Antike und Orient im Mittelalter: Vorträge der Kölner Mediaevistentagungen, 1956 - 1959 9783111342108, 9783110991062

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Antike und Orient im Mittelalter: Vorträge der Kölner Mediaevistentagungen, 1956 - 1959
 9783111342108, 9783110991062

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ANTIKE UND O R I E N T IM MITTELALTER

M I S C E L L A N E A MEDIAEVALIA VERÖFFENTLICHUNGEN DES THOMAS-INSTITUTS A N D E R U N I V E R S I T Ä T KÖLN H E R A U S G E G E B E N VON PAUL WILPERT U N T E R M I T A R B E I T V O N WILLEHAD PAUL E C K E R T

BAND l ANTIKE UND O R I E N T IM MITTELALTER

WALTER DE

GRUYTER

& CO./ BERLIN

V O R M A L S G. J. G Ö S C H E N ' S C H E V E R L A G S H A N D L U N G . J. G U T T E N T A G , V E R L A G S B U C H H A N D L U N G . G E O R G R E I M E R . K A R L J . T R U B N E R . V E I T & COMP.

1962

ANTIKE UND ORIENT IM MITTELALTER VORTRÄGE DER KÖLNER

MEDIAEVISTENTAGUNGEN

1956—1959

H E R A U S G E G E B E N V O N PAUL WILPERT UNTER MITARBEIT VON W I L L E H A D PAUL ECKERT

W A L T E R DE

GRUYTER

&

CO. / B E R L I N

V O R M A L S G. J. G Ö S C H E N ' S C H E V E R L AG S H A N D L U N G · J. G UTTENTAG, VE RLAG SB U C H HAN D L U N G . G E O R G R E I M E R . K A R L J . T R Ü B N E R - V E I T & C O M P .

1962

MIT BEITRÄGEN VON KARL BOSL · HEINRICH DÖRRIE · GßRARD VERBEKE · PAUL WILPERT HEINRICH HUSCHEN · JOSEPH EHRENFRIED HOFFMANN · KURT VOGEL HEINRICH SCHIPPERGES · MARIE D'ALVERNY « RICHARD WALOT GEORGES ANAWATI · RICHARD KONETZKE · PIERRE MICHAUD-QUANTIN JÜRGEN SYDOW UND BERYL SMALLEY

Archiv-Nr. 5621621 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen ©

1962 by Walter de Gruyter & Co., Berlin W 30 Printed in Germany

Satz und Druck: Walter de Gruyter & Co., Berlin W 30

VORWORT Die Arbeit eines Forschungsinstituts vollzieht sich in der Stille. Wenn sich ein solches Institut obendrein nicht einer bestimmten einzelnen Forschungsaufgabe widmet, sondern sich, wie das Thomas-Institut an der Universität Köln, den verschiedenen Anliegen philosophiegeschichtlicher Forschung in ihrer ganzen Breite eröffnet, so wird dieses Institut zwar ein wertvolles und brauchbares Instrument, dessen sich andere Institutionen zur Durchführung ihrer Aufgaben bedienen, aber es tritt nicht selbst als Institut vor die Öffentlichkeit. Es ist unser Stolz, daß wir in dem zwölfjährigen Bestehen unseres Instituts solche dienende Arbeit leisten konnten. Es hat sich ergeben, daß die Dokumentation und die bei einer großen wissenschaftlichen Ausgabe unentbehrliche Hilfsarbeit für die Cusanus-Edition der Heidelberger Akademie der Wissenschaften im Thomas-Institut konzentriert wurde. Ebenso sammelt das Thomas-Institut für die Neubearbeitung des Ueberweg die bibliographischen Unterlagen für die gesamte Geschichte der Philosophie. Es entspricht solcher Arbeit, daß das Institut seit drei Jahren die redaktionelle Arbeit für das vom Unterzeichneten in Verbindung mit Glenn Morrow neu belebte Archiv für Geschichte der Philosophie und für die begleitende Monographienreihe »Quellen und Studien zur Geschichte der Philosophie« leistet. Ganz von selbst erhebt sich aber auch der Wunsch, neben dieser dienenden Arbeit, die weiterhin unsere Hauptaufgabe bleiben soll, auch die Arbeit des Instituts selbst als solche sichtbar werden zu lassen. Es scheint uns deshalb angebracht, daß wir nach einem nunmehr zwölfjährigen Bestehen des Instituts uns ein Organ schaffen, das uns Gelegenheit gibt, vom eigenen Tun und Forschen auch vor der Öffentlichkeit Rechenschaft abzulegen. Das Institut ist bisher der Öffentlichkeit am stärksten durch die alljährlich von ihm veranstalteten Mediävistentagungen bekannt geworden. Ihre Ergebnisse nicht nur dem kleinen Kreis der jeweiligen Teilnehmer zugänglich zu machen, sondern sie auch für alle fruchtbar werden zu lassen, die geistig die Mediävistentagungen mittragen, wird die wichtigste Aufgabe der mit diesem Band eröffneten Publikationsreihe der Miscellanea Mediaevalia sein. Die Vorträge der Mediävistentagungen, die nunmehr regelmäßig Jahr für Jahr als Sammelband unter dem Titel des Rahmenthemas der Tagungen erscheinen sollen,

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Vorwort

werden auch in Zukunft das Kernstück dieser Veröffentlichungsreihe des Instituts sein. Daneben aber sollten die Miscellanea Mediaevalia in zwangloser Folge Berichte und Einzelvorträge bringen, die sich aus der Arbeit des Instituts, aus den am Institut gehaltenen oder von ihm veranstalteten Gastvorlesungen ergeben. Diese Publikationsreihe soll die Auffassung des Instituts unterstreichen, daß die Editionen und Forschungen zur Philosophie des Mittelalters einen der Schwerpunkte seiner Arbeit bilden und bilden müssen. Ähnlich wie die Mediävistentagungen will auch die Publikationsreihe sich nicht auf die Philosophie allein beschränken, obgleich diese im Mittelpunkt unseres Interesses steht. Sie will vielmehr die ganze Geistesgeschichte des Mittelalters zu Wort kommen lassen. Die Miscellanea Mediaevalia verstehen sich als ein Beitrag und als ein Organ des Gesprächs zwischen den Fakultäten und zwischen den Forschern, die sich in irgendeiner Weise mit dem Mittelalter beschäftigen.

PAUL WILPERT

INHALTSVERZEICHNIS Seite

KARL BOSL: Die germanische Kontinuität im deutschen Mittelalter (Adel—König—Kirche) l I. Kultur. Kontinuität und Kulturkonstanz l II. Möglichkeiten und Formen der Begegnung 6 III. Eigenkirchenrecht und Sakralrecht 9 IV. Adelsherrschaft als germanische Konstante im deutschen Mittelalter 14 V. Rache, Fehde, Friede — Heil. Germanische Substanz in Recht, Staat und Religiosität des Mittelalters 19 HEINRICH DÖRRIE: Porphyries als Mittler zwischen Plotin und Augustin 26 GERARD VERBEKE : Saint Thomas et le Stoicisme 48 PAUL WILPERT : Philon bei Nikolaus von Kues 69 HEINRICH HUSCHEN: Antike Einflüsse in der mittelalterlichen Musikanschauung 80 Jos. E. HOFMANN: Vom Einfluß der antiken Mathematik auf das mittelalterliche Denken 96 KURT VOGEL : Der Anteil von Byzanz an Erhaltung und Weiterbildung der griechischen Mathematik 112 Die erste Periode (408—829) 116 Die zweite Periode (829—1222) 119 Die dritte Periode (1222—1453) 123 HEINRICH SCHIPPERGES: Einflüsse arabischer Medizin auf die Mikrokosmosliteratur des 12. Jahrhunderts 129 I. Mikrokosmostheorien der älteren Tradition 131 II. Der Durchbruch der humanistisch-arabischen Richtung . 137 III. Die Bedeutung der neuen Wissenschaften . . . . . . . 145 Zusammenfassung 150 Quellenhinweise 151 MARIE-THERESE D'ALVERNY: Survivance de la Magie Antique . 155 RICHARD WALZER: Arabische Übersetzungen aus dem Griechischen 179

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Inhaltsverzeichnis Seite

GEORGES ANAwATI : Theologie Musulmane au Moyen Age . . . 196 Introduction 196 Remarque Preliminaire 197 I. Sources de la Theologie Musulmane 197 II. Place du kalam dans 1'ensemble savoir 204 1. Le De Scientiis de Färäbi 204 2. Autres auteurs. Conclusion de la deuxieme partie . . 208 III. Structure des Traitos 209 Conclusion 217 RICHARD KONETZKE: Probleme der Beziehungen zwischen Islam und Christentum im spanischen Mittelalter 219 I. Kontinuität der spanischen Geschichte ? 220 II. Die wandernde Grenze 221 III. Die Reconquista ist kein eigentlicher Glaubenskrieg . . . 226 IV. Der Krieg fördert die adlige Lebenshaltung 232 V. Flüchtlings- und Vertriebenenprobleme 234 PIERRE MICHAUD-QUANTIN : Collectivite's modie"vales et institutions antiques 241 JÜRGEN SYDOW : Gedanken über die Auctoritas in der Kanonistik des frühen 13. Jahrhunderts (bis 1234) 253 BERYL SMALLEY : Problems of Exegesis in the fourteenth Century 266

ZUR EINFÜHRUNG Die Mediävistentagungen in Köln sind für viele zu einem festen Begriff geworden, die sich mit Problemen der Mittelalterforschung beschäftigen. Unter einem bestimmten Rahmenthema vereinigen diese Arbeitstagungen jeweils Referenten und Forscher der verschiedensten Sachgebiete zu gemeinsamem Gespräch. Seit langem ist an mich der Wunsch herangetragen worden, die Referate der Mediävistentagungen in jährlicher Folge zu veröffentlichen, damit der Beitrag den sie für die Forschung liefern, auch denen zugute komme, die nicht an der Tagung selbst teilzunehmen vermögen. Zwei Tagungen konnten durch den Begründer der Mediävistentagungen, Herrn Prälat Professor D. Dr. Josef Koch in der von ihm geleiteten Reihe: Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters herausgegeben werden1. Doch der Wunsch nach einer raschen Publikation im Anschluß an die jeweilige Tagung war damit noch nicht befriedigt. Nunmehr ist die Publikation der Vorträge der 11. und 12. Mediävistentagung (1960 und 1962) bereits in Vorbereitung. Sie wird dem Selbst Verständnis des Berufs im Mittelalter gewidmet sein. Der hiermit der Öffentlichkeit übergebene 1. Band unserer Miscellanea Mediaevalia faßt die Referate der 7.—10. Mediävistentagung zusammen, die in den Jahren 1956—1959 vom Thomas-Institut an der Universität Köln veranstaltet wurden. Die lange Verzögerung der Publikation hat leider viele Referenten, die uns ihre Beiträge zur Veröffentlichung übergeben hatten, inzwischen veranlaßt, sie in Zeitschriften ihres Fachgebietes erscheinen zu lassen. Dem Wunsch nach vorzeitiger Veröffentlichung konnten wir uns um so weniger widersetzen, als sich der Erscheinungstermin des ersten Bandes immer wieder hinauszögerte. Es hatten jedoch so viele Verfasser mit uns Geduld, daß trotz aller Schwierigkeiten noch ein ansehnlicher Band zustande gekommen ist. Allen, die uns geholfen haben, diesen Band erscheinen zu lassen, und die uns über so viele 1

Die Vorträge der dritten Mediävistentagung 1952 erschienen als Band III der Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters unter dem Titel: Humanismus, Mystik und Kunst in der Welt des Mittelalters. Leiden — Köln 1953. Die Vorträge der sechsten Mediävistentagung 1955 tragen als Band V den Titel: Artes liberales. Von der antiken Bildung zur Wissenschaft des Mittelalters. Leiden — Köln 1955.

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Jahre hinaus ihr Vertrauen geschenkt und ihre Treue gehalten, sagen wir für ihre Geduld herzlichen Dank. Die Referate werden so veröffentlicht, wie sie auf den Tagungen gehalten wurden. Auf eine Ergänzung durch später erschienene Literatur wurde bewußt verzichtet und ebenso, von kleinen Zufügungen abgesehen, auf weitergehende Umarbeitung. All das hätte nicht nur eine neuerliche Verzögerung der Drucklegung bedeutet, sondern auch den Eindruck des gehaltenen Vortrags stark verändert. Neben ihrem Beitrag zur Mittelalterforschung soll ja die Publikation auch einen Einblick in den lebendigen Vollzug der Mediävistentagungen selbst geben. Wenn wir trotz der Vielfalt der in diesem Band vereinigten Einzelthemen und trotz des Wechsels des Rahmenthemas bei den einzelnen Tagungen die Referate von vier Tagungen noch in einem in sich geschlossenen Band vorlegen können, so zeigt sich darin die Kontinuität des Planens und Arbeitens, die sich bei den Mediävistentagungen durchgesetzt hat. Unter dem Titel »Antike und Orient im Mittelalter« ließ sich zwanglos zusammenfassen, was Gegenstand unserer Forschungen und Diskussionen war. Man spricht heute gerne von der abendländischen Tradition und denkt dabei an die Linie der Kulturüberlieferung, die vom Griechentum über die griechisch-römische Antike ins christliche Rom und schließlich ins lateinische Mittelalter führte. Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß gegen Ende des 5. Jahrhunderts die geistigen Kontakte zwischen dem griechischen Osten und dem lateinischen Westen abrissen und in der lateinischen Welt für Jahrhunderte nur das an griechischem Erbe weiter wirkte, was bereits in die eigene geistige Überlieferung eingegangen war. In sehr viel reicherem Bestand lebt dagegen die griechische Literatur über syrisch-arabische Übersetzungen in der islamischer-Welt des frühen Mittelalters weiter. Aus beiden Quellen, durch arabisch-lateinische und durch direkte griechischlateinische Übersetzungen, wurde dann dieses griechische Erbe mit seiner im islamischen Bereich vollzogenen Weiterbildung im Laufe des 12. und 13. Jahrhunderts dem lateinischen Mittelalter bekannt. Antike und Orient im Mittelalter bedeuten also nicht zwei unabhängig nebeneinanderstehende Themenkreise, sondern umschreiben die eine Frage nach dem geistigen Ort der Kultur des lateinischen Mittelalters in ihrem Zusammenhang mit der griechisch-römischen und römisch-christlichen Antike einerseits und der Transformation dieses Erbes im Bereich der islamischen Kultur andererseits. Daß dabei auch die Beiträge nicht übersehen werden dürfen, die von den neu in die Geschichte eintretenden germanischen Völkern dieser neuen einheitlichen mittelalterlich-lateinischen Kultur übermittelt wurden, versteht sich von selbst.

Zur Einführung

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Es geht uns in den Mediävistentagungen nicht um große zusammenfassende Referate, sondern um gediegene Beiträge zur Einzelforschung, die das unerläßliche Material für eine Neugestaltung unseres Bildes vom Mittelalter liefern. Die umfassende Deutung bildet das Ziel, die Beiträge aber zeigen die moderne Forschung auf den verschiedensten Gebieten, der Theologie- und der Philosophiegeschichte, der Geistesund Verfassungsgeschichte, der Kunstgeschichte und der Geschichte der Einzeldisziplinen auf dem Weg. KARL BOSL, der in seinen Forschungen den Nachwirkungen germanischer Lebensform, germanischer Rechts- und Religionsüberlieferung nachgeht, veranschaulicht in seinem Beitrag dieses Erbe am Beispiel der bayerischen Geschichte. Er versteht seinen Beitrag als notwendigen Gegenpol zu den kultur-, philosophic- und theologiegeschichtlichen Untersuchungen, die naturgemäß das griechisch-römische Vermächtnis an das Mittelalter herausarbeiten müssen. Drei Beispiele zeigen, in welcher mannigfachen Fragestellung die Forschung das Erbe der Antike im Mittelalter aufzuhellen versucht. Augustins beherrschende geistige Stellung im frühen Mittelalter ist bekannt. HEINRICH DÖRRIE in Weiterführung der Forschungen W. THEILERS, geht den Quellen des Augustinischen Neuplatonismus nach und weist Porphyrius als den wichtigsten Vermittler auf, an dem sich in Aneignung und Auseinandersetzung das augustinische Denken formt. Nicht so sichtbar wie der Neuplatonismus ist das Weiterwirken der Stoa im Mittelalter. GERARD VERBEKE untersucht die direkten und indirekten Zeugnisse stoischer Begrifflichkeit und stoischen Denkens im Werke des Thomas von Aquino. Wichtiger als die unmittelbaren Zitate aus stoischen Autoren sind die indirekten Spuren stoischen Denkens, die gerade wegen der Unbewußtheit ihrer Herkunft sich stärker in das eigene Denksystem einpassen. Wie ganz anders der historische Blick des aus einer ungebrochenen geschichtlichen Tradition die Vergangenheit sehenden Mittelalters gegenüber unserer heutigen historisierenden Betrachtung war, weist der Unterzeichnete am Beispiel des im Mittelalter hochgeschätzten Philon von Alexandrien nach. Welche Assoziationen, so fragt er, weckte dieser Name im Geiste noch eines Nikolaus von Kues ? Wie verschieden ist aber auch im Mittelalter die Einschätzung von Musiktheorie und Musikausübung gegenüber unserer heutigen Auffassung! HEINRICH HUSCHEN zeigt die Bedeutung des Musiktheoretikers, der die Lehre von der Harmonie versteht und dessen Gedanken sich ebenso mit der Philosophie wie mit der Mathematik berühren. Die beiden Wege, auf denen die mittelalterliche Mathematik ihre Anregungen erhält, weist JOSEPH EHRENFRIED HOFMANN nach. Was haben die arabischen Vermittler von der Antike übernommen, und wie haben sie es weitergebildet, was bedeutete ihre Anregung für das

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Zur Einführung

lateinische Mittelalter ? In dieser Form stellt sich die allgemeine Frage der Kulturüberlieferung dem Mathematikhistoriker. Daß daneben das antike Erbe eine eigene Weiterentwicklung in der griechisch-mittelalterlichen Kultur des byzantinischen Kaiserreiches fand, darauf weist KURT VOGEL am Beispiel der byzantinischen Mathematik hin. Seit den Kreuzzügen bis zum Ende des Mittelalters hat diese byzantinische Kultur auf den lateinischen Westen gewirkt. HEINRICH SCHIPPERGES zieht die Linien, die Hofmann für die Mathematikgeschichte gezeichnet hat, in der Medizingeschichte nach. Er untersucht den Einfluß der arabischen Medizin auf die Mikrokosmosliteratur des 12. Jahrhunderts. Die Bemühungen der Schule von Chartres um ein Verständnis und eine Zuordnung von Makrokosmos und Mikrokosmos finden ihre Vorbilder im platonischen Timaios, der einzigen originalen Platonschrift, welche die lateinische Welt in der Übersetzung des Chalcidius bis zum 15. Jahrhundert gut kannte. Die große Rezeptionswelle griechischer und arabischer Literatur seit dem Ende des 12. Jahrhunderts kam im wesentlichen der AristotelesKenntnis zugute. Neben dem Zeugnis platonischer Weltkonzeption und der sie weiterführenden Consolatio philosophiae des Boethius wurden die Werke arabischer Naturphilosophie und Medizin eifrig und vorurteilslos gelesen. Doch das Bild antiken Erbes wäre unvollständig und zu einseitig ideal, würden wir uns nicht auch an die Nachtseiten der Seele erinnern. Die Magie, bezeichnenderweise die schwarze Kunst genannt, führt als Geheimwissenschaft ein verstecktes, aber höchst wirksames Leben im Mittelalter. Mit unendlicher Geduld hat sich M ARIE-THERESE D'ALVERNY neben ihren Studien zum kosmischen Symbolismus des 12. Jahrhunderts und zur Philosophie des Islam der Enträtselung der seltsamen Geheimformeln der Magie gewidmet. Ihre Ergebnisse sind nicht nur für die Kultur- und Religionsgeschichte von weittragender Bedeutung. Den Beziehungen der islamischen Kultur zur griechischen Antike widmet RICHARD WALZER seine Studien, die nicht nur eine seltene Sprachkenntnis, sondern ebenso Vertrautheit mit den geistigen Kräften des Griechentums und des Islams voraussetzen. Doch auch zwischen Islam und dem Christentum gibt es Gemeinsamkeiten, die beide von der antiken Religiosität abheben. Dieser Seite des geistigen Überlieferungsprozesses geht GEORGES ANAwATI nach, während RICHARD KONETZKE das Problem der Beziehungen zwischen Islam und Christentum in Spanien im Anschluß an höchst verschiedenartige Weisen des spanischen Selbst Verständnisses neu aufrollt. Die ganze Vielfalt der Fragestellung, die in dem Thema der Wurzeln mittelalterlicher Kultur beschlossen liegt, wird sichtbar, wenn PIERRE MiCHAUD-QuANTiN untersucht, welche antiken Institutionen den Zusammenbruch des Römischen Reiches überdauerten, ob und wie sie

Zur Einführung

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in mittelalterliche Gemeinschaften und Gemeinschaftsformen aufgingen. Eine neue Prägung erfahren diese Gemeinschaften seit der Rezeption des römischen Rechts. Zunächst in der Kanonistik angewendet, wird es bald auch vom staatlichen Recht übernommen. JÜRGEN SYDOW betrachtet den zentralen Begriff der auctoritas in der Kanonistik des frühen 13. Jahrhunderts. Das wichtigste Erbe der Antike aber ist die Bibel. Ihre Interpretation ist bis zum späten Mittelalter Hauptaufgabe des Theologen. Die vornehmste und unaufgebbare Vorlesung jedes Magister Sacrae Theologiae einer mittelalterlichen Universität bis weit ins 15. Jahrhundert ist die exegetische. So darf im Rahmen unserer Publikation über Antike und Orient im Mittelalter ein Aufsatz über die mittelalterliche Bibelinterpretation nicht fehlen. BERYL SMALLEY ist nicht nur eine ausgezeichnete Kennerin des mittelalterlichen Bibelstudiums, ihr Augenmerk gilt auch seit vielen Jahren dem antiken Erbe in der mittelalterlichen Exegese. So rundet sich durch alle Vorträge das Bild der Überlieferung des antiken Vermächtnisses an das Mittelalter. Niemals konnte es uns um eine bloße Aufzeichnung der den Zusammenbruch des Imperium Romanum überdauernden Elemente gehen, noch um eine statistische Feststellung paralleler Entwicklungen im griechischen und arabischen Osten. Immer ging es vielmehr um die Frage nach den gemeinsamen Voraussetzungen, Problemstellungen und Denkstrukturen. Sie erst erklären Möglichkeit und Grenzen antiken und arabischen Einflusses auf das Mittelalter. Dies herauszustellen ist Absicht der vorliegenden Veröffentlichung.

PAUL WILPERT

DIE GERMANISCHE KONTINUITÄT IM DEUTSCHEN MITTELALTER (Adel — König — Kirche) Von KARL BOSL Der tiefgreifende Wandel, ja die Gefährdung, in der sich europäische Kultur heute befindet, zwingt dazu, ihre Wesens- und Strukturelemente, ehedem selbstverständlich aus einem ungebrochenen, selbstsicheren Bewußtsein heraus, nun aus wissenschaftlicher Distanz herauszuschälen und anderen Kulturen (= societies) gegenüberzustellen, die vor nicht allzu langer Zeit noch am Rande unseres geographischen Horizonts und damit auch unseres Kulturbewußtseins standen, heute aber, manchmal in bedrohliche Nähe gerückt, zuerst als ganz wesensverschieden empfunden werden. Das hat zur Folge, daß wir unsere europäische Kultur nicht mehr nur als loses System von Nationalismen, sondern stärker als Ganzes, als einen in sich geschlossenen, wenn auch nicht abgeschlossenen empfinden, der trotz vieler fruchtbarer Anregungen von außen und mannigfacher Begegnung mit Fremden ein ganz individuelles Gebilde ist, das unter eigengesetzlichen Bedingungen gewachsen und geworden ist1. Alle Kultur ist durch Synthese entstanden, die wir als Folge des Zusammentreffens einer Mehrheit von Kulturen begreifen. Unser Ziel ist es darum heute, das synthetische Wesen der europäischen Kultur zu erkennen, d. h. die überdauernden und übergreifenden Strukturelemente aufzufinden, die sich allem Wandel zum Trotz in der Identität mit sich selber erhalten haben. I. K u l t u r Kontinuität und Kulturkonstanz Bei der Analyse der Grundstrukturen unserer Kultur stoßen wir auf zwei Grundvorgänge, historische Kontinuität und Kulturkonstanz. Unter Kontinuität versteht die deutsche Geschichtswissenschaft Kulturübertragung von einem Kulturkreis zum ändern. A. Dopsch und seine Schule haben darum das Weiterwirken der antiken Kultur und ihre am Aufbau des europäischen Gesellschafts- und Kulturkörpers 1

Als sachlich und methodisch wertvoll hebe ich aus dem wissenschaftlichen Schrifttum heraus: D. GERHARD, Regionalismus und ständisches Wesen als ein Grundthema europäischer Geschichte, HZ 174 (1952) 307—338 und R. W. SOUTHERN, The making of the middle ages (1953), bespr. v. K. BOSL, in HZ 180 (1955) 306—312. S. vernachlässigt di? deutsche Komponente.

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Karl Bosl

mitgestaltende Kraft untersucht. H. Aubin2 ist dieser Frage intensiv nachgegangen; H. Dachs3 hat an Hand des römischen Domanial- und bayerischen Herzogsgutes, der Wege und der Straßen römische Kontinuität im bayerischen Frühmittelalter untersucht. Von der so gefaßten Kontinuität unterscheidet man die Kulturkonstanz. Dieser Begriff will besagen, daß trotz des Wechsels des materiellen Substrats sich von Anfängen her eigenständige Formen auf ihrer Wanderung durch eine wechselnde geschichtliche Umwelt erhalten haben. Diesen letzteren Sinn aber unterlege ich dem Phänomen der germanischen Kontinuität im deutschen Mittelalter, mit dem sich die folgenden Ausführungen befassen. Im Grunde handelt es sich also in der wissenschaftlichen Terminologie nur um zwei Spielarten des einen Kontinuitätsbebegriffes, die in sich keinen echten, nur einen materialen Gegensatz bergen und sich zu einer höheren Einheit ergänzen. Kontinuität ist demnach sowohl Kulturübertragung, die die Eigenkraft des übernehmenden Volkes stärken und schwächen kann, als auch Beharrungskraft der kulturellen Eigenart einer Völkergemeinschaft, eines Gesellschafts- und Kulturkreises gegenüber den Fremdeinflüssen. H. Mitteis4 hat von einer defensiven Kontinuität gesprochen, die sich im Laufe der Kulturübernahme zu einer offensiven wandelt. Ausmaß und Wesen der Kulturwanderung begreift man nur, wenn man Individualität und Eigenwert des übernehmenden Volkes kennt; denn echte Kultursynthese, d. h. neue Kultur entsteht nicht nur durch Überlagerung, sondern auch durch eine innere Kraft, die übertragenen Kulturwerte in sich organisch aufzunehmen. Will sich ein Volk, eine Gesellschaft nicht an das Fremde verlieren, dann müssen sie bei Übernahme und Einschmelzung fremden Kulturgutes immer auch inneren Gehalt bewähren. Die Erkenntnis des gesamtgermanischen Zusammenhangs und seiner Auseinandersetzung mit Fremdeinflüssen ist deshalb ein Hauptanliegen der mittelalterlichen Gesellschafts- und Kulturkreisforschung Deutschlands und Europas. Die europäische Kultur trägt auch starke germanische Strukturelemente in sich. Dabei muß freilich die Frage offen bleiben, eb man das Germanische in seinem vormittelalterlichen Zustand als einen in sich geschlossenen Gesellschafts- und Kulturkreis fassen kann und darf, als eines der Ursubstrate, aus denen durch Berührung, Vermischung und Assimilierung das historische Phänomen Europa sich gebildet hat. 2

H. AUBIN, Vom Altertum zum Mittelalter (1949). Vgl. ferner K. F. STROHEKER, Um die Grenze zwischen Antike und abendländischen Mittelalter, in: Saeculum I (1950) S. 438ff. F. MILTNER, Die Grenzmarke zwischen Antike und Mittelalter, Festgabe Harold STEINACKER (1955). 8 H. DACHS, Römisch-germanische Zusammenhänge in der Besiedlung und den Verkehrswegen Altbaierns, Ostbairische Grenzmarken 13 (1924) S. 74ff-, lOOff., 135ff. 4 H. MITTEIS, Die Rechtsgeschichte und das Problem der historischen Kontinuität. Abh. d. dtsch. Ak. d. W. zu Berlin (1947) Ph. Hist. Kl. 1.

Die germanische Kontinuität im deutschen Mittelalter

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Der Begriff der Kontinuität ist zur Kategorie der Geschichtsforschung erst nach dem Auslaufen der Geschichtsmetaphysik des objektiven Idealismus und der formalen Geschichtslogik des Neukantianismus geworden und Teil einer materialen Geschichtsontologie, einer Wesenslehre des geschichtlichen Seins und Geistes (E. Troeltsch, Max Weber, Theod. Litt, Nikolai, Ed. Spranger, A. Weber, A. Rüstow). In diesem Bezug ist sie Gegenpol der Kategorie des Wandels, Werdens und Verlöschens. In den letzten zwanzig Jahren trat neben die Erforschung des Sachzusammenhangs zwischen antiker und mittelalterlicher Kultur das Studium des Weiterwirkens germanischer Substanz im mittelalterlichen Gesellschafts- und Kulturkörper. Es kam das Schlagwort der germanischen Kontinuität auf. Es ist 0. Höflers Verdienst, dieses Problem entscheidend angerührt5 und es zur Kernfrage der ganzen Germanenforschung gemacht zu haben. Höfler setzt bei der Religionsgeschichte ein, auf deren Boden er die germanische Substanz völlig verschüttet glaubte; in der christlichen Legende meinte er grundsätzlich Überlagerung uralter germanischer Sakralmotive zu erkennen6 Die Heilige Lanze des mittelalterlichen deutschen Königs, auch als Konstantins-, Mauritius- und Longinuslanze verehrt, war Nachfolgerin des heiligen Wotansspeeres und Symbol der vom göttlichen Ahnherrn der germanischen Heerkönigsgeschlechter der Wanderzeit überkommenen Heilkraft und Machtfülle7. Symbolforschung, wie sie das große repräsentative Werk von P. E. Schramm8 vorgelegt hat, hat uns den noch im Mittelalter so starken Zusammenhang zwischen Religion und Staatlichkeit in einem ganz neuen Licht gezeigt und den von F. Heer geprägten Ausdruck einer »politischen Religiosität« des Mittelalters auf sachlich-materiale Bereiche zurückgeführt. Symbolforschung hat uns eine neue geschichtliche Quelle erschlossen, die Karl Hauck, einen der besten Kenner und Deuter dieser neuen Quellenart, zur Feststellung führte, daß Religion der Kitt archaischer Staatlichkeit gewesen sei. Auf Abstammung von Wotan beriefen sich die angelsächsischen Herrscher noch lange nach der Christianisierung zur Erhöhung ihres Charismas, ihres Königsheils. Der berühmte Grabfund von Sutton Hoo bei London hat die Schiffsnekropole eines angelsächsischen Königs von East Anglia aus der Mitte des 6. Jahrhunderts zutage gefördert, deren Grabbeigaben, vor allem ein germanischer Heilsund Kraftstab sowie ein germanisches Feldzeichen, die Lücke zwischen 6

O. HÖFLER, Das germanische Kontinuitätsproblem, HZ 157 (1938), 14ff. ' O. HÖFLER, Zur Bestimmung mythischer Elemente in der geschichtlichen Überlieferung, Festschr. f. O. SCHEEL (1952), 9—27. ' K. HAUCK, Herrschaftszeichen eines wodanistischen Königtums, Jb. frk. Ldf. 14 (1954), 9—66; P. E. SCHRAMM, Herrschaftszeichen u. Staatssymbolik I (1954/5); O. HÖFLER, Der Sakralcharakter des germanischen Königtums, in: Das Königtum (1956), 75—104; W. HOLTZMANN, König Heinrich I. und die heilige Lanze (1947). 8 P. E. SCHRAMM, Herrschaftszeichen und Staatssymbolik I (1954/5), II (1955).

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Karl Bosl

germanischer Archäologie und germanischer Religions- und Staatsgeschichte schließen. Wir sind heute besser imstande, die Germania des Tacitus, Caesar und andere römische Autoren auf Grund archäologischer Befunde wirklichkeitsgerecht zu interpretieren9. Den Generalangriff gegen O. Höfler hat H. Aubin auf dem Magdeburger Mediävistentag 1943 eröffnet und ihm vorgeworfen, daß er die unvergleichbaren Phänomene der Kontinuität und Kulturkonstanz in der germanischen Sphäre auf eine Stufe stelle. Wenn wir, wie oben gezeigt, zwischen diesen beiden Formen der Kontinuität keinen grundlegenden Unterschied mehr sehen und nicht mehr mit F. Th. Vischer meinen können, daß sich das Germanische von selbst verstehe, so bleibt es doch Aubins Verdienst, die Germanenforschung von einem Extremismus gereinigt und den Vorgang der Übernahme und Einschmelzung fremder Kultureinflüsse von dem Makel der Entartung und des Verrats befreit zu haben. Er hat damit den Weg für das Einströmen von Grundsätzen und Einsichten der allgemeinen Kultur- und Gesellschaftsgeschichte, der Ethnologie und historischen Anthropologie in die Germanenforschung geebnet10. Nachdem wir die Doppeldeutigkeit des einen Kontinuitätsbegriffes unserer Terminologie erkannt haben, nachdem wir das Germanische in seiner vormittelalterlichen Gestalt als eine abgrenzbare und geschlossene Größe in allgemeinen Umrissen greifen können (nicht nur sprachlich, sondern in Recht, Religion, Staatlichkeit), nachdem wir neben der Individualität und Singularität germanischer Kultur auch ihre Fremdbezüge und ihre allgemeinen ethnisch-anthropologischen Charakteristika sehen gelernt haben und damit auch den christlich-antiken Einschlag im europäischen wie germanischen Gesellschafts- und Kulturkörper und seine verwandelnde Wirkung sine ira et studio würdigen, nachdem wir aber auch das Slawische heute als »Bauelement« Europas würdigen, nachdem der Kampf um die Seele des deutschen Rechts und der deutschen Kultur der Vergangenheit angehört und man Romanismus und Germanismus als gleich starke Bauelemente des Abendlandes selbstverständlich gelten läßt, nachdem an die Stelle von einseitigen nationalen Verfassungs-, Rechts-, Sozialgeschichten eine vergleichende Gesamtschau der Gemeinsamkeiten und Gleichläufe, aber auch der Unterschiede und Besonderheiten zu treten beginnt, ist nun die Bahn für eine Behandlung des germanischen Kontinuitätsproblems frei. Wenn diese Ausführungen zeigen können, wie stark das Nachleben der germanischen Substanz im christlichen Mittelalter auch nach der Auseinandersetzung mit dem antikchristlichen Erbe war, ja daß es so' K. BOSL, Reges ex nobilitate, duces ex virtute sumunt, in: Aus dem Bildungsgut der Antike (1956). 123—134. 10 Vgl. RUTH BENEDIKT, Urformen der Kultur (Patterns of Culture), deutsch von R. Salzer (1955).

Die germanische Kontinuität im deutschen Mittelalter

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gar das deutsche Mittelalter in ganz andere Bahnen als das französische und englische lenkte, was sich in Herrschaft und Staat am schlagendsten beweisen läßt, dann dienen sie auch der allgemeinen Erkenntnis von dem Ausmaß der Beharrung im dialektischen Prozeß der Kultursynthese. Dazu kommt noch die andere Feststellung, daß nicht nur Fremdeinflüsse die Substanz verwandeln können, sondern daß diese primär aus eigenen Gesetzen der Entwicklung einen inneren Wandel im Prozeß unterliegt. Dieser Wandel vollzieht sich in drei Richtungen. Ein Prozeß der Vergeistigung, Rationalität, Abstraktion lockert archaisches Denken auf, das am Sinnlichen, Körperhaften hängt, und läßt es zur Erfassung geistiger Bezüge und zu rationalen, subHmierteren Herrschaftsmethoden reifen. Ein Prozeß der Differenzierung bringt die Einfachheit der Urformen des Lebens zur Entfaltung in Religion, Recht, Staat und weckt gesteigerte wirtschaftliche und kulturelle Bedürfnisse. Aus dem archaisch-mythischen Sakralkönigtum wachsen die verschiedenen Formen des Gefolgschafts- und Heerkönigtums11, aus der hausväterlichen Gewalt des pater familias lassen sich die verschiedensten Herrschaftsformen des Früh- und Hochmittelalters ableiten12, aus dem Urbegriff des Habens und Deckens mit dem Körper, wie er noch in der germanischen Gewere zutage tritt, entwickeln sich die verschiedenen Sachenrechte, die dann wieder im Eigentumsbegriff und im absoluten Herrschaftsrecht zusammengefaßt werden. Ein Prozeß der Auslese in Gesellschaft, Recht, Staat läßt Formen absterben, die ihren geschichtlichen Zweck erfüllt haben, und ersetzt sie durch neue, gemäßere. Die drei Prozesse, die man mit Alfred Weber als Gesellschafts-, Zivilisationsprozeß und Kulturbewegung ansprechen kann13, machen auch den Inhalt geschichtlicher Kontinuität aus. Da die Verfeinerung der Technik des gesellschaftlich-staatlichkulturellen Lebens die volkstümlich-naturhaften Grundlagen verändert und auflöst, werten wir die organisatorische Durchbildung der Struktur menschlicher Verbände kraft immanenter Eigenentwicklung oder durch Fremdeinfluß nicht unbedingt als entschiedenen Fortschritt, sondern sehen darin auch Anzeichen des Schwindens ursprünglicher, kraftvoller Einheit, die von lebendigen Gemeinschaften aus innerer Verbundenheit, nicht von Organisationen getragen war. 11

Das Königtum. Seine geistigen und rechtlichen Grundlagen, hrsg. v. TH. MAYER (1956) mit Beiträgen von Ewig, Höfler, Schlesinger, Buchner, Büttner, Mayer, Beumann, Kempf, Hellmann, Brunner. 12 W. SCHLESINGER, Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte, HZ 176 (1953), 225—275. Vgl. dagegen neuerdings die scharfen Angriffe gegen Funktion und Ethos des germanischen Gefolgschaftswesens v. F. GRAUS, Über die sogenannte germanische Treue, in: Historica I Les sciences historiques en Tchocoslovaquie (1959) S. 71—121. 13 A. WEBER, Kulturgeschichte als Kultursoziologie (21950); Ders., Prinzipien der Geschichte- und Kultursoziologie (1951).

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II. Möglichkeiten und Formen der Begegnung Noch immer rätselvoll ist der Übergang vom Altertum zum Mittelalter in jenen Zeiten, die die englische Forschung dark ages nennt14. Dieses Rätsel wird um so eher erhellt, je mehr Einsichten wir in das germanische Wesen gewinnen15 und wie es sich unter dem Einfluß des antik-christlichen Erbes gewandelt hat. Die Übernahme des spätantiken Kulturgutes durch die Germanen, seine Verschmelzung mit den Eigenwerten, die die Germanen einbrachten, zu begreifen, setzt die Kenntnis der germanischen Kulturkonstanz voraus. Dabei muß man sich immer bewußt bleiben, daß nicht das Erbe der klassischen, sondern der ausgehenden Antike übernommen wurde, in der sich schon starke Anzeichen einer Entfremdung bemerkbar machten und zwar gerade von der Seite des Germanischen her. Neben die innere Zersetzung des römischen Imperiums, neben die Mechanisierung des Staatsapparates, den Leerlauf der Staatsverwaltung war eine Jahrhunderte wirksame Germanisierung von Heer und Beamtentum, eine tiefgreifende Umformung der Gesellschaft und Wirtschaft getreten, die sich in Formen ausprägte, die den spätgermanisch-frühmittelalterlichen bereits sehr ähnlich waren (Grund und Privatherrschaft, Immunitäten, Kolonat). Kulturübernahme wurde überhaupt nur dadurch möglich, daß die Germanen in ihrem sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg Formen entwickelt und einen Zustand erreicht hatten, der sie bereit und fähig machte, das spätantike, ähnlich strukturierte Erbe zu verstehen und es von geeigneten Trägern, wie vor allem dem spätantiken gallorömischen Senatorenadel, auf höchster gesellschaftlicher und geistiger Ebene zu übernehmen. Dadurch vermischten sich die Formen so rasch und entstand das Mittelalter. Die vom Grundbesitz ausgehende Feudalisierung16 des spätantiken Lebens traf auf germanische Zustände, die nicht wesensgleich waren, aber eine Anpassung sehr rasch vorbereiteten. Schon die Germanen der Zeit des Tacitus kannten die Grundherrschaft mit Leibeigenenbetrieb, kannten Haus-, Burg-, Gefolgschafts-, Grund-, Gerichts-, Tempelherrschaft, kurz all die Frühformen des staatlichen Lebens, die in der ausgehenden Antike uns als Produkt der Zersetzung des Staates und der Gesellschaft, als eine Privatisierung begegnen, ein Ausdruck, der für die germanische Welt falsch ist17. Ein anderes Element ist der Stilwandel zumindest der offiziellen Kunst des Bas Empire. 14

P. E. HÜBINGER, Spätantike und frühes Mittelalter. Ein Problem historischer Periodenbildung. Dt. Vjschr. f. Lw. u. Gg. 26 (1952). 15 J. DB VRIES, Die geistige Welt der Germanen (21945). 18 Für den Begriff des Feudalismus s. F. GANSHOF, The Feudalism (1952). 17 H. AUBIN, Stufen und Formen der christlich-kirchlichen Durchdringung des Staates im Frühmittelalter, Festschr. f. G. Ritter (1950), 79ff.

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Wir müssen uns endlich davon frei machen, zu meinen, daß Plato, Aristoteles und das Griechentum grundlegend an Europa und seiner Kultur mitgestaltet hätten; das ist eine einseitige Auffassung seit Humanismus und Neuhumanismus, aber historisch nicht begründbar. Da sind vor allem Augustin zu nennen und, wie jüngst Denis de Rougemont18 ausgezeichnet betont hat, die christologische Diskussion und die großen ersten Kirchen Versammlungen, vor allem das Nicaenum von 325. Dort sind Grundbegriffe erarbeitet worden, von denen sich die europäischen Auffassungen von der menschlichen Person herleiten. Der Hellenismus hatte nur die Kategorien des individuellen Seins: Essenz, Substanz, Hypostase erarbeitet. Die Römer hatten den Begriff der »Persona« geschaffen, der zuerst die Maske des Schauspielers, dann den Schauspieler selber und seine Rolle, schließlich den Menschen als Träger von Rechten und Pflichten im Gemeinwesen, den Bürger, bezeichnete. Das in sich begrenzte Individuum Mensch wird zur Person erst durch seine Fähigkeit, Träger bürgerlicher und rechtlicher Verbindlichkeiten in Gesellschaft und Staat zu sein. »Persona est sui iuris, servus non est persona«, d. h. die Person ist durch ihren Rechtstitel umschrieben. Die nämliche Erscheinung begegnet uns realiter bei der fränkischen Gemeinfreiheit, d. h. den Königsfreien, die zwar selber meist leibeigen, durch die Übernahme von Pflichten und Rechten im fränkischen Großreich zu einer institutionellen und funktionellen »Freiheit« aufsteigen, die ich als »freie Unfreiheit« bezeichne, weil in ihr Funktion und Stand, beide verschieden, in eins zusammenfließen19. Die großen Konzilien haben nun den lateinischen Begriff mit griechischem Inhalt in einem Dogma verbunden, das die dreifache Natur der in Christus geoffenbarten Wahrheit aussprach. Das war die Geburtsstunde der »Idee der Person«, in der wir eine spezifische Leistung der abendländischen Anthropologie sehen. Die Lehre von der Inkarnation, in sich ein Paradoxon, zwang zum »Denken in Spannungen«, das den wissenschaftlichen Geist des christlichen Abendlandes formte und ihn vom Monismus der östlichen Weisheitslehren grundlegend unterschied. Man muß auch die andere Leistung entscheidend würdigen, die das 20. Jahrhundert wohl am besten versteht, daß in den christologischen Dogmen dem »Fleisch«, der Materie, ein Rang und eine Realität zuerkannt wurde, die für den Osten undenkbar waren. Durch die Annäherung an die Realität überwand der christliche Glaube in der antiken und germanischen Welt Magie, Mythen, Naturreligonen und 19

Merkur Heft 102 (1956). TH. MAYER, D. Königsfreien und der Staat des frühen Mittelalters, in Das Problem der Freiheit (1955), 7—56; K. BOSL, Freiheit und Unfreiheit, Zur Geschichte der Unterschichten in Deutschland und Frankreich während des Mittelalters, VSWG (1957). 19

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weckte durch seine theologischen Denkformen den Geist europäischer Wissenschaft. Die Begegnung germanischer Substanz mit dem spätantik-christlichen Erbe hat das europäische und das deutsche Mittelalter geschaffen. Wer dies nur dadurch zu erforschen sucht, daß er Entlehnungen aufspürt, ohne die germanische Eigenleistung zu würdigen, der verzeichnet die historische Wirklichkeit und entwirft ein einseitiges Bild von der europäischen Kultur. Der kommt zwangsläufig zur geringschätzigen Abwertung germanischer Leistung, wie sie A. J. Toynbee in seiner vielberufenen Study of History ausgesprochen hat. Für den englischen Kulturmorphologen war es ein grundsätzliches Zeichen der Schwäche, daß die erobernden Germanenvölker der Mittelmeerwelt mit der Herrschaft nicht auch die Sprache aufzwangen, wie die in Griechenland einbrechenden Indogermanen der Achäer und Dorer, sondern daß sie Latein lernten. Wie sehr im lateinischen Gewände der Quellen germanisches Staatsdenken fortschreitend sich selbst entwickelt, das hat jüngst ausgezeichnet H. Beumann gezeigt20. Germanentum hat aber auch, wie sich das auf dem Gebiete des Rechts schön zeigen läßt, zum Aufbau des romanischen Mittelalters beigetragen. In den Coutumes, dem Gewohnheitsrecht Nord- und Mittelfrankreichs, ist ein starker fränkisch-germanischer Einfluß festzustellen. Von den Sonderrechten der geschlossenen Einzellandschaften läuft hier seit spät- und nachkarolingischer Zeit eine ungebrochene Linie über die großen Rechtsbücher des 13. Jahrhunderts zur offiziellen Fassung des Coutume von Paris vom Jahre 1510, aus der das gemeine Recht Frankreichs und alle spätere Gesetzgebung geflossen sind. Auch in den südfranzösischen Geltungsbereich der droit ecrit sind zahlreiche germanische Rechtsgedanken eingedrungen. Heute braucht man nicht eigens mehr auf das germanische Element im spanischen Recht hinzuweisen, nachdem man erkannt hat, daß sich das gotische Volkstum als integrierter Teil des spanischen Volkskörpers noch in den Zeiten des Cid und der Reconquista heldenhaft bewährt hat, nachdem ein lückenhafter Pariser Palimpsest des Codex Euricianus (Ende des 5. Jhs.) den lange verkannten germanischen Charakter der gotischen Gesetzgebung bei aller Anerkennung der Einflüsse römischen Rechts eindeutig zu Tage gebracht hat. Germanisches Rechtsdenken wirkt zum Teil bis heute weiter in den Fueros, den spanischen Stadt- und Landrechten, wie uns noch J. Ficker, Th. Melichar, E. Wohlhaupter21 und Alfred Schultze erwiesen haben. In Italien wandte und wendet sich die Forschung in erster Linie dem Fortleben des römischen Rechts im Mittel20

H. BEUMANN, Zur Entwicklung transpersonaler Staatsvorstellungen, in: Das Königtum (1956), 185—224; bes. d. Exkurs »Regem iura faciunt, non persona«, 215 ff. 21 E. WOHLHAUPTER, Das germanische Element im altspanischen Recht u. d. Rezeption des römischen Rechts in Spanien, ZRG R A 66 (1948).

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alter zu, weil sie darin ein Fundament nationaler Rechtsentwicklung erblickt22. Trotzdem ist der langobardische und fränkische Einfluß auf vielen Gebieten nicht zu übersehen, haben Kaiser und Könige im Lehnszeitalter dort vielfaches Recht gesetzt; man braucht nur an die constitutio de feudis Konrads II. zu erinnern23. Daß die mittelalterliche Stadt Italiens, ihr Recht und ihre Verfassung, nicht genuin römisch sind und allein aus römischem Munizipialrecht entsprangen, darauf hat W. Goetz24 hingewiesen. III. Eigenkirchenrecht und Sakralrecht Auf der Suche nach den germanischen Elementen im Kirchenrecht stoßen wir in das Zentrum unseres Themas und greifen die drei gestaltenden Grundkräfte des Mittelalters, Adel, König, Kirche in ihrer wechselseitigen, vom germanischen Erbe her bestimmten Verflechtung. H. E. Feine hat zuletzt zusammengefaßt, was von den fruchtbaren Thesen von U. Stutz, dem Entdecker der germanischen Epoche des Kirchenrechts und Vertreter der berühmten Eigenkirchentheorie, übrig geblieben ist25. Stutz ging vom germanischen Hauspriestertum aus, das in engstem Zusammenhang mit patria potestas = hausherrlicher Gewalt des pater familias und Großfamilienhauptes steht, die ja die Fülle primitiver Gewalt handhabten. Wir greifen damit indogermanische Urtatsachen. Das Hauspriestertum steigert sich zur priesterlichen Stellung des ältesten Sakralkönigs in Stamm und Volk empor; der König wird als Mittler zwischen Gott und Menschen bzw. Volk, Stamm gedacht, sein Königsheil ist Grundvoraussetzung für das Gedeihen des Volkes, wie der Hoftheologe Karls d. Gr. Alkuin in einem Brief treffend formuliert26. Unter der christlich-kirchlichen Hülle lebt das germanische Hauspriestertum weiter in der Kirchenherrschaft (nicht privat zu nennen) und im Kircheneigentum weltlicher und geistlicher Großer, des Adels. Diese Kirchenherrschaft ist auf dem 22

H. MITTEIS, Zur Lage der rechtsgeschichtlichen Forschg. in Italien, ZRG GA 69 (1952), 203ff. 23 H. BRUNNER hat aus den langobardisch-italienischen Quellen die Eigenart germanischen Urkundenwesens mit seinen Merkmalen symbolischen Denkens herausgearbeitet. Die germanischen Werte im longobardischen Recht hat untersucht W. SCHÖNFELD, Das Rechtsbewußtsein der Langobarden, Festschrift f. A. Schultze (1934). 24 W. GOETZ, Die Entstehung der italienischen Kommunen im frühen Mittelalter, SB München (1944). 2 * H. E. FEINE, Studien zum langobardisch-italischen Eigenkirchenrecht, ZRG KA 61. 62. 63 (1941—1943); Ders., Eigenkirchenrechtliche Erscheinungen in Dalmatien, ebda 64 (1944); Ders., Ursprung, Wesen und Bedeutung des Eigenkirchentums, MIÖG 58 (1950); Ders., Kirchliche Rechtsgeschichte I (21955), 147ff. 26 Nach solchen Gesichtspunkten sind einmal genauer die als Moralkompendien abgefertigten karolingischen Fürstenspiegel zu untersuchen, wie F. I. Schmale beabsichtigte.

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Eigentum am Altargrund fundiert27, der christlich mit dem Grab des Heiligen zusammenhängt, über den der Altar der Kirche erbaut ist (Confessio der römischen Kirchen), heidnisch-germanisch aber mit dem Grab des mit göttlichem Heil begnadeten Ahnherrn28. Daher kommt auch noch die hochmittelalterliche Sitte, meist ihre Stammburgen in Hausklöster umzuwandeln, in die sie die Grablege ihres Geschlechtes verlegen29. Diese Hausklöster waren Schenkungszentren der weitverzweigten Sippen und Brennpunkte adeliger Familientradition, wie uns die Klostergründungsgeschichten so anschaulich zeigen30. Kirche und Kloster erscheinen als Sondervermögen, als Unternehmen des Grundherrn; ihr Nutzertrag hat vielfach Anreiz zu Kirchen- und Klostergründungen gegeben. Dieses adelige Eigenkirchenwesen, das in Deutschland bis zum Investiturstreit immer wieder durch ein starkes Königtum zu gesamtstaatlicher Wirkung zusammengefaßt wurde, indem es die Einsetzung des Vogtes von königlicher Bannleihe abhängig machen wollte, das in Frankreich im 10. Jahrhundert in den üppigsten Formen der Laienkirchenherrschaft bei jahrhundertelanger Schwäche des Königtums wucherte und zur Reform von Gorze, Cluny und zur Gottesfriedensbewegung führte, die in Deutschland in die große »staatliche« Landfriedensbewegung ausmündete, dieses Eigenkirchenwesen hat sich nördlich der Alpen besonders entfalten können, weil hier bei der Christianisierung31 der zentralisierende Einfluß von Rom gar nicht wirksam war. Erst die römische und fränkische Organisation und Kirchenreform des 27

R. HÖSLINGER, Die »altarische Wurzel« des Eigenkirchenrechts in ethnologischer Sicht, österr. Arch. f. KR 3 (1952), 267ff; O. MEYER, Die Klostergründungen in Bayern und ihre Quellen, ZRG KA 51 (1931). 28 H. MEYER, Das Handgemal (1934), 72ff. — P. GOESSLER, Grabhügel und Dingplatz, Festschtr. f. K. Bohnenberger (1937); Ders., Ulm und Pfullingen, Festschr. f. Reinecke (1950); Ders., Georgs- und Michaelsberge, Festschtr. f. K. Wähle (1950) — K. S. BADER, Die Fürstenbergischen Erbbegräbnisse (1941) — J. WERNER, Das alamanische Fürstengrab von Wittislingen (1950); Ders., Der Fund von Ittenhausen (1943). 29 Vgl. K. BOSL, Das Nordgaukloster Kastl. Gründung, Gründer, Wirtschafts- und Geistesgeschichte, VHO 89 (1939), 3 ff. 30 K. MÜNZEL, Mittelhochdeutsche Klostergründungsgeschichten des 14. Jahrhunderts. Diss. Berlin (1933). 31 F. W. SCHAAFHAUSEN, Der Eingang des Christentums in das deutsche Wesen I (1929) — R. RÜCKERT, Die Christianisierung der Germanen (Z1935) — L. SCHMIDT, Die Bekehrung der Germanen (1934) — J. HEERWEGEN, Antike, Germanentum, Christentum (1932) — K. ALGERMISSEN, Germanentum und Christentum (B1935) — K. D. SCHMIDT, Die Bekehrung der Germanen zum Christentum I. Die Ostgermanen (1939); Ders., Germanischer Glaube u. Christentum, Ges. Aufsätze (1948), bespr. v. Baetke, HZ 171 (1951), 112ff. — H. E. GIESECKE, Die Ostgermanen u. d. Adrianismus (1939) — B. REHFELDT, Todesstrafe und Bekehrungsgeschichte (1942) — W. BAETHKE, Die Aufnahme des Christentums durch die Germanen, W. A. G. (1944); Ders., Christliches Lehngut in der Sagareligion, Ak. Leipzig 1952.

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Bonifatius32 haben die dort entstandenen Landeskirchen an Rom gebunden und den Anschluß an die römische Zentralverwaltung vorbereitet; grobe Auswüchse des Eigenkirchenwesens wie die Einstellung unfreier Priester, die ja Eigentum = mancipium des Leibherrn = Eigenkirchenherrn blieben und seiner vollen Gewalt unterstanden, wurden beseitigt. Von dieser Eigenkirchenherrschaft ist das gesellschaftliche, wirtschaftliche, staatliche und kulturelle Leben des deutschen Mittelalters entscheidend beeinflußt worden. Hier Hegen die Anfänge des bis heute geltenden Patronats bei Niederkirchen, einer weiter entwickelten Form des Eigenkirchenrechts des Laienadels an Niederkirchen. Der Gang der Reformation in Franken ist deutlich am Patronat und den Patronatsherren abzulesen. Heute ist niemand mehr der Meinung, daß die Eigenkirche nur im germanischen Rechtsbereich vorkomme. Diese Erscheinungsform des Rechts- und Verfassungslebens hat verschiedene Wurzeln, man darf sie nicht mit A. Dopsch als Folgewirkung der Grundherrschaft ansprechen. Eigenkirchen gibt es in den Ostprovinzen des Römerreiches33, wo an germanischen Einfluß nicht zu denken ist. Die ältesten römischen Kirchen, die bis in das 3. Jahrhundert zurückgehen und z. T. heute noch den Namen des ältesten Besitzers erkennen lassen, den später Heilige verdrängten, waren Eigenkirchen, die heute zu den Titelkirchen (titulus!) der Kardinale (Kardinalpriester) geworden sind. Wenn auch das Eigenkirchenrecht nicht nur eine germanische Form ist, z. B. auch bei den Slawen vorkommt34, so hat es doch bei den Germanen eine spezifische Ausgestaltung erfahren. Es gibt Lebensformen, die für alle Frühstadien der Kultur irgendwie typisch sind. Alfred Weber hat darauf hingewiesen, daß in der von ihm »Gesellschaftsprozeß« genannten Seinsschicht des Historischen sich ähnliche und gleiche Formen in allen Kulturen und Gesellschaften (societies) entwickeln. Das hängt mit ähnlichen und parallelen sozialen und wirtschaftlichen, allgemein menschlichen Grundverhältnissen zusammen. Eigenkirche ist Element der Adelsherrschaft, nicht nur eine Form des bei den Germanen besonders reich entwickelten Sondervermögens (Gerade der Frau, Heergewaete des Mannes); sie steht im Zusammenhang mit dem gerade vom Adel auch aus herrschaftlichem Interesse gepflegten Ahnen- und Totenkult, der in engster Verbindung mit der 32

TH. SCHIEFER, Angelsachsen u. Franken (1951); Ders. Winfrid-Bonifatius und die christliche Grundlegung Europas (1954) — H. LÖWE, Bonifatius und die bayerischfränkische Spannung, Jb. f. frank. Ldf. 15 (1955), 85—127. 33 Vgl. E. STEIN, Geschichte des spätrömischen Reiches I (1928); Histoire du Bas Empire II (1949). 34 H. F. SCHMID, Die rechtlichen Grundlagen der Pfarrorganisation auf westslawischem Boden u. ihre Entwicklung während des MAs. (1938) — Dagegen W. SCHLESINGER, Zs. f. Ostforschung I (1952), 345ff.

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Götterreligion steht36. Das Ahnengrab liegt im Herrschaftsbereich des Geschlechtsältesten und muß mit dessen Stammgut oder Handgemal, an dessen Besitz auch die libertas = Edelfreiheit geknüpft ist, nach besonderem Regeln vererbt werden; es ist wahrscheinlich die älteste germanische Kultstätte, obwohl man heute wohl Tempelkult nicht mehr ausschließen kann38. Daraus entstand im christlichen Kulturkreis der Gedanke der mit dem Hof verbundenen Eigenkirche. Es bleibt noch die Frage, ob man auch die Kirchenherrschaft der deutschen Könige und Kaiser auf das Eigenkirchenrecht einfach zurückführen kann, ob also die Bischofskirchen und großen Reichsabteien eigentlich nichts anderes als königliche Eigenkirchen waren, ob mit anderen Worten der die Grundfesten des deutschen Staates erschütternde Investiturstreit nur ein Kampf um das Eigenkirchenrecht gewesen sei, das die päpstliche Zentralgewalt in ihrem Bestand zu gefährden droht37. Tatsache ist, daß die Päpste, besonders Leo IX, der die große Kirchenreform auf seinen Reisen durch Lothringen und Burgund vorbereitet hat und dabei den alemannischen Adel als Parteigänger für die Durchführung der Reform gewann38, selbst Eigenklöster als Reformklöster gründeten, die dann später dem Hlg. Petrus als Eigenkirchenherrn geweiht waren, womit die sogenannte Romana libertas = Freiheit vom weltlichen Vogt verbunden war. Sicher ist, daß man mit diesen rein rechtlichen Kategorien dem Wesen des gewaltigen Kampfes um die rechte Ordnung in der Welt, wie ihn G. Tellenbach geschildert hat3e, nicht gerecht wird. Man muß unterscheiden zwischen Eigentum und Eigenrecht an Niederkirchen und der eigentlichen, ech86

F. DIRLMEIER, Apollon, Gott und Erzieher des hellenischen Adels, Arch. f. Religw. 36 (1939), 277—299 — E. FR. BRÜCK, Totenteil und Seelgerät im griechischem Recht (1926); Ders.; Die Stiftungen für die Toten in Recht, Religion und politischem Denken der Römer, in: Über das röm. Recht im Rahmen d. Kulturgesch. (1954), 46ff.— E. A. PHILIPPSON, Die Genealogie der Götter in germanischer Religion, Mythologie und Theologie; Illinois Studies in Language and Literature 37. Nr. 3 (1935) — K. HAUCK, Lebensnormen und Kultmythen in germanischen Stammes- und Herrschergenealogien, Saeculum 6 (1955) 217ff. 86 Über den besonderen auch religiös gefärbten Charakter des germanischen »Erb und Eigens« im Gegensatz zum antik-christlichen geprägten Lehngut zuletzt W. EBEL, Erb und Eigen, Vortr. auf der Lindautagung des Mainaukreises, Herbst 1956. 37 J. FICKER, Über das Eigentum des Reiches am Reichskirchengut, SB Wien 72 (1873) — TH. MAYER, Fürsten und Staat (1950), bes. Kap. XIV u. XV — L. SANTIFALLER, Zur Geschichte des ottonisch-salischen Reichskirchensystems, SB Wien 229, l (1954) — K. BOSL, Würzburg als Reichsbistum; Festschrift f. Th. Mayer I (1954), 161ff. 88 R. KLEBEL, Alemannischer Hochadel im Investiturstreit, in: Grundfragen der alemannischen Geschichte (1955), 209—242. 89 G. TELLENBACH, Libertas, Kirche und Weltordnung im Zeitalter des Investiturstreites (1936) — Studi Gregoriani per la storia di Gregorio VII e della reforma Gregoriana, 4 Bde (1947/52) (Beitr. v.. Brackmann, Tellenbach, Michel, Mikoletzky) — Vgl. P. E. Schramm, GGA 207 (1953), 62ff.

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ten staatlichen Kirchenhoheit im Reich. Diese hat ihre Begründung im Sakralrecht des germanischen Königs, in dem verschiedene Elemente germanischer Religions- und Herrschaftsentwicklung zusammengeflossen sind40. Die christliche Kirche hat dieses Sakralrecht wohl gekannt, übernommen und mit christlichen Elementen durchsetzt, vor allem ihm den Amtsgedanken und das Gottesgnadentum eingeimpft41. Schon Isidor von Sevilla, halb Gote, halb Romane, der letzte große Enzyklopädist der ausgehenden Antike weiß darum; er hat die aus Augustin stammende Forderung des rex iustus dem neuen christlichen Königsbild hinzugefügt. Die Dei graiia-Fonnel der fränkischen Königsurkunden seit der Salbung Pippins zeigt es auf das allerdeutlichste. Bei den Verhandlungen um die kirchliche Legitimierung der Herrschaft Pippins wußte man in Rom vermutlich aus dem westgotischen Spanien42 um die heidnisch-germanische Auffassung vom Herrschertum und seinem Sakralrecht (Büttner). Dieses Sakralrecht des germanischen Herrschers, das im Geblütsheil und der priesterlichen Mittlerstellung des Herrschers wurzelt, hat vielleicht auf dem Hintergrund alttestamentarischer Gedanken niemand klassischer ausgedrückt als Alkuin, der angelsächsische Hoftheologe Karls des Großen, der es wissen mußte43. «Regis bonitas totius est gentis prosperita, victoria exercitus, aeris temperies, terrae habundantia, filiorum benedictio, sanitas legis.» Vom germanischen Sakralkönigtum, führte in verschiedenen Stufen und Wandlungen über die Kirchenhoheit des mittelalterlichen deutschen Königs ein direkter Weg zum landesherrlichen Kirchenregiment der vorreformatorischen und reformatorischen Zeit44, das nicht allein aus der kirchenpolitischen Situation jener Zeiten verstehbar ist, und vom Gottesgnadentum zum monarchischen Prinzip der Neuzeit45. Aus diesen Gründen erklärt es sich auch, warum die Formen des Lohnrechts schließlich in das Verhältnis zwischen König und Epis40

O. HÖFLER, Germanisches Sakralkönigtum I (1952), dazu F. Genzmer, ZRG GA 71 (1954), 408ff.; Ders., Der Sakralcharakter des germanischen Königtums, in: Das Königtum (1956), 75 ff. — W. SCHLESINGER, Das Heerkönigtum, ebda 105 ff. — K. BOSL, Reges ex nobilitate, duces ex virtute sumunt, a. a. O. — H. BEUMANN, Die sakrale Legitimierung des Herrschers im Denken der ottonischen Zeit, ZRG GA 66 (1948). 41 E. EWIG, Zum christlichen Königsgedanken im Frühmittelalter, in: Das Königtum (1956), 7—14 — H. BÜTTNER, Aus den Anfängen des abendländischen Staatsgedankens, jetzt ebda 155—168 — TH. MAYER, Staatsauffassung in der Karolingerzeit, jetzt ebda 169—184 — H. BEUMANN, Zur Entwicklung transpersonaler Staatsvorstellungen, ebda 185—224. 42 H. AUBIN, Stufen u. Formen der christlich-kirchlichen Durchdringung des Staates im Frühma; Festschrift f. G. Ritter (1950), 79ff. 48 MG. Ep. IV. 51. 4 * H. LIERMANN, Das Sakralrecht des protestantischen Fürsten, ZRG KA. 4S O. BRUNNER, Vom Gottesgnadentum zum monarchischen Prinzip. Der Weg der europäischen Monarchie seit dem hohen Mittelalter, in: Das Königtum, 279—305.

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kopat und in die innere Organisation der großen Mönchsorden eindringen, warum der Adel die mittelalterliche Hochkirche personal beherrschte und seinen Mitgliedern alle leitenden Bischofs- und Abtsstellen vorbehielt, wie A. Schulte48 eindringlich gezeigt hat. Nur der Adel konnte Kirchenhoheit und Kirchenherrschaft üben; Eigenkirchenrecht gehört deshalb sowohl in die Religionsgeschichte wie in die Gesellschafts- und Verfassungsgeschichte, es ist eine Erscheinungsform germanischer Adelsherrschaft im deutschen Mittelalter. Um die mittelalterliche Kirche kämpfen nicht nur König/Kaiser und Papst, sondern auch König und Adel; das Eigenkirchenrecht gehört zu den bestimmenden Motiven der ganzen europäischen Geschichte. Mit allem Recht hat man daneben auch die Rezeption des römischen Fremdrechts als eine Spätform der Adelsherrschaft bezeichnet, insofern als der vom Reich eingeleitete Vorgang47 Machtmittel der partikularen und territorialen Adelskräfte wurde. Die an italienischen Universitäten (Bologna, Padua) zu blindem Autoritätsglauben erzogenen »iuris Romani prudentes« (Römlinge) waren die ersten Bürokraten und unbedenklichen Vollstrecker landesherrlichen Willens auch gegen den nach oben drängenden Niederadel und die Landstände. Sie haben dem blinden Gehorsam einen Weg in die deutsche Seele gebahnt, in der zuerst der Geist des Widerstandsrecht und der Glaube an ein ewig gültiges Recht lebendig war, das man nicht setzen, nur weisen, deuten und wiederherstellen kann, weil es göttlich ist48. Der im römischen Recht erfahrene Niederadel hat den Aufstieg des bürgerlichen Legisten in Deutschland gehemmt, er hat aber auch seine eigene Grundherrschaft immer mehr zum autonomen Herrschaftsgebiet49 umgestaltet und eine eigene Gerichtsherrschaft und fiskalische Privilegierung sich zu erhalten gewußt. IV. A d e l s h e r r s c h a f t als g e r m a n i s c h e K o n s t a n t e im d e u t schen Mittelalter 5 0

Stärkster und lebendigster Träger germanischer Tradition im ganzen Mittelalter war in Staat, Verfassung, Recht und Sitte, Literatur und 46

A. SCHULTE, Der Adel und die deutsche Kirche im Mittelalter (21922). Römisches Recht wurde als Kaiserrecht angesehen. Vgl. H. KRAUSE, Kaiserrecht und Rezeption (1952). 48 F. KERN, Gottesgnadentum. und Widerstandsrecht (Z1954, besorgt v. R. Buchner); Ders., Recht und Verfassung im Mittelalter (21954). 49 O. BRUNNER, Die Freiheitsrechte in der altständischen Gesellschaft, Festschr. f. Th. Mayer I (1954), 293—304. 50 O. v. DUNGERN, Der Herrenstand (1908); Ders., Adelsherrschaft im Mittelalter (1927) — H. MITTEIS, Formen der Adelsherrschaft im Mittelalter, Festschr. f. F. Schultz II (1951) — A. SCHULTE, Der Adel und d. deutsche Kirche im Mittelalter (Z1922) — G.TELLENBACH, Vom karolingischen Reichsadel zum Reichsfürstenstand, in: Adel und Bauern, hrsg. v. Th. Mayer (1943); Ders., Adeliges Landleben u. europäischer 17

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Gesellschaftskultur der Adel. Adel und Königtum gehören zusammen, aber Adel ist vor dem Königtum da. Die germanisch-deutsche Kultur der Frühzeit wie des Mittelalters ist aristokratisch. Das ist an sich nicht spezifisch germanisch, denn auch bei Griechen, Römern, Kelten und Slawen steht der Adel an der Wiege einer höheren Kultur. Adel besitzt die wirtschaftliche und politische Macht, ist Träger des Heldenzeitalters der Völker. In seinem Kreis erklingen Helden- und Chorlied, gilt eine Adelsethik, die auch in nichtadelige Zeiten weiterwirkt; seine gesellschaftliche Stellung ist religiös begründet. Als die alte Naturreligion vermenschlicht und individualisiert, zum personalen Anliegen in der Heldenverehrung wurde, da wurde sie zum Zeugnis der Lebensund Weltauffassung der führenden Schichten. Der Staat der Wandergermanen wie des Mittelalters war eine Aristokratie mit monarchischer Spitze. Der Adel und seine Gefolgschaften waren Hauptgestalter der Wanderzeit, sie waren auch die Hauptakteure des Mittelalters, selbst wenn einige übergroße Königsgestalten sie zeitweilig überschatteten. Adel und Adelsherrschaft sind die kontinuierlichste Konstante des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens von den Anfängen bis an die Schwelle der Moderne. Weil Adelsherrschaft von Anfang an so tief im Leben der Stämme und Völker wurzelte, darum wurde das Ringen der deutschen Könige des Mittelalters um den Staat immer auch zu einer Auseinandersetzung mit den Stämmen, deren Kraft und Willen der Stammesadel trug51; der Stammesadel trug und wählte auch den Stammesherzog. Durch ihren Lokalismus, Regionalismus und Partikularismus war die Aristokratie zwar auch eine hemmende, destruktive Kraft gesamtstaatlichen Aufbaus in Deutschland; durch Rodung und Landesausbau hat sie sich aber ebenso große Verdienste wie die Kirche um die Kultur erworben, was man beim Stand der Quellen lange übersehen hat. Mit, neben und gegen den König aber baute der Adel an der neuen deutschen und europäischen Staatlichkeit mit. Sein Geist und seine Geschichte sprechen aus Heldenliedern und Sagen, Genealogien, Stammbäumen und Familientraditionen, aus der mittelalterlichen Annalistik, den großen Werken der ersten Blüteperiode unserer deutschen Literatur, aus den durch den Spaten aufgedeckten Fürsten- und Königsgräbern mit ihren vielfältigen Grabbeigaben, sprechen aus den bewehrten Burgen und vornehmen Schlössern, die Geist (1949) — H. DANNENBAUER, Adel, Burg und Herrschaft bei d. Germanen, HJb. (1942) — W. SCHLESINGER, Herrschaft und Gefolgschaft, a. a. O.; Ders., Die Entstehung der Landesherrschaft (1941) — K. HAUCK, Haus- und sippengebundene Literatur mittelalterlicher Adelsgeschlechter, MIÖG 62 (1954) — K. BOSL, Der aristokratische Charakter europäischer Staats- und Sozialentwicklung, HJb. 74 (1955); Ders., Art. in: Rössler-Franz, SachWörterbuch z. dtsch. Gesch. 10—13. 61

K. BOSL, Das jüngere Stammesherzogtum der Luitpoldinger; Festschrift f. Max Spindler (1955).

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Schauplätze der ersten Laienkultur Europas waren und zwar nicht erst im 11./12. Jahrhundert, wie uns die in einer Biberfellhülle verwahrte Harfe des Könisgrabes von Sutton Hoo beweist. Adelskultur und Adelsgeist sprechen zu uns aus den Hausklöstern und Stiftungen, wie wir in anderem Zusammenhang oben sehen. Sie reden aus den Zeugenreihen der mittelalterlichen Urkunden- und den noch erhaltenen Adelsarchiven mit ihren Urbaren, Lehn-, Zins- und Leibbüchern, sie sind im Standesrecht dieser hauchdünnen Eliteschicht verankert. Aus den Reihen dieses Adels gingen bei Germanen und im deutschen Mittelalter Könige und Heerführer/Herzoge hervor. Geblütsheiligkeit und die ruhmvolle Leistung des Ahnen für das Ganze hob ihn über alle hinaus. Er gebot über Land und Leute, konnte Schutz gewähren; deshalb wurde seine Herrschaft von den Zeitgenossen und Untertanen als gerechtfertigt und selbstverständlich empfunden; deshalb umgab ihn in germanischer Zeit der Nimbus göttlicher Abstammung oder göttlicher Begnadung und der Glaube an seine besondere Heilskraft, wie noch der Adelsmönch Widukind von Korvey weiß. Dieser Glaube aber war für Geführte und Beherrschte noch viel unentbehrlicher als für die Träger des Heils und der Vorrangstellung. Vornehme Abstammung, ausgebreiteter Besitz, gemeinsames Interesse und vielfache Versippung banden diese kleine Schicht adeliger Grundherrn zusammen, machten sie zu Herren über Leute und Land, gaben ihnen die Möglichkeit, ihre Immunitäten zu Territorien weiterzuentwickeln und prägten sie zu den entscheidenden Faktoren des öffentlichen Lebens. Am stärksten wurde das offenbar im Investiturstreit, an dessen Anfang die engen Sippen Verbindungen Leos IX. mit dem südwestdeutschen Adel stehen, in dessen Verlauf sie ihr Wahlrecht zur Geltung brachten. Der Adel wählte den König und regierte mit ihm52; Tacitus berichtet im berühmten 7. Kapitel seiner Germania »Reges ex nobilitate, duces ex virtute sumunt«. Der Adel war das beherrschende genossenschaftliche Element in der Struktur des mittelalterlichen deutschen Königsstaates bis zu seinen Zerbrechen im 13. Jahrhundert, er war der populus der frühmittelalterlichen Quellen im prägnanten Sinn. Der Adel besetzte die Bischofs- und Abtstühle im Reich. Er umgab den König am Hof, wie einst den Gefolgschaftskönig die Mannen umgaben, deren vornehmste die Söhne der Edelinge waren. Er unterstützte den Herrscher mit seinem »Rat« in der Führung der Politik, sprach Recht, führte die Verwaltung, wenn auch dabei immer mehr die Beauftragung durch den König vergessen wurde, Amt zum Lehen und Allod wurde. Schon 614 erzwang eine Reaktion des germanischen Adels gegen den Romanismus in Recht und Verfassung von den Merowingerkönigen die Verprovinzialisierung und Regionalisieta

W. SCHLESINGER, Die Anfänge der deutschen Königswahl 66 (1948).

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rung der Ämter (Edictum Chlotharii), die dadurch in die Hände des Adels kamen53. Der Adel begleitete den Herrscher mit seinen Gefolgschaften und Vasallen auf den Heereszug; er sagte ihm aber auch die Fehde an und setzte ihn ab; denn ihm stand das Recht legitimer Gewaltanwendung, das vielberühmte Widerstandsrecht, in einer noch losen und primitiven politischen Ordnung zu. Kaiser Heinrich V. selber bezeichnet die Adeligen als Häupter des Reiches, deren Erniedrigung dessen Untergang bedeuten würde. Königsgebot wird erst durch die Zustimmung der Großen rechtskräftig. Staatsvolk im Sinne der vollen Teilhabe an der Leitung im Reich ist allein der Adel, da alle anderen irgendwie seiner Herrschaft unterstehen, wenn sie nicht gerade Königsleute sind. Die meisten Menschen, die pauperes der mittelalterlichen Gesellschaft, zahlten ihm Abgaben und gehorchten ihm. Seine Gegenleistung bestand in der Garantie eines geringen Maßes von Recht und Sicherheit, gemessen an den heutigen Verhältnissen. Seit dem 11. Jahrhundert durchbrachen die Ministerialen, die von der Adelsgesellschaft aufgezogen wurden, und die Bürger diese geschlossene Führungsschicht, die bis dahin allein mit dem König herrschte und die Kultur prägte. Der mittelalterliche Adel hat verschiedene Typen entwickelt. Am Anfang steht der germanische Geblüts- oder Uradel der Stämme, die Alt- und Vollfreien der Leges. In fränkischer Zeit bildet sich daneben und an seiner Stelle ein Dienstadel aus den Reihen der Königsgefolgschaft der Antrustionen (trustis dominica). Durch Beamtenfunktionen und Vasalh'tät gelangen in ihm teilweise auch Leibeigene (pueri regis) zu gehobener politischer und gesellschaftlicher Stellung54. Dieser Dienstadel55 verschmilzt allmählich mit dem Uradel, soweit dieser nicht ausgerottet oder ausgestorben war (Blutbad von Cannstatt), zum Hochadel der grafenbaren Geschlechter66, die sich im 12. Jahrhundert noch als die »Freien« schlechthin — Edel — oder Hochfreien (liberi) bezeichnen. Wenn auch Dienst und Adel an sich ein Widerspruch waren, haben Vasallität und Lehnrecht (adelige Mannschaft)57 einen neuen Adelsbegriff, eine neue Rangordnung der Gesellschaft geschaffen, in 68

Anders neuerdings R. SPRANDEL, Struktur und Geschichte des merowingischen Adels. HZ 193 (1961) 33ff. M K. BOSL, Vorstufen der deutschen Königsdienstmannschaft, VSWG 39 (1952), 193ff. 66 W. KLEBEL, Bayern und der fränkische Adel im 8. u. 9. Jahrhundert; Vorträge und Forschungen I (1955), 193—208 — I. DIENEMANN-DIETRICH, Der fränkische Adel in Alemannien im 8. Jahrhundert ebda I (1955), 149—192, vgl. auch A. BERGENGRUEN, Adel und Grundherrschaft im Merowingerreich, VSWG 41. Beiheft (1958). 67 E. HAMM, Herzogs- und Königsgut, Gau und Grafschaft im frühmittelalterlichen Bayern, ungedr. Diss. 1949. 67 W. KIENAST, Rechtsnatur und Anwendung der Mannschaft (Homagium) in Deutschland während des MAs., Dte Landesreferate z. IV. Intern. Kongr. f. Rechtsvgl. in Paris (1954), 26—48. W i l p e r t , Med. I

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der ein Berufskriegerstand an der Spitze und alles andere in extremer Tiefe unter ihm stand (Feudalgesellschaft). Die unfreien Diener von König und Adel hießen deshalb dann Dienstmannen = Ministerialen, was bis zu Beginn des 10. Jahrhunderts Adelige waren. Der von Tellenbach geprägte Begriff der Reichsaristokratie hat einen politischen, keinen ständerechtlichen Inhalt; er umfaßt die meist nationalfränkischen hohen Vertreter der Reichseinheit im Karolingerreich des 9. Jahrhunderts, die in höchsten Beamten- und Heerführerstellen im auseinanderfallenden Großstaat die Reichstradition aufrechthielten. Durch Begüterung und Versippung verwurzelte diese Reichsaristokratie immer mehr in den Stammeslandschaften und im Stammesadel. Aus ihren Reihen gingen die jüngeren Stammesherzoge hervor, die beim Versagen des Königtums den Schutz der Reichsteile und Grenzen gegen die Invasionen der Normannen und Ungarn übernahmen. Gestützt auf Gefolgschaft und Anerkennung des eigentlichen Stammesadels schwangen sie sich für ein Menschenalter zu fast königsgleicher Stellung empor. Je mehr aber der Hochadel dem Königtum als die zu Eigenherrschaft berechtigte Führungsschicht gegenübertrat und auch die hohen Stellen der den Großstaat stützenden Reichskirche besetzte, durch die Vogtei vor allem in den kirchlichen Immunitäten eine Fülle von Hoheitsrechten in seiner Hand häufte, je zahlreichere Rodungsherrschaften er seit dem 11. Jahrhundert in den Waldgebieten aufbaute und je stärker er seit dem Investiturstreit eigene Landesstaaten zu errichten begann, um so deutlicher wurde eine Umschichtung in dieser Adelsgesellschaft. Die großen Landesherren der Zukunft schlössen sich zu einem eigenen Kreis zusammen, traten 1180 beim Prozeß gegen Heinrich den Löwen als geschlossener Reichsfürstenstand auf, an seine Spitze aber traten die Königswähler = Kurfürsten seit der Mitte des 13. Jahrhunderts. Soweit die alten Grafengeschlechter nicht im 12./ 13. Jahrhundert ausstarben, sanken sie in der Adelsgesellschaft um eine Stufe tiefer auf den dritten Rang des Heerschildes. Dieser mediatisierte, nicht mehr direkt unter dem König stehende Adel suchte sich im Spätmittelalter, besonders unter den Luxenburgern, dem höchsten Adel der Landesherrn durch Lehensauftragung an Kaiser und Reich wieder zu entziehen (Reichsgrafen). König, Fürsten, Hochadel treten im 12. Jahrhundert mit den aus der Unfreiheit aufsteigenden Dienstmannen zum neuen Gesellschafts- und Kulturkreis des Rittertums zusammen, in dem die Laienkultur Europas ihre gültigste erste Ausdrucksform fand. Das führte indirekt abermals zu Neubildung von Adel, zum Niederadel. Im Spätmittelalter zerfiel die Gemeinschaft des Ritterstandes, in der die altadeligen Normen von Ebenburt und Echtheit, adeliger Brauch (Schwertleite, Turnier), adelige Sittlichkeit und Lebensformen auch für die Ministerialen Gültigkeit gewannen. Hochadel und Niederadel differenzierten sich standesrechtlich, wenn auch

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das Bewußtsein des Gesamtadels nicht verloren ging. Das 12. Jahrhundert hat den Adelsbegriff auch spiritualisiert; es sprach vom Adel der Gesinnung als einer inneren Anlage. Das Fehlen von politischen und militärischen Aufgaben, das Schwinden der materiellen Grundlagen adeliger Lebensführung durch einen Strukturwandel der Wirtschaft führte den politischen und kulturellen Verfall des Rittertums herbei. V. Rache, Fehde, Friede — Heil. Germanische Substanz in Recht, Staat und Religiosität des Mittelalters Die Fehde ist keine Verfallerscheinung, sondern Kennzeichen des mittelalterlichen »Staates« aus germanischer Wurzel; erst die Ausschaltung der in ihr geübten Selbsthilfe schuf den modernen Staat und das moderne Staatsbürgertum. Der moderne Staat kennt keinen legitimen Widerstand = Fehde, denn er hat allein das Monopol der Gewaltanwendung. Absolutismus und Aufklärung haben die Fehde als »Faustrecht« geächtet. Die sittliche Kraft des Fehderechts beruhte im leidenschaftlichen Rechtsgefühl jedes Verbandsmitgliedes, das in der modernen Idee vom Staat und Gesetz fehlt. Die Träger legitimer Gewalt, die Wahrer des Friedens und Inhaber einer gewissen Gerichtsbarkeit waren in der primitiven politischen Lebensordnung der Germanen Familie, Haus und Sippe, Gefolgschaft und Herrschaft. Innerhalb der Verbände waren Rache und Fehde die legitimen Mittel der Wiederherstellung von Recht und Gerechtigkeit; Gewaltanwendung im Kampf um das Recht war erlaubt. Das anerkannten König und Fürsten, wenn sie es auch einzuschränken oder überflüssig zu machen suchten. Rache ist die der Sippe entsprechende Form der Ahndung von Unrecht. Den Stammes- und Volksfrieden, der auch Sakralfriede ist, wahren König, Herzog, Stamm. Intensiver aber sind Haus- und Sippenfriede. Träger der Sippenfehde ist im Mittelalter der Adel, der allein die Mittel hat, Wiedergutmachung zu erzwingen, Unrecht mit Gewalt gutzumachen. Früh tritt die Sühne neben Sippenfehde, d. h. der Wille, die Fehde vor allem durch Zahlung einer hohen Geldsumme zu vermeiden. Die Herrschaft = Staat sucht den Sippenfrieden einzuschränken und den Königs = Volksfrieden zur sippenübergreifenden Rechtsordnung zu erheben. Weil dem fränkischen König dies nicht gelang (trotz früher Ansätze im merowingischen Pactus pro tenore pacis), wollte er einen Untertanenverband mit Untertaneneid aufbauen, der allein dem Gericht des Königs unterstand. Mit dem mittelalterlichen Landfrieden hat dieses Bestreben nichts gemein. Fränkischkarolingische Politik war allein in der Durchsetzung des Sühnezwangs erfolgreich; jedoch dehnte sich Sippengewalt wieder mächtig aus, ger2·

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manische Ordnung behauptete sich gegen neuen königsstaatlichen Willen. Die Kraft des Adels aber sprengte alle der Fehde vom König gezogenen Grenzen; der Herrscher war selten imstande, Recht gegen Mächtige durchzusetzen; deshalb machte schon Karl der Große gerade diese zu Hütern des Rechts, weil sich die pauperiores vassi de palatio bestechen ließen und die potentiores bei der Handhabung des Rechtes fürchteten58. Einen revolutionierenden Wandel brachte erst die Landfriedensbewegung des 12. Jahrhunderts, indem sie schrankenlose Einzelgewalt durch umfassende Staatsgewalt zu ersetzen begann. Aber nicht mehr das Königtum, sondern der hochadelige Landestaat, der mit Hilfe der Landfrieden eine das ganze Territorium umspannende Kriminaljustiz aufbaute, legte so zentralisierende Grundlagen des modernen Staates. Erst dadurch wurde der Dualismus des mittelalterlichen Friedens seit altgermanischer Zeit beendet und die Gewalt allmählich beim Staate zentralisiert. Der Staat garantierte einen waffenlosen Gemeinfrieden im Gegensatz zum fehdebereiten Sippenfrieden. Das geschah auf dem Hintergrund einer Aktivierung der Massen durch den Übergang zur peinlichen Strafe für alle und die Beseitigung vor allem altadeliger Gewohnheitsrechte. In der Fehde verbinden sich Recht und Macht, sie ist Ausdruck adeligen Standesrechts, Lebensgefühls, Geltungsbewußtseins seit germanischer Zeit. Rache übt man für Tötung, Verwundung, tödliche Beleidigung. Fehde führen Adel, Grundherr, Verband um jede strittige Sache. Blutsverwandte waren Helfer bei Blutrache, Freunde bei der Ritterfehde. Freundschaft, Feindschaft, Rache, Sühne, Friede waren die sachlichen Grundlagen des mittelalterlichen Fehdewesens. Fehdekampf um das Recht braucht rechten Grund; fehlt er, wird sie zum iniustum bellum, zur tyrarmis. Fehde ist nicht nur Recht, sondern auch Pflicht, denn es gilt in jedem Fall, die verletzte göttliche Welt Ordnung wiederherzustellen. Wer auf rechte Fehde verzichtet, verliert seine Ehre. Ein allgemeines Fehderecht gab es nach der Gesellschaftsstruktur der Zeit nicht; nur bestimmte Rechtskreise, d. h. die rittermäßigen = wehrfähigen übten sie. Bauer und Bürger stand allein Blutrache ,Totschlagfehde zu. Neben der Fehde, die zur Rache schreitet und nach Schaden trachtet, war der Rechtsgang = Gericht, ursprünglich Kampf der Parteien vor Gericht, ein sekundäres Mittel der Rechtsdurchsetzung. Fehde, Feindschaft, Gewalt, Unrecht, Unruhe beendet der Friede, der aus Liebe und Minne ursprünglich wächst, die in Haus und Sippe, den ältesten natürlichen Friedens verbänden, herrschen. Im 14./15. Jahrhundert sind die alten Sippenverbände endgültig zerfallen. Friede, Urbegriff germanischen Lebens, ist auch Zentralbegriff 68

A. ECKHARDT, Die Capitularia missorum specialia von 802, DA 12 (1956), 498 — 516.

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der mittelalterlichen Vogtei und so des »staatlichen« Lebens. Wer Friede wahren kann, übt Herrschaft und kann von den Beschützten Preis, Robot, Steuer verlangen. Rache verneint den Frieden; Blutrache ist Pflicht. Als Kampf um das Recht ist im Mittelalter der Rachegedanke verchristlicht worden. Sühne schafft den Frieden, indem sie den Rechtsanspruch des Gegners befriedigt. Pax et iustitia sind dem mittelalterlichen und christlichen Denken ein vertrautes Begriffspaar, wenn sie auch nicht identisch sind. Da die politischen Verbände der heidnischen Germanen Kultverbände waren, wurde die schwerste Verletzung der Rechtsordnung durch das Opfer an die Götter gesühnt; im Mittelalter steht dafür das Gottesurteil. Rache und Fehde, die aus germanischer Zeit tief in das Mittelalter hineinwirken, sind Prinzipien des Rechts gewesen, keine Auswirkung naturhaften Haß- und Kampftriebes; sie sind Zeugen einer unentwickelten Gesellschafts- und Staatsordnung59. In das Herz religiös begründeter Staatlichkeit und einer bis in das hohe Mittelalter hineinwirkenden politischen Religiosität führt der Glaube an das Heil60. Die ältere rationalistische Theologie hat die Funktion des Religiösen für die menschliche Vergesellschaftung verkannt. Die politische und gesellschaftliche Lebensordnung der Germanen war sakral begründet und in eine höhere Ordnung (Kosmogie)61 eingebaut. Dabei war die wichtigste Brücke zwischen Gott und Mensch, Religion und Herrschaft (= Staat) die Glaubenstatsache des »Heils«. Heil geben und nehmen die Götter, es ist eine Gabe, ein verliehenes , nicht, wie noch Grönbech82 meinte, eine dem Menschen innewohnende Zauberkraft. Heil wird kultisch vermittelt, es haftet an Menschen (reges, duces, nobiles) und an Sachen (Ahnenstab, Heilsstab, Szepter =virga virtutis im Mainzer Krönungsordo von 962). Heil ist ein Grundbegriff germanischer Adelstheologie und ein Zentralbegriff germanischen Kultes, der in Geschlechter und Siegesfeiern die großen Leistungen mythisierter Helden = Heroen und die göttliche Abstammung von Königen, Stammesführern, Helden besang und verherrlichte. Den Begriffsinhalt des Heus bestimmt die religiöse Gemeinschaft; denn alle Religion ist von festen, gewachsenen Gemeinschaften getragen. Die Frage nach der Entstehung der Religion stellt sich für den Historiker primär nicht geistesgeschichtlich, sondern soziologisch. Das Heilige ist in allen Religionen mit dem Gedanken sitt69

Siehe für alle Literaturangaben meine Artikel Fehde, Friede, Freiheit, Rache, Gottesfrieden, Landfrieden, Staat, Gericht bei Franz-Rössler, Sachwörterb. z. deutschen Geschichte (1956/7). •° K. HAUCK, Geblütsheiligkeit, in Liber: Floridus, Festschr. f. P. Lehmann (1950), 187—240. — R. KIENZLE, Germanische Gemeinschaftsformen (1939). 81 F. R. SCHRÖDER, Ingunar Freyr (1941). 82 W. GRÖNBECH. Kultur und Religion der Germanen, 2 Bde (*1954).

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lieber Verpflichtung verbunden. Aus diesem Grunde ist auch das Recht sakralen Ursprungs, d. h. ein Teil der Religion. Das nichtkodifizierte Gewohnheitsrecht wird vom heilbegabten Adel als heiliger Wissensbesitz gehütet und vererbt und ist ein Teil seiner religiösen Bindungen. Sprache und Religion sind schon länger als die schöpferischen Kräfte bei der Bildung der Völker erkannt, die in der Religion zum eigenen Bewußtsein erwachen. Die alten Germanenstaaten waren Aristokratien mit monarchischer Spitze; die politische Stellung des Adels, seine auctoritas, war im religiösen Glauben an ihr göttliches Heil und ihre göttliche Abstammung verankert. Dieser Glaube aber erwuchs, als mit dem Beginn der Wanderungen neben die Verehrung der Urmutter Erde und anderer Naturgötter individuelle Götter traten, die zum Teil Idealisierungen der großen Wanderführer und Heroen waren; er ist Symptom des Heldenzeitalters der Völker. Diese neuen Götter mit ihren menschlichen Eigenschaften waren deshalb persönlicher, anschaulicher Adelsspiegel, für den Adel Bestätigung seines Wesens, für die Beherrschten Symbol der göttlichen Abstammung ihrer adeligen Herren und religiöse Legitimation ihrer Herrschaft. Letztere aber war so lange Recht und Gesetz, als diesen Adel der Schimmer göttlicher Abstammung und die Bewährung gottgebenen Heils in Kampf und Sieg begleitete, solange er Beispiel war und dem Ganzen diente. Die Wanderzeit als die Geburtsstunde von »Stamm« und »Volk« brachte diese im Glauben an das Heil ihrer Führer zum Bewußtsein ihrer Kraft und Eigenart. Bei Griechen, Italikern und Germanen gründet politische Einheit im Glauben an eine bestimmte Gottheit. Das Heil macht den König zum Träger und Glied einer Sakralordnung. Wie der römische rex sacrorum war er oberster Walter des Kultes. Gemeingermanisch ist der Glaube, daß die Wohlfahrt des Landes vom König abhänge63. Dieser überlebt sogar die Vollendung der inneren Christianisierung Deutschlands im 11. Jahrhundert. Für die Bauern von Lüttich war der tote Kaiser Heinrich IV. trotz Kirchenbann noch immer im Vollbesitz des Königsheils (= Volksheiligkeit); darum kratzten sie die Erde von seinem Grabhügel. Legten Getreidekörner auf seine Bahre, um mit den dadurch geweihten Dingen eine fruchtbringende Ernte zu gewinnen. Sie glaubten für sich selber etwas vom Heil des Herrschers mitzunehmen, wenn sie die Finger an die Leiche legten64. Das Gedeihen von Land und Reich ist Ausfluß der Gotteskraft im König. Deshalb sind Person und Besitz des Königs heilserfüllt = heilig. Der Heilsgedanke ist eine der wichtigsten Brücken von der alten zur neuen christlichen Religion und zur politischen Religiosität des Früh«o Ammianus Marcellinus XXVIII. 5, 14. ·« Vgl. K. HAUCK, Geblütsheiligkeit. 197.

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mittelalters65. Das zeigt die bekannte Stelle im Briefe des Bischofs Avitus von Vienne an Chlodwig66, die in der freien Übersetzung Karl Haucks so lautet: »Die Taufe, in der das unter dem Sturmhelm langgewachsene Haar mit dem heilbringenden Schutzpanzer der heiligen Salbung angetan wird, wird vor allem die Macht der Waffen stärker und das, was bisher das Königsheil (felicitas) gewährt hat, wird nun die kirchliche Heiligkeit (sanctitas) mehren67. Im Taufbericht des Avitus wird die Trennung des Geblütsheils vom göttlichen Ursprung der Adelssippe bei der Christianisierung deutlich sichtbar.«68 Die Heiligenlegenden des frühen Mittelalters gründen den christlichen Heilsbegriff auf christlichen Tugendwerken, auf die Macht Gottes in den Höchstleistungen von kindlich frommen Menschen und Helden. Bei Sulpicius Severus, dem Verfasser der Vita Sti. Martini, ist virtus die im Heiligen wirksame, wunderwirkende Kraft Gottes. Die Metzer Annalen drücken damit die charismatische Begnadung des Herrschers aus und begreifen das Gottesgnadentum als Vergeistigung alter charismatischer Vorstellungen69. Widukind von Korvey umschreibt das Königsheil mit dem Doppelbegriff »fortuna et mores«. Büttner (a. a. O.) hat gezeigt, daß die Kurie vom germanischen Glauben an das Königsheil wußte, als sie den karolingischen Hausmeier Pippin durch die kirchliche Salbung auch für die katholischen Romanen des Frankenreiches legitimierte, nachdem er der germanischen Welt durch die Ruhmestaten des Vaters längst als hinlänglich sakral gerechtfertigt galt. Der Heilsgedanke wurde in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts beiseitegeschoben, als der König allgemein als Vicarius Christi erschien. Der Bannfluch Gregors VII, gegen Heinrich IV., den rex et sacerdos, den vicarius Christi, den kraft Königsheil als Mittler zwischen Gott und Welt stehenden sakralen Herrscher, zerstört die im germanisch-deutschen Heilsglauben verankerte Welteinheit, vernichtet die religiöse gegründete Auffassung von Herrschaft ( = Staat) seit germanischer Zeit70; er setzt an ihre Stelle den philosophisch-juristischen Dualismus zwischen Temporalia und Spiritualia. Auch wenn das bäuerliche Volk den unglücklichen Heinrich IV. noch als Heilsträger ver66

Vgl. R. BUCHNER, Das merowingische Königtum, in: Das Königtum 143—154. W. v. DEN STEINEN, MÖIG, Ergbd. 12 (1932/33) passim. 66 Vgl. E. EWIG, Zum christlichen Königsgedanken im Frühmittelalter, in: Das Königtum, 7—74, bes. 37 ff. «7 MG. Auct. antiqu. VI. 75. 68 »Ihr dem vom großen uralten Stammbaum der bloße Adel (= das Geblütsheil) genug ist, habt gewollt, daß nun alles bei Euch anfange«, (d. h. nicht mehr beim göttlichen Urahn des Stammbaums). 69 Siehe die beweisende Einleitung über Pippinus filius Ansegisili, ed. Simson (1905) ad. a. 678 Iff. 70 Vgl. auch P. E. SCHRAMM, Der König von Frankreich (1939) u. M. BLOCK, Les rois thaumaturges (1924) — G. DUMEZIL, Mythes et dieux des Germains (1969).

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ehrt, unterlegt der Anonymus in seiner begeisternden Vita71 »fortuna« in Anlehnung an Boethius, den großen Lehrmeister des Mittelalters, nicht mehr wie Widukind den Sinn von Königsheil, sondern den der Hinfälligkeit und Unbeständigkeit alles Irdischen. Heinrich IV., den der Wendenpfarrer Helmold von Bosau am Ende seines Lebens in einer ergreifenden Szene in den großen Rahmen der mittelalterlichen deutschen Hochkirche stellt, so daß wir die ganze Tragik zutiefst mitfühlen72, erwirbt felicitas, das Avitus von Vienne noch als heidnisches Königsheil deutet (s. o.), durch ein heiligmäßiges Leben, das ihm Glückseligkeit im Jenseits garantiert. Die kirchliche Heiligkeit = sanctitas hat seit der Merowingerzeit Sippen- und Königsheil von innen her umgestaltet und ausgehöhlt. Königsheil ist eingebettet in den umfassenden Gedanken des Sippenund Geblütsheils''3, beide waren gestaltende und formende Kräfte in germanischer und frühmittelalterlicher Zeit, mindestens bis in das 11. Jahrhundert hinein. Indem die (Adels-) Sippe sich einen Gott zum Stammvater kürt, bindet sie sich nicht nur an seinen Dienst, sondern sichert sie sich auch dessen Heil. Die Heldensage, ehemals zumeist aesthetisch interpretiert (A. Heusler), heute nach religionsgeschichtlichen Ergebnissen befragt, kündet durch ihre Umwandlung von der germanischen Auffassung vom Heil der Herrschaft, von der religiös begründeten Staatlichkeit. Jordanis (Gotengeschichte XIII. 78) berichtet: »Die Goten nannten ihre adeligen Führer, durch deren Heil (Fortuna) sie zu siegen vermeinten, nicht bloße Menschen, sondern Halbgötter (Heroen) d. h. Äsen«, deren Stammbäume er durchgehen will. Dieser Gotenadel besaß im Glauben seiner Geführten »Geblütsheil«, das in Kampf und Sieg wirksam wurde, durch die Stammbäume aber in einen religiösstaatlichen Ordo eingebaut war, der in kultischem Brauch lebendig wurde. Diese proceres stellten den Gott dar, den sie im Kult repräsentierten74. Schlachtenglück, heroische = epochemachende, entscheidende Leistung, die den Helden als Glückhaft-heilig erwies, begründeten in vorchristlicher Zeit die Geblütswürde. D äs zeigt auch die Vita Mathildis bei der Schilderung des großen Sieges Ottos L auf dem Lechfeld, der die Kaiserwürde begründete75. Der Glaube an das adelige Geblütsheil blieb erhalten in der haus- und sippegebundenen Literatur des 10./ll. Jahrhunderts, so in der Ecbasis captivi oder im Ruodlieb76. Er ist ein wesentliches Element der gesellschaft71

Vita Heinrici IV. imp. ed. Wattenbach (31899), ad. a. 1106. S. 44. « Helmolds Slavenchronik, ed. B. Schmeidler (31937). I. 33, 25ff. (ad. 1106) — Vgl. K. BOSL, Heinrich IV. in verfassungsgeschichtlicher Sicht, ungedr. Vortrag. 73 K. HAUCK, Geblütsheiligkeit, a. a. O. 7 * O. HÖFLER, Festschrift f. O. Scheel (1952), 23. ™ Vgl. Widukind III. 49. 78 HAUCK, Mittellateinische Literatur, in Deutsche Philologie im Aufriß. 18. Lief. Sp. 1841ff.; Ders., Heinrich III u. d. Ruodlieb; Festschr. f. Th. Frings (1949); Ders.

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liehen Geltung, Ständebildung und Differenzierung des Adels im Mittelalter geblieben und hat, wenn auch immer mehr verblassend, bis in die Moderne hinein die gesellschaftliche Stellung des Adels unausgesprochen mitgeprägt. Im Heilsgedanken treten Gesellschaft, Staat, Religion der Germanen zusammen; in seiner Umwandlung wird ein wesentliches Stück germanischer Bekehrungsgeschichte sichtbar. Im Heilsbegriff ist noch im 11. Jahrhundert die Auseinandersetzung zwischen germanischem und christlich-antikem Staatsdenken greifbar. Am Schlüsse der Ausführungen darf ich zusammenfassen. Da europäische Kultur genau so wie die ihr zugehörige deutsche ein in sich geschlossenes Ganzes ist, das sich wesenhaft von anderen Kulturen und Gesellschaften unterscheidet, gelangt man zur Erkenntnis ihrer Wesenselemente dadurch, daß man in rechter Würdigung des Wandels, der etwas grundlegend Neues im Frühmittelalter erstehen ließ, nicht nur die von außen wirkenden und anregenden Kräfte fremder Kultur aufzeigt, sondern auch die kontinuierlich weiterwirkenden gestaltenden Eigenwerte und Mächte zu Bewußtsein bringt. Die Germanenforschung der letzten dreißig Jahre, besonders die germanische Archäologie haben viele neue Erkenntnisse dazu gebracht und neue Erkenntnismöglichkeiten geboten. Es beginnt mehr Licht auf die dark ages der Geburt einer neuen Kultur und Gesellschaft zu fallen, nachdem wir zu lange und zu intensiv nur die von Geistlichen geschriebenen Geschichtsquellen und Sammelwerke des Früh- und Hochmittelalters interpretierten, so dankbar wir für sie sein müssen, nachdem wir zu ausschließlich nur nach dem antiken und christlichen Erbe in diesem Schrifttum Ausschau hielten und es nach unseren eigenen Auffassungen, z. B. vom Staat erklärten. Ich meine, daß wir heute an einem Punkte angelangt sind, an dem sich für den Mediävisten wie für jeden, der nun eine Erkenntnis des Wesens europäischer Kultur ringt, das Germanische nicht mehr von selbst versteht, auch wenn man damit zugibt, daß unser geschichtliches Bewußtsein nicht mehr ungebrochen und selbstbegründet, unsere Gesellschaft brüchig geworden ist. Gerade weil unser Anliegen weitgespannt ist, unterschätzen wir weder die Bedeutung des antiken und christlichen Zustroms und seine gestaltende Kraft, noch auch das beharrende Weiterwirken germanischer Substanz vor allem in Deutschland. Wem es um Erkenntnis der objektiven Geschichtswirklichkeit geht, den stimmen heute Worte des großen europäischen Universalisten E. R. Curtius77 bedenklich, die er im Kolleg seinen Schülern sagte, daß die heute müde gewordene Idee des Humanismus ein fruchtbarer Irrtum Winckelmanns und des 19. Jahrhunderts waren. Auf ihm aber ruhte unser Bild von Kultur und Wesen Europas. a.a.O. MIÖG 62 (1954), 121 ff. — Vgl. dazu grundsätzüch H. GRUNDMANN, Geschichtsschreibung im Mittelalter; Dte. Phil, im Aufriß 26. Lief. Sp. 1273ff. 77 E. R. CURTIUS, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948).

PORPHYRIOS ALS MITTLER ZWISCHEN PLOTIN UND AUGUSTIN Von HEINRICH D RRIE I. Nicht in gleichm igem, breitem Strom ist das neuplatonische Gedankengut und — wichtiger noch — die neuplatonische Denkweise in das sich bildende Mittelalter eingegangen. Sondern was in den Westen her berwirkte, ist ganz vornehmlich durch die Vermittlung eines Mannes hindurchgegangen: des Porphyrios von Tyros. Lehrreich ist der Vergleich damit, wie der Neuplatonismus auf den Islam nachwirkte1. Auf arabischer Seite konnte man noch Jahrhunderte nach der Hedschra aus der lange fortlebenden porphyrischen und nachporphyrischen Tradition sch pfen. Dagegen sind im Westen die Fortschritte, die der Neuplatonismus nach Porphyrios noch machte, so gut wie unbekannt geblieben (der Grund soll unten S. 29f. umrissen werden). Die Ber hrung des Abendlandes mit dem Neuplatonismus2 geschah also in Porphyrios und durch Porphyrios. Verglichen damit ist der Einflu Plotins, den stets nur wenige zu verstehen vermochten, gering geblieben. In Porphyrios dagegen stellt sich eine echte berlieferungsStufe dar: Alles neuplatonische Gut, das im Westen bedeutsam werden sollte, ist durch ihn vermittelt. Porphyrios lebte zu der Zeit, da die griechische und die lateinische Reichsh lfte sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt st rker dissoziierten. Er starb im Jahre 304 oder 305, also kurz bevor der Kaiser Diokletian die Regierung niederlegte. Porphyrios hat also den Anbruch der neuen ra, den Sieg des Christentums, das er so sehr ha te, nicht mehr erlebt. Porphyrios lebte noch in einer Welt, in der die G ltigkeit universaler Bildung unbestritten war. Und diese Bildung besa Porphyrios wie kein zweiter. Das verdankte er seinem ersten Lehrer LONGIN, den die Nachwelt eine »Ein-Mann-Universit t« nannte3. Auch Porphyrios 1

Zu den Einzelheiten ist der unten S. 179 abgedruckte Vortrag von R. WALZER zu vergleichen. Es ergab sich unbeabsichtigt, da beide Referate einander weitgehend entsprachen; denn an beiden Stellen handelt es sich um die Rezeption des Neuplatonismus durch nicht-griechische Theologen. 2 Dies gilt in aller Strenge bis (fast genau) zum Jahr 1000. Dann wird ein sehr anderer Nachklang des Neuplatonismus in Europa wieder h rbar: Die Schriften des Dionysios Areopagita gelangen nach Paris und gewinnen — ber Johannes Scotus — hohe Bedeutung. Vgl. hierzu JOSEF KOCH, Augustinischer und dionysischer Neuplatonismus und das Mittelalter, Kant-Studien 48 (1956) 117—133. 3 Eunapios, vitae soph. 7, 13 BOISSONNADE Λογγΐνοξ 51 KCCTO: τον χρόνον εκείνον βιβλιοθήκη Tis ην ϋμψυχοξ καΐ περιπατούν Μουσείο ν . . .

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hätte wohl mit seinem Wissen eine Universität vertreten können; seine zahlreichen Schriften — über 70 Titel sind bekannt4 — zeigen, daß er in Mathematik und Harmonie-Lehre ebenso zu Hause war wie in Grammatik und Rhetorik; er war ein tüchtiger Homer-Philologe und übertrug, was er hier gelernt hatte, auf die Erklärung Platons und Aristoteles'; er beherrschte wie kein zweiter die Logik des Aristoteles und war wohl bewandert in den Disziplinen der Naturwissenschaft und der Medizin; das waren Wissensgebiete, die man vollauf mit zur Philosophie rechnete. Mit allem diesem Wissen stand Porphyries, wie sein Lehrer LONGIN, in den Überlieferungen der Akademie; in ihr kam man, namentlich in den ersten Jahrhunderten der Kaiserzeit, dem nahe, was wir wissenschaftliche Forschung im eigentlichen Sinne nennen. Man war sich bewußt, in jedem wissenswerten Detail (etwa der Physiologie oder der Philologie) eine Verästelung des Logos bloßzulegen, der sich in der Welt verwirklicht — ein Blick auf die Thematik des Plutarch, des Akademikers Taurus (bei Gellius reich bezeugt) oder des LONGIN gibt Aufschluß über diesen Aspekt von Wissenschaftlichkeit; man wäre versucht, ihn zweckfrei zu nennen, wenn er nicht immer wieder der Bestätigung des Logos diente. In solcher Wissenschaftlichkeit hat Porphyrios seine methodische Schulung erworben, die er sein Leben lang nicht verleugnete. II.

Und doch hat derselbe Porphyrios aus voller Überzeugung all' sein ausgebreitetes Wissen in den Dienst eines einzigen Gedankens gestellt; der ganze Universalismus des Wissens bildet sich ihm unversehens um in einen strengen Monismus: Alles Wissen ist nur mehr sinnvoll, wenn es mit der hauptsächlichen Erkenntnis übereinstimmt, ja in ihr aufgeht. Diese hauptsächliche Erkenntnis, dieser eine Beziehungspunkt, der allem Erkennbaren Sinn und allem Wesen Sein verleiht — diese hauptsächliche Erkenntnis war ein durchaus theologischer Gedanke. Daß Porphyrios den Übergang von fachgerechter Philosophie mit dem Ziel der Wissens-Mehrung zur — noch völlig neuartigen — Theologie mit dem Ziel der Sinngebung vom Transzendenten her fand — das lag an seiner Übersiedlung nach Rom, das lag an der Begegnung mit Plotin, dessen bevorzugter Schüler er vom Jahre 263 an als bereits Dreißigjähriger wurde. Gewiß, — die Bezeichnung Theologie für das Lehrgebäude Plotins werden christliche Theologen vielleicht nicht gut heißen. Diese Theologie ist in strengstem Sinne natürliche und rationale Theologie; daß eine gültige Kunde vom Göttlichen aus Offenbarung fließen könne, 4

Aufzählung 1. bei J. BIDEZ, La vie de Porphyre (1913), 65*—73*; 2. bei R. BEUTLER. RE (unter Porphyrios) 43 (1953) 279—301.

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wird mit Schärfe abgelehnt. Es ist eine Theologie, die eine jede Beziehung des Göttlichen hinab zum Menschen ablehnt, also den Begriff der Gnade gar nicht bilden kann; denn sie lehnt die Vorstellung von der Persönlichkeit Gottes als geradezu unfromm ab. In dieser Theologie ist ferner das Element des Glaubens von dem des Erkennens noch gar nicht gesondert; das letztere dominiert ganz ohne Zweifel. Und endlich ist dies eine Theologie völlig ohne Kirche. Aber Theologie ist das alles doch in einem klar umrissenen Sinne: Es wird zugleich die wissenschaftliche, dialektisch gefestigte Aussage über das Göttliche versucht und erreicht; es wird der Raum des Göttlichen über der Welt und in der Welt fixiert. Das heißt: Es wird untersucht, wie sich Gott als Ursache stufenweise in der Welt verwirklicht. Und man kann wohl ermessen, welch einen Einfluß diese Gedankenreihen in ihrer Methodik und Systematik auf das sich konstituierende Christentum haben mußten: Hier bestand ein Analogon zu der christlichen Theologie, die sich erst bilden wollte; noch ehe christliche Dogmatiker ihre Aussage über das Wesen des Vaters und des Sohnes begründeten, war hier der Versuch gemacht worden, das Wesen des Göttlichen erkennend auszuschöpfen. Zu seiner theologischen Betrachtungsweise gelangte das Christentum nur schrittweise, und dann, wie gezeigt werden soll, nur in enger methodischer Anlehnung an dies Vorbild. Die wichtigste Aufgabe wird nun sein, diesen theologischen Grundgedanken, der trotz aller Dialektik ein Grundgefühl ausdrückt, zu umreißen. Dabei ist dieser Grundgedanke untrennbar mit einer ganz bestimmten Haltung des Denkens verbunden; beides gewinnt seine Bedeutung dadurch, daß es die theologische Formung Augustins ganz stark und die vieler Zeitgenossen spürbar beeinflußte. — Um dieser Theologie willen tat Porphyrios den so ungemein wichtigen Schritt, alles Wissen, alle Erkenntnis jenem einen Beziehungspunkt unterzuordnen. Das war nicht Plotins Sache gewesen — denn dieser war in der Fach-Philosophie stets Außenseiter, und sein Wissen konnte sich, wenn man die Beherrschung des Details zum Maßstab nimmt, mit einem Fachmann wie Longin nicht messen. Wenn eine extreme Formulierung gewagt werden darf: Plotin war ein Prophet, aber ein Professor war er nicht, und das professorale Wesen des LONGIN hat er scharf abgelehnt. Porphyrios aber brachte — gerade von diesem her— das ganze Rüstzeug der Fachgelehrsamkeit mit; und es ist nun sehr bedeutsam geworden, daß dies Rüstzeug für Porphyrios jeden Eigenwert verliert. Alles bisher Gewußte behält Gültigkeit nur in jenem Sinnbezug, der im Transzendenten gipfelt. So hat Porphyrios als erster die Philosophie zur Magd der Theologie gemacht. Mit Erfolg hat er es unternommen, den Nachweis bis in das letzte Detail zu führen, daß ohne Bezug auf das Höchste nichts sinnvoll und nichts real sein

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kann. Dabei hat er Formen der Nachweisung entwickelt, die durchaus an die Scholastik gemahnen; denn wie diese benutzt er aristotelisches Rüstzeug für theologische Nachweise. — III. Porphyrios lebte, wie gesagt, in einer Welt, deren Bildungsideal noch in keiner Weise gespalten war; weder war das philosophisch-rhetorische Ideal selbst ernsthaft angetastet, noch war die antike Welt selbst m zwei Hälften zerfallen. Noch hatte griechische Weisheit volle Gültigkeit in Rom. Die zuvor selbstverständliche geistige Einheit der antiken Welt, wobei die Präponderanz des Griechischen stillschweigend eingeschlossen war, zerfiel kurz nach Porphyrios. So war Porphyrios der letzte antike Mensch, der in gleicher Intensität seinen Einfluß in Ost und West ausübte. Schon sein Nachfolger lamblich hatte dem lateinischen Westen nichts mehr zu sagen. Die Dissoziierung, die in jenem Jahrhundert Rom von Griechenland trennt, hat zwei Aspekte. Der eine ist der der sprachlich-kulturellen Entmischung. Seit den Scipionen war Rom eine zweisprachige Stadt. Nicht nur die Gebildeten, sondern eine starke Mehrheit der kleinen Handelsleute und der Sklaven sprachen in Rom entweder nur Griechisch oder neben Latein auch Griechisch. Die Sprache der christlichen Gemeinde in Rom war in den ersten Jahrhunderten Griechisch; andererseits hielt Plotin seine Vorträge vor der gebildeten Gesellschaft5 Roms auf Griechisch — diese beiden Extreme mögen erläutern, wie weit Rom griechisch durchsetzt war. Gewiß schwankte die Intensität dieser Durchmischung von Jahrhundert zu Jahrhundert — doch soll das jetzt in seinen Einzelheiten nicht untersucht werden. Im Verlaufe des 4. Jahrhunderts aber fiel sie ganz beträchtlich ab und hörte bald auf, ein kulturell bestimmender Faktor zu sein. Von diesem Blickpunkt aus darf man von einer Romanisierung Roms im 4./5. Jahrhundert sprechen. Mitgrund für das Schwinden des griechischen Einflusses war die Verlegung der Hauptstadt, wodurch Mailand (wenigstens politisch) den Vorrang vor Rom gewann, war das Schrumpfen des Handels-Verkehrs; ein wichtiger Grund war, daß die griechische Reichshälfte jetzt in geistiger und literarischer Hinsicht viel weniger zu bieten hatte als in früheren Jahrhunderten6. 6

Zum Publikum Plotins gehörten auch — das darf nicht übersehen werden — christliche Gnostiker, mutmaßlich der Richtung Valentinians; die Diskussion mit ihnen ging natürlich auch auf griechisch vor sich. Plotin hat das Ergebnis dieser Diskussion in der Schrift Enn. II 9 (33) niedergelegt; sie ist hervorragend analysiert von R. HARDER, jetzt Kl. Schriften 296—313; vgl. A. PUECH, Plotin et les Gnostiques; Entretiens de la fondation Hardt' V (1957). 162—190, bes. 183. * Dabei ist aber zu unterstreichen, daß die großen Prediger und Kirchenlehrer, an denen das Jahrhundert Konstantins reich war, im Westen keineswegs den Widerhall fanden, den man erwarten sollte.

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Aber man löst sich im Westen nicht nur von der Anerkennung der zeitgenössischen Leistungen auf griechischer Seite; man löst sich auch von der Verehrung der klassischen Vorbilder; man löst sich von der Pflicht zur Nachahmung, zur literarischen imitatio. Die Entmischung der bisherigen Doppelkultur bedeutet das Ende des kaiserzeitlichen Klassizismus. Denn zuvor gilt für jeden, der Latein schreibt, das Gesetz der imitatio mit großer Nachdrücklichkeit: Seit den Anfängen der lateinischen Literatur nimmt man die Feder nicht in die Hand, um Neues zu sagen. Sondern die Aufgabe ist stets, das von Griechen vorbildlich Gesagte nun in lateinischer Sprache ebenfalls vorbildlich zu sagen. Das schließt gewiß die erforderlichen Umsetzungen ein; aber eine Verpflichtung, originell zu sein, hat die lateinische Literatur nie gekannt, solange jene Beziehung bestand. Im Jahrhundert Konstantins zerriß diese: das griechische Geistesleben hörte auf, Vorbild zu sein. Man gewann, erst in den westlichen Provinzen Africa und Spanien, aber auch in Mailand, dann in Rom selbst, ein zuvor nicht gekanntes Gefühl geistiger Unabhängigkeit den Griechen gegenüber. Man muß sich klar machen, was es bedeutete, wenn man daran ging, gerade im kirchlichen und im dogmatischen Gebiete Eigenes aufzubauen. Überraschend schnell endete das Schüler-Verhältnis den griechischen Kirchen-Lehrern und der griechischen Kirchlichkeit gegenüber. So bereitete sich der Boden für die Unabhängigkeit Roms allgemein in kultureller, speziell in kirchlicher Hinsicht. Ganz zweifellos tritt damit ein Wesenszug in Erscheinung, der das Mittelalter charakterisiert, der Antike aber fremd ist. Gegen alles Herkommen lernt Rom in diesem Jahrhundert, sich dem Osten gegenüber nicht nur ebenbürtig, sondern gar sich überlegen zu fühlen. Aus der jahrhundertelangen geistigen Bindung, besser, Unterordnung Roms unter Griechenland wird binnen kurzem Antithese, ja Gegnerschaft. Daß diese Spaltung sich politisch vollzieht, ist fast das Geringste an diesem Prozeß: er vollzog sich zuvor geistig, kulturell, kirchlich. Und damit trat das Gesetz der imitatio sehr rasch außer Kraft. Porphyries nun ist der letzte Grieche, auf den sich dies Gesetz noch uneingeschränkt bezog. Er ist der letzte griechisch schreibende Autor, dessen geschriebenes Werk für die Lateiner eine so verpflichtende Gültigkeit hatte, wie einst die Stoiker und Akademiker für die Generation Ciceros. Porphyrios ist damit der letzte in der langen Reihe von Lehrern Roms, der letzte in einer Reihe von Namen, unter denen Aristoteles, Panaitios, Poseidonios und Epiktet voranstanden. Daß er als letzter solche Bedeutung für den Westen gewann, liegt natürlich zum Teil daran, daß er unmittelbar vor jenem Bruch lebte; ein halbes Jahrhundert später wäre er im Westen vielleicht nicht mehr gehört worden. Noch mehr aber liegt die Intensität des Nachwirkens an dem, was er zu sagen hatte. Seinem Lehrer Plotin, wiewohl der in

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manchem der gr blieben.

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ere war, ist diese Breite des Wirkens versagt geIV.

Im Osten wirkte Porphyrios durch andere Seiten seines Wesens als im Westen. Das h ngt mit mancherlei Umst nden im einzelnen zusammen, weist aber im ganzen auf jene beginnende Aufl sung der antiken Welt als einer οικουμένη hin. Auf griechischem Boden hat Porphyrios auf Jahrhunderte hinaus den Neuplatonismus gepr gt; er verlieh ihm gerade in seinen Aussagen ber das G ttliche solche Akzente, da dieser porphyrisch gef rbte Neuplatonismus nie zum Ausgleich oder zur harmonischen Vereinigung mit dem Christentum kommen konnte; da gab es Grunds tzliches, das un berbr ckbar blieb7. Denn nicht nur der Gegenstand der Aussage, sondern die Haltung, in der philosophiert wurde, war und blieb in der Akademie des 5. Jahrhunderts porphyrisch. Und diese Haltung schlo Opposition und Unvers hnlichkeit gegen alle Manifestationen des Christlichen, schlie lich auch gegen den Staat in sich. Die Synode zu Ephesos empfahl im Jahre 447, die l sterlichen B cher des Porphyrios zu verbrennen, was der Kaiser am 16. 2. 448 zu vollziehen befahl7·. Nie zuvor war eine Ma nahme von solcher Sch rfe vollzogen worden. Das Ende war die Schlie ung der Akademie 529 und die Emigration der letzten Neuplatoniker. Weil im Osten Porphyrios in dieser so betont opponierenden Schule fortlebte, blieb sein Einflu au erhalb gering. Selbstverst ndlich ist er hier und da von Christen ausgebeutet worden; NEMESios8 tut das mit der sch nen Entschuldigung, gerade der rgste Feind k nne zum Kronzeugen f r die Richtigkeit einer dogmatischen Formel werden. Selbst ATHANASIOS und nach ihm die Kappadokier nutzten Porphyrios sehr scharfsinnige Einteilungen gern, und zum Teil nachhaltig9. Aber das Ausbeuten geschah doch immer mit dem Bewu tsein, da man sich mit dem b sartigsten Feinde des Christentums einlie . Sein brillant, aber bissig formuliertes Buch Wider die Christen, das die G ltigkeit gerade 7

Selbstverst ndlich ist auch im Westen nie von christlicher Seite, am wenigsten von Augustin, in den Kernpunkten der christlichen Lehre dem Neuplatonismus nachgegeben worden. Vor allem war die Lehre vom Einen ber dem Sein unannehmbar; denn das Eine als ein Unpers nliches in h chster Abstraktion konnte mit der Vorstellung von dem pers nlichen, allm chtigen Sch pfergott nicht vereinigt werden. 7a Vgl. 1. Acta conc. oec. I (Conc. Ephesinum) 1,4; 66, 8—12 ed ED. SCHWARTZ; 2. Cod. lustinianus I 1,3 (corp. iur. civ. II [1888] 5). 8 NEMESIOS 3p. 139,2 ff. Ισχυραΐ δε των εχθρών αί ίπτερ ημών μαρτνρίαι καΐ μηδεμίαν άνπλογίαν έττιδεχόμενοπ. 9 Zu h bscher Illustration kommt das in einem Heft mit Leseproben, das R. ARNOU ver ffentlicht hat: De Platonismo Patrum, Textus et documenta Pontif. Univ. Gregorianae, Rom, 1935.

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aller Offenbarung in Frage stellt, war zunächst weithin bekannt; es ist erst durch die oben zitierten Erlasse von 448 unterdrückt worden10. Allein die Existenz dieses Buches hätte es unmöglich gemacht, daß man sich in theologischen Fragen bei ihm Rat holte. V.

Da lagen die Dinge im Westen ganz anders. Hier erinnerte keine neuplatonische Schule an die Unvereinbarkeit von Neuplatonismus und Christentum. Sondern die Neuplatoniker des Westens waren alle Christen, oder mindestens standen sie dem Christentum sehr nahe. Hier war ein Übergang vom einen zum anderen möglich — und wurde bei Augustinus vor allem wirklich. Der Unterschied brauchte nicht als diametral angesehen zu werden. Sondern man durfte von Porphyries das übernehmen, was die Kirchenlehrer in griechischer Sprache nicht zu bieten vermochten. Das war vor allem die Methode theologischer Beweisführung. Dies Gut nun, das Porphyries bot, und das man in Mailand, in Rom und in Hippo Regius gern aufnahm, weil man es so sehr brauchte, dies Gut war ein doppeltes: es war die Logik als Fundament der Theologie, und es war die Begründung einer theologia practica. Auf diese beiden Hauptpunkte soll sich die folgende Darstellung beziehen; allerdings muß man es so auffassen, daß der erste Punkt im zweiten enthalten ist. Porphyries theologische Methodik fußte auf der Logik, denn sie war eine Theologie, die auf dem Wissen und Erkennen basierte. Um so bemerkenswerter ist es, daß die christliche Theologie, die sich auf den Glauben gründet, sich bis heute der gleichen Methode bedient. Aber nicht nur das, sie übernahm das entscheidende Lehrbuch hierzu von Porphyrios selbst. Hierzu rasch die Einzelheiten. Ein Teil von Porphyrios immenser Tätigkeit galt der Kommentierung von ARISTOTELES Schriften; besonders Bedeutung hatte und hat unter diesen die Schrift von den Kategorien. Plotin hatte es sehr nachdrücklich bestritten, daß die aristotelische Kategorien-Lehre geeignet sei, zu gültiger Erkenntnis des Seienden zu führen. Denn unter den 10 Kategorien figuriert die Kategorie Substanz — — nur als eine unter vielen; Plotin aber wies dieser einen Kategorie transzendenten Seinswert zu, alle anderen haben für ihn rein akzessorischen, vom Sein her betrachtet unerheblichen Charakter. Porphyrios überwand diese Bedenken, indem er die Logik und mit ihr die Kategorien-Lehre einer ganz bestimmten Erkenntnis-Stufe zu10

Daher ist dies einst wichtige Buch nur mehr aus den Fragmenten kenntlich, die AD. VON HARNACK gesammelt hat: Abh. der Berliner Akad. derWissensch. 1916, mit Nachtrag, Sitz.-Ber. Berlin 1921.

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ordnete. Alle rationalen Vorg nge, jede Denkbewegung, die in einem Satz, einer grammatischen Beziehung, einem logischen Urteil stattfindet, ist Teil-Abbild der h chsten, vollkommenen Denkbewegung. Aber eine jede solche hiesige, irdische Denkbewegung ist nur Teilst ck eines Kreises, welches das vollkommene, transzendente Denken in steter Regelm igkeit zur cklegt. Als ein solches Teilst ck wird die Logik, einschlie lich der Kategorien-Lehre, gewertet. Es mu in Kauf genommen werden, da die Logik ber sich hinaus weist; denn jenem von Plotin so nachdr cklich vertretenen Bedenken stimmt Porphyrios selbstverst ndlich insofern zu, als der bergangspunkt von der Logik zur Metaphysik in der Kategorie des τί εστίν, des Seins liegt. Bei der h heren, metaphysischen Betrachtung wird das Sein zum eigentlichen Gegenstand der Forschung, und kann dann, als das allem bergeordnete, mit keinem geringeren Wesen mehr koordiniert werden. Im Bereich der Logik, wo es sich nicht um m gliche Seins-Formen, sondern um Aussage-Formen handelt, darf (aus didaktischen Gr nden, w rden wir sagen) das Sein als eine Aussageform neben den neun anderen behandelt werden. Schon immer hatte der Platonismus der Kaiserzeit dahin tendiert, das platonische Gut durch die aristotelische Logik zu unterbauen. Freilich wurde darum zwei Jahrhunderte lang eine recht erbitterte Kontroverse gef hrt. Nun aber, nachdem Plotins Einw nde in dem skizzierten Sinne berwunden waren, stand einer weitgehenden Gleichsetzung nichts mehr im Wege; fortan basierte der neuplatonische Schulbetrieb auf der Logik des ARISTOTELES. Hier erhob sich nun die Forderung nach einem geeigneten Unterrichtsbuch, und dies Buch verfa te alsbald der unerm dliche Porphyrios. Seinem gro en, in alle Details gehenden Kommentare zu den Kategorien stellte Porphyrios eine Einf hrung zur Seite — εισαγωγή — die im Schulbetrieb den Titel αί πέντε φωναί erhielt. Denn hierin werden die f nf Grundbegriffe γένος είδος διαφορά ίδιον und συμβεβηKOS behandelt und zu einander in Beziehung gesetzt. Das Buch ist katechismus-artig abgefa t, in der Form von Frage und Antwort11. Dies Buch nun ist das logische Schulbuch des Mittelalters geworden. Es wurde erst von MARIOS VICTORINUS bersetzt, dann von BOETHIUS kommentiert. Als diesem nun die bersetzung nicht mehr ausreichend, weil nicht genau genug erschien, verfa te er sie neu; und diese bersetzung12 wurde f r ein Jahrtausend der ma gebende Leitfaden. Es gab wohl kaum eine mittelalterliche Bibliothek, in der es fehlte; denn in diesem Buch ist der Logik-Unterricht des Mittelalters weithin be11

Man benutzt das Buch in der Ausg. von AD. BUSSE, Comment, in Aristotelem Graeca IV l (1887). 12 Beides — Kommentar und bersetzung ist zu benutzen in der Ausg. von S. BRANDT CSEL 48 (1906. W i l p e r t , Med. I

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schlössen. Erst in der Hochscholastik hat man Aristoteles selbst neben dies Handbuch gelegt, ohne es aber damit zu entwerten. Nun gilt es, dies Faktum sogleich in den größeren Zusammenhang einzuordnen. Denn Porphyrios' Buch hätte ja nicht eine solche Nachfolge und Verbreitung gefunden, wenn nicht gerade im Westen die Überzeugung durchgedrungen wäre, daß die Logik ein Grundpfeiler der Theologie ist. Wie kam es dazu ? VI. Die Einsicht, daß sich das Christentum des heidnischen Bildungsinhaltes bemächtigen müsse, um bestehen zu können, war alt. IUSTIN, KLEMENS, ORIGINES, EUSEBIOS, sie alle mühten sich, ihr Verhältnis zur ( zu finden. Dabei wog zum Teil die apologetische Absicht vor: Man studierte die Waffen, die der Gegner handhabte, um sie gegen ihn anwenden zu können; zum Teil verfolgte man eine Absicht, die man harmonistisch oder synkretistisch nennen könnte: Man suchte nach Baumaterial, mit dem man noch bestehende Lücken des christlichen Denkgebäudes hoffte schließen zu können. Aber diese Aspekte fehlten doch ganz, als man die Logik porphyrischer Ausprägung zum Fundament des Theologie-Studiums machte. Gewiß spielte es mit, daß man mit dieser Waffe Ketzer bekämpfen konnte13; aber das tiefste, von unten her bewegende Motiv war doch dies, daß man sich gerade im Westen über die Wechselwirkung zwischen intdlectus und fides, zwischen Verstand und Glauben Gedanken machte. Nicht nur, daß der im Verstand Geschulte die Sache des Glaubens besser vertreten kann als der Ungeschulte — nein, es ging darum, daß der geschulte Intellekt die Dinge des Glaubens tiefer, mehr an der Wurzel ihrer Realität erfaßt. Damit war der Satz, das Evangelium gelte den Einfältigen, nicht aufgehoben, aber eingeengt: Wer in der Kirche die gehobene, priesterliche Stellung gewinnen sollte, bedurfte einer Schärfung des Intellekts, welche einer Vertiefung des Glaubens zugute kam. Hier nun tut sich der Blick auf die neuplatonische Theologie auf, welche durchaus eine Theologie des Geistes ist. Denn in ihr ist der Geist mit dem Sein identisch, das Ziel aller philosophisch-theologischen Bemühung, und zugleich ist das Denken, das möglichst reine, abstrahierende Denken der einzige Weg zu diesem Ziel. Für Plotin ist das Denken Gottesdienst: der weise Mann allein ist Priester14. Leider muß ich es mir versagen, dieses Phänomen der zur Religion gewordenen Philosophie in den größeren Rahmen zu stellen, der ihr gebührt. Denn nicht anders als die Gnosis, nicht anders als viele Mysterienkulte ist es letztes Anliegen auch des Neuplatonismus, die unerträglich gewordene Spannung zwischen dem als negativ empfundenen 13 14

So KLEMENS AI., protr. 99. So PORPHYRIOS ad MARCELLAM 16 Ende 285,14 NAUCK

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Hier und dem transzendenten, alles beherrschenden Jenseits aufzuheben. Ein gutes St ck Erl sungs-Sehnsucht steckt auch in den Voraussetzungen des Neuplatonismus. Nur ist dieser nicht, wie die Gnosis, im Wust der Allegorese versunken, sondern (so sehr man die Allegorie als Denkbehelf sch tzte) Plotin als erster hat den Versuch gemacht, zu wissenschaftlich fundierter Aussage ber das G ttliche zu kommen. Aus diesem Grunde war er der erste Theologe im eigentlichen Sinne, denn er erhob die Aussage ber das G ttliche zur Wissenschaft. Gewi sind vor ihm viele Aussagen ber das G ttliche gewagt worden; aber diese entsprangen stets entweder der Intuition oder der Offenbarung. In klarer Bestimmtheit hat PLATON die Form des Mythos gew hlt, um seine Sicht vom G ttlichen mitzuteilen: diese dialektisch zu erh rten, also einen Logos vom G ttlichen zu begr nden — θεολογία — erschien ihm zumindest als zweckwidrig, auf jeden Fall als unfromm. Und eine Theologie als Wissenschaft brauchte nicht, konnte nicht entwickelt werden, solange sich die Menschen — und das gilt f r die ganze Epoche des Griechentums bis tief in den Hellenismus — ihren G ttern und dem G ttlichen innerlich verwandt f hlten. Wohl hat es manche gedr ngt — um nur Aischylos zu nennen — ihr Erlebnis von der Macht und der Gr e des G ttlichen zu k nden. Wohl war es ein dr ngendes Problem, wieso das G ttliche gerecht sein kann, da soviel Schlimmes geschieht. Aber das G ttliche selbst war niemals ein Problem, solange man es dieser Welt und jeder Menschen-Seele immanent wu te. Solange dies Axiom galt, durfte sich jede Ethik — diePLATONs wie die der Stoa — auf die Forderung gr nden, keinen Zwiespalt zwischen dem so nahen G ttlichen und dem Menschen aufkommen zu lassen, sondern ihm entsprechend zu leben — mochte dabei das Weltprinzip ideell oder materiell vorgestellt werden; mochte man das Ziel der ethischen Bem hung in der Angleichung an einen der Welt nahen Gott15 oder in der Entsprechung zur Natur erblicken. Dagegen wurde wissenschaftliche Aussage ber das G ttliche erst n tig, als man es als das Transzendente, das grunds tzlich Fremde und Entgegengesetzte empfand. Als — zun chst wohl ganz emotionell — jener so unhellenische Dualismus im religi sen Empfinden vieler aufbrach16, entstand das Bed rfnis nach Erkenntnis Gottes — γνώσΐξ βεοο. 16 ALBINOS, did. 28,181, 30 HERMANN weist es mit Emphase von sich, das τέλος k nnte etwa in Angleichung an den berhimmlischen Gott bestehen το τέλος εϊη &ν το έξομοιωθήνσι θεώ, θεώ δηλονότι τω έττουρανίω, μη τφ μα Δία ύττερουρανίω, δς ουκ αρετή ν έχει, άμείνων δ" ίστί ταύτης. (Vgl. zu der Formulierung PORPHYRIOS ad Marcellam 16, 285,2 NAUCK μείζων αρετής θεός. F r Albinos bezieht sich Platons Gebot (vgl. Theait. 176 B) einzig auf den sichtbaren Gott, wobei er vor allem den Mythos im Phaidros vor Augen hat. 16 Das Hauptproblem aufzurollen, w re wohl jetzt noch verfr ht: Woher stammt das starke Gef hl von der Allmacht des Transzendenten ? Der Dualismus im religi sen

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Denn durch Erkenntnis mußte sich ja das Fremde, der oft mit Verzweiflung empfundene Abstand des Göttlichen vom Menschen überbrücken lassen; und es war in diesem religiösen Bedürfnis begründet, daß der Vorstellungskreis Gnosis sich sogleich erweiterte zu jenem mit allegorischen und mystischen Mitteln unternommenen Versuch, Gott auf über-logischem Wege zu erfassen. Sache der Fach-Philosophen jener Zeit wäre es gewesen, auf die so drängende Frage: »Was ist Gott ?« begründete Antwort zu geben. Aber die Fach-Philosophie, sowohl die Stoa wie die in Großstädten durch offizielle Schulen vertretene platonische Natur-Philosophie waren dieser Frage nicht gewachsen. Das geistige Erbe der Vorzeit war zu groß, und die Grundeinstellung der Philosophen vom Fach war zu klassizistisch, als daß man auf das eminent theologische Anliegen jener Zeit eine theologisch fundierte Antwort gefunden hätte17. Diese Antwort zu geben wurde Sache eines Außenseiters, den die große WissensFülle nicht bedrückte, es wurde Sache Plotins. Man wird seiner Philosophie nur dann gerecht, wenn man in ihr die Antwort auf die damals in allen Schichten drängende Frage nach dem Wesen Gottes als des ganz Anderen sieht. Wie sehr seine Lehre in Wahrheit Religion war, oder zumindest das religiöse Bedürfnis jener Zeit befriedigte, sieht man am Gipfelpunkt, an der Lehre vom Höchsten Einen. Mit zwingender Intensität wird herausgearbeitet, daß die Einung mit dem Einen höher ist denn alle Vernunft: Wenn es zur letzten, höchsten Vervollkommnung geht, gilt es alle Denkbehelfe fahren zu lassen, alle Dialektik wegzuwerfen. Nur wenn man über sich selbst hinaustritt — Ekstasis — kann man hoffen, diese alle Vernunft übersteigende Einung zu erreichen. In diesem Punkt ist Plotins Lehre reine Religion — aber auch nur in diesem Punkte. Denn in allen anderen Beziehungen ist sie Wissenschaft vom voGs18. Seine Allheit zu durchdenken, ist das nähere, diaEmpfinden scheint in der Orphik vorbereitet, und er scheint bei Platon in den wenigen Aussagen über das Eine als das Uberseiende nachzuklingen — Aussagen, die Platon bezeichnenderweise nie dialektisch unterbaut hat. Doch blieb dies ein »Vorspiel« und wenn später Pythagoreer wie Platoniker mit großer Findigkeit gerade jene PlatonStellen aneinander reihten, so darf daraus keine Kontinuität dieses Dualismus erschlossen werden. Alles, wovon im Folgenden die Rede sein wird, scheint ausgelöst zu sein durch eine Welle der Religiosität, welche ausgezeichnet ist durch ein oft bis zur Angst gesteigertes Empfinden für die Fremdheit des Jenseitigen. Bezeichnenderweise ist dies Empfinden in literarischen Zeugnissen erst greifbar, nachdem philosophischer Ausdruck dafür gefunden ist. Das Verhältnis zwischen religiösem und philosophischem Dualismus habe ich im Art. »Dualismus« des RAC IV (1959) 336—342 abzugrenzen versucht. 17 Vgl. »Die Frage nach dem Transzendenten im Mittelplatonismus«; Entretiens de la fondation, Hardt V (1957) 193—241. 18 Hierzu die Nachweisungen in m. Antrittsvorlesung (Münster 1962) »Plotin — Philosoph und Theologe«.

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lektisch bestimmbare Ziel. Und diese Aufgabe steht vor jedem, der die höchste Vollkommenheit erreichen möchte. Zwar ist die neuplatonische Doktrin weit davon entfernt, ihrem Gläubigen eine Heilsgewißheit zu geben (es liegt an jedem selbst, ob er die Einung mit dem Einen erreicht); aber wenn überhaupt ein Heil erlebt und erfahren werden kann, dann führt der Weg dahin durch das dialektische Denken. VII. Vor allem aus folgendem Grunde war für Plotin wie für Porphyrios die Aufgabe gestellt, alle nur möglichen Denkverbindungen zu durchmustern: Es mußte an jedem Punkt der Nachweis zu führen sein, daß alles Seiende vom Einen und vom voüs herzuleiten ist. Nichts durfte seine außerhalb dieses einen, alles umfassenden Denkbezuges haben. Und damit ordnet sich alles Seiende und alles Sinnvolle zu einer gewaltigen Pyramide19, die im voü$ gipfelt. An dieser Pyramide hatten schon Generationen vor Plotin gebaut; neu aber ist der Anspruch der Ausschließlichkeit: Ausserhalb dieser Welt des Denkens kann es nichts Sinnvolles geben; am wenigsten kann eine Ursache sich außerhalb dieser Pyramide befinden. Denn außer allen geistigen Zusammenhängen ist auch der Kausal-Nexus in diese Pyramide eingeordnet, weil die oberste causa transzendent ist. — Innerhalb des Platonismus hat dieses Axiom der Ausschließlichkeit zu einer an die Substanz rührenden Restriktion der Ideen-Lehre geführt; hierauf einzugehen, muß ich mir versagen20. Aus dem gleichen Grunde konnte Offenbarung als Quelle der Erkenntnis nicht anerkannt werden; und Plotin wie Porphyrios, — die gern an unsichtbare Zwischenwesen zwischen Menschen und Göttern glaubten, — die in gewissem Umfang gar erlaubten, die Magie21 zu Hilfe zu nehmen — sie haben sich erbittert gegen jeden Ansatz einer Offenbarung zur Wehr gesetzt. Das eigentliche Thema von Porphyrios' bitterbösem Buch gegen die Christen ist die Polemik gegen die Offenbarung: Die Evangelisten, und mit ihnen Petrus, sind ihm darum Fälscher und Betrüger, weil sie rationale Zusammenhänge als Offenbarung haben erscheinen 19

Das Bild der Pyramide ist nicht antik. Die einzelnen Stufungen werden von Porphyrios gewöhnlich als oder , also als Wert-Stufen bezeichnet. Da nun die oberste Stufe als ausdehnungslos, also punktförmig gedacht wird, und da in diesem Punkt alle Linien zusammenlaufen, hilft die Vorstellung von der Pyramide zu recht angemessener Vorstellung von dem, was gemeint ist. Nur scheint die antike Dialektik auf dies Mittel der Veranschaulichung verzichtet zu haben. 20 Worum es dabei ging, wird vor allem aus PORPHYRIOS, Vita Plot. 18,10 ff. deutlich. 21 Unbedenklich hätte daher ein Neuplatoniker den Wahrheits-Anspruch des Simon Magus anerkannt, den des Petrus aber abgelehnt: Denn Simon Magus kann sich des Beistandes dämonischer Mächte rühmen; Petrus' Wahrheits-Anspruch ist dagegen nur auf Offenbarung gegründet. Wahrscheinlich ist die spätere Ausgestaltung der altercatio Petri cum Simone von hier aus mit beeinflußt worden.

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lassen. So weit diese Kritik übers Ziel hinausschießt: Von der Grundkonzeption des Platonismus her ist sie verständlich. Denn diese war als Ganzes in Frage gestellt, wenn jemand eine Realität außerhalb jener Pyramide des Denkens hypostasierte oder eine Erkenntnis gewonnen zu haben behauptete, die ihm außerhalb dieser Zusammenhänge erwachsen sei. Wer dies behauptete, wurde mit religiösem Eifer verfolgt, denn er bestritt damit die Allgültigkeit des platonischen Gottes. So fundamental die Unterschiede zum Christentum sind: ein wichtiger Berührungspunkt ist doch gegeben. Weder Hermetik noch Mysterien-Religionen forderten eine solche Ausschließlichkeit für sich; man konnte heute den Mithras, morgen die Isis verehren und sich übermorgen an den hermetischen Hymnen erbauen. Einzig der Neuplatonismus und das Christentum schlössen jedes andere Bekenntnis aus. Der Neuplatonismus allerdings sah sich als Überbau über alle bestehenden Religionen und war in der beschriebenen Weise doktrinär nur, wenn es sich um die Ausschließlichkeit des Höchsten Einen handelte ; das Christentum sah sich als Gegensatz zu allen Religionen; es konnte nur Gipfel und Überbau der jüdischen Religion sein. Hier war zu einem Teil die dogmatische und apologetische Begründung gegeben für den Satz »Du sollst nicht andere Götter haben neben mir«. Aber wenn es sich darum handelte, dies Axiom für griechische und römische Menschen einsichtig zu machen, so bediente man sich gern der Denkwege, welche Plotin gewandelt war. Kurz, in allem Methodischen, im konsequenten Aufbau einer Theologie, die sich im Grunde lieber auf intellectus als auf fides gründete, vor allem in der Verteidigung von Ausschließlichkeit und Unvereinbarkeit — in allen diesen Punkten sind griechische wie römische Kirchenlehrer gern bei Porphyrios in die Schule gegangen. Und das mit gutem Grund. Unvergessen war die Gefahr, welche die üppig wuchernde Gnosis über die junge Kirche gebracht hatte. Ließ man die begrifflichen Bestimmungen des Glaubens außer Acht, so war die Einheit der Kirche gefährdet: Jede Häresie lehrte das von Neuem. Nur wo der intellectus einer Ausartung des Glaubens in den Aberglauben vorbeugte, nur da konnte die eine, allgemeine Kirche bestehen. Darum wurde Logik zur conditio sine qua non. Für die innere Folgerichtigkeit eines theologisch durchdachten Systems war das neuplatonische beispielhaft, und man schämte sich nicht, davon herüber zunehmen, was brauchbar war. VIII. Der Impuls zu solchem Denken stammt von Plotin; Ausführung und Mittlerschaft aber sind Porphyrios zuzuschreiben. Er war der einzige, der die oft schwierigen Gedankengänge Plotins in verständliches Grie-

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chisch zu dolmetschen vermochte. Zwar sind seine umf nglichen Kommentare zu Plotins Schriften, die er systematisch ordnete und herausgab, verloren. Erhalten ist aber eine Katechismus-artige Schrift — άφορμσΐ ττρός τα νοητά—22 aus der gut zu ersehen ist, wie ihm darum zu tun war, Plotins Theologie breiterer ffentlichkeit zug nglich zu machen. Zu den vielen Ruhmestiteln, die sich Porphyrios erwarb, geh rt auch der, Plotins Publizist, ja sein Dolmetsch zu sein. Bezeichnenderweise f llt sein Name, wenn man ihn im Bereich der theologia speculativa ausschrieb, gew hnlich nicht. Es entsteht der Eindruck, als w re Plotin von den Kirchenlehrern des ausgehenden 4. Jahrhunderts bis herab auf BOETHIUS sehr flei ig gelesen worden; und Pater PAUL HENRY S. J.23 hat sehr weitreichende Folgerungen daraus gezogen. An dieser Stelle wird es n tig, in Form einer Einschaltung darzustellen, wie weit ber Kenntnis und Benutzung von (alternativ) Plotin oder Porphyrios bei Ambrosius und seinem Kreis — vor allem bei Augustin — sich gesicherte Aussagen machen lassen. Das eine Fundament f r solche Aussagen bietet die unten S. 41,43 noch eingehend zu w rdigende Arbeit von W. THEILER M . Wertvolles, mehr best tigend als berichtigend, trugen die letzten Forschungen von P. COURCELLEZS bei. Neuplatonismus und Christentum erschienen im Kreise des hl. Ambrosius als zwei vereinbare Gr en — dies ganz im Gegensatz zu der Lage im Osten. MARIUS VICTORINUS bersetzte neuplatonische Schriften (d. h. Schriften Plotins und Porphyrios') ins Lateinische 2e; SIMPLICIANUS, AMBROSIUS' Lehrer und Freund, sah den Marius Victorinus nicht darum f r einen lauen Christen an, sondern weil er ihn nie in der Kirche sah; Augustins Lekt re der bersetzten Schriften wird keineswegs mi billigt27. Andererseits findet ein dort anwesender Neuplatoniker (wer es ist, wird nicht genannt) den Kern seiner religi sen berzeugung durch den Eingang des Johannes-Evangeliums vollkommen ausgedr ckt28. Kurz, hier fehlte das Bewu tsem von der tiefen Kluft zwischen Porphyrios und dem Christentum v llig; die Schrift wider die Christen blieb ganz unbekannt; P. COURCELLE macht — sicher mit Recht — wahrscheinlich2', da Augustin sie nie gelesen hat. Bei 22

Letzte, leider nicht allseits befriedigende Ausgabe von B. MOMMERT, Lpz. 1907. Als »kanonischer« Leitfaden durch die Systematik des Porphyrios ist das B chlein unentbehrlich, — ein Vorl ufer der στοιχείωσις θεολογική des Proklos. 23 P. HENRY, Plotin et l'Occident, L wen 1934, und: Vers la reconstitution de Tenseignement oral de Plotin, Bull. Acad. Belgique, classe de lettres 23 (1937) 320ff. Gegen die Grund-These W. THEILER, Byz. Ztschr. 41 (1938) 174ff. und H. D RRIE, GGA 200 (1938) 526ff. 24 W. THEILER, Porphyrios und Augustin, Schriften der K nigsberger Gelehrten Gesellschaft 10 (1933). 25 P. COURCELLE, Les Lettres Grecques en Occident2 (1933), (1948) 137ff. vor allem 169, und: Plotin et St. Ambroise, Revue de philologie 24 (1950) 29—56. 28 Sicher bezeugt ist nur die bersetzung der quinque voces des Porphyrios durch MARIUS VICTORINUS, vgl. oben S. 39 und die Boethius-Ausg. von BRANDT, S. XIV. Davon abgesehen ist AUGUSTIN, confess. 8, 2, 3 einziger Zeuge daf r, da es bersetzungen aufs Metaphysische gerichteter Schriften gab. 27 AUGUSTIN, conf. 8, 2, 3. 28 AUGUSTIN, civ. Dei 10/29 Ende. 29 P. COURCELLE, Les Lettres Grecques en Occident 169.

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dieser Lage der Dinge hatte AMBROSIUS selbst keine Bedenken, in einer um 386 gehaltenen Predigt sich sehr stark an die plotinische Schrift Enn. I 6 Über das Schöne anzulehnen30 Thema der Predigt, die als Schrift De Isaac et anima erhalten ist31 ist der Aufbruch (fuga) vom Diesseits ins Jenseits; hinter den Formulierungen Plotins steht der im Platonismus so oft erörterte Ausdruck (PLATON, Theait. 176 A). P. CouRCELLE32 hat über mehrere Seiten hin die sich berührenden Stellen konfrontiert; dabei sind die Berührungen so eng, daß der — an sich nie müßige— Verdacht, eine Mittelquelle könne zwischen Plotin und Ambrosius stehen, kein Fundament gewinnt. Eigenartiger Weise haben gerade die stark von Plotin her gefärbten Stellen in De Isaac et anima einen solchen Eindruck auf Augustin gemacht, daß er sie noch in seinen letzten Lebensjahren wörtlich zitierte33. Seit KLEMENS34 ließ sich der Satz vertreten: »Was die Platoniker an Richtigem bieten, haben sie aus dem Gesetz Mosis oder aus dem Evangelium (namentlich dem 4.) herübergenommen.« Wie weit man nun neuplatonisches Gut christlicher Homiletik nutzbar machen konnte, zeigte jene Predigt des AMBROSius3* mit aller Deutlichkeit; und diesen Hinweis hat Augustin ganz offensichtlich im selben Jahr, als die Predigt gehalten wurde, aufgenommen und ihn sich fortan zunutze gemacht. Natürlich muß die überspitzte Formulierung »er sei zum Neuplatoniker, nicht zum Christen bekehrt« worden, aufgegeben werden. Diese Formel wäre nur sinnvoll, wenn das in Mailand einen Gegensatz bedeutet hätte; richtiger muß man sagen, daß Augustin durch ein solches Beispiel darüber belehrt wurde, was sich dem Neuplatonismus abgewinnen ließ, •wenn man sich mit der Religion Manis auseinandersetzen wollte. In der Abwehr des Manichaeismus waren Platonismus und Christentum seit einem Jahrhundert verbündet — und das auch im Osten. Das Beispiel des ALEXANDER VON LYKOPOLis3' zeigt es. — Die viel diskutierte Frage, welche neuplatonischen Bücher Augustin denn sicher gelesen hat, ist durch P. CouRCELLE37 der Klärung ein gutes Stück näher gebracht. Gerade in der Zeit, als der Neuplatonismus ihm viel bedeutete, hat er gewiß keine neuplatonische Schrift auf Griechisch gelesen; ob er später je Plotin im Original in der Hand gehabt hat, ist nach wie vor unsicher. Was Übersetzungen anlangt, so kann nur Besitz und Lektüre von Plotin Enn. I 6 wahrscheinlich gemacht werden — also eben jener Schrift, die AMBROSIUS von der Kanzel herab (so darf man fest sagen) empfohlen hatte. Diese plotinische Schrift hatte offenbar um 386 (Datum der Homilie, die zur Niederschrift von De Isaac et anima führte) in Mailand eine gewisse Aktualität gehabt; ob nun AMBROSIUS, ob MARIUS VICTORINUS, oder ob beide zugleich sie zu dieser Bedeutung erhoben haben, kann nicht untersucht werden. Wenn man von dieser Ausnahme (die für Augustin zugleich ein Modell-Fall der Aneignung wurde) absieht, so herrscht im übrigen die Nachwirkung des Porphyrios. Fast 30 Die Schrift »Über das Schöne« = Enn. I 6 ist die erste Schrift Plotins in historischer Reihenfolge. Beruht die hohe Bedeutung, welche die Schrift für Augustin (vgl. unten S. 40) und für Ambrosius gewann, darauf, daß sie an der Spitze einer nicht-porphyrischen Ausgabe stand ? Möglich, aber ebenso gut ist an Einzel-Ausgabe dieser Schrift oder (was Augustin betrifft) an Einzel-Übersetzung zu denken. 31 Die Schrift ist herausgegeben von SCHENKL, CSEL 32,1. 32 Diese das ganze Problem sehr fördernde Entdeckung wird P. COURCELLE verdankt, Plotin et S. Ambroise 31—41. 33 Vor allem in: Contra lulianum Pelagianum l, 9, 44, PL 44, 671; vgl. P. COURCELLE a. O. 48 A 1. 34 KLEMENS AL., protr. 99 und Strom. I 37. 35 Das gilt auch — nur mit weniger durchschlagenden Beweisen — für die Schrift De bono mortis. Viel Neuplatonisches enthält De Abraham II. Ausgesprochen mittelplatonisch ist indes die Reminizenz im Eingang von AMBROSIUS' Hexaemeron. 38 Hrsg. von A. BRINKMANN, Lpz. 1895. 87 P. COURCELLE, Les Lettres Grecques en Occiden 137—73.

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regelmäßig ist er da gemeint, wo die Platonici genannt werden. Nicht mit Unrecht durfte man sich sagen, daß man in Porphyries! Werken miteinbegriffen die übrigen mitbesitze. Und so muß — gegen PAUL HENRY'S These, aber im Verfolg von W. THEILERS Gedankengängen — daran festgehalten werden, daß die vermeintliche PlotinNachwirkung im Westen — vor allem auf Augustin — in Wahrheit Porphyries' Nachwirkung ist. Die Gedankengänge THEILERS gipfeln in folgendem Arbeitssatz, dessen Gültigkeit gerade einige kleine Entdeckungen, die P. COURCELLE gelungen sind, bestätigen38. Er lautet: »Erscheint bei einem nachplotinischen Neuplatoniker ein Lehrstück, das nach Inhalt, Form und Zusammenhang sich mit einem solchen bei Augustin vergleichen läßt, aber nicht, oder nicht im selben Maß mit einem bei Plotin, so darf es als porphyrisch gelten«39. Gegen diesen Satz ist nicht wenig polemisiert worden; er erlaubt es, gestützt auf Analogien in erhaltenen Schriften Porphyries' und gestützt auf genaue Analysen der Gliederung, namentlich in De vera religions, aber auch in De trinitate große Stücke als stark porphyrisch gefärbt zu erweisen: Vor allem die Stoff-Anordnung und der Beweisweg stammen aus Porphyries. THEILERS Verfahren hat Befremden erregt, weil das Verhältnis »Quelle-Nachbildung« sich nicht in üblicher Weise Satz um Satz darstellen läßt. Mir erscheint es aber gerade darum als legitim, weil es Augustins Arbeitsweise erkennen läßt; ja, man darf abschließend sagen, eine andere Arbeitsweise war für ihn gar nicht gegeben40.

Über Augustins Verhältnis zum Neuplatonismus (und das ist immer speziell Porphyries) stand der Satz, den SIMPLICIANUS ihm gesagt hatte: In den neuplatonischen Schriften sei auf allerlei Art Gott und Gottes Wort enthalten — in istis autem omnibus modis insinuari Deum et eius verbum. Dieser Satz ist ein Leit-Wort geworden, wie Augustin Porphyrios las und wie er ihn lesen wollte: Immer wieder sehen wir ihn vom theologischen Gehalt in den Schriften des Porphyrios ausgehen; immer wieder macht er sich die rationale Begründung, sehr oft das Dispositions-Schema zu eigen. Das hindert ihn allerdings niemals, dem porphyrischen Gedankengang das speziell Neuplatonische zu nehmen und ihm die Wendung ins Christiische zu geben. — IX. Plotins Philosophie war reine Theorie und er selbst war reiner Theoretiker. Dem Porphyrios dagegen genügte es nicht, durch immer neue Nachweisungen die Berechtigung jener Stufen-Pyramide zu sichern; sondern er empfand das Bedürfnis, im einzelnen, und wo nur möglich mit wissenschaftlicher Fundierung darzustellen, wie der Aufstieg zum 88

So der Nachweis von Porphyrios als Quelle für Claudianus Mamertus, COURCELLE a. a. O. 231—35; zugleich wird Porphyrios als Quelle für Macrobius erneut wahrscheinlich. 39 W. THEILER, Porphyrios und Augustin 4. 40 Zur Arbeitsweise: Es lohnt sich, zu vergleichen, welch andersartige Beweislast Augustin Zitaten aus Apuleius zumutete als solchen aus Porphyrios. Zitate aus Apuleius dienen zumeist der punktuellen Stützung, oder sie dienen als Punktziel für eine Widerlegung. Dagegen rührt die Benutzung des Porphyrios viel mehr ans Grundsätzliche.

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Höchsten vorgenommen werden müsse. Gewiß war das eine Frage, an der Plotin nicht völlig vorübergegangen war; gerade in der von Porphyrios als abschließend an den Schluß gestellten Schrift VI 9 gibt auch Plotin Hilfsmittel für den »Nachzügler« an, um das Telos der Vereinigung zu erreichen — aber im ganzen ist Plotins seelsorgerliches Interesse gering; vor der Notwendigkeit, die Wahrheit zu erweisen, tritt der psychagogische Zweck, sie anderen Suchenden zugänglich zu machen, zurück. Hier aber ist ganz Porphyrios' Domäne; an dieser Fragestellung war er innerlich ganz stark beteiligt. So st eilte erder theologia theoretica des Plotin eine theologia practice, zur Seite. Nachdem das Ziel gezeigt war, wies er auf die Mittel hin, mit denen es erreicht werden kann. Die gefühlsmäßige Grundlage für die Wahl dieser Thematik liegt in der niemals gering einzuschätzenden Erlösungssehnsucht gerade eines rational veranlagten Menschen wie Porphyrios es war. Die gedanklichen Grundlagen entnahm er dem platonisch-pythagoreischen Uberlieferungsgut; er war viel zu konservativ, als daß er erneuert hätte. Nihil innovetur, nisi traditum est — das gilt bereits für Porphyrios und seinen Neuplatonismus. Seine Gedankengänge hierzu verlaufen etwa so: Wohl gilt für diskursive Erkenntnisse, daß jeder sie bei genügender geistiger Konzentration erwerben kann. Aber das gilt nicht für Erkenntnisse im Bereich des Metaphysischen. Diese schenken sich nur dem, der in seiner Reinheit ihrer würdig ist. Denn wenn der Welt-Nous etwas vollkommen Reines, aller irdischen Fehlhaftigkeit Entrücktes ist, so kann nur ein reiner Mensch mit einer reinen Seele ihn erfassen. Diese Forderung ergab sich von selbst aus der allem Hellenentum selbstverständlichen Erkenntnistheorie similia similibus. Allerdings vermochte Porphyrios hierbei den einen Schritt nicht zu tun, den Augustin civ. Dei 10, 29 mit berechtigter Kritik von ihm fordert. Porphyrios kommt ganz nahe an den Punkt heran, an dem er die Gnade Gottes postulieren müßte. Er tut diesen Schritt aber nicht und er kann ihn nicht tun; denn für ihn ist das Höchste Göttliche von allen Affekten frei, kein Erbarmen, kein Helfen-Wollen kann ihm zugeschrieben werden, denn es bezieht sich niemals auf die Seins-Ordnungen unter ihm. Der Schritt, den Augustin hier über Porphyrios hinaus tat, war ein entscheidender Schritt. Aber er konnte nur von dem Fundament aus getan werden, das Porphyrios gelegt hatte. Derlei Gedanken standen in dem Werke de regressu animae, das zu großen Teilen aus Augustin zurückgewonnen werden kann — J. BiDEZ im Anhang seiner Monographie La vie de Porphyre, Gent 1913 hat die Rekonstruktion unternommen. Das Erreichen des Heils ist nichts

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anderes als die Selbstverwirklichung eines jeden. Denn jeder Menschenseele ist ein Funken des mitgegeben, der dem Welt-Nous real und immer identisch ist. Dies ihr eigentliches Wesen soll die Seele wieder Wirklichkeit werden lassen. Denn ihre jetzige Existenz ist Unwirklichkeit. Sie ist von der ursprünglichen Einheit abgefallen und hat sich zur Teil-Existenz individualisiert. Ihre Aufgabe ist es, ihren Platz in der himmlischen Heimat, beim Vater wieder einzunehmen — es sind dies neuplatonische Worte = Plotin I 6, 8, Porphyrios De abst. 107, 24 ff. u. ö.; Augustin entnimmt sie dem Porphyrios in folgendem Wortlaut: omne corpus esse fugiendum ut aniam possü beata permanere cum Deo. (civ. DU 10, 29)«. Es ist kaum notwendig, auszusprechen, was in dieser ErlösungsLehre an mittelalterlichem Gut vorbereitet ist: Hier liegt ein tüchtiges Stück der theologischen Fundierung von Mönchtum und Askese — und unbeschadet der Neuwendung, die Augustin durch die Begriffe Erbsünde und Gnade bewirkte, ist es wichtig, darauf hinzuweisen, daß das Fundament von Porphyrios gelegt ist. Denn hierbei handelt es sich keineswegs um zufällige Übereinstimmungen aus analoger Denk-Haltung heraus. Sondern es läßt sich zwingend der Nachweis führen, daß Augustin als Lernender gerade in dem zur Rede stehenden Gebiet sehr viel von Porphyrios übernommen hat — im ganzen methodisch, in den Einzelheiten der Erlösungslehre zugleich der Sache nach. Das ist kein Wunder: Denn die erste theologische Schulung erhielt Augustin durch Schriften des Porphyrios. Und diese Schulung hat er nie verleugnet oder abgelegt. X.

Wie tief das ging, ist früher kaum ermessen worden. Hier hat W. THEILER mit der schon mehrfach zitierten Schrift einen wirklichen Durchbruch erzielt. Er hat mehrere Schriften Augustins, De vera religione und De trinitate, aber auch die Confessiones mit erhaltenen Werken, des Porphyrios, namentlich mit den 6$ verglichen. Das Ergebnis war zunächst bestürzend: So eng ist die Abhängigkeit Augustins von seinem Vorbild. Freilich durfte dies nicht verwundern, wenn man die Gültigkeit des imitatio-Gesetz&s in Betracht zieht: Gerade die Schrift De vera religione—soviel hat Theiler unzweifelhaft nachgewiesen — ist die Umsetzung der Erlösungslehre aus neuplatonischem in christlichen Geist. Der erste Teil in De vera religione scheidet die geringere Existenz in Sündigkeit und Gottferne von der höheren Existenz in Gottnähe, 41

Auch in den retractationes I 7 (zu den soliloquia) CSEL 36, 24, 7 KNÖLL weist Augustin ausdrücklich auf Porphyrios, nicht auf Plotin als den Urheber dieses Wortes — wie wohl er es Enn I 6,8 hätte lesen können. —

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Gl ubigkeit und Seligkeit. Welche Umsetzung ist hier vor sich gegangen ? Wenn Porphyrios daran festh lt, da seine ontologische Ordnung nach Stufen der Erkenntnis geordnet ist, so ist das schon beinahe eine Fiction. Denn in Wirklichkeit ist das, was Porphyrios mit jenem Ausdruck — νόησις — mit Erkenntnisbereitschaft und Erkenntnisf higkeit meint, dem christlichen Glaubensbegriff viel enger verwandt als dem, was Platon einst damit meinte. Im Negativen ist Porphyrios da viel klarer, fast m chte ich sagen ehrlicher: In den sent. 30,2 erkl rt er die verfluchte Ungl ubigkeit — λοιδορουμένη απιστία — von Seiten der Menschen f r den Kern des bels, f r die Ursache aller Zwiesp ltigkeit, aller Antagonismen, aller Unzul nglichkeit, kurz alles dessen, was der Neuplatoniker Zweiheit nennt. Porphyrios wie Augustin fordern die v llige Ausrichtung, ja Unterwerfung des Menschen unter ein abstraktes G ttliches. Wo diese Beziehung besteht, ist der Mensch positiv gerichtet, wo sie nicht besteht, herrscht Wahn und Fehlhaftigkeit. Schon bei Porphyrios, schon bei Plotin ist neben dem rein rationalen Verst ndnis, neben der Unterscheidung von Wahrheit und Irrtum ein anderes Organ des Erkennens herangewachsen; ein Organ, das auch Wahrheit und Irrtum scheidet — aber nicht auf der Basis der diskursiven ratio, sondern auf Grund seiner urspr nglichen, oft keimhaft verborgenen Verwandtschaft mit dem Urg ttlichen. Die hierdurch vermittelte Erkenntnis steht in ihrer ontologischen Wertung f r den Neuplatoniker ber der diskursiven Erkenntnis, ist aber dem Wesen nach dasselbe. Augustin ist einen kaum merklichen Schritt dar ber hinaus gekommen; neben und ber den beiden werthaft gestuften Begriffen ratio und intellectus steht f r ihn fides — der Glauben. Im Grunde ist damit nur etwas ausgesprochen, was bei Porphyrios greifbar vorhanden ist. Nicht anders hat CICERO die philosophischen Probleme — mochten sie von Stoikern oder Akademikern g ltig formuliert sein — den R mern seiner Zeit gedeutet und sie in r mische Denkbahnen umgesetzt. Im gleichen Sinne benutzt Augustin den Raum und die Denkbahnen dieser porphyrischen Philosophie; er benutzt die Stufung der SeinsFormen, um damit darzustellen, auf welcher Wertstufe sich der gottferne, auf welcher der gottnahe Mensch befindet; zugleich ist dies die Stufung, auf welcher der Mensch vom Elend zur ευδαιμονία aufsteigt. In allen diesen Dingen ist Augustin dem Porphyrios ganz stark verpflichtet. Selbstverst ndlich hat er diese Gedankeng nge im christlichen Sinne vervollkommnet. Der neuplatonische Begriff von der vernunftwidrigen Schlechtigkeit der Materie hat sich zum Begriff von der Erbs nde gewandelt; wichtiger noch, die Vollendung erfolgt durch das Walten der Gnade. Anfang und Ende jenes vielfach gestuften Weges sind somit ganz christlich verstanden. Der Weg selbst aber ist von Porphyrios gebahnt worden.

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Das gleiche Bild ergibt sich bei der Betrachtung der confessiones. Gewiß enthalten diese im Hauptstück, Buch l—9 die Schilderung vom Aufstieg Augustins zum christlichen $. Aber die Vergleichung der Motive im einzelnen wie die Gliederung des Ganzen lehren unabweisbar, daß dies Buch ohne den Vorgang des Porphyries nie so geschrieben worden wäre; hier erscheinen THEILERS Nachweisungen unwiderleglich. XL Was lehrt dies Ergebnis ? Keineswegs streicht es Augustin aus der Reihe selbstständiger Denker aus; das trifft auch für diejenigen Schriften nicht zu, die (wie sich gezeigt hat) ganz eng an Porphyries angelehnt sind42. Keineswegs macht dies Ergebnis Augustin zum Neuplatoniker im speziellen Sinne, wie es etwa ALFARic43 zu formulieren suchte. Wenn man dies Neuplatonismus nennen will, so war es Neuplatonismus in einem sehr weiten Sinne: Es war ein Neuplatonismus, in dem die Persönlichkeit und Allmacht Gottes (und nicht das Höchste Eine als ein Unpersönliches), die Menschwerdung Christi und damit die Hinwendung der göttlichen Gnade auf den Menschen (und nicht die Apathie des höchsten Prinzips) einen selbstverständlichen Platz hatte. Aber diese Korrekturen markanter neuplatonischer Lehren wurden nicht so aufgefaßt, als ob sie einer Herübernahme neuplatonischer Denk-Ergebnisse im Übrigen im Weg stünden: Bei der selbstverständlich stets gehandhabten Korrektur porphyrischer Ergebnisse scheute man sich nicht, ihm auf den Denkwegen, die er eingeschlagen hatte, zu folgen. Kurz, diese Ergebnisse zeigen Augustin im vollen Besitze der porphyrischen Schulung zum Denken; und er weiß dies von Porphyries Erlernte so zu handhaben, daß er damit neue, vom Platonismus nicht berührte Gebiete erschließt: Das Problem des Aufstieges wird durch den Begriff Gnade erleuchtet. Das Problem der Gott-Erkenntnis wird aus der bisherigen Bindung an die Vernunft gelöst: Das Gott verwandte, weil auf Gott bezogene Organ des Erkennens ist der Glaube. Endlich bezieht sich die porphyrische Heilslehre durchaus auf den einzelnen — kein Gedanke, eine Gemeinschaft von Menschen könne sich daran machen, zusammen das Heil zu erwerben. Hier bietet Augustins Staats- und Gesellschaftslehre die fast notwendige Ergänzung: Nicht der Mensch allein, sondern alle Formen seiner Gemeinschaft stehen zum Heil in einer Beziehung; sie sollen darauf hinführen, können aber, falsch angewendet, zum Abfall und zum Unheil werden. Und indem Augustin Staat und Gesellschaft dem Heilsplan und seiner Vollendung unterordnet, gelangt er zu machtvoller Ausformung eines christlichen 48

Für eine Reihe weiterer Werke, namentlich der Frühzeit, aber auch für nicht unerhebliche Stücke aus der civitas Dei ist dieser Nachweis noch zu führen. 43 P. ALFARIC, L'eVolution intellectuelle de St. Augustin (1918) 179.

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Geschichtsbildes44. Hier liegt seine Leistung klar zutage; denn ein Verhältnis zur Geschichtlichkeit hatte der Platonismus nie gewonnen, da er nur aufs Sein, nie aufs Werden blickt. Nur Weniges kann angedeutet werden; denn reich, sehr reich ist Augustins Anwendung porphyrischer Ordnungs-Prinzipien. Dabei darf es nicht so angesehen werden, als ob Augustin nur in einer Übergangszeit seiner Jugendjahre Leser und Schüler des Porphyries gewesen wäre. Sondern immer wieder, und wahrscheinlich planmäßig, kehrte er zur Porphyries-Lektüre zurück; in der civ. Dei sind im Buch 10 und im Buch 19 wichtige Stücke porphyrisch. Und das hatte seinen guten Grund: Denn bei Porphyrios fand er immer wieder solche Gedankenreihen, die geeignet waren, drängende Probleme zu klären: Immer wieder erwies sich die enge Verbindung zum Denken des Porphyrios als geradezu notwendig. XII. Die Nachwirkung des Porphyrios läßt sich in drei Aspekten aufzeigen. Zunächst wird sie sichtbar in enger Umgrenzung, insofern Porphyrios dem Mittelalter die aristotelische Kategorienlehre, und damit das Herzstück der Logik, vermittelte, weiter läßt sich zeigen, was der kühne Wurf der plotinischen Theologie bedeutete für alle, die auf diesem Wege nachfolgten; es genügt, auf MARIUS VICTORINUS und BOETHIUS zu verweisen. Vor allem aber muß die innere Verwandtschaft zwischen Porphyrios und Augustin hervorgehoben werden. Denn auf diesem Wege hat sich der Einfluß des Porphyrios dem Mittelalter am eindringlichsten mitgeteilt. Wenn Augustin hier als ein Schüler des Porphyrios dargestellt wurde, so soll das — ich deutete es mehrfach an — weder seine Selbständigkeit noch seine Bedeutung schmälern. Nur muß gesägt werden, daß die mittelalterliche Geistesgeschichte, die durch Augustin die entscheidene Richtung erhielt, in manchem gerade jene porphyrische Komponente mit erstaunlicher Folgerichtigkeit fortführt. Die Schulkämpfe der Scholastik werden zum guten Teil mit porphyrischen Argumenten ausgefochten. Der Aristoteles, den man so gern als Autorität anruft, ist porphyrisch gesehener Aristoteles. In der Scholastik kam es zu neuer Berührung des Abendlandes mit neuplatonischem Denken.46 Erst HILDUIN von St. Denis, dann JOH. SCOTUS ERIUGENA 44

Hierzu ist zu vergleichen C. ANDRESEN, Logos und Nomos, die Polemik des Kelsos wider aas Christentum, Bln. 1955. Besonders klärend ist dieses Buch in allem, was zum Geschichtsbild Justins (hierin eines Vorläufers von Augustin) gesagt ist, 354—372; gut auch die Darstellung von der Unfähigkeit der Platoniker, zu geschichtlichem Denken vorzustoßen. Vgl. m. Rez. Gnomon 1957, S. 185—192. 46 Hierzu ist nochmals auf den Aufsatz von Jos. KOCH zu verweisen: Augustinischer und dionysischer Neuplatonismus und das Mittelalter; Kant-Studien 48 (1956) 117 — 133.

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übersetzten den DION YSIOS AREOPAGITA—durch die Schule vonChartres wurde der Timaios, durch WILHELM VON MOERBEKE wurde PROKLOS neu zugänglich gemacht. Diese Berührungen waren außerordentlich fruchtbar; sie brachten neues Material bei, bekräftigten aber die scholastischen Diskussionen einerseits und die Entwicklung der Mystik andererseits in der schon zuvor eingeschlagenen Richtung. Diese Richtung der mittelalterlichen Geistesentwicklung wäre gewiß nicht eingeschlagen worden, und sie wäre nicht die herrschende geblieben, wenn nicht gerade in Augustin so sehr viel von jener Denk-Richtung vorbereitet gewesen wäre; von ihm aus ist die starke porphyrische Komponente über die Jahrhunderte hin mehrfach fruchtbar geworden. Vielleicht kann diese Betrachtung lehren, die Ursprünge des Mittelalters aus einer Synthese herzuleiten. Mit Recht ist Augustin der Vater des Abendlandes genannt worden, denn er hat jene fruchtbare Synthese hergestellt; er hat aus den christlichen Begriffen der Gnade und der Erlösung, der Offenbarung und des Glaubens ein christliches Denkgebäude aufgerichtet, ein christliches Geschichtsbild gezeichnet und eine christliche Ethik begründet, wie es keiner der griechischen Kirchenlehrer vermochte. Aber dabei ist als ganz wesentlicher Beitrag einzuschalten: was die begriffliche Klärung vom Wesen des Transzendenten anlangt, und was die Stufungslehre als Ordnungsprinzip anlangt, konnte dies Gebäude nicht errichtet werden, wenn man nicht Porphyrios und seine Leistung mit einbezog. Porphyrios war der letzte griechische Denker, der den Westen in fundamentaler Weise beeinflußt hat. Durch Augustin hindurch ist er der Mitbegründer der abendländischen Theologie gerade da geworden, wo sie sich von der des Ostens unterscheidet.

SAINT THOMAS ET LE STOICISME Par GERARD VERBEKE On sait depuis longtemps que saint Thomas est arrive a construire une vaste synthese entre la philosophic d'Aristote et la pensee chretienne. L'inspiration fondamentale de sä metaphysique, de sä psychologie et de sa morale se trouve dans la doctrine du Stagirite: ceci ne veut pas dire que saint Thomas aurait repris, sans les modifier et sans les revoir les theses de son grand predecesseur. Bien au contraire, la synthese magistrale d'Aristote a ete repensee, corrigee et completee de teile maniere qu'elle s'harmonise parfaitement avec la doctrine chretienne. Meme dans ses commentaires, ou le Docteur Angelique cherche ä devoiler la pensee authentique de son maitre grec avec une objectivite et une serenite remarquables, on n'assiste pas a simple travail d'hermeneutique: la aussi le philosophe medieval ne cesse de prendre position personnellement vis-a-vis de la doctrine d'Aristote, pour y apporter des corrections et pour resoudre des questions laissees en suspens. La philosophic de saint Thomas se presente ainsi comme le developpement organique et vital de la doctrine aristotelicienne, repensee et reprise dans un autre contexte historique, et enrichie par 1'apport de plusieurs siecles de reflexion humaine. On peut se demander pourquoi saint Thomas a choisi comme base de sa reflexion philosophique la pensee d'Aristote, de preference a d'autres systemes philosophiques de l'antiquite, nous visons particulierement le platonisme et le stoicisme. Car tout dans 1'aristotelisme ne se pretait pas a une synthese harmonieuse avec la doctrine chretienne: signalons ä titre d'exemples la doctrine d'Aristote sur l'eternite du monde, son attitude negative vis-ävis de la providence, sa theorie de 1'intellect actif et du caractere mortel de l'äme humaine, son eudemonisme purement naturaliste dans le domaine de la morale; tous ces points de doctrine, et us ne sont pas sans importance dans le Systeme aristotelicien, ne se pretaient pas du tout a une incorporation harmonieuse dans la pensee chretienne. Sous bien des rapports, le platonisme se serait mieux prete ä servir de charpente ä l'elaboration rationelle de la foi chretienne: nous savons d'ailleurs que 1'aristotelisme, tel qu'ü s'est offert ä saint Thomas, n'etait pas pur et authentique ä tout point de vue, que d'autres influences, telles que le neoplatonisme, 1'avaient contamin6; signalons surtout le Liber de causis, dont saint Thomas a appris bien tard la veritable origine et qu'il a considere longtemps comme un ouvrage

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aristotelicien1. On comprend plus facilement que saint Thomas ait choisi I'aristotelisme comme base de s reflexion philosophique, si on tient compte de la maniere dont cette philosophic s'est presentee a lui vers le milieu du XHIe siecle. Le stoicisme a domine durant cinq siecles la culture du monde antique; pendant toute la periode hellenistique depuis le debut du Ille siecle av. J. C. jusqu' la fin du lie siecle apres J. C. il a exerce une influence des plus profondes sur la vie des individus et des peuples. Aucun autre courant philosophique n'est aussi important durant cette periode, a tel point que la pensee stoicienne constitue Tar-mature philosophique de la plupart des intellectuels de cette epoque. L'avenement du christianisme se situe au cours de cette periode et il n'est pas etonnant que plusieurs penseurs Chretiens aient essaye timidement de concilier leurs convictions religieuses avec la philosophie du Portique. On ne peut pas dire cependant que ces essais ont ete couronnes de succes. Plusieurs theses stolciennes etaient manifestement incompatibles avec la doctrine du Christ: un des dogmes fondamentaux de la philosophie du Portique depuis les debuts, c'est le materialisme; on pourrait signaler en outre le pantheisme de cette philosophie, sa doctrine du retour cyclique des memes evenements dans l'histoire du monde, sa theorie de la survie limitee de 1' me et une sorte de fatalisme universel. Sur tous ces points de doctrine 1'opposition entre le stoicisme et le christianisme etait insurmontable. Bien que les philosophes du Portique aient elabore une morale qui se rapproche de l'Evangile sur bien des points, on doit reconnaitre que cette philosophie est inconciliable avec le christianisme dans ses principes essentiels. On ne s' etonnera done pas que saint Thomas n' ait pas fait appel au Systeme stolcien pour servir de charpente sa grande Synthese de la doctrine chretienne, mais qu'il se soit tourne plutot vers un aristotelisme, mitige de neoplatonisme. II n'en reste pas moins vrai que saint Thomas a trouve le stoicisme sur son chemin et qu'il a ete oblige de prendre position vis- -vis des grandes theses de cette philosophie. Notons des l'abord que dans la rencontre de saint Thomas avec le stoicisme il s'est produit un phenomene analogue celui de sa rencontre avec le neoplatonisme: celui-ci ne s'est pas toujours presente au Docteur Angelique sous son veritable nom, mais parfois sous le nom d'Aristote. II en est de meme du stoicisme: ce courant philosophique a penetre dans la pensee du saint Docteur par le truchement de certains ouvrages dont il ne εουρςοη^ΐί pas toujours I'origine veritable et la physionomie reelle. II en resulte qu'il faudra faire au cours de cet exposo une distinction entre 1'influence consciente et 1'influence inconsciente du stoicisme sur la philo1

Sancii Thomae de Aquino super Librum de causis ex-positio, ed. H. D. SAFFREY (Textus Philosophie! Friburgenses, 4/5). Fribourg et Louvain, 1954, p. 3. W i l p e r t , Med. I

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Gorard Verbeke

sophie de saint Thomas. Nous entendons par «influence consciente» celle qui fut exercee par des textes dont le saint Docteur a reconnu la veritable physionomie; ä propos de cette influence, on doit se demander jusqu' oü s'etend la connaissance que saint Thomas possede de la pensee stoicienne. Aborde-t-il frequemment des problemes propres ä la Philosophie du Portique, et possede-t-il une information assez approfondie sur les theses fundamentales de cette ecole, ou bien son information est-elle plutöt superficielle ? On peut se demander aussi par quel biais lui est arrivee cette connaissance: a-t-il pris connaissance directement de certains ouvrages ecrits par des philosophes stoiciens, ou bien se base-t-il sur des renseignements donnes occasionellement par CICERON, saint AUGUSTIN, BOECE, NEMESIUS, ou les commentaires grecs sur Aristote, traduits en latin par son confrere GUILLAUME DE MOERBEKE ou par ROBERT GROSSET£TE ? L'influence inconsciente est celle qui fut exercee par des ouvrages dont saint Thomas n'a pas reconnu la veritable nature: on devra se demander notamment si le saint Docteur n'a pas utilise des exposes de Philosophie stoicienne, sans qu'il se soit rendu compte de l'origine des idees qu'il avait devant lui. Ce phenomene n'aurait rien d'invraisemblable, et nous savons qu'il s'est produit pour un autre courant philosophique, ä savoir le neoplatonisme. C' 'est pourquoi saint Thomas etait moins aristotelicien qu'il ne le pensait lui-meme. La suite de cet expose nous montrera qu'un phenomene analogue a eu lieu en ce qui concerne le stoicisme: saint Thomas 1'a trouve sur son chemin sans le reconnaitre. Nous n'entendons nullement par la que toutes les conceptions stoiciennes, s'offrant sous une autre etiquette, ont ete reprises et accueillies par le Docteur Angelique: celui-ci a fait un depart judicieux et nuance entre les differentes doctrines qui se presentaint a lui afin de decouvrir le noyau de verite, contenu en chacune d'elles. Disons des l'abord que saint Thomas ne distingue guere la physionomie particuliere de chacun des grands representants de l'ecole stoicienne, ä l'exception de SENEQUE, et ne se rend done pas compte des differences de doctrine entre les representants de l'ancien stoicisme (Zenon, Cleanthe, Chrysippe), ceux du moyen stoicisme (Panetius et Posidonius) et enfin ceux de 1'epoque imperiale (Seneque, Marc-Aurele, Epictete). Dans un nombre assez considerable de passages, il parle des stoiciens en general (STOici), sans tenir compte de 1'evolution delapensoe stoicienne depuis le fondateur de l'ecole ä travers les cinq siecles de son existence. II considere par consequent le stoicisme comme un ensemble de doctrines, ou plutöt comme une collection de theses qui ont ete avancees invariablement par les differents membres de l'ecole du Portique. Voici quelques points de doctrine attribues par lui aux stoiciens en general: d'apres saint Thomas les stoiciens seraient partisans du determinisme universel, n'atteignant pas seulement les

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evenements de la nature, mais aussi les actes humains; ceux-ci ne seraient done pas une exception au deroulement fatal de evenements du monde, mais ils y seraient inseres au meme titre que les autres episodes constituant l'histoire du cosmos et dependraient directement des mouvements et des positions des corps celestes: tout ceci est mis en rapport avec la doctrine stoicienne concernant la providence2. Dans un des passages ou il est question de ce determinisme universel de l'ecole du Portique, saint Thomas indique la source de son information ; c'est le De natura hominis (cap. 37; P. G. 40, 752) de NEMESIUS, ouvrage qu'il attribue faussement ä GREGOIRE DE NvssE3. Ce renseignement est-il exact ? On se trouve ici devant une des objections les plus repandues contre la philosophic stoicienne; sans doute aucun des representants de l'ecole ne l'aurait admise, car la negation de la liberte humaine est par le fait meme la negation de la morale, qui constitue la piece maitresse du Systeme stoicien. Et cependant les philosophes du Portique admettent la Sympathie universelle, la doctrine de la divination, la conflagration du monde et le retour cyclique des memes evenements: toute revolution du monde est determinee selon eux par un Logos immanent, un pneuma createur qui penetre toutes choses et dont I'homme egalement porte en lui une petite parcelle. 1'ame humaine est done une parcelle du Logos divin qui anime 1'univers et qui est ä la source de tout ce qui se passe dans le monde. En concluront-ils que rhomme n'est pas libre? En aucune maniere, puisque l'essentiel de leur morale consiste dans la conformite ou 1'har2

Summa contra Gentiles, III, 85: Per haec autem excluditur positio Stoicorum, qui ponebant omnes actus nostros et etiam electiones nostras secundum corpora caelestia disponi. — De divinis nominibus, III, No 241 (ed. C. PERA) ; quidam vero extenderunt divinam Providentiam usque ad omnia, sed dixerunt ex divina Providentia res omnes necessarios eventus nähere, totaliter a rebus contingentiam auferentes, et haec fuit opinio Stoicorum ponentium, secundum inevitabilem causarum seriem quam fatum nominabant, omnia ex necessitate contingere. — In Peri Hermeneias, I, 14, no 185 (ed. SPIAZZI). 3 Summa contra Gentiles, III, 73: Per haec autem excluditur opinio Stoicorum qui secundum ordinem quendam causarum intransgressibilem quern graeci ymarmenen vocabant, omnia ex necessitate dicebant provenire. Au cours de son commentaire sur le Peri Hermeneias saint Thomas aborde le critique des notions stoi'ciennes de nicessaire, d'impossible et de possible, Stoici vero distinxerunt haec secundum exteriora prohibentia. Dixerunt enirn necessarium esse illudquod non potest prohiberi quin sit verum; impossibile vero quod semper prohibetur a veritati; possibile vero quod potest prohiberi vel non prohiberi (I, 14, no 183, ed. SPIAZZI). L'auteur s'oppose ä ces conceptions pour deux raisons, d'abord parce que la distinction entre ces notions est faite a posteriori, c'est ä dire ä partir de eVenements: ce n'est pas parce que quelque chose se roalisera toujours, qu'U est nocessaire; en contraire, c'est parce qu'il est nicessaire, qu'il se realisera toujours. Ensuite les definitions sont faites a base d'oloments extrinseques et plus ou moins accidentels: ce n'est pas parce qu' un evenement n' est arrete1 par aucun obstacle qu' il est ndcessaire; c'est parce qu'il est necessaire, qu'aucun obstacle n'est en mesure de l'arriter.

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GυΐΝ21 wie auch noch bei MARTIN LUTHER", um nur diese zu nennen. In hnlicher Weise wie in ihren Darlegungen ber den Ursprung der Musik so berufen sich die Musikschriftsteller des Mittelalters auch in ihren u erungen ber die Heilwirkung der Musik sowohl auf die antike als auch auf die biblische Tradition. Die therapeutische Kraft der Musik wird im Musikschrifttum des Mittelalters best ndig entweder mit Asklepiades, einem antiken Arzt aus Prusa in Bithynien, oder aber mit David, durch dessen Harfenspiel der K nig Saul von krankhaften Wahnvorstellungen befreit worden sein soll, in Zusammenhang gebracht. David hat, wie es in gleichbleibendem Wortlaut immer wieder hei t, den K nig Saul von dem malignus Spiritus und von der daemoniaca fer as geheilt. Neben Asklepiades werden in diesem Zusammenhang gelegentlich auch die beiden bedeutendsten rzte der Antike, Hippokrates und Galenus, genannt. Ferner begegnen in den mittelalterlichen Musiktraktaten mehrfache Hinweise auf die prop deutische Wirkung der Musik, auf ihren Erziehungswert f r die Jugend. In diesen Hinweisen wird von den mittelalterlichen Musiktheoretikern stets Plato als Gew hrsmann zitiert, so von BoETHius23, HIERONYMUS VON M HREN24, ADAM VON FuLDA25 und 18 14 15 1β 17 18 19 20

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Πολιτεία IV 442a und 443d, IX, 591 d, Τίμαιο* 35a—37c, 47d. Πολιτικά VIII 5 1340b 17, Περί ψυχής Ι 4 407b 27—408a 29. Περί μουσικής, ed. F. Lasserre, lten und Lausanne 1954, cap. 23. Περί μουσικής, ed. A. JAHN, Berlin 1882, Π/5. Homilia de semente, Migne, Patrologia graeca = PG 28, 155, cap. 10. In psalmos, PG 44, 443, 1/3. Op. cit., GS I, 19, cap. 9. Op. cit., GS I, 20, cap. 3. De arte musica, ed. G. AMELLI, Mailand 1880. Brief an Ludwig Senfl, Luther-Gesamtausgabe, Briefwechsel V, Weimar 1934,635. Op. cit., PG 63, 1169, I/l. Tractatus de musica, COUSSEMAKER, Scriptores de musica = CS I, 17, cap. 8. Musica, GS III, 334, 1/2.

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Heinrich Huschen

GAFURius26. Der Gedanke des platonischen Bildungsideals der Kalokagathie, in dem die Musik eine hervorragende Stellung einnimmt, ist sonach im Mittelalter keineswegs gänzlich in Vergessenheit geraten, gleichwohl aber sehr stark in den Hintergrund getreten. Die Mehrzahl der Musikschriftsteller des Mittelalters steht in dieser Frage unter dem Einfluß der Kirchenschriftsteller, die den Erziehungswert der Musik lediglich und ausschließlich in der Hinlenkung des Menschen zum christlichen Glauben erblicken. In dem Ausspruch «Musica est instituta ad laudem Dei», wie er namentlich und vor allem in den Psalmkommentaren der Kirchenschriftsteller wortgetreu oder sinngemäß hundertfach vorkommt, ist die Zielsetzung der Musik im Rahmen des christlichen Bildungsideals des Mittelalters deutlich zum Ausdruck gebracht. Die Musik ist zur Dienerin der Theologie geworden und hat, wie THOMAS VON AguiN 27 bemerkt, als einzige von den enzyklischen Disziplinen die Pforten der Kirche durchschritten und in der Kirche Heimatrecht erhalten; ihr gebührt daher der Vorrang vor allen anderen Fächern des Triviums und Quadriviums. Mehr noch aber als in der Frage nach dem Ursprung und nach der Wirkung der Musik zeigt sich die Nachwirkung antiken Gedankengutes auf das mittelalterliche Musikdenken in der Auslegung der Musik. Unter Auslegung wird hier die Gesamtheit aller derjenigen Gedankengänge verstanden, die sich auf die Deutung ihres metaphysischen Seinsgrundes beziehen. Wenn in der Gegenwart von Musik gesprochen wird, so ist gemeinhin nicht ihr Urbild, sondern ihr Abbild, nämlich die klingende Musik gemeint. Nach dem Sprachgebrauch der Gegenwart erstreckt sich der Musikbegriff im allgemeinen vornehmlich und hauptsächlich auf den sinnlich wahrnehmbaren und feststellbaren Bereich der Musik. Gänzlich anders, ja gerade umgekehrt liegen die Verhältnisse in der Antike und im Mittclalter. Nach dem Sprachgebrauch der Antike und des Mittelalters bezieht sich der Musikbegriff namentlich und vor allem auf den übersinnlichen Bereich der Musik und erst danach auf die klingende Musik. Das Musikdenken der Antike und des Mittelalters erweist sich, insofern es in erster Linie die Deutung ihres metaphysischen Semsgrundes in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt, als durch und durch spekulativ. Die Musik ist in jener Zeit, wie sich hernach noch deutlicher zeigen wird, in erster Linie bzw. sctentia und darauf erst bzw. ars, An erster Stelle muß hier erwähnt werden die Anschauung vom Bestehen einer harmonischen Ordnung im Makrokosmos und im Mikrokosmos. Diese Auffassung, aus der sich einerseits die Lehre von der 28 27

Musica theorica, 1492, Faksimiledruck Mailand 1934, I/l. A. a. O.

Antike Einfl sse in der mittelalterlichen Musikanschauung

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Sph renharmonie oder musica mundana, andererseits die Lehre von der Leibseelenharmonie oder musica humana entwickelt hat, nimmt im Musikdenken der Antike und des Mittelalters breitesten Raum ein. Die Vorstellung von der Harmonie im Makrokosmos und im Mikrokosmos begegnet bereits in vorgriechischer Zeit, so bei den gyptern, Babyloniern, Indern und Chinesen. Sie wird von den Griechen bernommen und durch BofiTHius28, von dem die beiden Begriffspr gungen musica mundana und musica humana stammen, an das lateinische Mittelalter weitergereicht. Bei der Behandlung der musica mundana pflegen die Musikschriftsteller der Antike und des Mittelalters die Frage zu er rtern, ob es sich bei der Sph renharmonie um wirkliche, f r das menschliche Ohr h rbare T ne oder Kl nge handelt. Diese Frage wird von PLATO29 und den Pythagor ern sowie von AMBROSius30, JOHANNES ERiuGENA31, REGINO VON ΡκϋΜ32 und MARCHETUS VON PADUA" bejaht, von ARISTOTELES34 und den Epikur ern sowie von AURELIANUS VON REOME35, WALTER OoiNGTON36, JOHANNES DE GnocHEO37 und JACOBUS VON L TTICH38 verneint. Die Verfechter erkl ren die Entstehung vernehmbarer T ne oder Kl nge in der Sph re aus der best ndigen schnellen Bewegung, in der sich die Himmelsk rper befinden. Die Gegner begr nden ihre Ansicht mit dem Hinweis auf die in der Sph re fehlenden ton- oder klangleitenden Elemente wie Luft oder Wasser. — In der Lehre von der Sph renharmonie wird h ufig die siebenstufige Tonskala A H c d e f g mit der siebenteiligen Planetenskala Mond (([), Merkur ( — 76», Soph, elench. ll:171b/172a). Der Bericht über die Kreisquadratur des BRYSON (hierzu vgl. etwa Ruoio14) ist nicht ganz klar. Vermutlich trifft BECKER13 das Rechte, wenn er darauf hinweist, daß BRYSON nur einen Existenzsatz behauptet hatte, nämlich daß es ein zum Kreis üächengleiches Quadrat geben müsse, weil es ein einbeschriebenes kleiner als der Kreis und ein umbeschriebenes größer als der Kreis gebe. Das

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Jos. E. Hof mann

10. Die stärkste fachmathematische Begabung im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts ist LEONARDO von Pisa39 (1180?—1250?), ein genauer Kenner griechischer und arabischer mathematischer Texte. LEONARDO entstammt einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie, ist weltlich erzogen und hat seine reichen Kenntnisse auf weiten Reisen erworben. Er ist Schützling des Kaisers FRIEDRICH II., an dessen Hof er sich mit den Gelehrten in der Umgebung des Herrschers in erfolgreicher Disputation zu messen weiß. Trotzdem finden seine Schriften in den Klerikerkreisen, deren wissenschaftliche Interessen ganz anderer Natur sind, nur geringe Beachtung. In der Tat wäre aus ihnen nur wenig für die im Vordergrund der damaligen philosophischen Diskussionen stehenden Probleme zu holen gewesen. Ähnliches gilt wohl auch für JORDANUS NEMORARius40 (vielleicht um 1280), den Verfasser mehrerer algorithmischer Traktate, einer eigenartigen (vermutlich auf noch unbekannte arabische Vorbilder zurückweisenden) Geometrie und lateinischer Übersetzungen von griechischen Abhandlungen, die er vermutlich nicht aus dem Urtext, sondern aus arabischen Bearbeitungen kannte. Diese beiden Persönlichkeiten fallen mit ihren Interessen und ihrer Tätigkeit als Außenseiter völlig aus dem Rahmen der damaligen Zeit. Ihr Werk wird nicht von den einheitlich geschulten Wissenschaftlern, sondern erst von den Praktikern einer späteren Epoche aufgenommen. würde auch verständlich machen, was ARISTOTELES gegen HIPPOKRATES einzuwenden hatte: dieser hatte drei elementar quadrierbare Möndchen konstruiert, das eine zwischen einem Halbkreisbogen und einem Viertelkreisbogen, das andere zwischen einem Bogen größer als der Halbkreis und einem anderen, das dritte zwischen einem Bogen kleiner als derHalbkreis und einem anderen. Hier bricht das Fragment an der entscheidenden Stelle ab. Vielleicht wurde in der verschollenen Fortsetzung behauptet, daß sich folglich jedes Möndchen zwischen zwei Kreisbögen (existentiell) quadrieren lassen, und somit auch die Kreisquadratur (existentiell) ausführbar sei. Das ist, vom modernen Standpunkt aus gesehen, ein durchaus richtiger Schluß. Unzulässig wäre nur die Behauptung, daß über die existentielle Quadrierbarkeit hinaus auch eine mit Zirkel und Lineal möglich sei. 38 Leben und Wirken: Principe Bald. BONCOMPAGNI, Rom 1852; Scritti, ed. BONCOMPAGNI, Rom 1854/62 (3 Bde). 10 Die früher angenommene Gleichsetzung des JORDANUS NEMORARIUS mit dem zweiten Dominikanergeneral JORDANUS SAXO (|1237) ist aller Wahrscheinlichkeit nach unrichtig. Mathematische Schriften des JORDANUS: Arithmetica, ed. J. LEFEVRE D'fitAPLES, Paris 1496 und 1514. Algorithmus demonstratus, ed. J. SCHÖNER, Nürnberg 1534, franz. v. P. FORCADEL, Paris 1570. Demonstratio de algorismo, ed. G. ENESTRÖM in der Bibliotheca mathematica (3) 7, 1906/07. Opus numerorum, ebda 8, 1907/08. Demonsiratio de minutiis, ebda 14, 1914. De numeris datis, ed. P. TREUTLEIN in den Abb. zur Gesch. d. Math. 2, 1879; ed. M. CURTZE in d. Zeitschrift für Mathematik und Physik 34, 1891; ed. R. DAUBLEBSKY v. STERNECK in d. Monatsheften f. Mathematik u. Physik 7, 1896. Geometria de triangulis, ed. M. CURTZE in d. Mittl. d. Coppernicus-Vereins 6, Thorn 1887. Lat. Ausgabe des PTOLEMAEischen Planisphaerium, Druck o. O. 1507. Lat. Ausgabe der Isoperimeter-Abhandlung des ZENODOROS, wohl aus dem Arabischen (Mskr.); vgl. auch Fußnote 45.

Vom Einfluß der antiken Mathematik auf das mittelalterliche Denken

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11. Auch im Bereich des traditionellen Schulbetriebs nimmt die Mathematik langsam eine wichtigere Stellung ein als bisher. Wir wollen in diesem Zusammenhang nicht von den Leistungen der Praktiker sprechen, die als Rechenmeister an den weltlichen Schulen tätig sind und in unermüdlichem Fleiß in Weiterbildung algebraischer Einzelheiten, die ihnen von den Muslimen zugeflossen waren, den Zugang zur arithmetica speciosa, dem Buchstabenrechnen, eröffnen. Vielmehr beschließen wir unsere Ausführungen mit einem Ausblick auf die neuen theoretischen Ansätze, die in der zu Unrecht als wissenschaftlich unfruchtbar angesehenen und daher noch nicht hinreichend sorgfältig durchgearbeiteten spätscholastischen Epoche entstanden sind. Initiator ist der Oxforder Magister THOMAS BRADWARDINE41 (vor 1290—1349), dessen produktive mathematische und naturphilosophische Tätigkeit in die Jahre zwischen 1320 und 1335 fällt. THOMAS gibt in einigen Traktaten, die wohl mit den im Merton College gehaltenen Vorlesungen zusammenhängen, einen sehr selbständigen Überblick über die philosophisch wichtigsten Teile aus allen ihm zugänglichen mathematischen und naturphilosophischen Schriften. Die Arithmetica speculative^2 ist eine der vielen verkürzten Bearbeitungen der Arithmetica des BoßTHius23 und ohne besonders hervorstechende Eigenart. Sehr wertvoll ist die Geomeiria speculativa*3. Sie zerfällt in vier aneinandergefügte Traktate. Der erste bezieht sich auf die einfachsten EuKLioischen Definitionen, Postulate und Axiome. Mit besonderer Sorgfalt wird das Axiom vom Ganzen und vom Teil behandelt, das schon dem Araber ALHAZEN (965?—1029) Schwierigkeiten bereitet habe. In Weiterführung eines Zusatzes, den CAMPANUS zu EUKLID III, 32 gemacht hatte44, wird die Art und die Winkelsumme von regelmäßigen Sternvielecken untersucht. Das Thema des zweiten Traktates ist die Lehre von den ebenen Figuren. Hier wird ausführlich vom Kontingenzwinkel36, vom Zwischenwertsatz38 und von den beiden Arten von Irrationalitäten86 gehandelt. Besonders interessant ist der Abschnitt über umfangsgleiche Figuren. Er zeigt, daß THOMAS (gleich NEMORARius40) auch die Studie des ZENODOROS über umfangsgleiche Figuren45 kennt und umgebildet hat46. 41

Leben u. Wirken: J. E. HOFMANN im Centaurus l, 1951, 293—308 mit zahlreichen ergänzenden Literatur-Angaben. 42 Ed. P. S. CIRUELO, Paris 1495 u. sehr oft; ed. TH. DURA, Valencia 1503 u. öfter. 43 Ed. P. S. CIRUELO, Paris 1495 u. öfter; ed. TH. DURA, Valencia 1503 u. öfter. 44 EUKLID beweist a. a. O. den Satz vom Außenwinkel am Dreieck und bestimmt anschließend die Winkelsumme im Dreieck zu zwei Rechten. CAMPANUS fügt unter Verwendung des Satzes vom Außenwinkel hinzu, daß auch die Summe der Winkel an den fünf Ecken eines Sternfünfecks gleich zwei Rechten ist. 45 Die Isoperimeter-Abhandlung findet sich im Kommentar des THEON v. Alexandria zu Buch V/VI des PTOLEMAEischen Almagest, ferner in PAPPOS, Collectiones, Buch

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Jos. E. H o f m a n n

Der dritte Traktat gehört den Proportionen. Hier werden zunächst die einfachsten Regeln vorgeführt. Dann folgt ein Abschnitt über die Inkommensurabilität der Quadratseite zur Diagonale, hierauf ein weiterer über die Flächenbestimmung. Bei dieser Gelegenheit wird auch auf die »kürzlich wiederaufgefundene« Kreisquadratur des ARCHIMEDES" verwiesen; »die Einzelheiten seien allerdings kompliziert und daher nicht recht zur Wiedergabe geeignet«. Im vierten Traktat wird der Nachweis dafür geliefert, daß es nur fünf regelmäßige Körper geben kann. Anschließend handelt THOMAS unter Rückverweis auf AVERROES von der lückenlosen Erfüllung des Raumes durch kongruente regelmäßige Körper47. 12. Im ganzen gesehen, ist die Geometria speculativa ein sehr bedeutsames Werk. Es ist trotz seines einführenden Charakters mit Ideen von großer Tragweite angefüllt, die in ansprechender Form vorgebracht werden. Kein Wunder, daß es gerne im philosophischen Lehrgang verwendet wurde und viel zur Wiederbelebung mathematischer Interessen beigetragen hat48. Nicht weniger wichtig ist BRADWARDINES Tractatus de continue*, leider noch nicht vollständig herausgegeben49. In dieser Schrift setzt sich THOMAS aufs Genaueste mit den überkomV. Es gibt zwei noch, ungedruckte lateinische Fassungen des 13. Jh., deren Herkunft (ob direkt oder über arabische Vermittlung) noch ungeklärt ist. Eine davon wird schon von ROGER BACON erwähnt. Unsicher ist, ob JORDANUS NEMORARIUS wirklich, wie in einer Handschrift angegeben ist, die eine dieser Fassungen übertragen hat; vgl. Fußnote 40. Eine deutsche Übersetzung der Isoperimeter-Abhandlung nach THEON v. Alexandria aus der Feder von W. MÜLLER findet sich in Sudhoffs Archiv f. Gesch. d. Medizin u. d. Naturwiss. 37, 1953, 39—71. 48 Die interessanteste Einzelheit ist in NIKOLAUS v. CUES: Die mathematischen Schriften, deutsch v. Josepha HOFMANN, mit Einleitung und Anmerkung von Jos. E. HOFMANN = Schriften des Nikolaus v. Cues, Heft 11, Hamburg 1955, 218 wiedergegeben. 17 AVERROES hatte behauptet, nicht nur Würfel seien brauchbar, deren je acht in jedem Kreuzungspunkt zusammenstoßen, sondern auch vierseitige regelmäßige Pyramiden, deren je zwölf in einem Kreuzungspunkt zusammenstoßen. ROGER BACON hatte im 20. Kapitel des Opus tertium von 1276/68 einen unzureichenden Beweis auf Grund rein planimetrischer Betrachtungen zu geben versucht. THOMAS kennt diese Stelle bei ROGER nicht, spricht jedoch von der Ansicht anderer, nach deren Meinung man zwanzig zusammenstoßende Pyramiden verwenden müsse. Seine eigene Auffassung gibt er nicht preis, bemerkt jedoch, man könne eine Kugel mit zwölf zu ihr kongruenten Kugeln so umgeben, daß sich je zwei dieser Kugeln berühren. Das ist jedoch nur näherungsweise richtig. Vgl. ferner D. J. STRUIK: Het probleem De impletione loci, Nieuw Archief voor Wiskunde (2), 1925, 121—137. 48 Besonders stark ist NIKOLAUS VON CUES von der Geometria speculativa beeinflußt. THOMAS wird zwar in den mathematischen Fachschriften des CUSANERS nirgends genannt, aber es gibt eine größere Anzahl von Bezugstellen, die unmittelbar aus der Geometria speculativa entnommen sind. Über die Einzelheiten vgl. HOFMANN**. 49 Auszüge gibt M. CURTZE in der Zeitschrift für Mathematik und Physik 13, 1868, hist.-lit. Abt., 85—91, ferner E. STAMM in Isis 26, 1937, 13—32. Die dort in Aussicht gestellte Edition ist leider nicht zustande gekommen.

.thematik auf das mittelalterliche Denken

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;sen des Kontinuums auseinander50. Die o viele der Zeitgenossen ab, jedoch nicht idern erst nach sorgfältiger Einzeluntert eine Reihe weiterer Naturphilosophen äs hier — leider in den Einzelheiten noch — an Denkarbeit geleistet wird, beg der modernen Mengenlehre, wenn auch idrucksform. i)MS51 zerfällt in zwei Teile. Das erste Kan EUKLID/CAMPANUS von den »zusam-, Es enthält (ohne Exponentensymbolik) ler Potenz und — damit über die Vorlage inition »halber« Verhältnisse53. Die drei auf die Umbildung der ARiSTOTELischen ie hier entwickelte Theorie54 nicht richhier nur am Rande erwähnt sei — nach zahlreicher Autoren auf und bringt alle ihm bekannt gewordenen Gründe und Gegengründe vor. Mit ARISTOTELES (Physica III, 4) unterscheidet THOMAS streng zwischen dem räumlichen und dem zeitlichen Kontinuum. Im Punkt sieht er das an den Ort gebundene Unteilbare, im Augenblick das an die Zeit gebundene. Beide sind ausdehnungslose Gebilde und als solche unteilbar. Sie sind zwar in unendlicher Zahl im Kontinuum enthalten, aber dieses »besteht« weder aus einer endlichen noch aus einer unendlichen Summe dieser Grundelemente. Kein Unteilbares ist größer oder kleiner als ein anderes; denn im Ausdehnungslosen versagt der Maßbegriff. Im Anschluß an ARISTOTELES wird zwischen dem kathetisch Unendlichen (dem aktual Unendlichen oder Transfiniten in unserem Sinne), das mathematisch nicht verwendet werden kann, und dem synkathetisch Unendlichen (dem potentiell Unendlichen odpr Infiniten) unterschieden, wie es etwa beim Durchlaufen der endlosen Reihe der natürlichen Zahlen auftritt (Begriff der Abzählbarkeit!). Sich Bewegen heißt ein räumliches Kontinuum innerhalb eines zeitlichen durchlaufen. — Ein interessanter Überblick über die zeitgenössische Diskussion findet sich in Anneliese MAIER : Die Vorlaufer Galileis im 14. Jh., Rom 1949, 155/79. 51 Der Traktat wurde 1328 abgeschlossen. Er kam in Sammelbänden (Paris, nicht vor 1481 und Venedig, 1505) zum Abdruck, ferner in verkürzter Form (ohne das Vorwort und das vierte Kapitel) ed. G. TANNSTETTER, Wien 1515. Eine ausgezeichnete Edition mit englischer Übersetzung und interessanter Einleitung findet sich in THOMAS OF BRADWARDINE : His tractatus de proportionibus, its significance for the development of mathematical physics, ed. H. L. CROSBY, Madison 1955. 52 Modern gesagt: Das »Zusammensetzen« der Verhältnisse a:b und c:d ist gleichwertig mit Übergang zu ac:bd. Folglich heißt a z :b z das »doppelte«, a3:b3 das »dreifache« Verhältnis von a:b usw. 53 Das wird beiläufig in prop. 7 des dritten Abschnitts angedeutet. Modern: das »halbe« Verhältnis von a:b ist ]/a: |/b. Interessant ist die bei THOMAS immer wiederkehrende indirekte Schlußweise: ist a weder größer noch kleiner als b, dann ist a = b. Diese Schlußweise findet sich auch beim CUSANER** wieder, allerdings dort mit betonter Bezugnahme auf ARCHIMEDES. 64 Die Geschwindigkeit wird als Exponent angesehen. Die Deutung in diesem Sinne findet sich erstmals bei A. MAIER60, 91 ff.

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Jos. E. H o f m a n n

eingehender Diskussion55 zunächst zur Impetustheorie56 und schließlich zur Lehre von der gleichförmig beschleunigten Bewegung57. 13. Etwas j ünger als THOMAS ist der Pariser Magister NIKOLAUS ORESME58 (1323? — 1382). Im Algorismus proportionum™ führt NIKOLAUS die Verhältnislehre BRADWARDINES konsequent weiter; er findet bereits die Hauptsätze des Rechnens mit Bruchpotenzen. ORESMES mathematisch stärkste Leistung ist der vor 1371 entstandene Traktat De uniformitate et difformiiate intensionum™, worin ein vieldisputierter Gegenstand61 plötzlich in neuer Beleuchtung erscheint. Die Zu- und Abnahme der ARiSTOTELischen Qualitäten wird rein symbolisch durch Figuren zwischen geradlinigen und kreisförmigen Figuren dargestellt. Ausgangspunkt ist übrigens nicht die Funktion und auch nicht ihre Veränderung, sondern ausschließlich die Figur62. Aus dieser Lehre geht das Fallgesetz vermittels der gleichförmig beschleunigten Bewegung hervor67 — freilich noch nicht als eine physikalische Tatsache, sondern als eine reine Spekulation. Unter der Bezeichnung latitudines formarum dringt die neue Darstellungsweise ORESMES in den Universitätsbetrieb ein und wird zum Vorbild für eine Reihe von Traktaten ähnlichen Inhaltes63. t6

Über diese vgl. A. MAIER & ° a. a. O. Vgl. etwa A. MAIER: Die Impetustheorie in der Scholastik, Essen 1940, ferner A. MAIER SO , 132/54. 67 Hierzu vgl. BoRCHERT35. 69 Über das Leben und Wirken vgl. BoRCHERT36; siehe ferner M. CURTZE: Die mathematischen Schriften des Oresme, Berlin 1870. 69 Zusammen mit dem gleichlautenden Traktat des BRADWARDINE gedruckt in den in Fußnote 51 erwähnten Sammelbänden. Die heute maßgebliche Ausgabe ist M. CURTZE: Algorismus proportionum, Berlin 1868 (nach einer Thorner Handschrift). Tiefer dringt E. GRANT in seiner Dissertation: The mathematical theory of proportionality of N. Oresme, (Zitat aus seinen eigenen Schriften, nicht verifizierbar, vielleicht ungedruckt, mit einer Edition der ersten drei Kapitel der Schrift des ORESME.) Vgl. ferner E. GRANT in Isis 51 1960, 293—314 und im Archive for History of exact Sei, l, S. 420/48. 80 Teile des Traktates ed. M. CURTZE finden sich in der Zeitschrift f. Mathematik u. Physik 13, 1868, hist.-lit. Abt., 92—97, weiteres in den Math. Schriften ORESMES58. Ausführlicher ist die Edition von H. WIELEITNER in der Bibliotheca mathematica (3) 13. 1912/13, 115—45 und 14, 1913/14, 193—243. Gedruckt wurde nur der Auszug eines Schülers, und zwar unter dem Titel: Tractatus de latitudinibus formarum, Padua 1482 und 1486, Venedig 1505 und schließlich nach der Redaktion und mit dem Kommentar des BIAGIO da Parma ed. G. TANNSTETTER Wien 1515. Eine russische Übersetzung von V. P. ZOUBOW befindet sich in den Istoriko mat. Issledovanija 11, 1961, 601—731. 81 Hierzu vgl. BoRCHERT65 und Anneliese MAIER: Das Problem der intensiven Größe in der Scholastik (De intensione et remissione formarum), Leipzig 1939. 42 Wir haben also weder den »Anfang einer analytischen Geometrie« noch auch eine »grapische Darstellung« vor uns, wie früher gelegentlich behauptet wurde, sondern nur eine symbolische Vorform der graphischen Methode. 93 Erwähnt sei etwa WALTER BURLEIGH : De intensione et remissione formarum (um 1340), Venedig 1496 und 1509; RICHARD SWINESHEAD (Suisset): Calculationes (um M

Vom Einfluß der antiken Mathematik auf das mittelalterliche Denken

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14. BRADWARDINE und ORESME sind die mathematisch gedankenreichsten Vertreter der Scholastik, und dennoch sind sie keine Fachmathematiker in unserem Sinne, sondern Philosophen der peripatetischen Richtung. Was seit dem 12. Jahrhundert an griechischem Lehrgut — teils direkt, teils durch arabische Vermittlung — wieder zugänglich geworden ist, steht ihnen zur Verfügung. Sie kennen alle Einzelheiten der seit Generationen im Fluß befindlichen Diskussionen um die grundlegenden Fragen der griechischen Mathematik; sie nehmen kritisch Stellung, sie geben wertvolle Impulse. Daß diese Anregungen auf einen verhältnismäßig kleinen Kreis von Nacheiferern beschränkt bleibt, liegt nicht an ihnen, sondern an der Ungunst der Verhältnisse. Der große Sukzessionskrieg zwischen England und Frankreich (1339 bis 1453) entvölkert die Hörsäle der Universitäten; es bleibt keine Zeit mehr für jene Intensität des Studiums, die zur erfolgreichen Weiterführung der erst in keimhafter Form vorhandenen neuen Gedanken nötig gewesen wäre. Unter den Angehörigen der Oxforder und der Pariser Schule finden sich nur Kompilatoren, keine einzige kongeniale Persönlichkeit, der es gegeben gewesen wäre, Fortsetzer und Vollender zu werden. Unter diesen Umständen reißt die wissenschaftliche Tradition der Spätscholastik nach kurzer Zeit ab; nur wenige Denker, wie etwa der große NIKOLAUS von Cues, bleiben sich an manchen Stellen des inneren Zusammenhanges mit den mathematischen Vorgängern bewußt. Die Neuzeit empfängt ihren großen mathematischen Impuls nicht von der vorausgegangenen Epoche, sondern einerseits aus den praktischen Bedürfnissen des Alltags, die in einer ganz anders gearteten Entwicklungslinie von den alten Babyloniern bis zu den Rechenmeistern der Renaissance verläuft, andererseits aus der unmittelbaren Berührung mit der Antike. Des Glaubens, daß ihr das Mittelalter nicht mehr viel zu sagen hat, schreitet die Renaissance auf neuen Wegen weiter; das Barock berauscht sich an den ihm zufallenden Erfolgen, die Aufklärung empfindet das ganze Mittelalter als »finster«. Erst in einer späten Zeit kritischer Selbstbesinnung, die dem 19. und 20. Jahrhundert angehört, wird die Gedankenarbeit der mathematisch schöpferischen Periode des Mittelalters, der Spätscholastik, wiederentdeckt; mit Staunen sieht man, wie viel Wertvolles hier erarbeitet worden ist, und daß die großen Geister dieser Zeit in Wahrheit ebenso lebendig mit der unsterblichen Antike verbunden waren wie die der nachfolgenden Jahrhunderte. 1350), Padua 1480, Pavia 1488, Venedig 1520; ALBERT v. SACHSEN: De latitudinibus formarum (um 1360), Padua 1505; BIAGIO DA PARMA80. Zum Gesamtgebiet: Jos. E. HOFMANN: Geschichte der Mathematik. Erster Teil: Von den Anfängen bis zum Auftreten von Format und Descartes, Samml. Göschen Bd. 226, Berlin 1953 mit zahlreichen weiteren Literaturangaben. Die 2. (erweiterte) Auflage (Bd. 226/226a) erscheint 1962.

DER ANTEIL VON BYZANZ AN ERHALTUNG UND WEITERBILDUNG DER GRIECHISCHEN MATHEMATIK1 Von KURT VOGEL Mit der Geschichte der Mathematik in Byzanz, mit dem Umfang der dort erreichten mathematischen Erkenntnisse sowie mit der Verbreitung des mathematischen Wissens in den staatlichen und kirchlichen Lehranstalten des Reiches w hrend der tausendj hrigen Geschichte seit der Gr ndung der Universit t durch THEODOSIOS II bis zum Zusammenbruch im Jahre 1453 hat sich die Forschung lange Zeit nur wenig besch ftigt. Als gegen Ende des vorigen Jahrhunderts die Byzantinistik, bisheriges Anh ngsel der klassischen Altertumskunde, als ein eigenes Forschungsgebiet sich selbst ndig machte und man in zunehmendem Ma e erkannte, welche Vermittlerrolle zwischen Ost und West Byzanz zukommt, standen andere Fragen als die Mathematik im Vordergrund, n mlich politisches und soziales Leben, Sprache, Religion, Kunst sowie die Sammlung und W rdigung der literarischen Erzeugnisse der Philosophie, der Geschichtsschreibung, der Theologie, der Liturgik und Musik, der Jurisprudenz, auch der Milit rtaktik und -Technik, von denen der Naturwissenschaften dagegen — mit Ausnahme der Medizin — haupts chlich nur die Schriften, die mit den physikalischen und biologischen Ansichten von ARISTOTELES in Beziehung standen. Von byzantinischen mathematischen Texten2 stehen jetzt wenigstens die wichtigsten (etwa ein Dutzend) zur Verf gung, von denen drei schon in der Humanistenzeit bearbeitet wurden. Es handelt sich einmal um die Geod sie eines HERON VON BYZANZ vom Jahre 938 (lateinisch ediert von BAROCIUS, Venedig 1572), dann um ein ohne Grund MICHAEL PSELLOS zugeschriebenes Quadrivium vom Jahre 1008 (bzw. 1040), das zuerst griechisch 1533, mit lateinischer bersetzung (von XYLANDER) 1556 herausgegeben wurde3 und schlie lich um die Lo1

Eine umfassendere Darstellung aller Wissenschaften in Byzanz wird in der kommenden 2. Auflage der Cambridge Medieval History ver ffentlicht werden. Ich bin Professor J. M. HUSSEY f r die Erlaubnis, die dort niedergelegten Ausf hrungen zu ben tzen, besonders dankbar. 2 ber die Mathematik in Byzanz unterrichtet M. CANTOR, Vorlesungen ber Geschichte der Mathematik I3, Leipzig 1907, S. 500—517. — I. L. HEIBERG, Geschichte der Mathematik und Naturwissenschaften im Altertum, M nchen 1925. — M. STEPHANIDES, Τα Μαθηματικά των Βυζαντινών, ΆΘηνα 35, 1923, S. 206—218. — SIR. ΤΗ. HEATH. A History of Greek Mathematics II, Oxford 1921, S. 538—555. 3 Neu ediert von HEIBERG, Anonymi logica et quadrivium, Kopenhagen 1929 (postum).

Der Anteil von Byzanz an Erhaltung und Weiterbildung der griech. Mathematik 113

gistik d. h. die praktische Rechenkunst des kalabrischen Mönches BARLAAM (f um 1348), des Lehrers von PETRARCA und BOCCACCIO. Diese seltene, vielfach zitierte und wenig bekannte Schrift kam durch J. CHAMBER im Jahre 1600 griechisch und lateinisch ans Licht. Dies war bis 1858 alles. In diesem Jahre gab M. VINCENT zu dem Text der genannten »Heronischen« Geodäsie eine französische Übersetzung; bald darauf (1865) edierte C. J. GERHARDT das Rechenbuch von MAXIMOS PLANUDES (etwa 1300), die ' $, in der das neue Rechnen mit indischen Ziffern und Methoden gelehrt wurde (übersetzt von H. WAESCHKE, Halle 1878); im nächsten Jahre gab G. FRIEDLEIN in einem Programm des Gymnasiums Ansbach eine magere Geometrie (eine Sammlung von Vermessungsrezepten) des GEORGIOS PEDIASIMOS (etwa 1330) heraus. In der Folgezeit, in der die Byzantinistik sich zu einer selbständigen Wissenschaft zu entwickeln begann, waren es zwei Männer, deren Untersuchungen über byzantinische Mathematik grundlegend wurden und die auch weitere Texte größeren Umfangs sowie kleinere Fragmente studierten und edierten, nämlich P. TANNERY (1843—1904) und J. L. HEIBERG (1854—1928). TANNERYS Arbeiten über mathematische Schriften von PSELLOS, die dem griechischen Text gegenüber gestellten Übersetzungen der Abhandlung über magische Quadrate von MOSCHOPULOS und der beiden Briefe mathematischen Inhalts von LAOS RHABDAS (aus dem Jahre 1340) sind in dem 4. Band der Memoires scientifiques (Sciences exactes chez les Byzantins) bequem zugänglich. Besondere Beachtung verdient noch die Herausgabe des Quadriviums von GEORGIOS PACHYMERES (2. Hälfte des 13. Jahrhunderts). Es erschien (postum) erst im Jahre 1940 Studi e testi 94) — von E. STEPHANOU redigiert — mit einer vorzüglichen Einleitung von V. LAURENT über das Unterrichtswesen und insbesondere über das Quadrivium in den Schulen von Byzanz. HEIBERG, dessen Hauptleistung für die Geschichte der Mathematik in der Herausgabe der großen Klassiker (EUKLID, ARCHIMEDES, APOLLONIOS, HERON) und einiger Mathematici graeci minores besteht (ÜIOPHANT nebst der dazugehörenden Paraphrasis des PACHYMERES hat TANNERY ediert) hat seit 1899 auf zahlreiche byzantinische mathematische Handschriften aufmerksam gemacht, die nur zum kleinsten Teil herausgegeben seien und deren Fülle den Forscher erdrücke. Er betonte auch des öfteren eindringlich, daß das Studium der Mathematik in Byzanz zu unrecht vernachlässigt werde. Wenn auch kein besonderer Genuß zu erwarten sei, so müsse die Arbeit doch getan werden zur Aufklärung der Quellen, aus denen das Abendland schöpfte und zur Aufhellung der sich in Byzanz kreuzenden Einflüsse von Ost und West. So ist z. B. das Eindringen der neuen indischen Ziffern und Methoden nach Byzanz und ins Abendland noch weitgehend in Dunkel gehüllt. Unter den großen Leistungen W i l p e r t , Med. I

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HEIBERGS darf auch die genaue Erforschung der Überlieferungsgeschichte der griechischen mathematischen Werke nicht vergessen werden. Aus Untersuchungen über den Unterrichtsbetrieb an den Lehranstalten in Byzanz erfährt man auch manches über Mathematik; hierher gehören Arbeiten von F. SCHEMMEL, F. FUCHS, L. BREHIER, J. M. HussEY4 sowie die genannte Vorrede von V. LAURENT zu PACHYMERES.

Der Inhalt der uns zugänglichen Texte sowie die Hinweise auf mathematische Schriften, die K. KRUMBACHER in seiner Literaturgeschichte von Byzanz (1897) und G. SARTON in seiner Introduction to the history of science (1927—1948) geben, zeigen sofort, daß ein grundlegender Unterschied besteht zwischen der Beschäftigung der Byzantiner mit Mathematik und den griechischen Leistungen in klassischer Zeit. Hier hatte sich — seit THALES VON MILET — erstmals abendländisches wissenschaftliches Denken offenbart, als die Beschäftigung mit den Dingen der Natur, auch den mathematischen, die aus praktischen Erwägungen heraus auch schon vor den Griechen eingesetzt hatte, sich wandelte zu einer um ihrer selbst willen betriebenen Wissenschaft, die ihre Sätze durch Beweise sichert, die ihre Grundlagen untersucht, die forschen muß, um das Wahre zu finden. Der Gegensatz der beiden Aspekte, des Nutzens (utilitas), der sich in den Anwendungsgebieten zeigt, im praktischen Rechnen und Vermessen, auch in Astronomie und Mechanik und in anderen, mathematisch zugänglichen Teilen der Physik wie Optik und Akustik auf der einen Seite und der durch Beweise erreichten Sicherheit (certitudo) in der theoretischen Arithmetik und Geometrie auf der ändern Seite läßt sich durch die ganze Geschichte der Mathematik verfolgen. Auf den theoretischen Aufbau, der sich vor allem in Athen und Alexandria in drei Jahrhunderten vollzog und der, wenn man von dem einsam stehenden »Vater der Algebra« DIOPHANT absieht, mit EUKLID, ARCHIMEDES und APOLLONIOS seinen Abschluß gefunden und eine Höhe erreicht hat, der das Abendland sich erst im 15. und 16. Jahrhundert wieder langsam näherte, folgte in späthellenistischer Zeit und bei den Römern die Betonung der Anwendungen wie in der HERONischen Mechanik undOptik oder in der Astronomie des PTOLEMAIOS. 4 F. SCHEMMEL. Die Hochschule von Kpl vom VI.—IX. Jhdt, Progr. Wilh.-Gymnas. Berlin 1912.— Die Schulen von Kpl vom IX.—XI. Jhdt, Philol. Wochenschr. 43, 1923, Sp. 1178—1181. — Die Schulen von Kpl vom XII.—XV. Jhdt, ebenda 45, 1925, Sp. 236—239. — F. FUCHS, Die höheren Schulen von Kpl im Mittelalter, Leipzig—Berlin, 1926. — L. BREHIER, Notes sur l'histoire de l'enseignement supeYieur ä Constantinople, Byzantion 3, 1926, 73—94 und 4, 1929, 13—28. — J. M. HUSSEY, Church and learning in the Byzantine Empire 867—1185, London 1937.

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Auch bei den Byzantinern — und darin sind sie echte ' — überwiegt das Interesse für das Praktische, für das im Leben unmittelbar Verwendbare. Daneben ist auch charakteristisch für ihre Einstellung zur Mathematik und zur Wissenschaft überhaupt, daß neben den Wissenschaften wieder die Pseudowissenschaften einhergehen und ausgiebig zu Wort kommen. Wie der Astronomie die Astrologie, der Chemie die Alchemie, der Naturlehre der Physiologos beigesellt sind, so finden in der byzantinischen Mathematik neupythagoreische Zahlenmystik und Zahlenspekulationen ihren Platz. Bei einem derartigen Herangehen an mathematische Dinge sind keine großen eigenen Leistungen, keine Fortschritte zu erwarten. So liegt auch die Bedeutung von Byzanz für die Geschichte der Mathematik nicht darin, daß dort eine wesentliche Erweiterung der von den Griechen in hellenistischer Zeit gewonnenen Erkenntnisse erfolgt wäre, sondern in der Tatsache, daß das antike Bildungsgut für das Abendland so lange sorgsam aufbewahrt wurde, bis dieses selbst empfänglich und aufnahmefähig war für das mathematische Wissen, das dorthin in späteren Jahrhunderten auf verschiedenen Wegen herangebracht werden mußte, zumal das von den Römern direkt übernommene Erbe nur bescheidener Natur war. Der eine — ein Umweg — führte über die Araber, die sich seit dem 9. Jahrhundert mit den Werken der griechischen Mathematik vertraut gemacht hatten, welche dann über Spanien in lateinischen und hebräischen Übersetzungen das Abendland erreichten; der zweite spätere — aber nähere — Weg brachte griechische Handschriften aus Byzanz im Urtext vom 12. Jahrhundert an über Unteritalien und Sizilien5, später über Florenz und Venedig nach dem Westen. Freilich das Eindringen in die Gedanken der großen Klassiker ARCHIMEDES, APOLLONIOS, DIOPHANT, auch in die schwierigeren Bücher (z. B. das 10.) von EUKLID blieb in Byzanz nur wenigen vorbehalten, während Logistik und Geodäsie sowie die anderen Stoffe des Quadriviums schon wegen der Bedeutung für das tägliche Leben sowie als Vorbereitung für eine logische, philosophische Schulung Eingang in die Unterrichtsanstalten fanden, für die auch noch das PLATON zugeschriebene, aber erst aus byzantitinscher Zeit überlieferte Wort Geltung hatte: $ . Will man die Geschichte der Mathematik in Byzanz in zeitliche Abschnitte gliedern, so heben sich deutlich drei Perioden ab, an deren Anfang man jeweils eine gewisse Blütezeit, einen Höhepunkt feststellen kann mit einer darauffolgenden Zeit des Niedergangs, der Vernachlässigung, ja oft größter Geringschätzung wissenschaftlichen Strebens. Wir sehen ein Auf und Nieder, das sich auf die Universität auswirkt, die des öfteren geschlossen und wieder neu eröffnet wird. 8

Siehe bes.: CH. H. RASKINS, Studies in the History of mediaeval science, Cambridge 1924, Kap. VIII und IX.

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Die erste Periode (408—829) Die drei zur Zeit von THEODOSIUS II (408—450) und JUSTINIAN I (527—565) nebeneinander bestehenden hohen Schulen hatten, was Lehrziel und Lehrstoffe anlangt, ein ganz verschiedenes Gepräge. Das Zentrum mathematischer Forschung und Lehre war nach Athen Alexandria geworden und zwar sowohl für die theoretischen wie die praktischen Zweige; es war Universität und technische Hochschule zugleich. Hier hatten die Klassiker gelebt, hier wurden ihre Werke studiert und in einer großartigen Bibliothek gesammelt, wobei die Tätigkeit der Kommentatoren wie PAPPOS, THEON VON ALEXANDRIA und seiner Tochter HYPATIA (\ 415) für die Erhaltung der alten Schriften von wesentlicher Bedeutung waren. Demgegenüber wurde auf der Philosophenschule in Athen nicht mehr wie früher die gesamte Mathematik gepflegt, sondern nur die Teile, die man für notwendig hielt zum Verständnis philosophischer Fragen wie die logischen Grundlagen der Geometrie, die neuplatonische Arithmetik oder die Lehre der Platonischen Körper. Als THEODOSIOS II im Jahre 425 in Byzanz ein neues Bildungszentrum schuf, indem er eine Lehranstalt aus der Zeit KONSTANTINS DES GROSSEN (324—337) erneuerte, lag der Schwerpunkt wieder auf anderen Gebieten: gegenüber 30 Lehrstühlen für Sprache und Recht gab es nur einen für Philosophie. Immerhin sind auch Vorlesungen über das Quadrivium bezeugt und es wird berichtet, daß armenische Gelehrte und Studenten neben Alexandria und Athen auch gerne Byzanz zum Studium aufsuchten. Für den elementaren Unterricht (darunter wohl auch für Rechnen und Geometrie) gab es zudem auch private Lehrer; zwischen ihnen und den staatlichen Professoren wird im Erlaß vom Jahre 425 streng unterschieden. Zwischen diesen drei hohen Schulen des Reiches bestanden enge, persönliche Beziehungen. PROKLOS wurde im Jahre 410 in Byzanz geboren und studierte in Alexandria und Athen, wo er — in Konkurrenz mit DOMNINOS — Haupt der Schule nach seinem Lehrer SYRIANOS wurde. Sein Schüler AMMONIOS (f vor 510) ging nach Alexandria, hier erfüllte er die nach dem Tode von HYPATIA bedeutungslos gewordene Schule mit neuem Leben. Eine Reihe seiner Schüler ging in die Geschichte der Mathematik ein. Einer von ihnen war der Aristoteleskommentator SIMPLIKIOS, von dem wir wertvolle Einblicke in die Mathematik des 5. Jahrhunderts v. Chr. erhalten; er wirkte später in Athen und gehört zu den Professoren, die nach der Schließung der heidnischen Schule durch JUSTINIAN im Jahre 529 nach Persien auswanderten. Ein weiterer Schüler von AMMONIOS in Alexandria war der Monophysit JOHANNES PHILOPONOS, einer der großen Gestalten in dieser Zeit des Übergangs von hellenistischer zu byzantinischer Wissenschaft. In einem Aristoteleskommentar behandelt er ausführlich die Kreis-

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quadratur und W rfel Verdoppelung. An mathematisch-astronomischen Schriften sind von ihm eine Abhandlung ber das Astrolab sowie Erl uterungen zur Arithmetik des NIKOMACHOS erhalten. Der mathematisch bedeutendste Sch ler von AMMONIOS war ΕυτοKIOS aus Askalon (* um 480). Auf Veranlassung seines Lehrers widmete er sich dem Studium der klassischen Mathematik. Wir verdanken ihm wertvolle Kommentare zu APOLLONIOS und ARCHIMEDES, dessen Werke bisher nur in Brief abschritten kursierten. In dem seinem Lehrer gewidmeten Kommentar zu Περί σφαίρας και κυλίνδρου hat er alle fr heren L sungen des delischen Problems ausf hrlich dargestellt und so wichtige Teile ltester griechischer Mathematik auch aus der verlorenen Geschichte der Mathematik von EUDEMOS (fl. ca. 320 v. Chr.) gerettet. Es ist ihm auch gelungen auf der Suche nach Archimedeshandschriften ein fehlendes St ck aus dem 2. Buch von Kugel und Zylinder in der alten dorischen Fassung aufzusp ren6. In seinem Kommentar zur Kreismessung findet man auch — sonst in der Literatur seltene — Beispiele daf r, wie das griechische Zahlenrechnen wirklich durchgef hrt wurde. Er hat ferner des ARCHIMEDES Gleichgewicht ebener K rper sowie die ersten 4 B cher der Kegelschnitte von APOLLONIOS kommentiert, leider nur diese, weshalb die anderen vier im Urtext wohl f r immer verloren sind. Das letztgenannte Werk widmete er seinem Freund ANTHEMIOS VON TRALLEIS, der von JUSTINIAN als Baumeister der Sophienkirche bestellt wurde. Es ist unbekannt, ob sich die beiden in Alexandria kennen lernten7 oder ob EUTOKIOS sp ter selbst in Konstantinopel lebte; auf jeden Fall war er es in erster Linie, der griechischer Mathematik in Byzanz Eingang verschaffte. Der μηχανικός ANTHEMIOS ist auch selbst als Mathematiker zu erw hnen8. Bei Untersuchungen ber Brennspiegel kam er in einzelnen Punkten ber APOLLONIOS hinaus; er beschrieb die Ellipsenkonstruktion aus den Tangenten sowie nach der »G rtnermethode« und kannte die Brennpunkt-Leitlinieneigenschaft der Parabel. Auch unter ISIDOROS VON MILET, der nach dem Tode von ANTHEMIOS (um 534) die Bauleitung an der Sophienkirche erhielt, wurden ernsthafte mathematische Studien betrieben. Von ihm oder unter seiner Leitung wurden des ARCHIMEDES Kreismessung sowie Kugel und Zylinder zusammen mit den Kommentaren von EUTOKIOS herausgegeben; von einem seiner Sch ler stammt das sogenannte 15. Buch der Elemente EUKLIDS, von ihm selbst ein Parabelzirkel sowie ein Kommen• Es handelt sich um die geometrische L sung (durch Kegelschnitte) einer kubischen Gleichung. 7 ASKLEPIOS VON TRALLEIS war in Alexandria auch Sch ler von AMMONIOS; er schrieb Erl uterungen zu der Arithmetik des NIKOMACHOS. 8 Siehe Sir TH. HEATH, The fragment of Anthemios on burning mirrors and the »Fragmentum mathematicum Bobiense«, Biblioth. Mathem. 73, 1906/07, 225—233.

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tar zu einer verlorenen Schrift HERONS (dem Gewölbebau), dessen mechanische und stereometrische Untersuchungen — wie auch die des ARCHIMEDES — für jeden Baumeister von Bedeutung sein mußten. Eine Bindung von ISIDOROS an die staatliche Hochschule scheint nicht bestanden zu haben. Noch einmal zeigt sich eine — vor dem Araberaufbruch letzte — wissenschaftliche Verbindung zwischen Byzanz und Alexandria, als von dort etwa um 612 der Philosoph STEPHANOS ( und ) durch den Patriarchen SERGIOS nach Konstantinopel berufen wurde, um die Einrichtung der philosophischen und damit auch der mathematischen Studien an der ökumenischen Akademie zu übernehmen, die an die Stelle der von PHOKAS (602—610) geschlossenen und von seinem Nachfolger HERAKLEIOS (610—641) wieder errichteten Universität getreten war. STEPHANOS, der eine astronomische Abhandlung über die Handlichen Tafeln THEONS hinterließ, las über PLATON und ARISTOTELES sowie über die Fächer des Quadriviums9 (Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik). Es bildet auch späterhin die Grundlage des mathematischen Unterrichts im Lehrplan der Schulen in Byzanz wie ja auch in den Klosterschulen des Abendlandes, in die es über BOETHIUS, von dem der Name Quadrivium stammt, gelangt war. Die ökumenische Akademie wurde bereits durch LEON III ISAURIKOS im Jahre 726 wieder aufgelöst. In den zwei Jahrhunderten von STEPHANOS bis zur Erneuerung der Studien unter THEOPHILOS (829 — 842) ist von höheren wissenschaftlichen Bestrebungen nichts zu verspüren; alle Kräfte des Staates sind im Existenzkampf gegen äußere Feinde eingesetzt oder werden in inneren Streitigkeiten verbraucht. Wie tief das geistige Niveau abgesunken war, ersieht man daraus, daß gegen Ende des 7. Jahrhunderts der Armenier ANANIAS VON SCHIRAK zum Studium der Philosophie nach Konstantinopel sich begab, aber dort keinen Lehrer dafür finden konnte. Anderseits ist wohl kein Zweifel darüber möglich, daß eine Unterweisung in den elementaren Zweigen der Mathematik, im Rechnen und in der Vermessungslehre, nie aufgehört hat. Sie waren ja für das Leben in einer organisierten Gemeinschaft unumgänglich notwendig. Hier setzte wohl der private Unterricht ein oder die Unterweisung in kirchlichen Schulen, deren Einrichtung überall allen Geistlichen »per villas et vicos« auf dem 6. Konzil im Jahre 681 in Konstantinopel zur Pflicht gemacht worden war. Für den Alltagsgebrauch gab es geometrische und stereometrische Rezept9

PROKLOS unterschied im Anschluß an GEMINOS (etwa 70 v. Chr.) 8 Teile der Mathematik, nämlich neben den »edlen« Teilen (theoretische Arithmetik und Geometrie) sechs »niedere« (Logistik, Geodäsie, Optik, Musik, Mechanik, Astronomie), die sich mit den beschäftigen. In den römischen Schulen hat sich seit APULEIUS und MARTIANUS CAPELLA das Unterrichtsschema der 7 freien Künste festgesetzt, das auch für den Lehrplan der frühbyzantinischen Schulen übernommen wurde.

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Sammlungen; sie finden sich seit dem 8. Jahrhundert in vielen Handschriften und gehen meist unter dem Namen HERON obwohl sie nur magere Auszüge aus dessen echten Schriften (wie der Metrika) darstellen. Auch die für den Architekten und Baumeister nötigen mathematischen und mechanischen Kenntnisse müssen in den Bauhütten weiter vermittelt worden sein, wie ja auch der Kaufmann und Handwerker an die Ausbildung des Nachwuchses denken mußte. Über das Rechnen j ener Zeit erfährt man einiges aus dem auf ägyptischem Boden gefundenen Papyms Ahmim aus dem 6. oder 7. Jahrhundert, in dem Bruchrechnungen nach ägyptischen Methoden, Verteilungsaufgaben, Gesellschaftsrechnungen u. a. enthalten sind. Aus derselben Zeit stammt auch eine Holztafel in Kairo mit Bruchtabellen und Zinsrechnungen. Zur Logistik sind auch die als Unterhaltungsmathematik beliebten Rätselaufgaben zu rechnen, wie sie z. B. METRODOROS am Ende des 5. oder Anfang des 6. Jahrhunderts zusammengestellt hat. Ähnliche Aufgaben finden sich mit dem Titel Aufgaben beim Essen zu erzählen in einer Sammlung des genannten Armeniers ANANIAS, der derartige Probleme bei seinem Aufenthalt in Byzanz gehört haben mag. Eine eigene Leistung ist aus dieser ersten Periode byzantinischer Mathematikgeschichte noch zu erwähnen, nämlich die Einführung einer sehr nützlichen neuen Ära, die den Anfang der Welt auf den 1. September des Jahres 5509 festlegt. Über ihre Entstehung (gegen Ende des 7. Jahrhunderts) weiß man nichts Näheres. Sie wurde zwar auch außerhalb des Reiches verwendet, mußte aber der christlichen und arabischen bald weichen. Die zweite Periode (829—1222) Unter THEOPHILOS (829—842) und unter den Kaisern der nächsten 200 Jahre gewinnen die Wissenschaften wieder erneut an Ansehen. Mit der Neigung eines Renaissancefürsten für Prunk und Luxus förderte THEOPHILOS die Baukunst und das Kunsthandwerk und suchte auch auf geistigem Gebiet für Byzanz in der östlichen Welt eine Vormachtstellung zu schaffen, zumal die Kalifen in Bagdad sich bemühten, die Werke griechischen Geistes in Übersetzungen den Arabern zugänglich zu machen, die in den eroberten Gebieten, insbesondere in syrischen Klöstern, noch vorhanden waren, oder die er in Konstantinopel erwerben konnte. Durch einen griechischen Kriegsgefangenen wurde der Kalif AL-MA'MUN auf einen Mann aufmerksam gemacht, der berufen war, einen Ehrenplatz in der Geschichte der Mathematik einzunehmen. Es war der Phüosoph und Mathematiker LEON IC aus Hypate in Thessalien (ca. 800), den er an seinen Hof gewinnen wollte. LEONS 10

Siehe E. E. LirSic, Vizantijskij uoenij Lev Matematik, Viz. Vremennik 2 (27) 1949, 106—149.

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Lebensgeschichte zeigt, daß eine elementare Unterrichtung auch nach der Schließung der ökumenischen Akademie im Jahre 726 noch möglich war. Die erste Ausbildung erhielt er in einer Grammatikschule in Byzanz] dagegen mußte er, um einen Lehrer für Philosophie und Mathematik zu finden, sich auf die Insel Andros begeben. Als er Privatlehrer für alle Wissenszweige in der Hauptstadt war, erfuhr der Kaiser von dem Angebot nach Bagdad und übernahm LEON in den Staatsdienst, wo er öffentliche Vorlesungen an der Kirche der 40 Märtyrer hielt. Aber erst im Alter sehen wir ihn in dem Wirkungskreis, in dem er seinen Einfluß von hoher Stelle aus auf die Verbesserung wissenschaftlicher Studien ausüben konnte. Im Jahre 863 ernannte ihn der Cäsar BARDAS zum Rektor der neugegründeten Universität am Magnaurapalast. Hier trug er als $ Philosophie sowie die Fä.cher des Quadriviums vor und versammelte eine Reihe von Schülern um sich; im Unterricht in der Geometrie unterstützte ihn THEODOROS, in dem der Astronomie THEODEGIOS; zum Schülerkreis gehörte auch der Slavenapostel KYRILLOS (KONSTANTIN) sowie der spätere Bischof von Kaisarea, der Diakon ARETHAS, von dem wichtige Vorlesungsnotizen stammen, die zeigen, daß LEON bereits Buchstabenzahlen verwendete um arithmetische Beziehungen allgemein darzustellen11. Hätte er Nachfolger in dieser Symbolik gefunden, die im Abendland erst im 13. Jahrhundert bei LEONARDO VON PISA und JORDANUS NEMORARIUS auftritt, dann hätte die Buchstabenrechnung, eine der Vorbedingung für die Schöpfung der analytischen Geometrie, sich lange vor VIETA auswirken können. Aber all das ist nicht das Wichtigste, was von LEON zu berichten ist. Unschätzbar sind seine Bemühungen um die Erhaltung der klassischen mathematischen Literatur. Jetzt entstanden die Handschriften, auf denen fast die gesamte Überlieferung beruht, wenn man von dem Anteil der Araber absieht, die ja nur Übersetzungen bringen konnten. Aus dem 9. Jahrhundert stammt eine im Jahre 888 geschriebene EUKLIDhandschrift, die ARETHAS um 14 Nomismata erworben hatte, dann die verlorene DiOPHANThandschrift, von der der älteste noch vorhandene Kodex (13. Jahrhundert) abhängt sowie zwei ebenfalls verschollene ApOLLONioshandschriften, von denen zwei Vatikankodices (10. bzw. 12./13. Jahrhundert) abstammen, weiterhin drei Handschriften des ALMAGEST. Da es von ARCHIMEDES noch keine Gesamtausgabe gab — die von ISIDOROS war unvollständig geblieben — ließ LEON sammeln, was aufzufinden war. Es entstand die berühmte Stammhandschrift, die im 12. Jahrhundert in die Bibliothek der Normannen und Stau/er und nach der Schlacht bei Benevent in die Hand des Papstes kam, wo sie WILHELM VON MOERBEKE (neben einer älteren Handschrift mechanischer 11

Siehe K. VOGEL, Buchstabenrechnung und indische Ziffern in Byzanz, Akten des XI. internationalen Byzantinischen-Kongresses 1958, München i960, 660—664.

Der Anteil von Byzanz an Erhaltung und Weiterbildung der griech. Mathematik 121

Schriften) bei seiner ARCHiMEDESübersetzung benützte und die dann im 16. Jahrhundert endgültig verloren ging. Aus LEONS Zeit stammen auch aus seinem Unterricht hervorgegangene ARCHiMEDESerläuterungen, die älteren EuKLioscholien und manches andere. So gehört LEON neben dem Theologen und Philologen PHOTIOS, der sich nur gelegentlich mit Naturwissenschaften beschäftigte, zu den großen Gelehrten der Zeit. Über das Schicksal der Universität nach LEON findet man lange keine greifbaren Tatsachen, wenn auch die Wichtigkeit der Bildung manchmal betont wird, so von LEON VI (886—912), der sogar den Beinamen trug. Erst KONSTANTIN VII PORPHYROGENNETES (913—959) hat (nach dem Bericht von KEDRENOS) die Philosophie wieder aus der Vergessenheit gerettet. Er war selbst ein Freund der Astronomie, der Mathematik und Musik und berief die »berühmtesten« Lehrer, die also — trotz allem — noch vorhanden gewesen sein mußten. Der Kaiser ließ vor allem umfassende Exzerptensammlungen und Enzyklopädien herstellen, was auch der Mathematik zugute kam. So stammt die Geodäsie des schon oben erwähnten HERON VON BYZANZ aus dieser Zeit (938). Auch aus diesem 10. Jahrhundert besitzen wir zahlreiche Handschriften, wie die vortheonische Redaktion der EuKLioischen Elemente im Cod. Vat. Gr. 190, dann weitere Handschriften zu EUKLID, EUTOKIOS, PTOLEMAIOS und NIKOMACHOS sowie der berühmte auch die Methodenlehre enthaltende ARCHiMEDESpalimpsest. Um dieselbe Zeit hat KONSTANTINOS KEPHALAS die Anthologia Palatino, aus älteren Sammlungen zusammengestellt mit mathematischen Epigrammen und Scholien, die auf METRODOROS zurückgehen. Die auf KONSTANTIN VII folgenden Kaiser waren mit der Festigung des Reiches voll beschäftigt, wie BASILEIOS II (976—1025), unter dem Byzanz seine höchste Macht entfaltete und der als ausgesprochen gelehrtenfeindlich galt. Nach ihm begann der politische Verfall. Wenn trotzdem die Wissenschaft nicht völlig unterging, so dankte man dies — wie ANNA KOMNENA berichtet — der stillen Arbeit einzelner Gelehrter. So zeigt sich z. B. in der Suda12, daß für die zahlreichen biographischen Notizen alte Quellen in den Beständen der Bibliotheken vorhanden waren. Außerdem gab es weiterhin privaten Unterricht und Unterweisung in den kirchlichen Schulen, wie es das erwähnte, fälschlicherweise dem PSELLOS zugeschriebene Quadrivium aus dem Jahre 1008 beweist, das wohl von GREGORIOS MONACHOS (oder von ROMANOS VON SELEUKIA?) stammt. Unter KONSTANTINOS IXMONOMACHOS (1042—1055), der zum Studium der Philosophie und der Mathematik ermahnte, wurde die Universität etwa im Jahre 1045 erneuert und zwar mit einer juristischen 12

Es gab keinen Autor SUIDAS.

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und einer philosophischen Fakult t. Als Leiter dieser Abteilung wurde der geniale, ungemein vielseitige MICHAEL PSELLOS bestellt, der neben Philosophie und den Zweigen des Triviums auch ber das Quadrivium vortrug. Er besch ftigte sich mit den mathematischen Stellen bei ARISTOTELES, schrieb ber das Wesen der Geometrie, ber Astronomie und Arithmetik, wobei der Einflu neuplatonischer und orientalischer Zahlenmystik hervortritt; erhalten sind von ihm auch Scholien zu NIKOMACHOS und ein Brief ber die algebraischen Termini bei DioPHANT, von dem er die damals vielleicht einzige Handschrift besa . Man ersieht, da bei ihm, wie bei PLATON und PROKLOS, die Mathematik wieder das Zwischenglied war zwischen den Ideen und den k rperlichen Dingen13 und ein Mittel, den Sch ler zum abstrakten Denken hinzuf hren. Sein Sch ler und Nachfolger als ΰπατο$ war JOHANNES ITALOS; er hielt Vorlesungen ber die Ideenlehre PLATONS, ber ARISTOTELES, PROKLOS und JAMBLICHOS. Unter ALEXIOS I KOMNENOS (1081—1118) wurde er im Jahre 1082 als Ketzer verdammt, da er »das t richte Wissen der Heiden« — weniger vorsichtig als PSELLOS — lehrte. Jetzt wurde die weltliche Hochschule auch unter die Aufsicht des Patriarchen gestellt, wie es aus einem Bericht des NIKOLAOS MESARITES (etwa 1200) ber den wenig erfreulichen Unterrichtsbetrieb an der Apostelkirche sich ergibt14. ber das Quadrivium ist man hier nicht hinausgekommen15. Nur aus den Handschriften ersieht man noch, da die Alten nicht ganz vergessen waren. Aus dem 11. und 12. Jahrhundert stammen solche von EUKLID (Elemente, Data, Phainomena), PROKLOS, MARINOS, PTOLEMAIOS, APOLLONIOS, SERENOS und HERON. Von diesem stehen in einer Handschrift des 11. Jahrhunderts nicht nur die echten Metrika, sondern auch die pseudoheronischen Kompilationen und die hnlichen Schriften von DIDYMOS und DIOPHANES. HERONS Dioptrik enth lt der Cod. Paris. 607 und seine ebenfalls echten Definitiones sind in einer anderen Pariser Handschrift aus dem Jahre 1303 (Cod. Paris. Suppl. Gr. 387) erhalten nach einer Zusammenstellung auch aus dem 11. Jahrhundert. Byzanz und der Westen standen im 12. Jahrhundert — wie auch fr her — in reger politischer, wirtschaftlicher und auch wissenschaftlicher Wechselbeziehung. So brachte unter dem f r Astronomie und 13

S. die bersetzung von περί των Ιδεών α$ δ Πλάτων λέγει bei HUSSEY, a. a. O. S. 226—229. 14 Siehe A. HEISENBERG, Grabeskirche und Apostelkirche II, Leipzig, 1908. 17ff., 90ff. — Bei der Schilderung des Unterrichtsbetriebes fehlt die Astronomie, daf r ist die Medizin eingesetzt. Schon VARRO hatte zu den 7 freien K nsten noch Medizin und Architektur genommen. 15 Der διδάοτ. Damit weist er also der sich an Gottes Wort ausrichtenden, wohl auch von ihm inspirierten ratio einen vorzüglichen Platz ein. GRATIAN macht aber noch eine sehr wichtige weitere Unterscheidung: «Sed aliud est causis terminum imponere, aliud scripturas sacrasdih'genter exponere». Hier stellt er nun das Prinzip der Amtsautorität sehr stark heraus, weil eben für die Entscheidung von Rechtsfällen nicht nur Weisheit und Wissenschaft, sondern auch die Amtsvolhnacht zur Rechtssetzung nötig ist, wie sie aus der Binde- und Lösegewalt abgeleitet wird, so daß in diesen Fällen kirchenrechtliche Entscheidungen, vor allem der Päpste, über den Lehren der Kirchenväter stehen. Damit ist dann auch ein Übergang möglich zu der Lehre vom Primat des Papstes, über die er in der folgenden Distinctio handelt, wobei er als allgemeine Rechtsgrundlage herausstellt :«Quantocelsiorgradus, tanto maior auctoritas invenitur»6. Diese päpstliche Autorität zur Schaffung neuen Rechtes überträgt GRATIAN auch auf die Jurisdiktion der Konzilien, deren Beschlüsse erst durch päpstliche Einberufung Rechtskraft erlangen; so heißt es bereits inDistinctio 17:«Absque Romani Pontificis auctoritate congregari sinodus non debet»7. Die päpstliche auctoritasbezieht sich schließlich auch auf die Anerkennung oder Verwerfung älterer kanonischer Texte8. Sehr wichtig sind für unsere Fragestellung die Ausführungen Gratians über die Rechtsnatur des Privilegs, ein Problem, dem wir auch später immer wieder begegnen werden. Hier ist es die Causa 25, in der das D:kret in einem ausführlichen Dictum sich zur Stellung des Apostolischen Stuhles äußert. GRATIAN führt hier aus, daß die römische Kirche über den Canones steht, weil sie ihnen überhaupt erst Lebenskraft verleiht: «Sacrosancta Romana ecclesia ius et auctoritatem sacris canonibus inpertit, sed non eis alligatur. Habet enim ius condendi canones, utpote que caput et cardo est omnium ecclesiarum, a cuius re4

Corpus iuris canonici, ed. AEMILIUS FRIEDBERG, vol. I (Lipsiae 1879J 66. Ebd. • D 21; ebd. 70. 7 D17c. 1; ebd. 60. 8 D 16; ebd. 41 ff. 5

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gula dissentire nemini licet. Ita ergo canonibus auctoritatem prestat, ut se ipsam non subiciat eis.»9 Hier verweist er auf das Beispiel Christi, der sich ebenfalls nicht an das jüdische Gesetz gehalten hat, weil er selbst als Gott der Gesetzgeber war. Wenn aber die römische Kirche und die Päpste die Canones nicht auf Grund einer rechtlichen Verpflichtung, sondern zum Vorbild für die Kirche beachten, so ist es ihnen umgekehrt erlaubt, jene Canones autoritativ zu interpretieren, ja scheinbar gegen das Gesetz Privilegien zu erteilen. GRATIAN sagt hierzu: »Cum ergo aliqua privilegia ab Apostolico aliquibus conceduntur, etsi contra generalem legem aliquid sonare videantur, non tarnen contra ipsam concedere intelliguntur, cum ipsius legis auctoritate privilegia singulorum penes matrem omnium ecclesiarum reserventur. Neque enim privilegia aliquibus concederentur si preter generalem legem nulli aliquid speciale indulgeretur. Privilegia namque dicuntur quasi privata legia, eo quod privatem legem singulis generent»10. Aus dieser Stelle geht eindeutig hervor, daß das Privileg eine Vergünstigung sein muß, welche mit dem allgemeinen Recht nicht in Einklang zu bringen ist (preter generalem legem), so daß es als Akt der speziellen Gesetzgebung erscheint. Ausgenommen von dieser Privilegien- und Dispensgewalt war lediglich das göttliche und natürliche Recht. Von ganz besonderer Bedeutung für die gesamte Kirchenrechtswissenschaft war schließlich der berühmte Satz im gleichen Dictum, der zur Erläuterung der Haltung in der Privilegienfrage diente: «Ipsi namque soli canones valent interpretari, qui ius condendi eos habent»11. Hierdurch wurde in einer Zeit einer immer stärker erweiterten päpstlichen Gesetzgebung dem Papst auch das Recht zur authentischen Interpretation zugeschrieben, bei der engen Verbindung zahlreicher Päpste zum Kirchenrecht ein äußerst bedeutsamer Vorgang. Allerdings hat die Kanonistik hier feine Unterschiede zu machen gewußt. Wenn wir einmal gleich ein Stück weitergreifen, so finden wir bei HuGUCCIO den klaren Satz, mit dem er eine Dekretale Alexanders III., der ja selbst ein großer Kanonist war, kritisiert: «Hanc non esse decretalem, vel si est, locutus est ut magister, non ut papa»12. Eine ähnliche Stelle finden wir auch bei dem im 13. Jahrhundert schreibenden TANKRED : «Aliud statuere debet quis tanquam iudex et aliud tanquam consulens anime sue»13. Bei dem Charakter dieses Referats wird es erlaubt sein, einen besonderen Begriffsinhalt der auctoritas von möglichst vielen Seiten aus be10 » Ebd. 1011. Ebd. 1012. Ebd. 1011. 12 FRIEDRICH v. SCHULTE, Literaturgeschichte der Compilationes Antiquae, SB. Wien 66 (1870) 93. 13 FRANZ GILLMANN, Johannes Galensis als Glossator, AKKR. 105 (1925) 543. 11

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sonders zu untersuchen, eben die auctoritas des Papstes, wie sie sich in seine Stellung und seinem Vorrang vor allem gegenüber dem Kaisertum und den anderen europäischen Staaten äußert. Hier wird eine päpstliche Oberhoheit von den Kanonisten angenommen, allerdings auf einen geistigen Primat beschränkt, wie das Studium der kanonistischen Literatur beweist. Dabei kann die Entwicklung in den Jahrzehnten nach dem Dekret GR ATI ANS natürlich hier nur gestreift werden. Dagegen ist stärker auf die Literatur aus den letzten Jahren des Jahrhunderts einzugehen, nicht zuletzt deshalb, weil hier sehr große wissenschaftliche Leistungen vorliegen, die auch auf die päpstliche Gesetzgebung des frühen 13. Jahrhunderts zum Teil entscheidenden Einfluß hatten; daß Innozenz III. Schüler von HUGUCCIO war und manche Lehrmeinungen seines Meisters in seinen Dekretalen fast wörtlich auftreten, ist ja bekannt. Aber zurück zur Mitte des Jahrhunderts, zu der Summe des RUFINUS, die zwischen 1155 und 1159 entstanden ist. RUFINUS kommentiert hier einen berühmten Text der gregorianischen Zeit und knüpft an die Schlüsselübergabe an Petrus an. Zu dem Satz «Qui beato Petro aeternae vitae clavigero terreni simul et coelestis imperil iura commisit»14 schreibt er: « Celeste Imperium celestium militum, i. e. universitatem cum his, que ad eos pertinent, dicit; terrenum vero regnum vel Imperium seculares homines secularesque res appellat: per hoc ergo videtur, quod summus pontifex, qui beati Petri est vicarius, habet iura terreni regni; sed animadvertendum est, quod ius aliud est auctoritatis, aliud amministrationis »*5. Vor allem der letzte Satz ist von äußerster Wichtigkeit, weil RUFINUS hier ganz klar zwischen einer geistigen Oberhoheit und der Verwaltungshoheit unterscheidet, wobei er sich auch auf den Gebrauch im kirchlichen Bereich selbst, etwa bei den Bistümern, stützt: «Et quidem ius auctoritatis quemadmodum in episcopo, ad cuius ius omnes res eccelesiastice spectare videntur, quia eius auctoritate omnia disponuntur; ius autem amministrationis, sicut in yconomo, iuste enim habet ius amministrandi, sed auctoritate caret imperandi; quicquid aliis precipit, non sua, sed episcopi auctoritate indicit»16. Gerade von diesem kirchlichen Beispiel aus kann er dann die Schlußfolgerung ziehen: «Summus itaque patriarcha quoad auctoritatem ius habet terreni imperii, eo seil, modo quia primum sua auctoritate imperatorem in terreno regno consecrando confirmat, et post tarn ipsum quam reliquos seculares istis secularibus abutentes sola sua auctoritate pene addicit et ipsos eosdem post penitentes absolvit. Ipse vero princeps post ispum 14

D 22 c. l; FRIEDBERG a. a. O. 73. Die Summa Decretorum des Magister Rufinus, ed. HEINRICH SINGER (Paderborn 1902) 47. " Ebd. 18

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auctoritatem habet seculares regendi et preter ipsum officium amministandi; etenim nee apostolicum secularia nee principem ecclesiastica procurare oportet.«17 Diese Probleme werden auch in anderen Schriften des späten 12. Jahrhunderts immer wieder abgehandelt. Der Einfluß des RUFINUS findet sich z. B. in der Formulierung, welche um 1186 die Summa Lipsiensis, ein Werk der anglo-normannischen Schule, findet: »Nota, qui primam tenent sententiam (daß der Papst über Kleriker und Laien das imperium spirituale besitzt), dicunt quod summus pontifex utrumque habet gladium: alterum non administratione, set tantum auctoritate, ut materialem; celestem vero et ecclesiasticum plena auctoritate»18. Die gleiche Summa Lipsiensis übernimmt aus ihrer Vorlage, den in der Kirchenprovinz Sens unter Lucius III., also 1181—1185, geschriebenen Glossae Siuttgardienses bei der Betrachtung des päpstlichen Imperiums die Frage, wie das Verhältnis in dem Falle ist, wenn ein weltlicher Herrscher vom Papst direkt mit einer Jurisdiktion betraut wird, also etwa in den Päpstlichen Lehen. Auf die klare Frage «Sed quid dieemus de hiis iudicibus, qui ab ipso papa temporalem iurisdictionem accipiunt» — wobei iudex nach kanonistischem Sprachgebrauch für jeden weltlichen Herrscher steht — erfolgt die ebenso klare Antwort, wie sie bereits in den Darlegungen des RUFINUS über den bischöflichen yconomus anklang: «Ex auctoritate potestatis executionem»l9. Auch hier wird also das Recht der Gewaltausübung nicht etwa aus den besonderen Verhältnissen der Unterstellung bzw. vor allem des Lehenswesens gesehen, sondern als Ausfluß der päpstlichen auctoritas, wobei gleichzeitig zugestanden wird, daß der Papst diese Rechte nur übertragen, aber nicht selber ausüben kann; denn die Kirche kann «concedere gladium sanguinis, licet per se agitare illum non debeat», da «sepe per alios possumus, quod non per nos». Daraus folgert, «Quod papa nudam habet potestatem istam et non eius executionem et eam nudam concedit »20. In der Frage der Abgrenzung der päpstlichen und kaiserlichen Gewalt erfolgt dann eine für die Folgezeit bedeutsame Entscheidung durch den bereits erwähnten Dekretisten HUGO von Pisa, den sogenannten HUGUCCIO. HUGUCCIO, der seine Summe kurz vor 1190 in Bologna schrieb, ist eben vor allem deshalb so wichtig, weil sein Gedankengut auf seinen Schüler Innozenz III. einen bedeutenden Einfluß hatte. Gerade darum wäre es auch zu wünschen, wenn seine Summe 17 18

Ebd.

JOSEF JUNCKER, Die Summe des Simon von Bisignano und seine Glossen, ZRG. kan. 15 (1926) 492 Anm. 2 (Glosse zu D 2 2 c . 1). 19 SERGIO MOCHI ONORY, Fonti canonistiche dell'idea moderna dello stato (Milano 2tt 1951) 127. Ebd. 128.

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trotz den entgegenstehenden Schwierigkeit engedruckt werden könnte21. HUGUCCIO weist der auctoritas des Papstes eine ganz bestimmte Stellung zu mit den klaren Worten: «in spiritualibus et quodammodo in temporalibus.«22 Davon ausgehend kommentiert er auch die alte, oft mechanisch wiederholte Formel, daß der Papst in spiritualibus und der Kaiser in temporalibus höher steht. Der Papst ist maior in spiritualibus; denn «habet iurisdictionem in spiritualibus super imperatorem, ut in eis possit eum ligare et condemnare». Der Kaiser hingegen «non sie est maior papa in temporalibus»; denn «nullam iurisdictionem vel prelationem habet imperator super papam», keine «potestas et iurisdictio super eum», sondern nur «maiorem potestatem et iurisdictionem» in den rein weltlichen Angelegenheiten. Daraus folgert, daß der Papst über einen nachlässigen Kaiser richten kann; der Hinweis auf die Möglichkeit der Exkommunikation führt HUGUCCIO dahin, daß er dieses päpstliche Gericht «rationepeccati» bzw. «ratione criminis» gegeben sieht. Auch an anderer Stelle äußert sich der große Rechtslehrer in klarer Weise: (XCVII Duo) «mundus regitur pontificali auctoritate et regali potestate . . . (mundus) regitur tamquam per instrumenta; per illa regitur tamquam per rectores et ministros divini et humani iuris; per dominum regitur tamquam per actorem . . . Si ergo mundus regitur ab illis duobus his duobus (also iuribus), id est, illi duo regunt mundum per haec (iura), pontificalis auctoritas per ius divinum, regalis potestas per humanum, sicut lignum dolatur ascia, i. e. per sciam, seil, instrumentum.»23 Aus den angeführten Textstellen dürfte völlig klar hervorgehen, daß HUGUCCIO die auctoritas des Papstes in jener geistigen Oberhoheit sieht, die aber auch bei aller Betonung ihres geistigen und geistlichen Charakters sehr wohl in den weltlichen Bereich ausstrahlt. Die päpstliche auctoritas findet bei Huguccio noch eine weitere Abgrenzung, nämlich in dem Verhältnis zwischen päpstlicher und konziliarer Gesetzgebung bzw. Lehre der Kirchenväter. Hier konnte er an das bereits angeführte Dictum GRATIANS anknüpfen und ausführen: «In negotiis definiendis maior est auctoritas canonis sive apostolici quam auctoritas Augustini vel Hieronymi»24. Andererseits sieht der Kirchen21

Über eine Edition vgl. LUIGI PROSDOCIMI, La «Summa decretorum» di Uguccione da Pisa, Studi preliminari per una edizione critica, Studia Gratiana Bd. III (Bologna 1955) 349—374; CORRADO LEONARDI, La vita e l'opera di Uguccione da Pisa Decretista, ebd. Bd. IV (Bologna 1956/57) 89—98. 22 Für das Folgende MOCHI ONORY a. a. O. 154. 23 Zitiert bei WALTER ULLMAN, Medieval Papalism (London 1949) 142 Anm. 3. 24 Ebd. 32 Anm. 4. Weitere interessante Stellen zu diesem Problem bei BRIAN TIERNEY, Two Anglo-Norman Summae, Traditio 16 (1959) 488f.; eine noch schroffere Haltung im Sinne des Papsttums nehmen die unter Benutzung Huguccios schreibenden, hier zitierten Summa Prima primi und Summa Duacensis ein. 17*

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rechtslehrer sehr deutlich die Schwierigkeit, daß sich beide Autoritäten (Papst und Konzil), die ein wirkliches Eigengewicht haben, überschneiden können und stellt dafür eine Richtlinie mit folgenden Sätzen auf: «Fertur una sententia a solo papa, alia ab omnibus aliis. Queergo cui est preponenda ? Dicunt hie, quod sententia pape. Distinguo tarnen et dico: si alt era continet iniquitatem, illi preiudicatur. Si vero neutra videtur continere iniquitatem et dubium est, que veritatem continet, pares debent esse et ambe teneri et hec vel illa pro voluntate pot est eligi, quia paris sunt auctoritatis, cum hinc sit maior auctoritas, inde maior numerus . . . Si tarnen papa precipiat, ut sua sententia teneatur et non teneatur sententia concilii, obediendum est ei et sua sentendia tenenda et non illa»25. Wenn aber bereits hier ein Vorrang des Papstes, wie er sich ja auch in dem Recht zur Einberufung eines Konzils zeigt — GRATIAN sagt ganz eindeutig: «Auctoritas vero congregandorum conciliorum penes apostolicam sedem est»26 —, sichtbar wird, so führt HUGUCCIO an zwei anderen Stellen dieses noch klarer aus: «Quia excommunicaverat concilium auctoritate Romane ecclesia congregatum, ceciderat in heresim. Tali enim facto Romanam ecclesiam esse caput omnium ecclesiarum negabat. . . Ibi enim dicitur, quod ecclesia Romana habuit primatum a domino et a conciliis. Set die, quod a domino principaliter et per auctoritatem habuit, a conciliis vero secundario et per voluntariam concessionem se illis submittendo27. Von Bedeutung für die päpstliche auctoritas sind bei HUGUCCIO, um noch ein weiteres Beispiel aus dem umfangreichen, aber nur durch Handschriftenstudium ausschöpfbaren Materials zu geben, auch die Untersuchungen, die sich mit der Stellung des Papstes zum römischen Recht befassen. Die besondere Heraushebung Roms als Quelle der Rechtsprechung war nicht nur auf das kanonische Recht beschränkt, sondern ganz wesentlich in der Bedeutung und Vorbildlichkeit des römischen weltlichen Rechts, dessen Studium ja gleichzeitig eine große Blüte erlebte, begründet. Die um 1169 von einem in Bologna und Paris ausgebildeten Angehörigen des Kölner Erzbistums verfaßte Summa Coloniensis sagt dazu bereits: «De consuetudine diversa sentiuntur . . . dicunt tarnen alii, quod consuetudo perimit legem, ut possit earn abrogare, ei quoque derogare, quod non generaliter, sed in casu verum est populi Romani, vel alius, qui habet condendae legis auctoritatem»27. Es ist einleuchtend, daß nun HUGUCCIO diese auch in der übrigen kirchlichen und weltlichen Literatur bekannte Heraushebung Roms benützt, um einerseits wegen der Zugehörigkeit zur römischen 88

ARTURO MICHELE LANDGRAF, Diritto canonico e teologia nel sec. XII, Studia Gratiana Bd. I (Bologna 1953) 395 Anm. 130. 2 « Diet. D 17; FRIEDBERG a.a.O. 50. 27 FRIEDRICH v. SCHULTE, Zur Geschichte der Literatur über das Dekret Gratians, SB. Wien 64 (1870) 112.

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Kirche die Gültigkeit des römischen Rechts auch für die ultramontanen Länder zu postulieren, andererseits aber dem Papst das Recht zuzusprechen, ein Urteil über die Rechtskraft der Normen im einzelnen abzugeben: «Item, saltern, ratione pontificis subsunt Romano imperio; omnes enim christiani subsunt apostolico et ideo omnes tenentur vivere secundum leges romanas, saltern quas approbat ecclesia. — Item, quid, de clericis ? numquid et ipsi ligantur legibus romanis ? Sie, illis quae approbantur ab ecclesia et non obviant canonibus. Sed non ideo quia sint promulgatae ab imperatoribus, sed quia sunt confirmatae a domino papa; ideo in causis ecclesiasticis locum habent leges seculares, que non obviant canonibus, alias repellentur»28. In diesem Zusammenhang ist auch die Summa Reginensis anzuführen, die von STICKLER dem PETRUS VON BENEVENT auch PETRUS COLLIVACCINUS genannt, zugeschrieben wird, der vor allem durch die Zusammenstellung der 1210 veröffentlichten Compilatio tertia bekannt ist. Auch hier wird wieder die auctoritas des Papstes bezüglich des römischen Rechtes klar herausgestellt : «Ita est, non quia eas ediderunt imperatores, set quia ab ecclesia romana confirmate sunt, que seil, non obviant canonibus»29. Ein ähnliches Problem einer Bestätigung bestehenden Rechts durch den Papst bietet sich durch das Erstarken der nationalen Königreiche neben dem universalen Kaisertum. Hieran ist natürlich vor allem die anglo-normannische Schule interessiert, die aus der Salbung auch der Könige folgert, daß diese dann auch die gleiche Autorität wie die Kaiser haben müssen: «Item cum uterque tarn imperator quam rex eadem auctoritate, eadem consecratione, eodem crismate inungitur, unde ergo potestatis diversitas ?»30 Noch weiter geht hierbei der Kanonist LAURENTIUS HISPANUS, wenn er in einer Glosse zur Compliatio III erklärt: «Largo vocabulo quilibet potest imperator dici, qui habet, quibus imperet»31. Die auctoritas des Papstes, die wir hier vor allem verfolgen, kann noch wenigstens in einzelnen Beispielen weiter erläutert werden. Die bereits erwähnte Summa Reginensis beschäftigt sich z. B. mit der Frage der Blutgerichtsbarkeit einzelner Kirchen und stellt hier den Versuch an, das Prinzip der Enthaltung von Blutvergießen mit den tatsächlichen Verhältnissen einer weltlichen Herrschaft der Kirche in Einklang zu bringen: «Flures tarnen ecclesie habent materialem (gladium) et prestant auctoritatem exercendi eum in suo patrimonio et maxime Romana ecclesia et potest delegare gladium talem; licet diffi28

MOCHI ONORY a. a. O. 175. ALPHONS M. STICKLER, Decretisti bolognesi dimenticati, Studia Gratiana Bd. III (Bologna 1925) 396. 80 FRANZ GILLMANN, Richardus Anglicus als Glossator der Compilatio I, AKKR 107 (1927) 626. 81 Ders., Des Laurentius Hispanus Apparat zur Compilatio III auf der staatl. Bibliothek zu Bamberg (Mainz 1936) 128f. 28

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nire vel execution! mandare non possit, nee etiam specialiter execution! demandare. Nam qui sua auctoritate gladium accipit, gladio peribit. Obicitur quod iudex ecclesiasticus nee iudex nee assessor debet esse in causa sanguinis. Debet ergo dicere hoc esse ius ? R. Si interrogetur bene debet; non tarnen per se debet causam sanguinis agitare»32. Die feine Unterscheidung, daß der Auftrag zur Rechtsprechung, wie er etwa auch durch die Einsetzung zum Kaiser gegeben wird, trotzdem nicht eine päpstliche Autorität zur Blutgerichtsbarkeit darstellt, wird vonRiccARDUS ANGLICUS gegenEnde des 12. Jahrhunderts im Anschluß an das zitierte Wort Salomons deutlich gemacht: «Si enim potestatem habet a summo pontifice, ergo eius auctoritate, cognoscit in iurisdictione sanguinis. Item alibi dicitur< eripe eum, qui ducitur ad mortem)... Si ergo tenetur reos sanguinis defendere ecclesia, non ergo eius auctoritate ultimo debet puniri supplicio. Item si eius auctoritate debet imperator cognoscere in causa sanguinis, ergo ab imperatore potest ad papam appellari, quod manifeste negatur in decretali Alexandri III Denique (weil außerhalb der kirchlichen Gerichtssphäre). Si appellatur ad ipsum, quid faciet in causa sanguinis: ipse siquidem cognoscere non potest, quia nee cogitare iudicium sanguinis. Videtur nobis securior via eorum, qui dicunt, quod imperator a solo deo habet potestatem»33. Die geistige Oberhoheit des Papstes zeigt sich außerdem in dem Recht, weltliche Herrscher abzusetzen, wie es z. B. durch die Glosse eines unbekannten französischen Kanonisten um 1200 ausgeführt wird: «Set nonne papa posset deponere regem ? ita, quiapreest ei, ut d. 96 Duo. Set qualiter? de reno(?) baronum, si coram eo accusetur et convincatur; post autem excommunicandus, tandem deponendus. Set nonne possunt barones eum deponere ? ita, cum consensu pape, aliter non»34. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts wird dieses päpstliche Absetzungsrecht weiterhin u. a. sehr klar von dem Engländer ALAN us vertreten, wobei natürlich darauf zu verweisen ist, daß die Begründung dafür eben letztlich im Geistigen und Geistlichen liegt durch die Berufung auf die Sündhaftigkeit des Abgesetzten, wenn das auch bei unserem Text nur implicite zum Ausdruck kommt: «Si ergo papa iudex ordinarius est et quoad spiritualia et quoad temporalia, potest ab eo deponi imperator et eodem modo quilibet laicus habens potestatem vel dignitatem aliquam sub imperatore, si plenitudinem potestatis sue uti vellet»35. In besonderer Weise hat natürlich der nun schon oft genannte INNOZENZ III. zur Schaffung des Bildes der päpstlichen auctoritas in 82 33 84 36

STICKLER a. a. O. 397. ULLMAN a. a. O. 213; auch bei MOCHI ONORY a. a. O. 208 Anm. 1. STEPHAN KUTTNER, Repertorium der Kanonistik (Cittä del Vaticano 1937) 36. MOCHI ONORY a. a. O. 193.

Gedanken über die Auctoritas in der Kanonistik des frühen 13. Jahrhunderts 263

der Kanonistik beigetragen. Daß er selbst über kirchenrechtliche Bildung verfügte und von der Kanonistik auch abhängig war, ist allgemein bekannt. Vieles aus seiner reichen gesetzgeberischen Wirksamkeit wurde in der Compilatio III und/Fzusammengetragen (wovon die erst ere auf jeden Fall authentisch war und Gesetzeskraft erlangte) und ist dann aus diesem Material in die Dekretalen Gregors IX. übernommen worden. Wir können hier nur an einzelnen Beispielen zeigen, wie sehr dieser Papst von der Kanonistik beeinflußt war. Das gilt z.B. von dem berühmten Brief an die Rektoren des Tuskenbundes, in dem er von dem Verhältnis der geistlichen zur weltlichen Macht spricht, z. T. an ältere, wohlbekannte Topoi anknüpfend. Hier heißt es36: »Wie der Schöpfer des Alls, Gott, am Firmament des Himmels zwei große Lichter eingesetzt hat, das größere Licht, um dem Tage, das kleinere, um der Nacht vorzustehen, so hat er am Firmament der allgemeinen Kirche. . . zwei große Würden eingesetzt, die größere ..., um über die Seelen, und die geringere .... um über die Körper zu herrschen; die pontifikale Autorität nämlich und die königliche Gewalt. Wie also nun der Mond sein Licht von der Sonne erhält. . . , so erhält die königliche Gewalt von der pontifikalen Autorität den Glanz ihrer Würde«. Interessant ist hier die feine Unterscheidung, daß INNOZENZ nicht behauptet, der König erhalte seine Macht vom Papste, sondern nur den Glanz der Würde anführt, so daß man wohl, ohne die Dinge zu pressen, sagen kann, er denke hier vor allem an die liturgische Königs- bzw. Kaiserweihe, im letzten also an den geistlichen Vorrang, an die päpstliche auctoritas. Jener Unterschied der päpstlichen auctoritas im Geistlichen und im Weltlichen zeigt sich auch in der Lehensurkunde für Johann von England, wo es INNOZENZ begrüßt, daß der König sich selbst und seine Reiche dem auch temporaHter unterwirft, dem er sich spiritualiter unterwerfen mußte37, so daß in diesem Falle, den allerdings INNOZENZ zweifellos als Idealfall angesehen hat, beide Gewalten wie Leib und Seele in eins gefügt waren. Im Lichte der Kanonistik — und das ist vielleicht das Paradoxe der Fragestellung dieses Referats, das so vieles aus dem 12. Jahrhundert bringen mußte — gewinnen all die zahlreichen Aussprüche des Papstes über seine Überordnung über die weltliche Gewalt, über die päpstliche allumfassende auctoritas ein klares Licht, soweit sie nicht auf noch ältere Gedankengänge zurückzuführen sind. Wir wollen uns bescheiden, dieses Problem noch an einzelnen Punkten zu zeigen. Der Übergriff des Papstes in die weltliche Sphäre erfolgt jeweils dann, wenn die weltliche Gewalt nachlässig oder sündhaft ist. Bezeichnend dafür ist die Dekretale Licet aus dem Jahre 1206, in der INNOZENZ III. auf Klagen der Bürger von Vercelli die Nichtzuständigkeit 36 37

HELENE TILLMANN, Papst Innozenz III. (Bonn 1964) 266. Ebd. 265.

264

J ü r g e n Sydow

des geistlichen Gerichts in Zivilsachen festgestellt hatte; dieses Stück ist auch in die Dekretalen Gregor IX. aufgenommen worden. Allerdings nimmt INNOZENZ im gleichen Stück auch eine bedeutungsvolle Einschränkung dieser Abgrenzung der Kompetenz vor, nämlich «nisi in defectu iustitiae saecularis», und zwar «hoc praesertim tempore, quo vacante imperio ad iudicem saecularem recurrere nequeunt, qui a superioribus in sua iustitia opprimuntur»38. LAURENTIUS HISPANUS steuerte zu dieser Frage noch einige Beiträge zu: «Cum iudex secularis iustitiam non facit, eius negligentiam potest corrigere papa, delegando aliis iurisdictionem eius»39. Non ergo in temporalibus est iudex, nisi in subsidium, cum secularis est negligens»40. Eine besondere Beachtung erfuhr in der Kanonistik des frühen 13. Jahrhunderts auch die Frage des päpstlichen Legitimierungsrechtes. Hier ging der Papst davon aus, daß er im kirchlichen Bereich die Dispens- und Legitimierungsvollmacht habe und daher mit Recht auch in dem niedriger gestellten weltlichen Bereich in gleicher Sache derartige Rechtsakte setzen könne, vor allem im Fall des französischen Königs, der keine höhere Gewalt über sich kennt. Die römische Kirche habe schon in der Vergangenheit «quoad actus spirituales» legitimiert und dispensiert. Daher «cum maior ydoneitas in spiritualibus quam in secularibus requiratur, dubitari non debet, quin ipsa tales ad actus legitimare valeat presertim ad petitionem eorum, qui preter romanum pontificem alium inter homines superiorem minime recognoscunt habentem huiusmodi potestatem»41. Klarer wird das wohl noch durch die Worte des JOHANNES TEUTONICUS, des Verfassers der Glossa Ordinaria zur Compilatio III und auch zum Dekret Gratians: «Die, quod dominus papa non habet potestantem legitimandi in temporalibus, sed eo ipso quod legitimatus est in spiritualibus, intelligitur legitimatus in temporalibus, unde per quandam consequentiam»42. Bei aller rechtsschöpferischen Bedeutung des Papstes INNONENZ III. darf nicht übersehen werden, daß er in typisch kanonistischer Arbeitsweise immer wieder sich für seine Entscheidungen bei den auctoritates Rat suchte, also bei den Vätern, den Konzilien, den kirchlichen Rechtssatzungen, soweit es sich um göttliches Recht handelt. Letztlich entscheidet auch bei ihm das Gewissen. So heißt es in einer auch für diese seine Arbeitsweise äußersts aufschlußreichen Dekretale: «Omne, quod non est ex fide, peccatum est, et quicquid fit contra conscientiam, aedificat ad gehennam» (c. 13 XII, 13). Im Bereich des rein diesseitigen kirchlichen Rechtes dagegen übt er diese Tätigkeit kraft päpst38

39 40 41 42

c. 10 X II, 2. MOCHI ONORY a. a. O. 204. GILLMANN, Laurentius Hispanus a. a. O. 41. MOCHI ONORY a. a. O. 273. ULLMAN a. a. O. 105.

Gedanken über die Auctoritas in der Kanonistik des frühen 13. Jahrhunderts

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lieber Autorität und Machtfülle aus und zeigt ganz deutlich, daß er diese wesentlich von den Kanonisten des späten 12. Jahrhunderts erarbeitete Stellung voll zu nutzen weiß. Ich verweise nur auf den Satz des HUGUCCIO, der den Papst als «iudex Ordinarius omnium, seil, maiorum et minorum prelatorum et subditorum » bezeichnet hatte43. Auf diesem Sektor der päpstlichen Jurisdiktion ist INNOZENZ dank den Vorarbeiten weit über das hinausgegangen, was seine Vorgänger als möglich ansahen. Das Bild der päpstlichen auctoritas unter und nach INNOZENZ III. ist großzügig und als Abschluß einer langen Entwicklung innerlich geschlossen. Als Motto könnte darüber der Satz TANKREDS stehen, daß, »was immer durch die Autorität des Herrn Papstes geschieht, durch die Autorität Gottes geschieht«. Er ist lex vel canon vivus, ein Satz, der noch beiBoNiFAZVIII. anklingt: «Omnia iurain scrinio pectoris sui censetur habere«. Dabei wird diese päpstliche auctoritas immer zunächst vom geistlichen Vorrang her gesehen, sei es nun bei einer Königs- oder Kaiserwahl, wobei die Rechtgläubigkeit des Kandidaten, die Weihe und die Krönung durch den Papst oder andere Kirchenfürsten in Betracht zu ziehen war, sei es bei einer Absetzung oder bei einem Eingriff in weltliche Angelegenheiten, die wegen der Sündhaftigkeit des Betreffenden erfolgte, sei es etwa auch bei der Legitimierung, der das geistliche Recht vorausging. 43

TILLMANN a. a. O. 32.

PROBLEMS OF EXEGESIS IN THE FOURTEENTH CENTURY By BERYL SMALLEY For the purposes of this enquiry I shall take exegesis to refer to the teaching of the Bible in schools and universities. Exegesis in this sense took three main forms: lectures on Scripture, which account for by far the largest proportion of the surviving material, aids to study and treatises on special aspects of Scripture, intended for use in academic circles. This is not to say that one can draw a clear dividing line between academic and non-academic or even popular circles, since the doctor or bachelor of divinity was training his pupils to instruct clergy and laity outside the schools; I only mean that I shall keep close to the main academic springs of thought and neglect the rivers which watered wider pastures. The subject has been very little studied. Professor F. STEGMÜLLER'S invaluable Repertorium biblicum, now completed from A to Z1, makes it possible to draw a rough statistical graph of the actual quantity of biblical works dating from the fourteenth century. His forthcoming volumes on the anonyma can hardly affect the general picture. The graph shows a slump in production going from the late thirteenth century to the earliest years of the fourteenth, followed by a tremendous boom lasting up to the mid-century, then another slump and a revival in the last quarter. The historian's first problem, therefore, is to relate his graph of exegesis to the intellectual, moral and religious trends of the time. He may even feel tempted to do so for the economic background when the experts on economic history have agreed on its main features. They are all at loggerheads at the moment, only at one in their stress on local and chronological complexities; so he had better put off this further effort, fascinating though it would be. His second problem is subsidiary to the first: to solve the one will put him on the way to solving the other. Who produced these biblical works out of the four possible sections of the scholastic world, secular masters, monks, canons regular or friars, and what was their content and purpose ? I have collected some information and gathered some personal impressions which may help to define both problems, the first and the second, more clearly for the first half of the fourteenth century. After that I can only make a few guesses. The first slump and boom in production must be seen as the continuation of a graph which can be plotted from the mid-twelfth century. 1

Madrid, 1950—1965.

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267

The same graph will show which section of the school population produced the most biblical commentaries and aids to study of various kinds. Biblical studies flourished at Paris in the hands of secular masters, of whom the most outstanding are PETER THE LATER, PETER THE CHANTER and STEPHEN LANGTON. When LANGTON left Paris in 1206 there was a pause in output. Then came the brilliant period of the Friars Preachers and Minors. The religious obligation to lectio divina joined with scholarship and evangelism to produce a richly varied multitude of biblica. Oxford copied Paris on the modest scale to be looked for from a newer centre. In both universities, it seems, the friars just took over Bible studies. The only secular master to make any mark at all was the exception which proves the rule: ROBERT GROSSETESTE, who died as bishop of Lincoln in 1253, taught as lector to the Oxford Grey Friars 1229/30—1235. He was a great biblicist, although his works have come down in bits and pieces. His immediate pupils and later admirers and imitators were friars. He for his part owed much to the stimulus he got from a Franciscan milieu2. All through this boom period the great men shone out from a crowd of mediocrities, not to say hacks. The striking point is that so many friars of all degrees of ability and originality should have contributed. The number of biblica falls again after the deaths of ST THOMAS and ST ALBERT. PETER JOHN OLIVI, JOHN PECHAM and JOHN RÜSSEL, all Franciscans, and the Dominicans, REMIGO OF FLORENCE and BARTHOLOWE OF LUCCA, bridge the gap of the thirty or so lean years 1280—1310. The secular master, HENRY OF GHENT, left an interesting commentary on the Hexaemeron; but it seems to have had a very small circulation and little influence8. There is no reason to suppose that university masters ceased to fulfil their statutory duty to lecture on Scripture during this period, but the average lecture course must have been derivative and perfunctory; otherwise pupils and colleagues would have pressed for publication. We certainly cannot ascribe the decline to any corresponding trend in intellectual life in general. The opposite is true. The debates on Thomism and the theological issues raised by the conflict between Philip IV and Boniface VIII, to mention only two burning questions, must have turned the masters' energie to polemics and made them lose interest in the more hundrum task of lecturing consecutively on a book of the Bible. Life was too exciting. More urgent matters had to be dealt with. 2

For the main outline see my Study of the Bible in the Middle Ages, 2nd ed. Oxford, 1952; on Grosseteste, Robert Grosseteste Scholar and Bishop, ed. D. A. CALLUS, Oxford, 1956. 3 Notices on individual commentators will be found in the Repertorium biblicum, op. cit.; A. B. EMDEN, A Biographical Register of the University of Oxford to A. D. 1500, Oxford, 1967—1959 gives full notices of Oxford men. The last few volumes of the Histoire litte'raire de la France may be consulted.

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Beryl Smalley

The second, third and fourth decades of the fourteenth century saw biblica once more pouring from the schools, and now they came from many other centres, not least from the papal university at Avignon, as well as from Paris and Oxford. It was a second spring for the mendicant Orders, now reinforced by the Carmelites and the Austin friars. Again the seculars left them in possession of a virtual monopoly. ROBERT GROSSETESTE had no successor a century after his teaching period at the Oxford Greyfriars. The Bible still belonged to 'religion'. The friars' enemies, and they had many, made no attempt to dispute its teaching by setting up as their rivals. Increase in output resulted from conscious policy. Already in 1307 the Chapter General of the Dominican Order directed that more attention should be paid to Bible study. Every faculty must be given to Brother NICHOLAS TREVET of Oxford in the compilation of his biblical commentaries. It sounds as though TREVET was preparing aids to study for use throughout his Order. The impulse came from even higher quarters. The Avignon Popes prescribed and fostered biblica, especially John XXII (1316—1334)4. No educational program can succeed if it depends only on direction and incentive from above; it must meet with a willing response from teachers and must fulfil a real need in the classroom. These conditions were present in the early fourteenth century, just as they had been in the early thirteenth. The drive behind the movement was much the same in both cases. Preachers and teachers must be furnished with material to combat ignorance and heresy and to draw the laity closer to the Church. New dangers threatened. Both schoolmen and ecclesiastical rulers took stock of the situation and felt that Something must be done about it>. Whether quality improved with quantity and whether fourteenth-century commentators surpassed or lagged behind their predecessors is another matter. The following rough classification of types of commentaries will clear the ground. First there were catenae. We should not disdain them, since all teachers understand the need to provide their students with the latest work on their subject in a digestible form. HUGH OF ST CHER in his great postill on the whole Bible had aimed at bringing the Glossa ordinaria up to date by adding material from twelfth-century sources. DOMINIC GRIMA O. P. tried to imitate Hugh of St Cher, bringing together a selection of thirteenth-century exegetes, such as WILLIAM OF MIDDLETON 0. F. M., on the Pentateuch. PIERRE DE LA PALU 0. P. made the same kind of compost, but of more nearly contemporary works; his postill on the Psalter combines NICHOLAS TREVET O. P. and NICHOLAS OF LYRE O. F.M.; he added homiletics of his own. Neither GRIMA nor de laPalu gai* See my John Baconthorpe's Postill on St Matthew, Mediaeval and Renaissance Studies iv, 1958, 91—2; I hope to add some more bits of evidence in a forthcoming book.

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ned any great currency. Teachers preferred Hugh of St Cher for all his old-fashioned appearance. An Oxford Franciscan, WILLIAM OF NOTTINGHAM II, had more succes with his gigantic Gospel-commentary, delivered as lectures about 1312. It covered a conflated text of the Gospels in Clement of Lanthony's harmony and included some of St Thomas's Catena aurea. NOTTINGHAM'S became a standard work in England. Another Franciscan, Cardinal BERTRAND DE LA TOUR, produced the same type of all-embracing book in his commentaries on the Gospels and Epistles for the year, worked into homilies, which circulated widely both in England and on the Continent. Secondly, we have moralitates. These account for a big proportion of output. Sometimes the commentary, as it has come down to us, contains nothing else; sometimes it has a literal exposition of the text as well. In the second case, the literal exposition is generally slight and of little interest, as though the lecturer had reduced it to the bare minimum. The evidence suggests that in the first case the original course contained both moral and literal exposition: the moralitates were excerpted and circulated as being the more valuable part. Moralitates had a renewed vogue at this time because the lecture course trained its hearers in preaching. The Aries praedicandi showed the preacher how to construct his sermons and gave him some guidance in content, but he still depended on lectures on Scripture for his basic material. A kindly teacher would also offer suggestions for the speechifying on all occasions demanded by the growing formality of life. The practice of indicating 'themes' in moralitates goes back to the twelfth century. Certain parts of the lecture would be marked as a suitable theme for a season such as Easter or Lent or for a saint's day or perhaps for a sermon to some special type of audience. Fourteenth-century commentators extended the system so as to insert whole sermons or collationes where their text lent itself to the occasion they had in mind. We slide away from the liturgical year and from purely ecclesiastical functions to ceremonial occasions, such as 'a farewell address when some notable man is leaving a college or a concourse of people among whom he has dwelt'. The lecturer has come to see subject of his course as an assortment of texts introducing rhetorical pieces. It is a frightening instance of professional deformation. Moralitates offer others too. Some moralitates have become exempla collections. Stories and illustrations from profane rather than sacred sources are strung together on the thread of the text: «Incipit expositio super Lucam. .. moraliter et exemplariter multum utilis et plena documentis plurimorum philosophorum et poetarum ac gestis romanorum secundum Valerium Maximum.»

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Beryl S m a l l e y

If we follow this line we shall leave exegesis altogether and find ourselves studying preaching techniques, medieval knowledge of ancient writers, folklore and what you please. Thirdly, the canon-law type of commentary exists in one place only as far as I know, but there may be other examples and it is too odd to pass over. JOHN BACONTHORPE O. Carm., lecturing probably at Oxford in the «thirties », disapproved strongly of moralised fables and other flippancies. He believed that the exegete's duty was to instruct his students or readers in the faith and specially to warn them against heresies. His main targets here were MARSILIO OF PADUA and JOHN OF JANDUN and all detractors of John XXII. He quotes and comments on papal bulls. He takes every opportunity to defend the Papacy and the Church against all critics, lay or ecclesiastical. Even the Donation of Constantine, so often attacked as a source of « poison »to the Church at this period, found a passionate supporter in him. BACONTHORPE achieved his aim by greatly extending the practice of quoting canon law. Earlier exegetes had referred to the Corpus iuris canonici in its then form occasionally, when they wished to illustrate some point they had made. BACONTHORPE turned things upside down by explaining the Gospel in the light of the canonists. When Christ is accused of eating with pharisees and sinners, our commentator tells his students to « note the five cases in which it is unlawful to communicate with excommunicates», and gives them a short lecture on the exceptions and penalties. In fact, he caricatures the legalism of the fourteenth-century Church. If we follow him we shall leave exegesis by another track, leading to the decretals. The fourth type, too, exists in a solitary example. HENRY OF CARRETO O. F. M., who died about 1330, dedicated a mammoth exposition of Ezechiel's vision to John XXII, calling it Libri oraculorum. He aimed at dividing and sub-dividing the biblical text usque ad indivisibilia. The reason behind this apparently sterile and meaningless ploy was a need to rethink the division of the books of Scripture in the light of recent studies of ARISTOTLE 's Ethics and Politics. While fabricators of moralitates and BACONTHORPE added foreign matter to Scripture in their several ways, CARRETO chopped it up into unrecognisable patterns. All three types of commentary represent attemps to serve stale meat according to a new recipe. The commentator has nothing fresh to say; he racks his brains for original ways to teach the same lesson. Fifthly, many commentaries carry on the scholastic tradition of the thirteenth century with little change: divisions of the text, literal and grammatical exposition, distinctiones, quaestiones arising from the text, then some sort of spiritual exposition, all of a sober kind. The library at Assisi abounds in this type of commentary. A minute study of comments on certain chosen texts would be needed before one could detect changes of outlook or method here. ECKHART'S recently

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published Latin commentaries come under this heading. Can the historian of philosophy and theology hope to enrich his knowledge from fourteenth-century postills ? Probably, if he makes a careful selection. The Carmelite GUI TERRE inserted a quaestio de infalUbili magisterio romani pontificis, an early discussion of the subject, in his Gospel harmony5. The Austin Friar, JOHN KLENKOK, working in the late « sixties» left a still unpublished postill on the Acts of the Apostles, which contains much theological matter, focussed on the refutation of heresies6. My general impression is, however, that lecturers tended to keep the latest controversial questions out of their courses on Scripture. Sentence-commentaries and disputations were the proper place for such things. Lecturers on Scripture mostly limited temselves to safe, agreed conclusions and quoted writers of an earlier generation, so that their theological teaching has an elementary look about it. Even so, it has a certain importance from the point of view of its spread outside the scholls. ROBERT HOLCOT O.P., who mixed theology and moralitates in his famous WwiZow-commentary, popularised the current academic scepticism in an easily grasped, even told-to-the-children version. Every reader would learn that all these clever doctors at Oxford found it impossible to offer rational proof fo the soul's immortality or for God's existence. Many who lacked the education needed to follow scholastic arguments would enjoy the WYsiZow-commentary, a favourite book of the later middle ages. Lastly, we come to biblical scholarship, the study of the text and of biblical history. NICHOLASTREVExO.P. made a promising start at the beginning of the century. He seems to have been a good hebraist for his day and a thoughtful student of the literal sense. We are waiting for Miss RUTH DEAN'S long-promised book on Trevet to add to the existing studies on him. NICHOLAS OF LYRE O.F. M. finely continued the twelfth — and thirteenth — century tradition of Hebrew studies. We have no difinitive work on him at present, though a hebraist and rabbinic scholar, Dr. Herman Hailperin, has undertaken to examine him from the Jewish side7.1 have read LYRE on the Gospels to see whether he had the same interest in the literal sense of the New as he had in that of the Old Testament. He did not claim to have made any special study of Greek, and his knowledge of Hebrew and rabbinics could help him only occasionally when he commented on the Gospels. But he tries b

Edited by B. XIBERTA, Opuscula et Textus, ed. M. GRABMANN and FR. PELSTER Munich, 1926, 5—16. For another example, see M. MACCARRONE, Una questione inedita dell'Olivi sulT infallibiliti del papa, Rivista di storia della Chiesa in Italia iii, 1949, 309 343. This comes from Olivi's Quaestiones de perfectione evangelica, 1270—1298, which may be roughly classed as a biblical work. « Emden, op. cit. ii, 1057. 7 See his Nicolas de Lyra and Rashi: the Minor Prophets, Rashi Anniversary Volume, American Academy for Jewish Research, New York, 1941, 115—147.

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Beryl Smalley

to form a historical picture of Palestine with its religion and institutions at the time of the Gospel story. I have also read his postill on Ecclesiastes, a test book for the mind of a medieval commentator. Here again LYRE tries very honestly to understand the mind of King Solomon (he had no doubt that Solomon was the author). This makes me think that LYRE was a true biblical scholar and no mere philologist. He had the courage to break through traditional interpretations when they offended his love of truth. The problem before us is whether TREVET and LYRE had disciples. A Cambridge Franciscan called HENRY COSSEY commented on the Psalter in the «thirties », quoting TREVET, LYRE and a thirteenth-century Latin translation from the Hebrew, referred to as the superscript™ in the Psalter of ROBERT GROSSETESTE, bishop of Lincoln. Otherwise it is hard to find any trace of fresh, independent interest. The very succes of LYRE'S great Postilla litteralis shows that he had no followers. A work of scholarship « dates» in proportion to the health of the subject. It is a measure of health that a master should be outclassed by his pupils and that his books should lie unread on the shelves because new discoveries have been made. LYRE'S Postilla was seized upon eagerly and quoted almost the moment that it appeared. It was still being quoted in just the same way as the standard book on the literal sense towards the end of the century. JOHN WYCLIF, postulating the Bible in the early' seventies, still used the same stock authors as had been quoted currently forty years earlier. One was LYRE'S Postilla litteralis, the other the Compendium litteralis totius sacre scripture of PIERRE AURIOL 0. F. M., a guide to the various books of Scripture according to their literal exposition8. Something has gone wrong if two books of this kind remain standard after forty years. True, the slump intervened between LYRE and WYCLIF, but even the boom period of production, lasting into the «thirties » and »forties« saw no pupils of LYRE or TREVET at work, with COSSEY as the one exception. They were copied into scrap-books, but not emulated. Interest in biblical languages, in textual comparison and in biblical history seems to fade. The failure of the decree of the Council of Vienne in 1312 to promote the study of Greek and oriental languages in the West is too well-known to need stressing. Before we start blaming the fourteenth century for this sad collapse and asking the reason, we should look back into the thirteenth. My colleague, Mr. W. A. PANTIN, announced in his recent book, The English Church in the Fourteenth Century, that he meant to treat the fourteenth century, not as a prelude to the great changes to come, as it so often is, but as a legatee of the past: «In what respects is it a logical continuation or a mishandling of opportunity ? A climax or an anticlimax ? » I 8

B. SMALLEY, John Wyclif's Postilla super totam Bibliam, Bodleian Library Record iv, 1953, 18&—205.

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shall follow bis lead. The thirteenth century had left a double legacy to the next generation of exegetes. There had been philologists. Many friars had dabbled in Hebrew and rabbinics; a few had gone further and made themselves into good scholars; a very few had tackled Greek. There was an engaging, if naive curiosity on problems of chronology and geography and so on. None of these men was a front-rank theologian. The contribution of theology in the person of ST THOMA.S was to work out the relation of the literal and spiritual senses more clearly than had ever been done before, to point to the primacy of the literal sense (the writer's whole intention) and so to put the spiritual sense in its place as an aid to preaching and devotion, but as marginal to serious exegesis. ST THOMAS himself made some brilliant experiments in literal interpretation. His commentary on the book of Job is to me the most sxciting book that the thirteenth century produced, which is saying a lot. Is it good news that we shall soon have it in a good edition. Yet as Father Spicq has remarked, ST THOMAS was backward in relation to his time in his scholarly equipment to study the Bible10; the little men, whom few remember today, contemporaries of St Albert and ST THOMAS, surpassed these two giants in their knowledge of biblical languages. The deadening consequence of specialisation, so apparent to us, its helpless victims, could already be felt in the heyday of scholasticism. A bright future opened up for exegesis if, but only if, some genius could combine the understanding of ST THOMAS with the linguistic gifts of a RAMON LULL, a ROGER BACON and a WILLIAM DE LA MARE. He did not come. Even LYRE lacked the brilliant originality which would have been need to effect the combination. My cursory survey of fourteenth-century commentators shows only too clearly that ST THOMAS was not understood by his own pupil, REMIGIO OF FLORENCE. REMIGio makes a pathetic attempt to work out the literal meaning of the Canticle; it was a pity that he chose so difficult a book. He can only suggest, for instance, that the bride was 'dark' because she had been harvesting in the country with her brothers! Much worse is the fact that REMIGIO falls back on the old saying that the literal sense is superficial or felshly and that the spiritual sense is the better object of study. If REMIGIO could so misrepresent his master, what can we expect of the anti-Thomists ? We had better expect nothing of anyone or we shall be disappointed. ST THOMAS wrote in vain and philology died with LYRE in 1349. I have now reached the realm of guesswork: was this failure of serious exegesis purely an accident ? Was it simply due to the non-appearance of some extraordinary genius? A genius needs his milieu. He often completes a long process of trial and error. I wonder whether a 10

Dictionnaire de theOlogie catholique xv, 1, 704—708.

W i l p e r t . Med. I

18

274

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genius of exegesis was really wanted in the fourteenth century. I wonder whether a theologian who shared the current tendencies towards scepticism and fideism would have felt happy about turning his talents to account in commenting on the sacred text. Moralitates were safer as well as more entertaining. Perhaps loss of confidence in the power of reason explains the traditionalism combined with frivolity that we find in fourteenth-century commentators. What caused the slump of the mid-century is anyone's guess. The Black Death and warfare may have contributed; they did not silence logic or masticism; then why did they slow down exegesis ? When Bible studies revived again, the authors of the revival were JOHN WYCLIF at Oxford and JEAN GERSON at Paris11. Little as they have in common, these two resemble each other in being secular doctors and not religious. The friars' long monopoly of teaching Scripture had been broken at last. Not since the late twelfth century had a secular made it his business to comment on the whole or the greater part of the Bible as WYCLIF did. Nor had any secular produced a tenth of the biblical treatises (as distinct from postills) which poured from Wyclif's pen. Moreover, both WYCLIF and GERSON had something new to say. WYCLIF questioned the whole basis of the medieval Church. He was the first fully qualified theologian to come out as a heresiarch since the beginning of scholasticism. M ARSILIO OF PADUA had been an Artist and sciolus as to an understanding of Scripture; so Alvaro Pelayo scornfully said of him. William of Ockham had been an INCEPTOR in theology, not a doctor. Nobody could have called WYCLIF sciolus or unqualified. That was what made his challenge so serious. GERSON wanted reform of a different kind; but the father of devotio moderna takes us far away form my early fourteenth-century categories. Another interesting new feature of the time is the re-entry of the older religious Orders into the field of academic biblical studies. They had not so far used their system of sending up monks for degrees to anygrat effect. WYCLIF roused Cardinal Adam Easton O. S. B. to learn Hebrew so as to make a study of Old Testament history in order to refute WYCLIF'S views on the relations between Church and State12. Oddly enough, the most prolific commentator of the unproductive mid-century was JOHN HESDIN, better known for his brush with PETRARCH. Hesdin belonged to the Order of the Hospitallers of St John. Whoever sets out to study the second curve of our graph will have to set himself new questions. He will find, I think, that our 'Fourteenth Century' proves to be invalid as a historical period. 11

On Gerson see P. GLORIEUX, L'enseignement universitaire de Gerson, Recherch.es de theOlogie ancienne et modieVale XXIII, 1956, 88—113. 12 W. A. PANTIN, The Defensorium of Adam Easton, English Historical Review li, 1936, 675—680.

QUELLEN UND STUDIEN ZUR GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE H E R A U S G E G E B E N VON PAUL W I L P E R T BAND l

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N I K O L A U S VON K U E S

WERKE Nach dem Straßburger Druck 1488 Neu herausgegeben von Paul Wilpert

WALTER DE GRUYTER & CO · B E R L I N