farbige Menschen oder Muslime werden so unbewusst mit Kriminalität konnotiert, und eine entsprechende Obrigkeitshörigkeit sorgt dafür, dass der Zeuge die Szene in der Regel nicht mit »Racist Profiling« verbindet, sondern zumeist unreflektiert denkt, der Kontrollierte werde sich schon irgendwie verdächtig gemacht haben. In Deutschland ist »Racist Profiling« gesetzlich verankert, de jure kann es sich auf § 22 Abs. 1a des Bundespolizeigesetzes stützen, welches nicht nur dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gleichheit widerspricht, sondern auch den von Deutschland ratifizierten Menschenrechtskonventionen. »Racist Profiling« ist folglich als institutioneller Rassismus zu werten. Strategien gegen den antimuslimischen Rassismus, die auch im institutionellen Bereich anzudocken haben, sollten diesbezüglich bündnisorientiert mit anderen gesellschaftlichen Kräften wie Opfergruppen öffentlichkeitswirksam dafür Sorge tragen, dass die Verankerung rassistischer Kontrollen im Polizeigesetz ersatzlos fällt. Die Ereignisse im sächsischen Clausnitz im Februar 2015 weisen darauf hin, dass die Problematik des institutionellen Rassismus bei der Polizei indes weit über die Thematik des »Racist Profiling« hinausgeht. Wenn Polizeipräsidenten die migrantischen und asylsuchenden Opfer eines rassistischen Mobs sowie eines gänzlich inakzeptablen Polizeiverhaltens gar zu Tätern erklären, stellt dies eine offene Ermutigung für das Agieren menschenfeindlicher Kräfte dar und verweist darauf, dass eine gänzliche Neuaufstellung der Polizei in weiten Teilen sowie eine Schulung von Polizeikräften unter demokratischen, antirassistischen und speziell antimuslimisch-rassistischen Gesichtspunkten zwingend erforderlich ist. Die Neuaufstellung sollte nicht zuletzt dazu führen, dass der Anteil von Polizisten mit Migrationshintergrund drastisch erhöht wird und sich darunter auch ein relevanter Anteil Muslime befindet. Umso problematischer erscheint es, dass bis heute der Sachverhalt des institutionellen Rassismus von der Bundesregierung geleugnet wird. Symptomatisch dafür sind die Antworten der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Bundesfraktion der Linken im

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Sommer 20158 sowie auf eine schriftliche Frage des Grünen-Abgeordneten Volker Beck.9 In beiden Fällen wird die Existenz eines institutionellen Rassismus in deutschen Behörden rundweg bestritten. Selbst angesichts der vonseiten des CERD10 im deutschen Staatenbericht gerügten Praxis des »Racist Profiling« schreibt die Bundesregierung: »Aufgrund der bislang zur Kenntnis gelangten Anzahl von Beschwerden gegenüber der Bundespolizei und der Antidiskriminierungsstelle, bei denen sich die Petenten auf subjektiv als unberechtigt empfundene polizeiliche Maßnahmen beziehen, besteht bisher kein Ansatz für die Feststellung eines Strukturproblems.«11

Die institutionelle Alltäglichkeit des »Racist Profiling« stellt sich für die Bundesregierung somit als eine Problematik »subjektiven Empfindens« dar ; im Schreiben an den Abgeordneten Beck heißt es: »Eine pauschale wie unreflektierte Verwendung des Begriffs ›institutioneller Rassismus‹ lehnt die Bundesregierung ab, da der Begriff sowohl unbeabsichtigte, unbewusste und indirekte Diskriminierungen als auch eine staatlich organisierte, systematische Benachteiligung von Bevölkerungsgruppen umfasst.«12

Dies könne, so heißt es weiter, »mit Blick auf unsere demokratischen Institutionen, deren rechtsstaatlich verfasste Strukturen und hier geltende gesetzliche Normen missverstanden werden«13, womit die Bundesregierung offen dem UNAusschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung (CERD) widerspricht. Selbst angesichts der NSU-Mordserie und dem diesbezüglichen Agieren deutscher Behörden wird die Problematik des institutionellen Rassismus seitens der Regierung offen in Abrede gestellt. Die Umkehrung der Täter-Opfer-Dialektik wie im »Fall Clausnitz« ist indes ein klassisches rassistisches Muster und verweist mit aller Deutlichkeit auf die Existenz des institutionellen Rassismus in zentralen staatlichen Instanzen. Die Ereignisse im sächsischen Clausnitz verdeutlichen auch, dass die Bedingungsfaktoren des institutionellen Rassismus umfassender zu verorten sind. So befindet sich an der Spitze des Bundeslandes Sachsen ein Ministerpräsident, der Wasser auf die Mühlen der PEGIDA-Bewegung kippt, indem er in einem Interview mit der Welt am Sonntag im Januar 2015 beispielsweise sagte, er teile die Auffassung der Bundeskanzlerin nicht, dass der Islam zu Deutschland gehöre.14 Tillichs Position, der Islam gehöre nicht zu Sachsen, stellt eine Ermutigung menschenverachtender Kräfte dar, um einen Bus 8 9 10 11 12 13 14

Drucksache 18/5435. Schriftliche Frage Monat 06/15, Arbeitsnummer 6/230. Committee on the Elimination of Racial Discrimination. Drucksache 18/5435. Schriftliche Frage Monat 06/15, a. a. O. Ebd. Welt am Sonntag vom 25. 01. 2015, »Der Islam gehört nicht zu Sachsen«.

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mit Flüchtlingen zu blockieren und »Haut ab nach Hause« zu brüllen. Es zeigt sich, dass der Diskurs bezüglich der Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit des Islam zu Deutschland, der spätestens seit den Reaktionen auf die Wulff-Rede deutlich zutage trat, nunmehr seine Wirkungen zeigt. Auch seitens des damaligen Bundespräsidenten Gauck, der ebenfalls von Wulffs Äußerung in einem Interview im Mai 2012 abrückte, kam diesbezüglich keine klare Aussage. Dergestalt betrachtet, laufen Strategien gegen den antimuslimischen Rassismus darauf hinaus, mittels eines breit getragenen gesellschaftlichen Bündnisses in diesem Land den Satz »Der Islam gehört zu Deutschland und zu Europa« zu einer Selbstverständlichkeit werden zu lassen. Im Sektor »Schule und Universitäten« sind die derzeit wohl eklatantesten Sachverhalte die Schulempfehlungen, die Problematik der Deutsch-GarantieKlassen sowie Diskriminierungen bezüglich des Tragens des Kopftuchs. Schulische Probleme in deutschen Ballungszentren werden im Regelfall nicht durch qualitativ verbesserte Finanzierung, kleinere Klassen, betreute Ganztagsschulkonzepte sowie Personalverstärkungen gelöst, sondern im Interesse der rassistisch Dominanten in Form wachsender Segregationsprozesse, die jüngst als »Deutsch-Garantie-Klassen« in Erscheinung treten, die nur Schüler/innen mit besseren Deutschkenntnissen aufnehmen und die an die Segregation in Gestalt der sogenannten »Ausländerregelklassen« anknüpfen. Das Privileg der vermeintlich Dominanten, dass ihre Kinder eine bessere Bildung erhalten, soll auf Kosten der »Anderen« gewahrt bleiben. Eine Vertiefung sozialer Differenzen ist dadurch vorprogrammiert. Rassistische Diskriminierung illustriert auch die sogenannte »Schulempfehlung«, welche zwar nicht bindend ist, die aber Schüler/ innen mit Migrationshintergrund und mit sozial schwächerem Elternhaus diskriminiert. Es ist deutscher Schulalltag, dass Susanne mit einem Notendurchschnitt von 2,2 eine Empfehlung für das Gymnasium erhält, während den Eltern von Turgut mit einem Durchschnitt von 2,0 ein Wechsel der Tochter auf die Realschule empfohlen wird.15 Das System der Schulempfehlungen lässt sich als institutioneller Rassismus bewerten, insofern es schulische Karrierechancen und die weitere Lebenslaufbahn von Kindern rassifiziert. Häufig spielen dabei unausgesprochene Assoziationsketten wie ›Das Elternhaus wird Turgut bei einer Gymnasialbildung nicht unterstützen können‹ oder ›Turgut wird ja wohl doch nicht studieren‹ eine relevante Rolle. Rassistisches Handeln in institutionellen Kontexten kann, dergestalt betrachtet, auch nicht-intentionalen Charakters oder unbewusster Natur sein. Auch bei den Schulempfehlungen zeitigt das Tragen eines muslimischen Kopftuches diskriminatorische Effekte.16 15 Vgl. Achim Bühl, Rassismus. Anatomie eines Machtverhältnisses, Wiesbaden 2016, S. 227@230. 16 Vgl. ebd.

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Strategien gegen den antimuslimischen Rassismus im schulischen wie im universitären Bereich sollten als erste Maßnahme Antidiskriminierungsbeauftragte etablieren; insbesondere könnten hier die Universitäten vorangehen und diesbezüglich Personal- und Sachmittel zur Verfügung stellen, während im schulischen Bereich etwa an die Ernennung eines Vertrauenslehrers oder einer Vertrauenslehrerin zu denken wäre. Im schulischen und im universitären Bereich sollten klare Signale erfolgen, dass der Islam und die Muslime zu Deutschland gehören, indem Gebetsräume zur Verfügung gestellt werden, die auch so benannt und nicht als »Raum der Stille« bezeichnet werden; in den Mensen sollten zumindest zwei vegane Essen angeboten werden. Muslimische Eltern ließen sich offensiver in den Schulalltag einbeziehen, indem man sie beispielsweise dafür gewinnt, begleitend mit auf Klassenfahrt zu fahren etc. Die Probleme des schulischen Alltags verweisen nicht zuletzt darauf, dass der Anteil von Lehrkräften mit Migrationshintergrund deutlich erhöht werden muss. Diesbezüglich erweist sich der strukturelle Rassismus in Gestalt des Kopftuchverbots als eine institutionelle Blockade, sodass es hier rasch zu Änderungen kommen muss, damit auch andere Schulmodelle wie bilinguale Schulen, in denen nicht nur Französisch und Englisch die einzig denkbaren Fremdsprachen sind, mit genügend Lehrkräften ausgestattet werden können. Kommen wir nunmehr zur dritten Dimension des Rassismus, der Thematik unmittelbar gewaltförmiger Erscheinungen. Die Daten verweisen hier darauf, dass die Zahl der Übergriffe auf Moscheen steigt. Bezüglich exakter Angaben besteht indes die Problematik, dass Straftaten mit antimuslimisch-rassistischem Hintergrund derzeit nicht getrennt erfasst werden. Antirassistische Gegenstrategien sollten hier die genaue statistische Erfassung der Tatbestände fordern und durchsetzen. Der Zentralrat der Muslime verlangt diesbezüglich die Einrichtung von eigenständigen und spezialisierten Fachabteilungen in den Verwaltungen der Länder. Unmittelbar gewaltförmige Erscheinungen gilt es seitens der Öffentlichkeit als kriminelle Taten zu begreifen, die das gesellschaftliche Klima, Diskurse der Nichtakzeptanz des Islam, populistische Stimmungsmache und Stereotypsierungen sowie Pauschalisierungen spiegeln. Hinsichtlich der Erfassung von Übergriffen sollte neben der Durchsetzung behördlicher Verantwortlichkeit auch auf zivilgesellschaftliche Netzwerke Wert gelegt werden, auf eine deutlich verbesserte Vernetzung sowohl im realen als auch im virtuellen Raum. Aufseiten der Zivilgesellschaft ist vor allem das Engagement in Sachen Solidaritäts- und Empathiebekundungen angesichts unmittelbarer Gewalt deutlich zu verstärken. Bei der vierten Dimension des antimuslimischen Rassismus handelt es sich um den Alltagsrassismus; darunter sind Erscheinungen zusammenzufassen, die in der Regel auf den ersten Blick weniger spektakulär wirken, aber in ihrer Summe betrachtet eine durchaus effiziente wie nachhaltige Wirkung erzeugen

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können. Gemeint sind Diskriminierungen in der alltäglichen Kommunikation, die häufig vom Akteur nichtintendiert sind, unbewusst ablaufen und von subtilerer Natur sind. Der Alltagsrassismus ist oft von internalisierten Normen geprägt, die als selbstverständlich wahrgenommen und in repetitiven Kommunikationssituationen angewendet werden. Der alltägliche Rassismus reproduziert stets aufs Neue die Spaltung zwischen einem »Wir« und einem »Ihr«. Alltagsrassistische Situationen zeichnen sich dadurch aus, dass der rassistisch Dominante die konstruierte Dichotomie verinnerlicht hat, er auf der Basis des binären Codes handelt und so die gesetzte Norm zumeist unreflektiert exekutiert, die den rassistisch Dominierten die Mächtigkeit seiner sozial konstruierten Nichtzugehörigkeit immer und immer wieder schmerzhaft erfahren lässt. Unter Alltagsrassismus fassen wir ebenso Handlungsweisen, die intendiert und bewusst ablaufen: Dies kann vom abwertenden Blick, ausgrenzender oder diskriminierender Rede, der Verweigerung eines Diskothekeneinlasses bis hin zum rassistischen Witz sowie zu rassistisch durchsetzter Unterhaltung reichen. Unter Alltagsrassismus sind schließlich auch Elemente des medialen Rassismus, soweit diese sich durch Alltäglichkeit auszeichnen, zu erfassen. Bezüglich der Entwicklung von Gegenstrategien gilt es beim Alltagsrassismus zwischen dem nicht-intendierten sowie dem intendierten Verhalten zu differenzieren. Ein Besucher am Tag der offenen Moschee, der zu einem Muslim sagt »Sie sprechen aber gut Deutsch« handelt häufig nicht-intendiert. Nicht-intendiertes Verhalten sollte dem sprechenden Akteur sowohl hinsichtlich der zugrundeliegenden Denkmuster wie der Wirkung auf den Betroffenen, der die Aussage zumeist nicht als Kompliment, sondern als alltägliche Ausgrenzung erfährt, bewusst gemacht werden. Bei nicht-intendiertem Verhalten ist von einer gewissen Bereitschaft der Handelnden auszugehen, ihr Verhalten zu ändern, wenn ihnen der Sachverhalt plausibel vermittelt wird. Wenn muslimische Studierende, die den Wunsch vortragen, einen Gebetsraum an ihrer Universität zu erhalten, von Mitgliedern eines Akademischen Senats respektlos behandelt werden, so handelt es sich um intendiertes Verhalten, das entschieden zurückzuweisen ist. Eine intendierte rassistische Alltagsrede darf nicht überhört werden, sondern muss als solche kenntlich gemacht und verurteilt werden. Beim Alltagsrassismus bedarf es der alltäglichen Courage der Zivilgesellschaft, damit rassistische Äußerungen oder abwertende Gesten weder überhört noch übersehen werden. Zum Alltagsrassismus mit Überschneidungen zum institutionellen Medienrassismus zählt auch die Alltäglichkeit des Hasses gegen Muslime im Internet, die Existenz diverser Hass-Blogs beziehungsweise Hass-Mails. Botschaften des Hasses im Internet dürfen nicht länger mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung verwechselt werden, es gilt, die Verpflichtung von Netzbetreibern juristisch durchzusetzen und rassistische Beleidigungen sowie mittel-

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bare und unmittelbare Gewaltandrohungen zu entfernen. Durchzusetzen ist schließlich auch die juristische Verfolgung digitaler Bedrohungen. Die fünfte und letzte Dimension des antimuslimischen Rassismus bilden die narrativen beziehungsweise diskursiven Rassifizierungstechniken. Diskursive Techniken der Rassifizierung dienen dem Prozess der Fremdheitsproduktion, also der Klassifizierung eines Menschen oder einer Gruppe von Menschen als »nicht zugehörig«, als »anders«. Der diskursive Prozess der Produktion von Fremdheit wertet den Sprecher oder Erzähler zumeist auf oder versorgt ihn mit einem Identitätskonstrukt, das ihn vom rassistisch Dominierten positiv abhebt. Gemeint sind Techniken wie beispielsweise Kollektivierung, Generalisierung, Essentialisierung, Naturalisierung, Markierung, Physiognomisierung, Biologisierung, Exotisierung, Sexualisierung und Animalisierung.17 Die Entwicklung von Gegenstrategien bezüglich narrativer Rassifizierungstechniken sollte sich einer komparatistischen, historisch-analytischen Methode bedienen, also die Genese der Muster antimuslimisch-rassistischer Narrative in vergleichender Betrachtung verdeutlichen. Es gilt, narrative Rassifizierungstechniken zu schulen und zum Lehrinhalt an Schulen, Universitäten und sonstigen Bildungseinrichtungen zu machen, mit dem Ziel, dass jede Person derartige Techniken erkennt und verurteilt. Dafür müssen diese Techniken in ihrer Bildhaftigkeit und Textlichkeit präsent sein. Es stellt folglich eine falsche didaktische Methode dar, wenn das Jüdische Museum in Berlin antisemitisches Material in Schubladen verbannt, »damit dieses sich nicht einbrennt«. Vielmehr sollten derartige Materialien pädagogisch gestützt dauerhaft präsent sein, damit man ihre aktuelle Adaption sowie ihren Transfer auf andere Rassismen jederzeit zu dechiffrieren vermag. Im wissenschaftlichen Bereich sollten sich zukünftig kritische Diskursanalysen des antimuslimischen Rassismus verstärkt komparatistischen Ansätzen widmen. Vergleiche sind auf diesem Feld zwischen dem antimuslimischen Rassismus, dem Antisemitismus sowie weiteren Rassismen sowohl in pädagogischer als auch in wissenschaftlicher Hinsicht sinnvoll, um Wechselwirkungseffekte hinsichtlich der Zurückweisung rassistischer Positionen zu erzielen. Bezüglich der Entwicklung von Gegenstrategien ist bei den narrativen Rassifizierungstechniken vor allem ein kritisches Augenmerk auf aktuelle Entwicklungen beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu legen. Im Kontext des antimuslimischen Rassismus sorgt das Narrativ der Generalisierung derzeit für die Etablierung eines Generalverdachts. So forderte zum Beispiel der US-amerikanische Präsident Donald Trump kurze Zeit nach dem Anschlag von San Bernardino ein Einreiseverbot für Muslime in die USA und begründete die »vollständige und komplette Schließung« der US-Grenzen für Muslime mit der 17 Vgl. ausführlich ders., Rassismus, Frankfurt a. M. 2016, S. 133@212, sowie ders., Islamfeindlichkeit in Deutschland, Hamburg 2010.

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Bemerkung, dass »breite Teile der muslimischen Bevölkerung einen großen Hass auf Amerikaner« hätten. Auch in Deutschland erlebt man nach den Ereignissen von Köln in der Silvesternacht ein qualitativ neues Maß an Akzeptanz grundlegender narrativer Rassifizierungstechniken. Entscheidend sei, so sagte Alice Schwarzer bei Markus Lanz im Januar 2016, dass es »Männer aus dem muslimischen Kulturkreis« waren, während die Tagesschausprecherin Susanne Daubner am 14. Januar 2016 zur Silvesternacht in Hamburg, sich auf Polizeiberichte stützend, ausführte: »Insgesamt gebe es acht Tatverdächtige, so das Landeskriminalamt, alle mit Migrationshintergrund.« Dabei akzentuierte sie das Wort »alle« in einer Weise, als beabsichtige sie es bis zu den Akteuren von PEGIDA und Politically Incorrect herüberschallen lassen zu wollen, mit dem Signal ›Seht doch, wir beteiligen uns auch an der rassistischen Markierung und Generalisierung. Wir sind keine Lügenpresse.‹ Nicht nur, dass auf diese Weise rassistische Kräfte Bestätigung wie auch neuen Schub erhalten, es handelt sich auch um einen qualitativen Tabubruch im öffentlich-rechtlichen Raum, der mit mühsam erreichten medienethischen Konsensen in einer Weise bricht, dass aus dem Prinzip, keinen Gebrauch von rassistischer Generalisierung und Markierung zu machen, derzeit ein »aber gerade doch!« wird. Der Journalist Daniel Bax kommentierte diese Entwicklung zu Jahresbeginn 2016 mit folgenden Worten: »Längst vorbei sind auch die Zeiten, in denen es zu den journalistischen Standards gehörte, die Nationalität oder Herkunft von mutmaßlichen Straftätern nicht zu nennen. Im Pressekodex, den sich die im Deutschen Presserat zusammen geschlossenen Medien einmal freiwillig und aus gutem Grund auferlegt haben, heißt es dazu, die Nennung der Religion oder Herkunft der Täter sei nur dann erwähnenswert, wenn es einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Tat gebe.«18

Das Schüren von Ressentiments gegenüber rassistisch Dominierten scheint mittlerweile auch im öffentlich-rechtlichen Raum eher zum guten Ton zu gehören, während Frau Schwarzer zeitgleich suggeriert, dass es einen kausalen Konnex gibt und die Ursache sexualisierter Gewalt »der muslimische Kulturkreis« sei. Strategien gegen den antimuslimischen Rassismus haben in den kommenden Monaten dafür Sorge zu tragen, dass derartige Tabubrüche zurückgekämpft werden, dass insbesondere im öffentlich-rechtlichen Bereich unmissverständliche Tabus gegen narrative Rassifizierungstechniken und kollektivierende Generalisierungen und Markierungen errichtet werden. Hierzu bedarf es auch des verstärkten Engagements kritischer Journalisten sowie demokratischer Medienverbände, um einer humanistischen Medienethik Geltung zu verschaffen. Auf die Frage »Was können wir tun?« von Teilnehmern und Teilnehmerinnen 18 Daniel Bax, »Neue Dimension der Empörung«, taz vom 5. 1. 2016.

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einer Veranstaltung zur Islamfeindlichkeit in Deutschland ließe sich also antworten, dass jeder dort, wo er arbeitet, wohnt und lebt, klare Zeichen gegen den antimuslimischen Rassismus setzen kann. In individuellen Gesprächen und in gesellschaftlich organisierten Diskussionsrunden sollte der antirassistische Gegendiskurs vor allem die funktionelle Seite der rassistischen Spaltung enthüllen. Es sollte verdeutlicht werden, dass der antimuslimische Rassismus nichts mit dem Islam zu tun hat, sodass universitäre Seminare sowie öffentliche Veranstaltungen zum antimuslimischen Rassismus nicht über den Islam diskutieren sollten. Ein Uni-Seminar zum Thema »Islamfeindlichkeit in Deutschland« ist ein Rassismus-Seminar, das gerade nicht den Fehler machen sollte, eine »Islamdebatte« oder eine »Integrationsdebatte« zu führen. Wenn wir über den antimuslimischen Rassismus debattieren, dann sollten wir über den Islam schweigen. Diese anfangs auch für Studierende eher befremdliche Position lässt sich dann sinnvoll vermitteln, wenn der antimuslimische Rassismus als Machtund Herrschaftsverhältnis von seiner funktionalen Seite her analysiert wird. Der Gegendiskurs verfolgt somit die Zielstellung, der Mehrheit der Bevölkerung die Ursachen, das Wesen und die Funktionen des Rassismus in Gestalt der Spielart des antimuslimischen Rassismus zu vermitteln. Der Antirassismus darf, wie verdeutlicht wurde, nicht auf der Ebene des Gegendiskurses verweilen, da er sonst den antimuslimischen Rassismus auf seine ideologische Seite verkürzt. Es gilt vor allem Gegenpraxen zu entwickeln, die am sozialen Umfeld des Aktivisten anknüpfen können. Hochschullehrer sowie muslimische und nichtmuslimische Studenten und Studentinnen könnten sich gemeinsam dafür einsetzen, dass die Hochschule einen Gebetsraum einrichtet oder dass das Fest des Fastenbrechens zum vorlesungsfreien Tag erklärt wird etc. Es ließen sich auf diese Weise Zeichen eines gemeinsamen »Wir« setzen. Jedes aufeinander Zugehen und jedes gemeinsame antirassistische Agieren stellt einen Schritt in Richtung der Überwindung der konstruierten Spaltung in eine vermeintliche Wir- und eine Fremdgruppe dar. Bezüglich des Antirassismus, so sagte die US-amerikanische Kulturanthropologin Ruth Benedict während des Zweiten Weltkrieges, könne jede Person durch jeden Akt des fair play und jedes bisschen Zusammenarbeit und Höflichkeit Zeichen setzen. Der (potenzielle) Antirassist müsse begreifen, dass sein Engagement auch seinen eigenen Interessen diene. Insofern der Rassismus Verhaltensweisen einschließt, gilt es, diesen offensiv Paroli zu bieten, sei es etwa in Gestalt von Anti-PEGIDA-Demonstrationen oder im Ausschalten kirchlicher und öffentlicher Beleuchtungen zum Zeitpunkt antimuslimisch-rassistischer Demonstrationen, in Gestalt von Solidaritätsbekundungen bei Anschlägen auf Moscheen oder muslimische Friedhöfe etc. Rassistische Sprüche dürfen nicht überhört werden und Übergriffen, seien sie verbaler oder nichtverbaler Art, ist mit Zivilcourage zu begegnen. Respektlosigkeiten, mit

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Achim Bühl

denen Muslimen im öffentlichen Leben begegnet wird, sei es bei Behörden, in der Schule oder der Universität, müssen entschieden zurückgewiesen werden. Eine antirassistische Strategie hat schließlich auch an den Strukturen sowie der institutionellen Seite des antimuslimischen Rassismus anzuknüpfen. Mitglieder demokratischer Parteien haben beispielsweise die Möglichkeit, sich dafür einzusetzen, dass antirassistische Positionen zum Inhalt von Wahlprogrammen werden, wie etwa die Abschaffung des Kopftuchverbots sowie des »Racist Profiling«. Lehrer und Lehrerinnen einer Schule oder Dozenten und Dozentinnen einer Universität könnten aktiv werden, um einen Antidiskriminierungsbeauftragten einzusetzen oder zumindest eine Vertrauensperson als Anlaufstelle zu benennen. Personalchefs eines Betriebs könnten dahingehend vorangehen, dass sie das Prinzip anonymer Stellenbewerbungen etablieren, sodass Bewerberinnen, die ein Kopftuch tragen, zumindest die Chance erhalten, zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden. Gebührenzahler des öffentlich-rechtlichen Rundfunks könnten sich bei öffentlichen Fernsehsendern darüber beschweren, dass über ein Jahr lang eine antimuslimisch-rassistische Bewegung wie Pegida seitens der ARD und des ZDF mit dem Adjektiv »islamkritisch« versehen wurde. Mitglieder der Gewerkschaft der Polizei könnten sich dafür einsetzen, dass das Ausmaß islamfeindlicher Gewalt nicht länger im Dunkeln bleibt, und dass bei der Registrierung politisch motivierter Kriminalität endlich eine Rubrik »Islamfeindlichkeit« eingeführt wird. Zu unterstützen und finanziell zu fördern sind schließlich konkrete Initiativen, eingetragene Vereine oder NGOs, die sich der Aufgabe widmen, den antimuslimischen Rassismus zu analysieren, zu erfassen sowie diesen durch die Stärkung der Zivilgesellschaft zu bekämpfen.

Literatur Arani, Aliyeh Yegane, Antimuslimischer Rassismus und Islamfeindlichkeit in Deutschland. Alternativbericht zum 19.–22. Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland nach Artikel 9 des internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form der »Rassen«diskriminierung (ICERD), Berlin 2015. Bühl, Achim, Islamfeindlichkeit in Deutschland, Hamburg 2010. Ders., Rassismus. Anatomie eines Macht- und Herrschaftsverhältnisses, Frankfurt a.M. 2016. Ders., Antimuslimischer Rassismus, in: Heidi Beutin, Wolfgang Beutin, Heinrich BleicherNagelsmann (Hrsg.): »Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen«. Vom Mythos Morgenland zur Wirklichkeit, Mössingen 2013, S. 21–48. Deutsche Islam Konferenz (Hg.), Tagungsband Muslimfeindlichkeit – Phänomen und Gegenstrategien. Beiträge der Fachtagung der Deutschen Islam Konferenz am 4. und 5. Dezember 2012 in Berlin, Berlin 2013.

Strategien gegen den antimuslimischen Rassismus

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Yigit, Nuran, Netzwerk gegen Diskriminierung von Muslimen, in: Tagungsband Muslimfeindlichkeit – Phänomen und Gegenstrategien. Beiträge der Fachtagung der Deutschen Islam Konferenz am 4. und 5. Dezember 2012 in Berlin, Berlin 2013.

Yasemin El-Menouar

Der Islam im Diskurs der Massenmedien in Deutschland

Die Ablehnung des Islam nimmt in Deutschland weiterhin zu. Im Jahr 2012 sah bereits eine Mehrzahl der nichtmuslimischen Mehrheitsbevölkerung im Islam eine Bedrohung. Dieser Anteil ist innerhalb von drei Jahren von 53 % auf 57 % gestiegen. Noch deutlicher zugenommen hat die Ansicht, der Islam passe nicht in die westliche Welt. Stimmten 2012 der im »Religionsmonitor« Befragten zu 52 % dieser Aussage zu, so waren es 2015 bereits 61 %.1 Dem negativen Meinungsklima stehen die positiven Entwicklungen innerhalb der Lebenswelten der muslimischen Bevölkerung in Deutschland diametral entgegen.2 So stimmen 90 % der hoch religiösen sunnitischen Muslime in Deutschland heute der Aussage zu, dass die Demokratie eine gute Regierungsform sei. Dies entspricht auch dem Zustimmungsgrad der mittel und weniger religiösen Sunniten. Die Zustimmung zu dem Satz, man sollte allen Religionen gegenüber offen sein, beträgt bei den im »Religionsmonitor« befragten hoch religiösen sunnitischen Muslimen 93 %. Die religiöse Vielfalt in der deutschen Gesellschaft empfinden 68 % der hoch religiösen, 71 % der mittel und 75 % der wenig religiösen Sunniten als Bereicherung. 90 % der Muslime in Deutschland haben regelmäßig Freizeitkontakte zu Menschen anderer Religionszugehörigkeit, und rund 60 % verfügen über mehr Freizeitkontakte außerhalb als innerhalb ihrer Religion.3

1 Stephan Vopel/Yasemin El-Menouar, Religionsmonitor – Sonderauswertung Islam 2015, Gütersloh 2015, S. 7f. Vgl. Kai Hafez/Sabrina Schmidt, Die Wahrnehmung des Islams in Deutschland, Gütersloh 2014. 2 Vgl. Dirk Halm/Sabine, Sauer, Lebenswelten deutscher Muslime, Gütersloh 2014. Die im März 2012 im Auftrag des Bundesinnenministeriums veröffentlichte Studie »Lebenswelten junger Muslime in Deutschland« zeichnete ein deutlich schlechteres Bild der Muslime. Die Stichprobe war allerdings so klein, dass die Interpretation der Daten in der Öffentlichkeit zu Recht heftig kritisiert worden ist. 3 Stephan Vopel/Yasemin El-Menouar, Religionsmonitor, a. a. O., S. 4; vgl. auch dies., »Muslime in Deutschland sind nicht anti-westlich eingestellt, im Gegenteil«, 2016, Tagesspiegel Causa, URL: https://goo.gl/DifuUS (letzter Zugriff: 27. 03. 2016).

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Yasemin El-Menouar

Verlauf der medialen Berichterstattung

Der Befund, dass Wahrnehmung und Realität oft weit auseinanderliegen, verweist auf die Dimension der »sozialen Konstruktion von Wirklichkeit«4. Wir steuern unsere Wahrnehmung der komplexen Wirklichkeit über Selektionsstrukturen und kommen darüber zu gemeinsam geteilten Annahmen. In diesem Prozess der Komplexitätsreduktion übernehmen die Massenmedien eine wichtige Rolle, denen die gesellschaftliche Aufgabe zukommt, Themen zur öffentlichen Kommunikation herzustellen und bereitzustellen.5 Es gibt mittlerweile eine Vielzahl von Studien, die sich mit der deutschen Medienberichterstattung über Muslime und den Islam auseinandersetzen.6 In der Phase der Arbeitsmigration aus der Türkei nach Deutschland bis in die 1970er-Jahre fand der Islam noch kaum Aufmerksamkeit. Erst mit der Islamischen Revolution im Iran 1979 und der Fatwa gegen Salman Rushdie 1989 entdeckten die Medien in einer Art Wellenbewegung den Islam – und zwar in seiner extremistischen Variante. Mitte der 1990er-Jahre waren sich Medien, Sozialwissenschaften und Politik dann weitgehend darin einig, dass der Islam eine »Integrationsbremse« für Migranten sei.7 Von Anfang an war die Berichterstattung über Themen mit Islambezug fast ausschließlich negativ konnotiert. In der Folge der Terroranschläge vom 11. September 2001 und des Streits um die Mohammed-Karikaturen in der dänischen Tageszeitung »Jyllands-Posten« im Jahr 2005 rückte der Islam auf der Medienagenda weit nach oben. Gleichzeitig wurde er zunehmend mit Terror, Krieg und Konflikten assoziiert. Laut einer aktuellen Studie des »Media Tenor Instituts« erreichte das negative Medienimage des Islam im Konfliktjahr 2014 mit 80 % negativer Berichterstattung einen Tiefstand.8 4 Peter L. Berger/Thomas Luckmann, The social construction of reality. A treatise in the sociology of knowledge, New York 1967. 5 Vgl. Manfred Rühl, Journalismus und Gesellschaft. Bestandsaufnahme und Theorieentwurf, Mainz 1980, S. 319ff. 6 Vgl. Tim Karis, Mediendiskurs Islam: Narrative in der Berichterstattung der Tagesthemen 1979–2010, Wiesbaden 2013; Kai Hafez (Hg.), Arabischer Frühling und deutsches Islambild: Bildwandel durch ein Medienereignis?, Berlin 2013; Janis Brinkmann, Ein Hauch von Jasmin. Die deutsche Islamberichterstattung vor, während und nach der Arabischen Revolution. Eine quantitative und qualitative Medieninhaltsanalyse, Köln 2015. 7 Irmgard Pinn, Muslimische Migranten und Migrantinnen in deutschen Medien, in: Gabriele Cleve et al. (Hg.), Wissenschaft – Macht – Politik. Siegfried Jäger zum 60. Geburtstag, Münster 1997, S. 215–234, 216ff. 8 Media Tenor (URL: http://mediatenor.com) hat 265 950 Berichte über religionspolitische Akteure sowie 5141 Berichte über den Islam, die katholische und die evangelische Kirche in 19 deutschen TV-, Radio- und Printmedien vom 1. 12. 2013 bis 15. 12. 2014 ausgewertet. In einer zweiten Studie wurden 509 618 Berichte über religionspolitische Akteure in 20 internationalen TV-Nachrichten im Jahr 2014 ausgewertet, davon 8359 über muslimische Protagonisten.

Der Islam im Diskurs der Massenmedien in Deutschland

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Es spricht einiges dafür, dass die andauernde Islam-Gewalt-Debatte vor dem Hintergrund des Daesh-Terrors und der Anschläge in Paris und Brüssel das negative Islambild in den deutschen Medien weiter zementiert hat. So widmeten sich zwischen Juni 2014 – dem Auftauchen des Daesh in den Schlagzeilen deutscher Massenmedien – und Januar 2015 – den Terroranschlägen auf »Charlie Hebdo« und den koscheren Supermarkt »Hyper Cacher« an der Porte de Vincennes in Paris – 26 Sendungen der sechs Polit-Talkshows des öffentlich-rechtlichen Fernsehens dem Islam. Ausnahmslos brachten die Sendungstitel den Islam mit Terror, Gewalt, Krieg, Hass, Angst und Gefahr in Zusammenhang.9 Nicht zuletzt hat die schon seit Längerem in der Kritik stehende Berichterstattung über Konflikte, Krisenherde und Kriege in muslimischen Ländern entscheidend zur Verzerrung des Islambildes in den Medien beigetragen. So berichtete Birgit Svensson, die einzige noch zu diesem Datum verbliebene deutsche Korrespondentin im Irak, dem Medienmagazin »Journalist« im August 2014: »Mit dem Abzug der US-Streitkräfte aus dem Irak waren auch fast alle Reporter aus Bagdad verschwunden.«10 Beiträge, die sie deutschen Medien angeboten habe, seien immer wieder mit dem Hinweis abgelehnt worden, die Lage im Irak spiele keine Rolle mehr. Stattdessen verbreiteten deutsche Medien dann ab Juni 2014 massenhaft die Propagandabilder der Daesh-Milizen und ihrer Gräueltaten. Bilder vom Kriegsalltag der Muslime in Syrien hätten dagegen keine Chance gehabt, schreibt der Fotograf Felix Koltermann.11 Über die in den Medien transportierten Gewaltbilder und den unreflektierten Gebrauch von Begriffen wie »Islamischer Staat«, »Gotteskrieger« und »Gottesstaat« wurde dem Zerrbild eines gewalttätigen Islam Vorschub geleistet, wie es bei den PEGIDA-Demonstrationen seit Oktober 2014 regelmäßig auf die Straße getragen wird. In diesem Zerrbild des Islam erscheinen nichtreligiöse Attribute wie »fanatisch«, »intolerant« oder »undemokratisch« plötzlich als »islamtypisch« konnotiert. Umgekehrt werden islamische Begriffe wie »Scharia«, »Dschihad« oder »Koran« aus ihrem religiösen Zusammenhang gerissen und in den Kontext von Politik, Gewalt und Terror übersetzt. Über solche sprachlichen Verschiebungen kann sich dann ein Deutungsrahmen des Islam ausbilden und verankern, der bestimmte Ideen und Schlussfolgerungen als besonders nahe-

9 Jörg Marx, Dokumentation ausgewählter religionspolitischer Debatten, Akteure, Positionen und Hintergründe in Deutschland seit 2010 (unveröffentlichte Expertise im Auftrag der Bertelsmann Stiftung), Gütersloh 2015, S. 119f. 10 Zitiert in Petra Sorge, »Sind wir Kriegstreiber?«, in: Cicero, 14. August 2014, URL: http://cice ro.de/aussenpolitik/irak-gaza-und-ukraine-blasen-deutsche-medien-zur-kriegspropaganda/ 58067 (letzter Zugriff: 29. 09. 2017). 11 Felix Koltermann, »Terror im Rampenlicht. Mediale Inszenierung und Bildpolitik des IS«, 2015, URL: http://de.qantara.de/node/19805 (letzter Zugriff: 26. 03. 2016).

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liegend aufdrängt und dazu tendiert, die Realität muslimischer Lebenswelten zu verdrängen.12 Vom Zerrbild zum Feindbild ist es nur ein kleiner Schritt. In der PEGIDASprache wird der Islam mit Eigenschaften wie menschenverachtend, frauenfeindlich, tierquälerisch, rückständig, gewaltverherrlichend und barbarisch weiter negativ aufgeladen und in einen unmittelbaren Zusammenhang mit »Flüchtlingswellen, Ausländerkriminalität, Terror, sexueller Unterdrückung« bis hin zu »Nationalsozialismus und Völkermord an den Deutschen« gerückt.13 Was sich hier Bahn bricht, ist die Ideologie der »Neuen Rechten«, die bereits seit Ende der 1990er-Jahre mit dem Kampfbegriff der »Islamisierung Europas« versucht, der Demokratie die Kapitulation vor dem Islam zu unterstellen und sie dadurch zu diskreditieren. Die negative Medienagenda zum Islam spielt dabei den Neuen Rechten in die Hände, denen es gelang, ein in Deutschland extrem islamfeindliches Milieu zu etablieren, das bis weit in bürgerliche Schichten reicht.14 Die PEGIDA-Demonstrationen mit bis zu 25 000 Teilnehmern (am 15. Januar 2015 in Dresden) machten dieses von Rassismus und antimuslimischem Ressentiment geprägte Milieu in der breiten Öffentlichkeit schließlich sichtbar. Journalisten sahen sich plötzlich damit konfrontiert, ein Phänomen mitgeschaffen zu haben, auf das sie reflexartig mit lautstarker Empörung reagierten.15 Die überbordende mediale Aufmerksamkeit – für die Zeit zwischen Oktober 2014 und April 2015 verzeichnete »Google News« 193 000 Print- und OnlineBeiträge deutscher Medien – trug zur Verbreitung des zunächst lokalen Phänomens bei. Auf dem Höhepunkt der Proteste ab Mitte Dezember 2014 äußerte rund die Hälfte der Befragten in Meinungsumfragen Verständnis für PEGIDA.16 Der medialen Erregung folgte schnell die Normalisierung: Die PEGIDA-Veran12 Vgl. Elisabeth Wehling, »Warum Medien und Politik umgehend den Islamischen Staat und Islamophobie abschaffen sollten«, 2015, URL: http://www.carta.info/77815 (letzter Zugriff: 27. 03. 2016). 13 Hannes Bajohr/Gregor Weichbrodt, Glaube Liebe Hoffnung: Nachrichten aus dem christlichen Abendland, Raleigh NC 2015. Die Autoren stellten 282 596 Kommentare der PEGIDAFacebookseite zwischen Dezember 2014 und Februar 2015 zu einem 7 751 654 Wörter umfassenden Textkorpus der »PEGIDA-Sprache« zusammen, um so ein Abbild der Kommunikation zu schaffen. 14 Vgl. Yasemin El-Menouar, Islam als Etikett: Wie sich Rechtspopulisten ein medial produziertes Narrativ zunutze machen, in: Bertelsmann Stiftung (Hg.), Vielfalt statt Abgrenzung – Wohin steuert Deutschland in der Auseinandersetzung um Einwanderung und Flüchtlinge?, Bielefeld 2016. 15 Vgl. Kai Hafez/Malte Daniljuk, »Der Islam wird gar nicht mehr als Religion angesehen«, 2014, URL: http://www.heise.de/tp/artikel/43/43808 (letzter Zugriff: 26. 03. 2016). 16 In einer Emnid-Umfrage für den Fernsehsender N24 äußerten 53 % der Ostdeutschen und 48 % der Westdeutschen Verständnis für die PEGIDA-Demonstrationen. Die ZEITermittelte über das Meinungsforschungsinstitut »YouGov« ähnliche Werte: 30 % der Befragten hatten »volles Verständnis«, 19 % »eher Verständnis«.

Der Islam im Diskurs der Massenmedien in Deutschland

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staltungen wurden im medialen Mainstream dann schließlich als »normaler Straßenprotest besorgter Bürger« verbucht. Der aktuelle »Religionsmonitor« – die Umfrage wurde nach den ersten PEGIDA-Umzügen im November 2014 durchgeführt – kommt dann auch zu dem Fazit: »Islamfeindlichkeit ist keine gesellschaftliche Randerscheinung, sondern findet sich in der Mitte der Gesellschaft. Islamfeindlichkeit als salonfähiger Trend kann zur Legitimation diskriminierender und ausgrenzender Verhaltensweisen gegenüber einer Minderheit genutzt werden.«17

2

Neuere Islam-Debatten im Mediendiskurs

Zwar haben die Massenmedien einen wesentlichen Einfluss auf die öffentliche Kommunikation, jedoch – das zeigt auch die internationale Agenda-Forschung zum Islam – haben sie weder ein Monopol für die Agenda-Setzung noch sind sie völlig frei in der Agenda-Bildung durch Selektion, Hervorhebung und Auslassung (»Second-Level-Agenda-Setting«).18 Auch die Medien sind an diskursive Regeln gebunden. So etwa orientieren sich die Selektion und Transformation von Nachrichten vor allem an den Aufmerksamkeitsschwellen des Publikums, die überschritten werden müssen, um Anschluss finden zu können. Zudem ist der Prozess der Agenda-Setzung und Agenda-Bildung keine Einbahnstraße; vielmehr stehen die Massenmedien in einer reziproken Beziehung zu politischen und korporativen Akteuren sowie zunehmend auch zu sozialen Online-Netzwerken. Politiker und Verbandsvertreter wiederum sind heute auf die medial vermittelte Kommunikation angewiesen; sie unterliegen dem Zwang zur »Mediatisierung«, das heißt zur Vereinfachung, Verknappung und theatralischen Inszenierung ihrer Argumente. Dabei bemisst sich der Aufmerksamkeitswert von Argumenten in medialen Debatten mehr an deren Plausibilität, weniger an ihrem Informationsgehalt und ihrer Schlüssigkeit. Ihre Wirkungsmacht entfalten die Argumente erst durch den nicht expliziten Subtext, der ein Bild vom Gegenstand (hier vom Islam) entstehen lässt, welches vom Publikum mitverstanden wird.19 17 Stephan Vopel/Yasemin El-Menouar, Religionsmonitor, a. a. O., S. 3. 18 Vgl. Brian Bowe/Shahira Fahmy/Jörg Matthes, »Moving Beyond the Religion Next Door: Valence in News Framing of Islam«, in: Newspaper Research Journal, 36(1/2015), S. 42–57; Sofia Hayati Yusof et al., »The framing of international media on Islam and Terrorism«, in: European Scientific Journal, 9 (8/2013), S. 104–121. Sara Jul Jacobsen et al., »Analysis of Danish Media setting and framing of Muslims, Islam and racism«, 2012, The Danish National Centre for Social Research, URL: http://goo.gl/TZzTIb (letzter Zugriff: 24. 03. 2014). 19 Vgl. Daniela Wehrstein, Deutsche und französische Pressetexte zum Thema Islam. Die Wirkungsmacht impliziter Argumentationsmuster, Berlin/Boston 2013.

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Yasemin El-Menouar

Um einen Überblick über die religionspolitischen Debatten der letzten Jahre zu gewinnen, gab die »Bertelsmann-Stiftung« eine Expertise in Auftrag.20 Für die Zeit zwischen Dezember 2009 und Mai 2015 wurden zunächst 17 verschiedene Debatten mit einer Medienresonanz von mehr als 100 Beiträgen und einer Dauer von mindestens vier Wochen identifiziert. Zwölf der Debatten haben einen unmittelbaren Islambezug; fast drei Viertel der insgesamt knapp 40 000 Debattenbeiträge thematisieren den Islam. Debatte Islamkritik-Debatte Sarrazin-Debatte

Anfang Dezember 2009 August 2010

Ende Mai 2010 November 2010

Islamophobie-Debatte Staat-Religion-Debatte

Dezember 2010 Oktober 2010

Januar 2011 September 2011

602 7650

Salafisten-Debatte Beschneidungsdebatte

April 2012 Mai 2012

August 2012 Oktober 2012

2150 1680

Blasphemie-Debatte Monotheismus-Gewalt-Debatte

Juni 2012 Januar 2013

September 2012 September 2013

431 106

Schwimmunterrichtsdebatte Kontroverse um Kirchenvermögen

April 2013 Oktober 2013

September 2013 November 2013

614 1780

Islam-Gewalt-Debatte Streit um PEGIDA

August 2014 Dezember 2014

November 2014 Januar 2015

8920 1940

Reaktionen auf Pariser Anschläge Kirchenasyl-Debatte

Januar 2015 Januar 2015

Januar 2015 Februar 2015

6230 899

Beiträge 2130 2690

Kippa-Debatte Februar 2015 März 2015 793 Kopftuchurteil-Debatte März 2015 April 2015 900 Notger-Slenczka-Debatte April 2015 Mai 2015 234 Religionspolitische Debatten in Deutschland und ihre Medienresonanz (in Google-News verzeichnete Print- und Online-Beiträge deutscher Medien) zwischen Dezember 2009 und Mai 201521

Im zweiten Schritt folgten die Dokumentation und die Analyse der einzelnen Debatten auf der Datenbasis von 604 nach Relevanzkriterien ausgesuchten Quellen. Den theoretischen Hintergrund bildeten diskursanalytische Überlegungen: Die zentrale Eigenschaft von Diskursen ist es, die Wirklichkeit durch Aussagen-Diskurs-Filter zu strukturieren und in bestimmter Weise zu problematisieren. Debatten finden also nicht im luftleeren Raum statt, sondern schließen immer an ein in Diskursen bereits arrangiertes Wissen an und werden durch Diskursregeln beschränkt. Durch die Verschränkung und Rekombination von (ihrerseits per se immer diskursiv geprägten) Aussagen wirken Debatten 20 Jörg Marx, Dokumentation ausgewählter religionspolitischer Debatten, a. a. O. 21 Ebd., S. 6.

Der Islam im Diskurs der Massenmedien in Deutschland

175

aber zugleich auf die diskursiven Grenzen des Sagbaren im öffentlichen Raum zurück und modifizieren laufend die Diskursregeln.22 Betrachtet man nun die untersuchten Debatten mit einem unmittelbaren Bezug zum Islam, so lassen sich drei Diskursfelder unterscheiden.

2.1

Diskursfeld »Integration«

Islam, Integration und Extremismus bilden seit der Mitte der 1990er-Jahre ein festgefügtes Begriffsensemble. Die angebliche Affinität ihrer Religion zum Extremismus problematisiert nicht nur die Integrationsfähigkeit von Muslimen, sondern unterstellt grundsätzlich auch deren Integrationsbedürftigkeit. Das Feindbild »Islam« lasse sich nicht integrieren, lautet das im Hintergrund stehende Narrativ. Im Vorwort ihres mitten in der Sarrazin-Debatte erschienenen Buches »Die große Verschleierung: Für Integration, gegen Islamismus« schreibt Alice Schwarzer fünf Jahre vor PEGIDA: »Das wahre Problem ist die systematische Unterwanderung unseres Rechtssystems mit dem Ziel der ›Islamisierung‹ des Westens, im Klartext: die Einführung der Scharia mitten in Europa.«23

Damit wird ein hierarchisches Gefälle zwischen Nichtmuslimen und Muslimen konstruiert: Nichtmuslime definieren, was über den Islam sagbar ist und was nicht; Muslime sehen sich demgegenüber gezwungen, ihre »gelungene Integration« laufend unter Beweis stellen zu müssen.24 Im Zentrum der SarrazinDebatte steht die Frage, wie eine solche gelungene Integration auszusehen hat. Sarrazin selber spricht von einer allgemeinen Rückständigkeit der »islamischen Kultur«, die sich negativ auf die Leistungsfähigkeit Deutschlands auswirke. Es gebe »keine Methode, diese Leute vernünftig einzubeziehen«, sodass eine »fortwährende negative Auslese« stattfinde. Sarrazin fordert das »Auswachsen« von »etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung, die nicht ökonomisch gebraucht werden«. In diesem Zusammenhang schlägt er die Streichung von Transferleistungen für Ausländer aus der »Unterschicht« vor: »Integration ist eine Leistung dessen, der sich integriert. Jemanden, der nichts tut, muss ich auch nicht anerkennen. Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue 22 Vgl. Michel Foucault, L’ordre du discours. LeÅon inaugurale au CollHge de France pronc8e le 2 d8cembre 1970, Paris 1971. 23 Alice Schwarzer (Hg.), Die große Verschleierung: Für Integration, gegen Islamismus, Köln, 2011, S. 15. 24 Vgl. Levent Tezcan, Das muslimische Subjekt. Verfangen im Dialog der Deutschen Islamkonferenz, Konstanz 2012.

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kleine Kopftuchmädchen produziert. Das gilt für siebzig Prozent der türkischen und neunzig Prozent der arabischen Bevölkerung in Berlin.«25

In der Debatte spielen Sarrazins Person und sein kruder Biologismus schon nach kurzer Zeit keine Rolle mehr, bleiben aber nicht ohne Wirkung für das diskursive Sagbarkeitsfeld. Im Verlauf der Debatte werden Grundannahmen und Überzeugungen aus den unterschiedlichen Bereichen von Kultur, Religion, Nützlichkeit, Integration und Verwertung in einen engen Zusammenhang gestellt. Über die Einteilung in »erfolgreicher« versus »unnützer Migrant« wird die von Sarrazin hergestellte Kopplung von »Rassismus und Leistungsideologie« letztlich normalisiert.26 Selbst der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff lässt seinem Satz »Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland«, mit dem er sich in die SarrazinDebatte einschaltete, eine ökonomische Begründung folgen: »Im Wettbewerb um kluge Köpfe müssen wir die Besten anziehen und anziehend sein, damit die Besten bleiben.«27 Damit verzahnt sich die Integrationsdebatte mit der Debatte um Einwanderung, die der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer im Nachrichtenmagazin FOCUS mit einer »Kampfansage an Schmarotzer und Zuwanderer« eröffnet: »Es ist doch klar, dass sich Zuwanderer aus anderen Kulturkreisen wie aus der Türkei und arabischen Ländern insgesamt schwerer tun.«28 Der die Debatte durchziehende Kampf um die Definitionsmacht über die Kategorien »Islam« und »Muslime« verweist nicht zuletzt auf das Wechselspiel von sozialer Zuschreibung und Selbstbeschreibung. Dieses Wechselspiel wird im Begriff der »deutschen Leitkultur« greifbar, der in der Sarrazin-Debatte wieder aufgegriffen, nun aber ins Religiöse gewendet wird. Immer wieder ist von einer »christlich-abendländischen«, ja gar einer »christlich-jüdischabendländischen« Leitkultur die Rede. Bereits im Vorfeld der Debatte waren eine neue religiöse Selbstbehauptung in der Politik und eine Renaissance religiöser Kategorien zu beobachten. So hat das religiöse Bekenntnis mittlerweile selbst in den traditionell kirchenfernen Parteien SPD und FDP Konjunktur. Dabei besteht die deutliche Tendenz, das Christentum als eine Religion der Nächstenliebe und der Menschenrechte zu

25 Frank Berberich, Thilo Sarrazin im Gespräch: Klasse statt Masse. Von der Hauptstadt der Transferleistung zur Metropole der Eliten, in: Lettre International, 86 (2009), S. 197–201, 199. 26 Sebastian Friedrich (Hg.), Rassismus in der Leistungsgesellschaft. Analysen und kritische Perspektiven zu den rassistischen Normalisierungsprozessen der ›Sarrazindebatte‹, Münster 2011, S. 8–38, 14f. 27 Vielfalt schätzen – Zusammenhalt fördern, Rede von Bundespräsident Christian Wulff zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2010 in Bremen, S. 5f., URL: http://goo.gl/ 54fvHj (letzter Zugriff: 27. 03. 2016). 28 FOCUS, 9. 10. 2010, URL: http://goo.gl/mGa1o9 (letzter Zugriff: 27. 03. 2016).

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idealisieren und in Abgrenzung dazu den Islam mit Fanatismus und Gewaltbereitschaft zu assoziieren.29 Diese symbolische Grenzziehung wird in der Debatte nach dem öffentlichen Auftreten salafistischer Gruppen bei Koranverteilungsaktionen ab Oktober 2011 bekräftigt. Der Salafist erscheint im Licht der medialen Aufmerksamkeit plötzlich als das typische muslimische Subjekt – rückständig und gefährlich. Die Debatte um den Salafismus wird denn auch vom Vokabular der Kriminalistik beherrscht. Die Integrationsfrage gerät zur Sicherheitsfrage, und der Islam erscheint als eine Religion, die besonderer staatlicher Aufmerksamkeit bedarf. Das Radikalisierungs- und Gewaltproblem von Religion, um das es in der Salafismus-Debatte vordergründig geht, bleibt indes merkwürdig diffus und erscheint als ein islamtypisches Problem. Zeitgleich wird das Verhältnis von Religion und Gewalt am Rand des Mainstream der Medien umso erhellender diskutiert.30 Folgt man Jan Assmanns »Monotheismus-These«, dann haben alle drei monotheistischen Religionen theologisch und historisch ein Gewaltproblem – und eben nicht nur der Islam. Die eigentliche Frage ist demnach, wie dieses Gewaltpotenzial zugunsten der gleichfalls allen drei Religionen inhärenten Friedenspotenziale einzudämmen sei.31

2.2

Diskursfeld »Islamfeindlichkeit«

Schaut man auf die anderen medialen Islam-Debatten, so fehlt es meist an religiöser Substanz. Unter dem Islam-Etikett werden fast ausschließlich integrations-, einwanderungs- und sicherheitspolitische Fragen verhandelt. Der Islam in Deutschland findet sich damit in einer Lage diskursiver Umzingelung wieder, die ihn als Religion fast gänzlich zum Verschwinden gebracht hat. Die Mediendebatten sind von kulturalistischen Fehlschlüssen und essentialistischen Argumentationen geprägt, die das vielschichtige Spektrum islamischer Strömungen und Lebenswelten auf eine quasi unveränderliche, homogene Kultur reduzieren. Gegen ein solches statisches, überzeitliches »System Islam«32 das notwendige Eigenschaften besitzt, lässt sich als Zielscheibe dann leicht Stellung beziehen. 29 Vgl. Jörg Marx, Dokumentation ausgewählter religionspolitischer Debatten, a. a. O., S. 42ff. 30 Die Beiträge der Monotheismusdebatte versammelt Rolf Schieder, Die Gewalt des einen Gottes. Die Monotheismusdebatte zwischen Jan Assmann, Micha Brumlik, Rolf Schieder, Peter Sloterdijk und anderen, Berlin 2014. 31 Vgl. Weingardt, Markus A., RELIGION MACHT FRIEDEN. Das Friedenspotential von Religionen in politischen Gewaltkonflikten, Stuttgart 2012. 32 Necla Kelek, »Der Islam schreibt ganz klar vor, dass der Mann über der Frau steht«, in: Deutschlandfunk, 15. 01. 2016, URL: http://www.deutschlandfunk.de/soziologin-neclakelek-der-islam-schreibt-ganz-klar-vor.694.de.html?dram:article_id=342507 (letzter Zugriff: 29. 09. 2017).

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Eben dies passiert durch mehrere Debatten hindurch unter dem Label der »Islamkritik«.33 Dabei geraten jene »Islamkritiker« oft genug – ob bewusst oder ob ungewollt – in eine »diskursive Komplizenschaft« mit islamistischen Fundamentalisten und neurechten Ideologen, die ebenfalls der Vorstellung von »dem Islam« als einer überzeitlichen Größe anhängen und essentialistische Positionen beziehen.34 Begriffe und Argumentationsmuster wandern zwischen den scheinbar so unterschiedlichen Gruppen hin und her und hinterlassen »verbrannte Erde«, auf der die Grenzen zwischen vermeintlicher religionskritischer Aufklärung und tatsächlicher kulturkämpferischer Spaltung verschwimmen. Und letztlich tragen die PEGIDA-Demonstranten dieses Gemenge von Argumenten auf die Straße. Die in den massenmedialen Debatten häufig polemisch vorgetragene »Islamkritik« hat an einer Kritik in der Regel so wenig Interesse wie die meisten Islam-Debatten am Islam. Es geht dieser Form der Islamkritik in erster Linie um die Inszenierung negativer Werturteile, welche ein antimuslimisches Ressentiment bis hin zur offenen Islamfeindlichkeit anfachen. Dabei erweist sich der Grat zwischen Islamkritik und Islamhetze oft als sehr schmal.

2.3

Diskursfeld »Religionsausübung«

Eine dritte Gruppe neuerer Debatten zum Islam thematisiert konkrete Fragen der Religionsausübung und Bekenntnisfreiheit von Muslimen – die positive Religionsfreiheit. Außer Frage steht, dass sich die religionsrechtliche Praxis den gewandelten Verhältnissen anpassen muss. Jahrzehntelang war das Religionsrecht in Deutschland davon geprägt, dass weit mehr als 90 % der (West-)Deutschen einer der beiden »Großkirchen« angehörten. Deren Anteil ist von 93,7 % im Jahr 1970 auf 58,4 % Ende 2013 gesunken. Gleichzeitig gibt es seit den 1980erJahren erstmals in Deutschland tatsächlich – der Zahl als auch dem Anspruch nach – einen religiösen Pluralismus: Rund vier Millionen Muslime leben hierzulande. Zudem hat sich die Zahl der Mitglieder jüdischer Gemeinden von 27 561 im Jahr 1985 auf aktuell 100 437 fast vervierfacht.35 Insbesondere die Rechtsprechung der obersten Gerichte hat als Motor der Fortentwicklung des Religionsrechts gewirkt. Mit den in den Jahren 2002 und 2003 ergangenen Urteilen zum rituellen Schächten und zum Tragen des Kopftuchs im Schuldienst beschäftigten sich dann die obersten Gerichte erstmals mit 33 Vgl. Heiner Bielefeldt, Entgleisende Islamkritik. Differenzierung als Fairnessgebot, in: Hendrik Meyer/Klaus Schubert (Hg.): Politik und Islam, Wiesbaden 2011, S. 135–144. 34 Aziz Al-Azmeh, Die Islamisierung des Islam. Imaginäre Welten einer politischen Theologie, Frankfurt a.M./New York 1996, S. 7. 35 Jörg Marx, Dokumentation ausgewählter religionspolitischer Debatten, a. a. O., S. 42, 71, 86.

Der Islam im Diskurs der Massenmedien in Deutschland

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der Religionsfreiheit der muslimischen Minderheit. Insbesondere das neue Kopftuchurteil des Bundesverfassungsgerichts vom Mai 2015, aber auch das im Dezember 2012 verabschiedete Beschneidungsgesetz zeigen einen Trend der Rechtsentwicklung hin zur Inklusion von religiösen Minderheiten und zur Anerkennung von Religion »als rechtlich geschützter Identitätskategorie«36. Die die höchstrichterlichen Urteile begleitenden Debatten werden seit jeher besonders emotional geführt. Dies gilt vor allem für den seit 1998 vor deutschen Gerichten ausgetragenen Kopftuchstreit.37 Dabei werden die Debatten um die Religionsausübung vor allem durch antireligiöse Vorbehalte emotional aufgeladen, etwa wenn das Kopftuch als »militante Kampfansage an die Werte unseres Grundgesetzes«38, als »Flagge des Islamismus«39, als »Symbol der Minderwertigkeit der Frauen«40 oder »der Desintegration«41 ausschließlich negativ gewertet wird. Dagegen werden die Geschichte des islamischen Feminismus oder die Lebenswelt eines jungen, selbstbewusst-weiblichen Islam ausgeblendet.42 Die Einseitigkeit der Diskussion zeigt, dass es in erster Linie um symbolische Grenzziehungen durch Ausgrenzung, Stigmatisierung und Diskriminierung geht. Ähnlich emotional verläuft die Beschneidungsdebatte im Jahr 2012, die durch ein Berufungsurteil des Kölner Landgerichts ausgelöst wird. Die Entscheidung, mit der ein Angeklagter wegen Verbotsirrtums freigesprochen worden und gegen die Staatsanwaltschaft nicht in Revision gegangen war, findet auf Umwegen in die Öffentlichkeit. Erst Wochen später wird eine heftige Debatte ausgelöst, wobei von Anfang an der Eindruck entsteht, dass die rituelle Beschneidung von Jungen, die in Deutschland immer schon gängige Praxis und unproblematisch war, durch ein Berufungsurteil eines Landgerichts inzwischen verboten worden 36 BVerfG, 27. 01. 2015, 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10. 37 Vgl. GökÅe Yurdakul/Anna C. Korteweg, Kopftuchdebatten in Europa. Konflikte um Zugehörigkeit in nationalen Narrativen, Bielefeld 2016. 38 Friedrich Kardinal Wetter, zitiert in dpa/DW, »Für Stoiber ist das Kopftuch mit Demokratie unvereinbar«, in: Die WELT, 31. 12. 2003, URL: https://www.welt.de/print-welt/article 283185/Fuer-Stoiber-ist-das-Kopftuch-mit-Demokratie-unvereinbar.html (letzter Zugriff: 29. 09. 2017). 39 Alice Schwarzer, »Die Islamisten meinen es so ernst wie Hitler«, in: FAZ, 04. 07. 2006, URL: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/alice-schwarzer-im-interview-die-islamistenmeinen-es-so-ernst-wie-hitler-1358511.html (letzter Zugriff: 29. 09. 2017). 40 Chahdortt Djavann, »Kopftuch ist wie gelber Stern«, in: die tageszeitung, 24. 01. 2004, URL: http://www.taz.de/!802089/ (letzter Zugriff: 29. 09. 2017). 41 Seyran Ates¸, »Das Kopftuch als Symbol der Desintegration«, Berlin: Bundeszentrale für politische Bildung 2007, URL: http://www.bpb.de/mediathek/320/das-kopftuch-als-symbolder-desintegration (letzter Zugriff: 29. 09. 2017). 42 Vgl. Reyhan Sahin, Die Bedeutung des muslimischen Kopftuchs. Eine kleidungssemiotische Untersuchung muslimischer Kopftuchträgerinnen in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin/Münster/Wien 2014.

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sei. Tatsächlich spielt das Gerichtsurteil in der Debatte keine Rolle; es dient lediglich als Aufhänger für eine Auseinandersetzung um die Anerkennung von Gefühlen religiöser Zugehörigkeit.

3

Schlussfolgerungen

Das Thema der Religion gewinnt in der Öffentlichkeit an Aufmerksamkeit und Bedeutung, was sich in der wachsenden Medienresonanz widerspiegelt. Dies gilt keineswegs nur für den Islam, wie eine Auswertung des Archivs der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« belegt. Die Zahl der dort mit ›Religion‹ verschlagworteten Artikel ist im Zeitraum von 2010 bis 2014 gegenüber dem Zeitraum zwischen 2000 und 2004 um ein Drittel (31 %) gestiegen. Gleiches gilt für die Zahl der Beiträge, die den Islam thematisieren (35 %). Die folgende Abbildung veranschaulicht dies visuell.

Zahl der mit ›Religion‹ und ›Islam UND Muslim‹ verschlagworteten Artikel in der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹, 1997–201443

43 Jörg Marx, Dokumentation ausgewählter religionspolitischer Debatten, a. a. O., S. 7.

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Der Aufmerksamkeitsgewinn, den die Religion heute erfährt, trägt historischen Entwicklungen Rechnung. »Desäkularisierung«44 und die Entwicklung zur »postsäkularen Gesellschaft«45 gelten als Folge von Migration und Globalisierung, die das kollektivistische Konstrukt einer homogenen Nation haben brüchig werden lassen. Deshalb hängt die Integration von Menschen inzwischen eng mit der Anerkennung ihrer Religion zusammen. Während die Integrationspolitik den Abbau sozialer Ungleichheit verfolgt, erweisen sich symbolische Grenzziehungen gegenüber einer Religion als Ausgangspunkt für deren Verfestigung.46 In Bezug auf den Islam dominieren die Mediendebatten ebensolche symbolischen Grenzziehungen. Die Negativagenda der Medienberichterstattung, die sich an Terror, Krieg und Konflikten orientiert, vermittelt ein einseitiges Bild des Islam. Die Muslime geraten damit unter Rechtfertigungsdruck und in die Defensive. Ihre Religion wird von der Mehrheitsgesellschaft anerkannt, wird aber auch von ihr definiert. Zusammenfassend werden nachfolgend sechs Thesen zur Diskussion in den Raum gestellt: 1. Die massenmediale Berichterstattung und Debatten bilden nur einen kleinen Teil des religiösen Feldes ab. Berichte über die Normalität, die Vielfalt und die positiven Aspekte des muslimischen, aber auch des jüdischen und christlichen Alltagslebens finden jedoch keinen Eingang in den dominierenden Diskurs der Massenmedien. Es fehlt an einem Gegengewicht zur Negativagenda der Massenmedien. 2. Religionspolitische Debatten werden besonders emotional geführt und sind an vielen Stellen durch ein Klima wechselseitiger Stimulierung von Erregungszuständen geprägt. Sie folgen nicht selten entlang einmal eingeschlagener Pfade problematischen Denk-, Sprach- und Argumentationsmustern. Insbesondere essentialistische und kulturalistische Argumentationsmuster können Islamfeindschaft nach sich ziehen. 3. In Berichterstattungen und in den Debatten mangelt es an religiösem Wissen. Religiöses Wissen fördert aber nicht nur die Offenheit gegenüber Religionen, sondern auch den Zugang zu kollektiven Erinnerungen, Narrativen und Denkstilen im Sinne einer Selbstverständigung über die eigene Identität. 4. Die stärker werdenden religiösen Konnotationen in der Sprache der Politik und Medien funktionieren als Trennmittel. Indem man sich religiös zuordnet, 44 Peter L. Berger (Hg.), The desecularization of the world: Resurgent religion and world politics, Grand Rapids 1999. 45 Jürgen Habermas, »Glauben und Wissen«, in: Dialog, Jg. 1, Nr. 1 (Frühjahr 2002), S. 63@74, hier S. 63. 46 Vgl. Matthias Koenig/Phillip Connor, »Explaining the Muslim employment gap in Western Europe: Individual-level effects and ethno-religious penalties«, in: Social Science Research, 49 (2015), S. 191–201.

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lassen sich Konfliktkonstellationen einfacher abbilden. Historische Tatsachen fallen dabei oft unter den Tisch. Es entsteht ein Zerrbild des Islam. 5. In den Islam-Debatten kommt der Islam als Religion kaum vor. Die Innenseite von Religion bleibt ein blinder Fleck. Stattdessen funktioniert der Islam als ein Etikett, mit dem gesellschaftliche Probleme »islamisiert« werden. 6. Die institutionelle Integration muslimischer Religionsgemeinschaften macht Fortschritte, wird in den Medien aber vorwiegend als Entwicklungs- und Präventionsmaßnahme dargestellt. Solange die Integration als Sache eines Kosten-Nutzen-Kalküls und der Gefahrenabwehr betrachtet wird, dürfte die Anerkennung des islamischen Glaubens in Deutschland auf tönernen Füßen stehen. Religiöser Pluralismus muss jedoch als Chance und Bereicherung der Zivilgesellschaft begriffen werden.

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Asmaa Soliman

Junge Muslime in Deutschland und deren Kritik an Islamophobie im Netz

Junge Muslime in Europa bilden eine wichtige Gruppe im Kontext der Islamdebatte. Anders als die erste Generation von muslimischen Migranten zeigen die zweite und die dritte Generation ein stärkeres Engagement in der Öffentlichkeit. Es fällt auf, dass sie der üblichen Islamdebatte in Deutschland kritisch gegenüberstehen und negativen Äußerungen über Muslime widersprechen. Sie beteiligen sich aktiv an öffentlichen Diskursen und bringen ihre eigene Sichtweise mit ein. Allerdings findet ihre Partizipation nicht unbedingt in der MainstreamÖffentlichkeit statt, da diese oft ausschließend und unterdrückend wirkt. Anstatt dessen bilden junge Muslime ihre eigene Öffentlichkeit, oft mithilfe von neuen Medien, die man als »Gegenöffentlichkeit« bezeichnen kann, da es sich um Gegen-Diskurse handelt, die den herrschenden Diskurs kritisieren. Auch im Kontext der Islamophobie und des antimuslimischen Rassismus stellt man fest, dass diese Gegenöffentlichkeit junger Muslime eine wichtige Rolle spielt. Es ist das Ziel dieses Aufsatzes, diese Thematik anhand von zwei Beispielen, nämlich dem Blog von Kübra Gümüs¸ay Ein Fremdwörterbuch und der Online-Videoplattform muslime.tv von Nuri S¸enay zu beleuchten. Es wird untersucht, inwieweit sich das theoretische Konzept der Gegenöffentlichkeit in deren öffentlichem anti-islamophobem Engagement widerspiegelt. Mehrere Wissenschaftler betonen die Relevanz des Internets als ein wichtiges Instrument, das die Entwicklung von Gegenöffentlichkeiten begünstigt; deswegen werden in diesem Beitrag die Gegenöffentlichkeiten im Netz untersucht.1 Die vorherrschende Meinung in der Öffentlichkeit umfasst in Bezug auf Muslime in Deutschland öffentliche Diskurse, politische Debatten und die Mainstream-Medien. Ohne Übertreibung kann man sagen, dass diese Öffent1 Vgl. Jeffrey Wimmer, Gegenöffentlichkeit 2.00: Formen, Nutzung und Wirkung kritischer Öffentlichkeiten im Social Web, in: Ansgar Zerfaß/Martin Welker/Jan Schmidt (Hg.), Kommunikation, Partizipation und Wirkungen im Social Web: Strategien und Anwendungen: Perspektiven für Wirtschaft, Politik, Publizistik, Köln 2008, S. 210–230; vgl. Dimitra Milioni, »Probing the Online Counter Public Sphere: The Case of Indymedia Athens«, in: Media, Culture & Society, 31 (3/2009), S. 409–431.

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lichkeit eher negativ eingestellt ist und das Islambild oft mit Gefahr, Fremdheit und Gewalt assoziiert. Eine vor Kurzem durchgeführte Studie zeigt, dass die Mehrheit der Deutschen die Meinung vertritt, der Islam gehöre nicht zu Deutschland.2 Eine andere Studie, welche die Bertelsmann Stiftung im Jahr 2014 durchgeführt hat, zeigt, dass 57 % der deutschen Gesellschaft den Islam als bedrohlich empfinden; 61 % vertreten die Meinung, der Islam passe nicht in die westliche Welt, 40 % fühlen sich durch die Muslime wie Fremde im eigenen Land, und 24 % möchten den Muslimen die Zuwanderung untersagen.3 Öffentliche Diskurse und Debatten in Bezug auf Muslime und den Islam sind oft von Angst, Missverständnissen und islamophoben Äußerungen geprägt. Die öffentliche Rhetorik reflektiert eher eine polarisierende Beziehung zwischen dem Islam und Deutschland mit Titeln wie ›Angst vor dem Islam‹, ›Kopftuch und Koran: hat Deutschland kapituliert?‹ oder ›Wie viel Islam erträgt der Staat?‹4 Insbesondere werden Muslime seit dem 11. September oft als potenzielle Terroristen betrachtet.5 Diese Meinung ist nicht nur innerhalb der Gesellschaft verbreitet, sondern auch in einigen politischen Kreisen, in denen Muslime hauptsächlich mit Sicherheitsfragen und Terrorgefahr in Verbindung gesetzt werden.6 Das Problem ist, dass solch eine suspekte Haltung nicht auf extremistische Gruppen begrenzt ist, sondern die gesamte muslimische Bevölkerung einbezieht. Werner Schiffauer behauptet, dass öffentliche und politische Diskurse über Muslime einer ›moralischen Panik‹ unterliegen und eine Atmosphäre des Misstrauens schüren.7 Mehrere Studien zeigen auch, dass das Medienbild von Muslimen auffällig negativ ist und islamophobe Tendenzen aufweist.8 Zudem findet eine 2 Vgl. Stefan von Borstel, »Für die meisten gehört der Islam nicht zu Deutschland«, Die Welt, URL: http://www.welt.de/politik/deutschland/article147280667/Fuer-die-meisten-gehoertder-Islam-nicht-zu-Deutschland.html (letzter Zugriff: 26. 03. 2016). 3 Bertelsmann Stiftung, »Religionsmonitor verstehen was verbindet: Sonderauswertung Islam 2015 – Die wichtigsten Ergebnisse im Überblick«, URL: https://www.bertelsmann-stiftung.de/ fileadmin/files/Projekte/51_Religionsmonitor/Zusammenfassung_der_Sonderauswertung. pdf (letzter Zugriff: 22. 03. 2016). 4 Vgl. Almut Coruh, »Wo Muslime fremd sind, sind wir es auch: Plädoyer für ein Atelier der kosmopolitischen Wissenschaftler und Künste in Berlin«, in: Islam – Kultur – Politik: Dossier zur Politik und Kultur, 1 (2011), S. 21–22. 5 Vgl. Nina Mühe, »Muslims in the EU: Cities Report-Germany«, in: Open Society Institute-EU Monitoring and Advocacy Program (2007), S. 55–58. 6 Vgl. Werner Schiffauer, »Vom Exil- zum Diaspora-Islam: Muslimische Identitäten in Europa«, in: Soziale Welt – Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis, 55 (4/2004), S. 347–268. 7 Vgl. Werner Schiffauer, Enemies Within the Gates, in: Tariq Modood/Anna Triandafyllidou/ Ricard Zapata-Barrero (Hg.) Multiculturalism, Muslims and citizenship: A European approach, London 2006, S. 94–116; vgl. Werner Schiffauer, Der unheimliche Muslim: Staatsbu¨ rgerschaft und zivilgesellschaftliche Ängste, in: Levent Tezcan/Monika Wohlrab-Sahr (Hg.), Konfliktfeld Islam in Europa, München 2006, S. 111–134. 8 Vgl. Sabine Schiffer, Die Darstellung des Islams in der Presse- Sprache, Bilder, Suggestionen:

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starke Politisierung des Islam in den Medien statt, und man kann eine beschränkte Selektierung von Themen beobachten. Auf der theoretischen Ebene gibt es zwei Konzepte, die im Kontext dieses Themas wichtig sind: das Konzept der Öffentlichkeit und das der Gegenöffentlichkeit. Der Begriff der Öffentlichkeit wurde von Jürgen Habermas eingeführt. Er beschreibt einen öffentlichen Bereich, in dem Bürger Angelegenheiten des allgemeinen Interesses kritisch bereden.9 Er konzeptualisiert die Öffentlichkeit als einen Raum politischer Diskussionen, der durch rationale Argumentationen gekennzeichnet ist. Hier wird die Öffentlichkeit als eine demokratische, liberale, neutrale und zugängliche Sphäre idealisiert, die für diskursive Gleichheit und formelle Inklusion aller Bürger steht. Habermas erklärt, dass alle Äußerungen eine Geltung beanspruchen, die man an deren normativer Richtigkeit und Wahrhaftigkeit messen kann. Laut Habermas soll man die Geltungsansprüche mithilfe von kommunikativer Rationalität untersuchen.10 Rationalität wird als das ausschlaggebende Leitinstrument gesehen, das zur Legitimierung öffentlicher Debatten führt. In Reaktion auf die idealisierte Habermas’sche Öffentlichkeit und im Kontext von unterdrückten Minderheiten haben mehrere Wissenschaftler das Konzept der Gegenöffentlichkeit eingeführt.11 Kritiker werfen Habermas vor, sein Konzept der Öffentlichkeit involviere informelle Mechanismen der Exklusion und Assimilierung von Minderheitsgruppen in der Öffentlichkeit, wie etwa Homosexuelle und Frauen, und behaupten, dass es Machtverhältnisse zwischen der Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten ignoriere.12 Sie kritisieren, dass die Mainstream-Öffentlichkeit einen ideologischen Bias habe, der die Vielfalt der Bürger vernachlässige und bestimmte Äußerungen gegenüber anderen bevorzuge. Trotz der Rhetorik einer zugänglichen, offenen, neutralen und demokratischen Öffentlichkeit beobachten sie, dass die Mainstream-Öffentlichkeit ausgrenzend ist und einen assimilativen Druck gegenüber Minderheiten ausübt,

9 10 11 12

Eine Auswahl von Techniken und Beispielen, Würzburg 2005; vgl. Nina Mühe, Muslims in the EU: Cities Report-Germany ; vgl. Kai Hafez, »Aufgeklärte Islamophobie: Das Islambild deutscher Medien«, in: Islam – Kultur – Politik: Dossier zur Politik und Kultur 1 (2011), S. 347–349. Vgl. Jürgen Habermas, The Structural Transformation of the Public Sphere: An Inquiry into a Category of Bourgeois Society, Cambridge 1991. Lincoln Dahlberg, »The Habermasian Public Sphere: A Specification of the Idealized Conditions of Democratic Communication«, in: Studies in Social and Political Thought, 10 (2004), S. 2–18. Nancy Fraser, »Rethinking the Public Sphere: A Contribution to the Critique of Actually Existing Democracy«, in: Social Text, 25/26 (1990), S. 56–80; Michael Warner, Publics and Counterpublics, Cambridge 2002. Ebd.

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was sie dazu bewegt, ihre eigenen Öffentlichkeiten – Gegenöffentlichkeiten – zu entwickeln. Kritiker wenden ein, dass die Öffentlichkeit aus mehreren konkurrierenden Öffentlichkeiten bestehe, wo Gegenöffentlichkeiten von Minderheiten bestimmte Diskurse, Themen und Identifikationen selbst definieren, die von der Hauptöffentlichkeit ignoriert oder anders formuliert werden.13 Gegenöffentlichkeiten werden als Öffentlichkeiten schwacher Minderheitsgruppen beschrieben, die diesem Raum nutzen, um ihr Selbstbild und ihre Sichtweisen zu vermitteln. Dadurch möchten sie die Verweigerung ihrer öffentlichen Existenz überwinden. Gegenöffentlichkeiten dienen dazu, Minderheiten eine Stimme zu verleihen, um alternative Diskurse zu initiieren und bestimmte Unterstellungen in Bezug auf ihre Identität zu bestreiten. Angesichts der Beziehung zwischen der Mainstream-Öffentlichkeit und den Gegenöffentlichkeiten unterstreicht Michael Warner folgende Merkmale einer Gegenöffentlichkeit: »In der Tat, eine Gegenöffentlichkeit ermöglicht einen Horizont der Meinung und des Austausches; der Austausch bleibt unterscheidbar von der Autorität und kann eine kritische Beziehung zu Macht haben.«14

Es gibt drei Hauptmerkmale einer Gegenöffentlichkeit, die in Bezug auf die Beispiele dieses Aufsatzes genauer untersucht werden: Erstens findet man eine Enttäuschung über die Mainstream-Öffentlichkeit. Minderheiten, die Gegenöffentlichkeiten entwickeln, fühlen sich von der Mainstream-Öffentlichkeit ausgeschlossen, eingeschränkt und falsch dargestellt. Zweitens beabsichtigen sie, ihr Selbstbild aus ihrer eigenen Perspektive zu vermitteln, ohne dass es von außen verdreht oder beeinflusst wird. Drittens initiieren diese Individuen Gegen-Diskurse, welche die Mainstream-Öffentlichkeit kritisieren. Die beiden hier präsentierten Beispiele sind Fallbeispiele aus den Forschungen zur Doktorarbeit der Autorin.15 Zum einen handelt es sich um Kübra Gümüs¸ay und ihren Blog Ein Fremdwörterbuch, zum anderen geht es um Nuri

13 Ebd. 14 Michael Warner, Publics and Counterpublics, S. 56. 15 Die Doktorarbeit, welche die Autorin am University College London schrieb, beinhaltet mehrere Fallbeispiele junger deutscher Muslime und deren Engagement in der Öffentlichkeit. Die hier vorgestellten Ergebnisse wurden in einer zweijährigen ethnografischen Forschung mit qualitativen Interviews und der Analyse von Online-Beiträgen generiert. Die Untersuchungen fanden zwischen 2012 und 2014 in mehreren deutschen Städten statt. Teilnehmer an der Studie waren junge deutsche Muslime, die zur zweiten Generation gehören, sich als deutsch-muslimisch identifizieren und die aktiv in verschiedenen Öffentlichkeitssphären, wie Medien, Kunst und Zivilgesellschaft, involviert sind. Der vorliegende Aufsatz bezieht sich auf zwei Fallbeispiele, bei denen das öffentliche Engagement im Internet erfolgte.

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S¸enay und seine Online-Videoplattform muslime.tv. Gümüs¸ay und S¸enay gehören beide zur zweiten Generation türkischer Migranten in Deutschland. Kübra Gümü¸say wuchs in Hamburg auf, studierte Politikwissenschaften und arbeitet hauptsächlich im Bereich des Journalismus. Abgesehen von ihrem Online-Engagement erscheint Gümüs¸ay auch immer wieder in verschiedenen Fernsehshows. Sie ist auch in der Zivilgesellschaft sehr aktiv und gehört zu den Hauptgründern des Twitter-Hashtags Schauhin, der dazu aufruft, rassistische Erfahrungen mitzuteilen, um mehr Aufmerksamkeit für die Probematik des Rassismus zu schaffen. Gümüs¸ay begründete ihren Blog im Jahr 2008, wofür die Themen des Islam und der Muslime in Deutschland eine große Rolle spielen. Ihr Blog wurde 2011 für den Grimme Online Preis nominiert und hat bis zu 13 000 Besucher im Monat.16 Nuri S¸enay ist in Bremerhaven aufgewachsen, hat Englisch und Türkisch studiert und unterrichtet beide Sprachen in Köln. Er ist der Gründer von muslime.tv, einer Online-Videoplattform, die einen dokumentarischen Einblick ins muslimische Leben in Deutschland gibt. Muslime.tv wurde 2010 ins Leben gerufen. Die meisten Videos zeigen Ausschnitte aus Interviews mit verschiedenen deutschen Muslimen und Szenen aus ihrem alltäglichen Leben. Ein näherer Blick auf beide Online-Plattformen verrät, dass es um Gegenöffentlichkeiten geht, die unter anderem die Islamophobie bekämpfen. Die drei Hauptmerkmale einer Gegenöffentlichkeit sind das Gefühl der Enttäuschung über die Mainstream-Öffentlichkeit mit ihrer Ausgrenzung, den Einschränkungen und falschen Repräsentationen sowie die Vermittlung des Selbstbildes aus eigener Perspektive und die Äußerung von Gegendiskursen. Hinsichtlich des ersten Charakteristikums kann man sowohl bei S¸enay als auch bei Gümüs¸ay eine Frustration gegenüber der Mainstream-Öffentlichkeit in Bezug auf Islamophobie erkennen. Nicht nur das Gefühl der falschen Darstellung von Muslimen wird zum Ausdruck gebracht, sondern wird auch bemängelt, dass Islamophobie immer salonfähiger in der Öffentlichkeit wird, die von Stereotypen und Vorurteilen gefüllt ist. Zudem kritisieren beide, dass die dominierende Öffentlichkeitssphäre selten Muslime miteinbezieht oder deren Beiträge willkommen heißt. Dies bezieht sich nicht nur auf die politische Ebene, sondern auch auf die der öffentlichen Diskurse und Medien, wo oft über Muslime gesprochen wird anstatt mit ihnen. In den wenigen Fällen, in denen mit Muslimen gesprochen wird, berichten S¸enay und Gümüs¸ay, dass sie die Hauptöffentlichkeit als sehr repressiv und voreingenommen gegenüber Muslimen empfinden. S¸enay kommentiert dies im Kontext der Mainstream-Medien wie folgt: 16 Jan Kuhlmann, »Die Muslimische Bloggerin Kübra Gümüsay«, Deutschlandfunk (2012), URL: http://www.deutschlandfunk.de/die-muslimische-bloggerin-kuebra-guemuesay.886. de.html?dram:article_id=219178 (letzter Zugriff: 20. 03. 2016).

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»Meine Frau und ich sitzen vor dem Fernseher und gucken uns eine Sendung mit dem Titel ›Kopftuch und Sharia – Passt der Islam zu Deutschland?‹ an. Wir sehen, dass das Thema schon vordefiniert wurde und eine bestimmte Richtung nimmt, dass die Gäste selektiert wurden und dass dort eine muslimische Frau mit Hijab ganz alleine sitzt und es drei, vier andere Gäste gibt, die rhetorisch talentiert sind […] Diese Frau sitzt dort alleine und muss sie alle konfrontieren. Wir sehen, dass sie in Stücke gerissen wird, und dies wird auf ZDF zu einem Zeitpunkt gezeigt, an dem jeder Fernsehen schaut. Dann enttäuscht mich das natürlich und ich schalte um. Ich sag zu meiner Frau, es ist ja immer dasselbe, und mir wird schlecht davon. Doch dann realisiere ich, dass auch wenn ich umschalte Millionen andere Menschen sich diese Sendung angucken und von deren Inhalten geprägt werden.«17

Man kann S¸enays starke Enttäuschung über die Mainstream-Fernsehsendungen aus seinen Schilderungen herauslesen. Es wird deutlich, dass man als Muslim/-in in der Mainstream-Öffentlichkeit unter Druck gesetzt wird. Die Beschreibung einer muslimischen Frau, die in »Stücke gerissen wird«, vermittelt eine eher qualvolle Konfrontation mit Akteuren der Öffentlichkeit, die der Frau überlegen sind. Zudem wird kritisiert, dass die Themen schon vorstrukturiert sind und in eine bestimmte Richtung gehen, die gegenüber Muslimen nicht unbedingt positiv ist. Gümüs¸ay erzählt von ihren eigenen Erfahrungen in Mainstream-Talkshows, die ähnliche Wahrnehmungen zeigen. Ihrer Meinung nach werden in Talkshows oft Rassismus, Ängste und Fremdbilder von Muslimen geschürt, wo man als Muslim/-in oft gezwungen wird, sich der negativen Narrative über Muslime zu fügen: »Ich versuchte, sie (TV Shows) wie ein Spiel zu sehen. Sie wollten, dass ich in einer bestimmten Art gesehen werde, und ich wollte nicht so gesehen werden […] In diesen Talkshows ging es für mich nie über Religion. Sie wollten keine theologische Debatte. Es geht mehr um Rassismus. Es geht um Angst, der Bildung von Fremdbildern […] Und ich habe meine Aufgabe darin gesehen, dieses Spiel zu verstehen und es zu zerstören […] Ich versuchte, nicht die gewollten Antworten zu geben, nicht in eine Falle zu geraten. Wenn es Fragen gibt, geben sie dir ein Frame. Also überlegte ich immer, wenn sie mir eine Frage stellten, okay, wie limitiert diese Frage meine Antwort, und ich habe versucht, diesen Frame zu umgehen. Also versuchte ich das Skript, das sie geschrieben haben, zu umgehen.«18

Dieser Ausschnitt zeigt, wie stark die Hauptöffentlichkeit in Gümüs¸ays Augen befangen ist und einen assimilativen Druck gegenüber Muslimen ausübt, wo machtvolle Akteure versuchen, die Aussagen von Muslimen zu lenken oder einzuschränken. Die Tatsache, dass Gümüs¸ay diese Shows als Spiel wahrnimmt, wo es wichtig ist, das Skript zu »umgehen«, und Angst hat, in eine Falle zu 17 Nuri S¸enay in: Asmaa Soliman, Interview with Nuri Senay (2012). 18 Kübra Gümüs¸ay in: Asmaa Soliman, Interview with Kuebra Guemuesay (2013).

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geraten, vermittelt das Bild einer nicht-neutralen und vorstrukturierten Öffentlichkeit, die nur bestimmte Äußerungen willkommen heißt. Habermasens Rhetorik einer zugänglichen, offenen, neutralen und demokratischen Öffentlichkeit scheint hier keine Resonanz zu finden. Im Gegensatz zur Hauptöffentlichkeit empfindet Gümüs¸ay ihren Blog als einen freien Raum, wo sie sich ohne Einschränkungen und Druck äußern kann: »Natürlich bist du dein eigener Chefredakteur, wenn du deinen eigenen Blog hast. Keiner zensiert dich außer dir selbst. Keiner editiert deine Beiträge außer dir selbst. Also bist du sozusagen dein eigener Boss. Du entscheidest, was du machen möchtest […] Also ist eigentlich alles in deiner Hand […] Hier ist viel mehr in deiner eigenen Kontrolle im Vergleich zu Fernsehshows, wo das Skript schon geschrieben ist.«19

Es wird klar, dass im Gegensatz zu den Einschränkungen der Mainstream-Öffentlichkeit, Gegenöffentlichkeiten mehr Freiheit genießen. Abschließend kann man über beide Fallbeispiele sagen, dass der Kontext einer restriktiven, negativ beladenen Hauptöffentlichkeit in Bezug auf Muslime in der Entwicklung ihres eigenen Öffentlichkeitsengagements eine wichtige Rolle gespielt hat. In der Tat waren es bei Gümüs¸ay auch persönliche islamophobe Erfahrungen, die sie dazu bewogen haben, ihren Blog ins Leben zu rufen. Im Hinblick auf das zweite Merkmal, nämlich die Vermittlung des Selbstbildes aus eigener Perspektive, kann man sagen, dass dies in beiden Plattformen vorzufinden ist und als eine indirekte Form der Bekämpfung von Islamophobie gesehen werden kann. Sowohl in Gümüs¸ays Blog als auch in S¸enays Videoplattform beobachtet man Prozesse der Selbstdefinierung und der Darstellung von alternativen muslimischen Identitäten, welche die Mainstream-Repräsentation herausfordern. Die Kreation einer eigenen Öffentlichkeit, die es ihnen erlaubt, in ihrem eigenen Namen zu sprechen, wie es Nancy Fraser formuliert, ist von großer Bedeutung.20 Gezeigt wird die Innenperspektive einer deutsch-muslimischen Identität. Die Idee, dass man zugleich muslimisch und deutsch sein kann, ist ein wichtiger Bestandteil beider Plattformen, und die Normalität dieser Identität wird zum Ausdruck gebracht, was gemäß Michael Warner ein wichtiger Aspekt der Gegenöffentlichkeit ist.21 Man beobachtet, dass die muslimische Identität mit normalen und positiven Dingen assoziiert wird, wie Sport, Kunst, Kultur, Zivilcourage, Frauenemanzipierung und sozialem Engagement. Damit wirkt man aufgezwungenen Identitäten entgegen, die oft von islamophoben Akteuren in der Hauptöffentlichkeit geäußert werden. Typische Konnotationen von Muslimen mit Dingen wie Terrorismus, Gewalt und Frauenfeindlichkeit werden hierbei herausgefordert. 19 Ebd. 20 Nancy Fraser, Rethinking the Public Sphere. 21 Michael Warner, Publics and Counterpublics.

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Bezüglich des dritten Merkmals, nämlich der Äußerung von Gegendiskursen, welche die Mainstream-Öffentlichkeit kritisieren, beobachtet man, dass im Kontext von Islamophobie nicht nur der islamophobe Mainstream-Diskurs stark kritisiert wird, sondern auch die mangelnde Thematisierung von Islamophobie. Hierbei dienen die Plattformen auch als alternative Medien, die über oft ignorierte islamophobe Ereignisse berichten und Aufmerksamkeit erwecken. Das Beispiel des Videos von muslime.tv, das einen deutsch-muslimischen Rapper zeigt, der in Reaktion auf Thilo Sarrazins islamophobes Buch Deutschland schafft sich ab einen Rap-Song verfasst hat, zeigt, wie die Gegenöffentlichkeiten den Muslimen Raum geben, die Islamophobie zu kritisieren. Das Video beinhaltet einen Ausschnitt des Songs und ein Interview mit dem Rapper, in dem über die Problematik der Islamophobie in Deutschland geredet wird. In seinem Song antwortet der junge Mann auf Sarrazin, indem er dessen islamophobe Thesen auf eine satirische Art herausfordert. Er äußert seine Skepsis gegenüber Sarrazins Argumenten und betont in seinem Interview, dass negative und islamophobe Kommentare über Muslime in Deutschland gängiger geworden sind. Er ist der Meinung, dass die Gleichsetzung von Muslimen und Terror keine Ausnahme mehr darstelle, sondern zunehmend Platz in der Mitte der Gesellschaft finde. Seine Kritik kann als eine Konfrontation verstanden werden, durch welche die deutsche Gesellschaft dazu aufgerufen wird, das Problem der Islamophobie bewusster wahrzunehmen und sich mit dieser Thematik näher zu befassen. Ferner deutet Gümü¸say darauf hin, dass das Internet den Muslimen nicht nur Raum verschafft, Kritik an islamophoben Diskursen auszuüben, sondern auch über islamophobe Vorfälle zu berichten. Sie bezieht sich auf den islamophoben Mord an Marwa El-Sherbini, der am 1. Juli 2009 in einem Dresdener Gerichtssaal stattfand, und unterstreicht die Wichtigkeit der deutschen muslimischen Blogger, die in der Präsenz des Schweigens der Medien darüber gebloggt haben: »Es gab einige Fälle, wo wir (deutsche muslimische Blogger) das Gefühl hatten, dass wir Macht haben. Es gab einen Fall, als Marwa El-Sherbini in Dresden ermordet wurde, weil wir alle davon wussten und darüber gebloggt haben, aber keine nationale Zeitung über dieses Thema geschrieben hat. […] Es gab Zeitungen, die darüber geschrieben haben und sagten, dass eine Frau im Gerichtssaal getötet wurde, aber keiner hat wirklich gesagt, dass das der erste islamophobe Mord in Deutschland war. Es ist eine historische Tragödie, und es muss in diesem Kontext gesehen werden, nicht einfach sagen, es geht um Sicherheitsprobleme, die wir in Dresden hatten. Nein! Es ist ein gesellschaftliches Problem, es ist viel tiefgründiger als nur ein Sicherheitsproblem in Gerichtssälen. […] Es gab viele Blogger, die zu dieser Zeit darüber gebloggt haben, und soweit ich mich erinnern kann, war es das erste Mal, dass uns klassische Journalisten von deutschen Zeitungen als Blogger kontaktierten und über unsere Meinung fragten, und es war das erste Mal, dass

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die muslimische Blogsphäre stärker in die Öffentlichkeit rückte und mit traditionellen Medien interagierte.«22

Man kann diesem Ausschnitt entnehmen, dass laut Gümüs¸ay die muslimische Blogsphäre bei der Vermittlung dieses Geschehens an die Öffentlichkeit eine wichtige Rolle gespielt hat. Sie bemängelt nicht nur das Schweigen der Mainstream-Medien, sondern auch das Verdrehen der Realität. Trotz der Tatsache, dass der islamophobe Hintergrund des Mordes von Anfang an klar war, wurde dies zunächst nicht erwähnt. Stattdessen thematisierte man diesen Vorfall hauptsächlich im Kontext der mangelnden Sicherheit in Gerichtssälen. Die letzte Aussage von Gümüs¸ay bringt einen weiteren Aspekt zum Vorschein, nämlich das Interagieren von Blogs und Mainstream-Medien. Dies gibt zu verstehen, dass Gegenöffentlichkeiten nicht unbedingt von der Mainstream-Öffentlichkeit isoliert sind, sondern auch einen wichtigen Einfluss haben und als Medienquelle dienen können. Jedoch muss man sagen, dass deren Macht eher beschränkt ist und sie im Vergleich zur MainstreamÖffentlichkeit nur eine kleine Gruppe von Menschen erreichen. Schlussfolgernd ist festzuhalten, dass die neuen Medien es den Muslimen ermöglichen, Gegenöffentlichkeiten zu entwickeln und Islamophobie auf verschiedene Art und Weise entgegenzuwirken. Wie deutlich wurde ist die Mainstream-Öffentlichkeit in Deutschland in Bezug auf Muslime eher negativ eingestellt, und man findet immer wieder islamophobe Äußerungen. Dies ist nicht nur im öffentlichen Diskurs zu beobachten, sondern wird auch in den politischen Debatten und in den medialen Darstellungen sichtbar. Die drei Hauptmerkmale einer Gegenöffentlichkeit sind in beiden Plattformen vorzufinden: Erstens haben die Ausgrenzung, der Druck und die falsche Darstellung von Muslimen seitens der Hauptöffentlichkeit sie dazu bewegt, ihre eigene Öffentlichkeit zu schaffen. Darin kommt eine deutliche Enttäuschung über die Hauptöffentlichkeit zum Ausdruck. Habermasens Rhetorik einer zugänglichen, inklusiven und nicht vor-strukturierten Öffentlichkeit trifft dabei nicht zu. Zweitens spielt die Vermittlung des Selbstbildes eine wichtige Rolle. Sowohl Gümüs¸ays Blog als auch S¸enays Videoplattform ermöglichen einen direkten Einblick in das deutsch-muslimische Leben. Hierbei sind Selbstdefinierungen und Artikulierungen alternativer muslimischer Identitäten, welche die Mainstream-Repräsentation herausfordern, von essentieller Bedeutung. Drittens sind Aussagen von Gegendiskursen, welche die MainstreamÖffentlichkeit kritisieren, vorzufinden. Hierbei wird nicht nur der islamophobe Mainstream-Diskurs bemängelt, sondern auch das Fehlen einer öf-

22 Kübra Gümüs¸ay, in: Asmaa Soliman, Interview with Kuebra Guemuesay.

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fentlichen Thematisierung von Islamophobie und des Berichtens über islamophobe Ereignisse. Es ist wichtig zu berücksichtigen, dass diese beiden Plattformen keine Ausnahme sind, und es weitere Beispiele des öffentlichen Engagements junger Muslime in Deutschland gibt. Im Kontext einer auffallenden Zunahme von Islamophobie und problematischen Haltungen gegenüber Muslimen, die mit der jetzigen Flüchtlingskrise deutlicher ans Licht gekommen sind, gewinnen diese Plattformen immer mehr an Relevanz, auch wenn deren Erreichbarkeit und Einfluss nicht mit der Mainstream-Öffentlichkeit zu vergleichen ist.

Interviews Soliman, Asmaa, Interview with Nuri Senay (2012). Soliman, Asmaa, Interview with Kübra Guemuesay (2013).

Literatur Bertelsmann Stiftung, Religionsmonitor verstehen was verbindet: Sonderauswertung Islam 2015 – Die wichtigsten Ergebnisse im Überblick, URL: https://www.bertelsmann-stif tung.de/fileadmin/files/Projekte/51_Religionsmonitor/Zusammenfassung_der_Sonder auswertung.pdf (letzter Zugriff: 22. 03. 2016). Borstel, Stefan von, »Für die meisten gehört der Islam nicht zu Deutschland«, Die Welt, http://www.welt.de/politik/deutschland/article147280667/Fuer-die-meisten-gehoertder-Islam-nicht-zu-Deutschland.html (letzter Zugriff: 26. 03. 2016). Coruh, Almut, »Wo Muslime fremd sind, sind wir es auch: Plädoyer für ein Atelier der kosmopolitischen Wissenschaftler und Künste in Berlin«, in: Islam – Kultur – Politik: Dossier zur Politik und Kultur, 1 (2011), S. 21–22. Dahlberg, Lincoln, »The Habermasian Public Sphere: A Specification of the Idealized Conditions of Democratic Communication«, in: Studies in Social and Political Thought, 10 (2004), S. 2–18. Fraser, Nancy, »Rethinking the Public Sphere: A Contribution to the Critique of Actually Existing Democracy«, in: Social Text, 25/26 (1990), S. 56–80. Habermas, Jürgen, The Structural Transformation of the Public Sphere: An Inquiry into a Category of Bourgeois Society, Cambridge 1991. Hafez, Kai, »Aufgeklärte Islamophobie: Das Islambild deutscher Medien«, in: Islam – Kultur – Politik: Dossier zur Politik und Kultur 1 (2011), S. 347–349. Kuhlmann, Jan, »Die Muslimische Bloggerin Kübra Gümü¸say«, Deutschlandfunk (2012), URL: http://www.deutschlandfunk.de/die-muslimische-bloggerin-Kübra-Gümüs¸ay. 886.de.html?dram:article_id=219178 [letzter Zugriff: 20. 03. 2016]. Mühe, Nina, »Muslims in the EU: Cities Report-Germany«, in: Open Society Institute-EU Monitoring and Advocacy Program, (2007), S. 55–58.

Junge Muslime in Deutschland und deren Kritik an Islamophobie im Netz

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Milioni, Dimitra, »Probing the Online Counter Public Sphere: The Case of Indymedia Athens«, in: Media, Culture & Society 31 (3/2009), S. 409–431. Schiffauer, Werner, »Vom Exil- zum Diaspora-Islam: Muslimische Identitäten in Europa«, in: Soziale Welt – Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis, 55 (4/ 2004), S. 347–268. Ders., Enemies Within the Gates, in: Modood, Tariq/Triandafyllidou, Anna/Zapata-Barrero, Ricard (Hg.), Multiculturalism, Muslims and citizenship: A European approach, London 2006, S. 94–116. Ders., Der unheimliche Muslim: Staatsbu¨ rgerschaft und zivilgesellschaftliche Ängste, in: Tezcan, Levent/Wohlrab-Sahr, Monika (Hg.), Konfliktfeld Islam in Europa, München 2006, S. 111–134. Schiffer, Sabine, Die Darstellung des Islams in der Presse – Sprache, Bilder, Suggestionen: Eine Auswahl von Techniken und Beispielen, Würzburg 2005. Warner, Michael, Publics and Counterpublics, Cambridge 2002. Wimmer, Jeffrey, Gegenöffentlichkeit 2.00: Formen, Nutzung und Wirkung kritischer Öffentlichkeiten im Social Web, in: Ansgar Zerfaß, Ansgar/Welker, Martin/Schmidt, Jan (Hg.), Kommunikation, Partizipation und Wirkungen im Social Web: Strategien und Anwendungen: Perspektiven für Wirtschaft, Politik, Publizistik, Köln 2008, S. 210–230.

Nina Mühe

Muslimische Religiosität als Stigma – Wie muslimische Schüler und Schülerinnen mit Stigmatisierung an den Schulen umgehen

1

Islamfeindlichkeit an Schulen – Studien und Berichte1

Der folgende Artikel basiert auf eigenen Forschungen über die Erfahrungen junger Musliminnen und Muslime mit Islamfeindlichkeit und antimuslimischem Rassismus an Schulen sowie deren Umgangsweisen damit. Er benennt erste Beobachtungen und Ergebnisse der Studie und stellt diese auszugsweise vor. Das Forschungsinteresse entstand vor dem Hintergrund einer anderen Studie, die im Jahr 2010 für die Open Society Stiftung in London durchgeführt wurde. Das Projekt »At Home in Europe« hatte zum Ziel, die Situation muslimischer Gemeinschaften in elf europäischen Städten – darunter Berlin und Hamburg – zu analysieren und sich dabei besonders auf die Anliegen und Bedarfe von muslimischen Gemeinschaften zu fokussieren. Der Bereich »Bildung und Schule« fiel in diesem Zusammenhang leider besonders durch zahlreiche Berichte von Diskriminierungserfahrungen auf, sowohl vonseiten muslimischer Schülerinnen und Schüler als auch vonseiten muslimischer Eltern. Neben offen ausgesprochenen islamfeindlichen Äußerungen wurde vor allem von einer oft niedrigeren Erwartungshaltung gegenüber Schülern und Schülerinnen mit Migrations- und/oder muslimischem Hintergrund berichtet. Damit verbunden waren zum Teil weniger Ermutigungen oder sogar Entmutigungen durch Lehrerinnen und Lehrer in der Bildungskarriere voranzuschreiten. Besonders Mädchen, die ein Kopftuch trugen, äußerten häufig das Gefühl, nicht für voll genommen und als weniger intelligent und leistungsfähig angesehen zu werden als ihre Mitschüler/innen. Eine junge Frau mit türkischem Hintergrund berichtete beispielsweise, dass sie ihrer Nichte hätte helfen wollen, ihre Note 3 in Mathematik zu verbessern und den Lehrer daraufhin angesprochen habe. Dieser habe daraufhin geäußert: »Aber eine 3 ist doch eine gute Note für eine türkische Schü-

1 Der vorliegende Beitrag wurde im Frühjahr 2016 fertiggestellt.

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Nina Mühe

lerin.«2 Auf die Frage nach Erfahrungen mit religiöser Diskriminierung im Jahr vor der Erhebung hatten 11 % der Teilnehmenden angegeben, an öffentlichen Schulen diskriminiert worden zu sein, und 8 % berichteten von diskriminierendem oder rassistischem Verhalten von Lehrpersonen gegenüber ihren Schülern und Schülerinnen. Außerdem gaben 60 % der muslimischen Probanden an, dass ihrer Ansicht nach andere als die christlich-religiösen Traditionen und Bräuche in der Schule nicht genügend respektiert würden.3 Diese alarmierenden Ergebnisse bezüglich einer Ungleichbehandlung bis hin zu Rassismus gegenüber jungen Muslimen und Musliminnen an Schulen wurden in den letzten Jahren auch durch weitere Studien belegt. So stellte im August 2013 beispielsweise die Bundesantidiskriminierungsstelle eine Studie zur Diskriminierung am Arbeitsplatz und im Bildungsbereich vor. Die Studie befand, dass Diskriminierung zwischen Lehrerinnen und Schülerinnen mit Migrationshintergrund an vielen Schulen täglich passiere, und kam außerdem zu dem Schluss, dass sich Diskriminierungserfahrungen negativ auf die Leistungen und die Motivation der Betroffenen auswirken könnten.4 Die Gründe für eine Diskriminierung sind oft vielschichtig und nicht leicht voneinander zu trennen. In der Regel handelt es sich bei den Erfahrungen um eine sogenannte Mehrfachdiskriminierung, wenn die Betroffenen etwa gleichzeitig aufgrund ihres ethnischen Hintergrunds, ihrer wirtschaftlichen Situation, ihrer Religion und/oder ihres Geschlechts diskriminiert werden, wobei sich die verschiedenen Diskriminierungsgründe nicht nur addieren, sondern intersektional verschränken und gegenseitig verstärken. Die Diskriminierung aus religiösen Gründen wurde bisher nicht umfangreich erforscht, aber die Ergebnisse aus einzelnen Forschungen sowie die Berichte von Antidiskriminierungsorganisationen geben Hinweise darauf, dass Muslimsein oder als Muslim wahrgenommen zu werden das Diskriminierungs- und Benachteiligungsrisiko für Schüler/innen signifikant erhöht. Das Netzwerk gegen Diskriminierung und Islamfeindlichkeit, eine Berliner Nichtregierungsorganisation, stellte in seinem Jahresbericht 2012 beispielsweise dar, dass etwa ein Drittel der eingegangenen Beschwerden aus dem Bildungsbereich kamen. Die Organisation des muslimischen Trägervereins Inssan e.V. ist eine der wenigen Stellen in Deutschland, welche Fälle von Islamfeindlichkeit spezifisch behandelt und entsprechende Daten sammelt.5 Eine junge Frau mit Kopftuch berichtete der Organisation Folgendes: 2 Nina Mühe, Muslime in Berlin, London 2010, S. 77. 3 Vgl. ebd., S. 73ff. 4 Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Diskriminierung im Bildungsbereich und im Arbeitsleben, Berlin 2013, S. 16. 5 Netzwerk gegen Diskriminierung und Islamfeindlichkeit, Ergebnisse des Netzwerks gegen Diskriminierung von Muslimen 2010–2012, Berlin 2013.

Muslimische Religiosität als Stigma

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»Am Anfang des Schuljahres sagte eine Lehrerin zu mir ›Du wagst es noch, in diese Schule zu kommen, nach dem, was wir mit Deiner Schwester gemacht haben?‹ Meine Schwester war das einzige Mädchen mit Kopftuch an der Schule, und nachdem sie das Kopftuch angelegt hatte, wurde sie von den Lehrern diskriminiert und stark unter Druck gesetzt.«

Ein anderes Mädchen erzählte, ihr sei von ihrem Lehrer gesagt worden: »Ihr Türken, besonders die mit Kopftuch, könnt nur als Putzfrauen arbeiten.« In einigen Berichten wird die Religion noch gezielter als Diskriminierungsgrund adressiert, etwa in folgender Erzählung eines jungen Mädchens: »Meine Lehrerin hat gesagt: ›Jedes Mal wenn eine Schülerin mit schwarzer Kleidung in die Klasse kommt, diskutieren wir im Lehrerzimmer, ob sie eine Terroristin ist oder nicht.‹ Genau an diesem Tag hatte ich schwarze Kleidung an, und alle Augen richteten sich auf mich. Ich kann mich verteidigen, aber ich habe keine Lust, mich die ganze Zeit zu rechtfertigen.«

Angesichts dieser gehäuften Hinweise auf Fälle von Islamfeindlichkeit und antimuslimischem Rassismus an Schulen stellt sich die Frage, inwiefern solche Erlebnisse die jungen Menschen, die von ihnen betroffen sind, beeinflussen. Der Fokus des Forschungsprojekts war daher die Frage, wie die betroffenen jungen Menschen mit diesen Erfahrungen umgehen und wie sich diese auf ihr Leben auswirken. Dafür wurden mit 25 jungen Muslimen und Musliminnen, die in der Schule in irgendeiner Form Diskriminierungserfahrungen aufgrund ihrer Religion gemacht hatten, leitfadengestützte qualitative Interviews durchgeführt. Da es in erster Linie um die Wahrnehmung der Betroffenen ging, wurden keine weiteren Nachforschungen darüber angestellt, wie andere Beteiligte in der Schule die jeweiligen Ereignisse möglicherweise aus anderer Perspektive betrachteten, sondern wurde der Blick in erster Linie auf die subjektive Erfahrung, den Umgang damit sowie die Auswirkungen auf das Leben der jungen Menschen gerichtet.

2

Religion als Grund für Stigmatisierung

Die islamische Religiosität betrachtet die Autorin hierbei angelehnt an Erving Goffman als eine Art Stigma. Ein Stigma ist nach Goffman »[…] eine Eigenschaft (Attribut), die den ›Fremden‹ von anderen in der Personenkategorie auf negative Art unterscheidet. Im Extrem wird (die Person) […] in unserer Vorstellung […] von einer ganzen und gewöhnlichen Person zu einer befleckten, beeinträchtigten herabgemindert. […] Es konstituiert eine Diskrepanz zwischen virtualer (angenommener, geforderter) und aktualer sozialer Identität.«6 6 Erving Goffman, Stigma, Frankfurt am Main 2012, S. 11.

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Diese diskreditierende Eigenschaft ist jedoch nicht generell vorhanden, sondern eher als Beziehung zu verstehen, da sie sich nicht immer und in allen Situationen negativ auswirkt. Goffman beschreibt das Stigma daher auch als »eine besondere Art von Beziehung zwischen Eigenschaft und Stereotyp«7, da es nur zum Teil aus dem, was den betroffenen Menschen (äußerlich) kennzeichnet und zum anderen – wenn nicht wichtigeren – Teil aus den Vorannahmen beziehungsweise Stereotypen der anderen über den Betroffenen und seine Eigenschaften, besteht. Goffman unterscheidet zwischen den »Diskreditierten« unter den Stigmatisierten und den »Diskreditierbaren«, wobei es sich bei Letzteren um Personen handelt, deren Zugehörigkeit zum Kreis der Stigmatisierten nicht augenscheinlich offensichtlich ist und daher von ihnen versteckt oder heruntergespielt werden kann. Er erwähnt dabei, dass die meisten Stigmatisierten beide Kategorien kennen und schon selbst erlebt haben.8 Diese Unterscheidung war auch im Hinblick auf den Umgang mit den Interviewpartnern und -partnerinnen mit dem Stigma »islamische Religiosität« interessant. Von denen, die nicht direkt als Muslime markiert waren, weil sie beispielsweise einen bosnischen Migrationshintergrund hatten und äußerlich nicht von Deutschen ohne Migrationshintergrund zu unterscheiden waren, entschieden sich manche dafür, die Zugehörigkeit zum Stigma des (religiösen) Islam eher zu verbergen oder zumindest im Schulkontext nicht offen zur Schau zu stellen. Man könnte sie in Goffmans Sinn als Diskreditierbare bezeichnen. Andere entschieden sich im Laufe der Zeit dafür, ihre Stigmazugehörigkeit offenkundig zu machen, wurden also von Diskreditierbaren zu Diskreditierten. Häufig geschah dies durch das Anlegen des Kopftuches, was in einigen Fällen sehr bewusst geschah und lange vorbereitet wurde, während es in anderen Fällen erst nachdem es angelegt wurde seiner Trägerin die damit verbundenen gesellschaftlichen Abwertungen in ihrer Fülle bewusst machte. Goffmans Stigmatheorie ist hilfreich, um besonders die Auswirkungen der Stigmatisierung auf die betroffenen Jugendlichen und ihren Umgang damit zu analysieren. Ähnlich wie der rassismuskritische Ansatz rückt auch die Stigmatheorie von Goffman die Gesellschaft als Urheber des Stigmas in den Fokus, anstatt die Ursachen für die Stigmatisierung in deren Opfern zu suchen. Das Stigma entsteht, wie oben zitiert, in erster Linie als Beziehung zwischen den als ›Normale‹ beschriebenen, auf die das Stigma nicht anwendbar ist, und den von diesen als stigmatisiert Wahrgenommenen. Die ›Beeinträchtigung‹ liegt nicht im Individuum, sondern in den gesellschaftlichen antimuslimischen Stereotypen und Narrativen, die diesem zugeschrieben werden. Das Individuum ist also nicht als Urheber der eigenen Beeinträchtigung und Stereotypisierung zu betrachten 7 Ebd., S. 12. 8 Ebd.

Muslimische Religiosität als Stigma

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und kann diese daher auch nur sehr bedingt selbst beeinflussen. Dennoch betrachtet Goffman mit seinem Konzept des ›Stigma-Managements‹ die Frage, wie Betroffene mit der eigenen Stigmatisierung umgehen, welche Möglichkeiten und Beschränkungen des Umgangs mit dem Stigma sich ihnen bieten und welche möglichen Auswirkungen auf das Leben des Einzelnen daraus resultieren. Zudem bietet die Betrachtung des Muslimseins als Stigma auch die Möglichkeit, diejenigen von antimuslimischer Diskriminierung Betroffenen in den Blick zu nehmen, die nicht ethnisch markiert sind und dennoch vom gesellschaftlichen Stigma des Muslimseins beziehungsweise in besonderer Intensität von dem der muslimischen Religiosität betroffen sind. Das Konzept des antimuslimischen Rassismus erlaubt uns, das essentialisierende und deterministische Kulturverständnis zu erkennen und zu beschreiben, welches dem Islam und damit allen Muslimen unveränderliche negative Eigenschaften zuschreibt und damit zu einer ähnlichen Form der rassistischen Abwertung Anderer führt, wie es beim biologistischen Rassismus der Fall war und ist. Yasemin Shooman beispielsweise legt dar, wie ein »[…] Konstrukt der ›Rassen‹ […] somit implizit fort[wirkt] und […] mittlerweile untrennbar mit kulturellen und religiösen Zuschreibungen verbunden [ist].«9 Iman Attia zeigt auf, wie es beim antimuslimischen Rassismus eben nicht in erster Linie um individuelle Einstellungen und Vorurteile geht, sondern um eine tief in das europäische Selbstverständnis eingeschriebene Abwertung der als »Anderen« deklarierten und markierten Musliminnen und Muslime, welche für die Selbstverortung einer europäischen eigenen Identität als »nicht-muslimisch«, und damit als vermeintlich nicht frauenfeindlich, antisemitisch, homophob und religiös-fundamentalistisch, schon seit Jahrhunderten eine zentrale Funktion hat.10 Dieser Zuschreibung können die als muslimisch Markierten ebenso wenig entrinnen wie der traditionellen biologistisch-rassistischen Zuschreibung, weil die Kultur, und mit ihr die Religion, relativ unabhängig davon, wie religiös jemand tatsächlich ist, als mit der Geburt unveränderliche Attribute eingeschrieben werden. Andererseits beobachtet man aber auch das Phänomen, dass Menschen, die nicht als ethnisch ›anders‹ markiert sind, durch äußerliche Attribute oder wahrnehmbare religiöse Handlungen ›geandert‹ und ausgegrenzt werden. Das Stigma der Zugehörigkeit zum Islam wirkt also auch ohne ethnische Zuschreibung, wenn etwa Konvertierten oder Menschen, deren Migrationshintergrund nicht direkt äußerlich erkennbar ist, durch Kleidung oder religiöse Handlungen und/oder Einstellungen als muslimisch erkennbar und damit Opfer von Ausgrenzung oder Stigmatisierung werden. Auch manche der Interviewpartnerinnen und -partner, wie die erwähnten Jugendlichen mit bosnischem 9 Yasemin Shooman, »…weil ihre Kultur so ist«, Bielefeld 2014, S. 56. 10 Vgl. Iman Attia, Die »westliche Kultur« und ihr Anderes, Bielefeld 2009, S. 75ff.

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Migrationshintergrund, wurden nicht unbedingt äußerlich als Muslime und/ oder ethnisch Markierte wahrgenommen; sie wurden erst in dem Moment selbst und direkt Opfer von Diskriminierung, als sie sich – durch das Anlegen eines Kopftuchs oder andere Stigmasymbole – als Angehörige einer stigmatisierten Gruppe zu erkennen gaben. Auch Mädchen, die aufgrund eines türkischen oder arabischen Hintergrunds Ausgrenzung erfahren hatten, sprachen von einer ganz anderen Qualität der Diskriminierung ab dem Zeitpunkt, an dem sie ein Kopftuch anlegten und eindeutiger als vorher der Religion zugeordnet und auch als religiöse Musliminnen identifiziert wurden. Es ist also mit der Beschreibung muslimischer Religiosität als Stigma besonders der Aspekt der antimuslimischen Diskurse und Diskriminierungen in den Blick zu nehmen, der sich auf die spezifisch antireligiösen Aspekte der Islamfeindlichkeit bezieht. Natürlich ist dieser Diskursstrang – wie alle anderen Aspekte der Islamfeindlichkeit und des antimuslimischen Rassismus – in keiner Weise einzeln zu betrachten und von den anderen Aspekten zu trennen; vielmehr verstärken sich diese gegenseitig und sind miteinander verwoben.11 Er ist aber auch nicht zu vernachlässigen, zumal beobachtet werden kann, dass sich die Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen in vielen Fällen mit dem Grad der wahrgenommenen Religiosität intensivierten. Das folgende Zitat einer jungen Frau zeigt, wie der erste Tag mit Kopftuch an der alten Schule eine einschneidende Wende in der Wahrnehmung durch Andere markieren kann: »Am ersten Tag war ich aufgeregt. Ich hatte keine Angst, aber ich war aufgeregt. Und ich hab mir gesagt: Gott ist bei mir. Also, wieso bin ich aufgeregt? […] Der erste, der mich gesehen hat, war ein Bekannter meines Bruders, und der hat mich angelächelt. Und das war übertrieben wichtig für mich. Weil, wenn die erste Reaktion schlimm gewesen wäre, ich weiß nicht, ob ich an dem Tag überhaupt noch weiter in die Schule hätte reingehen können. Aber der hat mich angelächelt, und da hab ich mir gedacht: Okay, die erste Reaktion ist gut, das baut dich jetzt auf. Dann ging’s halt nur noch bergab. Ich wurde an meinem Kopftuch gezogen, ich wurde nur noch Ays¸e genannt. Ich wurde ständig gemobbt, aber ständig. Egal, wo ich war.«12

Das Anlegen des Tuchs markiert hier klar eine Zugehörigkeit, wo sie zuvor vielleicht weniger eindeutig war, und konfrontiert seine Trägerin daher auch viel klarer mit stereotypen bis rassistischen Einstellungen gegenüber der Zugehörigkeitsgruppe der Personen, die als Musliminnen – und hier eben besonders als religiöse Musliminnen – wahrgenommen werden. Während sie ohne das Tuch zwar auch als Musliminnen, aber eben auch als Angehörige einer bestimmten ethnischen Minderheit oder Einwanderergruppe wahrgenommen und auch 11 Vgl. Yasemin Shooman »…weil ihre Kultur so ist«, S. 14. 12 Interview, 22. 02. 2013.

Muslimische Religiosität als Stigma

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diskriminiert werden, so sind Änderungen im Verhalten der Schüler und Lehrer ihnen gegenüber klar auf die (anti-)religiösen Aspekte der Islamfeindlichkeit zurückzuführen. Auch für junge Männer machte es einen Unterschied, ob sie sich offen als religiöse Muslime zu erkennen gaben – etwa durch Gebet oder Fasten – oder dies im Privaten beließen. Andererseits ist auch zu beobachten, dass die Zugehörigkeit zur Gruppe der Stigmatisierten – im vorliegenden Fall der religiösen Muslime –, auch wenn sie zu verbergen ist, dennoch negative Auswirkungen auf die Betroffenen hat. Selbst Jugendliche, die in ihrer Umgebung nicht als (religiöse) Muslime erkannt werden, nach Goffman also eher Diskreditierbare als Diskreditierte sind, fühlen sich durch antimuslimische Diskurse in der Schule oder die tatsächliche Ausgrenzung Anderer im Freundeskreis oder in der Familie betroffen. Auch kann ein Verbergen der Stigmazugehörigkeit zu Gewissensbissen führen, weil man selbst bevorzugt scheint vor denjenigen, die dies nicht verbergen können oder wollen. Werden diese Jugendlichen ausschließlich im Sinne des antimuslimischen Rassismus betrachtet, dann wären sie nicht betroffen, weil sie »passen«, also nicht von der Gesamtgesellschaft als anders betrachtet und damit nicht direkt benachteiligt werden. Mit der Konzeptionalisierung eines Stigmas der muslimischen Religiosität betrachtet fällt aber auf, dass sie – auch wenn äußerlich nicht erkennbar – dennoch zum Kreis der Benachteiligten gehören, und dass dies Auswirkungen auf sie hat.

3

Umgang mit erlebter Stigmatisierung

3.1

Wut, Ohnmacht, Depression

Je nachdem, wie stark die erlebte Diskriminierungserfahrung ist, löst sie bei vielen Betroffenen zunächst Wut und Ohnmachtsgefühle aus. Eine junge Frau, die nach dem Anlegen des Kopftuchs sowohl von Mitschülern und Mitschülerinnen als auch von Lehrerkräften gemobbt und diskriminiert wurde, beschrieb ihre emotionale Reaktion hierauf folgendermaßen: »Am Stück bin ich zwei Wochen nicht zur Schule gegangen. Also ich war so depressiv. Ich hab nur noch geheult. Ich hab gesagt: Okay das war’s jetzt. Jetzt bin ich mit meiner mittleren Reife hängen geblieben. Jetzt schaff ’ ich nicht mal mein Abi. Und das war wirklich die schlimmste Zeit, die ich überhaupt … Ich hab … Ich hab mich selbst gehasst!«13

13 Ebd.

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Einer ihrer Lehrer hatte in allen seinen Klassen angekündigt, niemals eine Schülerin mit Kopftuch zu unterrichten. Besonders die aktive Diskriminierung durch das Lehrpersonal schockierte betroffene Schüler/innen, da sie Lehrer/ innen als eine höhere moralische Instanz wahrnahmen und als diejenigen ansahen, die ihnen Moral und Gerechtigkeit beibringen sollten. Dementsprechend kann sich ein einziger diskriminierender Lehrer negativ auf das Verhältnis zu Lehrpersonen und Schule allgemein auswirken, weil ein gewisses Grundvertrauen in die Institution und ihre Vermittler/innen und teilweise sogar in die Gesellschaft allgemein zerstört wird.

3.2

Akzeptieren

Dieses Grundvertrauen, wenn es vorhanden ist oder war, weist allerdings auf ein ursprüngliches Gefühl von Zugehörigkeit hin. Die Ausgrenzung wird besonders schlimm erlebt, weil man sich vorher als zugehörig wahrnahm. Für diejenigen, die sich nicht oder kaum als Teil der Gesellschaft sehen, scheinen Ausgrenzungserfahrungen in manchen Fällen als weniger schwerwiegend wahrgenommen zu werden. So äußerte ein junger Mann im Interview, dass er – obwohl in Deutschland geboren – nach seinem Verständnis Bosnier und damit ganz klar ein Gast in diesem Land sei. Dementsprechend störte er sich nach seinen eigenen Angaben nicht besonders an der Tatsache, nicht als selbstverständlicher Teil der deutschen Gesellschaft betrachtet zu werden. Je stärker der oder die Jugendliche sich aber als integraler Bestandteil der Gesellschaft begreift beziehungsweise ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass er/sie ein Recht auf Zugehörigkeit hat, desto stärker wird die erlebte Ausgrenzung als negativ empfunden, wie in folgendem Zitat eines jungen muslimischen Mannes zu erkennen ist: »Warum sollen wir uns integrieren, wenn wir hier aufgewachsen sind? Und das zeigt dann, dass sie sich als etwas ganz anderes sehen, also, dass wir nicht gleich sind, dass wir nicht gleich gültig sind wie die anderen. Und dass wir keine Deutschen sind und wir uns integrieren müssen.«14

Allerdings ist zu bedenken, dass der junge Mann, der sich als Gast in diesem Land sah, in Deutschland geboren und aufgewachsen war. Seine Selbstpositionierung als Gast mag auch als Strategie gesehen werden, um Zuschreibungen als nicht zugehörig zu entgehen oder zuvorzukommen. Es ist ja gerade diese Positionierung als in einem anderen Land beheimatet, die eine drohende oder tatsächlich erlebte Ausgrenzung in dem Land in dem er lebt, nicht so schmerzhaft wirksam werden lässt. 14 Interview, 26. 04. 2013.

Muslimische Religiosität als Stigma

3.3

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Aneignen der negativen Wahrnehmung

Neben der kritischen Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse findet sich bei einigen Jugendlichen auch die Wahrnehmung, dass sich viele Muslime schlecht verhielten und damit das negative Bild in der Öffentlichkeit verstärkte. Als Möglichkeit, diesem negativen Bild zu begegnen, nannten daher einige die Bemühung, sich selbst besser zu benehmen und anderen Muslimen beizubringen, sich moralischer und stärker den Standards der Religion entsprechend zu verhalten. »Ich glaub, man muss sie auch verstehen, weil die kennen ja nichts anderes, als was sie sehen, ne’? Wenn wir uns schlecht benehmen, dann ist es für den klar, okay, Muslime sind schlecht.«15

Diese teilweise Übernahme der negativen gesellschaftlichen Stereotype über die eigene Gruppe beschreibt nach Goffman das zentrale Merkmal der Situation des stigmatisierten Individuums, die sogenannte »Akzeptierung«, die Empfindung, dass einige der eigenen Eigenschaften die Ausgrenzung rechtfertigten.

3.4

Versuch, Fehler zu korrigieren und Stereotype zu durchbrechen

Eine mögliche Reaktion auf die Wahrnehmung vermeintlicher Fehler ist der »Versuch, diese Fehler zu korrigieren, indem Tätigkeitsbereiche gemeistert werden, von denen man annimmt, dass sie für den Stigmatisierten verschlossen sind.«16 In diesem Sinne erzählte eine junge Frau, dass sie sich bewusst zur Schach-AG der Schule gemeldet hatte und dort sehr ehrgeizig wurde, weil sie glaubte, dass ihr das als Muslima mit Kopftuch nicht zugetraut würde. Andere wählten technische Berufe und Studienfächer aus eben diesem Grund. Auch der Versuch, sich und andere dazu zu bewegen, sich vorbildlich zu verhalten, um den Stereotypen den Boden zu entziehen, wurde genannt. So erklärte der junge Mann, der sich als Bosnier und Gast in Deutschland wahrnahm: »Wir als Gäste sollten eigentlich versuchen, uns so gut wie möglich rüberzubringen. (I: Also siehst du die Verantwortung eher bei den Muslimen?) Ja. (I: Aber du siehst dich trotzdem als Gast?) Ich sehe mich nicht direkt als Gast, aber meine Familie sozusagen. Die sind ja als Gastarbeiter hierhergekommen und auch die ganzen, sage ich jetzt mal so, Leute aus Palästina oder Syrien, oder was weiß ich, die hier herkommen, sollten sich 15 Gruppeninterview mit muslimischen Jugendlichen, 01. 02. 2012. 16 Erving Goffman, Stigma, Frankfurt am Main 2012, S. 19.

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schon gut vorbildhaft benehmen und zeigen ›wir sind dankbar, dass wir überhaupt hier sein dürfen‹.«17

Ob die Reaktion auf die wahrgenommene Abwertung aber die teilweise Akzeptanz ist, ob der Versuch, die vermeintliche oder tatsächliche Ursache für die Stigmatisierung bei sich selbst und anderen Mitgliedern der eigenen Gruppe zu beheben, oder aber der Versuch, Stereotype zu widerlegen; es ist nahezu unmöglich, sich aus dem Rahmen der Stigmatisierung gänzlich zu befreien und hiervon gar unabhängig zu agieren.

3.5

Wissensaneignung als Selbstermächtigung

Auch wenn das Bemühen, Stereotype zu widerlegen, damit in gewisser Weise in der gleichen Logik gefangen bleibt, die es zu widerlegen versucht, hat es bei einigen Jugendlichen ein verstärktes Engagement ausgelöst, und auch ein zusätzliches Bemühen, sich zusätzliches Wissen anzueignen, was einige ausdrücklich als positiv empfanden. Dies wirkte auch stark auf den Bereich des islamisch-religiösen Wissens. Auch Lehrer, die keine islamfeindlichen Einstellungen vertraten, sprachen die Jugendlichen oft auf ihr vermeintliches Expertenwissen an. Wenn im Unterricht entweder der Islam oder das Heimatland der Eltern oder Großeltern thematisiert wurde, erschienen die Jugendlichen den Lehrern oft als die Experten/innen und wurden wie selbstverständlich zu Referaten animiert, selbst wenn diese zu genanntem Zeitpunkt gar nicht über nennenswertes Wissen hinsichtlich ihrer Religion oder des ihnen zugeschriebenen Heimatlandes verfügten. Für viele Jugendliche war die religiöse Wissensaneignung ein erster Schritt, der Ohnmacht gegenüber den Stereotypen, mit denen sie konfrontiert wurden, etwas entgegenzusetzen, und bewirkte später oft eine stärkere Hinwendung zur Religion und zu religiösen Gruppierungen. Auch wenn die meisten der Jugendlichen, die sich in diesem Sinne zu »Islamexperten« in der Schule entwickelten, der Autorin gegenüber diese Entwicklung begrüßten und sie als einen positiven Schritt in ihrem Leben und in ihrer Religiosität wahrnahmen, legten einige auch dar, dass besonders die Verantwortung, die sie empfanden, ihre Religion richtig darzustellen und gegebenenfalls falsche Äußerungen von Medien, Lehrer/innen oder muslimischen wie nicht-muslimischen Mitschüler/innen zurechtrücken zu müssen, eine Belastung darstellte.

17 Interview, 28. 04. 2013.

Muslimische Religiosität als Stigma

3.6

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Nutzen von Religion als Ressource und Kraftquelle

Die Religiosität spielte aber für einige noch darüber hinaus eine wichtige Rolle, nämlich dabei, die teilweise sehr destruktiven Erlebnisse mit Ausgrenzung und Rassismus positiv umzudeuten und sich damit selbst auf gewisse Weise zu stärken. So beschreiben manche, dass sie in ihrem religiösen Verständnis schwierige Erlebnisse und Lebensphasen als eine Prüfung deuten, welche eine Art Auszeichnung von Gott sei – also genau das Gegenteil einer gesellschaftlich herabwertenden Stigmatisierung. Tatsächlich schienen diejenigen, denen diese Deutung zur Verfügung stand, nach einer schwierigen Zeit gefestigter aus dem Erlebten hervorzugehen. Bei einigen konnte sogar beobachtet werden, wie sie nicht nur nicht aggressiv und resigniert auf die Erlebnisse reagierten, sondern sogar versuchten, den koranischen Grundsatz »Schlechtes mit Gutem abzuwehren« umzusetzen und den Lehrer/innen, die sie angriffen, mit Offenheit und Freundlichkeit zu begegnen. Zumindest in einem Fall schien dieses Vorgehen auch Erfolg gehabt zu haben, sodass das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler durch das konfliktlösende Verhalten des Schülers sehr verbessert wurde. Die Religiosität ist also einerseits ein starkes Diskriminierungsmerkmal, vor allem wenn sie offen gelebt und praktiziert wird, andererseits stellt sie in einigen Fällen auch eine stärkende Ressource dar, die es den Betroffenen ermöglicht, ihre Erlebnisse für ihre Identität und ihre Lebensentwürfe positiv zu deuten und sich damit selbst zu stärken sowie der Ohnmacht entgegenzuwirken. Diese positive Umdeutung schwieriger Erlebnisse ist jedoch nicht per se positiv, sondern kann dann problematisch werden, wenn sie dazu führt, sich gegen das Erlebte nicht zur Wehr zu setzen, sondern in erster Linie die erlebte Hilflosigkeit damit aufzufangen. Diejenigen, die nicht über viel religiöses Wissen verfügten oder sich nicht eingehend damit beschäftigten, schienen durch verbale Angriffe von Lehrpersonen sowie Schülern und Schülerinnen auf den Islam generell stärker in ihrer Identität verunsichert zu werden. Auch die Wut, welche durch das Gefühl von Ohnmacht und Ausgrenzung ausgelöst wird und die manche Betroffene versuchten, in positives Verhalten und Selbststärkung umzuwandeln, war für andere nur schwer unter Kontrolle zu halten. Ein junger Mann erklärte, dass er es schaffe, seine Aggressionen durch Kampfsport unter Kontrolle zu halten, sie sich aber dennoch negativ auf ihn und seine psychische Gesundheit auswirkten.

4

Schluss

Insgesamt ist zu beobachten, dass die jungen Betroffenen von Stigmatisierung und Rassismus umso besser damit umgehen können, je mehr stärkende Ressourcen ihnen zur Verfügung stehen. Zu diesen Ressourcen gehörten bei-

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spielsweise die Beziehungen zu Eltern und Familie, aber auch die Stärke und die Ressourcen der Familie, wie sozialer Status, Bildung und der Grad der sozialen Verankerung und gesellschaftlichen Teilhabe. Wenn viele Diskriminierungsgründe zusammenkommen – Migration, Geschlecht, Religion, Bildung, sozialer Status – und dem eher weniger Ressourcen gegenüberstehen, ist ein positiver Umgang mit der erfahrenen Stigmatisierung ungleich schwerer als bei den meisten der Interviewten, von denen der größte Teil eine höhere schulische Bildung genoss und auch Unterstützung innerhalb der Familie fand.

Literaturverzeichnis Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Diskriminierung im Bildungsbereich und im Arbeitsleben, Berlin 2013. Attia, Iman, Die »westliche Kultur« und ihr Anderes, Bielefeld 2009. Goffman, Erving, Stigma, Frankfurt am Main 2012. Mühe, Nina, Muslime in Berlin, London 2010. Netzwerk gegen Diskriminierung und Islamfeindlichkeit, Ergebnisse des Netzwerks gegen Diskriminierung von Muslimen 2010–2012, Berlin 2013. Shooman, Yasemin, »…weil ihre Kultur so ist«, Bielefeld 2014.

Interviews mit muslimischen Jugendlichen Einzelinterview mit Schülerin, Heilbronn, 22. 02. 2013. Einzelinterview mit Schüler, Berlin, 26. 04. 2013. Einzelinterview mit Schüler, Berlin, 28. 04. 2013. Gruppeninterview mit muslimischen Schülerinnen und Schülern, Berlin, 01. 02. 2012.

Esra Özyürek

Neutraler öffentlicher Raum und individuelle Wahl als zentrale Mythen von Islamophobie und Homophobie

Im heutigen Deutschland lassen sich viele Nachweise dafür finden, dass der Islam und die Muslime ungerecht behandelt werden. Dennoch wird das komplexe Wechselspiel von unterschwelligen und offensichtlichen Formen der Diskriminierung und Gewalt gegenüber Muslimen nicht als ausreichender Grund gesehen, um Islamophobie als eine Form des Rassismus anzuerkennen. Ein Teil des Problems ist, dass es keine Einigung darüber gibt, was Islamophobie genau bedeutet, auch wenn dieser Begriff schon seit mehreren Jahrzehnten benutzt wird. Mehrere Rassismusforscher, wie Robert Miles und Malcolm Brown, betrachten die Islamophobie als überflüssiges Konzept mit der Begründung, es könne problemlos in vorhandene Theorien von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit integriert werden.1 Andere, wie Fred Halliday, stehen dem kritisch gegenüber und behaupten, dass solch eine Haltung politische Realitäten ›kulturalisiert‹.2 Die französischen Wissenschaftler Jocelyne Cesari und Michael Wieviorka sind der Meinung, dass der Begriff der Islamophobie zu vage ist, um fruchtbar zu sein.3 Trotz des Mangels eines Konsensus bezüglich der Nützlichkeit des Islamophobiebegriffs sind sich diese Forscher darin einig, dass sich Formen der Ausgrenzung und des Rassismus besonders in Europa in einem Transformationsprozess befinden und dass Immigranten mit muslimischem Hintergrund die Hauptlast dieser Umwandlung tragen. Während pseudowissenschaftliche Vererbungstheorien in der Kolonialzeit dafür benutzt wurden, um ausgrenzende und unterdrückende Praktiken zu rechtfertigen, entwickeln sich in der postko1 Vgl. Robert Miles/Malcolm Brown, Racism, 2. Auflage, London 2003, S. 116. 2 Vgl. Fred Halliday, Islamophobia Reconsidered, in: Ethnic and Racial Studies, 22 (5/1999), S. 892–902. 3 Vgl. Jocelyne Cesari, Islam in France: The Shaping of a Religious Minority, in: Yvonned Haddad (Hg.), Muslims in the West: From Sojourners to Citizens, New York 2002, S. 36–51; vgl. Michael Wieviorka, Race, Culture, and Society : The French Experience with Muslims, in: Nezar AlSayyad and Manuel Castells (Hg.), Muslim Europe or Euro-Islam: Politics, Culture, and Citizenship in the Age of Globalization, Lanham 2002, S. 131–146.

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lonialen Zeit Theorien, die ähnliche Praktiken, basierend auf angeblich unvereinbaren kulturellen Differenzen, legitimieren. Biologische Rechtfertigungen sind nie verschwunden, aber kulturelle Begründungen, die Wissenschaftler als ›neuen Rassismus‹4, ›Neo-Rassismus‹5, ›kulturellen Fundamentalismus‹6, ›differentialistischen Rassismus‹7, ›culture talk‹8 und sogar ›Rassismus ohne Rasse‹9 bezeichnen, sind heutzutage verbreiteter. Innerhalb von Europa und besonders in Deutschland ist die Gretchenfrage bezüglich der Legitimität von Islamophobie, ob sie dem Antisemitismus ähnelt oder anders gestaltet ist. Einerseits behaupten diejenigen, die die Realität der Diskriminierung gegenüber Muslimen abwerten, dass dieser Vergleich nicht gültig sei, weil der Islam eine Kultur oder eine Religion ist, die man nach Belieben befolgen oder ablehnen kann. Der britische Islamkritiker Polly Toynbee verteidigt diese Position wie folgt: »Rasse ist etwas, was Menschen nicht aussuchen können, und es sagt nichts über sie aus […] wobei Glaubensvorstellungen Identifikationen sind, die Menschen aussuchen. Diese zwei können nicht ineinander übergehen, und das ist warum das Wort Islamphobie Unsinn ist.«10

Necla Kelek, eine türkisch-deutsche Islamkritikerin, behauptete, dass Sarrazin nicht als Rassist bezeichnet werden könne, weil der »Islam nicht eine Rasse ist, sondern eine Kultur, eine Religion«.11 Diese Kritiker verweisen oft auf einheimische Europäer, die zum Islam konvertieren, und Türken, Araber, Iraner und andere, die den Islam verlassen und selber sogenannte Islamkritiker werden. Andererseits gibt es andere, die dazu aufrufen, dass die Islamophobie als eine Form von Rassismus, der innerhalb Europas sichtbar ist, anerkannt werden muss. Sie erklären, diese unterscheide sich nicht wirklich von anderen anerkannten Formen des Rassismus, insbesondere des Antisemitismus. Rita Chin und Kollegen veranschaulichen, dass sowohl biologische als auch kulturelle Elemente gleichermaßen in antisemitischen, antimuslimischen und ausländer-

4 Vgl. Martin Barker, New Racism: Conservatives and the Ideology of the Tribe, London 1981. 5 Vgl. Ptienne Balibar, Is There a ›Neo-Racism‹?, in: Ptienne Balibar/Immanuel Wallerstein (Hg.), Race, Nation, Class: Ambiguous Identities, London 1991, S. 17–28. 6 Vgl. Verena Stolcke, »Talking Culture: New Boundaries, New Rhetorics of Exclusion in Europe«, in: Current Anthropology 36 (1/1995), S. 1–24. 7 Vgl. Pierre-Andr8 Taguieff, La force du pr8jug8: Essai sur le racism et ses doubles, Paris 1987. 8 Vgl. Mahmood Mamdani, Good Muslim, Bad Muslim: America, the Cold War, and the Roots of Terror, New York 2004. 9 Vgl. John Rex, Race, Colonialism, and the City, London 1973. 10 Polly Toynbee/Nasar Meer, »Semantics, Scales, and Solidarities in the Study of Antisemitism and Islamophobia«, in: Ethnic and Racial Studies, 36 (3/2013), S. 12. 11 Thilo Sarrazin. Die Provokation und die Debatte, in: Bild am Sonntag 29. 8. 2010.

Neutraler öffentlicher Raum und individuelle Wahl als zentrale Mythen

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feindlichen Diskursen enthalten sind.12 Meer und Tariq Modood zeigen, dass die auf Kultur basierende Kritik auch rassistisch sein kann; daher schlagen sie vor, dass man Islamophobie »nicht als Näherung von Rassismus, sondern selbst als eine Form des Rassismus«13 sehen soll. Die deutsche Wissenschaftlerin Shooman bevorzugt den Begriff des ›anti-muslimischen Rassismus‹ anstelle von Islamophobie, weil ›Muslimisch-sein‹ ein »rassifizierter Daseinszustand ist, vor dem Menschen, die als Muslime abgestempelt werden, nicht fliehen können«.14 Matti Bunzl fügt der Debatte eine neue Perspektive hinzu, da er Islamophobie im Vergleich zum Antisemitismus als eine größere Herausforderung sieht, sowohl in Bezug auf Europas Zukunft als auch auf die geopolitische Lage im weiteren Kontext, wobei er betont, dass Antisemitismus und Islamophobie von unterschiedlicher Gestalt seien. Er schreibt: »[W]ährend Antisemitismus dazu bestimmt war, die Reinheit des ethnischen Nationalstaates zu beschützen, ist Islamophobie dafür gedacht, die Zukunft der europäischen Zivilisation zu sichern«.15 Wie Bunzl ausführt, sind bei der Islamophobie unterscheidbare Elemente zu erkennen, die qualitativ nicht mit dem Antisemitismus vergleichbar sind. Das stärkste Unterscheidungsmerkmal liegt nach Ansicht der Verfasserin darin, dass die Islamophobie auf der Prämisse eines rationalen eigenwilligen Subjektes beruht, das für seine Aktionen und Konsequenzen verantwortlich ist. Islamophobische Kritiker sind der Meinung, dass Muslime nicht für einen rechtlichen Schutz qualifiziert sind, welcher anderen Gruppen wie Frauen oder Schwarzen, die systematisch diskriminiert werden, zusteht. Die Begründung ist, dass der Glaube nicht bei Geburt feststeht, sondern von den Individuen freiwillig ausgesucht wird.16 Gemäß dieser Argumentation disqualifizieren sich Muslime für jegliche Form des Schutzes gegen Diskriminierung, da sie die Freiheit haben, ihre Religion zu befolgen oder auch zu verlassen. Solch eine Denkweise, die Muslime für jegliche schwierige Situation, in der sie sich befinden können, verantwortlich macht, weil sie diese aufgrund ihrer eigenen Entscheidung über sich selbst gebracht haben, spiegelt sich in dem Frankfurter Gerichtsbeschluss 12 Vgl. Rita Chin et al., After the Nazi Racial State: Difference and Democracy in German and Europe, Ann Arbor 2009, S. 14. 13 Nasar Meer/Tariq Modood, The Racialisation of Muslims, in: Salman Sayyid und AbdoolKarim Vakil (Hg.), Thinking through Islamophobia: Global Perspectives, New York 2010, S. 69–83, hier S. 10. 14 Yasemin, Shooman, »Islamophobie, antimuslimischer Rassismus oder Muslimfeindlichkeit? Kommentar zu der Begriffsdebatte der Deutschen Islam Konferenz«, 2011, URL: http://www. migration-boell.de/web/integration/47_2956.asp (20. 03. 2016). 15 Matti Bunzl, »Between Anti-Semitism and Islamophobia: Some Thoughts on the New Europe«, in: American Ethnologist, 32 (4/2005), S. 506. 16 Vgl. Rachel A. D. Bloul, »Anti-Discrimination Laws, Islamophobia, and Ethnicization of Muslim Identity in Europe and Australia«, in: Journal of Muslim Minority Affairs, 28 (1/ 2008), S. 7–25.

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von 2007 wider. Hier lehnte der Richter es ab, einer misshandelten Frau, die mit einem marokkanischen Mann verheiratet war, eine einfache Scheidung zu gewähren, mit der Begründung, dass der Islam der Frau eine untergeordnete Rolle zuschreibe und Ehemännern das Recht gebe, ihre Frauen zu schlagen. Demzufolge konnte die misshandelte Frau, die sich dafür entschieden hatte, einen muslimischen Mann zu heiraten, nicht als Person gesehen werden, die in ihrer Ehe leidet.17 Dieser Grundgedanke, dass die Opfer für ihr Schicksal selbst verantwortlich sind, passt gut zum heutigen Neoliberalismus, der die Marktmentalität auf die Bürgerschaft erweitert hat und Individuen, die angeblich rationale Entscheidungen treffen, für ihre Entscheidungen verantwortlich macht. Mit anderen Worten »ist dieser Rassismus ein Rassismus dieser Zeit«18, wie David Tyrier behauptet. Ein weiteres relevantes Element der Islamophobie ist die Betonung der scheinbaren Neutralität der säkularen Öffentlichkeit in Europa. Das Idealmodell einer Öffentlichkeit in Deutschland ist im Wesentlichen eine Habermas’sche Öffentlichkeit, ein sozialer Raum, der sich vom Staat, der Wirtschaft und der Familie abtrennt und in dem private Individuen zusammenkommen können, um über das Wohl der Gesellschaft zu diskutieren. In seiner ursprünglichen Formulierung hat Jürgen Habermas die Integration von Religion komplett ignoriert. Dies war kein ungewolltes Versehen.19 Charles Taylor zeigt uns, dass eine Fixierung auf Religion als eine spezielle Form von Vernunft, die von der Öffentlichkeit ausgeschlossen werden muss, ihre Wurzeln im Aufklärungsgedanken hat, der nur die säkulare Vernunft als wirkliche Rationalität sieht und der religiöses Denken als »dubios und letztendlich nur überzeugend für Menschen, die schon die betroffenen Dogmen akzeptiert haben«20, betrachtet. Religiöses Denken und insbesondere der Islam werden als die fragwürdigsten und am wenigsten passenden Artikulationen im Kontext der säkularen Öffentlichkeit aufgenommen. Daher behaupten scheinbar liberale politische Akteure, dass sie nicht gegen die Religion an sich seien, sondern nur gegen öffentliche Ausdrucksformen des Islam. Im Jahr 2004 wurde in Frankreich ein Gesetz verabschiedet, welches das Tragen von auffälligen religiösen Sym17 Veit Medick/Anna Reimann, »Deutsche Richterin rechtfertigt eheliche Gewalt mit Koran«, in: Spiegel Online 20. 3. 2007. 18 David Tyrier, Flooding the Embankments: Race, Bio-Politics, and Sovereignty, in: Sayyid and AbdoolKarim Vakil (Hg.), Thinking Through Islamophobia: Global Perspectives, New York 2010, S. 104. 19 Craig Calhoun, Secularism citizenship and the Public Sphere, in: C. Calhoun/M. Juergenmeyer/J. Vanantwerpen (Hg.), Rethinking Secularism, New York 2011, S. 75–91. 20 Charles Taylor, Why We Need a Radical Redefinition of Secularism, in: Judith Butler, Jürgen Habermas, Charles Taylor und Cornell West (Hg.),« The Power of Religion in the Public Sphere, New York 2011, S. 323.

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bolen an öffentlichen Schulen mit der Begründung untersagte, dass es gegen republikanische Prinzipien verstoße. Schulkinder werden dazu aufgefordert, sich dem französischen Lebensstil anzupassen und ihre Kopftücher zu Hause zu lassen. In der Folge haben im Jahr 2005 mehrere Bundesländer in Deutschland das Neutralitätsgesetz eingeführt, das nicht den Schülern, sondern den Angestellten öffentlicher Schulen und Justizsystemen das Tragen von religiösen Zeichen, Symbolen oder Kleidungsstücken verbietet. Obwohl die drei abrahamitischen Religionen diesbezüglich in Frankreich gleichbehandelt werden, ist der Gedanke einer ›neutralen‹ Öffentlichkeit und einer ›freien‹ Privatsphäre hinsichtlich der Erfahrungen praktizierender muslimischer Frauen, für die Kopftücher besonders in der Öffentlichkeit und nicht in der Privatsphäre wichtig sind, absurd. Aufgrund der Idealisierung der individuellen Entscheidungsfreiheit und der Grenzen öffentlicher Ausdrücke in Argumenten bezüglich der Islamophobie in Europa wird vorgeschlagen, dass es genauso viel, wenn nicht noch mehr, Sinn ergibt, die Islamophobie mit der zeitgenössischen Homophobie zu vergleichen als mit dem historischen Antisemitismus. Homophobe Diskurse sehen Lesben und Schwule für die Wahl eines ›anderen Lebensstils‹ als verantwortlich, wodurch sie diskriminiert werden. Folglich, so die Argumentation, müssen sie auch keinen rechtlichen Schutz erhalten. Christliche homophobe Lobbys, die in den USA noch präsenter als in Europa sind, verlangen, dass sich Homosexuelle dem heterosexuellen Mainstream anschließen. Weniger radikale Homophobe fordern Homosexuelle auf, die Artikulierung ihrer sexuellen Identität auf die Privatsphäre einzugrenzen. Zudem verlangen sie, dass sie sowohl auf eine öffentliche Anerkennung als auch auf einen rechtlichen Schutz verzichten sollen – und dies im Sinne der »Don’t ask, don’t tell«-Politik, die vom US-Militär bis 2011 praktiziert wurde. Diese Sichtweisen stehen mit den islamophobischen Diskursen in Europa im Einklang, die in ähnlicher Weise die Idee einer scheinbaren neutralen Öffentlichkeit, wo keiner durch religiöse oder sexuelle Differenz identifiziert wird, vorantreiben. Die Aspekte der Sexualität und Freiheit sind also im Falle von Islamophobie miteinander verknüpft. Auch wenn die islamische soziale Grundeinstellung heterosexistisch ist, betrachten die Muslime die Sexualität als etwas, bei dem jeglicher Kontakt von Männern und Frauen in der Öffentlichkeit sowohl gekennzeichnet als auch reguliert werden soll. Allerdings betrachten die Europäer dies als eine seltsame, unangebrachte öffentliche Betonung von etwas, das in die Privatsphäre gehört. Wie Joan Scott sagt, ist die Art und Weise, wie praktizierende Muslime Sex und Sexualität organisieren, für Franzosen, deren Republikanismus auf der abstrakten Idee der gleichen Bürgerrechte und der psychologischen Verweigerung von sexueller Differenz und Patriarchie basiert,

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zutiefst beunruhigend.21 Das französische Gesetz sieht das Kopftuch nicht nur als ›auffällig‹, wenn Mädchen es in der Schule tragen, sondern auch als Indikativ eines Übermaßes an Sexualität und sogar als eine Perversion. Paradoxerweise ist dies genau das Gegenteil davon, wie praktizierende Muslime das Kopftuch wahrnehmen. Die ideologische Zentralität der ›freien Entscheidung‹ im Kontext muslimischer Erfahrungen kommt am deutlichsten in den Erfahrungen zweier Gruppen, die die unterschiedlichsten Positionen in ihrem Bekenntnis zum Islam einnehmen, zum Vorschein. Es geht um kulturelle Muslime, die im Islam durch ihre Familien sozialisiert wurden, aber nicht unbedingt praktizierend sind, und um konvertierte deutsche Muslime. Es ist kein Zufall, dass die Aufmerksamkeit, die diese beiden Gruppen in öffentlichen Diskursen erfahren, disproportional zu ihrer Anzahl und ihrem Einfluss steht. Die unterschiedlichen, jedoch parallelen Formen der Marginalisierung beider Gruppen illustrieren die komplexe Matrix der Islamophobie insgesamt. Zentral sind hier die Konzepte des Individuums, das die Freiheit hat, Entscheidungen zu treffen, und dann für die Konsequenzen seiner Entscheidungen verantwortlich ist und das eine angebliche neutrale Öffentlichkeit, die in der Realität alternative Formen des Ausdrucks hervorbringt, ablehnt.

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21 Vgl. Joan Wallach Scott, The Politics of the Veil, Princeton 2007.

Neutraler öffentlicher Raum und individuelle Wahl als zentrale Mythen

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Luis Manuel Hern#ndez Aguilar

Institutionalisierung des anti-muslimischen Rassismus im Staat. Reflektionen über die Deutsche Islam Konferenz

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Einleitung

Nach David T. Goldberg ist der Aufgang der modernen Staaten ausnahmslos mit dem Auftreten des rassischen und rassistischen Staatesverbunden.1 Durch die Artikulation zwischen Rasse, Gender und Klasse haben sich moderne und rassische Staaten verbreitet und vergegenständlichen rassische Konzeptualisierungen von homogenen sozialen und politischen Körpern. Dadurch wird Rasse ein integraler Bestandteil der Gründungsmythen sowie der Funktionsfähigkeit moderner Nationalstaaten. In Kürze: Rassische Staaten beziehen sich auf Staatsformationen, welche an einer Kreuzung zwischen Projekten der Modernität und Rassenkonfigurationen entstanden. Somit kann ein rassischer Staat verschiedene Strategien benutzen, um Subjekte symbolisch und materiell einund auszugrenzen. Salman Sayyid analysiert, auf Goldberg aufbauend, präzise die fünf deployments (Ausdrucksformen) von Islamophobie als einer Form rassischer Gouvernementalität innerhalb und außerhalb der Reichweite des Staates.2 Das erste deployment bezieht sich auf die Sichtbarmachung von Gewalt gegen Muslime und Musliminnen oder denen, die als solche wahrgenommen werden, und geht entweder von Individuen oder Gruppen aus. Die Gewalt findet ihre Motive in der Identifikation von Muslimen und Musliminnen, selbst wenn die Betroffenen sich vielleicht gar nicht als solche ansehen.3 1 David Theo Goldberg, The Racial State, Massachusetts/Oxford 2002. 2 Das heißt als politische »[…] series of interventions and classifications that affect the wellbeing of populations designated as Muslim«. Salman Sayyid, »A Measure of Islamophobia«, in: Islamophobia Studies Journal 2 (1/2014) S. 19. Ferner wird in diesem Beitrag der englische Begriff deployment verwendet, da er in seiner deutschen Übersetzung an Bedeutung verliert. 3 Ein tragisches Beispiel für diese Form von rassistischer Gewalt ist der Mord von Marwa ElSherbini in einem deutschen Gerichtssaal in Dresden, nachdem sie gegen einen Mann ausgesagt hatte, der sie verbal beschimpft hatte; vgl. Iman Attia/Yasemin Shooman, »The reception of the murder of Marwa el-Sherbini in German print media and German weblogs«, in: Jahrbuch für Islamophobieforschung 2010, S. 23–46.

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Das zweite deployment weist auf Gewalt gegen Besitz hin, die in einer Beziehung mit denen, die als muslimisch identifiziert oder solchen, die damit verbunden werden, steht. Dies geschieht beispielsweise oftmals in Bezug auf Moscheen oder (muslimische) Friedhöfe.4 Das dritte deployment sieht die Islamophobie mit einer Einschüchterungspraxis verbunden, welche einen gewissen Grad an Organisation und daraus eine Formierung von Gruppen und Assoziationen zur Folge hat.5 Das vierte deployment im Repertoire von Islamophobie bezieht sich auf die Handlungen, welche sich innerhalb der institutionellen Kulisse, zum Beispiel auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt, abspielen, bei denen oft die Behandlung von muslimischen Personen im Vergleich zu denen, die dies nicht sind, ungerecht ist.6 Das fünfte deployment beinhaltet die systematische Produktion von Äußerungen, die darauf abzielen, den Islam in den Medien und im Internet zu verurteilen und abzuwerten.7 Das genannte Repertoire der deployments kann entweder von Individuen oder von organisierten Gruppen eingesetzt werden; der Staat kann je nach Reaktion diese erleichtern oder aufhalten. Allerdings gibt es auch Erscheinungsformen von Islamophobie, die vom Staat ausgehen,wie etwa die Intensivierung der Überwachung,8 die nach den Attacken vom 11. September zugenommen haben.9 Darüber hinaus kann der Staat besondere Gesetze beschließen sowie 4 Folgt man Anna E. Younes Bericht über Islamophobie in Deutschland, so steigt die Zahl der Attacken auf Moscheen seit 2013 an. Darauf haben schon manche muslimischen Organisationen wie die Tu¨ rkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DI˙TI˙B) und der Koordinierungsrat der Muslime (KRM) hingewiesen; vgl. dazu Anna-Esther Younes, Islamophobia in Germany. National Report 2015, in: Enes Bayrakli/Farid Hafez (Hg.), European Islamophobia Report 2015, Istanbul 2016, S. 181–198. Siehe auch: Koordinationsrat der Muslime, »KRM besorgt über zunehmende Anschläge auf Moscheen«, 2014, http://koordinationsrat.de/detail1. php?id=156& lang=de (letzter Zugriff: 24. 03. 2016). 5 Ein jüngstes Beispiel in der deutschen Landschaft ist die Entwicklung von PEGIDA, einer organisierten Gruppe, die Märsche gegen den »islamistischen« Feind unternimmt, und von der Idee von sich gegenüberstehenden Zivilisationen / la Huntington ausgeht. 6 Vgl. dazu Fr8d8rique Ast/Riem Spielhaus, »Tackling Double Victimization of Muslim Women in Europe: An Intersectional Response«, in: Mediterranean Journal of Human Rights, 16, (2012), S. 359. Hinsichtlich des Wohnungsmarktes siehe auch: Katrin Auspurg/Thomas Hinz/ Laura Schmid, Contexts and Conditions of Ethnic Discrimination: Evidence from a Field Experiment in German Housing Markets, Konstanz 2011. 7 Vgl. Kai Hafez/Carola Richter, »Das Islambild von ARD und ZDF«, in: APuZ, 26–27 (2007), S. 40–46; Sabine Schiffer, Die Verfertigung des Islambilds in den deutschen Medien, in: Siegfried Jäger/Dirk Halm (Hg.), Mediale Barrieren. Rassismus als Integrationshindernis, Münster 2007, S. 167–200. 8 Salman Sayyid, A Measure of Islamophobia, S. 16. 9 Vgl. dazu: Liz Fekete, »Anti-Muslim Racism and the European Security State«, in: Race& Class, 46 (1/2004), S. 3–29; Arun Kundnani, The Muslims are coming! Islamophobia, Extremism, and the Domestic War on Terror, London/New York 2014; Werner Schiffauer, Suspect Subjects:

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auch andere Regulationen, die das Leben der Muslime im Allgemeinen betreffen. Bis 2015 haben in Deutschland verschiedene Bundesländer Gesetze auf den Weg gebracht, um das Tragen des Kopftuches für muslimische Frauen, die an öffentlichen Schulen arbeiten und verbeamtet sind, zu verbieten.10 Gleichwohl kann der Staat auch der De-Islamisierung nachgehen, »which would involve the erasure of a Muslim identity«11, oder er kann auch disziplinarische, biopolitische und gouvernementale Maßnahmen ergreifen, um Muslime und Musliminnen dementsprechend zu reformieren und zu transformieren.12 Kurzum – der Rassismus gegen Muslime und Musliminnen ist ein vielschichtiges und multidimensionales Phänomen, welches in unterschiedlichen Sphären angesiedelt ist. In diesem Beitrag wird die Institutionalisierung der Deutschen Islam Konferenz (DIK) sowie deren Artikulation mit anderen Staatsorganen als eine Illustrierung von Inskription und Funktionsweise von Rassismus gegen Personen islamischen Glaubens im Staat untersucht. Die Struktur des Beitrags ist dreigeteilt: Erst wird die soziopolitische Landschaft, in der die DIK auftritt, kontextualisiert, danach wird die DIK genauer beschrieben, und schließlich wird auf einen der vielen Bereiche der Arbeit der DIK, den der nationalen Sicherheit, eingegangen und darauf, wie Rassismus nicht nur in der Darstellungsweise der Muslime generell, sondern auch bei Richtlinien, die dazu dienen, die Sicherheit von Deutschland zu gewährleisten, untermauernd wirkt.

Muslim Migrants and the Security Agencies in Germany, in: Julia Eckert (Hg.), The Social Life of Anti-Terrorism Laws. The War on Terror and the Classifications of the ›Dangerous Other‹, Bielefeld 2008, S. 55–78; Mathias Rodatz/Jana Scheuring, Integration als Extremismusprävention. Rassistische Effekte der wehrhaften Demokratie bei der Konstruktion eines islamischen Extremismus, in: Forum für kritische Rechtsextremismusforschung (Hg.), Ordnung. Macht. Extremismus, Wiesbaden 2011, S. 163–190. 10 Ferner hat Werner Schiffauer im deutschen institutionellen Rahmen drei institutionelle Instanzen analysiert, worin die »Bedrohung durch den Terrorismus« als eine Moralpanik die Anstrengungen muslimischer Menschen beeinflusst, welche zivile Rechte oder auch Einbürgerungsprozesse sowie legale Dispute und den Zugang zu öffentlicher Finanzierung betreffen; in: Enemies within the gates. The debate about the citizenship of Muslims in Germany, in: Tariq Modood/Anna Triandafyllidou/Ricard Zapata-Barrero, Multiculturalism, Muslims and Citizenship. A European Approach, Oxon 2006, S. 94–116. 11 Salman Sayyid, A Measure of Islamophobia, S. 19. 12 Vgl. Luis Manuel Hern#ndez Aguilar, Welcome to Integrationland. On Racism and the German Islam Conference, Frankfurt am Main 2015; ders., »The Imam of the Future. On Racism and the German Islam Conference«, in: Islamophobia Studies Yearbook, 7 (2016), S. 66–85; vgl. auch: Frank Peter, Welcoming Muslims into the Nation. Tolerance Politics and Integration in Germany, in: Jocelyn Cesari (Hg.), Muslims in Europe and the United States since 9/11, New York 2010, S. 119–144; Schirin Amir-Moazami, »Dialogue as a Governmental technique: Managing gendered Islam in Germany«, in: Feminist review, 98 (2011), S. 9–27.

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Sicherheit und Integration

Viel wurde über die Auswirkungen der Attacken vom 11. September in New York geschrieben, den darauf folgenden globalen »Krieg gegen den Terror« und seine Anwendung und Domestikation in unterschiedlichen nationalen Kontexten, welcher den Islam und seine Anhänger als Feinde der westlichen Zivilisation darstellt,13 obgleich die Entstehung von solch einem Feind eine lange und verwobene Geschichte hat.14 Nachdem herausgefunden wurde, dass die Attacken vom 11. September in Hamburg vorbereitet wurden, veränderte dies auch des Bedeutung für Deutschland.15 Die Haltung zu dieser Zeit vonseiten der deutschen Regierung und des Innenministers war in dem Sinne auffällig, als dass der Islam und die Muslime und Musliminnen angesprochen wurden und sich ihnen mit der Linse der nationalen Sicherheit genähert wurde – man wurde sich des ganzen Sicherheitsapparates bewusst, und es folgte eine Serie an Gesetzesänderungen. Das Terrorismusbekämpfungsgesetz startete seine Implementierung im Jahr 2002, gefolgt vom Sicherheitspaket I, II (BMI 2004, p.1).16 Diese Maßnahmen garantierten mehr Macht für die Sicherheitsbehörden, um mit dem, was als eine neue Form des Terrors – »dem islamischen« – erachtet wurde, umzugehen. Dazu zählen unter anderem die verschärften Einreisebestimmungen. Ebenfalls wurden Sicherheitsoperationen verstärkt, um Terroristen in Deutschland ausfindig zu machen, und legale Maßnahmen geschaffen, wie das biometrische Foto im Reisepass und in anderen Identifikationsdokumenten.17 Im Dezember 2001 verbot der damalige Innenminister Otto Schily die islamische Organisation des Kalifatstaats,18 im Mai 2002 die islamische Fundraising Assoziation Al Aqsa19 und im Januar 2003 die extremistische Organisation Hizb ut-Tahrir.20 Des Weiteren argumentiert Liz Fekete, dass nach dem 11. September in Deutschland Rasterfahndungen auf Moscheen und Büros von muslimischen Organisationen nun in den Bereich der Sicherheitsbehörden fielen.21 Laut Schiffauer haben die deutschen Behörden damals eine neue Methode entwickelt, nämlich »verdachts- und ereignisunabhängige Kontrollen«, welche die Über13 Mamdani, Good Muslim, Bad Muslim: America, the Cold War, and the Roots of Terror, New York 2005. 14 Vgl. Gil Anidjar, The Jew, The Arab. A History of the Enemy, Stanford 2003; Joseph A. Massad, Islam in Liberalism, Chicago 2015; Edward W. Said, Orientalism, London 1978. 15 Liz Fekete, Anti-Muslim Racism and the European Security State, S. 5. 16 BMI, Nach dem 11. September 2011. Maßnahmen gegen den Terror, Berlin 2004, S. 1. 17 Vgl. ebd., S. 2. 18 Vgl. ebd., S. 56. 19 Vgl. ebd., S. 79. 20 Vgl. ebd., S. 135. 21 Liz Fekete, Anti-Muslim Racism and the European Security State, S. 11.

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wachung muslimischer Organisationen erhöhten.22 Die deutsche Regierung implementierte ferner ein System zur religiösen Erkennung von Bürgern und Bürgerinnen mit einer »relevanten ausländischen Nationalität«, das heißt mit dem Herkunftsland »islamisch«.23 Die Ergänzung dieser Mittel zeigt, dass die Attacken vom 11. September eine bedeutsame Auswirkung auf die unterschiedlichen Sicherheitsapparate in Deutschland hatten, aber auch in der Art, wie muslimische Menschen innerhalb des Landes wahrgenommen wurden, nämlich als eine immanente Bedrohung und als Sicherheitsproblem. In den folgenden Jahren wurde die harte Durchsetzung von Macht mittels des Sicherheitsapparates komplementiert und positionierte sich bald im größeren Rahmen der Integrationspolitik. In der Institutionalisierung der Deutschen Islam Konferenz lässt sich das ambitionierteste Projekt des Staates wiederfinden, den Islam und die Muslime und Musliminnen zu integrieren und gleichzeitig den deutschen Staat zu verteidigen.

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Die Institutionalisierung des Islam als ein Problem

Der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble gründete die DIK 2006 und präsentierte sie als ein Forum des Dialogs zwischen Vertretern des Staates und der muslimischen Organisationen; allerdings wurden die Letzteren genauestens ausgewählt und vonseiten der Regierung eingeladen.24 Seit der Gründung der DIK machten die Vertreter der DIK deutlich, dass das Ziel der Institution die Integration von Muslimen und Musliminnen und des Islam sei. Dies sollte der Weg sein, die »kulturellen Konflikte«, welche durch die Anwesenheit muslimischer Migranten und Migrantinnen entstehen, zu lösen.25 Somit ist die DIK weit entfernt davon, nur eine Austauschplattform zu sein, sondern ist seit Beginn an auch eine Institution, welche über die rassische Konstruktion der Muslime und des Islam als ein Problem und als potenzielle Bedrohung der Nation formiert wurde und sich daraufhin selbst als eine Reaktion auf derlei Problemlagen präsentierte. Folgt man Sayyids Denkweise, dann kann die DIK als eine Behörde des 22 Werner Schiffauer, Suspect Subjects, Bielefeld 2008, S. 69. 23 Liz Fekete, Anti-Muslim Racism and the European Security State, S. 8–9; vgl. auch: David Tyrer/Salman Sayyid, »Governing ghosts: Race, incorporeality and difference in post-political times«, in: Current Sociology 60(3/2012), S. 358. 24 Für eine ausführlichere Beschreibung der DIK und deren Projekte vgl. Levent Tezcan, Das muslimische Subjekt. Verfangen im Dialog der Deutschen Islam Konferenz, Konstanz 2012; Luis Manuel Hern#ndez Aguilar, Welcome to Integrationsland. 25 Wolfgang Schäuble, »Islam is part of Germany«, 2006, URL: http://www.bmi.bund.de/Shared Docs/Interviews/EN/BM_SZ_Islamkonferenz_en.html (letzter Zugriff: 24. 03. 2016).

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deutschen Staates gesehen werden, den Islam und seine Anhänger als ein diskursives Problem zu denken. Von vornherein fungierte die DIK als eine Gelenkstelle zwischen unterschiedlichen Ebenen der Regierung, Institutionen und Organisationen der Zivilgesellschaft. Sie hat zu vielen »Problemen« die entsprechenden »Lösungen« bereitgestellt, welche immer mit dem Diskurs von Islam verlinkt werden. Dazu zählen Projekte der nationalen Sicherheit, die Prävention von Extremismus, Radikalisierung und Islamismus. Alle diese Aspekte wurden neben Initiativen, die der geschlechtsbezogenen Ungerechtigkeit innerhalb der muslimischen Gemeinde entgegenarbeiten sollten sowie auch dem angeblichen Aufkommen eines Antisemitismus unter den Muslimen und Musliminnen, eingeführt. Darüber hinaus unternahm die DIK Anstrengungen im Bildungssektor, wie etwa die Einführung des Islamunterrichts in staatlichen Schulen und die Etablierung von Zentren für die islamische Theologie an deutschen Universitäten. Während die Programme, welche mit der nationalen Sicherheit verbunden sind, als direkte Antwort von hard power gesehen werden können, ist Letzteres eine weichere und pädagogischere Ausübung von Macht, die als eine langfristige Lösung und als ein zentraler Wegweiser in der Reformation muslimischer Subjektivitäten vorgestellt wird.26 Die Bedrohung der nationalen Sicherheit, die vom islamistischen Terrorismus ausgeht, hat einen zentralen Platz in der DIK eingenommen – und dies bereits seit ihrer Gründung. Zu Beginn der DIKwurden die Themen ›Sicherheit‹, ›Extremismus‹, ›Islamismus‹ und ›Terrorismus‹ nicht in den drei grundlegenden Bereichen und Arbeitsgruppen, aber im Gesprächskreis Sicherheit und Islamismus gesammelt.27 Diese Struktur bestand bis 2009 fort, als sich die Konferenz praktischer orientierte. Dann inkludierte die DIK Sicherheit und Islamismus in den Bereich der Prävention von sozialer Polarisierung.28 So erhielt in struktureller Hinsicht Sicherheit und Islamismus eine größere Relevanz, indem das vorherige Randthema zu einem der drei Hauptbereiche der DIK wurde. Gleichwohl sollte die Tatsache, dass Sicherheit und Islamismus in der ersten Phase der DIK nicht integrierter Bestandteil der drei Arbeitsgruppen war, nicht als ein Zeichen gedeutet werden, dass diese Themen weniger relevant waren. Im Gegenteil, dies ist eher als ein Versuch zu werten, die Unstimmigkeit zu beseitigen, die nationale Sicherheitsthemen mit in die Diskussionen und Prozeduren einer Institution, die nach der Integration von Islam und Muslimen strebt, einzubeziehen, besonders da Deutschland ohnehin schon über einen Sicherheitsapparat verfügt. Somit kann die DIK auch als ein Sicherheitsapparat be26 Luis Manuel Hern#ndez Aguilar, The Imam of the Future. 27 DIK, Zwischen-Resümee der Arbeitsgruppen und des Gesprächskreises der Deutschen Islam Konferenz (DIK), Berlin 2008, S. 1f. 28 DIK, Conclusions of the plenary held on 17 May 2010. Future work program, Berlin 2010.

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trachtet werden, dessen Ziel es ist, die Muslime und Musliminnen in den Kampf gegen extremistische Gewalt innerhalb ihrer »Gemeinden« einzubeziehen. Die Inklusion dieser Themen in den Protokollen der Plenarsitzung der DIK konstruiert nach Rodatz und Scheuring den Islam als ein Feld, auf dem sich Terrorismus entwickelt, und nimmt die Muslime als eine homogene Gruppe wahr.29 Dies stellt eine kontinuierliche Linie in der Folgezeit des »Kriegs gegen den Terror« dar. Somit ist die nationale Sicherheit ein zentraler Aspekt, um die Entstehung der DIK zu legitimieren. Der damalige Innenminister Schäuble antwortete auf dieses Thema in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung wie folgt: SZ: Ist die Islamkonferenz auch eine Konferenz zur inneren Sicherheit? Schäuble: Wir müssen das Menschenmögliche tun, um Konflikte präventiv zu entschärfen, sodass sie nicht in gewalttätige Eskalationen ausarten. SZ: Das heißt, die Islamkonferenz ist auch ein Beitrag zur Überwindung des Terrorismus? Schäuble: In diesem Sinne ja.30

Obgleich zurückhaltend, bestätigt Schäuble die DIK als eine Institution, die sich auch um innere Sicherheitsbelange kümmert. Seine Aussage bildet ferner den generellen Rahmen, in dem das Thema der Sicherheit entfaltet wird, wie zum Beispiel die Prävention mithilfe früher Ermittlungen. Schäubles Position geht einher mit der von Rodatz und Scheuring,31 die für den deutschen Raum argumentieren, und David Tyrer und Salman Sayyid,32 welche für das globale Szenario eintreten. Dies ist eine Strategie, den »islamischen Terrorismus« zu entschärfen, bevor er geschieht. Um der Radikalisierung von Muslimen vorzubeugen, werden die muslimischen Gemeinden im Allgemeinen untersucht, um innerhalb dieser potenziellen Subjekte, die sich in Richtung Radikalisierung bewegen könnten, mithilfe verschiedener Taktiken (Kooperation, Kooptation, Profiling) ausfindig zu machen. Die DIK adressiert die Muslime und Musliminnen als alleinstehende und homogene Gemeinden, wobei sie auf eine kulturelle Interpretation der Politik zurückgreift, wonach Terrorismus in muslimischen Gemeinden wachsen kann, wenn er nicht begutachtet wird. In seiner Eröffnungsrede der Plenarsitzung des Jahres 2011 reduzierte Schäubles Amtsnachfolger Hans-Peter Friedrich die Handlungsreichweite der DIK nicht nur auf die Sicherheitsbelange; vielmehr sollte die Institution eine offene Plattform des Dialoges zwischen muslimischen Vertretern und solchen des Staates sein und werden, indem diese über eine Bandbreite an Themen sprechen. Allerdings unterstrich er anschließend, dass Themen mit Sicher29 Mathias Rodatz/Jana Scheuring, Integration als Extremismusprävention, Wiesbaden 2011, S. 163. 30 Wolfgang Schäuble, »Islam is part of Germany«. 31 Mathias Rodatz/Jana Scheuring, Integration als Extremismusprävention, S. 170. 32 David Tyrer/Salman Sayyid, Governing ghosts, 2012.

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heitsbezug immer auf der Agenda der Konferenz ihren Platz hatten und diesen auch weiterhin behalten werden.33 Für Friedrich war die Prävention von Extremismus innerhalb des Rahmens der DIK ein selbsterklärendes Thema. Damit implizierte er, dass Diskussionen über muslimische Menschen immer auch Diskussionen über Sicherheit sind; doch die Verbindung zwischen Muslimsein und Sicherheit ist nur insofern selbsterklärend, als Muslime und Musliminnen auch mit Problemen und Extremismus verknüpft und als eine homogene Gruppe angesprochen werden und der Islam als ein Feld betrachtet wird, auf dem Extremismus, Radikalisierung und Terrorismus angesiedelt sind. Friedrichs Rede und der Ort, an dem er diese hielt, unterstreichen die Argumente von Schiffauer, Rodatz und Scheuring von Muslimen, die gleichzeitig als Objekte der Sicherheit wahrgenommen werden sowie auch als Subjekte innerhalb des Dialoges mit der Regierung. Friedrich sprach die Muslime und Musliminnen mit diesem zweideutigen Verständnis an.34 Vor dem Hintergrund dieser neuen Initiative kam der Mord an zwei US-amerikanischen Soldaten durch einen Muslimen 2011 in Frankfurt zur Sprache, wobei dieser Einzelfall dazu benutzt wurde, um ein landesweites Sicherheitsprojekt durchzubringen.35 Dann schlug Friedrich vor, dass die geltenden Strategien und Taktiken, die Radikalisierung und terroristische Attacken zu mindern, nicht ausreichend erfolgreich waren und die Attacken am Frankfurter Flughafen die Notwendigkeit vor Augen führen, neue Wege im Kampf gegen den Terrorismus zu finden. Darüber hinaus deutete er auch die Unfähigkeit der Sicherheitsbehörden an, die Existenz und Entwicklung interner Feinde auszumachen, nämlich jene der Terroristen aus dem eigenen Land.36 Dies war ein wiederkehrendes Argument sowohl in Friedrichs Rede als auch in der DIK bezüglich des Sicherheitsaspekts. Sicherheitsbehörden werden als hilflos beschrieben und muslimische Gemeinden als ihnen unzugänglich eingestuft, weshalb der diskursiv wiederkehrende Ruf nach Kooperation und die Aufforderung an die muslimische Bevölkerung, mit deutschen Behörden zusammenzuarbeiten, aufkamen. Außerdem instrumentalisierte Friedrich einen Einzelfall, um allgemeine 33 »Selbstverständlich waren und sind Fragen der Extremismusprävention auch immer Bestandteil der Islamkonferenz, aber eben nicht nur […] Und daran soll sich auch nichts ändern.« Hans-Peter Friedrich, Plenarsitzung der DIK am 29. Ma¨ rz 2011, Redebeitra¨ ge des Bundesministers des Innern, Berlin 2011, S. 2. 34 Vgl. Werner Schiffauer, Suspect Subjects, Bielefeld 2008; Mathias Rodatz/Jana Scheuring, Integration als Extremismusprävention, Wiesbaden 2011, S. 170. 35 Hans-Peter Friedrich, Plenarsitzung, S. 2. Jedoch dokumentiert der Bericht von Europol 2012, dass die Morde nach der deutschen legalen Norm keine terroristischen Attacken waren, sondern von religiös motivierten Einzeltätern begangen wurden – für Friedrich blieb es allerdings ein terroristischer Akt: EUROPOL, TE-SAT, 2012, S. 12. 36 Hans-Peter Friedrich, Plenarsitzung, Berlin 2011, S. 2.

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Handlunsgweisen vorzuschlagen, und schürte die Moralpanik mit den Argumenten der Desintegration in Deutschland und der Bedrohung durch Muslime und Musliminnen. Der hegemoniale Diskurs über den Islam als einer Gefahr gab Friedrich die Möglichkeit, mit Leichtigkeit von einem Einzelfall ausgehend die ganze muslimische Minderheit zu addressieren, welche dadurch definiert ist, dass sie eine vorgeblich homogene Religiosität aufweist. Friedrich erläuterte nicht genauer, in welchem Zusammenhang diese Attacke mit dem Islam und generell mit den Muslimen stand, was genau die Beziehung zwischen Religion und Gewalttaten ist oder ob das Subjekt seine Handlungen mit dem islamischen Glauben rechtfertigte. Friedrich nutzte nur diesen Fall als Hintergrund, um eine stärkere Initiative mit Muslimen und Musliminnen gegen den Extremismus auf den Weg zu bringen: »Die Verhinderung derartiger Bluttaten und das Eintreten für unser friedliches Gemeinwesen sollte nicht länger nur eine Aufgabe unserer Sicherheitsbehörden bleiben. Wir alle sind gefordert, jetzt gemeinsam aktiv zu werden. Wir brauchen hierzu nach meiner Überzeugung eine Partnerschaft zwischen Muslimen und Sicherheitsbehörden […] ›Gemeinsam gegen Extremismus – Gemeinsam für Sicherheit‹«.37

Friedrich betonte damals, dass die Prävention dieser Gewalttaten nicht länger nur ein Belang der Sicherheitsbehörden sein sollte, sondern dass jede/r in Deutschland aktiv dazu aufgerufen sei, gegen Extremismus vorzugehen, im Besonderen aber sei dafür die Beteiligung von Muslimen und Musliminnen gefordert. An dieser Stelle sprang Friedrich vom Einzelfall (der Attacke vom Frankfurter Flughafen) hin zum Plural, den Bluttaten, um. Er koppelte den konkreten Gewaltakt mit vorherigen und zukünftigen Maßnahmen und identifizierte den Islam damit implizit als eine Quelle für Gewalt. Im Gleichklang mit der Strategie zur Integration als Prävention rief Friedrich alle Muslime dazu auf, diesen Handlungen durch Kooperation vorzugreifen. An dieser Stelle könnte man sich fragen, was genau ein »regulärer« Muslim gegen einen Terroristen tun kann, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen? Heißt das, ein deutscher Muslim zu werden, bedarf nicht nur der Integration, sondern auch eines wachsamen Auges innerhalb der eigenen Gemeinschaft? Die Attacke vom Frankfurter Flughafen wurde zur Grundlage für allerlei neue Projekte; unabhängig von der DIK entstand eine Sicherheitsbeziehung zwischen den Muslimen und Musliminnen und den Sicherheitsbehörden, welche tatsächlich schon existierte und auf die Arbeit der DIK zurückgeht – die Clearingstelle Präventionskooperation. Gemeinsam – so Friedrich – könnten deutsche Behörden und muslimische Gemeinden und Organisationen eine strategische Allianz im Kampf und zur 37 Ebd., S. 3.

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Prävention von radikalen Tendenzen, welche zu Terrorismus werden könnten, führen. Die Kooperations-Kooptation von Muslimen in diesem Kampf und die Prävention gegen Terrorismus sind Strategien des Ansatzes Regierung durch Community, der das dominante Vorhaben westlicher Länder aufzeigt, zu kämpfen und dem »islamistischen« Terrorismus zu prävenieren.38 Analytisch gesagt heißt das, Muslime und Musliminnen als infiltrierte Sicherheitsagenten anzuleiten, welche dazu in der Lage sind, diese Subjekte herauszupicken und vom Weg der Radikalisierung abzubringen, Subjekte, die ein Risiko der Radikalisierung mit sich bringen und demnach also auch Führer innerhalb der Gemeinde sein könnten. Anschließend skizzierte Friedrich einen Handlungsplan. Seine Einladung an muslimische Organisationen führte zum ersten Präventionsgipfel, der anschließend als die Initiative Sicherheitspartnerschaft etabliert wurde,39 welche darauf abzielt, der islamistischen Radikalisierung von Jugendlichen in Kooperation mit muslimischen Organisationen entgegenzuwirken.40 Eine der ersten Strategien – ausgelöst durch diese Initiative – war die Institutionalisierung der Beratungsstelle Radikalisierung.41 Gemäß dem BMI korrespondiert die Gründung des Zentrums mit der Beratungsnotwendigkeit von Verwandten und Freunden von radikalen muslimischen Jugendlichen.42 Um das Beratungszentrum voranzutreiben, entwarf das BMI eine Werbeaktion, bei der solche Personen im Mittelpunkt standen: Die Vermisst-Kampagne ist eine Reihe von Postern, die in drei Sprachen (Deutsch, Türkisch und Arabisch) in vielen Städten Deutschland ausgehängt wurden. Die Kampagne nutzte für sich die Idee der Vermisstenanzeigen, obschon die vermisste Person auf dem Poster weder verschwunden noch gekidnappt, sondern vielmehr in islamistische Radikalisierungsprozesse involviert war.43 Die Poster der umstrittenen Vermisst-Kampagne beinhalteten die Bilder von vier Jugendlichen, drei männlichen und einer weiblichen Person. Die Poster 38 Nach Rose ist Regierung durch Community eine gouvernamentale Strategie, in der die Community »mobilized, enrolled, deployed in novel programs and techniques which operated through the instrumentalization of strategic alliances and active responsibilities« ist; Nikolas Rose, »The death of the social? Re-figuring the territory of government«, in: Economy and Society 25(3/1996), S. 332. 39 BMI, »Informationen zum Pra¨ ventionsgipfel«, 2011. URL: http://www.bmi.bund.de/Shared Docs/Downloads/DE/Kurzmeldungen/praeventionsgipfel.html, (letzter Zugriff: 24. 03. 2016). 40 BMI, »Umsetzung der Initiative Sicherheitspartnerschaft«, 2012, URL: http://www.pressre lations.de/new/standard/result_main.cfm ?r=481961& aktion=jour_pm, (letzter Zugriff: 24. 03. 2016). 41 BMI, »Kampagne der Beratungsstelle Radikalisierung gestartet«, 2012, URL: http://www. bmi.bund.de/SharedDocs/Kurzmeldungen/DE/2012/08/kampagne-sicherheitspartnerschaft. html (letzter Zugriff: 24. 03. 2016). 42 BMI, »Umsetzung der Initiative Sicherheitspartnerschaft«, 2012. 43 BMI, »Kampagne der Beratungsstelle Radikalisierung gestartet«, 2012.

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wurden jeweils von einem Text begleitet, welcher angeblich von einem Familienangehörigen oder einem Freund/einer Freundin der »vermissten« jungen Person stammt.44 Nach dem BMI (2012b) sollte die Kampagne die menschliche Seite betonen, wenn man eine verwandte/bekannte Person an die Radikalisierung oder den Terrorismus verliert; allerdings sind die Personen auf den Postern weder Radikale noch vom Salafismus beeinflusste Terroristen.45 Um zu zeigen, dass Radikalisierung nicht exklusiv ein Thema von Personen mit Migrationshintergrund ist, wurde ein Bild von einem Subjekt ohne einen solchen eingefügt, um zu zeigen, »[d]ass dies auch die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund betrifft […] [Dies] wird durch das Motiv ›Tim‹ verdeutlicht. Der Text gibt Aussagen von betroffenen Angehörigen wieder«.46 Obwohl somit anerkannt wird, dass Radikalisierung nicht nur ein Thema von Menschen mit Migrationshintergrund ist, war das BMI zurückhaltend in seiner Aussage, dass Tim Deutscher und in Radikalisierungsprozesse involviert ist. Tim kann aufgrund seines Glaubens nicht als Deutscher interpretiert werden, sondern er wird in der Kampagne als ein Mensch ohne Migrationshintergrund ausgewiesen. Die Kampagne griff nach Bildern, um muslimische Menschen zu rassifizieren; sie benutzte dabei Hautfarbe, Haare, Stoffe und typisch muslimische Namen, um ein Profil von muslimischen Radikalen anzufertigen. Somit werden orientalisierte Körper geschaffen. Die Inklusion von Tim als eindeutig Weißem, während Ahmad und Fatima als people of color dargestellt werden, bestätigt die rassische Repräsentation von Muslimen und Deutschen. Obwohl es das Ziel der Strategie ist, die menschliche Seite des Verlustes zu unterstreichen, werden die dargestellten Personen rassisch objektiviert und darüber hinaus als normale Leute präsentiert, das heißt, sie schauen glücklich und freundlich aus. Die »Normalität« der vermissten Personen hat den Effekt, dass man zu der Vorstellung gelangen kann, jede/r könnte zu einem radikalen Terroristen werden. Wie auch das Bundesamt für Verfassungsschutz bestätigt, bricht die Inklusion von Fatima die Idee auf, dass Radikalisierung ein ausschließlich männliches Phänomen ist.47 Frantz Fanon hat vor einigen Jahrzehnten über die Beschreibung muslimischer Frauen und des Kopftuches als ein bedrohliches 44 BMI, »Kampagne der Beratungsstelle Radikalisierung. Photo gallery«, 2012, URL: http:// www.bmi.bund.de/SharedDocs/Bilderstrecken/DE/20120830-kampagne-sicherheitspartner schaft.html?nn=3314802 (letzter Zugriff: 24. 03. 2016). Die Bilder wurden 2017 aus der Website des BMI entfernt sowie auch die Veröffentlichung innerhalb dieses Artikels nicht erlaubt wurde. Dennoch können die Bilder unter : https://www.zdf.de/kultur/forum-am-frei tag/eine-plakataktion-mit-folgen-100.html eingesehen werden (letzter Zugriff: 24. 03. 2016). 45 BMI, »Kampagne der Beratungsstelle Radikalisierung gestartet«, 2012. 46 BMI, »Kampagne der Beratungsstelle Radikalisierung gestartet«, 2012. 47 BfV, »Frauen in islamistisch-terroristischen Strukturen in Deutschland«, Köln 2011.

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Mittel, Waffen zu verstecken, geschrieben. Yasemin Shooman stellte heraus, wie die Repräsentation muslimischer Frauen in den deutschen Medien in der Spannung zwischen unterdrückt und potenziell gefährlich verankert ist.48 Die Kampagne sandte eine eindeutige Botschaft über das Aussehen von Radikalen und Terroristen – nämlich so wie »normale und reguläre« Muslime und Musliminnen; sie instrumentalisierte eine emotionale Sprache, um die menschliche Seite des Verlustes von Verwandten zu betonen. So wie eine Vermisstenanzeige beinhaltet sie auch die Möglichkeit, dass die vermissten Personen gefunden werden. Die Bilder sind jedoch montierte Darstellungen von Radikalisierten und die vermissten Personen Modelle. Trotzdem versucht diese Montierung, eine wahre Botschaft zu senden, indem sie das rassische Profil und die emotionale Erpressung miteinander verbindet. Ferner versuchte die Plakataktion, eine Verbindung zwischen dem Wahrheitscharakter der Behörde des Bundesministeriums des Inneren (BMI) und der muslimischen Gemeinde zu etablieren, in die Gefühle und Emotionen einzudringen und dadurch junge muslimische Radikale ausfindig zu machen. Jedoch ist es das explizite Ziel der Kampagne, den Verwandten und Freunden Hilfe und Beratung anzubieten. Es gibt keinerlei Berichte darüber, was mit der Information oder mit den jungen muslimischen Radikalen danach passiert. Somit beabsichtigte die Taktik, potenziell bedrohliche muslimische Subjekte aufzudecken und Informationen über diese zu sammeln. Wenngleich das Beratungszentrum als ein wertvolles Werkzeug für Personen, die Bekannte/Verwandte aus einem radikalen Umfeld haben, zu sehen ist, vermittelt die Vermisst-Kampagne ein eindeutiges Profil, wie ein Mitglied einer Terrororganisation aussieht – eben wie ein normaler Mensch aus einem islamisch geprägten Land (mit Ausnahme von Tim). Diese rassische Profilzuschreibung hat verschiedene Konsequenzen: Sie kann die Bedrohung, den Argwohn und den Rassismus gegen Muslime und Musliminnen insofern schüren, indem sie eine klare Botschaft sendet, dass muslimische Körper mit Gefahr assoziiert werden können. Außerdem intensivieren die Bilder die Moralpanik im Hinblick auf muslimische Subjekte als Staatsfeinde. Hinzu kommt, dass diese Bilder als propagierte symbolische Gewalt gegen Muslime und Musliminnen betrachtet wurden und weiteren Argwohn, Zurückweisung, rassisches Profiling und Ausschluss verbreiten konnten – und dies in einem Kontext, in dem diese Themen sowieso schon festgeschrieben sind. Die Kampagne wurde von muslimischen Organisationen, die an der Initiative teilgenommen haben, kritisiert, und sie entschlossen sich aus diesem Grund, ihre Beteiligung daran zurückzuziehen. Im August 2012 haben der Zentralrat der 48 Frantz Fanon, A Dying Colonialism, New York 1965; Yasemin Shooman, »… weil ihre Kultur so ist.« Narrative des antimuslimischen Rassismus, Bielefeld 2014.

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Muslime in Deutschland, die DI˙TI˙B und der Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) sowie die Islamische Gemeinschaft der Bosniaken (IGBD) in Deutschland dem Innenministerium einen Brief zukommen lassen, in dem sie ihre Teilnahme an der Initiative zurücknahmen und ihre Gründe erklärten.49 Die muslimischen Organisationen tauften die Vermisste-Personen-Kampagne in ein Gesuchte-Personen-Poster (Steckbriefkampagne) um und kritisierten die Initiative. Der Brief verdeutlicht die Meinungsverschiedenheit innerhalb der muslimischen Organisationen hinsichtlich eines spezifischen Projekts der Regierung und ihres Sicherheitsapparates. Die muslimischen Organisationen drückten ihre Kritik mithilfe von Demokratie, Menschenrechten und anhand des Gesetzes aus; dennoch verwarf der damalige Innenminister ihre Bedenken, indem er die Kampagne weiterführte und die Organisationen darum bat, ihre Position auch im Hinblick auf die Relevanz im Kampf gegen den Terrorismus zu überdenken. »Die Anzeigenkampagne ist keine ›Steckbriefkampagne‹. Sie wendet sich ersichtlich gegen terroristische Anwerbeversuche. Sie greift die Sorge von Familien vor einer möglichen Radikalisierung ihrer Kinder auf.«50

Somit fand durch das BMI eine Zu- und Umschreibung von Radikalisierung statt und machte muslimische Eltern für die Radikalisierung ihrer Kinder verantwortlich. Obwohl diese Auseinandersetzung außerhalb der DIK geschah, waren die Handelnden ein Teil davon, und Friedrichs Initiative wurde in der DIK gestartet. Friedrichs Abneigung, die Bedenken der Organisationen zu berücksichtigen, zeigte die Grenzen des »Dialogs« auf, welcher implizit vordefinierte Ziele hatte. Der vorliegende Beitrag zeigt also, dass man sich die DIK als ein Instrument des deutschen Staates denken kann, welches die Muslime und Musliminnen als ein Problem darstellt. Somit sind die Vermisst-Kampagne und die Beratungsstelle nur einzelne Teile im Getriebe im größeren Mechanismus des deutschen Staates und schließen weiche und harte Maßnahmen mit ein. Die DIK als Sicherheitsapparat hat ein Bündel an Machttechniken in Bewegung gesetzt, welches auf die Rassifizierung der muslimischen Bevölkerung in Deutschland abzielt. Integration als eine Reformation von Muslimen und Musliminnen, die Integration des Islam in den deutschen Staat und die Integration als eine Präventionsmethode sind also gegenwärtige Technologien der Macht. 49 DITIB; IGBD; VIKS: ZMD, »Schreiben von DITIB, VIKS, IGDB und ZMD«, 2012, URL: http:// www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Kurzmeldungen/schreiben-muslimischever baende.pdf;jsessionid=BC0CB66E1880F9A472ED6A91B62EF71A.2_cid295?__blob=publi cationFile (letzter Zugriff: 24. 03. 2016). 50 BMI, »Bundesinnenminister hält an Initiative Sicherheitspartnerschaft fest«, URL: http:// www.bmi.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2012/08/sicherheitspartnerschaft. html (letzter Zugriff: 24. 03. 2016).

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An dem Tag, an dem dieser Artikel vollendet wurde (29. 03. 2016) waren die Bilder der Vermisst-Kampagne weiter auf der Seite des Bundesministeriums zu finden; sie und ihre Auswirkungen ziehen immer noch ihre Kreise.

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Sabine Berghahn

Juristische und politisch-gesetzgeberische Diskurse zum Kopftuch1

1.

Rückblick auf die juristische Debatte zum Kopftuch: vom »Stück Stoff« zum Politikum!

Die Kopftuchdebatte begann in Deutschland wahrnehmbar erst im Jahr 1998, als die Medien meldeten, dass Fereshta Ludin, eine Lehramtsbewerberin in BadenWürttemberg, wegen ihres Kopftuchs abgelehnt wurde. Sie hatte die Referendarzeit noch mit der Bedeckung absolvieren dürfen und besaß gute Chancen auf eine dauerhafte Beamtenstelle als Lehrerin an Grundschulen, ihre Bewerbung wurde jedoch allein wegen ihrer Weigerung, das Kopftuch abzunehmen, zurückgewiesen. Sie entschied sich für den Rechtsweg und damit für den Gang durch die Instanzen der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Fereshta Ludin war nicht die erste und auch nicht die einzige Muslima mit Kopftuch, die versuchte, im Lehrberuf an öffentlichen Schulen in Deutschland Fuß zu fassen, aber sie war die erste, die den gerichtlichen Weg bis zum Ende, fast möchte man sagen, bis zum bitteren Ende verfolgte, denn sie verlor ihren Prozess in allen Instanzen bis hinauf zum Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) und erhob schließlich Verfassungsbeschwerde. Beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe errang sie am 24. September 2003 einen Teilsieg, indem ihr die Senatsmehrheit erstmals im gesamten Verfahren bescheinigte, dass das Land Baden-Württemberg und die angerufenen Gerichte ihr Grundrecht der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4 GG) verletzt hätten.2 Es habe an einer gesetzlichen Grundlage für einen derartig einschneidenden staatlichen Eingriff in ihr Grundrecht gefehlt, das ohne Gesetzesvorbehalt ausgestattet ist und daher einen besonders hohen 1 Der vorliegende Beitrag wurde zum 03. 08. 2017 fertiggestellt. Etwaige rechtliche oder tagespolitische Veränderungen, die sich seither ergeben haben, bleiben daher unberücksichtigt. 2 BVerfG v. 24. 09. 2003, 2. Senat, Az. 2 BvR 1436/02, BVerfGE 108, 282ff., vgl. 1. Leitsatz: »1. Ein Verbot für Lehrkräfte, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen, findet im geltenden Recht des Landes Baden-Württemberg keine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage.«

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Sabine Berghahn

Stellenwert hat.3 Sie musste aber hinnehmen, dass das BVerfG den Bundesländern generell die Möglichkeit eröffnete,4 in ihren Schulgesetzen Verbote für Lehrkräfte zu verankern, wonach religiöse, weltanschauliche oder politische Kleidungsstücke oder Symbole nicht getragen werden dürften. Das Land BadenWürttemberg machte von dieser Möglichkeit 2004 Gebrauch, sodass Ludins Bewerbung aufgrund der neuen gesetzlichen Grundlage in der Folgezeit endgültig abgelehnt werden konnte.5 Auf diese Weise wurde Fereshta Ludin zur Galionsfigur der Stigmatisierung wegen des Kopftuchs,6 obwohl sie den Verdächtigungen, eine islamische Fundamentalistin und Gegnerin der Gleichberechtigung zu sein, keinerlei Nahrung gegeben hatte. Im Gegenteil, sie wollte als Lehrerin gerade dazu beitragen, dass muslimische Mädchen durch Bildung und Ausbildung in eine gleichberechtigte Rolle hineinwachsen.7 Aber generalisierendes Halbwissen über den Islam, Ressentiments gegen Muslime und Vorurteile gegenüber südeuropäischen und arabischen Einwanderern schlechthin suchten nach einer Projektionsfläche: Die weibliche Kopfbedeckung sahen und sehen die Befürworter/innen von Kopftuchverboten in der deutschen Mehrheitsgesellschaft nicht einfach als ein religiös konnotiertes Kleidungsstück und persönliches Bekenntnis zum Islam an, so wie manche Menschen ein kleines goldenes Kreuz oder einen Davidstern als Kettenanhänger tragen. Vielmehr wurde das Kopftuch zum Symbol für islamischen Fundamentalismus, für eine muslimische Parallelgesellschaft, für die gesellschaftliche Distanzierung von liberalen Prinzipien und von der Gleichberechtigung der Geschlechter erklärt.

3 Art. 4 Abs. 1 und 2 GG haben keinen Gesetzesvorbehalt, das heißt dort wird nicht darauf verwiesen, dass die (einfachen) Gesetze das Weitere regeln, wie z. B. beim Versammlungsgrundrecht (Art. 8 GG). Das bedeutet, dass sich die Schranken der Grundrechtsausübung bei Art. 4 GG aus »kollidierendem Verfassungsrecht«, also in erster Linie aus einer Abwägung mit konkurrierenden Grundrechten anderer Personen ergeben. 4 BVerfG v. 24. 09. 2003, Az. 2 BvR 1436/02, BVerfGE 108, 282ff., 2. Leitsatz: »Der mit zunehmender religiöser Pluralität verbundene gesellschaftliche Wandel kann für den Gesetzgeber Anlass zu einer Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes religiöser Bezüge in der Schule sein.« 5 BVerwG v. 24. 06. 2004, 2 C 45/03. BVerwGE 121, 140ff. 6 Vgl. Florian Kreutzer, Stigma »Kopftuch«. Zur rassistischen Produktion von Andersheit, Bielefeld 2015. 7 Vgl. Fereshta Ludin/Sandra Abed, Enthüllung der Fereshta Ludin. Die mit dem Kopftuch, Berlin 2015.

Juristische und politisch-gesetzgeberische Diskurse zum Kopftuch

2.

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Projektionen und Stigmatisierung aus Angst vor sozialer und beruflicher Aufstiegskonkurrenz?

Dabei hatte in den Anfangszeiten der türkisch-muslimischen Einwanderung von Arbeitskräften fast niemand Anstoß genommen, wenn etwa Reinigungskräfte mit traditionellem Hijab Schul- oder Krankenhausflure reinigten. Eine Putzfrau mit Kopftuch war für die deutsche Mehrheitsgesellschaft nie ein Problem, bei einer Lehrerin mit Kopfbedeckung gingen jedoch alle Ampeln auf Rot.8 Infrage steht offensichtlich die gewohnte soziale und gesellschaftliche Hierarchie, denn Lehrerinnen und Lehrer an öffentlichen Schulen sind in der Regel Beamte, also Staatsdiener und -dienerinnen, und üben – unabhängig davon, in welcher Schulstufe sie unterrichten – einen sehr qualifizierten Beruf mit entsprechender Bezahlung aus. Wer in solche professionell und gesellschaftlich geachteten Kreise aufsteigen möchte, muss sich nicht nur durch Abitur, Studium, Referendarzeit und zwei Staatsexamen qualifizieren, sondern auch im persönlichen Habitus ausreichend anpassen. Dass Religiosität und Zeichen eines »fremden« Glaubens, der noch dazu in unteren sozialen Schichten von Einwanderern und Asylsuchenden verortet wird, dabei offen gezeigt werden, gilt für viele Angehörigen der deutschen Mehrheitsgesellschaft anscheinend als nicht tolerabel. Anders als das Kopftuch der Lehrerin wird das Kopftuch bei muslimischen Schülerinnen gesehen. Ihnen wird das Tragen des Hijab meist zugestanden – mit Rücksicht auf das Elternrecht. Das Recht der Eltern zur Erziehung ihrer Kinder (auch) in Glaubensdingen (Art. 6 Abs. 2 GG) gilt als wichtiges Grundrecht, das von der Mehrheitsgesellschaft und ihren führenden Juristen nicht dadurch infrage gestellt werden soll, dass man es bei muslimischen Migranten und Migrantinnen beschneidet. Mit 14 Jahren werden Schülerinnen ohnehin religionsmündig und dürfen aus eigenem Recht das Kopftuch tragen oder ablegen. Die Schulen versuchen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten auf Eltern und Schülerinnen einzuwirken, dass niemand zum Hijab-Tragen gezwungen wird und zumindest jüngere Mädchen vor der Pubertät unbedeckt bleiben. Bei beiden Gruppen – Lehrerinnen und Schülerinnen – und für sonstige professionelle Zusammenhänge besteht Einigkeit darüber, dass eine Gesichtsverhüllung nicht infrage kommt. Die Burka, also die Gesichtsverhüllung mit Gitternetz vor den Augen, oder der Niqab, ein Sehschlitz bei sonstiger Verhüllung des Gesichts, vereitelt die offene pädagogische und professionelle – und vor allem zwischenmenschliche – Kommunikation und ist deshalb in Schule, Studium und am Arbeitsplatz in der Regel untersagt. Solange aber das Gesicht

8 Michael Lüders, »›Ich bin doch kein Alien.‹ Mit oder ohne Kopftuch – muslimische Studentinnen in Deutschland sind pragmatisch«, in: Die Zeit vom 23. 07. 1998.

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unbedeckt bleibt, lässt sich aus schulischer und beruflicher Perspektive gegen eine Bedeckung der Haare, der Ohren und der Halspartie nichts einwenden. Beim Kopftuch einer Lehrerin wird jedoch die mögliche Vorbildwirkung für Schülerinnen, Schüler und gesellschaftliche Geschlechterzustände immer mitdiskutiert. Allerdings ist die Frage, welche Einflüsse ein Kopftuch der Lehrerin auf Schulkinder ausübt, empirisch bislang nicht oder kaum erforscht worden, was angesichts der Verbote und der nur wenigen bedeckten Lehrerinnen nicht verwunderlich ist. Den Aspekt des »negativen Vorbilds« für Kinder und junge Menschen bringen argumentativ vor allem jene ins Spiel, die das Kopftuch als »starkes« Symbol der Unterdrückung von Frauen und des islamistischen Fundamentalismus und Fanatismus ansehen. Für sie ist das Kopftuch in erster Linie eine politische beziehungsweise gesellschaftspolitische Aussage. Gegen diese Deutung sprechen eine Vielzahl von Selbstaussagen von Betroffenen und zahlreiche Eindrücke aus dem Alltag sowie Untersuchungsergebnisse sozialwissenschaftlicher Studien.9 Aus Letzteren geht hervor, dass erwachsene Kopftuchträgerinnen vielfältige, in der Regel egalitätskonforme individuelle Motive angeben und dass gerade akademisch ausgebildete und studierende Frauen mit Kopfbedeckung emanzipierte Selbstinterpretationen liefern und entschieden für Gleichberechtigung eintreten. Jedoch geht es spätestens seit den offen rassistischen Demonstrationen von PEGIDA10 in Dresden und ihren Nachahmerbewegungen anderenorts und seit der politischen Selbstinszenierung der AfD (Alternative für Deutschland) als Sammelbecken explizit antiislamischer Kräfte auch beim Kopftuch nicht mehr um argumentative Auseinandersetzungen. Schon vor diesen rechtspopu9 Vgl. Yasemin Karakasoglu, Stellungnahme zu den Motiven von jungen Musliminnen in Deutschland für das Anlegen eines Kopftuches. Stellungnahme des Instituts für Migrationsforschung, Interkulturelle Pädagogik und Zweitsprachendidaktik der Universität Duisburg/ Essen (für das Bundesverfassungsgericht), 2003; Dies., »Frauen mit Kopftuch in Deutschland. Symbol der Religiosität, Zeichen von Unterdrückung, Ausdruck neuer Identitäten?«, bpbPortal, 2005; Frank Jessen/Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Das Kopftuch – Entschleierung eines Symbols? Nr. 77 Zukunftsform Berlin der Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin/Berlin 2006; Birgit Rommelspacher, Feminismus und kulturelle Dominanz. Kontroversen um die Emanzipation der muslimischen Frau, in: Sabine Berghahn/Petra Rostock (Hg.), Der Stoff aus dem Konflikte sind. Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Bielefeld 2009, S. 395–411. Indre Monjezi Brown, Muslimische Frauen und das Kopftuch – Hijab und Islamischer Feminismus, in: ebd., S. 437–463. Riem Spielhaus, »Interessen vertreten mit vereinter Stimme: Der Kopftuchstreit als Impuls für die Institutionalisierung des Islams in Deutschland«, in: ebd., S. 413–436; Naika Foroutan, »Erkenntnisse aus der Studie ›Deutschland postmigrantisch‹«, (2014), Input auf der Bundespressekonferenz vom 5. 01. 2015, abrufbar unter : http://www.rat-fuer-migration.de/pdfs/ Handout_Foroutan_BIM_.pdf (Stand: 31. 07. 2015). 10 PEGIDA steht für Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes.

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listischen Ausbrüchen gab es Manifestationen von Hass und Gewalt gegen kopftuchtragende Frauen; man denke nur an den Mord an der Ägypterin Marwa El-Sherbini 2009 in einem Dresdner Gerichtssaal durch einen Mann, der sie bereits zuvor wegen des Kopftuchs beleidigt hatte und deshalb vor Gericht stand. Warum das Stück Stoff so viel Angriffsfläche für Aggressionen gegen Musliminnen, den Islam und Migranten beiderlei Geschlechts bietet, ist kaum zu erklären. Eine spezifische, bisweilen auch allgemeine Fremdenfeindlichkeit mischt sich bei anfälligen Bevölkerungskreisen vermutlich mit Ängsten vor sozialer Konkurrenz, Kriminalität und Machismo und paart sich aufseiten mancher Männer mit Frauenhass im Allgemeinen sowie gewaltförmigen Aggressionen gegen Frauen und Mädchen. Manche Frauen fürchten sich angesichts des Kopftuchs vor Rückschritten in Sachen Gleichberechtigung und möchten den erreichten Stand weiblicher Emanzipation verteidigen. Das Kopftuch ist ein Symbol für dieses Wechselbad der Gefühle, das die Gemütslage vieler Menschen in der deutschen Einwanderungsgesellschaft kennzeichnet. Anscheinend polarisiert das Kopftuch der Lehrerin ganz besonders, ablesbar daran, dass auch gebildete Personengruppen, namentlich feministische Kreise in Politik, Publizistik und Wissenschaft, gespalten sind, also für oder gegen die Duldung des Kopftuchtragens argumentieren. Politisch wird das Kopftuch gerne im rechtspopulistischen Sinne instrumentalisiert. Dennoch bleibt die Härte der Konfrontation in mancher Hinsicht unerklärlich, da gerade Lehrerinnen oder Lehramtsbewerberinnen als erwachsenen Personen sicherlich zugebilligt werden muss, das Kopftuch freiwillig zu tragen, da sie dies auch selbstbewusst begründen können. Des Weiteren würden sie – dürften sie denn im Beruf arbeiten – gerade als Rollenvorbild für muslimische Mädchen den Beweis erbringen können, dass weibliche Religiosität und Traditionspflege mit Gleichberechtigung zusammengehen können und das Kopftuch keineswegs Unterordnung unter männliche Vorherrschaft bedeuten muss.

3.

Von der ersten bis zur zweiten verfassungsgerichtlichen Entscheidung in Karlsruhe – eine Rechtsgeschichte der Verbote und Ausgrenzungen

Seit der Ablehnung von Fereshta Ludin für den Schuldienst in Baden-Württemberg (BW) im Jahre 1998 sind 20 Jahre vergangen. Die deutlichste Spur des »islamischen Kopftuchs« im Rechtsstaatsgefüge und in der deutschen Rechtsgeschichte hinterließ die Gesetzgebung in 8 von 16 Bundesländern, wo nach dem ersten Kopftuchurteil des BVerfG von 2003 das Tragen religiöser, weltanschaulicher und politischer Kleidungsstücke oder Symbole für Lehrkräfte ver-

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boten wurde.11 Im Wortlaut der novellierten Schulgesetze tauchte der Begriff »Kopftuch« nicht auf, und die intendierte Stoßrichtung allein gegen das islamische Kleidungsstück wurde nicht deutlich; diese Absicht trat jedoch in den Debattenbeiträgen in den Landesparlamenten und Gesetzesbegründungen deutlich hervor.12 In den Bundesländern Berlin und Hessen wurden sogar gesetzlich auch für andere Berufspositionen im öffentlichen Dienst Kleidungsverbote erlassen.13 Daher waren weitere Fälle von gerichtlich klagenden Lehrerinnen, Lehramtsbewerberinnen oder Studienreferendarinnen zu verzeichnen, nachdem sie abgelehnt oder als praktizierende Lehrerinnen beamtenrechtlich diszipliniert oder arbeitsrechtlich abgemahnt und gekündigt worden waren. Wer abgelehnt oder entlassen wurde, erhielt faktisch ein »Berufsverbot«, im Staatsdienst als Lehrerin zu arbeiten, wie es auch angebliche Verfassungsfeinde und Extremisten beiderlei Geschlechts in den 1970er- und 1980er-Jahren erhalten haben, wenn sie wegen »radikaler« politischer Ansichten oder Umtriebe aus dem Staatsdienst entfernt oder gar nicht erst in diesen aufgenommen wurden.14 Die Klagen von Musliminnen mit Kopftuch, die sich vergeblich für den Schuldienst beworben oder sich gegen Sanktionierung oder Entlassung gewehrt hatten, scheiterten vor den Gerichten der Verwaltungs- oder Arbeitsgerichtsbarkeit, jedenfalls in höherer Instanz.15 Aber nicht alle gaben auf, und so gelangten zwei weitere Verfassung11 Vgl. Christian Henkes/Sascha Kneip, Die Plenardebatten um das Kopftuch in den deutschen Länderparlamenten, in: Sabine Berghahn/Petra Rostock (Hg.), Der Stoff aus dem Konflikte sind, Bielefeld 2009, S. 249–274. 12 Vgl. z. B. NRW LT-Drs. 14/569, S. 9 und LT-Drs. 13/4564, S. 8; BW Gesetzentwurf der Landesregierung, LT 13/2793, S. 7. 13 Für Berlin vgl. das Gesetz zu Artikel 29 der Verfassung von Berlin und zur Änderung des Kindertagesbetreuungsgesetzes vom 27. 01. 2005, sog. Neutralitätsgesetz; dies betrifft den Bereich der Rechtspflege, des Justizvollzugs und der Polizei sowie Lehrkräfte (beamtet oder angestellt) und in abgemilderter Form Kita-Beschäftigte; Hessen vgl. in Bezug auf Beamte und Beamtinnen das Gesetz zur Sicherung der staatlichen Neutralität vom 18. 10. 2004 sowie für Lehrkräfte nach dem Schulgesetz. In Baden-Württemberg wurde im Kindergartengesetz 2006 eine analoge Regelung zu der im Schulgesetz getroffen. 14 Vgl. Sabine Berghahn, Berufsverbote im Wandel der Zeiten, in: Fredrik Roggan/Dörte Busch (Hg.), Das Recht in guter Verfassung? FS für Martin Kutscha, Baden-Baden 2013, S. 265–277. Und Gabriele Boos-Niazy, D8j/vu, in: Hilal Sezgin (Hg.), Manifest der Vielen. Deutschland erfindet sich neu, Berlin 2011, S. 175–184. 15 Zum Beispiel in NRW VG Düsseldorf v. 05. 06. 2007, Az. 2 K 6225/06; ArbG Düsseldorf v. 29. 06. 2007, 12 Ca 175/07; ArbG Herne v. 07. 03. 2007, 4 Ca 3415/06; VG Düsseldorf v. 14. 08. 2007, 2 K 1752/07; VG Aachen v. 09. 11. 2007, 1 K 1466/07; LAG Düsseldorf v. 10. 04. 2008, 5 Sa 1836/07, in: BB 2008, 889; LAG Hamm v. 16. 10. 2008, 11 Sa 280/08; VG Köln v. 22. 10. 2008, 3 K 2630/07 und weitere. In BW vgl. VG Stuttgart v. 07. 07. 2006, 18 K 3562/05, NVwZ 2006, 1444ff. Hier hatte die Kopftuch tragende Lehrerin, Doris Graber, noch Erfolg, weil das Gericht ein Vollzugsdefizit an Gleichbehandlung mit einzelnen Nonnen im Habit feststellte; in den höheren Instanzen scheiterte die Muslima jedoch, VGH Mannheim v. 14. 03. 2008, 4 S 516/07; BVerwG v. 16. 12. 2008, 2 B 46.08.

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sbeschwerden 2010 nach Karlsruhe. Sie führten schließlich zu einer Entscheidung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) am 27. Januar 2015,16 die bezüglich der Kernaussage gegensätzlich zum ersten Verfassungsgerichtsurteil des Zweiten Senats vom 24. September 2003 ausfiel. Neben den zwei Entscheidungen des BVerfG liegt die Rechtsprechung von Landesverfassungsgerichtshöfen aus Hessen und Bayern17 vor ; sie fiel als Bestätigung der legislativen Verbotslinie der Bundesländer aus. Zudem wurden viele juristische Aufsätze, Bücher, Gutachten, Dissertationen, Kommentierungen, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel geschrieben und Dokumentationen oder Spielfilme zum Thema gedreht. Der Konflikt scheint indes noch immer nicht beigelegt zu sein. Auch der Regelungsgehalt der zweiten verfassungsgerichtlichen Entscheidung wurde bislang kaum in die bundesdeutsche Praxis umgesetzt.

4.

Die neue Entscheidung des BVerfG vom Januar 2015: Der Erste Senat stellt die Verfassungsdogmatik vom Kopf auf die Füße!

Mit dem Beschluss vom 27. Januar 2015 hat der Erste Senat des BVerfG die liberal-rechtsstaatliche Normalität im Grundsatz wiederhergestellt, indem er ein pauschales religiöses Kleidungsverbot ohne Bezug zum individuellen Verhalten und zu einer »hinreichend konkreten« Gefährdung von staatlicher Neutralität, Schulfrieden oder Grundrechten von Schülern und Schülerinnen oder Eltern für verfassungswidrig erklärte und die »verfassungskonforme« Auslegung und Anwendung des Schulgesetzes in Nordrhein-Westfalen verordnete. Eine verfassungskonforme Auslegung der Verbotskriterien bedeutet, dass der Lehrkraft konkret ein individueller Verstoß gegen entsprechende Pflichten nachgewiesen werden muss. Das pauschale Kleidungsverbot sei nicht nur unverhältnismäßig, sondern verstoße außer gegen Art. 4 GG auch gegen die Gleichberechtigung der Geschlechter.18 In Ausnahmesituationen, wenn in einer Schule oder einem Schulbezirk »die Schwelle zu einer hinreichend konkreten Gefährdung oder Störung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität in einer beachtlichen Zahl von Fällen 16 BVerfG v. 27. 01. 2015, 1. Senat, Az. 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10. 17 Bayerischer Verfassungsgerichtshof vom 15. 01. 2007, Vf. 11-VII-05, Popularklage, NVwZ 2008, 420ff.; Staatsgerichtshof des Landes Hessen, Normenkontrollverfahren P.St. 2016, Entscheidung vom 10. 12. 2007, NVwZ 2008, 199ff. Zu Hessen vgl. Ute Sacksofsky, Kopftuchverbote in den Ländern – am Beispiel des Landes Hessen, in: Sabine Berghahn/Petra Rostock (Hg.), Der Stoff aus dem Konflikte gemacht sind, Bielefeld 2009, S. 275–293. 18 BVerfG v. 27. 01. 2015, 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10, Rn. 144.

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erreicht« wird, könne ein Verbot des Kopftuchtragens allerdings bei »substantiellen Konfliktlagen«19 auch ohne persönliches Fehlverhalten einzelner Lehrkräfte angeordnet werden, jedoch nur vorübergehend und als letztes Mittel.20 Zuvor müsse versucht werden, den Konflikt auf andere Weise zu befrieden, zum Beispiel durch den Einsatz der Lehrkraft in anderen Klassen.21 Die sogenannte Ausnahmeklausel zugunsten der »Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen«22, die in Nordrhein-Westfalen und vier anderen Bundesländern existiert(e), erklärte das Verfassungsgericht für nichtig, weil sie das Gleichbehandlungsgebot aller Religionen verletze. Auch diese Entscheidung erging – wie diejenige von 2003 – nicht einstimmig, sondern mit 6:2 Stimmen.23 Diesmal war eine Mehrheit für eine liberal-tolerante Position jedoch klar vorhanden, es musste kein in sich unstimmiger Kompromiss geschlossen werden, um eine Mehrheit zu bilden.24 Eine Richterin und ein Richter hatten aber auch bei der neuerlichen Entscheidung eine abweichende Meinung, mit der sie die Gesetzgebung in NRWund die verfassungsgerichtlichen Grundsätze von 2003 verteidigten.25 Das Erfordernis einer konkreten Gefahr stelle eine Überbewertung des individuellen Grundrechts und eine Unterbewertung der entgegenstehenden Grundrechte und Rechtsgüter dar und sei ein unzulässiger Eingriff in Kompetenzen von Schulbehörden und Landesgesetzgebung. Nordrhein-Westfalen hatte die Formulierungen seiner Verbotsklauseln größtenteils wörtlich von Baden-Württemberg übernommen. Die Verbotspassagen im NRW-Schulgesetz fanden erst 2006 eine Mehrheit, nachdem sich die Mehrheitsverhältnisse bei der Landtagswahl 2005 von Rot-Grün zu SchwarzGelb verändert hatten. Unter der vorherigen Regierung aus SPD und Grünen war ausdrücklich kein religiöses Kleidungsverbot eingeführt worden, obwohl die CDU-Opposition es vehement gefordert hatte. Als CDU und FDP dann 2005 über eine Mehrheit im Landtag verfügten, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis das 19 2. Leitsatz der BVerfG-Entscheidung vom 27. 01. 2015. 20 Dazu könne vorbeugend eine Verordnungsermächtigung und eine ausführende Verordnung geschaffen werden, BVerfG v. 27. 01. 2015, 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10, Rn. 114. 21 Ebd., Rn. 114. 22 Ebd., Rn. 138. Sie lautete in NRW gemäß § 57 Abs. 4 Satz 3 SchulG: »Die Wahrnehmung des Erziehungsauftrags nach Artikel 7 und 12 Abs. 6 der Verfassung des Landes NordrheinWestfalen und die entsprechende Darstellung christlicher und abendländischer Bildungsund Kulturwerte oder Traditionen widerspricht nicht dem Verhaltensgebot nach Satz 1.« 23 Ebd., Rn. 159. Die Entscheidung des 2. Senats von 2003 erging mit 5:3 Stimmen, drei Richter verfassten ein Minderheitsvotum. 24 Dies war beim Urteil von 2003 der Fall, vgl. Sabine Berghahn, Deutschlands konfrontativer Umgang mit dem Kopftuch der Lehrerin, in: Sabine Berghahn/Petra Rostock (Hg.), Der Stoff aus dem Konflikte gemacht sind, S. 33–72. 25 BVerfG v. 27. 01. 2015, 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10, im Anschluss an die Mehrheitsentscheidung.

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analoge Gesetz zu dem von Baden-Württemberg in Kraft trat (am 14. 06. 2006) und für die mit Kopftuch tätigen Lehrerinnen zum ernsten Problem wurde. Auch wegen der zunächst toleranten Linie unterrichteten in NRW bei Einführung des Verbots relativ viele muslimische Pädagoginnen mit Kopftuch.26 Mittlerweile haben sich die Mehrheitsverhältnisse im Landtag von NRW und auch in anderen Bundesländern mit Verbotsgesetzen – zum Teil sogar mehrfach – verändert; somit wäre es gesetzgeberisch schon vor der zweiten Kopftuchentscheidung in Karlsruhe möglich gewesen, die Verbote in den Schulgesetzen (und darüber hinaus) aufgrund neuer Einsichten wieder aufzuheben. Dies geschah aber nicht; auch unter den rot-grünen Regierungen in NRW (bis März 2017) und Niedersachsen der jüngeren Zeit sowie unter der grün-roten Regierung in Baden-Württemberg (bis März 2016) wagten sich die führenden Kräfte in den Regierungen und Parlamenten nicht aus der Deckung. Geht man davon aus, dass das wesentliche Motiv für die Verbannung religiöser Kleidung allein auf das Kopftuch abzielte und dass die Verbote zur Profilierung einer populistischen Politik der Abgrenzung vom Islam und von den eingewanderten Muslimen dienen sollten, so erscheint es nicht weiter verwunderlich, dass selbst die nunmehr Regierenden von der SPD und den Grünen die Geister, die ihre Vorgänger gerufen hatten, nun nicht mehr loswurden. Sie trauten sich daher nicht, bewusst und explizit richtigzustellen, dass pauschale Kopftuchverbote Musliminnen diskriminieren, deren berufliche Gleichberechtigung behindern und von den Voraussetzungen her schlicht verfassungswidrig sind. Politisch trifft der Vorwurf antimuslimischer Stimmungsmache und institutionalisierter Diskriminierung vornehmlich die Fraktionen der CDU/CSU und partiell der FDP, deren Regierungsmehrheiten die Verbote ursprünglich in den Jahren 2004–2006 gesetzlich verankert haben. In manchen Ländern wurden diese Gesetze aber von der SPD unterstützt, etwa in Baden-Württemberg, wo im Landtag nur die Grünen – wie überall – dagegen stimmten.27 In den nördlichen Bundesländern Berlin und Bremen waren es sogar SPD-geführte Koalitionen, die

26 Nach Schätzungen dürften es etwa 20 bis 25 gewesen sein. 27 In Baden-Württemberg gab es 2004 eine »ganz große Koalition« zugunsten des Kopftuchverbotsgesetzes, die persönlich von Annette Schavan, der damaligen Kultusministerin des Landes, angeführt wurde. Sie hatte bereits die Ablehnung der Bewerbung von Fereshta Ludin befürwortet und öffentlich verteidigt. Außer den Grünen stimmten im Landtag alle Fraktionen, also CDU, SPD und FDP für ein Verbot im Schulgesetz. Bei keiner Partei – außer den Grünen – gab es in Bezug auf alle Bundesländer eine durchgängige Befürwortung oder Ablehnung von Verbotsgesetzen in den Parlamenten, die darüber debattierten, nicht einmal bei der CDU. Sie nahm in Hamburg davon Abstand, ein solches Gesetz einzubringen, obwohl sie die Regierung führte; vgl. Christian Henkes/Sascha Kneip, Die Plenardebatten um das Kopftuch in den deutschen Landesparlamenten, in: Sabine Berghahn/Petra Rostock (Hg.), Der Stoff aus dem Konflikte gemacht sind, S. 249–274, 255.

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solche Verbotsgesetze einführten.28 Diese teilweise populistisch-antimuslimischen Stimmungslagen in der Bevölkerung, teilweise generell laizistischen Intentionen29 der handelnden Kräfte und die problematische Vermengung der Kopftuchfrage mit anderen Phänomenen und Problemen der Einwanderungsgesellschaft, namentlich der Unterdrückung und Gewalt gegen Frauen und Mädchen etwa in Form von Zwangsverheiratungen, ließen es naheliegend erscheinen, dass die Landesregierungen auch später nichts unternahmen, um für diskriminierte Lehrerinnen die Rechtsstaatlichkeit und den Rechtsschutz legislativ wiederherzustellen. Sie wollten vielmehr auf die neue Entscheidung des BVerfG warten, die sich aber seit 2010 von Jahr zu Jahr hinausschob.

5.

Von 2003 bis 2015: Individueller Rechtsschutz blieb auf der Strecke

Der individuelle Rechtsschutz für kopftuchtragende Lehrerinnen und Bewerberinnen für solche und ähnliche Berufspositionen blieb somit auf der Strecke. Die Fachgerichte (Verwaltungs- und Arbeitsgerichte in drei Instanzen) exekutierten in den Bundesländern mit Verbotsgesetzen die Linie des pauschalen Kopftuchverbots ohne Berücksichtigung individueller Motiv- oder Verhaltensaspekte. Auch die realen Gefahren für den Schulfrieden oder für die staatliche Neutralität in religiösen Dingen wurden nicht betrachtet. Folglich wurde auch nicht gewürdigt, dass Abmahnungen, Kündigungen und Entfernungen aus dem Dienst fast ausnahmslos30 ohne Rücksicht auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ausgesprochen worden waren. Einen positiven Rechtsschutz gab es ansatzweise für Studienreferendarinnen; ihnen wurde analog zum Berufsverbotsurteil des BVerfG von 197531 die Teilnahme an der Referendarausbildung im Rahmen von Ausnahmeregelungen gestattet. Der Rechtsgrund hierfür liegt in dem Anspruch auf Teilnahme an der durch Art. 12 Abs. 1 GG staatlich garantierten Monopolausbildung für den Lehr- oder juristischen Beruf. So hatte es auch in höchster Instanz das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) 2008 verlangt.32 Schon 2004 hatte das BVerwG im Übrigen die jeweils ähnlich formulierten 28 Ebd., S. 249–274, 255. 29 Laizismus oder Laizität bedeutet eine sehr strikte Trennung von Kirche bzw. Religion und Staat. In laizistischen Staaten wie Frankreich soll die Religion aus der öffentlichen und politischen Sphäre herausgehalten und im Privaten ausgeübt werden. Religionsunterricht in öffentlichen Schulen ist dort genauso undenkbar wie eine politische Partei mit dem »C« im Namen. 30 Ausnahme: VG Stuttgart v. 7. 7. 2006, 18 K 3562/05 (in Sachen Doris Graber). 31 BVerfG v. 22. 5. 1975, 2 BvL 13/73, BVerfGE 39, 334ff. 32 BVerwG v. 26. 06. 2008, 2 C 22/07, NJW 2008, 3654.

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sogenannten Ausnahmeklauseln zugunsten christlich-abendländischer Traditionen und Werte (s. o.) verfassungskonform uminterpretiert: Mit einer solchen Klausel werde nicht der Nonnenhabit oder die jüdische Kippa vom Kleidungsverbot des Kopftuchs ausgenommen, vielmehr gehe es bei diesen »christlichabendländischen« Vorbehaltsklauseln um die inhaltliche Darstellung der Bildungsinhalte, insbesondere der europäischen Geschichte, Kultur und Werteordnung, keinesfalls jedoch um die Kleidung oder den Schmuck von Lehrkräften.33 Dem Prinzip der Gleichbehandlung aller Religionen schien dadurch offenbar Genüge getan zu sein; mehr hielt man in der Justiz nicht für nötig. Der effektive individuelle Rechtsschutz für kopftuchtragende Lehrerinnen und Bewerberinnen stand nicht auf der Agenda. Im Gegenteil, alibihaft wurden die in sich widersprüchlichen Sätze aus dem ersten Kopftuchurteil zitiert, dass der »objektive Empfängerhorizont« darüber entscheide, welche Bedeutung dem Kopftuch der Lehrerin zugeschrieben werden könne, um ein pauschales Verbot zu rechtfertigen.34 Obwohl auch die Senatsmehrheit betont hatte, dass das Stück Stoff nicht auf problematische, beispielsweise auf gleichberechtigungswidrige, Bedeutungen reduziert werden dürfe, weil die Motive, es zu tragen, vielfältig seien, hatte dieselbe Senatsmehrheit dennoch auf den sogenannten Empfängerhorizont abgestellt, der auch die Distanzierung von der Mehrheitsgesellschaft heranzieht. Im Klartext ließ man damit den üblichen Vorurteilen gegen kopftuchtragende Frauen nahezu freien Lauf und ihnen eine juristische Rechtfertigungskonstruktion geliefert. Besonders aussagekräftig sind Berichte von Zuschauerinnen aus Gerichtsverhandlungen, in denen Richter oder Richterinnen zu der Frage Stellung nahmen, welche Bedeckung eine Muslima statt des klar erkennbaren Kopftuchs anlegen dürfe, um ihrer subjektiv für verpflichtend gehaltenen Verhüllungsobliegenheit nachzukommen. In einem Fall lautete die Empfehlung: Nur eine kurze Echthaarperücke könne empfohlen werden, kurz, damit Ohren und Hals nicht mitbedeckt sind, wie es beim Kopftuch nach islamischer Bindungsart sein sollte, und Echthaar müsse es sein, damit das Gegenüber nicht erkennt, dass sich hier 33 BVerwG 24. 06. 2004, 2 C 45/03, BVerwGE 121, 140ff. 34 BVerfG v. 24. 09. 2003, Rn. 53: »Für die Beurteilung der Frage, ob die Absicht einer Lehrerin, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen, einen Eignungsmangel begründet, kommt es darauf an, wie ein Kopftuch auf einen Betrachter wirken kann (objektiver Empfängerhorizont); deshalb sind alle denkbaren Möglichkeiten, wie das Tragen eines Kopftuchs verstanden werden kann, bei der Beurteilung zu berücksichtigen. Dies ändert aber nichts daran, dass die Beschwerdeführerin, die für ihre Entscheidung, in der Öffentlichkeit stets ein Kopftuch zu tragen, in plausibler Weise religiös motivierte Gründe angegeben hat, sich für dieses Verhalten auf den Schutz des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG berufen kann, der in enger Beziehung zum obersten Verfassungswert der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) steht (vgl. BVerfGE 52, 223 ).«

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eine Muslima regelgerecht bedeckt.35 Dementsprechend konnte es eine Schulsozialarbeiterin in Nordrhein-Westfalen weder der Schulbehörde noch den Gerichten rechtmachen, als sie, nachdem 2006 in Nordrhein-Westfalen das Verbotsgesetz durchgesetzt worden war, statt des Kopftuchs eine rosa Wollmütze aufsetzte. Als ihre Klage sogar beim Bundesarbeitsgericht (BAG) scheiterte,36 erhob sie Verfassungsbeschwerde und war damit eine der beiden – nach Fereshta Ludins Vorbild – wehrhaften Musliminnen, deren Verfassungsklagen im Januar 2015 erfolgreich zur Aufhebung der pauschalen Verbotsmöglichkeit in Nordrhein-Westfalen führten. Das schwache Bild, welches die deutsche Justiz in der Frage des individuellen Rechtsschutzes gegen Diskriminierung wegen des Kopftuchs beziehungsweise der islamischen Religion in der Zeit von 2003 bis 2005 abgegeben hat, wird auch dadurch bestätigt, dass es keine Richtervorlage zum BVerfG gemäß Art. 100 Abs. 1 GG gegeben hat, mit der ein Verwaltungs- oder Arbeitsgericht die Vereinbarkeit der Verbotsklausel im jeweiligen Schulgesetz mit dem Grundgesetz hätte noch einmal vom BVerfG überprüfen lassen können. Offenbar hatte aber keines der im Instanzenzug befassten Gerichte Zweifel an der Grundrechtskonformität der landesrechtlichen Verbotsgesetze. Ähnliches gilt für die Vorlage beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg. Jedes nationale Gericht, das Zweifel an der europarechtlichen Konformität nationaler Gesetze hat, kann gemäß Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) eine Vorabanfrage beim EuGH stellen; höchste Gerichte sind sogar dazu verpflichtet, wenn nur leise Zweifel bestehen. Aber anscheinend bestanden selbst beim BVerwG und beim BAG keinerlei Zweifel. Unbeachtet blieb auch das seit August 2006 in Deutschland geltende Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), das Diskriminierung unter anderem aufgrund der Religion – insbesondere im Arbeitsleben – verbietet (vgl. §§ 1, 3 und 7 AGG). Dieses Gesetz musste in Deutschland zur Umsetzung der europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien erlassen werden, die seit 2000 nicht nur im Hinblick auf die Kategorie ›Geschlecht‹ gelten37, sondern auch in Bezug auf Religion und Weltanschauung, Rasse und ethnische Herkunft, Alter, Behinderung und sexuelle Identität/Orientierung. Dagegen zeigte das VG Düsseldorf mit seiner Entscheidung vom 8. November

35 ISGG (Initiative für Selbstbestimmung in Glaube und Gesellschaft), »Das Kopftuchverbot in NRW – Problemdarstellung und Verlauf«, 2009. (Ursprünglich verfasst von Brigitte Maryam Weiß); vgl. auch BVerfG v. 27. 01. 2015, Rn. 66. 36 BAG v. 20. 08. 2009, 2 AZR 499/08. 37 In Bezug auf das Geschlecht gilt das Diskriminierungsverbot im Arbeitsrecht schon seit 1980, vgl. §§ 611a und b sowie § 612 Abs. 3 BGB a. F. (auf der Grundlage der Richtlinien 75/117/ EWG, 76/207/EWG).

Juristische und politisch-gesetzgeberische Diskurse zum Kopftuch

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201338 ein justizielles Engagement gegen die Diskriminierung einer Kopftuchträgerin im öffentlichen Dienst, die in der Laufbahn als Verwaltungsinspektorin wegen des Kopftuchs nicht verbeamtet worden war. Die Entscheidung lag inhaltlich allerdings auf der Hand, weil das schulische Kopftuchverbot gar nicht einschlägig war, denn es ging um die Laufbahn in der Verwaltung, die mit Schule nichts zu tun hatte. Dennoch ließen die klaren Worte im Urteil aufhorchen.

6.

Gibt es einen echten Kurswechsel im Umgang mit dem Kopftuch der Lehrerin?

Pädagogisches Personal in öffentlichen Schulen fällt in erster Linie in den Regelungsbereich der Schulgesetze der Bundesländer. Die dortigen Regelungen müssen aber auch mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) kompatibel sein. Dieses spricht für das Arbeitsrecht ein Diskriminierungsverbot aus und konstatiert, dass eine Ungleichbehandlung wegen der Religion nur dann zulässig ist, »[…] wenn dieser Grund wegen der Art der auszuübenden Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern der Zweck rechtmäßig und die Anforderung angemessen ist« (§ 8 Abs. 1 AGG).

Im § 24 AGG wird unter anderem für Beamte und Beamtinnen sowie Richter und Richterinnen auf deren »besondere Rechtsstellung« verwiesen. Das bedeutet im Klartext, dass diese Kategorie von öffentlich-rechtlichen Bediensteten zur Neutralität im Hinblick auf religiöse, weltanschauliche und politische Fragen und zur persönlichen Mäßigung bei der Ausübung ihrer Meinungsfreiheit und anderer Grundrechte verpflichtet sind. Auf Angestellte im öffentlichen Dienst werden solche Pflichten jedoch meist ebenfalls übertragen. Bis zur Entscheidung des BVerfG vom 27. Januar 2015 wurden die sogenannten Kopftuchverbote in 8 von 16 Schulgesetzen von Bundesländern als Spezialgesetze begriffen, die die Bekenntnisfreiheit von Lehrkräften stärker einschränken als in Bundesländern ohne solche spezifische Klauseln im Schulgesetz und auch stärker einschränken als § 8 AGG, der definiert, wann eine Religion oder Konfession ein Kriterium der Personalauswahl sein darf. Da die Bundesländer mit Verbotsklauseln in den Schulgesetzen (und zum Teil darüber hinaus) entsprechend dem ersten Urteil vom 24. September 2003 im Kopftuch eine »abstrakte« Gefahr für die staatliche Neutralität, den Schulfrieden oder die Grundrechte von Schülern und Schülerinnen und Eltern erblickten, definierten sie das unbedeckte Haupthaar als 38 VG Düsseldorf vom 8. 11. 2013, 26 K 5907/12.

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»berufliche Anforderung« für die Erfüllung der Neutralitäts- und Mäßigungspflicht des Beamtenrechts und des § 24 AGG. Kopftuchtragen war bei Lehrerinnen somit per se schon eine Pflichtverletzung. Damit soll jetzt Schluss sein, denn der Erste Senat des BVerfG hat klargestellt, dass nur solche Verhaltensweisen von Kopftuchträgerinnen als Pflichtverletzungen verstanden werden dürfen, die eine »konkrete« Gefährdung für die staatliche Neutralität, den Schulfrieden oder für Grundrechte von Schülerinnen oder Eltern darstellen. Kopftuchverbote können zwar in extremen Ausnahmesituationen auch verhängt werden, ohne dass ein vorwerfbares Verhalten vorliegt, aber es drohen dann auch keine persönlichen Sanktionen, weil keine Pflichtverletzung begangen wurde. Kopftuchtragen allein darf nach dieser neuen Grundrechtsdogmatik nicht zur Ablehnung bei der Bewerbung führen. Indes muss daran gezweifelt werden, dass die neue Grundrechtsdogmatik zur Kopftuchfrage in allen Bundesländern mit entsprechenden Verbotsgesetzen Einzug gehalten hat. Nach der Entscheidung des Ersten Senats vom 27. 01. 2015 hat sich die mediale Erregung zwar bald wieder gelegt, es ist jedoch auch nur wenig Sichtbares zur Umsetzung des Beschlusses geschehen. Nordrhein-Westfalen hat immerhin den § 57 Abs. 4, der 2006 eingeführt worden war, aus dem Schulgesetz gestrichen, jedoch wurden die Anforderungen an ein Kleidungsverbot, die bislang im § 57 Abs. 4 Satz 1 und 2 SchulG-NRW niedergelegt waren, in den § 2 des Schulgesetzes überführt. Statt zur Feststellung einer »abstrakten Gefahr« sollen dieselben Tatbestandsmerkmale weiterhin im § 2 Abs. 8 als Maßstab für die Beurteilung einer nunmehr »konkreten Gefahr« im Einzelfall herangezogen werden. Der Satz 3 des vormaligen Absatzes 4 des § 57 SchulG, die sogenannte Ausnahmeklausel zugunsten der christlich-abendländischen Symbole, wurde nicht übertragen, sondern entfiel, da diese Klausel vom Ersten Senat für verfassungswidrig und nichtig erklärt worden war.39 Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat nach dem verfassungsgerichtlichen Beschluss vom Januar 2015 allen acht Bundesländern, die entsprechende Verbotsnormen verankert haben, empfohlen, ihre Schulgesetze umfassend zu überprüfen und entsprechend den neuen verfassungsrechtlichen Grundsätzen zu verändern: Klargestellt werden sollte, dass es den Lehrenden grundsätzlich erlaubt ist, solche äußerlich sichtbaren Kleidungsstücke und Zeichen zu tragen. Auch sollten die in Bayern, Hessen und dem Saarland noch enthaltenen Privilegierungen für christliche und jüdische Symbole gesetzlich aufgehoben werden.40 In Baden-Württemberg, wo im § 38 Abs. 2 SchulG-BW sehr ähnliche Formulierungen wie bislang in dem durch den Ersten Senat verfassungskonform um39 BVerfG v. 27. 01. 2015, 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10, Rn. 21ff. 40 Pressemitteilung des Deutschen Menschenrechtsinstituts, Bundesländer sollen Regelungen zum Kopftuchverbot in Schulen aufheben. Vom 26. 11. 2015.

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interpretierten § 57 Abs. 4 des Schulgesetzes von Nordrhein-Westfalen zu finden sind, sollten nach der Planung der grün-roten Landesregierung im Zuge anderweitiger Änderungen des Schulgesetzes kleine anpassende Änderungen vorgenommen werden.41 Darüber gerieten die Regierungs- und Oppositionsfraktionen so in Streit, dass bislang keine Änderung erfolgte.42 In Bremen und Niedersachsen wurde durch Rundbrief und Runderlass bekanntgegeben, dass muslimische Lehrerinnen fortan ein Kopftuch tragen dürfen; das Gesetz selbst wurde jedoch nicht geändert. In Hessen wurde ebenfalls durch Erlass angeordnet, dass das Schulgesetz nunmehr verfassungskonform zu interpretieren sei; das Beamtengesetz wurde nicht geändert. Aus Bayern wurde gemeldet, die Landesregierung wolle das Schulgesetz nicht ändern; aus dem Saarland verlautete, die besondere Wertschätzung für das Christentum solle erhalten bleiben.43 In Berlin ließ die Senatsinnenverwaltung das sogenannte Neutralitätsgesetz überprüfen, welches nicht nur Lehrkräften, sondern auch Richterinnen und Richtern, Justiz- und Strafvollzugsbeamten und -beamtinnen sowie hoheitlich tätigem Polizeipersonal das Tragen sichtbarer religiöser und weltanschaulicher Kleidungsstücke oder Symbole verbietet. Als Ergebnis wurde vom Senat beschlossen, das Gesetz unverändert weiter bestehen zu lassen.44 Ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Berliner Abgeordnetenhauses kam zwar zu dem Ergebnis, dass das Gesetz verfassungswidrig sei,45 dennoch blieb der Senat bislang bei seiner Absicht, nichts zu ändern. Eine wegen ihres Kopftuchs abgelehnte Lehrerin ging 2015 vor das Arbeitsgericht Berlin.46 Damit wurde eine neue Runde im Kopftuchstreit eingeläutet. In erster Instanz verlor die Muslima ihren Prozess. In zweiter Instanz gewann sie beim Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg im Februar 2017 und erhielt zwei

41 Pressemitteilung vom 26. 11. 2015 des Deutschen Instituts für Menschenrechte, »Bundesländer sollen Regelungen zum Kopftuchverbot in Schulen aufheben«, http://www.institutfuer-menschenrechte.de/aktuell/news/meldung/article/pressemitteilung-bundeslaendersollen-regelungen-zum-kopftuchverbot-in-schulen-aufheben/, (letzter Zugriff 20. 02. 2016). Außerdem Petra Follmar-Otto, »Schule als Ort religiöser und weltanschaulicher Freiheit und Vielfalt«, in: Deutsches Institut für Menschenrechte (Hg.), aktuell, 7/2015, S. 3. 42 Stuttgarter Nachrichten vom 2. 01. 2016, »Landtag schweigt zum Kopftuch«. 43 Die Welt vom 12. 07. 2015, »Bei Kopftuch an Schulen droht der große Streit«. 44 Bericht in: Der Tagesspiegel vom 28. 11. 2015. 45 Petra Follmar-Otto, a. a. O., S. 4 und Wissenschaftlicher Dienst des Berliner Abgeordnetenhauses, a. a. O. oder rbb-online.de, Bericht vom 08. 07. 2015: »Gutachten: ›Berliner Neutralitätsgesetz verfassungswidrig‹«. 46 In Berlin werden Lehrkräfte in der Regel nicht mehr verbeamtet, Klagen werden daher am Arbeitsgericht behandelt; vgl. Bericht: »Auf Tuchfühlung«, in: Der Tagesspiegel vom 26. 11. 2015 und zur Klageabweisung: Die Welt vom 14. 04. 2016: »Berliner Gericht weist Klage gegen Kopftuchverbot ab«.

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Monatsgehälter Entschädigung wegen der Diskriminierung zugesprochen.47 Die Einstellung in den Schuldienst lässt sich jedoch mithilfe des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) nicht erklagen. Mittlerweile ist klar, dass die Kritik des BVerfG am Gesetz von NordrheinWestfalen auf das Berliner Neutralitätsgesetz durchaus übertragbar ist, jedenfalls auf Lehrkräfte, denn das Berliner Gesetz verbietet pauschal, das heißt ganz ohne Gefährdung von Rechtsgütern alle sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Zeichen. Da auch in Berlin die politische Regierungskoalition 2016 gewechselt hat (von Rot-Schwarz zu Rot-Rot-Grün), besteht die Erwartung, dass die SPD ihren Widerstand gegen die Entschärfung des sogenannten Neutralitätsgesetzes im Laufe der Wahlperiode aufgeben wird und dann auch in Berlin Lehrerinnen mit Kopftuch in Grundschulen unterrichten dürfen. In den anderen Bundesländern, die in den Jahren 2004–2006 Verbotsgesetze erlassen haben, sind nach der zweiten Kopftuchentscheidung des BVerfG Pädagoginnen mit Kopftuch vereinzelt eingestellt worden.48 Trotzdem muss man feststellen, dass es – abgesehen von Nordrhein-Westfalen – bislang keinen echten, also expliziten und nach außen deutlichen Kurswechsel für das »Kopftuch der Lehrerin« in den sieben Bundesländern gegeben hat. Juristische Uneinigkeit über die Bindungskraft und Übertragbarkeit des verfassungsgerichtlichen Beschlusses besteht ansonsten vor allem für Berufspositionen im öffentlichen Dienst außerhalb des Schulbereichs. Hier ist unklar, ob die normative Bindungswirkung der Verfassungsentscheidung von 2015 diese Berufsbereiche überhaupt erfasst. Tatsächlich betrifft der BVerfG-Beschluss nur das Nordrhein-Westfälische Schulgesetz, also lediglich Lehrerinnen und anderes pädagogisches Schulpersonal. Auf die Schulgesetze anderer Bundesländer und auch auf Kita-Gesetze lässt sich der Beschluss vom 27. Januar übertragen, weil es um gleichgelagerte Anwendungsverhältnisse im pädagogischen Bereich geht. Tatsächlich hat eine Kammer des Ersten Senats des BVerfG mit Beschluss vom 18. 10. 2016 auch das Kopftuchverbot im Kitagesetz von Baden-Württemberg aufgehoben.49 Bezüglich der Justiz- und Polizeitätigkeiten wird die Übertragbarkeit dagegen kontrovers beurteilt.50 Klar ist, dass sich die gesetzgebenden Organe und eventuell befasste Gerichte, insbesondere in Berlin und Hessen, ernsthaft

47 LArbG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 09. 02. 2016, Az. 14 Sa 1038/16. 48 Gabriele Boos-Niazy, »Die Situation kopftuchtragender Frauen nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 2015«, in: Sabine Berghahn/Ulrike Schultz (Hg.): Rechtshandbuch für Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte, Hamburg, 60. Lieferung, Kapitel 4 (November 2016). 49 BVerfG vom 18. 10. 2016, 2. Kammer des 1. Senats, 1 BvR 354/11. 50 Kirsten Wiese, Kopftuchtragen im Schuldienst grundsätzlich erlaubt, 2015 a. a. O., S. 6 f; dies., Richterinnen mit Kopftuch, in: Mitteilungen Nr. 121, 2008, S. 18–22.

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mit dem Beschluss des Ersten Senats auseinandersetzen und entsprechende Konsequenzen ziehen müssen. Während der Erste Senat in seiner Entscheidung von 2015 – wie beide Senate schon häufig – betont hat, dass der Staat die staatliche Neutralität in religiöser Hinsicht51 als eine »offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung«52 aufzufassen habe, sodass grundsätzlich auch Staatsbedienstete ihre persönliche Zugehörigkeit zu einem Bekenntnis in gebotener Neutralität und Mäßigung zum Ausdruck bringen dürfen, wird für die strikt hoheitlichen Berufsbereiche des Staatswesens, die das staatliche Gewaltmonopol ausführen, zum Teil eine strengere Ausprägung von Neutralität für richtig gehalten. Namentlich für die Richterschaft und die Justiz insgesamt wird wegen der Unabhängigkeit der Richterschaft gemäß Art. 97 GG von manchen juristischen Stimmen ein Verbot des Tragens religiös konnotierter Kleidung verlangt, da anderenfalls das Vertrauen in die Unabhängigkeit verloren ginge.53 Im Internet-Rechtsportal »verfassungsblog.de« fordert zum Beispiel die Rechtsprofessorin Tatjana Hörnle, dass schon der äußere Anschein von Neutralität und Unabhängigkeit bei Richterinnen und Richtern als schützenswert anzusehen sei, während die muslimische und kopftuchtragende Rechtsreferendarin Aqilah Sandhu dies in ihrer Replik stark in Zweifel zieht.54 Allerdings ist fraglich, ob eine derartige Gefahr an der Kleidung oder dem äußeren Erscheinungsbild festgemacht werden kann, denn Unabhängigkeit wird durch innere Distanz hergestellt und zeigt sich durch Reden und Verhalten. Kirsten Wiese weist darauf hin, dass in besonderen Einzelfällen etwas anderes gelten könnte, wenn beispielsweise eine durch islamistische Drangsalierung traumatisierte Iranerin in Deutschland um politisches Asyl nachsucht und ihre Verfolgungsgeschichte ausgerechnet vor einer Richterin mit Kopftuch ausbreiten müsste.55 51 Darunter ist die Nicht-Identifikation mit einer (bestimmten) Religion oder Religion überhaupt zu verstehen. 52 BVerfG v. 27. 01. 2015, 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10, Rn 110. 53 Vgl. Kirsten Wiese, Richterinnen mit Kopftuch, 2008, a. a. O. mit weiteren Nachweisen; dies., Religionsfreiheit im Lichte der Neutralität. Zu den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg, des Verwaltungsgerichts Augsburg und des Europäischen Gerichtshofs zu Musliminnen mit Kopftuch am Arbeitsplatz, in: Zeitschrift für Recht und Islam (ZR& I) 1/2016, S. 15–42. 54 Tatjana Hörnle, Warum Vertrauen in die Neutralität der Justiz ein schützenswertes Verfassungsgut ist, 2017, in: verfassungsblog.de, abrufbar unter : http://verfassungsblog.de/war um-vertrauen-in-die-neutralitaet-der-justiz-ein-schuetzenswertes-verfassungsgut-ist/2. 8. 2017. Aqilah Sandhu. Der »Anschein« der Neutralität als schützenswertes Verfassungsgut?, 2017, in: verfassungsblog.de, abrufbar unter : http://verfassungsblog.de/der-anschein-derneutralitaet-als-schuetzenswertes-verfassungsgut/2. 08. 2017. 55 Kirsten Wiese, Richterinnen, a. a. O., benutzt dieses fiktive Beispiel unter Berufung auf Stefan Huster, Die ethische Neutralität des Staates: eine liberale Interpretation der Verfassung, Tübingen 2002, S. 148.

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Zur Beantwortung der Frage, ob das »Kopftuch der Richterin« jenseits der vorhandenen Verpflichtung zu Neutralität und Mäßigung einer gesetzlichen Regelung bedarf, sollte man berücksichtigen, dass zwar entsprechend den Grundsätzen der zweiten Kopftuchentscheidung im Einzelfall einer Richterin mit Kopftuch angemessen entschieden werden könnte, dass es aber in der parteipolitischen Konfrontation naheliegt, der Versuchung populistischer Symbolpolitik nachzugeben. Der Streit um das »Kopftuch der Lehrerin« wird also voraussichtlich politisch und gerichtlich als Streit um das »Kopftuch der Richterin« fortgesetzt. Es zeigt sich, dass es wohl keine Rückkehr zur Anfangssituation vor dem ersten Kopftuchurteil des BVerfG geben wird. Zu bedenken ist auch, dass die Kopftuchproblematik bei Lehrerinnen, das heißt das Auftreten von ganz wenigen Musliminnen als Bewerberinnen für qualifizierte Staatsberufe, bereits das populistisch-politische Bedürfnis nach einem Verbot äußerlich erkennbarer religiöser Zugehörigkeit (für Lehrkräfte und andere Staatsbedienstete) hervorgerufen hat. Das erste Kopftuchurteil hat zwar nur für Lehrkräfte in öffentlichen Schulen eine Verbotsmöglichkeit eingeführt, dennoch ist die Gesetzgebung in manchen Bundesländern darüber hinausgegangen (Hessen, Berlin). All dies geschah praktisch anlasslos. Es waren keine Fälle bekannt geworden, in denen Lehrerinnen mit Kopftuch Fehlverhalten gezeigt oder den Schulfrieden gestört hätten; bis heute sind solche Fälle nicht aufgetreten. Auch bei anderen Berufsgruppen wurden keine spezifischen Gefahren für die neutrale Ausführung des staatlichen Gewaltmonopols durch Musliminnen oder andere Angehörige einer Minderheitsreligion aufgedeckt, die nicht mit den normalen Instrumenten des Beamten- oder Arbeitsrechts zu bewältigen gewesen wären. Abgesehen davon deutet die Zahl amtierender muslimischer Richter oder Richterinnen, die wohl gegen Null tendiert, eher auf ein Defizit an Diversität und Inklusivität in der Justiz hin als auf eine reale Gefahr. Gering ist zudem die Wahrscheinlichkeit, dass sich in absehbarer Zeit eine Muslima als besonders strenggläubige Angehörige des Islam outet und mit Hijab bekleidet ihr Amt ausüben möchte. Überschaubar dürfte auch die Zahl muslimischer Polizeibeamtinnen sein; jedenfalls liegt sie unter dem muslimischen Bevölkerungsanteil. Von kopftuchtragenden Polizistinnen im deutschen Polizeidienst oder in der Ausbildung ist bislang nichts berichtet worden, dagegen gibt es sie durchaus in Großbritannien oder Schweden. Wie sehen also die Perspektiven einer Rückkehr zu liberalen Grundsätzen und Aussichten auf eine Entdramatisierung und Pragmatisierung des Kopftuchkonflikts aus? Relativ klar ist, dass zwölf Jahre Kopftuchverbot für Lehrerinnen – wenn auch nur in der Hälfte der deutschen Bundesländer – ihre Wirkung entfaltet haben, nicht nur im Schulwesen und in anderen Bereichen des öffentlichen Dienstes,

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sondern auch in der Privatwirtschaft und in der Gesellschaft. Aussagekräftig ist eine von einer früheren Integrationsbeauftragten des Landes Berlin 2008 herausgegebene Broschüre mit dem Titel Mit Kopftuch außen vor.56 Darin berichten bedeckte Musliminnen über ihre erfolglosen Bewerbungen in Tätigkeitsbereichen und Ausbildungsberufen, in denen keinerlei Kopftuchverbote galten, in denen das AGG sogar eine diskriminierungsfreie Behandlung fordert. Auch in anderen Studien über Diskriminierung werden solche Negativerfahrungen immer wieder bestätigt.57 Die wenigen Gerichtsentscheidungen zum Kopftuchtragen außerhalb von Schulen und öffentlichem Dienst zeugen nicht unbedingt davon, dass es dort keine Diskriminierung gibt. Vielmehr sind Diskriminierungen, etwa bei der Bewerbung, kaum beweisbar, und eine Klage erscheint oft nicht sinnvoll, denn bestenfalls gibt es Schadensersatz oder Entschädigung, eine Einstellung ist jedoch ausgeschlossen (vgl. § 15 Abs. 6 AGG).

7.

Querschlag aus Luxemburg: Der Europäische Gerichtshof lässt betriebliche Kopftuchverbote als »Neutralitätspolitik« von Unternehmen – mit Einschränkungen – zu

Lange Zeit konnten Musliminnen, die den Hijab am Arbeitsplatz tragen wollten, mit gutem Grund annehmen, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) sie – den strengen Regeln der Antidiskriminierungsrichtlinien aus dem Jahre 2000 (2000/ 43/EG, 2000/78/EG) folgend – unterstützen würde, sofern er zur Entscheidung über die Vereinbarkeit nationaler Normen mit europäischem Recht (gemäß Art. 267 AEUV) angerufen würde. Ihm wurden jedoch bis 2015 keine Kopftuchfälle von Gerichten der EU-Mitgliedstaaten vorgelegt. 2015 änderte sich das durch Vorlagen aus Belgien und Frankreich. In beiden Fällen, einer Rezeptionistin in einem belgischen Sicherheitsunternehmen und einer Software-Ingenieurin in einer französischen IT-Firma, waren die Arbeitnehmerinnen wegen ihrer Weigerung, das Kopftuch abzunehmen, am Ende entlassen worden. Im französischen Fall hatte der Arbeitgeber auf einen ultimativen Kundenwunsch (»in Zukunft keine Beraterin mit Schleier!«) ein Kopftuchverbot für Außentermine der Software-Ingenieurin ausgesprochen; im 56 Integrationsbeauftragte des Landes Berlin (Hg.), »Mit Kopftuch außen vor«, Berlin 2008. http://www.igmg.org/uploads/media/Mit_Kopftuch_aussen_vor.pdf, 15. 02. 2016. 57 Zum Beispiel Antidiskriminierungsstelle (Hg.), Dorothee Frings, Diskriminierung aufgrund der islamischen Religionszugehörigkeit im Kontext Arbeitsleben – Erkenntnisse, Fragen und Handlungsempfehlungen. Diskriminierung von Musliminnen und Muslimen im Arbeitsleben und das AGG, Berlin 2010; Mario Peucker, Diskriminierung aufgrund der Religionszugehörigkeit im Kontext Arbeitsleben – Erkenntnisse, Fragen und Handlungsempfehlungen. Erkenntnisse der sozialwissenschaftlichen Forschung, Berlin 2010.

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belgischen Fall war in dem Sicherheitsunternehmen ein generelles Verbot an alle Beschäftigten ergangen, sichtbare Symbole oder Kleidungsstücke einer religiösen, philosophischen (weltanschaulichen) oder politischen Überzeugung zu tragen oder entsprechende Riten zu befolgen. Die deutsche Generalanwältin am EuGH, Juliane Kokott, interpretierte die Existenz der »generellen betrieblichen Regelung« als entscheidendes Kriterium für ihre Verneinung einer unmittelbaren Diskriminierung wegen der Religion (im Hinblick auf die Richtlinie 2000/78/ EG). Auch die möglicherweise anzunehmende mittelbare Diskriminierung sah sie als gerechtfertigt an. Es sei das Recht eines Unternehmers »neutrales Auftreten« gegenüber Kunden und Öffentlichkeit zu verlangen, so wie andere Unternehmer eine »Politik der Vielfalt« praktizieren können.58 Ihre britische Kollegin Eleanor Sharpston plädierte im französischen Vorlagefall dagegen entgegengesetzt, sah also das (individuelle) Kopftuchverbot und die Entlassung als Folge der Anpassung an einen Kundenwunsch oder eine Aversion des Kunden als unmittelbare Diskriminierung, für die es in der Richtlinie keine Rechtfertigung gibt.59 Sharpston machte aber auch deutlich, dass sie im belgischen Fall zu einem anderen Ergebnis komme als ihre deutsche Kollegin und kritisierte deren Argumente. Am 14. 03. 2017 ergingen die Urteile der Großen Kammer des EuGH in beiden Vorlagefällen.60 Der Gerichtshof folgte den jeweiligen Plädoyers der Generalanwältinnen, erklärte also die Entlassung im französischen Fall für europarechtswidrig, während er sie im belgischen Fall im Grundsatz für gerechtfertigt erklärte, falls das letztlich entscheidende nationale Gericht die mittelbare Diskriminierung ebenfalls in allen Prüfungsschritten als gerechtfertigt nachvollziehe. Der Gerichtshof machte gegenüber dem Plädoyer der deutschen Generalanwältin diverse Einschränkungen, indem er für die Begründung und die Ausführung eines solchen Verbots sichtbarer religiöser und anderer Bekenntnisse einen deutlichen »Kundenbezug« forderte und indem er allein der nationalen Rechtsprechung die Entscheidung über die Rechtfertigungsfähigkeit der mittelbaren Diskriminierung im Einklang mit nationalen Gepflogenheiten und Besonderheiten des Rechtssystems überließ. Erwartungsgemäß rief das Urteil im belgischen Fall viel Bestürzung und 58 EuGH, Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott vom 31. 05. 2016 in der Rs. C-157/ 15, Samira Achbita und Centrum voor gelijkheid van kansen en voor racismebestrijding v. G4S Secure Solutions NV. 59 EuGH, Schlussanträge der Generalanwältin Eleanor Sharpston vom 13. 07. 2016 in der RS. C188/15, Asma Bougnaoui und Association de defense des droits de l’homme (ADDH) v. Micropole SA. 60 EuGH, Große Kammer, zwei Urteile vom 14. 03. 2017 im Verfahren Rs. C-157/15, Samira Achbita und Centrum voor gelijkheid van kansen en voor racismebestrijding v. G4S Secure Solutions NV sowie im Verfahren Rs. C-188/15, Asma Bougnaoui und Association de defense des droits de l’homme (ADDH) v. Micropole SA.

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Kritik hervor ;61 die Folgen sind noch nicht im Einzelnen absehbar, nicht einmal für Deutschland, wo die arbeitsrechtliche Rechtsprechung für die Privatwirtschaft bislang eher tolerante Entscheidungen zum Kopftuchtragen gefällt hat. So entschied das Bundesarbeitsgericht (BAG) bereits 2002, dass eine Verkäuferin in einem Kaufhaus ihren Arbeitsvertrag mit Kopftuch genauso gut erfüllen könne wie ohne Kopftuch und daher nicht gekündigt werden dürfe.62

8.

Fazit und Ausblick

Trotz teilweise problematischer Rechtsprechung des EuGH aus jüngster Zeit bleiben die EU-Antidiskriminierungsrichtlinien und ihre Umsetzung durch das AGG in Deutschland verhältnismäßig gute Rechtsgrundlagen, mit denen Kopftuchverbote am Arbeitsplatz in der Privatwirtschaft, aber auch im öffentlichen Dienst bekämpft werden können. Auch der Beschluss des BVerfG vom Januar 2015 zum Kopftuch der Lehrerein in NRW gibt ein argumentatives Instrument an die Hand. Möglicherweise kommt es im Streit um das Kopftuch der Rechtsreferendarin zu einer weiteren Entscheidung des Zweiten Senats des BVerfG, in der es letztendlich um eine »strengere Neutralität« für Richterinnen, Staatsanwältinnen oder Polizistinnen gehen könnte.63 Auch hier lässt sich mit den immer wieder betonten Grundsätzen des BVerfG ableiten, dass die deutsche Vorstellung von Neutralität keine laizistische, sondern die einer offenen umgreifenden und keine Religion ausschließenden ist, dass Neutralität nur bedeutet, das Amt nicht mit dem religiösen Bekenntnis der Amtsträgerin zu identifizieren und den Staat nicht in eine solche Situation der Gleichsetzung zu bringen. Das müsste für Richterinnen genauso möglich sein wie für Lehrerinnen an staatlichen Schulen. Ob damit aber auch der antimuslimische Populismus, der vor Gerichten wohl 61 Kritisch vgl. z. B. Sabine Berghahn, »Kopftuchdebatten und kein Ende«, 2017, in: Vorgänge, Nr. 217, 1/2017, S. 31–46; Sophie Arndt, »Eine Frage der ›Neutralität‹? Diskriminierungsschutz als Recht auf öffentliche Sichtbarkeit«, 2017, Veröffentlicht am 17. 01. 2017 auf: https:// brblog.hypotheses.org/1359, 25. 04. 2017. Sabine Berghahn, »Standpunkt: Der Gastkommentar: Warum das EuGH-Urteil zum belgischen Kopftuchfall ein Fehlurteil ist«, in: PUBLICUS 2017–07, abrufbar unter : https://publicus.boorberg.de/standpunkt-der-gastkom mentar/3. 08. 2017. 62 BAG vom 10. 10. 2002, 2 AZR 472/01 (Verkäuferin); ArbG Berlin v. 28. 03. 2012, 55 Ca 2426/12 (Zahnarzthelferin); VG Düsseldorf v. 8. 11. 2013, 26 K 5907/12 (Verwaltungsinspektorin); dagegen Kopftuchverbot: BAG v. 24. 09. 2014, 5 AZR 611/12 (Krankenschwester in evangelischem Krankenhaus, Kopftuchverbot wird auf Ausnahmeregelung des § 9 Abs. 2 AGG/ Kirchenklausel gestützt). 63 Zulassung einer Rechtsreferendarin mit Kopftuch durch das VG Augsburg vom 30. 06. 2016, Az. Au 2 K 15.457 (keine Rechtsgrundlage für Verbot); Ablehnung durch den VGH Hessen vom 23. 05. 2017, 1 B 1056/17 und Bestätigung durch das BVerfG, 1. Kammer des Zweiten Senats, Beschluss vom 27. 06. 2017, 2 BvR 1333/17 (einstweiliges Verfahren).

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auch nicht haltmacht, zum Schweigen gebracht werden kann, ist erfahrungsgemäß zweifelhaft.64 Tatsächlich ist gerade das Kopftuchproblem eine der am leichtesten zu vermeidenden multikulturellen Konfrontationen, denn schon einfache Kontakte und Gespräche mit Hijab tragenden Bewerberinnen, Berufstätigen und Kolleginnen können in aller Regel zur Überwindung solcher islambezogener Vorurteile und Ressentiments führen. Das Kopftuch ist – ganz anders als das verbotene Hakenkreuzsymbol – ein harmloses Stück Stoff, das als solches keine (eindeutige) Aussage hat und niemandem Schaden zufügt. Solange das Gesicht der Person von Bedeckung frei bleibt, wird die unmittelbare Kommunikation zwischen Menschen nicht eingeschränkt und auch sonst wird nichts verhindert oder ermöglicht, was nicht auch ohne Kopftuch möglich oder ausgeschlossen wäre. Kopftuchgegner/innen sollten lernen, zwischen der Symbolik des Kopftuchs in ihrer Vorstellung und dem realen Gegenüber, also der Person mit Kopftuch, zu unterscheiden. Das Recht dient dazu, dem Individuum eine gleiche und gerechte Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen und auch in einer Minderheitsposition respektvoll behandelt zu werden. Gesetze sollten nicht instrumentalisiert werden, um kollektiv-identitäre Einstellungen oder Vorurteile gegen Bevölkerungsgruppen verbindlich zu machen und eine Hierarchie von Bevölkerungsgruppen symbolisch festzuschreiben. Das Problem entsteht in aller Regel im Kopf des Betrachters oder der Betrachterin. So ist die häufig anzutreffende pauschale Ablehnung des Kopftuchs samt dem Menschen darunter nur ein Spiegelbild der mühsamen Entwicklung Deutschlands zur Einwanderungsgesellschaft. Lernprozesse brauchen ihre Zeit und Integration ist immer zweiseitig!

Literatur Arndt, Sophie, »Eine Frage der ›Neutralität‹? Diskriminierungsschutz als Recht auf öffentliche Sichtbarkeit.«, veröffentlicht am 17. 01. 2017 auf: https://brblog.hypotheses. org/1359, (letzter Zugriff 25. 04. 2017). Berghahn, Sabine, Deutschlands konfrontativer Umgang mit dem Kopftuch der Lehrerin, in: Berghahn, Sabine/Rostock, Petra (Hg.), Der Stoff, aus dem Konflikte sind. Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Bielefeld 2009, S. 33–72. Dies./Rostock, Petra (Hg.), Der Stoff, aus dem Konflikte sind. Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Bielefeld 2009. Dies., Berufsverbote im Wandel der Zeiten, in: Roggan, Frederik/Busch, Dörte (Hg.), Das Recht in guter Verfassung? Festschrift für Martin Kutscha, Baden-Baden 2013, S. 265–277. 64 Stand der Ereignisse: 03. 08. 2017.

Juristische und politisch-gesetzgeberische Diskurse zum Kopftuch

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Linda Supik

»99999999 Blicke jeden Tag, manchmal als Blick: Studiert die hier?« – Erfahrungsberichte von muslimischen Studierenden an Hochschulen in Deutschland

Einleitung Mit dem Abitur, einem entsprechenden anerkannten ausländischen Bildungszertifikat oder dem Fachabitur und einigen Jahren an praktischer Berufserfahrung lässt sich die Hochschulzugangsberechtigung erwerben. Wer ein solches Zertifikat besitzt, kann sich frei für ein Studium entscheiden. Einzelne Studiengänge erfordern zusätzlich bestimmte Noten, und an privaten Hochschulen kostet das Studieren Geld, jedoch gilt generell: Allen Menschen mit Hochschulzugangsberechtigung steht es frei, ein Studium aufzunehmen und damit Mitglied einer Hochschule zu werden, indem sie sich immatrikulieren. Formal sind die Zutrittsbedingungen also klar und relativ einfach, lediglich an den vorausgehenden Erwerb von Bildungstiteln gebunden. An der Hochschule angekommen, erweisen sich das Klima oder die Atmosphäre auf dem Campus, im Hörsaal, in der Mensa, in der Bibliothek und in Wohnheim, in Vorlesungen, Seminaren und Kolloquien und in Sprechstunden allerdings als unterschiedlich einladend und willkommen heißend. Ein Studienerfolg stellt sich eher in Räumen ein, in denen sich die Studierenden wohlfühlen und sich mit dem Gefühl ›dieser Raum wurde für mich gemacht, hier gehöre ich hin‹ wie selbstverständlich bewegen. In der Hochschulforschung ist jedoch bekannt, dass die tatsächlichen Studienbedingungen höchst unterschiedlich erlebt werden, denn die Rahmenbedingungen für ein erfolgreiches Studium stellen sich für verschiedene Gruppen ungleich dar.1 Im vorliegenden Beitrag geht es um Erfahrungen, die muslimische Studierende an deutschen Hochschulen in Bezug auf das »Muslimsein« machen. Im Zuge einer Studie,2 in der es um den Umgang mit 1 Siehe beispielsweise M. J. Mayhew et al., Silencing whom? Linking campus climates for religious, spiritual and worldview diversity to student worldviews, in: Journal of Higher Education, 85(2), 2014, S. 219–245; Uta Klein/Daniela Heitzmann (Hg.), Hochschule und Diversity. Theoretische Zugänge und empirische Bestandsaufnahme, Weinheim 2012. 2 Die Studie »Umgang mit religiöser Diversität an deutschen Hochschulen« wurde 2015–2016 am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen von Tugba Altiner, Volker M. Heins, Christoph

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religiöser Vielfalt (Schwerpunkt ›Islam‹) an den Hochschulen3 in Deutschland ging, wurde auch eine Onlineumfrage unter muslimischen Studierenden durchgeführt. Diese Erfahrungsberichte aus dem Studienalltag stehen im Mittelpunkt dieses Beitrages. Der Schwerpunkt des Projekts, jedoch nicht dieses Beitrags, lag in erster Linie auf dem Stellenwert und dem Umgang mit religiösen Praxen im Campusalltag aus der Sicht der Hochschulleitungen. Dabei ging es beispielsweise um die Fragen, wie viele Hochschulen »Räume der Stille« eingerichtet haben und welche Erfahrungen es mit diesen Räumen gibt. Geprägt ist die Forschungsperspektive von Vorarbeiten im Bereich der theoretischen und empirischen Auseinandersetzung mit dem Multikulturalismus als Idee und praktizierter Gesellschaftspolitik4 sowie Rassismustheorie und -kritik und Antidiskriminierungspolitik.5 Im Folgenden werden zunächst die genaue Fragestellung und der Weg der Frageentwicklung für die Onlineumfrage sowie die methodische Vorgehensweise bei der Umfrage und der Auswertung erläutert; danach wird eine – soweit wie möglich – quantifizierende Darstellung der Umfrageergebnisse vorgelegt. Anschließend werden einige Themen, die in den Antworten häufig angesprochen wurden, vertieft dargestellt und analysiert. Der Beitrag schließt mit Überlegungen zur Aufgabe von Diversitätspolitik an Hochschulen.

Fragestellungen der Onlineumfrage Das Ziel lag darin herauszufinden, ob die Hochschulen in Deutschland muslimischen Studierenden gute Studienbedingungen bieten, ob sie denen nichtmuslimischer Studierender entsprechen oder ob sich gerade im Zusammenhang damit, muslimischen Glaubens zu sein, besondere Situationen und bestimmte Schwierigkeiten ergeben. Dazu wurden für die Onlineumfrage zwei Fragekomplexe6 entwickelt: Zum einen ging es um die besonderen Bedürfnisse religiöser Menschen. Für Muslime

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Potempa und Linda Supik durchgeführt und von der Stiftung Mercator gefördert. Dem Projektteam wie auch Mounir Azzaoui, Hatice Durmaz, Raida Chbib, Yasemin Karakasoglu, Michael Wrase, Martin Rötting und Lukas Rölli, Michael Oberkötter und Riem Spielhaus gebührt großer Dank für hilfreichen Rat und kritische Kommentare sowie ganz besonders den anonymen Teilnehmenden an der Onlineumfrage, die bereitwillig ihre Erfahrungen mitgeteilt haben. Unter ›Hochschulen‹ als Überbegriff werden hier, wie in der Hochschulforschung üblich, Universitäten und Fachhochschulen zusammengefasst. Volker Heins, Volker, Der Skandal der Vielfalt. Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus, Frankfurt a.M. 2013. Linda Supik, Dezentrierte Positionierung. Stuart Halls Konzept der Identitätspolitiken, Bielefeld 2005; dies., Statistik und Rassismus. Das Dilemma der Erfassung von Ethnizität, Frankfurt a.M. 2014. Siehe Kasten 2# bzw. Anhang für das vollständige Fragebogenformular.

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wie auch für kleinere Glaubensgemeinschaften in Deutschland gibt es bisher keine hochschulspezifischen Angebote wie etwa die christlichen Hochschulgemeinden, welche die katholische und evangelische Kirche an nahezu allen Hochschulstandorten vorhalten. Ein Fragekomplex widmete sich daher der Religion, dem eigenen Glauben und seiner Bedeutung im Hochschulalltag. Insbesondere sollte durch diese Befragung Wissen über die Gebetspraxis der Studierenden erhoben werden, da Antworten auf die Frage gesucht wurden, welcher Bedarf an Gebetsräumen oder Räumen der Stille besteht.7 Zum anderen können gute Studienbedingungen nicht nur durch die Berücksichtigung besonderer Bedürfnisse sichergestellt werden, sondern auch durch die Gewährleistung von Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung im Hochschulalltag im umfassenden Sinne. Diesem Thema widmete sich der zweite Fragekomplex, dessen Ergebnisse hier ausführlicher dargestellt werden sollen. Gefragt wurde zunächst nach Erfahrungen im Umgang mit anderen Hochschulangehörigen aller Statusgruppen. Diese Frage wurde mit einer Aufforderung zur ausführlichen Darstellung ergänzt: Mit welcher Haltung begegnen Ihnen im Zusammenhang mit Ihrem Glauben andere Studierende, Lehrende und die Hochschulverwaltung? Beschreiben Sie bitte – gerne ausführlich – besonders gute und besonders schlechte Erfahrungen.

Für Zusammenhänge außerhalb der Akademie ist bekannt, dass Frauen, die das Kopftuch tragen, besonders stark und häufig von Diskriminierung betroffen sind.8 Darum wurde die Frage an sie nochmals spezifisch gerichtet: Frage an Frauen, die sich bedecken: Welche Erfahrungen machen Sie an der Hochschule in Bezug auf das Kopftuch?

Schließlich wurde eine dritte Frage gestellt, mit der die zuvor beschriebenen Erfahrungen resümierend bewertet werden sollten. Sie lautete: Fühlen Sie sich als gläubige Studierende im Vergleich zu anderen Studierenden fair und gleichberechtigt behandelt? Bitte erläutern Sie Ihre Antwort.

7 Siehe dazu einige beispielhafte Zitate in Kasten 1#. Weitere Ergebnisse des Projektes werden dargestellt in Tugba Altiner, Volker Heins, Christoph Potempa und Linda Supik, Muslime an deutschen Hochschulen. Religiöse Kompetenz stärkt Vielfalt und Internationalisierung, Essen 2016. 8 Mario Peucker, Diskriminierung aufgrund der islamischen Religionszugehörigkeit im Kontext Arbeitsleben. Erkenntnisse, Fragen und Handlungsempfehlungen, herausgegeben von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes.

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Vorgehensweise bei der Onlineumfrage Zunächst sind einige Erläuterungen zur Erreichung und Ansprache der Zielgruppe »muslimische Studierende« erforderlich. Zu der Frage, wer in Deutschland »Muslim« ist, erläutert Nurcan Akbulut prägnant aus einem diskurstheoretischen Verständnis heraus: »Die permanente Anrufung der diskursiv erzeugten Anderen vorwiegend oder ausschließlich über ihre religiöse Zugehörigkeit – als ›Muslime‹, ›muslimische Migranten‹, ›muslimische Frauen‹ etc. – verdeutlicht, dass sie primär als durch ihre Religion determinierte Subjekte wahrgenommen werden sowie ihre postulierte Andersheit hauptsächlich durch diese Kategorie begründet zu sein scheint«.9

Im Rahmen dieser Studie galt es, die Wiederholung einer solch globalen und homogenisierenden Anrufung zu vermeiden, weswegen die Zielgruppe über den selbstorganisierten Dachverband muslimischer Hochschulgruppen (MSG) adressiert und damit spezifiziert wurde. An vielen deutschen Hochschulen gibt es, zum Teil bereits seit Jahrzehnten, studentisch organisierte muslimische Hochschulgruppen. Von diesen wiederum haben sich viele im Rat muslimischer Studierender und Akademiker (RAMSA e.V.)10 zusammengeschlossen. Mit dem RAMSA arbeitete das Forschungsprojekt eng zusammen, was der Umfrage eine gewisse Parteilichkeit verlieh, die unter anderem die Auskunftsbereitschaft der Adressaten positiv beeinflussen sollte. Muslime und Musliminnen werden in diesem Jahrtausend in Europa vielfach aus einer (meist unbenannten) mehrheitsgesellschaftlichen, nichtmuslimischen Außenperspektive beforscht, zum Untersuchungsgegenstand gemacht, befragt und geprüft,11 was hier nicht unreflektiert übernommen werden sollte – auch wenn das Projekt religiöse Vielfalt in der Teamzusammensetzung lediglich ansatzweise widerspiegelte.12 Teilnehmen konnte an der Umfrage grundsätzlich jede Person, die sich angesprochen fühlte. Wer kein Interesse an Religion hat, ist auf diese Umfrage nicht aufmerksam geworden und nahm nicht teil. Dazu gehören auch viele Menschen, die in der Fremdzuschreibung als »Muslime« bezeichnet werden. Hier muss betont 9 Nurcan Akbulut, Diskursive Verfestigungen ›muslimischer Alterität‹, in: Karim Fereidooni/ Meral El (Hg.), Rassismuskritik und Widerstandsformen, Wiesbaden 2017, S. 167. 10 Neben vielen anderen Aufgaben fungiert der RAMSA auch als von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes anerkannte Meldestelle für muslimische Studierende an deutschen Hochschulen, wo Diskriminierungserfahrungen anonym registriert und Beratungen vermittelt werden können (ramsa-deutschland.org). 11 Johansen, B. S./Riem Spielhaus, »Counting Deviance: Revisiting a Decade’s Production of Surveys among Muslims in Western Europe«, in: Journal of Muslims in Europe, 1 (November 2011), S. 81–112. 12 Der Projektleiter, die wissenschaftliche Mitarbeiterin und eine der beiden studentischen Hilfskräfte haben christliche familiäre Hintergründe und leben säkular orientiert, die zweite studentische Hilfskraft war Muslima.

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werden, dass sie wahrscheinlich vielfach ähnliche Erfahrungen machen wie die, die hier dargestellt werden. Die Umfrage wurde vom 14. 1. 2016 bis 15. 2. 2016 durchgeführt. Der RAMSA versandte den Link über seinen E-Mail-Verteiler und den Facebook-Auftritt und forderte auch die ihm angeschlossenen muslimischen Studierendengruppen (MSG) auf, die Umfrage weiterzuleiten. Mehrere hundert Personen klickten das Onlineformular an, und 183 Personen füllten den Fragebogen in auswertbarer Weise aus, darunter 133 (73 %) Frauen und 50 (27 %) Männer, die an 46 unterschiedlichen deutschen Hochschulen studieren. Außer dem Geschlecht wurden keine persönlichen Daten erfasst und so die Anonymität gewährleistet. Im Umfrageformular waren die Antwortmöglichkeiten vollständig offen und unbegrenzt (auch hinsichtlich der Länge), was umfassend genutzt wurde. Einige Probanden antworteten, wo es sinngemäß möglich war, kurz mit »ja« oder »nein«, andere gaben ausführliche Antworten mit Argumentationen, Anekdoten und Erläuterungen. Um nun aus einem solchen Datenschatz eine quantifizierte Tendenz herauszufiltern, wurden die Antworten in Antwortkategorien nach Ähnlichkeiten gruppiert und im Sinne des Ansatzes der Grounded Theory13 codiert.

Tendenzen und Verallgemeinerbares: Ergebnisse im Überblick Aufgrund der großen Zahl von Antworten lassen sich diese im begrenzten Umfang auch quantifizierend auswerten: Antworten, die in der Umfrage häufig gegeben wurden, sind mit großer Wahrscheinlichkeit auch allgemein unter muslimischen Studierenden häufig. Ungewöhnliche, vereinzelte Antworten verweisen hingegen auf seltene Erfahrungen, und was in dieser Umfrage oft berichtet wird, ist sehr wahrscheinlich auch generell eine weit verbreitete, typische Erfahrung. Am einfachsten quantifizierbar sind die Antworten auf die Frage: »Fühlen Sie sich … fair und gleichberechtigt behandelt?« Knapp die Hälfte (45 %) der Befragten antwortete hier eindeutig bejahend und ohne Abstriche zu machen. Darüber hinaus bejahen einige diese Frage mit der Ergänzung, dass ihr Glaube nie zum Thema werde. Andere antworteten, sie würden fair behandelt, seien aber als Studierende der Islamischen Theologie ganz unter sich und kämen nicht mit anderen Fächern in Kontakt. Wieder andere sagten, ihr Glaube sei kein Thema, sie würden jedoch nicht »ethnisch deutsch« sein und spürten wegen ihres Aussehens oder wegen ihres nicht-deutschen Namens eine Benachteiligung. Die zweite Frage richtete sich explizit an Kopftuchträgerinnen und lautete: 13 Anselm Strauss/Juliet Corbin, Grounded Theory : Grundlagen Qualitativer Sozialforschung, Weinheim 1996.

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»Frage an Frauen, die sich bedecken: Welche Erfahrungen machen Sie an der Hochschule in Bezug auf das Kopftuch?« Von den 133 an der Umfrage teilnehmenden Frauen trugen 71, also gut die Hälfte, das Kopftuch. Von diesen 71 gaben 22 wiederum an, keine schlechten Erfahrungen zu machen – das sind lediglich 31 % der Kopftuchtragenden. Mehr als zwei Drittel der sich bedeckenden Muslimas machten in ihrem Alltag an der Hochschule Erfahrungen, die ihr Wohlbefinden beeinträchtigen und das Studium erschweren können. Dies reicht vom häufigen Bericht darüber, ständig beobachtet zu werden, sich sowohl seitens anderer Studierende wie Lehrender Blicken ausgesetzt zu sehen, neugierige und manchmal übergriffige Fragen gestellt zu bekommen, über feindselige Kommentare und verbale Attacken bis hin zu Benachteiligungen bei der Notengebung und der Vergabe von Hilfskraftstellen. Im weiteren Verlauf wird auf einzelne Erfahrungen vertieft eingegangen. Zunächst sollen hier im Überblick die besonderen Bedürfnisse hinsichtlich der eigenen religiösen Praxis erwähnt werden. Aus den Antworten von 84 % der Teilnehmenden ging hervor, dass sie regelmäßig beten. 3,8 % machten deutlich, dies nicht regelmäßig zu tun, und 12,1 % gaben uneindeutige Antworten. Bereits aus den Ergebnissen von 47 Hochschulen (von ca. 400 Hochschulen in Deutschland insgesamt), an denen die Teilnehmenden der Onlineumfrage studieren (oder studierten), wird durch die Gesamtschau der Antworten ein differenziertes Bild der Gebetsräume-Situation gezeichnet. An 26 dieser Hochschulen gibt es einen Ort, um ein regelmäßiges Gebet zu verrichten; an 20 Hochschulen ist dies nicht der Fall, stattdessen wird vielfältig improvisiert.14 An elf Hochschulen existieren Gebetsräume und an 13 Hochschulen überkonfessionelle Räume der Stille.15 An elf weiteren Hochschulen existieren mehr oder weniger Behelfs- oder Notlösungen, wie etwa eine Ecke im Treppenhaus, die mit Stellwänden abgeteilt ist, unter Treppen oder in Kellergängen. 14 Ein eindrückliches Beispiel der alltäglichen Improvisation: »An meiner Hochschule gibt es keinen Gebetsraum. Wir beten in leeren und dunklen Gängen, Kellern, und abgelegenen Nischen. Wir haben immer einen kleinen Gebetsteppich dabei oder nutzen im Winter unsere Jacken als Gebetsteppich. Ich versuche trotz Unialltag mein Gebet zur richtigen Zeit zu verrichten und schaffe das auch fast immer trotz aller Umstände. Die nächste Moschee ist leider zu weit entfernt. Wenn man möchte, dann findet man Wege, auch wenn es weder einfach noch ideal ist. Ein Raum der Stille wäre aber wünschenswert. Wir müssen uns immer verstecken und beeilen, um niemandem Angst einzujagen und nicht gestört zu werden. Ich schäme mich auf keinen Fall für meine religiöse Praxis – ich selbst trage Hijab und meine Kommilitonen wissen, dass ich bete. Jedoch kann es erschreckend sein, wenn in einem dunklen und verlassenen Teil des Universitätsgebäudes auf einmal eine junge Frau steht und ihr Gebet verrichtet. Ich wünsche mir einfach mehr Toleranz und Offenheit. Nicht nur für den Islam, sondern allgemein für religiöse Praxis und Spiritualität.« (Studentin Nürnberg-Erlangen) 15 Hier werden auch die Räume der Stille beziehungsweise Gebetsräume in Duisburg, Essen, Dortmund und an der TU Berlin noch mitgezählt, die inzwischen geschlossen wurden. Dies geschah gegen Ende der Feldphase dieser Umfrage.

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Als bedeutendstes Anliegen und Wunsch an die jeweilige Hochschule nennt mehr als die Hälfte der Befragten (56 %) den Ort zum Beten. Einige von ihnen bleiben dabei unspezifisch und wünschen sich lediglich eine Gebetsmöglichkeit (3,8 %), 5 % der Befragten wünschen sich einen (multireligiösen) Raum der Stille, und nahezu die Hälfte der Antworten (48,1 %) nennt hier einen Gebetsraum – das ist damit der am häufigsten zum Ausdruck gebrachte Wunsch. Zum Teil nennen dieses Anliegen auch Studierende, die bereits Zugang zu einem solchen Gebetsraum haben, der jedoch zu weit entfernt (n = 8) oder zu klein ist (n = 16) oder nicht nach Geschlechtern getrennt werden kann (n = 15). Auf Platz 2 der Wunschliste steht ein Waschraum für die rituelle Reinigung vor dem Gebet. 15,3 % (n = 28) der Antworten bemängeln die fehlende Waschgelegenheit in der Nähe des Gebetsraums und die unangenehmen Umstände dabei,16 die Waschung auf den allgemeinen WCs zu verrichten. Auf Platz 3 findet sich ein immaterielles Bedürfnis: der Wunsch nach Respekt und Anerkennung, der auf das Campusklima allgemein abzielt (9,3 %, n = 17). Dieser Wunsch wurde vergleichbar oft geäußert wie der nach einem HalalSpeiseangebot in der Mensa (8,7 %, n = 16). Auffällig ist darüber hinaus insgesamt die häufige Nennung von immateriellen Bedürfnissen, wie der Anerkennung, Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung: 14 Mal genannt wurden »gleiche Rechte«, jeweils 7 Mal »nicht auf Religion reduziert werden« und »Willkommen sein als Muslim« und 5 Mal der Wunsch nach freier Religionsausübung. Mehrfach genannt wurde außerdem, nicht wegen des Kopftuchs diskriminiert und bei Diskriminierungsbeschwerden ernst genommen zu werden. Fasst man diese insgesamt auf Anerkennung der Grundrechte abzielenden Wünsche zusammen, so bilden sie mit 55 Nennungen oder 30 % der Antworten gleich nach den Gebetsräumen17 das wichtigste Anliegen (noch vor den besseren 16 Als Beispiel die Schilderung einer Studentin in Berlin: »Eine Lösung für eine Findung einer Möglichkeit für die Gebetwaschung war eine lange Reise. Die Mädchentoiletten sind nahezu alle so gelegen, dass ein jeder, der am Hauptkorridor passiert, einen freien Blick in den Waschbeckenbereich hat, jedes Mal, wenn jemand rein- oder rausläuft. Heißt: Auch wenn ich die Toilette mal frei vorgefunden habe, war das Risiko nicht auf sich zu nehmen. Ich habe schließlich die Behindertentoilette entdeckt, welche eine einzelne Kabine mit eigenem Waschbecken enthält und sich ebenso in der Bibliothek befindet. Ich habe kein sehnlicheres Anliegen, als jenes für einen abgeschiedenen Ruheraum, der im Idealfall eine separate Toilette hat.« 17 Rechtlich sind Hochschulen nicht verpflichtet, einen Raum für das Gebet anzubieten, das Gebet muss jedoch möglich sein. »Das Grundgesetz (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) umfasst als Grundrecht der Glaubensfreiheit und der ungehinderten Religionsausübung das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Regeln seines Glaubens auszurichten. Besonders werden kultische Handlungen wie die rituelle Gebetsausübung geschützt. Dies ist in der Rechtsprechung speziell für das islamische Gebet anerkannt (BVerwG, Urt. v. 30. 11. 2011, 6 C 20/12, NVwZ 2012, 162 [163]).« Wrase Michael, Handout für den Workshop: »Muslime an deutschen Hochschulen. Vom institutionellen Umgang mit religiösen Bedürfnissen« am 1. 7. 2016 im Kulturwissenschaftlichen Institut Essen. Unveröffentlicht.

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Waschgelegenheiten). Konkret an die Institution Hochschule gerichtet wurden zudem die Wünsche nach der Unterstützung der islamischen Hochschulgruppen (n = 8), eine bessere Kommunikation mit den Hochschulvertretungen und ein interreligiöser Dialog. Mehrmals genannt wurden zudem Seminare über den Islam sowie eine bessere interreligiöse Kompetenz bei den Lehrenden und offiziellen Ansprechpartnern. Sechs Personen gaben explizit an, alles sei in bester Ordnung, und 15,8 % der Antwortenden ließen diese Frage aus.

Blicke, überflüssige Fragen und Ungleichbehandlung In weiten Teilen entziehen sich die beschriebenen Erfahrungen gut der Hälfte der antwortenden Personen, wie auch nicht anders zu erwarten, einer quantifizierenden Beschreibung, und auch die positiven, negativen und differenzierteren Inhalte der Antworten sind zueinander oder auch zum Teil in sich widersprüchlich. Mehrere Erstsemester meinen, die Situation noch nicht beurteilen können, haben aber bisher nur gute Erfahrungen gemacht. Mehrere Personen vergleichen das soziale Klima an der Hochschule mit dem an der Schule, wobei die Hochschule besser abschneidet. Vielfach beschrieben werden »Blicke« und ein Gefühl der dauernden Beobachtung. Ein Student in Göttingen fühlt sich »von den Blicken abgesehen, schon« fair behandelt. Eine Studentin in Duisburg macht »außer den Blicken« keine schlechten Erfahrungen, beide erwähnen dies so ohne weitere Ausführungen und stellen so diese Blicke als bekanntes, gewohntes und nicht weiter erläuterungsbedürftiges Phänomen dar. So auch die Studentin in Hamm: »Wie gewohnt, komische Blicke, als sei man ein Alien.« Bereits aus dem Titel des Beitrags bekannt ist die Aussage18 einer Studentin in Hamburg: »99999999 Blicke jeden Tag – manchmal als Blick: Studiert die hier? – ansonsten keine Attacken oder desgleichen.«

Deutlich bringt sie die Omnipräsenz dieses Beobachtet-Werdens und die damit teilweise implizierte Infragestellung ihrer Zugehörigkeit zur Hochschule zum Ausdruck. Die Antwort einer Düsseldorfer Studentin zeigt, welche Bandbreite nonverbaler Botschaften sie bereits lediglich über Blicke vermittelt empfängt: »Manchmal ergattere ich unsichere, skeptische oder leider auch stechende (mich belästigende) Blicke oder schmunzelnde Personen, die auch den Kopf schütteln. Im Allgemeinen aber bis jetzt nichts auffälliges Extremes vorgefallen. Ich werde relativ freundlich behandelt, auch wenn anfangs etwas Antasten erforderlich ist.« 18 Alle hier wiedergegebenen wörtlichen Zitate aus der Onlineumfrage wurden bis auf die Korrektur von Tippfehlern unverändert übernommen. Geantwortet wurde teils am Computer, teils via Handy.

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Diese Blicke werden unterschiedlich bewertet, je nach nachdem, ob man allein oder in Gemeinschaft gesehen wird, wie die folgenden beiden Beispiele zeigen: »Da ich hauptsächlich mit Muslimen studiere, habe ich bis jetzt keine schlechten Erfahrungen mit nichtmuslimischen Studenten von anderen Studiengängen gehabt. Die neugierigen Blicke, die man zugeworfen kriegt, sind normal und müssen nicht als negative Erfahrung gezählt werden, meiner Meinung nach« (Studentin an der Uni Osnabrück) »Wenn ich mal in einem Seminar die Einzige bin als Kopftuchträgerin, dann werde ich manchmal blöd angeguckt. Aber dies ist selten der Fall.« (Studentin in Münster)

Mehrfach fallen bereits in den vorausgehenden Aussagen Elemente der Relativierung und Normalisierung (»neugierige Blicke sind normal«) auf. Vielfach kommen Antworten, die zunächst mit einer generellen positiven Aussage beginnen, jedoch durch diverse Partikel zum Negativen hin relativiert werden. Dazu eine Studentin an der Humboldt Universität Berlin: (Wie begegnen Ihnen …) »Die meisten Leute bleiben relativ neutral. Ab und zu gibt es aber solche, die einen dummen Spruch ablassen müssen. Dies tun sie gerne etwas still, so dass man es gerade noch hören kann, sich aber nicht sicher ist, ob es gerade wahr ist, was man zu hören glaubt.« (… in Bezug auf das Kopftuch?) »Die oben genannten dummen Sprüche beziehen sich meistens auf mein Kopftuch. Aber ansonsten habe ich bis heute keine schlechten Erfahrungen gemacht. Ich hoffe, es bleibt auch so.« (… fair behandelt?) »Ja. Mir ist zumindest bis jetzt nichts passiert, was mich zu einer anderen Meinung verleiten würde.«

Diese Studentin beschreibt zunächst die Haltung anderer Leute an der Hochschule als »relativ neutral«. Eine neutrale Haltung – sie studiert an der Humboldt-Universität in Berlin – ist im Alltagsbetrieb von Massenuniversitäten, wo es meistens recht anonym zugeht, zumeist das Beste, was zu erwarten ist. Im zweiten Satz beschreibt sie jedoch auch »dumme Sprüche«, die sie »ab und zu« hört, und die offenbar vornehmlich hinterrücks oder im Vorbeigehen gemurmelt werden. Auf die Frage, ob sie sich fair und gleichberechtigt behandelt fühlt, antwortet sie bejahend mit einem bekräftigenden, beharrenden Nachsatz; sie bleibt bei einem positiven Resümee. Besonders eindrücklich – und widersprüchlich – schildert eine Studentin Erfahrungen der Ausgrenzung im Seminarkontext sowie von berichteter und beobachteter verbaler und körperlicher Gewalt, die ihr Angst machen: Widersprüchlich dazu erscheint ihr positives Resümee. (… in Bezug auf das Kopftuch?) »Universitätsangehörige scheinen sehr aufgeschlossen zu sein. Ich bekomme viele Fragen und finde es gut, dass man mit mir anstatt über mich spricht. Manchmal finden sich nicht gleich Gruppenmitglieder. In einem Fach mussten

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wir uns als vier Bedeckte zusammentun und eine Gruppe bilden, ein fünftes Mitglied haben wir nicht gefunden. Unglücklicherweise hatten wir einen Vorfall19 in unmittelbarer Campusnähe. bei dem eine bedeckte Studentin mutmaßlich aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit angegriffen wurde. Er blieb unaufgeklärt. Da einige Indizien dafür sprechen, dass sie von dem/den Täter/n verfolgt wurde und diese/r sich somit auch auf dem Campus aufgehalten hatte/n, ist man manchmal etwas verunsichert. Die Universität hat leider nichts zu diesem Vorfall gesagt, vielleicht weil sie nicht damit in Verbindung gebracht werden wollte. Einmal befand sich eine Frau mit Gesichtsschleier [Niqab] auf dem Campus; sie wurde angestarrt und von einigen Studenten regelrecht angeschrien und beleidigt. Das hat mir damals Angst gemacht. Ich habe sie nie wieder gesehen, vielleicht hat sie sich dann doch aus Angst gegen den Niqab entschieden, vielleicht war sie aber auch nur zufällig da und entschloss sich, nach dieser Erfahrung nicht mehr über den Campus zu kommen.« (… fair behandelt?) »Ja, im Gegensatz zur Schule schon. Man hört manchmal von generell ausländerfeindlichen Professoren, aber ich selbst bin nicht betroffen. Im Gegenteil, meine Professoren loben mich dafür, wie integriert ich bin. Als hier geborene deutsche Staatsbürgerin bin ich dann manchmal etwas verwirrt, aber ich weiß, dass sie es nur gut meinen. Dennoch ist es schade, dass man eben doch aus einem anderen Blickwinkel betrachtet wird.« (Studentin an der TU Kaiserslautern)

Also, immerhin ist es besser als an der Schule, sie wird zwar ausgegrenzt und erlebt und erfährt von Ausländerfeindlichkeit unter Lehrenden und bedrohlicher verbaler und körperlicher Gewalt gegen Muslimas im Hochschulumfeld. Sie selbst wird für vermeintliche Integrationsleistungen (von den gleichen Lehrenden?) gelobt, wodurch, für sie verwirrend, zugleich ihr Deutschsein abgesprochen und verkannt wird. Sie interpretiert dieses zweifelhafte Lob als wohlmeinend und entschuldigt das darin enthaltene Othering, das »zur Anderen gemacht zu werden«, als unverschuldete Unkenntnis der Professoren. Eine andere Studentin wertet ein Othering, das ebenfalls in einer als Anerkennung gemeinten Aussage enthalten ist, anders: (Wie begegnen Ihnen …) »Für manche spielt es gar keine Rolle! Was ich total gut finde. Man wird nicht aufgrund des Glaubens bewertet. Blicke, Kommentare, wie ›Du Moslem willst Lehrer werden? Das finde ich gut.‹ – sind schockierend! Was hat mein Glaube damit zu tun, ob ich geeignet bin, Lehrer zu werden oder nicht?« (… fair behandelt?) »Solange der Glaube nicht bekannt ist, stört es keinen; ist er bekannt, wird man anders behandelt.« (Studentin an der FU Berlin) 19 Am 9. 2. 2014 wurde eine Studentin auf der Straße von Unbekannten bewusstlos geschlagen. Bei polizeilichen Ermittlungen dazu wurde ein Anfangsverdacht auf einen rechtsextremen Tathintergrund von vornherein ausgeschlossen, die Ermittlungen wurden ohne Ergebnis eingestellt. Siehe auch http://www.spiegel.de/panorama/justiz/fall-leyla-in-kaiserslauternmoeglicher-angriff-auf-muslima-a-1030231.html (letzter Zugriff 30. 10. 2016); http:// www.ramsa-deutschland.org/ramsa-mitteilungen/stellungnahme-des-ramsa-zum-fall-leila (letzter Zugriff 30. 10. 2016).

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Die geschilderten Erfahrungen beziehen sich gleichermaßen auf Begegnungen mit anderen Studierenden wie mit Lehrenden. Insbesondere vorurteilsbehaftetes Agieren vonseiten der Letzteren ist natürlich für die Betroffenen folgenschwerer und kann den Studienerfolg direkt beeinträchtigen. Dies kann als Teil der Lehrinhalte oder in einer ungleichen Bewertung der Studienleistungen zum Vorschein kommen. Zur Verdeutlichung seien hier weitere Schilderungen von Erfahrungen mit Lehrenden unkommentiert dargestellt: »[…] dass meine Leistungen bewusst und immer wieder schlechter bewertet wurden, dass ich erst gewarnt wurde, dann, als ich mein Kopftuch nicht ablegen wollte, hat man mich durchfallen lassen« (Studentin an der PH Heidelberg) »Ich bin im siebten Semester, und mir ist im Verlauf meines Studiums nichts Schlechtes passiert. Vielleicht gab es da den einen oder anderen Dozenten in Germanistik, der laut in die Runde geschrien hat: ›deine Formulierung ist schwach! Das liegt an deiner Herkunft‹. Aber trotzdem hat es mich nicht gestört, weil ich ansonsten nur gute Erfahrungen hatte.« (Studentin Universität Duisburg Essen) »Einige Dozenten [sind LS] rassistisch. ›Zieh dein Kopftuch aus, wenn du in Deutschland leben und arbeiten willst‹«. (Studentin Paderborn) »Teilweise. In meinem Didaktikseminar in Geschichte (Thema: Holocaust) schafft die Dozentin es immer wieder, den Muslimen Antisemitismus zu unterstellen. Und dass ständig pauschalisiert wird, ist genauso schlimm.« (Studentin Paderborn) »Ich habe keine besonders guten Erfahrungen gemacht. Als negativ kann ich das ständige abwertende Aufgreifen des Themas Islam nennen. Die Dozentin gibt Beispiele von jugendlichem Verhalten an, die eigentlich auf die kulturellen und sozialen Bedingungen zurückzuführen sind, wobei sie diese nicht erwähnt und stattdessen betont, dass er ein Muslim ist.« (Studentin FU Berlin) »Es kommt auf die Dozenten an. Leider habe ich eine Dozentin, die ständig mich anstarrt, während der Veranstaltung beziehungsweise wenn sie eine Frage stellt, schaut sie mir in die Augen und möchte, dass ich die Frage beantworte, oder sie nimmt mich ganz spontan dran.« (Studentin PH Weingarten) »Gute Erfahrungen: Eher durch einige Studierende und Mitarbeiter des Studentenwerks. Professoren und Lehrkräfte eher distanzierend bis sogar diskriminierend. 1) Ein Professor hielt mich aufgrund meines Kopftuchs direkt für eine internationale Studierende 2) Bei einem Seminar meldete ich mich für einen Redebetrag, die Professorin schaute mich an, und nahm demonstrativ alle anderen dran, und ich konnte meinen Beitrag erst zwei Minuten vor der Pause kundtun. (Klar, dass dieser dann unterging, weil alle endlich Pause machen wollten) 3) Bei der Vergabe von Seminarthemen wurde ich von einem Professor gar nicht wahrgenommen; wäre da nicht ein anderer Professor dabei gewesen, hätte ich kein Thema erhalten. 4) Während einer Vorlesung sagte eine Professorin: ›Nehmen, wir an, Sie seien verfassungsfreundlich …‹ Eine Professorin interessierte sich immer nur für das, was ich sagte, und bezeichnete mich sogar als Kollegin, als sie meinen Redebeitrag wiederholte in ihrem Vortrag. Bei einem Seminar im Hauptstudium war ein

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Professor besonders freundlich, motivierend und fördernd, dementsprechend war dann auch meine mündliche Note im Seminar, weil ich mich voll und ganz auf den Inhalt konzentrieren konnte, ohne irgendwie eingeschüchtert zu werden und mich dann letztlich nicht zu trauen.« (Studentin Bielefeld)

Detailergebnis: Fragen, Neugier und Unwissen über den Islam Eines der zentralen Ergebnisse des Religionsmonitors der Bertelsmann Stiftung (2015) lautete: »Regelmäßige persönliche Kontakte helfen Vorurteile gegenüber Muslimen abzubauen. Häufig aber fehlen die Gelegenheiten.« Die allmählich zunehmende Präsenz muslimischer Studierender an deutschen Hochschulen, so zeigt die vorliegende Umfrage, ist für viele Angehörige der eher religionsfernen Mehrheitsgesellschaft eine Gelegenheit, offenbar erstmalig in ihrem Leben mit ihnen in alltäglichen Kontakt zu treten, Fragen zu stellen und Berührungsängste abzubauen. Aus der Sicht derer, die diese »Vorurteilsabbauarbeit« mehr oder weniger freiwillig leisten, klingt das zum Beispiel folgendermaßen: »Man ist eine Zielscheibe für erste Auseinandersetzungen. Egal was man studiert, man ist der Religionsberater in allen religiösen Fragen. Bei negativen Geschehnissen ist man zudem noch eine Zielscheibe für die Extreme. Nicht zuletzt wird man für alles verantwortlich gemacht. Auch kam es mal vor, dass ich zu einem Seminar nicht mitgehen sollte, da der Redner islamkritisch sei und es durch mich eine schlechte Stimmung geben könnte, Dinge, die einem Energie und Motivation rauben. Als Jugendlicher, als Student, als Mensch.« (Studentin an der Universität Düsseldorf) »Es gibt immer mal wieder Situationen, in denen ich aufgrund des Hijabs die volle Aufmerksamkeit (ungewollt) erlange. Dies geschieht des Öfteren in Seminaren, wenn Dozenten beim Thema Islam auf mich zeigen oder mich dabei ansehen. Zusätzlich dazu kann ich sagen, dass viele meiner Kommilitoninnen mir gegenüber immer noch mit Misstrauen reagieren. Dies geschieht teilweise aus Ignoranz, aber auch aus Unwissenheit. Es haben sich aber glücklicherweise Situationen ergeben, in denen ich viele Vorurteile abbauen konnte.« (Studentin TU Dortmund) »Gute wie Schlechte. Ich kann keine der beiden Erfahrungen als die häufiger erlebte Erfahrung betiteln. Es gibt häufig Fragen für meine Motivation, mich zu bedecken, aber auch wie ich es als eine angehende Lehrerin mir vorstelle und ob ich es in der Schule abnehmen werde. Natürlich gibt es, allein aufgrund des Kopftuches, die typischen Fragen zur Sexualität.« (Studentin an der FU Berlin) »Die Mehrheit weiß so ziemlich nichts über den Islam (obwohl die ersten Muslime nicht gestern erst in das Land kamen). Sie zeigen aber, wenn man dann zu ihren Freunden gehört, Interesse. Das ist zum einen natürlich gut, dass sie sich interessieren, aber leider kommen dann oft ziemlich überflüssige (dumme) Fragen und Vergleiche. Zum Beispiel ›aber ISIS macht doch genau das, was im Koran steht! Frauen haben doch nichts zu sagen, guck mal Iran, Saudi-Arabien‹. Und dann hab ich einfach keine Lust mehr, mir

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immer denselben Blödsinn anzuhören. Deswegen trenne ich lieber Religion und Uni.« (Studentin an der Universität Düsseldorf)

Gesamtgesellschaftlich gesehen sind »fromme«, praktizierende oder gläubige Muslime in einer schwierigen aufmerksamkeitspolitischen Situation: Auf der einen Seite werden sie von den Schlaglichtern des Sicherheitsdiskurses über Terrorismus und Fundamentalismus einerseits und antimuslimischen Rassismus andererseits mit Zerrbildern stereotyp (miss-)repräsentiert, in denen fromme Lebensentwürfe unsichtbar bleiben, auf der anderen Seite steht die »relative Bedeutungslosigkeit von Religion in der hiesigen Öffentlichkeit«.20 Religiosität oder »eine gottgefälligen Lebensführung« hat insgesamt gesehen eine eher geringe gesellschaftliche Bedeutung, ganz gleich in Hinsicht auf alle Religionen. Damit verbunden ist ein geringer Wissensstand über das religiöse Leben in der säkularisierten Gesellschaft, es fehlt an »Religious Literacy«.21 Die gesammelten Erfahrungsberichte zeigen, dass sich diese Situation im Hochschulalltag widerspiegelt.

Zum Schluss Die Erfahrung von Diskriminierung ist so alt wie die politische Idee der Gleichheit (im Sinne gleicher Würde und Gleichwertigkeit) aller Menschen, denn es handelt sich um die Erfahrung der Nichteinlösung des Gleichheitsversprechens demokratischer Gesellschaften. Oft ist es eine Abwehrstrategie der sich in hegemonialen, privilegierten Positionen Befindlichen, dieser Erfahrung die Gültigkeit abzusprechen, sie zu leugnen und zum Einzelfall und zur persönlichen Befindlichkeit zu erklären – denn schließlich herrscht bereits und ganz selbstverständlich Gleichheit. Was nicht sein darf, kann demnach nicht sein. Gerade für Hochschulen als Ort gesellschaftlicher Eliten steht bei der Auseinandersetzung mit institutioneller Diskriminierung einiges auf dem Spiel, unter anderem der Mythos des aufgeklärten akademischen Selbstbildes, des herrschaftsfreien akademischen Diskurses und der Kraft des besseren Argumentes. Die Erfahrungsberichte muslimischer Studierender in dieser Studie, so lässt sich vorsichtig zusammenfassend sagen, zeichnen in der Zusammenschau ein 20 Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hg.), Diskriminierungsfreie Hochschule: Mit Vielfalt Wissen schaffen. Endbericht der Studie, 2012, Diskriminierungsfreie Hochschule: Mit Vielfalt Wissen schaffen. Endbericht der Studie, 2012, URL: http://www.antidiskriminierungsstelle.de/DE/ThemenUndForschung/Projekte/Bildung/diskriminierungsfreie_hochschule/diskriminierungsfreie_hochschule_node.html (letzter Zugriff 10. 8. 2017). 21 Adam Dinham/Matthew Francis (Hg.), Religious literacy in policy and practice, Bristol 2016.

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höchst widersprüchliches Bild, geprägt von Ambivalenzen und den Bemühungen, sich von schlechten Erfahrungen nicht entmutigen zu lassen, diese nicht zu nah an sich heranzulassen und die eigene positive, optimistische Grundhaltung nicht aufzugeben. Nur knapp die Hälfte der Antwortenden äußert eindeutige Zufriedenheit mit den Studienbedingungen; von Frauen, die das Kopftuch tragen, ist es nur jede dritte. Die Widersprüchlichkeit, dass einerseits vielfache, auch durchaus heftigere unangenehme Erlebnisse geschildert werden, sehr oft jedoch eine generalisierende gute Bewertung des eigenen Studienalltags und der Atmosphäre gegeben wird, ist wichtig festzuhalten, denn daraus lassen sich Erkenntnisse für die Schwierigkeit ziehen, Diskriminierungserfahrungen in quantitativen Umfragen zu erheben.22 Solche quantitativen Umfragen sind eines der wichtigsten Instrumente für die Sozialforschung und auch für Evaluationen von Organisationen, um zu belastbaren, gültigen Erkenntnissen zur Gesamtsituation innerhalb einer Organisation zu gelangen. Aus den Ergebnissen dieser Umfrage lassen sich nur schwer klare »Ja«- oder »Nein«-Antworten filtern, ob es mit den Studienbedingungen insgesamt in Ordnung ist oder ob es Veränderungsbedarf gibt. Allerdings weisen die Vorsichtigkeit und die vielen Bemühungen um Relativierung, die sich in den Antworten finden, doch deutlich darauf hin, dass die hier Befragten auf keinen Fall dazu neigen zu dramatisieren, Kleinigkeiten aufzubauschen, überempfindlich zu sein, zu übertreiben oder Ähnliches. Eher im Gegenteil. Es ist unangenehm, von persönlichen Erfahrungen zu berichten, durch die man sich abgewertet, gedemütigt, entwürdigt fühlt. Insbesondere dann, wenn man keine eigenen Abwehr- und Handlungsmöglichkeiten sieht, ist es eine mehr oder minder erfolgversprechende, jedoch oft eingesetzte Strategie der Betroffenen, diese Erfahrungen beiseite zu schieben und sie klein und unbedeutend zu machen – vor sich selbst und erst recht nach außen.23 Gerade dann, wenn die Frage im Raum steht, ob innerhalb einer Organisation Diskriminierung ein wiederholtes und von der Organisation geduldetes, nicht bemerktes, bisher nicht beachtetes und dadurch regelmäßig ermöglichtes Phänomen ist, es sich also um institutionelle Diskriminierung handelt, scheint es sehr bedeutend, über einigermaßen belastbare Befunde zu verfügen, was das Ausmaß der Diskriminierung betrifft. Empfehlenswert erscheint die Einrichtung von Diskriminierungsbeschwerdestellen an Hochschulen.24 Diversitäts22 Linda Supik, Diskriminierung und Statistik, in: Albert Scherr/Aladin El-Mafaalani/ GökÅen Yüksel (Hg.), Handbuch Diskriminierung, Wiesbaden 2017, S. 191–208. DOI 10.1007/ 978–3–658–10976–9_10. 23 Aladin El-Mafaalani/Julian Waleciak/Gerrit Weitzel, Tatsächliche, messbare und subjektiv wahrgenommene Diskriminierung, in: Albert Scherr/Aladin El-Mafaalani/GökÅen Yüksel (Hg.), Handbuch Diskriminierung, Wiesbaden 2017, S. 173–189. 24 Gesetzlich vorgeschrieben, aber unzureichend umgesetzt, sind diese bisher nur für die

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politiken, die zunehmend an Hochschulen etabliert werden, scheinen sich allerdings bisher mit der Dimension ›Religion‹ eher schwer zu tun,25 was durchaus auch politische Gründe hat. Während der Einsatz für und die Ermächtigungspolitik von Frauen, Personen mit Migrationshintergrund, Menschen mit Behinderungen oder sexuellen Minderheiten tendenziell traditionell längere Allianzen und Verbindungslinien kennt und sich im progressiv-linken-grünen Milieu verortet, finden sich in religiösen Milieus mehr Konservative. Die Religion gehört konsequenterweise in den Diversitätskomplex mit hinein. Hier ist sie auch am richtigen Ort untergebracht, weil Geschlechterrollen und Sexualität für alle Religionen Konfliktthemen sind und hier Expertise vorhanden ist. Umso mehr sollten solche Berichte, wenn sie denn vorliegen, ernst genommen werden. Hochschulen als Orte und Institutionen an der Spitze der Gesellschaft und die in ihnen agierenden aktuellen und zukünftigen Wissenseliten der Gegenwart und der Zukunft sollten sich mit diesen Rückmeldungen aus ihrer Mitte ernsthaft auseinandersetzen.

Welche Rolle spielt Ihr Glaube ganz konkret in Ihrem Hochschulalltag? Exemplarische Antworten aus der Onlineumfrage unter muslimischen Studierenden: »Er [mein Glaube, LS] spielt eine große Rolle, denn obwohl ich Jura studiere, tue ich dies, um Gott näher zu kommen, um eine Hilfe für die muslimische Gemeinschaft in Deutschland und hoffentlich auch ein gutes Beispiel für jüngere Muslime zu sein, die sich leider oft schwer tun, wenn es darum geht ihren eigenen Weg zu finden. […] Ich trage mein Kopftuch, habe genug Gebetsmöglichkeiten und gehe mit meinen nichtmuslimischen Mitstudierenden offen diesbezüglich um. Sie verlieren so sehr schnell die Berührungsängste und fangen an, sich an mich und meinen Glauben heranzutasten.« (Studentin an der Universität Osnabrück) »Wir haben glücklicherweise einen Gebetsraum (im Keller). Da das rituelle Gebet eine Säule unserer Religion ist versuche ich, dem auch nachzukommen, ohne jemanden zu stören. Auf der einen Seite fordert man aber Offenheit und Integration von Muslimen, schickt sie aber gleichzeitig in den Keller zum Gebet. Dann braucht man sich nicht zu Hochschule als Arbeitgeber ; auszuweiten wären solche Beschwerdestellen auch für die Studierendenschaft, vgl. Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hg.), »Leitfaden Diskriminierungsschutz für Hochschulen«, 2013 http://www.antidiskriminierungsstelle.de/Shared Docs/Downloads/DE/publikationen/Diskriminierungsfreie_Hochschule/Leitfaden-Diskrimi nierung-Hochschule-20130916.html). Der RAMSA fungiert auf Bundesebene bereits als staatlich anerkannte Diskriminierungsbeschwerdestelle. Dementsprechend wäre auf Hochschulebene die Zusammenarbeit von Diversity- und Gleichstellungsbüros mit studentischen muslimischen Hochschulgruppen empfehlenswert. 25 Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hg.), »Diskriminierungsfreie Hochschule: Mit Vielfalt Wissen schaffen. Endbericht der Studie«, 2012, URL: http://www.antidiskriminie rungsstelle.de/DE/ThemenUndForschung/Projekte/Bildung/diskriminierungsfreie_hoch schule/diskriminierungsfreie_hochschule_node.html (letzter Zugriff 10. 8. 2017).

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(Fortsetzung) Welche Rolle spielt Ihr Glaube ganz konkret in Ihrem Hochschulalltag? wundern, wenn Kommilitonen und Mitarbeiter Ängste haben, wenn sie als Muslime erkennbare Frauen und Männer in den Keller gehen sehen. Diese Ängste wandeln sich manchmal in Wut und geistige Brandstiftung und man bekommt menschenverachtende Kommentare zu hören.« (Student an der Universität Duisburg-Essen, Campus Duisburg) »Spielt keine Rolle. Meine Religion ist etwas ›Privates‹ und sie taucht in meinem Arbeitsleben beziehungsweise im Studium nie auf.« (Studentin an der Universität Düsseldorf) »Mein Glaube ist einer der Beweggründe, warum ich studiere (aufgrund der Verpflichtung, sich zu bilden)«. (Studentin an der FU Berlin) »Wichtig ist für mich, dass ich beten kann, da ich den ganzen Tag an der Uni bin und kein Gebet verpassen möchte. Ich habe mich gleich an die Gleichstellungsbeauftragte gewandt, die sich uns zu Beginn vorgestellt hatte, und sie hat mir einen Ort der Stille genannt, der für alle Religionen 24 Stunden! täglich offen ist. Das ist für mich eine große Wohltat und Erleichterung.« (Studentin an der Hochschule Koblenz) »Ich wurde muslimisch geboren, habe aber meine persönliche Auslegung vom Islam. Daher ist es für mich nicht wichtig, meinen Glauben öffentlich zu praktizieren!« (Studentin an der Universität Bielefeld) »Mein Glaube umfasst alles in meinem Leben! Mein Verhalten, mein Denken, meine Bedeckung, meine Weltanschauung des diesseitigen und jenseitigen Lebens, meine Interpretation von Freiheit, Gleichheit und Feminismus, mein Studienfach und mein Wissen meiner Selbst. Meine Pflicht meinem Schöpfer gegenüber, das tägliche Gebet, ist mir wichtiger als der Schlaf, als zu essen oder als jegliches Vergnügen. Auch verlasse ich meine Kurse, wenn die Gebetszeit beginnt. Denn im Gebetsruf wird schon gerufen »Lasst die Arbeit sein«. Allah ist groß, und größer und wichtiger als je etwas oder jemand sein könnte! Demnach möchte ich meinem Schöpfer dienen und nach Seinem Wohlgefallen streben und Ihn anbeten, wo immer ich auch bin, was immer ich auch tue!« (Studentin an der Universität Münster) »Als Muslim ist der Glaube alltäglich. Man kann ihn nicht bei Bedarf an- und abschalten.« (Student an der Hochschule Ulm)

Literatur Altiner/Tugba et al., »Muslime an deutschen Hochschulen. Religiöse Kompetenz stärkt Vielfalt und Internationalisierung«, Kulturwissenschaftliches Institut Essen, 2016, URL: https://www.stiftung-mercator.de/de/publikation/muslime-an-deutschen-hoch schulen/ (letzter Zugriff 10. 8. 2017). Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hg.), »Diskriminierungsfreie Hochschule: Mit Vielfalt Wissen schaffen. Endbericht der Studie«, 2012, URL: http://www.antidiskrimi nierungsstelle.de/DE/ThemenUndForschung/Projekte/Bildung/diskriminierungsfrei e_hochschule/diskriminierungsfreie_hochschule_node.html (letzter Zugriff 10. 8. 2017).

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Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hg.), »Leitfaden Diskriminierungsschutz für Hochschulen«, 2013, URL: http://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/ Downloads/DE/publikationen/Diskriminierungsfreie_Hochschule/Leitfaden-Diskri minierung-Hochschule-20130916.html (letzter Zugriff 30. 10. 2016). Akbulut, Nurcan, Diskursive Verfestigungen ›muslimischer Alterität‹, in: Fereidooni, Karim/El, Meral (Hg.), Rassismuskritik und Widerstandsformen, Wiesbaden 2017, S. 165–180. Beinhauer-Köhler, Bärbel/Roth, Mirko/Schwarz-Boennecke, Bernadette (Hg.), Viele Religionen – ein Raum?! Analysen, Diskussionen und Konzepte, Berlin 2015. Bertelsmann-Stiftung, Religionsmonitor 2015. Verstehen was verbindet. Sonderauswertung Islam 2015. Die wichtigsten Ergebnisse im Überblick. Dinham, Adam/Francis, Matthew (Hg.), Religious literacy in policy and practice, Bristol 2016. El-Mafaalani, Aladin/Waleciak, Julian/Weitzel, Gerrit, Tatsächliche, messbare und subjektiv wahrgenommene Diskriminierung, in: Scherr, Albert/El-Mafaalani, Aladin/ Yüksel, GökÅen: Handbuch Diskriminierung, Wiesbaden 2017, S. 173–189. DOI 10.1007/978-3-658-10976-9_10. Heins, Volker, Der Skandal der Vielfalt. Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus, Frankfurt a.M. 2013. Johansen, Birgitte S./Spielhaus, Riem, Counting Deviance: Revisiting a Decade’s Production of Surveys among Muslims in Western Europe, Journal of Muslims in Europe 1 (November 2011), S. 81–112. Klein, Uta/Heitzmann, Daniela (Hg.), Hochschule und Diversity. Theoretische Zugänge und empirische Bestandsaufnahme, Weinheim 2012. Mayhew, Matthew J./Bowman, Nicholas A./Bryant Rockenbach, Alyssa N., Silencing whom? Linking campus climates for religious, spiritual and worldview diversity to student worldviews, in: Journal of Higher Education 2014, 85(2), S. 219–245. Peucker, Mario, »Diskriminierung aufgrund der islamischen Religionszugehörigkeit im Kontext Arbeitsleben. Erkenntnisse, Fragen und Handlungsempfehlungen«, Herausgegeben von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, 2010. http://www.antidiskrimi nierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikationen/Dokumentationen/Fach gespraech-Kopftuch-Arbeitsmarkt.html?nn=6575434 (letzter Zugriff 9. 8. 2017). Rötting, Martin (Hg.), Die ganze Welt am Campus? Kulturelle und Religiöse Diversitäten – Situationen und Perspektiven, Münster 2012. Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration, Viele Götter, ein Staat: Religiöse Vielfalt und Teilhabe im Einwanderungsland. Jahresgutachten 2016 mit Integrationsbarometer, 2016. Strauss, Anselm/Corbin, Juliet, Grounded Theory : Grundlagen Qualitativer Sozialforschung, Weinheim 1996. Supik, Linda, Dezentrierte Positionierung. Stuart Halls Konzept der Identitätspolitiken, Bielefeld 2005. Dies., Statistik und Rassismus. Das Dilemma der Erfassung von Ethnizität, Frankfurt a.M. 2014. Dies., Diskriminierung und Statistik, in: Scherr, Albert/El-Mafaalani, Aladin/Yüksel, GökÅen (Hg.), Handbuch Diskriminierung, Wiesbaden 2017, S. 191–208. DOI 10.1007/ 978-3-658-10976-9_10.

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Wrase, Michael, Handout für den Workshop: »Muslime an deutschen Hochschulen. Vom institutionellen Umgang mit religiösen Bedürfnissen« am 1. 7. 2016 im Kulturwissenschaftlichen Institut Essen, 2016, unveröffentlicht.

Wassilis Kassis / Patricia Heller

Islamfeindlichkeit als negative Schwarmintelligenz: Universitäten – Orte der Toleranz?

Wer trotz des aufgeheizten politischen Klimas den Versuch unternimmt, zur Frage der Beziehung zwischen Personen muslimischen Glaubens und Andersgläubigen akademisch-nüchtern zu arbeiten, wähnt sich sehr schnell in einer schier endlosen Schlaufe von Erklärungsmustern, die sich im Kern über zwei hegemoniale Diskurse wiedergeben lassen: einerseits durch Musliminnen und Muslime als Einzelpersonen beziehungsweise die muslimischen Verbände, die selbst konkret unter den existierenden Einstellungen leiden und sich in einem Opferdiskurs wiederfinden, andererseits durch die Menschengruppen, die »schon immer wussten«, dass der Islam sowohl eine Selbstgefährdung der Muslima und Muslime sei wie er auch für den Westen eine regelrechte alltägliche Belastungsprobe darstelle.1 Zwischen diesen zwei Positionen gibt es sehr wohl eine bunte Auswahl von Schattierungen, die sich aber im Endeffekt klar zu einem der beiden anfangs genannten hegemonialen Diskurse bekennen müssen (siehe auch die weiteren Beiträge in diesem Band). Damit wir uns aber als Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen nicht einzig bekennen, sondern uns auch über Fakten austauschen können, versucht dieser Beitrag herauszuarbeiten, inwiefern die vermeintliche Feindlichkeit gegenüber Muslimen und Musliminnen, die eben weit mehr ist als nur Vorurteile zu haben, wirklich in der Realität vorzufinden ist. Das Thema ist bereits so stark aufgeladen, und der Alltagsdruck ist immens, dass man nicht zu selten auf eine Mischung aus blumiger Rhetorik und zugleich mageren wie auch äußerst mutigen Spekulationen trifft. Studien und Fakten sind dabei allzu häufig nicht von zentralem Interesse. Im Rahmen dieses Beitrags wird somit zu identifizieren versucht, inwiefern massive und klar als falsch und menschenfeindlich geltende negative Einstellungen gegenüber der genannten Personengruppe vorliegen und wie weit deren Alltagsleben über die Haltungen der Mehrheitsgesellschaft belastet wird; gleichzeitig erhebt sich die Frage, ob sie deswegen nicht einzig als negative Einstellungen, sondern als Menschenfeindlichkeit gewertet werden 1 S. Huntington, The clash of civilizations?, New York 2002.

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müssen, weil sie die Entwicklung dieser doch sehr heterogenen Menschengruppe behindern und ein gesellschaftliches Zusammenleben nach den Maßstäben von Demokratie und uneingeschränkter Partizipation gefährden.2 Dies drückt exemplarisch die Aussage »Deutsche Frauen sollten keine Muslime heiraten« aus. In solchen Aussagen steckt eben auch ein Frontalangriff gegen das deutsche Grundgesetz, in der wohl zu Recht mehr als ein Vorurteil, sondern vielmehr die Anleitung zu einer expliziten Lebensbelastung darstellt. Es wäre selbstverständlich ein Leichtes – wenngleich wissenschaftlich trotzdem falsch, weil weder valide noch reliabel – Islamfeindlichkeit wie zum Beispiel in der Art von ›Die hohen Geburtenziffern der muslimischen Frauen weisen darauf hin, dass das Christentum in vielen deutschen Gemeinden verdrängt wird‹ bestimmten öffentlichkeitswirksam positionierten Gruppen zuzuweisen, so der AfD oder der PEGIDA-Bewegung. Islamfeindlichkeit, wie sie über die zwei eingeführten Aussagen deutlich geworden ist, kann sicherlich zu Recht als inhaltlich falsch, weil unkorrekt wie auch als extrem verallgemeinernd gewertet werden. Da liegt doch die Annahme nahe, dies mit dem Bildungsniveau der befragten Personen zu erklären. Demnach wäre die Wahrscheinlichkeit, dass höher gebildete Personen solche Aussagen ihr Eigen nennen würden, gering und wohl gegen Null gehend, eben Islamfeindlichkeit als ein Phänomen im Umfeld des Negativbildes vom arbeitslosen, männlichen, ehemaligen Hauptschüler aus den neuen Bundesländern. Alternativ ist allerdings auch der Erklärungsansatz denkbar, dass gerade Personen mit höherer Bildung ein Interesse daran haben, eigene Privilegien gegenüber anderen Gruppen abzusichern und zu verteidigen. Neue oder neu konstruierte Gruppen scheinen für gewisse Personen eine Gefährdung des Status quo und somit der eigenen privilegierten Stellung innerhalb der Sozialstruktur zu bedeuten. Stellen wir uns nun die hypothetische gesellschaftliche Situation vor, in welcher auch die absolute Mehrheit der gebildeten Menschen eine solche explizite, regelrecht »rüpelhafte« Islamfeindlichkeit verträte, so würden wir doch eher dazu geneigt sein, bei der anfänglich aufgezeigten Diskursentscheidung deutlich den einzelnen muslimischen Menschen wie auch den Muslimverbänden Recht zu geben und von schier unhaltbaren Zuständen zu sprechen. Soweit also die Ausgangslage. Bevor wir zur konkreten empirischen Untersuchung dieser noch hypothetischen Situation kommen, seien hier noch ein paar kurze und stark zusammengefasste theoretische Reflexionen zum Thema vorangestellt.

2 Vgl. A. Zick/A. Klein, Fragile Mitte – Feindselige Zustände: Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland, 2014, S. 61.

Universitäten – Orte der Toleranz?

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Wir und die Anderen – Wir und die Muslime Sofern man von negativen Einstellungen gegenüber Personen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer gewissen sozialen Gruppe spricht, handelt es sich um gruppenbezogene Vorurteile.3 Eine solche soziale Gruppe, wenn auch konstruiert, stellen Musliminnen und Muslime dar, vor allem dann, wenn man sich die Diskurse aus der medialen oder politischen Debatte vergegenwärtigt. Die Ablehnung erfolgt daher nicht aufgrund individueller Eigenschaften, sondern aufgrund der Zuschreibung, die im Hinblick auf die Gruppe getätigt wird. Diese Gruppe wird dann wider die reale Entsprechung als scheinbar homogen dargestellt, womit eine Ablehnung der Einzelperson zu rechtfertigen ist. In solchen normativ verankerten Diskursen werden die beiden Pole »der aufgeklärte Westen« (damit wird dann auch ein liberales Christentum impliziert) und der »rückwärtsgewandte Islam« gegenübergestellt. ›Der Islam‹ wird also »als konstitutives Außen in Abgrenzung zum Eigenen definiert«4. Islamfeindliche Einstellungen wirken jedoch, wie jedwede Form von gesellschaftlichen Vorurteilen, auch auf das Denken und Fühlen von Menschen ein und beeinflussen dadurch deren Handeln. Letzteres wird von Stereotypen und Vorurteilen geleitet und ist auch gegen Menschen gerichtet, die vermeintlich dem Islam angehören. Shooman spricht von einer stattfindenden Ethnisierung der Kategorie ›Muslima/Muslim‹. Ihrer Ansicht nach geht es dabei weniger um die Religion als vielmehr um einen gesellschaftlichen Ausgrenzungsprozess, eine Islamfeindlichkeit, die via kultureller Zuschreibungen geschieht.5 Dieser Prozess ist genau deshalb besonders problematisch, weil er mit Instrumentalisierungen einhergeht. Während Personen, die nicht der eigenen Gruppe angehören, abgewertet werden, schreibt man ihnen negative Eigenschaften zu. Die andere Gruppe wird somit in Abgrenzung zur eigenen zum unterdrückten Objekt.6 Die Referenzgruppe hingegen kann sich durch einen Zuspruch positiver Werte als überlegene Gruppe positionieren und somit die eigene Machstellung sichern und Privilegien verteidigen. Ein zentrales Motiv gruppenbezogener Vorurteile ist folglich nicht nur eine diffuse Angst vor einer als homogen konstruierten Gruppe, sondern ganz explizit auch das Ziel, die 3 Vgl. G.W. Allport/C. F. Graumann/H. Graumann, Die Natur des Vorurteils, Köln 1971, S. 23. 4 I. Attia, Die »westliche Kultur« und ihr Anderes: Zur Dekonstruktion von Orientalismus und antimuslimischem Rassismus, Bielefeld 2015, S. 48. Wobei es irrelevant ist, ob die Menschen, die mit dieser Begründung abgewertet werden, tatsächlich muslimischen Glaubens sind; auch die Intensität des Auslebens des Glaubens ist bei der Kategorisierung bzw. Konstruktion des Anderen »Unaufgeklärten« irrelevant. 5 Y. Shooman, »Das Zusammenspiel von Kultur, Religion, Ethnizität und Geschlecht im antimuslimischen Rassismus«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 2012, 62, S. 16f. 6 Vgl. J. Assmann, Monotheismus und die Sprache der Gewalt, Wien 2012, S. 9.

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eigene Statusposition und damit einhergehende Einflussmöglichkeiten gegenüber einer als Konkurrenz wahrgenommenen Gruppe zu verteidigen.

Islamfeindlichkeit oder eher doch Islamophobie? Um negative Einstellungen und Haltungen gegenüber Personen muslimischen Glaubens zu beschreiben und zu erklären, existieren unterschiedliche Termini, die je nach wissenschaftlicher Perspektive und Forschungstradition verwendet werden. Eine Zentrierung auf Islamophobie beispielsweise betont eine verallgemeinerte Ablehnung von Personen muslimischen Glaubens sowie der religiösen und kulturellen Praktiken des Islam an sich.7 Dabei lag der Begriff, um prominente Beispiele anzuführen, einigen Beiträgen der Schriftenreihe Deutsche Zustände zugrunde;8 auch ist er weiterhin unter anderem im englischsprachigen Raum gebräuchlich. Bei der Betrachtung der Etymologie des Wortes fällt die Zentrierung auf die Phobie, also auf ein starkes Angstgefühl, auf. So bemerkte Elias Canetti schon 1980: »Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes.«9 Im Hinblick auf aktuelle mediale und politische Diskussionen scheint sich die Furcht vor Unbekanntem in besonders starkem Maße auf den Islam zu beziehen. Immer wieder wird hier die Differenz und Unvereinbarkeit »der westlichen Kultur« mit »der Kultur des Islam« betont und herausgestellt. Eine Einschränkung auf die Komponente des Angstgefühls greift für das zugrundeliegende Anliegen jedoch zu kurz und übersieht die den gruppenbezogenen Vorurteilen inhärente Dimension des Machterhalts privilegierter Gruppen. Die Kritik am Begriff ›Islamophobie‹ innerhalb der wissenschaftlichen Literatur zum Thema ist deshalb vielschichtig.10 So betont Schneiders beispielsweise, dass dieser Begriff lediglich eine Unsicherheit und Unwissenheit von Personen postuliere. Dem könnte dann folglich mit Aufklärung begegnet werden. Hier wird allerdings missachtet, dass sich die Ablehnung nicht zwangsläufig 7 Vgl. J. Leibold/S. Kühnel, Islamophobie. Sensible Aufmerksamkeit für spannungsreiche Anzeichen, in: W. Heitmeyer (Hg.), Deutsche Zustände, Franfkurt a.M. 2003, S. 100–119. 8 Vgl. beispielsweise und W. Heitmeyer, Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Die theoretische Konzeption und erste empirische Ergebnisse, in: W. Heitmeyer (Hg.), Deutsche Zustände, Folge 1, Frankfurt a.M. 2002; J. Leibold, J./S. Kühnel, Islamophobie. Sensible Aufmerksamkeit für spannungsreiche Anzeichen, in: W. Heitmeyer (Hg.), Deutsche Zustände, Frankfurt a. M. 2003, Folge 2, S. 100–119. 9 E. Canetti, Masse und Macht, Frankfurt a.M. 1980, S. 9. 10 Vgl. T. G. Schneiders, Wegbereiter der modernen Islamfeindlichkeit: eine Analyse der Argumentationen so genannter Islamkritiker, Wiesbaden 2015; dazu auch I. Kuhn, Antimuslimischer Rassismus: auf Kreuzzug für das Abendland, Köln 2015; I. Attia, Die ›westliche Kultur‹ und ihr Anderes: Zur Dekonstruktion von Orientalismus und antimuslimischem Rassismus, Wiesbaden 2015; W. Benz, Die Feinde aus dem Morgenland: Wie die Angst vor den Muslimen unsere Demokratie gefährdet, München 2014.

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auf mangelnde Kenntnis stützt, sondern sehr häufig eben auf ein konkretes Weltbild.11 Rekurs nehmend auf die Ausführungen zu gruppenbezogenen Vorurteilen, verstellt der Begriff der Islamophobie zentrale Dimensionen des Anliegens. Auch Termini wie Antimuslimismus oder Muslimenfeindschaft sind nicht geeignet, da sie das Phänomen nicht in ihrer Gänze zu erfassen vermögen. Der Begriff ›Islamfeindlichkeit‹ hingegen begegnet diesen Kritikpunkten, indem er die intentionale Rolle der Abgrenzung eindeutig herausstellt. So definieren Zick und Klein Islamfeindlichkeit als »[…] Bedrohungsgefühle und Abwertungen von Muslimen, ihrer Kultur und ihren öffentlich-politischen wie religiösen Aktivitäten.«12 Zwar sind hier potenziell auch Bedrohungsgefühle enthalten, sie werden allerdings ergänzt durch die Abwertung von Muslimen, die immer aktiv geschieht. Dieser Begriff ist folglich geeignet, konkurrierende Kämpfe um den sozialen Statuserhalt innerhalb von Gesellschaften zu erfassen und findet daher im Folgenden Verwendung.

Islamfeindlichkeit als Teil einer generellen Menschenfeindlichkeit Während derzeitige öffentliche Debatten zunächst den Anschein erwecken könnten, Vorurteile bestünden vornehmlich gegenüber Muslimen, so sind auch vielzählige andere soziale Gruppen von Abgrenzung, Abwertung und Anfeindungen betroffen. Im Hinblick auf das Geschlechterbild der AfD beispielsweise erleben homosexuelle Personen oder Frauen, dass sich offenbar ein nicht unerheblicher Teil der Gesellschaft an klassischen Rollenbildern orientiert und Abweichungen hiervon weder toleriert noch akzeptiert werden. Aber auch andere Personengruppen, wie beispielsweise Sinti und Roma, sind sozialen Vorurteilen ausgesetzt. Hier stellt sich folglich die Frage, inwieweit die Abwertung spezifischer Gruppen auf einem gemeinsamen Kern beruht. Die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit postuliert, dass den einzelnen Abwertungsmechanismen unterschiedlicher Gruppen eine gemeinsame Ideologie zugrunde liegt. Diese Ideologie besteht in der Ungleichwertigkeit von Gruppen.13 So ist es wahrscheinlich, dass Personen, die Vorurteile gegenüber einer spezifischen Gruppe wie etwa der hier behandelten aufweisen, auch Vorurteile gegenüber anderen Gruppen, wie beispielsweise Frauen, haben. Es entsteht das Syndrom der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, deren Teilgruppen durch gesellschaftlichen Konsens je nach historischer und sozialer Tradition ausgehan11 Vgl. T. G. Schneiders, Wegbereiter der modernen Islamfeindlichkeit, S. 3f. 12 A. Zick/A. Klein, Fragile Mitte, S. 64. 13 A. Zick/B. Küpper/A. Hövermann, Intolerance, Prejudice and Discrimination – A European Report, 2011, S. 304.

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delt werden.14 Neue Gruppen können ein Teil des Syndroms werden, wenn sie beispielsweise in das Zentrum der Aufmerksamkeit geraten und eine Bedrohung bestehender Verhältnisse befürchtet wird. So stellt die Islamfeindlichkeit, wie auch der Sexismus, einen Teil der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit dar. Theoretisch wäre demzufolge anzunehmen, dass Personen, die Musliminnen und Muslime ablehnen, auch wahrscheinlicher beispielsweise sexistische Meinungen vertreten. Folglich stellt sich die Frage, inwiefern eine Verbindung zwischen Islamfeindlichkeit und Sexismus besteht. Dies wäre vor allem deshalb besonders aussagekräftig, da, wie bereits eingangs erörtert, speziell Muslime sich mit dem Vorwurf konfrontiert sehen, ein tradiertes Geschlechterbild aufzuweisen.

Können formal höhergebildete Menschen auch islamfeindlich sein? Häufig ist aus den Studien nur schwer abzuleiten, ob und in welchem Ausmaße der Bildungsgrad islamfeindliche Einstellungen beeinflusst. So wird postuliert, dass ein hoher formaler Bildungsabschluss mit geringerer Zustimmung einhergehe.15 Konkrete Schlussfolgerungen sind allerdings nur schwer zu ziehen. Einzig, dass das Bildungsniveau eine Rolle spielt, scheint klar zu sein.16 Hier ist allerdings festzuhalten, dass der Zugang zu Bildung allein vor antimuslimischen und fremdenfeindlichen Einstellungen nicht schützt.17 Nur selten werden im wissenschaftlichen Diskurs Universität/Hochschule/Studierende und Islamfeindlichkeit in Bezug zueinander gesetzt. So gelten ja Studierende als (zu mindestens formal) gebildet, weltoffen und in der Gesellschaft auch gut integriert; zudem werden ihre Zukunftschancen als sehr positiv bewertet, weil sie über ihren höheren Bildungsstatus einen wohl gefestigten gesellschaftlichen Platz einnehmen könnten. Genau diese privilegierte Stellung macht diese Personengruppe gemäß der ›Theorie der sozialen 14 Vgl. A. Zick/A. Klein, Fragile Mitte, S. 63. 15 Vgl. E. Brähler/O. Decker/J. Kiess, (2013). Rechtsextremismus der Mitte. Eine sozialpsychologische Gegenwartsdiagnose, Gießen 2013, S. 100; vgl. auch A. Zick/A. Klein, Fragile Mitte, S. 73f. 16 Vgl. u. a. M. Hofmann/D. Rink, Vom Arbeiterstaat zur de-klassierten Gesellschaft?, in: Soziale Milieus und Wandel der Sozialstruktur, Wiesbaden 2014, S. 266–288. Sie setzen Rechtsextremismus mit dem »Konsum-materialistischen Milieu« und dem »Hedonistischen Milieu« in Verbindung. Dabei gilt, dass der Faktor ›niedriges Bildungsniveau‹ eine besonders starke Rolle spielt. Das klingt danach, als dürfte lediglich ein bestimmtes Maß an Bildung davor schützen rechtsextreme Einstellungen zu haben und zu pflegen. 17 R. Neugebauer/M. Rösener, Studierende und Gesellschaft. Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit unter Studierenden an deutschen Hochschulen, in: Harzer Hochschultexte, 2002, S. 58.

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Dominanz‹18 allerdings auch empfänglich für eine dominante soziale Orientierung. Die Theorie der sozialen Dominanz analysiert gruppenbezogene Einstellungsmuster, die mit sozialen Vorurteilen und gesellschaftlichen Machtansprüchen in Beziehung stehen. Dabei kann die soziale Dominanzorientierung als die Präferenz von Gruppenhierarchien innerhalb von Gesellschaften definiert werden.19 Folglich befürworten Personen, die eine hohe soziale Dominanzorientierung aufweisen, eine Hierarchie zwischen sozialen Gruppen in Gesellschaften und somit die Besserstellung und Unterordnung von gewissen Gruppen. Eine exemplarische Gruppe, der aufgrund einer hohen sozialen Dominanzorientierung die gleiche Stellung innerhalb der Sozialstruktur der Gesellschaft verwehrt wird, kann dann unter Umständen Musliminnen und Muslime darstellen. Weil mit der sozialen Dominanzorientierung Prozesse der gruppenbezogenen Aufund Abwertung einhergehen, besteht hier eine deutliche Verbindung mit der Machtdimension von Vorurteilen im Rahmen der Absicherung eigener Privilegien zuungunsten der untergeordneten Gruppen. Somit haben Personen, denen aufgrund ihrer Position im sozialen Gefüge eine Besserstellung zuteilwird, nach dieser theoretischen Annahme ein stärkeres Interesse daran, diese Situation beizubehalten und gegen Veränderungen zu verteidigen. Gerade Studierende könnten auf dieser Grundlage eine hohe soziale Dominanzorientierung aufweisen, da sie gegebenenfalls eigene Privilegien in Gefahr fürchten. Beispielsweise ist für die sogenannte Kopftuchdebatte kennzeichnend, dass dieses offenbar kein Problem bei Personen im Reinigungsbereich darstellt, sehr wohl aber bei Lehrerinnen. Es drängt sich hier die Vermutung auf, dass das Kopftuch vor allem bei Personen als hinderlich empfunden wird, die die soziale Mobilität innerhalb der Gesellschaft wahrnehmen. Problematisch ist eine starke Dominanzorientierung bei Personen vor allem deshalb, da sie sich als zuverlässiger Prädiktor gruppenbezogener Vorurteile und machtbesetzter Positionen herausgestellt hat und mit einer hierarchischen Orientierung folglich auch Vorurteile gegenüber Gruppen, wie der hier genannten, verbunden sein können.20 Wenn somit, um die zu Beginn dieses Kapitels formulierten Erklärungsansätze wiederaufzunehmen, nachgewiesen werden könnte, dass auch diese gesellschaftliche Gruppe, die Studierenden als die ›Bildungs- und IntegrationsElite‹, in ihrer Mehrheit islamfeindlich wären, könnte wohl zu Recht behauptet 18 Vgl. J. Sidanius/F. Pratto, Social dominance: An intergroup theory of social oppression and hierarchy, Cambridge 1999. 19 Vgl. F. Pratto et al., Social-dominance orientation: A personality variable predicting social and political attitudes, in: Journal of Personality and Social Psychology, 1994, 67(4), 741–763. doi:10.1037//0022–3514.67.4.741. 20 Vgl. z. B. H. Carvacho, Ideological configurations and prediction of attitudes toward immigrants in Chile and Germany, in: International Journal of Conflict and Violence, 2010, 4(2), S. 220–233.

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werden, dass ein massives gesellschaftliches Problem vorliegt. Eine empirische Frage also, die es wahrlich wert wäre, untersucht zu werden.

Zur empirischen Überprüfung der gestellten Fragen: Die Statistik als Hilfsmittel Einerseits aus den bisherigen theoretischen Einsichten und damit einhergehend aus den ermittelten Forschungsdesideraten heraus wurde im Rahmen einer internationalen Studie die Beziehung zwischen der sozialen Dominanzorientierung, dem Sexismus und der Islamfeindlichkeit Studierender untersucht. Einer häufigen Annahme zufolge finden sich soziale (antimuslimische) Vorurteile vornehmlich in den weniger gebildeten Gesellschaftsschichten. Doch stimmt dies tatsächlich? Wie verbreitet ist ausgrenzendes Denken im akademischen Milieu? Zugleich wurde insbesondere nach dem Zusammenhang zwischen Geschlechterrollenstereotypen und antimuslimischen Einstellungen Studierender gefragt. Weil der vorliegende Beitrag nicht primär für eine Leserschaft verfasst wird, die sich an statistischen Kennwerten und Statistikverfahren orientiert, wird im weiteren Lauftext größtenteils hierauf verzichtet werden. Die Leser und Leserinnen mögen verzeihen, dass die Darstellung von Regressionsanalysen und Strukturgleichungsmodellen aber nicht gänzlich ohne Angabe statistischer Kennwerte vorgenommen werden kann. Dies geschieht einzig in dem Ansinnen aufzuzeigen, dass empirische Fakten ausgewertet und keine Ideologien verbreitet werden. Wer zugleich auch weiterführende statistische Informationen etwas genauer einsehen und verstehen möchte, ist angehalten, Kontakt mit dem Autor und der Autorin aufzunehmen. Tabellen und Angaben zu einzelnen statistischen Kennzahlen werden aber sehr wohl noch vor dem Literaturverzeichnis aufgenommen; einerseits kann der Lauftext dadurch schlanker gehalten werden, andererseits sollen aber absolut notwendige statistische Informationen doch einfließen können. Die vorliegende empirische Auswertung thematisiert die Aussagen der insgesamt 1061 teilnehmenden deutschen Studierenden aus zwei Universitäten (Osnabrück n = 496; Wuppertal n = 525). Die umfassendere internationale Studie über 7464 B.A.-Studierende ist ein kooperatives, internationales Forschungsprojekt, welches unter der Co-Leitung von Wassilis Kassis (Universität Osnabrück) und Charlotte Schalli8 (University of Victoria) im Wintersemester 2014/2015 in zehn Ländern (neun europäischen Ländern und Kanada) an insgesamt 16 Universitäten durchgeführt wurde. Die deutsche Stichprobe bestand aus 59,5 % Frauen und 38,8 % Männern im Alter von durchschnittlich 21 Jahren (1,1 % gaben das Geschlecht nicht an, 0,6 %

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gaben als Geschlecht »anderes« an), Die anfallenden Stichproben waren zugleich per Unterdesign so festgelegt, dass sie etwa hälftig den Geistes- bzw. Sozialwissenschaften (40,8 %) und den Bereichen der Natur-/Wirtschaftswissenschaften/ Jurisprudenz (59,2 %) zugeordnet werden konnten. Bevor die Ergebnisse vorgestellt werden, sei auf die empirischen Skalen zur Erhebung der zu analysierenden sozialen Vorurteile, nämlich der Dominanzorientierung, des Sexismus sowie der Islamfeindlichkeit, eingegangen.21 Die aus fünf Items bestehende Kurzskala ›Dominanzorientierung‹ (Ca = .78) in der deutschen Übersetzung nach Six, Wolfrath und Zick (2001)22 geht im Kern auf die Superioritätsansprüche und gesellschaftliche Dominanz gegenüber sozialen Minoritäten ein. Zwei Beispielitems dazu: »Um im Leben vorwärts zu kommen, ist es manchmal notwendig, auf anderen herumzutreten« und »Es ist in Ordnung, wenn einige Gruppen mehr Chancen im Leben haben als andere«. Der Sexismus wurde über eine von Kassis23 entwickelte Skala (Ca = .77), bestehend aus insgesamt sechs Einzelfragen, getestet. Zwei Beispielitems dazu lauten: »Frauen wissen in Sachen Sexualität nicht immer so genau, was sie wollen. Da kann es nicht schaden, wenn Männer ein bisschen nachhelfen« und »Der alte Ausspruch ›Die Frau gehört ins Haus und zur Familie‹ ist im Grunde genommen richtig, und es sollte auch so bleiben.« Die Islamfeindlichkeit wurde über eine Skala (Ca = .88), bestehend aus insgesamt acht Einzelitems, welche von Kassis24 über die Weiterentwicklung der ALLBUS-Antisemitismus-Skala25 eingeführt haben und die zugleich mit weiteren Items der Skala von Leibold et al.26 angereichert wurde, erhoben. Zwei Beispielitems dazu lauten: »Die Mehrheitsansicht der Muslime in Deutschland über Frauen widerspricht unseren sozial akzeptierten Werten« und »Die hohen Ge-

21 W. Kassis, »Die Wirkungsweise von Geschlechterrollenstereotypen auf die Gewaltentwicklung männlicher Schüler«, in: Schweizerische Zeitschrift für Bildungswissenschaften 25.1 (2003), S. 143–159. Die intervallskalierten Items der drei Skalen wurden über die Skala »stimmt völlig«, »stimmt eher«, »stimmt eher nicht« und »stimmt gar nicht« beantwortet. 22 B. Six/U. Wolfrath/A. Zick, »Autoritarismus und soziale Dominanz als generalisierte Einstellungen«, in: Zeitschrift für Politische Psychologie 9 (2001), S. 23–40. 23 W. Kassis, »Right-Wing Extremist Youth: Motivations for Exiting the Right-Wing Extremist Scene and Clique Structure«, in: Marcel Alexander Niggli (Hg.), Right-Wing Extremism in Switzerland. National and International Perspectives. Studien zur Schweizer Politik, BadenBaden 2009, S. 181–192. 24 W. Kassis et al., Prediction of anti-muslim sentiment on campus: a cross-cultural analysis of prejudice in two university populations, in: Integration, 2013 14(3), S. 457–474. 25 M. Wasmer, Konzeption und Durchführung der »Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften«, 1996 (ALLBUS). 26 J. Leibold et al., Mehr oder weniger erwünscht? Entwicklung und Akzeptanz von Vorurteilen gegenüber Muslimen und Juden, in: W. Heitmeyer (Hg.), Deutsche Zustände, Folge 10, Frankfurt a.M. 2012, S. 177–198.

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burtenziffern der muslimischen Frauen weisen darauf hin, dass das Christentum in vielen deutschen Gemeinden verdrängt wird«. Gerechnet wurden die nun einzuführenden Ergebnisse zuerst über eine Varianzanalyse und danach über Strukturgleichungsmodelle zu den folgenden zwei Fragebereichen: 1. Haben ausgewählte soziodemographische Merkmale, nämlich das Geschlecht und die Bezugswissenschaft, einen Einfluss auf die erhobenen Vorurteile der Studierenden? (varianzanalytische Auswertung); 2. Stehen die Dominanzorientierung, der Sexismus und die Islamfeindlichkeit in einer Beziehung zueinander? (Strukturgleichungsmodelle).

Ergebnisse Im ersten Schritt sei festgehalten (siehe Abb. 1), dass sich lediglich 22,3 % aller Studierenden stark von der Dominanzorientierung, 15,7 % vom Sexismus und sogar nur 4,4 % (also nur jeder dreiundzwanzigste Student) von Islamfeindlichkeit absetzten, also »stimmt gar nicht« im Fragebogen ankreuzten. Für insgesamt 9,4 % der Probanden galt zur Dominanzorientierung sogar die Antwortvariante »stimmt voll und ganz« als die für sie korrekte, entsprechend 11,9 % für Sexismus und 25,6 % zur Islamfeindlichkeit. Für den Großteil der Befragten kamen die mittleren Antwortkategorien »stimmt eher nicht« (Dominanzorientierung 33,9 %; Sexismus 28,7 %; Islamfeindlichkeit 20,1 %) und »stimmt eher« (Dominanzorientierung 31,8 %; Sexismus 41,2 %; Islamfeindlichkeit 43,9 %) infrage (bei folgenden Missings zu den drei Skalen: 2,6 % Dominanzorientierung; 2,5 % Sexismus; 6,0 % Islamfeindlichkeit). Berücksichtigt man bei der Bewertung des Ausmaßes dieser Einstellungen die regelrechte »Kantigkeit« und die damit verbundene Vorurteilshaftigkeit der Aussagen, so dürfen diese Ergebnisse als ein deutlicher Ausdruck massiver alltäglicher Vorurteile gewertet werden. Wird nun in einem weiteren Schritt die Vorhersagekraft der soziodemographischen Merkmale ›Universität‹, ›Gender‹ und ›Bezugswissenschaft‹ auf die Einstellungen der Studierenden geprüft (siehe Tab. 2 im Anhang), erhält man durch die erfolgten Varianzanalysen die Erkenntnis, dass zwar viele statistisch signifikante Ergebnisse vorliegen, die aber einzig zum Sexismus einen bedeutsamen Unterschied ausmachen, nämlich im geschlechtsspezifischen Vergleich (Studenten haben bedeutsam höhere Sexismuswerte als Studentinnen27). Alle weiteren Analysen sind zwar statistisch signifikant (siehe Tab. 1), fallen aber so 27 Die aufgeklärte Varianz, der eta2-Wert, dieses statistisch signifikanten Unterschieds beträgt 9,0 %.

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Abbildung 1: Häufigkeiten der drei Vorurteilsbereiche

geringfügig aus, dass sie als tendenziell bedeutungslos gewertet werden müssen.28 Zusammengefasst bedeutet dies, dass soziodemographische Merkmale einzig bei der Vorhersage der untersuchten Vorurteile bei den Befragten eine untergeordnete Rolle spielen. Die Islamfeindlichkeit fällt somit in den getesteten Gruppen, mit Ausnahme der höheren Sexismuswerte männlicher Probanden, nicht bedeutsam unterschiedlich aus. Prüft man zugleich den in der Einleitung diskutierten Zusammenhang zwischen sexistischen Vorurteilen und Islamfeindlichkeit, so ist zu erkennen, dass eine sowohl starke als auch interessante Beziehung hierzu existiert. Demnach weisen sowohl weibliche als auch männliche Probanden, die häufiger sexistische Vorurteile vertreten, sehr oft auch einen Hang zu Islamfeindlichkeit auf. Um diese Aussage statisch erhärtet einzubringen, sei gesagt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass bei vertretener Islamfeindlichkeit auch Sexismus für richtig gehalten wird, bei 84,9 % liegt. Wer dagegen den Sexismus nicht unterstützt, vertritt einzig mit der geringen Wahrscheinlichkeit von 15,1 % auch Islamfeindlichkeit. Bringt man dies auf den Punkt, so ist festzuhalten, dass die überwiegende Mehrheit der Personen, die angeben, dass sie Muslimen und Musliminnen wegen ihrer vermeintlichen »Frauenfeindlichkeit« kritisch beäugen, (selbst-)erklärtermaßen auch die Personen sind, die in ihrem Alltag am deutlichsten Sexismus vertreten. Die »Emanzipationskritik« am Islam erscheint demnach als ein allzu durchsichtiges Vorurteilsfeigenblatt zu sein. 28 Die erklärte Varianz, der eta2-Wert, der weiteren statistisch signifikanten Ergebnisse beträgt geringe 0,9 %–2,8 %.

288

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Im zweiten Rechenschritt wurde über Strukturgleichungsmodelle der strukturelle und funktionelle Zusammenhang zwischen der Dominanzorientierung, dem Sexismus und der Islamfeindlichkeit geprüft. Für nicht statistisch Versierte sei gesagt, dass über Strukturgleichungsmodelle die Möglichkeit eröffnet wird, zu überprüfen, ob und wie stark die Dominanzorientierung mit dem Sexismus und der Islamfeindlichkeit in Verbindung steht.29 Dabei wurde davon ausgegangen, dass Menschen mit einer höheren Dominanzorientierung, also Menschen, die ausgeprägte Ungleichheitseinstellungen vertreten, sowohl höhere Sexismuswerte als auch höhere Islamfeindlichkeitswerte erzielen werden. Zugleich wurde unterstellt, dass höhere Sexismuswerte zu höheren Islamfeindlichkeitswerten führen. Die Ergebnisse zeigen hier sehr deutlich, dass es, wie angenommen, sowohl einen starken Effekt von der Dominanzorientierung hin zum Aufbau von Islamfeindlichkeit gibt als auch den weiteren angenommenen Effekt von der Dominanzorientierung über den Sexismus zur Islamfeindlichkeit. Höhere Werte von Dominanzorientierung führen somit auch zu höheren Werten an Sexismus und Islamfeindlichkeit. Zugleich ist der Sexismus ein sehr geeigneter Indikator für Islamfeindlichkeit: Je sexistischer die Einstellungen, desto eher wird Islamfeindlichkeit akzeptiert.

Abbildung 2: Vereinfachtes Strukturgleichungsmodell zur Darstellung von Islamfeindlichkeit

Diskussion und Zusammenfassung Die Wissenschaft bleibt die wunderbare, aber keineswegs Wunder bewirkende Mischung aus Kreativität und alltäglicher, schier unendlicher Klein-KleinArbeit. Das solideste wissenschaftliche Werkzeug bleibt Denken (auch Rechnen gehört übrigens dazu). Leisten wir uns diesen unbeschreiblichen Luxus 29 Der fast gesamte statistische Hintergrund ist den Tabellen und den Anmerkungen des Anhangs zu entnehmen. Weiterführende Informationen können gerne bei den Autoren eingeholt werden.

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und vergessen wir nicht dabei: Denken braucht Zeit, sehr viel Zeit! Seien wir mutig genug, kleine (Fort-)Schritte machen zu wollen, auch in Bezug auf gruppenbezogene Vorurteile und im Konkreten bezogen auf Islamfeindlichkeit. Die Folgen der spezifisch angesprochenen gruppenbezogenen Vorurteile, der Islamfeindlichkeit, äußern sich zunächst einmal in der durch machtorientierte Zuschreibung geprägten und durch faktenferne Schließungsprozesse entstehenden in-group und out-group, der man je nach vermeintlicher Zugehörigkeit zugeordnet wird. So spricht man in diesen Zusammenhängen über die Muslime, ohne wirklich auf die Spezifizierungen innerhalb dieser doch sehr verbreiteten Religions- und Kulturgemeinschaft einzugehen. Mit über 1,6 Milliarden Menschen, die dem Islam anhängen, (ausgeschrieben sind dies über 1 600 000 000 Menschen) weltweit kann es ja nicht angehen, diese als eine einheitliche Gruppe zu betrachten. So sind Angehörige der Mehrheitsgesellschaft über diese machtorientierten Vorurteilsstrukturen in der Lage, sich selbst zwar als sehr verschieden von der Nachbarsfamilie bei sich auf der Straße im Haus gegenüber zu bewerten, betrachten aber die 1 600 000 000 muslimischen Männer und Frauen, die von San Francisco bis Manila verteilt sind, als ähnlich, wenn nicht als gleich! Die Grundlage solcher Prozesse können beispielsweise unterschiedlich dargestellte und bewertete Kulturen sein. Der Kulturalismus als eine soziale machtorientierte Konstruktion, die kulturelle Differenzen heranzieht, um zwischen sozialen Gruppen zu unterscheiden und zu werten,30 naturalisiert vermeintliche kulturelle Unterschiede, weist ihnen regelrechte körperliche Merkmale zu und macht dadurch stets die einander entgegengesetzten Kategorien »Wir« und »die Anderen«, eben »Wir« und die »Muslime« auf. Dieses Phänomen des Aufteilens in die eigene und die fremde Gruppe charakterisiert insbesondere die Islamfeindlichkeit, obwohl ja der Islam, das Christentum und das Judentum doch die aufs Engste verwandten Abrahamsreligionen und -kulturen darstellen. Dabei ist besonders prekär, dass ganz im Sinne der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit Personen muslimischen Glaubens lediglich als eine Gruppe unter vielen abgewertet und abgelehnt werden. Da es prinzipiell um die Verteidigung der eigenen sozialen Stellung geht, können potenziell auch viele andere Gruppen gefährlich werden, die jedoch durch Stigmatisierung und Diskriminierung aufgrund scheingerechtfertigter gruppenübergreifender Defizite erfolgreich aus dem Rennen geworfen werden. Unterschiedliche Akteure, übrigens muslimische wie auch nicht-muslimische, versuchen dabei, den Islam primär als Ideologie zu propagieren. Tatsache ist aber, dass der Islam eine Religion mit einer Theologie ist – genauso wie das Christentum und das Judentum. Jede Religion ist aber auch Grundlage für eine 30 Vgl. W.D. Hund, Rassismus, Bielefeld 2015.

290

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Ideologie, weil Religionen auch ein dogmatisches System von Normen darstellen (Dogma sowohl im religiösen wie auch im soziologischen Sinne) und diese Normen von den unterschiedlichen religiösen Untergruppen der jeweiligen Glaubensgemeinschaft zur Rechtfertigung und Bewertung eigener und fremder Handlungen verwendet werden. Eine einfache Lösung dieser Fragen gibt es somit nicht, warum auch! Eine ernsthafte Beschäftigung mit der Religion erfolgt allerdings durch vorurteilsbehaftete Personen keinesfalls. Gordon Allport weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass gruppenbezogene Vorurteile dauerhaft und starr sind,31 und vor allem nicht auf tatsächlich gemachten Erfahrungen mit Muslimen und Musliminnen beruhen. Diese Ergebnisse verdeutlichen den Bewertungscharakter von Vorurteilen, für den der eigene Kontakt mit der abgelehnten Gruppe nicht vorhanden sein muss. Eine Anpassung oder Revision des eigenen Verständnisses ist auf der Grundlage der ›Theorie der sozialen Dominanz‹ für privilegierte Personengruppen wie die befragten Studentinnen und Studenten nicht zielführend, weil die Funktion von Vorurteilen eben nicht eine realitätsgetreue Abbildung von Personen, sondern die Absicherung der eigenen Position ist. Die Frage, ob eigene Vorstellungen von der konstruierten Gruppe gegebenenfalls nicht zutreffen, stellt sich somit nicht. Unabhängig von Geschlecht und Bezugsdisziplin eint folglich die Abwertung von Personen muslimischen Glaubens aufgrund der Verteidigung eigener Privilegien. Interessant ist hierbei festzuhalten, so die vorliegenden Untersuchungsergebnisse, dass insbesondere diejenige Populationsgruppe, die am stärksten Aussagen wie »Frauen wissen in Sachen Sexualität nicht immer so genau, was sie wollen. Da kann es nicht schaden, wenn Männer ein bisschen nachhelfen« zustimmen, auch weit höhere Vorurteile gegenüber Muslimen aufweisen. Mit anderen Worten: Diese Populationsgruppe vertritt auch Aussagen wie »Die Mehrheitsansicht der Muslime in Deutschland über Frauen widerspricht unseren sozial-akzeptierten Werten« oder »Die hohen Geburtenziffern der muslimischen Frauen weisen darauf hin, dass das Christentum in vielen deutschen Gemeinden verdrängt wird«. Die Emanzipation der Frauen wird somit von dieser Gruppe, so das Ergebnis, als ein Machtargument gegen den Islam missbraucht und eingesetzt. Politische Korrektheit nach außen korrespondiert in diesem Fall keineswegs mit einer politisch korrekten Haltung nach innen, sondern bloß als Deckmantel massivster und menschenfeindlicher Vorurteile sowohl gegenüber Frauen im Besonderen wie auch gegen Muslime und Musliminnen im Allgemeinen. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die Essentialisierung – als Herstellung des Eigentlichen – als zentraler Begriff zum Islamdiskurs zu nennen,32 31 Vgl. ebd. 32 I. Attia, Die westliche Kultur, S. 76.

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denn – um einen wichtigen, aber bei Weitem nicht einzigen Pfeiler dieser Debatte zu benennen – mit der verallgemeinernden Diskriminierung der islamischen Frau als unterdrückt und der pauschalen Abstrafung des muslimischen Mannes als nichtemanzipiert wird damit auch die Illusionen über die eigene Freiheit und Emanzipation33 genährt, so in Aussagen wie »Die Mehrheitsansicht der Muslime in Deutschland über Frauen widerspricht unseren sozial-akzeptierten Werten«. Dabei wird auch der Gegensatz zwischen den emanzipierten nichtmuslimischen Männern und den rückständigen muslimischen Männern stilisiert. Während es beim klassischen Sexismus um Aussagen geht wie »Der alte Ausspruch ›Die Frau gehört ins Haus und zur Familie‹ ist im Grunde genommen richtig, und es sollte auch so bleiben«, ist vor allem der moderne Sexismus besonders unter jungen Menschen noch weit verbreitet.34 Dennoch werden Aussagen wie »Frauen wissen in Sachen Sexualität nicht immer so genau, was sie wollen. Da kann es nicht schaden, wenn Männer ein bisschen nachhelfen« dem als rückwärtsgewandt stilisierten Islam zugewiesen und dadurch eine maximale Empörungsdistanz zwischen dem »Wir« und »den Muslimen« geschaffen. Die regelrechte Islam-Zuschreibung der letztgenannten Aussage beinhaltet das aktive Leugnen herrschender Diskriminierungen von und gegenüber Frauen in der eigenen Gesellschaft,35 wobei man hierzu keineswegs einzig auf die Akzeptanz des »Locker-Room-Talks« im Rahmen des 2016 US-amerikanischen Wahlkampfs verweisen muss.36

33 B. Rommelspacher, Warum Frauen rassistisch sind, in: P. Wlecklik (Hg.), Frauen und Rechtsextremismus (Vol. 175), 1995, Lamuv., S. 19–33, hier S. 26. 34 Vgl. Endrikat, Ganz normaler Sexismus, in: W. Heitmeyer (Hg.), Deutsche Zustände 2, 2003, S. 120–141. 35 Vgl. T. Eckes, Geschlechterstereotype: Von Rollen, Identitäten und Vorurteilen, in: R. Becker/ B. Kortendiek, Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung, Wiesbaden 2004, S. 165–176. 36 Wenn sich das Autorenteam nicht irrt, ist der hier angesprochene Mann kein Muslim, und den Koran zitiert er dabei auch nicht.

292

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Tabellenanhang Tabelle 1: Zur Beziehung der erhobenen Vorurteile mit Geschlecht und Bezugswissenschaft, Mittelwerte (Standardabweichungen)

2,86*** (,79)

412

584

Mean (Sd)

Mean (Sd)

Aufgeklärte Varianz (Eta2-Wert)

Islamfeindlichkeit

schaften/ Jura

2,35*** (,86)

Natur-/Wirt-

Sexismus

schaftswissen-

2,37 (,97)

schaften

2,20** (,87)

Sozialwissen-

Dominanzorientierung

Geistes-/

Mean (Sd)

Aufgeklärte Varianz (Eta2)

Mean (Sd)

Bezugswissenschaft

Männlich

508

Weiblich

Wuppertal

488

Stichprobe (Abs.)

Gender

Aufgeklärte Varianz (Eta2-Wert)

Osnabrück

Universität

Mean (Sd)

Mean (Sd)

0,9 %

2,17*** (,86)

2,46 (,98)

2,5 %

2,17*** (,89)

2,36 (,94)

1,0%

2,65 (,92)

2,8 %

2,28*** (,84)

2,84 (,89)

9,0 %

2,36*** (,87)

2,60 (,91)

1,6%

3,06 (,83)

1,5 %

2,91* (,79)

3,01 (,85)

1,0 %

2,81*** (,82)

3,06 (,80)

2,3%

*** p