Von Selma bis Ferguson - Rasse und Rassismus in den USA 9783839435038

What has happened to Martin Luther King's vision of an America of equality, justice and self-determination? Fifty y

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German Pages 314 Year 2016

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Von Selma bis Ferguson - Rasse und Rassismus in den USA
 9783839435038

Table of contents :
Inhalt
Dank
Einleitung
Die Lange Bürgerrechtsbewegung und die politische Instrumentalisierung von Geschichte
Von der Sklaverei zur Bürgerrechtsbewegung: Rassenbeziehungen in Amerika, 1770 bis 1945
Was ist aus Martin Luther Kings Traum geworden? Amerikas schwarze Minderheit seit der Bürgerrechtsbewegung
Lynchmorde und der weiße Süden nach 1945
Der Schatten Jim Crows: Segregation des öffentlichen Raumes in Nashville – damals und heute
Der demographische Wandel in den Vereinigten Staaten und die Zukunft der Obama-Koalition
Detroit, Philadelphia, Baltimore: Rassenkonflikte in urbanen Brennpunkten
»The Death of the Sixties«?: Afroamerikanische Geschichte in Colson Whiteheads John Henry Days
Guess Who’s Coming to Dinner: Liebe zwischen Schwarz und Weiß im amerikanischen Film und Fernsehen
Der War on Drugs, die Hyperinhaftierung sozial schwacher Afroamerikaner und Perspektiven der Strafrechtsreform
Black Leadership: Prophetische Stimmen des Widerstands
#BlackLivesMatter: Protest und Widerstand heute
Der Fall Michael Brown: (Symbolische) Polizeigewalt und kollektive Fantasie
Die Bürgerrechtsbewegung in der Langzeitperspektive
Autorinnen und Autoren

Citation preview

Michael Butter, Astrid Franke, Horst Tonn (Hg.) Von Selma bis Ferguson – Rasse und Rassismus in den USA

American Culture Studies | Band 15

Michael Butter, Astrid Franke, Horst Tonn (Hg.)

Von Selma bis Ferguson – Rasse und Rassismus in den USA

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Horst Tonn, Washington, D.C., 2014 Satz: Francisco Bagrança, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3503-4 PDF-ISBN 978-3-8394-3503-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Dank | 7 Einleitung Michael Butter, Astrid Franke, Horst Tonn | 9

Die Lange Bürgerrechtsbewegung und die politische Instrumentalisierung von Geschichte Jacquelyn Dowd Hall | 15

Von der Sklaverei zur Bürgerrechtsbewegung: Rassenbeziehungen in Amerika, 1770 bis 1945 Georg Schild | 47

Was ist aus Martin Luther Kings Traum geworden? Amerikas schwarze Minderheit seit der Bürgerrechtsbewegung Manfred Berg | 73

Lynchmorde und der weiße Süden nach 1945 Christine Knauer | 93

Der Schatten Jim Crows: Segregation des öffentlichen Raumes in Nashville – damals und heute Benjamin Houston | 111

Der demographische Wandel in den Vereinigten Staaten und die Zukunft der Obama-Koalition Thomas W. Gijswijt | 127

Detroit, Philadelphia, Baltimore: Rassenkonflikte in urbanen Brennpunkten Horst Tonn | 139

»The Death of the Sixties«?: Afroamerikanische Geschichte in Colson Whiteheads John Henry Days Astrid Franke | 157

Guess Who’s Coming to Dinner: Liebe zwischen Schwarz und Weiß im amerikanischen Film und Fernsehen Michael Butter | 173

Der War on Drugs, die Hyperinhaftierung sozial schwacher Afroamerikaner und Perspektiven der Strafrechtsreform Katharina Motyl | 191

Black Leadership: Prophetische Stimmen des Widerstands Christa Buschendorf | 215

#BlackLivesMatter: Protest und Widerstand heute Nicole Hirschfelder | 231

Der Fall Michael Brown: (Symbolische) Polizeigewalt und kollektive Fantasie Luvena Kopp | 261

Die Bürgerrechtsbewegung in der Langzeitperspektive Benjamin Hedin | 287

Autorinnen und Autoren | 309

Dank

Wir danken dem Universitätsbund Tübingen e.V. sowie dem Sonderforschungsbereich 923 »Bedrohte Ordnungen«, die den Druck dieses Bandes unterstützt haben. Danken wollen wir zudem Cornelius Dieckmann, Stephan Helbig, Viktoria Bunzel und Michaela Wildermuth, die uns mit großem Einsatz und ebensolcher Akribie bei der Edition geholfen haben. Albrecht Raible hat an einer entscheidenden Stelle große Hilfe geleistet. Schließlich gebührt unseren Beiträger*innen Dank für die engagierte Mitarbeit und nicht zuletzt auch dafür, dass sie den sehr eng getakteten Zeitplan für die Drucklegung eingehalten haben. Tübingen im Mai 2016 Michael Butter, Astrid Franke, Horst Tonn

Einleitung Michael Butter, Astrid Franke, Horst Tonn

Vor etwas mehr als 50 Jahren, im März 1965, setzten afroamerikanische Bürgerrechtler*innen mit dem legendären Demonstrationsmarsch von Selma nach Montgomery, Alabama das Wahlrecht für alle US-Bürger*innen durch. Das allein wäre schon Anlass genug, nach dem Erbe der Bürgerrechtsbewegung und dem Stand der Rassenbeziehungen heute zu fragen. Doch die Ereignisse der letzten zwei Jahre haben diese Frage noch dringlicher gemacht. Der Tod des jungen Michael Brown in Ferguson, Missouri löste im Herbst 2014 eine Welle von Protesten im ganzen Land aus. Seitdem haben weitere Fälle von exzessiver Polizeigewalt gegen Afroamerikaner*innen Aufsehen erregt. Der vorliegende Band widmet sich daher der Frage, was aus Martin Luther Kings Vision von einem Amerika der Gleichheit und Selbstbestimmung für alle geworden ist? Die Beiträge kommen dabei zu einem recht einhelligen Urteil: Mit dem Historiker Manning Marable lassen sich die Rassenbeziehungen in den USA seit den 1960er Jahren als »racial paradox« beschreiben (183). Die Bürgerrechtsbewegung hat die USA zweifellos nachhaltig verändert. Dennoch sind weiterhin viele, vor allem ethnisch markierte Konflikte, Ausgrenzungen und Ungleichheiten unübersehbar. Einerseits gibt es unbestreitbare Fortschritte; andererseits setzt sich die Marginalisierung weiter Teile der afroamerikanischen Bevölkerung fort. Die rechtliche Gleichstellung hat zu einer deutlich gewachsenen schwarzen Mittelklasse beigetragen, und auch unter den gesellschaftlichen Eliten in Politik, Kultur, Bildung und Sport sind Afroamerikaner*innen zunehmend vertreten. Gleichzeitig jedoch bleiben viele Afroamerikaner*innen den destruktiven Mechanismen von Ghettoisierung und Kriminalisierung ausgesetzt. Sie sind weiterhin ausgeschlossen von Bildung und Berufsperspektiven, von anständigem Wohnraum und Gesundheitsversorgung. Und ihr Alltag ist nach wie vor geprägt von vielen subtilen und nicht so subtilen Formen der Ausgrenzung. Denn Rassentrennung und Rassismus gehören nicht der Vergangenheit an, sondern haben sich lediglich verändert. Sie sind verdeckter als die bis in die 1960er Jahre hinein gesetzlich legitimierte Rassentrennung im Süden der USA und unsichtbarer als die einst allgegenwärtigen Schilder »Whites Only« im öffentlichen Raum. Dafür

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sind sie aber umso wirkmächtiger, denn sie sind strukturell und institutionell in alle relevanten gesellschaftlichen Handlungsbereiche eingelagert – von der Politik über die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt bis zum Bildungssystem. Anders formuliert: Die Beiträge in diesem Band reflektieren die für viele erstaunliche Beständigkeit der Rassenordnung der USA, die man nach der Bürgerrechtsbewegung eigentlich bedroht, erschüttert und vielleicht sogar beendet geglaubt hatte. Die Vorfälle von Polizeibrutalität in Ferguson und anderswo haben eine breite, nicht mehr nur akademische Öffentlichkeit mit der Tatsache konfrontiert, dass eine als ungerecht und undemokratisch empfundene Ordnung bislang allen großen Bedrohungen (der amerikanischen Revolution, dem Bürgerkrieg, der Rekonstruktion, der Bürgerrechtsbewegung und der Wahl eines afroamerikanischen Präsidenten) mit einer Form von re-ordering begegnen konnte, die sie leicht verändert fortbestehen ließ. Die Artikel in diesem Band gehen auf eine Vorlesungsreihe im Rahmen des Studium Generale der Universität Tübingen im Wintersemester 2015/16 zurück. Sie werden ergänzt durch wichtige Diskussionsbeiträge englischsprachiger Kolleginnen und Kollegen, die hier zum ersten Mal in deutscher Übersetzung vorliegen. Zwei dieser Beiträge, die Texte von Jacquelyn Dowd Hall und Benjamin Hedin, bilden den Rahmen des Bandes, weil in ihren Erörterungen der Geschichte und des Erbes der Bürgerrechtsbewegung Ideen formuliert werden, die in vielen der weiteren Beiträge aufgegriffen werden. Diese übrigen Beiträge lassen sich in zwei Gruppen aufteilen, wobei die Grenzen zwischen diesen fließend sind und einige Beiträge zu beiden Gruppen gehören, weshalb auf eine formale Unterteilung verzichtet wurde. Die Artikel von Georg Schild, Manfred Berg, Christine Knauer, Benjamin Houston und Thomas W. Gijswijt argumentieren aus einer primär geschichtswissenschaftlichen oder politologischen Perspektive. Sie beleuchten verschiedene Aspekte der Rassenbeziehungen und des Rassismus in den USA von der Kolonialzeit (Schild) bis zum gegenwärtigen Präsidentschaftswahlkampf (Gijswijt). Sie leisten Synthesen (Berg) oder konzentrieren sich auf einzelne Orte (Houston) oder Themen (Knauer). Die Beiträge von Horst Tonn, Astrid Franke, Michael Butter, Katharina Motyl, Christa Buschendorf, Nicole Hirschfelder und Luvena Kopp behandeln das Thema dagegen vor allem aus kulturwissenschaftlicher Perspektive. Die Beiträge erörtern verschiedene mediale Reflexionen von Rassismus und Rassenbeziehungen (Tonn, Franke, Butter), untersuchen afroamerikanische Protestbewegungen damals und heute (Buschendorf, Hirschfelder), wobei sie einen Schwerpunkt auf die oft übersehene zentrale Rolle von Frauen legen, oder diskutieren die fatalen Folgen der anhaltenden Diskriminierung vor allem afroamerikanischer Männer der Unterschicht durch den Polizeiapparat und das Strafrechtssystem allgemein (Motyl) oder in Hinblick auf den Fall Michael Brown (Kopp). Was aber bedeutet es, sich 2016 in Deutschland mit der Bürgerrechtsbewegung und dem Rassismus in den USA zu beschäftigen? Wer sich mit einer ande-

Einleitung

ren Kultur auseinandersetzt, tut dies auf der Grundlage eines Vorverständnisses, das sich auch aus der eigenen Geschichte sowie der Geschichte des Verhältnisses der Kulturen speist. Man tut also gut daran zu reflektieren, inwieweit dies unseren Blick lenkt oder auch verstellt. Umgekehrt kann die Beschäftigung mit einer anderen Kultur auch den Blick auf das Eigene schärfen. Nirgends wird dies greif barer als bei einem scheinbar nur sprachlichen Problem, mit dem wir uns als Herausgeber beschäftigen mussten: Im amerikanischen Englisch ist das Wort race in den öffentlichen Diskussionen zu den in diesem Band besprochenen Themen allgegenwärtig; es wird zumeist in Kontexten gebraucht, in denen es um Afroamerikaner*innen, manchmal auch um die Nachfahren der Ureinwohner, die Native Americans, geht, und es wird auch von Mitgliedern dieser Gruppen gebraucht. Die deutsche Entsprechung, das Wort »Rasse«, hingegen ist ein Tabu. Man spricht oft von den negativen Auswirkungen des Konzeptes, also von Rassismus, oder man nennt Annahmen oder Verhalten rassistisch, aber insbesondere im akademischen Kontext spricht man nicht von Rasse. Der Gebrauch durch die Nationalsozialisten hat so deutlich gemacht, dass die Idee von Rasse der Rechtfertigung von Unterdrückung und Vernichtung dient, dass wir uns fast schämen, das Wort zu gebrauchen. Wir erklären zumeist, dass Rasse in Bezug auf Menschen ein scheinbar biologisches Konzept ist, welches Unterschiede wie etwa die Hautfarbe zwischen Menschen hervorhebt, um daraus weitreichende Schlüsse und letztlich auch Wertungen zu ziehen, die gar nicht mehr biologisch zu rechtfertigen sind – kurzum: Rasse gibt es nicht. Man hätte daher das Wort race unübersetzt lassen können, so wie viele andere Wörter, für die es keine rechte deutsche Entsprechung gibt (etwa lunch counter) oder die, wie etwa Freedom Riders, zu feststehenden Begriffen geworden sind. Dies erschien uns in Hinblick auf race aber irreführend und unnötig distanzierend. Auch in den USA diente die Idee von Rasse, race, der Legitimation von Unterdrückung, und diese Funktion kann das Wort nicht einfach ablegen. Ein Grund für die Allgegenwart des Wortes in den USA ist, dass viele heute damit eine soziale Tatsache meinen: Eine Unterdrückung über Jahrhunderte, die sich über kollektive Vorstellungen von Andersartigkeit rechtfertigte, hat bei den so diskriminierten Menschen Spuren hinterlassen. Über verschiedenste soziale und psychologische Mechanismen hat die Unterdrückung selber eine soziale Wirklichkeit geschaffen, die man nicht verleugnen will, indem man behauptet, es gäbe keine Gruppen mehr, die sich in ihren Handlungen und Gewohnheiten, ihren Ängsten und Hoffnungen, ihren Chancen und Bedrohungen deutlich unterschieden. Ein ganz entscheidender Faktor dabei ist die Zeit: Selbst wenn mit einem Schlag jede Form der Diskriminierung ein Ende fände und eine Gesellschaft tatsächlich colorblind wäre, die Hautfarbe also keine Rolle mehr spielen würde, so würde dies ja nicht die Geschichte der Unterdrückung verändern. Die Erfahrungen, die Menschen gemacht haben, und die Konsequenzen, die sie daraus gezogen haben, das Wissen, das sie sich unter diesen Bedingungen erarbeitet haben, und die Strategien der Gegenwehr, die sie entwickelt haben – all dies wurde von

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Generation zu Generation weitergegeben und würde daher nicht plötzlich verschwinden. Der Begriff »Rasse« nähert sich so dem Begriff der »Kultur« an, und diese Annäherung kann zweierlei Folgen haben: Zum einen kann sie, wie eben dargestellt, unser Verständnis von Unterdrückung und ihren Folgen erweitern. Zum anderen aber wird durch die Engführung sichtbar, dass auch Kultur eine wertende Kategorie sein kann, die von Rasse nie weit entfernt ist. Man muss nur an den Kolonialismus denken. Ein neueres Beispiel, das die Interferenzen der Begriffe im transatlantischen Gebrauch aufzeigen kann, ist ein Artikel auf Spiegel Online, der ein Jahr nach der Erschießung von Michael Brown auf dieses Ereignis und seine Folgen zurückblickte: Die Amerikaner sind aufmerksamer geworden, die Medien wachsamer und die Konsequenzen für die Cops unmittelbarer, auch dank verschärfter Video-Dokumentation. Doch unter dieser Oberfläche meist guter Vorsätze gärt sie ungebrochen, die Erbsünde Rassismus. Sie gärt zum Beispiel in der unerschütterlichen Selbstgerechtigkeit Wilsons [des Polizisten, der Michael Brown erschossen hat], der ausspricht, was viele denken. Sein Fall habe mit Rassismus nichts zu tun, beharrt er: Mike Brown sei ein »Böser« gewesen, er habe ihn »erschießen müssen«. Schlimmer noch: Wilson vergleicht die »bessere Kultur« der Weißen mit der »anderen Kultur« der Schwarzen – und macht Browns »schlechte Erziehung« und Familie mitverantwortlich für seinen gewaltsamen Tod. So klingt Rassismus, der sich selbst verleugnet, der tief im Unterbewusstsein verwurzelt ist. (Pitzke)

Die Diagnose des Rassismus bezieht sich auf eine Äußerung, in der nicht von Rasse die Rede ist, sondern von Kultur und einer schlechten Sozialisierung – Faktoren also, die auch bei uns einem Polizisten leicht von den Lippen gehen können. Tatsächlich ist es nicht abwegig sich vorzustellen, dass in Deutschland jemand über einen auffällig gewordenen Jugendlichen mit Migrationshintergrund sagt, er käme eben aus einer anderen Kultur und habe kein gutes Elternhaus gehabt. Würden wir auch hier scharfsichtig einen verschleierten, aber tief sitzenden Rassismus am Werke sehen, wie es der deutsche Journalist bei Darren Wilson tut? Jake Halpern, der amerikanische Journalist, der Darren Wilson interviewt hat und auf dessen Artikel im New Yorker sich der deutsche Journalist bezieht, vermutet an dieser Stelle wie auch sein deutscher Kollege eine Art Code, »a racial code language«. Wilson will den Eindruck vermeiden, als Rassist zu erscheinen, und vermeidet daher das Wort race, um die angenommene Andersartigkeit der Menschen zu bezeichnen. Beide Journalisten schließen allerdings aus der Wahl von »Kultur« als Kategorie, dass diese für Wilson im Grunde genommen »Rasse« bedeute: Wenn man Menschen nicht nach Rasse kategorisiert, sondern nach Religion oder Herkunft, wenn man sie »Fremde« nennt oder »kulturell anders« dann ist dies, so scheint es, nicht grundlegend anders gemeint. Ein Theorieangebot, das diese Beobachtungen auf abstrakterer Ebene formuliert, lautet: Die Kategorisierung von Menschen ist immer auch ein Ausdruck

Einleitung

von Machtverhältnissen. Dort, wo sie mit Wertungen einhergeht, dienen diese in der Regel der Rechtfertigung dieser Machtverhältnisse. Anders ausgedrückt: Wir diskriminieren Menschen nicht, weil sie anders sind, sondern wir nennen sie anders, weil wir sie diskriminieren. Daraus folgt dann auch, dass die Art der Kategorisierung nicht entscheidend ist, ihre Funktion liegt immer in der Legitimation der Machtverhältnisse. Dieser Gedanke hört sich simpel an, ist es aber nicht. Die Theorie von der Macht der Kategorisierung ist häufig mit dem Namen Michel Foucault verbunden, wir beziehen uns hier aber auf den deutschen Soziologen Norbert Elias. In seiner empirischen Studie Established and Outsiders: A Sociological Inquiry into Community Problems (1965) berichtet er von zwei Gruppen, die in ihren Interaktionen zahlreiche Muster zeigen, wie wir sie mit Rassismus, Antisemitismus, Kolonialismus, vielleicht mit Homophobie, aber auch Ausländerfeindlichkeit, Apartheid, mit einem Kastenwesen, oder auch der Feindseligkeit zwischen Klassen, etwa dem Kleinbürgertum und der Unterschicht, verbinden. Die beiden Gruppen der Studie allerdings unterscheiden sich weder in körperlichen Merkmalen noch in Religion, Sprache, Einkommen, Bildungsniveau, nationaler oder ethnischer Herkunft. Sie unterscheiden sich »nur« in Hinblick auf das Maß der jeweiligen Abhängigkeit voneinander und damit durch Macht. Elias schließt daraus: Es scheint, dass Begriffe wie ›rassisch‹ oder ›ethnisch,‹ die in diesem Zusammenhang sowohl in der Soziologie als auch in der breiteren Gesellschaft weithin gebraucht werden, Symptome einer ideologischen Abwehr sind. Durch ihre Verwendung lenkt man die Aufmerksamkeit auf Nebenaspekte dieser Figuration (z.B. Unterschiede der Hautfarbe) und zieht sie ab von dem zentralen Aspekt (den Machtunterschieden). (27)

Rasse, Religion, Nationalität, sexuelle Orientierung, Kultur – diese Begriffe beziehen sich demzufolge auf Merkmale, die nicht wirklich ursächlich für Diskriminierung sind, sondern nur ihrer Legitimation dienen. Damit sind sie in einer gegebenen historischen Situation nicht austauschbar, vermutlich funktionieren sie auch unterschiedlich, etwa in Hinblick auf die scheinbare Plausibilität, die sichtbare Unterschiede vermeintlich schaffen. Aber die Konstellation oder, wie Elias sagen würde, die Figuration zweier Gruppen, ist durchaus übertragbar, und das mag uns helfen zu erkennen, dass Selma oder Ferguson uns doch gelegentlich näher sind, als wir denken.

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Michael Butter, Astrid Franke, Horst Tonn

L iter aturverzeichnis Elias, Norbert und John L. Scotson. Etablierte und Außenseiter. 1965. Übers. Michael Schröter. Frankfurt: Suhrkamp, 1993. Print. Halpern, Jake. »The Cop.« The New Yorker. Condé-Nast-Verlag, 10. und 17. Aug. 2015. Web. 9. Mai 2016. Marable, Manning. Race, Reform, and Rebellion: The Second Reconstruction and Beyond in Black America, 1945-2006. 3., überarbeitete Auflage. Jackson, MS: UP of Mississippi, 2007. Print. Pitzke, Marc. »Unruhen in Ferguson: Verwundet und Vergessen«. Spiegel Online. Spiegel-Gruppe, 7. Aug. 2015. Web. 9. Mai 2016.

Die Lange Bürgerrechtsbewegung und die politische Instrumentalisierung von Geschichte Jacquelyn Dowd Hall (Übersetzung Horst Tonn)1

Die schwarze Revolution ist viel mehr als ein Kampf für die Rechte der Afroamerikaner. Sie zwingt Amerika, sich mit all seinen miteinander verbundenen Schwächen zu konfrontieren – Rassismus, Armut, Militarismus und Materialismus. Sie fördert Missstände zutage, die tief in unserer Gesellschaftsstruktur verwurzelt sind […] und sie legt nahe, dass ein radikaler gesellschaftlicher Umbau unumgänglich sein könnte. – Martin Luther King Jr. Geschichten sind wunderbar. Und sie sind gefährlich. – Thomas King

Die Bürgerrechtsbewegung existiert im Gedächtnis Amerikas in vielen Ausprägungen, die zugleich machtvoll, gefährlich und heiß umstritten sind. Die Südstaaten der USA haben eine hohe Dichte an Gedenkstätten zur Bürgerrechtsbewegung, die neben den allgegenwärtigen Denkmälern der Konföderation um Aufmerksamkeit buhlen. Es gibt viele hervorragende Forschungsarbeiten und Dokumentationen zum Thema, und die Akteure der Bürgerrechtsbewegung haben in mehreren Schüben autobiographische Berichte verfasst, mindestens 200 bis heute. Bilder der Bewegung erscheinen jedes Jahr wieder und wieder anlässlich von Martin Luther Kings Geburtstag und im Rahmen des Black History Month. Doch Erinnern ist immer auch eine Form des Vergessens, und das dominante Narrativ der Bürgerrechtsbewegung verzerrt und unterdrückt ebenso viel, wie es enthüllt, denn es begegnet uns als Destillat aus Geschichtsschreibung und persönlichen Erinnerungen, verformt durch Ideologisierungen und politische Kontroversen, und ver-

1 | © Oxford UP. Im Original: Jacquelyn Dowd Hall. »The Long Civil Rights Movement and the Political Uses of the Past«. Journal of American History 91.4 (2005): 1233-63. Print.

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Jacquelyn Dowd Hall packt in Heritage Tours, Museen, öffentliche Rituale, Lehrbücher und verschiedene Produkte der Massenkultur.2 Das dominante Narrativ der Bürgerrechtsbewegung konzentriert sich auf den Zeitraum, den Bayard Rustin 1965 als die »klassische« Phase der Bewegung bezeichnet hat (111). Es erzählt die Geschichte einer kurzen Bürgerrechtsbewegung, die mit dem Urteil Brown v. Board of Education des Obersten Gerichtshofs im Jahre 1954 beginnt, sich dann in öffentlichen Protesten fortsetzt und ihre Höhepunkte mit der Verabschiedung des Civil Rights Act von 1964 und des Voting Rights Act von 1965 findet. Von da an geht es bergab. Nach einer kurzen Phase moralischer Klarsichtigkeit wird das Land überrollt durch den Vietnamkrieg, Ghetto-Aufstände und die vielfältigen Reaktionen auf die als Exzesse interpretierten sozialen Bewegungen der späten 1960er und der 1970er Jahre, womit je nach Lesart die Studentenbewegung, die afroamerikanische Rebellion, der Feminismus, die Aufhebung der Rassentrennung in den Schulen durch busing, affirmative action oder ein Sozialstaat, der seine Bürger überversorgt, gemeint ist. Ein sogenannter white backlash bereitet den Boden für eine konservative Machtphase, die den Anfang jener Geschichte markiert, in der wir uns gerade befinden. Ob wir das begrüßen oder nicht, hängt von unseren jeweiligen ideologischen Überzeugungen ab. Martin Luther King Jr. ist die entscheidende Figur in dieser Erzählung – eingefroren im Jahr 1963, als er während des Marsches auf Washington seine legendäre »I Have a Dream«-Rede hielt. Indem sie unaufhörlich wiederholt und verkürzt zitiert werden, behalten seine Reden zwar ihre charismatische Ausstrahlung, aber sie verlieren ihren politischen Biss. Wir hören sehr wenig von dem Martin Luther King, der das Thema Rasse nicht für ein regionales, sondern für ein nationales Problem hielt und der daher auch die Rassentrennung im urbanen Norden der USA attackierte. Völlig verschwunden ist jener King, der gegen den Vietnamkrieg protestierte und der einen Zusammenhang sah zwischen Rassismus im Inneren und Militarismus und Imperialismus nach außen. Vergessen ist der demokratische Sozialist, der sich für mehr gewerkschaftliche Rechte aussprach, der die Poor People’s Campaign organisierte und der 1968 einem Attentat zum Opfer fiel, als er sich für streikende Müllarbeiter einsetzte (King, »The Rising Tide«). Das dominante Narrativ der Bürgerrechtsbewegung hat zur Folge, dass die Erinnerung an die Bewegung gleichzeitig überhöht und geschmälert wird. Es reduziert den Kampf um Bürgerrechte auf den amerikanischen Süden sowie auf geschönte Heldenfiguren, eine vermeintlich glückselige Dekade und auf begrenzte, nicht-ökonomische Ziele. Diese Version der Geschichte macht aus der klassischen Phase einen triumphalen Augenblick in einem größeren amerikanischen Fortschrittsnarrativ, doch sie untergräbt auch die gravitas der Bewegung. Sie verstellt den Blick dafür, dass eine der bemerkenswertesten Massenbewegungen in 2 | Zu Autobiographien und Geschichtsschreibung der Bürgerrechtsbewegung siehe Nasstrom, »Between Memory and History«; Lawson; Fairclough. Dagegen gibt es nur wenig zur Frage der kulturellen Erinnerung, etwa Zonderman; Nasstrom, »Down to Now«.

Die Lange Bürgerrechtsbewegung und die politische Instrumentalisierung von Geschichte

der amerikanischen Geschichte wesentlich dazu beitragen könnte, um den Herausforderungen unserer aktuellen Gegenwart zu begegnen. Das so beschriebene Narrativ der Bürgerrechtsbewegung speist sich aus vielen Quellen. In diesem Aufsatz möchte ich herausarbeiten, wie die Bewegung von der New Right verzerrt und reifiziert wurde, um die Erfolge der Bewegung rückgängig zu machen. Ich werde dann die Umrisse einer »langen Bürgerrechtsbewegung« skizzieren, weil ich diese Version für eine belastbarere, fortschrittlichere und wahrere Geschichte halte. Dieses Narrativ hat seine Wurzeln in den liberalen und radikalen politischen Milieus der späten 1930er Jahre, war eng verbunden mit dem »Aufstieg und Fall des New Deal«, beschleunigte sich während des Zweiten Weltkriegs, ging weit über den amerikanischen Süden hinaus, war stets heftig umkämpft und inspirierte in den 1960er und 1970er Jahren eine »Bewegung der Bewegungen«, die sämtliche Narrative des Zusammenbruchs infrage stellt (Fraser und Gerstle; Gosse). Diese breiter angelegte Version der Geschichte basiert auf der Dialektik zwischen der Bewegung und ihren Gegenbewegungen, einer Mauer von Widerstand, die nicht plötzlich in den häufig dafür gescholtenen 1970er Jahren entstand, sondern die parallel zur Bürgerrechtsoffensive nach dem Zweiten Weltkrieg aufkam und unter der Ägide der »Neuen Rechten« ihren Höhepunkt erreichte. Mein Interesse liegt vor allem auf den ökonomischen Aspekten der Bewegung, und ich werde die Verbindungen zwischen gender, class und race betonen. In diesem Aufsatz steht allerdings der Aspekt der Rasse im Mittelpunkt, denn, wie Lani Guinier und Gerald Torres argumentieren: »Diejenigen, die aufgrund ihrer Rasse marginalisiert werden, sind wie der Kanarienvogel für den Bergarbeiter: Ihre Not ist das erste Anzeichen einer Gefahr für uns alle«.3 Der Wunsch, die Bürgerrechtsbewegung zu verstehen und zu würdigen, verbindet die Forschung der 1950er und frühen 1960er Jahre. Die Chronisten dieser Zeit haben wesentlich dazu beigetragen, den politischen Kämpfen eine Aura von Legitimität zu verleihen, die deren juristische, politische und soziale Wirkungen pointiert zum Ausdruck bringt. Indem ich die weltbewegenden Ereignisse der klassischen Phase in eine längere Geschichte einbette, möchte ich diese Geschichtsschreibung stärken und gleichzeitig die moralische Autorität derjenigen untermauern, die in jenen Jahren für gesellschaftlichen Wandel gekämpft haben. Und gleichzeitig will ich es denjenigen schwerer machen, die die Bürgerrechtsbewegung einfach nur als natürlichen Fortschritt in der Entwicklung amerikanischer Werte oder als einen glücklichen Sieg der Moral feiern wollen. Vor allem aber soll es schwerer werden, die Bürgerrechtsbewegung zu simplifizieren, zu befrieden und für eigene Zwecke zu gebrauchen (Mattson).

3 | Soweit nicht anders angegeben, handelt es sich bei deutschsprachigen Zitaten aus englischsprachigen Quellen um Übersetzungen von Horst Tonn.

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Jacquelyn Dowd Hall

D ie politische I nstrumentalisierung der N arr ative von R asse Die Wurzeln des dominanten Narrativs liegen in der Interaktion zwischen den Strategen der Bewegung und den Reaktionen der Medien. Die Aktivisten der Bürgerrechtsbewegung formulierten ihre Forderungen im Wertehorizont von Demokratie und christlichem Universalismus. Bei unzähligen spektakulären Protestaktionen stemmten sie sich mit gewaltfreiem Widerstand gegen Gewehre, Schlagstöcke und Fäuste. Diese Auseinandersetzungen ereigneten sich in den Gerichten und in den Hallen der politischen Macht, am Arbeitsplatz und auf der Straße. Das Machtsystem des Südens, das auf Entrechtung und legalisierter Rassentrennung basierte, wurde gestürzt, indem Bundespolitiker unter Druck gesetzt und Kommunalparlamente in die Knie gezwungen wurden. Die Massenmedien machten aus diesen Protesten »one of the great news stories of the modern era« (Bond 32), allerdings auf eine sehr selektive Weise. Das Interesse der Journalisten stieg und fiel in dem Maße, in dem die Aktivisten charismatische Persönlichkeiten (meistens Männer) und telegene Auseinandersetzungen vorweisen konnten. Bevorzugt waren Anlässe, bei denen weiße Schurken Terror gegen gewaltfreie Demonstranten im Sonntagsanzug ausübten. Das verführerische neue Medium Fernsehen brachte diese Bilder in amerikanische Wohnzimmer. Seither immer wieder abgespielt scheinen diese Bilder aus dem Nichts zu kommen, ohne Vorgeschichte, ohne historische Wurzeln. Zunächst war die Berichterstattung der nationalen Presse überwiegend positiv, wenn auch irreführend. Das änderte sich allerdings abrupt Mitte der 1960er Jahre mit dem Entstehen von Black Power und den afroamerikanischen Aufständen in den Ghettos des urbanen Nordens. Der Öffentlichkeit wurde ein feindseliger Blick auf diese Entwicklungen antrainiert. Die Kameras entfernten sich vom Süden und ignorierten damit den Fortgang der Bewegung in den Südstaaten. So wurden interregionale Verbindungen und Ähnlichkeiten verwischt, und es entstand ein narrativer Bruch zwischen dem öffentlichen Bild der Bewegung und den sich fortsetzenden populären Kämpfen der späten 1960er und der 1970er Jahre. Frühe Studien der afroamerikanischen Befreiungsbewegung haben in vielen Fällen die Einschätzungen und Verlaufsnarrative der journalistischen Berichterstattung reproduziert. Neuere Darstellungen, Memoiren und Dokumentationen haben sich um alternative Deutungen bemüht. Warum also hat das dominante Narrativ seine Macht behaupten können? Die Antwort darauf liegt zum Teil darin, dass weitere Geschichtenerzähler an Einfluss gewonnen haben, nämlich die Architekten der Neuen Rechten, einer Allianz von Strippenziehern aus der Wirtschaft, Konservativen der alten Schule und Neokonservativen (desillusionierten Liberalen und Sozialisten, die im Kalten Krieg zu »Falken« wurden). Die alten Rechten, im Norden wie im Süden, hatten auf der falschen Seite der Revolution gestanden. Sie hatten sich gegen die Bürgerrechtsbewegung gestellt und ihre Führer verunglimpft im Namen von Eigentumsrechten, den Rechten der

Die Lange Bürgerrechtsbewegung und die politische Instrumentalisierung von Geschichte

Bundesstaaten, Antikommunismus und der gottgegebenen, biologischen Minderwertigkeit von Afroamerikanern. Nah am Untergang in den 1960er Jahren, konnte sich die konservative Bewegung in den 1970er Jahren neu erfinden. Zunächst wurden Neokonservative eingebunden, die sich von altmodischem Rassismus distanzierten, dann machte man sich ein Ideal von formaler Gleichheit zu eigen. Dabei wurde vorgebliches Versagen der Afroamerikaner behauptet, und man positionierte sich als die wahren Erben der Bürgerrechtsbewegung (MacLean). Wie bei allen Kämpfen um diskursive und politische Macht brauchte man auch hier die Legitimation durch die Vergangenheit und dafür stand das dominante Narrativ der Bewegung bereit. Diese neuen colorblind-Konservativen deuteten das Narrativ für ihre eigenen Zwecke. Dabei ignorierten sie die Komplexität und Dynamik der Bewegung, ihre zunehmende Fokussierung auf strukturelle Ungleichheit und ihre Ziele von radikaler Erneuerung. Stattdessen beharrten sie darauf, dass color blindness – definiert als die Abschaffung von Klassifizierungen nach Rasse und die Einführung formaler Gleichheit vor dem Gesetz – das alleinige Ziel der Bürgerrechtsbewegung war und dass King und das Urteil im Prozess Brown v. Board of Education für dieses Prinzip standen. Sie gaben zu, dass es Rassismus, verstanden als individuelle Bigotterie, gegeben hatte – in der fernen Vergangenheit und vor allem im Süden. Das war ein Eingeständnis, das die alte Rechte sicherlich überrascht hätte. Aber nachdem das legale Jim Crow-System demontiert war, seien derlei Irrationalitäten vernachlässigbar. Ohne offen diskriminierende Gesetze und mit dem Rückgang von bewussten Vorurteilen wurden amerikanische Institutionen als im Wesentlichen gerecht gesehen. Damit waren Afroamerikaner frei für den Wettbewerb in einer marktorientierten Gesellschaft und mussten demnach auch die Bürde für Erfolg oder Versagen tragen. Wenn es dann immer noch große Ungleichheiten zwischen den Gruppen gab, so wurden afroamerikanische Einstellungen, Verhaltensweisen und Familienstrukturen dafür verantwortlich gemacht. In den 1960er und 1970er Jahren wurden Reformen entwickelt, die Ungleichheiten zwischen den Rassen ausgleichen sollten: die Anpassung der Mehrheitsverhältnisse in Wahlbezirken, Subventionen für schwarze Unternehmen, Anti-Diskriminierungsgesetze und Integration der Schulen durch busing. Doch diese Maßnahmen waren keinesfalls das Werk der eigentlichen Bürgerrechtsbewegung. Im Gegenteil, sie waren ein Verrat an ihren ursprünglichen Zielen. Eine liberale Elite von Richtern, Intellektuellen und Regierungsbeamten täuschte eine ahnungslose Öffentlichkeit mit diesen Programmen, die zudem wenig Wirkung auf die materiellen Fortschritte von Afroamerikanern in den späten 1960er und den 1970er Jahren hatten. Diese wurden nicht durch Basis-Aktivismus oder staatliche Interventionen erreicht, sondern durch anonyme Marktmächte. Schlimmer noch, diese Maßnahmen wurden zum eigentlichen Übel. Sie schürten Neid unter den Weißen, unterminierten die Selbständigkeit der Afroamerikaner und begünstigten Abspaltungen, wo kulturelle Eigenständigkeit und Assimilation unsere Ziele hätten sein sollen. Am Ende waren es dann colorblind-Konservative, die auf die ursprüngliche Absicht von Bürgerrechtsgesetzen pochten, nämlich Rechtsbrüche im Einzelfall

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Jacquelyn Dowd Hall zu verhindern, anstatt institutionalisierte Ausprägungen historischer Ungerechtigkeiten gegen Afroamerikaner als Gruppe zu beseitigen, wie es viele Bürgerrechtler und Rechtsexperten gefordert hatten (Crenshaw). Dieses Narrativ wurde in den kapitalkräftigen Denkfabriken der Rechten produziert und einer breiten Öffentlichkeit gegenüber kommuniziert. Und es erfuhr breite Akzeptanz, zum einen weil es den Interessen der weißen Mittelklasse entsprach und nationale Eitelkeiten bediente, zum anderen weil es die weithin hoch gehaltenen Ideale von individueller Anstrengung und Leistung bestärkte. Das amerikanische Credo von Individualismus und freiem Markt, gepaart mit den ideologischen Siegen der Bürgerrechtsbewegung (die dafür sorgte, dass die weiße Vorherrschaft ihr Gesicht verstecken musste), stellte die Rhetorik der Farbenblindheit in den Mittelpunkt des »Kriegs der Ideen«, der in den 1970er Jahren von der Neuen Rechten initiiert wurde. Diese Rhetorik grub sich ab 1980 tief ein in die Politik der Reagan-Administration und mehr noch nach der republikanischen Übernahme des Kongresses im Jahre 1984. Und nachdem auch moderate Liberale auf Abstand zu Anti-Diskriminierungspolitik gegangen sind, ist diese Position hoffähig geworden. Sie prägt heute das Denken von vielen moderaten Amerikanern. Es ist unbestreitbar, dass unsere Versionen der Bürgerrechtsbewegung wichtig sind. Sie prägen unser Weltbild. Fakten müssen interpretiert werden. Diese Interpretationen werden durch mächtige Geschichtenerzähler verbreitet und bei öffentlichen Anlässen inszeniert. Sie sind wirkungskräftig in Gesetzen, Politik und Gerichtsurteilen und tief verankert in Institutionen, vor allem aber sind sie primäre Quellen für menschliches Handeln. Diejenigen, die Einfluss nehmen wollen auf öffentliche Meinung und Politik, müssen sich nicht nur fragen, welche Geschichten sie als »wahr« präsentieren, infrage stellen oder akzeptieren wollen, sondern auch wie sie diese Geschichten durch Forschung und Erfahrung möglichst einflussreich werden lassen können. Die Antworten auf diese Fragen sind alles entscheidend in einer Welt der symbolischen Politik (Pride). Und deshalb komme ich jetzt zu meiner Version der Geschichte – der Geschichte der Langen Bürgerrechtsbewegung und ihrer Widersacher. Dabei werde ich die Arbeiten eines breiten Spektrums von Historikern einbeziehen und Geschichten miteinander verbinden, die normalerweise getrennt erzählt werden. Mein Ziel ist es, weithin akzeptierte Versionen des afroamerikanischen Freiheitskampfes in mindestens sechsfacher Hinsicht zu verändern. Darüber hinaus bietet dieser Ansatz auch Erklärungen dafür, wie wir uns die Dilemmata des 21. Jahrhunderts eingehandelt haben. Erstens unterminiert dieses neue, länger und breiter angelegte Narrativ die Vorstellung des amerikanischen Südens als dem andersartigen Gegenüber der Nation, ein Bild, das den Rassismus zu einem geographischen Spezifikum macht und zweierlei verdeckt: zum einen die ökonomischen Dimensionen der weißen Vorherrschaft im Süden und zum anderen die institutionalisierten Muster von Ausbeutung, Segregation und Diskriminierung in anderen Teilen des Landes – Muster, die die Bürgerrechtsbewegung überlebt

Die Lange Bürgerrechtsbewegung und die politische Instrumentalisierung von Geschichte

haben und die jetzt auch die Rassenbeziehungen im Süden bestimmen. Zweitens betont dieses Narrativ den gordischen Knoten, der Rasse, Klassenzugehörigkeit und Bürgerrechte mit Arbeiterrechten verbindet. Drittens erklärt es, wie zentral der politische Aktivismus von Frauen und Geschlechterbeziehungen sowohl für die Freiheitsbewegung als auch für die Gegenbewegungen waren. Viertens werden die Bürgerrechtskämpfe im Norden, im Mittleren Westen und im Westen sichtbar gemacht, die mit der Hinwendung zum afroamerikanischen Nationalismus Mitte der 1960er Jahre in ein neues Stadium eintraten, die aber bereits mindestens ein Vierteljahrhundert vorher begonnen hatten. Fünftens lenkt dieses Narrativ die Aufmerksamkeit auf die Bemühungen, die durch die Bürgerrechtsbewegung erreichten Reformen in den 1970er Jahren, also nach dem angeblichen Niedergang der nationalen Bewegung, fruchtbar werden zu lassen. Und schließlich beschreibe ich die Vormachtstellung der Regierungen Reagan und Bush nicht einfach als eine Gegenbewegung zu dem movement of movements der späten 1960er und 1970er Jahre, sondern als eine Entwicklung mit tiefen historischen Wurzeln.

D er l ange G egenschl ag Es sind zwei wichtige demographische Entwicklungen, die nicht nur der langen Bürgerrechtsbewegung zum Aufstieg verholfen haben, sondern auch den Interessen und Ideologien der Gegenbewegung zugutekamen. Das war einmal die Massenwanderung von Afroamerikanern in die urbanen Zentren des Südens, Nordens und Westens, ausgelöst durch den Zusammenbruch des Pachtbauernsystems im Süden, und zum anderen die Entstehung der weißen Vorstädte. Diese enorme Verlagerung von Menschen und Ressourcen beschleunigte sich während des Zweiten Weltkriegs und veränderte die ethnische Geographie des Landes grundlegend. Diese Entwicklungen reagierten aufeinander und waren folgenreich, wenn auch oft unsichtbar, miteinander verwoben. Die Wirkmacht von Geschlecht, sozialer und regionaler Herkunft und Rasse hatte Einfluss auf diese Wanderbewegungen. Da schwarze Männer wegen Diskriminierungspraktiken im Norden nur die schlechtesten Jobs in den Fabriken bekamen, mussten Frauen Doppelbelastungen auf sich nehmen. In aller Regel hatten sie nur Zugang zu häuslichen Tätigkeiten, wo sie Lohnarbeit nicht nur mit Hausarbeit, sondern auch mit der Pflege von Familien- und Nachbarschaftsbeziehungen verbanden. Das waren Aufgaben, die tief in den Traditionen des Alltagshandelns im Süden verankert waren. So wurde nachbarschaftlicher Zusammenhalt hergestellt und damit ein alternatives Sicherheitsnetz zur Sozialhilfe geschaffen, von der sie wegen diskriminierender Praktiken ausgeschlossen waren. Diese Netzwerke erstreckten sich über Städte und ländliche Regionen und trugen so dazu bei, dass man sich bei Konflikten gegenseitig unterstützen konnte.

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Jacquelyn Dowd Hall Auf dem Land mussten Afroamerikaner gegen die Praktiken der weißen Plantagenbesitzer-Elite kämpfen, die sie ausbeutete und in die Landflucht trieb. In den Städten versuchte man zu verhindern, dass sich auch dort die Verhältnisse und Mentalitäten des Deep South durchsetzten. Und in der Tat, die Wirkmacht der Plantagenmetapher auf Schwarze im ganzen Land lässt darauf schließen, wie beharrlich die Erinnerung an den ländlichen Süden war. In einer Hinsicht ist diese Metapher allerdings irreführend. Die afroamerikanischen Migranten, die den Weg ins »gelobte Land« gefunden hatten, trafen nicht etwa auf den ländlichen Süden in Kalifornien, sondern auf lokale Formen von Diskriminierung und faktischer Rassentrennung, die nicht auf Tradition gründeten, sondern auf einer Verbindung von individuellen Entscheidungen und politischen Maßnahmen. Einiges davon war offen rassistisch, anderes dagegen an der Oberfläche »neutral«. Das Ergebnis, meistens auch die erklärte Absicht, war, dass Afroamerikaner ausgeschlossen blieben vom Zugang zu anständigen Jobs, Schulen und Wohnmöglichkeiten, aber auch von den kommerziellen Freizeitangeboten, die für Weiße auf dem Weg zur Mittelklasse zunehmend als Maßstab ihres Erfolgs galten. Paradoxerweise trugen die Maßnahmen des New Deal zur Errichtung von Rassebarrieren bei. Einhergehend mit der erfolgreichen Lohnpolitik der mächtiger gewordenen Gewerkschaften des CIO (Congress of Industrial Organizations) bedeutete die Stärkung des Wohlfahrtsstaates auch mehr soziale Sicherheit für die Arbeiterklasse, schwarz und weiß gleichermaßen. Allerdings war die Vorstellungswelt der New Deal-Politiker im Hinblick auf Geschlecht und Rasse vorgeformt, und so lagerten sie dementsprechend Ungleichheiten in die Grundfesten des modernen Staats ein (Kessler-Harris). Diese Ungleichheiten wurden zusätzlich verstärkt durch Zugeständnisse an republikanische Kongressabgeordnete und Südstaatendemokraten, deren Macht und Einfluss auf dem Ein-Parteien-System des Südens und dem eingeschränkten Zugang zum Wahlrecht beruhten. Die systemische Ungleichheit zeigte sich unter anderem in einem zweigleisigen Sozialfürsorgesystem, das auf dem Ideal eines Familieneinkommens basierte, nach dem ein Alleinverdiener für Kinder und eine abhängige, nicht erwerbstätige Ehefrau sorgte. Und so waren die meisten Afroamerikaner von vornherein ausgeschlossen. Als beispielsweise im Jahr 1935 die Arbeitslosenversicherung eingeführt wurde, blieben Landarbeiter und Hausangestellte außen vor. Nach Auffassung des Gesetzgebers waren sie keine selbständigen, vollbeschäftigten Alleinverdiener – das Modell, auf das die Niedriglohnwirtschaft des Südens gegründet war. Die Folge war, dass 55 Prozent aller afroamerikanischen Arbeiter und 87 Prozent aller erwerbstätigen afroamerikanischen Frauen an einer der wichtigsten Sozialleistungen des New Deal nicht partizipierten. Stattdessen waren Afroamerikaner abhängig von kargen, nach Bedürftigkeit bemessenen Programmen, die als »Wohlfahrt« bezeichnet wurden und die ihre Empfänger zudem auch noch stigmatisierten (Lichtenstein). Das rasante Bevölkerungswachstum in den Städten konfrontierte Afroamerikaner mit einer weiteren Einschränkung in den Programmen des New Deal.

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Vor allem weiße Männer profitierten von der G.I. Bill of Rights, einem gigantischen Sozialprogramm, das der Kongress am Ende des Zweiten Weltkriegs für Kriegsveteranen aufgelegt hatte. In Verbindung mit einem ebenso ambitionierten Wohnraumprogramm machte es die G.I. Bill of Rights möglich, dass Arbeiter aus Einwandererfamilien und der weißen Mittelklasse die Städte verlassen und sich in den unaufhörlich wachsenden Vororten ansiedeln konnten. Ihre ehemaligen schwarzen Nachbarn blieben in den Städten zurück. Die weiße Angst vor schwarzer Zuwanderung hatte ihre Ursache in jahrhundertelanger Rassendiskriminierung und wurde durch die Aufspaltungen in ein zweigleisiges Sozialhilfesystem zusätzlich verstärkt. Es waren aber nicht nur individuelle Einstellungen, die zur sogenannten white flight führten, sondern auch eine Palette von Profitinteressen und staatlichen Maßnahmen. Zuständige Ämter für Flächenplanung und Stadtentwicklung setzten black und blight gleich, was zur Folge hatte, dass weiße Kaufinteressenten abgeschreckt wurden und daher Investitionen in schwarzen Stadtbezirken ausblieben. Aggressive Immobilienmakler drängten Weiße dazu, billig zu verkaufen und Schwarze dazu, überteuert zu kaufen. Banken zogen sich aus ganzen Stadtteilen zurück. Afroamerikanern und Kaufinteressierten verweigerten sie Kredite in sogenannten gemischten Vierteln. Entscheidend aber war, dass die Federal Housing Administration eine Kreditvergabepolitik praktizierte, die rassische Homogenität nicht nur begünstigte, sondern quasi einforderte. Fabriken und Unternehmen zogen ebenfalls in die Vororte, begünstigt durch Steuererleichterungen und staatlich geförderten Autobahnbau und getragen von dem Wunsch, dem Einfluss der erstarkten Gewerkschaften zu entkommen. Zwangsläufig verloren die Städte einen beträchtlichen Teil ihrer Steuereinnahmen mit allen vorhersehbaren Folgen für die Infrastruktur und die öffentlichen Dienstleistungen. Das Wachstum von segregierten Vororten verschärfte den Trend zu nahezu vollständiger Segregation in städtischen Schulen. Die schwarze Bevölkerung in den Städten fand sich in Schulen wieder, die genauso segregiert und ungerecht waren wie diejenigen, die sie im Süden verlassen hatten. Die Ursachen dafür waren das Prinzip der Finanzierung des Bildungswesens durch lokale Steuern, die wütend behauptete Aufrechterhaltung der Schuldistriktgrenzen zwischen Städten und Vororten und rassisch motivierte Standortentscheidungen beim Bau von neuen Schulen. Die eskalierenden Prozesse von Binnenwanderung, Diskriminierung am Arbeitsmarkt, Suburbanisierung und die rassisch geprägten Reformen des New Deal hatten vor allem drei Konsequenzen. Erstens wurden während der 1940er Jahre ethnische Gruppen zunehmend räumlich getrennt, was zur Folge hatte, dass für Weiße ihre auf Rasse und Klassenzugehörigkeit basierenden Privilegien gar nicht mehr als solche sichtbar waren, sondern als die ehrlich erworbenen Früchte ihrer eigenen Arbeit wahrgenommen wurden. Zweitens entwickelte die suburban frontier eine Politik, die die Interessen von Hausbesitzern begünstigte. Niedrige Steuern, Eigentumsrecht, lokale Autonomie und ein nachlassendes soziales Verantwortungsgefühl verbanden sich zu einem Identitätsknäuel, das

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Jacquelyn Dowd Hall zunehmend schwerer zu entwirren war. Und schließlich sahen sich Afroamerikaner, bereits belastet durch die sozialen und wirtschaftlichen Entbehrungen von Sklaverei und Rassentrennung, erneut benachteiligt durch Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt und politische Praktiken, die ihnen wie Hilfsprogramme für Weiße vorkommen mussten. In einer Gesellschaft, in der das Eigenheim für die meisten Familien der wichtigste Besitz ist, stellen der selektive Zugang zu Krediten und Immobilien und die Wertbeurteilung von Gegenden nach rassischen Kriterien eine enorme Ungleichbehandlung dar. Diese Ungerechtigkeiten setzen sich bis zum heutigen Tag fort. Sie werden von Generation zu Generation weitergegeben. Während andere ethnische Minderheiten von der Expansion der Mittelklasse nach dem Zweiten Weltkrieg profitieren konnten, blieben die meisten Afroamerikaner von diesem Prozess der Weitergabe von Besitz und sozialem Kapital ausgeschlossen. Das Ergebnis ist eine Fortsetzung von rassischer Ungleichheit, die immer noch auf eine ernsthafte Antwort wartet (Oliver und Shapiro).

D ie S tr ategien des S üdens Es gibt inzwischen eine Vielzahl von Studien zur Suburbanisierung nach dem Zweiten Weltkrieg und zur Ausweitung der Segregation im Norden und Westen der USA. Allzu oft allerdings wird der bereits segregierte, ländlich-hinterwäldlerische Süden in dieser Geschichte nur als eine Fußnote oder als Ausnahme von der Regel behandelt. Tatsächlich könnte der moderne Süden aber auch als Paradigma gesehen werden, denn seine urbanen Zentren entstanden während der Reformen des New Deal, der Ausbreitung des Automobils und des rapiden Wachstums der Vorstädte (D. Goldfield). Schaut man einmal zurück aus der Perspektive des dominanten Narrativs, dann ist unschwer erkennbar, dass der Süden durch ein merkwürdiges System der legalisierten Segregation definiert ist. Räumliche Trennung aber war nie das vorrangige Ziel des weißen Südens. Schwarze und weiße Südstaatler waren verbunden durch permanente, differenzierte Interaktion und kulturellen Austausch, moderiert durch persönliche Beziehungen, wirtschaftliche Interessen und die Dynamiken von Rasse und Geschlecht. Macht und Bosheit bestimmten die Verhältnisse innerhalb dieser Rassenhierarchie. Vielleicht sollten wir aber die Epoche der Segregation eher als racial capitalism bezeichnen, denn sie war bestimmt durch die Allgegenwart von Kontakten zwischen Schwarz und Weiß und durch die Verfügbarkeit von Schwarzen als billige Arbeitskräfte.4 Segregation war ja nur ein Mittel der Aufrechterhaltung weißer Vorherrschaft und brachte damit nicht nur weiße Dominanz, sondern auch wirtschaftliche Praktiken mit sich. Zu die4 | Ich benutze den Begriff racial capitalism, um zu betonen, dass das Jim Crow-System sowohl durch entfesselten Kapitalismus als auch durch Rassismus hervorgebracht wurde und es dabei Ähnlichkeiten zwischen Norden und Süden gibt. (Hall, »Mobilizing Memory«)

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sen Praktiken gehörten niedrige Steuern, minimale Investitionen in Humankapital, die Trennung und politische Lähmung von armen Schwarzen und Weißen, die Ausbeutung von schwarzen und weißen Arbeitern, die schlecht ausgebildet waren und keinen gewerkschaftlichen Schutz genossen, und die patriarchale Kontrolle von Familien und lokalen Institutionen. Durchgesetzt wurde dies von einer industriellen und landwirtschaftlichen Oligarchie, die nur auf Selbstbereicherung aus war. Diese Strategie schuf ein besonders brutales und offen rassistisches Gesellschaftssystem, insbesondere im Deep South. Ihre Grundsätze fügten sich allerdings nahtlos ein in eine Ethik des laissez faire-Kapitalismus, der tief in der amerikanischen Gesellschaft verwurzelt war. Diese Grundsätze waren Unterdrückung aufgrund von Rasse und Klassenzugehörigkeit, minimaler staatlicher Einfluss, ein Arbeitsmarkt frei von Gewerkschaften und eine ethnisch getrennte Arbeiterschaft. Es gab allerdings auch erhebliche regionale Unterschiede. Wichtiger scheint mir allerdings, dass man die größeren und letztlich robusteren Muster von Privilegierung und Ausbeutung leichter erkennt, wenn man über die Bewegungen hinausschaut, die das spezifisch staatlich sanktionierte System der Segregation im Süden umstürzten. Und das waren in ihrer Entstehung und in ihren Folgen keine südstaatlichen, sondern amerikanische Muster. Diese verbreiteten Muster erklären, dass der wirtschaftliche Aufschwung des Südens nach dem Zweiten Weltkrieg zwar regionale Unterschiede verringerte, ohne dabei aber die Kluft zwischen Schwarz und Weiß zu schließen. Ernsthafter Wandel begann in den 1940er Jahren und nahm in den 1950er und 1960er Jahren Fahrt auf. Demokraten aus den Südstaaten opponierten nicht frontal gegen die Reformen des New Deal, wie oft behauptet wird, sondern sie gingen punktuell vor. Sie nutzten ihre Macht im Kongress, um einen überproportionalen Anteil des Verteidigungshaushalts einzuwerben und gleichzeitig verlangten sie, dass Programme des Bundes für Wohnraum, Krankenhausbau, Bildung etc. lokal und regional kontrolliert wurden. Auf diese Weise stiegen die Löhne und die öffentlichen Haushalte in der Region um das Dreifache, gleichzeitig wurden so aber auch nationale Antidiskriminierungsmaßnahmen unterlaufen. Die Unternehmer im Süden, wie auch anderswo, reagierten auf steigende Löhne und einflussreicher gewordene Gewerkschaften mit Mechanisierung. Dadurch wurden Arbeitsplätze, die meist von Schwarzen besetzt waren, eingespart, während Weiße die neuen, höher qualifizierten Stellen für sich beanspruchten. Schwarze hatten hier keine Chance, weil sie keinen Zugang zu gleichen Bildungseinrichtungen hatten und weil diskriminierende Praktiken ihnen Weiterqualifizierung am Arbeitsplatz verwehrte. So kam es, dass der Süden wirtschaftlich florierte und sich gleichzeitig die Kluft zwischen Schwarz und Weiß vergrößerte (Wright). Hinzu kam, dass ein Großteil der neuen Techniker und Führungskräfte aus dem urbanen Norden rekrutiert wurde. Vor dem Zweiten Weltkrieg war es das vorrangige Ziel der meisten Südstaatenpolitiker gewesen, die Isolation des Südens und damit auch den Zugriff auf eine Arbeiterschaft zu sichern, auf die das

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Jacquelyn Dowd Hall Pachtbauernsystem angewiesen war. Nach dem Zweiten Weltkrieg predigten diese Politiker zwar Lokalpatriotismus, aber gleichzeitig begann der »Ausverkauf des Südens«. Industrien aus dem Norden siedelten sich an und brachten einen Zustrom von im Norden geborenen, der Republikanischen Partei nahestehenden Managern, Führungskräften und Ingenieuren. Attraktiv am Süden waren niedrige Unternehmenssteuern und niedrige Sozialfürsorge, außerdem föderal finanzierte Straßenbauprogramme und eine Politik des Wegschauens bei Umweltthemen. Die Neuankömmlinge siedelten sich mit ihren lokalen Pendants in Enklaven an, die ethnisch und ökonomisch separiert waren, getragen von der gleichen, angeblich rasseneutralen Politik, die auch die Grundlage für die räumliche Trennung der Rassen im Norden war. Und die wuchernde Suburbanisierung brachte Haltungen und Vorteilsdenken hervor, die die Südstaatenversion der Hausbesitzerpolitik bestärkten. Gleichzeitig war dies auch der Kern des langen Gegenschlags überall in den USA. Richard M. Nixon wollte mit seiner southern strategy genau diese Wähler erreichen: die Mittelklasse in den Vorstädten, einschließlich zugezogener Facharbeiter und junger Familien, die nach dem Gerichtsurteil Brown v. Board of Education erwachsen geworden waren und die sich von der offen rassistischen Rhetorik des massiven Widerstands distanzierten. Um diese Gruppe zu erreichen, attackierte Nixon Sozialleistungen für Bedürftige, die Integration der Schulen und affirmative action. Seine Strategie richtete sich auch an weiße Arbeiter im urbanen Norden und trug dazu bei, dass der Süden zu einer Hochburg der Republikanischen Partei wurde. Innerhalb eines Vierteljahrhunderts trennte sich die Partei von ihrem moderaten Flügel und demontierte die Reformen des New Deal.

D ie L ange B ürgerrechtsbe wegung Es hätte allerdings nicht so kommen müssen. Viele Jahre geschickter und aggressiver Auf bauarbeit waren erforderlich, um unser heutiges konservatives Regime an die Macht zu bringen. Diese Anstrengung war nötig, weil eine andere Kraft aus den Verwerfungen der Großen Depression erwachsen war, die in den 1940er Jahren ihren Höhepunkt erreicht hatte: Aus Allianzen zwischen Gewerkschaftern, Bürgerrechtsaktivisten, fortschrittlichen Vertretern des New Deal sowie weißen und schwarzen Radikalen, von denen einige aus der Kommunistischen Partei kamen, entstand eine einflussreiche soziale Bewegung. Robert Korstad bezeichnet dies als »civil rights unionism« und Martha Biondi spricht von einer »Black Popular Front« (6). Beide Begriffe betonen die Koalitionsbereitschaft dieser Bewegung, ihre integrative sozialdemokratische Ausrichtung und die Kooperationsfähigkeit von Führern aus der Arbeiterbewegung und afroamerikanischen Gruppierungen. Diese nationale Bewegung mit einem starken Flügel im Süden war nicht nur ein Vorläufer der modernen Bürgerrechtsbewegung, sondern ihre entscheidende erste Phase.

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Die Verbindung von Rasse und sozialer Klasse war das Schlüsselkonzept im Politikverständnis dieser Bewegung. Historiker haben die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg als den Moment beschrieben, in dem Klassenherkunft durch Rasse als bestimmende Größe fortschrittlicher Politik abgelöst wurde. Aber in dieser Koalition von Bürgerrechtlern und Gewerkschaftern stach kein Konzept das andere aus; beide waren aufeinander angewiesen. Die Grundprämisse war, dass seit der Gründung der USA Rassismus immer mit ökonomischer Ausbeutung verflochten gewesen war. Deshalb versuchte man Schutz vor Diskriminierung mit allgemeiner Sozialgesetzgebung und Individualrechte mit Arbeiterrechten zu verbinden. Demokratie am Arbeitsplatz, Tariflöhne und arbeitsrechtliche Maßnahmen gingen Hand in Hand mit Forderungen nach verfügbarem und bezahlbarem Wohnraum, Wahlrecht, gleichen Bildungschancen und einem erweiterten sozialen Netz einschließlich der Gesundheitsfürsorge für alle. Die Umsetzung dieser Vision hing von zwei Fragen ab. Erstens, kann diese Koalition aus Afroamerikanern, Gewerkschaftlern und Linken die Sozialgesetze des New Deal auf Afroamerikaner ausweiten? Können also Afroamerikaner einbezogen werden in einen Status sozialer und ökonomischer Partizipation, wie ihn der New Deal für eine wachsende, aus öffentlichen Mitteln alimentierte Mittelklasse und eine Elite der männlichen Arbeiterschicht ermöglicht hatte? Zweitens, kann diese Koalition vom New Deal und der damit verbundenen gestiegenen Akzeptanz fortschrittlicher Ideen und Politikmodelle im amerikanischen Süden soweit profitieren, dass der Bann der Südstaatenoligarchie in der Region gebrochen werden kann? Die Ausweitung des New Deal und die Reformierung des Südens waren zwei Seiten einer Medaille, denn 70 Prozent aller Afroamerikaner lebten noch in den Südstaaten und konservative Südstaatendemokraten hatten überproportionalen Einfluss im Kongress. Um deren Macht zu brechen, musste die Bewegung schwarze und weiße Arbeiter im Süden zu Wählern machen und sie gewerkschaftlich organisieren. Erst so entstand eine Wählerschaft, auf die Politiker bauen konnten, die für Bürgerrechte und gewerkschaftliche Positionen eintraten. Wäre dieses Projekt gescheitert und hätte damit der konservative Flügel der Demokraten im Süden die Oberhand behalten, dann wäre der Süden zu einem El Dorado für antigewerkschaftliche Industrien und zum Machtzentrum für eine nationale konservative Bewegung geworden, die die Bastionen gewerkschaftlicher Macht im Norden unterminiert und damit den New Deal rückgängig gemacht hätte (Sullivan; M. Goldfield). Während der 1940er Jahre hatte eine halbe Million Gewerkschafter im Norden und Süden für diese Ziele gekämpft: die Kampagne Double V für den doppelten Sieg gegen Faschismus im Ausland und Rassismus im eigenen Land; die pro-gewerkschaftliche Politik der Roosevelt-Regierung; der wirtschaftliche Aufschwung, der den größten Anstieg bei den Löhnen für schwarze Arbeiter seit dem Ende der Sklaverei ermöglichte; die Militanz der Gewerkschaften unter der Führung von Schwarzen und Linken; die Rückkehr afroamerikanischer Kriegs-

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Jacquelyn Dowd Hall veteranen – all dies zusammen genommen »generated a rights consciousness that gave working-class black militancy a moral justification in some ways as powerful as that evoked by [Afro-Christianity] a generation later« (Korstad und Lichtenstein 787). Internationale Ereignisse bestärkten diese Forderungen. Afroamerikaner und ihre Verbündeten gehörten zu den ersten, die das Ausmaß der Judenverfolgungen durch die Nazis begriffen und die die Parallelen zwischen Rassismus und Antisemitismus deutlich machten. So konnten sie die Abscheu gegen den Holocaust für den Kampf gegen den Rassismus nutzen und weltweite Proteste gegen das Jim Crow-System mobilisieren. Die anti-kolonialistischen Befreiungskämpfe in Afrika und Asien nach dem Zweiten Weltkrieg bestärkten afroamerikanische Emanzipationsanstrengungen und verdeutlichten den Zusammenhang zwischen der Verweigerung von Bürgerrechten in den USA, diskriminierenden Einwanderungs- und Einbürgerungsgesetzen und der Ausbeutung kolonialisierter Völker weltweit (Singh). Gleichzeitig beförderte die Kultur der Popular Front feministische Initiativen in der Arbeiterbewegung. So entwickelte sich ein gewerkschaftlich orientierter Strang der Frauenbewegung, in dem schwarze Frauen eine zentrale Rolle spielten. Frauen schlossen sich der Arbeiterbewegung in den 1940er Jahren in ungekanntem Ausmaß an und gegen Ende der Dekade nahmen sie Führungspositionen ein. Feministische Gewerkschaftlerinnen kämpften für gleiche Berufschancen, Gleichbehandlung am Arbeitsplatz und den Ausbau von Fördermaßnahmen in Gewerkschaften und Betrieben. Sie setzten sich für eine gendergerechte Definition von Familieneinkommen ein, denn auch Frauen waren erwerbstätig. Sie wollten außerdem das »maskuline Muster« von Arbeit überwinden, indem sie zunächst notorisch ärgerliche Unterscheidungen zwischen männlichen und weiblichen Arbeitern ablehnten und dann Forderungen nach staatlich geförderter Kinderbetreuung stellten, um der Doppelbelastung von Frauen Rechnung zu tragen. Parallel dazu initiierten kommunistische Frauen eine Emanzipationskampagne. Das Konzept der dreifachen Unterdrückung durch Rasse, Klasse und Geschlecht für schwarze Frauen war zentral für diese Strömung des linken und fortschrittlichen Feminismus. In der Kommunistischen Partei war es Claudia Jones, die diese Position an führender Stelle vertrat, die dann der Congress of American Women weiter forcierte. Beflügelt durch diese breite Bewegung erreichte die politische Mobilisierung von Afroamerikanern ungeahnte Höhen und viele Hürden zur politischen und ökonomischen Gleichstellung fielen. Hinzu kam, dass sich afroamerikanische Politiker immer mehr vom Prinzip des parallelism, d.h. der Einrichtung von schwarzen Institutionen und Dienstleistungen nach dem Grundsatz separate but equal, abwandten. Dank des Wagner Act und der Einrichtung des National Labor Relations Board konnte die Arbeiterschaft die Macht der Konzerne eindämmen und den Traum von Demokratie am Arbeitsplatz, der amerikanische Reformbewegungen seit der Jahrhundertwende inspiriert hatte, voranbringen. 1941 richtete

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Präsident Franklin D. Roosevelt ein Fair Employment Practices Committee (FEPC) ein und machte damit Rassendiskriminierung erstmals seit dem Ende des Bürgerkrieges zu einem nationalen Anliegen. Entscheidend dafür war der Druck von unten, vor allem angeführt durch A. Philip Randolph und die Brotherhood of Sleeping Car Porters. 1944 erklärte der Oberste Gerichtshof white primaries für verfassungswidrig und beendete damit ein halbes Jahrhundert des Stillschweigens über politische Ausschlussmechanismen. Das Urteil Smith v. Allwright war ebenso wichtig wie das später gefeierte Urteil im Fall Brown v. Board of Education und führte zu einer massiven Kampagne für die Registrierung von Wählern im gesamten amerikanischen Süden. Weitere Siege waren zu verzeichnen bei der Abschaffung der Rassentrennung im Militär, der Ächtung von Diskriminierung bei Immobilienkäufen, im zwischenstaatlichen Handel, an Universitäten und bei der Durchsetzung von gleichen Gehältern für schwarze und weiße Lehrer in einigen Südstaaten.

D ie E iszeit des K alten K rieges Mit diesen Erfolgen nahm die Bürgerrechtsbewegung Fahrt auf, traf aber auch auf erbitterten Widerstand. Der lange Gegenschlag beschleunigte sich ebenfalls. In den späten 1940er Jahren verbanden sich Unternehmerinteressen im Norden mit den Zielen konservativer Südstaatendemokraten zu einer Kampagne, die die während des Krieges erreichten Fortschritte der Arbeiterbewegung rückgängig machen, den Süden als Reservoir für billige Arbeitskräfte bewahren und schließlich auch die Ausweitung der New Deal-Programme aufhalten wollte. Die Waffe ihrer Wahl für dieses Unterfangen war ein auf die breite Öffentlichkeit abzielender, aber von Eliten manipulierter Kreuzzug gegen den Kommunismus. Dadurch wurde die politische und kulturelle Landschaft grundlegend verändert. Hauptangriffsziel war die Arbeitsgesetzgebung des New Deal. Das FEPC hatte die Konservativen ebenso erregt wie spätere Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsmaßnahmen der 1960er und 1970er Jahre. Kündigungsschutz war ihnen ein Gräuel und faire Einstellungsverfahren wurden als Quotenregelung diskreditiert. Nach Kriegsende verhinderten unternehmerfreundliche Konservative die dauerhafte Einrichtung des FEPC und machten damit die Hauptforderung einer Gesetzesinitiative von Schwarzen, Gewerkschaftern und Linken zunichte. Zum Teil benutzten sie dabei die einflussreiche Rhetorik des Kalten Krieges. Senator Strom Thurmond aus South Carolina kritisierte das FEPC als Missachtung des amerikanischen Prinzips von lokaler Autonomie durch einen zentralistischen Polizeistaat, der ihn an die Sowjetunion erinnere. Den Konservativen gelang es auch, den Taft-Hartley Act durch den Kongress zu bringen, indem sie die kommunistischen Teile der Arbeiterbewegung dämonisierten. Die Folgen von TaftHartley waren gravierend. Der CIO musste seine linken Mitgliedsgewerkschaften ausschließen und seinen Kampf um Sozialfürsorgeprogramme für die gesamte

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Jacquelyn Dowd Hall Arbeiterklasse zurückfahren. Außerdem musste er ein zunehmend bürokratisiertes Verfahren für Tarifverhandlungen akzeptieren, das lediglich höhere Löhne und Sozialleistungen für die eigenen Mitglieder, meist weiße, männliche Arbeiter in der Schwerindustrie, vorsah. Trotz dieses angeblichen Einklangs zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern blieben die amerikanischen Großunternehmen weiterhin feindselig gegenüber Gewerkschaften und staatlichen Lenkungsmaßnahmen. Die Folge davon war, dass selbst Arbeiter, die von dem restriktiven Tarifverhandlungsmodell nach Taft-Hartley profitiert hatten, in den 1970er und 1980er Jahren erneut zur Zielscheibe antigewerkschaftlicher Initiativen wurden. Einhergehend mit wirtschaftlicher Stagnation, Deindustrialisierung und Automatisierung wurde so die Gewerkschaftsbewegung auf lange Sicht geschwächt (Frederickson). Auch wenn der Antikommunismus die Arbeiterbewegung politisch nach rechts drängte und die Organisationsbasis der Bürgerrechtsgewerkschaften schwächte, gab er den Bürgerrechtlern doch auch eine mächtige Waffe an die Hand, nämlich das Argument, dass die Glaubwürdigkeit der USA im Ausland unterminiert würde durch die Art und Weise, wie sie Afroamerikaner im eigenen Land behandelten. Eines der Hauptziele des Außenministeriums war zu dieser Zeit, einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen amerikanischer Demokratie und sowjetischem Terrorregime zu konstruieren. Außerdem wollte man sich die Gefolgschaft der gerade unabhängig gewordenen Nationen in Afrika und Asien sichern und den eigenen Führungsanspruch für die »freie Welt« festigen. Der Wettkampf mit der Sowjetunion war für die Regierungsverantwortlichen ein wichtiger Grund, auf die Unzufriedenheiten von Afroamerikanern einzugehen, um die eigene Außendarstellung hinsichtlich der Rassenbeziehungen zu verbessern. Eine Folge davon war, dass Führer der Bürgerrechtsbewegung, die bereit waren, ihre Kritik an amerikanischer Außenpolitik einzustellen und sich von der politischen Linken zu distanzieren, wie nie zuvor Zugang zu den Hallen der Macht erhielten. Unter dem Strich haben Historiker den Erfolg dieser Strategie bestätigt und die Erfolge der Bewegung in den 1950er Jahren interpretiert als »at least in part a product of the Cold War« (Dudziak 12). Betrachtet man die Entwicklung allerdings aus der Perspektive der Langen Bürgerrechtsbewegung, dann erscheinen Bürgerrechte weniger als ein Produkt des Kalten Krieges, eher als eines seiner Opfer. Dafür spricht vor allem, dass das Thema Rasse bereits durch den Antifaschismus und den Antikolonialismus internationalisiert war und die Verknüpfung von Afroamerikanern mit unterdrückten Völkern weltweit der Bewegung bereits höchste Akzeptanz eingebracht hatte. Der Antikommunismus dagegen erstickte die sozialdemokratischen Impulse, die Antifaschismus und Antikolonialismus gefördert hatten. Sie wurden abgelöst durch einen Toleranzliberalismus im Stile des Kalten Krieges, der bestenfalls seine Reformversprechen nicht einlöste. Mit Ausnahme von einigen juristischen Schritten blieb die Bundesregierung während der 1950er Jahre passiv. Im schlimmsten Fall arbeitete sie mit rechtsgerich-

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teten Kommunistenhetzern zusammen und verengte damit das ideologische Spektrum, in dem sich Bürgerrechtsaktivisten bewegen konnten. Um nur ein Beispiel zu nennen: Bei der Gründung der UNO im Jahre 1945 nutzten linke und moderate schwarze Führer die Gelegenheit, um die Misere der Afroamerikaner als Menschenrechtsthema zu definieren. Nach den Statuten der UNO war damit nicht nur die Freiheit von politischer und juristischer Verfolgung gemeint, sondern auch das Recht auf Bildung, Gesundheitsfürsorge, Wohnraum und Arbeit. Während es gleichzeitig afrikanische Nationen vom Fortschritt in den Rassenbeziehungen in den USA zu überzeugen versuchte, blockierte das Außenministerium diese Initiative und bestand darauf, dass dieses Thema eine innere Angelegenheit wäre und somit nicht in die Zuständigkeit der UNO gehöre. Gleichzeitig bestand man auf der Abtrennung von Bürgerrechten von der Frage nach Verteilungsgerechtigkeit und erklärte die gesamte Kampagne zu einem sowjetischen Komplott. Nachdem ihre Bemühungen derart durchkreuzt waren, wendete sich die NAACP (National Association for the Advancement of Colored People) von ökonomischen Themen und dem Kampf gegen die Rassentrennung im Norden ab. Ihre beträchtlichen Ressourcen konzentrierte sie jetzt ganz auf eindeutige Fälle von rechtlich legitimierter Segregation im Süden. Dabei distanzierte sie sich von der schwarzen Popular Front, wodurch die Verbindung von Rasse und Klassenzugehörigkeit erheblich geschwächt wurde. Der Präsidentschaftswahlkampf im Jahr 1948 war gleichzeitig Höhepunkt und Niedergang der Nachkriegskoalition von Schwarzen, Gewerkschaftlern und Linken. Die Koalition stellte sich hinter Henry Wallace, einem Vertreter des New Deal, der mit der Demokratischen Partei gebrochen hatte und als unabhängiger Kandidat ins Rennen ging. Harry S. Truman, der Kandidat der Demokratischen Partei, hofierte schwarze Wähler mit einem fortschrittlichen Bürgerrechtsprogramm und konnte Wallace damit aus dem Rennen werfen. Er zog sich damit aber auch den Zorn der Dixiecrats zu, einer Gruppe von konservativen Abgeordneten aus den Südstaaten, die schließlich den Parteitag der Demokraten sprengten und eine eigene Partei gründeten. Diese Partei sollte sich als Durchgangsstation für viele konservative Weiße erweisen, die zwischenzeitlich George C. Wallace, den erzkonservativen Präsidentschaftskandidaten und Gouverneur von Alabama, unterstützten und sich dann mit der Wahl von Richard M. Nixon 1972 in großer Anzahl den Republikanern anschlossen. Die Dixiecrats haben noch eine weitere Hinterlassenschaft. Sie perfektionierten die Kombination von Rassismus und Kommunistenhetze und konnten so die führenden New Deal-Politiker des Südens bei der entscheidenden Wahl im Jahr 1950 besiegen. Und zehn Jahre später konnten Verfechter der Rassentrennung behaupten, dass die Bürgerrechtsbewegung »kommunistisch gelenkt« sei. Die Hexenjagd der Antikommunisten feierte so eine Wiederauferstehung. Es entstand im gesamten Süden ein dichtes Netzwerk von little HUACs und little FBIs – lokale Nachahmungen des House Committee on Unamerican Activities und des Federal Bureau of Investigation. Unter der Führung der angesehensten Politiker der

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Jacquelyn Dowd Hall Region, allen voran James Eastland aus Mississippi, jagten diese Einrichtungen vermeintliche Staatsfeinde jeglicher Couleur: von Veteranen der Black-Labor-Left Alliance bis hin zu lokalen Vertretern der NAACP, homosexuellen Lehrern und nationalen Führern der Bürgerrechtsbewegung. So fand der McCarthyismus bis weit in die 1960er Jahre hinein seine Fortsetzung, lange nachdem er andernorts bereits in Ungnade gefallen war (Woods).

D ie kl assische P hase der B e wegung Vielleicht mehr noch als in anderen Teilen des Landes zerstörte der Kalte Krieg die Institutionen der Popular Front im Süden und lenkte die Bürgerrechtsbewegung in andere Richtungen. Als die sogenannte klassische Phase der Bewegung in den späten 1950er und 1960er Jahren ausbrach, waren Schwarze und Weiße, Menschen aus dem Norden und aus dem Süden, einfache Bürger und politische Beamte, Atheisten und gläubige Christen daran beteiligt. Die Bewegung ging weit über den Süden hinaus. Involviert waren ganz unterschiedliche, teils rivalisierende politische Strömungen. Im Alltag des Südens allerdings bezog sie ihre Kraft vor allem aus der prophetischen Tradition der afroamerikanischen Kirche. So konnte sie Anhänger mobilisieren, ihre Gegner außer Gefecht setzen und die bleierne Schwere des Kalten Krieges durchbrechen. Liberale Politiker im Kalten Krieg predigten Geduld. Auf Kritik von außen erwiderten sie, dass der Rassismus nicht in amerikanischen Institutionen eingelagert sei, vielmehr sei er ein Phänomen des Südens, einer zurückgebliebenen Region, die man durch wirtschaftlichen Aufschwung auf den Standard einer bereits demokratischen Nation bringen werde. Im Gegensatz dazu aktivierten die Bürgerrechtsaktivisten im Süden die latenten Themen Gerechtigkeit und Erlösung im Jenseits und forderten »freedom now«, nicht allmähliche Reformen von oben. Diese prophetische Vision verlieh ihren Anhängern den Mut, Geschichte als einen fortlaufenden Prozess der Erneuerung anzusehen und alles zu riskieren für Ideale, deren Erreichen sie selbst nicht erleben würden (Chappell). Diese Ideale sind oft falsch interpretiert worden, nicht nur von der Rechten, die sie auf color blindness reduziert hat, sondern auch von der Linken, die die Limitierungen der Bewegung im Süden betont. Einige Stadthistoriker zum Beispiel gehen von der irrigen Unterscheidung aus, dass die Bewegung im Norden durch Black Power und ökonomische Perspektiven geprägt war, während sie im Süden lediglich minimalistische Forderungen wie Toleranz und Integration stellte. Diese Interpretation ist von dem Eifer getragen, Aufmerksamkeit auf die Freiheitskämpfe im Norden und Westen der USA zu lenken. Dieses dichotomische Denkmodell ignoriert sowohl die lange Tradition gewaltlosen Widerstandes gegen Segregation im Norden als auch die Tatsache, dass Afroamerikaner im Süden bereits seit der Sklavenbefreiung gelernt hatten, für Zugang zur Gesellschaft und Selbstbestimmung zu kämpfen. Dazu gehörten taktische Allianzen über Rassen-

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grenzen hinweg, der Auf bau von eigenen Organisationen, die Migration nach Norden, Wirtschaftsboykotte und Protestaktionen. Im Norden wie im Süden war der Erfolg der Bewegung nicht nur abhängig von Idealismus und Mut, sondern vom geschickten Umgang mit den Mechanismen der Macht (Hahn). Außerdem kann man die Abschaffung des Jim Crow-Systems nicht als minimalistisch beschreiben, denn es handelte sich dabei um ein System, das gleichermaßen auf wirtschaftlicher Ausbeutung wie auf rechtlicher und räumlicher Segregation basierte. Für Bürgerrechtsaktivisten ging es dabei nie nur um Integration oder darum, das schwarze neben weißen Schülern die Schulbank drücken sollten, wie es heute manchmal überzeichnet dargestellt wird. Es ging auch nicht um Akzeptanz in bestehenden weißen Institutionen, auch wenn viele Weiße das so sahen. Echte Integration war und ist ein breit angelegtes, radikales Ziel. Es geht nicht darum, etwas zu beenden oder abzuschaffen wie etwa die Rassentrennung, sondern es geht um einen Prozess der Transformation von Institutionen und um den Auf bau einer gerechten, demokratischen, multiethnischen Gesellschaft. Der Marsch auf Washington im Jahre 1963 wird beispielsweise im dominanten Narrativ als der Höhepunkt der guten, auf Toleranz setzenden Bürgerrechtsbewegung stilisiert. Die Konservativen machen heute viel Aufheben um Martin Luther Kings Traum: »children will one day live in a nation where they will not be judged by the color of their skin but by the content of their character« (»I Have a Dream«). Aber kaum etwas im dominanten Narrativ deutet darauf hin, dass bei dieser Demonstration Frauen Schilder trugen, auf denen Arbeit für alle, akzeptabler Wohnraum, faire Löhne und Gleichberechtigung »NOW!« gefordert wurde. Es wurden Ziele formuliert, die ethnische Solidarität und die Gleichberechtigung von Mann und Frau in allen Lebensbereichen ins Zentrum rückten. Nichts in der dominanten Erzählung erinnert daran, dass diese Demonstration, die Menschen jeglicher Herkunft aus allen Teilen des Landes mobilisierte, ein »march for jobs and freedom« war, bei dem Frauen in der ersten Reihe standen, die die Verbindungen zwischen Rasse, Klasse und Geschlecht betonten und den Boden bereiteten für den afroamerikanischen Feminismus und die breit angelegte »Bewegung der Bewegungen«, die der Kampf um Bürgerrechte in Gang setzte. Seit einigen Jahren wissen wir mehr über die Kontinuitäten zwischen den 1940er und den 1960er Jahren, insbesondere über die Aktivisten, die schon früh politisiert wurden und die dann die nächste Generation rekrutierten. E. D. Dixon war in den 1940er Jahren aktiv in der Brotherhood of Sleeping Car Porters, einer starken, von Afroamerikanern geführten Gewerkschaft. Später wurde er zu einer standhaften Führungspersönlichkeit in der NAACP, und er war es, der Martin Luther King für die Organisation des Busboykotts in Montgomery gewinnen konnte. Ella Baker gab ihre radikale Pädagogik und ihre Erfahrungen in der politischen Basisarbeit an das Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC) weiter. Beides hatte sie als Heranwachsende im amerikanischen Süden und später in den politisch linken Milieus im Harlem der 1930er und 1940er Jahre erworben. Bayard Rustin, einer der brillantesten Strategen der Bewegung, wurde beschrieben

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Jacquelyn Dowd Hall als »an eager young explorer of the American left, broadly defined« (D’Emilio 36). Anne Braden wurde als weiße Südstaatlerin in den Worten von Angela Y. Davis zu einer »Legende« (zit. in Fosl x) für junge radikale Aktivisten. Sie begann ihr politisches Engagement in linksorientierten Gewerkschaften in den 1940er Jahren und kämpft bis zum heutigen Tag gegen Rassismus. Frances Pauley arbeitete für die Ziele des New Deal in Georgia, organisierte weiße Frauen gegen die Rassentrennung und widmete den Rest ihres Lebens dem Kampf für Bürgerrechte und gegen Armut (Payne; Ransby; Nasstrom, Everybody’s Grandmother). Entscheidend sind aber auch die Unterschiede und Diskontinuitäten. Die Aktivisten der 1960er Jahre waren auf unabhängige Organisationsformen angewiesen. Sie konnten sich nicht expandierenden, vitalen sozialdemokratischen Gewerkschaften anschließen. Es gab einen Bruch im Narrativ, eine Leerstelle in der Mitte der Geschichte der modernen Bürgerrechtsbewegung, die erst jetzt gefüllt wird. Viele junge Aktivisten der 1960er Jahre sahen ihren Kampf als einen Neuanfang und sich selbst als eine einzigartige Generation, nicht als Akteure, die von einer früheren, gewerkschaftlich geprägten Bürgerrechtstradition hätten lernen können. Verfolgung von außen sowie Zensur und Selbstzensur bestärkten diesen Generationsbruch; unabhängige, radikale afroamerikanische Aktivisten wurden nicht wahrgenommen. Eine Folge davon war, dass die populäre und historiographische Erinnerung an die politische Linke einseitig »weiß« geprägt war und nachfolgende Generationen afroamerikanische Politik als entweder nationalistisch oder integrationistisch gesehen haben. Vergessen war die Verbindung von Bürgerrechten und gewerkschaftlichen Anliegen, die es in den 1940er Jahren ermöglicht hatte, eine prinzipielle und taktische Überzeugung von transethnischer Mobilisierung mit einer starken Betonung auf afroamerikanische Kultur und Institutionenbildung in Einklang zu bringen. Als die Bewegung schwächer wurde und gegenläufige politische Kräfte die Macht übernahmen, war hier ein Vakuum, das durch das gegenwärtig dominante Narrativ gefüllt wurde.

J enseits der N iedergangsnarr ative Folgt man dem dominanten Narrativ, dann beginnt der Niedergang der Bewegung unmittelbar nach der Verabschiedung der Gesetze, die Bürgerrechte und Wahlrecht für Afroamerikaner sicherten. Der politische Widerstand in den 1970er Jahren reduziert sich dann auf Identitätspolitik, auf spalterische Streitereien, die Sektiererei begünstigten, weiße Arbeiter vergraulten und die Reihen der Neuen Rechten stärkten.5 Diese Sicht auf die 1970er Jahre als tragisches Ende verkennt die Bedeutung der zweiten Welle des Feminismus und anderer Bewegungen, die aus dem afroamerikanischen Freiheitskampf entstanden waren und sich institutionalisieren konnten, obwohl sie gleichzeitig als Antagonisten und 5 | Diese Sichtweise vertritt Gitlin. Für eine kritische Gegenposition siehe Gosse.

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Gegenfolie für die Neue Rechte fungierten. Außerdem wird so aus dem öffentlichen Gedächtnis ausgeblendet, wie die Siege der frühen 1960er Jahre in eine fortlaufende soziale Revolution mündeten, bei der Tausende von normalen Bürgern durch Türen gingen, hinter denen sie sich an den Auf bau von neuen, auf Integration basierenden Institutionen machten. Die Forschung über die Zeit nach den 1960er Jahren steht noch am Anfang. Mit Ausnahme von Darstellungen der Frauen- und Homosexuellenbewegung werden bisher, unabhängig von der ideologischen Ausrichtung, Geschichten des Niedergangs erzählt. Neuere Arbeiten zur Black Power-Bewegung widerlegen allerdings diese Sichtweise. Diese Arbeiten dokumentieren eine politische Renaissance von Afroamerikanern in den 1970er Jahren, als Vertreter der Black Power-Bewegung ein Programm für urbane Reformen vorlegten, das auf Forderungen zurückgriff, die dreißig Jahre zuvor formuliert worden waren. Andere Untersuchungen über die Black Power-Bewegung im Norden liefern ebenso starke Belege dafür, dass die Bürgerrechtsbewegung nicht starb, als sie sich nach Norden bewegte, vor allem deshalb nicht, weil sie schon lange vorher im Norden angekommen war (Self; Jones; Woodard; Cleaver und Katsiaficas). Wir brauchen vor allem eingehendere Forschung über alle Aspekte der »Bewegung der Bewegungen« nach den 1960er Jahren. Diese muss ebenso nuanciert und komplex sein wie unser Wissen über die klassische Phase. Bereits vorliegende Studien dokumentieren konvergierende Basisinitiativen. Ein Beispiel dafür ist die Bewegung für die vollständige Abschaffung der Rassentrennung in den Schulen des Südens in den 1970er Jahren, also nach der turbulenten Hochphase der Bürgerrechtsbewegung, nachdem das Medieninteresse an der Region bereits wieder abgeklungen war. Weitere Beispiele sind die Kämpfe für Desegregation am Arbeitsplatz und die breite Akzeptanz für arbeitsrechtliche Gleichstellung. Beides ist in Vergessenheit geraten, ebenso wie zuvor der civil rights unionism vor dem Zweiten Weltkrieg. Beides sollte aber vom Rand ins Zentrum der Geschichte der Bürgerrechtsbewegung gerückt werden, denn es gehört nicht in die Vergangenheit, sondern in die Gegenwart. Es ist keine Geschichte von Triumphen der Rechten und ausweglosem Niedergang, sondern ein fortdauerndes Projekt, dessen Höhepunkte vielleicht noch vor uns liegen. Das Gerichtsurteil Brown v. Board of Education und der Steine werfende Mob in Little Rock haben einen Ehrenplatz in der populären Geschichte der Desegregation in den Schulen des Südens. Ein anderer Wendepunkt wird dagegen kaum wahrgenommen. Dabei handelt es sich um einen Fall, wo sich weiße und schwarze Südstaatler direkt gegen die Rassentrennung in ihrer Region zur Wehr setzten. In dem Verfahren Swann v. Charlotte-Mecklenburg Board of Education (1971) in North Carolina konnten Rechtsanwälte die willkürliche Unterscheidung zwischen rechtlicher und faktischer Segregation aufdecken, indem sie beweisen konnten, dass staatliche Maßnahmen und nicht etwa harmlos erscheinende Gepflogenheiten ein nahezu völlig segregiertes Schulsystem geschaffen hatten. »I lived here for twenty-four years without knowing what was going on«, bemerkte

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Jacquelyn Dowd Hall der Richter James McMillan (zit. in Lassiter 555), der ein historisches Urteil fällte, nach dem schwarze Kinder in wohlhabende weiße Vororte und weiße Kinder in innerstädtische Schulen gebracht wurden. Eine potente Bewegung von weißen Hausbesitzern stemmte sich gegen dieses Urteil, benutzte dabei aber nicht die diskreditierte Rhetorik von massivem Widerstand, die das Debakel von Little Rock geprägt hatte, sondern sie machte sich das inzwischen national hoffähig gewordene Argument der color blindness zunutze. Überraschend dabei war vor allem, dass eine Koalition von Arbeitern, Frauengruppen, weißen Liberalen und schwarzen Eltern die Bewegung der Hausbesitzer besiegte. Das verwundert umso mehr, als busing ja schon zum Symbol für das Scheitern des Traumes der Rassengleichheit geworden war. Die Stadt Charlotte ergriff die ungewöhnliche Maßnahme, eine ihrer historisch schwarzen Schulen zu erhalten und damit schwarze Schüler davor zu schützen, sich in feindseligen, von Weißen dominierten Institutionen behaupten zu müssen. Diese Schule – die West Charlotte High School – initiierte daraufhin ein Experiment für echte Integration, das bis heute nachhallt. Obwohl, wie anderswo auch, viele weiße Schüler auf Privatschulen wechselten, wurde das Experiment in Charlotte zum Stolz für die Region. Und als der damalige Präsident Ronald Reagan bei einem Wahlkampfauftritt 1984 verkündete, das gesetzlich vorgeschriebene busing »takes innocent children out of the neighborhood schools and makes them pawns in a social experiment that nobody wants«, da schlug ihm aus dem überwiegend republikanischen Publikum betretenes Schweigen entgegen (Lassiter). 20 Jahre später belegen Interviews, die unabhängig voneinander vom Southern Oral History Program und vom Lehrerseminar der Columbia University durchgeführt wurden, dass es für die Schüler der West Charlotte High School prägende Erfahrungen waren, sich mit kulturellen Unterschieden und dem Überschreiten von Rassengrenzen auseinandersetzen zu müssen – Erfahrungen, die weder Tests noch Statistiken angemessen ausdrücken. Für diese Schüler waren das ungemein wertvolle Erfahrungen, die die Feindseligkeiten und den Hass der Zeit davor zerstreuten. Die Bewahrung von Vielfalt blieb ein wichtiges Anliegen in ihrem späteren Leben. In den 1980er Jahren war dann etwas erreicht, was niemand vorhergesehen hatte: Der Süden hatte das am besten integrierte Schulsystem in den USA – eine Leistung, die den vereinten Bemühungen der Gerichte, schwarzer Eltern und ihrer weißen Verbündeten zu verdanken war, die aber nahezu verschwunden ist aus dem dominanten Narrativ und die selbst in wissenschaftlichen Arbeiten zur Bürgerrechtsbewegung kaum sichtbar ist. Während der Ära der Desegregation waren aber auch andere politische und wirtschaftliche Fortschritte zu vermerken: vor allem der Aufschwung bei der Registrierung schwarzer Wähler und die Wahlerfolge schwarzer Kandidaten nach dem Erlass des Wahlgesetzes von 1965. Außerdem wurde die Rassentrennung am Arbeitsplatz entscheidend zurückgedrängt, weil sich Aktivisten auf den Absatz VII der Bürgerrechtsgesetzgebung berufen konnten, der Diskriminierung am Arbeitsplatz verbot. Diese Verbesserungen bestärkten sich gegenseitig. Wie nie zuvor nahmen schwarze Wähler

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größeren Einfluss auf Schulaufsichtsbehörden und hatten besseren Zugang zu Positionen im öffentlichen Dienst. Viele schwarze Schüler entkamen den unterfinanzierten Ghettoschulen und konnten von zusätzlichen Angeboten, kleineren Klassen, besseren Ausstattungen und anderen Vorteilen profitieren, die bis dahin Schulen in den Vororten vorbehalten gewesen waren. Ein Teil dieser Schüler ging anschließend aufs College und danach in qualifizierte Berufe. Die schwarze Mittelklasse wuchs in einer Gesellschaft, in der wirtschaftlicher Erfolg zunehmend von Bildung abhing. Nichts belegt den Erfolg dieser Bemühungen um politische Teilhabe, Arbeitsplätze und Bildung eindringlicher als die Tatsache der demographischen Rückwanderung in den Süden. In den 1970er Jahren kehrten viele Afroamerikaner, die ein halbes Jahrhundert zuvor die Region verlassen hatten, in den Süden zurück. Angelockt durch neue Möglichkeiten ließen sie sich nicht nur in den urbanen Zentren, sondern auch in Kleinstädten und ländlichen Gebieten nieder (Stack). Während Afroamerikaner sich den Süden zurückholten und dieser wieder Anschluss an den Rest des Landes gewann, bewegten sich die USA scheinbar unaufhaltsam rückwärts beim Thema Rassentrennung. 1973 und 1974 traf der Oberste Gerichtshof zwei entscheidende Urteile. Diese »insulated predominately white suburban school districts from the constitutional imperatives of Brown […] and offered white parents in urban districts fearful of school desegregation havens of predominately white public schools to which they could flee« (Cashin 212). Der Oberste Gerichtshof ignorierte dabei die politischen Regelungen, die überhaupt erst weiße Enklaven möglich gemacht hatten. In dem Urteil Milliken v. Bradley (1974) wurden die Vororte Detroits von Desegregationsmaßnahmen ausgenommen mit der Begründung, dass sie in der jüngsten Zeit nicht absichtlich Diskriminierung praktiziert hätten. In dem Verfahren San Antonio Independent School District v. Rodriguez (1973) urteilte das Gericht, dass es für die Einzelstaaten keine aus der Verfassung ableitbare Verpflichtung gäbe, ihre Schulbezirke auf gleichem Niveau finanziell auszustatten. Während der Amtszeiten von Reagan und Bush hoben die Gerichte viele Desegregationsmaßnahmen der 1970er Jahre wieder auf, sogar in Staaten, wo es Gesetze für ein duales Schulsystem gab. Nach nur zwei Jahrzehnten hatten sich die Gerichte aus dem Kampf um die Abschaffung der Rassentrennung verabschiedet. Ende der 1990er Jahre gingen Richter so weit, Schulbehörden zu verbieten, das Thema Rasse (und damit Geschichte und soziale Wirklichkeit) bei der Bildungsplanung zu berücksichtigen. Im Süden wie überall im Land ist eine rasche Rückkehr zur Rassentrennung erkennbar. Einzige Ausnahme ist der Nordosten, wo dieses Problem nie so ausgeprägt war. Als Gründe für diese Entwicklung werden oft reflektierter Rassismus, der unter der Allzweckformel white flight figuriert, oder die Desillusionierung von Afroamerikanern mit Integration genannt. Tatsächlich sind die Ursachen aber andere: Die Rassentrennung nach Wohngebieten wurde nie effektiv eingeschränkt; der Verfall der Innenstädte ging immer weiter; die Zersiedelung der Städte wurde nicht verhindert; der größer werdenden Schere zwischen Arm und

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Jacquelyn Dowd Hall Reich wurde nichts entgegengesetzt; die finanzielle Begünstigung von Schulen in den suburbs blieb unangetastet. So kann es auch nicht verwundern, dass die weiße und schwarze Mittelklasse alles unternimmt, um Häuser in Gegenden zu erwerben, die über gut ausgestattete Schulen verfügen. Und das erklärt auch, warum Eltern in hypersegregierten Innenstädten Ressourcen fordern, die ihren Kindern Bildung nach dem Prinzip separate but equal ermöglichen soll. Mit der Verabschiedung des No Child Left Behind Act (2002) ist der Druck noch größer geworden. Das Hauptaugenmerk liegt jetzt nicht mehr auf Finanzierung, sondern auf Kontrolle und Evaluation, was zur Folge hat, dass oft ressourcenarme Schulen bestraft werden. Die besten Lehrer und besser situierte Schüler werden geradezu vertrieben. Armut und Rassentrennung nehmen zu. Trotz allem aber ist die überwältigende Mehrheit von Schwarzen und Weißen weiterhin für Integration, während Politiker und Experten alles tun, um dieses Ideal zu sabotieren. Das Narrativ des Niedergangs nach 1965 hat unseren Blick auf die Entwicklung der Segregation in den Schulen verstellt. Gänzlich vergessen ist aber der Kampf um ökonomische Gerechtigkeit, der verschiedene Gesichter hatte. In Seattle, Washington, organisierte der Congress of Racial Equality (CORE) bereits 1961 erste Protestaktionen gegen Diskriminierung am Arbeitsplatz, die 1964 mit der größten Kampagne landesweit fortgesetzt wurden. In Memphis, Tennessee beharrten schwarze Arbeiter darauf, dass Bürgerrechte und Arbeiterrechte zusammengehören. Der Streik der Müllarbeiter im Jahr 1968, vor allem bekannt als Kontext der Ermordung Martin Luther Kings, war Teil eines jahrzehntelangen Kampfes von schwarzen Arbeitern für bessere Arbeitsbedingungen und gerechte Löhne. In Oakland, Kalifornien, und anderswo forderten die Black Panthers eine Umverteilung von ökonomischer und politischer Macht in Städten, die nach vier Jahrzehnten von urbanem Politikversagen zugrunde gerichtet waren. Eher noch erinnert man sich an Lyndon B. Johnsons War on Poverty aus dem Jahr 1965, der nicht nur ein Versuch war, ökonomische Anliegen und Bürgerrechte zu verbinden, sondern auch eine Fortsetzung des New Deal und damit eine Reaktion auf systemisch eingelagerte ökonomische Ungleichheiten. Der War on Poverty blieb weit hinter seinen eigenen Zielen zurück, aber nicht etwa, weil er, wie viele Konservative behaupteten, Geld für Probleme verpulverte, die nur durch Privatisierung und individuelle Anstrengung zu lösen waren. Ganz im Gegenteil: Er ging nicht weit genug, weil seine schwach finanzierten Maßnahmen lediglich arbeitsmarktorientiert waren, also etwa berufliche Weiterbildung förderten. Forderungen wie Arbeitsplatzsicherheit, gewerkschaftliche Rechte und die Umverteilung von ökonomischen Ressourcen wurden gar nicht erst gestellt. Dennoch zeitigte Johnsons Great Society wichtige und dauerhafte Ergebnisse, wie z.B. Medicaid und Head Start, und viele Aktivisten erkannten die Notwendigkeit struktureller ökonomischer Lösungen (Chafe). Einer der am wenigsten beachteten ökonomischen Effekte der Bürgerrechtsbewegung war die Basisbewegung, die durch den Absatz VII des Civil Rights Act von 1964 ausgelöst wurde. Viele Tausende, einschließlich eines beharrlich wach-

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senden Netzwerks von Gewerkschaftsfeministinnen, setzten die Rechte durch, die dieses historische Gesetz garantierte. Sie beteiligten sich an Petitionen und organisierten Sammelklagen zur Regelung von Einstellungsvoraussetzungen und Arbeitszeitregelungen. Das waren mutige Vorreiter – Frauen und Männer, Schwarze und Weiße – die es wagten, für ihre Rechte in bislang segregierten Berufen zu kämpfen. Afroamerikanische Arbeiter wurden zu den aktivsten Gewerkschaftsmitgliedern und ihre Auffassung von Rechten am Arbeitsplatz löste eine Welle von Aktivismus im öffentlichen Dienst aus, der damit für die Gewerkschaften zu einem Leuchtturm in einer sonst eher kargen Landschaft wurde. Durch das Ineinandergreifen von staatlichen Maßnahmen und Basisaktionen gelang im Zeitraum 1965-1975 der Durchbruch im Hinblick auf ökonomischen Fortschritt für Afroamerikaner, insbesondere im Süden. Im Anschluss daran stellten Latinos und andere Gruppen ähnliche Forderungen, die sie mit ähnlichen Strategien verfolgten. Ein Ergebnis davon war, dass einer großen Mehrheit von Amerikanern Rechtsschutz vor Diskriminierung am Arbeitsplatz garantiert wurde. Davon profitierten nicht nur ethnische Minderheiten und Frauen, sondern auch Alte und Behinderte. In den frühen 1970er Jahren erhielt auch die Arbeiterbewegung neue Impulse durch Initiativen für mehr Demokratie in den Gewerkschaften. Eine Streikwelle erfasste das Land, wobei deutlich wurde, dass weiße Arbeiter nicht automatisch zu Reagan Democrats wurden, sondern dass sie sich politisch neu orientierten. Gleichzeitig schloss sich eine wenig beachtete Gruppe von Bürgerrechtsveteranen der Arbeiterbewegung an und organisierte Unterstützungskampagnen. Einfache Arbeiter, aufstrebende Gewerkschaftsführer, Rechtsanwälte und dergleichen verbündeten sich mit Bürgerrechtsaktivisten, um für ökonomische Gerechtigkeit zu kämpfen. Ihr Ziel war: »[to] raise issues of economic equality […] to the moral high ground earlier occupied by the assault against de jure segregation« (Korstad und Lichtenstein 811). Der Kampf um ökonomische Gerechtigkeit stieß auf ebenso harten Widerstand wie die Auseinandersetzung um die Integration der öffentlichen Schulen. Einige dieser Widerstände waren tief verwurzelt, etwa im amerikanischen Individualismus, in der Angst vor Kapitalflucht und im Vermächtnis des Antikommunismus, der in Verbindung mit dem war of ideas der Neuen Rechten alle Bemühungen um Umverteilung anrüchig erscheinen ließ. Die besondere Wirtschaftskrise der 1970er Jahre war ebenso hinderlich. Diese Krise entstand durch den gleichzeitigen Anstieg von Arbeitslosigkeit und Inflation. Sie löste eine Arbeitgeberoffensive gegen Gewerkschaften aus und beschleunigte den Strukturwandel hin zur Dienstleistungsgesellschaft. Dabei wurden nicht nur die Gewerkschaftshochburgen in den alten Industrieregionen zerstört, sondern auch die traditionellen Industrien der Südstaaten. Gleichzeitig kamen Millionen von arbeitsuchenden Latinos in die Städte des Nordens, bedingt durch wirtschaftliche Veränderungen in Lateinamerika und die Lockerung von Einwanderungsgesetzen in den 1960er Jahren. Diese Einwanderungswelle aus der Dritten Welt schuf neue hybride Iden-

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Jacquelyn Dowd Hall titäten und ermöglichte neue Befreiungsbewegungen. Gleichzeitig konkurrierten immer mehr Arbeiter um immer weniger freie Stellen. Insbesondere ethnische Minderheiten hatten unter der schockierend hohen Arbeitslosigkeit zu leiden, und die Innenstädte verwandelten sich in verbrannte Ruinen, aus denen kaum noch jemand entkommen konnte. Als die Arbeitslosigkeit explosionsartig anstieg, machten viele weiße Arbeiter, angefeuert von konservativen Populisten, die Antidiskriminierungsgesetze dafür verantwortlich, obwohl nachgewiesen war, dass die Maßnahmen zugunsten von Frauen und Schwarzen nicht zu umgekehrter Diskriminierung geführt hatten. Thomas Sugrue kommentiert das so: »Long-term economic restructuring was inscrutable to most white workers. But affirmative action was an easy target« (172). Ein Grund war, dass mächtige Geschichtenerzähler diese Version stark machten. Der Kampf für die Gleichberechtigung und für das Abtreibungsrecht hatte eine ähnliche Wirkung auf Arbeiterfrauen. Viele waren gegen diese Reformen, weil sie befürchteten, dass der Feminismus Männer zuerst befreien würde und Frauen dann ohne männlichen Schutz und Unterstützung zurückblieben. In einer Situation zunehmender wirtschaftlicher Unsicherheit waren sie von Männern abhängig und gleichzeitig bedrängte sie die Neue Rechte mit Attacken, die die Frauenbewegung als ein gegen die Familie gerichtetes, elitäres Komplott darstellten. Diese Entwicklungen trugen zur Machtübernahme durch die Neue Rechte bei, und sie ermutigten die Reagan-Regierung, bestehende Antidiskriminierungsmechanismen auszuhöhlen. Die Deregulierung des Arbeitsmarkts führte zu einer Wiederkehr der Diskriminierung gegen Afroamerikaner, diesmal über versteckte Präferenzen und Stereotypen. Die Vorgehensweisen sind gut dokumentiert, aber kaum zu beweisen. Im Ergebnis sind so zwei Dekaden ökonomischen Fortschritts für Afroamerikaner rückgängig gemacht worden. Allerdings war der Triumph der Rechten nicht komplett, wie Nancy MacLean argumentiert. Zum einen stieß Reagans Politik auf die Opposition von Lobbygruppen. Zum anderen arrangierten sich viele Großunternehmen nach langem Widerstand mit einer neuen, verwässerten Version von diversity – natürlich nicht, um zu mehr Verteilungsgerechtigkeit beizutragen, sondern um neue Kunden auf globalen Märkten zu erreichen (MacLean). Das Ergebnis ist eine Pattsituation, die einerseits erreichte Fortschritte, aber auch die Notwendigkeit für weitergehende staatliche Maßnahmen deutlich macht. Wichtig wären Maßnahmen zur Arbeitsmarktbelebung, für verstärkte Kontrolle von Unternehmermacht und Schutz für Gewerkschaften. Auf der einen Seite hat es die Politik mit Druck von der Basis geschafft, das lange aufrecht erhaltene Bollwerk von Rassendiskriminierung aufzubrechen. Auf der anderen Seite verdeutlicht der wirtschaftliche Strukturwandel, dass die Politik begrenzt ist in ihren Möglichkeiten, Arbeiter vor Diskriminierung zu schützen. Ohne eine starke eigene Stimme haben Arbeiter keine Möglichkeit, sich gegen unfaire Unternehmerpraktiken zu wehren oder dem Einfluss von Unternehmern auf die Politik etwas entgegenzusetzen. Es ist ihnen auch nicht gelungen, die Tradition der Bürgerrechtsgewerkschaft fortzusetzen und den Kampf für faire

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Arbeitsbedingungen in ein antirassistisches, antisexistisches sozialdemokratisches Projekt für das 21. Jahrhundert zu transformieren.

S chluss Die Herausforderungen der Bürgerrechtsbewegung hatten ihren Ursprung in den Übeln, die Martin Luther King, Jr. beschrieben hat als »evils that are rooted deeply in the whole structure of our society« (King, »A Testament« 315). Diese Übel lassen sich nicht nur auf das Erbe der Sklaverei zurückführen, sondern auch auf die Fortsetzung dieses Erbes durch nachfolgende Generationen, die mit systematischer Diskriminierung die Privilegien der Weißen in das Gewebe der amerikanischen Kultur und seiner Institutionen eingelassen haben. Diese Übel setzen sich fort und sind in mancher Hinsicht schlimmer geworden, trotz der unbestreitbaren Triumphe der Bürgerrechtsbewegung. Die Rückkehr zur Rassentrennung in öffentlichen Schulen; die Hypersegregation in den Großstädten; die erschreckende Jugendarbeitslosigkeit bei Afroamerikanern und Latinos; die Erosion des Wahlrechts für Minderheiten; die Schwächung der Arbeiterbewegung; die Kluft zwischen Arm und Reich, die eine Dimension wie vor dem New Deal der 1930er Jahre erreicht hat; die Auflösung des sozialen Netzes; die stetig anwachsenden Möglichkeiten für Kapitalflucht; das bösartige Wachstum des prisonindustrial complex, durch den mehr afroamerikanische Männer inhaftiert werden als jemals im Südafrika der Apartheid-Ära. Natürlich können all diese historischen Hypotheken nicht einfach ignoriert werden, indem man sich zum Sieger erklärt, eine formal rassenneutrale Gesetzgebung fordert und den Marktkräften das Ruder überlässt. Und natürlich lassen sich die aktuellen Probleme auch nicht nur durch die Einsicht in das Vermächtnis der Vergangenheit lösen. Aber ein vertieftes Verständnis der Geschichte kann helfen, das üble Gebräu von Ausflüchten und Konfusionen zu vertreiben, das unserer Kreativität im Wege steht. Viele weiße Amerikaner sind durch den Sturm gegangen, den wir mit Walter Benjamin »Fortschritt« nennen (255), ohne sich tatsächlich mit der Vergangenheit auseinandergesetzt zu haben. Dieses Defizit macht den Weg frei für einen Konservatismus, der unhistorisch und blind gegenüber der sozialen Wirklichkeit behauptet, dass Hautfarbe keine Rolle mehr spiele. So verarmt der öffentliche Diskurs. Das Vertrauen in öffentliche Einrichtungen wird geschwächt, und unser Wille, gegen aktuelle Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten tätig zu werden, wird unterminiert. Die Narrative, die von den neuen Konservativen entworfen werden, haben großen Einfluss auf die Vorstellungskraft der Öffentlichkeit, zum einen weil sie so häufig wiederholt und so weitreichend medial verbreitet werden, zum anderen weil sie unangenehme Fragen über den Zusammenhang zwischen weißen Privilegien und sozialen Konflikten vermeiden. Aber es gibt Grund zu der Hoffnung, dass Gegennarrative nicht nur Gehör finden, sondern sich unter günstigen

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Jacquelyn Dowd Hall Umständen sogar durchsetzen könnten. Unzählige Meinungsumfragen deuten darauf hin, dass sich die Einstellungen von Weißen zur Rassenfrage seit dem Zweiten Weltkrieg dramatisch verändert haben, dass die Zustimmung zu den Grundsätzen von Integration und Gleichbehandlung nach wie vor hoch ist (obwohl die Zustimmung für Maßnahmen der Regierung im Sinne dieser Ziele zurückgegangen ist) und dass die Mehrheit der Amerikaner – Weiße ebenso wie Afroamerikaner – weiterhin die Grundpfeiler der gesellschaftlichen Ordnung des New Deal befürwortet. Diese Einstellungen sollten nicht unterschätzt werden. Man kann daraus nicht schließen, dass versteckte oder gar offene Vorurteile verschwunden oder auch nur abgeschwächt oder dass institutionalisierte Ungleichheiten eliminiert seien. Aber diese Einstellungen sind der Boden, auf dem ein neues Verständnis der aktuellen Probleme wurzeln kann. Dieses Verständnis muss zwei Dinge zur Kenntnis nehmen: zum einen die historische Einsicht, dass die Ungleichheiten zwischen den Rassen nicht auf Versagen der Afroamerikaner zurückzuführen sind; und zum anderen die überwältigenden Belege dafür, dass die Nöte von Minderheiten heute tatsächlich »das erste Signal einer Bedrohung für uns alle« (Guinier und Torres 11) sind. Erste Anzeichen dafür sind unverkennbar: Familien, die vereinzelt um »gute« Schulen für ihre Kinder kämpfen; die immensen Kosten für Gefängnisse und Polizei, die finanzielle Mittel binden, die eigentlich für Gesundheit und andere Sozialmaßnahmen gebraucht werden. Dieser Diskurs ließe sich aber auch mit antirassistischen Grundsätzen verbinden, und so könnte ein Klima entstehen, in dem innovative Lösungen für soziale Probleme gefunden werden. In dieser Auseinandersetzung, für die ein Verständnis der Geschichte so entscheidend ist, können und müssen Historiker eine zentrale Rolle spielen. Aber wie können wir uns Gehör verschaffen, ohne die Geschichte auf formelhafte Mantras zu reduzieren, wie es politische Narrative meistens tun? Um unsere Geschichten wahrhaftig und erfolgreich erzählen zu können, brauchen wir Verfahren des Schreibens und Sprechens, die individuelle Handlungsfähigkeit betonen, das sine qua non aller Erzählungen. Gleichzeitig müssen wir die verborgene Geschichte der politischen Programme und Institutionen offenlegen – all die Entscheidungsprozesse, die fortwährend die Gesellschaft prägen und umgestalten und die doch oft für den Bürger unsichtbar bleiben, weil er diese Aspekte gar nicht oder allenfalls ahistorisch und subjektiv wahrzunehmen gelernt hat. Wir dürfen uns nicht mit einfachen Dichotomien begnügen, so verführerisch diese auch sein mögen. Vor allem dürfen wir nicht den falschen Alternativen folgen, die Rasse gegen Klassenzugehörigkeit ausspielen, die ethnische gegenüber universalistischen Lösungsansätzen propagieren oder die für sogenannte Identitätspolitiken als Alternative zu ökonomischen und gewerkschaftlichen Politikansätzen werben. Und schließlich müssen wir auf bequeme Plausibilitäten und gefällige Spannungskurven verzichten. Nur solche innovativen Formen des Erzählens können das Wesentliche einer nicht verlorenen, aber auch noch nicht abgeschlossenen Revolution artikulieren

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– einer weltweit bedeutsamen sozialen Bewegung, die sowohl Rückschläge als auch Siege aufweist und deren Errungenschaften gerade wieder einmal zum Teil rückgängig gemacht werden (Gosse). Die Siege und die Rückschläge gleichermaßen fordern uns zum Handeln auf, als Bürger und als Historiker, die wichtige Geschichten zu erzählen haben. Beides ist Teil einer langen, unabgeschlossenen Bürgerrechtsbewegung. Beides kann dazu beitragen, dass wir für uns heute einen neuen Lebensentwurf, eine fortdauernde Revolution erschließen.

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Von der Sklaverei zur Bürgerrechtsbewegung: Rassenbeziehungen in Amerika, 1770 bis 1945 Georg Schild

Abbildung 1

Harper’s Weekly, 4. Juli 1863, Library of Congress, LC-USZ62-98515 

Am 4. Juli 1863 erschien in der amerikanischen Wochenzeitschrift Harper’s Weekly ein Artikel mit der Überschrift »A Typical Negro«. Dieser »typische Schwarze« mit dem Namen Gordon war seinem Besitzer im Bundesstaat Mississippi inmitten des Bürgerkrieges entlaufen und hatte sich zu den mehr als einhundert Kilometer entfernten Unionstruppen im benachbarten Louisiana durchgeschlagen. Die Zeitung veröffentlichte drei Bilder von Gordon: Eines zeigt ihn verdreckt und in der zerrissenen Kleidung, die er auf seiner mehrtägigen Flucht getragen hatte; auf einem weiteren Bild erscheint er als stolzer Soldat in der Uniform der Unionsarmee, in die er nach seiner Flucht eingetreten war. Zwischen diesen beiden Bildern war eine größere Aufnahme von Gordons narbenzerfurchtem Rücken ab-

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gedruckt. Die Wunden waren ihm am Weihnachtstag 1862 von seinem Besitzer mit einer Peitsche zugefügt worden. Das Bild belegte noch einmal nachdrücklich die Unmenschlichkeit der Sklaverei in Amerika und bestärkte die Union in der Entscheidung, einen Krieg gegen die Sklavenhalter in den Südstaaten zu führen.1 Die Sklaverei begleitete die amerikanische Geschichte seit den ersten Tagen als Kolonie im 17. Jahrhundert. Zunächst allgemein akzeptiert, entwickelte sie sich im Verlauf des frühen 19. Jahrhunderts zur umstrittensten politischen und gesellschaftlichen Frage des Landes. Der Norden betrachtete Sklaverei mit Argwohn und Abscheu; der Süden wollte sie um jeden Preis beibehalten. Amerikas Politiker erwiesen sich als unfähig, das Problem zu lösen. Erst der Bürgerkrieg brachte die Lösung. Die Niederlage der Südstaaten 1865 bedeutete das Verbot der Sklaverei. Aber auch nach dem Krieg setzte sich die gesellschaftliche Diskriminierung der Schwarzen in den Südstaaten noch gut einhundert Jahre fort. In dieser Zeit wurde kontrovers über das Vermächtnis des Krieges gestritten. Sei es darum gegangen, eine geeinte amerikanische Gesellschaft zu schaffen, oder reichte es aus, wenn voneinander getrennte Gesellschaften nebeneinander existierten? Die Antwort auf diese Frage lief im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert darauf hinaus, die Rassen im öffentlichen Raum wie in Schulen und in öffentlichen Verkehrsmitteln und teilweise sogar im privaten Bereich (Heiratsverbote zwischen Weißen und Schwarzen in einigen Südstaaten) voneinander zu separieren. Erst in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg setzte eine zweite Emanzipationswelle ein, die sich das Ziel setzte, die Spaltung der Gesellschaft und die damit einhergehende Benachteiligung der Schwarzen zu beenden. Diese Bürgerrechtsbewegung und ihr Erbe werden im vorliegenden Buch detailliert analysiert. Dieser Beitrag will einen Überblick über die Entwicklung der Sklaverei in Amerika, ihre Beseitigung im Bürgerkrieg und um die schwierige Entwicklung der Rassenbeziehungen vom Bürgerkrieg bis zum Zweiten Weltkrieg geben.

G eschichte der S kl averei Die Versklavung von Afrikanern begann in den englischen Kolonien Nordamerikas im frühen 17. Jahrhundert, um den wachsenden Arbeitskräftebedarf in der Landwirtschaft – zunächst beim Tabak- und später beim Baumwollanbau – zu decken. Tabelle 1 gibt den wachsenden Anteil von Schwarzen an der Bevölkerung der Kolonien zwischen 1630 und 1780 wieder.

1 | Gordons Spur verliert sich Ende 1863 in den Wirren des Krieges. Wir wissen nicht, wo er kämpfte und ob er verwundet oder getötet wurde.

Rassenbeziehungen in Amerika, 1770 bis 1945

Tabelle 1: Geschätzte Bevölkerung der nordamerikanischen Kolonien Englands, 1630-1780 (Finzsch 60) Jahr

Gesamtbevölkerung

Schwarze

in % der Gesamtbevölkerung

1630

4.464

60

1,3

1680

151.507

6.971

4,6

1730

629.445

91.021

14,5

1780

2.780.369

575.420

20,1

Bis zur Amerikanischen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts war Sklaverei in allen britischen Kolonien rechtlich zulässig. Tabelle 2 gibt die Zahl der Sklaven in den einzelnen Kolonien am Vorabend der Amerikanischen Revolution und den prozentualen Anteil der Sklaven an der Bevölkerung der jeweiligen Kolonie wieder. Die Ungleichverteilung der Sklaven zwischen Nord und Süd ist auffallend. Tabelle 2: Zahl der Sklaven in den 13 britischen Kolonien, 1770 (Sautter 34) Kolonie

Zahl der Sklaven

in % der Bevölkerung

New Hampshire

654

1

Massachusetts

4.754

2

Connecticut

5.698

3

Rhode Island

3.761

6

New York

19.062

12

New Jersey

8.220

7

Pennsylvania

5.561

2

Delaware

1.836

5

Maryland

63.818

32

Virginia

187.600

42

North Carolina

69.600

35

South Carolina

75.168

61

Georgia

15.000

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Von der Revolution bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs war die Zahl der Sklaven von 700.000 auf knapp vier Millionen angewachsen, die ausschließlich in den Südstaaten lebten (Tabelle 3). Tabelle 3: Zahl der Sklaven und räumliche Verteilung, 1790 und 1860 (Kolchin 254-55) 1790

1860

Vereinigte Staaten

697.897

3.953.760

Nordstaaten

40.370

64

Südstaaten

657.527

3.953.696

Im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts wurde der Begriff »Sklaverei« immer genauer definiert und es wurde rechtsverbindlich festgelegt, wer Sklave war, wie ein Besitzer seine Sklaven behandeln und bestrafen durfte, was mit den Kindern von Sklaven geschah und ob und wie Sklaven freigelassen werden konnten. Die amerikanische Sklaverei war – im Unterschied etwa zur Sklaverei in der Antike – rassisch determiniert. Der Status als Sklave war lebenslang und vererbte sich durch die Mutter, unabhängig davon, ob der Vater ein Weißer, ein freier Schwarzer oder ein Sklave war. Schließlich wurde festgelegt, dass die Taufe einen Sklaven nicht befreite; seit 1669 gingen Sklavenhalter in Virginia straffrei aus, wenn sie ihren Sklaven bei einer Bestrafung töteten (Finzsch 64-65). Einige Kolonien sahen die Möglichkeit vor, dass Besitzer ihren Sklaven die Freiheit gewähren konnten. In fast allen Fällen war die Freilassung jedoch mit der Auflage verbunden, die Kolonie zu verlassen. Die Amerikanische Revolution Ende des 18. Jahrhunderts stellte eine Chance zur Beseitigung der Sklaverei dar. Die Unabhängigkeitserklärung vom Juli 1776 proklamierte, dass »alle Menschen« – »all men« – gleich geschaffen seien und dass ihnen gewisse unveräußerliche Rechte auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück zuständen. Einstweilen waren Schwarze jedoch von diesen Rechten ausgenommen. Als von Mai bis September 1787 Delegierte aus den 13 neu gegründeten Bundesstaaten in Philadelphia über eine amerikanische Verfassung berieten, entwickelte sich die Frage nach der Zukunft der Sklaverei zu einem zentralen Konfliktpunkt. Die Delegierten der Südstaaten erklärten, dass sie dem Verfassungsentwurf nicht zustimmen würden, falls ein Verbot der Sklaverei darin vorgesehen wäre. Das Ergebnis der Beratungen war ein Kompromiss. In der Verfassung tauchen die Begriffe »Sklave« und »Sklaverei« zwar nicht auf, aber es gibt Regelungen in dem Dokument, die eindeutig auf diese Institution zielten. So zählte die Zahl der »sonstigen Personen« – eine euphemistische Umschreibung für Sklaven – zu Dreifünfteln bei der Festlegung der Zahl der Abgeordneten eines Bundesstaates im Kongress. Sklavenhalterstaaten profitierten damit politisch von der Zahl ihrer Sklaven. Mit dieser Regelung erkannte die Verfassung außerdem

Rassenbeziehungen in Amerika, 1770 bis 1945

die Sklaverei implizit an und gab ihr eine Bestandsgarantie, weil es unmöglich wurde, Sklaverei als verfassungswidrig anzugreifen. In den Nordstaaten wurde Sklaverei um die Wende zum 19. Jahrhundert allmählich aufgegeben und durch die produktivere Lohnarbeit ersetzt. Jeder Staat machte dies auf eine andere Art. So hob der Staat Vermont Sklaverei in seiner neuen Verfassung vom Juli 1793 auf. In Massachusetts erklärte der Oberste Gerichtshof Sklaverei für unrechtmäßig. Die letzten Nordstaaten, die die Sklaverei aufgaben, waren New York (1799) und New Jersey (1804). Im Süden wuchs die Bedeutung der Sklaverei hingegen noch weiter. Neue sklavenhaltende Staaten wie Tennessee (1796), Mississippi (1817), Alabama (1918) und Texas (1845) wurden in die Union aufgenommen. Diese Spaltung des Landes in einen sklavenfreien Norden und einen sklavenhaltenden Süden führte nicht unmittelbar zu Konflikten oder gar zu einem Krieg. Im Gegenteil: Es entwickelte sich eine mehrere Jahrzehnte währende, symbiotische Arbeitsteilung zwischen beiden Landesteilen. So profitierte auch der Norden in erheblichem Maße davon, dass im Süden landwirtschaftliche Rohstoffe wie Baumwolle billig durch Sklaven produziert wurden, die in den Manufakturen von Massachusetts weiterverarbeitet und über den Hafen von New York nach Europa verschifft wurden. Ein akutes Konfliktpotential zwischen Nord und Süd lag vor allem in drei Faktoren – der Westexpansion des Landes, der wachsenden wirtschaftlichen Ungleichheit zwischen Nord und Süd sowie der zunehmenden abolitionistischen Propaganda in den Nordstaaten: 1.) In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts expandierten die USA nach Westen und besiedelten den gesamten nordamerikanischen Kontinent. Diese Gebiete sollten zunächst als Territorien und dann als Staaten organisiert und in die Union aufgenommen werden. Bei jedem neuen Staat, der in die Union aufgenommen werden sollte, stellte sich die Frage, ob er sklavenfrei oder sklavenhaltend organisiert sein sollte. Der Norden hatte Vorbehalte gegen ein weiteres Anwachsen der Sklaverei auf seinem Territorium. Noch größer war die Sorge der Südstaaten, dass eine Mehrheit sklavenfreier Staaten die Sklaverei eines Tages per Gesetz in den gesamten Vereinigten Staaten verbieten könnte. Um dies zu verhindern, verlangte der Süden Parität zwischen sklavenfreien und sklavenhaltenden Staaten. In den Jahren 1820 und 1850 kam es zu Kompromisslösungen, um das Machtgefüge der beiden Landesteile beizubehalten. So wurden im Rahmen des Missouri-Kompromisses 1820 gleichzeitig zwei neue Staaten in die Union aufgenommen: das sklavenhaltende Missouri und das sklavenfreie Maine. 2.) Die Sorge der Südstaatler vor einer wachsenden Überlegenheit des Nordens muss vor dem Hintergrund einer dynamischen Wirtschaft der sklavenfreien Staaten verstanden werden. Die Wirtschaft im Norden wuchs schneller als die des Südens. Die Bevölkerungszahl stieg aufgrund der Einwanderung aus Europa rasant an. Mitte des 19. Jahrhunderts musste jedem Beobachter klar

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gewesen sein, dass sich die relativen Machtverhältnisse in den USA verschoben hatten. Der einstmals politisch und wirtschaftlich führende Süden entwickelte sich zunehmend zu einem Anhängsel des Nordens. 3.) Die Sorgen der Südstaaten wurden noch verstärkt, seitdem in den 1830er Jahren im Norden zunehmend kritische Stimmen gegen die Sklaverei laut wurden. Autoren, Publizisten und Politiker wie Harriet Beecher Stowe, William Lloyd Garrison, Frederick Douglass und John Brown sahen in der Sklaverei einen Verstoß gegen göttliche und ethische Grundsätze. Beecher Stowe veröffentlichte 1852 den Roman Uncle Tom’s Cabin, der das Leben, das Leiden und das Sterben des Sklaven Tom schildert. Garrison und Douglass prangerten in ihren Zeitschriften The Liberator und The North Star das System der Sklaverei an. Douglass sprach am 5. Juli 1852 aus Anlass des amerikanischen Nationalfeiertages in Rochester, New York zu einer weißen Zuhörerschaft und fragte, welche Bedeutung der 4. Juli für den amerikanischen Sklaven habe. Er antwortete, dass dieser Tag mehr als jeder andere Tag des Jahres die Ungerechtigkeit und Grausamkeit deutlich mache, der ein Sklave ausgeliefert sei: Für ihn sind eure [weißen] Feierlichkeiten eine Schande; eure Betonung der Freiheit eine unheilige Rechtfertigung; eure nationale Größe ein Zeichen der Eitelkeit; eure Jubelgesänge sind leer und herzlos, eure Verurteilung von Tyrannen verbrämte Unverschämtheit. […] Es gibt auf der ganzen Welt keine Nation, die sich solch schockierender und blutiger Praktiken schuldig macht wie die Menschen der Vereinigten Staaten in genau diesem Moment. (Zit. in Daley 26-47) 2

John Brown beließ es nicht bei verbaler Kritik an der Sklaverei und versuchte sie stattdessen mit Waffengewalt zu beseitigen. Im Oktober 1859 überfiel er gemeinsam mit 20 weißen und schwarzen Mitstreitern ein Waffenarsenal in der Stadt Harper’s Ferry. Der Plan, mit den erbeuteten Gewehren Sklaven zu bewaffnen und einen Aufstand zu beginnen, scheiterte jedoch. Brown wurde von einer Militäreinheit unter Führung von Oberst Robert E. Lee gefangen genommen, vor Gericht gestellt, zum Tode verurteilt und am 2. Dezember 1859 hingerichtet. Für wie bedrohlich die Südstaatler abolitionistische Literatur erachteten, ist daran abzulesen, dass Personen, die auf Reisen durch den Süden solche Texte bei sich führten, um ihr Leben fürchten mussten. Die größte Gefahr sahen Plantagenbesitzer jedoch in den Schwarzen selbst, denn die Angst vor Revolten war allgegenwärtig. Es wurde gesetzlich verboten, Sklaven das Lesen und Schreiben beizubringen, um schriftliche Kommunikation unter ihnen zu verhindern. Die Strafe für dieses Vergehen richtete sich nach der Hautfarbe. Ein Weißer, der Schwarze unterrichten wollte, wurde mit einer Geldstrafe oder mit Gefängnishaft bestraft. Ein Schwarzer konnte darüber hinaus ausgepeitscht werden. Schwarze durften sich nicht ohne 2 | Soweit nicht anders angegeben, handelt es sich bei deutschsprachigen Zitaten aus englischsprachigen Quellen um Übersetzungen des Verfassers.

Rassenbeziehungen in Amerika, 1770 bis 1945

weiße Beteiligung versammeln. Freie Schwarze, von denen man vermutete, dass sie Revolten starten würden, wurden überwacht oder des Staates verwiesen. In dem Maße, da Abolitionisten im Norden Sklaverei verurteilten, überhöhten Südstaatler sie ideologisch als wirtschaftliche Notwendigkeit und gesellschaftliche Wunschvorstellung, gar als göttliches Gebot. Thomas Jefferson, der Verfasser der Unabhängigkeitserklärung, hatte in seinen Notes on the State of Virginia noch allgemein von »tiefwurzelnden Vorurteilen« zwischen Weißen und Schwarzen und von »realen Unterschieden, die die Natur hervorgebracht« habe, gesprochen. Er warnte vor den zu erwartenden »Erschütterungen« in der amerikanischen Gesellschaft, die zur Ausrottung einer der beiden Rassen führen würden (zit. in Finkelman 49). Im frühen 19. Jahrhundert wurden mehr und mehr religiöse und politische Argumente zur Verteidigung der Sklaverei als göttliches oder moralisches Gebot vorgetragen. In seinem Aufsatz »The Bible Argument« mit dem Untertitel »Sklaverei im Lichte der göttlichen Offenbarung« erklärte 1860 der baptistische Geistliche Thornton Stringfellow, dass Gott selbst die Institution Sklaverei eingerichtet und dass sich Jesus in seinen Lehren nie dagegen ausgesprochen habe (Finkelman 125). Senator John C. Calhoun aus South Carolina erklärte im Februar 1837 in einer Rede vor dem Kongress, dass Sklaverei im Gegensatz zu den Äußerungen der Gegner gerade kein »Übel« sei, sondern einen »positiven Wert« darstelle (zit. in Finkelman 59). In jeder Gesellschaft gebe es Gruppen, die Opfer der Ausbeutung seien. In den Südstaaten seien dies die Sklaven, in den Nordstaaten und in Europa sind es die weißen Arbeiter. Vergleichen Sie seine [Sklaven] Lebensbedingungen mit denen der Bewohner der Armenhäuser in den zivilisierteren Teilen Europas – sehen Sie sich den kranken, alten und schwachen Sklaven […] inmitten seiner Familie und Freunde an […] und vergleichen Sie dies mit den elenden Bedingungen der Bedürftigen in den Armenhäusern [im Norden]. (Zit. in Finkelman 59)

In einer Reihe von Schriften aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg findet sich das Argument, dass Sklaverei die Weißen davor bewahre, die allerunterste soziale Stufe einnehmen zu müssen. In seiner mudsill-(»Bodensatz«)-Rede erklärte Senator Henry Hammond aus South Carolina im März 1858, dass es in jeder Gesellschaft eine Gruppe von Menschen geben müsse, die die gesellschaftlich niedersten Tätigkeiten ausübt. Glücklicherweise habe der Süden mit den Schwarzen eine Rasse gefunden, die für diese Tätigkeiten prädestiniert sei. Wie wichtig die Sklaverei für das Selbstverständnis der 1861 gegründeten Konföderierten Staaten von Amerika nach ihrer Abspaltung von den USA war, hat niemand so deutlich ausgesprochen wie Vizepräsident Alexander H. Stephens aus Georgia. Er erklärte im März 1861 in einer Rede, dass Sklaverei der »unmittelbare Grund« für die Erklärung der südstaatlichen Unabhängigkeit sei. Die Vereinigten Staaten seien einst auf der Vorstellung gegründet worden, dass alle Menschen

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gleich geschaffen seien, so Stephens. Die Konföderierten Staaten gingen von der gegenteiligen Vorstellung aus: Unsere neue Regierung gründet sich […] auf der großen Wahrheit, dass der Neger dem weißen Mann nicht ebenbürtig ist; dass Sklaverei – [seine] Unterordnung unter eine überlegene Rasse – seine natürliche und normale Lebensbedingung darstellt. Diese, unsere neue Regierung, ist die erste in der Geschichte der Welt, die auf dieser großen physikalischen, philosophischen und moralischen Wahrheit beruht. (Zit. in Finkelman 91)

D ie L ebensbedingungen der S kl aven Im Jahr 1800 kam es in Virginia zu einer Revolte um den Sklaven Gabriel, der mit mehreren hundert anderen Sklaven in Richtung Richmond, Virginia zog. Schlechtes Wetter und das Eingreifen weißer Truppen beendeten den Aufstand. Gabriel wurde gehängt. Ein weiterer, bekannterer Sklavenaufstand ereignete sich 30 Jahre später. Der im Jahr 1800 (nur wenige Wochen nach der Hinrichtung Gabriels) geborene Sklave Nat Turner galt als gebildet und geschickt und soll zu seinem Besitzer ein ausgesprochen gutes Verhältnis gehabt haben. Umso überraschender war es, als er gemeinsam mit einer Gruppe Gleichgesinnter, deren Zahl wohl zwischen zehn und 60 schwankte, am 21. und 22. August 1831 in Häuser reicher Plantagenbesitzer im abgelegenen Landkreis Southampton im Südosten Virginias eindrang und alle dort vorgefundenen Menschen tötete, insgesamt knapp 60 Personen. Nachdem die Morde entdeckt worden waren, begann eine breit angelegte Suche nach den Mördern. Es gelang Turner, sich bis Ende Oktober versteckt zu halten. Anfang November 1831 wurde er zum Tode verurteilt und hingerichtet. Neben diesen beiden beschriebenen Aufständen gab es nur einige wenige weitere Unruhen in den Südstaaten. Warum gab es angesichts des Horrors der Sklaverei und der vielen hunderttausend versklavten Menschen nur so wenige überlieferte Aufstände? Bei der Beschreibung der tatsächlichen täglichen Lebensbedingungen der Sklaven und ihrer Sicht der Welt stößt der Historiker aufgrund fehlender oder lückenhafter Quellen schnell an seine Grenzen. Es gibt Aufzeichnungen einzelner Plantagenbesitzer, und vieles ist über das Leben auf den großen Plantagen von George Washington und Thomas Jefferson bekannt. Aber in jedem dieser Fälle stellt sich die Frage, wie repräsentativ die dortigen Lebensbedingungen waren. Die Unsicherheit über die Quellen führte zu ganz unterschiedlichen Interpretationen der Sklaverei in der wissenschaftlichen Literatur. Bis vor kurzem wurde Sklaverei ausschließlich aus der Sicht der Weißen dargestellt, die die Quellen hinterlassen hatten. Dazu kam, dass Historiker des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts selbst nicht frei von rassistischen Vorurteilen waren. Die Sklaven waren entsprechend dieser Geschichtsschreibung entweder die willenlosen Objekte der Weißen (U. Phillips, American Negro Slavery, 1918) oder die Opfer ihrer Grausamkeit (Stampp, The Peculiar Institution, 1956). Den Höhepunkt erreichte diese Ge-

Rassenbeziehungen in Amerika, 1770 bis 1945

schichtsauffassung Ende der 1950er Jahre mit Stanley Elkins Buch Slavery: A Problem in American Institutional and Intellectual Life. Elkins argumentierte, dass das Ausbleiben von Sklavenaufständen in Nordamerika darauf zurückzuführen sei, dass die Sklaven völlig losgelöst von ihren Traditionen existierten und ihr Leben nur auf ihren weißen master hin ausrichteten. Der Vergleich mit einem lebenslangen Konzentrationslager ist in diesem Zusammenhang gefallen. Zeitgenössische Historiker lehnen diese These zumeist ab. Für Thomas Holt ging es nicht um die Frage des bedingungslosen Gehorsams oder der ständigen Bereitschaft zur Gewaltanwendung. Sowohl der master als auch der Sklave agierten nicht einfach als Individuen. Beide waren bei jeder Interaktion Teil größerer Gemeinschaften. Der Sklave stand, wann immer er seinem Besitzer gegenübertrat, der kollektiven Macht des weißen Sklavenhalterstaates gegenüber. Die Frage, warum es nicht mehr Aufstände gab, sei deshalb gleichzusetzen mit der Frage, warum nicht mehr Sklaven Selbstmord begangen haben. Holt beantwortet die Frage, indem er reflektiert, dass Sklaven mehr zu verlieren hatten als ihre Ketten. Auch sie glaubten, dass ihr Leben lebenswert sei. Fast alle Historiker gehen heute außerdem davon aus, dass es den Sklaven durchaus gelang, sich einen Autonomieraum zu erhalten, etwa im Bereich der Religion, der Musik und dass einhergehend damit eine schwarze community auf den Plantagen entstand. Häufiger als offener Widerstand seitens der Sklaven war die Flucht, die in der Mehrzahl der Fälle jedoch misslang. Nur wenigen Sklaven gelang es, nach Kanada zu entkommen. Schätzungen gehen von etwa 1.000 erfolgreichen Fluchten pro Jahr in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus. Wenn die Flucht gelang, dann hatte oftmals die underground railroad geholfen, eine Gruppe von Weißen und Schwarzen, die die Flüchtlinge an der Grenze vom Süden in den Norden in Empfang nahmen und ihnen über die Grenze und dann in Richtung Kanada zur Flucht verhalfen.

B ürgerkrieg und B eseitigung der S kl averei Im Jahr 1857 bestätigte der Oberste Gerichtshof der USA in der Entscheidung Dred Scott v. Sanford noch einmal die Verfassungsmäßigkeit der Sklaverei. Der Sklave Dred Scott hatte nach dem Tod seines Besitzers, eines Arztes im Dienst der US-Armee, auf Freilassung geklagt, weil er in den 1830er und 1840er Jahren mit diesem vorübergehend im Norden gelebt hatte. Das Gericht, in dem eine Mehrheit der Richter aus dem Süden stammte, erklärte, dass Scott durch den Aufenthalt im Norden nicht die Freiheit erlangt habe. Darüber hinaus erklärte das Gericht, dass der US-Kongress nicht das Recht habe, Sklaverei in einem Staat zu beseitigen. Dazu seien nur die Einzelstaaten selbst befugt. Theoretisch hätte Sklaverei in den Staaten des Mittleren Westens eingeführt werden können, die als freie Staaten in die Union aufgenommen worden waren.

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Zu kaum einem Zeitpunkt erschien Sklaverei in den USA juristisch so gefestigt wie nach 1857. Gleichzeitig aber war die Sklaverei zu keinem Zeitpunkt politisch so umstritten wie Ende der 1850er Jahre. Mit Abraham Lincoln wurde im November 1860 ein moderat abolitionistischer Politiker zum Präsidenten der USA gewählt. Noch bevor er im März 1861 sein Amt antreten konnte, hatten sieben Südstaaten ihre Sezession beschlossen. Lincoln wollte das auf keinen Fall akzeptieren. In seiner Rede zur Amtsübernahme beschwor er die Südstaatler, in die Union zurückzukehren. Er sagte ihnen zu, dass er die Sklaverei in den Südstaaten nicht infrage stellen werde. Auch nach Beginn der Kriegshandlungen wurde Lincoln zunächst nicht müde, zu betonen, dass es sich ausschließlich um einen Krieg zur Wiederherstellung der Union handle. Warum weigerte sich Lincoln, in einem Krieg gegen eine Sklavenhaltergesellschaft eine Beseitigung der Sklaverei zum Kriegsziel zu erklären? Er wusste, dass seine Wahl zum Präsidenten kein Mandat zur Beseitigung der Sklaverei enthielt. Er hatte sich im Wahlkampf wiederholt gegen eine Ausweitung der Sklaverei nach Westen ausgesprochen, jedoch hatte er bewusst kein Ende der Sklaverei im Süden gefordert. Lincoln hatte in den Nordstaaten weniger als 40 Prozent der Stimmen erhalten. Nur dem amerikanischen Mehrheitswahlsystem und der Uneinigkeit der Demokraten, sich auf einen Kandidaten zu einigen, war es zuzuschreiben, dass Lincoln mit einem solch geringen Stimmenanteil gewählt worden war. Eine frühe Initiative zur Beseitigung der Sklaverei hätte vor diesem Hintergrund bedeutet, dass seine unnachgiebige Haltung dem Süden gegenüber als Verschwörung hätte gedeutet werden können, einen Krieg bewusst herbeizuführen, um die Sklaverei zu beseitigen. Indem er Sklaverei zunächst nicht thematisierte, machte Lincoln deutlich, dass es ihm nur um eine Beendigung des Krieges und um eine Wiederherstellung der Union ging. Nach anderthalb Jahren des Krieges erließ er die vorläufige Emanzipationsproklamation. Bis zu diesem Zeitpunkt war deutlich geworden, dass der Süden nicht auf das Angebot des Präsidenten eingehen würde, unter Beibehaltung der Sklaverei wieder in die Union einzutreten. In der vorläufigen Emanzipationsproklamation kündigte Lincoln an, dass allen Sklaven der Südstaaten am 1. Januar 1863 die Freiheit gewährt würde, sofern sich die Südstaaten bis dahin nicht wieder der Union angeschlossen hätten.3 Als die Südstaaten nicht auf seine Initiative reagierten, erließ Lincoln am Neujahrstag 1863 die Emanzipationsproklamation. Das Dokument ist von zentraler Bedeutung für die amerikanische Geschichte, weil ein entscheidendes Element 3 | Über das, was passiert wäre, wenn die Südstaaten Lincolns Angebot angenommen hätten, kann nur spekuliert werden. Vielleicht hätte die Sklaverei bis weit ins 20. Jahrhundert angedauert; Lincoln würde deshalb als schlechtester Präsident in der amerikanischen Geschichte angesehen werden. Die Südstaaten weigerten sich jedoch – wie Lincoln vorausgesehen hatte – wieder in die Union einzutreten. Sie definierten sich als Sklavenhaltergesellschaft und nicht als Teil der amerikanischen Union und verbanden ihr zukünftiges Schicksal mit der Entscheidung zur Unabhängigkeit.

Rassenbeziehungen in Amerika, 1770 bis 1945

der bisherigen politischen und wirtschaftlichen Identität der Südstaaten, die Sklaverei, von einem Augenblick auf den anderen für unzulässig erklärt worden war. Nach dem 1. Januar 1863 konnte kein Zweifel mehr daran bestehen, dass der Bürgerkrieg zu einem Krieg mit dem Ziel einer vollständigen Beseitigung der Sklaverei geworden war. Der Erlass der Emanzipationsproklamation hatte unmittelbare praktische Folgen für die Kriegsführung der Union. Ab 1863 wurden Schwarze für den Dienst in der Unionsarmee rekrutiert. Gegen Ende des Krieges dienten etwa 200.000 Schwarze in der Armee; etwa jeder vierte Unionssoldat war schwarz. Die Tatsache, dass Schwarze in der Armee kämpften, ist auch deshalb von Bedeutung, weil es bis heute eine Diskussion darüber gibt, wer die Schwarzen befreit habe. War Lincoln der große weiße Emanzipator, dem die Schwarzen ihre Freiheit verdanken? Ober haben sich die Sklaven durch ihren Militärdienst selbst emanzipiert? Wahrscheinlich war ein Zusammentreffen beider Faktoren verantwortlich. Die Sklaven waren ebenso auf einen Präsidenten angewiesen, der ihr Anliegen mit Sympathie betrachtete, wie auch Lincoln ohne die militärische Unterstützung der Schwarzen den Krieg im Frühjahr 1865 nicht hätte beenden können. Die Emanzipationsproklamation war eine Kriegsmaßnahme, die durch einen verfassungsrechtlichen Akt in einen Dauerzustand überführt werden musste. Noch während des Krieges begannen die Vorbereitungen für einen Zusatz zur amerikanischen Verfassung. Im Dezember 1865 wurde der 13. Zusatz angenommen: Weder Sklaverei noch Zwangsdienstbarkeit darf, außer als Strafe für ein Verbrechen, dessen die betreffende Person in einem ordentlichen Verfahren für schuldig befunden worden ist, in den Vereinigten Staaten oder in irgendeinem Gebiet unter ihrer Gesetzeshoheit bestehen.

Dieser Verfassungszusatz setzt sich aus zwei Teilen zusammen, zunächst einem grundlegend erscheinenden Verbot der Sklaverei. Er enthält aber auch eine Möglichkeit, Sklaverei als Strafe wieder aufleben zu lassen. Das eröffnete den Gegnern der Schwarzen die Möglichkeit, durch die Neuformulierung von Gesetzestexten, den black codes – Bestimmungen, die sich primär gegen Schwarze richteten – sklavereiähnliche Zustände wiedereinzuführen. Dass dies geschah, war eine der vielen Enttäuschungen der folgenden Phase der Reconstruction.

V on der R econstruction zur R esegregation Der amerikanische Bürgerkrieg endete im Frühjahr 1865 mit der Kapitulation der Armeen der Südstaaten. Die Politik des Landes wurde in den folgenden 15 Jahren von zwei Fragen dominiert: Wie konnten die Südstaaten wieder in den amerikanischen Staatsverband integriert werden? Ebenso wichtig war die zweite Frage, wie die ehemaligen Sklaven in die amerikanische Gesellschaft eingegliedert werden

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sollten. Sollten ihnen alle politischen Rechte (einschließlich des Wahlrechts) zustehen? Oder sollte unterhalb des regulären Bürgerrechts, das für Weiße reserviert sein würde, ein weniger umfassendes Recht für Schwarze geschaffen werden? Die in der amerikanischen Geschichtswissenschaft als Reconstruction bezeichnete Phase der Jahre 1865 bis etwa 1880 sah zunächst ernsthafte Bemühungen seitens der Republikanischen Partei, das Schicksal der Schwarzen zu verbessern. In der Rückschau muss diese Phase jedoch als wenig erfolgreich bezeichnet werden, weil keine nachhaltigen Strukturen einer Integration von Schwarzen geschaffen worden waren. Dies wurde deutlich, als auf die Reconstruction eine Phase drastischer Einschränkungen schwarzer Bürgerrechte folgte – Resegregation. Die rechtliche und gesellschaftliche Lage der Schwarzen unmittelbar nach dem Bürgerkrieg war in gewisser Weise noch schlechter als zu Zeiten der Sklaverei. Der Schwarze war nun zwar kein Eigentum seines master mehr, aber was sollte er mit seiner neugewonnenen Freiheit anfangen? Wie sollte er sich und seine Familie ernähren? Eine wirtschaftliche Emanzipation der zuvor recht- und eigentumslosen Schwarzen ist nach dem Krieg nie debattiert worden. Nicht einmal der Schutz, den ein master seinen Sklaven zuvor hatte zukommen lassen, um seine finanzielle Investition zu schützen, war nun gegeben. Der Historiker Thomas Holt machte dies am Beispiel schwangerer Sklavinnen deutlich. Sie wurden nicht selten von schweren Arbeiten befreit, weil ein gesundes Kind später gewinnbringend verkauft werden konnte. Ohne das Anrecht auf das Kind seiner Sklavin sank das Interesse am Wohlbefinden schwangerer schwarzer Frauen und sie wurden häufig der Plantage verwiesen, wenn sie nicht arbeiten konnten (174). Der ehemalige Sklave und schwarze Bürgerrechtler Frederick Douglass brachte die Probleme der Schwarzen auf die Formel: He had neither money, property, nor friends. He was free from the old plantation, but he had nothing but the dusty road under his feet. He was free from the old quarter that once gave him shelter, but a slave to the rains of summer and the frosts of winter. He was turned loose, naked, hungry, and destitute to the open sky. (Douglass 458)

Die ehemaligen Sklaven besaßen kein Land. Und hätten sie Land gehabt, hätte ihnen das Kapital gefehlt, um es zu bewirtschaften und Saatgut, Tiere und Maschinen zu kaufen. Auch die Kenntnisse, eigenverantwortlich für sich und den Markt zu produzieren, fehlten. Zu einer weitverbreiteten Produktionsweise entwickelte sich im Süden deshalb das sharecropping. Der sharecropper, zumeist ein befreiter Sklave, hatte nichts als seine Arbeitskraft anzubieten und bearbeitete ein Feld für einen Teil der Ernte. Anders als ein Farmer war der sharecropper nicht frei in der Wahl der Früchte, die er anbaute und oftmals war er bei seinem Gutsbesitzer verschuldet. Somit änderte sich nicht viel an der sozialen und ethnischen Aufspaltung der Agrargesellschaft. In den ersten Nachkriegsjahren bestand jedoch noch Hoffnung auf eine Verbesserung der Lage der Schwarzen, weil sich die Republikanische Partei zu ihrem

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Fürsprecher gemacht hatte. Der Partei gelang es, zwei weitere wichtige Verfassungsergänzungen durchzusetzen. So definierte der 14. Verfassungszusatz von 1868, dass alle Personen Bürgern der Vereinigten Staaten seien, die dort geboren worden waren. Es durfte mithin keine andere Rechtskategorie für Schwarze geschaffen werden, die ihnen geringere politische Mitbestimmungsrechte zuwies. Außerdem durfte kein Einzelstaat Gesetze erlassen, die die Vorrechte oder Freiheiten von Bürgern beschränkten; kein Staat durfte einen Bürger ohne ordentliches Gerichtsverfahren (»due process of law«) verurteilen oder den gleichen Schutz durch das Gesetz (»equal protection of the law«) versagen.4 Der 15. Verfassungszusatz (1870) erklärte, dass das Wahlrecht der Bürger der Vereinigten Staaten oder einem Einzelstaat nicht aufgrund der Herkunft, der Hautfarbe oder des vormaligen Dienstbarkeitsverhältnisses versagt oder beschränkt werden durfte.5 Die drei Verfassungszusätze der Reconstruction-Phase machen einerseits das Interesse der Politik an einer Verbesserung der Lebensbeziehungen der Schwarzen deutlich. Andererseits müssen diese amendments als Reaktion auf Versuche der weißen Südstaatenbevölkerung verstanden werden, den Schwarzen das Bürger- und Wahlrecht vorzuenthalten und sie im Zustand einer fortgesetzten politischen Entrechtung zu halten. Dazu wurden in vielen Südstaaten black codes erlassen. Es handelte sich dabei um Gesetze gegen Schwarze bzw. deren Rechte. Die black codes erschienen in unterschiedlichen Formen: unmittelbare Diskriminierung wie in Mississippi, Louisiana und South Carolina und mildere Formen wie in North Carolina und Virginia. In Mississippi etwa konnten Schwarze kein Land pachten, sondern mussten für Weiße arbeiten. Sie durften keine Waffen tragen und keinen Alkohol trinken. Mississippi begann außerdem, Schwarze von Wahlen auszuschließen. Dort wurde 1890 eine verfassungsgebende Versammlung einberufen, die die Wahlrechtsbestimmungen aus dem Jahr 1868 zu ändern versuchte. So musste zunächst ein zweijähriger Aufenthalt im Staat und im Wahlbezirk nachgewiesen werden, um zur Wahl zugelassen zu werden. Das wirkte sich besonders negativ auf schwarze Wanderarbeiter aus. Daneben musste ein Lese- und Verständnistest absolviert werden. In anderen Staaten wie South Carolina konnten auch Analphabeten wählen, wenn sie Grundbesitz hatten, dessen Wert mehr als 300 Dollar betrug. Louisiana erlaubte jenen das Wählen, deren Vorfahren am 1. 4 | Der 14. Zusatz zur Verfassung: »All persons born or naturalized in the United States, and subject to the jurisdiction thereof, are citizens of the United States and of the State wherein they reside. No State shall make or enforce any law which shall abridge the privileges or immunities of citizens of the United States; nor shall any State deprive any person of life, liberty, or property, without due process of law; nor deny to any person within its jurisdiction the equal protection of the laws.« 5 | Der 15. Zusatz zur Verfassung: »The right of citizens of the United States to vote shall not be denied or abridged by the United States or by any State on account of race, color, or previous condition of servitude.«

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Januar 1867 wahlberechtigt gewesen waren. Das schloss Schwarze aus. Die Folgen dieser Bestimmungen wurden schnell deutlich. So gab es in Louisiana 1896 130.000 registrierte schwarze Wähler, vier Jahre später nur noch 5.300 – ein Rückgang von über 95 Prozent. Diese rechtlichen Rückschritte in den Südstaaten gegen Ende des 19. Jahrhunderts standen stellvertretend für den Trend in den Rassebeziehungen der gesamten USA bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Auf den ersten Blick ist dies schwer verständlich. Man hatte im Bürgerkrieg unter großen Opfern im Norden wie im Süden für die Einheit des Landes und für die Emanzipation der Sklaven gekämpft. Nachdem dieses Ziel erreicht war, hatten sich die freien Schwarzen weitgehend friedlich in die Gesellschaft zu integrieren versucht. Es hatte keine breit angelegten Racheakte an ehemaligen Besitzern gegeben; die freien Schwarzen nahmen wieder die anstrengendsten Arbeiten auf den Farmen an. Wenn die Integration scheiterte, dann lag es am mangelnden Willen der Weißen. Wie ist das zu erklären? Ein erster Grund für die zunehmende Vernachlässigung schwarzer Interessen in Amerika hatte mit der Parteipolitik zu tun. Mitte der 1870er Jahre verlor die Republikanische Partei – die Partei Abraham Lincolns und anderer führender Abolitionisten – das Interesse an den Belangen der Schwarzen. Frühere Protagonisten des Kampfes für die Schwarzen, wie der Abgeordnete Thaddeus Stevens und der Senator Charles Sumner, waren bereits 1868 und 1874 gestorben. Der republikanische Präsidentschaftskandidat des Jahres 1876, Rutherford B. Hayes, trat mit einem Wahlprogramm an, das den Ausgleich zwischen den ehemals verfeindeten Landesteilen Nord und Süd in den Mittelpunkt stellte. In seiner Amtszeit wurden die letzten Besatzungssoldaten aus dem Süden abgezogen. Die Reconstruction wurde für beendet erklärt; der Bürgerkrieg und seine Folgen waren Geschichte. Die Republikanische Partei suchte nun nach einer neuen, stabilen Wählerklientel und verlor dabei die Schwarzen aus den Augen. Zuerst ging es darum, die Wählerbasis im Süden zu stärken, indem man auf die weiße Bevölkerung, die bis dahin demokratisch gewählt hatte, zuging. Auch als es den Republikanern Mitte der 1890er Jahre gelang, zur dominierenden Partei des Landes aufzusteigen, ging dies zu Lasten der Schwarzen, auf deren Stimmen man nun nicht länger angewiesen war. Als in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts aufgrund einer stetigen Zunahme der schwarzen Bevölkerung (Tabelle 4) eine Migrationswelle von Schwarzen aus dem Süden in den Norden einsetzte, kam es auch dort zu Ausschreitungen gegen sie. Im Jahr 1908, fast einhundert Jahre nach der Geburt Abraham Lincolns, kam es in Springfield, Illinois, wo der »große Emanzipator« seine politische Karriere gestartet hatte, zu rassistisch motivierten Übergriffen von Weißen auf Schwarze, denen Dutzende Bürger zum Opfer fielen.

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Tabelle 4: Die schwarze Bevölkerung der USA, 1880-1940 (Finzsch 377)

Jahr

schwarze Bevölkerung

1880

850.000

1890

1.320.000

1900

1.480.000

1910

2.690.000

1920

3.560.000

1930

5.200.000

1940

6.250.000

Am systematischsten war jedoch die Einschränkung der Freiheitsrechte im Süden, wo in den 1880er Jahren eine Rassentrennung öffentlicher Räume einsetzte. Im Jahr 1888 schrieb der Staat Mississippi die Rassentrennung in Eisenbahnwagen vor. Da Züge zumeist über eine Reihe von Waggons verfügten, schien dies eine Möglichkeit zu sein, die Rassen zu trennen, ohne die eine schlechter zu behandeln als die andere. Der Staat Louisiana folgte zwei Jahre später mit dem Railway Accommodations Act. Das Gesetz verlangte, dass alle Züge mit Waggons ausgestattet werden, »to provide equal but separate accommodations for the white and colored races, by providing separate coaches or compartments so as to secure separate accommodations« (Blaustein und Zangrando 297). Die Frage stellt sich, warum der öffentliche Raum ethnisch getrennt werden sollte. Wer hatte daran ein Interesse? Entsprechende Gesetze wurden vor allem dort verabschiedet, wo sich Abgeordnete als Repräsentanten armer Weißer verstanden. Die erzwungene Abschottung mag dem Wunsch einer wirtschaftlich prekären Gesellschaftsschicht geschuldet gewesen sein, sich von einer rassisch noch schlechter angesehenen Gruppe abzusetzen. Eine solche Interpretation erscheint insofern plausibel, da die gleiche Gruppe armer Weißer aus den Südstaaten einst auch die Sklaverei unterstützt hatte, obwohl sie nicht unmittelbar wirtschaftlich von ihr profitierte. Eine andere Interpretation weist darauf hin, dass die Resegregation des öffentlichen Raumes etwa eine Generation nach Ende des Bürgerkrieges eingesetzt hat. Seit dem Bürgerkrieg war eine neue Generation von Schwarzen herangewachsen, die das Leben auf den Plantagen und die einstmals

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erzwungene Unterwürfigkeit gegenüber den Weißen nicht mehr kennen gelernt hatte. Die Rassentrennung war mithin ein Versuch der sozialen Kontrolle über die Interaktion der Rassen untereinander. Der Louisiana Railway Accommodations Act wurde angefochten und ging als Plessy v. Ferguson in die Verfassungsgeschichte ein. Der Fall nahm seinen Anfang, als sich Homer Plessy weigerte, einen für Weiße reservierten Eisenbahnwagen auf dem Weg von New Orleans nach Covington, Louisiana zu verlassen.6 Seine Anwälte erklärten, dass die erzwungene Rassentrennung mit den amerikanischen Vorstellungen von Bürgerrechten und insbesondere dem 14. Verfassungszusatz unvereinbar sei. Dennoch wurde er verurteilt. Der Fall landete schließlich vor dem Obersten Gerichtshof Louisianas, der erklärte, dass gegen eine Trennung der Rassen nichts einzuwenden sei. Schließlich wurde der Fall in Washington vor dem Supreme Court behandelt. Die Antragsteller argumentierten, dass ein Staatsgesetz, das die Trennung der Rassen einfordere, gegen Menschenrechte verstoße und die Sklaverei wiederaufleben lasse. Eine Trennung der Rassen, so sagten die Antragsteller voraus, diene niemals den Interessen des schwächeren Teils der Gesellschaft, sondern immer nur den Interessen der Herrschenden. Deshalb sei die Vorstellung von separate but equal irreal. Die Gegenseite argumentierte, dass genau diese Gleichheit gesichert sei. Damit war klar, worum es in dem Verfahren ging: Konnte »Rasse« als Merkmal für eine Unterscheidung zwischen Bürgern herangezogen werden, wenn es nicht um eine intendierte Schlechterstellung ging, die definitiv verboten war? Am 18. Mai 1896 entschied das Gericht, dass das Gesetz von Louisiana verfassungskonform sei. Der Supreme Court legte die Bestimmung des 14. Verfassungszusatzes sehr eng aus. Zwar dürften die Einzelstaaten nicht direkt in die Rechte der Schwarzen eingreifen, aber das sei mit der Bestimmung auch gar nicht beabsichtigt. Die Rassen sollten zwar voneinander getrennt, aber gleich behandelt werden – separate but equal: Ein Gesetz, das lediglich eine rechtliche Unterscheidung zwischen der weißen und der schwarzen Rasse beinhaltet – eine Unterscheidung, die auf der Hautfarbe der beiden Rassen beruht, und die immer bestehen wird, solange weiße Menschen von denen der anderen Rasse aufgrund ihrer Hautfarbe unterscheidbar sind – hat nicht die Absicht, die rechtliche Gleichheit beider Rassen zu untergraben. […] Das Ziel des 14. Verfassungszusatzes war ohne Zweifel, die absolute Gleichheit beider Rassen vor dem Gesetz durchzusetzen, aber es liegt in der Natur der Sache, dass es nicht das Ziel sein konnte, auf der Hautfarbe basierende Unterschiede abzuschaffen, oder, im Unterschied zu politischer, soziale Gleichheit oder eine Vermischung der beiden Rassen durchzusetzen zu Bedingungen, die für beide unbefriedigend sind. (»Plessy«)

6 | Plessy, der zu einem Achtel schwarz war, erschien einem Betrachter als Weißer. Für den vorliegenden Fall war dies deshalb von Bedeutung, weil auf die Willkürlichkeit der Klassifikation von Menschen als »weiß« bzw. »schwarz« hingewiesen werden sollte.

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Einige Historiker des späten 20. Jahrhunderts haben die Plessy-Entscheidung als juristisch unhaltbar bezeichnet und als offen rassistisch verurteilt; andere haben darauf hingewiesen, dass sich die Interpretation der Verfassungszusätze während der Phase der Reconstruction durch das Gericht im Fall Plessy nahtlos in den Kontext eines von den Südstaaten dominierten Rassediskurses um die Wende des 20. Jahrhunderts einfügt. Wie beim 13. Verfassungszusatz – der Sklaverei grundsätzlich verbot, sie aber als Strafe nach einer Verurteilung hinnahm – gibt es auch beim 14. Verfassungszusatz keine eindeutige Lesart der Bestimmung. Was genau bedeuten die Bestimmungen »equal protection of the law« und »due process«? Kann und darf die Formel separate but equal damit zugelassen werden? Der Rechtshistoriker Michael J. Klarman bezweifelt gar, dass der Supreme Court eine andere Interpretation des 14. Verfassungszusatzes im Klima der damaligen Rassediskussion hätte durchsetzen können. Wenn das Gericht dies versucht hätte, wären gewalttätige Auseinandersetzungen zu erwarten gewesen (21). Noch Mitte des 20. Jahrhunderts versuchte ein Mob in Little Rock, Arkansas, die Desegregation der dortigen high school zu verhindern. Allerdings, und das erscheint in der Tat bemerkenswert, entstammten fast alle Richter des Supreme Court während der Jahrhundertwende dem Norden. Dort hatten sie studiert und wurden entsprechend sozialisiert. Der konservativen Südstaatenelite war es offenkundig gelungen, die nationale Rassendebatte zu dominieren. Die nordstaatlichen Richter hatten die im Süden entwickelte Vorstellung einer Separierung der Rassen in nationale Rechtsprechung überführt. Nachdem der Oberste Gerichtshof die Rassentrennung gewissermaßen legitimierte, weitete sie sich rasch aus: Hotels, Restaurants, Straßenbahnen, Busse, Schulen und viele andere öffentliche Institutionen des Südens wurden nach rassischen Merkmalen getrennt. Diese Bestimmungen blieben bis weit nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Kraft.

D as Z eitalter der L ynchmorde und des K u -K lux-K l ans Die Rassentrennung seit dem späten 19. Jahrhundert war jedoch nur der erste Schritt in Richtung einer Rücknahme der durch den Bürgerkrieg und der Epoche der Reconstruction erzielten Errungenschaften. Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts begann eine Phase der Diskriminierung der Schwarzen und es kam zur offenen Gewaltandrohung und -anwendung, um die Schwarzen in einen Zustand der Rechtlosigkeit zu überführen. In den Jahren 1890 bis 1910 kam es zu Hunderten von Lynchmorden, deren Opfer überwiegend schwarz waren.7 Lynchmorde hatten den Zweck, die Grenze zwischen den Rassen tatsächlich und symbolisch aufrechtzuerhalten. Es waren Akte rassischer Kontrolle und Herrschaft. Lynchmorde fanden in keinem recht7 | Andere Opfer von Lynchmorden waren Mexikaner, Chinesen und Native Americans. Im März 1891 wurden in New Orleans elf Italiener ermordet.

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losen Land ohne funktionierende Gerichtsbarkeit statt. Im Gegenteil: Sie scheinen eine Reaktion auf einen als abstrakt empfundenen Rechtsprozess gewesen zu sein; der Mob hatte den Wunsch nach einer unmittelbaren Bestrafung einer rassisch motivierten Rechtsverletzung (Berg x). Entsprechend direkt und drastisch waren die Lynchmorde. Bei ihnen kam es nicht nur darauf an, einen (vermeintlichen) Mörder, Vergewaltiger oder Dieb zu exekutieren, wie es auch der Staat getan hätte. Stattdessen sollte dies in aller Öffentlichkeit und sofort geschehen. Dabei wurde das Opfer in mehrfacher Hinsicht »übertötet«. So wurde der Schwarze Sam Hose im April 1899 in Georgia aufgrund des (fälschlicherweise angenommenen) Mordes an seinem Arbeitgeber und der (vermuteten) Vergewaltigung von dessen Frau zunächst auf einem Scheiterhaufen gefesselt. Bevor dieser angezündet wurde, schnitt man Hose die Ohren und die Finger ab. Nachdem er auf dem Scheiterhaufen gestorben war, wurde sein Körper zerschnitten. Die Organe wurden in kleine Stücke zerhackt und die Knochen zerschlagen (91). Eine Generation später, im Mai 1930, wurde in Sherman, Texas George Hughes nachts von einem Mob aus seiner Gefängniszelle des court house gewaltsam entführt. Hughes stand im Verdacht, eine weiße Frau geschlagen zu haben. Bei der Entführung aus dem Gefängnis starb Hughes; vermutlich brachte ihn die Dynamitladung um, die eingesetzt wurde, um in das Gebäude einzudringen. Hughes Leichnam wurde an einem Baum aufgehängt. Darunter entzündete man ein Feuer. Das alleine reichte der Menge aber noch nicht. Sie stürmte alle Geschäfte in Sherman, die Schwarzen gehörten und zerstörte sie (E. H. Phillips). Die Öffentlichkeit spielte bei diesen Lynchmorden eine wichtige Rolle. Alle Zuschauer machten mit ihrer Anwesenheit deutlich, dass sie die gesellschaftlichen Ziele des Lynchmobs unterstützten. Die Lynchmorde haben tiefe Spuren in der amerikanischen Geschichte hinterlassen. Bis heute leben nur sehr wenige Schwarze in Sherman. Die schwarze Sängerin Billie Holiday hat den Lynchmorden mit ihrem Lied »Strange Fruit«, Text von Abel Meeropol, ein bewegendes und bitteres Andenken geschaffen. Southern trees bear a strange fruit, Blood on the leaves and blood at the root, Black bodies swinging in the southern breeze, Strange fruit hangin’ from the poplar trees, Pastoral scene of the gallant south, The bulging eyes and the twisted mouth, Scent of magnolias sweet and fresh, Then the sudden smell of burning flesh, Here is a fruit for the crows to pluck, For the rain to gather, for the wind to suck, For the sun to rot, for the tree to drop, Here is a strange and bitter crop, […]

Rassenbeziehungen in Amerika, 1770 bis 1945

Tabelle 5: Die Zahl schwarzer Lynchmorde, 1877-1950 (»Lynching in America« 16) Staat

Zahl der Lynchmorde

Alabama

326

Arkansas

503

Florida

331

Georgia

586

Kentucky

154

Louisiana

540

Mississippi

576

North Carolina

102

South Carolina

164

Tennessee

225

Texas

376

Virginia

76

zusammen

3.959

Lynchmorde waren die brutalste Form der Gewalt gegen Schwarze in den letzten Jahrzehnten des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Noch weiter verbreitet war die Mitgliedschaft im Ku-Klux-Klan. Der Klan war zum ersten Mal unmittelbar nach Ende des Bürgerkrieges von Südstaatenveteranen gegründet worden. Das Ziel war es, eine weiße Vorherrschaft in den Südstaaten vor dem Hintergrund der Reconstruction-Politik zu bewahren. Dies war nur bedingt erfolgreich; der Klan wurde 1870 als Teil der republikanischen Bemühungen um die Schwarzen aufgelöst. Im Jahr 1915 wurde das Andenken an den Ku-Klux-Klan mit dem Film The Birth of a Nation jedoch erneut belebt und glorifiziert. Der Film interpretiert den Bürgerkrieg und die Nachkriegsphase um. Es geht nun nicht mehr um die Befreiung der Sklaven, sondern um die Bedrohung, die sich aus der Emanzipation der Schwarzen für die weiße amerikanische Bevölkerung ergibt. Der Film spielt offen mit bestimmten Stereotypen und stellt Schwarze als brutal und lüstern dar. Er scheut sich nicht, eine antischwarze Stimmung zu erzeugen und Sachverhalte zu verfälschen. In einer Szene im zweiten Teil des Films, der sich mit der Reconstruction befasst, sieht man ein Staatsparlament, in dem sich ungebührlich benehmende schwarze Abgeordnete – sie trinken Alkohol, lachen laut, ziehen sich die

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Schuhe aus und legen die Beine auf ihren Schreibtisch – offensichtlich eine Mehrheit innehaben. Eine solche Mehrheit von Schwarzen in einem Staatsparlament hat es aber nie gegeben. So saßen im Abgeordnetenhaus von Georgia 1868 186 weiße und 33 schwarze Abgeordnete. In Alabama betrug das Verhältnis 106 zu 27. Zu den Helden des Films werden die Reiter des Ku-Klux-Klans stilisiert, die in einer entscheidenden Szene eine Gruppe verängstigter Weißer (darunter eine Anzahl junger Frauen) vor der Schändung und der Tötung durch Schwarze schützen. Der Film war seinerzeit äußerst erfolgreich; auch Präsident Woodrow Wilson sah ihn in einer Sondervorführung im Weißen Haus. Nicht zuletzt wegen des Films wurde der Klan erneut populär. Zu Demonstrationen fanden sich häufig tausende Personen ein. Nach Schätzungen waren in den 1920er Jahren drei bis sechs Millionen Amerikaner Mitglieder des Klans. Ein weiblicher Ableger, Women of the Ku Klux Klan, hatte etwa eine Million Mitglieder. Die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre traf Amerikas Schwarze in ganz besonderem Ausmaß, weil sie die schlechtesten Tätigkeiten innehatten und selten über finanzielle Rücklagen verfügten. Der New Deal, Präsident Franklin D. Roosevelts Programm zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und der mangelnden Wirtschaftsnachfrage, hatte keine speziellen Elemente für Schwarze. Eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage deutete sich erst im Verlauf des Zweiten Weltkriegs an.

A merik anische K riege und die R assenbeziehungen Dass der Zweite Weltkrieg die Rassenbeziehungen nachhaltig verändert hatte, mag zunächst nicht überraschen. Alle amerikanischen Kriege – der Revolutionskrieg, der Mexikanisch-Amerikanische Krieg von 1846-48, der Bürgerkrieg, der Krieg von 1898, beide Weltkriege und die Kriege in Korea und Vietnam – haben die Beziehungen zwischen Weißen und Schwarzen in den USA beeinflusst. Das Verhältnis von Krieg und Rassenbeziehungen stellt sich dabei jedoch jeweils äußerst komplex und widersprüchlich dar. Einerseits führte der Krieg gegen England von 1775 bis 1781 zum Ende der Sklaverei in den Nordstaaten. Andererseits gab erst der militärische Erfolg gegen die europäische Kolonialmacht den Südstaaten die Möglichkeit, Sklaverei bis 1865 weiterzuführen. Kein europäischer Staat nutzte zu diesem Zeitpunkt noch Sklaverei oder Leibeigenschaft. Zweifelsfrei wäre Sklaverei in Amerika eher beendet worden, wenn sich der englische König gegen die rebellischen Kolonien durchgesetzt hätte. Der Amerikanisch-Mexikanische Krieg hatte die gravierendsten negativen Folgen für die Schwarzen, weil die USA neue Gebiete im Süden und im Südwesten hinzugewannen, in denen die Sklaverei eingeführt und die Institution der Sklaverei selbst gestärkt werden konnte. Der Bürgerkrieg führte mit der Emanzipationsproklamation und der Verabschiedung des 13. Verfassungszusatzes zum Ende der Sklaverei. Schwarze dienten ab 1863 im Bürgerkrieg in den Unionsstreitkräften; dennoch verweigerte die weiße Süd-

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staatenbevölkerung den Schwarzen später die vollen Bürgerrechte, einschließlich des Wahlrechts. Der Krieg von 1898 und der Erste Weltkrieg hatten das Potenzial, die Beziehungen zwischen den Ethnien zu verbessern, indem weiße und schwarze Soldaten (wenngleich in rassisch getrennten Einheiten) gemeinsam gegen den Feind Spanien bzw. Deutschland kämpften. Das Vermächtnis beider Kriege war jedoch ein anderes. Schwarze Soldaten, die 1898 aus dem Westen der USA nach Süden gebracht wurden, um von Florida aus nach Kuba einzuschiffen, wurden auf ihrem Transport durch die Südstaaten von der dortigen weißen Bevölkerung beschimpft und attackiert. Die schwarzen Soldaten setzten auf den gleichen Schiffen über wie weiße Truppeneinheiten; auf den Schiffen waren sie jedoch streng nach Rassen getrennt; insbesondere war Schwarzen das Betreten des Oberdecks untersagt. Der Kaplan eines schwarzen Regiments, George W. Prioleau, erinnerte sich unmittelbar nach dem Krieg in einem Zeitungsartikel mit Abscheu daran, wie seine Kameraden behandelt worden waren. Es erinnerte ihn an die schlimmsten Zeiten der Sklaverei: You talk about freedom, liberty etc. Why sir, the Negro of [America] is a freeman and yet a slave. Talk of fighting and freeing poor Cuba and Spain’s brutality of Cubans murdered by the thousand, and starving reconcentradoes. Is America any better than Spain? Has she not subjects in her midst who are murdered daily without trial, judge or jury? Has she not subjects in her own borders whose children are half-fed and half-clothed, because their father’s skin is black? (Prioleau zit. in Gatewood 28)

Auch zwanzig Jahre später zeigte sich ein Bild der Enttäuschung. Im Ersten Weltkrieg kämpften etwa 200.000 schwarze Soldaten in Frankreich. Der Rassismus der amerikanischen Armee setzte sich auch hier fort. Schwarze Soldaten dienten in segregierten Einheiten und sollten auch in Europa so wenig Kontakt wie möglich mit der französischen Bevölkerung haben. Die Rassenbeziehungen in Amerika verbesserten sich nach diesen beiden Kriegen deshalb nicht, weil die Schwarzen davon ausgegangen waren, dass sie durch den Dienst an der Nation die Gleichberechtigung verdient hätten. So schrieb der schwarze Bürgerrechtler W.E.B. Du Bois im Mai 1919 in der Zeitschrift der Bürgerrechtsorganisation National Association for the Advancement of Colored People (NAACP), The Crisis, dass die Schwarzen Amerikas »Feiglinge« seien, wenn sie nach dem Ende des Krieges in Europa nicht »jede Unze ihres Gehirns und ihrer Muskeln« für den Kampf um Gleichberechtigung im eigenen Land einsetzen würden. Ein schwarzer Journalist erwartete, dass »die Männer, die vor den Truppen Deutschlands keine Angst hatten, niemals vor dem gesetzlosen Ku Klux Klan davonlaufen würden« (zit. in Klarman 104). Die weiße Bevölkerung war jedoch noch nicht bereit, den Kriegsdienst von 1898 und 1917/18 auf diese Weise zu honorieren. Die Erfahrung dieser Kriege war für Amerikas Schwarze durchweg negativ. Sie hatten versucht, über den Dienst mit der Waffe Anerkennung und Integration in der Gesellschaft zu

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erlangen. Vielleicht erklärt sich der offen zur Schau gestellte Rassismus der amerikanischen Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts gerade aus dem Bestreben der Weißen heraus, den Schwarzen trotz ihrer Dienstbereitschaft für den Staat die Anerkennung als gleichwertige Bürger verwehren zu können. Für das weitere Schicksal von Amerikas Schwarzen sollten sich der Zweite Weltkrieg und der Koreakrieg zu den wichtigsten Kriegen herauskristallisieren. Bemerkenswerterweise war das bereits den Zeitgenossen bewusst gewesen. Der Bedarf an Soldaten und Arbeitskräften in Kriegszeiten stellte eine Chance für die Schwarzen dar. Präsident Franklin D. Roosevelt unterzeichnete im Juni 1941 Executive Order 8802, mit der eine rassische Diskriminierung von Arbeitern der Rüstungsindustrie verboten wurde. Drei Millionen schwarze Amerikaner dienten ihrem Land im Krieg. Die Bedeutung des Zweiten Weltkriegs für die Schwarzen Amerikas lag jedoch noch tiefer. Kurz vor Kriegsende erschien die Studie An American Dilemma des schwedischen Soziologen Gunnar Myrdal. Darin erklärte er, dass das Problem der Schwarzen für die große Mehrheit der weißen Amerikaner eine deutlich negative Konnotation besitze. Das Problem der Schwarzen deute auf etwas hin, das »schwierig zu lösen und schwierig zu ignorieren« sei. Das Schicksal der Schwarzen mache das weiße Amerika verlegen; es sei »moralisch unangenehm«: Die bloße Gegenwart des Negers in Amerika, sein Schicksal in diesem Land in der Phase der Sklaverei, des Bürgerkriegs und der Reconstruction, sein Aufstieg in jüngster Zeit und sein gegenwärtiger Status, sein Protest und seine Erwartungen, im Grunde seine gesamte biologische, historische und soziale Existenz als Mitglied der amerikanischen Gesellschaft, stellt für den Weißen im Norden wie im Süden eine Anomalie in der Struktur der amerikanischen Gesellschaft dar. Für viele nimmt dies das Ausmaß einer Bedrohung an – biologisch, ökonomisch, sozial, kulturell und manchmal politisch. Diese Angst kann sich zusammentun mit einem Gefühl der individuellen und kollektiven Schuld. (Myrdal xlv)

Myrdal sah voraus, dass der Zweite Weltkrieg eine herausragende Bedeutung für die Zukunft der Schwarzen in Amerika haben würde. »Dieser Krieg ist zentral für die Zukunft des Negers, und die Negerproblematik ist zentral in diesem Krieg. Es wird eine Neudefinition des Status des Negers in Amerika als Ergebnis des Krieges geben« (997). Der Zweite Weltkrieg sei ein ideologischer Krieg zur Verteidigung der Freiheit. Dieser ideologische Aspekt sei nach 1941 noch deutlicher ausgeprägt als im Ersten Weltkrieg, weil Amerika gegen totalitäre Diktaturen kämpfe. Amerikas Feinde – Faschismus und Nationalsozialismus – beruhten auf der Vorstellung einer rassischen Überlegenheit. Indem die USA gegen diese Ideologien kämpften, hätten sie sich der Welt gegenüber als Anhänger der Rassentoleranz und Rassengleichheit zu erkennen gegeben (1004). Myrdal zitiert den republikanischen Politiker Wendell Wilkie, der 1942 anlässlich der Jahrestagung der Bürgerrechtsorganisation NAACP erklärte: »When we talk of freedom and opportunity for all nations the mocking paradoxes in our own society become so clear they can no longer be

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ignored« (1009). Das Amerika, das den Rassismus im Ausland bekämpft, kann die ethnische Benachteiligung im eigenen Land nicht dulden. Wilkies Äußerung war jedoch voreilig. Fünf Jahre nach dem Ende des Weltkriegs waren Amerikas Schwarze erneut aufgerufen, für ihr Land zu kämpfen. In einer Besprechung des Buches Let Us Fight As Free Men der Historikerin Christine Knauer über die Erfahrungen schwarzer Soldaten im Koreakrieg schrieb ein Rezensent in der Zeitschrift Military Review, dass Amerika 1950 bis 1953 für Demokratie kämpfte, während es die eigenen Bürgerrechte ignorierte. »Hypocritically, the United States expected black men to fight for the country while it simultaneously upheld a caste system in the South« (Hewitt 128). Für die Historikerin Knauer stellte der Befehl des Präsidenten Harry S. Truman zur Beseitigung der Rassentrennung in den Streitkräften einen wichtigen Schritt hin zur Normalisierung der Rassenbeziehungen dar, ohne den die Bürgerrechtsbewegung der folgenden Jahrzehnte noch größere Schwierigkeiten gehabt hätte. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs als Auseinandersetzung für die Freiheit gegen rassisch hierarchisch strukturierte Staaten setzte in den USA in den 1950er Jahren eine neue Bürgerrechtsbewegung ein, die Vorurteile zu bekämpfen und für die Schwarzen eine rechtliche und wirtschaftliche Gleichstellung zu erreichen suchte. Dieser Prozess begann in den Südstaaten mit einzelnen Protesten gegen Diskriminierungen im öffentlichen Leben. Zentral für den Erfolg war jedoch, dass sich auch staatliche Institutionen seit den 1950er Jahren zunehmend der Gleichheit der Rassen verpflichtet fühlten. Die erwähnte Aufhebung der Rassentrennung in den Streitkräften war der erste Schritt; 1954 nahm der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung Brown v. Board of Education von der von ihm selbst geschaffenen separate but equal-Doktrin Abstand und verlangte ein Ende der Rassentrennung in öffentlichen Schulen. In den folgenden Jahren setzte sich dieser Prozess mit der Integration von Universitäten, der Abschaffung des Verbots gemischtrassiger Ehen und der Verabschiedung des Civil Rights Act weiter fort. Affirmative action-Programme sollten Schwarze gezielt fördern, indem ihnen ein leichterer Zugang zu Universitäten und zum Arbeitsmarkt gewährt werden sollte. Präsident Lyndon B. Johnson, der Enkel eines Südstaatensoldaten, stellte seine Präsidentschaft in den Dienst einer Verbesserung der Lebensbedingungen der schwarzen Bevölkerung. Seither sind Diskriminierungen ethnischer oder religiöser Gruppen in den Vereinigten Staaten verboten. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts schien vieles erreicht worden zu sein. Ein Schwarzer ist 2008 zum Präsidenten gewählt und 2012 wiedergewählt worden. Schwarze nahmen und nehmen höchste Staatsämter ein (Präsident, Außenministerin, Vorsitzender der Vereinigten Stabschefs, Abgeordnete, Senatoren und Richter am Obersten Gerichtshof) und sind beliebte und gutverdienende Showund Sportstars. Dennoch liegt manches noch immer im Argen. Der Soziologe William Julius Wilson hat bereits in den 1960er Jahren darauf hingewiesen, dass es nunmehr zwei schwarze Amerikas gebe, ein erfolgreiches und ein verarmtes (Sollors). Diese Tendenz hält bis heute unvermindert an. Der Literaturwis-

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senschaftler Werner Sollors schrieb unlängst: »Der Erfolgsgeschichte des oberen schwarzen Fünftels steht das Absinken des unteren Fünftels gegenüber, das von affirmative action nicht profitieren konnte und weit ärmer ist als die ärmsten Weißen« (Sollors). Im Unterschied zu früheren Zeiten lehnt eine überwältigende Mehrheit der weißen Amerikaner heute jede Art der Diskriminierung Schwarzer ab. Nach fünfzig Jahren Bürgerrechtsbewegung und der Schaffung einer schwarzen Oberschicht fühlen sich die Weißen jedoch auch nicht länger für das Schicksal der heutigen armen Schwarzen verantwortlich. Stattdessen fühlen sich weiße Amerikaner durch Vorwürfe des Rassismus verletzt. Der Rassendiskurs und der Sozialdiskurs vermischen sich in den Vereinigten Staaten zunehmend. Das macht eine Bewältigung dieser beiden Probleme in der Zukunft nicht leichter.

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Was ist aus Martin Luther Kings Traum geworden? Amerikas schwarze Minderheit seit der Bürgerrechtsbewegung Manfred Berg

Martin Luther Kings »I Have a Dream«-Rede, die der Bürgerrechtler am 28. August 1963 in Washington, D.C. vor rund 250.000 schwarzen und weißen Amerikanern hielt, ist der wohl meistzitierte Text aus der Geschichte der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Kings Vision eines zukünftigen Amerikas, in dem seine Kinder nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilt werden würden, fand beinahe sofort Eingang in den Kanon der amerikanischen Zivilreligion. Kritiker weisen freilich immer wieder darauf hin, dass der radikale Tenor dieser Rede zumeist ignoriert wird. Der »Marsch auf Washington für Jobs und Freiheit« Ende August 1963 war ein entschiedener Protest gegen den tiefsitzenden Rassismus, der die gesamte amerikanische Gesellschaft immer noch prägte. Die schwarzen Amerikaner forderten nicht nur ein Ende der gesetzlichen Rassentrennung, sondern verlangten den ihnen zustehenden Anteil am Reichtum ihres Landes. King begann seine Rede mit einer scharfen Kritik an der Lage der schwarzen Minderheit einhundert Jahre nach Abraham Lincolns Emanzipationserklärung, welche den Anfang vom Ende der Sklaverei eingeläutet hatte: One hundred years later, the Negro still is not free; one hundred years later, the life of the Negro is still sadly crippled by the manacles of segregation and the chains of discrimination; one hundred years later, the Negro lives on a lonely island of poverty in the midst of material prosperity; one hundred years later, the Negro is still languished in the corners of American society and finds himself in exile in his own land. (Washington 217; siehe auch Hansen)

Doch hatte zu Beginn der 60er Jahre der gewaltlose Massenprotest der Bürgerrechtsbewegung bereits eine unwiderstehliche Dynamik angenommen, die zu einschneidenden politischen Veränderungen führte. Im Juli 1964 verabschiedete der US-Kongress ein Bürgerrechtsgesetz, das Rassentrennung in allen Bereichen des öffentlichen Lebens untersagte. Darüber hinaus verbot das Gesetz auch pri-

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vaten Arbeitgebern jegliche Diskriminierung aufgrund von »Rasse, Hautfarbe, Religion, Geschlecht oder nationaler Herkunft«1 und es gab dem Justizministerium neue Befugnisse, um die Aufhebung der Rassentrennung im Schulwesen zu beschleunigen, die der Oberste Gerichtshof bereits 1954 für verfassungswidrig erklärt hatte. Ein Jahr später, im August 1965, erließ der Kongress zudem ein Wahlrechtsgesetz, das Wahlen und Wählerregistrierung im Süden der USA unter Bundesaufsicht stellte, um den dort lebenden Afroamerikanern endlich die freie Ausübung ihres Wahlrechts zu ermöglichen (Berg, Ticket 191-220). Die schweren Rassenunruhen in den schwarzen Ghettos der US-Großstädte, die im Sommer 1964 kurz nach der Verabschiedung des Bürgerrechtsgesetzes begannen und die die USA bis zum Ende des Jahrzehnts erschütterten, zeigten jedoch, dass diese Reformen keineswegs zu der erhofften schnellen Lösung der sogenannten Rassenfrage führen würden. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand nun die soziale Lage der Afroamerikaner. Präsident Lyndon B. Johnson erklärte 1964 der Armut den Krieg und schlug zahlreiche Sozialprogramme vor, die insbesondere der benachteiligten schwarzen Minderheit zugutekommen sollten. Martin Luther King trug das Banner des gewaltlosen Protests auch in den urbanen Norden, doch seine Kampagne zur Desegregation der Wohnviertel von Chicago scheiterte ebenso wie sein Plan, einen Protestmarsch der Armen in der US-Hauptstadt zu organisieren. Am 4. April 1968 wurde King in Memphis, Tennessee, ermordet. Er war in die Stadt gekommen, um den Streik schwarzer Müllarbeiter zu unterstützen. Zu diesem Zeitpunkt war der liberale Konsens, der Johnsons Bürgerrechts- und Sozialreformen ermöglicht hatte, längst der Polarisierung über den Vietnamkrieg, die Rassenunruhen und den Radikalismus der Black Power-Bewegung gewichen (Sugrue, Sweet Land; Ralph; Sitkoff). Das Erbe der Bürgerrechtsära ist sowohl unter Historikern wie auch in der amerikanischen Öffentlichkeit umstritten. Linke Kritiker argumentieren, dass das Versprechen eines durchgreifenden Wandels in den Rassenbeziehungen dem konservativen backlash seit den 1970er Jahren zum Opfer gefallen sei. Die Reformen der 1960er hätten lediglich formale Gleichheit gebracht und vornehmlich der schwarzen Elite genutzt, aber nichts an der fundamentalen ökonomischen Benachteiligung der allermeisten Afroamerikaner geändert, die unverändert weit überproportional von Armut und Arbeitslosigkeit betroffen seien. Nach wie vor präge ein struktureller Rassismus die amerikanischen Institutionen und den Alltag. Vor einigen Jahren löste die Bürgerrechtsanwältin Michelle Alexander eine heftige Kontroverse mit ihrer These aus, die massenhafte Inhaftierung afroamerikanischer Männer habe ein neues Jim Crow-System geschaffen, wie die rassistische Kastenordnung vor der Bürgerrechtsära im Volksmund genannt wurde. Nach Auffassung des Soziologen Joe Feagin, einem der radikalsten Kritiker der

1 | Soweit nicht anders angegeben, handelt es sich bei deutschsprachigen Zitaten aus englischsprachigen Quellen um Übersetzungen des Verfassers.

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Rassenbeziehungen in den USA, haben die Bürgerrechtsreformen nichts verändert, ja habe es streng genommen gar keinen historischen Wandel gegeben: From the beginning, European American institutions were racially hierarchical, white supremacist, and undemocratic. For the most part, they remain so today. […] [E]ach major part of U.S. society – the economy, politics, education, religion, the family – reflects the fundamental reality of systemic racism. (5-6)

Insbesondere die Fälle tödlicher Polizeigewalt gegen unbewaffnete junge Schwarze, so in Ferguson, Missouri, im Sommer 2014 und in Baltimore im April 2015, haben neue Diskussionen über die Kontinuität des institutionellen Rassismus in den USA ausgelöst. Selbst Präsident Barack Obama, der erste Afroamerikaner im Weißen Haus, der seine Amtszeit mit dem Versprechen begonnen hatte, die Rassengegensätze aussöhnen zu wollen, begann offen über seine Erfahrungen mit dem amerikanischen Alltagsrassismus zu sprechen und schreckte selbst vor drastischen Worten nicht zurück: »We’re not cured of it«, erklärte Obama gegenüber einem Journalisten, »and it’s not just a matter of it not being polite to say nigger in public. That’s not the measure of whether racism still exists or not« (zit. in Shear). Obamas Wahl hatte in der black community verständlicherweise große Hoffnungen auf Wandel in den Rassenbeziehungen geweckt. Henry Louis Gates, Jr., einer der prominentesten schwarzen Intellektuellen der USA, feierte Obamas Wahl in hymnischen Worten: »a magical transformative moment […] the symbolic culmination of the black freedom struggle, the grand achievement of a great collective dream« (zit. in Sugrue, Obama 12). Auch konservative Kommentatoren wie der prominente Kolumnist Charles Krauthammer erklärten, obwohl sie der Politik Obamas äußerst kritisch gegenüberstanden, Obamas Präsidentschaft zum möglichen Beginn eines »postrassischen Zeitalters«. Senator John McCain, Obamas Gegenkandidat bei den Präsidentschaftswahlen von 2008, nahm in seiner »Concession Speech« den Wahlausgang gar als Beweis für die Überwindung des historischen Rassismus: »There is no better evidence of this than the election of an African-American to the presidency of the United States. Let there be no reason now for any American to fail to cherish their citizenship in this, the greatest nation on Earth.« Tatsächlich halten Amerikas Konservative Rassendiskriminierung, sofern sie deren Existenz überhaupt zugestehen, für ein Relikt der Vergangenheit oder für eine nachvollziehbare Reaktion auf die sozialen Pathologien der sogenannten schwarzen Unterklasse (Berg, »Struktureller Rassismus«). Martin Luther Kings Traum wird für das Ideal einer farbenblinden Gesellschaft in Anspruch genommen, in der allein individuelle Tüchtigkeit zählt und affirmative action, also die besondere Förderung von Minderheiten, nicht mehr nötig sei. Sowohl radikale Kritiker wie konservative Apologeten der Rassenbeziehungen in den USA gehen von meist unausgesprochenen normativen Prämissen aus, nämlich utopischen Vorstellungen über soziale Gleichheit und Gerechtigkeit einerseits und nationalistischen Mythen über Amerika als Land der unbegrenzten

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Möglichkeiten andererseits. Der folgende Beitrag versucht dagegen, sich an der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu orientieren und auf empirischer Grundlage einen Überblick über die wichtigsten Entwicklungen in vier zentralen Bereichen des sozialen Lebens zu geben, die zum Kern der Bürgerrechtsagenda der 1960er Jahre gehörten: 1.) die Überwindung der Rassentrennung; 2.) das Streben der schwarzen Minderheit nach sozialem und ökonomischem Aufstieg; 3.) die Forderung nach einer fairen Strafjustiz und 4.) das Recht auf politische Teilhabe. Wie der Wirtschaftshistoriker Gavin Wright, der die ökonomischen Auswirkungen der Bürgerrechtsreformen auf den Süden untersucht hat, stütze ich meine Analyse und Wertung dabei auf den historischen Vergleich zwischen der Bürgerrechtsära und der Gegenwart sowie den Vergleich der Afroamerikaner mit der weißen Mehrheit und nationalen Standards (16). Als Grundlage dienen mir empirische Studien und statistische Daten aus offiziellen bzw. öffentlich zugänglichen Quellen, die, auch wenn sie lebensweltliche Erfahrungen nur unzureichend spiegeln, unerlässlich sind, um die gerade in den Debatten über den amerikanischen Rassismus weit verbreitete Neigung zum Impressionismus zu vermeiden.

R assenintegr ation und B ildung Vor der Bürgerrechtsära lebten nahezu alle Afroamerikaner in einer Welt, in der von der Wiege bis zur Bahre Rassentrennung herrschte. Im Süden schrieb das Gesetz die Segregation vor, im Rest des Landes wurde sie informell praktiziert. Der Sinn der Rassentrennung bestand nicht in räumlicher Trennung, sondern in der Stigmatisierung der schwarzen Amerikaner. Sie waren nicht gut genug, aus demselben Wasserhahn zu trinken, dieselben Parks und Restaurants zu besuchen oder in denselben Eisenbahnwaggons zu sitzen wie ihre weißen Landsleute. Die Rassentrennung machte Schwarzen nicht nur das Leben beschwerlich – Afroamerikaner, die verreisten, fanden häufig weder Hotels noch Restaurants, in denen sie willkommen waren –, sie symbolisierte und zementierte vor allem die Rassenhierarchie der amerikanischen Gesellschaft. Die Protestaktionen, mit denen Restaurants und Geschäfte zur Integration gezwungen werden sollten, lieferten der Bürgerrechtsbewegung Bilder, die bis heute ikonischen Status haben, wie die der vier schwarzen Studenten, die 1960 an der Imbisstheke im Woolworth-Kaufhaus in Greensboro, North Carolina, ausharrten, bis sie bedient wurden (Chafe). Überraschenderweise vollzog sich das Ende der Rassentrennung im Bereich des Konsums und der kommerziellen Unterhaltung nahezu geräuschlos, nachdem das Bürgerrechtsgesetz in Kraft getreten war. Der Fall eines Politikers aus Atlanta, der sich mit einem Holzknüppel in die Tür seines Restaurants stellte, um schwarze Gäste fernzuhalten, blieb eine Ausnahme (Greenberg 315). Die Furcht vieler weißer Geschäftsleute im Süden, ihre weißen Kunden könnten fortbleiben, erwies sich als unbegründet, tatsächlich schossen die Umsätze in der neuen integrierten Konsumwelt in die Höhe. In seiner Studie

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Sharing the Prize bilanziert Gavin Wright, dass sich dieser einst so kontroverse Streitpunkt schon Ende der 1960er Jahre erledigt hatte (74-105, 75). Bei der Rassenintegration ging es, nach einem berühmten Wort der Bürgerrechtlerin Ella Baker, jedoch um mehr als das Recht, einen Hamburger bestellen zu dürfen. Integration bedeutete vielmehr das Ende der Rassentrennung und Diskriminierung in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens (Carson et al. 120-22). Die Forderung nach Chancengleichheit konzentrierte sich nicht zufällig auf die Desegregation des Bildungswesens. Die im Süden vorgeschriebene Rassentrennung in Schulen und Universitäten und die krasse Unterfinanzierung schwarzer Schulen verfolgten den Zweck, die afroamerikanische Bevölkerung in Armut und Abhängigkeit zu halten. Afroamerikanische Eltern kämpften unter erheblichen Risiken für die Schulintegration, weil sie sich bessere Bildung und Berufschancen für ihre Kinder erhofften. Als der Oberste Gerichtshof 1954 die Integration des Schulwesens anordnete, löste sein Urteil eine Welle der rassistischen Gewalt im weißen Süden aus. Noch 1960 besuchte weniger als ein Prozent der schwarzen Schulkinder im Süden eine integrierte Schule (Klarman 344-442, 348-49). Nach der Verabschiedung des Bürgerrechtsgesetzes von 1964 jedoch unternahmen die Bundesregierung und die Bundesgerichte energische Anstrengungen, die Schulen zu desegregieren. Zahlreiche Schulbezirke mussten konkrete gerichtliche Auflagen erfüllen. Zwischen 1968 und 1972 fiel der Anteil der Schulkinder, die eine gänzlich schwarze Schule besuchten, von fast 80 auf 25 Prozent. Schon Anfang der 1970er Jahre waren die Schulen des Südens besser integriert als im gesamten Rest der Vereinigten Staaten. Empirische Studien über die Effekte der Integration belegen, dass die schwarzen Schüler*innen enorm profitierten. Die Zahl der Abbrecher sank und das Leistungsgefälle zwischen weißen und schwarzen Kindern verringerte sich, und zwar nicht, weil die weißen schlechter wurden, sondern weil die schwarzen aufholten. Bis heute gehen Afroamerikaner, die eine integrierte Schule besucht haben, danach häufiger aufs College und finden schneller einen gut bezahlten Arbeitsplatz. Gleichwohl blieb die Schulintegration äußerst kontrovers. Viele weiße Eltern, die es sich leisten konnten, schickten ihre Kinder auf Privatschulen, die nicht dem Integrationsgebot des Bürgerrechtsgesetzes unterlagen (Wright 150-82, 160-61; Hannah-Jones). Hinzu kam, dass seit den frühen neunziger Jahren immer mehr Gerichte dazu übergingen, die Auflagen für Schulbezirke zu lockern und selbst freiwillige Integrationspläne zu begrenzen, weil solche Maßnahmen angeblich nicht mehr nötig seien. Sofort begannen viele betroffene Städte und Gemeinden, ihre Schulbezirke den weiterhin stark nach Rassen getrennten Wohnbezirken anzupassen. Standen im Jahr 2000 noch etwa 600 Schulbezirke unter gerichtlicher Aufsicht, so ist es heute nur noch gut die Hälfte. Neueren Schätzungen zufolge besuchen inzwischen drei Viertel aller afroamerikanischen Schüler Schulen, die mehrheitlich schwarz sind; 40 Prozent sogar solche, auf denen es fast nur Angehörige von Minderheiten gibt. Bei den hispanischen Schulkindern sieht es ähnlich aus. Da

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viele dieser Schulen in Armutsgebieten liegen, kommen die Schulkinder weder mit Weißen noch mit Altersgenossen aus der Mittelklasse in Kontakt. Nach Meinung der meisten Experten ist unbestreitbar, dass die Desegregation des Schulwesens nach 1964 den Afroamerikanern greif bare Vorteile gebracht hat, während segregierte Schulen in aller Regel schlechter ausgestattet sind, höhere Abbrecherquoten haben und ihren Schülern weniger soziales und kulturelles Kapital mitgeben können. Dass überhaupt Fortschritte bei der Integration gemacht wurden, lag an den Vorgaben der Bürgerrechtsgesetze und deren Durchsetzung durch Behörden und Gerichte. Als diese Anstrengungen nachließen, schritt die Resegregation schnell voran. Inzwischen ist die Integration des Schulwesens jedoch kein schwarz-weißes Problem mehr, sondern betrifft hispanische Schüler, bei denen oft sprachliche Defizite die Exklusionseffekte verstärken, in ähnlicher Weise wie Afroamerikaner (Hannah-Jones; Frankenberg; Johnson; Orfield und Lee; Orfield et al.). Das Bild ist indessen nicht durchweg düster. So ist der Anteil der Abbrecher unter den schwarzen Schülern kontinuierlich und im selben Tempo gefallen wie unter weißen: von rund 28 Prozent im Jahr 1967 auf gut sieben Prozent 2013; der nationale Durchschnitt liegt heute bei knapp sieben Prozent, der für Weiße bei fünf Prozent. (U.S. Dept. of Education) 1964 hatte lediglich ein Viertel aller erwachsenen Afroamerikaner einen Schulabschluss, heute sind es 87 Prozent, fast genauso viele wie unter der weißen Bevölkerung. Im selben Zeitraum stieg der Anteil schwarzer Männer und Frauen mit einem Collegeabschluss von 5,5 auf über 20 Prozent, bei den Weißen von 13,6 auf 36,7 Prozent (U.S. Census Bureau, Percent). Trotz aller Fortschritte ist der Abstand also weiterhin beträchtlich. Hinzu kommt, dass es eine große Rolle spielt, wo ein Abschluss erworben wird. Im stark segmentierten Bildungswesen der USA ist das Gefälle zwischen den verschiedenen Universitäten und Colleges sehr viel ausgeprägter als in Deutschland. Knapp ein Drittel aller Afroamerikaner, aber auch aller weißen Studierenden, beginnt das Studium an einem community college, lokalen Bildungseinrichtungen, die sozial benachteiligten und bildungsfernen Schichten den Einstieg in ein akademisches Studium eröffnen sollen. Im Fokus der hitzigen Debatten um Quoten und affirmative action für Minderheiten stehen freilich meist die Elite-Universitäten, deren Abschlüsse als Garantie für steile Karrieren und gut bezahlte Jobs gelten (»Community College FAQs«; Anderson 275-84).

Ö konomischer F ortschrit t und S tillstand Bildung und Ausbildung sind die Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg und soziale Mobilität. Das Jim Crow-System hielt Afroamerikaner systematisch von qualifizierten Tätigkeiten fern und beschränkte sie auf schlecht bezahlte Jobs. Grundsätzlich galt die »last hired, first fired«-Regel. Arbeitgeber und weiße Gewerkschaften zementierten gemeinsam einen strikt segregierten Arbeitsmarkt.

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Die kleine schwarze Mittelklasse bestand aus Geschäftsleuten und Angehörigen der Professionen, wie Ärzte, Anwälte, Pfarrer und Lehrer, die ihren Lebensunterhalt fast ausschließlich in der schwarzen Gemeinde verdienten. Das Verbot der Diskriminierung im Arbeitsleben, das im Bürgerrechtsgesetz von 1964 kodifiziert wurde, war daher nicht weniger wichtig als das allgemeine Verbot der Rassentrennung, denn es ebnete weitreichenden affirmative action-Programmen den Weg, von denen nicht nur Afroamerikaner, sondern auch andere Minderheiten und ganz allgemein Frauen profitiert haben (Anderson 111-60). Erstmals bekamen Schwarze in größerem Umfang Zugang zu white collar-Arbeitsplätzen. Auch als die Reagan-Administration in den achtziger Jahren die Durchsetzung des Gesetzes absichtlich schleifen ließ, hielten sich viele Unternehmen weiterhin an seine Bestimmungen. Die bereits mehrfach erwähnte Studie von Gavin Wright kommt zum Ergebnis, die Öffnung des Arbeitsmarktes im Süden habe »dramatische Auswirkungen« gehabt und sei nicht auf Kosten der weißen Arbeiter und Angestellten gegangen (105). Vielmehr hätten alle Einwohner der Region von der wirtschaftlichen Modernisierung profitiert, die sich nach dem Ende der Jim CrowÄra weiter beschleunigte (105-49). Dass die Reformen der 1960er Jahre die Entstehung einer vitalen schwarzen Mittelklasse ermöglicht haben, lässt sich nicht bestreiten. In manchen Bundesstaaten verzehnfachte sich in den beiden ersten Jahrzehnten die Zahl der black professionals. Der öffentliche Sektor spielte eine Vorreiterrolle bei affirmative action und der Öffnung verantwortlicher Positionen für schwarze Bewerber*innen. Aber auch immer mehr private Unternehmen begannen damit, gezielt Minderheiten zu rekrutieren. Ethnische Vielfalt der Belegschaft gilt heute weithin auch als ökonomischer Vorteil. Kritiker weisen freilich darauf hin, dass die Öffnung der Arbeitswelt seit längerem wieder stagniert und dass Afroamerikaner überwiegend auf den unteren Sprossen der Karriereleiter zu finden sind. Schwarze Topmanager bleiben eine Seltenheit. Einige Studien haben zudem festgestellt, dass Schwarze und Hispanics bei gleicher Qualifikation geringere Chancen haben, zum Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden als Weiße (Tomaskovic-Devey et al.; Bouie; Hirsch und Lyons; Pierce). Auch sind schwarze Collegeabsolventen signifikant öfter arbeitslos als weiße. Während weiße Arbeitnehmer ganz überwiegend glauben, dass es an ihren Arbeitsplätzen keine Rassendiskriminierung gibt, sieht dies nur die Hälfte aller schwarzen so; die Zahl derjenigen, die tatsächlich Diskriminierung erlebt haben wollen, liegt mit einem Drittel jedoch deutlich niedriger. Dass die Arbeitslosenquote im Durchschnitt für Afroamerikaner konstant etwa doppelt so hoch ist wie für Weiße, mag zum Teil an Vorurteilen von Arbeitgebern liegen, spiegelt insgesamt jedoch auch ihr geringeres Bildungs- und Qualifikationsniveau wider (Robinson; Sussman). Der bedeutende schwarze Soziologe William Julius Wilson, der als wichtiger intellektueller Einfluss auf das Denken des jungen Barack Obama gilt (Sugrue, Obama 70-91), argumentiert seit Jahrzehnten, dass die soziale Lage der Afroamerikaner seit der Bürgerrechtsrevolution nicht mehr primär von Rassen-

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schranken, sondern vor allem durch die Globalisierung und den ökonomischen Strukturwandel von der Industrie- zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft bestimmt werde. Während die schwarze Mittelklasse von dieser Entwicklung profitiert habe, würden den Angehörigen der Unterschicht schulische und berufliche Qualifikationen fehlen, sodass sie auf dem Arbeitsmarkt kaum Chancen hätten und in die kriminelle Schattenökonomie des Ghettos abgedrängt würden. Wilson spricht zwar offen Probleme wie die extrem hohe Kriminalität und den Zerfall der Familienstrukturen in der schwarzen Bevölkerung an, sieht aber den Hauptgrund für die Marginalisierung der black underclass in den sozialökonomischen und politischen Strukturen der amerikanischen Gesellschaft. Ohne Bildungsund Ausbildungschancen und ohne ordentlich bezahlte Arbeitsplätze, so Wilsons Konklusionen, könne der Teufelskreis aus Armut, Kriminalität, Drogen und sozialer Zerrüttung, der die Lebenswelt der schwarzen Ghettobewohner prägt, nicht durchbrochen werden (Wilson; Berg, »Struktureller Rassismus« 55-58). Eine Antwort auf die Frage, wie in den USA politische Mehrheiten für eine Politik geschaffen werden können, die speziell auf die Besserung der wirtschaftlichen Lage der schwarzen Minderheit abzielt, bleibt Wilson schuldig. Auch Barack Obama hat in den vergangenen acht Jahren keine besonderen Programme für arme Afroamerikaner vorgeschlagen, sondern darauf gesetzt, dass Wachstumspolitik und die Einführung einer allgemeinen Krankenversicherung auch ihnen zugutekommen. Immerhin waren 2012 19 Prozent der Afroamerikaner nicht krankenversichert gegenüber 15,4 Prozent der Gesamtbevölkerung (DeNavas-Walt et al. 23-24, Table 7). Auch das robuste Wirtschaftswachstum und die sinkende Arbeitslosigkeit der letzten Jahre haben jedoch nichts daran geändert, dass die ökonomische Ungleichheit in den USA insgesamt immer mehr zunimmt und die Zuwächse fast nur noch einer kleinen Elite zugutekommen (Stiglitz). Die materielle Ungleichheit zwischen schwarzen und weißen Amerikanern ist nach wie vor besonders eklatant. Eine Studie der amerikanischen Bundesbank ermittelte kürzlich, dass sich in den vergangenen 25 Jahren an den relativen Vermögensunterschieden zwischen Afroamerikanern und Weißen fast nichts geändert hat; noch immer liegt der Mittelwert für das Vermögen weißer Familien mehr als zehn Mal höher als der für schwarze Familien; für Hispanics sehen die Zahlen ähnlich aus, Asian Americans dagegen könnten bald im Durchschnitt reicher sein als weiße Amerikaner (Boshara et al.). Umgekehrt sind Afroamerikaner – und in etwas geringerem Maße auch Hispanics – weit überproportional von Armut betroffen. Die regelmäßig von der Zensusbehörde erhobenen Armutsraten gelten daher als harter Indikator für den strukturellen Rassismus und die soziale Ungerechtigkeit in den USA. Seit über einem halben Jahrhundert leben statistisch gesehen etwa doppelt so viele Afroamerikaner in Armut wie der Durchschnitt der Bevölkerung; 2013 waren es 27 gegenüber 14,5 Prozent. Armut steigt und fällt mit der wirtschaftlichen Konjunktur, aber sie reagiert auch auf politische Maßnahmen. In den 1960er Jahren, als die US-Wirtschaft boomte und die Johnson-Administration Krieg gegen die Ar-

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mut führte, verringerte sich die afroamerikanische Armutsquote um 25 Prozentpunkte von 55 Prozent auf ca. 30, wo sie bis Anfang der neunziger Jahre verharrte. Der Boom der New Economy drückte sie 2001 auf ihren historischen Tiefstand von 23 Prozent. Seit dem Platzen der Dotcom-Blase und der Finanzkrise von 2008 ist sie wieder auf knapp unter 30 Prozent geklettert (DeNavas-Walt et al. 52-57). Die Gründe für die anhaltende Armut in der black community sind ebenso kontrovers wie die Frage, ob und wie staatliche Maßnahmen daran etwas ändern können. Konservative Ökonomen wie Charles Murray bestreiten seit langem, dass wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen den Armen helfen, und warnen, der Wohlfahrtsstaat perpetuiere lediglich eine Kultur der Armut und Abhängigkeit. Liberale und Linke dagegen beklagen, der konservative backlash seit der Reagan-Administration und fortgesetzter Sozialabbau hätten die bittere Armut unter großen Teilen der schwarzen Bevölkerung mehr oder weniger bewusst verschärft (Murray; Berg, »Struktureller Rassismus« 58-61). Armut ist jedoch nicht gleich Armut. Arbeitnehmer, die ihren Job verlieren, rutschen in den USA leicht unter die statistische Armutsgrenze, fallen aber ebenso schnell wieder heraus, wenn sie Arbeit gefunden haben. Daneben gibt es die working poor, die aufgrund von Unterbeschäftigung und Unterbezahlung auch mit mehreren Jobs kaum der Armut entkommen können. Den harten Kern der afroamerikanischen Armutsbevölkerung bilden die Bewohner der Ghettos in Amerikas Städten, die in die Armut hineingeboren werden und kaum eine Chance haben, ihr zu entfliehen. Eine der wichtigsten und zugleich kontroversesten Variablen ist der Zusammenhang zwischen Armut und Familienstatus, der in der afroamerikanischen Bevölkerung ganz besonders ausgeprägt ist. Knapp 48 Prozent aller schwarzen Familien mit einer alleinerziehenden Mutter und Kindern unter achtzehn Jahren leben in Armut, jedoch nur gut acht Prozent der afroamerikanischen Familien, in denen die Eltern verheiratet zusammenleben (»Poverty«). Da über 70 Prozent aller afroamerikanischen Kinder von unverheirateten Müttern zur Welt gebracht werden – doppelt so viele wie der nationale Durchschnitt und die mit Abstand höchste Quote unter allen ethnischen Gruppen in den USA –, haben schwarze Kinder ein weitaus höheres Armutsrisiko als ihre weißen und selbst als ihre hispanischen Altersgenossen (»Births to Unmarried Women«). Seit über 50 Jahren wird in Wissenschaft und Öffentlichkeit über den sogenannten Niedergang der schwarzen Familie gestritten, nicht zuletzt auch innerhalb der black community selbst. Konservative sehen darin einen moralischen Verfall und die Wurzel der sozialen Übel, die die afroamerikanische Bevölkerung plagen. Liberale und Radikale empören sich dagegen, dass die Opfer des Rassismus selbst für ihre Lage verantwortlich gemacht würden. Historisch ist das Bild allerdings komplexer. Vor 1960, als mehr als die Hälfte der schwarzen Amerikaner unter der Armutsgrenze lebte und überall an die Mauern der Rassentrennung stieß, wuchsen über zwei Drittel aller schwarzen Kinder in Familien mit verheirateten Eltern auf. Seither haben zahlreiche schwarze Männer und Frauen offenbar den Glauben an die Ehe als stabile Solidargemeinschaft verloren. In den

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Interviews, die William Julius Wilson für sein jüngstes Buch führte, erklärten viele Afroamerikanerinnen, dass sie ihr Leben ohne die Erwartung an eine feste Beziehung zu einem Mann führen würden. Gewiss handelt es sich dabei auch um die extreme Ausprägung eines gesamtgesellschaftlichen Trends, dessen ökonomische Konsequenzen vor allem alleinerziehende schwarze Mütter und ihre Kinder jedoch mit voller Wucht treffen (Wilson 95-132; Thernstrom 235-41).

S tr afjustiz : A N e w J im C row ? Ein weiterer wichtiger Grund, warum viele afroamerikanische Frauen zwar Kinder haben, aber niemals heiraten, ist der Mangel an potenziellen Ehemännern, weil so viele afroamerikanische Männer im Gefängnis sitzen. Viele schwarze Frauen haben daher nur die Wahl, Kinder alleine groß zu ziehen und ein entsprechend hohes Armutsrisiko einzugehen oder ganz auf sie zu verzichten. Wie erwähnt sehen einige Kritiker die massenhafte Inhaftierung afroamerikanischer Männer als ein neues Jim Crow-System (Alexander). Unter dem alten Regime der Rassentrennung war die Strafjustiz eines der wichtigsten Instrumente der Unterdrückung. Faire Verfahren und rechtsstaatliche Garantien auch für schwarze Angeklagte sicherzustellen gehörte daher zu den Hauptzielen der Bürgerrechtsbewegung. Die 1960er Jahre brachten jedoch nicht nur die großen Bürgerrechtsreformen, sondern auch eine Welle der Gewaltkriminalität, die zu einer tiefen Verunsicherung der amerikanischen Gesellschaft führte. Zwischen 1960 und 1993 schoss der Index der Gewaltverbrechen pro 100.000 Einwohner von 160 auf 750 in die Höhe; die Rate der Tötungsdelikte verdoppelte sich von fünf auf zehn Fälle pro 100.000 Einwohner. Die Gesetzgeber in den US-Bundesstaaten reagierten auf die Entwicklung, indem sie das drakonischste Strafrecht der gesamten westlichen Welt verabschiedeten (Cooper und Smith 2, Fig. 1; LaFree 21-23). Die Inhaftierungsquote schnellte von etwa 100 pro 100.000 Einwohner in den frühen 1970er Jahren auf 430 Mitte der Neunziger; heute gibt es in den USA ca. 2,2 Millionen Gefängnisinsassen, mehr als 700 pro 100.000 Einwohner. Nirgendwo auf der Welt gibt es mehr Gefängnisinsassen pro Kopf der Bevölkerung. Zählt man die auf Bewährung Freigelassenen hinzu, so steht derzeit etwa jeder dreißigste Erwachsene in den USA unter Aufsicht der Strafjustiz. Die Inhaftierungsquote für Schwarze liegt dabei sechs Mal so hoch wie für Weiße und doppelt so hoch wie für Hispanics. Afroamerikaner, etwa 12,5 Prozent der Gesamtbevölkerung, stellen eine Million bzw. knapp 40 Prozent der Gefängnisinsassen und beinahe die Hälfte aller lebenslänglich Verurteilten. Von den mehr als 1400 Personen, die seit 1977 hingerichtet wurden, waren etwa 35 Prozent Schwarze, unter den derzeitigen Insassen der Todeszellen beträgt ihr Anteil über 40 Prozent. Allerdings begehen Afroamerikaner statistisch gesehen auch acht Mal häufiger einen Mord als Weiße. Dennoch argumentieren einige Studien, dass bei kontrollierter Berücksichtigung der Tatumstände Schwarze signifikant häufiger zum

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Tode verurteilt würden. Hinter den nackten Zahlen und Statistiken verbirgt sich eine oft haarsträubende Praxis der Diskriminierung gegen Schwarze und Arme, wie sie der Bürgerrechtsanwalt Bryan Stevenson in seinen Memoiren anprangert (Sentencing Project, Fact Sheet; Report 13-14; »Searchable Execution Database«; Cooper und Smith 3, Table 1; Stevenson). Obwohl die Gewaltverbrechen in den letzten zwanzig Jahren deutlich abgenommen haben und der Index der Tötungsdelikte wieder auf 4,5 pro 100.000 Einwohner gefallen ist, ist die Zahl der Inhaftierten weiter gewachsen. Befürworter der harten Linie argumentieren, dass die Gewalt auf Amerikas Straßen zurückgegangen sei, weil mehr gefährliche Kriminelle hinter Gittern säßen. Den hohen Anteil schwarzer Strafgefangener erklären sie mit der hohen Verbrechensrate unter der schwarzen Bevölkerung. Afroamerikaner sind sowohl unter den Tätern als auch unter den Opfern von Gewaltkriminalität stark überrepräsentiert. Etwa die Hälfte aller Mordopfer in den USA sind Afroamerikaner; diese haben ein sechs Mal höheres Risiko ermordet zu werden als Weiße (Cooper und Smith 3, Table 1). Es gehört allerdings auch zur gesellschaftlichen Wirklichkeit, dass die extrem hohe Mordrate unter jungen schwarzen Männern fast ausschließlich auf Bandenkriminalität in den Ghettos zurückzuführen ist. Mehr als 90 Prozent aller afroamerikanischen Mordopfer werden von Afroamerikanern ermordet (Cooper und Smith 13). Nicht nur konservative Streiter für law and order argumentieren daher, dass das Wegsperren von Gewalttätern auch im Interesse armer schwarzer Bürger in den Problemvierteln liege. Die Journalistin Jill Leovy, die jahrelang die Mordexzesse in den Schwarzenvierteln von Los Angeles recherchiert hat, argumentiert, dass Polizei und Justiz nicht entschlossen genug gegen Gewalttäter in den Ghettos vorgehen würden. Historiker und Kriminologen weisen schon lange darauf hin, dass auch das Desinteresse an der Kriminalität innerhalb der afroamerikanischen Bevölkerung ein Erbe der alten Jim Crow-Justiz ist, als viele weiße Polizisten nach dem Grundsatz handelten: »If a nigger kills a white man, that’s murder. If a white man kills a nigger, that’s justifiable homicide. If a nigger kills another nigger, that’s one less nigger!« (Zit. in Ayers 231; Kennedy) Gerade dieser Aspekt der Rassendiskriminierung durch die Strafjustiz wird jedoch häufig übersehen, weil afroamerikanische Kriminalität im Diskurs über Bürgerrechte oft als Tabuthema behandelt wird. Nach Meinung vieler Experten erklärt die unbestreitbar hohe Gewaltkriminalität unter Afroamerikanern allenfalls zum Teil, warum so viele schwarze Männer im Gefängnis sitzen. Kritiker sehen die Politik der Masseninhaftierung vor allem als Diskriminierung von Minderheiten. Im Jahr 2013 übersandte das Sentencing Project, eine zivilgesellschaftliche Organisation, die sich für eine Reform des Strafvollzugs einsetzt, einen Bericht an die Vereinten Nationen, der belegen sollte, dass die Ungleichbehandlung alle Stufen der Strafjustiz durchziehe: »Racial minorities are more likely than white Americans to be arrested; once arrested, they are more likely to be convicted; and once convicted, they are more likely to face stiff sentences« (Sentencing Project, Report 1). Sollten sich die gegenwärtigen

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Trends fortsetzen, prognostizieren die Autoren der Studie, dass einer von drei männlichen Afroamerikanern, die heute geboren werden, im Laufe seines Lebens im Gefängnis landen wird. Bei den weißen Amerikanern beträgt die Wahrscheinlichkeit nur einer unter siebzehn. Einer der wichtigsten Gründe für das steile Ansteigen der Zahl von Gefängnisinsassen war der sogenannte Krieg gegen die Drogen, den die US-Bundesregierung bereits in den frühen 1970er Jahren erklärte und der zu einer drastischen Verschärfung der Strafen für Drogendelikte geführt hat. Noch 1980 saßen lediglich 42.000 Personen aus diesem Grund im Gefängnis, 2007 waren es rund eine halbe Million. Ein Drittel aller wegen Drogendelikten verhafteten Personen sind Afroamerikaner, obwohl Kriminologen festgestellt haben, dass sie weder häufiger illegale Drogen nehmen noch diese verkaufen als Weiße. Zudem werden schwarze Drogentäter öfter verurteilt und härter bestraft (Sentencing Project, Report 14-16). Gegenüber der These, hinter dem Krieg gegen die Drogen habe von vorneherein eine gezielte Strategie zur Kriminalisierung und Resegregation der Afroamerikaner gestanden, ist indessen Vorsicht geboten. Schon in den Neunzigerjahren begann eine heftige Debatte über die Ungleichbehandlung von Pulverkokain und Crackkokain, der Droge des schwarzen Ghettos. Das 1988 verabschiedete Bundesgesetz gegen den Drogenmissbrauch sah für den Besitz von 50 Gramm Crack eine Mindeststrafe von zehn Jahren vor, ein Strafmaß, das bei Pulverkokain erst ab fünf Kilo erreicht wurde. Der schwarze Kriminologe Randall Kennedy wies allerdings darauf hin, dass die Forderung nach härteren Strafen für den Verkauf von Crack auch von afroamerikanischen Abgeordneten gekommen sei, die zunächst den Vorwurf erhoben hätten, die Strafjustiz nehme das Crackproblem in den Ghettos nicht ernst genug (364-86). Zudem geht es bei Drogendelikten nicht nur um Konsum und Verkauf. Mehr als 60 Prozent aller schwarzen Mordopfer zwischen 1980 und 2008 starben im Zusammenhang mit Drogenkriminalität (Cooper und Smith 11). Der enge Zusammenhang zwischen dem drakonischen Strafregime, mit dem die amerikanische Politik im Bund und in den Einzelstaaten seit Jahrzehnten auf reale und imaginierte Kriminalitätsgefahren reagiert, und der sozialen Marginalisierung großer Teile der afroamerikanischen Bevölkerung ist evident. Da Schwarze und Hispanics im Durchschnitt weitaus ärmer sind als Weiße, benötigen sie vor Gericht häufiger Pflichtverteidiger, denen oft Zeit, Motivation und Erfahrung fehlen (Sentencing Project, Report 6-9). Ihre Mandanten werden daher öfter verurteilt und erhalten höhere Strafen als Angeklagte, die sich einen guten Anwalt leisten können. Zugleich verschärft die Masseninhaftierung die Armut, denn Männer, die im Gefängnis sitzen, verdienen kein Geld, um eine Familie zu ernähren. Wer vorbestraft ist, hat es sehr viel schwerer, einen Job zu finden. Doch obwohl in den letzten Jahren die Rufe nach einer Reform der Strafjustiz lauter geworden sind, sind schnelle Änderungen nicht zu erwarten, solange ein Großteil der Wähler von Politikern erwartet, dass diese »Härte gegen Verbrecher« zeigen. Strafverfolgung, Strafjustiz und Strafvollzug werden daher vermutlich auf abseh-

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bare Zeit die öffentlichen Institutionen bleiben, die am meisten zur Polarisierung der Rassenbeziehungen und zur strukturellen Kontinuität des Rassismus in den USA beitragen.

P olitische Partizipation Die Politik gilt demgegenüber als das Feld, auf dem die schwarzen Amerikaner die größten Fortschritte gemacht haben. Als der Kongress 1965 den Voting Rights Act verabschiedete, um das Wahlrecht der Afroamerikaner im Süden der USA durchzusetzen, bekleideten diese dort lediglich 72 Wahlämter – von etwa 79.000. Und obwohl Schwarze außerhalb des Deep South, der vor allem die Bundesstaaten Alabama, Georgia, Louisiana, Mississippi und South Carolina umfasst, in der Regel ihre Stimme frei abgeben konnten, hatten schwarze Kandidaten meist nur in Wahlbezirken eine Chance, wo die Mehrheit der Wähler afroamerikanisch war. In den frühen 1960er Jahren war der Justizminister von Massachusetts Edward Brooke der einzige Schwarze in den USA, der ein Wahlamt auf der Ebene eines Bundesstaates innehatte; 1966 wählten die Bürger von Massachusetts Brooke sogar in den US-Senat. Er blieb freilich eine Ausnahme. Noch 1985 gab es im ganzen Land lediglich drei Afroamerikaner, die Wahlen gewonnen hatten, in denen alle Bürger eines Bundesstaates wahlberechtigt waren. Dass ein Schwarzer zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt werden könnte, erschien vor der Jahrhundertwende fast unvorstellbar (Berg, »White Supremacy« 32). Das lange Unvorstellbare wurde 2008 Wirklichkeit, als Barack Obama, der Sohn einer weißen Mutter aus Kansas und eines afrikanischen Vaters aus Kenia, die Nominierung der Demokraten erhielt und seinen republikanischen Gegenkandidaten mit einem Vorsprung von 10 Millionen Stimmen schlug. Vier Jahre später wählten die Amerikaner Obama ein zweites Mal. Bedeutet Obamas zweimaliger Triumph, dass die alten Rassenvorurteile in der amerikanischen Politik keine Rolle mehr spielen? Das wäre gewiss übertrieben, denn erstens unterstützte nur eine Minderheit der weißen Wähler Obama (Teixeira und Halpin 1) und zweitens entfachte sein Einzug ins Weiße Haus unter vielen konservativen Weißen wütende Ressentiments. Ohne die Bürgerrechtsreformen der 1960er Jahre wären Obamas Wahlsiege unmöglich gewesen. Das Wahlrechtsgesetz von 1965 unterstellte Registrierung und Wahlen im Deep South der Aufsicht des Bundes und stellte auf diese Weise sicher, dass schwarze Wähler ihre Stimmen ohne Beeinträchtigung abgeben konnten. Um neuen Diskriminierungen vorzubeugen, mussten sich die betroffenen Staaten alle Änderungen ihrer Wahlgesetze vom Bundesjustizministerium genehmigen lassen. Innerhalb kürzester Zeit verdoppelte sich die Zahl registrierter afroamerikanischer Wähler im Anwendungsgebiet des Gesetzes von 27 auf 55 Prozent und erreichte Ende der 1970er Jahre etwa das Niveau der weißen Süd-

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staatler. Zwischen 1964 und 1970 verzehnfachte sich im Süden die Zahl der gewählten schwarzen Mandatsträger auf rund 700 (Berg, »White Supremacy« 40). Allerdings gab es weiterhin Widerstand gegen die politische Beteiligung der schwarzen Bevölkerung, nur subtiler als in den alten Zeiten. Viele Bundesstaaten im Süden erließen Gesetze und Regeln, um den Erfolgswert schwarzer Stimmen zu verwässern. Die manipulative Einteilung der Wahlkreise, das altehrwürdige gerrymandering, sollte zum Beispiel sicherstellen, dass schwarze Wähler in keinem Stimmbezirk in der Mehrheit waren. Bürgerrechtler bekämpften solche Praktiken erfolgreich vor Gericht. Seit 1993 hat der Oberste Gerichtshof allerdings auch Versuche untersagt, ganz bewusst mehrheitlich von Afroamerikanern bewohnte Wahlkreise zu ziehen, um die Zahl der schwarzen Abgeordneten zu erhöhen (Berg, »Disfranchisement«). In einer knappen Mehrheitsentscheidung aus dem Jahr 2013 hob das Gericht schließlich den Abschnitt des Voting Rights Act auf, der festlegte, welche Wahlbezirke unter den Geltungsbereich des Gesetzes fielen. Die Kriterien aus dem Jahr 1964, so der Tenor des Urteils, seien veraltet und überhaupt gehöre die Rassendiskriminierung in der Politik inzwischen der Vergangenheit an (»Shelby County, Alabama v. Holder, Attorney General«). Afroamerikanische Kongressabgeordnete reagierten auf das Urteil mit einer Initiative, die entsprechenden Bestimmungen zu aktualisieren. Zwar betrafen die Beanstandungen des Supreme Court konkret die eher technischen und tatsächlich völlig veralteten Teile des Gesetzes, doch hat der Voting Rights Act als eine der größten und wirkungsvollsten Errungenschaften der Bürgerrechtsära eine hohe Symbolkraft. Das Gesetz hatte zum Beispiel entscheidenden Anteil daran, dass die Zahl der schwarzen Abgeordneten im US-Kongress zwischen 1965 und 2014 von sechs auf 43 Kongressmitglieder anstieg. Gegenwärtig haben über 10.000 schwarze Amerikaner im ganzen Land ein Wahlamt inne, unter ihnen bekanntlich der Präsident der Vereinigten Staaten (Brown-Dean et al. 3). Gewiss sind die Afroamerikaner, wie andere Minderheiten auch, in den Wahlkörperschaften gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil von 12,5 Prozent noch unterrepräsentiert, aber kein Wahlsystem – und erst recht nicht die in den USA vorherrschende relative Mehrheitswahl – garantiert Repräsentation gemäß dem ethnischen Proporz. Die Vorstellung, dass allein afroamerikanische Kandidaten und Politiker die Interessen der schwarzen Minderheit vertreten können, mag lange ihre Berechtigung gehabt haben, weil nur eine Minderheit der weißen Politiker dazu bereit war, um schwarze Stimmen zu werben und sich für die Belange der black community einzusetzen. Sie war aber auch unter Afroamerikanern immer kontrovers (Swain) und verliert in einer immer multiethnischeren Gesellschaft weiter an Plausibilität. Andererseits darf nicht übersehen werden, dass die politische Polarisierung nach Rassenzugehörigkeit noch immer eine beträchtliche Rolle spielt (BrownDean et al. 17-19). Da die überwältigende Mehrheit der Afroamerikaner demokratisch wählt, haben republikanisch dominierte Bundesstaaten in den letzten Jahren neue Wahlgesetze beschlossen, die Briefwahlen und vorzeitige Stimmabgabe einschränken und von Wählern verlangen, sich bei der Stimmabgabe

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durch ein offizielles Dokument auszuweisen. In einem Land ohne Melde- und Ausweispflicht verfügen aber gerade die Armen und Angehörigen ethnischer Minderheiten oft nicht über ein solches Dokument. Angeblich sollen diese Maßnahmen Wahlbetrug verhindern, doch Kritiker sehen sie als durchsichtige Versuche, Minderheiten bei der Registrierung und Stimmabgabe zu behindern. Zudem schließen viele Bundesstaaten Personen mit einer Vorstrafe ganz vom Wahlrecht aus. Schätzungsweise betreffen diese Gesetze etwa 5,3 Millionen Afroamerikaner, darunter vier Millionen, die ihre Strafe längst verbüßt haben. Etwa 13 Prozent aller erwachsenen schwarzen Männer können deshalb nicht wählen (Weiser und Norden; Manza und Uggen; Alexander 153-56). Im Unterschied zu den alten Zeiten des Jim Crow-Systems ist nicht primär Rassismus, sondern Parteipolitik das wichtigste Motiv hinter den Versuchen, Afroamerikanern das Wählen zu erschweren. Manipulationen der Wahlgesetze sind Teil einer politischen Kultur der schmutzigen Tricks, die in den USA eine lange Tradition hat. Ob die Strategie, die Wahlbeteiligung der Afroamerikaner und der Hispanics auf diese Weise niedrig zu halten, dauerhaft Erfolg verspricht, ist zweifelhaft. Der Anteil der Weißen an der Wählerschaft sinkt beständig, und die Republikaner müssen sich gut überlegen, wie lange sie noch allein auf ihre Basis unter den älteren weißen Konservativen setzen wollen. Bei den Zwischenwahlen vor 2014 ging dieses Kalkül noch einmal auf, bei den Präsidentschaftswahlen 2008 und 2012 zeigte sich, dass weiße Wähler allein nicht mehr reichen, um das Weiße Haus zu gewinnen. Allerdings ist ebenso wenig sicher, dass die »Obama-Koalition« zwischen einer starken Minderheit liberaler weißer Wähler und der überwältigenden Mehrheit der ethnischen Minderheiten auf längere Sicht die amerikanische Politik dominieren wird, wie die Strategen der Demokratischen Partei hoffen (Teixeira und Halpin 2-3). Dass die hohen Erwartungen, die Bürgerrechtsaktivisten in den fünfziger und 1960er Jahren in den Kampf für das Wahlrecht setzten (Berg, Ticket 166-90), enttäuscht wurden, kann aus historischer Sicht nicht überraschen. Gleichwohl bleiben gerade für die afroamerikanische Minderheit politische Repräsentation und Gewicht an den Wahlurnen essenziell. Alle Errungenschaften und Fortschritte, die sie in den vergangenen fünf Jahrzehnten erzielen konnten, waren das Resultat politischer Interventionen. So betont der Wirtschaftshistoriker Gavin Wright, dass die ökonomischen Zuwächse für die schwarze Bevölkerung des Südens seit der Bürgerrechtsära nicht von farbenblinden Marktkräften bewirkt wurden: »The achievements of the southern Civil Rights revolution provide an example of a strong interventionist central government policy that worked« (262). Wo dagegen der politische Wille zur Durchsetzung der Bürgerrechtsgesetze schwand, gab es Rückschläge, wie etwa bei der geschilderten Resegregation der Schulen. Auch die Rassendiskriminierung durch Polizei und Justiz wird nur auf politischem Wege beendet werden können.

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A usblick Martin Luther King sprach in seiner »I Have a Dream«-Rede von der Hoffnung, dass sich eines Tages schwarze und weiße Kinder als Brüder und Schwestern die Hände reichen werden. Mehr als fünfzig Jahre später ist die Herausforderung viel komplizierter, denn die Rassenbeziehungen in Amerika lassen sich nicht mehr auf die Farben schwarz und weiß reduzieren. Weiße euroamerikanischer Abstammung machten beim letzten Zensus gerade noch 64 Prozent der Bevölkerung aus, zur Mitte des 21. Jahrhunderts werden sie in der Minderheit sein. Nur noch knapp die Hälfte der heute geborenen Kinder ist weiß. Der Anteil der Afroamerikaner wird bei ca. 13 Prozent der Bevölkerung stabil bleiben, aber als größte ethnische Minderheit haben die Hispanics sie bereits überholt und werden um 2050 etwa ein Drittel der US-Bevölkerung stellen (Humes, Jones und Ramirez 4, Table 1; Passel und Cohn 9-10). Die Afroamerikaner ihrerseits sind längst keine homogene Gruppe mehr. Die wachsende Zahl von Einwanderern aus Afrika und der Karibik unterscheidet sich deutlich von den Schwarzen, die ihre Wurzeln auf die Geschichte der Sklaverei in Nordamerika zurückführen. Es war bezeichnend, dass schwarze Traditionalisten anfangs infrage stellten, ob Barack Obama überhaupt als authentischer Vertreter der Afroamerikaner gelten könne (Sugrue, Obama 108-09). Auch sozial ist das Bild gemischter, als wir oft annehmen. Das mediale Image der schwarzen Amerikaner wird immer noch stark vom Ghetto geprägt und wirtschaftlicher Erfolg wird mit Rappern und Sportlern assoziiert. Doch ist längst eine schwarze Mittelklasse aus Geschäftsleuten, Angestellten und Akademikern entstanden – nicht zuletzt durch affirmative action – die zu groß ist, um sie als bloße Ausnahmen abzutun. Die überwiegend schwarzen suburbs im Osten der Hauptstadt Washingtons sind fast so wohlhabend wie die weißen Vorstädte im Nordwesten. Afroamerikaner haben inzwischen auf allen Ebenen politische Ämter inne. Auch die Angehörigen der Mittelschicht, die nach der Bürgerrechtsära geboren wurden, haben sich zwar weiterhin das Gespür für Alltagsrassismus und institutionelle Diskriminierung erhalten, wehren sich aber dagegen, dass mehr als 40 Millionen Afroamerikaner auf eine kollektive Opferrolle reduziert werden, wie es in Teilen der akademischen Linken noch immer üblich ist, die Reparationen für die Sklaverei und die Rassentrennung fordert (Feagin; Martin und Yaquinto). Dort ist es auch Konsens, dass nur eine radikale Transformation des amerikanischen Kapitalismus den Rassismus überwinden kann und Amerika sich in einen Wohlfahrtsstaat skandinavischer Prägung verwandeln sollte. Eine solche Entwicklung ist freilich extrem unwahrscheinlich, tatsächlich gewinnt in den letzten Jahren ein libertärer Individualismus auch in den Teilen der US-Gesellschaft an Boden, wo der Rassismus keinerlei Rückhalt besitzt (Endler und Thunert 43-45). In der politischen Kultur der USA wird der Ruf nach Wandel auch zukünftig nur Gehör finden, wenn er in der Sprache der amerikanischen Zivilreligion von Freiheit, Individualismus und

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Chancengleichheit formuliert wird. Martin Luther King wusste dies, als er 1963 erklärte, dass sein Traum von Rassengleichheit und sozialer Gerechtigkeit der amerikanische Traum sei.

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Lynchmorde und der weiße Süden nach 1945 Christine Knauer

I. Floridas Gouverneur Millard Caldwell war wenig erfreut über die Ereignisse in seinem Staat. Fast hätte der Süden ein seit Längerem gestecktes Ziel erreicht: ein Jahr ohne Lynching. Aber im Oktober 1945 lieferte der Sunshine State »the only blot« auf der ansonsten scheinbar makellosen Lynchingstatistik (»One Mob Murder«). In Madison County, Florida war Jesse James Payne von Unbekannten aus dem Gefängnis entführt und getötet worden. Der afroamerikanische Landarbeiter saß wegen des Verdachts der Vergewaltigung der 5-jährigen Tochter seines Arbeitgebers in Haft. Da der Mob die Gefängniszelle mit einem Schlüssel geöffnet hatte, schien die Beteiligung des Gefängnispersonals wahrscheinlich. Jedoch gelang es der anschließenden Untersuchung weder Täter noch Zeugen ausfindig zu machen (Hobbs 156-89). Landesweit berichtete die Presse über das einzige vom Tuskegee Institute für 1945 aufgeführte Lynching. Diese erhöhte Aufmerksamkeit, die sein Bundesstaat im Gefolge dieses gewaltsamen Todes eines Schwarzen auf sich zog, brachte Caldwell in Bedrängnis. Viel stand auf dem Spiel. Es ging um seinen Ruf und um den seines Staates. Der Gouverneur ging zum Gegenangriff über und konstatierte, dass der Mord nicht unter »any recognized definition of lynching« falle (»Lone Lynching Staged in ’45«). Er stellte damit die Statistik des Tuskegee Institute und die Definition von Lynching im Allgemeinen infrage. Die Öffentlichkeit im amerikanischen Süden war über Caldwells Argumentation geteilter Meinung. So fragte der Charlotte Observer konsterniert, was genau Caldwell denn dann als Lynchmord einstufen würde (»Lynching Going Out«). Der Dothan Eagle hingegen pflichtete dem Politiker bei und lieferte eine längere Abhandlung über die richtige Definition eines Lynchings. Der Begriff, so die Zeitung, werde von Aktivisten missbraucht, um ein Anti-Lynching-Gesetz zu erwirken. Dafür werde auch mal ein alltäglicher Mord zu einem Lynching stilisiert (»Lynching Disputes«). Der Vorfall in Florida blieb keineswegs der einzige als Lynching eingestufte Mord an einem Schwarzen nach dem Zweiten Weltkrieg. Das verstärkte Auf-

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begehren der afroamerikanischen Minderheit gegen Ungleichheit und die Vorherrschaft Weißer lösten Gegenwehr aus. Damit nahm auch die Zahl versuchter und vollendeter Lynchings nach dem Zweiten Weltkrieg wieder merklich zu. Im Gegensatz zu Lynchmorden am Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wuchsen nun jedoch das nationale und das internationale Interesse an diesen Vorfällen stark an. Gemeinden, in denen sich die Verbrechen ereigneten – und mit ihnen der Süden im Allgemeinen – standen nun enorm unter Druck, die Gewaltausbrüche zu erklären und alles zu tun, um zukünftige Lynchings zu verhindern. Etablierte Handlungsmuster zur Abwehr von Wandel wie Gewaltandrohung und -ausübung, die in Lynchings ihren Höhepunkt fanden, wurden nicht nur in Washington mehr und mehr mit Argwohn betrachtet. In einem Klima der wachsenden nationalen und internationalen Aufmerksamkeit wurden sie selbst zur Bedrohung. Südstaatler wie Caldwell suchten händeringend nach Erklärungsmustern und wandten vielfältige Strategien an, um Ruf, Status und Einfluss des Südens zu verteidigen und auf lange Zeit zu sichern. Genau solche Versuche der Umdeutung der Lynchingdiskurse will der vorliegende Aufsatz in den Blick nehmen. Er beschäftigt sich mit den Strategien des weißen Südens im Umgang mit Lynchings, die nicht primär gegen die Praxis gerichtet waren, sondern eher die rhetorische Verhandlung und das Image des Südens im Blick hatten. Ausgangspunkt ist dabei die vom Historiker Christopher Waldrep identifizierte »importance of language« im Hinblick auf Lynchmorde. Er stellt die Datenbasis und den Nutzen von Lynchingstatistiken infrage und macht deutlich: »The history of lynching is profoundly rhetorical – the politics of meaning and definition« (4). Befürworter und Gegner außerrechtlicher Gewalt waren sich der Bedeutung von Sprache in ihrer Auseinandersetzung mit »extralegal violence« und deren Legitimität oder Illegitimität bewusst.1 Die Definition des Begriffs blieb vage. Dies beinhaltete viel Konfliktpotenzial, aber ließ auch viel Spielraum, den Begriff mit Bedeutung zu füllen und für sich zu nutzen. Beide Seiten definierten den Begriff immer wieder neu, um ihn für ihre eigenen Zwecke einzusetzen und ihre Zuhörer zu manipulieren. Sie kreierten in den Worten der Historikerin Susan Jean »stylized narratives of lynching« »to control the representation of the practice« (367, 351). Ausgehend von Waldrep beschränke ich mich hauptsächlich auf die Definition und die Verwendung des Begriffs »Lynching« im Diskurs und Aktivismus weißer Südstaatler. Die sprachliche Verwendung und Definitionsmacht über den Begriff spielten eine zentrale Rolle im Erhalt der white supremacy – der Vorherrschaft der Weißen – und der Segregation im Süden. Der Aufsatz zeigt, wie stark Weiße suchten, den Begriff »Lynching« für ihre Zwecke zu formen und umzudeuten. Einerseits wollten sie so viele gewaltsame Todesfälle Schwarzer im Süden wie möglich von der Definition ausnehmen. Andererseits versuchten sie, 1 | Zu dieser Thematik und dem Begriff der Diskursanalyse siehe auch Rushdy, The End of American Lynching (2012) und American Lynching (2012).

Lynchmorde und der weiße Süden nach 1945

den Begriff auf möglichst viele Straftaten im Norden auszudehnen. Besonders bezeichnend ist dabei die Verbindung zwischen dem neuen Lynchbegriff und dem Lynchnarrativ in der Bekämpfung von Gewerkschaften im Süden. Zwar gab es eine wachsende Zahl an liberaler denkenden Menschen, dennoch dominierten die konservativen Stimmen den Diskurs und die Politik des Südens (Sosna; Ward). Selbst politisch gemäßigte Eliten hielten meist an der weißen Überlegenheit und der Segregation fest, auch wenn sie sich für mehr Rechte für Schwarze einsetzten. In den Worten des Historikers David Chappell: »There is in liberalism as such nothing that precludes racial prejudice« (3). Dies wird besonders in Bezug auf Lynchings, ihre Begriffsdefinition und die Lynchnarrative deutlich. Offiziell zumindest lehnte die überwiegende Mehrheit der weißen Südstaatler Lynchings ab. Dennoch sollte ihr Bewältigungshandeln white supremacy und Segregation nicht infrage stellen, sondern stabilisieren.

II. Schon als Lynchmorde noch selten nationales oder gar internationales Interesse geweckt hatten, hatten Bundesstaaten, in denen Lynchings besonders häufig vorkamen, nach Strategien gesucht, um diese zu rechtfertigen. Der angebliche Hang Schwarzer zur Kriminalität und Gewaltbereitschaft wurde häufig ins Feld geführt und Grausamkeiten gegenüber der afroamerikanischen Bevölkerung damit als »Gegenwehr« verschleiert (Chappell; Perloff; Jean). Zentral war das Argument, die Ehre der weißen Frau müsse vor dem zur wilden Bestie degradierten schwarzen Mann bewahrt oder behütet werden (Cong. Rec. 21. Jan. 1907: 1438; Hodes 402-17). Die weiße Gesellschaft allgemein, so die Schlussfolgerung, müsse vor Kriminalität und Triebhaftigkeit Schwarzer geschützt werden. Eine große Mehrheit Weißer im Süden schämte sich lange nicht, an einem Lynching teilgenommen zu haben. Oft drängte man sich gar auf Bilder, die von den oftmals entstellten Leichnamen gemacht wurden. Moderne Reproduktionsmethoden machten den Verkauf und Konsum von Bildern und Postkarten der Lynchmorde möglich (Wood). Partizipation an einem warranted – also einem gerechtfertigten – Lynching war noch bis Anfang der 1930er Jahre akzeptierter Teil der weißen Südstaatenkultur, auch wenn die Zahl dieser gewalttätigen Übergriffe seit Beginn des 20. Jahrhunderts im Sinken begriffen war. Seit Ende des 19. Jahrhunderts prägten afroamerikanische Aktivisten den Begriff als Kennzeichnung eines gewalttätigen Übergriffes eines Mobs auf einen Afroamerikaner. Sie entzogen ihm dabei mehr und mehr seine positive, ordnungserhaltende Konnotation (Martschukat, »Strafgewalten« 239-59; »Lynching« 209-22). 1940 trafen sich Lynchgegner, allen voran die National Association for the Advancement of Colored People (NAACP), das Tuskegee Institute – die zwei größten afroamerikanischen Institutionen im Kampf gegen Lynchings – und die Association of Southern Women for the Prevention of Lynching (ASWPL), um eine Definition

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von Lynching zu entwickeln (Hall). Diese spricht von einem Lynching, wenn Beweise für den Tod des Opfers vorliegen und dafür, dass der Tod illegal von einer Gruppe unter dem Vorwand des Dienstes an Gerechtigkeit, Rasse oder Tradition herbeigeführt wurde (Berg 588; Waldrep 145-50). Zwar bezieht sich die Mehrheit der Historiker*innen noch heute auf diese Definition von 1940, jedoch blieb sie auch nach der scheinbaren Einigung weiterhin hochumstritten. Das Tuskegee Institute propagierte eine enge Definition, die gerne von Weißen herangezogen wurde. Die NAACP, die intern auch uneins war, ob und welche Definition gelten sollte, bevorzugte insgesamt eine weite Anwendung des Begriffs. Damit wollte sie sicherstellen, dass die sich verändernden Formen von Gewalttaten gegen Schwarze als Lynchings kategorisiert werden konnten. »Each lynching« war »evidence of the need for societal reform« (Waldrep 2, 10). Das Wort hatte eine enorme Wirkmacht im Kampf gegen white supremacy und Gewalt gegen Schwarze. Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg gerieten die Weißen in den Südstaaten unter starken Druck, den Begriff »Lynching« wieder unter ihre Kontrolle zu bringen und die Region vom herrschenden Stigma zu befreien. Die gesamte amerikanische Gesellschaft befand sich schon seit Längerem in einem Transformations- und Modernisierungsprozess. Auch die Rassenordnung, die Schwarze als minderwertig verstand und behandelte, wurde von Afroamerikanern verstärkt bekämpft. Viele Schwarze und Weiße sahen den Zweiten Weltkrieg als besonderen Wendepunkt. Während viele weiße Südstaatler zu einer klaren Rassenhierarchie zurückkehren wollten, forderte die afroamerikanische Minderheit mit ihrem selbstbewussten Auftreten das weiße Establishment mehr denn je heraus (Knauer 33-54). Auch das nationale Interesse war enorm gewachsen. Besonders die afroamerikanische Presse widmete sich den Ereignissen im Süden der USA ausführlich. Ihre Berichte über Lynchings unterstrichen die Gewalt und Zivilisationsferne des Südens. Im Falle des vierfachen Lynchmords in Walton County, Georgia im Jahre 1946 stellte der Chicago Defender, eine der größten afroamerikanischen Zeitungen, die Morde auf eine Stufe mit dem Massaker der deutschen Wehrmacht in Liditz, bei dem diese 150 Tschechen getötet hatte (»American Lidice«). Die afroamerikanische Tageszeitung Atlanta Daily World kommentierte: »We see lynching as the most dangerous threat to our American democracy and the ideal of law and order« (»Welcome, Baptists«). Lynching schaffte es aber auch auf die Titel- und Editorialseiten vieler weißer Zeitungen im Rest des Landes. Die dort erscheinenden Lynchnarrative und Kommentare ähnelten denen der afroamerikanischen Zeitungen. Die Wochenzeitung The Nation bezeichnete die neue Flut an Gewalt als »the most barbarous and shameful feature of American life« (»The Shape of Things«). Hatten sich bisher auf nationaler Ebene Medien und Politik lange Zeit nur vereinzelt und oft unkritisch mit Lynchmorden beschäftigt, stürzten sie sich nun auf diese Vorfälle. Dabei malten sie ein Bild eines rückständigen Südens, der in alten, abzulehnenden Verhaltensmustern verankert war. Der Imageschaden für die USA schien, vor allem vor dem Hintergrund des beginnenden Kalten Krieges, unabsehbar. Ausländische Medien, allen voran die

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sowjetischen, berichteten über die rassische Gewalt im Süden. Sie wiesen auf die Bigotterie der amerikanischen Demokratie hin und monierten die Unterdrückung von Minderheiten. Im Kampf um die Gunst und Unterstützung vor allem der afrikanischen Staaten war dieser Schandfleck der amerikanischen Demokratie besonders verheerend: Berichte über die Misshandlung von Afroamerikanern führten dort zu einem Vertrauensverlust gegenüber den USA (»AntiU.S. Trends«; »Georgia«). Das von Präsident Harry S. Truman nach einer Kette von Gewalttaten gegen Schwarze eingesetzte President’s Committee on Civil Rights nannte in seinem Bericht 1947 Lynching »one of the most serious threats to the civil rights of Americans«. Lynchmorde galten somit als eine ernste Bedrohung der amerikanischen Ordnung mit unvorhersehbaren Folgen. Somit waren mehr als je zuvor Lynchmorde, rassische Gewalt und ganz allgemein Rassenbeziehungen nicht mehr nur lokale, sondern nationale und gar internationale Probleme. Das Committee beschrieb die Lage mit folgenden Worten: The repercussions of such a crime are heard not only in the locality, or indeed only in our own nation. They echo from one end of the globe to the other, and the world looks to the American national government for both an explanation of how such a shocking event can occur in a civilized country and remedial action to prevent its recurrence. (United States, President’s Committee on Civil Rights 22: 101-02)

Für den Rest des Landes war ganz klar der Süden hauptverantwortlich für diesen Imageschaden. Die Südstaaten standen nun unter besonderer Beobachtung und Kritik (Dudziak; Roman). Sie steckten, so ein häufiger Einwand, zwischen dem Fortschritt der Nachkriegszeit und den veralteten Verhaltensmustern fest (Miller 15).

III. Politiker und Kommentatoren aller Couleur im Süden sahen sich angesichts dieser Vorwürfe zu öffentlichen Stellungnahmen gezwungen. Es ging um den Ruf des Südens, seinen politischen Einfluss und seine wirtschaftliche Prosperität. Vielmehr noch ging es aber um den Erhalt der Rassenverhältnisse, in denen Schwarzen Rechte entzogen waren und sie segregiert lebten. Wie für Afroamerikaner ging es im Diskurs um Lynching um mehr als nur das Ende von Gewalt. Es ging darum, white supremacy zu erhalten und jenen gesellschaftlichen Wandel zu verhindern, den die auf begehrenden Afroamerikaner erreichen wollten. Die Rassen- und Klassenverhältnisse sollten daher auch mithilfe der Deutungshoheit über den Lynchingdiskurs stabilisiert werden. Weiße Zeitungen und Politiker aus dem Süden suchten das Wort »Lynching« von rassistischer Gewalt im Süden und seiner Bevölkerung zu trennen. Nach einem Mord an zwei jungen afroamerikanischen Paaren in Georgia sah sich

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Richard B. Russell, einer der zwei demokratischen Senatoren aus Georgia und überzeugter Segregationist, gezwungen, den Staat und seine Bürger zu verteidigen. Er bezeichnete den gewaltsamen Tod der vier jungen Schwarzen als »brutal crime« (Cong. Rec. 27. Juli 1946: 10259-60). Jedoch verwendeten weder er noch seine ihn unterstützenden Kollegen den Begriff »Lynching« während ihrer Erklärungen im Senat. Denn ein Lynchmord war in ihren Augen letztlich nichts anderes als ein Mord und sollte auch so gewertet werden. Sie beschrieben die Tat daher als »normalen« Mord und bezeichneten Bürgerrechtler und Zeitungen aus dem Norden als Propagandisten, die versuchten, politisches Kapital aus »crimes in which Negroes are the victims« zu schlagen (Cong. Rec. 27. Juli 1946). In ihren Augen erschwerten Lynchmorde und bereits die Bezeichnung einer Gewalttat an Schwarzen als Lynching den Erhalt der weißen Vormacht. Die dem Lynching zugrundeliegende und perpetuierte systemische Unterdrückung von Schwarzen sollte nicht aufgedeckt und problematisiert werden. Das nun mit dem Begriff verbundene Stigma der Gesetzlosigkeit wurde in den Zeitungen des Südens und in den politischen Debatten relativiert, indem eine klare Trennung zwischen Mob und weißer Bevölkerung vorgenommen wurde. Während zu Hochzeiten der Lynchings die Lynchmobs oftmals als »law-abiding citizens« beschrieben wurden, um die Notwendigkeit und Rechtmäßigkeit der Tat zu unterstreichen, wurden nun die nicht direkt beteiligten Bürger als »law-abiding and upright« und »as much opposed to any murder as would the people of any other county of this country« dargestellt (Cong. Rec. 27. Juli 1946). Offiziell verbannten die weiße Presse und Öffentlichkeit im Süden den Mob damit aus der Mitte der weißen Gesellschaft (Cong. Rec. 27. Juli 1946). Trotz allem wurden die Täter nicht identifiziert und somit nicht vor Gericht gebracht. Im Fall der Lynchmorde an Willie Earle 1947 (Gravely 93-118; Fredrickson) und Emmett Till 1955 folgten zwar jeweils Prozesse, jedoch wurden die Angeklagten trotz Geständnissen und stichhaltiger Beweise freigesprochen. Während die afroamerikanische community große Kritik übte, feierte die weiße Presse bereits die Prozesse selbst als großen Erfolg und Zeichen des Fortschritts. Lynchmorde, so die Argumentation, seien so gut wie ausgerottet, daher bedürften sie keiner besonderen Aufmerksamkeit mehr (»Trial of Lynchers«). Dabei löste insbesondere der gewaltsame Tod des vierzehnjährigen Emmett Till ein bisher unbekanntes nationales und internationales Medieninteresse aus. Zahllose Zeitungen schickten Reporterteams nach Money, Mississippi um die Ereignisse im Detail zu verfolgen. Als Anfang September die entstellte Leiche Tills aus einem Fluss gezogen wurde, war für die afroamerikanische community klar, dass der Mord an Till ein Lynching gewesen war. Der Pittsburgh Courier, eine der einflussreichsten schwarzen Zeitungen, titelte »Mississippi Lynches Boy« und die NAACP und National Urban League taten alles, um den Fall in den gesamten USA als Lynchmord publik zu machen (»Mississippi Lynches Boy«; »Youth’s Lynching«). Der Begriff dominierte die öffentliche Debatte und löste eine starke Gegenreaktion in Money und in Großteilen des Südens aus, die sich dadurch aufs

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Tiefste diffamiert sahen. Die große Mehrheit der Südstaatler zeigte sich zwar geschockt, vor allem von der Brutalität, mit der Till ermordet worden war. Jedoch stellte eine wachsende Zahl vor allem auch der lokalen Medien die Verwendung des Begriffs »Lynching« infrage. Die Jackson Daily News monierte, wieso der Mord an Till als Lynching bezeichnet werde, wenn ein scheinbar ähnlicher Fall in New York diese Bezeichnung nicht erhalte (Metress).2 Die Baltimore Sun forderte: »let’s not call it a lynching« (»But Don’t Call This a Lynching«). Die Delta Democrat Times, eine gemäßigte Zeitung in Mississippi, bestritt vehement, dass der Mord, so brutal er auch war, ein Lynchmord gewesen sei: »They are calling this a lynching in some places outside of Mississippi. Well, it wasn’t« (»Lynching Post-Facto«).

IV. Seit Jahrzehnten hatte die afroamerikanische community, allen voran die NAACP, versucht, mit Hilfe progressiver Abgeordneter aus dem Norden ein Anti-LynchingGesetz durch den Kongress zu bringen. Die Gesetzesvorschläge dazu variierten zwar im Detail, sie alle teilten aber den Ansatz, dass in der Strafverfolgung und im Gerichtsverfahren Bundeskräfte zum Einsatz kommen sollten. Des Weiteren sollten auch Polizisten und das County, also der Landkreis, schadensersatzpflichtig sein. Während sich das Repräsentantenhaus offener zeigte, erwies sich der Senat als größte Hürde im Kampf um striktere Gesetzgebung gegen Lynching und rassistische Gewalt. Auch der wachsende Unmut in der Bevölkerung gegenüber der rassischen Gewalt im Süden der 1930er Jahre änderte nichts daran (Finley; Rable 201-20). Mit Ende des Zweiten Weltkriegs wuchs der Druck auf den Kongress weiter. Nach jedem Lynchmord brach eine neue Debatte über die Notwendigkeit eines Gesetzes auf Bundesebene aus. Nach dem Vierfachlynchmord in Georgia 1946 warnte Gladstone Williams, Kolumnist der Atlanta Constitution, dass dieser Ausbruch von Gewalt den Weg für eine neue Gesetzgebung ebnen werde: »The latest outbursts of mob violence near Monroe has done more than anything to undermine the efforts of Southern Congressmen to prevent passage of a Federal anti-lynch law. No similar incident in recent years has aroused Congress as the one at Monroe.« Ähnlich argumentierte die liberaler orientierte Delta Democrat-Times nach einem Freispruch einer Gruppe von Lynchern in South Carolina 1947: »But until in some Southern state a jury some day brings in a verdict of guilty against men who refuse to let the law punish a wrongdoer, the South must expect continued and finally successful attempts to enact a federal anti-lynching bill. We’ve asked for it« (»South Carolina Fiasko«). Wenn der Süden die Probleme nicht in

2 | Es gibt eine Vielzahl von Büchern und Aufsätzen zu Emmett Till; siehe z.B. Whitfield (1988); Houck und Grindy (2008); Mace (2014).

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den Griff bekomme, werde irgendwann die gefürchtete Intervention des Bundes folgen. Mit jedem Lynchmord wurden tatsächlich die Stimmen in der Bevölkerung lauter, ein solches Anti-Lynching-Gesetz zu verabschieden. Auch im Süden forderten Bürger vermehrt eine gesetzliche Regelung auf Bundesebene. Nach einem Lynchprozess ohne Verurteilung im Jahr 1947 schrieb ein Leser der Dallas Morning News: The latest and greatest American disgrace [lynching] occurred recently in North Carolina when twenty-eight lynchers were set free after many confessed who the actual killer was. All this proves that the states will not exercise their power to prevent lynchings as given them by the Fourteenth Amendment of the Constitution. We must have a federal antilynching law if we would save America, especially our Southland from this disgrace. (Porter)

Ein solches Gesetz sollte vor allem erst einmal sicherstellen, dass die Ermittlung und Verfolgung der Täter auf Bundesebene erfolgen konnten, da die lokalen und einzelstaatlichen Kräfte entweder nicht in der Lage oder willens waren, ihrer Aufgabe nachzugehen. Auch wenn eine wachsende Zahl von Bürgern im Süden ein Gesetz dieser Art für notwendig hielt, taten ihre Repräsentanten in Washington alles in ihrer Macht Stehende dagegen. Die Machtverhältnisse in Washington machten eine Blockadehaltung möglich. Die Kongresswahl 1946 brachte zwar den Republikanern eine Mehrheit in beiden Häusern, stärkte aber auch die Position der demokratischen Abgeordneten aus dem Süden. Während im Rest des Landes Demokraten Sitze an Republikaner verloren, wählte der Süden weiterhin demokratisch. Somit hatten Demokraten aus dem Süden nun eine fast uneingeschränkte Macht, Vorschläge wie ein Anti-Lynching-Gesetz zu blockieren. Politiker aus dem Süden waren sich nur in wenigen politischen Fragen einig. Im Hinblick auf Bürgerrechte und afroamerikanische Gleichberechtigung bildeten sie aber eine geschlossene Front der Ablehnung (Finley 20). Man war sich bewusst, dass das Anti-Lynching-Gesetz nur die Spitze des Eisbergs der von Schwarzen geforderten sozialen Reformen war. Umso mehr musste es aus ihrer Sicht bekämpft werden (Finley 20; Ward 22-24). Politiker und Zeitungen aus dem Süden verbreiteten ihre Ansicht, dass ein Gesetz auf Bundesebene der falsche Weg und kontraproduktiv sei, um Lynchmorde zu verhindern. Sie monierten, dass »Lynching« dann ein regional und nur in Bezug auf Afroamerikaner benutzter Begriff werden würde. Diese Verwendungsweise diffamiere den Süden und lasse ähnlich gelagerte Straftaten im Rest des Landes unberührt (Finley 15-55).3 Der Abgeordnete John Rankin aus Mississippi sprach vielen Südstaatlern aus dem Herzen, als er konfrontativ beanstandete: »Now, if this would prevent the crime of lynching, the crime for which these men 3 | Die Argumentation gegen die Vorschläge zeigt deutliche Parallelen zu den Debatten über den 1937 dem Kongress vorliegenden Wagner-van Nuys-Entwurf.

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are put to death and put a stop to it, of course everybody would be for it. But that is not the object of it. The object of it is to nag the Southern States and to protect the Negro rapist who outrages a white woman« (United States, Cong. House, Committee of the Judiciary, Hearings before Subcommittee No. 4: 122-23). Der Begriff könne auch von scheinbaren Opfern und Opferfamilien missbraucht werden, um die im Anti-Lynching-Gesetz festgeschriebenen Strafzahlungen einzufordern. Wie unter anderem der Abgeordnete Sam Hobbs (Alabama) argumentierte, bestraften die vorgeschlagenen Gesetze Unschuldige, die alles dafür täten, dem Lynching ein Ende zu setzen (United States, Cong. House, Committee of the Judiciary, Hearings before Subcommittee No. 4: 80-86). Der Süden wurde auf diesem Wege zum eigentlichen Opfer von Lynchmorden und der dagegen gerichteten Gesetzgebung stilisiert. Afroamerikaner wurden in dieser Argumentation zu Tätern, die mit Hilfe Washingtons den Süden ungerechtfertigt vermehrt des Lynchings bezichtigen und sich daran finanziell bereichern würden (»When Lynching Pays«). Erneut folgten Südstaatler der Strategie, einerseits Gewalttaten gegen Afroamerikaner durch Weiße im Süden nicht als Lynchings zählen zu lassen, andererseits aber »any murder in which three or more killers take the life of a victim of their own or a different race« in die Definition einzubeziehen (Carter). Entsprechend stand im Zentrum der intensiven Debatten im Kongress und in der Presse wiederum die Definition des Begriffs. Die dominante Frage war, welche Vorfälle vom Begriff und vom Gesetz abgedeckt werden würden. Unter den vorliegenden Gesetzesvorschlägen, so der Vorwurf von Südstaatlern, würde Mobgewalt in anderen Landesteilen nicht verfolgt werden. Der Süden würde als schlechtes Beispiel diffamiert, während der Norden seine eigenen Vorfälle unter den Teppich kehren könne. Nach dem Lynching in Monroe 1946 schrieb eine Frau aus Georgia an Senator Russell: »Why is it that if a killing occurs here it is called a lynching and if in another section just a killing?« (Zit. in Brightwell) Ganz in diesem Sinne argumentierte Thomas T. Pope, Vorsitzender der South Carolina Bar Association, zehn Jahre später: We have got a lynching law in South Carolina. They do not have one in Massachusetts, and just a few days ago, within the last 10 days, a Negro man was accosted on the street, and I notice from the Associated Press accounts that it is not called a lynching in Boston. It would be called a lynching in South Carolina, and we would admit that it was a lynching, and just because they lynch a Negro in Boston it does not mean that the Federal Congress has to pass a law to step in and take the place of Massachusetts law. (United States, Cong. House, Committee on the Judiciary, Hearings before Subcommittee No. 5, 85. Cong., 1. Sitzung, Feb. 1957: 1280)

Weiße Südstaatler seien nicht die Haupttäter, sondern vielmehr die Opfer einer Kampagne, die den wahren Ort und die Quelle der Gewalt verdecken würden. Nicht nur fand man Lynchmorde im Norden der USA, vielmehr wurde auf die steigende Gang-Gewalt und auf Rassenaufstände hingewiesen. Diese seien die

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wesentlich größere Gefahr für Schwarze und für die innere Sicherheit im Allgemeinen als Lynchmorde es jemals waren und jemals wieder sein würden – so die Argumentation. Zudem wurde in diesem Zusammenhang auf die Übergriffe von Schwarzen auf Weiße, vor allem auf weiße Frauen, und von Schwarzen auf Schwarze in Gangs, die um ein Mehrfaches die Lynchmorde im Süden überträfen, hingewiesen. Statistiken zur Kriminalität Schwarzer wurden dabei als colorblind Quelle zitiert (United States, Cong. House, Committee on the Judiciary, Hearings before Subcommittee No. 5, 85. Cong., 1. Sitzung, Apr., Mai, Juni, Juli 1956: 310). Jedoch basierten und basieren Kriminalitätsstatistiken unter anderem auf rassistischer Polizeiarbeit und rassistischen Verurteilungen und sind keineswegs race-neutral (Muhammad 3; Adler 42-44). Darüber hinaus versuchte der neue Lynchingdiskurs in der südstaatlichen Presse, eine omnipräsente Bedrohung durch Schwarze als nationales Problem zu konstruieren. Zeitungen berichteten von tätlichen Übergriffen und Vergewaltigungen durch schwarze Männer an weißen Frauen in New York und Chicago. Nicht ohne Häme berichtete unter anderem die Savannah Morning News von einem versuchten Lynching in New York nach einem angeblichen sexuellen Übergriff durch einen Schwarzen, das nur durch den beherzten Eingriff der Polizei verhindert werden konnte (»Crime-Wave«). Die Berichterstattung bediente damit einerseits weiterhin den Mythos des black beast rapist und der black criminality. Gewalt war demnach kein strukturelles Problem basierend auf Ungleichheit und Rassismus, sondern ein afroamerikanisches Problem, vor allem im Norden. Während der Süden sein »negro problem« unter Kontrolle habe und mit Schwarzen umzugehen wisse, stehe der Norden nun durch die Migration vor ungeahnten Problemen (»Race Problem«; »Mississippi«). Der weiße Süden versuchte, die Aufmerksamkeit auf die Rassenverhältnisse im Rest der USA zu lenken. Der Southern exceptionalism in Rassenfragen wurde damit infrage gestellt oder wenigstens relativiert (Crespino und Lassiter; Lichtenstein). Der Versuch einer Neudefinition bzw. Ausdehnung des Begriffs durch den weißen Süden manifestierte sich auch in der rhetorischen Verknüpfung von Arbeiterstreiks mit Lynchmorden. Durch den New Deal und massive Investitionen des Bundes während des Zweiten Weltkriegs florierte die Wirtschaft im Süden zum Ende des Kriegs. Für Unternehmen war der Süden wegen seiner arbeitgeberfreundlichen Bedingungen sehr attraktiv. Niedrige Löhne und das Fehlen von Gewerkschaften waren die Hauptgründe für viele Firmen, sich unterhalb der Mason-Dixon-Linie niederzulassen. Als der Congress of Industrial Organizations (CIO), ein Zusammenschluss von Gewerkschaften, 1946 mit der Operation Dixie Arbeiter im Süden gewerkschaftlich zu organisieren versuchte, drohte die Macht der Unternehmer eingeschränkt und das wirtschaftliche Wachstum gestört zu werden. Industrien aus dem Norden, so befürchtete man, würden sich vom Süden abwenden. Der Wirtschaftsboom, der seit dem Zweiten Weltkrieg Einzug erhalten hatte, drohte aus dieser Sicht zu Ende zu gehen. Allerdings sprachen sich nicht alle Südstaatler gegen die Etablierung von Gewerkschaften im Süden aus. Libera-

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lere Stimmen, wie der ehemalige Gouverneur von Georgia Ellis Arnall, vertraten die Ansicht, dass »[w]ithout the unions, the wage differential would forever hang over the head of the Southern worker« (Arnall 264-65). Gewerkschaften würden vielmehr helfen, das immer noch bestehende wirtschaftliche Gefälle zwischen Nord und Süd zu beheben. Erschwerend kam aber hinzu, dass der CIO im Hinblick auf »racial harmony« weiter ging als die meisten Organisationen nach dem Zweiten Weltkrieg (Cohen 337). Die Organisation und ihre Kampagne, so liberale Einschätzungen, würden schneller zu afroamerikanischem Fortschritt und einem Ende der Segregation führen als jede andere Bewegung (Honey 441). Somit gefährdete die Gewerkschaft nicht nur den wirtschaftlichen Status quo, sondern auch die bestehende Rassenordnung im Süden. Für Segregationisten in Presse und Politik im Süden waren »unions and racial integration […] inextricably linked« (Atkins 12). Konservativere Politiker und wirtschaftsnahe Kräfte der Region setzten hingegen alles daran, die Expansionsbestrebungen der Gewerkschaften, ebenso wie die der Bürgerrechtsbewegung, zu bekämpfen (Honey).4 Auch die Südstaatler setzten vermehrt die Gewerkschaftler mit Lynchmobs in Verbindung. Inmitten der andauernden Debatte über ein Anti-Lynching-Gesetz versprach die Gleichsetzung der Arbeiterbewegung mit Mobs eine Ablenkung von den offensichtlichen Problemen und war gleichzeitig eine Attacke auf die Ausdehnung der Gewerkschaften und ihr liberaleres Weltbild. So beschrieb Alabama, eine Zeitschrift aus dem Süden mit einer eindeutigen pro-business-Ausrichtung, dass Angriffe von Gewerkschaftlern gegen nicht organisierte Arbeiter schlimmer seien als Ku-Klux-Klan-Angriffe: »This brutal assault was, if anything, worse than the klan raids. Will the governor and the attorney general issue statements condemning such lawlessness by union goons? Probably not, for labor unions in Alabama control quite a number of votes« (»Wishful Thinking«). Politiker und Zeitungen aus dem Süden protestierten vehement, als Anti-Lynching-Gesetzesentwürfe im Jahr 1948 explizit Gewalt zwischen »gangsters or racketeers« und bei »labor disputes« ausschlossen (United States, Cong. House, Committee on the Judiciary, Subcommittee, Crime of Lynching Hearings: 6). Nicht Lynchmorde, die sich ohnehin kaum noch ereigneten, sondern Gewerkschaftsgewalt sollte vom Anti-Lynching-Gesetz abgedeckt werden. Die Assoziierung oder Anwendung des Begriffs auf Streiks überlebte das Ende der Operation Dixie. In einer Sitzung des House Judiciary Committee im Jahr 1957, in der auch Anti-Lynching-Gesetzesvorschläge diskutiert wurden, kritisierte der Generalstaatsanwalt Eugene Cook, dass gewalttätige Vorfälle, die während Arbeiterstreiks passierten, nicht abgedeckt würden:

4 | Zur wirtschaftlichen Entwicklung des Südens nach 1945 siehe: Wright (1980); Schulman (2007); Lewis (2007).

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Christine Knauer It is somewhat hypocritical, to say the least, for the labor-union leaders who have so vigorously advocated this legislation to completely ignore their own problem and secure exemption from the bill’s coverage. Murder committed against innocent people trying to make a living for themselves during a labor dispute is no less despicable than murder committed because of one’s race, and it is only necessary to read the daily newspapers to perceive which occurs more frequently. (United States, Cong. House, Committee on the Judiciary, Hearings before Subcommittee No. 5. 85. Congr., 1. Sitzung, Feb. 1957: 818)

Im Zuge der Verknüpfung von Gewerkschaftsaktivismus und Lynching kam es zumindest rhetorisch zu einem Schulterschluss zwischen Gewerkschaftsgegnern im Süden und Norden der USA. Landesweit versuchten wirtschaftsnahe Kräfte, Gewerkschaften zu diffamieren, ihre Machtausdehnung zu verhindern und eine unternehmerfreundliche Politik zu etablieren. Westbrook Pegler, einer der vehementesten Gewerkschaftsgegner, warb für seine radikale Position in seiner landesweit vertriebenen Kolumne Fair Enough (Witwer). Darin zeigt sich wie die Ablehnung von Gewerkschaften mit einer wachsenden Unterstützung des Erhalts von white supremacy und Segregation im Süden verknüpft wurde. In einer Vielzahl von Kolumnen setzte er Gewerkschaftsaktivismus mit Mobs gleich: »In view of the fact that the lynching mobs of the CIO do not stand accused of any offense against law, these beatings and stonings are something worse than lynching« (Pegler). Auch der der Republikanischen Partei nahestehende Chicago Daily Tribune bekräftigte die Vergleichbarkeit von Streiks und Mobaktivitäten: »Every member of a strike mob, like every participant in a lynching, knows he is acting in violation of the law. The defiance is just as deliberate and just as often subservient. In each case the mob takes the law into his own hands« (»Mobs«). Demokraten aus dem Süden und Republikaner näherten sich einander somit rhetorisch und auch ideologisch in der Frage von Lynchings und Lynchinggesetzgebung an (Finley 51).

V. Der Begriff »Lynching« und seine Implikationen haben auch heute noch eine große Bedeutung. Im Jahr 2000 führte die landesweite Ausstellung Without Sanctuary mit weit über einhundert Lynchingfotografien zu einem verstärkten Interesse an der Geschichte der Lynchmorde in den USA und zu einer intensiven Diskussion über Schuld und Scham über das, was der Historiker Joe Williamson einmal den amerikanischen Holocaust genannt hat (Allen und Lewis). Die aufrüttelnde Ausstellung löste im Kongress eine Kampagne aus, die eine offizielle Entschuldigung für das jahrzehntelange Unvermögen des Senats, ein Anti-Lynching-Gesetz zu verabschieden, forderte. Am 13. Juni 2015 verabschiedete der Senat eine Resolution, in der er sich bei den »victims of lynching and the descendants of those victims for the failure of

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the Senate to enact anti-lynching legislation« entschuldigte (United States, Cong. House, Senate, Lynching Victims Senate Apology Resolution). Mary Landrieu, Demokratin aus Louisiana und die treibende Kraft hinter der Resolution, sprach in diesem Kontext über Schuld und Verantwortung des Senats in dem langanhaltenden Kampf um das Ende des Lynching in den USA: »[T]here may be no other injustice in American history for which the Senate so uniquely bears responsibility« (Cong. Rec. 13. Juni 2005: S6365). Auch wenn Lynchmorde im Rest des Landes verübt worden seien, treffe den Süden eine besondere Verantwortung: »For while lynchings occurred in 46 of the 50 States, and people of all races were affected, it would be a mischaracterization to suggest that this was not a weapon of terror most often employed in the South, and most often against African Americans«, urteilte die Politikerin (United States, Cong. House, Senate, Lynching Victims Senate Apology Resolution). Bei der Abstimmung waren Nachkommen von Lynchopfern anwesend sowie James Cameron, der letzte Überlebende eines Lynchversuchs, der nur mit großer Not einem Mob in seiner Heimatstadt Marion, Indiana, im Jahre 1930 entkommen war. Obwohl es nicht das erste Mal war, dass sich der Kongress für ein Fehlverhalten entschuldigte, war es dennoch ein außergewöhnliches Ereignis, das von vielen als ein weiterer Schritt zur heilsamen Aufarbeitung der amerikanischen Geschichte angesehen wurde. Rassismus und Ungleichheit sollten, so schien es vor allem weißen Amerikanern, nun endlich der Vergangenheit angehören, und Kritik der afroamerikanischen community schien obsolet. Der Schwerpunkt auf »unity« in Barrack Obamas Wahlkampf und seine Wahl ließen viele an Amerika als »post-racial society« glauben (Obama). Die USA schienen ihre rassische Vergangenheit nun endgültig hinter sich gelassen zu haben (Tesler 14). Dabei spiegelt sich die Vergangenheit ganz offensichtlich in der strukturellen Ungleichheit zwischen der schwarzen und der weißen Bevölkerung wider, wie zum Beispiel in den weiterhin auseinanderklaffenden Vermögen und Einkommen und sogar der unterschiedlichen Lebenserwartung. Rassismus und Ungleichheit bleiben für die afroamerikanische Bevölkerung in allen Landesteilen bittere Realität. Besonders die zahlreichen Todesfälle schwarzer Männer und Frauen durch Polizeigewalt haben den Begriff »Lynching« mit all seiner Wortgewalt und Vagheit wieder aufs Tableau gebracht. Die gewaltsamen Tode von Afroamerikanern wie Trayvon Martin oder Michael Brown5 werden vor allem von afroamerikanischen und (links-)liberalen Gruppen in diesen Kontext gestellt. Vergleiche zwischen Lynchings und der Polizeigewalt lassen sich vielfach ziehen. Vor allem auch die mit den Vorfällen einhergehende Kriminalisierung der Opfer und die Straflosigkeit der Täter sind auffallend ähnlich (»Trayvon Martin«; Moss). Auch weitere Reaktionen der weißen Mehrheitsgesellschaft weisen auf Parallelen und die Flexibilität von white privilege und supremacy hin. Protest von Afroamerikanern wird als überzogen und die innere Sicherheit gefährdend eingestuft. Schwarze Demonstranten werden sogar als »lynch mob« bezeichnet, 5 | Zum Fall Michael Brown siehe auch Luvena Kopps Beitrag in diesem Band.

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ein Ausdruck »[that] diminishes the painful history of this country and unfairly slanders the citizens who have taken to the streets« (Blow). Die Gewalttaten an schwarzen Amerikanern und Amerikanerinnen werden vielmehr wie auch die Lynchings nach 1945 als Einzelfälle beschrieben. Die Gründe werden so vor allem von konservativen Kreisen oft individualisiert und von systemisch bedingten Faktoren wie Rassismus, Ungerechtigkeit und Ungleichheit abgespalten. Rhetorische Parallelen zwischen heute und den Reaktionen auf Lynchings sind damit nicht von der Hand zu weisen.

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Der Schatten Jim Crows: Segregation des öffentlichen Raumes in Nashville – damals und heute Benjamin Houston (Übersetzung Astrid Franke)1

Wer den Süden der USA kennt, kennt vermutlich auch Nashville: eine gemütliche Stadt der amerikanischen Mittelschicht in der Mitte Tennessees. In den USA ist sie aus einer Reihe von Gründen bekannt: Sie ist Sitz vieler Universitäten, Kirchen und anderer religiöser Institutionen, sie ist ein wichtiger regionaler Standort für Banken und Versicherungen und sie ist das Zentrum der country music. Nashville besitzt auch ein wichtiges Erbe der Bürgerrechtsbewegung. Hier wuchsen eine Reihe wichtiger studentischer Bürgerrechtler auf, die in den 1960er Jahren sit-ins organisierten, 1961 die Freedom Rides retteten und eine entscheidende Rolle in der Bewegung insgesamt spielten.2 Diane Nash, John Lewis, Marion Barry, James Bevel, Bernard Lafayette und andere hingen besonders an Mahatma Gandhis Lehre von gewaltlosem Widerstand als einem Lebensstil und nicht nur einer Taktik. Aufgrund ihrer Auffassungen und ihres politischen Handelns sind sie tragende Figuren in der Geschichte der Bürgerrechtsbewegung. Auch wenn die Geschichten einzelner Bürgerrechtler faszinierend sind, möchte ich hier einen anderen Ansatz verfolgen und stattdessen die Dynamik der Rassenbeziehungen beleuchten und vor allem auf die Zeit vor und nach den 1960er Jahren schauen. Dabei hat diese Untersuchung ihre eigene Dynamik: Eigentlich faszinier1 | Dieser Aufsatz enthält in komprimierter Fassung ein Argument, welches in The Nashville Way: Racial Etiquette and the Struggle for Social Justice in a Southern City (2012) entfaltet wird. Die Quellen des Textes stammen alle aus diesem Buch. 2 | Die Freedom Riders waren Gruppen von weißen und schwarzen Bürgerrechtlern, die gemeinsam in Überlandbussen in den Süden fuhren. Obwohl der Oberste Gerichtshof die Segregation in öffentlichen Verkehrsmitteln verboten hatte, wurde in den Südstaaten nichts dafür getan, dieses Urteil auch umzusetzen – im Gegenteil: Man beharrte weiterhin auf den getrennten Sitzen. Die Freedom Riders also spekulierten darauf, verhaftet zu werden, um auf dem juristischen Wege das eigentlich geltende Recht umzusetzen.

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te mich die Bürgerrechtsbewegung und mein Ansatz ist der der Sozialgeschichte. Im Verlauf der Untersuchung aber wurden Fragen der Lokalpolitik und der Stadtplanung zunehmend wichtiger für die Entwicklung der Rassenbeziehungen, sodass ich mich auf dieses Feld stützen musste. Das Beispiel Nashville, so möchte ich im Folgenden zeigen, hilft uns das Phänomen der Segregation besser zu verstehen, nämlich zum einen in Hinblick auf den physischen Raum, der durch sie bestimmt und definiert wird, und zum anderen in Hinblick auf den sozialen Raum, der in gewisser Weise Rasse produziert: Er kontrolliert Schwarze und privilegiert Weiße. Letzteres, so argumentiere ich, geschah durch komplizierte Formen der Etikette, die alltägliche Interaktionen zwischen Weißen und Schwarzen regulierten. Ersteres jedoch geschah implizit durch eine Neuordnung der Stadtlandschaft Nashvilles. In beiden Fällen spielt das Verhältnis von Sitte und Gesetz als Regularien des Rassenverhältnisses eine Rolle und verbindet Sozialgeschichte mit Lokalpolitik. Die Idee, diese Aspekte zu verknüpfen, führt zu einem Verständnis davon, wie sich das Verhältnis zwischen Schwarzen und Weißen veränderte – und wie es doch auch gleichblieb. Ich möchte mit einer Art Stadtführung durch die Innenstadt Nashvilles in den 1940er Jahren beginnen, um so ein Gefühl für die Segregation zu evozieren. Wenn man an die Segregation im Süden denkt, hat man schnell die klassischen hässlichen Bilder von Toiletten und Wasserspendern mit den Schildern Colored und White vor Augen. Wer allerdings in den 1940er Jahren, als der Druck auf die Regeln der Segregation stieg, durch die Innenstadt Nashvilles spazierte, mag sich gewundert haben: In dem offiziellen Gebäude der Staatsverwaltung gab es solche Schilder einfach nicht. In der Stadt- und Gemeindeverwaltung hingegen gab es in den oberen Stockwerken Toiletten mit White- und Colored-Schildern, aber niemand überwachte die Benutzer. Im ersten Stock hatte man das Colored-Schild übermalt, weil es hier gar keine Einrichtung für Weiße gab, man ihnen aber nicht ausdrücklich verbieten wollte, die einzige Toilette auf diesem Stockwerk im Notfall zu benutzen. Die Wasserspender wurden von Mitgliedern beider Rassen benutzt (Houston 1). Noch irritierender war der Bahnhof. Hier arbeiteten Schwarze und Weiße Seite an Seite. Die sanitären Anlagen waren getrennt aber »gleich eingerichtet«, und alle benutzten die gleichen Wasserspender (Johnson 40). Am Zoll galten die Toiletten für schwarze Angestellte als gut eingerichtet – wenn auch getrennt von denen für weiße – die öffentlichen Toiletten hingegen wurden von beiden Rassen benutzt. In den Gerichtssälen in Nashville gab es keine segregierte Sitzordnung, allerdings »[ließen] Negroes immer diskret etwa 30 cm Platz zwischen ihnen und den Weißen« (Johnson 32)3. An anderen Orten der Stadt war die Trennlinie zwischen den Rassen einerseits ständig präsent und andererseits flexibel und oftmals eine zwischen Klassen wie auch zwischen Rassen. In der Stadthalle war die unsichtbare Linie zwischen den Rassen beweglich: Manchmal mussten Schwarze oben im Rang 3 | Soweit nicht anders angegeben, handelt es sich bei deutschsprachigen Zitaten aus englischsprachigen Quellen um Übersetzungen von Astrid Franke.

Segregation des öffentlichen Raumes in Nashville – damals und heute

sitzen, manchmal aber wurden Parkett und Rang jeweils hälftig getrennt und Einkommensschwache beider Rassen wurden nach oben auf die billigeren Plätze verbannt. Zurück am Bahnhof kauften Menschen aller Rassen ihre Fahrkarten an derselben Kasse, zogen sich dann aber in verschiedene Wartesäle zurück. Sie trafen sich wieder, wenn sie Zeitschriften kauften oder telefonierten, aber sie besuchten verschiedene Friseure am Bahnhof und saßen auf verschiedenen Bänken am Bahnsteig. Im Gegensatz dazu waren die Busse als billigeres öffentliches Verkehrsmittel, wie auch der Busbahnhof, recht streng segregiert; Schwarze wurden in eine weit abgelegene Ecke verbannt (Houston 13-14). Es gab einen Bereich, in dem die Rassentrennung und ihre Regeln starr waren: beim Essen. Im Süden galt die cuisine als wichtiges Kulturgut, und die Segregation war in diesem Bereich eher streng. Schwarze konnten weder ein Restaurant in der Innenstadt besuchen noch in einem der Hotels ein Zimmer mieten oder dort essen. Dennoch vermieteten die Hotels Mitte der 50er Jahre ihre Bankettsäle an gemischtrassige Gruppen und hießen diese sogar willkommen, obwohl sie keine Zimmer an einzelne Schwarze vermieteten: »Es erscheint als eine sehr kleine Unterscheidung«, schrieb ein Bewohner der Stadt, »aber auf sie wird großen Wert hier in Nashville gelegt« (Fuson). An den lunch counters überall in der Stadt konnten Schwarze nur ein Essen zum Mitnehmen bestellen, sie durften nie drinnen Platz nehmen. Essen und Geld konnten ausgetauscht werden, solange eben das Gemeinschaftliche einer gemeinsamen Mahlzeit verboten blieb. Ein weißer Reporter vermutete: »Gemeinsam zu essen ist wie ein Sakrament. Es ist ein sozialer Akt und einige dieser Menschen hier sind unwillig diese Hürde zu nehmen« (Smith). Weiße Südstaatler weigerten sich einfach mit Schwarzen gemeinsam zu essen, weil dies einen gleichen Status signalisiert hätte (Houston 16). In Bereichen ohne klare Trennung durch Schilder gab es stattdessen unausgesprochene Regeln, die das Miteinander bestimmten. In der Straßenbahn, in der, wie ein Beobachter formulierte, »die Segregation vor allem verbal war«, gab es eine stille Übereinkunft. Schwarze begannen sich hinten hinzusetzen und von dort aus die Sitze zu füllen, während Weiße vorne begannen und die Sitze nach hinten füllten. Die Bordelle am Rande der Innenstadt waren segregiert, aber jeder wusste, dass es auf Wunsch auch Arrangements zwischen den Rassen gab (Chavis 14). In wieder anderen Bereichen begann die Trennlinie zwischen den Rassen zu verschwimmen. Wer Mitte der 50er Jahre noch spät wach war, konnte im Radio auf 1510 AM den WLAC Discjockey »Hoss« Allen hören. In seiner populären Sendung legte er schwarze Musik auf: Ray Charles, John Lee Hooker und andere. Allen sprach mit starkem Südstaatenakzent und benutzte ab und zu afroamerikanischen Slang: »Look, it’s git-down time! The Hossman is here, so it’s time to hop, it’s time to jump!« Viele Hörer dachten deshalb, der junge weiße Mann aus Nashville wäre Afroamerikaner. (Allen gab später zu, dass er eigentlich wenig über schwarze Umgangssprache wusste, auch wenn er oft schwarze Clubs besuchte; »git-down time« war nicht Zeit loszulegen und zu tanzen, sondern war ein Ausdruck für den Zeitpunkt, zu dem Prostituierte ihre Abendschicht begannen. Al-

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lens Sprüche klangen für Weiße authentischer als sie wirklich waren (Houston 16)). Trotzdem: Die Musikszene in Nashville enthielt noch viel mehr Widersprüche. In den Klubs der Stadt saßen schwarze Musiker mehr oder weniger getrennt von weißen. Studioaufnahmen in der aufstrebenden Musikindustrie hingegen waren integriert. Und eine schwarze Zeitung, die über das gemischtrassige Publikum einer Rhythm & Blues-Show berichtete, schrieb: »es gibt tatsächlich mehr davon in Nashville als gemeinhin in der Zeitung steht« (Houston 17). Man könnte argumentieren, dass diese seltsame Mischung aus strengen und flexiblen, geschriebenen und ungeschriebenen Regeln die Segregation einigermaßen erträglich machte – jedenfalls im Vergleich zur Repression im tiefen Süden. (Und viele, Schwarze wie Weiße, argumentierten so.) Aber diese Geschmeidigkeit kann auch anders gelesen werden und erscheint dann als ständige Möglichkeit der Bedrohung Schwarzer im öffentlichen Raum: Mit jedem Spaziergang, jeder Busfahrt, jedem Einkauf droht die Gefahr einer Konfrontation, abhängig letztlich von den Launen und Haltungen von Individuen. Ich denke auch, dass die Geschmeidigkeit der Regeln innerhalb eines größeren repressiven Systems uns daran erinnert, dass Segregation nicht nur Räume betraf, sondern Umgangsformen insgesamt. Eben wegen entstehender Unsicherheit bedurfte es einer Art rassistischer Etikette, die den Mitgliedern beider Rassen erlaubten, einigermaßen konfliktfrei innerhalb dieses Kräftefeldes zu navigieren. Die sprichwörtliche Höflichkeit des Südens bildete dafür eine Grundlage. Gewiss war es kein Zufall, dass weiße Bewohner Nashville stolz auf Nashvilles »freundlichere Rassenbeziehungen als in anderen Städten« waren (Dorey 2:14, 2:4). Solche Aussagen waren nicht nur Klischees; es waren Klischees, die einen Kern von Wahrheit darüber enthielten, wie Weiße sich selbst sahen und wie sie von anderen gesehen werden wollten. Die weiße Überlegenheit stand in einer segregierten Gesellschaft nie infrage, aber wie sich diese Überlegenheit ausdrückte, unterschied eben Menschen verschiedener Statusgruppen, zu denen sie gehörten oder zumindest gehören wollten. Dies ist ein Grundzug des sozialen Lebens im Süden, den viele Beobachter bestätigten. Viele Kommentatoren zeigten sich über die Intimität und die Nähe der Rassen in ihrem Miteinander überrascht, insbesondere etwa über die schwarzen Ammen und Kinderfrauen mit weißen Babys oder die schwarzen Köche in weißen Familien. Eine solche Nähe war möglich, gerade weil es auch klare Grenzen zwischen den Statusgruppen gab. Man kann dies auch am Südstaatenslang und der Namensgebung ablesen: Aussagen wie »He’s Ike Johnson’s boy« oder »He’s Jim who works at the Cotton Hotel« identifizierten Schwarze durch ihre Stellung als Arbeitskraft oder Untergebene und nicht als Individuen (Taylor et al. 13-24).4 Wie navigierten Afroamerikaner in diesem schwierigen Terrain? Tatsächlich bot die Geschmeidigkeit der Etikette einigen Afroamerikanern die Möglichkeit, von den Widersprüchen der Regeln zu profitieren, indem sie diese gegeneinander ausspielten. Wichtig ist, so formulierte es ein schwarzer Arbeiter, 4 | »Er ist Ike Johnsons Junge« und »Es ist Jim, der im Cotton Hotel arbeitet«.

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»zu wissen wie man Weiße behandelt und ihnen nach dem Mund redet« (Taylor et al. 21). Dies zeigte sich besonders in Geschäftsbeziehungen und war besonders knifflig für die schwarze Oberschicht, die in den besseren Läden einkaufen wollte. Obwohl weiße Läden gern das Geld der Schwarzen nahmen, schuf dies ein Dilemma: Schwarze zu bedienen widersprach der Rassentrennung, Schwarze nicht zu bedienen aber widersprach der Logik des Profits. Weiße Ladenbesitzer und Verkäufer reagierten auf dieses Dilemma mit einer geradezu übertriebenen Höflichkeit, die ihren Rassismus maskieren sollte. Kein Schild mit der Aufschrift Colored an Umkleidekabinen etwa beleidigte schwarze Kunden; stattdessen geleitete der Verkäufer solche Kunden zu »besonderen Sitzen hinten im Laden« oder »besonderen Räumen« (Taylor et al. 10-12). Wenn diese Formen der Etikette Risse bekamen und Situationen mit rassistischem Unterton entstanden, dann verteidigten sich Mitglieder der schwarzen Oberschicht gegenüber Diffamierungen, die die schwarze Unterschicht ertrug. Ein Beispiel dafür ist eine Situation, die entstand, als eine weiße Verkäuferin an der Tür einer schwarzen Frau klingelte, die sich als »Mrs. H. D. West« vorstellte. Die Verkäuferin, die die schwarze Frau nicht mit Vornamen anreden konnte, wie es eben rassistischer Brauch war, »wurde rot wie eine Rübe und konnte lange Zeit nichts sagen«, berichtet ein Zeuge (Taylor et al. 29). Die Situation war recht typisch für die Zeit, in der Mitglieder beider Rassen über die zunehmenden Fälle von Verstößen gegen die Etikette berichteten. Hier ein letztes Beispiel aus dem vielleicht arbiträr erscheinenden Bereich der Zahnmedizin. Man mag glauben, dass Zahnärzte in einer segregierten Stadt eben nur Patienten ihrer eigenen Rasse behandelten. Aber in Nashville, das dank seiner schwarzen Zahnklinik eine große Zahl hoch angesehener schwarzer Zahnärzte beherbergte, waren die Rassenbeziehungen auch hier komplizierter und vielsagender: Schwarze Zahnärzte hatten verschiedene Möglichkeiten: Sie konnten weiße Patienten insgesamt ablehnen oder aber weiße Patienten annehmen und auf der höflichen und angemessenen Behandlung seitens dieser Patienten insistieren. Tatsächlich hießen einige weiße Patienten willkommen, weil es ihren professionellen und sozialen Status bestätigte und, nicht unwichtig, weil sie durch ihre niedrigeren Preise Gewinne machten. Genauer gesagt: Weiße Patienten mussten mehr zahlen als schwarze, aber weniger als bei einem weißen Arzt (Houston 21). Die weitere Entwicklung sah so aus, dass es sich bei den weißen Patienten schwarzer Zahnärzte hauptsächlich um Mitglieder der Unterschicht wie Einwanderer, Tagelöhner und Arbeiter der Eisenbahn handelte. Sie riefen oft vorher an, fragten ob der Zahnarzt Weiße behandle und stellten sicher, dass sie nicht die ersten waren, die die Trennlinie der Rassen überschritten. Einer von ihnen vermutete sogar, dass schwarze Zahnärzte ja in besonderer Weise qualifiziert sein müssten, weil das Prüfungsgremium diese härter prüfte als weiße. Die weißen Mitglieder der Unterschicht waren Willens, die Rassengrenzen zu überschreiten, weil sie dadurch Geld sparten oder weil sie sich nicht »schick für die Stadt« machen mussten, wie es sonst üblich war (Goldstein 34). Im Gegen-

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zug für den für beide Seiten günstigen Preis mögen schwarze Zahnärzte weiße Patienten auch nach den üblichen Öffnungszeiten oder ohne Voranmeldung behandelt haben. Längere Öffnungszeiten waren auch hilfreich um das Problem segregierter Wartezimmer zu umgehen. Es gibt Hinweise auf weiße Patienten, die sich völlig selbstverständlich von schwarzen Zahnärzten behandeln ließen, sich aber weigerten, in einem Raum zusammen mit Schwarzen auf ihre Behandlung zu warten. Ein schwarzer Zahnarzt ging so weit, selber seine Wartezimmer zu segregieren, was ihm jede Menge Kritik vonseiten anderer Afroamerikaner einbrachte. Es war nicht einfach, eine Balance zu finden zwischen ökonomischen und sozialen Bedürfnissen sowie der Kritik seitens der eigenen Gruppe, obwohl die schwarzen Zahnärzte durchaus das Gefühl hatten, dass sie trotz Segregation erfolgreich waren. (Ich sollte hinzufügen, dass weiße Ärzte schwarze Patienten nur umsonst behandelten – den Angestellten eines Freundes beispielsweise – und meist am Ende des Tages, um das Problem des Wartezimmers zu vermeiden. Sie empfahlen einen Patienten auch nur dann an einen schwarzen Zahnarzt weiter, um diesen Patienten völlig zu meiden (Houston 21-22). In diesem etwas kürzeren Abschnitt hoffe ich einen Eindruck von den verwirrenden Unterscheidungen zu vermitteln, die die alltäglichen Interaktionen gemäß Klasse, Rasse und Status regulierten. Wo Rassismus verblasste, wurden Klassenunterschiede oftmals scharf gestellt und umgekehrt – letztlich stärkte die Flexibilität die Machtüberlegenheit der Weißen. Von den Afroamerikanern verlangten die verschiedenen Hierarchien sehr viel Taktgefühl. Dieses Taktgefühl konnte einem Afroamerikaner kurzfristig zum Vorteil gereichen, zementierte aber auf lange Sicht das System der Rassentrennung. Natürlich hatte die schwarze Gesellschaft ihre eigenen Quellen um Anerkennung und Respekt zu verhandeln, etwa in Kirchen und Schulen, und sie setzten Takt und Etikette gegenüber Weißen strategisch ein um zu überleben, während sie sich insgeheim über dieses Verhalten lustig machten oder es unterliefen. Das Verhalten von Afroamerikanern war notgedrungen situationsabhängig: Weißen Wahnvorstellungen mochte Einhalt geboten werden, wenn es die Situation erlaubte, oder aber man fügte sich den Demütigungen der Segregation, wenn es notwendig oder von Vorteil erschien. Im Gegensatz dazu sonnten sich Weiße in ihrem Glauben an ihre Überlegenheit und verschlossen ihre Augen vor Widersprüchen und Paradoxien der Segregation. Sie ließen sich von schwarzem Verhalten einlullen, auch wenn es transparent schien, weil sie sich eben des Rassenunterschiedes so sicher waren. Schwarze und Weiße perpetuierten so die Segregation durch die Kodifizierung des Verhaltens im Raum, und zwar vor allem dort, wo der segregierte Raum in gewissem Maße formbar oder wenigstens durch Widersprüche zerrissen erschien. Dabei muss an dieser Stelle klargestellt werden, dass Folgendes keinesfalls heruntergespielt werden soll: 1.) die Tatsache, dass die Etikette immer das Gesetz hinter sich hatte (obwohl in Nashville das Verhältnis von Sitte und Gesetz kompliziert war);

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2.) dass es alltägliche Gewalt gegen Schwarze auch im vermeintlich moderaten Nashville gab, und dass Gewaltausübung eben das ultimative Privileg der Weißen war. Mit Gewalt meine ich individuelle physische Gewalt, aber auch staatlich sanktionierte Gewalt in der Form von Polizeigewalt und Brutalität, die damals verdeckt, aber konsistent präsent war – und die heute natürlich omnipräsent in den Schlagzeilen ist; 3.) die Tatsache der sichtbaren physischen Trennung der Rassen in der Stadt. Wie in den meisten Städten im Süden gab es keine klaren schwarzen Ghettos wie im Norden; in fast allen Stadtteilen gab es vereinzelt schwarze Bewohner, obwohl es natürlich auch rein schwarze Stadtteile mit auffällig wenigeren Ressourcen gab. An Schulen und anderen Institutionen der Stadt konnte man deutlich die Existenz weißer Privilegien ablesen. Auf die Aufteilung des städtischen Raumes werde ich im Folgenden noch eingehen. An dieser Stelle soll betont werden, dass meiner Auffassung nach das Muster rassistischer Verhaltensregeln in Nashville die Aktionen der Bürgerrechtler in den kommenden Jahren bestimmte. Hier sind drei wichtige Beispiele aus der Stadtgeschichte, die illustrieren was ich meine. 1957 war der Süden wegen der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes im Fall Brown v. Board of Education, die eine Desegregation der Schulen verlangte, in Aufruhr. Der rassistische Demagoge John Kaspar hetzte das vermeintlich moderate Nashville auf. Ein Tiefpunkt war erreicht, als eine Bombe auf eine Grundschule geworfen wurde – der erste Bombenanschlag im Kontext der Desegregation im Süden. Trotzdem wurde Nashville weithin für die Desegregation seiner Schulen gelobt. Viele Schulen folgten seinem Beispiel und dem sogenannten NashvillePlan, der die Schulen scheinbar desegregierte, dabei allerdings vieles beim Alten ließ (Houston 48). Wie war dies möglich? Die Antwort ist, dass Nashville Pionierarbeit leistete im sogenannten zoning, also dem Einrichten von Einzugsgebieten der Schulen, die den mehr oder weniger segregierten Wohnvierteln entsprachen. Dies wurde mit der Möglichkeit verknüpft, dass Kinder beider Rassen jeweils die Schule wechseln durften. Weil dies oberflächlich betrachtet eine colorblind, also neutrale Regel zu sein schien, gab es keine juristischen Einwände. Im Grunde also teilte Nashville den städtischen Raum neu nach unsichtbaren rassistischen Grenzen auf und verließ sich dann darauf, dass sowohl Weiße als auch Schwarze, vor die Wahl gestellt, lieber unter sich bleiben würden. Es zeigt, wie man auf die alten Verhaltensregeln vertraute: Man fügte sich der neuen Rechtslage scheinbar, weil die Rassentrennung nun nicht mehr offen im Gesetz stand, stattdessen erzwang man individuelle Entscheidungen (Houston 64). Dies bedeutete letztlich, dass die »mutigen« Schritte zur Desegregation der Schulen in Nashville von 19 schwarzen Sechsjährigen vollzogen wurden, die dafür schwere Misshandlungen erdulden mussten (Houston 47). 1960 geriet Nashville wieder als vorbildlich in die Schlagzeilen, als die Stadt als erste ihre Mittagstische desegregierte. Die sit-ins an den lunch counters markierten

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einen Höhepunkt der lokalen Bürgerinitiativen und machten Nashville zu einem international bekannten Symbol der Bürgerrechtsbewegung damals und heute (Houston 83). Es ist kein Zufall, dass die sit-ins in Nashville und im Süden insgesamt sich speziell auf lunch counters fokussierten – die Kernauffassung, ja das Tabu, dass Weiße und Schwarze nicht Seite an Seite essen dürfen. Die lunch counters symbolisierten die Absurdität des Jim Crow-Systems: Schwarze konnten in einem Restaurant etwas kaufen, sich dort aber nicht hinsetzen. Die Symbolik führte zur Solidarisierung der Afroamerikaner gegen einen der Grundsteine des Rassismus im Süden. Seltsam war aber auch, wie Schwarze und Weiße gleichermaßen davon ausgingen, dass die sit-ins gegen ein Gesetz verstießen, das die Segregation der lunch counters regelte – dies war nämlich gar nicht der Fall. Der Bürgerrechtler James Lawson formulierte treffend, die Polizei achte auf die Einhaltung von Gesetzen, die gar nicht geschrieben waren. Ein Journalist deckte die Widersprüche der Situation folgendermaßen auf, als er schrieb, dass die Desegregation »ein Resultat spezifischer juristischer Aktionen oder eines stillen Wandels in den Sitten ist«, wohingegen die rigide Segregation allein auf Traditionen beruhe, die sich allerdings mit einem Schleier juristischer Korrektheit umgebe (Westfeld). Mit anderen Worten: Das Verhältnis von rassistischem Gesetz und rassistischer Tradition wandelte sich mit ungleichen Geschwindigkeiten und mit großen Schwierigkeiten, was im öffentlichen Raum zu immer größeren Spannungen führte. Daher kann man wohl behaupten, dass das politische Spektakel des gewaltlosen Widerstands direkt aus der Etikette rassistischer Alltagsregeln entsprang, um diese Widersprüche bloßzulegen. Nachdem der Höhepunkt der nationalen Bürgerrechtsbewegung vorbei war und die Aufmerksamkeit der Medien nachgelassen hatte, musste sich die lokale Bürgerrechtsbewegung weiterhin mit dem Fortbestehen der Etikette auseinandersetzen – trotz der Auseinandersetzung um explizite Rechte und Gesetze bestimmte sie nach wie vor die politischen Entwicklungen. Wenn man sich die Lokalgeschichte der 60er Jahre in Nashville genau anschaut, so findet man immer wieder die gleichen Themen, nämlich die Dynamiken von physischer Nähe und sozialer Distanz, Sitte und Gesetz, Klasse und Rasse. Hier nur einige Beispiele: Obwohl es immer mehr schwarze Schüler in den Schulen Nashvilles gab, gab es kaum schwarze Lehrer in den hauptsächlich weißen Klassen. Die städtischen Schwimmbäder waren nur für Kinder unter sechs Jahren desegregiert, um so das explosive Problem der sexuellen Attraktion zwischen den Rassen zu vermeiden. Während Krankenhäuser desegregiert wurden, blieben Geburtsstationen getrennt und die Einstellungspolitik ließ zwar schwarze Techniker und Krankenschwestern zu, nicht aber schwarze Ärzte. Und was den Glauben angeht, so hießen allein die Unitarier, die Congregationalists, die katholischen Kirchen und die drei Synagogen schwarze Gläubige wirklich willkommen – alle anderen Kirchen empfingen Afroamerikaner »nur als Gäste« (Houston 150). Zusammenfassend kann man sagen, dass Afroamerikaner in die Stadt mehr oder weniger als Bürger, als Steuerzahler und als Kunden integriert waren, nicht aber als Menschen. Die typische Südstaatenmischung aus physischer Nähe und

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sozialer Distanz galt weiterhin: Weiße konnten schwarze Krankenschwestern leichter akzeptieren als schwarze Lehrer und sie wollten nicht neben Schwarzen vor Gott stehen, unabhängig davon wie höflich sie Schwarze in der Kirche willkommen hießen. Es war nicht notwendigerweise eine Haltung des Bis-hierhin-und-nicht-weiter, eine trotzige Performanz von Widerstand, die wir mit den Namen Barnett, Wallace oder »Bull« Connor und den gewalttätigen Episoden der Bürgerrechtsbewegung verbinden.5 Stattdessen bot Nashville ein Bild der Moderation: ein anderer Stil von Segregation, aber gleichermaßen frustrierend für Schwarze. »Schwarze kennen ihren Platz« lautete das rassistische Klischee der Südstaaten. Während Nashvilles afroamerikanische Einwohner gegen diese Auffassung rebellierten und für eine Gleichbehandlung in der Gesellschaft protestierten, arrangierten Weiße die Trennlinie zwischen den Rassen neu, um die alten Unterscheidungen im sozialen Raum zu erhalten. Es gibt aber noch eine Dimension der Erneuerung der Rassenordnung, und hier komme ich auf die Bedeutung des physischen Raumes zurück. Jenseits aller Demonstrationen, Verhandlungen und allem stillen Paternalismus wurde eine Straße gebaut. Genauer gesagt: Ein zweieinhalb Meilen langer Abschnitt eines Interstate Highway hatte sehr viel weitreichendere Auswirkungen als jeder Widerstand gegen die Segregation in Nashville in dieser Zeit. Ich kann die komplexen Zusammenhänge hier nur skizzieren, und dafür lohnt ein Blick auf die Karte mit dem heutigen Verlauf der Interstate 40 in Nashville: Im letzten Moment wurde ein ursprünglicher Plan für den Verlauf so geändert, dass die Autobahn direkt die Jefferson Street schnitt, die Haupteinkaufsstraße im Herzen des schwarzen NordNashville. Das Ergebnis war die Zerstörung dieses Stadtviertels. Hundert Straßenkarrees mit etwa 650 Wohnungen in 27 Apartmenthäusern wurden eingeebnet – in einem Stadtteil, in dem bereits akute Wohnungsknappheit herrschte. Sechzehn Wohnblöcke mit Läden, die 80 Prozent des Eigentums Schwarzer an Geschäften repräsentierten, wurden zerstört (Houston 205). Diese Tante-Emma-Läden bedienten vor allem schwarze Collegestudenten des nahen Fisk College, der Tennessee State University und des Meharry Medical College, der Zahnklinik. Auch wenn diese Läden nicht in Geld schwammen, waren sie doch finanziell stabil und schuldenfrei. Ein Viertel von ihnen bestand seit über 20 Jahren in diesem Stadtteil. Läden, die nicht zerstört wurden, verloren ihre Kundschaft durch den Verlauf der Autobahn, der viele Straßen einfach abschnitt und zu Sackgassen werden ließ. Schlimmer noch, die geplante Route wand sich durch Tennessee State und die Nachbarschaft um Fisk und Meharry, sodass sie die öffentlichen Institutionen voneinander abschnitt (Houston 206). 5 | Ross Barnett war Gouverneur von Mississippi von 1960-64 und ließ u.a. die Freedom Riders verhaften. George C. Wallace war von 1963-67 und 1971-79 Gouverneur von Alabama. Theophilus Eugene Connor, bekannt als »Bull« Connor, war verantwortlich für die öffentliche Sicherheit in Birmingham, Alabama und damit Vorgesetzter der Feuerwehr und der Polizei während der Zeit der Bürgerrechtsbewegung.

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Es gab viele Gründe dafür, warum die Stadt- und Straßenplanung North Nashville zerstören konnte. Einer davon ist paradoxerweise der Erfolg der Bürgerrechtsbewegung: Viele der wichtigsten studentischen Mitglieder nahmen die Chance wahr, die Bewegung weiter in den Süden und in andere Regionen zu tragen. Dies führte Mitte der 60er Jahre zu einem Auf und Ab der politischen Aktivitäten in Nashville selbst. In dem Moment, als einige Bürgerrechtler sahen, in welchem Ausmaß Makler versuchten mit Hauseigentümern zu verhandeln und als sie verstanden, welche Konsequenzen dies haben könnte, reagierten sie sofort und organisierten juristischen wie auch gesellschaftlichen Widerstand – aber ohne Erfolg. Die Akteure und die Streitpunkte waren zu diffus, um Protest und Widerstand eine sichtbare Zielscheibe zu bieten. Im Umkehrschluss dazu war sicher ein Grund des Erfolges für die sit-ins der 60er Jahre, dass sie eben sowohl praktisch als auch symbolisch ein Unrecht sichtbar machten – die Scheinheiligkeit der Geschäftsleute nämlich, einerseits schwarzen Kunden Geld abzunehmen, andererseits ihnen aber einen Sitzplatz am Tresen zu verweigern. Die Planung des Straßenverlaufs war hingegen undurchsichtig, weil viele Veränderungen der ursprünglichen Pläne durch Stadtplaner und Angestellte der Stadt und des Staates hinter verschlossenen Türen vorgenommen wurden. Der ursprüngliche Plan, den die Stadt vorschlug, sah vor, eine existierende Straße zu verbreitern und eine Eisenbahntrasse zu nutzen, um die Stadt möglichst wenig zu zerstören. Der Staat Tennessee hingegen schlug vor, den Verlauf der Autobahn etwas nach Norden zu verschieben und dem Charlotte Pike folgen zu lassen. Das war insofern vernünftig, als die Autobahn dann Charlotte Pike und Charlotte Avenue in die Innenstadt folgte und damit Centennial Park und ein Krankenhaus umging. Diese Route hatte auch zur Folge, dass die verbreiterten Straßen nun als physische Trennung zwischen schwarzen und weißen Wohngebieten dienen konnten – eine Taktik, die in Nashville und anderswo in dieser Zeit oft verwendet wurde. Die Berater, die die Stadt eingestellt hatte, hatten allerdings Probleme mit der Logistik dieses Planes. Einerseits wollte die Stadt unbedingt staatliche Gelder für die Autobahnen, andererseits hatte sie auch die Gelder für Stadterneuerung im Auge, die mehr und mehr amerikanischen Städten zur Verfügung gestellt wurden. Was dann passierte, ist unklar: Irgendwann zwischen Juli 1955 und September 1956 gab es ein Memorandum des Metropolitan Planning Committees, aus dem hervorging, dass die Memphis route ausgewählt worden war. Diese Route nun war radikaler als die vorhergehenden: Sie sah vor, dass die Autobahn parallel zu Charlotte verläuft, dann scharf nach Norden abbiegt und die 28th Avenue North kreuzt und dann noch einmal abbiegt um die Jefferson Street zu zerschneiden – die Hauptgeschäftsstraße North Nashvilles. Auf diese Weise würde die Konstruktion der Schnellstraße den Versuch unterstützen, an staatliche Gelder zur Stadterneuerung aus zwei unterschiedlichen Töpfen zu kommen. Es war zu dieser Zeit unter Autobahnplanern durchaus üblich, die Straßenplanung in dieser Weise einzusetzen. Ein Teilnehmer eines früheren Stadterneuerungsprojektes hatte einmal formuliert,

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dass Planer das Autobahnsystem »wie eine Pistole direkt aufs Herz der Slums richten können« (Zuzak et al.). Und ein Mitglied der Planungskommission berichtete 1956 vorsichtig der Handelskammer: »[…] die Stadterneuerung könnte es ermöglichen, aus dem Bau der Autobahn einen großen Gewinn zu ziehen, wenn sie nur richtigliegen würde und die betroffenen Gebiete um sie herum vernünftig verplant würden um sie neu und besser zu nutzen« (»Board of Governor’s Minutes«). Abstrakt gesehen war es perfekt: In einem Akt kreativer Zerstörung könnte Nashville mit einem Schlag eine große Schnellstraße finanziert bekommen und gleichzeitig Gelder zur Erneuerung eines heruntergekommenen Stadtteils erhalten. Nachdem die Entscheidung im Geheimen gefallen war, rundete eine Kampagne gezielter Fehlinformation das Ganze ab: 1964 begann der Staat Land für die Schnellstraße zu kaufen und erregte damit die Aufmerksamkeit der Bewohner North Nashvilles, die widersprüchliche Informationen und auch gezielte Fehlinformationen aus verschiedensten administrativen Quellen erhielten. Klare Verantwortlichkeiten wurden verschwiegen, Bürger von einer Behörde zur nächsten geschickt, Pläne und Statistiken ohne Erklärung in Umlauf gebracht. Sogar Journalisten des Nashville Tennessean sagten später aus, dass der Verlauf der Route ein Geheimnis gewesen sei. Bei einer späteren Gerichtsverhandlung, durch die der Bau der Straße verhindert werden sollte, sagte einer der Experten aus, es habe viele Hinweise darauf gegeben, dass die Veränderungen als Reaktion auf die Einwände weißer Firmen und Institutionen vorgeschlagen und durchgeführt wurden, während keine solche Diskussionen mit ihren schwarzen Pendants geführt wurden (Seley 60-61). Es gab auch keine Erklärungen für die Veränderungen der Pläne oder Daten über die Auswirkungen, die sie auf North Nashville haben würden. In dem Versuch, das Projekt zu verteidigen, äußerte ein Bürokrat später etwas lahm: »Ich glaube man ging davon aus, dass es North Nashville nutzen würde« (Seley 60-61). Als die Arbeiten begannen, entdeckten einige schwarze Wissenschaftler beim Durchforsten der Akten, dass die ursprüngliche Route »irgendwo nahe Vanderbilt« verlaufen sollte. Einen Sturm der Entrüstung jedoch verursachte die Entdeckung, dass eine rechtlich vorgeschriebene öffentliche Anhörung am 15. Mai 1957 stattgefunden hatte. Allerdings hatte es keine öffentlichen Ankündigungen in den Medien der Stadt gegeben; stattdessen waren Handzettel in einigen Postämtern verteilt worden – alle in weißen Wohnvierteln – und jeder der Handzettel annoncierte ein falsches Datum der Anhörung (Zuzak et al.). In ihren verzweifelten Versuchen, die Schnellstraße noch zu verhindern, wurden die Bürger North Nashvilles vom Staat Tennessee (der sicherstellen wollte, dass er Bundesgelder für den Straßenbau bekam), von der Bundesregierung (die versuchte Kompromisse zu schließen nachdem sich einige lokale Politiker beschwert hatten) und schließlich von den Gerichten ausgebremst. Ein Bundesrichter befand, dass die öffentliche Anhörung völlig unangemessen und voller »Unregelmäßigkeiten« gewesen wäre. Er sah auch die negativen Auswirkungen der Schnellstraße, aber urteilte nichtsdestotrotz, »der überwiegende Teil des Beweismaterials der Kläger betrifft die Weisheit, aber nicht die Rechtmäßigkeit der Pläne der Behörde«.

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Trotz »schwerer Zweifel« gäbe es keinerlei Anhaltspunkt für eine »diskriminierende Absicht«. Das Urteil wurde vom Berufungsgericht aufrechterhalten und der Oberste Gerichtshof lehnte es ab, sich damit zu beschäftigen (Houston 210). Das Ergebnis war, so ein Bürgerrechtler, »ein bitteres Ende des Viertels. Es wurde einfach zerstört« (zit. in Halberstam 45). Bis auf die Leute in North Nashville profitierten fast alle von der Stadterneuerung: Die Makler verdienten doppelt, weil sie Grundstücke zu Schleuderpreisen erwarben, dann staatliche Gelder für die Sanierung der Objekte und schließlich für ihren Verkauf einstrichen. Der Staat Tennessee sparte Geld, indem er die Arbeiten so plante, dass Kompensationen an umgesiedelte Bürger auf ein Minimum reduziert wurden und weil die Bundesregierung den Großteil des Budgets stellte. Die Stadt hatte einige Mehrkosten für die Straße selbst, aber wegen der Zerstörung der Wohnviertel konnte sie sich nun erfolgreich um Gelder zu ihrer Sanierung bewerben – Gelder, die der Bürgermeister und seine politischen Anhänger schnell für ihre eigenen Zwecke nutzten. Die Bewohner des Stadtrands hatten eine schöne neue Straße, die sie schnell an der Innenstadt vorbei in ihre Häuser in den grünen Außenbezirken brachte. Im Gegensatz dazu wurden die schwarzen Bewohner North Nashvilles in andere Stadtteile umgesiedelt oder in den sozialen Wohnungsbau abgedrängt, während ansonsten die Mieten rapide anstiegen, weil die Zerstörung des Viertels die Wohnungsknappheit verstärkte. Abbildung 1



www.openstreetmap.org

Dies war nur eine Komponente einer fundamentalen Neuordnung der Stadt. North Nashville ist an zwei Seiten umgeben vom Cumberland River, nur die Brücke der Jefferson Street verband North Nashville mit den Vierteln auf der anderen Seite des Flusses bevor die Autobahn gebaut wurde. Die Stadtgebiete, die an den Fluss

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grenzen, wurden im Zuge der Wirtschaftspolitik der Stadt zunehmend mit großen Lagerhäusern bebaut (siehe Abb. 1, 1). Fluss, Eisenbahn und nun Autobahn konvergieren allesamt in North Nashville und verändern ein ehemals schwarzes Wohngebiet in ein attraktives Industriegebiet, aus dem Afroamerikaner und ihr Wohneigentum verdrängt wurden. Dies war Teil eines noch weitreichenderen Planes: Durch zahlreiche weitere Baumaßnahmen mussten vor allem Afroamerikaner der Unterschicht zunehmend in Sozialwohnungen in Viertel der Stadt ziehen, die von Autobahnen umgeben und dadurch von weißen Wohnvierteln abgegrenzt waren. Gegenüber von North Nashville, auf der anderen Seite des Flusses, markierten die Pläne der Stadterneuerung für East Nashville wiederum einen Streifen Land zwischen dem Fluss und der Interstate 65 als Industriegebiet, parallel zu der Entwicklung im Norden (siehe Abb. 1, 2). Etwas südlich von North Nashville transformierte die Stadterneuerung die Nachbarschaft um die Universitäten Vanderbilt und Belmont in die heute bekannte Music Row – Zentrum der Country-Musikindustrie. Viele der Direktoren kauften sich hier Häuser, trotz der weitestgehend schwarzen Nachbarschaft im nahen Edgehill (siehe Abb. 1, 3). Dies führte dazu, dass die 12th Avenue South erweitert wurde, um so zu einer Verkehrshauptader in Nordsüdrichtung zu werden. Die Interstates 440, 65 und 40 begrenzten nunmehr Edgehill, das nun auf allen Seiten von großen Autobahnen umgeben war. Die 12th Avenue South diente auch dazu, die Häuser in Edgehill von den nahen Sozialwohnungen abzugrenzen. Abbildung 2

www.openstreetmap.org

Der Bau der Interstate 40 bedeutete somit Wohnungsmangel und steigende Mieten für Afroamerikaner. Bordeaux (siehe Abb. 2) auf der anderen Seite des Flusses war bereits durch den Zuzug von wohlhabenden Afroamerikanern angewachsen und fungierte als eine Art Vorstadt für sie. Die Geschäfte allerdings waren schon

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von Weißen aufgekauft worden. Afroamerikaner der Unterschicht mussten zunehmend in Sozialwohnungen in andere Viertel der Stadt ziehen. Der spätere Bau des Briley Parkway (auch Route 155 genannt; siehe Abb. 2), der durch den Norden und Osten von Davidson County führt, sollte letztlich sowohl Bordeaux und East Nashville, beide zunehmend afroamerikanisch, völlig isolieren. Der Briley Parkway umgibt drei Viertel der Stadt, die Interstate 440 schließt den Kreis, der letztlich eine Grenze zwischen der Stadt und den umgebenden Vorstädten bildet. Dies hat weitreichende Folgen für die Integration der Schulen. In den 70er Jahren versuchte man in Nashville entlang des Briley Parkway sogenannte Gesamtschulen zu bauen. Dies waren extrem große Schulen mit Tausenden von Schülern. Die Idee dahinter war, dass die Bündelung von Ressourcen an einigen wenigen Schulen die Bildungsmöglichkeiten dort vergrößern würde. Aber indem diese Schulen alle entlang des Briley Parkway gebaut wurden, hofften die Schulbehörden auch dem Druck, Schulen zu integrieren, auszuweichen, denn die Schulen lagen direkt zwischen den weißen Randbezirken und den afroamerikanischen Wohnvierteln in der Innenstadt. Wie es sich so ergab: Die großen Schulen wurden zu Symbolen des Abschieds von »Nachbarschaftsschulen«, dem Schlagwort all jener, die über diesen Begriff und die entsprechenden Institutionen an der Segregation festhalten wollten. Die Tatsache, dass Afroamerikaner so dicht in bestimmten Bezirken der Stadt konzentriert waren, bedeutete, dass nur ein Schulbussystem ein solches Segregationsmuster auf brechen konnte, um so ein ausgewogenes Verhältnis der Rassen in den Schulen zu schaffen. In den 70er Jahren, also nach den großen Erfolgen der Bürgerrechtsbewegung, ist die Segregation in Nashville wieder eine des physischen Raumes: Die soziale Distanz, die man auf der Mikroebene im tagtäglichen Umgang miteinander sieht, wiederholt sich auf der Makroebene im Muster der Stadtgeographie. Straßen haben nun die Funktion der alten White- und Colored-Schilder im Süden nach der Bürgerrechtsbewegung übernommen. Man könnte dies als abschließenden Kommentar auf die Erfolge der Bürgerrechtsbewegung lesen, die ja versuchten, die rassistischen Verhaltensregeln zu brechen: Es zwingt die Weißen dazu, eine ganze Stadt neu zu ordnen, sodass Interaktionen zwischen Individuen auf ein Minimum reduziert werden. So gesehen zeigt uns Nashvilles Stadtgeschichte, wie eine soziale Ordnung selbst nach Dekaden des Aufruhrs sich sowohl ändert als auch gleichbleibt. Hier existieren die Auswirkungen eines atemberaubenden sozialen Wandels Seite an Seite mit immer gleichen Mustern der Vergangenheit.

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Der demographische Wandel in den Vereinigten Staaten und die Zukunft der Obama-Koalition Thomas W. Gijswijt

Als der demokratische Präsident Lyndon B. Johnson 1964-1965 entscheidend dazu beitrug, dass der Kongress die historischen Bürgerrechtsgesetzgebungen verabschiedete, war ihm klar, dass dies negative Konsequenzen für seine Partei im Süden haben würde. Angeblich vertraute er einem Berater nach dem Unterschreiben des Civil Rights Act am 2. Juli 1964 an: »We have lost the South for a Generation« (Cobb 89). Tatsächlich wandten sich schon im November 1964 bei der Wahl, die Präsident Johnson mit 61,1 Prozent der Stimmen gewann, fünf traditionell demokratische Staaten aus dem Süden von der Demokratischen Partei ab. Der erzkonservative republikanische Kandidat Barry Goldwater bekam die meisten Stimmen in Alabama, Georgia, Louisiana, North Carolina und South Carolina – ein Novum für einen Republikaner. Die Präsidentschaftswahl 1968 machte anschließend klar, dass Johnsons Bürgerrechtsoffensive einen politischen Erdrutsch ausgelöst hatte. Der Republikaner Richard Nixon schaffte es mit seiner Southern Strategy – einer Strategie, die darauf abzielte, mit kontroversen sozialen Themen wie school busing die Demokratische Partei zu spalten – die Südstaaten endgültig aus Roosevelts New Deal-Koalition loszulösen. 1968 war damit ein sogenanntes realignment-Jahr, ein Wahljahr, das eine strukturelle Veränderung in der politischen Landschaft widerspiegelte. Die traditionell demokratisch wählenden weißen Wähler im Süden begannen, überwiegend aus rassistischen Beweggründen, in großer Zahl zu den Republikanern überzulaufen. Die Folgen für die Chancen der Partei bei den Präsidentschaftswahlen waren verheerend: In den folgenden 40 Jahren schafften es nur zwei Demokraten ins Weiße Haus – nicht zufällig zwei ehemalige Gouverneure aus den Südstaaten: Jimmy Carter und Bill Clinton. In diesem Beitrag steht die Frage im Mittelpunkt, ob Barack Obama mit seinen Wahlsiegen 2008 und 2012 ein neues realignment eingeleitet hat, 40 Jahre nach dem realignment von 1968. Um diese Frage beantworten zu können, folgt im ersten Teil eine Analyse der sogenannten Obama-Koalition, auf die der Kandidat sich bei den Präsidentschaftswahlen von 2008 und 2012 stützen konnte.

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Welche Bevölkerungsgruppen und welche Bundesstaaten waren entscheidend für Obamas Erfolg? Welche Rolle spielte der tiefgreifende demographische Wandel in den USA? Im zweiten Teil wechselt der Fokus zu den Republikanern. Welche Strategien hat die Republikanische Partei nach den Wahlsiegen Obamas verfolgt und wie erfolgreich waren diese? Im letzten Teil stehen die langfristigen Folgen des demographischen Wandels sowie die Zukunft der Obama-Koalition im Mittelpunkt.

D ie P r äsidentschaf tswahlen von 2008 Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen von 2008 war Hillary Clinton, Senatorin aus New York und ehemalige first lady, lange Zeit die absolute Topfavoritin bei den Demokraten, um den unpopulären Präsidenten George W. Bush abzulösen (Jacobson, »2008«). Lange Zeit nahmen auch nur wenige die Kandidatur eines jungen politischen Neulings namens Barack Hussein Obama ernst. All das änderte sich schlagartig am 3. Januar 2008. Als die ersten Hochrechnungen der Demokratischen Vorwahlen in Iowa veröffentlich wurden, stand völlig überraschend Obama an erster Stelle. Vor allem die ungewöhnlich hohe Wahlbeteiligung junger Wähler ermöglichte Obama, der monatelang unermüdlich in Iowa Wahlkampf gemacht hatte, den unerwarteten Erfolg. Dieser Erfolg war von entscheidender Bedeutung, denn Obama hatte in Iowa bewiesen, dass ein afroamerikanischer Kandidat in einem fast komplett weißen Staat gewinnen konnte. Vor allem für nicht-weiße Wähler war das ein wichtiges Zeichen: Obama hatte überzeugend gezeigt, dass er, trotz seiner Hautfarbe, eine reale Chance hatte, auch die eigentlichen Wahlen in November für sich zu entscheiden. Im langwierigen Wahlkampf gegen Hillary Clinton waren es folglich neben jungen Wählern vor allem afroamerikanische und andere nicht-weiße Wähler, die den Unterschied für Obama ausmachten. Zwei tragende Elemente der Obama-Koalition zeichneten sich damit schon ab: junge Wähler sowie nichtweiße Wähler. Obama führte im Sommer und Herbst 2008 einen fast fehlerlosen Wahlkampf gegen John McCain. Seine Botschaft von hope und change sprach viele Amerikaner an: Fast vier Millionen Amerikaner spendeten für die Obama-Kampagne und viele Hunderttausende engagierten sich als Wahlhelfer (Luo A29). Obwohl es keine verlässlichen Zahlen gibt, war die Obama-Kampagne im Bereich des get out the vote offensichtlich wesentlich aktiver und erfolgreicher als die McCainKampagne. Eine wichtige Waffe war dabei das Web 2.0. Facebook und eigens entwickelte interaktive Apps ermöglichten es Obamas Unterstützern, sich selbst zu organisieren und auf eine sehr detaillierte Datenbank mit Informationen über Millionen von potenziellen Obama-Wählern zuzugreifen. Deutlich über 90 Prozent der bezahlten Mitarbeiter im Obama-Team waren jünger als 30 – die meisten

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sogar unter 25 (Plouffe 370). Die digitale Generation befand sich ganz klar auf der Seite der Demokraten. Obamas Entscheidung, Joe Biden als Vize-Präsidentschaftskandidaten auszuwählen, reflektierte unterdessen die Tatsache, dass weiße Männer ohne Hochschulabschluss eine der schwierigsten Zielgruppen für die Obama-Kampagne darstellten. Auffallend war außerdem, dass der Kandidat Obama das Thema race überhaupt nicht thematisierte. In seinen Wahlkampfwerbespots umringte er sich mit weißen Amerikanern, und bei seinen Wahlkampfauftritten vermied er es konsequent, über seine Herkunft oder Hautfarbe zu reden. Eine Ausnahme war die Kontroverse um seinen Pastor Jeremiah Wright im März 2008, die allerdings noch in den Vorwahlkampf fiel. Obamas Entscheidung reflektierte sicherlich die Einschätzung, dass er, wenn er zu sehr als »schwarzer Kandidat« wahrgenommen würde, Stimmen bei weißen Wählern verlieren könnte. Zudem hatte der Vorwahlkampf gegen Hillary Clinton gezeigt, dass Obama ohnehin auf große Unterstützung bei den schwarzen Wählern rechnen konnte. Folglich konnte sich die Obama-Kampagne, was das sogenannte black vote anging, vor allem auf get out the vote-Strategien konzentrieren. Obama gewann die Wahlen mit 52,9 Prozent der abgegebenen Stimmen; im antiquierten amerikanischen Wahlsystem ist aber wichtiger, wie viele Stimmen er im Wahlkollegium (Electoral College) sammeln konnte. Im Jahr 2000 hatte noch George W. Bush mit landesweit 500.000 weniger Stimmen als Al Gore das Electoral College gewonnen. Obamas Sieg war aber auch im Wahlkollegium sicher. Er bekam eine Mehrheit der Stimmen in 29 Bundesstaaten und seine 365 Wahlmännerstimmen lagen deutlich über den erforderlichen 270. Interessant war, dass Obama fast alle entscheidenden swing states gewann – also die Staaten, in denen es historisch keine klare republikanische oder demokratische Mehrheit gibt.1 Zudem gelang es Obama, auch einige bis dahin traditionell republikanische Bundesstaaten wie Virginia und North Carolina zu gewinnen und sie so zu swing states zu machen. Die Wahlbeteiligung lag mit 62,2 Prozent der Wahlberechtigten höher als 2004 (60,7 Prozent) und 2000 (55,3 Prozent) (»Voter Turnout«). Obamas Strategie, das Thema race so weit wie möglich außen vor zu lassen, schien aufgegangen zu sein: Mit 43 Prozent der Stimmen der weißen Wähler befand er sich im gleichen Bereich wie die demokratischen Kandidaten John Kerry 2004 (41 Prozent) und Al Gore 2000 (44 Prozent). Allerdings schnitt Obama bei weißen Wählern in den Südstaaten deutlich schlechter ab als John Kerry (Cohn). Einige politikwissenschaftliche Studien legen nahe, dass rassistische Haltungen bei diesen Wählern eine wichtige Rolle spielten (Knuckey und Kim). Entscheidend für Obamas Erfolg waren drei (sich zum Teil überlappende) Bevölkerungsgruppen: die schon genannten jungen und nicht-weißen Wähler sowie 1 | Bei den Präsidentschaftswahlen von 1992, 1996, 2000 und 2004 gab es in 34 der 50 Bundesstaaten eine verlässliche Mehrheit für die Demokraten oder die Republikaner.

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die Gruppe der unverheirateten Frauen. Obama gewann die sogenannten millennials (Wähler im Alter von 18-29 Jahren) überzeugend mit 66 Prozent gegen McCains 32 Prozent.2 Zum Vergleich: 2004 hatte George W. Bush noch 45 Prozent der Stimmen der 18- bis 29-Jährigen bekommen. Die millenials waren mit ungefähr 18 Prozent der abgegebenen Stimmen eine wichtige Gruppe. Ihre Wahlbeteiligung lag mit 51 Prozent zwar unter dem Durchschnitt, aber trotzdem bedeutend höher als bei vergangenen Präsidentschaftswahlen. Einerseits lag das sicherlich an der Popularität des Kandidaten Obama sowie an seinem erfolgreichen (digitalen) Wahlkampf. Andererseits war die Unzufriedenheit über den republikanischen Präsidenten George W. Bush vor allem bei jungen Wählern groß. Wie der Analyst Nate Silver berechnet hat, identifizierten sich diejenigen Amerikaner, die während der Bush-Präsidentschaft volljährig wurden, überdurchschnittlich mit den Demokraten, nämlich um acht Prozentpunkte mehr als der Rest der Bevölkerung (Silver). Der zweite Teil der Obama-Koalition bestand aus ethnischen Minderheiten: Afroamerikanern, Hispanics und Amerikanern mit asiatischen Wurzeln. Insgesamt erhielt Obama bemerkenswerte 80 Prozent der Stimmen dieser nicht-weißen Wähler und sogar 95 Prozent des black vote. Die ethnischen Minderheiten bildeten mehr als ein Viertel der gesamten Wählerschaft und waren fast allein für die höhere Wahlbeteiligung verantwortlich. Von den fünf Millionen mehr Amerikanern, die im Vergleich zu 2004 zur Wahlurne gingen, waren zwei Millionen schwarz, zwei Millionen Hispanic und 800.000 Asian-American (File und Crissey). Die Wahlbeteiligung lag bei den afroamerikanischen Wählern beim historischen Höchststand von 65 Prozent und bei den Hispanics und Asian-Americans bei 49 Prozent. Die letzte wichtige Säule der Obama-Koalition bildeten unverheiratete Frauen, die sich mit einer großen Mehrheit von ungefähr 70 Prozent für Obama entschieden. Mit einer Wahlbeteiligung von 60 Prozent und einem Anteil von 20 Prozent der gesamten Wählerschaft war auch diese Gruppe entscheidend für Obamas Erfolg. Die langfristige gesellschaftliche Entwicklung weg von der traditionellen Ehe hat diese Gruppe zudem zu einer der am schnellsten wachsenden Bevölkerungsgruppen in Amerika gemacht. Waren 1960 nur 9 Prozent der Amerikaner über 25 nicht verheiratet, lag diese Zahl 2008 laut Pew Research Center bei rund 20 Prozent (Parker und Wang). Nach Obamas historischem Wahlsieg meldeten sich schon bald die ersten Analysten, die von einem demokratischen realignment sprachen. John Judis, Koautor des 2002 erschienenen Buches The Emerging Democratic Majority, schrieb zum Beispiel: »His election is the culmination of a Democratic realignment that began in the 1990s, was delayed by September 11, and resumed with the 2006 election.« 2 | Alle Zahlen zu den unterschiedlichen Gruppen und deren Wahlbeteiligung sind Schätzungen. Die für diesen Beitrag genutzten Zahlen beruhen auf Daten des Census Bureau (»Voting and Registration«), auf exit polls der Washington Post (Clement, Cohen und Craighill) sowie auf der Studie des Center for American Progress »The Path to 270 in 2016« (Teixeira, Halpin und Griffin).

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Andere warnten vor voreiligen Schlussfolgerungen und verwiesen darauf, dass 2008 ein außergewöhnliches Wahljahr war: Erstens gab es einen ungewöhnlich unpopulären aktuellen Präsidenten (George W. Bush); zweitens brach inmitten des Wahlkampfes die globale Finanzkrise aus. Politikwissenschaftler wie Dickinson weisen darauf hin, dass diese sogenannten fundamentals – die wirtschaftliche Entwicklung sowie die Popularität des aktuellen Präsidenten – letztendlich wichtiger sind als die Persönlichkeit und Kampagne der Kandidaten (Dickinson).

W iederwahl 2012 Im Jahr 2012 schaffte Präsident Obama trotz heftigen republikanischen Widerstands (unterstützt von der Tea Party-Bewegung) seine Wiederwahl. Die meisten swing states konnte er wieder gewinnen. Nur North Carolina und Indiana gingen knapp verloren. Die Wahlbeteiligung lag mit 58 Prozent erheblich niedriger als noch 2008; statt knapp 70 Millionen Stimmen bekam Obama 2012 nur 62 Millionen. Auch Mitt Romney, der republikanische Kandidat, bekam eine Million Stimmen weniger als John McCain vier Jahre vorher. Entscheidend für Obamas erneuten Wahlsieg war die Tatsache, dass der Präsident seine Koalition zusammenhalten konnte. Waren seine Zahlen bei den jungen Wählern (60 Prozent) und bei den unverheirateten Frauen (67 Prozent) zwar nicht ganz so hoch wie 2008, so erzielte Obama dennoch bei allen drei Gruppen wieder überzeugende Mehrheiten. Zum ersten Mal in der amerikanischen Geschichte war die Wahlbeteiligung der Afroamerikaner mit 66 Prozent höher als die der weißen Wähler. Obamas 80-Prozent-Mehrheit bei den nicht-weißen Wählern trug maßgeblich dazu bei, dass der Präsident vier weitere Jahre regieren konnte. Im Vergleich zu 2008 wuchs die Gruppe der ethnischen Minderheiten um 2 Prozent auf 28 Prozent der gesamten Wählerschaft. Und das war wichtig, denn Obama bekam 2012 nur noch 39 Prozent des white vote (vier Prozentpunkte weniger als 2008). Vor allem weiße working class-Wähler wandten sich von den Demokraten ab und stimmten mit mehr als 60 Prozent für Romney und mit nur 38 Prozent für Obama (zehn Prozentpunkte weniger als 2008). Natürlich gab es deutliche regionale Unterschiede: Im Süden und in Teilen des Mittleren Westens schnitt Obama wesentlich schlechter ab als im Nordosten und an der Westküste. In einigen Südstaatenbezirken gewann Romney sogar 80 bis 90 Prozent der weißen Wählerstimmen. Weiße Wähler mit Hochschulabschluss entschieden sich dagegen im Durchschnitt mit »nur« 55 Prozent für Romney und mit 44 Prozent für Obama (Teixeira, Halpin und Griffin 6). Die Demokraten hätten in den wichtigen swing states ohne ihren riesigen Vorsprung bei den Minderheiten große Schwierigkeiten gehabt. Laut einer Analyse von William Frey von der Brookings Institution war das minority vote entscheidend für Obamas Siege in acht swing states: Colorado, Florida, Nevada, New Mexico, Ohio, Pennsylvania, Virginia und Wisconsin. Langfristige demographische Trends

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in den Vereinigten Staaten lagen damit dem Erfolg der Obama-Koalition zu Grunde. 1980 noch hatte der Republikaner Ronald Reagan mit 56 Prozent der weißen Wählerstimmen überzeugend die Wahl gewonnen. Romney konnte sich 2012 trotz 59 Prozent der weißen Wählerstimmen nicht durchsetzen. Einerseits lag das an der bereits angesprochenen Konzentration vieler dieser Stimmen in den Südstaaten. Wichtiger aber war die Tatsache, dass 1980 nicht-weiße Wähler nur 12 Prozent der Wählerschaft ausmachten: 32 Jahre später hatte sich diese Zahl mehr als verdoppelt, Tendenz weiter steigend. Trotz der Wahlerfolge Obamas ging die demokratische Mehrheit im Kongress schnell verloren. Schon bei den Zwischenwahlen 2010 gewannen die Republikaner das Repräsentantenhaus; 2014 erlangten sie dann auch die Mehrheit im Senat. Die Obama-Koalition war, in anderen Worten, nur bei den Präsidentschaftswahlen wirklich erfolgreich. Es gibt dafür mehrere Gründe. Erstens waren Obamas größte politische Erfolge – die Stabilisierung der Wirtschaft sowie die Gesundheitsreform – höchst umstritten. Vor allem die Rettung der Großbanken mit Steuergeldern (initiiert unter Obamas Vorgänger) war sowohl bei Republikanern als auch bei Demokraten unpopulär und führte zu der Gründung der Tea Party-Bewegung. Auch Obamacare wurde vor allem von republikanischer Seite stark attackiert. Die anti-establishment-Stimmung, die Obama 2008 noch für seine eigenen Zwecke genutzt hatte, richtete sich jetzt gegen den Demokraten. Zweitens war die Wahlbeteiligung der Obama-Koalition bei den Zwischenwahlen ein Problem. Grundsätzlich liegt die Wahlbeteiligung bei solchen Wahlen immer deutlich niedriger als in Präsidentschaftswahljahren. Der Unterschied ist aber bei jungen sowie bei nicht-weißen Wählern wesentlich größer als bei anderen Wählergruppen. Bei den Kongresswahlen 2014 waren zum Beispiel nur 12 Prozent der Wählerschaft jünger als 30 und 22 Prozent älter als 65 – im Präsidentschaftswahljahr 2012 lagen diese Zahlen bei 19 und 16 Prozent (Kiley). Letztlich spielt auch die politische Geographie der Vereinigten Staaten eine Rolle: Demokratische Wähler leben hauptsächlich in urbanen Gebieten. Diese geographische Konzentration wirkt sich nachteilig bei Wahlen zum Repräsentantenhaus aus. In den Worten des Politikwissenschaftlers Gary Jacobson: Democrats win a disproportionate share of minority, single, young, secular, gay, and highly educated voters who are concentrated in urban districts that deliver lopsided Democratic majorities. Regular Republican voters are spread more evenly across suburbs, smaller cities, and rural areas, so fewer Republican votes are »wasted« in highly skewed districts. (»Obama« 17)

Dieser Effekt wird noch verstärkt, wenn republikanisch geführte Bundesstaaten in der Lage sind, die Grenzen der Wahlbezirke neu zu bestimmen. Das sogenannte gerrymandering führt dazu, dass die Grenzen der Wahlbezirke so gezogen werden, dass zum Beispiel Minderheiten in einigen wenigen Bezirken »gesammelt« werden, um damit die anderen Wahlbezirke attraktiver für die Republikaner zu machen.

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D ie R epublik anische Partei und die O bama -K oalition Wie haben die Republikaner auf die Wahlsiege der Obama-Koalition reagiert? Es lässt sich zwischen positiven und negativen Strategien der Republikaner unterscheiden. Für manche Republikaner ging es vor allem darum, wie die Grand Old Party wieder attraktiver für jüngere und nicht-weiße Wähler werden könnte. Für andere dominierte dagegen die Frage, wie die Republikaner die Obama-Koalition zerstören können. Nach den verlorenen Präsidentschaftswahlen von 2012 beauftragte die Republikanische Partei eine Kommission damit, eine neue Zukunftsstrategie zu entwickeln. Der daraus resultierende Bericht – informell auch »die Obduktion« genannt – ließ keinen Zweifel daran, dass die Republikaner als Partei der alten weißen Männer keine große Zukunft hätten: The Republican Party must focus its efforts to earn new supporters and voters in the following demographic communities: Hispanic, Asian and Pacific Islanders, African Americans, Indian Americans, Native Americans, women, and youth. This priority needs to be a continual effort that affects every facet of our Party’s activities, including our messaging, strategy, outreach, and budget. Unless the RNC gets serious about tackling this problem, we will lose future elections; the data demonstrates this. (Growth)

Auch der republikanische Stratege Karl Rove, der zweimal den Wahlkampf von George W. Bush geleitet hatte, meldete sich im Wall Street Journal zu Wort: »The reality is that the nonwhite share of the vote will keep growing« (»More White Votes«). Das bedeutete aus seiner Sicht, dass die Republikaner sich im Bereich Einwanderungspolitik neu positionieren sollten: »Immigration reform is now a gateway issue: Many Hispanics won’t be open to Republicans until it is resolved« (Rove, »Immigration Reform«). Das republikanische Establishment reagierte 2013 unter anderem mit einer überparteilichen Initiative zur immigration reform. Die sogenannte Gang of Eight – vier republikanische und vier demokratische Senatoren – schaffte es, eine klare Mehrheit im Senat für ein neues Reformgesetz zu finden. Marco Rubio, der 2010 mit Tea Party-Unterstützung in Florida Senator geworden war, war Mitglied der Gang of Eight. 32 Republikaner stimmten allerdings gegen das neue Gesetz und der rechtskonservative Flügel der Partei, unterstützt vom Tea Party Movement und von konservativen Medien, startete eine furiose und letztendlich erfolgreiche Gegenkampagne, angeführt unter anderem vom texanischen Senator Ted Cruz. Eine Abstimmung im House of Representatives fand folglich nie statt. Damit war klar, dass 2016 das gleiche Szenario durchgespielt werden würde wie 2012, als Mitt Romney sich gezwungen sah, in den von konservativen Hardlinern dominierten republikanischen Vorwahlen harte Anti-Einwanderungspositionen einzunehmen. Romneys Vorschlag, illegale Immigranten sollten sich

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selbst deportieren, kam bei Wählern mit hispanischen Wurzeln nicht gut an, weshalb Obama 2012 circa 70 Prozent des Hispanic vote gewann. Als die Demokraten 2010 ihre Mehrheit im Kongress verloren, zeigte sich bald, dass Präsident Obama nicht auf kontroverse, aber letztlich konstruktive Zusammenarbeit mit den Republikanern setzen konnte. Der führende Republikaner im Senat, Senator Mitch McConnell aus Kentucky, sagte offen: »The single most important thing we want to achieve is for President Obama to be a one-term president« (Alter 7). Seitdem ist die Politik in Washington von gridlock und government shutdowns geprägt. Vor allem im Senat kann eine relativ kleine Minderheit mithilfe von filibusters – endlosen Debatten, die nur mit einer Mehrheit von 60 aus 100 Stimmen überwunden werden können – und anderen Verzögerungstaktiken den legislativen Prozess lahmlegen. So schaffte es Senator Ted Cruz 2013 mehr oder weniger im Alleingang, die Arbeit der Regierung und der öffentlichen Verwaltung 16 Tage lang still zu legen (Fahrentholt und Zezima). Diese republikanische Blockadestrategie mag konservativen Aktivisten gefallen, aus politischer Sicht sind die potenziellen Gefahren aber groß. Die Republikaner riskieren vor allem, dass ihre Partei als realitätsfern und wenig konstruktiv wahrgenommen wird. So hatten laut Pew Research Center im Sommer von 2015 58 Prozent der Amerikaner ein negatives Bild von der Republikanischen Partei (»Beyond Distrust«). Auch haben die Republikaner mit ihrer extremen anti-government-Rhetorik dem Vertrauen in die Politik erheblich geschadet und damit die Tür für Rechtspopulisten wie Donald Trump geöffnet (Weisberg). Die zweite negative Strategie betrifft das Wahlrecht. 2013 erklärte die konservative Mehrheit im Supreme Court einen wichtigen Teil des Voting Rights Act von 1965 für ungültig (Rutenberg). Bundesstaaten müssen seitdem Änderungen des Wahlrechts nicht länger von der Bürgerrechtsabteilung im Justizministerium prüfen lassen. Viele republikanisch geführte Bundesstaaten versuchen nun, restriktivere Gesetze zu verabschieden, die es zum Beispiel unmöglich machen, ohne einen Ausweis mit Foto zu wählen, oder die das early voting – die Möglichkeit an mehreren Sonntagen vor dem Wahltag zu wählen – begrenzen. Beide Maßnahmen treffen vor allem arme und nicht-weiße Wähler. Um wie viele Wähler es dabei geht, ist noch nicht klar, aber es könnten viele Hunderttausende sein (»Voting Laws Roundup 2016«). Sowohl die Tea Party-Bewegung als auch das Birther Movement, angeführt von Donald Trump, haben drittens vor allem unter republikanischen Wählern eine starke Anti-Obama-Stimmung gefördert. Laut einer CNN-Umfrage von September 2015 glauben zum Beispiel 43 Prozent der befragten Republikaner, dass Obama Muslim sei (Aglesta). Obamas approval rating bei republikanischen Wählern liegt bei nur 14 Prozent. Die Republikanische Partei hat viel zu wenig unternommen, um solche Verschwörungstheorien und verwandte Versuche, Präsident Obama zu delegitimieren, zu entkräften. Für Rechtspopulisten wie Trump war es dadurch leicht, die Anti-Obama- und Anti-Washington-Stimmung für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. Sie hoffen, dass

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sie genügend weiße »Wutwähler« mobilisieren können, um eine Chance gegen die Obama-Koalition zu haben. Angst vor Immigranten, Angst vor den Effekten der Globalisierung, Angst vor Jobverlust und sozialem Abstieg, Angst vor dem Verlust traditioneller Werte sowie Angst vor radikalislamischem Terror treiben diese Wähler an. Republikaner wie Cruz und Trump bieten einfache Lösungen – eine Mauer an der Grenze zu Mexiko und Einreiseverbote für Muslime – und schüren diese Ängste mit apokalyptischer Rhetorik. Die positive Strategie des republikanischen Establishments hat sich, mit anderen Worten, nicht durchsetzen können gegen diese rechtspopulistischen Kampagnen.

D ie Z ukunf t der O bama -K oalition Die Frage, ob Obamas Wahlerfolge von 2008 und 2012 tatsächlich ein realignment eingeleitet haben, wird letztendlich in den Wahljahren 2016 und 2020 beantwortet werden. Aber eines ist klar: Wenn die Demokraten es schaffen, Obamas Mehrheiten bei jungen Wählern, Minderheiten und unverheirateten Frauen zu behalten, wird es für die Republikaner bald sehr schwer werden, das Weiße Haus zurückzugewinnen. 91 Prozent des Bevölkerungswachstums in den USA seit 2000 gehen auf das Konto der Minderheiten, vor allem der Hispanics. Laut einer gemeinsamen Studie des Center for American Progress, des American Enterprise Institute und der Brookings Institution waren 1980 noch 80 Prozent der Bevölkerung in den Vereinigten Staaten weiß; heute sind es nur noch 63 Prozent und 2060 werden es schätzungsweise 44 Prozent sein (Teixeira, Frey und Griffin). Einige Bundesstaaten wie Kalifornien, Hawaii oder New Mexico sind jetzt schon sogenannte majority-minority-Staaten, also Bundesstaaten, in denen die Mehrheit der Bevölkerung einer Minderheit angehört. 2044 wird das voraussichtlich für die gesamten USA der Fall sein. Etwa 2052 wird die Mehrheit der wahlberechtigten Bevölkerung nicht-weiß sein. Gleichzeitig wächst die Gruppe der unverheirateten Frauen, die 2008 und 2012 mit großer Mehrheit die Demokraten wählten. 2016 werden wahrscheinlich zum ersten Mal in der amerikanischen Geschichte mehr unverheiratete als verheiratete Frauen abstimmen (Traister). Die weißen working class-Wähler, die seit den Reagan-Jahren eine für die Republikaner wichtige Bevölkerungsgruppe sind, werden deutlich weniger. Zwischen 1988 und 2012 schrumpfte diese Gruppe um 19 Prozentpunkte. Gleichzeitig wird die Gruppe weißer college graduates größer; sie stieg von 13 Prozent der Wahlberechtigten Mitte der siebziger Jahre auf 23 Prozent im Jahr 2014 (Teixeira, Frey und Griffin). Der republikanische Kandidat Mitt Romney gewann beide Gruppen zwar deutlich bei den Wahlen in 2012, bei den weißen college graduates aber war sein Vorsprung deutlich geringer: Wie bereits erwähnt gewann Romney die Stimmen von 60 Prozent der weißen working class-Wähler, Obama nur 38 Prozent; von den weißen college graduates stimmten 55 Prozent für Romney und 44 Prozent für Obama (Teixeira, Halpin und Griffin 6).

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Wie sich diese demographischen Entwicklungen politisch auswirken, hängt natürlich von vielen Faktoren ab: der wirtschaftlichen Entwicklung der USA, unerwarteten Katastrophen oder terroristischen Angriffen, Unzufriedenheit über die Ungleichheit oder der Rolle des Geldes in der Politik. All das kann letztendlich wichtiger sein als die demographischen Trends. Zudem ist es nicht gesagt, dass die Demokraten weiterhin bei den drei wichtigsten Gruppen der Obama-Koalition so erfolgreich sein werden. Die Demokraten brauchen Präsidentschaftskandidaten, die es wie Obama schaffen, diese nicht sehr verlässlichen Wähler dazu zu bewegen, zur Wahlurne zu gehen. Während des demokratischen Vorwahlkampfes im Frühjahr 2016 kam es allerdings zu einer gewissen Spaltung der ObamaKoalition. Der Außenseiter und selbsternannte demokratische Sozialist Senator Bernie Sanders bekam unerwartet viel Unterstützung bei jungen, hauptsächlich weißen Wählern. Hillary Clinton schnitt dagegen wesentlich besser bei den nichtweißen demokratischen Wählern ab. Die gute Nachricht für die Demokraten war dagegen die Rhetorik der Republikanischen Partei im Vorwahlkampf. Vor allem Donald Trump schaffte es immer wieder, verschiedene Gruppen aus der ObamaKoalition (vor allem Minderheiten und Frauen) zu beleidigen. Wenn es die Republikanische Partei nicht schafft, diesen Rechtspopulismus zu überwinden und so für die Wählergruppen der Obama-Koalition attraktiver zu werden, werden wir die Obama-Jahre wahrscheinlich tatsächlich als historisches realignment in Erinnerung behalten.

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Detroit, Philadelphia, Baltimore: Rassenkonflikte in urbanen Brennpunkten Horst Tonn

Die amerikanische Gesellschaft wird einerseits als besonders dynamisch und wandlungsfähig wahrgenommen; andererseits weist sie eine erstaunliche Resilienz und Beharrlichkeit in der Aufrechterhaltung bestehender Dominanzverhältnisse auf. Das gilt nicht zuletzt für die Rassenbeziehungen. Den Tod des Afroamerikaners Freddie Gray, der im April 2015 an den Folgen von Polizeibrutalität in einem Gefängnis in Baltimore gestorben war, kommentierte der Wirtschaftswissenschaftler Paul Krugman so: »Every time you’re tempted to say that America is moving forward on race along comes another atrocity to puncture your complacency« (2). Als es zwischen Herbst 2014 und Frühjahr 2015 zu großen Protesten in Ferguson, Baltimore und anderen amerikanischen Städten kam, erinnerten sich viele an die Jahre 1967/68, als Massendemonstrationen und politische Unruhen nahezu alle amerikanischen Metropolen erfasst hatten. Dieser Beitrag richtet seine Aufmerksamkeit daher auf die urbanen Zentren des Nordens und deren Rolle im Kampf um Bürgerrechte und Rassengleichheit. Mein Ausgangspunkt ist die Frage, wie die Geschichten von Rassenkonflikten im urbanen Raum erzählt und öffentlich verhandelt werden. Welche narrativen Muster, Paradigmen und ideologischen Voreinstellungen sind erkennbar? Daran schließt sich die Frage an, wie es um die Selbstaufklärungsfähigkeit der amerikanischen Gesellschaft bestellt ist. Welches Wissen ist öffentlich verfügbar? Und schließlich: Wie steht es mit der Umsetzung? Welche Konsequenzen hat dieses Wissen für gesellschaftliches Handeln? Der Spiegel verband seine Berichterstattung über die Unruhen in Baltimore im Frühjahr 2015 mit der Frage, ob sich in den USA denn gar nichts ändere. Vor allem aber beklagte der Spiegel, dass »das eigentliche Problem, das eigentliche Unrecht völlig verdrängt [wird] von den dramatischen Straßenszenen« (Pitzke). Am Beispiel von drei Geschichten aus drei amerikanischen Großstädten möchte ich diesen Fragen nachgehen. Dabei konzentriere ich mich auf Detroit 1967, Philadelphia in den 1980er Jahren und Baltimore im Frühjahr 2015. Die drei Geschichten weisen einige offenkundige Gemeinsamkeiten auf. Es geht um Rassenkonflikte, Bürgerrechte und im Weiteren um die Frage, wem die Stadt ge-

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hört, d.h. im Anschluss an Henri Lefebvres The Urban Revolution (2003; Original: 1970) und David Harveys Social Justice and the City (2008) darum, wie die Stadt als sozialer Raum so gestaltet werden kann, dass sie demokratisch organisiert ist und die Rechte und Bedürfnisse ihrer Bewohner angemessen berücksichtigt. Davon ist die amerikanische Stadt weit entfernt. Sie ist nicht nur immer wieder Ort eskalierender Rassenkonflikte, sondern ein weitgehend segregierter Raum, der die gesellschaftlich Schwächeren systematisch ausgrenzt von Bildung, Arbeit und gesellschaftlicher Partizipation – mit all den bekannten Folgen, die das für die Betroffenen hat. Beginnen möchte ich daher mit ein paar Ausführungen zur historischen Entwicklung der amerikanischen Großstadt.

D ie amerik anische S tadt Der Soziologe Zygmunt Bauman erinnert daran, dass es historisch eine wesentliche Funktion von Städten gewesen ist, ihren Bewohnern Schutz zu gewähren. Städte waren vor allem sichere Orte, zumindest sicherer als ihre Umgebungen. Stadtgrenzen markierten den Übergang zwischen Krieg und Frieden, Natur und Wildnis, Eigenem und Fremdem. Die moderne Stadt dagegen wird seit mindestens 100 Jahren eher zu einem gefährlichen Ort, der mit Kriminalität und Laster, mit Gewalt, Armut und Anonymität assoziiert wird: »Today, in a curious reversal of their historical role and in defiance of the original intentions of city builders and the expectations of city dwellers, our cities are swiftly turning from shelters against danger into danger’s principal source« (72). Diesen Befund bestätigt bereits der naturalistische Roman am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert, in dem die moderne Großstadt typischerweise als Dschungel oder Moloch beschrieben wird. Die amerikanische Großstadt entsteht im Zeitraum zwischen dem Bürgerkrieg und dem Ersten Weltkrieg. Ihre Bewohner rekrutieren sich vorwiegend durch Landflucht, eine starke Nordwärtswanderung von Afroamerikanern und vor allem auch durch große Einwanderungswellen aus Europa. Robert Park, einer der Pioniere der amerikanischen Stadtsoziologie, sieht in der Stadt »the natural habitat of civilized man«. Für ihn ist die moderne Stadt der Raum, in dem sich menschliche Kommunikation und Interaktion bestmöglich entfalten können: From this point of view, we may, if we choose, think of the city, that is to say, the place and the people, with all the machinery and administrative devices that go with them, as organically related; a kind of psychophysical mechanism in and through which private and political interests find not merely a collective but a corporate expression. (2)

Laut Park und seinen Kollegen der sogenannten Chicago School ist die moderne Großstadt aber auch ein umkämpfter, tendenziell instabiler Raum, der von vielfältigen ökonomischen, politischen, ethnischen und kulturellen Interessen beansprucht wird. Wie sehr sie mit dieser Beobachtung Recht behalten sollten, konnte

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die Gruppe um Park zu Anfang des 20. Jahrhunderts aber nicht einmal erahnen. Mittlerweile sind viele amerikanische Städte buchstäblich verwahrlost. Der urbane Raum zerfällt in kleine und kleinste Mikroorganismen, die scharf separiert sind nach ethnischer Zugehörigkeit, Einkommen ihrer Bewohner und Wirtschaftskraft. Grenzen zwischen Stadtteilen werden durch eine militarisierte Polizei, technische Überwachungssysteme und Mauern im Falle der sogenannten gated communities kontrolliert und durch verfehlte Kommunalpolitik, Stadtplanung und Kapitalflusslenkung perpetuiert. Mit vielen teils verdeckten Maßnahmen wird Segregation im urbanen Raum gesteuert und aufrechterhalten. Nach dem Zweiten Weltkrieg machten es staatliche Eigenheimsubventionen möglich, dass Millionen von Amerikanern in die Vorstädte ziehen konnten. Durch die Straßenführung von Schnellstraßen werden Stadtbezirke separiert. Bebauungspläne, die (Nicht-)Verfügbarkeit von öffentlichen Verkehrsmitteln sowie die Kreditvergabepolitik von Banken lenken auf sehr effektive Weise, wer wo leben und arbeiten kann.1 Radley Balko hat in seinem Buch Rise of the Warrior Cop eindringlich beschrieben, wie die amerikanische Polizei in ihrer Ausrüstung, ihrem strategischem Vorgehen und in ihrer Mentalität zunehmend militarisiert wurde. Und als Folge davon, so Balko, nehmen Polizisten die Stadt immer mehr als Schlachtfeld und betroffene Bürger als potenzielle Feinde wahr. Konflikte zwischen Polizei und Bürgern eskalieren schnell. Aggression und Gewalt gehen sprunghaft in die Höhe. Diejenigen, die es sich leisten können, verschanzen sich dagegen in gated communities. Inzwischen werden circa 50 Prozent aller größeren Wohnbauvorhaben in Großstädten von Eigentümergemeinschaften getragen, die sich von Müllentsorgung bis zu Bewachungseinrichtungen selbst organisieren. Das erhöht zwar das subjektive Sicherheitsgefühl, aber nicht automatisch die Sicherheit. Außerdem intensivieren diese Wohnanlagen neue Formen von sozialer Segregation und alte Rassismen (Low 3143).2 In letzter Konsequenz verliert die Stadt ihre eigentliche Funktion als gestaltbarer Raum, in dem die Bewohner ihre geteilten Interessen leben können: »Gated communities, ethnic chauvinism, specialist consumer environments, the erosion of public transport, the solipsism of private transport: what we have been calling a city lacks even the pretence of a civic character or a collective will« (Murphet 13-14). Der urbane Raum wird unter diesen Umständen zur Ware, die entweder gentrifiziert oder vernachlässigt wird. Der Stadtforscher Mike Davis spricht von »spatial regimes«, also »der Macht der Raumpolitik«. In urbanen Räumen, so beobachtet Davis weiter, bildet sich ein »informeller Urbanismus« heraus, d.h. die Bewohner organisieren ihre Geschäfte und ihre Kommunikationswege außerhalb der staatlichen und kommunalen Infrastruktur, weil diese eben meist sehr viel zu wünschen übriglässt 1 | Siehe dazu Carl H. Nightingales globale Untersuchung zu den Mechanismen der Segregation in urbanen Räumen, insbesondere 295-331 und 341-58. 2 | Zu sehr ähnlichen Schlussfolgerungen kommt auch Mike Davis (City 223-26) in seiner Studie über Los Angeles. Räumliche Segregation und aggressive Privatisierung führen zu einer Verödung des öffentlichen Raums und zur Zuspitzung von Rassen- und Klassenkonflikten.

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(Davis, City 226-28). Nach einer UN-Erhebung aus dem Jahre 2003 leben in den USA 5,8 Prozent der Bevölkerung in Slums. Das sind in absoluten Zahlen circa 12,8 Millionen Menschen (Davis, Planet 29). Als Slum gelten überbevölkerte, infrastrukturell unterversorgte urbane Räume, deren Bewohner unter ungeklärten Rechtsverhältnissen in ärmlichen Unterkünften leben. Das ist in etwa die etwas karge, gängige Definition für solche vernachlässigten Armutsregionen, in denen die Verlierer der vielfältigen Interessenkonflikte um den urbanen Raum leben bzw. leben müssen. Die urbanen Räume, die wir mit einer beunruhigenden Selbstverständlichkeit als Ghettos oder Slums bezeichnen, sind vor allem dadurch geprägt, dass sie ihre Bewohner in dreifacher Hinsicht ausschließen: 1.) Die Bewohner haben nur eingeschränkten Zugang zur öffentlichen Infrastruktur: Schutz vor Kriminalität, Müllabfuhr, Straßenbeleuchtung, öffentlicher Nahverkehr etc. 2. Ihre Handlungsoptionen sind gravierend eingeschränkt, weil Schulen, öffentliche Einrichtungen, Arbeitsmöglichkeiten nur schlecht oder gar nicht zur Verfügung stehen. 3.) Partizipationsmöglichkeiten am politischen und kulturellen Leben sind nur schwach oder gar nicht vorhanden. De-Industrialisierung, Rassismus und verfehlte, bisweilen fehlende Kommunalpolitik sind die Hauptursachen für die Verwahrlosung amerikanischer Innenstädte. Und in globaler Perspektive lebt inzwischen mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in urbanen Räumen und ein Großteil davon in den geradezu unermesslichen Slumregionen, die sich in den Mega- und Hypermetropolen der Gegenwart geradezu explosionsartig ausbreiten. Mike Davis prognostiziert daher, dass wir uns global auf einen »Planeten der Slums« hinbewegen (Planet 7-23).

D e troit im S ommer 1967 Im Sommer 1967 erlebten die USA die stärksten Unruhen seit dem Bürgerkrieg.3 In circa 150 Städten kam es zu Massendemonstrationen, krawallartigen Zusam3 | Ein kurzer Kommentar zur Begriffswahl: civil disorder, riots, revolt, uprising werden am häufigsten im Zusammenhang mit den Ereignissen im Sommer 1967 verwendet. Die offizielle Sprachregelung lautet civil disorders, also Störungen der öffentlichen Ordnung, was zumindest arg distanzierend und verharmlosend klingt. Der Begriff riot dagegen suggeriert, je nach ideologischer Disposition, entweder kriminell gewalttätiges Handeln im Sinne von Ausschreitung, Randale oder politischen Widerstand im Sinne von Aufstand oder Revolte. In die gleiche Richtung weisen Begriffe wie revolt, uprising, rebellion, die alle die militantpolitische Dimension der Ereignisse hervorheben, dafür aber die Heterogenität und Kontingenz von Interessen und Motiven der Akteure ausblenden.

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menstößen mit der Polizei und Plünderungen. In vielen Städten wurde der Ausnahmezustand verhängt, Nationalgarde und Armee wurden zur Unterstützung der lokalen Polizeikräfte angefordert. Newark, New Jersey war die erste Stadt, die im Juli 1967 buchstäblich brannte. Detroit folgte kurze Zeit später und bald hatten die Unruhen nahezu alle Großstädte der USA erfasst. Auslöser war in vielen Fällen exzessive Polizeigewalt gegen Afroamerikaner. In Newark war der Taxifahrer John Smith bei einer Routinekontrolle von Polizisten brutal geschlagen und inhaftiert worden. Die Nachricht verbreitete sich zunächst über das Funknetz der Taxikollegen und dann in der ganzen Stadt. Erste Demonstranten versammelten sich vor dem Gebäude, in dem Smith festgehalten wurde. Als Behörden und Medien den Fall am nächsten Tag als bedauernswerten Einzelfall abwiegeln wollten, eskalierte die Situation.4 Auslöser in Detroit waren willkürliche Polizeirazzien in Klubs, die vorwiegend von Afroamerikanern besucht wurden. Das war unübersehbar Schikane. Am 22. Juli wurden wieder einmal alle Gäste eines Klubs, 82 an der Zahl, verhaftet und abgeführt. Als die Polizei abzog, flog eine leere Flasche in die Heckscheibe eines Polizeiwagens. Danach geriet die Situation außer Kontrolle. Im Verlauf des Wochenendes musste der Gouverneur von Michigan die Nationalgarde und die Armee in Detroit einsetzen. Erst eine Woche später trat wieder so etwas wie Normalisierung ein. Die mediale Berichterstattung über Bürgerrechtskonflikte hatte diese zunächst vorwiegend im Süden der USA, in ländlichen oder kleinstädtischen Milieus verortet. Der urbane Norden erwies sich da als sperriger, denn dort wurden Rassenkonflikte und der Kampf um Bürgerrechte mit einer ethnischen und politischen Andersartigkeit assoziiert, die sich nicht ohne Weiteres in das dominante Bild von christlich-moralischem Widerstand gegen erlittenes Unrecht einfügte. Neben der moderaten Bürgerrechtsbewegung hatten in den Städten des Nordens Organisationen wie die Black Panther Party, die Nation of Islam und andere Black Power-Organisationen größeren politischen Einfluss. Deren Führer Malcolm X, Elijah Muhammad, Stokeley Carmichael und Huey Newton standen für politische Radikalität, Militanzbereitschaft und die Bejahung von politischer Gewalt. Und während die Proteste im Süden den Prinzipien des gewaltfreien Widerstands folgten, kam es im Norden zu bürgerkriegsähnlichen Ausschreitungen und Ghettoaufständen. Wie werden die Ereignisse des Sommers 1967 erinnert und erzählt? Mit den Ghettounruhen setzt eine Zäsur ein. Neben die weithin akzeptierte, »gute« Bürgerrechtsbewegung, die gewaltfrei und gesetzestreu gegen Ungerechtigkeit und Diskriminierung kämpft, treten jetzt militantere, teils gewaltbereite, teils politisch radikalere Kräfte, die die Auseinandersetzungen in den Städten entscheidend mitprägen. Das hat eine deutliche Polarisierung der politischen Auseinandersetzung zur Folge. Viele afroamerikanische Aktivisten belassen es nicht mehr bei Forderungen nach Gesetzesänderungen und Reformen, sondern verlangen 4 | Für eine ausführliche Darstellung der Ereignisse in Newark siehe Hayden.

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politische Autonomie und systemische Veränderungen. In der Automobilstadt Detroit verbindet sich der Kampf um Bürgerrechte mit Forderungen und Aktionen der Arbeiterbewegung. Die Autoindustrie ist dort traditionell stark gewerkschaftlich organisiert in den United Auto Workers (UAW). Daneben gibt es eine Reihe von radikaleren Gruppierungen wie etwa DRUM (Dodge Revolutionary Union Movement) und andere, die ihren Einfluss und ihre Forderungen in der Bürgerrechtsbewegung geltend machen.5 Im Folgenden will ich mich auf zwei Berichte über die Unruhen des Sommers 1967 konzentrieren. Dabei habe ich zwei Texte ausgewählt, die die Ereignisse ganz unterschiedlich perspektivieren: ein offizieller Regierungsbericht, der sich um eine umfassende Rekonstruktion von Ereignisverlauf, Ursachen und Lösungen bemüht auf der einen und eine journalistische Reportage, die eine exemplarische Nahaufnahme versucht, auf der anderen Seite. Ersterer ist bekannt als Kerner Report (1968), konventionell in Auf bau und Sprache, in der Vorgehensweise empirisch-faktenzentriert und distanziert, objektivierend in der Darstellung. Demgegenüber liefert John Hersey mit seiner Buchreportage The Algiers Motel Incident (1968) eine Nahaufnahme, die im Besonderen konkreter Ereignisse zu Einsichten in größere Zusammenhänge gelangen will.6 Hersey nähert sich den Ereignissen im Algiers Motel als investigativer Journalist, der dem Modell des New Journalism folgt: Selbstreflexion und die subjektive Urteilsfähigkeit des Beobachters werden integraler Bestandteil der Berichterstattung. Der Kerner Report, offizieller Titel: Report of the National Advisory Commission on Civil Disorders (1968), wird getragen vom Glauben an die Reformfähigkeit der amerikanischen Gesellschaft. Der Bericht enthält auf über 500 Seiten die Ergebnisse einer Untersuchung, die Präsident Lyndon B. Johnson unmittelbar nach den Unruhen im Sommer 1967 in Auftrag gegeben hatte. Unter der Leitung von Otto Kerner, dem Gouverneur von Illinois, versuchte eine hochkarätig besetzte Kommission, die Unruhen und deren Ursachen zu rekonstruieren und mögliche Lösungsansätze vorzuschlagen. Der Kommission gehörten Politiker, hohe Beamte, Vertreter aus Wirtschaft und Gewerkschaften sowie Roy Wilkins, der damalige Vorsitzende der NAACP (National Association for the Advancement of Colored People) an. Politisch war die Kommission deutlich moderat besetzt und daher erwartete auch kaum jemand, dass sie zu vorurteilsfreien Ergebnissen kommen würde. Die Skeptiker sollten allerdings in diesem Fall nicht Recht behalten. Der Kerner Report ist ein bemerkenswertes Dokument, in dem die Umstände der Unruhen differenziert dargelegt und weitreichende Lösungsvorschläge erarbeitet werden. Der Bericht 5 | Siehe dazu die Ausführungen zu civil rights unionism in Halls Aufsatz in diesem Band und außerdem Sugrue; Georgakas und Surkin. 6 | John Hersey ist vor allem bekannt durch eine Reportageserie über die Folgen des Atombombenabwurfs auf Hiroshima, die zunächst im New Yorker und dann in Buchform erschien und bis heute zu den zentralen Texten gehört, die die öffentliche Reflexion des Atomzeitalters mitprägen.

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gliedert sich in drei Teile. Zunächst wird der Ereignishergang exemplarisch an acht Beispielen (Tampa, Cincinnati, Atlanta, Newark, Northern New Jersey, Plainfield, New Brunswick und Detroit) rekonstruiert. Im zweiten Teil geht es um die Ursachen, die zu den Unruhen geführt haben. Der dritte Teil schließlich macht umfassende Reformvorschläge, unterschieden in dringliche Sofortmaßnahmen und längerfristige Perspektiven für die Stadtentwicklung und die Integration von Afroamerikanern. Der Tenor der Reformvorschläge im Kerner Report erinnert in vieler Hinsicht an die Reformagenda des New Deal der 1930er Jahre. Unterm Strich kam die Kommission zu dem Schluss, dass die amerikanische Gesellschaft in zwei ungleiche Gesellschaften zu zerfallen drohe – die eine weiß und die andere schwarz. Als Ursachen wurden vor allem politisches und institutionelles Versagen sowie die Beharrlichkeit von Rassismen und Vorurteilsstrukturen genannt. Den aktuellen Moment der Ghettounruhen sehen die Autoren des Kerner Reports als akute Krise, die weit über sich selbst hinaus weise. Eskalierende Gewalt, Plünderungen und Brandstiftungen im Sommer 1967 seien nicht das eigentliche Problem, sondern die Folgen von Vernachlässigung und Ungleichheit. Die Unruhen seien weitgehend spontan entstanden. Militante Organisationen seien zwar beteiligt und profitierten von der aufgeheizten Atmosphäre, nirgendwo aber kann die Kommission systematische Planung oder strategisch geleitetes Handeln erkennen. Die Unruhen entstünden aus einer eigentümlichen Mischung von Kontingenz und Vorhersehbarkeit. Sie entzündeten sich an konkreten Anlässen und eskalierten dann mit ungekannter Vehemenz. Gleichzeitig seien sie die geradezu vorhersagbare Folge der politischen, wirtschaftlichen und ethnischen Marginalisierung von Afroamerikanern – historisch verfestigt, im Ausmaß schier nicht zu bewältigen. Angesichts dieser Bestandsaufnahme ist es geradezu verblüffend, dass die Kommission dennoch optimistisch zupackend ein umfangreiches Paket von Reformempfehlungen entwickelt. Die Kommission setzt ganz auf die Reformierbarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse. Ihre Vorschläge konzentrieren sich auf die Bereiche Arbeit, Bildung, Sozialgesetzgebung und Wohnungsbau. Eine Reihe von Maßnahmen zielt auf die Schaffung von Arbeitsplätzen: Investitionen in den öffentlichen Dienst, Mindestlohn, Gewährleistung von Chancengleichheit und Steueranreize für Betriebsansiedlungen. Im Bereich Bildung fordert die Kommission eine bessere Integration der Schulen, Qualifizierungsmaßnahmen für Lehrer, Förderung der kindlichen Früherziehung und die bessere finanzielle Ausstattung von Schulen in urbanen Zentren. Reformen in der Sozialgesetzgebung sollen die Rechte der Betroffenen stärken, Anreize zur Selbsthilfe schaffen und das undurchschaubare Wirrwarr von Leistungen vereinheitlichen. Sozialleistungen sollen allen Betroffenen ein Mindesteinkommen garantieren. Und schließlich empfiehlt die Kommission Maßnahmen in der Wohnungsbaupolitik, die nicht nur bezahlbaren Wohnraum garantieren, sondern darüber hinaus für eine verbesserte Integration von Wohngebieten sorgen sollen.

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Bei aller Zukunftsorientierung kommt die Kommission aber auch zu dem Schluss, dass Skepsis angebracht ist. Die Unruhen in Detroit und anderen Städten seien Teil einer langen Konfliktgeschichte zwischen Afroamerikanern und Weißen. Vieles deute auf eine Wiederkehr des immer Gleichen hin: »The destruction and the bitterness of racial disorder, the harsh polemics of black revolt and white repression have been seen and heard before in this country« (Report 483). Die USA erscheinen im Bericht als ein gespaltenes Land, und der Grund dafür ist eine 300 Jahre währende Geschichte der Unterdrückung von Minderheiten. Unmittelbar nach den Ereignissen im Juli 1967 fuhr der Schriftsteller und Journalist John Hersey nach Detroit, um eine Reportage über die aktuellen Rassenunruhen zu schreiben. Hersey hatte zuvor eine Einladung abgelehnt, als Koautor am Bericht der Kerner-Kommission mitzuarbeiten, denn er hatte wenig Vertrauen in die Arbeit einer regierungsnahen Gruppe und befürchtete zudem, dass er nicht genügend Kontrolle über seinen eigenen Beitrag im Gesamtbericht behalten würde. Also machte er sich selbst auf den Weg nach Detroit, wo sich seine Aufmerksamkeit bald auf die Ereignisse in einem heruntergekommenen Motel im Stadtzentrum fokussierte. Die Umstände, die im Algiers Motel zum Tod von drei jungen Afroamerikanern führten, sind nie gänzlich aufgeklärt worden. Es wird sehr viel gelogen in dieser Geschichte – aus Angst, zum Schutz der eigenen Person, aus Loyalität gegenüber Freunden und Kollegen und im Falle der afroamerikanischen Beteiligten aus dem Wissen heraus, dass sie einem übermächtigen Machtapparat von Polizei und Justiz ausgeliefert sind. Das Algiers Motel war zur Zeit der Unruhen im Sommer 1967 eine heruntergekommene Absteige mit einem ziemlich schlechten Ruf. Die Gegend, in der sich das Motel befand, war nach dem Zweiten Weltkrieg wie viele andere amerikanische Stadtzentren Stück für Stück verwahrlost und entsprechend gemischt waren die Gäste des Motels. Neben der üblichen Klientel hatten jetzt noch Gäste im Algiers eingecheckt, die Schutz suchten vor der Gewalt auf der Straße und die dann dort auch nicht so schnell wieder wegkamen, weil die Behörden eine Ausgangssperre verhängt hatten. Die Ereignisse im Algiers Motel vermitteln einen Eindruck davon, wie sich die Konflikte in der Stadt zuspitzten. Zwei Momente verbinden sich zu einer unheilvollen Kausalkette. Im Algiers Motel wird gefeiert und die Bewohner müssen sich irgendwie die Zeit vertreiben, weil sie ja nicht wegkönnen. In ausgelassener Stimmung nimmt der 17-jährige Afroamerikaner Carl Cooper eine Starterpistole, wie sie gewöhnlich bei Sportveranstaltungen benutzt wird. Er will damit seine Freunde beeindrucken oder erschrecken und feuert ein paar Schüsse mit Platzpatronen ab. Das ist zweifellos dumm angesichts der angespannten Lage in der Stadt und der Tatsache, dass in der Umgebung des Motels jede Menge Polizei und Nationalgarde patrouillieren. Unmittelbar darauf verbreitet sich über den Funkverkehr der Polizei die Nachricht, dass in der Umgebung des Algiers Motel Heckenschützen am Werk seien. Daraufhin wird das Motel gestürmt. Unter tumultartigen Umständen verhört die Polizei die Bewohner des Motels, sucht nach

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Waffen und den angeblichen Heckenschützen. Am Ende sind drei junge Afroamerikaner erschossen und die anderen Bewohner des Motels werden rassistisch beleidigt, geschlagen und eingeschüchtert. John Herseys Reportage über diese Ereignisse ist irritierend und instruktiv zugleich. Die Gründlichkeit und die Systematik, mit denen Hersey recherchiert, lassen nichts zu wünschen übrig und trotzdem bleibt am Ende vieles offen. Der Autor bemüht sich um geradezu pedantische Faktizität und bietet schlussendlich doch eher eine modernistische Textcollage als einen schlüssigen Bericht. Hersey legt größten Wert auf genaue Zeit- und Ortsangaben, auf die Benennung der Beteiligten und auf die Offenlegung seiner Quellen. Dem Buch vorangestellt ist eine Aufstellung der Akteure und ein Grundriss des Gebäudes. Hersey versammelt die Stimmen der Beteiligten – von Zeugen, von Opfern und von Tätern. Er verbindet eigene Interviews und Recherchen mit Polizeiprotokollen, Gerichtsaussagen, Dokumenten und Medienberichten und erzeugt so eine Vielstimmigkeit, die ihn zum einen selbst in seiner Deutungsfunktion entlasten soll und die gleichzeitig dem Leser Deutungsarbeit zuweist, ihn aber auch mit Leerstellen und Selbstrechtfertigungen der Akteure sowie Lücken konfrontiert, die er eben aushalten muss. Und auch wenn mit Blick auf den Ereignishergang und die Faktenlage vieles im Dunkeln bleibt, so treten die Wahrnehmungs- und Handlungsmuster sowie die Motivlagen der handelnden Akteure doch deutlich hervor. Sichtbar werden somit die Tiefenstruktur der Ereignisse und die Mechanismen des strukturellen Rassismus. Herseys Bericht macht transparent, wie das Fühlen und das Handeln von Individuen durch überindividuelle Wahrnehmungs- und Handlungsmuster bestimmt werden, die in institutionelle Kontexte eingeschrieben sind. Diese Muster verfestigen sich über die Zeit, werden habitualisiert und haben so entscheidenden Einfluss auf den gesellschaftlichen Umgang von Individuen und Gruppen.

P hil adelphia im M ai 1985 Philadelphia wird 1985 zum Schauplatz einer unfassbaren Gewalteskalation. Im Verlauf einer Polizeiaktion gegen die afroamerikanische Gruppe MOVE brennt ein ganzes Viertel nieder. Die kulturelle und politische Andersartigkeit von MOVE prallt auf das Unverständnis und die reflexhaften Routinen von Behörden, Medien und Lokalpolitikern. John Edgar Widemans Dokumentarroman Philadelphia Fire fasst die Eskalation der Ereignisse wie folgt zusammen: On May 13, 1985, in West Philadelphia, after bullets, water cannon and high explosives had failed to dislodge the occupants of 6221 Osage Avenue, a bomb was dropped from a state police helicopter and exploded atop the besieged row house. In the ensuing fire fifty-three houses were destroyed, 262 people left homeless. The occupants of the row house on Osage were said to be members of an organization called MOVE. Eleven of them, six adults and five children, were killed in the assault that commenced when they refused

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Doch wer sind MOVE? Die Gruppe stellt zweifellos das Bemühen eines jeden Beobachters um bestmögliche Toleranz gegenüber Andersartigkeit auf eine harte Probe, und sie eignet sich auch nicht für die Rolle des unschuldigen Opfers staatlicher Gewalt. Die Organisationsstruktur von MOVE ist sektenartig. Das Innenleben der Gruppe bleibt intransparent und die Gruppe tut wenig, um ihre politischen Ideale und ihre Alltagspraktiken nach außen zu kommunizieren. MOVE fügt sich nicht ohne Weiteres in eines der gängigen Wahrnehmungsschemata für Emanzipationsbewegungen und alternative Lebensgemeinschaften ein. Die Organisation wurde 1972 in Philadelphia gegründet. John Africa, ihr charismatischer Führer, formierte sie als alternative Lebensgemeinschaft mit unübersehbar sektenhaften Tendenzen. Eines der Leitprinzipien von MOVE war Autonomie, d.h. weitestgehende Abgrenzung von Staat und dominanter Gesellschaft. Ihre politische Agenda verband, soweit erkennbar, gesellschaftspolitische Ziele wie Antirassismus mit Lebensstiloptionen wie Vegetarismus und Nudismus. Die Gemeinschaft hatte circa 50-60 feste Mitglieder plus einen Kreis von Sympathisanten und Unterstützern. Im Jahr 1978 kam es zu einer ersten Gewaltkonfrontation mit der Polizei, die eine Räumungsklage gegen MOVE durchsetzen wollte. Dabei wurde ein Polizist unter nie ganz geklärten Umständen erschossen. Neun Mitglieder von MOVE wurden vor Gericht verurteilt. Einige von ihnen – bekannt als MOVE 9 – sind bis heute inhaftiert. Vor diesem Hintergrund sind die Ereignisse im Mai 1985 zu sehen. Die Polizeiaktion vom 13. Mai 1985 schockiert vor allem durch das Ausmaß der angewendeten Gewalt und die erschreckende Unfähigkeit von Bürgermeister und Behörden, angemessen und verantwortlich zu agieren. Bei dem Versuch, das Reihenhaus von MOVE zu räumen, benutzte die Polizei halbautomatische Gewehre und Maschinengewehre – allesamt Waffen, die eine zivile Polizei eigentlich gar nicht einsetzen darf. Die Brandbombe, die über dem Haus abgeworfen wurde, stammte aus Beständen des FBI. Und nach dem Abwurf schauten die Verantwortlichen der Ausbreitung des Feuers tatenlos zu. In diesem Zusammenhang fiel der unheilvolle Satz »Let the fire burn«, der zu einem Inferno führte, das ein ganzes Viertel zerstörte. Die hauptsächlich Leidtragenden gehörten zur unteren afroamerikanischen Mittelschicht: Lehrer, Verwaltungsangestellte, Fabrikarbeiter.7 Die Geschichte von MOVE ist auch ein Fallbeispiel für mediale Aufmerksamkeitslenkung und für die Lückenhaftigkeit des kollektiven Gedächtnisses der USA. Die Ungeheuerlichkeit und politische Brisanz der Vorfälle in West Philadelphia im Mai 1985 stehen in einem krassen Missverhältnis zur öffentlichen Aufmerksamkeit, 7 | Let the Fire Burn ist auch der Titel des 2013 erschienenen Dokumentarfilms von Jason Osder, der die Ereignisse vom Mai 1985 mithilfe einer Montage von Originalbildmaterial rekonstruiert und sie damit ins kollektive Gedächtnis zurückruft.

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die ihnen zuteilwurde. Außer einem kurzen Aufflackern in den nationalen Nachrichten der folgenden Tage blieb das Ganze im Wesentlichen ein Lokalereignis.8 Wilson Goode, der gerade neu gewählte erste afroamerikanische Bürgermeister der Stadt, reagierte auf die Ereignisse mit der Einsetzung einer prominent besetzten Untersuchungskommission, deren Anhörungen live im Lokalfernsehen übertragen wurden. Seine Amtszeit blieb allerdings überschattet durch die MOVE-Tragödie. Die Untersuchungskommission kam zu einer vernichtenden Gesamteinschätzung. In ihrem Abschlussbericht stellte sie fest, dass alle verantwortlichen Akteure – also vor allem Stadt, Polizei und Feuerwehr – versagt hätten. Die Kommission hob außerdem hervor, dass der Verlauf der Ereignisse an jenem 13. Mai wesentlich durch strukturellen Rassismus beeinflusst war, konnte aber keine direkt Verantwortlichen ausmachen. Verurteilt wurde niemand. Dafür floss viel Geld im Zuge außergerichtlicher Einigungen, die die Stadt mit einigen der Opfer aushandelte. Der Rest der Wahrheit bleibt für immer hinter den Rauchschwaden des 13. Mai an der Osage Avenue verborgen, bzw. Teile der Wahrheit liegen noch im Archiv der Temple University, denn dort werden sämtliche Unterlagen der Untersuchungskommission auf bewahrt.9 John Edgar Wideman erzählt die Geschichte des Philadelphia Fire in einer Mischung von dokumentarischen, autobiographischen und fiktionalen Anteilen. Der Wirklichkeitsbezug zur Geschichte um MOVE ist deutlich markiert, gleichzeitig entzieht sich der Text aber auch jeder verlässlichen Interpretation dieser Wirklichkeit. Der Blick auf die Wirklichkeit wird radikal subjektiviert, vor allem über die Perspektive von Cudjoe, einem ehemaligen Bürgerrechtsaktivisten und glücklosem Schriftsteller, der als Resonanzraum für seine persönliche Geschichte, die der Stadt Philadelphia und die der vielen, meist afroamerikanischen Akteure fungiert. Die einzelnen Geschichten verbinden sich zu einer langen, schmerzhaften Konfliktgeschichte. So gelangt der Roman einerseits zu kollektiver Repräsentanz und andererseits zu mikroskopischer Tiefenschärfe, die das subjektive Erleben von Gewalt und Ausgrenzung, von Ohnmacht und Emanzipationsversprechen, von brüchigen und gebrochenen sozialen Beziehungen und dem Verfall der Stadt als öffentlichem Raum sichtbar werden lässt.10 Der entscheidend durch die Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre geprägte Cudjoe ist nach wie vor um Selbstund Weltverbesserung bemüht, teils sind seine Absichten ironisch gebrochen, teils wirken sie affektiv überfrachtet, es bleibt aber immer auch ein glaubwürdiger Rest. Cudjoe kehrt in seine Heimatstadt Philadelphia zurück, nachdem er von den Ereignissen um MOVE erfahren hat. Er will die wahren Umstände des Polizeiangriffs auf das Haus von MOVE recherchieren, und er will den Jungen finden, 8 | Siehe dazu Wagner-Pacifici. 9 | Siehe dazu »Philadelphia Special Investigation«. 10 | Den Zusammenhang von urbaner Krise und Fragen der literarischen Repräsentation behandelt Dubey.

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der seit diesem Angriff vermisst wird. Vor allem aber möchte er alle diese Geschichten mit seiner eigenen Vergangenheit sinnhaft verknüpfen, denn allzu viele Linien sind fragil, unterbrochen, ungewiss: Was ist aus dem Kampf um Bürgerrechte in den 1960er Jahren, an dem Cudjoe beteiligt gewesen ist, geworden? Der Roman umkreist diese Frage, ohne zu verlässlichen Antworten zu gelangen. Cudjoe bleibt sich selbst rätselhaft, und der Ort Philadelphia hat alle Vertrautheit verloren. Philadelphia Fire hat nichts beizutragen zu den immer noch offenen Fragen nach Ereignisabläufen und Ursachen. Dafür eröffnet der Roman einen Reflexionsraum, in dem sich Cudjoe, stellvertretend für die Generation der Bürgerrechtsaktivisten, mit einer veränderten Wirklichkeit auseinandersetzen muss. Das betrifft sowohl die moralischen und politischen Beweggründe seines eigenen Handelns als auch die Perspektiven für gesellschaftlichen Wandel. Mit Blick auf Letzteres bleibt Widemans Roman entschieden skeptisch bis düster. Ein Widerhall von Cudjoes enigmatischer Sinnsuche findet sich in der Gruppe MOVE.11 Selbstaussagen von MOVE sind widersprüchlich und karg. MOVE wirkt einerseits artikulationsschwach, andererseits abwehrbereit gegen die Einschreibung in dominante Diskurse. Die Gruppe verweigert sich konsequent dem medialen Spektakel und der öffentlichen Vereinnahmung ihrer Positionen. Die veröffentlichten Bilder und Texte sind einerseits entwaffnend unprofessionell und gleichzeitig wenig vorteilhaft für die Gruppe. John Africa, der Anführer von MOVE, der bei dem Brand 1985 ums Leben kam, bleibt im Hintergrund, ist eher wortkarg und entzieht sich der öffentlichen Aufmerksamkeit. Er wird allerdings von seinen Anhängern in eine bestürzende Allmachtposition gerückt. MOVE passt in kein liberales Toleranzschema oder erkennbares Politikprofil. Die Gruppe ist ein Stück weit eine militant sektiererische Ökogruppe von »radikalen Aussteigern«, die sich kulturell afrozentrisch mit Rastafari-Anteilen positioniert. Politisch ist MOVE antikapitalistisch, ohne weitergehende ideologische Präzisierung. Die Gruppe äußert sich antitechnologisch und setzt sich für Tierschutz ein. Sie präsentiert sich als »alternative« Gemeinschaft mit Blick auf Kindererziehung, Sexualität und interne Beziehungsorganisation. Je nach eigener Ideologieposition wird man mehr oder weniger Sympathie für die kompromisslose Ablehnung herrschender Vergesellschaftungsmechanismen und Diskurse hegen, wie sie von MOVE vertreten wird. Darüber hinaus erinnert vieles an MOVE an eine Sekte. Das Beziehungsgeflecht der Gruppe ist nach außen nicht transparent, und immer wieder gibt es Hinweise auf »Unaussprechliches«, auf Abhängigkeiten und Drohszenarien. Es bleibt letztlich unklar, ob und in wieweit die Zugehörigkeit zu MOVE auf freiem Willen oder auf psychischer Abhängigkeit und/oder Gewaltdrohungen beruht. Am Ende ist es die Nachbarschaftsunverträglichkeit von MOVE, die ein Zusammenleben auf der Osage Avenue unmöglich macht und die die Konflikte eskalie11 | Zu MOVE und zur Medialisierung der Ereignisse siehe auch Anderson und Hevenor sowie Wagner-Pacifici.

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ren lässt. Es geht um Müll und Hygiene und ruhestörenden Lärm und natürlich schlussendlich auch um die als bedrohlich erlebte permanente Präsenz des »radikal Anderen«, das die eigenen Routinen, Normalitätserwartungen und Wertehaltungen herausfordert. Die politischen Positionen von MOVE bleiben eher vage und diffus. In einer letztlich nicht zu klärenden Mischung aus tatsächlicher Sprachlosigkeit und programmatischer Diskursverweigerung entsteht quasi eine Aura der Rätselhaftigkeit um MOVE. Damit wird MOVE für Nachbarn wie auch für Behörden und Polizei zu einem unkalkulierbaren Gegenüber. Die Unlesbarkeit des Anderen ist eine Ursache für das Kommunikationsversagen auf beiden Seiten. MOVEs sprachliche Intransparenz trifft auf einen dominanten Diskurs, der bereits über Kategorisierungen und Vorurteilsstrukturen für derlei Fälle verfügt. Und für den Fall des radikal Anderen, der zudem noch mit Gewaltbereitschaft in Verbindung zu bringen ist, gab es auch vor 9/11 bereits eine Zuschreibung – die des Terroristen. Und genau das geschieht auch im Falle von MOVE. MOVE wird im dominanten Diskurs zur terroristischen Organisation erklärt und in der Konfrontation auch so behandelt. Und die Ereignisse in Philadelphia lassen vielleicht schon eine Vorwegnahme der Reaktionsmuster auf den 11. September erkennen: in der Aufrüstung des Sicherheitsapparats, der Ausweitung von Überwachungssystemen, vor allem aber auch in der polarisierenden, bisweilen dämonisierenden Wahrnehmung des politisch und kulturell Anderen.

B altimore im F rühjahr 2015 In Baltimore treten die Folgen eines verpassten Strukturwandels besonders deutlich zutage. Die einstmals florierende Hafen- und Industriestadt ist seit dem Zweiten Weltkrieg zunehmend zu einem Brennpunkt von Rassenkonflikten, Ghettoisierung und ökonomischem Niedergang geworden.12 Baltimores Krise ist auf Strukturprobleme in Verbindung mit Rassen- und Klassenkonflikten zurückzuführen. Die Stadt von bedeutenden Persönlichkeiten wie dem Abolitionistenführer Frederick Douglass und dem genialen Schriftsteller Edgar Allen Poe macht heute vor allem durch Gewaltverbrechen, Korruption und Drogenkriminalität von sich reden. Der ehemalige Polizeireporter David Simon ist einer ihrer bekanntesten Chronisten. Sein Reportagenband Homicide, erstmals 1991 erschienen, und die Fernsehserie The Wire (2002-2008), zu deren Autoren er gehörte, lassen den Zusammenhang zwischen urbaner Vernachlässigung und Kriminalität überdeutlich werden. Zur Bewältigung ihrer Kriminalitätsprobleme setzte die Stadt vor allem auf das Prinzip tough on crime. Bei einer Bevölkerungszahl von 640.000 brachte es die Polizei in einem Jahr auf 100.000 Verhaftungen.13 Der 12 | Siehe dazu Harvey, Social Justice and the City 280-83. 13 | Zum Zusammenwirken von Polizeigewalt und Justiz siehe Stevenson.

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Journalist und Autor Ta-Nehisi Coates ist in West Baltimore aufgewachsen und beschreibt den alltäglichen Überlebenskampf folgendermaßen: Before I could discover, before I could escape, I had to survive, and this could only mean a clash with the streets, by which I mean not just physical blocks, nor simply the people packed into them, but the array of lethal puzzles and strange perils that seem to rise up from the asphalt itself. The streets transform every ordinary day into a series of trick questions, and every incorrect answer risks a beat-down, a shooting, or a pregnancy. No one survives unscathed. (21-22)

Was die Rassenbeziehungen angeht, gehören Baltimore und der Bundesstaat Maryland eher zum konservativen Süden als zum liberaleren Nordosten der USA. Einen besonders aufsehenerregenden Fall von rassistischer Gewalt hat Bob Dylan in seinem Lied »The Lonesome Death of Hattie Carroll« (1964) festgehalten. Im Februar 1963 feiert der reiche Tabakfarmer William Zwanziger mit Freunden im Emerson Hotel in Baltimore. Als die Barfrau Hattie Carroll eine Bestellung nicht schnell genug erledigt, schlägt Zwanziger auf die Frau ein und Hattie Carroll stirbt kurz darauf an den Folgen. In einem Prozess, der große mediale Aufmerksamkeit auf sich zieht, wird Zwanziger zu gerade einmal sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Vor Gericht wird er von Topanwälten vertreten. Seine Verteidigung gründet sich vor allem darauf, dass er bei der Tat sehr betrunken gewesen sei. Das Gericht verkündet sein Urteil am 28. August 1963 – dem Tag, an dem Martin Luther King seine berühmte »I Have a Dream«-Rede vor 250.000 Demonstranten in Washington hält. Der Fall von Hattie Carroll verweist auf eine lange Geschichte von Willkür und Brutalität gegen Afroamerikaner und ihrer Diskriminierung vor dem Gesetz. Diese setzt sich im April 2015 fort, als der junge Freddie Gray an den Folgen schwerer Wirbelsäulenverletzungen stirbt, die ihm bei einer Inhaftierung durch Polizisten zugefügt werden. Wesentliche Aspekte des Ereignishergangs bleiben auch hier im Dunkeln, denn Gray wird in einem geschlossenen Polizei-Van transportiert und anschließend mit einem Krankenwagen in die Notaufnahme gebracht. Im Krankenhaus stirbt er eine Woche später. Beharrlich hält sich der Verdacht, dass Freddie Gray an den Folgen eines rough ride starb, einer perfiden Form von Polizeibrutalität, bei der Inhaftierte durch abrupte Lenk- und Bremsmanöver im Inneren eines Polizei-Vans hin und her geschüttelt werden, was nicht selten zu ernsten Verletzungen führt. Der Fall löst eine Welle von Protesten und Unruhen in der Stadt aus. Nach der Beerdigung von Freddie Gray kommt es zu besonders schweren Ausschreitungen, sodass eine nächtliche Ausgangssperre verhängt wird und Truppen der Nationalgarde in der Stadt eingesetzt werden. In Baltimore haben sich zumindest die kommunalen Machtverhältnisse verändert. Afroamerikaner haben einflussreiche Positionen in Politik und Verwaltung. Dennoch droht die juristische Klärung des Todes von Freddie Gray in einer Flut von Einzelprozessen und juristischen Verfahrensschritten zu versanden. Zu-

Detroit, Philadelphia, Baltimore: Rassenkonflikte in urbanen Brennpunkten

nächst einigt sich die Stadt in einem außergerichtlichen Verfahren mit der Familie des Opfers auf eine hohe Entschädigungssumme. Im Dezember 2015 wird ein Gerichtsverfahren gegen einen der beteiligten Polizisten eingestellt, weil die Geschworenen sich nicht auf ein Urteil einigen können. Auch citizen videos und andere digitale Formen von Zeugenschaft tragen nur wenig zur Klärung der Umstände des Todes von Freddie Gray bei. Handyaufnahmen der Verhaftung von Freddie Gray kursieren zwar im Internet, haben aber kaum Beweiskraft. Skepsis bleibt daher angebracht gegenüber jeder Form von Technooptimismus, auch gegenüber den in der Diskussion über die Prävention von Polizeibrutalität immer wieder ins Spiel gebrachten Schulterkameras.14

S chluss In seinem Roman The Time of Our Singing (2003) thematisiert Richard Powers die Utopie einer »farbenblinden« Gesellschaft in den USA. Der aus Hitlerdeutschland geflohene jüdische Physiker David Strom heiratet die Afroamerikanerin Delia Daley und die drei Kinder der beiden werden getragen von der Hoffnung ihrer Eltern, dass Hautfarbe und Rasse im Nachkriegsamerika schon bald keine Rolle mehr spielen werden. Die Stroms glauben fest an die Veränderungsfähigkeit der amerikanischen Gesellschaft und an die Möglichkeit von Freiheit und Selbstbestimmung für ihre Kinder. Sie setzen auf eine Zukunft, in der Rasse bedeutungslos sein wird, und werden dabei auf brutale Weise von der Wucht und Beharrlichkeit der Geschichte eingeholt. Während sie an der Vorstellung von Gesellschaft als einem auf die Zukunft gerichteten Werdensprozess festhalten, müssen sie zusehen, wie die Lebenswege ihrer Kinder durch alte und neue Rassismen und Ausgrenzungen bestimmt bleiben. Damit rührt der Roman an die weiter gehende Frage nach der Reformfähigkeit der amerikanischen Gesellschaft und legt eine eher düstere Antwort nahe. Welche Gemeinsamkeiten sind bei all diesen Geschichten über Rassenkonflikte in urbanen Brennpunkten erkennbar? Es gibt überall narrative Lücken bzw. enigmatische Reste. Diese Erzählungen stoßen an die Grenzen der empirischfaktischen Rekonstruktion von Wirklichkeit, an die Grenzen des jeweils eigenen Wahrnehmungshorizonts oder an die Grenzen der Glaubwürdigkeit von Zeugen, Quellen, Sachverständigen etc. Einzelne Puzzleteile der Ereignisverläufe, der Motivlagen fehlen oder bleiben vorhersehbar ungeklärt. Was aber entweder verdunkelt wurde oder sich der empirischen Rekonstruktion entzieht, wird immer wieder neu umkreist, ist Gegenstand von wiederholten Untersuchungen oder fiktionaler Reflexion. Wie ein unverarbeitetes Trauma kehrt der öffentliche Diskurs immer wieder zu diesen Ereignissen zurück. Sie sind wahre Aufmerksamkeits14 | Ein citizen video hatte entscheidenden Einfluss im Fall Rodney King Anfang der 1990er Jahre.

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fresser und binden eine kollektive Imagination, die vor allem auf Faktizität und erfahrungsgeleitetes Wissen ausgelegt ist. Andererseits zeugen diese Texte aber auch von einer beträchtlichen Selbstaufklärungsfähigkeit der amerikanischen Gesellschaft, die allerdings nicht zu entsprechender Handlungs- oder gar Veränderungsfähigkeit führt. Eine Diskrepanz zwischen verfügbarem Wissen und fehlender Umsetzung in politisches Handeln wird immer wieder beklagt, zieht sich geradezu wie ein Leitmotiv durch alle Reformdiskurse seit der Bürgerrechtsbewegung. Ausgangspunkt ist immer die beklagte Kluft zwischen gesetzlich garantierter Gleichheit und tatsächlichen Ungleichheiten, zwischen dem Werte- und Rechtshorizont der amerikanischen Gesellschaft und der Wirklichkeit. Und geradezu formelhaft routinisiert werden immer wieder die gleichen Reformlogiken bemüht: Gefordert werden verbesserte Gesetzgebung und öffentlich finanzierte Programme, jeweils untermauert durch moralische Appelle und Aufrufe zu mehr Bürgerbeteiligung. Welche Alternativen gibt es zu dem üblichen Reformdiskurs? David Harvey schlägt in seinen Untersuchungen zur Stadtkultur vor, von einem grundlegenderen »right to the city« (Spaces 315) auszugehen. Für Harvey sind Rechte nicht in erster Linie die Auflistung von Artikeln, die die Rechtsbeziehung zwischen dem Staat und seinen Bürgern definieren. Die Stadt ist für ihn ein Beziehungsgefüge und er sieht im »right to the city« eine Konfiguration, innerhalb derer die Organisation des sozialen Lebens in der Stadt ausgehandelt werden kann. Diese Perspektive öffnet den Blick auf den Gesamtkomplex aller Fragen, die für die Gestaltung der Stadt als Lebenswelt relevant sind: Welche sozialen Beziehungen soll der urbane Raum seinen Bürgern ermöglichen? Wie lässt sich die Spannung zwischen Natur und Technologie im urbanen Raum gestalten? Welche Lebensstile ermöglicht die Stadt ihren Bewohnern, und welchen ästhetischen Standards ist sie verpflichtet? Dabei sind Reziprozität im Sinne verantwortlicher Gegenseitigkeit und informelle Umverteilungsmechanismen unverzichtbar, um dem ökonomischen Druck neoliberaler Profitmaximierung etwas entgegenhalten zu können. Historisch verfügte die amerikanische Stadt über Nachbarschafts- und Gemeinschaftsstrukturen, innerhalb derer ihre Bewohner ihre materielle Existenz sichern und ihr soziales Leben gestalten konnten. Heute bedarf es wohl einer gut austarierten Mischung von Vision und Möglichkeitssinn, denn, so Harvey: »As we collectively produce our cities, so we collectively produce ourselves« (Spaces 159).

Detroit, Philadelphia, Baltimore: Rassenkonflikte in urbanen Brennpunkten

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»The Death of the Sixties«?: Afroamerikanische Geschichte in Colson Whiteheads John Henry Days Astrid Franke

Der Tod von Michael Brown in Ferguson und die verschiedenen Proteste, die sich daran entzündeten, werfen auf unterschiedlichen Ebenen Fragen nach Kontinuität, Wandel oder Brüchen in der amerikanischen Geschichte auf: Für viele sind nicht allein die Schüsse des weißen Polizisten auf den unbewaffneten Jugendlichen, sondern vor allem die Reaktionen des Justizsystems ein weiterer Beleg dafür, dass der Rassismus in den USA systemisch ist. Allzu offenkundige Manifestationen wie etwa die Gesetze zur Segregation des öffentlichen Raumes mögen abgeschafft worden sein, in Institutionen, ökonomischen Strukturen und kollektiven Verhaltensmustern jedoch ist er weiterhin präsent. Diese ernüchternde Ansicht ist zwar nicht neu – sie wird seit geraumer Zeit von Soziologen und Ökonomen wie etwa Joe Feagin oder Thomas M. Shapiro vertreten – aber sie ist durch die jüngsten Ereignisse aus dem akademischen Umfeld in eine breitere Öffentlichkeit gelangt.1 Sie stellt dadurch auch das Ausmaß und die Nachhaltigkeit der Erfolge der Bürgerrechtsbewegung der 1950er und 1960er Jahre infrage: Fast sieht es so aus, als sollte die öffentliche Verehrung und Idealisierung Einzelner, wie sie etwa in der monumentalen weißen Statue Martin Luther Kings in Washington, D.C. zum Ausdruck kommt, verdecken, dass die Arbeit für Bürgerrechte noch lange nicht beendet ist und es offenbar immer wieder kollektiver Anstrengungen bedarf, um die Benachteiligung von Afroamerikanern zu verringern. Damit ist man schließlich bei grundsätzlichen Fragen nach Kontinuität und Wandel in der Geschichte eines Unterdrückungsverhältnisses: Welchen Stellenwert haben historische Ereignisse wie der Erlass der Emanzipationserklärung 1863 oder die Bürgerrechtsgesetze Mitte der 1960er Jahre? Sind es grundlegende Neuordnungen des Verhältnisses oder vielleicht nur Strategien zu ihrer Aufrechterhaltung 1 | Siehe zum Beispiel Feagin, »The Continuing Significance of Race« und Systemic Racism; Shapiro.

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(Feagin; Shapiro)? Und was bedeutet es, historischen Phänomenen – der Bürgerrechtsbewegung oder Epochen – einen Anfang und ein Ende zuzuschreiben? Das ist keine ausschließlich geschichtsphilosophische Frage: In Amerika ist die Auffassung von der eigenen Geschichte als beständiger Fortschritt in Hinblick auf eine wachsende Demokratisierung ein wichtiger Teil des nationalen Selbstverständnisses. »The progress of democracy is like the irresistible movement of the Mississippi toward the sea«, schrieb der amerikanische Historiker George Bancroft in einem Brief 1840 (zit in. Klose 370). »Fortschritt« war ein vertrautes Paradigma vieler Historiker im 19. Jahrhunderts, welches sich in den USA aber in besonderer Weise mit dem Glauben an die Verheißung der Demokratie als nationaler Aufgabe verbindet. Emanzipatorische Bewegungen können aus diesen Annahmen eine gewisse Legitimation ableiten, aber sie wird auch gegen kritische oder gar pessimistische Zeitdiagnosen ins Feld geführt. Eine prägnante Formulierung dieser Ambivalenz zwischen Zustandsbeschreibung und Wunschdenken findet man in der Rede Barack Obamas vom 7. März 2015 in Selma, Alabama aus Anlass des Gedenkens an die Protestmärsche fünfzig Jahre zuvor: We do a disservice to the cause of justice by intimating that bias and discrimination are immutable, or that racial division is inherent to America. If you think nothing’s changed in the past fifty years, ask somebody who lived through the Selma or Chicago or L.A. of the Fifties. Ask the female CEO who once might have been assigned to the secretarial pool if nothing’s changed. Ask your gay friend if it’s easier to be out and proud in America now than it was thirty years ago. To deny this progress – our progress – would be to rob us of our own agency; our responsibility to do what we can to make America better. (»Remarks«)

Die Präsenz der Fragen nach Kontinuität, Wandel, Veränderung und Fortschritt in öffentlichen Reden und ihre unmittelbare Relevanz für das Verhältnis zu marginalisierten Gruppen ist sicher auch ein Grund für die Popularität von Formen des historischen Romans in der amerikanischen Gegenwartsliteratur, wie sie von verschiedenen Literaturwissenschaftlern konstatiert wird (Cohen; Walonen; Saldívar). Insbesondere in Hinblick auf die kontroversen 1960er Jahre werden Fragen nach Wandel als Fortschritt schon länger reflektiert, beispielsweise in Philip Roths 1997 erschienenem Roman American Pastoral wie auch in Jonathan Franzens The Corrections. Beide entwickeln recht skeptische Perspektiven auf das Fortschrittsnarrativ – nicht zuletzt stellt Franzens Roman überhaupt die Fähigkeit von Einzelnen sowie von Gesellschaften, »Korrekturen« vorzunehmen, infrage. Spezifischer um das Rassenverhältnis geht es in Richard Powers The Time of Our Singing (2002) und in den Romanen Colson Whiteheads, insbesondere in John Henry Days (2001) und Apex Hides the Hurt (2006). Im Folgenden möchte ich zeigen, wie Whitehead in John Henry Days die 1960er Jahre in ein Muster der afroamerikanischen Geschichte einordnet, das uns vor dem Hintergrund der geschilderten Entwicklungen relevant, vielleicht gar prophetisch erscheinen kann. Der Roman entzieht sich nicht nur einem Dualismus von Kontinuität und Wandel,

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wie ihn Obama suggeriert, sondern er präsentiert zugleich eine Reflektion über Formen der Geschichtsschreibung, die diesem Muster, vor allem jedoch der darin enthaltenen Erfahrung wiederholter Unterdrückung, gerecht werden können. Anders als in der von Linda Hutcheon konzeptualisierten »historiographischen Metafiktion« dienen die Reflexionen Whiteheads nicht primär dazu, die Abhängigkeit der Geschichtsschreibung von gängigen Erzählformen aufzuzeigen (Hutcheon). Vielmehr geht es im Wissen um diese Abhängigkeit um die Frage, wie eine letztlich immer individuelle Erfahrung dennoch als typisch, und zwar über einen langen historischen Zeitraum hinweg, vermittelt werden kann, sodass Geschichte durch aktuelle Ereignisse beständig aktualisiert und in gewisser Weise sogar wieder erfahrbar wird. Auch wenn eine wichtige Figur in John Henry Days zum wiederholten Male den »Death of the Sixties« proklamiert und durch eine Geschichte illustriert: Am Ende, so meine These, zeigt Whiteheads Roman wie sehr bestimmte Erfahrungen afroamerikanischer Männer sich in immer neuen Variationen wiederholen. Weder ist der Kampf um Würde und Anerkennung noch sind die Mittel ihrer Unterwerfung je abgeschlossen gewesen – und sind es auch heute nicht. Colson Whiteheads Apex Hides the Hurt und John Henry Days spielen in unserer Gegenwart als dezidiert postindustrieller Servicegesellschaft. Es ist die Welt der Softwareentwickler und Programmierer, der Investmentbanker und Trader, der Marketingexperten und Finanzberater. Diese Welt erscheint, da sie nicht anders markiert ist, erst einmal »weiß«: Apex beginnt mit der Beschreibung eines brainstorming junger Angestellter im Marketing über einen Produktnamen. John Henry Days zeigt den Journalisten J. auf einem Flughafen auf dem Weg nach Charleston, South Carolina. Erst wenn die Protagonisten die weiße Hautfarbe anderer Charaktere erwähnen oder aber sich bei der Vorstellung, eine Kleinstadt im Süden besuchen zu müssen, deutlich unwohl fühlen, erkennen wir, dass es sich um afroamerikanische Protagonisten handelt und dass »Rasse« vermutlich noch eine Rolle spielen wird. Angekommen in Charleston erfahren wir beispielsweise, was in J.s Kopf vorgeht – ein Versuch, die Geschichte wie einen Splitter im Fuß mit Hornhaut zu verschließen: »Forget the South. The South will kill you. He possesses the standard amount of black Yankee scorn for the South, a studied disdain that attempts to make a callus of history« (14). Es ist ein kleiner Trick, mit dem beide Romane arbeiten: Sie lassen uns erst einmal glauben, bei den jungen, gut ausgebildeten männlichen Protagonisten, die sich wunderbar in einer Welt aus Starbucks, Flughäfen, transnationalen Konzernen und multikulturellen Werbebroschüren zurechtfinden, handle es sich um weiße professionals. Dass es Afroamerikaner sind, lässt uns dann womöglich glauben, wir befänden uns in einer Welt, die eben schon colorblind ist – bis wir auch das korrigieren müssen. Das allerdings dauert eine Weile, und zwar vor allem deshalb, weil die Protagonisten selber lange brauchen, bis sie von der afroamerikanischen Geschichte als ihrer Geschichte eingeholt werden. Beide Romane verfolgen eine individuelle und eher widerwillige Aneignung von Geschichte, und anders als in so vielen ethnischen

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Romanen handelt es sich nicht um kathartische, heilende oder ermächtigende Einsichten, sondern vielmehr um eine ernüchternde, kränkende und krankmachende, letztlich entmachtende Erfahrung: Beide Romane bedienen sich der Metaphorik von Wunden und Verletzungen, die noch nicht verheilt sind. Dass es um die Probleme von Geschichte und Geschichtsschreibung geht, wird in Apex spätestens deutlich, als der namenlose Protagonist versucht, die Geschichte des Kampfes um den Namen einer Kleinstadt aufzuarbeiten. In John Henry Days hingegen wird das historiographische Thema eigentlich bereits durch den Titel angedeutet: John Henry ist einer der wenigen afroamerikanischen Volkshelden, am bekanntesten wohl durch eine Ballade, von der es mindestens so viele Versionen wie Interpreten gibt. 1996 kreierte der US Postal Service (USPS) eine John Henry-Briefmarke und feierte ihre Herausgabe in Talcott, West Virginia, das sich rühmt, »Home of the Steel Drivin’ Man« zu sein. Seitdem gibt es in Talcott jedes Jahr im Juli die John Henry Days, ein dreitägiges Festival, das Touristen in die Stadt bringen soll. Der Roman spielt an diesen drei Tagen im Juli 1996 in Talcott: Der Protagonist J. soll für eine neue Tourismus-Webseite über das Festival schreiben. Wie ein paar andere Journalisten auch reist er also nach Talcott, um sich hier auf Kosten des USPS und der Stadt drei Tage den Bauch vollzuschlagen und mäßig zu amüsieren. Der Beruf bringt einen gewissen Zynismus mit sich: Zur Vertrautheit mit Marketingmechanismen kommen bei J. die Identität als Afroamerikaner und die Herkunft aus New York – Zynismus hoch drei beschreibt entsprechend die Erzählperspektive, die er und größtenteils auch der Roman auf die Ereignisse haben. Er durchschaut den multikulturellen Schachzug des USPS, die Nostalgie von Gemeinden in den Südstaaten auf der vergeblichen Suche nach einer irgendwie politisch korrekten Vergangenheit und die ungelenken Versuche, nicht über Sklaverei zu sprechen, wie etwa in der Eröffnungsrede des Vertreters des USPS: »But you all here today know much more about the sacrifices of railroad workers than I do,« humble now, »it’s your history. You don’t need to hear me go on about it – your families have lived it. I just hope that this stamp, and the celebrations this weekend, can help tell the story of the sacrifices of men. John Henry was an Afro-American, born into slavery and freed by Mr. Lincoln’s famous proclamation. But more importantly, he was an American. He helped build this nation into what it is today, and his great competition with the steam drill is a testament to the strength of the human spirit. The USPS is proud to honor such an American. Thank you.« (66)

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Abbildung 1

Die Rede ist gewissermaßen eine Vertextlichung der Briefmarke (Abb. 1) – keine Bildbeschreibung, sondern die Umsetzung in ein anderes Medium: Die Briefmarke bedient sich der Ästhetik der 1930er Jahre, in der sowohl in den USA als auch in Europa der dem Fortschritt und der Zukunft zugewandte Arbeiter heroisiert wurde. Mit diesem Trick reagieren die Designer der Briefmarke Ende des 20. Jahrhunderts auf das schwierige Problem der Darstellung eines Afroamerikaners, die irgendwie »historisch« wirken, dabei aber nicht auf eines der vielen diskriminierenden Stereotype zurückgreifen soll. Die Bildsprache macht John Henry in erster Linie zum Arbeiter, der über die Lokomotive mit Dynamik und Moderne assoziiert wird. Analog versucht sich der Redner an einer nationalen Rhetorik, die das Thema Sklaverei und ihre Folgen schnell abhandeln will. Er springt daher von »Mr. Lincoln’s famous proclamation« zum Beitrag John Henrys zur Nationalstaatsbildung, was ihn primär als Amerikaner erscheinen lässt, der eher zufällig Afroamerikaner war. Whitehead kontrastiert diese Aneignung der Legende mit der eines schwarzen Jungen aus Talcott, der auf der Einweihungsfeier die Ballade vorträgt. Es ist der einzige Moment, in dem die Journalisten einigermaßen respektvoll den Mund halten – bis auf J., aber darauf komme ich noch. Die Ballade ist wichtig, denn auch sie ist im Grunde ein Protagonist des Romans. Es lohnt sich daher, sich bei der Lektüre einige der vielen Versionen anzuhören, die es von ihr gibt: Interpretiert wurde sie von Huddie William Ledbetter (oder: Leadbelly), Mississippi Fred McDowell und Harry Belafonte, von Woody Guthrie, Pete Seeger, Johnny Cash und Bruce Springsteen, um nur einige bekannte Musiker zu nennen. Sie alle bieten verschiedene Versionen, die immer leicht unterschiedliche Aspekte der Geschichte oder aber der Musik hervorheben. Insgesamt ergeben die Versionen

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kein vollständiges Bild, sondern nur ein erneutes Mosaik – weder gibt es die eine autorisierte Version noch gibt es eine aussagekräftige Summe. In der Version, die im Roman abgedruckt ist, steht am Anfang die Prophezeiung seines Todes, es folgt der Wettkampf mit dem »steam drill« auf Initiative Henrys, er gewinnt, aber stirbt, nachdem er noch ein paar Worte an »Polly Ann« gerichtet hat. Andere Versionen betonen stärker die Armut Henrys, die Rolle des Captains oder sie erwähnen den Respekt, den ihm andere Arbeiter nach seinem Tod entgegenbringen. Die Menschen, die im Verlauf des Romans zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten mit der Ballade in Berührung kommen, machen damit ihre jeweils eigene Erfahrung und wir verstehen, dass das Lied selbst ein Eigenleben hat. Die eigentliche Handlung des Romans an den drei Tagen ist schnell erzählt: J. erwärmt sich langsam für John Henry – er geht so weit, sich am letzten Tag tatsächlich eine der Kitschfiguren zu kaufen, wie sie auf dem großen Volksfest in allen Varianten zu sehen sind. Dabei hilft nicht zuletzt Pamela, die einzige andere Schwarze von außerhalb: Auch sie ist aus New York, die Tochter eines Sammlers von allem, was irgendwie mit John Henry zu tun hat. Nachdem ihr Vater gestorben ist, erwägt sie, das Zeug nach Talcott zu verkaufen, da die Stadt ein Museum einrichten will. Am Höhepunkt der drei Tage, der Enthüllung der Briefmarke, zieht ein Briefmarkensammler eine Pistole und fuchtelt damit herum, die Polizei schießt und es sterben drei Menschen: der Sammler und zwei Journalisten – ob unser Protagonist darunter ist, können wir nicht so genau wissen. Was wir allerdings noch wissen müssen, ist, dass J. eine Art Wette mit sich selbst eingegangen ist, nämlich ein Jahr lang jeden Tag auf Spesen zu leben. Der Roman hat knapp vierhundert Seiten und erzählt diese Handlung weder ganz chronologisch noch kontinuierlich: Das Ende lesen wir relativ am Anfang, aber verstehen es noch nicht. Der Rest ist zwar fortlaufend, wird aber immer wieder, unvorhersehbar, von kleinen Episoden unterbrochen, in denen Teile der Geschichte der Ballade erzählt werden: Ein jüdischer Texter in New York, der versucht, aus den gehörten Brocken einen Text zu schreiben, ein Bluessänger, ein afroamerikanisches Mädchen, dass die Ballade auf ihrem Klavier spielt, Paul Robeson im John Henry Musical, ein crackhead in New York usw. Der amerikanische Musikkritiker Greil Marcus sieht in diesen Einsprengseln die Fragmente eines eigentlichen großen amerikanischen Romans, und tatsächlich sind es kleine kompositorische Juwelen (Marcus). In meiner Lesart thematisieren die Einsprengsel wie auch die Rahmenhandlung gemeinsam Probleme der Geschichtsschreibung – insbesondere einer Geschichtsschreibung, die nicht-schriftlichen Zeugnissen und der physischen Erfahrung von Unterdrückung gerecht werden will. Von den offenkundigen Passagen des Romans, in denen Geschichtsschreibung thematisiert werden, ist die erste der Prolog. Er listet Briefauszüge auf, in denen die Schreibenden Informationen über John Henry aus zweiter, dritter oder völlig unbekannter Hand weitergeben. Schnell wird deutlich, dass sich aus diesem Puzzle kein einheitliches Bild ergibt: John Henry ist mal weiß, mal schwarz; er kommt entweder aus Alabama, aus Mississippi oder aus Tennessee und hat dort

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– oder auch in West Virginia oder Kentucky – Gleise verlegt oder im Tunnel gearbeitet; er war Sträfling und Mitglied einer chain gang – oder auch nicht. Schnell merkt man: Auf Zeitzeugen, Balladen, Anekdoten und die vielen Geschichten, die man sich so erzählt, ist kein Verlass, wenn es um die Rekonstruktion von Fakten geht. Hat John Henry wirklich gelebt? Wenn ja: Wo und wann, und was hat er getan? Nach dem Prolog begibt sich der Text mit J. auf den Flughafen und reist nach Talcott. Wir lesen noch die offizielle Ankündigung des Festivals des US Postal Service und dann beginnt mit den Worten »After the killing is over« (24) der vierte Abschnitt des Romans über die Momente unmittelbar nach dem Amoklauf des Briefmarkensammlers, der sich explizit mit der Rekonstruktion und Weitergabe eines dramatischen Ereignisses durch die überlebenden Zeugen auseinandersetzt: »The witnesses share what they have seen and fit their perspectives into one narrative through a system of sobbing barter. In these first few minutes a thousand different stories collide; this making of truth is violence too, out of which facts are formed« (24). Das wird ein wenig klarer im Fortgang. Anwesend ist nämlich eine junge Collegestudentin, die ein Praktikum bei einer Zeitung macht und nach Talcott geschickt worden ist. Sie versucht sich gleich nach den Schüssen an der Konstruktion einer Geschichte: Sie befragt Zeugen, die aber einfach nur auf dieses oder jenes zeigen – ein Narrativ gibt es noch nicht, es gibt viele Geschichten und viele Perspektiven. Joan steht selber unter Schock, aber sie zwingt sich ans Telefon, ruft bei ihrer Zeitung an und sagt: »Talcott, West Virginia – A postal worker opened fire Sunday afternoon on a crowd of people gathered for the unveiling of a new postage stamp; critically wounding three people before being shot and killed« (26). Im Gegensatz zu dem Wirrwarr an Informationen über John Henry, wie wir sie aus den Briefen gesehen haben, ist dieser Satz erfrischend klar und deutlich. Wie sich später herausstellt, ist er aber nicht richtig: Es ist kein Angestellter der Post, sondern eben der Briefmarkensammler, der mit einer Pistole nur herumfuchtelt, und nicht er, sondern die Polizei verwundet bzw. tötet daraufhin drei Menschen, darunter den Briefmarkensammler. Auch wenn Joan nicht mehr weint und stammelt, wenn sie klar formulieren kann und sich dabei an die Grundregel des Journalismus hält: »Frage immer: wo, was, wer«, so ist ihre Geschichte dennoch falsch. Sie muss erst noch mit anderen kollidieren, um so etwas wie »Fakten« zu schaffen. Fakten und Wahrheit entstehen in einer Art Reduktionsprozess: Viele verschiedene Perspektiven treffen aufeinander und Menschen versuchen, diese Perspektiven in ein Narrativ zu integrieren. Bezogen auf die Geschichten um John Henry ist das offenbar gar nicht möglich und vielleicht ja auch nicht wünschbar. Jedenfalls trägt der Roman keinesfalls zur Reduktion der Geschichten um John Henry bei, sondern im Gegenteil, zu einer Vervielfältigung von Versionen. Und er tut dies, so darf man aufgrund des Zitates oben annehmen, weil die Reduktion der Perspektiven auf eine Geschichte eine Gewalt impliziert, an der der Roman nicht teilhaben möchte. Es ist die »epistemologische Gewalt« (Walonen 72) gegenüber all den anderen Erfahrungen, die verschwiegen oder zensiert oder

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schlicht nie artikuliert werden. Der Roman hingegen, so Walonen, versucht dem entgegenzuarbeiten: In the face of this realization, the scattered episodes that comprise the novel take multiple detours into the stories of ›minor‹ characters involved tangentially in the J. Sutter narrative, as well as figures from the past touched in various ways by the John Henry legend, in order to present a history that is inclusively diffuse and heterogeneous, while still thematically focused. (Walonen 72) Tatsächlich aber entsteht durch den gegenseitigen Bezug der Figuren zueinander und durch die Parallelen, die man etwa zwischen den John Henry-Figuren erkennt so etwas wie ein erkennbares Muster. Einerseits thematisiert der Roman auch die kommerzielle Vervielfältigung John Henrys mehrfach, er trägt selbst dazu bei, und er findet mehrere Bilder dafür in den verschiedenen Beschreibungen visueller Darstellungen: einem Zeichentrickfilm, unzähligen Statuen, der Bronzeskulptur in Talcott und nicht zuletzt der Briefmarke. Hinzu kommen die verschiedenen musikalischen Varianten in Balladen und work songs. Dann aber gibt es verschiedene Männer, in denen wir das Schicksal John Henrys wiedererkennen und einer von ihnen, Guy Johnson, eröffnet schließlich eine Metaebene auf die Varianten der Geschichten. Johnson ist Protagonist eines der Einsprengsel, und durch ihn wird explizit eine Form der Aneignung von Geschichte thematisiert, nämlich oral history – die Sammlung mündlicher Aussagen von Zeitzeugen in Interviews. Guy Benton Johnson war ein amerikanischer Soziologe und Sozialanthropologe an der University of North Carolina in Chapel Hill, wobei er sich auf das Thema der Rassenbeziehungen und die schwarze Folklore in den Südstaaten spezialisiert hatte. Als Soziologe ist er manchen heute noch bekannt durch seine Mitarbeit an Gunnar Myrdals Riesenprojekt An American Dilemma, ansonsten kennt man ihn in den Folklore Studies als Autor des Buches John Henry: Tracking Down a Negro Legend (1929). Er hatte eine Anzeige in einer Chicagoer Zeitung aufgegeben und nach Zeitzeugen gesucht. Im Rückblick verstehen wir, dass die Briefe des Prologs alles Antworten auf diese Anzeige sind. Guy war weiß, im Roman ist er schwarz und hat mit entsprechenden Schwierigkeiten bei seiner Feldforschung zu kämpfen: Er bekommt kein Zimmer im Hotel, weiße Zeugen sind entsetzt, wenn sie ihn sehen usw. Ansonsten trifft der Roman den Kern der johnsonschen Forschung zu John Henry: Er ist 1929 zu spät dran mit seiner Feldforschung in Talcott, die Zeitzeugen sind tot oder dement, alles andere ist aus zweiter oder dritter Hand und keine zwei Geschichten stimmen überein. Eigentlich, so kann man in einem Artikel Johnsons nachlesen, ist die Frage nach der Faktizität John Henrys sekundär; was eigentlich zählt, ist die Faktizität der Legende selbst. Sie hat ein Eigenleben unter Afroamerikanern im Süden, wandert dann nach Norden und lebt weiter in den Städten, »a living functioning thing in the folk life of the Negro« (Whitehead 161). Wieso forscht Johnson dann so unermüdlich nach dem »richtigen« John Henry? Nun, er befindet sich in Konkur-

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renz zu John Harrington Fox, der die Legenden von John Henry mit denen des weißen John Hardy verschmelzen lassen und damit beide Geschichten als weiße, hauptsächlich schottisch-irische Folklore darstellen will. Irgendwie hofft Johnson auch, durch den Nachweis genuin afroamerikanischer Folklore einen Beitrag zur kulturellen Emanzipation der Schwarzen zu leisten, wie sie sich in der Harlem Renaissance andeutet. In der Tasche trägt er immer einen Zettel, auf dem steht: »we make our own machines and devise our own contests in which to engage them« (163). Johnson ist eine Manifestation John Henrys, er handelt im Wettstreit mit einem übermächtigen Gegner, gegen den er eigentlich keine Chance hat: ein weißer Wissenschaftler. Was er beweisen will, ist ein eigenes kulturelles Erbe der Afroamerikaner, eine eigene Tradition, in der Widerstand, Stolz und Subversion zu finden sind. Wir verstehen schnell, dass auch J. eine Variante John Henrys sein soll, wie überhaupt die Geschichten in den Einsprengseln von vielen schwarzen Männer erzählen, die allesamt gegen ihre jeweiligen »Maschinen« kämpfen. Wie John Henrys Wette gegen die Maschine sind die Kämpfe scheinbar selbst gewählt, voller Überraschungen, Zufälle, Pech, Gewalt und Tod. In der Zusammenschau allerdings wird deutlich, dass es sich doch um wiederkehrende Muster handelt: Die Maschine ist eine Art struktureller Rassismus, der aber nicht nur fest umrissene Institutionen charakterisiert. Vielmehr erwächst er aus der Beziehung von Weißen und Schwarzen zueinander sowie aus den politischen und ökonomischen Umständen, in denen sie sich befinden. An manchen Stellen suggeriert der Roman fast einen Archetypus: John Henry ist ein Opfer, das einer sozio-ökonomischen Entwicklung dargebracht wird, weil diese bezahlt werden muss. Repräsentativ dafür sind zwei Beispiele für weitere John Henry-Figuren und die Art und Weise, wie der Roman sie mit dem ursprünglichen Henry verbindet. Der erste ist Meredith Hunter, den es wirklich gab, der zweite ein Mitglied der Black Panther namens Toure Nkumreh, der gewisse Ähnlichkeit mit Stokey Carmichael, auch bekannt als Kwame Touré, besitzt (Tennenborn 283). Beide Kapitel, die im Buch weit auseinander liegen, sind auch Vignetten aus der US-amerikanischen Geschichte der 60er Jahre und reflektieren damit gleichzeitig die Geschichtsschreibung über diese Zeit. Meredith Hunter war ein junger schwarzer Student aus Berkeley, der während des Konzertes der Rolling Stones auf dem Altamont Speedway in Kalifornien 1969 vor der Bühne von Mitgliedern der Hells Angels getötet wurde. Die komplexe Einbettung seiner Geschichte in den Roman suggeriert eine Art Lynchmord oder rituelle Tötung, die auch J. droht: Während auf der Eröffnung der »local boy« die Ballade von John Henry vorträgt, erstickt J. fast an einem Stück Roastbeef. Er versucht, auf sich aufmerksam zu machen, aber alle sind gebannt von der Vorstellung – schlussendlich ist es der Briefmarkensammler und spätere Attentäter, der sieht, wie J. blau im Gesicht anläuft und vom Stuhl fällt. J.s letzte Gedanken bevor er glaubt zu sterben sind:

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Astrid Franke Can’t these people see what is going on? The boy keeps singing. The pain is in his throat, around his throat and he would like them to make it stop. All these crackers looking up at me, looking up at the tree. Nobody doing nothing, just staring. They know how to watch a nigger die. (Whitehead 79)

J. ist ein bisschen paranoid und hat sich schon am Flughafen und dann auch auf der Taxifahrt vorgestellt, Opfer eines Lynchmordes zu werden. Dabei ist es seine Gier und seine Wette mit sich selber, die ihn fast umbringen – so würden wir jedenfalls hier noch urteilen. Gefolgt wird das Kapitel von einem Unfall: »The first blow shattered half the bones in the boy’s hand and the second shattered the other half« (83). John Henrys shaker, also der Junge, der eine Art Meißel festhält, damit John darauf schlagen kann, hat einen Moment nicht aufgepasst, und nun ist es passiert. John Henry muss kurz pausieren und braucht einen neuen shaker, dann beginnt das nächste Kapitel: It was custom on nights like this, when they were far from home, to share stories of what they had seen on their journeys. For they understood things about each other that no outsider ever could. The stories passed the time through the night and sustained them. (87)

Die Abfolge der zitierten Textstellen ist typisch für den Roman: Er springt in Zeit und Raum, wir wissen nie recht, wo wir sind und was uns erwartet, und verstehen oft erst im Nachhinein, was die Episoden zusammenhält. Hier könnten wir im Lager der Arbeiter am Tunnel sein, vielleicht unter den Afroamerikanern um John Henry, die sich die Geschichte vom Unfall erzählen. Tatsächlich aber sind wir im Motel in Talcott und die Geschichtenerzähler sind die Journalisten, die einige gin and tonics wegtrinken, bevor einer von ihnen, Dave, anhebt mit der Bemerkung, was heute J. passiert sei, erinnere ihn an etwas, das er als junger Mann erlebt habe – er verbindet damit J.s fast tragisch endende Geschichte mit der Meredith Hunters. Aus der Perspektive eines Konzertbesuchers erzählt er vom Konzert der Rolling Stones am 6. Dezember 1969, das relativ bald als Ende der 1960er Jahre gesehen wurde, und so sieht es auch Dave: »It’s the centerpiece of my chapter on the Death of the Sixties, which holds up as the final word on the subject, if you ask me« (91). Was genau in Altamont passierte, ist ähnlich schwer zu rekonstruieren wie die Ereignisse um John Henry. Daves Version lautet so: Weil die Musikbranche und die Fans und die Journalisten allesamt die Rolling Stones für ihre teuren Konzerte kritisiert hätten, hätten diese sich der Jugend beugen und letztlich aus Gründen des Marketings, nicht aus Überzeugung, ein Konzert umsonst und draußen anbieten müssen. Sie stellen ausgerechnet die Hells Angels als Sicherheitsdienst ein, weil sie diese nicht aufwendig bezahlen müssen. Marketing und Profitgier sind so die Wurzel des Übels und als solche ein wiederkehrendes Thema des Romans. Vor der Bühne, so erzählt Dave, tanzt ein junger Mann in gelb-grünlichem Anzug mit Afro und erregt die Aufmerksamkeit der Angels: »tall, skinny black cat in a lime green suit and black shirt – he stuck out«

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(97). Die Angels provozieren ihn, er hat eine kleine Pistole und fuchtelt damit herum, wird zusammengeschlagen und erstochen. Dave hält den Tod des jungen Mannes, dessen Namen er nicht mehr erinnert, für eine Art rituelles Opfer. Wofür? »To the culture. The kids had brought a new thing into the world, but they hadn’t paid for it. It had to be paid for.« Und dann sagt jemand: »So this guy is like the Crispus Attucks of the seventies« »That’s a new spin« (99). Die Art und Weise, wie hier gesprochen wird, wie schnell kategorisiert, klassifiziert und etikettiert wird, gehört zur Charakterisierung der Populärkultur und ihrem Marketing, die im Roman auch einfach »Pop« genannt werden. Trotzdem sollen wir diese Wanderarbeiter des Informationszeitalters so ernst nehmen wie die Arbeiter des 19. Jahrhunderts, die Schienen verlegten und Tunnel sprengten – aufgrund des fließenden Übergangs zwischen den Abschnitten erkennen wir diese Analogie. Auch die Erzählungen der Kollegen von J. sind eine Art Folklore, oral history der 60er Jahre. Daves apodiktische Aussage zum Tod der 60er Jahre allerdings sollte man nicht vorschnell als Urteil des Romans verstehen. Die Vorstellung von abgeschlossenen Kapiteln der Geschichte läuft sowohl der Form als auch dem Inhalt des Romans zuwider. Vielmehr geht es um überraschende Analogien, und eine wird hier vielleicht von J. eingebracht: Crispus Attucks war zum Teil zumindest Afroamerikaner, ein entlaufener Sklave vermutlich, der als das erste Opfer der Amerikanischen Revolution gilt. In der Verteidigung der britischen Soldaten, die in Boston auf ihn schossen, nachdem sie von einer Menge provoziert worden waren, hatte John Adams »mad behavior« und »terrifying looks [which were] enough to terrify any person« verantwortlich gemacht (»Summation«). Das kommt uns bekannt vor – es verweist zurück auf Hunter und vorbei an John Henry bis in unsere eigene Gegenwart auf etwa Michael Brown oder Trayvon Martin. Was haben diese schwarzen Männer gemeinsam? John Henry gilt als stark, gutaussehend, vielleicht mit übermenschlichen Kräften. Meredith Hunter ist klein, dürr, tanzend mit Afro. Attucks hat vielleicht wilde Haare und was immer Adams beängstigend findet. Trayvon Martin trägt einen Kapuzenpullover und Michael Brown2 erscheint übermäßig groß und kräftig – wie immer auch die Körper der afroamerikanischen Männer aussehen, ihr Äußeres und ihre Kleidung gelten leicht als Provokation und später, nachdem sie herausgefordert und getötet sind, auch als Legitimation der Täter. Natürlich wusste Whitehead nichts von diesen fortgesetzten Manifestationen John Henrys. Aber er lässt seine Wanderarbeiter über historische Muster und Mechanismen spekulieren: Dave hält den Tod Hunters für ein rituelles Opfer. Es deutet sich eine Neuerung an und jemand muss zahlen, es gibt nichts ohne Preis, vor allem nicht für das, was manchen als Fortschritt gilt: die Unabhängigkeit Amerikas, der Eisenbahnbau, die Jugendkultur und die counterculture, das Internet im Informationszeitalter. Attucks, Henry, und Hunter jedoch legen nahe, dass ein lineares Verständnis der Geschichte oder gar ein Fortschrittsnarrativ nicht 2 | Siehe dazu die Beiträge von Hirschfelder und Kopp in diesem Band.

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greifen: Die Männer und ihre Tode sind Teil eines sich mit kleinen Veränderungen wiederholenden Musters. Es sind Variationen eines Themas, wie sie charakteristisch für die Bauformen mündlichen Erzählens sind: im Blues, in der Ballade, der Legende und im Witz. Eine weitere John Henry-Figur ist Toure Nkumreh. J. liest vom Tod des ehemaligen Black Panther in Tallahassee, Florida in der Zeitung. Fünf Tage hat er tot in seiner Wohnung gelegen bevor die Nachbarn wegen des Gestanks die Polizei benachrichtigen ließen. Diese Nachricht lässt ihn nicht los und während einer Party am Abend, einem Jahrmarkt der Eitelkeiten der public relations-Welt, erinnert er sich daran, wie Nkumreh von seiner Universität als Zeitzeuge eingeladen wurde. Er stellt sich als der letzte der »Black Power Traveling All-Stars« (325) vor und erzählt Anekdoten. Die Doktoranden aus der Geschichtswissenschaft müssen begleitende Seminare unterrichten, damit die Geschichten des Zeitzeugen in die Disziplin der Geschichtswissenschaft passen: Sie suchen Quellen heraus, die Nkumreh beiläufig erwähnt, sie graben einen alten Gedichtband von ihm aus, machen Fotokopien und versuchen, über Begriffe wie mündliche Tradition und revolutionäres Bewusstsein so etwas wie einen Kontext herzustellen. J. weiß nicht so recht, was ihn an der Nachricht dieses Todes so bewegt. An der Bar auf der Party trifft er One Eye, der klarsichtig vermutet: »I know what’s wrong with you […] You’re not upset that the guy’s dead, […] [y]ou’re upset that you don’t care that the guy is dead« (336). Nkumreh wird durch die Struktur des Kapitels mit einem Anglistikprofessor kontrastiert, der zu einem Popphänomen geworden ist: Intelligent gestylt mit gerade erschienenem Buch, in das jeder hineinlesen kann, was er möchte – vor allem, wenn man es, wie die meisten Partybesucher, noch nicht zu Ende gelesen hat. Wenn einem in dieser Welt etwas egal ist, kann einem auch egal sein, dass es einem egal ist – es ist kein Zeichen von Kaltblütigkeit oder Apathie, sondern Selbstschutz. Wenn aber einer der letzten Mitglieder und Zeitzeugen der Black Power-Bewegung gestorben ist und J. merkt, dass es ihm eigentlich nichts ausmacht – stimmt dann etwas mit ihm nicht? Ist etwas verloren, wenn der letzte Zeitzeuge gestorben ist? J. blickt auf die Kämpfe um die Rechte der Schwarzen nicht als Zeitzeuge, sondern als jemand, für den dieser Kampf Geschichte ist. Ramón Saldívar hält dies für die Perspektive Whiteheads selber: Whitehead speaks about the struggle for racial justice in America not from the perspective of a participant in the Civil Rights struggles of the 1940s, ›50’s and ›60’s – not from the position of memory, in other words – but from the position of someone for whom that struggle is an element of history, a distant history whose heroic days seem, sadly, to have passed. (6)

Aber wie zuvor auch schon Daves selbstgewisse Aussage zum Tod Hunters als dem Ende der 60er Jahre, so wird auch J.s partielle Gleichgültigkeit durch die Struktur und den Fortgang des Romans modifiziert. Zum einen wissen wir durch die Struktur des Romans, dass kein Aspekt der Geschichte so weit entfernt ist, dass

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er nicht plötzlich wieder als unmittelbar nahe und relevant erscheinen kann. Wir ahnen auch, zweitens, dass J. sich irrt, wenn er meint, die Kämpfe der Afroamerikaner weit hinter sich gelassen zu haben. Und schließlich scheint gegen Ende des Romans J. selbst (wie auch der Protagonist in Apex) seine distanzierende Haltung zur Geschichte zu modifizieren: Ausgerechnet er, den der Tod eines Zeitzeugen der Black Power-Bewegung nicht weiter bewegt, kauft sich auf dem Jahrmarkt eine der kitschigen John Henry-Figuren. Bei aller Skepsis gegenüber Zeitzeugen und aller Kritik an der Vermarktung von Geschichte, die der Roman enthält, umspielt er dennoch verständnisvoll das Verlangen nach einem direkten, einem (be-)greifbaren Zugang zu historischer Erfahrung, der nicht nur kognitiv, sondern umfassend sinnlich, vor allem aber von existentieller Relevanz ist: Es gibt in der Geschichte einen Bezug zur eigenen Erfahrung und diese kann in einen Bezug zur Vergangenheit gesetzt werden. Deutlich wird dies auch am Stil des Kapitels über das Volksfest, auf dem J. die Figur kauft. Es bildet einen Höhepunkt des Romans, weil wir das eigentliche Finale, also die Briefmarkenzeremonie, nicht zu sehen bekommen. Das Volksfest beobachtend stellt sich Lucien, der Chef der beauftragten Marketingfirma eine Frage, die ihn schon seit geraumer Zeit beschäftigt: […] he couldn’t figure out which came first, the stamp or the festival. Is the stamp a merchandising tie-in for festival, or the festival a press conference for the stamp? Looking around today, he is still confounded. There are canned preserves and men walking around in old conductor uniforms. Is this really homey or is it constructed in some way? (295)

Man muss nicht Kulturwissenschaftlerin sein um sagen zu können: konstruiert natürlich! Wer glaubt schon an Authentizität? Und einerseits gibt uns der Text recht: Das Volksfest ist ein Marketing-Coup des US Postal Service und damit der Regierung. Die Idee stammte zunächst aus Talcott, das ein jährliches Festival plante – zweifellos, um Touristen in den kleinen Ort zu locken. Dann entstand der Gedanke, das Fest mit der Briefmarkenfeier (die ursprünglich in Pittsburgh hätte stattfinden sollen) zusammenzulegen, sodass die Marketingexperten einen Synergieeffekt herstellen können. Klarer Fall: Das sogenannte Volksfest ist eine strategisch konstruierte Form von Authentizität, um den Menschen eine Form von Handlungsmächtigkeit und Verbundenheit mit ihrer Regierung vorzuspielen, die so nicht existiert. Eigentlich ist alles eine problematische Verbindung von Politik und Kommerz. Aber Whitehead beschreibt das Fest in Passagen wie der folgenden: Abstract horror for the fast walkers when they fall behind dawdlers. Invective, calumny. Finally maneuvering around to find the agent of delay is infirm, disabled, acquitted. They split up. They are left waiting at the meeting place and despise their companions. Excuses are tendered up and down the rows. You see that man hold something you want and wonder where he got it, what booth. She wants him to hold her hand and he keeps finding reasons to withdraw it, to look for change, check his watch. Out here all exposed. A mother discipli-

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Astrid Franke nes her child and bystanders pronounce it abuse, but what can you do. Put that down, come over here, don’t bother the nice lady. The soda is undercarbonated. Stingy, bubble-wise. You should have gone yourself, you ask for a Coke and they come back with orange drink. (246)

Die Aufzählung, die Reihung und Parallelisierung von kleinen Szenen erinnert an Whitmans Langgedicht »Song of Myself«. Mit einer Reihe von Vignetten repräsentiert Whitman darin etwa das Stadtleben, ohne jemals eine Vogelperspektive einnehmen zu müssen, sondern indem er unten, auf der Straße, bei den gewöhnlichen Menschen bleibt. Es ist eine soziologische Mikroperspektive – die Graswurzelperspektive. Leaves of Grass heißt entsprechend der Gedichtband. Und wie bei Whitman transzendiert die Aufzählung irgendwann das Detail: Da ist etwas, das die Details verbindet und gleichzeitig jedem und jeder gerecht werden kann. Für Whitman ist es die Demokratie, die über die Feier des Gewöhnlichen, des Alltäglichen und auch des Ordinären einen Ausdruck findet. Auch Whitehead listet Szenen des Gewöhnlichen auf: Wir erkennen die Details wieder vom letzten Oktoberfest oder vom Weihnachtsmarkt als Erfahrung kommerzieller Feste auf der Mikroebene. Diese ist nicht radikal subjektiv, sondern sie hat ihre eigenen intersubjektiven Muster. Wir schmunzeln beim Lesen der Passagen, weil die Spiegelung eigener Erfahrung wie auch die Wiederholung des Bekannten ein ganz eigenes ästhetisches Vergnügen generiert – auch das kennt man aus der Folklore. Mehr noch: Die Erfahrung ist greif bar, sie ist haptisch und körperlich – langsames Laufen, klebrige Finger, schimpfende Mütter usw. Daher ist die Frage nach Authentizität oder Kommerz keine bloß rhetorische: Das Fest wie auch die kitschigen John Henry-Figuren sind natürlich kommerzielle Produkte. Sie befriedigen aber auch ein ernstzunehmendes Bedürfnis nach Erinnerung an gemeinsame Erfahrung und im wahrsten Sinne des Wortes begreif barer Geschichte. Erfahrung ist ein zentraler Begriff der amerikanischen Ideengeschichte. Er ist Dreh- und Angelpunkt der amerikanischen Philosophie des Pragmatismus und damit auch seiner Demokratie- und Ästhetiktheorie. In Whiteheads Roman ist die zentrale Erfahrung, der Wettkampf John Henrys mit der Maschine, dezidiert körperlich, verbunden vor allem mit dem Hammer. Ihm sind viele andere Kämpfe in der afroamerikanischen Geschichte an die Seite gestellt, die zunächst sehr viel abstrakter anmuten. Körperliche Erfahrung ist etwas, das der Geschichte gegenübergestellt wird, nicht zuletzt in der Passage über den Amoklauf des Briefmarkensammlers am Anfang des Romans: Die Verwundungen der Körper sind zunächst da, erst dann entstehen Schritt für Schritt verschiedene Artikulationen, die durch Angleichen und Ausgleichen der Perspektiven, im Verhandeln von Einzelheiten und ihrer Relevanz, zu einer Geschichte werden. Der Roman versucht die körperliche Erfahrung wie auch ihre Artikulation in den Blick zu bekommen, indem er die Ballade und damit die modulare Bauweise von Volksliedern und Geschichten als Modell benutzt. Die Erfahrungen von Ereignissen können ästhetischen und kollektiven Ausdruck in den einfachen Formen des folk tale, der

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Ballade, des work song und ihren modernen Varianten finden, aber auch in Artefakten, die buchstäblich zum Anfassen sind: Figuren, Skulpturen und natürlich der Hammer. Die Erfahrungen und der Wunsch nach ihrer Tradierung werden weder durch Geschichtsschreibung noch durch Kommerzialisierung völlig ausgelöscht, sie sind widerständig und brechen an merkwürdigen und unvorhersehbaren Stellen aus – so wie die kleinen narrativen Juwelen im Roman. Bleibt noch zu fragen, welche zeitgenössische Variante der Erfahrung die vorerst letzte Reinkarnation John Henrys, nämlich J., einfängt. Einer komplizierten kulturellen Entwicklung folgend hat er den Kampf mit der Maschine internalisiert: Er weiß nicht so recht, warum er einen Rekord in Sachen Spesen aufstellen will und behauptet, es nur sich selbst beweisen zu müssen. Aber natürlich folgt sein Ehrgeiz der Logik der vielen »freien« Journalisten und ihrer Selbstausbeutung wie auch einer Eigenheit der public relations-Industrie: Jedes »freie« Buffet mitsamt den vielen Werbegeschenken ist eine kleine Bestechung für gefällige Texte. Warum soll jemand nicht versuchen, nur von solchen Veranstaltungen zu leben? Die Antwort, die der Roman gibt, lautet ungefähr: Weil man dann seinen Realitätssinn verliert, weil man durchdreht ob der bodenlosen kleineren oder größeren Verfälschungen der Wirklichkeit, weil man den Respekt vor sich selber verliert. Aber auch, weil Selbstausbeutung eine Form der Ausbeutung bleibt, weil auch der Internetarbeiter nicht vollends und permanent verfügbar sein sollte und schließlich, weil es eine Illusion wäre zu glauben, man lebe so auf Kosten des Systems: Genau das Gegenteil ist der Fall. J. ist ein John Henry der »Kultur des neuen Kapitalismus«, wie Richard Sennett sie nennt: eine Kultur, in der die größte Angst der Arbeitnehmer ist, überflüssig zu werden, und in der es schwerfällt, lange und bedeutsame menschliche Beziehungen aufzubauen und zu halten. So muss sich J. am Ende des Romans entscheiden, ob er weiterhin nach dem Rekord streben oder aber Pamela folgen und nicht mehr an der Zeremonie für die Briefmarke teilnehmen will. Entscheidet er sich für die Fortsetzung des Wettkampfes mit seiner Maschine, wie noch alle seine Vorgänger, so wird er der Logik der Ballade folgend sterben – er wird einer der beiden Journalisten sein, die versehentlich von einem Polizisten erschossen werden. Die afroamerikanische Geschichte kennt hier ein Muster, das mit immer neuen, aber ähnlichen Variationen aufwartet: Immer wieder werden junge schwarze Männer in scheinbar sinn- oder aussichtlose Auseinandersetzungen um Würde, Anerkennung oder nicht erkennbare Ziele verwickelt und immer wieder scheitern sie scheinbar zufällig und versehentlich: Direkter Rassismus ist nicht so leicht zu identifizieren, sie scheinen schlicht Pech zu haben, sind zur falschen Zeit am falschen Ort – immer in einer weiß dominierten Umwelt, die am Ende meist profitiert. Von der Sklaverei über die Rekonstruktion, die Jim Crow-Ära, die Harlem Renaissance, hin zur Bürgerrechtsbewegung, zu Black Power und bis in die Gegenwart verläuft diese Geschichte, blickt man auf John Henry, nicht linear und schon gar nicht progressiv. Vielmehr verbinden sich Kontinuität und Wandel in einer Weise, in der noch jede Epoche, auch unsere eigene, einen John Henry hervorbringt. Der

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Roman eröffnet einen Blick auf afroamerikanische Geschichte, der verdeutlicht, wie sehr sie – auch die der Bürgerrechtsbewegung und der 60er Jahre – nie vorbei und beendet ist; sie ragt vielmehr in die Gegenwart hinein und lebt dort weiter.

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Guess Who’s Coming to Dinner: Liebe zwischen Schwarz und Weiß im amerikanischen Film und Fernsehen Michael Butter

Als die Academy of Motion Picture Arts and Sciences im Januar 2016 die Nominierungen für die wichtigsten Filmpreise der Welt, die Oscars, bekannt gab, löste sie damit eine Welle der Kritik aus. Unter den zwanzig Schauspieler*innen, die für die besten Haupt- und Nebenrollen nominiert waren, befand sich nämlich niemand afroamerikanischer Herkunft. Das war bereits im Jahr davor so gewesen, und schon damals hatte sich unter dem Hashtag #oscarssowhite – die Oscars sind so weiß – Protest im Internet formiert. 2016 war die Empörung aber ungleich größer, weil nun zum ersten Mal seit fast zwanzig Jahren zweimal hintereinander keine schwarzen Schauspieler*innen nominiert worden waren, es aber nach Ansicht der meisten Experten in den Monaten zuvor eine ganze Reihe von herausragenden schauspielerischen Leistungen von Afroamerikaner*innen gegeben hatte, die offensichtlich ignoriert worden waren (Steinitz). Die Diskussion über die Benachteiligung schwarzer Schauspieler*innen ist mittlerweile bereits wieder abgeklungen. Bis zur Preisverleihung am 28. Februar 2016 wurde sie aber auf zwei Ebenen sehr intensiv geführt. Zum einen ging es um die Strukturen innerhalb der Academy of Motion Picture Arts and Sciences, die dafür verantwortlich gemacht wurden, dass Afroamerikaner*innen bei den Nominierungen und den eigentlichen Auszeichnungen regelmäßig übergangen werden. Macht man sich bewusst, dass Schwarze seit mehreren Jahrzehnten etwa 13 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen (Rastogi et al.), ist es in der Tat eklatant, dass bei den bisher 88 Oscarverleihungen nur Sidney Portier, Denzel Washington, Jamie Foxx und Forest Whitaker als beste Hauptdarsteller und Halle Berry als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet wurden. Selbst wenn man nur die fünfzig Jahre seit dem Höhepunkt der Bürgerrechtsbewegung betrachtet, ist die Quote der prämierten Afroamerikaner*innen noch immer auffallend niedrig. Zum anderen ging es in der Debatte um die rassistischen Strukturen der amerikanischen Filmindustrie, in der Nicht-Weiße, unabhängig davon, ob es sich um

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Künstler*innen afroamerikanischer, asiatischer oder hispanischer Herkunft handelt, sowohl vor als auch in allen Bereichen hinter der Kamera unterrepräsentiert sind. So sind die Rollen, die mit schwarzen Schauspieler*innen besetzt werden, ebenfalls lange nicht so zahlreich, wie das bei der Zahl der in den USA lebenden Schwarzen zu erwarten wäre. Zudem sind die Figuren, die Schwarze spielen, oft problematisch, weil sie aus dem 19. Jahrhundert stammende, negative Stereotype fortschreiben (Bogle; Guerrero). Dieser Artikel behandelt jedoch nicht die Darstellung von Schwarzen im Hollywoodfilm im Allgemeinen. Ich konzentriere mich stattdessen auf einen bestimmten Aspekt dieses Themas, nämlich auf die Darstellung von Liebesbeziehungen zwischen schwarzen und weißen Figuren. Diese diskutiere ich nicht nur in Hinblick auf Hollywood, sondern betrachte auch das amerikanische Fernsehen. Ich beschränke mich dabei auf fiktionale Darstellungen. Diese existieren jedoch nicht losgelöst von der Realität, sondern leisten, um mit der Amerikanistin Jane Tompkins zu sprechen, »kulturelle Arbeit«. Sie spiegeln nicht nur gesellschaftliche Wirklichkeit, sondern formen diese, indem sie Menschen Ideen über sich und andere und die Welt im Allgemeinen vermitteln, Konflikte dramatisieren und Lösungen für diese inszenieren. Sie speisen das kulturelle Imaginäre einer Gesellschaft, deren kollektive Fantasien, und können so beträchtlichen Einfluss darauf haben, wie zum Beispiel den Mitgliedern einer bestimmten Gruppe im wirklichen Leben begegnet wird, was man von ihnen erwartet und welche Eigenschaften man ihnen zuschreibt. Die Darstellung von Liebesbeziehungen zwischen schwarzen und weißen Charakteren kann somit zur Akzeptanz oder Stigmatisierung solcher Beziehungen beitragen. Als Liebesbeziehung verstehe ich hier eine gegenseitige emotionale und sexuelle Attraktion, die ausgelebt wird und zwar in der Regel über einen längeren Zeitraum hinweg. Es geht also nicht um One-Night-Stands oder – mit einer wichtigen Ausnahme – erzwungene Sexualkontakte. Auch beschränke ich mich notgedrungen auf heterosexuelle Beziehungen. Diese sind schon nicht sehr häufig anzutreffen; andere Formen finden sich in den populären Filmen und Serien, um die es mir hier geht, jedoch eigentlich gar nicht. Wichtig ist auch, dass sich die Paare bewusst sind, dass der oder die jeweils andere zu einer anderen Rasse bzw. ethnischen Gruppe gehört. Das Phänomen des passing, dass also jemand, der schwarz ist, sich als weiß ausgibt und der Partner davon nicht weiß, diskutiere ich nicht, obwohl es ein häufig anzutreffendes Motiv in der amerikanischen Literatur ist und daher auch in Filmen und Serien immer wieder vorkommt (Belluscio; Fabi). In der amerikanischen Gesellschaft sind Liebesbeziehungen zwischen Schwarzen und Weißen noch immer sehr selten; sie haben aber in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen. Völlig verlässliche Zahlen zum Phänomen gibt es nicht, da die regelmäßig von der Zentralregierung in Washington durchgeführten Volkszählungen nur Ehen und gemeinsam wohnende Paare erfassen und natürlich nicht jedes mixed-race couple, also gemischtrassige Paar, irgendwann auch heiratet oder zusammenzieht. Laut der letzten Volkszählung von 2010

Liebe zwischen Schwarz und Weiß im amerikanischen Film und Fernsehen

gab es zum damaligen Zeitpunkt in den USA ca. 60.380.000 verheiratete Paare. Darunter waren lediglich 558.000 Ehen zwischen jemandem, der sich als weiß bezeichnete, und jemandem, der sich als schwarz bezeichnete; das sind 0,92 Prozent aller Ehen in den Vereinigten Staaten. Ehen zwischen Schwarzen und Weißen sind seit Jahrzehnten deutlich seltener als Ehen zwischen Weißen und Menschen asiatischer oder hispanischer Herkunft, was auf das Stigma hinweist, das solche Beziehungen aufgrund der Geschichte der beiden Rassen noch immer kennzeichnet (»Marriage«). Zwar gab es solche Beziehungen von Beginn der weißen Besiedlung des amerikanischen Kontinents an, doch lange Zeit fielen sie statistisch nicht ins Gewicht. Im 18. und 19. Jahrhundert erließen die meisten US-Bundesstaaten dann Gesetze, die Ehen zwischen Mitgliedern verschiedener Rassen verboten. Im Süden der USA wurden diese erst 1967 vom Obersten Gerichtshof in der Entscheidung des Falls Loving v. Virginia für verfassungswidrig erklärt. Seitdem nimmt die Zahl der entsprechenden Ehen langsam, aber stetig zu. 1960 lag die Quote noch bei 0,12 Prozent aller Ehen; im Jahr 2000 waren es 0,6 Prozent (Romano 3). Ehen zwischen Schwarzen und Weißen werden, wenn auch auf niedrigem Niveau, immer häufiger. Unter den 558.000 Ehen dieser Art, die es 2010 gab, waren 390.000 Ehen zwischen einem schwarzen Mann und einer weißen Frau und nur 168.000 Ehen zwischen einer schwarzen Frau und einem weißen Mann. Das ist interessant, weil es dem dominanten Bild aus Film und Fernsehen entgegenläuft. In den fiktionalen Darstellungen dominiert nämlich die Kombination »weißer Mann und schwarze Frau«, weil diese für die offen rassistische Kultur der USA lange Zeit die einzig akzeptable Kombination war – zumindest was sexuelle Kontakte, nicht unbedingt Ehen anging. Weiße Männer, so die Ideologie, sollten Zugriff auf alle Frauen haben; weiße Frauen dagegen mussten vor der Bedrohung durch schwarze Männer geschützt werden, die, wie Luvena Kopp in ihrem Beitrag in diesem Band ausführt, als black brutes, also als »schwarze Bestien« begriffen wurden und häufig noch immer werden. Das hat Auswirkungen auf die Darstellung solcher Beziehungen in Film und Fernsehen, um die es im Folgenden geht. Die Repräsentation von Liebesbeziehungen zwischen Schwarzen und Weißen ist in den letzten Jahren sowohl in der film- und fernsehwissenschaftlichen als auch in der sozialwissenschaftlichen Forschung vermehrt diskutiert worden, weil insbesondere im Fernsehen – aus Gründen, die ich unten diskutiere – solche Beziehungen seit der Jahrtausendwende wesentlich häufiger dargestellt werden als in den Jahrzehnten davor. Die verschiedenen Disziplinen kommen jedoch meist zu sehr unterschiedlichen Bewertungen der Darstellungen. Die film- und fernsehwissenschaftlichen Arbeiten konzentrieren sich auf genaue Analysen bestimmter Repräsentationen und kritisieren, dass Beziehungen zwischen Schwarzen und Weißen meist auf sehr problematische Weise dargestellt würden: Schwarze Frauen würden in der Tradition des Jezebel-Stereotyps auf ihre Sexualität reduziert; schwarze Männer würden als außergewöhnlich und nicht als Repräsentanten ihrer Rasse dargestellt; die Paare seien oft nicht lange zusammen; und der Ras-

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sismus, dem gemischtrassige Paare in der Realität unweigerlich ausgesetzt seien, würde entweder gar nicht thematisiert, vor allem von Schwarzen artikuliert, wodurch der Eindruck entstehe, dass er unter Weißen nicht existiere, oder als abstruse Meinung einiger weniger gekennzeichnet. Die wenigen Ausnahmen bestätigten nur die Regel (u.a. Chito Childs; Leverette). Die sozialwissenschaftliche Forschung, die versucht, mit quantitativen oder qualitativen Methoden den Effekt solcher Darstellungen zu bestimmen, kommt dagegen insbesondere in Hinblick auf neuere Repräsentationen zu einer positiveren Bewertung: Allein die höhere Sichtbarkeit von gemischtrassigen Paaren führe zu einer messbar höheren Akzeptanz; und gerade die Tatsache, dass Rassismus für viele fiktionale Paare kein Problem sei, trage zur Normalisierung solcher Beziehungen bei (u.a. Lienemann et al.; Perry und Sutton). Meines Erachtens würde eine Synthese dieser beiden konträren Positionen zu einem angemesseneren Verständnis der Wirkung solcher Repräsentationen führen. Einerseits übersehen die Vertreter der Film- und Fernsehwissenschaft bisweilen, dass die nuancierten und durchaus problematischen Bedeutungsschichten, die ihre close readings zutage bringen, für die Rezeption bisweilen keine Rolle spielen. Sie ignorieren zudem, dass Bedeutung Darstellungen nicht völlig inhärent ist, sondern zumindest teilweise erst im Akt der Rezeption konstruiert wird (du Gay et al. 78). Andererseits ignorieren die Vertreter der Sozialwissenschaften oft die problematischen Aspekte vieler Darstellungen, weil es ihnen an Verständnis für die implizit transportierten Bedeutungen und deren Funktionalisierung und Wirkung innerhalb einer Geschichte fehlt. Die folgenden Ausführungen leisten eine solche Synthese, wenn überhaupt, nur ansatzweise, da ich nur gelegentlich und knapp auf einzelne Darstellungen eingehe. Stattdessen soll hier im Anschluss an die anderen Beiträge des Bandes, die sich auf die überindividuellen, systemischen Gründe und Auswirkungen des anhaltenden Rassismus in den USA konzentrieren, ein strukturelles Argument präsentiert werden: Die Strukturen der amerikanischen Filmindustrie und insbesondere die Konzentration auf Blockbuster sind dafür verantwortlich, so meine These, dass Darstellungen von Liebesbeziehungen zwischen Schwarzen und Weißen im Hollywoodfilm trotz der statistisch nachweisbaren gestiegenen Akzeptanz solcher Beziehungen in den letzten Jahrzehnten nicht signifikant häufiger und vor allem nicht progressiver und positiver geworden sind. Gleichzeitig, so werde ich im zweiten Teil dieses Aufsatzes argumentieren, hat die Entwicklung der amerikanischen Fernsehindustrie dazu geführt, dass in einem Medium, in dem solche Beziehungen lange Zeit fast gar nicht dargestellt wurden, diese nun deutlich häufiger und progressiver geworden sind.

Liebe zwischen Schwarz und Weiß im amerikanischen Film und Fernsehen

F ilm Im amerikanischen Film wurden Liebesbeziehungen zwischen Schwarzen und Weißen lange Zeit überhaupt nicht dargestellt, da sie gesellschaftlich geächtet waren und es für einen Großteil der Bevölkerung unvorstellbar war, dass Liebe über Rassengrenzen hinweg überhaupt existieren konnte. Überhaupt waren die meisten Filme aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, während derer sich das Medium in der amerikanischen Kultur etablierte und sich das Format des abendfüllenden Spielfilms langsam herausbildete, ebenso wie die Mehrheit des Publikums, für das sie gemacht wurden, offen rassistisch. In den primär an ein weißes Publikum gerichteten Filmen kamen Schwarze daher fast nur als Nebenfiguren wie Diener oder Diebe vor, die dem comic relief dienten oder als Bösewicht fungierten. In der Kultur bereits durch andere Medien fest etablierte negative Stereotype wurden dabei fortgeschrieben. Entsprechend kam kein Filmproduzent auf die Idee, eine romantische Beziehung über die Rassengrenzen hinweg darzustellen. Wäre das doch einmal geschehen und hätte er es geschafft, den Film tatsächlich zu produzieren, hätten sich mit großer Wahrscheinlichkeit fast alle Kinobetreiber geweigert, ihn zu zeigen – aus Angst vor Ausschreitungen, weil das Publikum dies nicht hingenommen hätte.1 Von 1930 an verbot dann der Production Code ausdrücklich die Darstellung oder Andeutung von miscegenation, also von Sexualkontakten zwischen Mitgliedern verschiedener Rassen. Der Production Code war ein von den großen Filmstudios eingeführtes Mittel der Selbstzensur, mit dem die Filmindustrie Zensurbestrebungen auf lokaler oder Einzelstaatenebene zuvorkommen wollte. Diese drohten, weil Filme nach Auffassung der Gerichte zu diesem Zeitpunkt nämlich anders als etwa Romane oder Theaterstücke noch nicht in den Geltungsbereich des ersten Zusatzartikels zur Verfassung fielen, der Redefreiheit und somit auch künstlerische Freiheit garantierte. Insofern wurden an Filme besondere Ansprüche gestellt; sie sollten nichts zeigen, was von der Mehrheit der Bevölkerung in irgendeiner Weise als anstößig oder problematisch empfunden werden könnte. Zudem sollte jeder Film für Zuschauer jeden Alters geeignet sein. Als der Oberste Gerichtshof 1952 die früheren Entscheidungen revidierte und den Geltungsbereich des ersten Verfassungszusatzes auf das Medium Film ausweitete, blieb der Code dennoch bestehen und wurde lediglich modifiziert. Erst 1968 wurde er abgeschafft und durch ein System von gestaffelten Altersfreigaben ersetzt, das mit kleinen Veränderungen bis heute existiert und das es in ähnlicher Form auch in Deutschland gibt. Die Filmindustrie regierte damit darauf, dass der Code seit etwa 1960 zunehmend ignoriert worden war. Die graduelle Aushöhlung und letztendliche Abschaffung des Production Code war das Resultat einer grundlegenden strukturellen Veränderung der Filmindus1 | Der Überblick über die Entwicklung des amerikanischen Films basiert auf Maltby und Langford.

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trie. 1946 brachte der Oberste Gerichtshof mit dem so genannten Paramount Decree das Studiosystem zum Einsturz. Bis dahin hatte eine kleine Zahl von Filmstudios Hollywood dominiert, indem sie nicht nur Filme verliehen, sondern auch vermieteten und in ihren eigenen Kinos zeigten. Diese vertical integration stellte sicher, dass die Studios immer Abnehmer für ihre Filme hatten, weshalb sie Schauspieler, Regisseure und andere Filmschaffende langfristig an sich binden konnten und es sich leisteten, viele Filme zu produzieren, die kaum Profit generierten. Zudem war es so für andere Filmstudios fast unmöglich, sich auf dem Markt zu etablieren, weil ihre Filme keine Abnehmer fanden. Deshalb waren die unabhängigen Kinobetreiber gezwungen, sich den oft brutalen Bedingungen der etablierten Studios zu beugen und Filme en bloc und ohne sie gesehen zu haben zu mieten. Als der Oberste Gerichtshof die Studios dazu verpflichtete, ihre Kinos zu verkaufen, verloren sie nicht nur ihre Kontrolle über den Markt; ihr eigener Produktionsmodus war plötzlich nicht mehr profitabel. Die Krise der etablierten Filmstudios wurde durch tiefgreifende Veränderungen der amerikanischen Gesellschaft noch verstärkt. Durch den massenhaften Umzug der weißen Mittelschicht aus den Stadtzentren in die Vorstädte nach dem Zweiten Weltkrieg brach den Kinos das Publikum weg. Denn diese befanden sich fast ausschließlich in den Stadtzentren, aber den Weg mit dem Auto dorthin nahm das Publikum immer seltener und nur noch für wenige Filme auf sich. Hinzu kam die Konkurrenz durch das Fernsehen, das im Verlauf der 1950er Jahre zum Massenmedium wurde und das Kino als Quelle von Unterhaltung für die ganze Familie zunehmend ersetzte. Schließlich sorgte der allgemeine wirtschaftliche Aufschwung dafür, dass viele Amerikaner*innen mehr Geld und kürzere Arbeitszeiten hatten. Während bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs zwei Stunden Kino für wenig Geld das einzige gewesen war, was viele sich zeitlich und finanziell leisten konnten, hatten immer mehr Amerikaner*innen nun andere Möglichkeiten, ihre Freizeit zu gestalten. All dies führte zu einem rapiden Zuschauerschwund, der die großen Filmstudios schnell an den Rand des Ruins brachte. Alle verloren im Verlauf der nächsten beiden Jahrzehnte ihre Unabhängigkeit und wurden von großen Konglomeraten aufgekauft. Die Filmstudios reagierten auf die Krise, indem sie experimentierfreudiger wurden. Zum einen begannen sie nun Filme wie The Defiant Ones (1958) oder The Misfits (1960) zu produzieren, die sich speziell an ein erwachseneres Publikum richteten und deren Darstellung von Rassenkonflikten oder Sexualität weit über das hinausging, was der Production Code eigentlich erlaubte. Das große Geld sollten aber weiterhin Produktionen für die ganze Familie einbringen, und hier setzten die Studios in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren vor allem auf Bibel- und Historienepen wie Ben Hur (1959) oder Cleopatra (1962) und Musicals wie The Sound of Music (1965), deren exotische Schauplätze und Spezialeffekte im Breitbildformat den Zuschauer*innen ein Erlebnis bieten sollten, das vor dem Fernseher im heimischen Wohnzimmer nicht möglich war. Da diese Strategie nicht erfolgreich war, konzentrierten sich die Studios ab Mitte der 1960er Jahre

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dann jedoch auf die Bevölkerungsgruppe, die noch regelmäßig ins Kino ging: das vorwiegend männliche, jüngere und gebildetere Publikum, das einen Collegeabschluss anstrebte oder besaß. Dieses Publikum war eher liberal eingestellt, wurde beeinflusst von den Ideen der counterculture und der Bürgerrechtsbewegung und war offen für Filme, die formal wie inhaltlich neue Wege beschritten. In der etwa zehn Jahre umfassenden Phase des so genannten New Hollywood, deren Beginn durch Arthur Penns Bonnie and Clyde (1967) markiert wird, produzierten die Studios eine Reihe von Filmen, die sich deutlich von denen unterschieden, die sie vorher gemacht hatten (und auch von denen, die sie später machen würden). Beeinflusst von den Filmen des italienischen Neorealismus und der französischen Nouvelle Vague brachen Regisseure wie Sam Peckinpah, Francis Ford Coppola oder Michael Cimino mit den Traditionen des klassischen Hollywoodkinos der Studioära. Sie experimentierten mit neuen Erzählformen und konzentrierten sich auf komplexe, widersprüchliche Figuren, die zudem oft gesellschaftliche Außenseiter waren. Sie verhandelten Themen und Probleme, die bisher nicht auf der Leinwand dargestellt wurden – Homosexualität, Drogenkonsum, aber eben auch Rassenbeziehungen – und kritisierten etablierte amerikanische Mythen und Überzeugungen mitunter scharf. Die Gesellschaftskritik hatte allerdings Grenzen, da weiterhin die weiße männliche Perspektive dominierte, weshalb viele der produzierten Filme – zum Beispiel die Vietnamfilme The Deer Hunter (1978) oder Apocalyse Now (1979) – offen rassistisch und sexistisch waren. Gerade zu Beginn der Phase von New Hollywood schuf jedoch die Konzentration auf kleinere, nicht so teure Filme, von denen kein großer Gewinn erwartet wurde, Freiräume für Filme, die rassistische Darstellungsmuster zumindest in Ansätzen aufbrachen. Der bis heute bekannteste Film dieser Art ist Stanley Kramers Guess Who’s Coming to Dinner, der im Dezember 1967 in die amerikanischen Kinos kam, knapp sechs Monate nachdem der Oberste Gerichtshof die Verbote von gemischtrassigen Ehen in sechzehn Bundesstaaten aufgehoben hatte. Geplant und produziert wurde der Film aber zu großen Teilen vor diesem Urteil. Die Handlung spielt in San Francisco; im Mittelpunkt steht ein wohlhabendes weißes Ehepaar, das von Spencer Tracy und Katherine Hepburn gespielt wird. Die liberale Einstellung dieses Paars – beide sind überzeugte Unterstützer der Bürgerrechtsbewegung – wird auf eine harte Probe gestellt, als ihre Tochter überraschend nach Hause kommt, um ihren Verlobten vorzustellen – einen schwarzen Arzt, der von Sidney Poitier gespielt wird, der drei Jahre zuvor für Lilies on the Field als erster schwarzer Hauptdarsteller einen Oscar gewonnen hatte. Poitier und seine Verlobte verbringen einen angespannten Tag bei deren Eltern. Kleinere Konflikte brechen immer wieder aus; zugespitzt wird die Situation noch durch die Ankunft von Poitiers Eltern, die ebenfalls alles andere als begeistert sind. Am Ende aber erteilen alle ihre Einwilligung, so dass dem Happy End nichts im Wege steht. Guess Who’s Coming to Dinner ist Ausdruck des liberalen Geistes, der Hollywood und große Teile der amerikanischen Gesellschaft in den sechziger Jahren

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durchdrang. Man kann den Film als mutig ansehen, weil er eine Beziehung, die viele Amerikaner*innen in dieser Form noch immer ablehnten, positiv darstellte. Und man kann die idealisierte Figur, die Poitier spielt, als eine bewusste Abkehr von den negativen Stereotypen sehen, die über afroamerikanische Männer bis heute existieren. Guess Who’s Coming to Dinner ist aber auch ein Paradebeispiel für das, was Film- und Fernsehwissenschaftler*innen an der Darstellung von gemischtrassigen Beziehungen in Hollywoodfilmen kritisieren: So ist der Widerstand gegen die Beziehung bei den schwarzen Eltern ungleich größer als bei den weißen, und auch die schwarze Haushälterin ist gegen die Beziehung, wodurch der Eindruck entsteht, dass vor allem Schwarze und nicht Weiße rassistische Vorurteile haben. Problematisch ist auch die Geschlechterordnung des Films, da Sidney Poitier den Vater seiner Verlobten ohne deren Wissen um Erlaubnis bittet und die Ehe von dessen Entscheidung abhängig macht. Die Männer im Film verfügen also über die Frauen und treffen alleine die wichtigen Entscheidungen. Zudem gehören sowohl Portier als auch die Familie seiner Verlobten zur wohlhabenden Oberschicht. Das junge Paar hat genug Geld, um etwaigen Anfeindungen in den USA zu entkommen und plant, in Europa zu leben. Deshalb, so Anne Gray Perrin, könne der Film die komplexen sozialen und finanziellen Folgen einer Beziehung über die Rassengrenzen hinweg ignorieren (846). Schließlich, so Erica Chito Childs, dürfe Poitier die weiße Frau nur heiraten – und das Publikum akzeptiere dies nur –, weil er so »außergewöhnlich« und eben kein typischer Schwarzer sei. Deswegen aber sei seine Figur nicht dazu geeignet, die Einstellung des Publikums zu Schwarzen grundlegend zu verändern (96). Wie der Film letztendlich zu bewerten ist, kann und soll hier nicht entschieden werden. Entscheidender für mein Argument ist vielmehr, dass auf Guess Who’s Coming to Dinner bis heute nicht viele weitere Filme gefolgt sind, die Liebesbeziehungen zwischen Schwarzen und Weißen in derselben Manier in den Mittelpunkt stellen oder gar die Problematik solcher Beziehungen nuancierter verhandeln. Dass solche Filme in den 1970er Jahren nur vereinzelt vorkamen – ein weiterer bekannter Film, in dem ein schwarzer Mann, allerdings nur in einer Nebenrolle, eine sexuelle Beziehung mit einer weißen Frau eingeht, ist Shaft (1971) – erklärt sich aus den bereits erwähnten Grenzen New Hollywoods. Man würde jedoch erwarten, dass entsprechende Darstellungen seitdem stetig zugenommen hätten, da es mittlerweile deutlich mehr solcher Paare gibt und diese im Normalfall deutlich weniger Diskriminierung und Ablehnung erfahren als in der Vergangenheit, weil die Akzeptanz solcher Beziehungen in der Bevölkerung kontinuierlich zugenommen hat. Bewerteten 1958 nur 4 Prozent der weißen Bevölkerung Beziehungen über die Rassengrenzen hinweg positiv, so waren es 1997 61 Prozent. Schwarze wurden das erste Mal 1972 zum Thema befragt. Damals sprachen sich bereits 58 Prozent positiv aus, 1997 waren es dann 77 Prozent (Romano 2). Seitdem sind die Zahlen in beiden Gruppen weiter gestiegen, auch wenn eine beträchtliche Zahl der Befragten erklärt, dass eine solche Beziehung für sie selbst nicht in Frage komme (Herman und Campbell). In Hollywoodfilmen ist die Zahl

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solcher Beziehungen aber gleichbleibend niedrig geblieben. Für ihre Studie über Frauen in gemischtrassigen Beziehungen hat Nadia Ramoutar die fünfzehn kommerziell erfolgreichsten Filme der Jahre von 1967 bis 2005 ausgewertet. Unter den 540 Filmen aus fast vier Jahrzehnten finden sich nur 36, in denen gemischtrassige Paare vorkommen. Und dies umfasst alle denkbaren Kombinationen aus Weißen, Schwarzen, Asiat*innen und Menschen hispanischer Herkunft. Beziehungen zwischen Schwarzen und Weißen sind also in erfolgreichen Filmen noch viel seltener; wenn überhaupt, dann findet man sie in kleineren Produktionen, die in der Regel kein großes Publikum erreichen und daher nur begrenzt kulturell wirksam werden. Die Gründe dafür sind wiederum in den Strukturen Hollywoods zu suchen. Mit den Erfolgen von Steven Spielbergs Jaws (1976) und vor allem George Lucas’ Star Wars (1977) veränderte sich die amerikanische Filmindustrie ein weiteres Mal grundlegend. Der Großteil des Profits wird seitdem mit so genannten Blockbustern generiert – Filme, die mittlerweile oft mehr als 200 Millionen Dollar kosten und einen entsprechend großen Gewinn einbringen sollen. Selbst die größten Studios können sich nur wenige solcher Produktionen pro Jahr leisten und versuchen aufgrund der hohen Summen, die sie in die Filme investieren, die Gefahr, dass diese floppen, möglichst auszuschließen. Deshalb erzählen Blockbuster fast immer Action- oder zumindest Abenteuergeschichten, um Szenen mit möglichst spektakulären Spezialeffekten zu motivieren. Sie integrieren aber zumeist weitere Genres, insbesondere Liebesgeschichten, um ein möglichst breites Publikum anzusprechen. Um das Risiko eines Flops weiter zu minimieren, setzen die Studios darauf, erfolgreiche Filme fortzusetzen, denn was einmal bereits funktioniert hat, wird mit großer Wahrscheinlichkeit auch ein weiteres Mal funktionieren, oder sie verfilmen erfolgreiche Stoffe wie Superheldengeschichten im Abstand weniger Jahre erneut. Zudem werden gerne erfolgreiche Romane, Comics und – seit einigen Jahren – auch Computerspiele verfilmt, da zu erwarten ist, dass ein großer Teil der Leser*innen oder Spieler*innen auch den Film ansehen wird. Ganz dezidiert richten sich die Filme mittlerweile auch an einen internationalen Markt. So lässt sich die zunehmende Wichtigkeit des asiatischen Markts an der immer größeren Zahl von asiatischen Schauspieler*innen in neueren Blockbustern ablesen. Und schließlich sollen die Filme nicht nur an den Kinokassen Profit generieren, sondern auch den Verkauf von Begleitprodukten, insbesondere von Spielzeug, ankurbeln. Daher besteht das Zielpublikum von Blockbustern vor allem aus Kindern und Jugendlichen. Für den Erfolg eines Films ist es unabdinglich, in den USA die Altersfreigabe »PG 13« zu erreichen, was bedeutet, dass Teenager den Film alleine sehen dürfen und Kinder ab sechs Jahren in Begleitung ihrer Eltern. Um den finanziellen Erfolg nicht zu gefährden, vermeiden die amerikanischen Filmstudios bei Blockbustern daher normalerweise alles, was auch nur von einem Teil des potenziellen Publikums als kontrovers empfunden werden könnte. Afroamerikaner*innen sind zwar mittlerweile im Figurenensemble fast aller Blockbuster vertreten, wenn auch meist nur als Nebenfiguren, doch Liebesbeziehungen mit

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weißen Charakteren gehen sie nur sehr selten ein. Und in den populäreren Filmen, in denen sie vorkommen, sind die Darstellungen zumeist konservativer und problematischer als zu Zeiten von New Hollywood. Aus den eingangs erwähnten Gründen bestehen die Paare fast immer aus einem weißen Mann und einer schwarzen Frau. Hat diese besonders dunkle Haut, wie Grace Jones im James-Bond-Film A View to Kill (1985), ist es nur zu wahrscheinlich, dass sie sich als Verräterin entpuppt und am Ende vom weißen Protagonisten ihre »gerechte« Strafe erhält. Zumindest jedoch ist die Beziehung dann negativ konnotiert und nicht von Dauer. Hat sie eher hellere Haut und ist auch sonst weniger ethnisch markiert, dann unterstützt sie zumeist den weißen Helden, wird von ihm irgendwann gerettet und beginnt dann eine Beziehung mit ihm – wie zum Beispiel Whitney Houston mit Kevin Costner in The Bodyguard (1992) oder Halle Berry mit Pierce Brosnan in einem anderen James-Bond-Film, Die Another Day (2002). Auch kommt es vor, dass bei der Adaption von Romanen die Geschichten so umgeschrieben werden, dass in der Vorlage existierende Liebesbeziehungen zwischen Schwarzen und Weißen verschwinden. Ein prominentes Beispiel ist der Film The Pelican Brief (1993), der auf einem Roman von John Grisham basiert. Im Roman haben die beiden Hauptfiguren, eine weiße Jurastudentin und ein schwarzer Zeitungsreporter, eine Beziehung. Im Film mit Julia Roberts und Denzel Washington sind sie lediglich Freunde. Natürlich gibt es immer wieder Ausnahmen wie Save the Last Dance (2001), in dem es um eine funktionierende Beziehung zwischen einem schwarzen Mann und einer weißen Frau geht, aber diese Filme sind selten und noch seltener erfolgreich, sodass sie keine nennenswerte kulturelle Arbeit verrichten. Und da sich an der Konzentration Hollywoods auf Blockbuster und der damit einhergehenden Strategie der Risikovermeidung auf allen Ebenen auf absehbare Zeit nichts ändern wird, wird sich auch an der Darstellung von Liebesbeziehungen zwischen Schwarz und Weiß im Hollywoodfilm – oder besser, dem weitgehenden Mangel an solchen Darstellungen – wenig ändern. Solche Beziehungen sind in der Realität in den letzten Jahrzehnten nicht zur Norm, aber doch normaler geworden. Im amerikanischen Film aber bleiben sie die Ausnahme.

F ernsehen Die Geschichte des Fernsehens in den USA beginnt mit der so genannten network era, die von Anfang der 1950er Jahre bis Mitte der 1980er Jahre dauerte.2 Während der Netzwerkära dominierten die drei großen Sender NBC, CBS und ABC den amerikanischen Fernsehmarkt. Diese Sender gibt es auch heute noch, und sie werden als networks bezeichnet, weil jeder von ihnen aus einer Vielzahl lokaler und regionaler Sender besteht, die selbst Programm produzieren, vor allem aber die für das gesamte Netzwerk produzierten oder eingekauften Sendungen 2 | Der Überblick über die Geschichte des amerikanischen Fernsehens basiert auf Lotz.

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ausstrahlen. Regelmäßig kaufen die lokalen und regionalen Sender jedoch darüber hinaus selbständig vor allem ältere und erfolgreiche Sendungen der anderen Netzwerke und strahlen diese aus. Diesen Prozess bezeichnet man als syndication, und er erklärt, warum einem dieselbe Serie an einem Abend auf verschiedenen Kanälen begegnen kann. Das Fernsehen der Netzwerkära war ein Konsensmedium. In vielerlei Hinsicht funktionierte es wie das Hollywoodkino vor 1960. Alles, was in irgendeiner Weise für auch nur einen kleinen Teil des Publikums anstößig oder kontrovers sein könnte, wurde vermieden, weshalb das Fernsehen in dieser Zeit gesellschaftlichen Entwicklungen fast immer hinterherhinkte. Denn erst, wenn die Gesellschaft ein Problem ausgehandelt hatte, konnte diese Aushandlung und die damit verbundene Kontroverse im Fernsehen einigermaßen risikolos nachvollzogen werden. Diese Vorsicht hing damit zusammen, dass, abgesehen von der grundlegenden Unterscheidung in Tages- und Abendprogramm, keinerlei Differenzierung des Publikums stattfand. Jedes Programm, das von einem der drei Netzwerke ausgestrahlt wurde, richtete sich potenziell an alle Zuschauer*innen, egal ob Mann oder Frau, schwarz oder weiß, konservativ oder liberal, aus Maine oder aus Mississippi. Daher kamen Liebesbeziehungen über die Rassengrenzen hinweg im Programm der Netzwerkära zunächst gar nicht und auch später nur äußerst selten vor. Eine solche Ausnahme ist die Serie Star Trek. In der Folge »Plato’s Stepchildren«, die erstmals am 22. November 1968 ausgestrahlt wurde, kam es nämlich zum ersten Kuss zwischen Schwarz und Weiß im amerikanischen Fernsehen, und dieser Kuss ist bis heute der berühmteste Kuss über die Rassengrenzen hinweg in der amerikanischen Kultur überhaupt. Dass er bei Star Trek stattfand, ist kein Zufall. Die Serie war wie kaum eine zweite ihrer Zeit vom Liberalismus und dem demokratischen Sendungsbewusstsein der Kennedy-Ära geprägt. Immer wieder sah sich die Crew des Raumschiffs Enterprise auf ihrer Reise in die Tiefen des Alls mit autoritären, totalitären oder sonst irgendwie ungerechten Gesellschaften konfrontiert. Jedes Mal ging sie aus diesen Konflikten siegreich hervor, wodurch die Überlegenheit der amerikanischen Werte dramatisiert wurde, die in der Zukunft, in der die Handlung spielt, die Werte aller Menschen sind. Und weil sie in der Zukunft spielte, konnte die Serie auch implizit die Vision einer Welt entwerfen, in der die Zugehörigkeit von Menschen zu verschiedenen Rassen keine Rolle mehr spielt. Rassenunterschiede wurden dabei, obwohl auf der Brücke der Enterprise auch eine Schwarze und ein Asiat dienten, normalerweise nicht offen thematisiert; die Serie verhandelte dieses Thema aber symbolisch über die Beziehungen zwischen Menschen, Vulkaniern und Klingonen – den Rassen, die vor allem das Star Trek-Universum bevölkern. Offensichtlich zum Thema wurden Rassenbeziehungen nur in der Episode »Plato’s Stepchildren«. Im Verlauf der Handlung dieser Folge geraten die wichtigsten Figuren der Serie – darunter der von William Shatner gespielte Captain Kirk und Lieutenant Uhura, die von der Afroamerikanerin Nichelle Nichols dargestellt wurde – in die Gefangenschaft einer Gruppe von sadistischen, humanoiden Au-

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ßerirdischen, die über telekinetische Kräfte verfügen. Diese Kräfte benutzen sie, um ihre Gefangenen zu Handlungen zu zwingen, die diese von sich aus niemals begehen würden. Die Folter kulminiert in einem erotischen Tanz, den Kirk und Uhura aufführen müssen und an dessen Ende sie trotz aller Willensanstrengungen den mentalen Kräften ihrer Peiniger nicht widerstehen können und sich küssen. Die Serie bedient sich dabei einer Reihe von Strategien, die den Kuss für die Teile des Publikums, die Beziehungen zwischen den Rassen offen ablehnten oder zumindest kritisch sahen, akzeptabel machen sollten. So handeln weder Kirk noch Uhura freiwillig. Zudem wird klar, dass der weiße Mann über deutlich mehr Widerstandskraft verfügt als die schwarze Frau, die sich durchaus zu ihm hingezogen zu fühlen scheint. Rassistische Stereotype über die Willensstärke von Weißen und den Sexualtrieb von schwarzen Frauen werden so implizit bestätigt. Auch handelt es sich einmal mehr um die Konstellation »weißer Mann und schwarze Frau«, die sich aus den bereits erwähnten Gründen noch am besten vermitteln ließ. Dem Netzwerk NBC war dennoch mulmig. Als die Verantwortlichen das Drehbuch sahen – eine Standardprozedur bei der Produktion von Serien bis heute – fürchteten sie, dass affiliierte Sender im Süden sich weigern würden, die Episode zu zeigen, und dass es auch anderswo zu Protesten kommen könnte. Daher ordneten sie an, dass zwei Versionen der Szene gefilmt werden sollten – eine mit und eine ohne Kuss. Die Verantwortlichen hatten die Rechnung jedoch ohne William Shatner und Nichelle Nichols gemacht. Nachdem die Szene mit Kuss abgefilmt war, boykottierten Shatner und Nichols alle Versuche, die andere Version zu filmen, indem sie Fehler um Fehler begingen. Da die verfügbare Zeit für das Filmen von Serien damals noch knapper bemessen war als heute, beschloss der Regisseur schließlich, es notgedrungen bei der einen Version zu lassen, die dann auch ausgestrahlt wurde (Nichols 195-96). Und trotz der Befürchtungen des Netzwerks kam es wohl zu keinem großen Proteststurm. So berichtet Nichelle Nichols in ihrer Autobiografie, die Briefe, die sie und William Shatner als Reaktion nach der Ausstrahlung bekamen, seien fast ausschließlich voll des Lobs gewesen. Nur vereinzelt sei die Überschreitung der Rassengrenzen kritisiert worden (196-97).3

3 | Bramlett-Solomon behauptet dagegen, die Folge habe heftige Kritik ausgelöst. Nichols sei davon so mitgenommen gewesen, dass sie die Serie habe verlassen wollen. Erst Martin Luther King persönlich habe sie dann davon überzeugt, dass sie ein wichtiges Symbol für die Gleichberechtigung von Frauen und Schwarzen sei und daher weitermachen müsse (99). Das kann aus zwei Gründen nicht stimmen. Zum einen gibt es keinen Beleg für negative Zuschauerreaktionen; zum anderen war King bereits seit mehreren Monaten tot, als die Episode produziert und ausgestrahlt wurde. Ein Gespräch zwischen Nichols und King fand allerdings 1967 in einem anderen Kontext tatsächlich statt. Nichols wollte ihr Engagement bei Star Trek damals beenden, da ihr die Hauptrolle in einem Theaterstück am Broadway angeboten worden war. King überzeugte sie ihrer eigenen Aussage nach damals wirklich, dies nicht zu tun (Ohlheiser).

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Interessant ist an dieser Episode – im doppelten Sinne – vor allem, dass alle Beteiligten – die Verantwortlichen des Netzwerks genauso wie Nichols und Shatner – dem Kuss subversives Potenzial zusprachen, obwohl er offensichtlich erzwungen war. Das mag damit zusammenhängen, dass er einer dezent inszenierten und niemals zu offensichtlichen erotischen Spannung zwischen Kirk und Uhura Ausdruck verlieh, die regelmäßigen Zuschauer*innen der Serie bewusst war und die unter anderen Umständen nicht ausgelebt werden konnte. Die Geschichte der Produktion und Rezeption der Episode bestätigt aber auch die sozialwissenschaftliche Position, dass mitunter die Tatsache, dass etwas dargestellt wird, wichtiger ist als die Art und Weise, wie es dargestellt wird. Für manche Zuschauer*innen dämmten zwar bestimmt die rassistischen Darstellungsstrategien das subversive Potenzial des Kusses ein; die positiven Zuschauerreaktionen, von denen Nichols berichtet sowie der ikonische Status, den der Kuss mittlerweile im kollektiven Gedächtnis der USA erlangt hat – er wird als Symbol der Integration erinnert, die Darstellungsstrategien dagegen sind in Vergessenheit geraten – legen jedoch nahe, dass zumindest in diesem Fall die Visualisierung eines Intimkontakts über die Rassengrenzen hinweg trotz der rassistischen Darstellungsstrategien, die sie begleiteten, tatsächlich einen Beitrag zur Normalisierung solcher Beziehungen leisten konnte. Weitere solche Beiträge blieben jedoch bis zum Ende der Netzwerkära weitgehend aus. Liebesbeziehungen zwischen Schwarzen und Weißen kamen ab Mitte der 1970er Jahre zwar etwas häufiger vor, womit die Fernsehschaffenden auf die sich wandelnden gesellschaftlichen Gegebenheiten reagierten, meist aber beschränkten sich diese Beziehungen auf die Nebenhandlungen von Sitcoms oder Seifenopern, und sie waren selten von langer Dauer. Eine Serie wie The Jeffersons, in der zwischen 1975 und 1985 ein schwarz-weißes Paar fast gleichberechtigt neben einem weißen Paar im Mittelpunkt stand, blieb die Ausnahme. Und auch in dieser Serie wurde die Beziehung einmal mehr alles andere als unproblematisch dargestellt: Widerstand gegen die gemischtrassige Ehe wurde innerhalb der fiktionalen Welt fast nur von Schwarzen artikuliert, wodurch der Eindruck erweckt wurde, die weiße Bevölkerung habe keinerlei Problem damit. Zudem handelte es sich wieder um die Konstellation »weißer Mann und schwarze Frau«, und die Ehefrau wurde noch dazu in der Tradition des Stereotyps der Sapphire als übermäßig dominant und wenig attraktiv dargestellt. Zur gesellschaftlichen Akzeptanz solcher Ehen trug aber vermutlich auch diese Serie ein wenig bei. Das Ende von The Jeffersons fiel ungefähr mit dem Ende der Netzwerkära zusammen. Ab Mitte der 1980er Jahre veränderten sich nämlich die Fernsehlandschaft und das Zuschauerverhalten. Mit dem neuen Netzwerksender FOX, dem Nachrichtensender CNN und zahlreichen weiteren Sendern, die nur über Kabel oder Satellit ausgestrahlt wurden, erwuchs innerhalb weniger Jahre starke Konkurrenz zu den drei etablierten Netzwerken. Deren Dominanz geriet zudem ins Wanken, weil der gleichzeitige Ausbau des Kabelnetzes sowie eine Reihe von neuen technischen Geräten – Satellitenschüsseln, Fernbedienungen oder Video-

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rekorder – den Zuschauer*innen mehr Kontrolle über ihren Fernsehkonsum erlaubten. Sie waren nun nicht mehr zwingend an die von den Sendern vorgegebenen Zeiten gebunden, sie hatten mehr Sender zur Verfügung, unter denen sie auswählen konnten, und sie konnten viel leichter als noch einige Jahre zuvor zwischen den Sendern wechseln. An die Stelle der prototypischen Zuschauer*innen der Netzwerkära, die den ganzen Tag oder zumindest den ganzen Abend nur einen Sender verfolgten, traten nun Konsument*innen, die zwischen deutlich mehr Sendern hin- und herwechselten und, während sie eine Sendung schauten, eine andere aufzeichneten, um sie später anzusehen. In der Forschung wird diese Phase in der Geschichte des amerikanischen Fernsehens daher als multi-channel transition, also als Übergang zu zahlreichen Sendern, bezeichnet. Auf die Darstellung von Liebesbeziehungen zwischen Schwarzen und Weißen hatte das Ende der Netzwerkära allerdings fast keine Auswirkungen. Diese kamen nur unwesentlich häufiger vor als in den Jahren zuvor und waren weiterhin auf Nebenhandlungen von Komödien und Seifenopern beschränkt. Diese Serien wurden zumeist tagsüber ausgestrahlt und daher von deutlich weniger Zuschauer*innen gesehen als das Abendprogramm. Sie wurden zudem weniger aufmerksam verfolgt als Sendungen am Abend, denen man sich auf dem Sofa sitzend oft völlig widmete, da während des Tages der Fernseher oft lediglich im Hintergrund lief, während zum Beispiel die Hausarbeit verrichtet wurde. Entsprechend konnten diese Darstellungen gemischtrassiger Beziehungen keine große kulturelle Wirkung entfalten. Dies änderte sich erst um die Jahrtausendwende mit dem Übergang in die so genannte post-network era, also das Zeitalter nach den Netzwerken. In der radikal veränderten Fernsehlandschaft des neuen Jahrtausends existieren die großen Netzwerke zwar noch immer; sie haben ihre Vormachtstellung aber völlig verloren. Eine Vielzahl von Nischensendern ist entstanden, deren Programm gar nicht mehr die Allgemeinheit erreichen will, sondern auf die Interessen eines ganz bestimmten Publikumssegments zugeschnitten ist. Gleichzeitig hat sich das Zuschauerverhalten vor allem durch das Internet weiter verändert. Viele Zuschauer*innen sehen sich Serien nicht mehr im Fernsehen, sondern in den Tagen nach der Ausstrahlung auf der Seite des Senders im Internet an, auf das sie von einem Computer oder einem mobilen Endgerät zugreifen. In den letzten Jahren haben Internetdienste wie Netflix oder Amazon zudem begonnen, die Serie – einst das Fernsehgenre schlechthin – von diesem Medium loszulösen. Nicht nur sind in ihren Onlinearchiven viele ursprünglich im Fernsehen ausgestrahlte Serien jederzeit komplett verfügbar; die Anbieter produzieren mittlerweile auch eigene Serien, die nur noch online angesehen werden können und gar nicht mehr im Fernsehen ausgestrahlt werden. Das Einheitspublikum der Vergangenheit existiert also nicht mehr; an seine Stelle ist eine Vielzahl unterschiedlicher Publika getreten. Diese strukturellen Veränderungen der Fernsehlandschaft erklären die inhaltlichen und formalen Innovationen, die zahlreiche Fernsehformate, vor allem aber das Genre der Serie, in den letzten Jahren erfahren haben, und die steigen-

Liebe zwischen Schwarz und Weiß im amerikanischen Film und Fernsehen

de Präsenz von Liebesbeziehungen über Rassengrenzen hinweg auf dem Bildschirm. Die Neuerungen beschränken sich dabei nicht nur auf Serien, die auf den neuen Sendern oder im Internet laufen, sondern sind auch an den Serien der Netzwerke zu beobachten, deren Verantwortliche die Zeichen der Zeit erkannt haben. Viele Beobachter sprechen daher von einem goldenen Zeitalter des Fernsehens (u.a. Sepinwall), dessen Produkte sich durch eine besondere Komplexität auszeichnen (Mittell). Die Verantwortlichen der amerikanischen Fernsehsender sind ständig auf der Suche nach neuen Serienstoffen, die mit bisherigen Konventionen brechen und kontroverse Themen verhandeln sollen, um so ein ganz bestimmtes Publikum anzuziehen oder zu binden. Entsprechend haben in den letzten Jahren Beziehungen zwischen Angehörigen verschiedener Rassengrenzen im Allgemeinen und solche zwischen Schwarzen und Weißen im Besonderen stark zugenommen. Diese werden von den Zuschauer*innen sehr positiv aufgenommen, insbesondere wenn zugleich mit konventionellen Darstellungsmustern und Stereotypen gebrochen wird, wie Reaktionen im Internet zeigen, wo viele Fans die Serien diskutieren oder Hitlisten der besten gemischtrassigen Paare erstellen (u.a. Maurer). Anders als noch vor zwanzig Jahren gibt es schwarz-weiße Liebespaare mittlerweile auch in Serien, die abends zur besten Sendezeit ausgestrahlt werden und so ein Millionenpublikum erreichen. Um nur einige Beispiele zu nennen: In der ABC-Serie Lost waren Rose und Bernard über mehrere Staffeln hinweg der ruhende Pol im Strudel der Ereignisse; in NBCs Community sind Britta und Troy ebenfalls längere Zeit zusammen; Wash und Zoe in Fox’ Firefly sind sogar verheiratet; genauso verhält es sich – bis zu ihrem Selbstmord – mit Dualla und Lee bei Sci-Fys Battlestar Galactica; und in Showtimes House of Lies schließlich steht der schwarze Protagonist zwischen seiner weißen Exfrau und seiner weißen Kollegin. Es muss jedoch angemerkt werden, dass es sich bei fast allen Beispielen um Komödien oder dramedies, also eine Mischung aus Komödie und Drama, den bestimmenden Genres der Fernsehserie, handelt. In der Königsdisziplin der zeitgenössischen Fernsehserie, dem einstündigen Drama, sind solche Beziehungen noch immer unterrepräsentiert und kommen fast nur in Nebenhandlungen vor. Damit berührt man eines der Hauptprobleme der hochgelobten und vieldiskutierten Serien der Gegenwart. Das Buch des Journalisten Brett Martin über den Aufstieg dieser Serien heißt nicht umsonst Difficult Men, was sich sowohl auf die Macher der Serien als auch auf deren Hauptfiguren bezieht. Im Zentrum von The Sopranos, The Wire, Mad Men, Breaking Bad und anderen Serien stehen nämlich fast ausnahmslos weiße Männer und deren Beziehungen zu anderen Männern. Frauen und Liebesbeziehungen kommen nur am Rande, eben in Nebenhandlungen, vor. Liebesbeziehungen über Rassengrenzen hinweg gibt es dementsprechend selten. Allerdings scheint sich dies gerade zu ändern. Während die in der ersten Dekade des neuen Jahrtausends konzipierten Serien formal äußerst innovativ waren, übernehmen die Serien der letzten Jahre zumeist deren Erzählstrategien. Sie han-

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deln aber nicht mehr nur von weißen Männern, sondern sind von zunehmender Diversität im Figurenensemble gekennzeichnet. Man könnte daher – zumindest in Hinblick auf Serien – von einer zweiten Welle der Innovation sprechen, bei der es mehr um Figurenkonzeptionen und -konstellationen geht. Nicht nur Frauen, sondern allgemein Figuren, die nicht weiß sind, stehen jetzt vermehrt im Mittelpunkt der Handlung, wodurch auch Liebesbeziehungen über die Rassengrenzen hinweg ins Zentrum rücken. So spielt Netflix’ Orange Is the New Black in einem Frauengefängnis, in dem vor allem Afroamerikanerinnen und Latinas einsitzen. Rassengrenzen werden dabei sowohl in hetero- als auch in homosexuellen Beziehungen überschritten. In HBOs Shameless stehen die schwarze Veronica und der weiße Kevin der weißen weiblichen Hauptfigur praktisch gleichberechtigt zur Seite. In der chaotischen Welt der Serie, die von ständig wechselnden Affären gekennzeichnet ist, ist ihre Beziehung einer der wenigen Fixpunkte, und sie haben, was bei gemischtrassigen Paaren im Fernsehen noch immer extrem selten ist, zwei gemeinsame Kinder. Schließlich gibt es mit Scandal seit einigen Jahren eine Serie, in der eine schwarze Frau im Mittelpunkt steht – die von zwei weißen Männern umworben wird. Die Auflistung dieser Beispiele soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass Liebesbeziehungen zwischen Schwarzen und Weißen auch im amerikanischen Fernsehen der Gegenwart noch immer unterrepräsentiert sind und bisweilen auch problematisch dargestellt werden. Die Darstellungen sind jedoch in den letzten Jahren nicht nur deutlich häufiger, sondern auch weniger stereotypenhaft geworden und daher in vielen Fällen geeignet, nicht nur durch ihre schiere Existenz, sondern auch durch die Art und Weise, wie sie funktionieren, zur Normalisierung solcher Beziehungen beizutragen. Aufgrund der strukturellen Gegebenheiten der derzeitigen Fernsehlandschaft besteht zudem die Aussicht, dass solche Darstellungen – anders als im amerikanischen Film – noch häufiger und komplexer werden.

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Der War on Drugs, die Hyperinhaftierung sozial schwacher Afroamerikaner und Perspektiven der Strafrechtsreform Katharina Motyl

Benjamin Jealous, der damalige Präsident der traditionsreichen Bürgerrechtsorganisation NAACP (National Association for the Advancement of Colored People) bezeichnete 2009 die Gefängnisexpansion als die größte Herausforderung für afroamerikanische Bürgerrechte dieser Generation (Serwer). Zum einen ist die Anzahl der Gefangenen in den USA seit Anfang der 1980er Jahre exponentiell gestiegen, wodurch die Vereinigten Staaten aktuell 4,4 Prozent der Weltbevölkerung, aber 22 Prozent der weltweit Gefangenen stellen.1 Zum anderen hat die Gefängnisexpansion nicht alle Bevölkerungsgruppen in gleichem Maße betroffen, sondern vor allem auf Afroamerikaner abgezielt. So hat sich die Anzahl inhaftierter männlicher Afroamerikaner von 143.000 im Jahr 1980 auf 791.600 im Jahr 2000 erhöht und damit in einem Zeitraum von 20 Jahren verfünffacht 1 | Während die Gefangenenpopulation in den USA 1975 noch 380.000 betrug, war sie 1980 auf 474.000 angestiegen; im Jahr 1990 auf 1.149.000; und im Jahr 2000 auf 1.966.000 (»The Punishing Decade«). Zwischen 1980 und 1990 hat sich die Gefangenenzahl also verdoppelt; ab 1975 ist sie innerhalb eines Vierteljahrhunderts um ein Fünffaches gewachsen. Im Jahr 2013 waren laut dem statistischen Amt des US-Justizministeriums 2.220.000 Erwachsene inhaftiert – entweder in prisons, also in Bundesgefängnissen und Gefängnissen der Bundesländer, oder in jails, also in Gefängnissen der Landkreise. Wenn man diejenigen hinzuzählt, die anstatt oder nach einer Haftstrafe auf Bewährung waren, standen im Jahr 2013 6,9 Millionen Erwachsene unter strafjustizieller Überwachung (Glaze und Kaeble 2). Laut dem Institute for Criminal Policy Research betrug 2015 die Gefangenenrate – die Anzahl der Gefangenen pro 100.000 Einwohner – in den USA 698; in Kanada 106; in Frankreich 99; in Deutschland 76; in Schweden 55 (»World Prison Brief«). Kriminologen weisen oftmals darauf hin, dass aktuell prozentual so viele Menschen in US-Gefängnissen einsitzen wie in den sowjetischen Gulags gegen Ende des Stalinismus (Gottschalk, Caught 8).

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(Butterfield). Obwohl Afroamerikaner im Jahr 2010 nur 12,6 Prozent der amerikanischen Bevölkerung ausmachten (»The Black Population«), betrug ihr Anteil an der Gefangenenpopulation im Jahr 2009 laut dem statistischen Amt des USJustizministeriums 39,4 Prozent (West 19). Die USA sperren mittlerweile einen größeren Teil ihrer schwarzen Bevölkerung ein als Südafrika auf dem Höhepunkt der Apartheid (Alexander, The New Jim Crow 6). Während 2009 die Gefangenenrate – die Anzahl der Gefangenen pro 100.000 Einwohner – für weiße Frauen 91 betrug, lag sie für afroamerikanische Frauen bei 333. Am stärksten sind jedoch schwarze Männer von der Gefängnisexpansion betroffen: 2009 betrug die Gefangenenrate für afroamerikanische Männer 4.749 und war damit über sechsmal höher als der Wert von 708 für weiße Männer (West 21). Zur Jahrtausendwende war einer von 21 erwachsenen afroamerikanischen Männern hinter Gittern; bei der Altersgruppe der 20- bis 34-jährigen schwarzen Männer saß sogar einer von neun im Gefängnis (Wacquant, »Deadly Symbiosis« 96). Männliche Schwarze, die in den 1990er Jahren geboren wurden, werden mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:3 Zeit im Gefängnis verbringen, während sie bei männlichen Weißen bei weniger als 1:10 liegt (Blumstein 22). Die »massenhafte« Inhaftierung von erwachsenen Afroamerikanern hat logischerweise auch Auswirkungen auf deren Kinder: Eines von vier schwarzen Kindern wächst heute mit einem Elternteil hinter Gittern auf (Gottschalk, Caught xv). Wie konnte es zu dieser dezidiert überproportionalen Repräsentation von Afroamerikanern in Gefängnissen kommen? Brechen Afroamerikaner so viel häufiger das Gesetz als andere ethnische Gruppen? Wie ich belegen werde, trifft dies nicht zu; vielmehr ist die Hyperinhaftierung von Afroamerikanern – genauer gesagt: von Afroamerikanern aus der Unterschicht – als ein System sozialer Kontrolle anzusehen. Das Hauptvehikel dieses Systems war der War on Drugs, den Präsident Richard Nixon 1972 implementierte und Präsident Ronald Reagan nach seinem Amtsantritt 1980 verschärfte, der aber in der Folge von Politikern beider Parteien »ausgefochten« wurde. Wie ich zeigen werde, hat der War on Drugs zu einer polizeilichen Hyperüberwachung der schwarzen urbanen Unterschicht geführt sowie zu Gesetzen, die zwar nominell »farbenblind« sind, teils aber implizit schwarzes Verhalten in besonderem Maße bestrafen. Diese Dynamik wird durch Staatsanwälte und Richter ergänzt, die bei Afroamerikanern für das gleiche Vergehen, z.B. Besitz von Marihuana, höhere Strafen fordern bzw. höhere Strafmaße verhängen als bei Weißen. Vor dem Hintergrund der Ungleichbehandlung Schwarzer im Vergleich zu Weißen auf jeder Stufe des Justizsystems sieht die Verbindung von Gesetzesbruch und Strafe für verschiedene ethnische Gruppen sehr unterschiedlich aus. Nachdem der eben skizzierte historische Hintergrund der Hyperinhaftierung sozial schwacher Afroamerikaner detailliert dargelegt und das Phänomen theoretisch eingeordnet worden ist, folgt eine Abhandlung der sozialen, ökonomischen und politischen Auswirkungen der Hyperinhaftierung auf die afroamerikanische community. Abschließend werden Vorschläge zur Reform des Strafrechts bzw. des Gefängniswesens vorgestellt.

Der War on Drugs

Obwohl in der Fachliteratur zum Thema »Gefängnisexpansion« vielfach die Rede von »afroamerikanischer Masseninhaftierung« ist, haben die Analysen des Soziologen Loïc Wacquant gezeigt, dass es überwiegend sozial schwache Afroamerikaner sind, die in die Fänge des Gefängnisstaats2 geraten. Bei der Analyse des sozialen Hintergrundes der Gefangenen fand Wacquant heraus, dass Gefangene, gleich welcher ethnischen Zugehörigkeit, überwiegend aus der Unterschicht stammen: Weniger als die Hälfte hatte zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung einen Vollzeitjob; zwei Drittel kamen aus Haushalten mit einem Jahreseinkommen, das unter der Hälfte der Armutsgrenze lag; nur 13 Prozent hatten eine weiterführende Schule besucht, verglichen mit einem landesweiten Durchschnitt von über 50 Prozent. Während das Risiko einer Inhaftierung für afroamerikanische Männer 1998 bei 59 Prozent lag und sich gegenüber 1978 verdreifacht hatte, sank für schwarze Männer mit Hochschulbildung die lebenslange Wahrscheinlichkeit einer Inhaftierung im gleichen Zeitraum von sechs auf fünf Prozent. Dies zeige, so Wacquant, dass die afroamerikanische Mittel- und Oberschicht von der Gefängnisexpansion nicht betroffen gewesen sei (Wacquant, »Das Rassenstigma« 106). Wie bereits angedeutet ist der War on Drugs der Hauptgrund dafür, dass sozial schwache Afroamerikaner derart häufig im Netz der Strafjustiz landen (Alexander, The New Jim Crow; Tonry; Provine; Wacquant, »Deadly Symbiosis«). Michelle Alexander schreibt: »Nichts hat stärker zur systematischen Masseninhaftierung ethnischer Minderheiten in den USA beigetragen als der War on Drugs« (The New Jim Crow 60). Der wichtigste Mechanismus des War on Drugs war der Erlass einer strengeren Drogengesetzgebung gepaart mit einer polizeilichen Hyperüberwachung (hyperpolicing) der Innenstädte, in denen nun überwiegend die afroamerikanische Unterschicht lebte, nachdem Weiße als Reaktion auf die afroamerikanische great migration in den Norden ab 1945 zunehmend in die Vororte gezogen (white flight) und wirtschaftlich besser gestellte Afroamerikaner in die vormals von Weißen bewohnten Gegenden abgewandert waren. Der Bundesstaat New York leistete Pionierarbeit im sogenannten »Krieg gegen die Drogen«. Der eher liberal gesinnte republikanische Gouverneur Nelson Rockefeller sah sich 1971 mit einem Aufstand von 1.200 Insassen, die meisten darunter Afroamerikaner, im bundesstaatlichen Gefängnis Attica konfrontiert. Wie die Historikerin Heather Ann Thompson nachskizziert, bewog Rockefeller dieser Aufstand dazu, seine Politik gegenüber den gesellschaftlichen Rändern, d.h. Gefangenen, Drogenabhängigen und Anhängern radikaler politischer Bewegungen, zu ändern und eine law and order-Position einzunehmen. Hatte er zuvor Rehabilitationsprogramme als Antwort auf Drogenmissbrauch bevorzugt, führte er nun scharfe Strafen für Drogenhandel wie auch für Drogenbesitz ein (Thompson 707). Die sogenannten »Rockefeller-Drogengesetze« befeuerten die 2 | Das Konzept des Gefängnisstaats (carceral state) bezeichnet den zunehmenden Rückgriff des amerikanischen Staats auf das Gefängnis seit Beginn der 1980er Jahre.

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Gefängnisexpansion im Bundesstaat, wobei die wegen Drogendelikten Inhaftierten überwiegend aus dem städtischen Raum kamen: In den 1990er Jahren saßen 32,2 Prozent der Gefangenen in den Gefängnissen des Bundesstaates New York aufgrund von Drogendelikten ein; die Mehrheit kam aus den urbanen Zentren des Bundesstaates. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts kamen 66 Prozent der Gefangenen in New Yorks state prisons aus New York City (Thompson 708). Am Ende des 20. Jahrhunderts waren Drogengesetze nach New Yorker Vorbild in vielen anderen Bundesstaaten verabschiedet worden und die Inhaftierung von Bewohnern der Innenstädte war dramatisch angestiegen. Während in den USA im Jahr 1970 nur 322.300 Festnahmen im Zusammenhang mit Drogen vorgenommen worden waren, stieg diese Zahl im Jahr 2000 auf 1.375.000 Festnahmen. Die Mehrheit der Verhafteten stammte aus städtischen Ghettos (Thompson 708). Vor diesem Hintergrund konstatiert Wacquant: [Die] Gefängnispolitik hat zu einer Über-Einkerkerung einer bestimmten Gruppe geführt, nämlich von jungen männlichen Schwarzen der Unterschicht in den zerfallenden Ghettos, während der Rest der Gesellschaft – insbesondere auch Angehörige der schwarzen Mittelschicht – praktisch unberührt blieb. (»Das Rassenstigma« 105, Hervorh. i. O.)

Da die Gefängnisexpansion eben nicht die breite Masse betreffe, sondern ein bestimmtes Populationssegment, hält Wacquant es konsequenterweise für unangebracht, von Masseninhaftierung zu sprechen; ich verwende daher den Terminus Hyperinhaftierung sozial schwacher Afroamerikaner.3 Wie die soeben genannten Zahlen schon vermuten lassen, werden Afroamerikaner überproportional häufig wegen Drogendelikten verhaftet und verurteilt. Zwischen 1983, kurz bevor der War on Drugs auf Bundesebene verschärft wurde, und 2000 haben sich die Gefängniseinweisungen von Afroamerikanern aufgrund von Drogendelikten mit dem Faktor 26 multipliziert. Zwar hat sich die Zahl der Gefängniseinweisungen von Weißen wegen Drogendelikten im Jahr 2000 auch gegenüber 1983 erhöht; sie hat sich aber lediglich verachtfacht und ist damit deutlich weniger stark gestiegen als bei Afroamerikanern (Travis 28). In manchen Bundesstaaten werden pro männlichem Weißen, der wegen eines Drogendeliktes inhaftiert wird, zwischen 20 und 50 afroamerikanische männliche Drogenstraftäter ins Gefängnis geschickt (»Racial Disparities«). Nun mag die Frage naheliegen, ob Drogenkonsum und -handel in der afroamerikanischen community stärker verbreitet sind als bei weißen Amerikanern. Verschiedene Studien haben jedoch gezeigt, dass alle ethnischen Gruppen in 3 | Wacquant betont, der selektive Zugriff des Gefängnisstaats sei ein integraler Bestandteil seiner Ontologie: »[H]ätte sich der Strafstaat flächendeckend durch eine Politik ausgebreitet, die eine große Anzahl Weißer und Angehöriger der Mittelschicht ins Gefängnis gebracht hätte, wäre sein Ausbau schnell politisch gestoppt und aufgehalten worden« (»Rassenstigma« 105).

Der War on Drugs

etwa gleich häufig Drogen konsumieren und verkaufen (Alexander, The New Jim Crow 99). Einige Studien legen sogar nahe, dass weiße Jugendliche und junge Erwachsene mit einer höheren Wahrscheinlichkeit als junge Afroamerikaner mit Drogen in Kontakt kommen. So zeigte eine Studie des National Institute on Drug Abuse, dass weiße Schüler siebenmal so häufig Kokain oder Heroin und achtmal so häufig Crack konsumierten wie afroamerikanische Schüler (zit. in Alexander, The New Jim Crow 99). Da die Polizei aber in den Vororten und Stadtteilen, die überwiegend von Weißen bewohnt werden, nicht annähernd so präsent ist wie in afroamerikanischen Ghettos, fällt der Drogenkonsum weißer Schüler weniger auf. Denn seit die Bundesregierung 1972 den War on Drugs erklärte und sich damit in die Drogenpolitik einmischte, die bislang Sache der Bundesstaaten und Landkreise gewesen war, findet eine Hyperüberwachung der schwarzen Innenstädte durch die Polizei statt. Die Bundesregierung versprach jenen Strafvollstreckungsorganen (law enforcement agencies) der Bundesstaaten und der Landkreise, die gewillt waren, dem sogenannten Krieg gegen die Drogen höchste Priorität einzuräumen, großzügige finanzielle Unterstützung. Ferner erhielten Polizeibehörden, die sich dem War on Drugs verschrieben hatten, vom Pentagon militärische Ausrüstung. Präsident Ronald Reagan gab den Strafvollstreckungsorganen daraufhin einen weiteren Anreiz für den rigorosen Einsatz im sogenannten Krieg gegen die Drogen, indem er ihnen erlaubte, bei Drogenoperationen konfisziertes Bargeld und Besitztümer in ihr Behördenbudget zu überführen (Alexander, The New Jim Crow 73-78). Hinzu kam, dass seit der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs Terry v. Ohio (1968) die sogenannte stop and frisk-Praktik erlaubt ist: Polizisten dürfen jemanden, von dem sie aus nachvollziehbarem Grund (»reasonably«) annehmen, dass er gefährlich ist und einer kriminellen Tat nachgeht, anhalten und durchsuchen (Alexander, The New Jim Crow 63). Da in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren Bilder von Rassenunruhen und bewaffneten Sympathisanten der Black Panther Party in den Medien omnipräsent waren, kursierten zunehmend Narrative schwarzer Kriminalität. Schwarz wurde in der Vorstellung der Mehrheitsgesellschaft gleichbedeutend mit gefährlich. Gleichzeitig wurden nun auch auf Bundesebene Gesetze verabschiedet, die drakonische Strafen für Drogenhandel und -besitz festlegten. Zum einen erließ der US-Kongress im Anti-Drug Abuse Act (1986) verbindliche Mindeststrafen für eine Vielzahl an Drogendelikten. Doch auch die Bundesstaaten forcierten weiterhin Gesetzesinitiativen im sogenannten Krieg gegen die Drogen: Um die Jahrtausendwende hatten 24 Bundesstaaten three strikes and you’re out-Gesetze erlassen, wodurch sogenannte »Gewohnheitstäter« bei der dritten Verurteilung für den Rest ihres Lebens inhaftiert blieben; 1980 hatte es in keinem Bundesstaat ein solches Gesetz gegeben. Bis zur Jahrtausendwende hatten 40 Staaten truth in sentencing-Gesetze verabschiedet, die eine vorzeitige Haftentlassung auf Bewährung unmöglich machen; 1980 hatte es diese Gesetze nur in drei Bundesstaaten gegeben (Thompson 710).

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Im Rahmen des War on Drugs wurden außerdem Gesetze verabschiedet, die implizit rassistisch sind, weil sie Vergehen, die angeblich vor allem von Schwarzen begangen werden, härter bestrafen als vergleichbare Vergehen, die vermeintlich vor allem von Weißen begangen werden. So verhängte der bereits erwähnte Anti-Drug Abuse Act ein Mindeststrafmaß von fünf Jahren Gefängnis ohne vorzeitige Haftentlassung für den Besitz von fünf Gramm Crack (d.h. Kokain in Kristallform, das in Pfeifen geraucht wird), während erst der Besitz von 500 Gramm Kokain in Puderform zum gleichen Strafmaß führte. Die Disparität im Strafmaß war also 1 zu 100, obwohl es sich um die gleiche chemische Substanz handelt.4 Obwohl Afroamerikaner nicht häufiger Crack konsumieren als Weiße, galt Crack in der gesellschaftlichen Vorstellung als Droge des schwarzen Ghettos, während Puderkokain teurer und somit eine white collar drug ist, also die Droge der Wahl von Bankern und Börsenspekulanten. Nachdem Ronald Reagan das Präsidentenamt übernommen hatte, verschärfte seine Administration den War on Drugs und nährte das Narrativ des epidemischen Crackmissbrauchs in den Innenstädten zu einem Zeitpunkt, als Crack de facto erst vereinzelt aufgetaucht war. 1985 startete die Reagan-Administration eine Medienkampagne, die öffentliche und legislative Unterstützung für den War on Drugs erzeugen sollte. Plötzlich wimmelte es in den Medien von Darstellungen afroamerikanischer crack moms, die crack babies gebaren und ihre Sozialhilfe lieber in Drogen investierten als in das Wohlbefinden ihrer Kinder (Alexander, The New Jim Crow 5). Im darauffolgenden Jahr verabschiedete der Kongress die drakonischen Mindeststrafmaße für Crackdelikte und kriminalisierte somit in besonderem Maße Verhalten, das implizit als schwarz galt. Doch auch die Staatsanwälte und Richter haben ihre Handlungsspielräume zunehmend strenger ausgelegt (Gottschalk, »Drug War«). Staatsanwälte, die die mächtigsten Akteure innerhalb des amerikanischen Strafjustizsystems sind (Gottschalk, Caught 266; Alexander, The New Jim Crow 87), klagen beispielsweise afroamerikanische Männer mit doppelt so hoher Wahrscheinlichkeit wie weiße Männer wegen eines Delikts an, das mit einem vorgeschriebenen Mindeststrafmaß belegt ist (Starr und Rehavi 28). Außerdem verurteilen Richter Afroamerikaner für das gleiche Drogendelikt durchschnittlich zu längeren Haftstrafen als Weiße (Weiman und Weiss 84). Obwohl der Glaube weit verbreitet ist, der War on Drugs sei als Antwort auf den epidemieartigen Drogenkonsum in den Städten ausgerufen worden, wurde er tatsächlich zu einem Zeitpunkt implementiert, als der Konsum illegaler Drogen rückläufig war (Beckett und Sasson 163). Um zu verstehen, warum sich die Nixon-Administration dennoch zu einer drakonischen Drogenpolitik entschied, ist ein Blick in die Geschichte aufschlussreich. 4 | Zwar soll Crack laut Medizinern um ein Vielfaches schneller Abhängigkeit hervorrufen als Puderkokain (Hatsukami und Fischman). Es stellt sich jedoch nicht nur in Bezug auf Crackmissbrauch, sondern Drogenmissbrauch im Allgemeinen die Frage, warum man Drogenabhängige kriminalisiert und einsperrt, statt in bessere öffentlich zugängliche Therapieangebote zu investieren.

Der War on Drugs

L aw and order als rhe torisches G e wand der G egnerschaf t afroamerik anischer B ürgerrechte In den späten 1950er Jahren mobilisierten weiße Gouverneure und Polizisten in den Südstaaten die Rhetorik des law and order, um gegen die Bürgerrechtsbewegung zu opponieren. 1954 hatte der Oberste Gerichtshof im Fall Brown v. Board of Education die Rassentrennung in den Schulen für verfassungswidrig erklärt und damit die rechtlich festgeschriebene Diskriminierung Schwarzer in den Südstaaten insgesamt infrage gestellt. Die Bürgerrechtsbewegung forderte nun durch politische Aktionen, wie gemeinsame Besuche von Schwarzen und Weißen in »weißen« Restaurants und gemeinsamen Freedom Rides in »weißen« Langstreckenbussen, ein Ende des gesamten Systems rassistischer Unterdrückung, das auch Jim Crow-System genannt wurde. Die weiße südstaatliche Elite charakterisierte diese Aktionen als kriminell und bezeichnete die Bürgerrechtsgesetze als Belohnung für Gesetzesbrecher. Ab Mitte der 1950er Jahre verbanden Konservative ihre Ablehnung der Bürgerrechtsbewegung systematisch mit Appellen für law and order, indem sie argumentierten, Martin Luther Kings Philosophie des zivilen Ungehorsams begünstige Kriminalität (Alexander, The New Jim Crow 40-41). Laut dem damaligen Vizepräsidenten Nixon ließ sich steigende Kriminalität »direkt auf die Verbreitung der schädlichen Doktrin zurückverfolgen, dass jeder Bürger ein inhärentes Recht besitze, selbst zu entscheiden, wann er Gesetze befolge und wann nicht« (Nixon 64)5. Die law and order-Rhetorik fungierte hier als euphemistischer Deckmantel für rassistische Einstellungen. Nachdem die Konservativen die Schlacht um die Rassentrennung verloren hatten, dauerte es nicht lange, bis sie die law and order-Rhetorik verwendeten, um in der Strafjustiz gegen afroamerikanische Bürgerrechte vorzugehen. Mittlerweile hat John Ehrlichman, der Anfang der 1970er Jahre Präsident Nixons wichtigster innenpolitischer Berater war, zugegeben, dass der War on Drugs der Zersetzung der afroamerikanischen community und der Gegner des Vietnamkriegs dienen sollte: Wir wussten, dass wir es nicht verbieten konnten, gegen den Krieg oder schwarz zu sein, doch indem wir die Öffentlichkeit dazu bewegten, die Hippies mit Marihuana und Schwarze mit Heroin zu assoziieren, und dann beides stark kriminalisierten, konnten wir diesen Gruppen schaden. Wir konnten ihre Anführer festnehmen, ihre Wohnungen durchsuchen, ihre Treffen beenden, und sie jeden Abend in den 20-Uhr-Nachrichten verleumden. Wussten wir, dass wir Lügen über die Drogen erzählten? Natürlich wussten wir das. (Zit. in Baum)

5 | Soweit nicht anders angegeben, handelt es sich bei deutschsprachigen Zitaten aus englischsprachigen Quellen um Übersetzungen der Verfasserin.

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Doch auch ohne die Offenherzigkeit des Nixon-Vertrauten wäre durch die oben genannten Zahlen offensichtlich, dass der War on Drugs dazu dient, unliebsame Bevölkerungsteile zu kontrollieren.

D ie K ontrollfunk tion afroamerik anischer H yperinhaf tierung Die Rechtswissenschaftlerin Michelle Alexander bezeichnet die Hyperinhaftierung von Afroamerikanern als the new Jim Crow, d.h. als ein System der rassischen Kontrolle, das Schwarze – ähnlich wie zu Zeiten rechtlich festgeschriebener Rassentrennung in den Südstaaten – permanent in einem Status zweitklassiger Staatsbürgerschaft festhalte und ihre gesellschaftliche Teilhabe verhindere (The New Jim Crow 12-13). Alexander formuliert: »Die Masseninhaftierung funktioniert als ein eng abgestimmtes System von Gesetzen, Politiken, Bräuchen und Institutionen, die zusammenarbeiten, um sicherzustellen, dass eine Gruppe, die hauptsächlich durch Rasse gekennzeichnet ist, in einem untergebenen Status verbleibt« (The New Jim Crow 13). Der »Clou« – aus der Perspektive der gesellschaftlichen Elite – sei, dass Afroamerikaner nicht mehr explizit durch Gesetze diskriminiert würden. Sie würden vielmehr als Kriminelle stigmatisiert, die heute in den USA ähnliche gesetzlich legitimierte Benachteiligungen hinnehmen müssen wie Afroamerikaner zu Zeiten der rechtlich festgeschriebenen Diskriminierung im Jim Crow-Süden. Da die Gesellschaft daran gewöhnt sei, dass die Rechte von Kriminellen eingeschränkt würden, so Alexander, sei eine breite öffentliche Auseinandersetzung über die Hyperinhaftierung und die lebenslangen negativen Konsequenzen eines Eintrags im Strafregister bislang ausgeblieben (The New Jim Crow 2). Loïc Wacquant kritisiert die Sichtweise, dass die Hyperinhaftierung ein neues Jim Crow-System darstelle, denn von letzterem waren ja alle Afroamerikaner im Süden betroffen, gleich welcher sozialen Klasse sie angehörten. Für Wacquant ist zentral, dass die Hyperinhaftierung speziell der Kontrolle der afroamerikanischen Unterschicht diene. Er schreibt: Wie ist es möglich, dass angeblich klassen- und »rassen«neutral verfasste Strafgesetze derart viele Männer des schwarzen (Sub-)Proletariats hinter Gitter gebracht haben, nicht jedoch andere männliche Schwarze? Der Klassengradient der rassistischen Politik der Einkerkerung ist durch deren Ausrichtung auf einen ganz bestimmten Ort erreicht worden: die Überbleibsel des schwarzen Ghettos. (Wacquant, »Das Rassenstigma« 107, Hervorh. i. O.)

Der Soziologe sieht die Gefängnisexpansion als eine Antwort auf den Zerfall des Ghettos. Traditionell hatten im Norden Schwarze aller sozialen Klassen in urbanen Enklaven wie Harlem zusammengelebt. Laut Wacquant hatte das Ghetto die Funktion rassischer Kontrolle inne, indem Weiße Schwarze ausschlossen, um sie auszubeuten und von ihrer eigenen Lebenssphäre fernzuhalten. Warum also zer-

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fiel das Ghetto? Hier nennt Wacquant zwei Gründe. Erstens fand der postindustrielle wirtschaftliche Wandel statt, durch den sich die Arbeit von der Industrie zur Dienstleistung verlagert habe, vom Stadtzentrum in die Vorstädte und aus den USA in die Niedriglohnländer. Zusammen mit einer neuen Einwanderungswelle hätten diese Veränderungen schwarze Arbeitskraft entbehrlich gemacht und die Rolle des Ghettos als Reservoir für ungelernte schwarze Arbeitskräfte sei überflüssig geworden. Zweitens, so Wacquant, spiele white flight eine Rolle – die Flucht Millionen Weißer aus den Städten in die Vororte als Reaktion auf den Zuzug von Afroamerikanern aus dem ländlichen Süden. Dieser staatlich geförderte demographische Umbruch habe die Bedeutung der Großstädte bei nationalen Wahlen verringert und so den politischen Einfluss der Afroamerikaner reduziert (Wacquant 108-09). Zugleich zogen Afroamerikaner der Mittelklasse in die zuvor von Weißen bewohnten Gebiete, wodurch die Mischung verschiedener Klassen im schwarzen Ghetto nicht mehr gegeben war. Wacquant argumentiert, dass nun auf das Gefängnis zurückgegriffen wurde, um eine Bevölkerungsgruppe – sozial schwache Afroamerikaner – in Schach zu halten, die von der Mehrheitsgesellschaft für »deviant, verarmt und gefährlich« gehalten wurde (109). Vor der postindustriellen Wende hatten Schwarze mit geringer Bildung noch diverse niedrig qualifizierte Jobs erfüllt; ihre Arbeitskraft wurde nun nicht mehr gebraucht. Soziale Hilfen waren für sie aber auch nicht vorgesehen, denn unter dem neoliberalen Paradigma, das spätestens seit der Präsidentschaft Ronald Reagans konsequent verfolgt wurde, fand ein massiver Rückzug des Sozialstaates statt. Kurzum: Die afroamerikanische Unterschicht hatte keinen Platz mehr in der Gesellschaft. Es gab nun also eine Bevölkerungsgruppe, die arbeitslos war, die wirtschaftlich durch den Wegfall sozialer Hilfen nicht über die Runden kam und zum Müßiggang prädestiniert war.6 Wacquant erklärt den Rückgriff auf die Gefängnisexpansion vor dem Hintergrund des zerfallenden Ghettos folgendermaßen: Zu dieser Kopplung kam es, da […] Ghetto und Gefängnis zur gleichen institutionellen Gattung gehören, d.h. zu Institutionen des gewaltsamen Einsperrens: Das Ghetto ist eine Art »ethnorassisches Gefängnis« in der Großstadt, während das Gefängnis als »justizielles Ghetto« fungiert. Beide haben die Aufgabe, eine stigmatisierte Gruppe einzuschließen, um die materielle und/oder symbolische Bedrohung zu bannen, die sie für breite Teile der Gesellschaft darstellen [sic!], von der sie zuvor ausgeschlossen wurde. (109, Hervorh. i. O.)

6 | Die Dimension des Müßiggangs ist meines Erachtens nicht zu unterschätzen. Wie Max Weber in Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus dargelegt hat, war die protestantische Arbeitsethik für die Herausbildung des Kapitalismus zentral. Die USA haben bekanntlich eine der am wenigsten regulierten kapitalistischen Wirtschaftsordnungen und sind die westliche Industrienation, in der Arbeitnehmern gesetzlich am wenigsten Urlaubstage zustehen. Nicht produktiv zu sein, ist unamerikanisch.

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Wacquants Einwand, die Hyperinhaftierung habe der »Kontrolle mittelloser und ›ehrloser‹« Afroamerikaner – und nicht der gesamten afroamerikanischen community – gedient, leuchtet ein (107, Hervorh. i. O.). Man sollte aber bedenken, dass ein beachtlicher Teil der afroamerikanischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt. Im Jahr 1980, kurz bevor die Gefängnisexpansion zunahm, waren 32 Prozent der Afroamerikaner arm, verglichen mit neun Prozent der weißen Bevölkerung (Mather). Selbst im Jahr 2014 lebten noch 26,2 Prozent aller Afroamerikaner unterhalb der Armutsgrenze, verglichen mit 14,8 Prozent der Gesamtbevölkerung sowie 10,1 Prozent der weißen Bevölkerung (DeNavas-Walt und Proctor 13). Vergessen sollte man dabei nicht, dass junge schwarze Männer im Jahr 2000 mit größerer Wahrscheinlichkeit im Gefängnis als im College saßen (Butterfield) und heute mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:3 im Laufe ihres Lebens im Gefängnis landen werden. Auch wenn, wie Wacquant zeigt, Afroamerikaner der Mittel- und Oberschicht nicht von der Gefängnisexpansion betroffen waren, muss man sich angesichts dieser Zahlen vergegenwärtigen, dass die meisten Afroamerikaner der Arbeiterklasse oder der Unterschicht angehören und die Gefängnisexpansion ergo Auswirkungen für einen signifikanten Teil der afroamerikanischen Bevölkerung hatte. Wenn Michelle Alexanders Analogie zwischen der Sklaverei, dem Jim Crow-System und der Hyperinhaftierung aufgrund der Rolle sozialer Klasse in Bezug auf das letztgenannte Phänomen nicht hundertprozentig zutrifft, so konzediert auch Wacquant, dass die Hyperinhaftierung in der traurigen Tradition einer langen Geschichte des Einsperrens (confinement), der Ausbeutung und Entmündigung von Afroamerikanern steht, die mit der Sklaverei ihren Anfang nahm, sich über das convict lease-System7, das sharecropping 8 und das Jim CrowSystem fortsetzte, um in der Gegenwart im Gewand der Hyperinhaftierung in Erscheinung zu treten (Alexander, The New Jim Crow; Wacquant, »Deadly Symbiosis«). Dieser Punkt wird noch deutlicher, wenn im Folgenden die Auswirkungen des War on Drugs und der Hyperinhaftierung betrachtet werden.9 7 | Nach dem Ende der Reconstruction 1877, als sich der Norden aus dem Süden zurückzog, führten die Südstaaten Gesetze ein, die eine Reihe alltäglicher Verhaltensweisen (z.B. »Herumlungern«) kriminalisierten und so eine Inhaftierung ehemaliger Sklaven im großen Stil ermöglichten. Die Arbeitskraft der Gefangenen wurde dann an Unternehmer »vermietet«, die dem Landkreis eine geringe Pauschale zahlten, die Gefangenen jedoch nicht entlohnten und somit erhebliche Lohnkosten sparten, die sie freien Arbeitern hätten zahlen müssen. Die Arbeitsbedingungen im convict lease-System waren schlimmer als während der Sklaverei (Davis 29-36). Das convict lease-System wurde erst 1941 verboten. 8 | Nach Ende der Sklaverei verpachteten viele Plantagenbesitzer Land und vormalig als Sklavenunterkünfte dienende Barracken an ihre ehemaligen Sklaven, verlangten im Gegenzug jedoch einen Löwenanteil der Ernte. Für viele Afroamerikaner änderten sich also ihre Lebensumstände trotz der Abschaffung der Sklaverei erst einmal nur minimal (Royce). 9 | Zwar wurde die Gefängnisexpansion in erster Linie durch den Anstieg der Gefängniseinweisungen und dem Anstieg des Strafmaßes für gewaltlose Vergehen im Rahmen des War

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Zuvor jedoch noch eine Bemerkung zu einem zentralen Unterschied zwischen der staatlichen Kontrolle von Afroamerikanern in der heutigen Form der Hyperinhaftierung und zu Zeiten der Sklaverei und des Jim Crow-Systems. Während der Sklaverei und im Jim Crow-Süden war die Ungleichbehandlung von Afroamerikanern gesetzlich festgeschrieben; die Diskriminierung fand also primär auf der Ebene des Gesetzes statt. Das bedeutet nicht, dass Polizisten, Gouverneure oder Richter im Jim Crow-Süden nicht rassistisch gehandelt hätten. So ließen Sheriffs beispielsweise zu, dass Lynchmobs Afroamerikaner, die eines Verbrechens beschuldigt wurden und in lokalen Gefängnissen auf ihren Gerichtsprozess warteten, aus der Untersuchungshaft entführten und hinrichteten. Staatsanwälte brachten dies wiederum nicht zur Anklage. Obwohl Lynchmorde illegal waren und somit extralegale Gewalt darstellten, betrachtete das Strafjustizsystem dieses Vorgehen als eine »angebrachte Strafe« für »schuldige Afroamerikaner« und sah von einer Strafverfolgung ab, wodurch der Lynchmord selbst nicht zur Straftat wurde (Garland). In diesem Fall weigerte sich das Strafjustizsystem also, allgemeingültige Gesetze – Strafandrohung für Tötungsdelikte – anzuwenden, wenn das Opfer afroamerikanisch und »eines Verbrechens schuldig« war. Diese Entwicklung setzte sich fort, als sich Gouverneure und Polizeibehörden weigerten, die vom Obersten Gerichtshof 1954 im Fall Brown v. Board of Education beschlossene rassische Integration von Schulen durchzusetzen. Seit der Verabschiedung des Civil Rights Act (1964) sind nun vor dem Gesetz alle gleich. Es gibt im War on Drugs kein Gesetz, das explizit Schwarze diskriminiert, indem es beispielsweise für den Besitz von 10 Gramm Heroin ein Strafmaß von zwei Jahren Haft für Weiße, aber von 15 Jahren für Afroamerikaner, vorschriebe. Wie in Bezug auf die Crack-Gesetzgebung gezeigt wurde, hat die Legislative vereinzelt Gesetze erlassen, die implizit schwarzes Verhalten in besonderem Maße bestrafen. Insgesamt aber hat sich, verglichen mit dem Jim Crow-System, im War on Drugs die Quelle der Diskriminierung in Richtung Exekutive (Polizei, Staatsanwaltschaft) und Judikative (Richter) verschoben. Der Rechtswissenschaftler Randall Kennedy argumentiert, während der Sklaverei und der legalen Rassentrennung seien Afroamerikaner einem ungleichen Schutz durch das Recht (unequal protection of the law) ausgesetzt gewesen (Kennedy 29), wohingegen Afroamerikaner in Zeiten des

on Drugs befeuert (Wacquant, »Deadly Symbiosis« 96; Alexander, New Jim Crow 101). Ein weiterer Grund für die Gefängnisexpansion ist jedoch der 1968 vom demokratischen Präsidenten Lyndon B. Johnson ausgerufene War on Crime, in dessen Verlauf die Strafmaße für Gewaltverbrechen drastisch verschärft wurden sowie die Möglichkeit der vorzeitigen Haftentlassung auf Bewährung ausgehöhlt wurde (Gottschalk, Caught 166). Während jemand, der wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, früher bei guter Führung die Chance hatte, nach fünfzehn Jahren Haft auf Bewährung entlassen zu werden, sind in den letzten Dekaden Schwerstverbrechen zunehmend mit lebenslanger Haft ohne Möglichkeit auf vorzeitige Haftentlassung bestraft worden (Gottschalk, Caught xvii).

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War on Drugs und der Hyperinhaftierung mit einer ungleichen Vollstreckung des Rechts (unequal enforcement of the law) konfrontiert seien (76).

S oziale , ökonomische und politische A uswirkungen der H yperinhaf tierung sozial schwacher A froamerik aner Entgegen einer landläufigen Annahme haben Studien gezeigt, dass hohe Inhaftierungsraten in Stadtteilen zu mehr Verbrechen und zu weniger Sicherheit führen. Orte, die bezüglich der sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Charakteristika ihrer Einwohner identisch sind, weisen laut der Geografin Ruth Wilson Gilmore bald drastische Unterschiede bezüglich des sozialen Zusammenhalts und der Häufigkeit von Verbrechen auf, wenn ihre jeweiligen Inhaftierungsraten voneinander abweichen (Gilmore 16-17). Aus der Makroperspektive betrachtet bestraft eine Inhaftierung also nicht nur den Gefangenen selbst, sondern trägt auch zur Destabilisierung seines Umfelds bei. Ferner endet die Bestrafung von Gefangenen in den überwiegenden Fällen nicht mit der Haftentlassung. Wer erst einmal wegen einer felony verurteilt wurde – also wegen eines Verbrechens, das ein höheres Strafmaß als ein Jahr Haft nach sich zieht –, sieht sich verschiedenen Diskriminierungen ausgesetzt, unter anderem von staatlicher Seite. Um ein paar Punkte aufzuführen: Es reicht bereits ein Eintrag im Strafregister wegen »kleinster Vergehen«, um jemandes Anspruch auf eine Sozialwohnung nichtig zu machen. Ferner weist der 1988 verabschiedete Anti-Drug Abuse Act Sozialwohnungsverwalter an, Räumungsklage gegen Mieter einzuleiten, die wegen Drogendelikten verurteilt wurden oder im Verdacht stehen, Drogen zu konsumieren, obwohl keine Verurteilung vorliegt. Familien ohne festen Wohnsitz droht nicht nur die Obdachlosigkeit: Das Jugendamt ist autorisiert, Kinder von Eltern zu trennen, die keinen Wohnort nachweisen können und sie in Pflegefamilien unterzubringen (Alexander, The New Jim Crow 145-46). Außerdem stellen die meisten Arbeitgeber wissentlich keine Ex-Gefangenen ein. Studien zeigen, dass ein Eintrag im Strafregister die Jobchancen der Person um bis zu 59 Prozent senkt und sich ihr Gehalt, falls doch eine Einstellung erfolgt, um bis zu 28 Prozent verringert (Thompson 714). Afroamerikaner mit geringer Qualifikation und einem Eintrag im Strafregister haben nahezu keine Chance, nach der Haftentlassung Arbeit zu finden: Nur fünf Prozent werden zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen, verglichen mit 17 Prozent niedrigqualifizierter Weißer mit einem Eintrag im Strafregister (Pager 955-56). Auch resultiert eine felony im Verbot, Berufszulassungen zu erwerben; bereits erworbene Berufszulassungen werden aberkannt (Chin 257). Diejenigen Menschen mit Drogendelikten im Strafregister können auch nicht auf staatliche Hilfen zurückgreifen, um Arbeitslosigkeit oder geringes Gehalt auszugleichen: Der unter Präsident Bill Clinton verabschiedete Personal Responsibility and Work Opportunity Reconciliation Act aus dem Jahr 1996 versieht sie mit einem lebenslangen Verbot, Essensmarken zu beziehen. Gleiches

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gilt für die Sozialhilfe, die dieses Gesetz der bedürftigen Bevölkerung ansonsten insgesamt fünf Jahre lang zubilligt (Thompson 714). Diese ökonomischen Bedingungen, die im Fall von Drogendelinquenten besonders bedrückend sind, erhöhen selbstverständlich die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls in die Kriminalität. Marie Gottschalk bezeichnet diese Praktiken als die gesellschaftliche Verdammung Ex-Gefangener zum »zivilen Tod« (Caught 260). Darüber hinaus ist das Gefängniswesen durch die Gefängnisexpansion zu einem der größten Arbeitgeber des Landes geworden, und mittlerweile profitiert auch die Privatwirtschaft von der Gefängnisexpansion. So sind die Ausgaben für Vollzugsanstalten des Bundes und der Bundesstaaten von sieben Milliarden Dollar im Jahr 1980 auf 57 Milliarden Dollar im Jahr 2000 angewachsen; im selben Zeitraum wurde das Gefängnispersonal um eine Million aufgestockt, sodass das Gefängniswesen Anfang des 21. Jahrhunderts zum drittgrößten Arbeitgeber in den USA geworden war (Wacquant, »Das Rassenstigma« 104). Diskussionen um Strafrechtsreformen, die auf eine Reduktion der Gefangenenzahl abzielen, treffen auf ausgeprägte Lobbyarbeit der Gewerkschaften der Angestellten im Gefängniswesen wie National Correctional Employees Union, die darin die Gefahr des Verlusts von Arbeitsplätzen sehen. Darüber hinaus profitiert die Privatwirtschaft von der Gefängnisexpansion durch das Betreiben privatisierter Gefängnisse, die Produktion von Gütern, die für das Betreiben von Gefängnissen vonnöten sind (Cafeterien, Möbel etc.), sowie die Ausbeutung der Arbeitskraft von Gefangenen, die gleichzeitig den Wegfall von Arbeitsplätzen für die Gesamtbevölkerung mit sich bringt. So lassen namhafte Unternehmen wie Victoria’s Secret und Chevron Güter von Gefangenen produzieren, denen sie nahezu keinen Lohn zahlen und so erhebliche Kosten sparen, die für die Anstellung einer regulären Arbeitskraft fällig geworden wären (Evans und Goldberg). In diesem Zusammenhang ist ein kleiner Exkurs vonnöten: Ein weiteres Erklärungsmuster für die Hyperinhaftierung von Schwarzen wird mit dem Konzept des prison-industrial complex zum Ausdruck gebracht, das Streben nach Profit als ausschlaggebend für die Gefängnisexpansion ansieht. Angela Davis schreibt: Das Konzept prison industrial complex wurde von Aktivisten und Wissenschaftlern eingeführt, um die vorherrschende Ansicht, erhöhte Kriminalität sei die Wurzel der steigenden Gefangenenzahl, zu kritisieren. Sie argumentierten stattdessen, der Bau von Gefängnissen und der damit einhergehende Zwang, diese mit menschlichen Körpern zu füllen, seien von rassistischen Ideologien und dem Profitstreben angetrieben worden. (84)

Empirische Sozialwissenschaftler halten das Argument, das Profitmotiv sei der treibende Motor der Gefängnisexpansion gewesen, jedoch für nicht haltbar. Wacquant argumentiert beispielsweise, im Jahr 2002 hätten weniger als 5.000 Gefangene für private Unternehmen gearbeitet; das waren weniger als 0,25 Prozent der gesamten Gefängnisbevölkerung (»Prisoner Reentry« 609). Außerdem wurden laut Wacquant im Jahr 2000 nur sechs Prozent der Gefängnisse von privater

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Hand betrieben; angesichts der massiven Privatisierungswelle, die die USA im späten 20. Jahrhundert erlebt habe, sei es erstaunlich, dass das Gefängniswesen so überwältigend in öffentlicher Hand geblieben sei (»Prisoner Reentry« 610). Auch wenn Profite der Privatwirtschaft nicht ein Motor, sondern ein Nebeneffekt der Gefängnisexpansion waren, stellt sich die Frage, ob es zu den Werten einer liberalen Demokratie passt, dass sie private Unternehmen Kapital aus dem Einsperren von Bürgern schlagen lässt. Darüber hinaus geht eine felony mit einer drastischen Einschränkung der Bürgerrechte einher. Zum einen verlieren felons während der Haft das Wahlrecht.10 Ob jemandem das Wahlrecht nach der Haftentlassung wieder zugesprochen wird, variiert je nach Bundesstaat. In einigen Bundesstaaten darf man sogar nicht einmal wählen, wenn man eine Bewährungsstrafe erhalten hat. Bei den Präsidentschaftswahlen 2012 durften 5,85 Millionen Menschen, das waren 2,5 Prozent der gesamten potenziellen Wähler, infolge einer Verurteilung zu einer felony nicht wählen; darunter waren acht Prozent der potenziellen afroamerikanischen Wähler (Uggen, Shannon und Manza 1-2). Zum anderen zieht eine felony ein lebenslanges Verbot, als Geschworener am Rechtssprechungsprozess teilzunehmen, nach sich.

S tr afrechtsreform oder G efängnisabschaffung Die Frage, wie der afroamerikanischen Hyperinhaftierung sowie der Gefängnisexpansion im Allgemeinen beizukommen sei, beantworten soziale Bewegungen, Wissenschaftler*innen und Politiker*innen mit zwei unterschiedlichen Argumentationslinien: Die einen plädieren für eine Beendigung des War on Drugs und weitere Strafrechtsreformen; die anderen sehen die aktuellen rassischen Disparitäten im Strafjustizsystem als repräsentativ für die Institution Gefängnis an sich an und setzen sich daher für die Gefängnisabschaffung sowie für alternative Arten der Herstellung von Gerechtigkeit ein. Nachdem die politischen Eliten die Gefängnisexpansion lange nicht als Problem wahrgenommen hatten, wird die Notwendigkeit von Strafrechtsreformen seit einigen Jahren zunehmend thematisiert (Sunlight Foundation); auch erkennen mittlerweile einflussreiche Politiker beider Parteien an, dass sozial schwache Afroamerikaner von der Gefängnisexpansion und polizeilicher Überwachung besonders betroffen sind. So haben im Vorwahlkampf zu den Präsidentschaftswahlen 2016 sowohl Hillary Clinton als auch Bernie Sanders, die Kandidaten der Demokratischen Partei, Reformen in ihr jeweiliges Wahlprogramm aufgenommen, die die Gefangenenzahlen senken, Polizeipraktiken verändern und die überproportionale Repräsentation von Afro10 | In der Bundesrepublik verlieren Straftäter, die zu mindestens einem Jahr Haft verurteilt werden, automatisch das passive Wahlrecht für fünf Jahre; das aktive Wahlrecht kann einem Straftäter vom ihn verurteilenden Richter für zwei bis fünf Jahre aberkannt werden (Oelbermann).

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amerikanern unter den Gefangenen reduzieren sollen (»Our Criminal Justice System«; »Bernie Sanders«).11 Selbst ein Kandidat der Republikanischen Partei, Senator Rand Paul, bezeichnete den War on Drugs und die hohen Strafmaße, zu denen er geführt hat, als neues Jim Crow-System (Gottschalk, »Drug War« xix).12 Das sogenannte 3R-Modell – reentry (Wiedereintritt), justice reinvestment (Kosten im Justizsystem sparen und anderweitig investieren), reducing recidivism (Rückfallquote verringern) —, das den Diskurs der politischen Eliten bezüglich der Justizreform bestimmt, verspricht jedoch nicht, die Gefangenenzahl signifikant zu reduzieren (Gottschalk, Caught 259; Cadora). Welche Maßnahmen schlagen Befürworter der Strafrechtsreform als Alternativen zum 3R-Modell vor, um die Gefangenenzahl und die rassischen Disparitäten im Justizsystem zu verringern? Als wichtigste Schritte werden Veränderungen hinsichtlich der Strafzumessung (sentencing reform) genannt, besonders in Hinblick auf Drogendelikte und andere gewaltlose Verstöße. Marie Gottschalk schreibt: Wir müssen die Zahl derer reduzieren, die überhaupt erst ins Gefängnis geschickt werden, und für eine Verringerung der Strafmaße sowie der tatsächlich verbüßten Haft sorgen. Kurzum, wir brauchen eine umfassende Reform der Strafzumessung basierend auf dem Prinzip, dass das Gefängnis in erster Linie für diejenigen vorgesehen sein soll, die eine gravierende Bedrohung der Gesellschaft darstellen. (Caught 259)

Eine Beendigung des War on Drugs würde nicht nur die Diskriminierung von Afroamerikanern im Strafjustizsystem verringern, sondern die Gefangenenzahl insgesamt deutlich reduzieren. Denn 2014 saßen alleine 20 Prozent aller Gefangenen in state prisons und 50 Prozent aller Gefangenen in federal prisons aufgrund (gewaltfreier) Drogendelikte ein (Carson). Auf legislativer Seite wären die Abschaffung der verbindlichen Mindeststrafmaße für Drogendelikte und der 11 | Obwohl Hillary Clinton in den Vorwahlen einen Großteil der afroamerikanischen Wähler auf ihrer Seite hat, werfen prominente afroamerikanische Intellektuelle ihr vor, während der Präsidentschaft von Bill Clinton 1994 für das Crime-Gesetz und 1996 für das Welfare Reform-Gesetz geworben zu haben; die Gesetze hatten katastrophale wirtschaftliche Auswirkungen für die afroamerikanische Unterschicht und haben die Hyperinhaftierung vorangetrieben (Alexander, »Hillary Clinton«). 12 | Obwohl sich einige einflussreiche Politiker der Republikanischen Partei mittlerweile für Strafrechtsreformen und teilweise sogar für Veränderungen der Polizeipraktiken aussprechen, sollte nicht vergessen werden, dass sowohl Donald Trump als auch Ted Cruz, die bei Verfassen dieses Textes die realistischsten Chancen auf die Nominierung zum Präsidenschaftskandidaten der Republikanischen Partei im Jahr 2016 hatten, mit tough on crime-Rhetorik gegen Strafrechtsreformen opponieren und die Polizei in Schutz nehmen, die in der Kontroverse um polizeiliche Tötungen unbewaffneter Afroamerikaner zu Unrecht in die Kritik geraten sei (Wing; »I’m Proud to Stand with Law Enforcement«).

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three strikes-Statute wichtige Schritte in diese Richtung. Zwar hat 2013 der Smarter Sentencing Act die verbindlichen Mindeststrafmaße für bestimmte Drogendelikte halbiert; die neuen Mindeststrafmaße von zwei, fünf und zehn Jahren sind jedoch immer noch höher als in anderen liberalen Demokratien. Doch wie andere Gesetze, die das verbindliche Mindeststrafmaße bei Drogendelikten reduzierten, wirkte auch der Smarter Sentencing Act nicht rückwirkend, wodurch er sich nicht positiv für Gefangene auswirkte, die bereits eine Mindeststrafe verbüßten. Es ist jedoch wichtig, den Fokus nicht nur auf die Vermeidung von Neuinhaftierungen wegen Drogendelikten zu legen, sondern auch Initiativen anzuschieben, die die drakonischen Strafen bereits inhaftierter Drogendelinquenten mildern können. Rechtlich ist dies möglich: Nach der Verringerung des Mindeststrafmaßes für Crack 2010 konnten wegen Crack-Delikten Inhaftierte ihren Fall erneut vor Gericht bringen; es oblag dann den Richtern zu urteilen, ob die Strafe reduziert werden sollte (Gottschalk, Caught 263-65). Wie eingangs diskutiert, ist der War on Drugs aber nicht allein auf tough on crime-Gesetze zurückzuführen. Vielmehr begannen Polizei, Staatsanwälte, Richter und Bewährungskommissionen in den 1970er Jahren, ihren beachtlichen Handlungsspielraum repressiver zu nutzen als zuvor (Gottschalk, »Drug War«). Staatsanwälte haben die Macht, für weniger Gefängniseinweisungen und weniger rassische Disparitäten beim Strafmaß zu sorgen. Sie könnten beispielsweise bei niedrigschwelligen Vergehen wie Drogenbesitz in eigenbedarfsüblichen Mengen entscheiden, keine Anklage zu erheben. Der Bezirksstaatsanwalt von Milwaukee im Bundesstaat Wisconsin entschloss sich etwa dazu, solche Drogendelinquenten, die zum ersten Mal straffällig geworden waren, nicht anzuklagen (Gottschalk, Caught 267). Da Staatsanwälte und Richter in den USA vom Volk gewählt werden, haben Bürger, denen die Diskriminierung von Afroamerikanern durch das Justizsystem zu weit geht, die Möglichkeit, von Kandidaten strafmildernde Praktiken einzufordern. Wie unten ausgeführt wird, haben law-and-order-Einstellungen in der amerikanischen Öffentlichkeit seit den 1990er Jahren abgenommen; gut organisierte soziale Bewegungen können in der Bevölkerung Zustimmung für progressive Kandidaten für staatsanwaltliche und richterliche Ämter schaffen. So kam vor einigen Jahren David Soares mit dem Rückhalt verschiedener sozialer Bewegungen als Bezirksstaatsanwalt von Albany im Bundesstaat New York ins Amt, dessen Wahl einen Wandel in Richtung weniger Punitivität im Bundesstaat einleitete, in dessen Folge 2009 die »Rockefeller-Drogengesetze« entscheidend abgemildert wurden (Gottschalk, Caught 264). Durch welche Reformen kann nun die Praktik der Hyperüberwachung des afroamerikanischen Ghettos eingedämmt werden, die ein zentraler Grund für die überproportionale Repräsentation von Afroamerikanern in Gefängnissen ist? Laut dem Kriminologen Joseph Margulies basierte die Polizeiarbeit jahrzehntelang auf dem Prinzip, »kleine Räder« im Getriebe der Drogenwirtschaft zu überwachen und zu verhaften, um über sie an die Drogenbosse zu gelangen. So erfolgten im Jahr 2005 vier von fünf Verhaftungen für Drogenbesitz und nur eine von

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fünf für Drogenhandel (Alexander, The New Jim Crow 60). Außerdem machten in den 1990er Jahren Verhaftungen für den Besitz von Marihuana 80 Prozent des Anstiegs von Verhaftungen für Drogendelikte aus (Alexander, The New Jim Crow 60). Margulies hält diese Art der Polizeiarbeit für gescheitert; er empfiehlt den Polizeibehörden damit zu beginnen, niederschwellige Delikte wie Drogenbesitz als soziale Probleme statt als Verbrechen anzusehen und sich stattdessen auf die Drogenbosse zu konzentrieren (Margulies). Schließlich plädieren Reformer für ein Ende des »Gefängnisses jenseits des Gefängnisses« (Gottschalk, Caught 260), d.h. der umfangreichen, eingangs geschilderten Einschränkungen der Bürgerrechte, denen aus der Haft entlassene felons ausgesetzt sind. Es wäre weniger wahrscheinlich, dass Ex-Häftlinge rückfällig würden, wenn sie Sozialleistungen erhielten. So hat ein Pilotprojekt im Bundesstaat New York gezeigt, dass die Auslastung der Bundesstaatsgefängnisse um 74 Prozent und der Gefängnisse der Landkreise um 40 Prozent sank, nachdem Menschen mit Eintrag im Strafregister Zugang zu Sozialwohnungen erhalten hatten (Culhane 4).13 Zwar ist die Strafrechtsreform in letzter Zeit zunehmend zum überparteilichen Thema geworden; allerdings kritisieren konservative Politiker und Gruppen wie Right on Crime die Gefängnisexpansion in erster Linie als Belastung der Staatskasse (Gottschalk, »Drug War«). Jedoch besteht, wie Wacquant zeigt, ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Rückzug des Sozialstaats im Zeichen des Neoliberalismus und der Gefängnisexpansion (Punishing the Poor). Um Neuverurteilungen und Verurteilungen zu langen Strafen auf Dauer zu verringern – sozial schwache Afroamerikaner sind diesbezüglich, wie aufgezeigt wurde, besonders gefährdet – bedarf es umfangreicher sozialer Investitionen in das Bildungssystem, einer besseren medizinischen Versorgung (besonders von Menschen mit psychischen Störungen, die aktuell häufiger in Gefängnissen landen als in Psychiatrien), eines Aufstockens kostenloser Drogentherapieplätzen und eines Wiederausbaus sozialstaatlicher Leistungen (Gottschalk, Caught 260). Einigen gehen die oben genannten Reformen des Strafrechts und des Gefängniswesens jedoch nicht weit genug; die sogenannte prison abolition-Bewegung setzt sich für die Abschaffung der Institution Gefängnis an sich ein. Die Abolitionisten, die in ihrer Namenswahl bewusst an die soziale Bewegung zur 13 | Marie Gottschalk weist darauf hin, dass Reformbemühungen, die sich auf Drogendelikte und andere gewaltfreie Verbrechen konzentrieren, alleine nicht ausreichen, um einen deutlichen Rückgang der Gefangenenzahlen zu erzielen. Verurteilungen für Gewaltund Sexualverbrechen zu »grausam langen Haftstrafen« (Caught 258) ohne Möglichkeit auf vorzeitige Haftentlassung sind neben dem War on Drugs hauptverantwortlich für die Gefängnisexpansion. Gottschalk macht sich daher für eine Abschaffung der sich in den letzten Jahren häufenden Praktik der Verurteilung zu lebenslanger Haft ohne Möglichkeit auf vorzeitige Haftentlassung stark sowie für eine Stärkung der Prüfung vorzeitiger Haftentlassung (parole) im Allgemeinen (Caught 262).

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Abschaffung der Sklaverei aus dem 19. Jahrhundert anknüpfen, wollen das Gefängniswesen abschaffen, da es inhärent rassistisch sei; sie kritisieren damit die reformistische Position, die annimmt, durch Reformen könne das Gefängniswesen gerecht gestaltet werden (»The Critical« 62). Darüber hinaus gibt die abolitionistische Position zu bedenken, dass Reformen oft zu einer Stärkung der Institution Gefängnis beigetragen hätten. Während die Reformer das Gefängnis als notwendige Institution einer Gesellschaft ansehen oder zumindest dessen Existenz realpolitisch hinnehmen, wollen Abolitionisten laut eigener Aussage Gerechtigkeit durch andere Wege als das Einsperren herstellen. Der Ruf nach einer Welt ohne Gefängnis mag absurd klingen. Michelle Alexander gibt aber zu bedenken: Vor ein paar Jahrzehnten dominierte die Idee, dass unsere Gesellschaft ohne Gefängnisse eine bessere wäre – und dass das Ende des Gefängnisses mehr oder weniger unausweichlich sei – nicht nur den wissenschaftlichen Diskurs in der Kriminologie, sondern inspirierte auch eine nationale Kampagne, die ein Moratorium für den Bau von Gefängnissen forderte. (Alexander, The New Jim Crow 8)

Abolitionisten sind der Ansicht, die Gefängnisexpansion sei als Ersatzlösung für wirtschaftliche, soziale und politische Probleme eingesetzt worden (Gilmore 26). Sie sind nicht daran interessiert, Gefängnisse durch eine andere strafende Institution (z.B. Hausarrest mit Fußfessel) zu ersetzen (Davis 107), sondern an Veränderungen der sozialen, ökonomischen und politischen Konstellationen, die zur Gefängnisexpansion und zur Diskriminierung von Afroamerikanern im Justizsystem geführt haben, gepaart mit einer »Ent-kerkerung« (decarceration) der Gesellschaft, an deren Ende die Gefängnisabschaffung steht. Angela Davis beschreibt, wie abolitionistische Alternativen zur Gefängnisexpansion konkret aussehen könnten: Ent-kerkerung als unser übergeordnetes Ziel aufzufassen, bedeutet, sich ein Kontinuum an Alternativen zum Einsperren vorzustellen – eine Demilitarisierung der Schulen, eine Revitalisierung der Bildung auf sämtlichen Bildungsstufen, ein Gesundheitssystem, das kostenlose körperliche und mentale medizinische Versorgung für alle bietet, und ein Justizsystem, das auf Wiedergutmachung und Versöhnung basiert und nicht auf Vergeltung und Rache. (107, Hervorh. d. Verf.)

Durch den Fokus auf strukturelle Veränderungen – Ausbau der medizinischen Versorgung; Abzug der polizeilichen Überwachung von Schulen im afroamerikanischen Ghetto; Investitionen in das Bildungssystem – wird deutlich, dass Abolitionisten auch die wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten beenden wollen, als deren Symptom ihnen die Gefängnisexpansion gilt. Das Alleinstellungsmerkmal der abolitionistischen Sichtweise ist sicherlich der Vorschlag, das Konzept »Verbrechen« durch das Konzept »Schaden anderer«

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zu ersetzen und damit einhergehend »Strafjustiz« durch »restorative Justiz« zu ersetzen. Abolitionisten halten es nur für nötig, durch Dritte Gerechtigkeit herzustellen, wenn jemand einer anderen Person einen Schaden zugefügt hat; für Gerechtigkeit wird jedoch nicht durch Vergeltung gesorgt, auf der laut den Abolitionisten das amerikanische Justizsystem basiert, sondern durch Wiedergutmachung. Der Kriminologe Herman Bianchi schreibt: »[Der Gesetzesbrecher] ist somit nicht mehr ein übel gesinnter Mensch, sondern lediglich ein Schuldner, eine verpflichtete Person, deren menschliche Pflicht es ist, Verantwortung für ihre Taten zu übernehmen und die Pflicht der Wiedergutmachung zu erfüllen« (117). Als Modell einer alternativen Gerechtigkeitsfindung führen die Abolitionisten den »Kreis« an, wie er von den indigenen Yukon in Kanada praktiziert wird. Hier kommen der Geschädigte, der Verantwortliche, Vertreter der Familien und Vertreter der community zusammen und überlegen, wie es zur Schädigung kommen konnte. Man einigt sich darauf, wie der Verantwortliche den Schaden wiedergutmachen kann; sowohl der Geschädigte als auch der Verantwortliche werden im Prozess der Verarbeitung bzw. Wiedergutmachung sozial aufgefangen (»The Critical Resistance« 51). Es ist jedoch kritisch zu hinterfragen, wie wahrscheinlich sich jemand, der einen anderen Menschen umgebracht hat, freiwillig mit dessen Familie beratschlagt, um zu überlegen, wie er den Schaden wiedergutmachen kann; ob es der Familie des Ermordeten zuzumuten ist, mit dem Mörder des Angehörigen sprechen zu müssen; und, ob sich dieses Modell in einer modernen Massengesellschaft wie den USA umsetzen ließe. Die abolitionistische Bewegung erscheint in ihrer konkret verfolgten Politik weniger weltfremd als in ihren Idealen. So hatte die Gruppe Critical Resistance, die von Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen und ehemaligen Häftlingen 1997 in Kalifornien gegründet wurde, maßgeblichen Anteil daran, dass im Frühjahr 2016 der Neubau eines lokalen Gefängnisses in San Francisco verhindert wurde. Mitte 2013 hatte der Sheriff des Landkreises San Francisco den Bau eines weiteren lokalen Gefängnisses angekündigt, der 290 Millionen US-Dollar kosten sollte. Critical Resistance und andere Gruppen mobilisierten in kurzer Zeit eine Masse, die mit dem Slogan »In Menschen investieren statt in Polizei und Gefängnisse« bei Demonstrationen und sit-ins gegen das geplante Gefängnis ins Feld zog. Man erreichte sogar zwei Anhörungen beim Stadtrat. Im März 2016 zog das Sheriff’s Department die Pläne für den Gefängnisbau zurück und kündigte an, sich mit dem Gesundheitsamt, lokalen Anbietern psychiatrischer Versorgung und Vertretern der Zivilgesellschaft zu treffen, um über Alternativen zur Inhaftierung nachzudenken. Die abolitionistischen Positionen mögen unter den amerikanischen Bürgern nicht mehrheitsfähig sein; für Strafrechtsreformen scheint die amerikanische Bevölkerung aktuell jedoch offen. Studien haben gezeigt, dass seit Mitte der 90er Jahre der Wille der Bevölkerung zur Bestrafung (public punitiveness) stark abgenommen hat. Der durchschnittliche amerikanische Bürger sieht Gerichte nicht mehr als zu sanft an, hat weniger Angst vor Verbrechen und hält Verbrechens-

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bekämpfung für weniger zentral als vor 20 Jahren (Gottschalk, Caught 274). Das gesellschaftliche Klima scheint also bereit zu sein für fundamentale Veränderungen in Bezug auf den War on Drugs und die systematische Benachteiligung von Afroamerikanern im Justizsystem. Nicht zuletzt erscheint eine Abmilderung des War on Drugs wahrscheinlich, weil seit einigen Jahren eine Heroinepidemie unter weißen Jugendlichen der Mittel- und Oberschicht grassiert. Zuletzt kursierten in den Medien verstärkt Schlagzeilen wie diese: »In Heroin Crisis, White Parents Seek Gentler War on Drugs« (Seelye). Die afroamerikanische community äußerte ihren Unmut darüber, dass Appelle weißer Eltern, man müsse Drogenabhängigkeit als Krankheit anstatt als Verbrechen auffassen und bessere Therapiemöglichkeiten schaffen, schnell das Gehör von Politikern gefunden hätten, die ungerührt geblieben wären, solange Verhaftungen und Verurteilungen aufgrund von Drogendelikten vor allem Afroamerikaner betroffen hätten (Savali). Es bleibt zu hoffen, dass sich ein abgemilderter War on Drugs für alle ethnischen Gruppen positiv auswirkt und insbesondere auch die eklatanten bisherigen Benachteiligungen von Afroamerikanern im Justizsystem abzufedern vermag.

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Black Leadership: Prophetische Stimmen des Widerstands Christa Buschendorf

I believe the struggle is eternal. Someone else carries on. – Ella Baker

Mein Beitrag zu der in diesem Band gestellten Frage nach der Kontinuität bzw. nach den Brüchen zwischen der in den drei Demonstrationsmärschen von Selma kulminierenden Bürgerrechtsbewegung vor fünfzig Jahren und den Protestgruppen und -formen, die wir mit den im August 2014 ausgebrochenen Unruhen in Ferguson assoziieren, konzentriert sich auf die unterschiedlichen Organisationsformen und das Verhältnis der führenden Aktivist*innen zur Basis. Welche Unterschiede gibt es in den Organisationsstrukturen? Wie standen und stehen die Aktivist*innen zum männlichen charismatischen Modell von Führerschaft? Wie wirkt sich das seit Selma veränderte Geschlechterverhältnis auf die Gruppendynamik des gegenwärtigen Aktivismus aus? Welche persönlichen und historischen Verbindungen existieren zwischen der Bürgerrechtsbewegung von damals und dem hashtag-Aktivismus von heute? Knüpfen die heutigen Aktivist*innen an die berühmten Gestalten der Bürgerrechtsbewegung an? Ist das Vermächtnis der Bürgerrechtsbewegung lebendig geblieben, sodass es den neuen Aktivist*innen noch als Orientierung dient oder gar eine die diversen Gruppen einigende Wirkung hat? Kurzum, wie steht es um black leadership – damals und heute? Mit dem zweiten Teil des Aufsatztitels – »Prophetische Stimmen des Widerstands« – spiele ich auf eine zentrale Tradition des radikalen afroamerikanischen politischen Kampfes an, die die Bürgerrechtsbewegung stark geprägt hat, deren Ursprung aber viel weiter zurückreicht. Das Wort »prophetisch« bezieht sich in diesem Kontext nicht auf die Kunst, die Zukunft vorherzusagen, sondern vielmehr auf die den Propheten gemeinhin zugeschriebene Tugend der Wahrhaftigkeit, des Aussprechens unbequemer Wahrheiten, des Kritikübens an den herrschenden Verhältnissen – ohne Rücksicht auf Leib und Leben. Prophetisch in diesem Sinne ist denn auch eine Integrität, die sich durch die Herrschenden nicht korrumpieren lässt, sich weder ihren Drohungen noch ihren Bestechungsversu-

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chen unterwirft. In der afroamerikanischen Geschichte ist diese Tradition eng verbunden mit den Widerstandskämpfern zur Zeit der Sklaverei. Sie setzt sich fort, als die politische Elite des amerikanischen Südens zunächst durch entsprechende Gesetzgebung (die sogenannten Jim Crow-Gesetze), dann aber auch durch das Schüren oder Dulden der sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts ausbreitenden Lynchjustiz dafür sorgte, dass dem unmittelbar nach der Emanzipation einsetzenden sozialen Aufstieg der schwarzen Bevölkerung ein Ende gesetzt wurde. Die in der schwarzen prophetischen Tradition stehenden Widerstandskämpfer zeichnen sich ferner durch ihren unermüdlichen Einsatz für die Armen, sozial Schwachen und Unterdrückten aus. Ihr Handeln basiert auf einem WirGefühl, wie der afroamerikanische Intellektuelle und Aktivist Cornel West es nennt (2), d.h. sie stellen sich konsequent in den Dienst der Gemeinschaft, stets bereit, ihr eigenes Wohl zugunsten anderer zu opfern. Mit West, der sich der Tradition der radikal-kritischen, prophetischen Stimmen stark verpflichtet fühlt, habe ich sechs Gespräche über diese schwarze Tradition geführt, die unter dem Titel Black Prophetic Fire im Herbst 2014 publiziert wurden. Jedes Gespräch ist einer historischen prophetischen Stimme gewidmet; es handelt sich neben drei Repräsentanten der Bürgerrechtsbewegung – Martin Luther King, Jr., Ella Baker und Malcolm X – um zwei Vertreter des 19. Jahrhunderts, Frederick Douglass, der für seine wortgewaltigen Reden berühmt gewordene ehemalige Sklave und Kämpfer gegen die Sklaverei, und Ida B. Wells, die als Journalistin und Aktivistin unerschrocken gegen den Terror der Lynchmorde kämpfte, sowie um den bedeutendsten afroamerikanischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, W.E.B. Du Bois. Ebenso wie der vorliegende Band stellt auch West wiederholt die Frage nach der Beziehung zwischen diesen herausragenden Beispielen der prophetischen Tradition sowie der Organisationen und Bewegungen, denen sie angehörten, und der politischen Praxis der zeitgenössischen Aktivist*innen, die freilich im Zeitraum der Interviews (2009-2013) vor allem in der Occupy Wall Street-Bewegung in Erscheinung traten. Eine der Intentionen von Black Prophetic Fire ist es, weibliche Figuren der Tradition zur Geltung zu bringen, die selbst in ihrer amerikanischen Heimat einer breiten Öffentlichkeit weitgehend unbekannt sind. Das liegt vor allem an der ihnen in sozialen Bewegungen der Vergangenheit herkömmlich zugewiesenen Rolle, die wiederum, wie West betont, ihre Rezeption in Geschichtsbüchern und in der Populärkultur prägt: Male figures are prominent on the basis of their highly visible positions. They often are chosen to represent the movement, usually due to their charismatic qualities. Yet despite the charisma of many women leaders, it is difficult for them to be chosen to represent the movement. They are often confined to untiring efforts in organizing the movement. As a consequence, even when women give speeches, even when they contribute to the political thinking of movements, their words are not taken as seriously as they ought to be. (West 3)

Black Leadership: Prophetische Stimmen des Widerstands

Das gilt in besonderem Maße für Ella Baker (1903-1986), die in mehreren Organisationen der Bürgerrechtsbewegung über viele Jahre in wichtigen Positionen tätig war und dennoch nicht auch nur annähernd so bekannt ist wie die männlichen Ikonen Martin Luther King und Malcolm X. Das Beispiel Bakers ist darüber hinaus besonders geeignet, den verbreiteten Eindruck zu korrigieren, die Bürgerrechtsbewegung sei, wie der Singular suggeriert, homogen gewesen. Das Gegenteil ist der Fall. Es wurden in ihr jenseits der Frage nach der Legitimität von Gewalt leidenschaftliche Kontroversen um das politische Programm und um Strategien ausgefochten (Hedin 10). Baker stand häufig im Zentrum dieser Auseinandersetzungen. Ferner bezeugt Ella Bakers politische Praxis auf überzeugende Weise, dass Führergestalten und Bewegungen in wechselseitiger Abhängigkeit stehen: There is no Frederick Douglass without the Abolitionist movement. There is no W.E.B. Du Bois without the Pan-Africanist, international workers’, and Black freedom movements. There is no Martin Luther King Jr. without the anti-imperialist, workers’ and civil rights movements. There is no Ella Baker without the anti-US-apartheid and Puerto Rican independence movements. There is no Malcolm X without the Black Nationalist and human rights movements. And there is no Ida B. Wells without the anti-US-terrorist and Black women’s movements. (West 2-3)

Baker war eine Aktivistin, die sich der Bedeutung der Gruppe stets bewusst war. Sie wandte sich ausdrücklich gegen die amerikanische Ideologie des self-made man bzw. der self-made woman und war davon überzeugt, dass sich unsere Identität allererst durch Gruppen formt, seien es Familienverbund, lokale Vereine und Nachbarschaftsgruppen oder politische Organisationen (Ransby 14). Ella Bakers frühe Sozialisation war stark geprägt durch ihre tief in der missionarischen Frauenbewegung der schwarzen Baptisten verwurzelte Mutter Anna Ross Baker und das durch sie vermittelte Bild der selbstbewussten und aktiven, religiösen, aber gleichzeitig gut ausgebildeten Frau, die sich in den Dienst der Bedürftigen in der Gemeinde stellt. Die Charakterisierung dieses Frauenideals durch die Historikerin Evelyn Brooks Higginbotham ist ein Porträt der Mutter, dessen Einfluss auf die Tochter nicht zu übersehen ist: Within a female-centered context, they accentuated the image of woman as saving force, rather than woman as victim. They rejected a model of womanhood that was fragile and passive, just as they deplored a type preoccupied with fashion, gossip, or self-indulgence. They argued that women held the key to social transformation. (Higginbotham 121)

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E ll a B akers R olle in der B ürgerrechtsbe wegung I never worked for an organization but for a cause. – Ella Baker

Ella Bakers Bedeutung für die Bürgerrechtsbewegung bemisst sich nicht an öffentlicher Sichtbarkeit, sondern basiert auf ihrem sowohl praktischen als auch theoretischen Wirken, das die innere Verfasstheit der Bewegung beeinflusst hat, sie gestärkt und gefördert hat und zwar – und das ist entscheidend – indem Baker stets versuchte, die Gruppe selbst und nicht deren Anführer zu stärken. Die jeweilige Gruppe, muss man hinzufügen, denn die Liste der Organisationen und Bewegungen, denen sie in ihrem langen Aktivistinnenleben zwischen 1930 und 1980 angehörte, ist lang; sie beläuft sich auf über dreißig, und darunter sind auch die bedeutendsten der Bürgerrechtsbewegung. Als einzige aus der Riege der Aktiven hatte sie zentrale Posten in den drei wichtigsten Organisationen der Bürgerrechtsbewegung inne: NAACP (National Association for the Advancement of Colored People), SCLC (Southern Christian Leadership Conference) und SNCC (Student Nonviolent Coordinating Committee). Aber sie engagierte sich bereits in den 1930er Jahren u.a. in der American League against War and Fascism und in der National Urban League, und sie setzte sich in den siebziger Jahren z.B. für die Unabhängigkeitsbewegung Puerto Ricos ein und gehörte dem Angela Davis Defense Committee an. Der Anfang des 20. Jahrhunderts von W.E.B. Du Bois mitbegründeten und noch heute existierenden NAACP gehörte Baker in den 1940er und 1950er Jahren an; sie hatte verschiedene Ämter inne und arbeitete zum Beispiel im New Yorker Präsidium als Koordinatorin aller Regionalgruppen an der Seite des langjährigen NAACP-Präsidenten Walter White. Die SCLC wurde 1957 gegründet; Martin Luther King war der erste Präsident und Ella Baker die erste und für einige Zeit einzige Mitarbeiterin. Erstaunlich ist nun freilich, dass sie 1960 auch eine wichtige Rolle im Gründungsprozess des SNCC spielte und in den 1960er Jahren als erfahrene Organisatorin und Mentorin für diesen radikalen Flügel der Bürgerrechtsbewegung tätig war. Was bewog die 58-jährige Baker, den jungen Student*innen, die sich an den sit in-Protesten in Greensboro, North Carolina, beteiligt hatten, dabei zu helfen, eine neue Organisation ins Leben zu rufen? Baker war der Auffassung, dass Organisationen nicht zum Selbstzweck werden dürften, und man den Mut haben müsse, sie aufzugeben oder zu verlassen, wenn es ihnen an Lebendigkeit und Kreativität gebrechen sollte oder wenn sie aus anderen Gründen dem übergeordneten Ziel der Bewegung nicht mehr dienen konnten. Das Momentum der Protestform der sit ins und deren Potenzial zur Schaffung einer basisdemokratischen Form von Führerschaft schien Baker geeignet, die Teilnehmer an diesen Aktionen zu einer »new, more militant, yet democratic political force« (Ransby 239) zusammenzubringen. Dass sie zu diesem Zeitpunkt ihre Hoffnung auf eine allererst zu organisierende Gruppe relativ

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unerfahrener Jugendlicher setzte, war ihrer eigenen langjährigen Erfahrung als Aktivistin geschuldet. In den 1940er Jahren hatte sie für die damals beständig wachsende und zu nationaler Bedeutung aufgestiegene NAACP »Feldarbeit« geleistet, d.h. sie unterstützte die regionalen Büros der Gesellschaft im Süden, half den lokalen Organisatoren bei der Rekrutierung neuer Mitglieder oder bei der Organisation individueller Aktionen. 1943 wurde sie zuständig für die Koordination zwischen der nationalen Geschäftsführung in New York und allen regionalen Büros und war damit zu dem weiblichen Mitglied mit dem höchsten administrativen Posten aufgestiegen (Ransby 137). Sie nutzte diese einflussreiche Position, um gegen die stark hierarchischen und bürokratischen Strukturen der NAACP anzukämpfen und die Eigenverantwortlichkeit und Autonomie der regionalen Organisationen und ihrer Leiter zu fördern. Sie war der festen Überzeugung, dass die Stärke einer dem sozialen Wandel gewidmeten Organisation nicht etwa von der Eloquenz oder Expertise der Führungspersönlichkeiten abhing, sondern vielmehr dem unermüdlichen Engagement und Einsatz der Mitglieder an der Basis zu verdanken war (Ransby 139). Sie rief daher ein sehr erfolgreiches Trainingsprogramm ins Leben, eine Reihe von Konferenzen für regionale Delegierte, auf denen grundlegende Techniken und Strategien des politischen Kampfes vermittelt wurden. An einer dieser Konferenzen, die im März 1945 in Atlanta stattfand, nahm übrigens auch Rosa Parks als junge NAACP-Aktivistin teil. Parks, die zehn Jahre später mit der berühmt gewordenen Weigerung, ihren Sitzplatz einer weißen Person zu überlassen, den Busboykott in Montgomery auslöste, sprach im Rückblick von dem tiefgreifenden Einfluss, den Ella Baker damals auf sie ausgeübt habe (Ransby 142). Doch während Baker mit ihren basisdemokratischen Überzeugungen ein Vorbild für zahlreiche junge Aktivist*innen wurde, stieß sie mit ihren Versuchen, die hierarchischen Strukturen der NAACP abzubauen, sowie mit ihrer expliziten Kritik an der Organisation und ihrem Präsidenten, insbesondere bei letzterem zunehmend auf Widerstand. Baker trat 1946 zurück. Das war freilich nicht das Ende ihrer Aktivitäten in der NAACP. 1952 wurde sie als erste Frau zur Präsidentin des großen New Yorker Büros der NAACP gewählt. In dieser Position konnte sie – teilweise gegen die für Geduld und Mäßigung plädierende nationale Führung der NAACP – ihre basisdemokratischen Prinzipien in der Praxis des politischen Kampfes durchsetzen. Zum Beispiel gehörte sie zu den Initiatoren der Bewegung Parents in Action against Educational Discrimination, die durch Elternproteste dem Urteil Brown v. Board of Education des Obersten Gerichthofes (1954) gegenüber der in Passivität verharrenden New Yorker Stadtverwaltung Geltung verleihen sollte. Es gelang ihr, Hunderte von Eltern zu mobilisieren, wobei sie bezeichnenderweise eine Allianz zwischen der afroamerikanischen und puerto-ricanischen Bevölkerung zustande brachte. Auf einer Protestkundgebung erwies sich Baker in der direkten Konfrontation mit dem New Yorker Bürgermeister als eine ebenso eloquente wie radikale Anführerin der Bewegung (Ransby 154). Auch in dieser Kampagne werden die für Bakers grassroot-Aktivismus typischen Prinzipien

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deutlich: Sie behielt sowohl die längerfristigen Ziele der Bewegung als auch die aus ihrer Sicht zu ihrer Erreichung notwendigen Demokratisierungsprozesse im Auge. Im Kampf gegen die Rassentrennung in den New Yorker Schulen stand für sie in erster Linie daher die Verbesserung der Qualität der Schulen und die Mitbestimmung der betroffenen Eltern und Gemeinden im Mittelpunkt (Ransby 155). In ihren Bemühungen um die langfristigen Ziele der Bewegung richtete Baker immer wieder ihre Aufmerksamkeit auf Proteste an der Basis. Aus diesem Grund war der Montgomery bus boycott für sie ein Ereignis von besonderer Bedeutung: »unpredicted, where thousands of individuals, just black ordinary people, subjected themselves to inconveniences that were certainly beyond the thinking of most folk« (zit. in Ransby 162). Während sie noch in New York für eine Verbesserung der Schulbildung und gegen die auch damals allgegenwärtige Polizeigewalt kämpfte, baute sie 1956 zusammen mit zwei weiteren Bürgerrechtsaktivisten, dem jüdischen Rechtsanwalt Stanley David Levison und dem afroamerikanischen Quaker Bayard Rustin, die Organisation In Friendship auf, die im wesentlichen finanzielle Mittel für in den Südstaaten wegen ihres bürgerrechtlichen Engagements in Schwierigkeiten geratenen Aktivisten einwerben sollte. Durch das ausgedehnte Netzwerk, über das Baker aufgrund ihrer Mitarbeit in zahlreichen Projekten verfügte, holte sie einige Prominente, wie den Gewerkschaftsführer A. Philip Randolph und den Vorsitzenden der Socialist Party Norman Thomas, ins Boot. Sie selbst war als geschäftsführende Sekretärin – zunächst ehrenamtlich, dann gegen ein bescheidenes Gehalt – für die gesamte Organisation der Gruppe zuständig, von der Korrespondenz, der Buchhaltung bis zur Koordination der Öffentlichkeitsarbeit. Der Erwähnung wert ist Ella Bakers Tätigkeit für In Friendship aus folgenden Gründen. Zum einen ist die Geschichte der nur drei Jahre existierenden Organisation ein gutes Beispiel dafür, dass innerhalb der Bürgerrechtsbewegung durchaus Machtkämpfe stattfanden, die hier in der Gestalt Randolphs zwischen der etablierten Gewerkschaft und der noch im Auf bau befindlichen Organisation ausgetragen wurden (Ransby 166-67). Zum anderen ist die Organisation In Friendship ein weiteres Beispiel dafür, dass Baker, wann immer es möglich war, ihre politischen Vorstellungen in die Praxis einbrachte. In diesem Fall legte sie Wert darauf, die von der Organisation gesammelten Gelder nicht nur als Hilfsmittel für Bedürftige einzusetzen, sondern lokale Aktivisten durch die Finanzierung politischer Bildungsmaßnahmen zu fördern, »which would boost their confidence as organizers and give them intellectual perspectives and tactical ammunition for the struggles they were engaged in« (Ransby 168). Schließlich ist Bakers Beteiligung an dieser Organisation aber auch eine entscheidende Voraussetzung für ihre Mitarbeit in der von Martin Luther King angeführten SCLC, die nämlich dem Historiker der Organisation, Adam Fairclough, zufolge ihre Existenz der politischen Klugheit dreier radikaler Aktivisten aus dem Norden verdankte: Bayard Rustin, Stanley David Levison und Ella Jo Baker (Fairclough 38). In den Organisationsstrukturen und in der öffentlichen Wirkung der SCLC prallten zwei klassische Führungsmodelle und ihre Repräsentanten direkt aufei-

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nander, und gleichzeitig wurden in der Organisation Konflikte im Hinblick auf die politische Positionierung und auf die Rolle der Geschlechter im politischen Kampf ausgetragen. Ella Bakers politisches Handeln gründete auf der Überzeugung, dass auch Menschen ohne formale Bildung lernen konnten, die Probleme, mit denen sie konfrontiert waren, zu erkennen, ihre Bedürfnisse zu artikulieren und politische Aktionen eigenständig zu organisieren. Eine charismatische Führergestalt wie Martin Luther King stellte ihr zufolge sogar eine potenzielle Gefahr für die Bewegung dar, da sie die Menschen an der Basis verführte, sich mit ihm zu identifizieren, um ihn dann stellvertretend handeln zu lassen und daher passiv zu bleiben. Heldenverehrung, so argumentierte Baker, könnte den Verlust an Selbstvertrauen an der Basis bedeuten. Schon 1947 hatte sie gemahnt: »The Negro must quit looking for a savior, and work to save himself« (zit. in Ransby 189). Bakers Biographin Barbara Ransby stellt dieser Äußerung Bakers einen Ausspruch Kings gegenüber, in dem das charismatische, messianische Modell seines Führungsstils bezeichnenderweise in einem Vergleich mit der kirchlichen Hierarchie von dem auf der Kanzel stehenden Prediger und der in den Kirchenbänken sitzenden Gemeinde zum Ausdruck kommt: »Leadership never ascends from the pew to the pulpit, but […] descends from the pulpit to the pew« (zit. in Ransby 193). So ist es denn auch zu erklären, dass Baker von King etwas spöttisch als »the Great one« sprach und die berühmt gewordene Äußerung tat, »that the movement made Martin, Martin didn’t make the movement« (West 104; 93). Aus der historischen Distanz liegt die Einschätzung nahe, dass gerade die Kombination des Modells der charismatischen Führerfigur mit dem basisdemokratischen Ideal zum Erfolg der Bürgerrechtsbewegung beitrug (West 105-06). Die im Prozess der Formierung von Organisationen involvierten Individuen erleben jedoch in erster Linie den Konflikt zwischen den beiden Führungsmodellen, insbesondere wenn sie sich wie Ella Baker in der unterlegenen Position sehen. So bewährte sie sich ohne Zweifel als geschäftsführende Direktorin der SCLC, war aber von vornherein in dieser Position nur als Vertretung vorgesehen, bis man einen geeigneten Mann finden würde, denn die SCLC hielt als Vereinigung von Geistlichen aus den Südstaaten strikt an einem traditionellen Verständnis von Geschlechterrollen fest. Die Skepsis, die auch King gegenüber Ella Baker zum Ausdruck brachte, als seine Vertrauten Levison und Rustin sie als Mitstreiterin empfahlen, entsprach der in der Bürgerrechtsbewegung vorherrschenden patriarchalischen Grundhaltung. Man denke nur an den berühmten March on Washington for Jobs and Freedom im August 1963. Da gab es zwar einen Programmpunkt, der die Vorstellung mehrerer Bürgerrechtlerinnen, u.a. Rosa Parks, vorsah, aber keine der Frauen sollte eine Rede halten. Eine der Organisatorinnen der Demonstration, Anna Arnold Hedgeman, protestierte in einem Vorbereitungstreffen vergeblich gegen die mangelnde Repräsentation weiblicher Mitglieder der Bewegung und fand deutliche Worte:

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Christa Buschendor f In light of the role of Negro women in the struggle for freedom and especially in light of the extra burden they have carried because of the castration of our Negro men in this culture, it is incredible that no woman should appear as a speaker at the historic March on Washington Meeting at the Lincoln Memorial.« (Zit. in Barber 158)

Die männlichen Organisatoren, u.a. der aus anderen Gründen marginalisierte Hauptorganisator Bayard Rustin (Hirschfelder), führten ins Feld, es sei einfach zu schwierig eine Frau zu finden, ohne damit Konflikte mit anderen Frauen oder Frauengruppen heraufzubeschwören. Diese aus heutiger Sicht wie eine schwache Ausrede anmutende Argumentation impliziert, dass die Männer glaubten, ohnehin nur eine einzige Frau als Rednerin zulassen zu können. Es waren erst die Aktivistinnen der Frauenbewegung, die wenig später die in derartigen Argumenten steckende männliche Herrschaft entlarven und wesentliche Veränderungen im Geschlechterverhältnis herbeiführen sollten. Ella Baker aber hatte die innere Kraft, die Zurücksetzung durch männliche Führungspersönlichkeiten, die sie sowohl auf der nationalen Ebene der NAACP als auch in der SCLC erfuhr, zugunsten der Ziele, für die sie sich einsetzte, zu ertragen. Als streitbare Basisdemokratin brachte sie ihren Ärger und ihre Frustration über die Haltung ihrer Kollegen wiederholt zum Ausdruck, wohl wissend, dass sie an den patriarchalischen (und überdies bürokratischen) Strukturen nichts würde ändern können. Umso verheißungsvoller nahm sich für sie daher die Gruppe junger Aktivist*innen aus, der sie dazu verhalf, sich im SNCC zu organisieren und für die sie von 1961 bis 1966 im Wesentlichen als Beraterin tätig war. Gerade weil sie die von etablierten Organisationen ausgehende Gefahr der politischen Mäßigung oder Stagnation kannte, hoffte sie, den jungen Leuten würde es gelingen, gegenüber allen Versuchen alteingesessener Aktivist*innen, Kontrolle über sie auszuüben, ihre Unabhängigkeit und damit ihre kreative politische Energie zu bewahren. Baker sprach als einzige Frau unter den Hauptrednern auf dem von ihr initiierten und organisierten Gründungstreffen an ihrer alma mater, der Shaw University in Raleigh, North Carolina, im Frühjahr 1960. Sie warnte in ihrer Rede vor dem Modell der charismatischen Führerschaft und den »frustrations and the disillusionment that come when the prophetic leader turns out to have heavy feet of clay« (zit in. Ransby 245) und pries stattdessen die gruppenzentrierte Organisationsstruktur, von der sie hoffte, dass die jungen sit in-Aktivist*innen sie von ihren Aktionen auf die zu gründende Organisation übertragen würden. Gleichzeitig versuchte sie, deren Horizont dahingehend zu erweitern, dass sie ihnen die Bürgerrechtsbewegung als Teil eines weltweiten Kampfes gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung vorstellte. Jahre später bekräftigte sie außerdem, dass SNCC ein ihm wichtiges basisdemokratisches Prinzip in die Tat umgesetzt hatte: »One of the major emphases of SNCC, from the beginning, was that of working with indigenous people, not working for them, but trying to develop their capacity for leadership.« (Zit. in Ransby 273) Aus ihrem praxisorientierten politischen Handeln abzuleiten, Baker sei untheoretisch gewesen, wäre ein Missverständnis. Ihre Praxis war vielmehr durch-

Black Leadership: Prophetische Stimmen des Widerstands

gängig theoriegeleitet. Sie hatte zum Beispiel in den dreißiger Jahren intensiv Marx gelesen und pflegte sehr genau zu unterscheiden zwischen Marx’ Theorie und deren politischer Umsetzung im Kommunismus sowjetischer Prägung (Ransby 97). Sie war eine Anhängerin des Anarchismus mit seinen Vorstellungen vom kooperativen Wirtschaften. Darin sah sie eine Chance für einen radikalen sozialen Wandel hin zu einem Tag, wie sie 1935 schrieb, »when the soil and all of its resources will be reclaimed by its rightful owners – the working masses of the world« (zit. in Ransby 86). Sie blieb ihren linken Überzeugungen treu; noch 1977 äußerte sie in einem Interview: »The only society that can serve the needs of large masses of poor people is a socialist society« (zit. in Grant 218). Die Radikalität von Ella Bakers politischem Denken basiert auf einer konsequenten Berücksichtigung der Wurzeln des Problems, wie sie es selbst in einer 1969 am Institute for the Black World in Atlanta gehaltenen Rede über »The Black Woman in the Civil Rights Struggle« einprägsam forderte: In order for us as poor and oppressed people to become a part of a society that is meaningful, the system under which we now exist has to be radically changed. This means we are going to have to learn to think in radical terms. I use the term radical in its original meaning—getting down to and understanding the root cause. It means facing a system that does not lend itself to your needs and devising means by which you change that system. (Zit. in Grant 230)

Es ist bezeichnend für Bakers politisches Wirken und dessen Rezeption, dass diese Rede zu ihren Lebzeiten nicht erschien und erstmals 1998 in Joanna Grants Biographie über Baker zugänglich gemacht wurde. War Baker keineswegs eine marginale Figur der Bürgerrechtsbewegung, so wurde sie doch zusammen mit anderen Aktivist*innen in der Geschichtsschreibung marginalisiert (Hirschfelder 57). Zu dieser Marginalisierung hat gewiss auch ihr radikal basisdemokratisches Modell politischen Handelns beigetragen. Ihr Fokus lag stets auf der Ermächtigung anderer, die sie durch Interaktion und direkte Kommunikation zu fördern suchte, und was sie zum Fortschritt der gemeinsamen Sache beitragen konnte, betrieb sie unabhängig von jeglicher Selbstdarstellung. Es ist daher bezeichnend für Ella Baker, dass das, was wir über sie wissen, weitgehend auf Zeitzeugenaussagen und Dokumenten aus dem Nachlass beruht, die ihre Biographinnen zusammengetragen haben. Es existieren nur etwa ein Dutzend Interviews, und nur einige wenige Zeitschriftenartikel stammen aus ihrer Feder. Sie hinterließ auch keine Tagebücher, geschweige denn hatte sie ihre Memoiren verfasst oder eine Autobiographie geschrieben. Als »long-distance freedom fighter« (West 95) hatte sie eine sehr bescheidene, geradezu demütige Auffassung von ihrer Funktion als Aktivistin im politischen Kampf: »If there is any philosophy, it’s that those who have walked a certain path should know some things, should remember some things that they can pass on, that others can use to walk the path a little better« (zit. in Ransby 357). Ella Bakers Philosophie ist eine konsequent gelebte Logik der Praxis, die Barbara

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Ransby prägnant zusammenfasst: »Baker’s theory of social change and political organizing was inscribed in her practice. Her ideas were written in her work: a coherent body of lived text spanning nearly sixty years« (1).

V on O ccupy Wall S treet zu #B lack L ives M at ter There is a fundamental sense in which the age of Occupy is the age of Ella Baker. – Cornel West

Diese 2012 unter dem Einfluss der Occupy Wall Street-Bewegung entstandene Bemerkung Wests (95) bezieht sich vor allem auf den von Baker propagierten grassroots-Aktivismus, der die ohne Führerfiguren operierende, bewusst gruppenzentrierte Occupy Wall Street-Bewegung mit der Bürgerrechtlerin verband. Man könnte nun meinen, die verschiedenen afroamerikanischen Protestgruppen, die sich 2013 als Reaktion auf den Tod Trayvon Martins bildeten und seither gegen Rassismus und Polizeigewalt demonstrieren, hätten mit der Occupy Wall Street-Bewegung nichts gemein, da sich der Protest der »99 Prozent« gegen ökonomische Ungleichheit und nicht gegen Rassismus richtete. Einmal abgesehen davon, dass es – insbesondere in der amerikanischen Diskussion – zwar üblich, nichtsdestoweniger sachlich inadäquat ist, die Debatte über Klasse von der Rassismusdebatte kategorial zu trennen, gab es, wie Keeanga-Yamahtta Taylor in ihrer Studie zur Black Lives Matter-Bewegung betont, einige signifikante, wenn auch nur wenig bekannte Überschneidungen zwischen beiden. Zum einen fusionierte in New York zeitweilig die von Amnesty International und der Kampagne End the Death Penalty organisierte Demonstration gegen die im September 2011 in Georgia trotz nationaler und internationaler Proteste vollzogene Hinrichtung des Afroamerikaners Troy Davis mit dem gerade erst in der Wall Street errichteten Lager der sich als Occupy Wall Street bezeichnenden Aktivisten. »When the Troy Davis activists converged with the Occupy activists, the protesters made an immediate connection between Occupy’s mobilization against inequality and the injustice in the execution of a working-class Black man«. Einige Teilnehmer an dem Protestmarsch für Troy Davis schlossen sich dem Occupy-Lager an. »Thereafter, a popular chant on the Occupy marches was ›We are all Troy Davis‹« (Taylor 145) Zum anderen gab es, wie Taylor erwähnt, innerhalb der Occupy Wall Street-Bewegung lokale Aktivisten, die in ihren Aktionen die Verbindung zwischen Klassen- und Rassenungleichheit thematisierten. So nannten etwa Aktivisten in Atlanta ihr Lager nach Troy Davis, und Occupy Chicago organisierte teach ins zu Racism in Chicago oder Evictions and Foreclosures. Vor allem aber gab es auch Black Occupy-Aktivisten, die ein breiteres Engagement der afroamerikanischen Bevölkerung in der Bewegung anstrebten. Einige der Occupy the Hood-Organisatoren partizipierten

Black Leadership: Prophetische Stimmen des Widerstands

auch an den Protestaktionen gegen die hauptsächlich gegen schwarze und braune Männer gerichteten Stop-and-Frisk-Polizeipraktiken (Taylor 146). Die Occupy-Bewegung hatte aber auch insofern Einfluss auf die nach der Ermordung von Trayvon Martin durch den Wachmann George Zimmerman in Florida im Winter 2012 erstarkende nationale Proteststimmung, als sie Straßendemonstrationen und andere Protestformen relegitimiert hatte (Taylor 148). Während sich in den folgenden Monaten die Occupy-Bewegung – jedenfalls in der Aktionsform der Besetzung öffentlicher Plätze – allmählich abschwächte und nach den Räumungen durch die Staatsgewalt aus dem öffentlichen Raum verschwand, nahmen die Proteste gegen Polizeigewalt gegen Schwarze stetig zu. Mit jedem neuen Opfer, über das (teilweise durch die Intervention sozialer Medien) in den Massenmedien berichtet wurde, galt die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit nicht nur den genauen Umständen, wie die unbewaffneten Individuen durch Schusswaffen der Polizei zu Tode gekommen waren, sondern auch ob und wie die Täter durch die Justiz zur Rechenschaft gezogen wurden. Nur auf den Druck der »Straße« hin wurde Zimmerman überhaupt verhaftet, und sein Freispruch im Sommer 2013 löste bei vielen Wut und Verzweiflung aus – und brachte die Aktivistin Alicia Garza dazu, das berühmt gewordene Hashtag #BlackLivesMatter zu veröffentlichen, das sie dann zusammen mit Patrisse Cullors und Opal Tometi in die Organisation gleichen Namens transformierte. Garza definierte #BlackLivesMatter als »an ideological and political intervention in a world where Black lives are systematically and intentionally targeted for demise. It is an affirmation of Black folks’ contributions to this society, our humanity, and our resilience in the face of deadly oppression« (zit. in Taylor 151).

B lack L ives M at ter und E ll a B aker [T]ransformative change comes when we adopt what Ella Baker calls a group-centered leadership model. – Melina Abdullah

Ebenfalls gegen George Zimmermans Freispruch protestierte mit sit ins vor dem Sitz des Gouverneurs von Florida die Gruppe Dream Defenders, deren Name auf Martin Luther Kings berühmte »I Have a Dream«-Rede anspielt. Immer mehr Aktivisten stellten sich bewusst in die Tradition der Bürgerrechtsbewegung und betonten deren Kontinuität. So auch die im Frühjahr 2013 in Aktion getretene Gruppe Moral Monday, die explizit mit ihren Demonstrationen in Raleigh, North Carolina, an die Protestmärsche in den 1960er Jahren mit dem Slogan »Raleigh is our Selma« anknüpft (Hedin 20). Auch der ehemalige Kommunikationsdirektor von SNCC und spätere Präsident der NAACP Julian Bond bekräftigte den Gedanken der Kontinuität: »The movement is not something that happened way back then […] it’s going on in the current time« (zit. in Hedin 16). Auch wenn die

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Dream Defenders mit King an die zentrale Figur der Bürgerrechtsbewegung erinnern, so knüpfen sie selbst und auch die vielen anderen Gruppen selten an das charismatische Modell, sondern vielmehr an den grassroots-Aktivismus an. Wie Ella Baker sind sie skeptisch gegenüber den etablierten und oftmals von außen kommenden old guard-Führergestalten, wie etwa Al Sharpton oder Jesse Jackson. Der Kommunikationsdirektor von Dream Defenders Steven Pargett kommentiert das wie folgt: »Something happens, somebody gets shot, and then Jesse Jackson or Al Sharpton goes to that city and there’s a one-day march and everybody stops talking about it« (zit. in Hedin 181). Eine nachhaltige Protestbewegung kann jedoch nur entstehen, wenn die jungen Menschen vor Ort, die, wie Pargett selbst, die Bürgerrechtsbewegung nicht aus eigener Erfahrung, sondern nur aus Büchern kennen, in der Bewegung aktiv werden und selbstbestimmt zu ihrer Ausrichtung beitragen (Hedin 181). Galt Ella Bakers Kritik an der alten Garde vornehmlich den verkrusteten Strukturen der etablierten Organisationen und der eher konservativen Haltung ihrer Anführer, so gehen die heutigen Vorwürfe gegenüber den Vertretern der NAACP und den selbsternannten Wortführern der Bewegung wie Al Sharpton teilweise noch weiter, und es tut sich eine Kluft zwischen old guard und new generation auf (Taylor 161). Wie Taylor an Sharptons Reden, u.a. bei der Beerdigung von Mike Brown in Ferguson, illustriert, machte er sich mit seiner auf Stereotype zurückgreifenden Dämonisierung gewaltbereiter Demonstranten zum Sprachrohr der Administration in Ferguson und der Obama-Regierung (Taylor 160). Noch wichtiger ist aber folgender Unterschied zwischen beiden Lagern. Indem Sharpton »police accountability« fordert, thematisiert er zwar ein zentrales Anliegen der Proteste, reduziert sie aber gleichzeitig auf ein bloßes Symptom und vermeidet jegliche Kritik am systemischen Rassismus, wie sie von vielen Vertretern der jungen Generation formuliert wird (Taylor 162; 167-68; 171). Als Beispiel für die Möglichkeit der Überbrückung der Generationenkluft führt Taylor Ella Baker an. Dass ihr als der deutlich älteren und erfahreneren Aktivistin so viel Respekt von den im SNCC organisierten Studenten entgegengebracht wurde, lag Taylor zufolge an dem Respekt, den sie ihrerseits den jungen Aktivist*innen zollte (162-63), sowie an ihrem Verständnis für deren Befürchtungen, von den Älteren manipuliert zu werden: [The] desire for supportive cooperation from adult leaders and the adult community was […] tempered by apprehension that adults might try to »capture« the student movement. The students showed willingness to be met on the basis of equality, but were intolerant of anything that smacked of manipulation or domination. This inclination toward group-centered leadership, rather than toward a leader-centered group pattern of organization, was refreshing indeed to those of the older group who bear the scars of the battle, the frustrations and the disillusionment that come when the prophetic leader turns out to have heavy feet of clay. (Baker zit. in Taylor 163)

Black Leadership: Prophetische Stimmen des Widerstands

Wie Ella Baker geht es auch den heutigen grassroots-Aktivisten darum, die jungen Leute an der Basis selbst zur Partizipation an der Bewegung zu motivieren (Hedin 81). So sind es vor allem die basisdemokratischen Widerstandstechniken, an die die jungen Aktivisten anknüpfen oder die sie weiterentwickeln. Es wird berichtet, dass Stokely Carmichaels berühmter Aufruf »Organize, organize, organize« in den Straßen Fergusons widerhallte (Taylor 158), und die erprobten Aktionsformen der Bürgerrechtsbewegung werden mit expliziten Anspielungen auf die Geschichte aufgegriffen, etwa in den von den Dream Defenders wie von Black Lives Matter durchgeführten freedom rides. Gleichzeitig werden neue Aktionstaktiken entwickelt, wie etwa #BlackBrunch (siehe dazu Hirschfelder in diesem Band). Der größte Unterschied zwischen den Aktionen in den 1960er Jahren und denen im 21. Jahrhundert sind freilich die Kommunikationsmöglichkeiten über das Internet, die die sozialen Medien bieten. Während sich die sozialen Medien offensichtlich im Vorfeld einer geplanten Protestaktion als Informations- und Mobilisierungsinstrument bewähren, werfen sie gleichzeitig die viel diskutierte Frage auf, ob sie die herkömmlichen Organisationsstrukturen im Hinblick auf die Nachhaltigkeit der Bewegung ersetzen können. Befürworter der Kombination von Netzwerkstruktur und grassroots-Aktivismus insistieren darauf, dass es sich bei den zahlreichen disparaten lokalen Einzelaktionen mit all der Vielfalt an Forderungen und Protestformen keineswegs nur um separate punktuelle Ereignisse, sondern um eine übergeordnete Bewegung handelt. »This is not just a moment, this is a movement«, behauptete etwa im November 2015 die afroamerikanische Studentin Danielle Walker, die in Reaktion auf rassistische Übergriffe an der University of Missouri die auf den Universitätscampus begrenzte Gruppe Racism Lives Here ins Leben gerufen hat (»Black Student Revolt«). Der Optimismus hinter dieser Behauptung gründet auf dem Argument, die in Ferguson kulminierende Erfahrung habe einen in der amerikanischen Gesellschaft tief verwurzelten, mit der Präsidentschaft Obamas mitnichten überwundenen Rassismus wieder zum Vorschein gebracht, der viele Afroamerikaner aufgerüttelt habe und zum Handeln bringe. Dieser Optimismus kommt auch in einer Proklamation eines sich als Ferguson Action bezeichnenden Bündnisses verschiedener Aktionsgruppen zum Ausdruck. Das Bündnis vertritt in der Erklärung »About this Movement« den Anspruch, eine Bewegung von und für alle »schwarzen Leben« zu sein und spricht sich eindeutig für gruppenzentrierte Taktiken und Organisationsformen aus: We are made up of both youth AND elders aligned through the possibilities that new tactics and fresh strategies offer our movement. […] We are connected online and in the streets. We are decentralized, but coordinated. Most importantly, we are organized. […] We stand beside each other, not in front of one another. (Zit. in Taylor 172-73)

Was es im Hinblick auf Führerschaft und Organisation bedeuten kann, dezentralisiert und zugleich koordiniert zu operieren, ob und wie die unzähligen lokalen Aktionsbündnisse mit ihren unterschiedlichen Belangen letztlich zu einer kohä-

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renten sozialen Bewegung zusammenwachsen, gehört fraglos zu den zentralen und meist umstrittenen Fragen des neuen Zeitalters des Aktivismus (Taylor 17377). Die Selbstdefinition von Black Lives Matter, der bekanntesten Gruppe, als »a decentralized network aiming to build the leadership and power of black people« (zit. in Taylor 176), lässt jedoch keinen Zweifel daran, dass sie dem basisdemokratischen Ideal verpflichtet ist. Um es mit den Worten der Black Lives Matter-Aktivistin Melina Abdullah auszudrücken: »I think that what we did do when we birthed Black Lives Matter two-and-a-half years ago is recognize that transformative change comes when we adopt what Ella Baker calls a group-centered leadership model« (»We Are Pushing«). Offensichtlich sind Frauen nicht nur nicht marginalisiert in der Black Lives Matter-Bewegung, sie sind vielmehr die treibende Kraft. »If it were not for Black women, there would be no movement«, konstatiert die Aktivistin Brittney Ferrell, die die Gruppe Millenial Activists United vertritt (zit. in Taylor 165). Während die historische Liste der für die Rechte der Schwarzen eintretenden Aktivistinnen lang ist, waren sie vor Ferguson für gewöhnlich weniger sichtbar als die meist dem Modell der charismatischen Führerschaft verpflichteten Männer. Das hat sich nicht zuletzt durch die Relevanz der sozialen Medien grundlegend geändert; in den diversen hashtag-Gruppen treten Frauen meist in der Doppelrolle von Sprecherinnen und Organisatorinnen auf. »Today, though, the face of the Black Lives Matter movement is largely queer and female« (Taylor 165). Die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung häufig marginalisierten Außenseiter sind ins Zentrum des heutigen Aktivismus gerückt, und sie tragen dazu bei, dass die Bewegung nicht auf das Problem der Polizeigewalt reduziert bleibt, sondern das breite Spektrum gesellschaftlicher Ungleichheit und Unterdrückung in den Blick nimmt. Die Black Lives Matter-Aktivistinnen stehen in zweifacher Hinsicht in der Tradition Ella Bakers: Sie sind ihrem partizipatorischen Modell von Führerschaft und Organisation als auch ihrer prophetischen Stimme verpflichtet, die stets couragiert einem radikalen gesellschaftlichen Wandel das Wort redete.

Q uellen - und L iter aturverzeichnis Barber, Lucy G. Marching on Washington: The Forging of an American Political Tradition. Berkeley: U of California P, 2002. Print. »Black Student Revolt Against Racism Ousts 2 Top Officials at University of Missouri«. Democracy Now!. Democracy Now!, 10. Nov. 2015. Web. 17. Apr. 2016. Fairclough, Adam. To Redeem the Soul of America: The Southern Christian Leadership Conference and Martin Luther King, Jr. Athens: U of Georgia P, 1978. Print. Grant, Joanne. Ella Baker: Freedom Bound. New York: Wiley & Sons, 1998. Print. Hedin, Benjamin. In Search of the Movement: The Struggle for Civil Rights Then and Now. San Francisco: City Lights, 2015. Print.

Black Leadership: Prophetische Stimmen des Widerstands

Higginbotham, Evelyn Brooks. Righteous Discontent: The Women’s Movement in the Black Baptist Church, 1880-1920. Cambridge, MA: Harvard UP, 1993. Print. Hirschfelder, Nicole. Oppression as Process: The Case of Bayard Rustin. Heidelberg: Winter, 2014. Print. Ransby, Barbara. Ella Baker & the Black Freedom Movement: A Radical Democratic Vision. Chapel Hill: U of North Carolina P, 2003. Print. Taylor, Keenga-Yamahtta. From #BlackLivesMatter to Black Liberation. Chicago: Haymarket, 2016. Print. »›We Are Pushing Real Revolution‹: Black Lives Matter On Why They Don’t Have Faith In Any Candidate«. Democracy Now!. Democracy Now!, 9. März 2016. Web. 17. Apr. 2016. West, Cornel. Black Prophetic Fire. In Dialogue with and Edited by Christa Buschendorf. Boston: Beacon, 2014. Print.

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#BlackLivesMatter: Protest und Widerstand heute Nicole Hirschfelder

Für viele New Yorker schien der Vormittag des 4. Januar 2015 zunächst wie ein ganz gewöhnlicher Sonntag zu verlaufen. Sie genossen ihr Wochenende in einem der zahlreichen Cafés in Midtown-Manhattan, wo sie sich in entspannter Atmosphäre mit Freunden oder Familienmitgliedern zum Wochenendbrunch trafen. Als jedoch plötzlich mehrere Gruppen von Black Lives Matter-Aktivist*innen1 im Rahmen einer konzertierten Protestaktion namens #BlackBrunch einige dieser Cafés betraten, sollte sich dieser Eindruck schlagartig ändern: Die Aktivist*innen hielten Schilder mit der Aufschrift »BLACK LIVES MATTER« und Fotos von durch Polizeigewalt gestorbenen schwarzen Männern und Frauen in die Höhe und forderten die Gäste lautstark auf, sich »für Gerechtigkeit« zu erheben, während die Namen der Getöteten verlesen wurden (Evans). Wie auf zahlreichen Aufnahmen von den jeweiligen Protestschauplätzen zu sehen ist, sorgte dieses Szenario bei einigen der vorwiegend weißen Gäste für einen Gesichtsausdruck, der Irritation oder Unbehagen, zumindest jedoch Unverständnis vermuten ließ.2 Auch die Reaktionen im Internet auf Medienberichte und Tweets über diese strategisch geplante Protestaktion machten deutlich, dass sich etliche unbeteiligte Menschen ebenfalls fragten, welch tieferen Sinn diese Protestaktion hatte und warum nun ausgerechnet weiße Brunchgäste, die sich obendrein selbst überwiegend als liberal und aufgeschlossen bezeichnen würden, nun zur Zielgrup-

1 | Besonders im Hinblick auf #BlackLivesMatter ist es wichtig, dass es sich bei den in dieser Bewegung Engagierten um Männer, Frauen und Transgender-Personen handelt. Daher wird im Folgenden die dafür derzeit gängige Schreibweise gewählt. 2 | Während in manchen Fällen Restaurants und Cafés für mehrere Stunden zu Protestorten wurden, forderten Verantwortliche anderer Restaurants die Aktivist*innen bereits nach wenigen Minuten dazu auf, zu gehen, um eine in ihren Augen weitere Störung ihrer Gäste zu vermeiden (Evans).

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pe solcher Protestaktionen wurden.3 Warum, so bliebe weiter zu überlegen, richtete sich der Unmut der Aktivist*innen nicht gegen das NYPD (New York Police Department) oder gegen Kommunalpolitiker*innen, welche doch vielleicht die viel plausibleren Adressaten solcher Protestaktionen wären? Und warum fanden selbige an einem Sonntag in gastronomischen Betrieben wie Frühstückscafés und nicht an symbolträchtigeren Orten oder zumindest im öffentlichen Raum statt? Um diese Fragen umfassend beantworten zu können, ist es nötig, die Hintergründe der noch verhältnismäßig jungen sozialen Bewegung #BlackLivesMatter zu erläutern. Das Aufzeigen der Beweggründe von #BlackLivesMatter anhand eines Werkes des Künstlers Alex Nabaum wird es mir darüber hinaus ermöglichen, die oben skizzierte Protestaktion im größeren Kontext des Kampfes für Menschen(und nicht »nur« Bürger-)rechte zu betrachten. Im Folgenden werde ich daher zunächst die wichtigsten Einflussfaktoren und Entwicklungen der Entstehungsgeschichte sowie die Ziele von #BlackLivesMatter darlegen, anschließend auf die häufigsten Missverständnisse im Hinblick auf diese Bewegung eingehen, dann in diesem Zusammenhang auch auf die Bürgerrechtsbewegung Bezug nehmen, um abschließend exemplarisch sowohl Parallelen als auch Unterschiede zwischen dieser Ära und #BlackLivesMatter beziehungsweise der Protestaktion #BlackBrunch aufzuzeigen.

E ntstehung , H intergründe und B edeutung von #B lack L ives M at ter Der Name der Bewegung Black Lives Matter, bzw. #BlackLivesMatter, geht auf ein sogenanntes Hashtag (#)4 zurück, das im Jahr 2013 zum ersten Mal auf dem Mi3 | Der folgende Tweet eines Users, der sich bob_owens nennt, bringt dies stellvertretend zum Ausdruck. Er finde #BlackBrunch »urkomisch«, da die Aktivist*innen städtische Liberale ins Visier nehmen und damit potenzielle Verbündete vergraulen würden. Originalzitat: »I find #BlackBrunch to be hilarious. They’re targeting urban liberals, alienating potential allies« (Owens). 4 | Das Wort Hashtag setzt sich zusammen aus hash, also Raute und tag, was man z.B. mit Markierung oder Etikett übersetzen könnte. In diesem Sinne dient ein Hashtag der Verschlagwortung von kurzen Nachrichten. Der Vorteil daran ist, dass die Suche nach bestimmten Schlüsselbegriffen damit sehr schnell erfolgen kann und sich auf diese Weise Posts zu dem gleichen Schlagwort auch sehr einfach verbinden lassen, also Nachrichten direkt in einen spezifischen Kontext gestellt oder Trends deutlich gemacht werden können. Das heißt, es wird zum Beispiel sichtbar, wie oft nach einem bestimmten Hashtag gesucht wird. Die Schreibweise von Hashtags kann auch mit Unterstrichen erfolgen, wird jedoch der Einfachheit halber meist als ein einziges Wort bzw. so kurz wie möglich geschrieben. Die Schreibweise #BlackLivesMatter hat sich jedoch gegenüber anderen, zum Teil parallel verwendeten Schreibweisen, durchgesetzt.

#BlackLivesMatter: Protest und Widerstand heute

croblogging-Dienst Twitter erstellt wurde. Der eigentliche Ursprung dieses Hashtags aber war ein Facebook-Post der Aktivistin Alicia Garza. Diese verbrachte den Abend des 13. Juli 2013 mit einigen Freunden in einer Bar in Oakland, Kalifornien. Jener Samstag war der Tag der Gerichtsentscheidung für George Zimmerman, den Mitarbeiter eines Sicherheitsunternehmens, der den unbewaffneten 17-jährigen Trayvon Martin im Februar 2012 in Sanford, Florida erschossen hatte, als dieser auf dem Rückweg von einem Lebensmittelladen abends durch die Nachbarschaft lief, in der Zimmerman patrouillierte (Day). Zimmerman hielt den Jugendlichen für einen (potenziellen) Einbrecher, verfolgte ihn daraufhin und erschoss Trayvon Martin schließlich im Zuge einer kurzen Rangelei, zu der es aufgrund von Zimmermans Intervention gekommen war. Trayvon Martin war ein junger Afroamerikaner und trug an diesem Abend einen Kapuzenpullover, einen so genannten Hoodie (Wemple). Es ist an dieser Stelle wichtig, auf die Bedeutung des Kleidungsstückes im Kontext dieses Falles hinzuweisen, da dieses Stück Stoff auch sinnbildlich für einen grundlegenden Paradigmenwechsel im Denken der #BlackLivesMatter-Aktivist*innen im Vergleich zur Bürgerrechtsbewegung gelesen werden kann, wie später noch deutlich werden soll. Ein Kapuzenpullover wird, wie übrigens auch andere Textilien, etwa ein Minirock oder ein Kopftuch, oftmals als eine im Gegensatz zur unwählbaren »ersten Haut« als »gewählte«, zweite Haut betrachtet, welche die Zuordnung des Trägers oder der Trägerin zu einer bestimmten sozialen Kategorie oder Identitätsgruppe legitimiert. Die Annahme ist, dass das, was durch ein Stück Stoff von der jeweils tragenden Person kommuniziert werden soll, offenbar sofort von allen gleichermaßen klar decodiert werden kann. In der Tat mag es in vielen Fällen so sein, dass mit einem Kopftuch die religiöse Gesinnung, mit einem Minirock die erotische Ausstrahlung oder mit einem Kapuzenpullover Sportlichkeit nach außen kommuniziert werden soll. Die jeweiligen individuellen Beweggründe für das Tragen dieser Kleidungsstücke mögen allerdings auch anders gelagert sein. Schwierig wird es jedoch, wenn, besonders von denen, die den oder die jeweilige/n Träger/in beurteilen, nicht mehr mitreflektiert wird, dass die »gewählte« zweite Haut eben doch in enger Verbindung mit der unabstreif baren »ersten Haut« – und damit zum Beispiel mit Rasse und Geschlecht – steht. Demnach ist, selbst wenn es sich um eine persönlich vorgenommene Übermarkierung der eigenen Religiosität, Attraktivität oder Lässigkeit durch Kleidungsstücke handelt, diese eben nicht mehr nur als rein »ästhetische« Präferenz und damit losgelöst von existierenden gesellschaftlichen Machtverhältnissen zu betrachten. Für Trayvon Martin und andere Schwarze bedeutet das Tragen eines Kapuzenpullovers nicht einfach nur, als jugendlich und sportlich wahrgenommen zu werden, wie das bei vielen Weißen mit Kapuzenpullovern der Fall wäre, sondern dass ein Hoodie von einigen (unter Umständen) bewaffneten Menschen dazu benutzt wird, eben das zu tun, was heutzutage mit einem reinen Verweis auf die Hautfarbe nicht mehr salonfähig wäre, nämlich sie rassistisch

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zu diskriminieren und – scheinbar hauptsächlich aufgrund der Wahl ihrer Kleidung – in eine Reihe mit sogenannten Gangstern oder thugs zu stellen. Dass bei einem schwarzen Körper allein ein Kapuzenpullover ausreicht, um (rassistische) Vorurteile aufzurufen, während dies bei einem weißen Körper mit der gleichen Kleidung nicht in gleicher Weise passiert, macht die Relevanz von Hautfarbe in diesem Zusammenhang deutlich. Dies wird durch eine weitere Komponente verstärkt, welche zum einen durch Kleidung und zum anderen durch das Verhältnis zum sozialen wie geographischen Raum ausgedrückt wird. Dies ist die Kategorie »Klasse«, nämlich der Umstand, dass sich ein Jugendlicher wie Trayvon Martin mit einem Kapuzenpullover durch eine vorwiegend von Weißen einer bestimmten Einkommensschicht bewohnten, sogenannten gated community, also einer bewachten Wohnsiedlung, bewegt. Nur aufgrund seines Aussehens und seiner bloßen Präsenz in diesem Raum fiel Trayvon Martin George Zimmerman als jemand auf, der dort nicht hinzugehören schien. Die Frage, warum George Zimmerman in Trayvon Martin keinen gewöhnlichen Jugendlichen, sondern einen Kriminellen oder Unruhestifter sah, ohne dass dieser eine kriminelle Handlung ausgeübt hätte, spaltete bald die Meinungen. Der Fall löste ein immenses Medieninteresse aus und das Urteil der Jury wurde dementsprechend mit Spannung erwartet (Linder). Der ungewöhnliche Umstand, dass die Entscheidung der Jury an einem Samstagabend fiel, mag vielleicht als Bemühen gewertet werden, der Komplexität dieses Falles – wenn schon nicht durch das schlussendliche Urteil, einem Freispruch für Zimmerman – zumindest durch die Dauer, welche die Befragung und Beratschlagung in Anspruch nahmen, Ausdruck zu verleihen. Die sechsköpfige, komplett aus Frauen bestehende Jury, von denen fünf weiß waren, hatte zunächst die Bekanntgabe ihrer Entscheidung für Freitag angekündigt, sich dann jedoch noch einmal eine Verlängerung bis Samstag erbeten. Nach mehr als 16 Stunden verkündete sie schließlich, dass George Zimmerman auf der Basis des sogenannten stand your ground-Gesetzes«5 freizusprechen sei (Alvarez und Buckley). Alicia Garza und ihre Freunde in der Bar hatten einen Schuldspruch für George Zimmerman erwartet und erfuhren per Smartphone aus dem Internet von dem Ausgang des Falles. Die Aktivistin selbst berichtete, dass sich die Stimmung nach dem Freispruch Zimmermans schlagartig änderte. Es wurde totenstill und viele verließen niedergeschlagen die Bar. Zurück zuhause schrieb Garza einen Facebook-Eintrag, in dem sie ihrer Betroffenheit und Traurigkeit, aber auch ihrer Wut und ihrem Ärger über den Freispruch von George Zimmerman Aus5 | In aller Kürze erlaubt es dieses Gesetz, zum Schutz von Leib und Leben Gewalt und selbst tödliche Gewalt einzusetzen, wenn man sich bedroht sieht und ein Recht hat, sich an diesem Ort aufzuhalten. Das bedeutet: Das stand your ground-Gesetz würde nicht in einem Haus, das nicht das eigene ist, beansprucht werden können, aber kann eben für private Sicherheitsdienste z.B. auch eine ganze Nachbarschaft umfassen, weil eine Berechtigung sich dort aufzuhalten vorliegt (»2015 Florida Statutes«).

#BlackLivesMatter: Protest und Widerstand heute

druck verlieh. Sie beendete ihren Post mit den Worten: »Black people. I love you. I love us. Our lives matter«, was sinngemäß mit »schwarze Leute, ich liebe euch, ich liebe uns. Unsere Leben sind bedeutsam« oder »unsere Leben zählen« übersetzt werden kann (Day). Dieser Ausdruck von Liebe und auch Selbstliebe in Verbindung mit der Affirmation, dass schwarze Leben bedeutsam sind, zeugen im Kontext der Nachricht dieses Abends und vor dem Hintergrund der tieferliegenden Erfahrung von Unterdrückung von großer Stärke. Besonders hervorzuheben ist jedoch, dass diese Worte – entgegen einer häufig geäußerten Kritik an der Bewegung #BlackLivesMatter, sie sei ausschließlich gegen Dinge – eine sehr positive Botschaft senden. Die gesenkten Köpfe, die Resignation, das Nachhausegehen, das Garza an diesem Abend zigfach gesehen, miterlebt und vielleicht sogar zunächst auch selbst mitgemacht hatte, drücken symbolisch Scham, Selbstabwertung und destruktive Gedanken aus, die häufig beobachtete Reaktionen auf Diskriminierung und Unterdrückung sind. Garzas Zeilen zeugen von Kraft und Resilienz, die einen ersten wichtigen Schritt zur Selbstermächtigung von Schwarzen darstellen. Patrisse Cullors, eine enge Freundin von Alicia Garza und ebenfalls sozialpolitisch engagiert, las den Facebook-Eintrag noch in derselben Nacht mehrere hundert Meilen entfernt in einem Motelzimmer. Sie teilte Garzas Worte mit ihren Freunden und benutzte dafür das Hashtag #BlackLivesMatter, das daraufhin wiederum viele Male geteilt wurde. Am folgenden Tag und noch immer unter dem Eindruck der Geschehnisse einerseits aber auch dem Gefühl der Gemeinschaft andererseits, sprachen die beiden über Möglichkeiten, eine Kampagne zu starten, mit der sie ihren Gefühlen und auch denen zahlreicher anderer Ausdruck verleihen konnten. Alicia Garza und Patrisse Cullors setzten sich daraufhin mit der Aktivistin Opal Tometi in Verbindung, eröffneten Twitter- und Tumblr-Profile im Internet, aber stellten auch in der realen Welt Banner und Schilder auf und machten das Hashtag BlackLivesMatter auf diese Weise bekannt. Diese von Beginn an existierende, parallele Verfolgung ihrer Ziele im virtuellen und realen Raum fungiert als wichtige Basis der Bewegung #BlackLivesMatter (Day). #BlackLivesMatter organisierte im Jahr 2013 erste Demos und Kampagnen. Als am 9. August 2014, also etwas mehr als ein Jahr nachdem Zimmerman freigesprochen worden war, der 18- jährige, ebenfalls unbewaffnete Afroamerikaner Michael Brown von dem weißen Polizisten Darren Wilson in Ferguson, Missouri erschossen wurde und dieser sich nicht vor Gericht verantworten musste, also nicht einmal Anklage erhoben wurde, erhielt die Bewegung #BlackLivesMatter dann noch einmal einen immensen Schub an öffentlicher Aufmerksamkeit. Durch die bereits bestehenden organisierten aktivistischen Strukturen von #BlackLivesMatter, aber auch die vielen affiliierten Organisationen wie Hands Up United oder Dream Defenders, wurde es nun möglich, diesen Fall nicht als weiteren, tragischen Einzelfall zu betrachten, sondern ihn unmittelbar in den Kontext anderer Fälle zu stellen. Somit konnte deutlich gemacht werden, dass es sich bei der Erschießung unbewaffneter Schwarzer durch meist weiße Polizisten lediglich um die Spitze

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eines Eisberges von tiefverwurzeltem, strukturellem Rassismus handelt, der in vielen anderen Bereichen keine ähnlich schockierenden Bilder produziert, aber dennoch schwarzes Leben dämpft, behindert, einschränkt und unterdrückt. Es sind besonders diese Strukturen und die institutionelle Gewalt, also nicht die Einzelschicksale von Personen wie George Zimmerman oder Darren Wilson, die #BlackLivesMatter anprangert und verändern will. Dies mag, gerade wenn Empathie und Betroffenheit für Individuen doch so wichtig erscheinen um das Thema »Rassismus« klar und deutlich aufzeigen zu können, zunächst nicht sofort einleuchten. Der Ansatz, persönliche Schicksale in den Vordergrund zu stellen, erweist sich jedoch nur dann als nachhaltig, wenn auch die Strukturen hinter den individuellen Fällen mitreflektiert werden. Andernfalls verpufft jegliche soziale Wirkung, sobald eines dieser Einzelschicksale in Vergessenheit gerät oder in Misskredit gebracht wird. Der Name der Bewegung #BlackLivesMatter verweist in diesem Zusammenhang darüber hinaus darauf, dass schwarze Leben nicht nur gerade jetzt, sondern auch historisch betrachtet nicht zählten. Ihre Existenz war einmal lediglich als versklavte Arbeitskraft – und somit letztlich als Eigentum – für Weiße von Interesse. Ihre Menschlichkeit und Menschenwürde wurde Schwarzen nicht allein mit ihrer Verschleppung und Versklavung abgesprochen.6 Nach Abschaffung der Sklaverei kam ein demütigendes System von Segregation und Gewalt hinzu, bei dem Schwarze etwa gelyncht wurden, weil sie angeblich gestohlen hatten (Frazier 91). Weitaus häufiger noch war der Vorwurf der sexuellen Nötigung oder Vergewaltigung weißer Frauen, die als Symbole und Trophäen, das heißt als Objekte, für weiße Überlegenheit und Tugend dienten. Diese (vorgeworfenen) Delikte stellten Schwarze in eine triebhafte, animalische Ecke, was zu ihrer Dehumanisierung beitrug und dabei die grausamen Taten der Weißen zu »legitimieren« schien. Die weißen Mörder wurden aufgrund dieser absurden Logik meist weder zur Rechenschaft gezogen noch nennenswert bestraft (Apel 28, 163, 193). Vor diesem Hintergrund wird umso deutlicher, dass der kollektive Schmerz über die Nicht-Ahndung der Tötung einer schwarzen Person durch die Judikative, besonders wenn dies durch Kräfte der Exekutive, der Polizei, geschehen ist, zum einen an diese kollektive historische Erfahrung von Schwarzen anschließt. Zum anderen erschüttert die erneute Nicht-Ahndung aber auch die durch die Bürgerrechtsbewegung genährte Hoffnung fundamental, endlich in die Legislative vertrauen zu können. Damit sind Schicksale wie die von Trayvon Martin, Michael Brown oder Eric Garner eben nicht nur Einzelfälle im amerikanischen Rechtssystem, sondern sie werden für viele zu Mahnmälern der Fragen, wie gleich Menschen innerhalb dieses Staates und damit auch vor dem Gesetz sind und ob wirklich alle Menschen überhaupt in gleicher Weise als solche betrachtet werden.

6 | Die Zusammenhänge zwischen Rasse und Unterdrückung werden in Eddie S. Glaudes Buch Democracy in Black: How Race Still Enslaves the American Soul erläutert.

#BlackLivesMatter: Protest und Widerstand heute

Es ist daher wichtig, dass es nicht Black Existence Matters oder Black Deaths Matter heißt, obwohl die Bewegung #BlackLivesMatter maßgeblich als Reaktion auf die Erschießung von unbewaffneten Afroamerikanern durch straffrei davongekommene Polizisten gegründet wurde. Die Forderung Black Lives Matter bedeutet eben nicht allein die Toten zu beklagen oder um eine Daseinsberechtigung zu bitten, sondern Black Lives Matter drückt vor allem die Forderung aus, schwarzes Leben von freien, mündigen und gleichberechtigten Menschen in den Mittelpunkt zu rücken (Garza, »A Herstory«). Warum es so entscheidend ist, diese Forderung nach der uneingeschränkten Anerkennung schwarzer Menschlichkeit von #BlackLivesMatter zu begreifen, soll nun kurz am Beispiel Michael Browns, eines schwarzen Mannes, der am 9. August 2014 erschossen wurde, skizziert werden.7 Wie beim Fall Trayvon Martins, stehen auch Browns Todesumstände symbolisch für viele andere ähnliche Fälle: Zu dem genauen Tathergang und den Hintergründen gibt es unterschiedliche Aussagen. Sicher ist jedoch, dass Michael Brown 18 Jahre alt und unbewaffnet war, als er mit einem Freund in der Mitte einer Straße in Ferguson lief und von einem Polizisten namens Darren Wilson, der an diesem Tag alleine in seinem Streifenwagen unterwegs war, aufgrund dieser Tatsache gerügt wurde. Es kam daraufhin zu einer Auseinandersetzung zwischen den beiden, die mit zwölf Schüssen des Polizisten Wilson endete. Michael Brown verstarb noch am Tatort. Seine Leiche lag danach noch vier Stunden auf der Straße bevor der Körper geborgen wurde (Devereaux). Als Reaktion auf den Umstand, dass gegen Wilson keine Anklage erhoben wurde, kam es zu schweren Ausschreitungen in Ferguson und in zahlreichen anderen amerikanischen Städten (»Brown v. Ferguson«). An diesem Fall wird, wie oben bereits erwähnt, die Bedeutung der Anerkennung schwarzer Menschlichkeit besonders deutlich. Bereits kurz nachdem Michael Brown erschossen wurde, zeigten vor allem rechts-konservative Medien, aber auch die des Mainstreams Bilder von Michael Brown, auf denen er sich selbst, wie es manche auslegten, »wie ein Gangster« inszeniert hätte. Es wurden Auszüge von Rapsongs von Michael Brown gespielt, in denen er »unangemessene« Sprache benutzte (Scott). Gerüchte über sein Gewaltpotenzial und sein angebliches Vorstrafenregister machten die Runde (Elder). Implizit wurde vermittelt, dass sein Leben unehrenhaft und er damit doch in gewisser Weise schuldig wäre. Der Punkt im Hinblick auf die Menschlichkeit, die Michael Brown und vielen anderen Schwarzen in ähnlicher Weise öffentlich abgesprochen wird, ist hier – unabhängig vom Wahrheitsgehalt der Anschuldigungen – dass eine erschossene schwarze Person anscheinend nur dann wirklich bedauernswert ist, wenn sie ein nahezu makelloses Leben geführt hat. Um in diesem Zusammenhang auf die manipulative Kraft von Bildern und die Art und Weise, mit der mediale Repräsentationen an Vorurteile und Stereotypen andocken, aufmerksam zu machen, wurde die Initiative If They Gunned Me Down, 7 | Für eine detaillierte Analyse dieses Falles siehe Luvena Kopps Aufsatz in diesem Band.

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also »würden sie mich erschießen« gegründet. Auf dieser Tumblr-Seite zeigen junge schwarze Menschen meist zwei Bilder von sich, die völlig unterschiedliche Eindrücke von ihnen vermitteln, obwohl beide Fotos ein und dieselbe Person zeigen. Während sich junge Männer und Frauen also einmal proper gekleidet, mit einem neutralen oder freundlichen Gesichtsausdruck in Szene setzen, ist das zweite Foto meist ein sogenanntes Partybild mit einer Zigarette, einem Joint, einem Glas oder einer Flasche mit Alkohol, den berüchtigten Hoodies und eben keinem freundlichen Lächeln, sondern eher einer Grimasse oder einem grimmigen Blick. Zwar mögen nicht von allen Menschen derartige, eventuell als »kompromittierend« bewertete Bilder existieren, jedoch gibt es wohl von jedem Menschen Fotos, auf denen die jeweilige Person besonders sympathisch oder mürrisch und unvorteilhaft getroffen ist. Sind letztere die einzigen Aufnahmen, die benutzt werden, um der Öffentlichkeit eine Vorstellung dieses Individuums zu geben, kommt es zu einer unter Umständen fatalen Verzerrung der jeweiligen Person und der zur Diskussion stehenden Situation. Das Onlineprojekt If They Gunned Me Down spielt somit auf die große Macht an, die Medien mit der Auswahl und dem wiederholten Zeigen bestimmter Bilder ausüben können und wie gezielt diese Wirkung im Fall von Schwarzen, die getötet wurden, eingesetzt wird. Die Fehldarstellung von Einzelnen ist nämlich besonders dann problematisch, wenn die Gruppe, zu der die jeweilige Person gezählt wird, mit negativen Vorurteilen und Stereotypen belastet ist und diese zudem über eine geringe gesellschaftliche Machtposition verfügt.

Z iele und F orderungen von #B lack L ives M at ter Die oben dargestellten Hintergründe führen zu den Zielen von #BlackLivesMatter. Das Hauptanliegen dieser Bewegung ist es, die Leben von Schwarzen insgesamt, das heißt sowohl für Individuen als auch für die Gemeinschaft, zu verbessern und ihren Wert als vollkommen gleichwertig anzuerkennen. Eine Auftragsarbeit des Künstlers Alex Nabaum für die New York Times aus dem Jahr 2015 (Abb. 1) erlaubt es mir anhand einer Bildanalyse, den wohl bekanntesten Missstand, auf den #BlackLivesMatter aufmerksam macht, aufzuzeigen: Auf diesem Bild formieren sich die mit Kreide auf Asphalt gezeichneten Umrisse von Leichen zu einem Gesicht, das besonders im Kontext der Überschrift des begleitenden Leitartikels, »The Truth of Black Lives Matter«, als das Gesicht einer schwarzen Person lesbar wird. Der Blick des Betrachters fällt also direkt und unweigerlich auf einen Tatort, eine nicht weiter spezifizierte Straße, das heißt eben auf den öffentlichen Raum, der alle angeht, der keine Privatangelegenheit ist und in dem eigentlich staatliche Kräfte wie die Polizei für Schutz und Sicherheit sorgen sollen.

#BlackLivesMatter: Protest und Widerstand heute

Abbildung 1

Die Abbildung der obenstehenden Auftragsarbeit für The New York Times erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Künstlers Alex Nabaum (www.alexnabaum.com).

Die Umrisse vieler toter Körper fügen sich im Blick des Betrachters zu einem klaren Bild, eventuell sogar zu einer Art Opferschema zusammen. Vielleicht hat den Betrachter aber auch der Blick dieses Gesichts sofort erreicht und dann erst beim zweiten Hinsehen mit den bedrückenden Hintergründen, der Tatsache, dass es sich um Umrisse von Leichen handelt, schockiert. Der Blick des Gesichts wirkt vor allem durch die Umrisse traurig, die Augenbrauen und Mund darstellen; aber er konfrontiert den Betrachter auch gleichermaßen damit, die vielleicht sonst isoliert wahrgenommenen Probleme in einem Zusammenhang zu sehen, ihnen nun sprichwörtlich ins Gesicht zu blicken und sie damit gleichermaßen strukturell und einzeln wahrzunehmen. Wie dieses Kunstwerk verdeutlicht, richtet sich #BlackLivesMatter gegen die überproportionale Tötung und Inhaftierung von schwarzen Menschen im öffentlichen Raum. Was nicht explizit gezeigt, jedoch im Kontext der Debatte sofort verstanden wird, ist, dass diese angeprangerten Tötungen durch staatliche Kräfte vollzogen wurden. Wie real die Aussage von Nabaums künstlerischem Werk ist, wurde durch die Pionierarbeit von einigen in Statistik versierten Aktivisten anhand des Projekts Mapping Police Violence grafisch dargestellt. Auf einer animierten Landkarte der Vereinigten Staaten von Amerika werden hier alle Fälle, bei denen Schwarze durch Polizeigewalt ums Leben gekommen sind, rot gekennzeichnet und täglich aktualisiert. Im Jahr 2015 wurden demnach mindestens 336 schwarze Menschen von Polizisten getötet. Dieser Umstand wiegt deshalb besonders schwer, weil nur knapp 13 Prozent der US-Bevölkerung Afroamerikaner sind und Weiße die klare Bevölkerungsmehrheit bilden (Mapping Police Violence).

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Daneben sprach sich #BlackLivesMatter öffentlich für die Unterstützung der Campaign Zero aus, die sich mit zehn zentralen Forderungen an Polizei und Regierung richtet, welche ich nun jeweils kurz erläutern werde. Die erste Forderung ist, das sogenannte »broken windows policing« zu beenden. Danach werden kleine Vergehen oder Ordnungswidrigkeiten, wie zum Beispiel eingeworfene Fenster, verhältnismäßig hart bestraft, um auf diese Weise größere Straftaten zu verhindern. Die Wirksamkeit dieser Strategie gilt jedoch als umstritten, da sie – vor allem in Vierteln, in denen größtenteils Schwarze wohnen – zu einer starken Kriminalisierung führt, die oftmals eine nicht endende Kette von Bußgeldern und erneuten Strafen für das Nicht-Bezahlen (-Können) dieser Bußgelder in Gang setzt. Die zweite Forderung, »community oversight«, verlangt, statt der Polizei lieber die betroffene Gemeinde bzw. Nachbarschaft stärker einzubeziehen, wenn es um Sanktionsmaßnahmen bei Fehlverhalten von Polizisten geht. Dieses Konzept zielt in erster Linie auf ein höheres Maß an Selbstbestimmung von vorwiegend von Schwarzen bewohnten Nachbarschaften ab. Die dritte in der Campaign Zero fixierte Forderung ist, strengere Standards für die Gewalt- und Schusswaffenanwendung von Polizisten einzuführen. Diese Maßnahme soll Tötungen durch Polizisten durch mehr Transparenz und strengere Regeln minimieren. Als vierter Punkt soll die polizeiunabhängige, jedoch noch immer staatliche Untersuchung und Strafverfolgung von polizeilichem Fehlverhalten erleichtert und ausgeweitet werden. An dieser Stelle ist kritisch anzumerken, dass dieses Vorhaben wohl kaum ohne höhere Ausgaben in Form von Steuern zu realisieren ist und deshalb mit konkreten Plänen zur Durchführbarkeit verbunden werden müsste. Punkt fünf, »community representation«, bedeutet, dass die Zusammensetzung der Polizei die Gemeinde, in der sie aktiv ist, widerspiegeln soll. Es sollen zum Beispiel keine Verhältnisse wie in Ferguson herrschen, wo die Mehrheit der Polizisten weiß ist, während der Großteil der Bevölkerung aus Schwarzen besteht. Eine weitere Forderung lautet, Polizeikräfte dazu zu verpflichten, Kameras am Körper zu tragen und Polizeieinsätze auch anderweitig, zum Beispiel durch die Verpflichtung von Kameras in Streifenwagen, zu überwachen. Hier ist jedoch zu bedenken, dass diese Vorschläge nur selten im Hinblick auf die Prävention von Fehlverhalten effektiv sind und daher meist ausschließlich für eine spätere Anklage von Belang sind (»Campaign Zero«). So wichtig und hilfreich dieser Aspekt nach geschehenen Delikten sein mag, das nachhaltig gestörte Vertrauen zwischen den Parteien können diese Maßnahmen nicht (wieder-)herstellen. Unter Umständen sorgt die angestrebte Totalüberwachung diesbezüglich sogar noch für eine weitere Verschlechterung, da sie soziale Probleme an Maschinen und Technologie weitergibt. Weder ein allzu naiver Glaube an die Potenziale von derartigen Technologien, noch die blauäugige Vorstellung, das bloße »Sehen« von Unrecht habe stets ein Umdenken in lang gewachsenen sozialen Strukturen zur Folge, werden zu einer nachhaltigen Verbesserung der Situation führen. Dies verspricht jedoch die Forderung, Polizeikräfte mehr in deeskalierenden Techniken und Antirassismus-Training zu schulen, die bislang nur einen sehr ge-

#BlackLivesMatter: Protest und Widerstand heute

ringen Teil der Ausbildung ausmachten und daher massiv intensiviert werden sollen. Die achte Forderung der Campaign Zero, »for-profit policing« zu terminieren, bedeutet, dass das Generieren von Profit durch polizeiliche Maßnahmen beendet werden soll. Darunter fällt zum Beispiel die Evaluation von Polizeirevieren anhand der Anzahl von Strafzetteln, von Festnahmen im Hinblick auf das jeweilige Jahresbudget oder an Strafzahlungen für Menschen, die Gerichtstermine nicht wahrnehmen und so in den oben beschriebenen Teufelskreis der Kriminalisierung geraten. Die neunte Forderung verlangt Demilitarisierung. Das bedeutet, dass die Polizei weder schweres Geschütz wie Panzer oder Tarnkleidung für Einsätze in Nachbarschaften mit staatlichen Geldern kaufen oder benutzen sollte. Auch der Einsatz von Sondereinsatzkommandos, Tränengas und das Stürmen von Privathäusern soll nur im äußersten Notfall möglich sein (»Campaign Zero«). Dieses Anliegen mag besonders für Europäer absurd klingen, weil ein solches Vorgehen in Europa nicht üblich ist. Es entspricht jedoch dem Vorgehen in einigen Gegenden der USA und hat neben der tatsächlichen auch eine immense symbolische Wirkung. Derartig schweres Geschütz gegen einen Teil der eigenen Bürger aufzufahren, führt zu einer noch tieferen Spaltung der Gesellschaft, da sie militärische Stärke als probates Mittel gegen hochkomplexe soziale Missstände und gegen meist bestimmte Bevölkerungsanteile präsentiert. Die schließlich zehnte Forderung soll eine ganze Reihe von Dingen vertraglich mit den jeweiligen Polizeigewerkschaften regeln. Besonders hervorzuheben ist jedoch, dass Polizisten, die Zivilisten getötet oder schwer verletzt haben, nicht weiter zu bezahlen und vom Dienst zu suspendieren sind. Dieser Punkt ist vor allem von hoher Relevanz, um Zeichen zu setzen und das noch vorhandene Vertrauen in den Staat nicht weiter zu beschädigen bzw. das verloren gegangene wieder aufzubauen. Die in der Campaign Zero zum Ausdruck gebrachten Punkte sind nicht die einzigen Forderungen von #Black LivesMatter. Aktivist*innen der Bewegung setzen sich auch für eine Reihe anderer Dinge ein, um die Leben von Schwarzen umfassend zu verbessern. Darunter fällt zum Beispiel die Einführung einer offiziellen staatlichen Datenbank, die von der Polizei getötete Menschen mit neuen Kategorien wie »Rasse« oder einer detaillierten Auffassung des Geschlechts, wie zum Beispiel Transgender oder der sexuellen Orientierung erfasst, um Daten und Belege für die von #BlackLivesMatter angeprangerte strukturelle Gewalt sammeln zu können. #BlackLivesMatter fordert zudem eine grundlegende Verbesserung des staatlichen Schulsystems und manche darüber hinaus auch die komplette Abschaffung von Gefängnissen. Das Minimum, auf das sich alle Stimmen innerhalb der Bewegung jedoch geeinigt zu haben scheinen, ist eine völlige Neukonzeption des sogenannten prison industrial complex, also der Masseninhaftierung, die in den USA auch einen Wirtschaftsfaktor darstellt. Im Zuge des Ziels, die Qualität des Lebens von Schwarzen insgesamt zu verbessern, stehen noch andere Themen auf der Agenda. Diese sind zum Beispiel der Zugang zu sicherem und bezahlbarem Wohnraum, sowie zu günstigen, gesunden und nicht minderwertigen Lebensmitteln. Diese Forderungen sind vor allem im Hin-

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blick auf die Tatsache relevant, die bereits anhand des Beispiels von Trayvon Martin deutlich wurde, nämlich dass Hautfarbe in vielen Fällen auch mit der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Klasse einhergeht. Dieser Umstand spielt untergeordnet auch bei der Forderung von #BlackLivesMatter nach reproductive justice, das heißt Gerechtigkeit in Reproduktionsfragen, eine Rolle (»11 Major Misconceptions«). Hier geht es u.a. um das Recht auf Abtreibung für schwarze Frauen, was allerdings auch als das Gegenteil des Slogans Black Lives Matter kritisiert werden kann. Die Position der Bewegung ist hier jedoch, dass das Recht auf Selbstbestimmung stets an erster Stelle steht. Reproductive justice beinhaltet darüber hinaus auch das Recht auf die Inanspruchnahme von Reproduktionsmedizin für nicht-wohlhabende oder gleichgeschlechtliche Paare. #BlackLivesMatter betrachtet dies als Zeichen einer grundlegenden und umfassenden Akzeptanz aller Lebensentwürfe, in denen sich Schwarze potenziell wiederfinden können. Aber schwarzes Leben, so fordert #BlackLivesMatter, muss unbedingt auch abseits anderer etablierter Normvorstellungen zählen: Zu schnell werden in den Medien zum Beispiel noch immer alternative Konzeptionen von Geschlecht oder nicht-heteronormative Lebensentwürfe stigmatisiert, indem sie in die Nähe von psychischen Störungen und damit als »behandlungswürdig«, aber kaum als gesamtgesellschaftlich relevant dargestellt werden. Insbesondere konservative Vertreter der black church lehnen diese Forderungen jedoch strikt ab. Dieser Umstand offenbart auch eine erste Schwierigkeit, die entsteht, wenn »alle« Lebensentwürfe von Menschen mit einer bestimmten Hautfarbe gleichermaßen respektiert werden sollen. Wenn mit »schwarzem« Leben alle Lebensentwürfe gemeint sein sollen, dann müssen konservative und liberale Ansichten und Weltbilder in Einklang gebracht werden, womit jedoch wiederum die Frage nach der Macht und Repräsentativität bestimmter Positionen entsteht. Für #BlackLivesMatter bedeutet dies unter Umständen, die schwierige Diskussion darüber zu führen, welche Rolle konservative Schwarze innerhalb der Bewegung für sie einnehmen, ohne dass es zu einer Essenzialisierung der Hautfarbe oder zu einer (zu) schlichten Verknüpfung der Hautfarbe mit einer bestimmten politischen Gesinnung kommt. Wie bereits erwähnt steht für #BlackLivesMatter das Recht auf Selbstbestimmung von Schwarzen im Zentrum. Dieses Recht auf Selbstbestimmung und die volle Akzeptanz aller Lebensentwürfe wird über religiöse, traditionelle oder konservative Wertvorstellungen gestellt. Gerade im Hinblick auf die verhältnismäßig starke Position der black church fordert dies ein völliges Umdenken von allen Mitgliedern der amerikanischen Gesellschaft. Die in dieser Bewegung Engagierten sehen Rassismus nicht isoliert, sondern als unmittelbar verknüpft mit anderen Unterdrückungssystemen und postulieren daher grundlegende, gesamtgesellschaftliche Veränderungen. Vor dem Hintergrund der zum Beispiel offen geäußerten Forderung nach einem Recht auf Abtreibung wird #BlackLivesMatter zuweilen die Ablehnung der black church unterstellt. Dies käme einem kompletten Bruch mit der Tradition der Bürgerrechtsbewegung gleich, für die die schwarze Kirche als Versammlungs-,

#BlackLivesMatter: Protest und Widerstand heute

Multiplikations- und spirituellem Ort eine zentrale Rolle spielte. In der Tat bilden Kirchen für #BlackLivesMatter verglichen mit der Bürgerrechtsbewegung nicht mehr den Dreh-und Angelpunkt für die Verbreitung von Informationen. Diese Funktion wird mittlerweile durch soziale Medien im Internet übernommen, wo auch Gemeinschaft gelebt, jedoch nicht mehr als räumlich (zum Beispiel unter einem Kirchendach) erfahren wird. Wie auch bei der Forderung nach mehr Überwachung ist in diesem Zusammenhang kritisch anzumerken, dass es auf lange Sicht wenig aussichtsreich erscheint, nun alle Hoffnung in neue Technologien zu setzen und die Vergangenheit aufgrund mancher Unzulänglichkeiten der black church völlig abstreifen zu wollen. Auch andere Komponenten des christlichen Glaubens, wie zum Beispiel »die andere Wange hinzuhalten« nachdem man auf die linke geschlagen worden ist, die Verurteilung gleichgeschlechtlicher Liebe oder auch patriarchale Herrschaftsstrukturen jeglicher Art werden von #BlackLivesMatter abgelehnt, womit sie einen Gegenpol zu ebenfalls schwarzem, konservativem Leben bilden. Diese Reibungspunkte weiterhin unter der Überschrift Black Lives Matter zu diskutieren und dabei die umfassende Pluralität schwarzen Lebens gelten zu lassen, markiert eine der großen Herausforderungen der Zukunft von #BlackLivesMatter (»11 Major Misconceptions«). Während Religion und Dogmen also einen schwierigeren Stand innerhalb von #BlackLivesMatter haben, versteht sich die Bewegung durchaus als Gemeinschaft, in der Spiritualität ihren Platz hat. Einige Prediger, die eng mit der Bewegung zusammenarbeiten, werden als sogenannte movement preachers bezeichnet. Reverend Starsky Wilson und Reverend Traci Blackmon teilen die Werte von #BlackLivesMatter und nehmen auch regelmäßig persönlich an Protestveranstaltungen teil, von denen es seit August 2014 mehr als tausend gegeben hat (»11 Major Misconceptions«). Von #BlackLivesMatter daher nur als moment und nicht als movement zu sprechen ist daher eine extrem verkürzte Bewertung dieses Netzwerks, die aber oft zu lesen ist (Friedersdorf). #BlackLivesMatter kämpft daher nicht nur für die Anerkennung schwarzen Lebens, sondern auch darum, als ernstzunehmende soziale Bewegung und nicht bloß als Strohfeuer wahrgenommen zu werden. Es scheint aber als seien diese beiden Punkte verknüpft, da die Anerkennung von #BlackLivesMatter als Bewegung wohl auch in gewisser Weise bedeuten würde, dass sich zumindest etwas gesellschaftlich bewegen wird.

M issverständnisse und F ehlinterpre tationen von #B lack L ives M at ter Besonders der Name der Bewegung #BlackLivesMatter sorgt immer wieder für Missverständnisse. Die Organisation solle sich lieber in All Lives Matter umbenennen, um deutlich zu machen, dass nicht nur schwarze, sondern alle Leben zählen, um auf keinen Fall spaltend zu wirken – so fordern einige. Zuweilen ist auch von

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einer Anti-Weißen- oder gar – in Anspielung auf white supremacy, also weiße Vorherrschaft – einer black supremacist-Bewegung zu lesen, was für viele Weiße meist negative Assoziationen mit der späten Zeit der Bürgerrechtsbewegung auf den Plan ruft. #BlackLivesMatter-Aktivist*innen hingegen betonen immer wieder, dass für sie tatsächlich alle Leben zählen. Wie die Lebenssituation von vielen Schwarzen jedoch zeigt, scheinen schwarze Leben weniger bedeutsam und weniger wichtig zu sein, als die von Weißen. Wenn dies der Fall ist, setzt genau das ein, was zum Beispiel an der Reaktion auf die Erschießungen von Schwarzen im öffentlichen Raum zu beobachten ist: Ihr Tod wird zur Kenntnis genommen, aber nicht auf die gleiche Weise beklagt wie das bei Weißen der Fall wäre (Butler und Yancy). Die Wissenschaftlerin Judith Butler, die sich bereits 2004 in ihrem Buch Precarious Life: The Powers of Mourning and Violence mit der Frage beschäftigte, welche Leben als »menschlich« und lebenswert angesehen werden und welche nicht, also welche Toten auf der Welt Anerkennung und welche ein Schulterzucken erhalten, sieht in der #BlackLivesMatter Bewegung diese Forderung nach der Gleichbewertung von jeder Form von Menschlichkeit zum Ausdruck gebracht, welche auch oben anhand des Falles von Michael Brown aufgezeigt wurde (Butler und Yancy). Der Name #BlackLivesMatter bedeutet also nicht im Umkehrschluss, die Leben anderer Menschen würden nicht zählen. #BlackLivesMatter wirft lediglich ein Schlaglicht auf die Tatsache, dass weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart schwarze Leben genauso viel zählen wie weiße. Es ist demnach notwendig, explizit zu affirmieren, dass schwarze Leben zählen, um zu verhindern, dass mit »allen« Leben weiterhin hauptsächlich weiße gemeint sind, da ihre Leben, historisch betrachtet, stets als Norm galten. #BlackLivesMatter wird, vermutlich aufgrund der Tatsache, dass diese Bewegung in den Medien primär für ihren Aktivismus gegen schwarze Opfer von Polizeigewalt thematisiert wird, häufig als polizeifeindlich bezeichnet. Dies geht so weit, dass manche Polizeikräfte und deren Angehörige wiederum ihr Recht auf Leben von #BlackLivesMatter in Frage gestellt sehen. Einige Polizeikräfte reagieren daher auf Kritik an der Ausübung ihrer Arbeit mit einer demonstrativen Betonung des Stolzes auf ihre Gruppe, die meint, sich gegen unlautere Anschuldigungen verteidigen zu müssen. Bei dieser Einschätzung handelt es sich mittlerweile auch keinesfalls mehr um die Befindlichkeit Einzelner, sondern um die einer beträchtlichen Anzahl von Menschen, die sich in eigenen Ortsverbänden (etwa in New York City) als Bewegung mit dem Namen Blue Lives Matter (Imperatrice et al.) oder auch United for Blue (Wince and Padgett) organisieren (Petersen-Smith). Blue Lives Matter spielt auf die Farbe der Uniformen von Polizisten an, die sich durch die Kritik von #BlackLivesMatter als Berufsgruppe verunglimpft sehen. Offiziell geht es Blue Lives Matter in keiner Weise um Probleme, welche im Zusammenhang mit Hautfarbe stehen, sondern ausschließlich um die Anerkennung der Arbeit oder Leistung einer klar definierten Berufsgruppe. Dass besonders die Wahl dieses Namens auch als zynisch empfunden werden kann, wird spätestens anhand der Bildsprache bei Protestmärschen von Blue Lives Matter deutlich, die

#BlackLivesMatter: Protest und Widerstand heute

stark an die Bildsprache der Bürgerrechtsbewegung erinnert. Bilder von Kundgebungen der Organisation in Annapolis oder Washington zeigen Protestierende, die hintereinander marschieren während sie Schilder mit der Aufschrift »Blue Lives Matter« vor sich her tragen (Imperatrice et al.). Diese Fotografien evozieren unweigerlich Bilder des Arbeiterstreiks in Memphis, Tennessee aus dem Jahr 1968, auf denen schwarze Angestellte der Müllabfuhr Schilder mit der Aufschrift »I AM A MAN« tragen, während sie ebenfalls in einer Linie hintereinander her marschierten. Diese Bilder zählen zu den ikonischen Darstellungen aus der Zeit der Bürgerrechtsbewegung und sind damit Teil eines, wenn auch unter Umständen unbewussten, kollektiven Gedächtnisses. Blue Lives Matter zieht mit dieser spezifischen Bildsprache unweigerlich eine Parallele zwischen den schwarzen Arbeitern, die 1968 in erster Linie gegen gefährliche Arbeitsbedingungen und in diesem Zuge auch gegen rassistische Diskriminierung demonstrierten, und sich selbst: also meist weißen Polizisten, die sich und ihre Arbeit nicht respektiert sehen und daher ebenfalls gefährliche Arbeitsbedingungen für sich geltend machen. Problematisch oder gar zynisch ist daran, dass die Privilegien der eigenen, weißen Hautfarbe und auch das Machtdifferenzial zwischen Weißen und Schwarzen nicht mitreflektiert werden. Vor diesem Hintergrund zeugt auch der Name Blue Lives Matter, der klar auf Black Lives Matter Bezug nimmt, von dem tiefen Missverständnis und der Kluft zwischen diesen Gruppierungen. Darüber hinaus wird durch die Betonung der Farbe Blau wieder auf ein Kleidungsstück und damit auf die gewählte »zweite Haut« Bezug genommen, wodurch die Relevanz von Hautfarbe in Konflikten zwischen Polizei und Bürgern völlig negiert wird. Aufgrund der Tatsache, dass es sich in diesem Fall auch noch um eine blaue Uniform handelt, die per definitionem alle sie Tragenden gleichmacht, ist die vermeintlich farbenblinde und sich auf die Vorstellung eines »post-rassistischen« Amerikas berufende Blue Lives Matter-Organisation als klarer Gegenpol zu #BlackLivesMatter einzuordnen.

#B lack L ives M at ter und die B ürgerrechtsbe wegung #BlackLivesMatter wird häufig mit der Bürgerrechtsbewegung verglichen, schneidet dabei jedoch meist schlechter ab. Ein Grund dafür könnte sein, dass sowohl das Bild von #BlackLivesMatter als auch die Erinnerung an »die« Bürgerrechtsbewegung von damals in der breiten Öffentlichkeit sehr verzerrt sind. Demnach wird meist ein besonders radikales Image von #BlackLivesMatter mit einer domestizierten und stark simplifizierten Version der Bürgerrechtsbewegung verglichen, die in jener Form jedoch eigentlich nie existiert hat (Tometi). Die Ergebnisse solch unsauberer Vergleiche sind – wie zu erwarten – meist sehr holzschnittartige Pauschalurteile. Entweder wird #BlackLivesMatter in einer Linie mit der Bürgerrechtsbewegung gesehen oder aber die Bewegung bricht angeblich völlig mit den Idealen und Protesttechniken der Bürgerrechtsbewegung. Verkompliziert wird

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die Situation durch die Aussage zahlreicher #BlackLivesMatter-Aktivist*innen, »this is not your grandma’s civil rights movement« (Harris). Der klare Kontrast, den diese Aussage zwischen damals und heute zu suggerieren scheint, verkennt jedoch die Tatsache, dass eine Bürgerrechtsbewegung niemals zum Stillstand kommt oder für beendet erklärt werden kann, wenn sie ihrem Namen tatsächlich gerecht wird. Demnach ist #BlackLivesMatter, trotz aller (z.T. verständlicher) Abgrenzungsbemühungen von allen Seiten, nicht als völlig neuartiges Phänomen, sondern eher als weiterer Meilenstein einer Emanzipationsbewegung von Schwarzen zu betrachten, die auch bereits lange vor der gemeinhin mit dem Label »Bürgerrechtsbewegung« markierten Ära begonnen hat. Es sind die sogenannten peaks einer solch größeren, graduellen Entwicklung, die, meist zeitlich umgrenzt, dann gemeinhin als »soziale Bewegung« wahrgenommen werden. Das Bild der Welle, das im Hinblick auf die Frauenbewegung geläufig ist, erfasst den Prozess allerdings besser: Zwar mag es zwischenzeitlich zu einem augenscheinlichen Abebben der Proteste oder des akuten Widerstandes kommen, die regelrechte Flut von #BlackLivesMatter Protestaktionen kommt jedoch keineswegs aus dem Nichts, sondern stellt lediglich eine neue Welle einer größeren Emanzipationsbewegung dar, die jedoch in direktem Zusammenhang mit der Vergangenheit steht.8 Hinsichtlich mancher rassistischer Anschläge, die mitten in die jeweilige Bewegung fielen, bestehen teilweise allerdings erschreckende Parallelen. Besonders das Massaker in der Emanuel African Methodist Church in Charleston, South Carolina, bei dem im Juni 2015 neun Schwarze von einem 21-jährigen Weißen erschossen wurden, ist sicherlich in einer Linie mit dem 16th Street Baptist ChurchBombing in Birmingham, Alabama aus dem Jahr 1963 zu sehen, bei dem damals vier schwarze Mädchen getötet wurden und das von Martin Luther King danach öffentlich als rassistisch motivierte Gewalttat bezeichnet wurde. Umgekehrt weisen auch einige Protesttechniken, abgesehen von den neuen Kommunikationsmöglichkeiten, starke Ähnlichkeiten auf (»The Truth of ›Black Lives Matter‹« A22): Während der Bürgerrechtsbewegung im Februar 1960 protestierten zum Beispiel vier schwarze Studenten an einem Tresen in dem Kaufhaus Woolworth in Greensboro, North Carolina mit einem sogenannten sit-in gegen die Rassentrennung in Restaurants, indem sie etwas bestellten und auch nachdem ihnen ein Servieren der Speisen an der Theke mehrfach verweigert wurde ihre Plätze nicht räumten, also darauf beharrten, wie weiße Gäste behandelt zu werden (O’Brien 3). Im Dezember 2014 hingegen machten #BlackLivesMatter-Aktivist*innen mit sogenannten die-ins mitten in der Grand Central Station in New York darauf aufmerksam, dass schwarze Leben im öffentlichen Raum großen Gefahren ausgesetzt sind (Yuhas). Die Dramatisierung des bekannten sit-in als diein versteht sich durchaus als Dringlichkeitsgeste, die klar auf die Bürgerrechtsbewegung Bezug nimmt und neben dem sit-in bewusst von #BlackLivesMatter

8 | Siehe dazu auch Benjamin Hedins Aufsatz in diesem Band.

#BlackLivesMatter: Protest und Widerstand heute

eingesetzt wird, um ähnliche Schockmomente hervorzurufen, wie es 1960 das sit-in in Greensboro tat. Da #BlackLivesMatter gegen rassistische Strukturen aktiv wird, wendet die Organisation Protesttechniken an, durch die das alltägliche Leben systematisch gestört werden soll. Meist betrifft dies die Infrastruktur durch die Blockade von Straßen oder öffentlichen Plätzen. Wie auch in der Bürgerrechtsbewegung wurden bald verstärkt sogenannte semi-öffentliche Räume wie Supermärkte, Restaurants oder Cafés Ziel von Protestaktionen (Klamt 148). Orte wie zum Beispiel die Supermarktkette Whole Foods, wo es sich vornehmlich privilegierte Weiße leisten können einzukaufen oder Frühstückscafés, in denen ebenfalls meist weiße, gut betuchte New Yorker knappe 40 Dollar für einen Brunch ausgeben können, sind als sogenannte white spaces, also »weiße Räume oder Orte« ebenfalls Ziel des Protests von #BlackLivesMatter geworden. Wie zu Beginn dieses Aufsatzes angekündigt, können nun, anhand der dargelegten Hintergründe und Erläuterungen, die eingangs aufgeworfenen Fragen zur Protestaktion #BlackBrunch beantwortet werden. Dies wird es mir ermöglichen, einerseits einige der Aspekte aufzuzeigen, die sich seit den Woolworth sit-ins verändert haben, aber auch andererseits zu erklären, warum diese Aktion dennoch in enger Verbindung mit den sit-ins von damals steht. Als im Januar 2015 in einigen New Yorker Cafés #BlackLivesMatter-Aktivist*innen Gäste beim Wochenend-Brunch unterbrachen, indem sie laut die Namen von getöteten Schwarzen vorlasen, »no justice, no peace« skandierten und zahlreich in die jeweiligen Räumlichkeiten strömten, war die Rassentrennung in Restaurants, gegen die Studenten im Jahr 1960 protestiert hatten, längst abgeschafft (Evans). Rein rechtlich hindert heute Schwarze nichts mehr daran, sich in diesen oder anderen Cafés aufzuhalten, dort bedient zu werden und zu essen. Allerdings, so behauptet #BlackLivesMatter, gibt es mittlerweile eine Art »neue Rassentrennung«, bei der meist Klassen- und damit oft auch Gruppenzugehörigkeit und ein gewisser Habitus9 darüber entscheiden, ob man sich in einem solchen Café entspannen kann, sich willkommen fühlt und sich dort regelmäßig aufhalten kann, das heißt, dort auch von anderen als »normale oder gewöhnliche Erscheinung« betrachtet wird. Hinzu kommt, dass sich Weiße in diesen scheinbar gänzlich unpolitischen sogenannten white spaces nicht nur eine Auszeit von ihrem anstrengenden Arbeitsalltag, sondern auch von unangenehmen Nachrichten zum Thema Rassismus nehmen können. Ein Grund dafür ist, dass Weiße in bestimmten sozialen Räumen scheinbar »zufällig« und ohne explizite (oder auch nur intendierte) Exklusionsmaßnahmen unter sich bleiben und sich somit nicht ständig mit ihren Privilegien oder gar den negativen Seiten von Rassismus auseinandersetzen 9 | Da auf den Habitus-Begriff und seine genauen Zusammenhänge mit »Klasse« sowie vermeintlich persönlichen (ästhetischen) Vorlieben an dieser Stelle nicht ausführlich eingegangen werden kann, siehe Bourdieu, Die feinen Unterschiede.

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müssen, während diese Option für Schwarze nicht in gleicher Weise besteht. Für #BlackLivesMatter ist bei diesen Protestaktionen daher entscheidend, Weiße in ihrer Komfortzone zu erreichen und zu stören (Ultra). Dies passiert unter anderem durch die bloße Präsenz schwarzer Körper in Räumen, in denen sie normalerweise eher die Ausnahme bilden.10 Damit soll deutlich gemacht werden, dass es keine Pause von Rassismus gibt und somit auch privilegiertes Frühstücken in gewisser Weise ein Akt der Unterdrückung ist, solange dies für einen Großteil der Schwarzen entweder aus monetären oder schlicht aus sozialen Gründen, weil sie sich dort unwohl fühlen und sich deshalb dort nicht amüsieren können, keine Alternative darstellt. Bei vielen Weißen, die sich, wenn sie eben nicht gerade in Ruhe frühstücken wollen, durchaus als Sympathisanten von #BlackLivesMatter bezeichnen würden, stieß diese Protestaktion auf Kritik und Unverständnis. Teilweise wurde die Aufsässigkeit und Militanz, mit der #BlackLivesMatter in die Cafés vordrang, sogar als gewaltsam bezeichnet, was in bürgerlichen Kreisen meist mit einem negativen Urteil über die Protestziele der jeweiligen Gruppe einhergeht (James). Damit unterscheiden sich die Reaktionen jedoch kaum von denen auf die sit-ins von 1960 in Greensboro und anderen Städten. Auch damals wurde von einigen Weißen kritisiert, dass die Studenten durch ihr Verhalten viele potenzielle Unterstützer vor den Kopf stoßen würden. Ein großer Unterschied zu damals ist jedoch, dass sich die Proteste nicht über mehrere Tage wiederholten und dass sich (daher?) im Jahr 2015 auch kein weißer Mob von mehreren hundert Gegendemonstranten bildete, der die Protestierenden zur Aufgabe zu bewegen suchte. Obgleich sich an #BlackBrunch die Geister scheiden mögen, markieren genau jene Irritationsmomente und damit die sprichwörtliche Störung der Selbstverständlichkeit weißen Lebens heute ein Hauptziel von #BlackLivesMatter, um Raum für soziale Veränderungen in eben diesen Räumen gesellschaftlicher Begegnung zu schaffen. Besonders im Hinblick auf seine Ziele wird #BlackLivesMatter häufig mit der Bürgerrechtsbewegung verglichen. Einige Kritiker führen hier an, dass letztere klare Forderungen gehabt und, wie der Name schon sagt, für gleiche Bürgerrechte gekämpft habe, während es #BlackLivesMatter heute um die recht diffuse Forderung nach der Anerkennung von schwarzer Menschlichkeit gehen würde, die zudem längst erfüllt sei (»What You Should Know«). Die Behauptung einer solch strikten Trennung zwischen den Forderungen von damals und heute ist jedoch nicht ganz zutreffend. Auch in der Bürgerrechtsbewegung gab es sehr deutliche Verweise darauf, dass die Leben von Schwarzen weniger zählten als die von Weißen und dass es nicht nur um Verbesserungen 10 | Wie auch im Fall Trayvon Martins, dessen schwarzer Körper in einer gated community dort scheinbar »nicht hingehörte«, exponiert #BlackBrunch genau das gleiche Denken, allerdings in einer wesentlich undramatischeren Situation. Auch in diesem Fall wird aufgezeigt, dass »Klasse« in Verbindung mit Hautfarbe eng mit der Komfortzone von Weißen zusammenhängt, auf deren Störung diese empfindlich reagieren.

#BlackLivesMatter: Protest und Widerstand heute

beim Wahl- oder Mietrecht, sondern auch um den Grundrespekt vor dem Leben von Schwarzen ging. Wenn zum Beispiel schwarze Menschen einen qualvollen Tod sterben mussten, weil sie zuvor von für Weiße reservierten Krankenhäusern abgewiesen wurden und danach kein Strafverfahren eingeleitet oder die Anklage fallen gelassen wurde, verwiesen auch Bürgerrechtler bereits darauf, dass offenbar der hippokratische Eid, der auch zu Zeiten von Jim Crow für alle Menschen hätte gelten müssen, eben nicht gleichermaßen für Schwarze zählte (»The Truth of ›Black Lives Matter‹« A22). Die Bürgerrechtsbewegung konzentrierte sich – wie auch #BlackLivesMatter heute – auf für manche Mitglieder der Gesellschaft undenkbare Verbesserungen der Rechte von Schwarzen. Viele #BlackLivesMatter-Aktivist*innen heute kritisieren jedoch, dass damals aus pragmatischen Gründen versäumt wurde, entschiedener für die grundsätzliche Anerkennung von schwarzer Menschlichkeit als gleichwertig einzutreten. Dieses Versäumnis erklärt auch, so sagen sie, warum die vielen durchaus existierenden Gesetzesänderungen für die Gleichstellung von Schwarzen und Weißen nicht nachhaltig zu den erhofften Erfolgen führten (»The Truth of ›Black Lives Matter‹« A22). Auch die Rolle von Militanz und Gewalt wird in #BlackLivesMatter und der Bürgerrechtsbewegung sehr unterschiedlich beurteilt. Ein Hauptgrund hierfür könnte sein, dass sich ein extrem reduktionistisches und simplifiziertes Bild von der Bürgerrechtsbewegung im kollektiven Gedächtnis vieler Amerikaner etabliert hat: Martin Luther King verkörpert demnach Pazifismus und die Ablehnung jeglicher Gewalt und damit die auch für Weiße »akzeptable« Bürgerrechtsbewegung, während Malcolm X oftmals synonym für eine wesentlich militantere, für manche Weiße gar bedrohliche Form der Bürgerrechtsbewegung steht. Diese polare Sichtweise scheint sich so tief ins kollektive Gedächtnis eingegraben zu haben, dass eine »sachliche« Betrachtung von #BlackLivesMatter kaum möglich ist. Unabhängig davon, welcher Stellenwert #BlackLivesMatter in fünzig Jahren im Vergleich zur Bürgerrechtsbewegung zugesprochen wird, existiert diese Bewegung somit keineswegs isoliert. Viel mehr kommt der jeweiligen Meinung zu #BlackLivesMatter vielleicht eher die Rolle eines Seismographen zu, anhand dessen die tatsächliche Akzeptanz für die von manchen durch die Bürgerrechtsbewegung längst erreicht geglaubte Gleichheit zwischen Schwarzen und Weißen heute ablesbar wird. Ob #BlackLivesMatter nun als Strohfeuer oder Bewegung betrachtet wird, die Organisation steht allein dahingehend in der Tradition der Bürgerrechtsbewegung, dass unmittelbar versucht wird, sie klar dem einen oder anderen imaginierten Lager von Bürgerrechtlern zuzuordnen. Wie diffizil jedoch die Rolle von Gewalt im Hinblick auf soziale Bewegungen ist und dass das vermeintliche Gütesiegel »Gewaltfreiheit« wesentlich kritischer betrachtet werden muss, wurde bereits in einigen Studien zur Bürgerrechtsbewegung aufgezeigt. Spätestens seit

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sich jedoch die PEGIDA-Bewegung11 »gewaltfrei« auf ihr Banner schreibt, um Akzeptanz in der Bevölkerung zu gewinnen, wird wohl auch hier in Deutschland deutlich, dass »Gewaltfreiheit« keineswegs als Beleg für die Rechtschaffenheit einer Bewegung gelten muss. Bei der Überlegung, was Gewalt ist und wie sich Aktivist*innen dazu positionieren sollten, handelt es sich um keine neue Frage. Auch während des Kampfes für Bürgerrechte im 20. Jahrhundert wurden, besonders um die moralische Position der Bewegung zu stärken, diverse Definitionen von Gewalt diskutiert. #BlackLivesMatter schließt direkt an jene Debatten an, sieht sich jedoch aufgrund der dezidiert nichtkirchlichen oder -religiösen Basis dieser Bewegung nicht dem absoluten Pazifismus oder auch einer bestimmten, religiös fundierten Geschlechterrolle verpflichtet. Die Bewegung nutzt sowohl das Wissen als auch die Erfahrungen von ehemaligen Bürgerrechtler*innen, was #BlackLivesMatter-Aktivist*innen ein solides, historisches Fundament verleiht, das eine ganz eigene Form von Souveränität hervorbringen kann (Newkirck). Als zum Beispiel eine junge #BlackLivesMatter-Aktivistin in Ferguson von einer Journalistin nach ihrer Einstellung zu Gewalt befragt wurde, antwortete diese unbeeindruckt mit einer Gegenfrage, die sinngemäß wie folgt übersetzt werden kann: »Was ist Gewalt? Ist es keine Gewalt, Menschen ordentlichen Zugang zu Nahrung, Wohnraum und ärztlicher Versorgung zu versagen? Wenn Sie auf die Aufstände in Ferguson anspielen, dann ist das eine Reaktion auf das System in dem wir leben. Der Staat tut uns Gewalt an« (zit. in Day). Diese selbstbewusste Replik, die auch implizite, kritische Hinweise als solche ungerührt exponiert, verdeutlicht einerseits, dass den Aktivist*innen der etablierte Standard, nach dem sie für gewöhnlich beurteilt werden, bestens vertraut ist, sie diesen jedoch andererseits noch im gleichen Atemzug mit eigenen Argumenten zurückweisen. Damit wird ein Punkt deutlich, auf den ich später noch einmal zurückkommen werde, nämlich welch geringe Rolle das oberflächliche Gewinnen von Akzeptanz und Respekt bei #BlackLivesMatter einnimmt. Indem zum Beispiel die o.g. Frage nicht gefällig, sondern bewusst konfrontativ beantwortet wird, soll deutlich werden, dass man sich nicht mit kleinen symbolischen Gesten von Akzeptanz abspeisen lassen will, sondern dass es um grundsätzliche Fragen geht. Diese Haltung kommunizieren #BlackLivesMatter-Aktivist*innen auch durch Fotos, auf denen sie eben jene schwarzen Hoodies tragen, für die, wie oben beschrieben, viele junge Afroamerikaner öffentlich kritisiert wurden, nachdem sie Opfer von Polizeigewalt worden waren (Little zit. in Day). Die Außendarstellung markiert damit einen weiteren Unterschied zur Bürgerrechtsbewegung: Während die jeweilige Riege um Dr. Martin Luther King und Malcolm X stets sehr prope11 | Akronym für »Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes«. Die im Jahr 2014 gegründete rechtspopulistische Organisation propagiert auf ihrem zentralen Banner bei Protestmärschen »Gewaltfrei und vereint gegen Glaubenskriege auf deutschem Boden!« (meine Hervorhebung).

#BlackLivesMatter: Protest und Widerstand heute

re Kleidung, wie Kostüme für Frauen und Anzug und Fliege oder Krawatte für Männer vorsah oder die Black Panthers eine Uniform mit Lederjacke und Baskenmütze als Statement wählten, ist #BlackLivesMatter auch diesbezüglich nicht klar einer Kategorie zuzuordnen. Auch die Kleidung der einzelnen Aktivist*innen illustriert eben jene Vielfalt und Entschlossenheit, für die die Bewegung eintritt. Kleidung wird jedoch durchaus strategisch eingesetzt. Dies können betont farbenfrohe, feminine und moderne Outfits für einen Beitrag der drei Gründerinnen im populären Cosmopolitan-Magazin sein oder auch der schwarze Kapuzenpullover. Die bewusste Entscheidung für Kapuzenpullover kommuniziert nicht nur, dass #BlackLivesMatter von Weißen gemachte Bewertungsstandards für Kleidung ablehnt, sondern auch, dass Anpassung kein Ziel dieser Bewegung darstellt (Day). Vielmehr geht es um jenen bedingungslosen, zwischenmenschlichen Respekt, der weder verdient werden muss noch verdient werden kann. Der Umstand, dass sich Aktivist*innen manchmal als, wie es gelesen werden kann, »traditionell feminin« in Szene setzen, mag an dieser Stelle als widersprüchlich oder gar als opportunistisch aufgefasst werden. Diese bewussten Brüche mit Erwartungen an politisch eher links orientierte Organisationen sind jedoch in engem Zusammenhang mit den Zielen der Bewegung zu sehen, welche etablierte Standards zugunsten eines größeren Ideals, nämlich der Freiheit für letztlich alle Identitätsgruppen, ablehnt. Was von außen als »inkonsequent« wahrgenommen werden mag, hat durchaus System, um genau dieses zu stören. Die Wahl einer weder als rein männlich noch rein weiblich lesbaren Kleidung auf manchen Fotos kann auch als Zurückweisung von klar definierten Geschlechterrollen gelesen werden. Der Hoodie zählt zudem nach wie vor als Kleidungsstück urbaner, nicht gerade wohlhabender Kultur. Er kommuniziert in diesem Zusammenhang die Lebenswelt und sogenannte Klassenzugehörigkeit vieler Menschen, die sich für #BlackLivesMatter engagieren. In diesem Zusammenhang fällt häufig das Schlagwort »Intersektionalität«. Dieser Begriff, der in den 90er Jahren von Kimberlé Crenshaw geprägt wurde, bringt zum Ausdruck, dass das Zusammenwirken von race, class und gender noch einmal ein ganz eigenes Unterdrückungspotenzial und eine eigene Erfahrung für Betroffene mit sich bringt, die bei dem Blick durch nur eine dieser Linsen verborgen bleiben, wodurch Unterdrückung oft noch verschlimmert wird. In der Tat waren mit »Feminismus« eben meistens »weiße Frauen« und mit »Rassismus« meistens schwarze Männer gemeint (Crenshaw; McCaskill). Aus diesem Grund stellt #BlackLivesMatter genau jenes Zusammenspiel diverser Aspekte und die Anerkennung von Intersektionalität in all seinen Ausprägungen ins Zentrum der Bewegung. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum sich #BlackLivesMatter dagegen ausspricht, »aussichtsreiche Präzedenzfälle« auszuwählen und vor Gericht zu bringen wie es etwa Thurgood Marshall, einer der bekanntesten Anwälte während der Bürgerrechtsbewegung, tat. Er suchte sehr genau aus, wen er vor Gericht vertreten würde. Neben einer makellosen Vita, in der weder Teenagerschwangerschaft noch Vorstrafenregister einen Platz hatten, wurde auch auf

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ein adrettes Erscheinungsbild großen Wert gelegt. Die dahinterliegende Idee von Marshall und seinen Mitstreitern war, die von Weißen gesetzten Standards und für ihre Gruppe beanspruchte Werte derartig überzuerfüllen, dass eine Konzentration auf den eigentlichen Fall zumindest möglich werden sollte (Sollors 163). Diese Vorgehensweise Marshalls orientierte sich stark an den damaligen Gegebenheiten. Das sehr formelle Auftreten und die Wahl der Kleidung von damaligen Bürgerrechtlern kann ebenso dieser Idee der »Übererfüllung« zugeordnet werden. #BlackLivesMatter stellt diesen Ansatz grundsätzlich in Frage und fordert die grundlegende und umfassende Akzeptanz schwarzen Lebens. Denn wenn schwarze Leben zählen, so die Bewegung, muss das Leben in all seinen Facetten, also auch unabhängig von der Kleidungs- oder Wortwahl und unabhängig von Fehlern, Dummheiten oder Straftaten bedeutsam sein (Cullors). #BlackLivesMatter wird im Vergleich zur Bürgerrechtsbewegung häufig als leaderless movement, also als führungs- oder vielleicht sogar als kopflose Bewegung bezeichnet. In der Tat lehnt #BlackLivesMatter die sogenannte charismatische Herrschaft, wie sie noch in der Bürgerrechtsbewegung mit Martin Luther King oder Malcolm X praktiziert wurde, rigoros ab. #BlackLivesMatter führt als Gründe für die Ablehnung dieser Art der Führungsstruktur u.a. an, dass viele der damaligen Anführer Attentaten zum Opfer fielen und damit häufig auch die jeweiligen Ziele dieser Führungsgestalt mitgetroffen wurden. Wie vorhin schon im Zusammenhang mit der black church erwähnt, lehnt #BlackLivesMatter zudem patriarchale Herrschaftssysteme jeglicher Art ab (»11 Major Misconceptions«). Auch diese Idee sollte jedoch nicht als so neuartig verstanden werden, wie es in manchen Medienberichten dargestellt wird, denn während der Bürgerrechtsbewegung monierten Aktivistinnen ebenfalls bereits die Fixierung auf einzelne, meist männliche Führungsgestalten. Ella Baker zum Beispiel glaubte, dass wirklich starke Menschen keine starken Führungspersönlichkeiten nötig hätten. Sie lehnte demnach schon in ihren aktivsten Jahren als Bürgerrechtlerin (ca. 19301970) jegliche Ausprägung von charismatischer Herrschaft ab und lebte alternative Konzepte vor (Dyson 298).12 Die Faszination mit einzelnen Führungsgestalten und der Glaube an deren Notwendigkeit halten allerdings bis heute an. Dies führt auch zu Konflikten, welche nicht unbedingt zwischen Generationen, jedoch zuweilen zwischen Befürwortern der sogenannten »alten« und »neuen« Bürgerrechtsbewegung ausgetragen werden. Als zum Beispiel die in den USA sehr beliebte Fernsehikone Oprah Winfrey über #BlackLivesMatter sagte, dass sie die Ziele der Bewegung sehr unterstütze, doch nach wie vor auf das Hervortreten von Führungspersönlichkeiten – insbesondere von Frauen – warte, hagelte es Kritik auf diversen Kommunikationsplattformen im Internet. Oprah Winfrey habe den Kontakt zu ihrer community verloren und nicht verstanden, worum es #BlackLivesMatter ging, hieß es mehrfach auf Twitter und Co. (Huston; Reynolds). Wie ist dieses tiefe schein12 | Siehe dazu auch Christa Buschendorfs Aufsatz in diesem Band.

#BlackLivesMatter: Protest und Widerstand heute

bare Missverständnis zu erklären? Während es Oprah Winfrey wohl vornehmlich um die Frage geht, wie die Bewegung politisch Einfluss ausüben kann, was ein gewisses Maß an Personalisierung erfordern wird, macht #BlackLivesMatter wiederholt deutlich, dass es in dieser Bewegung eine Vielzahl von Führungspersönlichkeiten gibt. Diese seien jedoch kein Teil einer wie auch immer gearteten Elite, sondern kommen bewusst auch aus marginalisierten Teilen der Gesellschaft um nicht den Eindruck zu erwecken, es gebe den respektablen Entwurf von lebenswertem schwarzen Leben (Garza, »Interview«). Oprah Winfreys Ruf nach mehr Führungsstärke ist aber keineswegs so abwegig, wie es manche Reaktionen darauf vermuten lassen. In der Tat sind die drei Gründerinnen der Kampagne #BlackLivesMatter verhältnismäßig häufig in den Medien zu sehen und äußern sich öffentlich zu den für die Bewegung relevanten Themen. Demzufolge ist zumindest im Hinblick auf die Außenwirkung der Bewegung ein gewisser Hang zu charismatischer Herrschaft nicht von der Hand zu weisen. Da es sich bei Instagram, Facebook usw. jedoch um sehr bildzentrierte Medien handelt, ist dies wohl als kaum zu vermeidender Nebeneffekt der aktivistischen Arbeit zu betrachten. Die Tatsache, dass sich #BlackLivesMatter jedoch entschieden gegen die Vorstellung einer Führungsriege ausspricht, lässt auf ein gewisses Abgrenzungsbedürfnis zu hierarchischen, eher patriarchalen Führungsstrukturen aus der Vergangenheit schließen. Daher lehnt #BlackLivesMatter immer wieder jegliche Weisungsbefugnis einzelner Führungsgestalten ab, macht allerdings durchaus deutlich, dass in dieser Bewegung Frauen nun besonders in den Vordergrund treten und an Entscheidungsprozessen teilhaben, was in der Bürgerrechtszeit aufgrund der herrschenden Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen noch nicht in gleichem Umfang der Fall war (Robnett 35, 50, 119). In Bezug auf die öffentliche Anerkennung fristen allerdings auch heute noch Frauen oder Transgender-Personen eher ein Schattendasein in der Bewegung #BlackLivesMatter. So erhielten zum Beispiel männliche Opfer wie Eric Garner oder Tamir Rice deutlich mehr mediale Aufmerksamkeit als Sandra Bland, Rekia Boyd, Tanisha Anderson, Shelly Frey oder Yvette Smith. Protestaktionen wie Say her name, mit der zum Beispiel der demokratische Präsidentschaftskandidat Bernie Sanders im Jahr 2015 dazu »angehalten« wurde, Sandra Bland bei einer seiner Wahlkampfreden zu erwähnen, sollen dazu beitragen, Frauen und TransgenderPersonen die ihnen zustehende öffentliche Anerkennung zuteilwerden zu lassen (Rivas). Zudem sollen diese Aktionen dem Eindruck entgegenwirken, dass nur die Leben männlicher schwarzer Opfer zählen und eine entsprechende Reaktion generieren, während Demonstrationen nach ähnlichen Fällen von Frauen oder Transgender-Personen selbst in Unterstützerkreisen wesentlich weniger Zulauf erhalten. Wenn nicht schon im Vorfeld geschehen, erscheinen die Tode von Frauen und Transgender-Personen jedoch spätestens durch die niedrigen Zahlen von Demonstrierenden wiederum als unglückliche Einzelschicksale, Ausnahmen oder Unfälle.

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Genau der Umstand, dass Frauen und Transgender-Personen sichtlich weniger Protestierende auf den Plan rufen und ihre Fälle weitaus weniger Aufmerksamkeit erhalten, steht der eigentlichen Grundidee von struktureller Kritik und der Affirmation aller Schwarzen fundamental entgegen. Dies verdeutlicht, dass #BlackLivesMatter zwar auf theoretischer Ebene durchaus die Hauptprobleme identifiziert hat und in Angriff nimmt, dies jedoch auf praktischer Ebene, etwa bei Demonstrationen und im Hinblick auf sonstige Aufmerksamkeit, selbst in den eigenen Reihen, noch nicht die Umsetzung findet, die notwendig sein wird, um diese Bewegung auch dauerhaft tragfähig zu machen und ihr vor allem politisch Einfluss zu verleihen. Sollte es nicht gelingen, für die Anerkennung aller Schicksale von schwarzen Menschen stärker zu mobilisieren, könnte dies schlimmstenfalls die Glaubwürdigkeit der von #BlackLivesMatter artikulierten Ziele in Frage stellen. Da die Bewegung letztlich ein völliges Umdenken von allen Beteiligten einfordert, um die postulierten Veränderungen in die Tat umzusetzen, ist daher in Bezug auf die Kontroverse um Führungspersönlichkeiten kritisch anzumerken, dass eine bloße (rhetorische) Abkehr von charismatischen Machtstrukturen nicht durch die vermeintliche Schlagkraft einer meist anonymen Masse ersetzt werden kann, wenn es wirklich zu nachhaltigen Umwälzungen kommen soll.

#B lack L ives M at ter und P olitik Während politische Forderungen in der Bürgerrechtsbewegung ihren festen Platz hatten und sich zum Beispiel in den diversen Civil Rights Acts von 1960 (voter registration), 1964 (end discrimination) und 1968 ( fair housing) niederschlugen, schien #BlackLivesMatter vor der Bekanntgabe der Ziele der Campaign Zero der Politik zunächst bewusst entsagen zu wollen. Die Bewegung stellte sich zum Beispiel bewusst nicht hinter eine für die Präsidentschaft kandidierende Person und betonte wiederholt, dass sie sich in der non-endorsement Tradition des NAACP (National Association for the Advancement of Colored People) sehe und daher kein Interesse daran habe, explizit eine Person zu unterstützen, die dann schließlich nur das bestehende System perpetuieren würde. Da das Hauptanliegen von #BlackLivesMatter ein grundlegendes, gesellschaftliches Umdenken sei, seien durch Wahlen etablierter Parteien und Kandidaten erreichte Teilerfolge bestenfalls ein Weg, nicht jedoch das Ziel. #BlackLivesMatter ist jedoch im Wahlkampf 2016 präsent und wird von Kandidierenden mancher Parteien als Diskussionspartner eingeladen, von anderen jedoch, zum Beispiel den Anhängern Donald Trumps, auch mit körperlicher Gewalt von Veranstaltungen entfernt oder für irrelevant erklärt (Galperina). Prognosen über die Rolle, die #BlackLivesMatter in der Politik spielen wird, sind zu diesem Zeitpunkt schwierig, da besonders das Wahlkampfjahr 2016 äußerst dynamisch ist und daher noch mit etlichen Veränderungen und Strategiewechseln zu rechnen ist. Im Oktober 2015 startete #BlackLivesMatter eine

#BlackLivesMatter: Protest und Widerstand heute

Petition, um eine presidential debate eigens für Themen der Bewegung ins Leben zu rufen, um den Kandidierenden mehr Substanz abzufordern, nachdem zuvor während einer Debatte auf eine Wählerfrage, ob schwarze oder alle Leben zählen würden, alle perfekt vorbereitet die »richtigen« aber doch recht standardisierten Worthülsen als Antworten gegeben hatten (Gambino und Laughland). Zwar sieht es nach derzeitigem Stand nicht so aus, als würde bald eine solche eigene #BlackLivesMatter-Debatte stattfinden, der Anspruch der Bewegung, politisch Einfluss auszuüben wurde auf diese Weise jedoch klar zum Ausdruck gebracht. Ob und wie es #BlackLivesMatter gelingen wird, diesen Anspruch weiter auszubauen, bleibt abzuwarten.

D ie M acht und O hnmacht von B ildern Abschließend werde ich nun auf die Bedeutung von Bildern bzw. Fotografien in der Bürgerrechtsbewegung und für #BlackLivesMatter eingehen und ihre Rolle problematisieren. In der Bürgerrechtszeit wurden Freedom Riders wie Bayard Rustin regelmäßig, über Jahre, teilweise sogar über Jahrzehnte, zusammengeschlagen und gedemütigt, während sie die Aufhebung der Segregation in Bussen einem organisierten Alltagstest unterzogen (Haskins 73-74). Besondere Schubkraft erhielt die Bürgerrechtsbewegung jedoch meist erst, wenn Bilder von Vorkommnissen wie zum Beispiel im Jahr 1963 in Birmingham, Alabama medial verbreitet wurden. Auf diesen Bildern sind vorwiegend schwarze Jugendliche zu sehen, die mit Wasserwerfern malträtiert und auf welche Schäferhunde gehetzt werden. Diese Bilder der Eskalation der Birmingham Campaign führten bei vielen Weißen zu Gewissensbissen und zählen bis heute zu den ikonischen Fotografien aus der Zeit der Bürgerrechtsbewegung. Diese Bilder trugen maßgeblich dazu bei, dass die Masse der Menschen wuchs, welche die Bürgerrechtsbewegung unterstützten oder sich nicht mehr für die Segregation aussprachen. Diese Einsicht hat unter Umständen jedoch auch dazu geführt, dass die Mainstreammedien heute, wie #BlackLivesMatter kritisiert, ähnliches Material von aktuellen Fällen erst viel später oder in manchen Fällen gar nicht senden, um nicht noch weiteres Öl ins Feuer der Rassismusdebatte zu gießen. Um Bilder und Videos von derartigen Fällen möglichst schnell in Umlauf zu bringen und somit Druck auf die Berichterstattung der Mainstreammedien auszuüben, wichen zahlreiche Aktivist*innen auf soziale Medien wie Facebook, Twitter usw. aus. Es mag sein, dass die Präsenz von Videomaterial von der Erschießung Walter Scotts, der Bedrohung von schwarzen Teenagern mit gezogener Polizeiwaffe bei einer Poolparty oder der Leiche von Michael Brown wichtig ist, um das Unrecht, das geschieht, anzuprangern und es der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Schon früher, zum Beispiel im Jahr 1965, waren Bilder vom Bloody Sunday in Selma wichtige Werkzeuge in der Bürgerrechtsbewegung, um besonders die weiße

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Bevölkerung zu schockieren und zum Umdenken zu bewegen. Darüber hinaus machten es Bilder von Schäferhunden, die von weißen Polizisten auf schwarze Jugendliche gehetzt wurden schwer, weiterhin ernsthaft an eine moralische bzw. grundsätzliche Überlegenheit von Weißen zu glauben. Die Existenz und Verbreitung des Bildmaterials spielte daher eine zentrale Rolle dabei, die sogenannte white supremacy in Frage zu stellen. Gerade aber auch in Zeiten, die wesentlich schnelllebiger geworden sind und in denen Clips und Fotografien von allen möglichen Menschen mit den unterschiedlichsten Beweg- und Hintergründen geteilt werden, sind diese Bilder nicht ausschließlich Beweismaterial. Sie sind auch Drohgebärde und Zeugnis der bestehenden Machtverhältnisse und weisen damit – je nachdem, von wem sie gezeigt und wie sie gesehen werden – auch erschreckende Parallelen zu Bildern von Lynchings auf, die vor allem am Anfang des 20. Jahrhunderts als Postkarten von Weißen verschickt wurden, um ihre vermeintliche Überlegenheit zu kommunizieren (Apel 30). Die Effekte der Bilder von Taserkameras oder anderem Videomaterial, die derzeit so zentral für die »Glaubhaftigkeit« von #BlackLivesMatter zu sein scheinen, da sie die Missstände zu beweisen scheinen, sind somit auch als trügerisch zu bewerten. Denn diese Bilder zeigen nicht nur die Existenz von Rassismus, sie verschleiern unter Umständen auch wichtige Fragen, die sich besonders Menschen mit weißer Hautfarbe stellen sollten, um dagegen anzugehen. Einige davon sind: Wie viel zählen schwarze Leben, wenn es keine Bilder von toten, gefolterten oder erniedrigten Schwarzen gibt, die weißes Leben in seiner Behaglichkeit stören und die Notwendigkeit der Gleichstellung rigoros einfordern? Wäre es überhaupt möglich, mit weniger existenziellen Themen als Tod, Gewalt oder Armut die nötige Aufmerksamkeit für die Tatsache zu generieren, dass die Leben Schwarzer genauso bedeutsam sind wie die von Weißen? Wenn Bilder von Toten effizienter erscheinen, um diese Botschaft zu vermitteln, warum ist das so? Und schließlich: Was sind die direkten und indirekten Auswirkungen immer wieder gezeigter Bilder von geschundenen, inhaftierten und gefesselten schwarzen Körpern auf Schwarze und Weiße, während positive Darstellungen noch immer unterrepräsentiert sind und daher kein ausgleichendes Gegengewicht bilden können? Die Spannung, die zwischen den Vor- und Nachteilen des Zeigens dieser Bilder besteht, kann sicherlich nicht völlig aufgelöst werden. Die bloßen Bilder leisten jedoch viel weniger für die Agenda von #BlackLivesMatter als häufig vermutet wird. Diese Aufnahmen »sprechen nicht für sich« wie zum Beispiel auch die Blue Lives Matter-Organisation zeigt, die teilweise für die gleichen Bilder völlig andere Deutungsangebote macht. Dies macht deutlich, dass soziale Probleme wie Rassismus stets die soziale Interaktion benötigen, um eine Auseinandersetzung zu beginnen. Die bloße Präsentation von Beweismaterial wird zu keinen nachhaltigen Fortschritten führen. Bilder von toten Schwarzen verdienen, wie auch die Körper, die auf ihnen zu sehen sind, mehr Behutsamkeit, Schutz und vor allem das Vertrauen, dass auch

#BlackLivesMatter: Protest und Widerstand heute

ohne Beweisfotos von misshandelten Schwarzen den Forderungen von #BlackLivesMatter Aufmerksamkeit und Glauben geschenkt wird. Die Wissenschaftlerin Isabel Wilkerson gibt zudem zu bedenken, dass das »Hängenlassen« von gelynchten und gehängten schwarzen Körpern oftmals der Machtdemonstration von Weißen diente. Sie zieht hier erschreckende Parallelen zu dem Fall von Michael Brown, der mehr als vier Stunden auf der Straße lag, bevor sein Körper geborgen wurde. Ähnlich wie das »Hängenlassen« bei Lynchings kommuniziert jenes »Liegenlassen« – bewusst oder unbewusst – eine ähnliche Botschaft, nämlich Würde- und Wertlosigkeit schwarzer Körper und Menschen, während gleichzeitig die Vorherrschaft von Weißen im öffentlichen Raum demonstriert wird (Wilkerson). #BlackLivesMatter erhebt den Anspruch, eine globale Solidaritätsbewegung zu sein, die bewusst die Frage nach globaler Humanität stellt (Petersen-Smith). Die Themen Polizeigewalt und Rassismus werden jedoch, ebenso wie Schwarze selbst, oftmals exotisiert, was bedeutet, das Thema als eines zu behandeln, welches »auswärts«, weit weg, in den USA stattfindet. Dabei geraten rassistische Strukturen – und das Ausmaß sollte hier, gerade wenn es in Deutschland als geringer eingestuft wird, nicht das Kriterium für die Notwendigkeit der Auseinandersetzung sein – in Deutschland schnell aus dem Blick. Werden zum Beispiel in der deutschen Google-Suchmaschine lediglich die Begriffe »Polizeigewalt und Rassismus« auf Deutsch eingegeben, geht es in den ersten vier bis fünf Treffern ausschließlich um die USA. Dabei gibt es auch in Deutschland einige Fälle von polizeilicher Gewalt gegenüber Schwarzen. Es ist auch hier extrem schwierig, an Daten zu gelangen, da Hautfarbe in den Statistiken nicht erfasst wird, sodass nur die Fälle, bei denen Familienangehörige, Freunde und Aktivist*innen die Öffentlichkeit suchen, in den Medien im Ansatz Gehör finden (Thumiger). #BlackLivesMatter sollte daher nicht als amerikanische Bewegung oder gar als amerikanische Frage bezeichnet werden, die nicht hier, sondern nur dort relevant sei. Vielmehr sollte der Wert von schwarzem Leben nicht mit Zahlen und Bevölkerungsanteilen validiert werden müssen, sondern lediglich eine Frage der Humanität und somit grundsätzlich relevant sein.

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#BlackLivesMatter: Protest und Widerstand heute

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Der Fall Michael Brown: (Symbolische) Polizeigewalt und kollektive Fantasie Luvena Kopp For three hundred years, we’ve given them time. And I’ve been tired so long, now I’m sick and tired of being sick and tired and we want a change. – Fannie Lou Hamer, Dezember 1964

V orbemerkung : G e walt gegen S chwarze als amerik anische Tr adition Der Fall des 18-jährigen afroamerikanischen Jugendlichen Michael Brown, der am 9. August 2014 durch den weißen Polizisten Darren Wilson erschossen wurde, markiert einen Höhepunkt in Amerikas langer Tradition von Polizeimorden an Schwarzen. Es war nicht der erste und sollte nicht der letzte Höhepunkt in dieser Tradition sein. Was hier als Tradition beschrieben wird und so »American« ist wie »cherry pie«, wie es der militante Aktivist H. Rap Brown formulierte (zit. in Tkweme 107), bezeichnet die historische Kontinuität eines juristisch sanktionierten Systems von Unterdrückung – ein System, das die Täter allzu häufig aus ihrer Schuld entlässt und Schwarze fortwährend daran erinnert, dass ihre Körper im Verhältnis zu weißen Körpern wertlos sind. Die Formulierung der Wertigkeit soll keine sentimentale Lenkung sein, sondern auf die realen Bedingungen eines tradierten sozialen Machtgefälles verweisen, das den Nachfahren der einstigen Sklaven im Vergleich mit den Abkömmlingen der früheren Herrengruppe einen minderwertigen Sozial- und Rechtsstatus zuschreibt. Wie ist diese Abwertung schwarzen Lebens in Relation zu der Aufwertung weißen Lebens in den USA zu erklären? »In Amerika ist es Tradition, den schwarzen Köper zu zerstören – es ist sein Erbe«, schreibt Ta-Nehisi Coates in Zwischen mir und der Welt (105, Hervorh. i. O.). Die Geschichte dieser Tradition ist untrennbar mit dem Kapitalismus und dabei zunächst einmal mit einem der frühesten kapitalistischen Unterfangen der Neuzeit, dem atlantischen Sklavenhandel, verbunden. Die Middle Passage, über

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die schwarze Gefangene von Westafrika nach Nord- und Südamerika deportiert wurden, steht für eine kollektive Erfahrung der Gewalt, die Saidiya Hartman mit den Begriffen »violent domination, dishonor, natal alienation, and chattel status« erfasst (72). Der Bürgerkrieg hatte der Wirtschaft des Südens erheblich geschadet und die Abschaffung der Sklaverei drohte, seine traditionelle Rassentrennung zu zerstören. Es kam zu »periodischen Explosionen von Mobgewalt« gegen Schwarze (Wacquant, »Tödliche« 278), die an einen herrschenden Diskurs über schwarze Schuld, Verantwortungslosigkeit, Kriminalität und Bestrafung geknüpft wurden (Hartman 6). Dieser Diskurs baute u.a. auf dem 13. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten auf, welcher 1865 in Kraft trat und die Sklaverei, strenggenommen, nicht vollständig aufhob: »Weder Sklaverei noch unfreiwillige Dienstknechtschaft, außer als Strafe für ein Delikt, dessen die betreffende Person überführt worden ist, darf in den Vereinigten Staaten oder in irgend einem ihrer Hoheit unterworfenen Ort existieren« (Currie 115, Hervorh. d. Verf.). Das Gesetz sorgte formal für die Befreiung der Sklaven, schaffte zugleich jedoch auch die Bedingungen für die Unterminierung dieser Befreiung. Es ermöglichte die Wiedereinführung von schwarzer Zwangsarbeit und gewährte dem Süden, mit Blick auf den vom Bürgerkrieg verursachten wirtschaftlichen Schaden, die Möglichkeit einer ökonomischen Entlastung (Blackmon 53). Der 13. Zusatzartikel – und auch der 14. Zusatzartikel, der drei Jahre später in Kraft trat – ebnete somit den Weg für die rassistische Kriminalisierung, die vor allem ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur bestimmenden Form der Unterdrückung von Afroamerikanern in den USA aufsteigen würde.1 Heute befindet sich schätzungsweise jeder elfte Schwarze in den USA unter strafrechtlicher Kontrolle (Pew 5, 7). Zudem wird geschätzt, dass jeder 13. Schwarze bundesweit (und mehr als jeder fünfte Schwarze in den Bundesstaaten Florida und Kentucky) strafrechtlich vom Wahlrecht ausgeschlossen ist (Chung 2) – und das etwa 50 Jahre nachdem Mitglieder der Bürgerrechtsbewegung durch Protestmärsche von Selma nach Montgomery, Alabama das Wahlrecht für Schwarze und andere Minderheiten der USA unter brutaler Polizeigewalt erkämpft haben. Sowohl bei der politischen als auch bei der sozialen Ausgrenzung amerikanischer Schwarzer »ist das zu schützende nationale Gut«, wie der französische Soziologe Loïc Wacquant herausstellt, »die Vorstellung der ›Reinheit‹ – die der Wahl im [einen] Fall und die der weißen Gemeinschaft im anderen« (»Rasse« 305, Hervorh. i. O). In seiner Beobachtung hebt Wacquant die zentrale Rolle hervor, die der »Vorstellung« bei der Unterdrückung von Schwarzen in den USA zukommt. Sie 1 | Auch der 14. Zusatzartikel, der das Stimmrecht definiert, sieht einen Ausschluss vom Stimmrecht im Fall einer Straftat vor: »Wenn jedoch das Stimmrecht bei einer Wahl […] versagt oder irgendwie gekürzt wird (außer wegen Teilnahme an Aufruhr, oder wegen eines anderen Delikts), so wird der Maßstab der Vertretung darin in dem Verhältnis herabgesetzt, indem die Anzahl dieser männlichen Bürger zur Gesamtzahl der männlichen über einundzwanzig jährigen Bürger des Staates steht« (Currie 115-16, Hervorh. d. Verf.).

Der Fall Michael Brown: (Symbolische) Polizeigewalt und kollektive Fantasie

steuert die »Gefühlsbarrieren« bzw. die »emotionale Rigidität«, die Amerikas weißes Establishment gegenüber Schwarzen – insbesondere armen Schwarzen – und ihrer praktischen Gleichstellung in der U.S. Gesellschaft empfindet (Elias, »Zur Theorie« 17). Das nationale Gut der (Rassen-)Reinheit, welches Amerikas Herrschende nach Wacquant zu bewahren suchen, verweist auf eine weiße Etabliertenvorstellung, in der Schwarze »unvollkommen und […] grenzenlos unwürdig«, dem American Way of Life entgegengesetzt und daher »aus dem Gesellschaftskörper herauszuschneiden« sind (305). Die US-Polizei teilt diese Vorstellungen nicht nur, sondern führt sie als staatliche Exekutive praktisch aus. Im Kontext der jüngsten Fälle von Polizeigewalt zeigt sich dieser reale Effekt, den die Vorstellungen auf die Praktiken der Polizei ausüben, besonders deutlich am Fall des achtzehnjährigen Michael Brown. Die Tötung des Jugendlichen durch den weißen Polizisten Darren Wilson und die Proteste bzw. Unruhen, die sie in Browns Heimatstadt Ferguson – und darüber hinaus – auslöste,2 sind, wie ich im Verlauf dieses Aufsatzes zeigen werde, das Produkt der Vermählung zweier Herrschaftssysteme. Dabei handelt es sich um die traditionelle Verbindung zwischen der offenen bzw. »nackte[n] Gewalt« des Kapitals (Bourdieu, Sozialer 230) und der verschleierten bzw. symbolischen Gewalt von »Rasse«. Während der Ausdruck der ökonomischen Gewalt relativ verständlich ist, bedarf der Begriff der symbolischen Gewalt einer kurzen Erklärung. Symbolische Gewalt, ein Terminus beruhend auf einem Konzept des französischen Soziologen Pierre Bourdieu, bezeichnet eine »sanfte, für ihre Opfer unmerkliche, unsichtbare Gewalt« (Die männliche 8). Es ist eine »›gewaltlose‹ [Form] von Gewalt« (Schmidt 231), die auf der sinnstiftenden bzw. naturalisierenden Ebene »des Erkennens« und »äußerstenfalls, des Gefühls« (Die männliche 8) operiert; dadurch wird sie praktisch anerkannt und zugleich »in ihrer Wahrheit als Macht, als Gewalt, als Willkür« (Bourdieu, »Die verborgenen« 82) verkannt. Bourdieus Konzept beinhaltet keine Verharmlosung von physischer Gewalt (64), sondern ermöglicht ein breites und präzises Verständnis über die facettenreichen Mechanismen von Gewalt.3 Bei Polizeigewalt denkt man üblicherweise zunächst an physische Gewalt: etwa die 41 Schüsse, die Polizisten aus New York 1999 auf den guineischen Immigranten Amadou Diallo abgaben; die tödlichen Rückenmarksverletzungen, die Polizisten aus Baltimore dem 25-jährigen Freddie Gray bei seiner Verhaftung im April 2015 2 | Die Strukturen, Techniken und Positionen der Black Lives Matter-Bewegung werden in Nicole Hirschfelders Beitrag zu diesem Band besprochen. 3 | Der Ausdruck »character assassination« (Devereaux), mit dem Browns Familie die mediale Darstellung ihres Sohnes durch Fergusons Polizei kritisierte, macht die Wirkung dieser unsichtbaren Gewalt besonders deutlich. Der Begriff verweist auf den symbolischen Mord an Brown, den Fergusons Polizei durch ihre stereotype Darstellung des Jugendlichen – eine Darstellung basierend auf der Etabliertenvorstellung von schwarzen Kriminellen – zusätzlich zu dem physischen Mord verübt hat.

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zufügten; den tödlichen Polizeiwürgegriff, dem Eric Garner, etwas weniger als einen Monat vor dem Mord an Brown, erlag; oder die Elektroschocks, die Polizisten aus Ferguson dem psychisch kranken Jason Moore im September 2011 zufügten, der daraufhin an einem Herzanfall starb. Um die verschiedenen Facetten dieser exzessiven Polizeigewalt vollständig zu erfassen, muss man zusätzlich zu ihrer offenkundigen Dimension ihre verborgene Dimension in den Blick nehmen. »Es gibt kein Machtverhältnis, wie mechanisch und brutal es auch sein mag«, schreibt der Soziologe Robert Schmidt in einem Artikel über Bourdieus Konzept der symbolischen Gewalt, »das nicht zusätzlich noch symbolische Wirkung ausübt« (232). Die folgende Untersuchung der Gewalt im Fall Brown ist daher auch eine Untersuchung der verborgenen Strukturen der Macht – insbesondere der symbolischen Gewalt der Vorstellungen und Fantasien –, die die traditionelle Unterdrückung der Schwarzen in Ferguson organisiert und vorantreibt. Der erste Abschnitt dieses Aufsatzes beinhaltet eine Zusammenfassung des Falles. Im zweiten Abschnitt stelle ich die historischen und sozialen Strukturen heraus, die die Rassenbeziehung in Ferguson geprägt und organisiert haben. Im letzten Abschnitt setze ich diese objektiven Strukturen in Beziehung zu den subjektiven Vorstellungen über Schwarze im Allgemeinen und Michael Brown im Besonderen, die Fergusons Herrschende entwickelt haben. In diesem Zusammenhang stelle ich ebenfalls die symbolische Macht von Stereotypen heraus und zeige, wie sie sich in Wilsons grand jury-Aussage niederschlug.

D er F all M ichael B rown Die Begegnung zwischen Michael Brown und Darren Wilson ereignete sich um etwa 12 Uhr mittags. Um 12:02 war der unbewaffnete Jugendliche tot.4 Über das, 4 | Das Forschungskollektiv Mapping Police Violence, das u.a. von Aktivisten der Black Lives Matter-Bewegung gegründet wurde, zeigt, dass mindestens 30 Prozent aller Schwarzen (im Vergleich zu 19 Prozent aller Weißen), die 2015 von der US-Polizei getötet wurden, unbewaffnet waren (»Police Killed At Least«). Wegen der Untererfassung von Polizeigewalt wird die Dunkelziffer von den Forschern des Kollektivs jedoch höher geschätzt (»Police Killed More Than«). Die Zahlen der Tageszeitung The Guardian divergieren ein wenig von denen des Forschungskollektivs: Hier sind es 32 Prozent aller Schwarzen (und 15 Prozent aller Weißen), die zum Zeitpunkt ihrer Ermordung durch die Polizei unbewaffnet waren (Swaine, Laughland und Lartey). Mapping Police Violence, das The Counted-Projekt des Guardian und ein vergleichbares Projekt der Washington Post zählen zu den umfassendsten Initiativen zur Erfassung von Polizeigewalt in den USA. Bei einem Treffen von Politikern und Offiziellen der amerikanischen Exekutive im Oktober 2015 betonte FBI-Direktor James Comey, dass es »embarrassing and ridiculous« sei, dass der britische Guardian und die Washington Post umfangreichere Daten zu Polizeigewalt in den USA besäßen als die USRegierung (zit. in Tran).

Der Fall Michael Brown: (Symbolische) Polizeigewalt und kollektive Fantasie

was in den 120 Sekunden dieser Begegnung geschah, gibt es verschiedene Versionen. Wilson sitzt, seinen eigenen Angaben zufolge, in seinem Streifenwagen, einem SUV der Marke Chevrolet Tahoe, als über Funk der Diebstahl von Zigarillos in einem nahegelegenen Mini-Markt gemeldet wird. Da die Täter geflüchtet sind, beschließt Wilson, dieser Meldung nicht nachzugehen (State V: 202-03; Halpern). Als er die Straße Canfield Drive im Südosten Fergusons entlangfährt, fallen ihm plötzlich zwei Jugendliche auf, die mitten auf der Straße gehen. Nach einem Bericht des Justizministeriums, welcher im nächsten Abschnitt ausführlicher besprochen wird, waren 95 Prozent aller Personen, die von 2011 bis 2013 in Ferguson für vermeintliches Fehlverhalten als Fußgänger ( jaywalking) bestraft wurden, schwarz (United States, Dept., The Ferguson Report 7, 99, 105). Wilson nähert sich den Jugendlichen – es handelt sich um Brown und seinen Freund Dorian Johnson. Er fordert diese dazu auf, den Gehweg zu benutzen, wie Johnson später erklärt, mit den Worten: »Get the fuck on the sidewalk« (State IV: 45, 87-88). Johnson informiert Wilson darüber, dass sie kurz vor ihrem Ziel sind und die Straße gleich verlassen werden. Doch der Polizist insistiert, dass sie die Straße augenblicklich verlassen sollen. Vor der grand jury wird der Polizist – entgegen der Schilderung von Johnson – aussagen, dass Brown die polizeiliche Anweisung mit »fuck what you have to say […]« erwiderte (State V: 208, 240-41). Wilson, der seine Aufmerksamkeit nun vollständig auf Brown richtet, bemerkt die Zigarillos in seiner rechten Hand und erinnert sich an den gemeldeten Diebstahl (209; United States, Dept., Department 6). Der Polizist fordert daraufhin Verstärkung an und parkt seinen SUV im Rückwärtsgang quer auf der Straße, wobei er den Jugendlichen den Weg versperrt und den Verkehr blockiert.5 Was dann passiert, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. An Wilsons Wagentür kommt es scheinbar zu einem Handgemenge zwischen Brown und dem Polizisten, in dessen Verlauf letzterer seine Waffe zieht. Wilson behauptet später, dass Brown versucht habe, ihm die Waffe zu entreißen (United States, Dept., Depart-

5 | Der Polizeichef erklärte auf einer Pressekonferenz, dass Wilsons Entscheidung, die Jugendlichen anzuhalten, nichts mit dem Ladendiebstahl zu tun hatte (Lee und Richinick). Ferner enthielt der Notruf von Wilson keinen Hinweis auf den gemeldeten Ladendiebstahl noch auf die Tatsache, dass er Brown als Tatverdächtigen erkannt haben wollte. Wilsons Straßenblockade kann daher als eine Handlung verstanden werden, die über seine vermeintliche Kenntnis des Ladendiebstahls hinausgeht. Aufgefasst als symbolische Machtdemonstration fügt sich die Straßenblockade in den größeren Zusammenhang der weißen Herrschaft über Fergusons Straßen bzw. sozialen Raum ein, zu dem auch die vornehmliche Bestrafung schwarzer Fußgänger gehört. Der Journalist Jake Halpern bemerkt hierzu: »Intentionally or not, Wilson’s decision to blockade the street sent a message: You will defer to the power that I exhibit, or I am going to force you back into place«.

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ment 6; State V: 214-17).6 Es fallen zwei Schüsse. Die Jugendlichen ergreifen die Flucht. Wilson steigt aus seinem Wagen und nimmt die Verfolgung von Brown auf. Johnson, der hinter einem nahegelegenen Auto in Deckung geht, sagt später aus, dass Wilson – entgegen seiner eigenen Aussage – während der Verfolgungsjagd auf Brown geschossen habe (State IV: 117-20; United States, Dept., Department 46). An einem Laternenpfahl bleibt Brown schließlich stehen und dreht sich zu Wilson um (United States, Dept., Department 7; State V: 227; State IV: 120-22; Devereaux). Insbesondere über die folgenden Ereignisse gehen die Zeugenaussagen weit auseinander. Wilson und diejenigen, die seine Aussage stützen, berichten, dass Brown wütend auf den Polizisten zurast (State V: 227-29; United States, Dept., Department 27-36; Devereaux). Andere berichten, dass Brown lediglich auf Wilson zugeht (United States, Dept., Department 39-41). Wiederum andere, darunter Johnson, sagen, dass Brown seine Hände in einer kapitulierenden Geste hebt und Wilson darüber informiert, dass er unbewaffnet ist (State IV: 124-25; United States, Dept., Department 46-48; Devereaux).7 Am Ende waren es sechs bis acht Schüsse, mit denen Wilson Brown tötete (United States, Dept., Department 17). Vor den Geschworenen der Anklagekammer erklärte der Polizist später, dass er erst am nächsten Tag die Namen der beiden Jugendlichen erfahren habe (State V: 207). Nach der Tötung wurde Browns Leiche nicht unmittelbar weggebracht; stattdessen ließ man den Toten – das Gesicht und den Bauch nach unten gewandt, die Hose halb heruntergerutscht und eine Blutspur von seinem Körper abfließend – stundenlang auf dem heißen Asphalt, für alle Anwohner sichtbar, liegen (State IV: 162-63; Devereaux).8 Browns Ermordung wird daher oft als ein Akt der 6 | In seinem Bericht über den Mordfall hält das Justizministerium fest, dass Brown, wie die Obduktionsberichte zeigen, mit seiner rechten Hand nach Wilsons Waffe gegriffen habe (United States, Dept., Department 18, 21). Aus dem Bericht geht jedoch nicht hervor, ob er dabei tatsächlich versuchte, Wilson die Waffe zu entreißen oder ob er dadurch die Schüsse abwehren wollte (State V: 268-70), die der Polizist zuvor angedroht hatte (United States, Dept., Department 13; State IV: 100, 104; State V: 214). 7 | Die letzte Version hat die Protesttechnik Hands Up, Don’t Shoot ins Leben gerufen, bei der Protestierende diese Worte rufen, während sie ihre Arme heben. Auch wenn es Zweifel an dieser Version gibt – so liefern die Obduktionsberichte beispielsweise keine eindeutigen Beweise dafür, dass Brown sich tatsächlich auf diese Weise ergab (United States, Dept., Department 11, 19) – unbestritten bleibt, dass der Jugendliche zum Zeitpunkt seines Todes unbewaffnet war. Hands Up, Don’t Shoot muss daher als symbolische Geste verstanden werden, die die physische Machtungleichheit zwischen schwarzen Bürgern und der Polizei herausstellt und so das Stereotyp des bewaffneten kriminellen Schwarzen performativ unterminiert. 8 | Browns Leiche wurde nach 20 Minuten abgedeckt (United States, Dept., Department 8). Dass sie die Leiche stundenlang liegen ließen, erklären die Polizisten u.a. damit, dass die aufgebrachte Menschenmenge, die sich nach der Erschießung am Tatort gebildet hatte, die Spurensicherung erschwert und dadurch verzögert habe (8-9).

Der Fall Michael Brown: (Symbolische) Polizeigewalt und kollektive Fantasie

Entmenschlichung interpretiert. Isabel Wilkerson hebt die entmenschlichende Dimension dieser anti-schwarzen Gewalt, die sich vom Lynchterrorismus im 19. und 20. Jahrhundert bis zum Polizeiterrorismus des 20. und 21. Jahrhunderts erstreckt, besonders deutlich hervor: The demeaning objectification of the victim that was evident historically also persists to current times. During [the] formal Jim Crow [era], the lynched body was sometimes left hanging for days or weeks as a lesson to people not to step outside the caste into which they had been born. In a similar way, Michael Brown’s body was left in the street in Ferguson for four hours in the August sun after he had been killed. 9

Wilkersons Beobachtung sensibilisiert die Leserin für die Art und Weise, in der das Außerordentliche – ein Akt extremer anti-schwarzer Gewalt –, sowohl bei den Lynchmorden des 19. und 20. Jahrhunderts als auch im vorliegenden Polizeimord an Brown, durch die Vernachlässigung des toten schwarzen Köpers banalisiert wird. Die Leiche wird durch das Hängen- bzw. Liegenlassen zu einem spektakulären Instrument der Einschüchterung, dient der herrschenden Klasse dadurch als dramatisches Symbol ihrer Macht. Das komplexe Zusammenspiel aus Banalität und Spektakularität, Angst und Voyeurismus, außerordentlicher Gewalt und Alltagserfahrung sowie schwarzer Identifikation mit dem Opfer und Distanzierung von dessen Schicksal betont eine Facette von »black suffering«, die Hartman als »terror of the mundane and quotidian« bezeichnet (3-4). Browns dramatische Ermordung löste eine Welle des Entsetzens und der Wut in den USA aus, die sich in landesweiten, wochenlangen Protesten und Unruhen entlud. Diese erinnerten das Land daran, dass die Wahl des ersten afroamerikanischen Präsidenten, entgegen einiger optimistischer Prognosen, nicht der Auftakt eines sogenannten post-racial oder colorblind Zeitalters war. Im Verlauf der Proteste rief der Gouverneur des Bundesstaates Missouri den Notstand aus und entsandte die Nationalgarde nach Ferguson, die Ausgangssperren verhängte. Poli9 | Das Jim Crow-Regime (1876-1964) etablierte die gesetzlich verankerte Rassentrennung in allen Lebensbereichen des Südens der USA und dessen angrenzenden Bundesstaaten. Entstanden als Reaktion auf die Abschaffung der Sklaverei und die anschließende, kurzlebige Phase der Rekonstruktion (die u.a. die gesellschaftspolitische Integration der Schwarzen vorsah), sorgte diese zweite peculiar institution (Wacquant, »Tödliche« 278) für die Aufrechterhaltung des Rassenstigmas und, damit verwandt, die fortwährende materielle und symbolische Herrschaft des weißen Establishments, die die Sklaverei zuvor eingeführt hatte. Neben dem gesellschaftlichen Ausschluss der Schwarzen sorgten eine Reihe von disqualifizierenden Verordnungen, wie etwa die »Großvaterklausel«, für die politische Entmachtung der »Außenseiter«. Die Kontrolle der schwarzen Arbeitskraft wurde vor allem durch »extrem ausbeuterische Ernteverträge und Zinsknechtschaft« sichergestellt, die ferner dafür sorgten, dass die ehemaligen Sklaven weiterhin an die Felder ihrer früheren Herren gebunden waren (278).

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zisten setzten Schlagstöcke, Gummigeschosse, Hunde und Tränengas gegen die Demonstrierenden ein. Es gab zahlreiche Verhaftungen, unter anderem auch von Journalisten, die über die Lage in der Stadt berichten wollten. Amnesty International prangerte Menschenrechtsverletzungen an, insbesondere im Hinblick auf Verstöße gegen das Versammlungsrecht und die Pressefreiheit (Amnesty 6-18). Die Polizei in Ferguson hielt die Identität von Wilson nahezu eine Woche lang geheim, angeblich aus Angst um seine Sicherheit (Devereaux). Zeitgleich mit der Bekanntgabe von Wilsons Identität veröffentlichte die Polizei ein Überwachungsvideo aus dem Mini-Markt, das Brown beim Stehlen der Zigarillos zeigt. Diese Kriminalisierung der Opfer rassistischer Polizeigewalt ist eine gängige Strategie der Täter und ihrer Anhänger. Kleinere Vergehen wie der Ladendiebstahl von Brown, der angebliche Verkauf von einzelnen Zigaretten im Fall von Eric Garner oder der Konsum von Marihuana in den Fällen von Trayvon Martin und Brown werden als Beweise für die »kriminelle Natur« und »moralische Verkommenheit« der Getöteten angeführt. Sie sind der vermeintliche Beleg für die Verletzung der Grundwerte der rechtstreuen, hart arbeitenden (weißen) Amerikaner, durch die der Schwarze sein Lebensrecht scheinbar verwirkt hat. Die Paradoxie dieser Logik gründet unter anderem darin, dass das amerikanische Konzept von Schwarzsein die Abweichung von den etablierten Normen gewissermaßen eo ipso impliziert. »Von der Geburt der Kolonien bis zum heutigen Tage«, schreibt Wacquant, »wurden Schwarze, wenn auch in variierender Intensität und in unterschiedlichem Ausmaß, in die Rolle der lebenden Antithese des ›Modellamerikaners‹ gezwungen« (»Rasse« 301).10 Durch den ständigen Verweis auf Plünderungen und Vandalismus in der Mainstream-Berichterstattung über Unruhen in schwarzen Ghettos wird der menschliche Wert der »besitz- und ehrlosen« Bewohner (»Tödliche« 271) ferner implizit gegen den Wert der zerstörten Sachgüter abgewogen; denn die Todesangst der Bewohner angesichts der Brutalität der Polizei und ihre ohnmächtige Wut über die gewaltsamen Bedingungen ihrer Enteignung und Entehrung sind offenbar nicht so verdammenswert wie das Einschlagen von Ladenfenstern.11 Bereits Martin Luther King, Jr., den die Öf10 | Diese Entgegensetzung von Schwarzen und Weißen beinhaltet einmal mehr die symbolische Entmenschlichung der Ersteren, häufig in direkter Relation zur symbolischen Vermenschlichung der Letzteren. Besonderes Aufsehen erregte ein Fall, in dem ein Polizist die hauptsächlich schwarzen Protestierenden in Ferguson als »animals« beschimpfte (Fantz, Howell und Shoichet; »The Killing«). Diese Beschimpfung, die auf den ersten Blick nicht rassistisch erscheint, steht, wie ich im dritten Abschnitt dieser Untersuchung aufzeige, in der Tradition einer stereotypen Darstellung, die Schwarze animalisiert und ihre Unterdrückung durch die herrschende weiße Klasse somit legitimiert. Fergusons Bürgermeister James Knowles entschuldigte diesen Vorfall mit der Aussage, die Polizei sei »only human« (Fantz, Howell und Shoichet). 11 | Die implizite Verrechnung von »black suffering« mit dem Warenwert der Güter – eine Meldung auf der Onlineplattform der Sendung CBS News wies mehrfach darauf hin, dass

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fentlichkeit insbesondere als gewaltlosen Widerstandskämpfer kannte, hatte in seinen Reden auf die sozio-logische Struktur der Aufstände in den Ghettos hingewiesen. »A riot«, so ein berühmter Ausspruch des Bürgerrechtlers, »is the language of the unheard« (King; Gilea). Der mediale Fokus auf Plünderungen und Vandalismus, der von der strukturellen Gewalt der »Etablierten« ablenkt und die Missachtung der Ungehörten dadurch vorantreibt, erfüllt noch einen weiteren Zweck, wie Wacquant in seiner Kritik des Begriffs der »underclass« zeigt: [D]ie Thematik der »underclass« [tendiert] dazu, das Dilemma, das durch den beschleunigten Verfall der verarmten schwarzen Viertel in den amerikanischen Metropolen aufgeworfen wurde, zu entpolitisieren. Denn für den Fall, dass die »underclass« tatsächlich eine Ansammlung von gescheiterten Individuen ist, die den Keim für ihre missliche Lage und das Leid, das sie anderen zufügen, in sich tragen, dann kann an keine kollektive Verantwortung appelliert werden, weder bei der Ursachenforschung noch was mögliche Hilfen betrifft. Der Diskurs über die »underclass« ist ein Instrument der Disziplinierung […] nicht so sehr für die Armen selbst, sondern für all diejenigen, die darum kämpfen, nicht in das urbane Fegefeuer zu fallen, das der Name symbolisiert (d.h. die ArbeiterInnenklasse in ihren verschiedenen Bestandteilen, speziell Schwarze und Latinos) und die beste Garantie für die Politik der De-facto-Preisgabe des Ghettos durch die dominierende Klasse des Landes. (»Entzivilisierung« 28-29)

Diese Preisgabe der Ghettos durch Amerikas dominierende Klasse bedeutet nicht das Ende der repressiven Präsenz des Staates in Gestalt der Polizei; ihre Gewalt wird durch die stereotype Kriminalisierung der Schwarzen zusätzlich legitimiert. Nach der Tötung von Brown prüfte die grand jury eine mögliche Anklage gegen Wilson. Um Anklage vor einem ordentlichen Gericht zu erheben, müssen die Geschworenen einer grand jury davon überzeugt werden, dass das Beweismaterial gegen einen Verdächtigen einen hinreichenden Tatverdacht begründet (Leipold 262, 264). In einem grand jury-Verfahren geht es also weniger um die Klärung der tatsächlichen Schuldfrage als um die Klärung der Beweislage. Die Staatsanwaltschaft, die lediglich das aus ihrer Sicht überzeugendste Beweismaterial vorlegt (306), besitzt dabei die Deutungshoheit über den Fall und kann daher die Brown eine Packung Swisher Sweets-Zigarillos im Wert von 48,99 Dollar gestohlen hatte (»Ferguson Police«) – kann im Kontext der Verdinglichung gesehen werden, die afrikanische Gefangene im Zuge ihrer Versklavung in den USA erfahren haben. »Black people deported to North America might have experienced slavery on the African continent«, schreibt Eva Boesenberg in ihrem Aufsatz »The Color of Money«, »but their commodification in the New World represented a new dimension of dehumanization. […] Treated as chattel and assigned a cash equivalent, the slaves were depersonalized further by the degree of abstraction inherent in monetary language, which screens contextual relations and reduces vastly different activities, objects, and relations to a common denominator« (117).

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Geschworenen theoretisch dazu bewegen, »ein Schinkensandwich anzuklagen,« wie ein Richter aus New York einst bemerkte (Gould; Leipold 263fn.15). Die Frage, ob ein Verdächtiger angeklagt wird, hängt somit weniger von der Beweislage ab als vom Willen der Staatsanwaltschaft. Im Mordfall Brown war die Tatsache, dass es sich bei dem Verdächtigen um einen Polizisten handelte, bedeutend. Für die Beweisführung und den Erfolg ihrer Fälle sind Staatsanwälte in der Regel auf die Arbeit jener Polizisten angewiesen, gegen die sie gegebenenfalls eine Anklage erwirken müssten, wenn sie einer Straftat verdächtigt werden. Es ist angesichts dieser institutionellen Abhängigkeit, die die Staatsanwaltschaft an die Polizei bindet, nicht verwunderlich, dass erstere selten daran interessiert sind, letztere zur Anklage zu bringen. Das grand jury-Verfahren gegen Wilson wurde vom Bezirksstaatsanwalt Robert McCulloch geleitet. In den 23 Jahren seiner Amtszeit leitete McCulloch vier Verfahren gegen Polizeibeamte und in keinem dieser Fälle wurde Anklage erhoben. Sein fünftes Verfahren gegen Wilson war dabei keine Ausnahme (Milbank; Lee).12 Auch das US-Justizministerium, das eine Bürgerrechtsklage gegen Wilson prüfte, kam zu dem Schluss, dass die Beweise für eine solche Anklage nicht ausreichten. Im Vergleich zu den relativ niedrigen Anforderungen eines grand juryVerfahrens sind die für eine Bürgerrechtsklage verhältnismäßig hoch: Die Bundesstaatsanwaltschaft muss zweifelsfrei beweisen, dass der mutmaßliche Täter mit dem ausdrücklichen Vorsatz handelte, gegen das Gesetz zu verstoßen; sie muss ferner zeigen, dass die Gewaltanwendung objektiv unverhältnismäßig – »objectively unreasonable« – war (United States, Dept., Department 4, 9-12). Während es in den meisten Fällen von Polizeigewalt nahezu unmöglich ist, den Polizeibeamten einen vorsätzlichen Gesetzesbruch nachzuweisen, wird der Vorwurf der unverhältnismäßigen Gewaltanwendung von den Polizisten üblicherweise dadurch abgewendet, dass sie angeben, um ihr Leben gefürchtet zu haben.13 Das Justiz12 | Kritiker heben verschiedene Aspekte hervor, die ihrer Ansicht nach darauf hinweisen, dass McCulloch tatsächlich nicht daran interessiert war, Wilson zur Anklage zu bringen. McCulloch übergab den Großteil der Verfahrensarbeit an zwei Staatsanwältinnen seiner Behörde, die u.a. die Befragung von Wilson durchführten. Es wird vermutet, dass er sich auf diese Weise von den täglichen Geschäften – und Wilsons »Freispruch« – distanzieren wollte (Devereaux). Besonders wird jedoch die Tatsache kritisiert, dass die Staatsanwaltschaft, entgegen der üblichen Vorgehensweise, in diesem Fall das gesamte Beweismaterial vorlegte. Diese Strategie und Wilsons ausführliche Aussage hätten den Fall zu einem Zweifelsfall gemacht und die Geschworenen dazu bewogen, gegen eine Anklage zu stimmen. Im Unterschied zu ordentlichen Gerichtsverfahren kann ein Tatvorwurf wiederholt vor eine grand jury gebracht werden (Leipold 292; »Vince Warren«). Eine weitere Kritik beinhaltet, dass diese Möglichkeit bisher nicht realisiert wurde (»Vince Warren«). 13 | Entsprechend argumentierte Wilson bereits im grand jury-Verfahren, dass Brown eine Gefahr für sein Leben dargestellt habe (Devereaux). Der Journalist Ryan Devereaux deutet Wilsons Erscheinen im grand jury-Verfahren wie folgt: »The fact that Wilson testified was

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ministerium erhob keine Anklage gegen Wilson, veröffentlichte jedoch, in einer gewissermaßen breiteren Form der Anklage, zeitgleich mit einem Untersuchungsbericht über den Fall Brown einen Bericht über das Ferguson Police Department (FPD). Dieser Bericht, der in den Worten des Rechtsprofessors Theodore M. Shaw »comprehensive, objective, factual, and damning« ist (ix), gewährt Einblick in das systemische Machtgefälle in Ferguson, das zu dem Mord an Brown geführt hat.

F erguson : G eschichte einer vorstädtischen M arginalität Um ein besseres Verständnis von Fergusons Rassenordnung zu erlangen, muss die Geschichte der Stadt in den Blick genommen werden. Mit ca. 21.000 Einwohnern ist Ferguson eine von 89 Gemeinden im Landkreis des St. Louis County, Missouri (United States, Dept., The Ferguson Report 11).14 Die Demographie der Stadt hat sich in den letzten 40 Jahren stark verändert. Betrug der Anteil an Schwarzen 1970 noch weniger als ein Prozent und der Anteil an Weißen mehr als 99 Prozent, so waren es 2010 67 Prozent Schwarze und 29 Prozent Weiße, die in Ferguson lebten (United States, »Census Tracts« 2; United States, Dept., The Ferguson Report 11; Rothstein 3). Diese starke Veränderung bezeichnet nicht etwa einen Integrationsprozess, in dem Schwarze allmählich am vorstädtischen Wohlstand der weißen Mittelschicht teilhaben, sondern verweist auf die geographische Realisation der symbolischen Rassengrenzen (Wacquant, »Rasse« 289-90). Der Ökonom Richard Rothstein beschreibt diese Segregationsprozesse ausführlich in der Einleitung seiner Studie »The Making of Ferguson«: The following pages tell the story of how St. Louis became such a segregated metropolis, where racial boundaries continually change but communities’ racial homogeneity persists. Neighborhoods that appear to be integrated are almost always those in transition, either from mostly white to mostly black (like Ferguson), or from mostly black to increasingly white (like St. Louis’s gentrifying neighborhoods). Such population shifts in St. Louis and other metropolitan areas maintain segregation patterns established by public policy a century ago. Whereas 20th century segregation took the form of black central cities surrounded telling. He was not legally required to do so, and in most grand jury cases defendants do not testify because their attorney cannot be present. This move, some suggested, was an indication that Wilson and his legal counsel felt the proceedings would work to his favor«. Die Journalistin Amy Goodman stellt ferner heraus, dass Wilsons Anwesenheit im Verfahren zur Vermenschlichung seiner Tat beigetragen hat (»Vince Warren«). 14 | Amerikas dezentrale Staatsgewalt, eine Staatsstruktur, durch die sich die USA von den meisten europäischen Staaten unterscheiden, hat dafür gesorgt, dass jede der 89 Gemeinden in St. Louis County eine eigene Polizeibehörde besitzt. Nach dem Fall Brown fordern Kritiker dieser engmaschigen Polizeiüberwachung daher keine Reform, sondern die komplette Abschaffung des FPD (»In Trip«).

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Luvena Kopp by white suburbs, 21st century segregation is in transition – to whiter central cities with adjoining black suburbs, while farther out, white suburbs encircle the black ones. (3-4)15

Ferguson gehörte, so Rothstein, bis Mitte der 1960er Jahre zu den sogenannten Sundown Towns (3, 32fn. 2; United States, Dept., The Ferguson Report 118). Sundown Towns sind Orte mit rein weißer Bevölkerung, die Nichtweiße, insbesondere Schwarze, unter Gewaltandrohung dazu auffordern, die Gemeinde bis Sonnenuntergang zu verlassen. Ihre Entstehung war eine Reaktion auf die Abschaffung der Sklaverei und die sich anschließende Phase der Rekonstruktion, die eine staatliche Neuordnung und die sozialpolitische Inklusion der Schwarzen vorsah (Loewen, Sundown 6). Ein charakteristisches Merkmal von Sundown Towns waren Ortsschilder, die bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts mit entsprechenden Warnhinweisen versehen waren: »Nigger, Don’t Let The Sun Go Down On You In…« oder »Nigger, Read This Sign and Run« (zit. in Loewen, Sundown 3, 69).16 Im Fall von Ferguson wurde nach Sonnenuntergang die Hauptstraße Suburban Avenue verbarrikadiert, die die Stadt mit der afroamerikanischen Nachbarstadt Kinloch verband (Rothstein 3). Auch in den übrigen Gemeinden von St. Louis County wurde die Segregation der Wohngegenden durch diverse – oftmals staatlich unterstützte – Maßnahmen aufrechterhalten. Diese beinhalteten rassistische Bebauungspläne, die zur Entstehung von geschützten weißen Wohnvierteln einerseits und heruntergekommenen schwarzen Ghettos andererseits 15 | In der Abschlussbemerkung seines Textes vergleicht Rothstein die Segregationsprozesse in den USA des 21. Jahrhunderts mit denen Europas: »[A]s historian Colin Gordon has noted, in Europe, the opposite pattern prevails – middle-class whites reside in the center cities, and low-income immigrants settle in the suburbs, where public housing is located. Today, as whites in St. Louis and elsewhere find gentrifying urban neighborhoods more attractive, and displaced African Americans relocate in heavy concentrations to specific suburbs, we may be replicating segregation on the European model« (31). 16 | Der Soziologe James Loewen, der die Geschichte und Entwicklung der Sundown Towns untersucht hat, geht davon aus, dass diese weiterhin existieren, auch wenn die Verschleierungsstrategien der Bewohner eine genaue Erforschung oft erschwert haben (Sundown 379-87). »African Americans who tried to move into other sundown suburbs and towns have had trouble as recently as 2004 […]«, bemerkt Loewen (11). Es mag verwundern, dass Sundown Towns vor allem außerhalb der ehemaligen Sklavenstaaten entstanden (57). Loewen erklärt dies mit dem Umstand, dass die Staaten des Deep South aufgrund ihrer traditionellen Sklavenökonomie auf billige schwarze Arbeitskräfte angewiesen waren (»Sundown Towns« 26-27); ferner ist denkbar, dass besonders ausgedehnte und rigide Jim Crow-Gesetze im Süden den Ausschluss von Schwarzen auf eine Weise sicherstellten, die der Organisation von Sundown Towns mehr oder weniger entsprach. Loewen hat Berichte und Forschungsergebnisse über Sundown Towns (darunter eine Kartographie ehemaliger und aktueller Sundown Towns) auch auf der Webseite Sundown Towns: A Hidden Dimension of American Racism zusammengetragen.

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führten, ein segregiertes Sozialwohnungswesen, das Integration auf diesem Gebiet unterband und schließlich diskriminierende Immobilienverkäufe, die dafür sorgten, dass die Zusammensetzung der Wohnviertel bestehen blieb (5-28). Die Weigerung zur Integration ging dabei, wie so häufig, vor allem von jenen aus, die die mangelnde Integrationsfähigkeit der anderen kritisierten: Die Weißen in den Gemeinden von St. Louis County sahen die prekäre Lebenssituation der Schwarzen nicht als ein Problem des systematischen Ausschlusses und der staatlichen Vernachlässigung, sondern als Beweis einer allgemeinen schwarzen Unfähigkeit zur sozialen Ordnung, einer menschlichen bzw. kulturellen Minderwertigkeit, mit der sie nicht assoziiert, genauer gesagt, infiziert werden wollten.17 Nach der Ermordung von Martin Luther King, Jr. im April 1968 gab es Proteste in Kinloch, die Fergusons Bewohner dazu zwangen, die abendlichen Blockaden der Suburban Avenue aufzugeben (Rothstein 32fn.2; United States, Commission 610). Als dann gegen Ende der 60er Jahre die ersten Schwarzen nach Ferguson zogen, schossen Schilder mit der Aufschrift »For Sale« vor den Häusern der weißen Nachbarn wie Pilze aus dem Boden (Rothstein 4, 25-26). Diese white flight ist, Rothstein zufolge, ein wiederkehrendes Muster in St. Louis County: Die Weißen versuchen die »rassische« Homogenität ihrer Gemeinde mit allen Mitteln aufrecht zu erhalten; schaffen es Schwarze dennoch – etwa durch Immobilienkäufe über weiße Strohmänner – diese Homogenität aufzubrechen, so ist der »weiße Charakter« der Gemeinde verloren; sie wird von den Weißen aufgegeben und ihre Bevölkerungsstruktur wechselt blitzartig von mehrheitlich weiß zu mehrheitlich schwarz (2-5, 14). Angesichts des rapiden Anstiegs der schwarzen Bevölkerung in Ferguson wurde es für die verbliebenen Alteingesessenen besonders wichtig, sich als weiß zu positionieren. Whiteness ist demnach nicht biologisch zu verstehen, sondern als eine Form der Wahrnehmung, des Erkennens und des Verhaltens (Wacquant, »Rasse« 289); es ist eine Haltung, ein Anspruch, eine ideologische, soziale und – wie das Beispiel der Segregation in St. Louis County zeigt – räumliche Position. Es ist das symbolische Prinzip eines Machtvorteils, den eine Gruppe (Fergusons Alteingesessene) gegenüber einer anderen Gruppe (Fergusons Neuankömmlinge) beansprucht und besitzt. Meine Verwendung der Begriffe »Alteingesessene« und »Neuankömmlinge« sowie »Etablierte« und »Außenseiter« basiert auf dem Modell der Etablierten17 | Die Ausgrenzung der »Außenseiter« basiert, dem deutschen Soziologen Norbert Elias zufolge u.a. auf einem Gefühl der »Etablierten«, das etwa einem Empfinden von Ekel entspricht: »Zugleich aber zeigt die Vermeidung jedes engeren gesellschaftlichen Kontakts mit Angehörigen der Außenseitergruppe alle Merkmale einer Gefühlsreaktion, die man in einem anderen Zusammenhang ›Angst vor Beschmutzung‹ nennt. Da Außenseiter als anomisch empfunden werden, bringt der engere Kontakt mit ihnen für einen Angehörigen einer Etabliertengruppe die Gefahr einer ›anomischer Ansteckung‹ mit sich […]« (»Zur Theorie« 18-19).

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Außenseiter-Beziehung, das von dem deutschen Soziologen Norbert Elias und seinem damaligen Studenten John L. Scotson entwickelt wurde. In ihrem 1965 erschienenen Buch Etablierte und Außenseiter stellen die Autoren heraus, dass soziale Ungleichheit bzw. Diskriminierung nicht in erster Linie auf der Basis von Merkmalen wie Rasse oder Klasse, sondern auf der Basis von ungleichen Machtbalancen erfolgt (Elias, »Zur Theorie« 26-27). Sie stützen ihre These auf die empirische Untersuchung der Machtverhältnisse in einem englischen Vorort, in dem die Mitglieder zweier Gruppen als »Etablierte« bzw. »Außenseiter« agieren. Der einzige Unterschied zwischen diesen Gruppen besteht darin, dass diejenigen, die sich zur Etabliertengruppe zählen, seit mehreren Generationen im Ort leben, während diejenigen, die zu »Außenseitern« gemacht werden, Neuankömmlinge sind (10). Das Etabliertengefühl der menschlichen Höherwertigkeit gründet in dem sozialen Ausschluss der Außenseiter – insbesondere von den Machtressourcen der Gemeinde – und dem Gruppenzusammenhalt der »Etablierten«, der sich wiederum aus ihrer gemeinsamen Geschichte, ihren Traditionen und ihren Werten ergibt. Auch in Ferguson gelang es der alteingesessenen weißen Minderheit, die Machtquellen der Stadt für sich zu reservieren: Im Jahr von Browns Tod waren in Ferguson – einer Stadt, in der mehr als jeder zweite schwarz ist – sowohl der Polizeichef als auch der Bürgermeister weiß (Levintova et al.; Smith). Auch der Stadtrat und der Schulausschuss repräsentierten mit jeweils einem schwarzen Mitglied nicht die afroamerikanische Mehrheit der Stadt (Levintova et al.; Rivas; St. Louis County i). Dem weißen Polizeichef unterstand eine Armee von 53 Polizisten, von denen nur drei schwarz waren (Levintova et al.; Smith).18 Somit war die wichtigste Machtressource, die der legitimen physischen Gewalt, fest in der Hand des weißen Establishments. Jeff Smith, ein ehemaliger Senator aus Missouri, beschrieb diesen Zustand in einem Artikel der New York Times treffend unter dem Titel »In Ferguson, Black Town, White Power«. Es lohnt sich, will man die Machtstrukturen in Ferguson besser verstehen, diese white power genauer zu betrachten. Es wird geschätzt, dass jeder vierte in Ferguson unterhalb der Armutsgrenze lebt (United States, Dept., The Ferguson Report 11). Es sind somit vornehmlich arme Schwarze, die die kapitalistisch-rassistische Polizei- und Justizgewalt der Stadt, die das Justizministerium in seinem Bericht aufgedeckt hat, erleiden. Ständige Verkehrskontrollen, strenge Gemeindeverordnungen, willkürliche und oftmals unrechtmäßige Personalkontrollen und Verhaftungen, ungenaue Auslegungen von Gesetzen, empfindliche Geldstrafen für kleinere Delikte und ein rigides Gebührensystem werden dazu benutzt, die schwarzen »Außenseiter« zum Vorteil der Stadtkassen auszubeuten und durch Schulden und Gefängnisaufenthalte in ihre Schranken zu weisen. Kleinste »Vergehen«, wie etwa Falschparken (United States, Dept., The Ferguson Report 5, 172fn. 46), das Tanzen auf der Straße (42-43), 18 | Das Justizministerium, das die Untersuchung des FPD im September 2014 aufnahm, berichtet von 54 Polizisten, von denen vier schwarz waren (12, 136).

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die Angabe eines Spitznamens bei einer Personenkontrolle (4, 32) oder der Verweis auf die eigenen Rechte (4, 32, 36, 45-46) können zu hohen Geld- oder sogar Gefängnisstrafen führen. Eine Übertretung wird nicht selten mehrfach geahndet (7). Wilson sprach in einem Interview mit dem Journalisten Jake Halpern von einem Kollegen, der insgesamt 16 Strafzettel bei einer Kontrolle ausgestellt hätte. Gefragt, wie viele Strafzettel er denn bei einer Kontrolle ausstelle, antwortete er: »normalerweise« nicht mehr als drei. Umsatzgenerierung, so heißt es in dem Bericht des Justizministeriums, werde im FPD stark betont und diese Anweisung komme aus dem Rathaus (3). Weiter heißt es: »Partly as a consequence of City and FPD priorities, many officers appear to see some residents, especially those who live in Ferguson’s predominantly African-American neighborhoods, less as constituents to be protected than as potential offenders and sources of revenue« (4). Das FPD wird in seiner Funktion als Eintreibe- bzw. Inkassobehörde des Stadtgerichts zu einem Hauptagenten in der Produktion des schwarzen Rassenstigmas.19 Kriminalisierung kann in den USA – und womöglich nicht nur dort – als die farbenblinde Schwester der Rassifizierung gesehen werden. Sie ermöglicht die Produktion einer ethnisch untergeordneten Klasse, die gewissermaßen »qua Geburt für minderwertig, geschändet und schädlich« erklärt und infolgedessen ausgebeutet und ausgeschlossen werden darf (Wacquant, »Das Rassenstigma« 108). Farbenblinde Strategien sind besonders wichtig in einer Zeit, in der das Bürgerrechtsgesetz von 1964 und weitere Errungenschaften der Bürgerrechtsbewegung offenkundig rassistischen Ausschluss und Kontrolle unter Strafe gestellt haben. Michelle Alexander bemerkt hierzu in ihrem Buch The New Jim Crow: In the era of colorblindness, it is no longer socially permissible to use race, explicitly, as a justification for discrimination, exclusion, and social contempt. So we don’t. Rather than rely on race, we use our criminal justice system to label people of color »criminals« and then engage in all the practices we supposedly left behind. Today it is perfectly legal to discriminate against criminals in nearly all the ways that it was once legal to discriminate against African Americans. […] As a criminal, you have scarcely more rights, and arguably less respect, than a black man living in Alabama at the height of Jim Crow. We have not ended racial caste in America; we have merely redesigned it. (2)

Die Auswirkungen dieser Neugestaltung des »rassischen« Kastensystems lassen sich auch in Fergusons physischer Polizeigewalt beobachten. Dem Justizministerium zufolge sind es bis zu 90 Prozent Schwarze, insbesondere psychisch Kranke und Jugendliche, die dieser Gewalt zum Opfer fallen (48). In einem Fall kämpfte ein 16-jähriger Schwarzer, der des Autodiebstahls beschuldigt wurde, mit den 19 | Der Hinweis auf die Funktion des FPD als Eintreibe- bzw. Inkassobehörde findet sich lediglich in der digitalen Fassung des Berichts (55), die über die Homepage des US-Justizministeriums zugänglich ist.

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Elektroschocks, die ihm ein Polizist mit einer Elektroschockpistole zufügte, während er von dem Hund eines anderen Polizisten angegriffen wurde (54). In einem anderen Fall setzte ein Justizvollzugsbeamter einen Elektroschocker gegen einen Gefängnisinsassen mit bipolarer Störung ein, der das Glas einer Deckenleuchte zerbrochen hatte, um sich mit den Scherben die Pulsadern aufzuschneiden. Der Justizvollzugsbeamte begründete seine Tat mit dem Argument, dass es sich bei dem Glas um »Sicherheitsglas« handelte, das nicht zum Aufschneiden der Haut bestimmt wäre (60). In einem dritten Fall versetzte ein Justizvollzugsbeamter einem schwarzen Gefängnisinsassen einen fünf Sekunden langen Elektroschock, weil dieser aus seiner Zelle heraus urinierte und den Beamten dabei am Hosenbein getroffen hatte (55-56). Das letzte Beispiel ist besonders exemplarisch für die Willkür der Polizeigewalt, die vornehmlich vergeltend bzw. strafend eingesetzt wird.20 Der Machtvorteil von Fergusons weißem Establishment beruht demnach auf seiner Teilhabe am Stadt- bzw. Staatsmonopol der physischen Gewalt. Dieses Gewaltmonopol erlaubt es vor allem weißen Männern, Fergusons Schwarze zu kontrollieren, zu schikanieren und zu demütigen; und es ist ein Machtvorteil, der den Etablierten nicht zuletzt die Entscheidungshoheit über Leben und Tod der Außenseiter zuspielt.

S chwarze S tereot ypen : S ymbolische M acht einer kollek tiven F antasie In seinem Bericht stellt das Justizministerium zudem heraus, dass das FPD seine Gewalt gegenüber Schwarzen insbesondere mit Stereotypen rechtfertigt (United States, Dept., The Ferguson Report 2-9, 98-100, 70-122). Die überproportionale Repräsentation von Schwarzen in den Kriminalstatistiken der Stadt begründen die Beamten mit dem, was sie – in einer Sprache, die die Rassendimension ihrer Diskriminierung leugnet – als »pervasive lack of ›personal responsibility‹ among ›certain segments‹ of the community« ansehen (8). Und obwohl Afroamerikaner außerordentliche Anstrengungen unternehmen (115), um die Strafen abzubezahlen, die sie in einem Fallstrick aus Schulden und Gefängnisaufenthalten gefangen halten sollen, ist es die Wirksamkeit dieses knebelnden Systems, die die Polizisten in ihrem Glauben an die stereotype Verantwortungslosigkeit der Schwarzen bestätigt.21 20 | Die Gewalt der kriminalisierenden Polizei ist dabei selbst kriminell, wie das Justizministerium betont: »The punitive use of force by officers [of the FPD] is unconstitutional and, in many cases, criminal« (United States, Dept., The Ferguson Report 55). 21 | Während die Offiziellen der Stadt bei schwarzen Bürgern Strenge walten lassen, wird die Abschreibung von Schulden bei Mitgliedern der eigenen Gruppe bereitwillig toleriert. Das Justizministerium deckt eine Gefälligkeitspolitik in Fergusons Establishment auf, die vor allem die Abschreibung von Schulden beinhaltet: »The common practice among Fer-

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Nach Elias stützt sich Diskriminierung unter anderem auf kollektive Fantasien, die »Etablierte« über »Außenseiter« entwickeln. In der Etabliertenfantasie besitzen die »Außenseiter« häufig ein sichtbares Mal – etwa eine bestimmte Hautfarbe – welches ihre angenommene Minderwertigkeit natürlich kennzeichnet. »[D]as soziale Stigma, das sie [die »Etablierten«] den anderen anheften, verwandelt sich in ihrer Vorstellung in ein materielles Stigma; es wird verdinglicht«, schreibt Elias in seiner theoretischen Einführung zu Etablierte und Außenseiter (32). Weiter heißt es: »[D]as physische Kennzeichen dient als greif bares Symbol für die unterstellte Anomie der anderen Gruppe, für ihre menschliche Minderwertigkeit, ihre tiefinnere ›Schlechtigkeit‹« (33). Diese phantasmatische Benennung des Andersseins, die »die bestehende Verteilung der Machtbalancen« (33) naturalisiert und dadurch legitimiert, befördert einen Mechanismus, in dem die »Etablierten« ihren Machtvorrang anerkennen und die Gewalt, die sie ausüben und die ihrer Herrschaft zugrunde liegt, zugleich praktisch verkennen. Elias bemerkt hierzu: »Damit wird die stigmatisierende Gruppe von jeder Schuld entlastet: Nicht wir – das besagt die Phantasie – haben diesen Menschen ein Brandmal aufgedrückt, sondern höhere Mächte, die Schöpfer der Welt; sie haben diese Menschen gezeichnet, um sie als minderwertig oder ›schlecht‹ kenntlich zu machen« (32-33, Hervorh. i. O.). Ähnlich beschreibt es Wacquant: [D]ie vom Ausschluss betroffene Kategorie von Personen [wird] zu einer Gruppe dauerhaft untergeordneter Außenseiter gemacht, die für ihre staatsbürgerliche Randständigkeit und ihren minderwertigen Rechtsstatus selbst verantwortlich sind. Dies entlässt die Gruppe der Etablierten aus ihrer Rolle und Verantwortung dafür, dass sie eben diese Unterscheidung und diesen Zustand hergestellt haben. (305-06)

Im Fall der Stereotypisierung, wie sie in Ferguson zu beobachten ist, wird die Verkennung der Gewalt durch einen weiteren Aspekt vorangetrieben. Die Hervorhebung der vermeintlichen Anomie (»lack of ›personal responsibility‹«) bzw. Animalität der schwarzen »Außenseiter« hebt das verdinglichte Stigma des Schwarzseins nämlich auf eine Weise hervor, die den Akt der Verdinglichung

guson officials of writing off tickets […] evidences a double standard grounded in racial stereotyping. Even as Ferguson City officials maintain the harmful stereotype that black individuals lack personal responsibility – and continue to cite this lack of personal responsibility as the cause of the disparate impact of Ferguson’s practices – white City officials condone a striking lack of personal responsibility among themselves and their friends. Court records and emails show City officials, including the Municipal Judge, the Court Clerk, and FPD supervisors assisting friends, colleagues, acquaintances, and themselves in eliminating citations, fines, and fees« (115, Hervorh. d. Verf.). Dieser Umstand verdeutlicht die Legitimationsmacht der »Etablierten«, die es ihnen erlaubt, die Regeln des Spiels beliebig und zu ihren Gunsten zu ändern.

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selbst negiert. So erklärt Wacquant in seinem Aufsatz »›Rasse‹ als staatsbürgerliches Verbrechen«: Gemeinsam mit der Wiederkehr längst überholter kriminologischer Mythologien […] und der Verbreitung von animalischen Metaphern in den journalistischen und politischen Feldern (wo die Rede von »vorsozialen Superraubtieren«, »Wolfrudeln«, »Tieren« u.Ä. gebräuchlich ist) hat die massiv überzogene Inhaftierung von Schwarzen dem gesunden Menschenverstand eine wirksame Vollmacht dafür ausgestellt, »Hautfarbe als Symbol für Gefährlichkeit zu verwenden«. (291-92) 22

Der Begriff der »Phantasie« in Elias’ Konzept sollte uns nicht beirren, wie der Soziologe selbst erklärt: Ihre gesellschaftliche Wirksamkeit beruht ja zum guten Teil darauf, daß sie nicht als Phantasien, sondern als tatsachengerechte Ideen verstanden werden. Und da sie als kollektive Phantasien gesellschaftliche Wirksamkeit haben, bilden sie selbst – zum Unterschied von vielen rein persönlichen Phantasien – zugleich auch ein Stück der gesellschaftlichen Wirklichkeit. (Die Gesellschaft 117) 23 22 | Das Konzept der »Superraubtiere« (»super-predators«) wurde u.a. durch den Politikwissenschaftler John DiIulio in den mythischen Diskurs über kriminelle Schwarze eingeführt. In seinem Artikel »The Coming of the Super-Predators« (1995) warnt DiIulio vor einer heranwachsenden »army of young male predatory street criminals«, die instinktiv töten und »›in wolf packs‹« aufträten. DiIulio greift für seine Beschreibung eines Problems, das er insbesondere in »black inner-city neighborhoods« aufkommen sieht, auf zahlreiche Motive zurück (z.B. Vaterlosigkeit, Drogenabhängigkeit, urbane Kriminalität und nicht zuletzt das Motiv des Raubtieres), die Amerikas Weiße traditionell zur Stigmatisierung von Schwarzen benutzen. Hillary Clinton wurde zuletzt häufig von Black Lives Matter-Aktivist*innen mit einer Rede konfrontiert, in der sie 1996 die Bedeutung eines organisierten Einsatzes gegen Straßengangs betonte. Diese Gangs, so Clinton, beständen nicht mehr aus Kindern, sondern aus gefühls- und gewissenlosen »super-predators« (Andre). Mit dieser farbenblinden, rassistischen Sprache befeuerte die damalige First Lady die kollektive Etabliertenfantasie, um für die politischen Programme ihres Mannes, des damaligen Präsidenten Bill Clinton, zu werben; dieser hat mit seiner »Sozialhilfereform« und Kriminalitäts- bzw. Drogenpolitik »more than any other president« zur Entstehung des rassifizierten Kastensystems im heutigen Amerika beigetragen (Alexander 56). 23 | Elias beschreibt kollektive Fantasien auch als Vorstellungen »einer früheren Lebensstufe« (»Zur Theorie« 35), die oftmals an »magisch-mythisch[e] Naturvorstellungen« gekoppelt sind (Die Gesellschaft 118); dies rückt sein Konzept in die Nähe der animistischen Weltanschauung, die Sigmund Freud etwa in seiner Untersuchung des Unheimlichen beschreibt (263-67). Insofern lässt sich die These aufstellen, dass die »Außenseiter« den »Etablierten« gewissermaßen unheimlich sind. Im Fall Brown zeigt sich dies insbesondere in Wilsons unheimlicher Darstellung des Jugendlichen im grand jury-Verfahren.

Der Fall Michael Brown: (Symbolische) Polizeigewalt und kollektive Fantasie

Diese Wirklichkeit ist aber weder »gottgegeben« noch natürlich, wie es kollektive Fantasien suggerieren, sondern muss selbst als das Produkt gesellschaftlicher Kämpfe und Machtbeziehungen verstanden werden. »Wir diskriminieren eine Gruppe nicht, weil sie anders ist«, betonte Astrid Franke in ihrer Einführung zur Vorlesungsreihe Von Selma bis Ferguson: Die USA nach der Bürgerrechtsbewegung, »sondern wir nennen diese anders, weil wir sie diskriminieren«. Eine Gruppe als anders wahrzunehmen und zu benennen ist demnach nicht die Grundlage für Diskriminierung; vielmehr ist die Diskriminierung, genauer gesagt der soziale Kampf, die Grundlage des Benennens und der Wahrnehmung – eine Wahrnehmung, die unter anderem auf der symbolischen Macht von kollektiven Fantasien im Allgemeinen und Stereotypen im Besonderen beruht. Historisch gehen afroamerikanische Stereotypen vor allem auf die minstrel show zurück. Diese Form des populären Theaters bot weißen Männern im Norden ein Forum, in dem sie den sozialen und politischen Herausforderungen des 19. Jahrhunderts mit der unbekümmerten Ignoranz und Verantwortungslosigkeit des stereotypen »Negers« begegnen konnten.24 Minstrel shows umfassten musikalische Darbietungen und dramatische Parodien, die afroamerikanische Lebensweisen und kulturelle Praktiken verhöhnten und Schwarze als sorglos, gierig, dumm und faul darstellten. Die Verbindung zwischen Schwarzsein und Minderwertigkeit verdichtete sich in einem besonderen Stilmittel dieser Theaterform – dem schwarzgefärbten Gesicht (blackface). Jim Crow, der dem späteren System der Rassentrennung seinen Namen gab, gehörte zu den populärsten Stereotypen der minstrel show.25 Er und andere stereotype Figuren sangen und tanzten ständig, wodurch die angebliche Fröhlichkeit und Zufriedenheit der Sklaven hervorgehoben wurde. Mit der Abschaffung der Sklaverei veränderte sich das Stereotyp. Die lustigen Merkmale traten in den Hintergrund und die gefährlichen, animalischen Merkmale wurden stärker betont (Ostendorf 74). Unter der weißen Herrengruppe herrschte nun die Angst vor einer Vergeltung der ehemaligen Sklaven. Vor allem aber befürchteten die »Etablierten« den Verlust ihres Machtvorteils, besonders im Hinblick auf das Monopol über physische Gewalt und weiße Frauen. Der schwarze Clown Jim Crow wurde zu einer jähzornigen, hyperaggressiven, stumpfsinnigen Bestie, die sich über die Autorität des weißen Mannes hinwegsetzte, nach 24 | Zu diesen Herausforderungen gehörten u.a. die Industrialisierung und der wachsende Einfluss der Marktdisziplin, die Urbanisierung der Nordstaaten, angetrieben insbesondere durch Einwanderungswellen aus Europa, der Abolitionismus, der die Brutalisierung (Voelz 129, 141) des sectional conflict zwischen den Nord- und Südstaaten beförderte, die aufkommende Frauenbewegung und nicht zuletzt der Bürgerkrieg und die anschließende Phase der Rekonstruktion. 25 | Im Hinblick auf Wilsons stereotype Repräsentation von Brown richte ich den analytischen Fokus an dieser Stelle auf Stereotype über schwarze Männer, verweise aber darauf, dass Stereotype über schwarze Frauen die symbolische Herrschaft bzw. Gewalt von »Rasse« ebenfalls elementar stützen.

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weißen Frauen lechzte und eine Gefahr für die Gesellschaft darstellte, die durch Lynchjustiz aufgehalten werden musste. Das wohl bekannteste Beispiel für dieses Stereotyp des black brute (»schwarze Bestie«) ist die Figur Gus in D.W. Griffiths Historienepos The Birth of a Nation. In diesem 1915 erschienenen Stummfilm bedrängt der ehemalige Sklave Gus – gespielt von einem weißen Mann in blackface – ein weißes Mädchen, dessen Name Flora ihre Unschuld symbolisiert. Es wird nahegelegt, dass Gus Flora vergewaltigen will. Um der Schande einer »rassisch« stigmatisierten Vergewaltigung zu entkommen, springt das Mädchen von einem Abhang in den Tod. Die Vergeltung lässt nicht lange auf sich warten: Gus wird vom heroisierten Ku-Klux-Klan gefangen genommen und gelyncht.26 »Die Träume von Nationen (wie von Gruppen) sind gefährlich«, schreibt Elias (»Zur Theorie« 45). Die Gefahr, die von kollektiven Fantasien bzw. Stereotypen ausgeht, besteht nicht in erster Linie darin, dass sie falsch sind, sondern darin, dass man an sie glaubt. Der Glaube an das Stereotyp des black brute bestimmt den amerikanischen Diskurs über Kriminalität. Wacquant erklärt: In der Ära der law and order-Rassenpolitik und ihres soziologischen Pendants, der Masseninhaftierung von Schwarzen, ist das in der Öffentlichkeit vorherrschende Bild des Kriminellen nicht nur das eines »Monsters – eines Wesens, das sich in seinen Merkmalen vollständig von uns unterscheidet« – sondern darüber hinaus das eines schwarzen Monsters, wobei junge männliche Afroamerikaner aus der inner city als hochexplosive Verkörperung moralischer Degeneration gelten. Durch die Verknüpfung von Schwarzsein und Verbrechen […] reaktivieren die kollektiven Repräsentationen und die politischen Maßnahmen – indem sie den Ressentiments gegen Schwarze in Form öffentlicher Verunglimpfungen von Kriminellen und Gefangenen ein Ventil verleihen – das traditionelle Konzept von »Rasse«. (»Tödliche« 306)

Im Interview mit Halpern betonte Wilson, dass seine Polizeiarbeit nichts mit »Rasse« zu tun habe. Eine genaue Betrachtung seiner grand jury-Aussage zeigt jedoch, dass er seinen Mord an Brown auf der Basis einer Vor- bzw. Darstellung legitimierte, die das traditionelle Konzept von »Rasse« in die kollektive Fantasie der schwarzen Bestie übersetzt.27 26 | Der Ku-Klux-Klan ist eine rassistische Organisation, die im Geheimen agiert und Minderheiten, insbesondere Schwarze, im Namen einer vermeintlichen white supremacy mit Gewalt und Terror unterdrückt. 1865 gegründet, erlebte er, nach der Auflösung im Jahr 1871, mit dem Erscheinen von Griffiths Erfolgsfilm eine neue Blütezeit. Der republikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump geriet zuletzt in die Kritik, weil er sich zunächst weigerte, die Unterstützung des ehemaligen Klan-Anführers David Duke abzulehnen. 27 | Es ist unmöglich, mit Sicherheit zu sagen, was Wilson dachte, als er Brown erschoss. Ebenso wenig lassen sich die Gedanken und Absichten erfassen, die seine Aussage vor der grand jury steuerten. Die Tatsache, dass Wilsons grand jury-Aussage nahezu identisch mit der Aussage ist, die er zwei Monate später während eines Fernsehinterviews tätigte, lässt

Der Fall Michael Brown: (Symbolische) Polizeigewalt und kollektive Fantasie

Das Handgemenge mit Brown beschreibt der Polizist wie folgt: »[W]hen I grabbed him, the only way I can describe it is I felt like a five-year-old holding onto Hulk Hogan« (State V: 212). Der Vergleich mit einem Kind steht in einem symbolischen Argumentationszusammenhang mit der Unschuld der weißen Frau. Er betont nicht nur die vermeintliche körperliche Unterlegenheit des Polizisten, der zum Zeitpunkt des Handgemenges bewaffnet war, sondern auch die Unschuld und, im weitesten Sinne, die weiße Reinheit, wie es die Philosophin Judith Butler in ihrer Analyse eines vergleichbaren Falles von Polizeigewalt bemerkt: [T]he infantilized white […] is positioned […] as one who is helpless in relation to that black body, as one definitely in need of protection by his/her mother or, perhaps, the police. The fear is that some physical distance will be crossed, and the virgin sanctity of whiteness will be endangered by that proximity. The police are structurally placed to protect whiteness against violence, where violence is the imminent action of that black male body. And because within this imaginary schema, the police protect whiteness, their own violence cannot be read as violence. (18)

Tatsächlich projiziert Wilson seine eigene Gewalt in die angeblich imminente Gewalt des schwarzen Brown; denn in dem Moment, da der Polizist seine ersten Schüsse schildert, repräsentiert er den Jugendlichen explizit als Bestie: »[H]e looked up at me and had the most intense aggressive [sic!] face. The only way I can describe it, it looks like a demon, that’s how angry he looked« (State V: 224-25). Brown, der von einem der Schüsse getroffen wurde, flüchtet. Wilson nimmt die Verfolgung auf und stoppt, als der Jugendliche an einem Laternenpfahl anhält. Was danach passiert, schildert der Polizist wie folgt: He turns, and when he looked at me, he made like a grunting, like aggravated sound and he starts, he turns and he’s coming back towards me. His first step is coming towards me, he kind of does like a stutter step to start running. When he does that, his left hand goes in a fist and goes to his side, his right one goes under his shirt in his waistband and he starts running at me. (227)

vermuten, dass seine Selbstrepräsentation – nicht zuletzt aufgrund der politischen Brisanz des Falles – das Produkt einer gezielten Strategie ist. Dies steht jedoch nicht im Widerspruch zu meinem Argument über Wilsons Rückgriff auf die kollektive Fantasie des black brute, denn Elias’ Konzept bezeichnet keine individuelle, sondern eine historisch tradierte, kollektive Vorstellung. Wilson bedient sich mit seiner stereotypen Beschreibung von Brown einer symbolischen Sprache, die, selbst wenn sie nicht seiner persönlichen Wahrnehmung entspricht, bei den anderen Mitgliedern seiner Gruppe ein wirkmächtiges Etabliertengefühl der Bedrohung auslöst. Die Philosophin Judith Butler spricht von einer »white paranoia in which a white community is always and only protected by the police […]« (19).

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Wilson schießt. Dass er den Jugendlichen erneut getroffen hat, erkennt er daran, dass dieser kurz zusammenzuckt. Doch Brown, nun bereits mehrfach getroffen, rennt offenbar weiter. Wilson berichtet: »At this point it looked like he was almost bulking up to run through the shots, like it was making him mad that I’m shooting at him« (228). Weiter heißt es: »I know if he reaches me, he’ll kill me. And he had started to lean forward as he got that close, like he was going to just tackle me, just go right through me« (229). Wilson tötet Brown mit einem Kopfschuss. Diesen letzten Moment beschreibt der Polizist wie folgt: »And when it [die Kugel] went into him, the demeanor on his face went blank, the aggression was gone, it was gone, I mean, I knew he stopped, the threat was stopped« (229). Der Rückgriff auf die Etabliertenfantasie des black brute ist unverkennbar: Brown wird in Wilsons Erzählung zu einem knurrenden Monster mit gewaltiger Kraft und unzähmbarer Wut. In heimtückischer Tötungsabsicht rast dieses unkontrollierte Biest dem Polizisten, trotz mehrfacher Schusswunden, entgegen. Den Schmerz, den Brown durch Wilsons Schüsse erlitten haben muss, spricht ihm die Etabliertenfantasie jedoch ab. Brown, der wegen seiner überdurchschnittlichen Größe und seinem Gewicht von vielen auch Big Mike genannt wurde, war in den Vorstellungen der Etablierten in Ferguson eine Gefahr, lange bevor sich der Konflikt am 9. August ereignete. In einer Stadt, in der Schwarze historisch nicht willkommen sind und in der man versucht, diesen traditionellen Ausschluss mit Hilfe eines engmaschigen Kontrollnetzes – aus ökonomischer Ausbeutung einerseits und sozialer Abschottung andererseits – aufrechtzuerhalten, kann jede Übertretung der Rassengrenzen für einen Schwarzen tödlich sein. Die schwarze Bestie muss getötet werden, weil sie sich gegen die weiße Autorität auflehnt. Brown rang offenbar, wie viele Jugendliche in seinem Alter, mit verschiedenen Autoritäten (Halpern). Ferner hatte er sehr wahrscheinlich, wie die meisten Mitglieder seiner Außenseitergruppe, sein Vertrauen in die Arbeit des FPD verloren und war daher eher geneigt, sich den Anweisungen der Polizei zu widersetzen (United States, Dept., The Ferguson Report 80). Am 25. November 2014, einen Tag nachdem die grand jury entschied, dass sie keine Anklage gegen Wilson erheben würde, gab der Polizist das erste Mal ein öffentliches Interview. Gefragt, was denn hätte passieren müssen, um den Tod von Brown zu vermeiden, antwortete er: »Him complying« (»Exclusive«). In diesem Interview insistierte Wilson auch, dass er sich korrekt verhalten und deshalb ein reines Gewissen habe. Vielleicht hat Wilson Angst. Vielleicht hatte er auch Angst, als er am Mittag des 9. August auf den jungen Brown traf. Die Quelle seiner Angst wäre in diesem Fall aber weniger Brown als vielmehr die herrschende Vorstellung von Menschen wie Brown. Die Quelle von Wilsons Angst war die Fantasie, die das weiße Amerika über Afroamerikaner entworfen und über Jahrhunderte tradiert hatte, eine Fantasie, an die das weiße Establishment in Ferguson glaubt und an die auch Wilson glaubte und wahrscheinlich immer noch glaubt. Die Angst, die diese Fantasie auslöst, gründet letztendlich in der symbolischen Gewalt der eigenen Herrschaft:

Der Fall Michael Brown: (Symbolische) Polizeigewalt und kollektive Fantasie

Es ist die Angst um die Unantastbarkeit der eigenen whiteness und die Angst vor dem Verlust der eigenen Macht.

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Die Bürgerrechtsbewegung in der Langzeitperspektive Benjamin Hedin (Übersetzung Horst Tonn)

Die Bürgerrechtsbewegung ist ein merkwürdiges Phänomen in den USA. Wir sehen sie gleichermaßen episch und eng, stehen ihr ehrfürchtig gegenüber und doch ist vieles unklar. Es gibt Augenblicke, denen wir den höchsten Respekt zollen, wie etwa Martin Luther Kings Rede beim Marsch auf Washington. Da schaut Lincoln weise und wohlwollend auf ihn herab. Beide Männer haben – wie Moses – die Sklaven befreit, der eine qua Gesetz und der andere durch sein Tun und beide haben ihr Leben für dieses Ziel gelassen. Eine weitere in Ehren gehaltene Episode ist die Verhaftung von Rosa Parks in Montgomery, Alabama, im Jahr 1955. Sie wird ohne Ende immer wieder abgespult, damit wir nicht vergessen, dass einfache Handlungen von durchschnittlichen Menschen den Gang der Geschichte verändern können. Seit frühester Kindheit hören wir diese Geschichten. Sie stehen in unseren Grundschulfibeln neben denen von Johnny Appleseed, Paul Revere und George Washington.1 Aber was bleibt, wenn wir King und die großen Demonstrationen der 1960er Jahre herausnehmen, wenn wir die Nachrichtenbilder mit Wasserwerfern und Polizeihunden und den Schildern White und Colored abziehen? Die Antwort auf diese Frage ist für die Mehrheit der Amerikaner, insbesondere für weiße Amerikaner, dass nichts bleibt. Für sie gibt es keine Bürgerrechtsbewegung außerhalb ihrer symbolischen Reduktion, jenseits von Demonstrationen und den flammenden Reden vergangener Jahre. Die Bewegung gehört der Vergangenheit an. Man erinnert sich alljährlich daran im Black History Month oder bei runden Jahrestagen wie dem 50. Geburtstag des Marsches auf Washington. Dann gibt es jede Menge Sondersendungen im Fernsehen und fromme Reden von Kongressabgeordneten.

1 | Anmerkung des Übersetzers: Alle drei sind mythenumrankte Ikonen der amerikanischen Kultur: Johnny Appleseed als missionarischer Öko-Pionier an der frontier, Paul Revere als heldenhafter Freiheitskämpfer im Unabhängigkeitskrieg und George Washington als erster Präsident der USA.

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Es gibt eine Reihe von Gründen dafür, dass die Bürgerrechtsbewegung so eindeutig in die Vergangenheit entrückt ist. Die Legenden um MLK – seine Eloquenz, sein märtyrerhafter Tod – sind einer dieser Gründe. Er wird geradezu zwangsläufig zum Mythos, wodurch alle anderen Perspektiven überlagert werden. ProtestAktionen wie in Birmingham, Alabama, 1963 entstehen aus einer höchst komplexen Gemengelage von Zufall und Planung, aber das wird übersehen. Zur langen und sorgfältigen Vorbereitung der Kampagne gehörten Boykott-Aktionen vor dem Eintreffen von King sowie die Entscheidung, dass Kinder strategisch von der Polizei verhaftet werden sollten. All das ist vergessen. Die Amerikaner erinnern sich nur noch an Kings »Letter from Birmingham Jail«, die Wasserwerfer und die Polizeihunde. Wenn die Geschichte so auf ihre simpelsten Elemente reduziert wird, dann kann sie uns immer noch anrühren, aber unser Verständnis für Protest und Widerstand wird eher verhindert als erweitert. Ein weiterer Grund ist in den gesetzgeberischen Errungenschaften der 1960er Jahre zu sehen, die Bayard Rustin als »classical […] phase of the civil rights movement« bezeichnet. Nach dieser Interpretation schafften das Bürgerrechtsgesetz von 1964 und das Wahlrechtsgesetz von 1965 die legalisierte Rassentrennung und die offensichtlichsten Methoden der politischen Entmündigung von Afroamerikanern ab. Diese Gesetze waren einzigartig seit der Beendigung der Sklaverei und sie beförderten den Mythos der Bürgerrechtsbewegung als Erfolgsgeschichte. Schließlich braucht jede Legende ein Problem und ein erreichbares Ziel, und die Beseitigung des Jim Crow-Systems erfüllte diese Kriterien. Die Schlussfolgerungen sind eindeutig: Amerika war gespalten durch die Rassentrennung; eine Gruppe lehnte sich dagegen auf und führte einen dramatischen Kampf; das Trennende wurde überwunden und der Kampf erfolgreich beendet. Und wenn der Kampf vorbei ist, dann hat Amerika wieder ein ruhiges Gewissen. Der große Widerspruch ist aufgehoben, denn Anspruch und Wirklichkeit der Nation decken sich. Diese folkloristische Version der Geschichte ist so beharrlich, weil sie amerikanische Vorstellungen von Demokratie, von Reinheit und moralischer Integrität bestätigt. Unsere Identität hängt entscheidend davon ab. Wir können dann sagen: Schaut her, es hat vielleicht Probleme in der Vergangenheit gegeben, aber wir haben unser Haus bestellt. Wir haben die Rassentrennung beendet und den Afroamerikanern das Wahlrecht gegeben. Bis zu den 1960er Jahren waren wir nur dem Anspruch nach eine Demokratie; dank der Bürgerrechtsbewegung sind wir es jetzt in Wirklichkeit. Obwohl viele Einwände gegen diese Meinung erhoben werden können, findet sie dennoch Fürsprecher. Die verweisen dann auf Gesetze und andere Maßnahmen, wie etwa den Fair Housing Act aus dem Jahr 1968, um zu behaupten, das in den USA Chancengleichheit herrsche. Dieser Ansicht zufolge ist verdeckter Rassismus ebenso verschwunden wie offener Rassismus. Die heroischen Jahre der Bürgerrechtsbewegung waren demnach nicht der erste Schritt auf dem langen Weg zu Gerechtigkeit, sondern bereits das Allheilmittel für alles. Es ist bitter, dass die Errungenschaften der 1960er Jahre ausgerechnet von denen hervorgehoben werden, die behaupten, dass es keinen Rassismus mehr in den

Die Bürgerrechtsbewegung in der Lang zeitperspektive

USA gibt und dass deshalb auch keine weiteren Maßnahmen nötig sind, um die Kluft zwischen Schwarz und Weiß zu schließen. Diese Variante von Verleugnung ist allerdings immer schwerer aufrechtzuerhalten. Viele Amerikaner hatten ja erwartet, dass die Präsidentschaft Barack Obamas den triumphalen Abschluss von Dekaden des Fortschritts bilden würde. Jetzt scheint das Gegenteil der Fall zu sein und die Errungenschaften der 1960er Jahre gehen eher verloren. Es droht vielleicht sogar ein Rückfall in frühere Zeiten. Berg-und-Tal-Fahrten sind nicht selten in der amerikanischen Geschichte. Die 1960er Jahre selbst sind ein Beispiel dafür. Während das Land die Hundertjahrfeier zum Ende des Bürgerkriegs beging, war es gleichzeitig in Auseinandersetzungen über die Autonomie der Einzelstaaten und die politischen und wirtschaftlichen Freiheiten für Afroamerikaner verstrickt. Die Bundesregierung mischte sich immer wieder in die Angelegenheiten der Südstaaten ein. Soldaten erzwangen die Integration der Schulen und Beamte aus Washington überwachten das Wahlrecht für Schwarze. Jetzt, fünfzig Jahre nach dem Marsch auf Washington und den Angriffen des Bloody Sunday in Selma, Alabama, sieht sich Amerika wieder mit Problemen konfrontiert, die längst bewältigt schienen. Die unscharfen Schwarz-Weiß-Bilder von Polizisten in Selma, die auf Demonstranten einschlagen, und die Fotos von Freedom Now-Plakaten beim Marsch auf Washington wirken nicht mehr so fern. Die Vergangenheit ist präsent und wir steuern wohl wieder einmal auf eine Erneuerung zu. Im Jahr 2013 annullierte der Oberste Gerichtshof den Abschnitt 4(b) des Wahlrechtsgesetzes. Dieser Abschnitt hatte dem Justizministerium die Aufsicht über Änderungen des Wahlrechts in den Bundesstaaten vorbehalten. Ohne diese föderale Kontrolle haben jetzt viele Bundesstaaten, vor allem im Süden, neue Gesetze zur Identifizierung von Wählern erlassen. Diese Gesetze enthalten Maßnahmen wie Foto-Identifizierung, Einschränkungen bei vorzeitiger Stimmabgabe und die Abschaffung der Wählerregistrierung am Wahltag. Angeblich sollen diese Maßnahmen Wahlbetrug verhindern, aber viele meinen, das die eigentliche Absicht dahinter ist, Minderheiten vom Wählen abzuhalten. Wahlbetrug ist tatsächlich ein sehr geringes Problem. »The right to vote is one of the sacred rights that we hold dear as a nation. North Carolina adopted these changes in a rushed process, despite evidence before the legislators that a number of these changes will harm minority voters«, kommentierte eine Vertreterin des Justizministeriums (zit. in Horwitz), nachdem dieses Klage gegen North Carolina erhoben hatte, weil der Staat nur einen Monat nach dem Urteil des Obersten Gerichtshofs 2013 neue Standards für die Wählerregistrierung eingeführt hatte. Der Versuch, ethnische Minderheiten von den Wahlurnen fernzuhalten, kommt zur gleichen Zeit wie eine Serie von Protestaktionen unter der Losung Black Lives Matter, die auf die fahrlässige und brutale Behandlung von Afroamerikanern durch die Polizei aufmerksam machen will. Im August 2014 kam es zu Aufständen in Ferguson, Missouri, nachdem ein Polizist einen unbewaffneten Af-

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roamerikaner erschossen hatte. Diese Aufstände setzten sich im November fort, nachdem eine grand jury entschieden hatte, Darren Wilson, den Polizisten, nicht einmal vor Gericht zu stellen. Eine Woche später wurde auch in New York ein Polizeibeamter freigesprochen, der mit einem illegalen Würgegriff den Tod eines ebenfalls unbewaffneten Schwarzen herbeigeführt hatte. Handyaufnahmen dieser Aktion gingen um die Welt. Hier war doch wohl der unbestreitbare Beweis, dass in den USA Afroamerikaner ohne Strafverfolgung getötet werden können. Und während die öffentliche Aufmerksamkeit für dieses Problem stieg, ereigneten sich in den folgenden Monaten ähnliche Vorfälle in Dallas, Baltimore und Charleston. Im Sommer 2015 kam es zu Aufständen in Baltimore – einer Stadt, die sich nie ganz von den Ghettounruhen im Jahr 1968 erholt hat. Wieder gab es Plünderungen und Brandstiftung, und die Nationalgarde musste eine Ausgangssperre durchsetzen. Brennende Städte und Fälle von Wählerdiskriminierung lösen ein ungemütliches Gefühl von Déjà-vu aus und viele rufen nach einer neuen Bürgerrechtsbewegung. Andere dagegen sehen bereits die Anfänge einer neuen Bewegung. Mit Black Lives Matter geht ein Anstieg von Protest und zivilem Ungehorsam in amerikanischen Städten einher, aber kann eine Bewegung für soziale Gerechtigkeit aus dem Stand, auf Nachfrage entstehen? Unser Blick auf Geschichte und Gegenwart ist wohl gleichermaßen durch Mythen und Legenden verstellt. Jede soziale Bewegung ist zwangsläufig verschachtelt und weitschweifig. Die Infrastruktur dafür entsteht nicht über Nacht, sie kann nur langsam erwachsen. Größere Protestformationen entstehen nicht in einem Vakuum. Deshalb sollten wir auf Kontinuitäten achten, anstatt von einer »neuen« Bürgerrechtsbewegung zu sprechen, denn es gibt immer Vorläufer und Modelle. Vor dem Busboykott in Montgomery 1955 gab es einen sehr ähnlichen Boykott im Jahr 1953 in Baton Rouge und davor in Harlem im Jahr 1941. Die Freedom Rides im Jahre 1961 orientierten sich an Demonstrationen aus dem Jahre 1947, die als Journey of Reconciliation bekannt wurden. Je weiter wir zurückschauen, umso mehr Verbindungen tun sich auf, wie etwa in diesem Zeitungsbericht: It appears that three negro men entered a Walnut-street car, going uptown, and refused to leave the same at the request of the driver. Acting under the positive rules of the company, the driver would proceed no further until the negroes left the car. This they refused to do, saying that they had a right to ride in any public conveyance, and that the present was as good a time as any to test such rights of theirs. By this time a large crowd had gathered around the car, the negro element largely predominating, and threatening demonstrations were made against the driver and the whites in general […] This action on the part of these negroes bears every appearance of being a preconcerted attempt to test the right of the city railway corporations to forbid the riding of negroes or colored men on their cars. (»Almost a Riot«)

Spontan würden wir dieses Zitat in die 1960er Jahre datieren, als solche Protestaktionen gegen segregierte Imbisstheken, Kinos und Busbahnhöfe an der Tages-

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ordnung waren. Doch die Geschichte stammt aus dem Jahre 1870 und ereignete sich in Louisville, Kentucky. In New Orleans und Charleston gab es ähnliche Aktionen. In allen drei Städten erkämpften sich Afroamerikaner das Recht auf Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln und bewiesen damit die Wirksamkeit von sit-ins neunzig Jahre vor den Aktionen der modernen Bürgerrechtsbewegung. Wir sollten die Bürgerrechtsbewegung daher als ein Kontinuum, als eine konstante Größe in der Geschichte sehen und nicht als einen isolierten Augenblick in der Vergangenheit. Einigen mag das widersinnig erscheinen, anderen dagegen ist diese Sichtweise vertraut. Amerikanische Historiker haben die Idee der Bürgerrechtsbewegung als kontinuierliche Bewegung zunehmend aufgegriffen: »The larger significance of black protest lies in the fact that it is forever present in some form« (Morris x). Inzwischen vertreten neben Aldon Morris auch andere Historiker die Position, dass die Bürgerrechtsbewegung in größeren Zeitzusammenhängen gesehen werden sollte (Gilmore; Lawson und Payne). Aber neben der zunehmenden Akzeptanz durch Historiker ist vor allem bemerkenswert, dass aktuelle Ereignisse diese Position bestätigen. Die Wiederkehr von Wählerdiskriminierung und Polizeibrutalität weckt Erinnerungen an die 1960er Jahre und bietet damit Anlässe Verbindungen herzustellen. Die Zeit ist reif für eine Neubewertung der Bürgerrechtsbewegung. Dabei ist gleichzeitig unbestreitbar, dass Geschichte immer im Wandel ist und dass den Ereignissen der 1960er Jahre etwas Außergewöhnliches anhaftet. Man kann noch weiter gehen: Die Ereignisse in Birmingham, Selma und anderswo waren in vieler Hinsicht einzigartig. Wenn die Bewegung aber ein Kontinuum ist, warum kehren wir dann immer wieder zu diesem kleinen Ausschnitt zurück? Es gibt eine einfache Antwort auf diese Frage. Die Vorstellung eines Kontinuums beinhaltet Kontinuität und Konstanz, aber nicht unbedingt Statik. Kontinuität ist auch gegeben, wenn die Intensität schwankt. Einige Phasen der Geschichte sind verzwickter oder glorreicher als andere. Die Bürgerrechtsbewegung macht da keine Ausnahme. Sie befindet sich in einer fortlaufenden Auf-und-Ab-Bewegung. Die 1960er Jahre sind ein bemerkenswerter Abschnitt, aber nicht der einzige Höhepunkt. Es gibt eine Reihe von weiteren Meilensteinen, etwa die Gründung der NAACP oder die Bewegung, die zum ersten Marsch auf Washington im Jahr 1941 führte. Vor allem müssen wir die Bürgerrechtsbewegung als ein soziales Phänomen verstehen, das weit über sichtbar spektakuläre Aktionen hinausgeht. Wir dürfen nicht dem Trugschluss verfallen, dass es in den 1970er und 1980er Jahren keine Bewegung gab, weil wir keine vergleichbaren Ereignisse zu Birmingham oder Selma sehen. Das ist nicht leicht, vor allem, wenn wir immer wieder die Bilder vom Marsch auf Washington und vom Bloody Sunday in Selma gezeigt bekommen. Die unvermeidbare Wirkung dieser Bilder ist, dass wir soziale Bewegungen auf ein Handlungsmuster reduzieren, nämlich Demonstrationen. Das sind aber nur die sichtbarsten, nicht die einzigen Aktionsformen. Die Bewegung zeigt sich nicht immer bombastisch oder fotogen. Ein zentrales Handlungsmuster ist com-

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munity organizing, die Mobilisierung und der Zusammenschluss von Gruppen, vor allem Minoritäten, um ihre gemeinsamen Anliegen durchzusetzen. Diese beiden Linien sind aufeinander angewiesen und es hat sich immer wieder gezeigt, dass es keine grandiosen, aufrüttelnden Momente mit Potenzial für Mythenbildung gibt ohne ein unterstützendes Netzwerk von Basis-Organisationen. Man kann sogar weiter gehen und sagen, dass community organizing die unabdingbare Voraussetzung für kathartische Veränderungen ist. Warum wurde denn Selma in Alabama als Schauplatz für die Wahlrechtskampagne der 1960er Jahre ausgewählt? Weder die Stadt noch ihre Umgebung waren irgendwie einzigartig. Die meisten dort ansässigen Afroamerikaner waren arm und nahmen nicht an Wahlen teil, weil sie sich nicht als Wähler registrieren lassen konnten. Doch das war fast überall so im Deep South der USA um 1965. Selma bot sich an, weil es in der Stadt die Dallas County Voters League gab, eine kleine Gruppe, die in den 1920er Jahren von dem Notar C.J. Adams gegründet worden war. Adams war zugleich auch Vorsitzender der lokalen NAACP-Gruppe. Als er nach dem Zweiten Weltkrieg in den Norden umsiedelte, übernahmen der Versicherungsmakler Sam Boynton und seine Frau Amelia die Gruppe. Die Voters League ist ein gutes Beispiel für community organizing. Die Treffen fanden im schützenden Umfeld der afroamerikanischen Kirche statt, in Wohnzimmern oder in Boyntons Büro. Die Teilnehmer wurden über ihre Grundrechte und die Details des Wahlrechts aufgeklärt. Sie übten, wie die absichtlich unklar formulierten Anträge auf Registrierung als Wähler auszufüllen waren, und sie bereiteten sich auf die Anhörungen bei den Behörden in Dallas County vor. In den 1960er Jahren luden Boyntons Aktivisten von außen nach Selma ein. Ohne die Aktivitäten der Dallas County Voters League hätte die Bewegung vermutlich einen anderen Hauptschauplatz gewählt und es hätte weder einen Bloody Sunday noch einen Marsch nach Montgomery gegeben. Ähnliches gilt für den Busboykott in Montgomery. Vor der Verhaftung von Rosa Parks hatten lokale Kräfte bereits mindestens ein Jahr lang Pläne geschmiedet, um sich gegen die Rassentrennung zu wehren. Unmittelbar nachdem Rosa Parks festgenommen worden war, begannen die lokalen Führer der NAACP und des Women’s Political Council damit, einen Boykott der öffentlichen Busse zu organisieren. Ein Busboykott in Baton Rouge im Jahre 1953 hatte nur zwei Wochen angedauert. In Montgomery wurde der Boykott ein ganzes Jahr aufrechterhalten, was auch ein Beleg für die Robustheit der lokalen Strukturen ist. Und Martin Luther King Jr., der durch diesen Boykott zu einer öffentlichen Ikone wurde, gehörte anfänglich gar nicht dazu. Die Dynamik der Ereignisse spülte ihn nach oben und sein allmählicher Aufstieg vollzog sich über viele Monate. Man könnte hier noch viele ähnliche Beispiele anführen. Wenn wir die Mythologisierungen der Bewegung kritisch hinterfragen, dann können wir uns ein präziseres Bild der Dynamiken von Emanzipationsbewegungen verschaffen. In aller Regel gibt es einen langen Vorlauf, bevor es zum Ausbruch kommt. Nichts geschieht unvermittelt, auch wenn die Geschichte bisweilen so erzählt wird. Nur

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die spektakulärsten Momente wie die Verhaftung von Rosa Parks oder das Drama des Bloody Sunday überdauern die Filter des populären Gedächtnisses. Alles wird der Legende des dramatischen Augenblicks untergeordnet. Die Alltagsarbeit und die Infrastruktur bleiben auf der Strecke. Warum das so ist? Demonstrationen sind klar definiert mit Zielen, die spektakulär auf Bannern formuliert sind. Nicht selten lösen sie dramatische Reaktionen aus. Community organizing dagegen ist langsam und unspektakulär. Es bedarf vieler Gespräche und Meetings, die nicht besonders subversiv erscheinen. Wenn wir einen Blick zurück auf die Aktivitäten der Dallas County Voters League werfen, dann sehen wir etwa ein Dutzend Männer und Frauen mittleren Alters, die in einem Kreis sitzen und sich Papiere anschauen, einen Auszug aus der Verfassung von Alabama etwa oder einen Fragebogen der Wahlrechtsbehörde. Man trinkt Kaffee oder Tee. Das ist alles. Keine Polizei, kein Tränengas, keine Schlagstöcke. Aus dramaturgischer Sicht lässt sich daraus kaum eine gute Geschichte stricken. Aber es ist doch unbestreitbar, dass solche unspektakulären Handlungen einen wesentlichen Teil sozialer Bewegungen ausmachen. Community organizing ist auf den ersten Blick nicht sichtbar, aber doch leicht zu finden, wenn man etwas genauer hinschaut. Ich möchte im Folgenden zwei aktuelle Beispiele genauer betrachten, um die These von der Kontinuität der Bürgerrechtsbewegung zu testen. Die beiden Beispiele sind das Algebra Project und die Initiative Get Covered Mississippi. Indem wir unsere Aufmerksamkeit auf die bewährten Strategien und Aktionsformen der Bewegung lenken, können wir auch deren potenziellen Nutzen und Wert für die Herausforderungen ermessen, denen sich Afroamerikaner im 21. Jahrhundert gegenübersehen.

D as W ahlrecht und die G eschichte dahinter »You’re in an organizing mode when you are working with some other people to get them to do something you cannot do yourself«, schreibt Robert Moses (182). Organizing lässt sich am besten beschreiben als eine kollektive Strategie, die eine Gruppe in die Lage versetzt, ihre eigenen Anliegen formulieren und durchsetzen zu können. Mobilisierung von Anhängern und Aufklärung stehen im Vordergrund. Moses greift dabei auf ein halbes Jahrhundert Erfahrung im organizing zurück. Er war einer der Initiatoren der Wahlrechts-Kampagne in Mississippi. Seit den 1980er Jahren arbeitet er in Schulen in ärmeren Gegenden, wo er sich um schwarze und Latino-Schüler kümmert, die keine Aussicht auf angemessene Bildung und Berufsperspektiven haben, wenn sie ihre Rechte nicht konsequent einfordern. Moses ist für unsere Fragestellung eine zentrale Figur, denn an seiner Biographie lassen sich die besonderen Umstände und Herausforderungen des Kampfes um Bürgerrechte ablesen. Dabei sehen wir, dass Rechtlosigkeit ein komplexer Zustand ist, für den es keine Patentlösungen gibt. Moses kam 1925 als Sohn eines Hausmeisters in Harlem auf die Welt. Er studierte mit einem Stipendium zunächst am Hamilton College im Staat New York,

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später dann Philosophie der Mathematik an der Harvard-Universität. Als seine Mutter starb, kehrte er nach New York zurück und unterrichtete Mathematik an der privaten Horace-Mann-Eliteschule. Als Anfang 1960 die ersten sit-ins begannen, drängte es ihn, sich an diesem Kampf zu beteiligen: »[T]he sit-ins hit me powerfully, in the soul as well as the brain« (Moses 3). Er ging für einen Sommer nach Atlanta und arbeitete dort für das SNCC (Student Nonviolent Coordinating Committee). Im nächsten Jahr gab er seine Arbeit in New York auf und zog nach Mississippi, wo er als erstes SNCC-Mitglied hauptamtlich für die Wählerregistrierung arbeitete. Das war eine gigantische Aufgabe. Moses arbeitete in drei Bezirken im Südwesten des Staates, an der Grenze zu Louisiana. Die drei Bezirke waren Pike, Amite und Walthall. Von den 8.000 Afroamerikanern in Pike County waren nur 200 als Wähler registriert und das war deutlich mehr als in den anderen beiden Bezirken: In Amite County war ein Schwarzer registriert, in Walthall kein einziger. Moses organisierte Treffen zur Wählerregistrierung bei Privatleuten und in Gemeindezentren. Die Treffen waren ähnlich wie die der Dallas County Voters League organisiert. Er begleitete Afroamerikaner zu den Behörden, wo Anträge auf Registrierung gestellt werden konnten, auch wenn diese oft abgelehnt wurden. Terror war allgegenwärtig. Moses verbrachte viel Zeit im Gefängnis. Im Sommer 1961 wurde er auf dem Weg zum Gericht in Liberty, Mississippi brutal zusammengeschlagen. Alle, die mit ihm zu tun hatten, wurden ebenfalls zur Zielscheibe. Herbert Lee, Mitglied der NAACP-Gruppe in Liberty, wurde im September 1961 von einem lokalen Politiker erschossen, weil er für die von Moses organisierten Treffen geworben hatte. Schließlich verlagerte SNCC seine Registrierungskampagnen in das Mississippi-Delta. Das Delta liegt zwischen den beiden Flüssen Yazoo und Mississippi, ist 7.000 Quadratmeilen groß und leicht eiförmig. Die Böden dort gehören zu den fruchtbarsten auf der Welt. Es gab dort riesige Baumwollplantagen, die von schwarzen Pachtbauern bestellt wurden. Diese Bauern lebten quasi in Leibeigenschaft. Es gab kaum einen Ausweg aus dem von weißen Plantagenbesitzern aufrechterhaltenen Teufelskreis von Schulden und exorbitanten Zinsen. Jede Generation blieb erneut darin gefangen, denn die möglichen Auswege – Bildung und Rechtsgleichheit – blieben ihnen versperrt. Obwohl in den meisten Landkreisen die Mehrheit der Bevölkerung aus Afroamerikanern bestand, konnten nur wenige wählen. Schwarze Kinder mussten bei der Feldarbeit helfen und konnten nur selten, während der Pflanz- und Erntezeiten gar nicht, zur Schule gehen. Die Schulen waren in einem verheerenden Zustand, ohne Strom und fließend Wasser. Es gab kaum Lernmaterialien und die Schulbücher waren veraltet. »There was nothing really that prepared me for the level of education that we encountered in the Delta«, erinnert sich Moses (Interview 10. April 2014).2 Und obwohl er sich auf das Wahlrecht konzentrierte, schaute Moses auch auf den grö2 | Dieses Interview und alle folgenden sind durchgeführt vom Autor und in dessen Besitz.

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ßeren Kontext. Wenn in diesen Städten des Deltas Afroamerikaner wählen könnten, dann würden sie schwarze Stadträte, Bürgermeister oder Sheriffs wählen. Das würde Gewalt und Terror eindämmen, man würde die Straßen asphaltieren und das Abwassersystem instand setzen. Aber das Wahlrecht würde noch nicht den Zugang zu guten Berufen oder auch nur anständige Löhne ermöglichen. Hinter der Verweigerung des Wahlrechts lag ein weit beharrlicheres Problem. Das wurde Moses an einem Tag im Jahr 1963 klar. Er war in Greenwood, einer der größten Städte des Deltas, verhaftet worden, als er Wählern beim Registrieren half. Bei der anschließenden Anhörung fragte ihn der Richter, warum er denn immer wieder Pachtbauern, die nicht lesen und schreiben könnten, zum Gericht brächte, wo er doch wüsste, dass sie dort ein Lese- und Schreibtest erwartete, den nur wenige Schwarze in Greenwood bestehen würden. Die Antwort von Moses war: »We told him, in effect, the country couldn’t have its cake and eat it too. The nation couldn’t deny a whole people access to education and literacy and then turn around and deny them access to politics because they were illiterate« (Perry und Moses 83). Aus diesem Grund war für Moses Bildung immer das eigentliche Problem hinter dem Kampf um das Wahlrecht. Beides war untrennbar miteinander verknüpft. Er wusste, dass auch mit dem Wahlrecht die Legionen der Ungebildeten immer noch da sein würden, in Mississippi und anderswo. Aber früher oder später musste das Thema Bildung zur ersten Priorität werden. Fünfzig Jahre später ist sharecropper education, wie Moses sie nennt, immer noch gegenwärtig in den USA, in den Städten genauso wie in den ländlichen Regionen. Unlängst, um nur ein Beispiel zu nennen, organisierten Lehrer in Detroit ein sick-out, um auf die gefährlichen Bedingungen an den Schulen aufmerksam zu machen. Viele sind von Schimmel und Schädlingen befallen und ähneln eher einer archäologischen Ausgrabungsstätte als einer geeigneten Lernumgebung. Und Verbesserungen sind nicht in Sicht, da die öffentliche Hand mehr als drei Milliarden Dollar Schulden hat (Bosman). Unter diesen oder ähnlichen Bedingungen verfügen Weiße über die Mittel, um ihre Kinder auf Privatschulen zu schicken, doch die Mehrheit von armen afroamerikanischen Schülern muss diese Zustände einfach ertragen. Auf die Frage nach den Errungenschaften der Bürgerrechtsbewegung antwortete Moses: »One way to think about the civil rights movement was that we got Jim Crow out of three distinct areas of the national life. We got it out of public accommodations; we got it out of the right to vote.« Dabei dachte er natürlich an den Civil Rights Act und an den Voting Rights Act und man erwartet, dass er als drittes die Schulen nennen würde, als Folge des Urteils Brown v. Board of Education. Aber stattdessen nannte er jetzt die Demokratische Partei. Beim Nationalen Parteitag der Demokraten 1964 in Atlantic City protestierten Moses und andere Aktivisten gegen die Legitimität der Delegation aus Mississippi, die nur aus Weißen bestand, obwohl 40 Prozent der Bevölkerung Mississippis schwarz war. Der Protest war erfolgreich und danach gab es nie wieder eine nur aus Weißen bestehende Delegation aus den Südstaaten. Aber: »We did not get it out of education«, sagt Moses.

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»That is the big unfinished job of the civil rights movement« (Vortrag 9. April 2014). Nach dem Parteitag in Atlantic City verließ Moses die USA und lebte lange in Tansania, wo er Mathematik an einer Dorfschule unterrichtete. Nachdem er zurückkam, konzentrierte er sich auf die große unerledigte Aufgabe der Bewegung. Er zog nach Boston und setzte sein Studium an der Harvard-Universität fort. Als seine älteste Tochter Maisha in die achte Klasse kam, bemerkte Moses eine beunruhigende Entwicklung in ihrem Mathematikunterricht. Die Schüler aus armen Verhältnissen oder aus ethnischen Minderheiten wurden auf ein Lernniveau gelenkt, das sie unweigerlich bestenfalls für Dienstleistungsberufe qualifizieren würde. »I saw three distinct groups«, beobachtete Moses, »mostly upper middle-class white kids above grade level; a better racial mix at grade level, mostly middle-class; and kids below grade level who were primarily minority students and working-class whites. This skewing of math along racial and class lines had the effect of sending the message to students of color that little was expected of them« (96). Daraufhin gründete Moses das gemeinnützige Algebra Project, das es sich zur Aufgabe machte, die mathematischen Fähigkeiten von Schülern zu verbessern, die bei den standardisierten Tests im unteren Viertel landeten – und das waren zum großen Teil arme, schwarze und hispano-amerikanische Schüler. Das Algebra Project besteht aus einer kleinen Gruppe von Aktivisten und Lehrern. In der Regel eröffnen sie ein Büro in einem Schuldistrikt, der sie eingeladen hat. Es gibt aber auch unabhängige Partnerprojekte wie das Baltimore Algebra Project und die Southern Initiative of the Algebra Project. Moses betont immer wieder, dass das Algebra Project mehr mit Bürgerrechten zu tun hat als mit Bildungsreform: »The question remains how do the people at the bottom get into the mix« (3). Mehr als je zuvor hängt sozialer Aufstieg und damit die Möglichkeit zur Teilhabe am Wohlstand und den Chancen der USA von Kenntnissen in Mathematik und Algebra ab. Basierte die amerikanische Wirtschaft früher einmal auf Fabrikarbeit und Landwirtschaft, so stehen heute digitale Technologien und Informationsvermittlung im Zentrum. Grundlegende Kenntnisse in Mathematik sind unverzichtbar, aber die öffentlichen Schulen sind oft nicht ausgestattet dieses Wissen zu vermitteln. Moses sieht hier Parallelen zur Situation der Pachtbauern in Mississippi in den 1960er Jahren: »They didn’t have the citizenship requirements of their age and so they were serfs, absolutely without power. What is happening now is that we are watching the new serfs emerge« (zit. in Jetter). Das Algebra Project beginnt damit, den Schülern ein anderes Verständnis für Mathematik zu vermitteln. Das Fach begegnet uns meist als ein Puzzle von Regeln und standardisierten Verfahrensweisen. Es wird typischerweise nur als die richtige Anwendung von Formeln unterrichtet. Aber es ist kein wirkliches Lernen, wenn Schüler angehalten werden, Ketten von Zahlen und Buchstaben aufzudröseln, um zu einem Ergebnis zu gelangen. Diese Herangehensweise wollte Moses um jeden Preis vermeiden:

Die Bürgerrechtsbewegung in der Lang zeitperspektive In the Algebra Project we are using a version of experiential learning; it starts with where the children are, experiences that they share. We get them to reflect on these drawing on their common culture, then to form abstract conceptualizations out of their reflection, and then to apply the abstraction back on their experience. (105)

Ich war einmal bei einem Workshop dabei, der von einem Mitglied des Algebra Project geleitet wurde. Wir erhielten eine Aufgabe, sollten aber keine Formel zur Lösung anwenden. Stattdessen sollten wir das Problem analytisch und kreativ lösen. Die Aufgabe war wie folgt: Ich brauche 30 Minuten für den Schulweg, mein Bruder aber 40 Minuten. Wann habe ich ihn eingeholt, wenn er sechs Minuten vor mir losgeht? Eine Teilnehmerin zeichnete zwei Reihen von Quadraten an die Tafel, mit der Zahl vier in den oberen und der Zahl drei in den unteren. Jemand anders benutzte ein Schachbrett und simulierte den Weg. Jedes Feld zählte eine Minute. Die richtige Antwort ist natürlich 18. Im normalen Mathematikunterricht würde man die Mittelpunktformel anwenden und hätte die Antwort in zehn Sekunden. Man weiß, wie man eine Aufgabe in einem Test lösen kann, aber man hat es nicht verstanden. Um es verstehen zu können, muss es in einen Erfahrungszusammenhang eingebettet werden. Vom Algebra Project ausgebildete Lehrer fordern ihre Schüler häufig auf, die Bedeutung eines Problems zu beschreiben oder die Beziehungen zwischen Mengen so zu fassen, als ob sie Charaktere in einer Erzählung wären. Die Grundüberzeugung hier ist: Mathematik muss kein trockenes Pflichtfach sein. Sie kann wie ein Spiel erlebt werden, wenn sie anschaulich und lebensnah vermittelt wird. Diese Pädagogik fördert auch die Idee vom Lernen als soziales Handeln. Die Schüler erkennen, dass sie aufeinander angewiesen sind und dass der Erfolg des Einzelnen abhängig ist vom Erfolg der Gruppe. Der 31-jährige Albert Sykes aus Jackson, Mississippi, den Moses in Algebra unterrichtete, beschreibt seine Erfahrung so: I’d say it was the most freeing education experience of my life, thinking of myself as more than a learner but also as a person who was learning to be able to teach. Teachers didn’t let us communicate. You were discouraged from helping each other and talking to each other; then you got Bob telling us you have responsibility to make sure everybody in the room is learning what they need to learn, to get you from this class to the next class. (Interview 22. August 2014)

Auch O’Shai Robinson, ehemaliger Leiter des Baltimore Algebra Project, betont die Notwendigkeit, die abstrakte Sprache der Mathematik herunterzubrechen und an die Erfahrungswelt der Schüler anzuschließen. Er benutzt dazu Spiele, z.B. Twister, um Wahrscheinlichkeitsrechnung zu erklären. Bei anderen Themen lässt er die Schüler zeichnen – immer geht es um den Anschluss an Alltagserfahrung: »a common experience, and not talking about it as math. The concepts are not difficult. The way they are presented is where they get stuck« (Interview 27. August

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2014). Ich erzählte ihm von einem Lehrer, der eine standardisierte Testaufgabe kritisiert hatte. Dabei ging es um die Berechnung von Trinkgeld im Restaurant, aber die Schüler hatten noch nie in einem Restaurant gegessen. Robinson erwiderte, dass ihm unzählige solcher Aufgaben begegnet waren, die nichts mit der Lebenswirklichkeit von armen, schwarzen und hispanischen Schülern zu tun hätten. Ein weiteres Beispiel wäre: Jerry will seinen Garten einzäunen. Dazu muss er Abstände berechnen, um zu wissen, wie viele Pfosten er benötigt. Das ist schwerer, wenn man noch nie einen Garten gehabt und auch nicht viele Gärten gesehen hat, die eingezäunt werden können. Deshalb muss man den Schülern beibringen, wie sie die Variablen in einer Aufgabe ersetzen und an die eigene Erfahrungswelt anpassen können. Die Arbeit des Algebra Project findet nicht nur in Schulen statt, sondern auch in Kirchengemeinden, Gaststätten und Privathäusern. In dieser Hinsicht ähnelt sie der Wahlrechtskampagne der 1960er Jahre, was kein Zufall ist, denn Robert Moses war auch damals entscheidend beteiligt. Ebenso wie David Dennis, ehemals federführend mitwirkend beim Congress of Racial Equality (CORE), der mit Moses 1964 den Mississippi Freedom Summer koordinierte und der jetzt die Southern Initiative of the Algebra Project (SIAP) leitet. Unlängst engagierte sich das SIAP mehrere Jahre in Petersburg, Virginia, wo die öffentlichen Schulen gravierende Defizite aufwiesen und, in den Worten von Robert Moses, lediglich sharecropper education anboten. Wenige Schulen waren akkreditiert. Die Fluktuation bei Lehrern und Verwaltungsbeamten war hoch. Der Bezirk hatte kein Geld. Als ich eine der Grundschulen dort besuchte, sah ich keinen einzigen weißen Schüler. Nach Ansicht von Dennis waren die Schwierigkeiten so groß, dass Veränderungen nur möglich wären, wenn alle mithelfen würden – nicht nur Eltern, Lehrer und Schulbehörden, sondern auch die Kirchen und lokalen Unternehmer. Regelmäßig fanden Großveranstaltungen statt. SIAP begann eine Kooperation mit der Virginia State University, einem traditionell schwarzen College in Petersburg. Das College koordinierte sein Kursangebot mit den Schulen. Schülern, die den Kurs »Algebra II« mindestens mit der Note »gut« abgeschlossen hatten, bot man die Möglichkeit, den nächsten Mathematikkurs auf College-Niveau zu belegen. Im ersten Jahr machten neun Schüler der Petersburg High School von diesem Angebot Gebrauch und alle waren erfolgreich. Dennis sagte dazu: »Something happened in this community. It was like, wow, they can do it« (Interview 11. Dezember 2011). Nach Ansicht von Dennis kam es darauf an, verschiedene gesellschaftliche Gruppen in Kontakt zu bringen und sie in einem gemeinsamen Ziel zu bestärken, so wie man es auch in den 1960er Jahren praktiziert hatte. Dennis ging von Tür zu Tür, stellte Kontakte her und klärte über Bürgerrechte auf. Wandel ist nur möglich, wenn alle Ressourcen einer Gemeinschaft mobilisiert werden können. Das war schon in den 1960er Jahren so. Dennis erinnert sich, dass vor fünfzig Jahren die Leute in Mississippi wählen wollten. Sie wollten die Gesellschaft mitgestalten. Gegner der Bürgerrechtsbewegung behaupteten, dass die Leute eigent-

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lich gar nicht wählen wollten. Entsprechend wurden Plantagenarbeiter vor Kameras gestellt, um zu sagen, dass sie tatsächlich kein Interesse hätten, zu wählen. Ähnlich wird auch beim Thema Bildung argumentiert. Es wird behauptet, diese Kids wollen nicht lernen, sie haben nicht die Fähigkeiten dazu. Wir dagegen, so Dennis, müssen etwas tun, damit sie darüber selber entscheiden können. Es ist ein wichtiger Grundsatz des organizing, anderen eine Stimme zu verleihen und sie zu selbstbestimmtem Handeln zu befähigen. Moses beschreibt das als »working the demand side« (77). Es gibt keinen gesellschaftlichen Wandel ohne Druck und der Druck muss von denjenigen kommen, die von besseren Bedingungen profitieren werden. Alles andere bleibt abstrakt. Moses und Dennis ging es nicht um ihre eigenen Belange, aber sie konnten einen Raum schaffen, in dem andere ihre Forderungen artikulieren können und im Idealfall besteht dieser Raum weiter, lange nachdem sie wieder weg sind. Nach zwei Jahren in Petersburg war die Erfolgsrate beim alljährlichen Mathematiktest von 50 auf 73 Prozent gestiegen, aber das Algebra Project misst seine Erfolge an anderen Kriterien. Nachdem die ersten neun Studenten erfolgreich den Algebrakurs auf College-Niveau an der Petersburg High School bestanden hatten, wollten im nächsten Jahr 44 Schüler diesen Kurs belegen. Niemand hatte dafür geworben. Sie kamen von sich aus und bald stellten auch Eltern bei Versammlungen Fragen über diese Kurse. Die Aussicht, dass ihr Kind auf das College gehen könnte, war plötzlich real. Nach Ansicht von Dennis ist das der eigentliche entscheidende Maßstab für Erfolg. Moses ist jetzt 81 Jahre alt und schaut nicht besonders optimistisch in die Zukunft. Er wisse, dass Detroit keine Ausnahme ist. Seine Prognose lautet: The schools don’t have money, and the money they have is not directed to the classrooms, to actually do the work that needs to be done. I’ve been seeing that now for at least twenty years, and there’s no force in the country to move in a different direction. Our national policy is we allow failing schools, but have a policy of rescuing students from failing schools. There are programs designed for different categories and that lets the country off the hook. Otherwise parents would scream. (Interview 4. Oktober 2013)

Es gibt viele Gründe für Pessimismus oder gar Resignation, aber das Credo von Moses spricht eine andere Sprache. Es gibt nichts Hoffnungsvolleres als community organizing. Es basiert auf der Überzeugung, dass Forderungen letztendlich erfüllt werden, wenn auch bisweilen verspätet und unvollkommen. So paradox das auch klingen mag, die Aktivitäten des Algebra Project können als Bestätigung des Versprechens der amerikanischen Demokratie gesehen werden.

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M ississippi und der A ffordable C are A ct Das Mississippi-Delta hat sich grundlegend verändert seit den Tagen, als Robert Moses und SNCC dort in den Städten und auf den Plantagen Bürger für das Wahlrecht mobilisierten. Erstaunlicherweise ist es zu einer Touristenattraktion geworden, denn dort lässt sich ein Mythos afroamerikanischer Kultur zelebrieren. Das hätte 1963 niemand vorhergesehen. Leute aus der ganzen Welt reisen in Städte wie Clarksdale oder Indianola, um die vermeintliche Heimat der Blues-Musik zu sehen. Sie besuchen Museen und fotografieren die Stelle, wo sich die beiden Highways 49 und 61 kreuzen. Dort hat angeblich Robert Johnson seine Seele an den Teufel verkauft. Und die Abende verbringen sie in den Casinos in der Nähe von Tunica, wo schillernd erleuchtete Unterhaltungsdampfer vor Anker liegen. Durch Tourismus und Glücksspiel hat sich das Delta neue Erwerbsquellen erschlossen. Die Baumwollpreise sind stark gesunken. Einige Plantagen haben sich in Zuchtanlagen für Zwergwelse verwandelt. Diejenigen Farmen, die immer noch Baumwolle oder Soja anbauen, sind auf staatliche Subventionen angewiesen. Eine schwindelerregende Summe, mehr als 40 Prozent der Wirtschaft von Mississippi, kommt aus Bundesmitteln. Die Baumwollernte ist mechanisiert. Viele der Nachkommen der Pächter sind in die Städte oder andere Regionen des Landes gezogen. Diejenigen, die geblieben sind, finden nur schwer Arbeit. Die Arbeitslosenzahlen und Armutsstatistiken sind hoch und jenseits des Mississippi Blues Trail und anderer Touristenziele stößt man auf Verfall, auf verwahrloste Innenstädte und eingefallene Gebäude, wo Unkraut und Gebüsch aus verwitterten Ruinen wachsen. Das sind die beiden Gesichter, die der Mythos Mississippi hervorgebracht hat: einerseits voller kultureller Kreativität, andererseits nicht in der Lage seinen Bürgern einen Lebensstandard zu gewährleisten, wie er in modernen Staaten üblich ist. Auch hier wird deutlich, dass das Wahlrecht nicht alle Probleme löst, denn Mississippi ist stolz darauf, dass es mehr Afroamerikaner in gewählten Ämtern hat als jeder andere Staat in den USA. Viele Städte im Delta werden von schwarzen Bürgermeistern regiert. Dennoch sind die Schulen unterfinanziert und schlecht ausgestattet, was enorme Schulabbrecherquoten zur Folge hat. Ebenso prekär ist es um die Gesundheitsfürsorge bestellt. Mississippi hat die höchste Geburtenrate unter Teenagern in den USA, den höchsten Anteil bei tödlich verlaufenden Herzkrankheiten und die höchste Adipositas-Rate bei Erwachsenen. Das Women’s National Law Center setzt Mississippi an die letzte Stelle, was die Qualität der Gesundheitsfürsorge für Frauen und die Fortpflanzungsmedizin im Vergleich mit allen anderen Bundesstaaten angeht (»Mississippi«). Im Delta sind diese Missstände besonders gravierend, denn es ist die ärmste Region in Mississippi. Die Lebensumstände in dieser Gegend sind für Einheimische ebenso erschreckend wie für Außenstehende. Jessie Tyler bemerkt: »In the fields was when I really discovered people didn’t even have running water, and I didn’t know this kind of stuff still existed, in this day and age« (Interview 31. Mai

Die Bürgerrechtsbewegung in der Lang zeitperspektive

2014). Tyler kommt aus Ruleville, einer Stadt mitten im Delta, die auch die Heimatstadt der in den 1960er Jahren einflussreichen Bürgerrechtlerin Fannie Lou Hamer ist. Sie arbeitet als Wachpersonal im Parchman-Gefängnis, der ältesten Strafanstalt des Deltas. Vor allem aber ist sie eine geschickte und unermüdliche Aktivistin. 2000 und 2010 arbeitete sie bei den Volkszählungen mit. Sie ging von Tür zu Tür in den Bezirken Sunflower, LeFlore und Tallahatchie und obwohl sie ihr ganzes Leben im Delta verbracht hat, traf sie auf soziales Leid, wie sie es noch nicht erlebt hatte: »It was real bad in Tallahatchie. Some houses you went to, a two-bedroom house, you got fifteen people staying there. Tallahatchie seemed to have more people that wasn’t working. They had no kind of income, and I couldn’t even picture no income. How do you live in this day and time with no income?« (Interview 31. Mai 2014) Der Affordable Care Act (ACA) ist die wichtigste Reform der Präsidentschaft Barack Obamas. Er könnte insbesondere Staaten wie Mississippi helfen. Mit diesem Gesetz haben Tausende erstmalig Anspruch auf eine Krankenversicherung mit Leistungen wie Vorsorgeuntersuchungen, Arzneimittel und bezahlbare Behandlungen. Vorher konnten sie nur über die Notaufnahmen behandelt werden. Aber die Einführung des Gesetzes war umstritten, begleitet von Irrtümern und Verwirrungen und daher haben viele Bewohner Mississippis nie die Möglichkeiten verstanden, die dieses Gesetz ihnen bietet. Von Beginn an war der ACA die Zielscheibe massiver Propaganda der Konservativen. Sie bezeichneten es als »Obamacare« und streuten so viele Fehlinformationen, dass am Ende viele dachten, »Obamacare« und Affordable Care Act wären zwei verschiedene Dinge. In Texas glaubten nicht wenige, es wäre illegal Gesundheitsfürsorge zu beantragen. Bei einer Umfrage in Mississippi gaben 70 Prozent der Nichtversicherten an, dass die Verfahren der Antragstellung sie völlig überforderten. Und selbst wenn man die Täuschungen der Gesetzesgegner einmal durchschaut hat, dann bleibt die Notwendigkeit, über die Terminologie und Bedingungen der Krankenversicherung aufzuklären, denn viele hatten noch nie eine Krankenversicherung und verstehen Begriffe wie »Prämie« oder »Selbstbeteiligung« einfach nicht. Jessie Tyler arbeitet nachts im Gefängnis. Tagsüber, zwischen ihren Schichten, hilft sie denjenigen, die sich bisher noch keine Krankenversicherung leisten konnten. Tyler nutzt dazu die neuen Möglichkeiten des ACA. An Sonntagen tut sie das in ihrer Kirchengemeinde. An den anderen Tagen besucht sie in entlegenen Gegenden des Deltas diejenigen, die nicht zu ihr kommen können und hilft ihnen dabei, die erforderlichen Anträge auszufüllen. Ihr offizieller Titel ist »health navigator«. Sie ist weder Krankenschwester noch Ärztin, aber sie ist geschult im äußerst komplizierten amerikanischen Gesundheitssystem und kann es für Laien verständlich machen. Tyler ist Teil eines Netzwerks von mehr als 50 Aktivisten unter der Leitung von Michael Minor, Pfarrer der Oak Hill Missionary Baptist Church in Hernando, Mississippi. Minor ist als Verfechter von Themen im Bereich Gesundheit bekannt. Er hat einige Kirchen im Süden dabei unterstützt, Kampagnen gegen

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Fettleibigkeit zu organisieren. Das hat ihm einige mediale Aufmerksamkeit eingebracht. Die New York Times (Robertson) und Reuters (Steenhuysen) haben über ihn berichtet. Michelle Obama hat sich mit ihm getroffen. Die Aktivitäten von Minor sind ein gutes Beispiel dafür, wie die Kirche immer noch, wie vor 50 oder 60 Jahren, die wichtigste Institution für politische Mobilisierung im Süden ist. Minor wollte eigentlich nie etwas mit der Antragstellung für die Angebote des ACA zu tun haben, denn, wie er mir sagte: »You got to understand the ACA was set up for the states to do their own marketplaces« (Interview 9. Mai 2014). Ein Marktplatz ist hier eine Internetseite, die Informationen über Versicherungsmöglichkeiten und Kaufangebote bereithält, ferner beantwortet sie FAQs, hat Listen von Kliniken erstellt und bietet Möglichkeiten für Termine mit Beratern. Mit anderen Worten, diese Marktplätze adaptieren die Angebote des ACA für spezifische regionale Bedürfnisse. Der Marktplatz für Mississippi wurde allerdings durch die Health and Human Services, der Bundesbehörde zur Umsetzung des ACA, stillgelegt. Health and Human Services begründete diese Maßnahme damit, dass sie Phil Bryant, dem Gouverneur von Mississippi und erklärten Gegner der Gesundheitsreform, einen verantwortungsvollen Umgang mit der Internetseite nicht zutrauten. Bryant begründet seinen Widerstand gegen die Gesundheitsreform damit, dass er sie für ein weiteres aufgeblähtes föderales Programm halte, das die Mittel der Bundesstaaten auszehren werde: »I firmly maintain my position that Mississippi will not willfully implement a mechanism that will compromise our state’s financial stability« (zit. in Hess). Für Michael Minor war klar, dass der ACA in Mississippi gar nicht ankommen würde ohne eine proaktive energische Öffentlichkeitsarbeit. In den Wochen vor der ersten Antragsphase gab die Bundesregierung bekannt, dass sie navigator grants zur Verfügung stellen würde. Minor sah sofort die Notwendigkeit, sich darum zu bemühen. Nachdem seine Gemeinde diese Förderung erhalten hatte, nahm er Kontakt mit Pfarrern in ganz Mississippi auf, um Aktivisten wie Jessie Tyler zu rekrutieren. Als das Gesetz am 1. Oktober 2013 in Kraft trat, hatten Minor und seine Gruppe Get Covered Mississippi Anlaufstellen in ganz Mississippi eingerichtet und konnten so während der ersten Antragsphase bis zum 31. März 2014 circa 20.000 Betroffene betreuen. Daneben hatte nur noch das Universitätsklinikum der Universität Mississippi in Jackson eine Förderung erhalten. Dort aber wurden nur stationär aufgenommene Patienten berücksichtigt. Wenn also jemand in Mississippi eine Versicherung im Rahmen des ACA abschloss, dann in den allermeisten Fällen durch die Vermittlung von Minor und seinen Mitstreitern. Hinter den Problemen der Antragstellung verbirgt sich aber ein noch weit größeres, denn viele bleiben von einer Krankenversicherung weiterhin ausgeschlossen, weil sie die Beiträge nicht zahlen können. »The system is not designed to help the poor; it is designed to help the middle class«, sagt Tyler. Auf die Bedürfnisse der Armen zugeschnitten war die Ausweitung von Medicaid, ein Programm, das Präsident Johnson seinerzeit im Rahmen der Bürgerrechtsgesetze eingeführt hatte. Die Erweiterung von Medicaid sollte Teil des ACA werden, aber der Oberste

Die Bürgerrechtsbewegung in der Lang zeitperspektive

Gerichtshof erließ ein Urteil (National Federation of Independent Businesses v. Sebelius), nach dem die Einzelstaaten nicht zur Erweiterung von Medicaid verpflichtet werden können. Und Mississippi, wie alle anderen Staaten im Deep South, schloss sich diesem Urteil an. Die Begründung war, dass man sich dem Zentralismus Washingtons widersetzen müsse. Tatsächlich aber ist dies nur ein weiteres Beispiel für die vehemente Verweigerung von Bürgerrechten im Süden. Nach Schätzungen von Health and Human Services hätten durch die Ausweitung von Medicaid 165.000 Bürger Anspruch auf Krankenversicherung gehabt. Amerika muss sich nun der bedrückenden Tatsache stellen, dass seine bedürftigsten Bürger von der wichtigsten Reform des Gesundheitswesens der letzten fünfzig Jahre ausgeschlossen bleiben. Die Entscheidung gegen die Ausweitung von Medicaid kann katastrophale Folgen haben. Viele können sich Medikamente oder einen Rollstuhl nicht leisten oder sie müssen auf eigene Behandlungen verzichten, weil die Behandlungen für ihre Kinder dringlicher sind. Schlimmer noch, mit der Einführung des ACA werden föderale Subventionen für Nichtversicherte beendet, obwohl das Gesetz doch Versicherungsschutz für alle garantieren sollte. Da aber viele ihre Behandlungen immer noch nicht bezahlen können, werden die Krankenhäuser, die sich um Arme kümmern, unrentabel und müssen schließen. 25 Prozent der Erwachsenen in Mississippi haben keine Krankenversicherung. Ein Jahreseinkommen von 11.600 Dollar ist Voraussetzung, um nach dem neuen Gesetz eine Versicherung abschließen zu können. Um Leistungen durch Medicaid beanspruchen zu können, muss man quasi obdachlos sein, so Tyler. Die Kaiser Family Foundation stellt dazu fest: »[I]n Mississippi, Medicaid eligibility for non-disabled adults is limited to parents with incomes below 29 % of poverty, or about $6,800 a year for a family of four, and adults without dependent children remain ineligible regardless of their income« (»How Will the Uninsured«). So fallen viele durch das Raster. Sie verdienen nicht genug, um eine Krankenversicherung bezahlen zu können, aber zu viel, um Anspruch auf Leistungen durch Medicaid zu haben. Michael Minor bestätigt das: We bring those people in. We don’t want to deny them going through the process, but they make too little money. We can’t sign them up. A lot of them make less than $11,000 a year. Or they make more but they got a family of four or five. We know we easily could have signed up twice as many people or more, but they just didn’t qualify. The Affordable Care Act was not designed for people on $11,000. Nor should it be. We’re just offering health insurance. So when the Medicaid expansion was given up to the states to do, it left a place like Mississippi holding the bag. I got nothing for them. (Interview 10. Mai 2014)

In Mississippi haben fast 300.000 Bürger keinerlei Anspruch auf eine Krankenversicherung. Was kann man für die Betroffenen tun? Minor hat zweifach reagiert. Einmal hat er die Kirchen im Delta aufgefordert, unter der Woche ihre Busse und Kleintransporter zur Verfügung zu stellen, um Kranke zu den oft weit entfernten Gesundheitszentren zu befördern. Schließlich, so Minor, stehen diese

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Fahrzeuge ungenutzt auf Parkplätzen herum. Außerdem hat er Land gekauft und Gelder gesammelt, um in seiner Heimatstadt Coldwater ein öffentliches Gesundheitszentrum einzurichten. Das ganze Projekt dauerte fünf Jahre. Im August 2014 wurde die M.J. Edwards Clinic eröffnet. »It’s my pride and joy«, sagt Minor. Trotzdem glaubt Minor, dass seine Kampagne Get Covered Mississippi noch mehr erreichen kann. Deshalb schmiedet er eine Koalition, die politischen Druck für die Ausweitung von Medicaid ausüben soll. Seiner Ansicht nach geschehe das am besten geräuschlos, hinter den Kulissen, ohne Massenproteste mit entsprechendem medialem Getöse. Es hat bereits große Protestaktionen zu diesem Thema im Süden gegeben – ein Marsch von North Carolina zum Kapitol in Washington zum Beispiel und eine Besetzung des Parlaments von Georgia in Atlanta. Minor hält nicht viel von diesen Aktionen. Für ihn haben sie lediglich symbolischen Wert, aber wenig Einfluss auf politische Prozesse. Stattdessen will er die Krankenhäuser mobilisieren, Petitionen organisieren, aufklären, hinter den Kulissen arbeiten. Nur so sei aus seiner Sicht eine Trendwende möglich. Der wichtigste Grundsatz des organizing ist gemeinsames Handeln an der Basis statt spektakuläre Demonstrationen oder sit-ins. Ebenso wie beim Algebra Project in Petersburg geht es darum, Gruppen miteinander zu vernetzen, die sich normalerweise fremd sind, in diesem Fall Krankenhäuser, Versicherungsgesellschaften und betroffene Familien. Die Geschichte von Get Covered Mississippi ist lehrreich und tröstlich zugleich, aber es ist eine enorme Aufgabe, vielleicht noch schwieriger als das Algebra Project. Alle sind sich darin einig, dass Bildung wichtig ist, aber nur wenige Amerikaner sind bereit, Gesundheitsfürsorge als ein Bürgerrecht anzuerkennen, obwohl es ein offenkundiger Diskriminierungsfaktor ist. Der Zugang zu medizinischen Leistungen und ihre Qualität hängen nicht zuletzt von der Hautfarbe ab. Dennoch halten die meisten eine Krankenversicherung für eine Privatangelegenheit, die nur erhalten sollte, wer auch dafür bezahlen kann. Gesundheit ist kein Thema in der Verfassung oder in der Bill of Rights. Das war beim Kampf um das Wahlrecht und gegen die Rassentrennung anders. Da konnte man sich auf das Gleichheitsgebot der Verfassungszusätze 14 und 15 berufen. Aber für Gesundheitsfürsorge gibt es keine vergleichbare Grundlage, keinen juristischen Präzedenzfall. Im Jahre 1968 wollte die Poor People’s Campaign gleiche wirtschaftliche Rechte durchsetzen, wovon eines das Recht auf medizinische Grundversorgung war, aber dieser Plan scheiterte. Da es keinen verlässlichen juristischen Bezugsrahmen gibt, muss man hier an humanitäre Ideale wie Anstand und Gerechtigkeit appellieren. Allerdings ist das ein Thema, das Amerikaner weder empathisch noch rational angehen. Die gegenwärtige Praxis ist teurer als jede ihrer Alternativen. Wenn mittellose Bürger keine andere Wahl haben als in die Notaufnahmen der Krankenhäuser zu gehen, dann bleiben die Kosten bei den Krankenhäusern hängen. Die wiederum geben diese Kosten an die Versicherungsgesellschaften weiter, die ihre Profite nur sichern können, indem sie die Beiträge für ihre Kunden erhöhen. Das Grundprinzip der Gesundheitsfürsorge ist, dass die Versicherungsgesellschaften in jedem

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Fall ihre Profitraten sichern werden. Am Ende bleiben die entstehenden Kosten bei den Versicherungsnehmern hängen. »It doesn’t make sense«, sagt Minor. »Things happen in the South, people do because of ideology or whatever, make no sense – but they do it anyhow. I lived through it. It makes no sense but it happens« (Interview 10. Mai 2014). Es macht keinen Sinn, aber es passiert trotzdem. Der amerikanische Süden hat seine Widersprüche. Die Region ist sich selbst ihr schlimmster Feind, handelt ständig ihren eigenen Interessen zuwider. Der Süden ist vorhersehbar das Schlusslicht bei allen Statistiken über Bildung und Gesundheit. Geschichte und Gegenwart des Südens bestätigen scheinbar die Überzeugung, dass das Leben unabänderlich oder tragisch ist, dass sich grundsätzlich nichts ändern lässt. Düsterer Humor ist sehr verbreitet. »We work hard at being last«, bemerkte der Direktor von Mississippis Health Advocacy Program (zit. in Varney). Viele haben resigniert. Personen wie Minor und Tyler stemmen sich gegen diesen Fatalismus. Sie wollen ihre Mitbürger davon überzeugen, dass Wandel möglich ist, dass es Möglichkeiten gibt die Zukunft mitzugestalten. In ihrem Handeln erkennen wir die gesamte Bandbreite des organizing – von der Bereitstellung von Transportmöglichkeiten für Bedürftige bis hin zum Aufbau von politischen Bündnissen an der Basis. Doch alles beginnt mit politischer Aufklärung. Die Leute müssen sich darüber klar werden, dass sie Handlungsoptionen haben. Ohne diese Einsicht ist gar nichts möglich.

G rundsät zliches Das Algebra Project und Get Covered Mississippi sind Beispiele dafür, dass der Aktivismus, den wir normalerweise mit der klassischen Phase der Bürgerrechtsbewegung assoziieren, weit über das vermeintliche Ende der Bewegung hinaus fortgesetzt wurde. Die Bemühungen dieser Gruppierungen mögen fragmentarisch oder marginal erscheinen mit Blick auf das riesige Ausmaß der Probleme, mit denen sie zu kämpfen haben. Dennoch machen sie klar, dass diese Probleme nicht unlösbar sind, wenn man ihnen mit gemeinschaftlichem Handeln begegnen kann. Was vielleicht noch wichtiger ist: die Bewegung hatte immer mehr als nur eine einzige Aktionsform. Demonstrationen und gewaltfreier Widerstand sind wohl die sichtbarsten Strategien, die manche sogar für das Ganze halten. Die Bewegung hat aber noch mindestens zwei weitere Wege beschritten. Die Demonstrationen in Birmingham und Selma gelten als Erfolg, weil sie Gesetzesänderungen, nämlich die Abschaffung der Rassentrennung und ein neues Wahlrechtsgesetz zur Folge hatten. Aber bisweilen verlassen sich Aktivisten nicht auf das Gesetz, sondern setzen unabhängig davon ihre eigene Vision durch. Der Mississippi Freedom Summer im Jahr 1964 ist ein Beispiel dafür. Da gründete die Bewegung ihre eigene politische Partei, die Mississippi Freedom Democratic Party, und ihre eigenen Schulen mit eigenen Lehrplänen, die freedom schools. Außerdem wurden Be-

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rater für rechtliche und religiöse Fragen organisiert und ein Team von Ärzten stand zur Verfügung. Ein paar Monate lang etablierte die Bürgerrechtsbewegung ihr eigenes demokratisches System, als Parallele und in Opposition zu den staatlichen Institutionen in Mississippi. Mit der Einrichtung von Parallelinstitutionen entsteht natürlich auch das Problem der Re-Integration, wenn die alternativen Parteien, Schulen oder Banken soweit gereift sind, dass sie in der Welt draußen anerkannt werden wollen. Dieser Eingliederungsprozess scheiterte nach dem Freedom Summer zunächst, weil die Delegierten der Mississippi Freedom Democratic Party beim nächsten Kongress der Demokratischen Partei in Atlantic City nicht anerkannt wurden. Aber daraus kann man nicht schließen, dass Parallelinstitutionen wirkungslos wären. Im Gegenteil: Sie leisten wichtige Vorarbeiten auf dem Weg zur Freiheit: »You prepare yourself for desegregation and the opportunities to be released thereby before this freedom actually exists. Indeed, it is in the process of preparation for an elected role that the techniques of freedom are discovered and that freedom itself is released« (Ellison 579). Organizing ist der entscheidende Schritt auf diesem Weg. Am Beispiel von Albert Sykes sehen wir, wie organizing einen Weg zu selbstbestimmtem Handeln eröffnen kann. Ohne das Algebra Project hätte Sykes wahrscheinlich weder seine Führungsfähigkeiten noch andere Entwicklungschancen erkannt. Dabei spielten Protestaktionen außerhalb der Schule oder Alternativinstitutionen keine Rolle. Das deutet auf eine dritte Option hin. Organizing kann auch innerhalb eines gegebenen Rahmens agieren. Dann testet es dessen Elastizität und sucht nach Erweiterungsmöglichkeiten. In Petersburg gab es fähige Lehrer, Kirchen für Veranstaltungen und eine kooperationsbereite schwarze Universität. Warum sollte man daraus nicht eine Infrastruktur formen, die Schülern guten Mathematikunterricht und eine Perspektive für den Zugang zum College eröffnet? Ebenso bewegt sich der Affordable Care Act in einem Möglichkeitsraum. Sein Potential kann er erst entfalten, wenn Misstrauen abgebaut und Verständnis für die positiven Effekte des Gesetzes befördert werden. Es liegt an den Bürgern selbst, die eigentlichen Vorteile des Gesetzes zu nutzen. Obwohl die offizielle Rhetorik das Gegenteil behauptet, sind Amerikaner, vor allem nicht-weiße Amerikaner, oft in der paradoxen Lage, dass sie für etwas kämpfen müssen, das ihnen eigentlich längst versprochen worden ist. Freiheit ist ein unaufhörlicher Kampf, so der Titel eines bekannten Lieds der Bürgerrechtsbewegung, und solange gekämpft wird, solange gibt es auch eine Bewegung. Manchmal ist sie leicht zu finden, im Fernsehen mit Parolen und Bannern. Dann wieder agiert sie im Verborgenen, in Klassenzimmern und Gemeinderäumen. Probleme verändern sich und Rechtlosigkeit hat viele Gesichter, aber, so David Dennis, »the fundamentals are the same« (zit. in Moses xiii). Egal wo es praktiziert wird, organizing heißt, die Veränderungsmöglichkeiten in bestehenden Verhältnissen zu erkunden und entsprechend nach Handlungsspielräumen zu suchen. Das ist, könnte man sagen, der große Plan. Die Geschichte wird diese

Die Bürgerrechtsbewegung in der Lang zeitperspektive

Arbeit nicht immer registrieren oder würdigen, aber ohne diese Kleinarbeit hat Freiheit keine Bedeutung, bleibt sie bloße Vermutung. Ein leeres Wort. Sie wird nur konkret, wenn sie tatsächlich eingefordert wird, wenn ihre Grenzen getestet werden und ihr wirklicher Wert erlebt wird.

Q uellen - und L iter aturverzeichnis »Almost a Riot«. Courier-Journal [Louisville, KY] 31. Okt. 1870. Print. Bosman, Julie. »Crumbling, Destitute Schools Threaten Detroit’s Recovery«. NYTimes. New York Times, 20. Jan. 2016. Web. 10. Apr. 2016. Ellison, Ralph. Collected Essays. New York: Modern Library, 2003. Print. Gilmore, Glenda Elizabeth. Defying Dixie: The Radical Roots of Civil Rights, 19191950. New York: Norton, 2009. Print. Hess, Jeffrey. »Feds Reject Mississippi’s Plan for Insurance Exchange«. NPR. National Public Radio, 8. Feb. 2013. Web. 10. Apr. 2016. Horwitz, Sari. »Trial to Start in Lawsuit over North Carolina’s Voter-ID Law«. Washington Post. Washington Post, 24. Jan. 2016. Web. 10. Apr. 2016. »How Will the Uninsured in Mississippi Fare under the Affordable Care Act?« KFF. Kaiser Family Foundation, 6. Jan. 2014. Web. 10. Apr. 2016. Jetter, Alexis. »Mississippi Learning«. NYTimes Magazine. New York Times Mag., 21. Feb. 1993. Web. 10. Apr. 2016. Lawson, Steven F. und Charles Payne. Debating the Civil Rights Movement, 19451968. Lanham: Rowman & Littlefield, 1998. Print. »Mississippi«. Health Care Report Card. National Women’s Law Center, 2010. Web. 10. Apr. 2016. Morris, Aldon D. Origins of the Civil Rights Movement. New York: Free P, 1984. Print. Moses, Robert. Radical Equations. Boston: Beacon, 2001. Print. ---. South Carolina State University. Orangeburg, SC. 9. April 2014. Vortrag. Audio im Besitz des Autors. Perry, Theresa und Robert Moses et al., Hg. Quality Education as a Constitutional Right: Creating a Grassroots Movement to Transform Public Schools. Boston: Beacon, 2010. Print. Robertson, Campbell. »Preaching a Healthy Diet in the Deep-Fried Delta«. NYTimes. New York Times, 21. Aug. 2011. Web. 10. Apr. 2016. Rustin, Bayard. »From Protest to Politics: The Future of the Civil Rights Movement«. Commentary. Commentary Mag., 1. Feb. 1965. Web. 11. Apr. 2016. Steenhuysen, Julie. »Pastor who Banned Fried Chicken Leads Mississippi Obamacare Push«. Reuters. Reuters, 27. Okt. 2013. Web. 10. Apr. 2016. Varney, Sarah. »Mississippi, Burned. How the Poorest, Sickest State Got Left behind by Obamacare«. Politico. Politico Mag., Nov./Dez. 2014. Web. 10. Apr. 2016.

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Autorinnen und Autoren

Manfred Berg ist Curt Engelhorn-Professor für amerikanische Geschichte an der Universität Heidelberg. Zu seinen Publikationen zählen The Ticket to Freedom: The NAACP and the Struggle for Black Political Integration (Gainesville: UP of Florida, 2005), Popular Justice: A History of Lynching in America (Chicago: Ivan Dee, 2011) und Geschichte der USA (München: Oldenbourg, 2013). Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der Rassenbeziehungen in den USA, die amerikanische Außenpolitik und die Verfassungs- und Rechtskultur Amerikas. Christa Buschendorf war von 1998-2015 Professorin für amerikanische Literatur, Kultur und Ideengeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Jüngere Buchpublikationen sind ›The Highpriest of Pessimism‹: Zur Rezeption Schopenhauers in den USA (Heidelberg: Winter, 2008), Civilizing and Decivilizing Processes: Figurational Approaches to American Culture (Newcastle: Cambridge Scholars Publishing, 2011; hg. mit Astrid Franke und Johannes Voelz) und Black Prophetic Fire (Boston: Beacon Press, 2014; hg. mit Cornel West). Ihre Forschungsschwerpunkte sind transatlantische Philosophiegeschichte, Nachleben der Antike in den USA, amerikanische Lyrik, afroamerikanische Literatur und Kultur sowie Relationssoziologie. Michael Butter ist Professor für amerikanische Literatur- und Kulturgeschichte an der Universität Tübingen. Er ist der Autor von The Epitome of Evil: Hitler in American Fiction, 1939-2002 (New York: Palgrave, 2007), Plots, Designs, and Schemes: American Conspiracy Theories from the Puritans to the Present (Berlin: de Gruyter, 2014) und Der »Washington-Code«: Zur Heroisierung amerikanischer Präsidenten, 1775-1865 (Göttingen: Wallstein, 2016). Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Verschwörungstheorien, Film und Fernsehen sowie amerikanische Kolonialzeit und Frühe Republik. Astrid Franke ist seit 2008 Professorin für Amerikanistik an der Universität Tübingen. Sie ist die Autorin von Keys to Controversies: Stereotypes in Modern American Novels (New York: St. Martin’s, 1999), Pursue the Illusion: Problems of Public

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Poetry in America (Heidelberg: Winter, 2010) und Mitherausgeberin von Civilizing and Decivilizing Processes: Figurational Approaches to American Culture (Newcastle: Cambridge Scholars Publishing, 2011). Sie ist Mitglied des Sonderforschungsbereiches 923 »Bedrohte Ordnungen« und leitet dort ein Forschungsprojekt zur erstaunlichen Kontinuität der amerikanischen Rassenordnung nach 1945. Thomas Gijswijt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung für Amerikanistik an der Universität Tübingen. Er hat mit einer Arbeit zur Geschichte der Bilderberg-Gruppe promoviert, unterrichtet Seminare zur politischen Geschichte der USA und zu den Präsidentschaftswahlen und schreibt regelmäßig Kommentare zur amerikanischen Politik und Außenpolitik für die führende außenpolitische Zeitschrift in den Niederlanden, den Internationale Spectator. Jacquelyn Dowd Hall ist Julia Cherry Spruill Professor Emerita an der University of North Carolina in Chapel Hill. Ihr Aufsatz »The Long Civil Rights Movement and the Political Uses of the Past« hat die Forschung über die Bürgerrechtsbewegung maßgeblich beeinflusst. Weitere wichtige Publikationen sind Like A Family: The Making of a Southern Cotton Mill World (Chapel Hill: U of North Carolina P, 1987; zusammen mit Robert Korstad et al.) und Revolt against Chivalry: Jesse Daniel Ames and the Women’s Campaign against Lynching (New York: Columbia UP, 1993). Ihr Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte des amerikanischen Südens mit Fokus auf Gender, Rassenbeziehungen und Arbeitergeschichte. Benjamin Hedin ist der Autor von In Search of the Movement: The Struggle for Civil Rights Then and Now (San Francisco: City Lights, 2015). Er lehrte an der New York University und an der New School for Social Research. Weitere Veröffentlichungen finden sich in Magazinen wie The New Yorker, The Atlantic und Slate. Er ist Produzent und Autor des Dokumentarfilms Two Trains Runnin’ (2016), der den Freedom Summer 1964 in Mississippi behandelt. Hedin lebt in Durham, North Carolina. Nicole Hirschfelder ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Amerikanistik der Universität Tübingen und assoziiertes Mitglied des SFB 923 »Bedrohte Ordnungen«. Sie ist die Autorin des Buches Oppression as Process: The Case of Bayard Rustin (Heidelberg: Winter, 2014). Aktuell arbeitet sie an einem Projekt zur Narrativität von Katastrophen und Desastern in Verbindung mit dem Konzept des Blickes in Literatur und Bilddarstellungen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Relationssoziologie, Ungleichheit und Unterdrückung sowie die Bürgerrechtsbewegung. Benjamin Houston lehrt amerikanische Geschichte an der Newcastle University in Newcastle-upon-Tyne, England. Sein Buch The Nashville Way: Racial Etiquette and the Struggle for Social Justice in a Southern City (Athens: U of Georgia P, 2012) hat mehrere Auszeichnungen erhalten. Seine Schwerpunkte in Lehre und For-

Autorinnen und Autoren

schung sind der Zweite Weltkrieg in der amerikanischen Geschichte, die Bürgerrechtsbewegung und afroamerikanische Freiheitskämpfe sowie oral history. Christine Knauer promovierte an der Universität Tübingen mit einer Arbeit zum afroamerikanischen Kampf um die Integration des amerikanischen Militärs. Zurzeit arbeitet sie an einem Buch über den Umgang mit Lynching im Süden der USA nach 1945. Ihre wichtigsten Publikationen sind Let Us Fight as Free Men: Black Soldiers and Civil Rights (Philadelphia: U of Pennsylvania P, 2014) und Artikel zur Kriegserinnerung in den USA. Luvena Kopp ist Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Amerikanistik an der Universität Tübingen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Figurations- bzw. Relationssoziologie sowie afroamerikanische Geschichte, Kultur und Literatur. Ihre Dissertation behandelt die filmästhetische Repräsentation verborgener Machtmechanismen in den Werken des Regisseurs Spike Lee. Ihr Aufsatz »Satirizing Satire: Symbolic Violence and Subversion in Spike Lee’s Bamboozled« erschien 2014 in der Anthologie Post-Soul Satire: Black Identity after Civil Rights (Hg. Derek C. Maus und James J. Donahue). Katharina Motyl ist Postdoktorandin im amerikanistischen Teilprojekt »Drogen, Macht und Marginalisierung« am SFB 923 »Bedrohte Ordnungen« der Universität Tübingen. Sie ist Mitherausgeberin des Sammelbandes States of Emergency – States of Crisis (Tübingen: Narr, 2011). Ihr Buch With the Face of the Enemy – Arab American Literature since 9/11 erscheint Ende 2016 (Frankfurt am M.: Campus). Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte von Drogen und Sucht in den USA, gender studies sowie die literarische Produktion ethnischer Minderheiten, insbesondere von Afroamerikanern, Indigenen und der arabischen und muslimischen Diaspora. Georg Schild ist Professor für nordamerikanische Geschichte an der Universität Tübingen. Er ist der Autor u.a. von Between Ideology and Realpolitik: Woodrow Wilson and the Russian Revolution, 1917-1921 (Westport: Greenwood, 1995), Abraham Lincoln: Eine politische Biographie (Paderborn: Schöningh 2009) und 1983: Das gefährlichste Jahr des Kalten Krieges (Paderborn: Schöningh, 2013). Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die amerikanische Politikgeschichte und die internationalen Beziehungen der Vereinigten Staaten. Horst Tonn ist Professor für Amerikanistik an der Universität Tübingen. Seine wichtigsten Publikationen sind Wahre Geschichten: Die amerikanische Dokumentarliteratur im 20. Jahrhundert (Essen: Blaue Eule, 1996), Kriegskorrespondenten: Deutungsinstanzen in der Mediengesellschaft (Wiesbaden: VS Verlag, 2007; hg. mit Barbara Korte) und Amerikanisierung – Globalisierung: Transnationale Prozesse im europäischen Alltag (Trier: WVT, 2007; hg. mit Ute Bechdolf und Reinhard Johler).

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Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören hispanoamerikanische Literatur und Kultur, Dokumentarismus, Medienkultur und kulturelle Globalisierung.

American Culture Studies Simon Schleusener Kulturelle Komplexität Gilles Deleuze und die Kulturtheorie der American Studies 2015, 412 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2989-7

Kathleen Loock Kolumbus in den USA Vom Nationalhelden zur ethnischen Identifikationsfigur 2014, 454 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,99 €, ISBN 978-3-8376-2740-4

Philipp Dorestal Style Politics Mode, Geschlecht und Schwarzsein in den USA, 1943-1975 2012, 370 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2125-9

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