Antike und moderne Tragödie: Neun Abhandlungen [Reprint 2010 ed.] 9783110879070, 9783110050394

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Antike und moderne Tragödie: Neun Abhandlungen [Reprint 2010 ed.]
 9783110879070, 9783110050394

Table of contents :
Einleitung
Tragische Schuld und poetische Gerechtigkeit in der griechischen Tragödie
Die Orestessage bei den drei großen griechischen Tragikern
Die Danaidentrilogie des Aeschylus
Die Gestalt des Eteokles in Aeschylus’ ‚Sieben gegen Theben‘
Haimons Liebe zu Antigone
Zur Interpretation des Aias
Euripides’ ,Alkestis‘ und ihre modernen Nachahmer und Kritiker
Die Entwicklung der Iason-Medea-Sage und die Medea des Euripides
Entstehung und Inhalt des neunten Kapitels von Aristoteles’ Poetik
Anmerkungen
Register
Quellenverzeichnis

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ANTIKE UND MODERNE TRAGÖDIE

KURT VON FRITZ

ANTIKE UND MODERNE TRAGÖDIE NEUN ABHANDLUNGEN

W A L T E R DE

G R U Y T E R & CO.

/

B E R L I N

VORMALS G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG - J. GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG - GEORG REIMER - KARL J. TRÜBNER - VEIT & COMP.

1962

Archiv-Nr. 36 07 62 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. ©

1902 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung

J. Gutrentag, Verlagsbuchhandlung - Georg Reimer - Karl J. Trübner - Veit & Comp., Berlin W 30 Printed in Germany Satz und Druck: Paul Funk Buchdruckerei, Berlin W 30

INHALTSVERZEICHNIS Einleitung

VII

Tragische Schuld und poetische Gerechtigkeit in der griechischen Tragödie Die Orestessage bei den drei großen griechischen Tragikern .

l .

. 113

Die Danaidentrilogie des Aeschylus Die Gestalt des Eteokles in Aeschylus' ,Sieben gegen Theben* .

160 . 193

Haimons Liebe zu Antigone

227

Zur Interpretation des Aias

241

Euripides' ,Alkestisc und ihre modernen Nachahmer und Kritiker . 256 Die Entwicklung der lason-Medea-Sage und die Medea des Euripides

322

Entstehung und Inhalt des neunten Kapitels von Aristoteles' Poetik 430 Anmerkungen

461

Register

497

Quellenverzeichnis

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EINLEITUNG Die in diesem Bande vereinigten Aufsätze und Abhandlungen, von denen drei, über die Danaidentrilogie des Aeschylus und über die Tragödien Aias und Antigone, vor mehr als 25 Jahren, die übrigen innerhalb der letzten zehn Jahre entstanden sind, beschäftigen sich alle in der einen oder anderen Weise mit dem Problem der Rolle des Moralischen in der antiken Tragödie und in dem modernen ernsten Drama: die später entstandenen ganz bewußt und mit allgemeinerer, die früheren mehr unbewußt und mit speziellerer Fragestellung. In der modernen philologischen und wissenschaftlichen' Interpretation der antiken Tragödie findet das genannte Problem einen sehr sichtbaren Ausdruck darin, daß man die modernen Interpreten ziemlich reinlich in zwei Gruppen einteilen kann, von denen die eine der Meinung ist, die antike Tragödie habe moralisch wirken, ja in gewisser Weise geradezu Moral predigen wollen, während die andere Gruppe gerade diese Auffassung perhorresziert und ihr die Meinung entgegensetzt, es sei den antiken Tragödiendichtern nur darauf angekommen, ,gute Stücke' zu schreiben: jeder Versuch, durch ein Kunstwerk unmittelbar moralisch wirken zu wollen, sei der wahren Kunst fremd, ein Kunstwerk dieser Art daher notwendig ein Zwitterding; die antiken Dichter seien viel zu große Künstler gewesen, um in einen solchen Irrtum zu verfallen; die ,moralistische' Interpretation führe daher naturgemäß zu einer Verkennung des Wesens der antiken Tragödie. Als extreme Exponenten dieser beiden Richtungen in Deutschland können die Bücher von Max Pohlenz1 und Ernst Howald2, beide mit dem Titel ,die griechische Tragödie', gelten. Innerhalb der neueren angelsächsischen philologisch-wissenschaftlichen Literatur stehen die vielgelesenen Bücher von H. F. D. Kitto3 zur antiken Tragödie, ohne ganz so extrem zu sein, der Auffassung von Pohlenz ziemlich nahe, hat jedoch auch die entgegengesetzte Auffassung viele Anhänger.

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Die Kontroverse ist jedoch sehr alt, und es ist nicht uninteressant zu sehen, wie es damit zugegangen ist. Daß es Dramatiker gegeben hat und gibt, die durch ihre Dramen unmittelbar moralisch wirken wollten und wollen, ist offenkundig. So lange die Antike überhaupt und die klassische griechische Tragödie im besonderen als vorbildlich galt, war es natürlich, daß man das, was man selbst erstrebte und für richtig hielt, in jenen unerreichten Vorbildern wiederzufinden suchte. Das gilt allgemein bis auf die Zeit Lessings und etwas darüber hinaus. In unserer Zeit ist man im Gegenteil stolz darauf, Autoritäten zu stürzen und ihnen ,avantgardistisch' ein ganz Anderes und Neues entgegenzusetzen. So geht das Bestreben dahin, in den antiken Kunstwerken das Gegenteil dessen zu finden, was man selbst erstrebt und erreichen zu können hofft. Es ist nicht schwer zu sehen, daß weder die eine noch die andere Haltung der wahren historischen Erkenntnis sehr günstig ist. Aber vielleicht handelt es sich nicht einmal nur um historische Erkenntnis. Zwischen der antiken Tragödie und den praktischen und theoretischen Bemühungen der Dichter und ihrer Interpreten vom Beginn der Neuzeit bis zur Gegenwart steht noch die Poetik des Aristoteles. In diesem Werk hat Aristoteles zwar nicht, wie es in einer modernen Schrift etwas naiv formuliert wird, eine Anweisung zur Herstellung von Tragödien zu geben versucht — er wußte sehr gut, daß man das Dichten nicht lehren kann — wohl aber eine Anleitung zur Kritik und zwar nicht nur für den Zuschauer und den Kritiker, den es im Altertum, wenn auch in etwas anderer Form als in unserer Zeit, schon deshalb geben mußte und lange vor Aristoteles gegeben hat, weil die Tragödien einem Preisgericht unterworfen wurden, sondern auch für den Dichter als Anweisung zur Selbstkritik, d. h. als Hinweis auf die Möglichkeit, bestimmte Wirkungen zu erzielen, und als Warnung vor Fehlern, die er in der Anlage seines Werkes begehen kann. In der Verfolgung dieses Zieles hat Aristoteles teils in expliziter Formulierung, teils in der Erörterung der verschiedenen Möglichkeiten und der durch sie erzielten Wirkungen implicit jene berühmten Regeln' aufgestellt, mit denen sich dann die moderne Theorie und Praxis teils positiv teils negativ so intensiv auseinandergesetzt hat. Diese »Regeln* sind von Aristoteles aus dem ihm vorliegenden Anschauungsmaterial der hunderte von Tragödien des fünften Jahrhunderts VIII

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abgeleitet worden. Aber während die modernen Theoretiker und unter ihnen vor allem auch gerade die wissenschaftlichen' Interpreten, die Tendenz haben, in ihren Definitionen der antiken Tragödie gerade das zu betonen, was diese von dem modernen Drama unterscheidet4, spielen die von den Modernen hervorgehobenen rein historisch bedingten Eigentümlichkeiten in der aristotelischen Analyse der Tragödie, wenn sie dort auch naturgemäß nicht ganz fehlen, doch eine sehr untergeordnete Rolle. Dies zeigt, daß Aristoteles einerseits sich weitgehend der historischen Bedingtheit vieler Eigenheiten der ihm allein bekannten Tragödie sehr wohl bewußt war, andererseits aber sich zutraute, Regeln für das ernste Drama aufstellen zu können, die, weil im Wesen der Sache gelegen, ihre Gültigkeit für alle Zeiten behalten würden. Es handelt sich also im Grunde um nichts Geringeres als die Frage, ob es solche für alle Zeiten gültigen ,Regelnc gibt, und was sie bedeuten, eine Frage, deren erster Teil bis vor etwa hundertfünfzig Jahren ebenso allgemein ohne Prüfung bejaht zu werden pflegte, wie er von den modernen Avantgardistischen' Theoretikern ohne Prüfung verneint zu werden pflegt, während ihr zweiter Teil, wenn man von dem einzigen Lessing absieht, sowohl damals wie heute in der Regel sehr cavalierement behandelt worden ist. Nachdem Lessing in seinen großartigen Untersuchungen in der Hamburgischen Dramaturgie, wenn auch nicht über alle, so doch über die wesentlichsten Aspekte des Problems in vorbildlicher Weise Klarheit geschaffen hatte, herrscht bei den meisten modernen Theoretikern und ,wissenschaftlichen' Interpreten denn auch wieder die vollständigste Konfusion. Schon deshalb lohnt es sich, auch diese Fragen in diesem Zusammenhang wieder aufzunehmen. Die ,Regeln' des Aristoteles sind zum großen Teil mehr technischer Natur. Sie hängen aber trotzdem, auch bei Aristoteles, mit der Frage der Rolle des Moralischen in der Tragödie so eng zusammen, daß die eine Frage gar nicht getrennt von der ändern behandelt werden kann. Lassen sich nun die modernen wissenschaftlichen' Interpreten der antiken Tragödie im großen und ganzen und von Ausnahmen abgesehen, in die beiden Gruppen der Moralisten und Aesthetiker einteilen, so ist es interessant zu sehen, welche Stellung repräsentative Dichter des Anfangs der Neuzeit und der Gegenwart zu dieser Frage eingenommen haben. Da zeigt sich nun, daß Corneille5 auf Grund einer zu seiner Zeit verIX

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breiteten Interpretation der aristotelischen Katharsislehre dem Aristoteles die Forderung zuschreiben zu müssen glaubte, daß eine Tragödie, bzw. ein ernsthaftes Drama, etwas enthalten müsse, ,auf Grund dessen wir uns bessern können', d. h. daß die Folgen der menschlichen Leidenschaften im Drama so dargestellt werden müßten, daß der Zuschauer daraus eine Warnung entnehmen muß, sich seinen Leidenschaften nicht ohne Kontrolle hinzugeben. Darin, so glaubte Corneille, bestünde die von Aristoteles als Wirkung der Tragödie geforderte & : also Reinigung von den Leidenschaften. Aber dann wunderte er sich bei der Lektüre des sophokleischen Oedipus, der schon zu seiner Zeit als eine der größten, wenn nicht die größte antike Tragödie galt, baß, daß er hier gar nichts finden konnte, auf Grund wovon der Zuschauer sich bessern konnte. „Denn", sagte er, „jeder ,homme de coeur', jeder Mann, der kein Duckmäuser oder Feigling ist, hätte so gehandelt wie Oedipus an jenem Kreuzweg, an dem er seinen Vater erschlagen hat; und auch dafür, daß er seine Mutter geheiratet hat, trifft ihn keine Schuld, da er ja nicht wußte, daß sie seine Mutter war." Er findet also, daß die Forderung, die Tragödie solle eine direkte moralische Wirkung haben oder gar Moral predigen, in der größten antiken Tragödie nicht erfüllt war; und dasselbe hätte er auch bei ändern antiken Tragödien finden können. Bert Brecht6, für uns am ändern Ende der Neuzeit, ist ebenfalls der Meinung, daß das ernste Drama, wenn auch in einer etwas ändern Weise als Corneille dies angenommen hatte, eine moralische Wirkung haben solle. Aber er findet diese Forderung nicht bei Aristoteles. Obwohl er die Frage offen läßt, ob mit derxiöaQoig eine Reinigung nur durch Furcht und Mitleid oder auch von Furcht und Mitleid gemeint sei, ist er doch jedenfalls weit von dem Glauben Corneilles entfernt, es handle sich um eine Reinigung von Leidenschaften allgemein durch Furcht vor ihren Folgen, und ist sich vielmehr sicher, daß es sich um eine „Waschung" handle, „die nicht nur in vergnüglicher Weise, sondern recht eigentlich zum Zweck des Vergnügens veranstaltet wurde."7 Aber wenn der klassische französische Dichter der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts und der erst kürzlich verstorbene deutsche Dramatiker, dessen kurz hingeworfene Andeutungen einer neuen Theorie des Dramas inzwischen von einer Reihe von Theoretikern weiter

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auszubauen versucht worden sind, in ihrer Auffassung des Aristoteles auch weit von einander abweichen, so sind sich beide doch darin einig, daß die moralische Wirkung, die sie mit ihren Dramen anstrebten, von der antiken Tragödie nicht auszugehen scheint. Jedoch die moralische Wirkung, die von dem einen und von dem ändern angestrebt wird, ist wiederum nicht nur dem Inhalt, sondern auch der Form nach ganz verschiedener Art. Nach Corneilles Meinung soll die moralische Wirkung in der Besserung des einzelnen Zuschauers bestehen. Durch die schrecklichen Folgen des Ehrgeizes von Corneilles Horace soll der Zuschauer davon abgeschreckt werden, sich seinem Ehrgeiz zügellos hinzugeben; durch den Glaubenseifer des Polyeucte oder die Großmut des Augustus im Cinna soll er zur Nacheiferung begeistert werden. Gerade an dieser Art der moralischen Wirkung ist Brecht nicht allzuviel gelegen. Im Gegenteil. Die Moral der Moralisten, die hier zu Grunde liegt, ist ihm sogar etwas verdächtig. Für diese Moralisten sei der Mensch für die Moral da, statt umgekehrt die Moral für den Menschen*1. Die anzustrebende ,moralischec Wirkung besteht daher für ihn darin, durch das auf der Bühne dargestellte Geschehen auf schlechte und deshalb unmoralische gesellschaftliche Zustände aufmerksam zu machen und zum Nachdenken darüber anzuregen, wie sie gebessert werden können, um so den Menschen zu helfen. Schiller zu der Zeit, als er den Aufsatz über die Schaubühne als moralische Anstalt schrieb, stand wohl zwischen den beiden Extremen. Zweifellos wollte er, ganz in Übereinstimmung mit der Anweisung Corneilles, durch die Darstellung der ,Laster und Tugenden' (la naive peinture des vices et des vertues) den Einzelnen von den einen abschrecken und zu den ändern ermuntern; aber auch Brecht kann ihn in diesen Stücken zu den Seinen zählen, insofern Die Rauher und Kabale und Liebe leidenschaftliche Kritik an gesellschaftlichen Zuständen üben. Doch wenn sich auch beides bis zu einem gewissen Grade in der Wirkung eines und desselben Dramas vereinigen läßt, so ändert dies doch nichts daran, daß unter ,moralischer Wirkung' sehr verschiedenes verstanden werden kann. Dadurch kompliziert sich das Problem etwas. Aber es läßt sich so auch von verschiedenen Seiten beleuchten. Die Moralisten unter den philologischen Interpreten der antiken Tragödie verstehen ,moralische Wirkung' im allgemeinen im Sinne Corneilles. Sie

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sind daher auch meist vor allem darauf bedacht, die ,Tugenden und Laster' der Figuren der antiken Tragödie in ihrer Interpretation recht scharf herauszustellen. Demgegenüber sollte es dann doch etwas stutzig machen, daß Corneille, der die moralische Wirkung in der antiken Tragödie doch vor allem suchen mußte, da er selbst meinte, daß man danach streben müßte, und die antike Tragödie als autoritativ betrachtete, sie dort zu seiner eigenen Verwunderung nicht finden konnte. Daß es die Absicht der antiken Tragödiendichter gewesen sei, eine moralische Wirkung im Sinne Brechts, d. h. eine gesellschaftskritische Wirkung auszuüben, wird von den Moralisten unter den philologischen Interpreten im allgemeinen nicht angenommen. Auch Brecht hat sie in der antiken Tragödie nicht gefunden. Aber es ist nicht ganz uninteressant, unter welchem Aspekt sie ihm in Folge dieses (von seinem Standpunkt aus) Mangels erscheint. Er hat an ihr auszusetzen, daß in ihr „die Struktur der Gesellschaft nicht als beeinflußbar durch die Gesellschaft" erscheint9: „Oedipus wird hingerichtet" (was freilich nicht ganz wörtlich richtig ist), weil er sich „gegen einige Prinzipien, welche die Gesellschaft der Zeit stützen, versündigt hat; die Götter sorgen dafür, sie sind nicht kritisierbar"10. Dieselbe Kritik richtet sich gegen Shakespeare: „Die großen Einzelnen des Shakespeare, welche die Sterne ihres Schicksals in der Brust tragen, vollführen ihre vergeblichen und tödlichen Amokläufe unaufhaltsam, sie bringen sich selbst zur Strecke ... die Katastrophe ist nicht kritisierbar."11 Die schonungslos aus diesen Beobachtungen gezogene Folgerung ist, daß sowohl die antike Tragödie wie die Tragödie Shakespeares im Grunde „barbarische Belustigungen" sind: „Wir wissen, daß die Barbaren eine Kunst haben. Machen wir eine andere."12 Solchen Äußerungen gegenüber sind die humanistischen Bewunderer des klassischen antiken und modernen Dramas geneigt, hochmütig zu fragen: ,Muß man so etwas lesen? Muß man sich damit auseinandersetzen?' Aber es ist gar nicht so sicher, daß eine traditionell übernommene Bewunderung für einen Gegenstand die beste Voraussetzung für seine tiefere Erkenntnis ist. Vielleicht ist ein ganz respektloser Angriff dieser Art ein besserer und wirksamerer Anstoß dazu, sich anzusehen, was das klassische Drama wirklich ist. Es wird sich zeigen lassen, daß nicht wenige der modernen humanistischen Bewunderer des antiken

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Dramas sich mit Brecht in einer eigentümlichen Bundesgenossenschaft gegen Aristoteles und indirekt damit auch gegen die antike Tragödie befinden. Brecht hat aus der Diskrepanz zwischen der Rolle, welche er dem ,Moralischenc im Drama zuerkennt, und dem, was er in der antiken Tragödie und bei Shakespeare, die ihm von seinem Standpunkt aus zusammenrücken (was ganz richtig gesehen ist), findet, aber auch formale Konsequenzen gezogen, die ihn zu einer radikalen Ablehnung der ,Regeln* des Aristoteles, soweit sie für das ernste Drama überhaupt und zu allen Zeiten Geltung beanspruchen, gelangen lassen. Zunächst schon in bezug auf das erste Prinzip, aus dem Aristoteles seine Regeln abgeleitet hat: die zu erzielende Wirkung auf den Zuschauer. Was immer die bedeuten mag, soviel ist deutlich, daß sie ein weitgehendes Sichidentifizieren des Zuschauers mit den Vorgängen auf der Bühne, ein emotionales Miterleben, voraussetzt. Eben in bezug darauf hatte ja lange vor Aristoteles schon Gorgias seinen berühmten Ausspruch getan, daß der Betrogene, d. h. derjenige, der sich voll der Illusion hingibt, weiser sei als der Nichtbetrogene, der kühl bleibt und die Distanz wahrt. Im Gegensatz zu Aristoteles jedoch hält Brecht diese Wirkung für durchaus unerwünscht. Er macht sich lustig über die Zuschauer, die als reglose Gestalten wie gebannt auf die Bühne starren und „an den seelischen Waschungen des Sophokles oder den Opferakten des Racine oder den Amokläufen bei Shakespeare schmarotzen".13 „Der Zustand der Entrückung", schreibt er, „in dem sie unbestimmten, aber starken Empfindungen hingegeben scheinen, ist desto tiefer, je besser die Schauspieler arbeiten, so daß wir, da uns dieser Zustand nicht gefällt, wünschten, sie wären so schlecht, wie nur möglich."14 Es ist wohl nicht ganz uninteressant, daß Brecht, ohne es zu wissen, sich damit sehr stark Platon nähert, der sich aus ganz denselben Gründen, d. h. aus Abneigung gegen emotionelle Zustände, welche ihm den klaren Verstand zu verdunkeln schienen, ebenso wie gegen die emotionale Identifizierung mit auf der Bühne dargestellten Gestalten, welche ihm der Einheit der Persönlichkeit abträglich erschien, gegen die Tragödie als Kunstform überhaupt ausgesprochen hatte. Sein Schüler Polemon hatte die Konsequenz dann so weit getrieben, daß er es als Übung in der Selbstbeherrschung betrieb, in Tragödienaufführungen zu gehen XIII

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und dort ganz kühl und von dem Dargestellten ganz unaffiziert zu bleiben. Es kann wohl kaum zweifelhaft sein, daß die Theorie des Aristoteles sich zu einem guten Teil ganz bewußt gegen Platon richtete, indem er die schädliche Wirkung der durch die Tragödie im Zuschauer erregten Emotionen bestritt und ihnen vielmehr eine wohltätige und kathartische Wirkung zuschrieb. Brecht dagegen ist der Meinung, der Dichter, und unter seiner Anweisung die Schauspieler, sollten dafür sorgen, daß der von Platon und ihm selbst als unerwünscht betrachtete Effekt nicht eintritt und daß vielmehr der Zuschauer immer wieder absichtlich aus der Illusion gerissen und dazu aufgefordert und angeregt wird, über das Dargestellte von dem Gesichtspunkt aus, was sich an den dargestellten Zuständen bessern lasse, nachzudenken. Die so erzielte Wirkung nennt er den Verfremdungseffekt und das Theater, das auf die Erzeugung dieses Effektes hin ausgerichtet ist, das epische Theater. Zu den gröberen Mitteln, mit denen der Verfremdungseffekt und zugleich die Belehrung des Zuschauers erreicht werden sollen, gehört die Verwendung von Transparenten und Projektionen, die vor Beginn einer Szene gezeigt werden oder auch während derselben sichtbar bleiben, und durch Schlagworte oder Zitate auf den Sinn des Geschehens aufmerksam machen sollen, ferner Sprechchöre oder Einzelsänger, welche das Spiel unterbrechen und kommentieren. Die Bezeichnung als ,episches Theater* ist deshalb gewählt worden, weil die Kommentare der Sprechchöre und ,Sänger£ auch gelegentlich in der Form von lehrhaften und von Reflexionen unterbrochenen Erzählungen gegeben werden. Doch ist die Bezeichnung nicht sehr glücklich, da es nicht auf die Erzählung, sondern auf die belehrenden Reflexionen ankommt, das Epos oder die Erzählung aber keineswegs reflektierend und belehrend zu sein braucht, wie dies ja auch bei dem homerischen Epos keineswegs der Fall ist. Wie es eben zu gehen pflegt, haben dann die Theoretiker im Gefolge Brechts, von dieser Bezeichnung ausgehend, die Theorie des ,epischen Theaters* in einer Weise ausgebaut, die — ganz im Gegensatz zu Brecht selbst, der seinen Gegensatz zu Aristoteles und der antiken Tragödie durchaus präzise und eindeutig formuliert hat — sehr heterogene Dinge zusammenbringt und daher in Bezug auf sehr grundlegende Dinge nur Verwirrung stiften kann. In einem vielgelesenen kleinen Buch von

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M. Resting über das epische Theater15 wird z. B. als aristotelisch eine Dramaturgie bezeichnet, „die mehr oder weniger den Forderungen nach den berühmten Einheiten, nach Kausalität der Handlungsfolge, Verflochtenheit der Szenentechnik, nach Konflikt und Auslösung der Katastrophe nachzukommen sucht, als nichtaristotelisch aber eine Dramaturgie, die alle diese Anweisungen außer Acht läßt, d. h. die Handlung dehnt sich frei aus in Zeit und Raum, sie folgt nicht den Gesetzen der Handlungskausalität; die Szenentechnik unterliegt dem Prinzip der Reihung und der Selbständigkeit der Teile; Das Drama kann eine umfassendere Sicht, eine höhere Objektivität annehmen, etc."16 Von diesem Standpunkt aus stellt sich dann Shakespeare, den Brecht von seinem Standpunkt aus mit vollem Recht ganz und gar auf die Seite der antiken Tragödie gestellt hatte, auf die Seite des epischen Theaters. Aber auch mit der antiken Tragödie selbst will es nicht recht stimmen. Im Drama des Aeschylos überwiegen durchaus noch die episch-lyrischen Elemente, die sich erst „bei Sophokles und Euripides immer mehr zu Gunsten der dramatischen Handlung verringerten".17 Aber unmittelbar darauf heißt es, daß „sich das Epische in den Tragödien des Euripides verbreiterte", so daß nur allenfalls Sophokles übrig bleibt, bei dem sich das epischlyrische Element verringert hatte, aber doch auch ,nochc in beträchtlichem Umfang vorhanden war. Hier ist nun zugleich der Punkt, in dem sich eine weit verbreitete Schule philologisch-humanistischer Interpreten und Bewunderer der antiken Tragödie mit der Theoretikerin der un- und antiaristotelischen Dramatik berührt, indem sie die Meinung vertreten, die antiken Dramatiker, und hier nun gerade Sophokles und Euripides, hätten auf Einheit der Handlung keinen besonderen Wert gelegt; vielmehr sei es ihnen wesentlich nur auf die Wirksamkeit der einzelnen Szenen angekommen. Wenn man die logische Konsequenz aus alledem zieht, scheint Aristoteles seine Regeln nicht von der antiken Tragödie abgezogen und für diese aufgestellt zu haben, sondern für das französische Theater des 17. und 18. Jahrhunderts. Selbst dieser notwendigerweise ganz kurze Überblick dürfte doch wohl haben deutlich werden lassen, daß hier einige Unklarheit in den verwendeten Begriffen vorliegen muß; und da in den hier vorgelegten Untersuchungen einige von diesen Begriffen öfter gebraucht werden müsXV

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sen, ist es notwendig, den Versuch zu machen, sie etwas zu klären, und zwar auf die einzige Weise, auf die Begriffe geklärt werden können, d. h. durch eine Betrachtung der Sachverhalte, auf die sie sich beziehen sollen. Hier gibt es nun allerdings einige Dinge, über die noch einmal zu reden nicht notwendig sein sollte, da sie schon von Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie auf vorbildliche Weise geklärt worden sind. Dies gilt vor allem für die Frage der Einheit der Zeit und des Ortes, für die Lessing gezeigt hat, daß sie auch bei Aristoteles, bei dem sie vorkommen, nur eine untergeordnete Rolle spielen und aus den besonderen Bedingungen des antiken Theaters abgeleitet sind, so daß sie für das moderne Theater keine Gültigkeit haben. Sie ergeben sich bis zu einem gewissen Grade aus der dauernden Anwesenheit des Chors, eine Schwierigkeit, die jedoch auch ohne die Wahrung dieser Einheiten überwindlich ist, vor allem aber daraus, daß das antike Theater keinen Vorhang hatte, jedoch auch hieraus nur, nachdem die Dekoration, welche bei offener Bühne nicht geändert werden kann, eine bedeutendere Rolle zu spielen begonnen hatte. Daher waren sie auch in den älteren Stücken des Aeschylus keineswegs gewahrt. In den Aitneiai des Aeschylus gab es mindestens viermaligen Ortswechsel; und noch in dem letzten Stück der letzten von ihm aufgeführten Trilogie, den Eumeniden, hat sich Aeschylus im Anschluß an ältere Gepflogenheiten über die Forderung der Einheit des Ortes und der Zeit hinweggesetzt. Anders steht es allerdings mit der Einheit der ,Handlung', von der Lessing mit Recht gesagt hat, daß sie eine unabdingbare Regel des Dramas ist, deren Verletzung immer einen Mangel bedeutet. Aber eben hier ist die Unklarheit am größten. Das erste Mißverständnis, das hier zu beseitigen ist, ergibt sich aus der Übersetzung der griechischen Ausdrücke und mit ,Handlungc. Denn das Wort bedeutet nicht dasselbe wie das deutsche Wort, sondern schließt neben dem was der Mensch tut, auch das, was ihm widerfährt, mit ein. Es ist daher ein Irrtum zu glauben, daß ,Handeln* ein unaufhörliches Agieren, sich entscheiden, Taten vollbringen bedeute, woraus sich dann freilich die Beobachtung ergibt, daß eine ganze Anzahl der Tragödien des Aeschylus, und durchaus nicht nur die frühesten, ,noch' keine Handlung haben, nach Meinung von M. Resting18 sogar die Stehen gegen Theben, in denen verhältnismäßig sehr entscheidend gehandelt wird. Unrichtig an dieser

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Beobachtung ist nur das ,nochc. Denn auch in Sophokles' König Oedipus wird nicht gehandelt, weniger als in den Stehen gegen Theben, sondern nur ans Licht gebracht, was früher geschehen ist. Noch weniger Handlung hat gerade die letzte der Tragödien des Sophokles, der Oedipus auf Kolonos. Aber auch für den Orestes des Euripides gilt im Grunde dasselbe. Denn das aufgeregte Agieren des Orest und seiner Schwester Elektra in diesem Stück ist kein wirkliches Handeln, sondern enthüllt nur den Seelenzustand, in den die beiden durch ihre Tat, mit deren Folgen sie weder äußerlich noch innerlich fertig geworden sind, geraten sind. Dies alles bedeutet natürlich nicht, daß nicht auch im antiken Drama sehr bedeutsam gehandelt werden könnte. Aber das ist kein unumgänglich notwendiges Konstituens der Art von ,Handlung', deren Einheit von Aristoteles gefordert wird. Diese Einheit wird definiert als das Nichtepisodenhafte und dadurch, daß das Drama als ein Ganzes bezeichnet wird, das Anfang, Mitte und Ende hat. Dadurch unterscheidet sich das Drama nach der Meinung des Aristoteles von dem Epos, für das die Forderung der Einheit zwar in gewisser Weise auch, aber in geringerem Maße besteht. Um zu verstehen, was das heißen soll, ist es notwendig, sich den Grund der Forderung zu überlegen. Da ist nun ein sehr wesentlicher Grund ganz einfach durch die äußeren Gegebenheiten des Theaters gegeben, die freilich im antiken Theater eine engere Begrenzung als im modernen bedingten. Aber auch für das moderne Theater besteht die Beschränkung, daß sich die Dauer einer Aufführung nicht beliebig ausdehnen läßt, da der Zuschauer das Drama nicht aus der Hand legen kann. Daher ist auch für das Epos als einheitliches Gebilde das Ausspinnen und sich Durchkreuzen verschiedener Handlungsstränge neben- und durcheinander erst möglich geworden, als es wie die Ilias und Odyssee zum Leseepos geworden war.19 Wieviel an fiktiver zeit- und räumlicher Ausdehnung, bzw. an zeitund räumlichen Sprüngen sich in einem Drama unterbringen läßt, hängt von den äußeren Umständen der Aufführung ab, die im Altertum andere waren als in der Neuzeit. Doch wird die Grenze immer und zu allen Zeiten nach unten dadurch gegeben sein, daß eine Situation ein Mindestmaß an Zeit zu ihrer Entfaltung braucht, nach oben durch die Fähigkeit des Zuschauers, ein Geschehen, das sichtbar vor seinen Augen vor sich geht und bei dem er nicht jZurückblättern' kann, noch als Ganzes auf-

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zufassen. Die Möglichkeit, verschiedene äußerlich von einander unabhängige Geschehensfolgen, die ein und dieselbe Grundsituation auf verschiedene Weisen illustrieren, aufeinander folgen zu lassen, ändert natürlich an der Grundtatsache nichts, daß dann jede in sich ein Ganzes sein muß und sie alle so aufeinander bezogen sein müssen, daß sie zusammen wieder ein höheres Ganzes bilden. Darin liegt auch schon die Forderung der Einheit der Handlung, wie sie durch das Verbot des Episodenhaften ausgedrückt ist, beschlossen. Was damit gemeint ist, kann man am besten an Stücken zeigen, in denen die Regel verletzt ist. Corneille hat in seiner Medee die Darstellung des Hauptkonfliktes durch eine Werbung des Aigeus um die Hand der Kreusa unterbrochen, weil er das Auftreten des Aigeus bei Euripides nicht ausreichend motiviert fand. Dies stört die Konzentration des Zuschauers auf das Hauptgeschehen auf das empfindlichste, ohne ihm dafür einen Ersatz zu geben. Ähnlich steht es mit dem Oedipe, wo Corneille eine Liebesgeschichte und allerhand politische Intrigen eingeführt hat, weil er mit Recht gefunden hatte, daß aus der Fabel des sophokleischen Stückes keine moralische Belehrung der Art abzuleiten sei wie er sie als wesentliches Element der Wirkung einer Tragödie betrachtete. Damit hat er aber die Stücke verdorben. Dagegen kann ich denselben Fehler in den mir bekannten Stücken des ,Antiaristotelikersc Brecht nicht finden, was natürlich nicht bedeutet, daß Brecht ein größerer dramatischer Dichter gewesen wäre als Corneille, da dafür noch andere Kriterien maßgeblich sind als die Verletzung oder Nichtverletzung einer bestimmten einzelnen aristotelischen Regel. Aber die genannten Dramen Corneilles sind in dieser Hinsicht und überhaupt sehr viel weniger gelungen als der Cid, der Cinna, der Horace, und viele andere, was auch in ihrem geringeren Erfolg zum Ausdruck gekommen ist. Die Meinung, das ,epische Theater* könne sich von der Forderung der Einheit der Handlung emanzipieren und tue dies sogar faktisch und gewohnheitsmäßig, beruht also auf einem Mißverständnis. Dies gilt sogar für das sogenannte Simultantheater, wo mehrere Handlungsstränge nebeneinander her geführt werden, wie in F. Bruckners Verbrechern und natürlich ebenso für das,Serientheater', wo sie hintereinander geschaltet sind. Die Einheit der Handlung besteht hier in der vom XVIII

Einleitung

Autor gewollten Beziehung der verschiedenen ,Handlungen' aufeinander; und wenn diese, wie in den angef hrten Beispielen aus Corneille, von nicht innerlich dazugeh rigen Handlungen durchkreuzt w rden oder sich gegenseitig in dieser Weise durchkreuzten, w re es hier genau so wie dort eindeutig ein Mangel. Nur insofern hat die Rede von dem unaristotelischen Charakter etwa des Simultantheaters berhaupt einen Sinn, als man fragen kann, ob dieses wegen der Schwierigkeit, bei einem solchen mehrsp nnigen dramatischen Gef hrt noch die Einheit aufrecht zu erhalten, jemals mehr werden kann als ein gelegentlich mehr oder minder gelungenes Experiment. Aber selbst wenn das Experiment gelungen ist, besagt es schlechterdings nichts gegen die Allgemeing ltigkeit der aristotelischen Regel, sondern zeigt nur, da diese auch unter erschwerenden Bedingungen beobachtet werden kann. Es gibt allerdings noch eine andere Forderung der Einheit der Handlung als die durch das Verbot des Episodenhaften bezeichnete, eine Forderung, die von Aristoteles nur implicite ausgesprochen wird, aber noch wichtiger ist. Diese meint M. Resting wohl, wenn sie von der Forderung der „Kausalit t der Handlungsfolge" spricht20, die Aristoteles aufgestellt haben soll und von der sich das ,epische Theater* befreit habe. Aber von ,Kausalit t der Handlungsfolge', was immer das hei en soll, ist bei Aristoteles nirgend die Rede. Wohl aber spricht er von dem εικός und άναγκαϊονΐη Bezug auf τω ποίψ τα ποία αττα συμβαίνει λέγειν ή πράττειν, was bedeutet, da was eine Person im Drama sagt und tut, d. h. wie sie auf das, was ihr widerf hrt, reagiert, ihrem innerhalb des St ckes einheitlichen Wesen (das bei Antigone ein anderes ist als bei Ismene, bei Elektra anders als bei Chrysothemis, bei Oedipus anders als bei lokaste, die jeweils im selben St ck in derselben Lage sind, aber verschieden auf diese reagieren) entsprechen mu .21 Darauf aber kann der moderne moralisierende Dichter am allerwenigsten verzichten, da sein fabula docet eben darauf beruht, wie ein Mensch einer bestimmten Art sich unter bestimmten Umst nden verhalten wird (wie etwa die Magd Gruscha und die Gouverneursfrau im Kaukasischen Kreidekreis), woran sich bei ihm dann die Frage anschlie t, wie die Dinge so ge ndert werden k nnen, da er nicht mehr so zu handeln braucht, sei es da ihm ein anderer Ausweg gezeigt wird, sei es da die Umst nde, unter denen er handelt, durch eine Ver nderung

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Einleitung

der gesellschaftlichen Verhältnisse beseitigt werden. Aber auch wenn ihm ein anderer Ausweg gezeigt oder eine andere Einsicht eröffnet wird und er sein Verhalten entsprechend ändert, ändert dies nichts an der Einheit, die hier gefordert wird. Auch hier findet sich das jantiaristotelische* Drama im Grunde in Übereinstimmung mit Aristoteles. Dagegen hat eine nicht unbedeutende Gruppe von modernen philologischen und humanistischen Interpreten seltsamerweise gerade den bekanntesten Meisterwerken der antiken Tragiker, und zwar vor allem des Sophokles und des Euripides, diese Einheit absprechen zu können geglaubt: es sei den griechischen Dichtern nur auf die Wirksamkeit der Einzelszene angekommen. Aus einer spezifisch athenischen Freude an heftigen Streitszenen, bei denen die Hiebe von beiden Seiten nur so niederprasseln, etwa habe Euripides seiner Alkestis die Szene zwischen Admet und seinem Vater eingefügt. Daß der Charakter des Admet, wie er in dieser Szene erscheint, mit seiner Stellung im Rest des Stückes ganz unvereinbar sei, habe ihn nicht gestört. Ähnliches ist für die Dramen des Sophokles ganz allgemein nachzuweisen versucht worden22. So werden alle Fronten verkehrt. Die Dichter und Theoretiker des 17. und 18. Jahrhunderts, die an die absolute Verbindlichkeit der antiken Vorbilder glaubten, haben das, worin sie von diesen entscheidend abwichen, in die antike Tragödie, bzw. die aus ihr abgeleitete Theorie hineinzuinterpretieren versucht. Die Modernen, denen umgekehrt Neuheit an sich, ohne weitere Qualifikation, als ein Wert gilt, weichen zwar naturgemäß auch in wichtigen Hinsichten vom antiken Drama ab, glauben und behaupten aber, auch da von ihm und den aus ihm gewonnenen Regeln abzuweichen, wo sie sich vielmehr mit ihnen in der besten Obereinstimmung befinden223. Eine bedeutende Gruppe philologischer Interpreten endlich glaubt, zeigen zu können, daß die wichtigsten ,Regeln' die Aristoteles aus den Meisterwerken der antiken Tragiker abgeleitet hat, in diesen überhaupt nicht oder jedenfalls weniger als in der Dramatik anderer Zeiten beobachtet worden sind. Daß diese letztere Meinung unrichtig ist, habe ich in den Abhandlungen dieses Buches an einigen Beispielen im einzelnen nachzuweisen gesucht. Aber es ist notwendig, auf das Problem in seinem größeren Zusammenhang hinzuweisen und die in dieser Diskussion verwendeten Grundbegriffe zu klären, damit deutlich wird, wovon im folgenden die Rede ist.

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Der wirkliche tiefgreifende Unterschied zwischen der antiken Tragödie und einem großen Teil, wenn auch durchaus nicht der Gesamtheit der modernen Dramatik liegt in der Behandlung des Moralischen. Sowohl Corneille wie Brecht haben — der erste zu seiner Überraschung — gesehen, daß das Moralische in der antiken Tragödie nicht die Rolle spielt, die sie ihm in ihren Dramen zugewiesen haben. Sie haben mit ihrer Feststellung recht. Aber das bedeutet nicht, daß die Erklärung der ,ästhetischen' Interpreten, es sei den antiken Dichtern nur darauf angekommen, ,gute Stücke' zu schreiben, ausreichend wäre, vor allem dann nicht, wenn das Kriterium, ob ein Stück ,gut' ist, nur in seinem formalen Aufbau oder in seiner Bühnenwirksamkeit gesehen wird. Andernfalls stünde nicht nur Ibsen, der in der Bühnentechnik kaum von irgend einem Dichter irgend einer Zeit übertroffen worden ist, sondern auch Sudermann weit über Euripides, der im Technischen keineswegs vollkommen gewesen ist, wie schon Aristoteles bemerkte, der ihn trotzdem als den der antiken Tragödiendichter bezeichnet hat. Daß die Bühnenwirkung allein, obwohl auch Aristoteles in seiner Grundlegung der Tragödienkritik weitgehend von der Bühnenwirksamkeit ausgegangen ist, kein ausreichendes Kriterium darstellt, ergibt sich schon daraus, daß sie sich, ohne daß an dem Stück oder der Aufführung sich etwas geändert hätte, völlig ändern kann. Die ersten Stücke Sudermanns haben zunächst einen außerordentlichen Erfolg gehabt. Aber er war sehr bald verflogen; und heute würde wohl kaum mehr jemand das Experiment wagen, sie wieder auf die Bühne zu bringen. Ein Stück des Euripides heute auf die Bühne zu bringen, ist auch ein Wagnis. Aber seine Stücke haben über Jahrhunderte hinaus eine ungeheure Wirkung ausgeübt und üben sie auf den Leser heute noch aus. Sie haben Dichter bis heute zur Umdichtung und Erneuerung angeregt. Niemand würde gewiß eine solche Wirkung von den Dramen Sudermanns erwarten, aber auch nicht von denen Ibsens, obwohl diese sich sehr viel besser gehalten haben. Wohl aber ist zu erwarten, daß Shakespeare, wenn die Menschheit weiter besteht, nicht weniger lange dauern wird als Euripides oder Sophokles. Die Dramen, deren Wirkung am unvergänglichsten ist, gehören gerade zu denen, die keine unmittelbare moralische Wirkung angestrebt zu haben scheinen, weder der von Corneille, noch der von Brecht angestrebten Art. Und doch liegt ihre Unvergänglichkeit über alle tech-

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nischen Vorzüge hinaus an der Darstellung des Moralischen. Wenn diese Dramen auch nicht Moral predigen wollen, so ist doch das Moralische der Stoff, aus dem sie gemacht sind, wie denn auch das Leiden, das in einer Tragödie dargestellt wird, seinem Wesen nach nicht physisches, sondern moralisches Leiden ist. Daß nun ein Drama, dessen Zweck es ist, zu einer Beseitigung ganz bestimmter gesellschaftlicher Zustände aufzurufen, diese seine Wirkung verlieren muß, sobald sich die Zustände tatsächlich entsprechend geändert haben, ergibt sich aus der Natur der Sache; und wenn dies der hauptsächliche Zweck der dramatischen Dichtung ist, so muß der Dichter wünschen, daß seine Stücke so schnell wie möglich veralten und das Interesse verlieren. Dem würde wohl Brecht zustimmen und die länger dauernde Wirkung der antiken Tragiker und Shakespeare's damit erklären, daß das , Vergnügen', das sie dem Zuschauer bereiten, ein Barbarisches' sei und daß in den Menschen auch heute noch etwas ,Barbarisches' stecke. Eben an diesem Punkt lassen sich aber die Dinge genauer fassen und zueinander in Beziehung setzen. Obwohl Brecht sein Theater ausdrücklich ,lehrhaft' nennt und das Theater, das dem Vergnügen dienen soll und zu dem er auch das Aristotelische' Theater zu rechnen scheint, um den Unterschied ganz kraß hervorzuheben, gelegentlich als ,kulinarisch* bezeichnet, will er doch selbst nicht darauf verzichten, daß sein Theater dem Zuschauer auch Vergnügen bereite23. Auch darauf, daß der Zuschauer sich an die Stelle der dargestellten Personen versetze, sich bis zu einem gewissen Grade mit ihnen identifiziere, will er nicht ganz verzichten. Nur soll der Zuschauer durch den ,Verfremdungseffekt' daran gehindert werden, sich dieser Identifizierung ganz zu überlassen, ganz in ihr aufzugehen, sondern immer wieder veranlaßt werden, in eine gewisse Distanz zu den dargestellten Vorgängen und Personen zu treten, um darüber nachzudenken. Daß der ,lehrhafte' Dichter nicht ganz auf den ,Identifizierungseffekt', wenn er im Gegensatz zum ,Verfremdungseffekt' so bezeichnet werden darf, verzichten kann, ergibt sich aus der Sache selbst. Denn wenn es nur auf die abstrakt formulierbaren Schlußfolgerungen ankäme, so würde es genügen, diese dem Zuschauer als solche vorzutragen und man könnte auf die dramatische Darstellung verzichten. Die Illustration an konkreten menschlichen Situationen und Schicksalen soll den allgemei-

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nen Einsichten, die das Drama hervorrufen soll, intellektuell eine Tiefe und emotional einen Nachdruck geben, den sie, wenn sie nur abstrakt und allgemein formuliert würden, nicht haben könnten. Da aber das konkrete menschliche Leben immer unendlich viele Aspekte hat, so fragt sich, ob die Darstellung eines Ausschnittes daraus, wenn sie nicht ganz oberflächlich bleibt, jemals vollständig einer auch allgemein und abstrakt ausdrückbaren Erkenntnis dienstbar gemacht werden kann, zumal wenn diese noch dahin eingeengt wird, das sie unmittelbar das praktische Verhalten der Zuschauer in einer ganz bestimmten vom Dichter gewollten Richtung beeinflussen soll. Ein je volleres Bild menschlichen Lebens eine dramatische Dichtung gibt, desto mehr scheint sie sich von Natur dagegen wehren zu müssen, ganz und gar einer bestimmten lehrhaften Tendenz dienstbar gemacht zu werden. Bevor der Versuch gemacht wird, die damit gestellte Frage zu beantworten, ist es vielleicht nützlich, noch einmal zur antiken Tragödie zurückzukehren. Auch dieser fehlt der Verfremdungseffekt', auf den Brecht und seine Bewunderer als auf seine Erfindung so stolz sind, keineswegs ganz. Schon die Masken, die eigentümliche Kleidung, und vieles andere mußte distanzbildend wirken, vor allem aber der Chor, wie ja auch die Sprechchöre von Brecht als eines der wichtigsten Mittel zur Erzielung des Verfremdungseffekts' benützt werden. Freilich ist die Funktion des Chores in der antiken Tragödie von derjenigen der von Brecht (nach dem Vorgang Piscators) bei der Aufführung seiner Dramen benützten Sprechchöre verschieden, wie ja die letzteren keinen oder jedenfalls nicht immer einen integrierenden Bestandteil seiner Stücke bilden. A. W. Schlegel hat bekanntlich den Chor in der antiken Tragödie als ,idealen Zuschauer' bezeichnet. Aber selbst wo der Chor nicht, wie z. B. in den Hiketiden und den Eumeniden des Aeschylus oder den Troerinnen des Euripides zu den Haupthandelnden und Hauptleidenden gehört, sondern wirklich, wie in den meisten erhaltenen antiken Tragödien, als eine Art Zuschauer des Geschehens erscheint, liegt die ihm von Schlegel zugeschriebene ,Idealität' nicht darin, daß er etwa über den dargestellten Ereignissen stünde und diese mit Betrachtungen, die einer höheren Einsicht entspringen, begleitete, oder daß er der Meinung des Dichters Ausdruck gäbe. Vielmehr ist er ,idealf nur, insofern er repräsentativ für die Umwelt oder einen Ausschnitt derselben

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steht und deren natürliche, darum aber keineswegs einer höheren Einsicht entspringende, Reaktion auf das Geschehen zum Ausdruck bringt. Dadurch wird auch Distanz geschaffen und in gewisser Weise auch Anlaß zum Nachdenken gegeben. Doch wird der Reflexion des Zuschauers größere Freiheit gelassen. Sie wird nicht einseitig in eine bestimmte vom Dichter gewollte Richtung gelenkt. Insofern ist auch der , Verfremdungseffekt' geringer und wird die Identifizierung mit dem dargestellten Geschehen weniger stark unterbrochen oder gestört. Aber nun fragt sich doch, wie weit sich die Reflexion des Zuschauers durch solche auf ein bestimmtes Ziel hin gerichtete Interpretation des Geschehens durch den Dichter kommandieren läßt. In einem mit Brechts Kaukasischem Kreidekreis verbundenen Sprechchor kommen die Sätze vor: „Die Stadt liegt stille, aber warum gibt es Bewaffnete? Der Palast des Gouverneurs liegt friedlich, aber warum ist er eine Festung?" Diese Sätze sollen natürlich zum Nachdenken über eine Gewaltherrschaft, wie die zaristische es gewesen war, anregen und zu ihrem Sturz auffordern. Aber es ist wohl nicht schwer zu sehen, daß sie sich auch auf den Kreml oder die Lubjanka anwenden lassen. Nach dem 17. Juni dürfte es wohl niemand, einschließlich Brechts, gegeben haben, dem diese Möglichkeit, was immer man für Erklärungen gegeben haben mag, um einen tiefen Unterschied zu konstatieren, nicht gegenwärtig gewesen wäre; und es wäre interessant zu wissen, ob das Stück nach jenem Datum im Osten Deutschlands mit diesen Worten des Sprechchors oder in einer anderen Version des Erzählers aufgeführt worden ist. Es zeigt sich also, daß sogar allgemein formulierte Interpretationen, wenn sie an eine konkrete Situation geknüpft sind und diese Situation lebenswahr dargestellt ist, gegen ihren eigenen Autor revoltieren können gemäß der allgemeinen Wahrheit, daß die Werke eines Dichters, sofern und soweit er ein Dichter ist, nicht selten klüger sind als ihr Autor es ist, wenn er theoretisiert. Was aber die Sätze, wenn sie in dieser Weise gegen ihren Urheber revoltieren, sagen, ist, daß der Satz „power corrupts, absolute power corrupts absolutely" eine tiefere und weitere Bedeutung hat, tiefer in menschlichem Wesen begründet ist, als daß die

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Auswirkung dessen, was er besagt, durch eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaftsordnung beseitigt werden könnte. Er bleibt daher weitgehend auch für die westliche Welt von sehr aktueller Bedeutung, wenn es auch hier etwas besser gelungen ist, die Konzentration von Macht einzuschränken, und seine Wahrheit daher hier nicht ganz so stark in die Augen fällt. Hinter dem Zeitbedingten, zu dessen Änderung das Drama nebst seiner Auslegung durch den Dichter auffordern kann, verbirgt sich also noch ein allgemein Menschliches, das nicht in gleichem Maße zeitbedingt und der Änderung unterworfen ist. Das Zeitgebundene fehlt jedoch auch in der antiken Tragödie keineswegs. Es ist auch nicht so, daß die antiken Tragödiendichter nicht darauf aufmerksam gewesen wären. Im Gegenteil. Nur ihr Verhältnis dazu ist ein anderes. In Aeschylus' Orestie wird am Ende eine Rechtsordnung geschaffen, unter welcher der Zwang, der Orest dazu getrieben hat, seine Mutter zu töten, nicht mehr bestehen wird. Ähnliches gilt für die Danaidentrilogie. Der entsetzliche Konflikt in Euripides' Medea hat nicht nur, wie es von den modernen Interpreten meistens dargestellt wird, die persönliche ,Schäbigkeit' des lason zur Ursache, sondern auch die herrschende Vorstellung von der naturgegebenen Rolle der Frau dem Manne und vor allem dem Helden gegenüber24. Das wird nach dem Willen des Euripides gerade durch das Mittel des Chores deutlich gemacht. Die antiken Dichter waren dem gegenüber, was für Brecht und seine Gefolgschaft das allein Maßgebende ist, gar nicht so blind, wie diese glauben. Sie waren natürlich auch nicht blind gegen das, was Corneille als Theoretiker für das Wesentliche der Tragödie hält, die Rolle der persönlichen Leidenschaften. Auch diese Dinge kommen in ihren Tragödien mit zur Darstellung. Aber sie sind für diese nicht das Letzte und Wesentlichste. Die wesentliche Aufgabe ist für sie, in eine tiefere Schicht der condition humaine hineinzuleuchten als diejenige es ist, innerhalb welcher man dem moralischen Leiden durch Beherrschung seiner Leidenschaften oder durch eine Änderung der Gesellschaft entgehen kann. Sie spielen gleichzeitig auf drei Ebenen. Das gilt im Grunde für alle ernsten Dramen, die überhaupt wert sind, aufgeführt oder gelesen zu werden. Aber über alle technischen Vollkommenheiten oder Unvollkommenheiten hinaus ist für ihren Rang bedeutsam, welche Ebene in ihnen die eigentliche und letzthin wichtige ist. XXV

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Die eigentliche und wesentliche Wirkung der Trag die als Wirkung hat Aristoteles in ganz ausgezeichneter Weise bestimmt. Die κάθαρσις των παθημάτων ist nicht die einzige wesentliche Wirkung der Trag die; oder vielmehr: die κάθαρσις hat nicht nur eine emotionale Seite. Die Trag die ist nach Meinung des Aristoteles auch philosophischer', d. h. zu tieferer Einsicht f hrend, als die Geschichte. Ihre Erkenntnisfunktion ist also ebenso wichtig wie ihre emotionale Wirkung. Beide sind in Wirklichkeit voneinander untrennbar. Der t gliche und allt gliche Jammer, eigener und Mitjammer mit anderen, und die t glichen ngste des" Lebens sind geeignet, die Seele des Menschen zu verkrampfen und eng zu machen. Die Teilnahme an einem gro en Leiden und einem gro en Schicksal erregt diese παθήματα und l st zugleich den Krampf. Das ist die ,medizinische' Seite der κάθαρσις, die von den besten Interpreten des Aristoteles mit Recht immer wieder hervorgehoben worden ist. Darin wendet sich Aristoteles gegen Platon. Aber diese Reinigung oder L sung w re wenig wert und Brecht h tte mit seinem Spott ber die ,vergn gliche Waschung' und das ,barbarische Vergn gen' recht, wenn die L sung nicht bedingt w re durch die von Aristoteles nicht minder hervorgehobene durch die Trag die bedingte Einsicht in ein καθόλου, ein Allgemeines, die allgemeinen Bedingungen der condition bumaine. Das Moralische ist der Stoff, aus dem das ernste Drama gemacht ist, gerade da, wo es nicht im Sinne Corneilles moralisch wirken oder im Sinne Brechts moralisch belehren will. Das wichtigste Kriterium daf r, ob ein St ck ein ,gutes' genannt werden kann, weit nicht nur ber alle Fragen der technischen Vollkommenheit und der unmittelbaren Theaterwirkung, sondern selbst ber das Kriterium der ,Ebenen' hinaus, von denen soeben die Rede gewesen ist, ist daher die Echtheit oder Unechtheit des Moralischen. Dieses Kriterium hat zwei Aspekte, die jedoch, wie eben zwei Aspekte ein und desselben Dinges, unl slich zusammengeh ren. Das eine ist die Echtheit und Wahrheit der Darstellungen der Bedingungen des menschlichen Lebens. Das andere die Echtheit und Wahrheit der moralischen Wertungen. Bei weitem wichtiger jedoch ist der erste Aspekt. Denn — das wird sich in den folgenden Untersuchungen immer wieder zeigen — es ist f r den Dichter gar nicht leicht, wenn berhaupt m glich, die moralische Wertung des Geschehens nach seinem Willen oder seinen Vorurteilen zu verf lschen. Entgegen der XXVI

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Meinung der ethischen Relativisten setzen sich die moralischen Werte und Wertungen ganz von selbst auch gegen die Absicht des Dichters mit erstaunlicher Hartnäckigkeit durch, sofern sein Stück nur in der Darstellung des menschlichen Lebens echt ist. Ein Dreinreden des Dichters, sei es durch Sprechchöre, sei es durch subtilere Mittel, auf Grund oberflächlicher oder falscher theoretischer Überzeugungen kann daher einem ,guten* Stück nur wenig schaden. Eine Verfälschung der moralischen Wertungen ist im allgemeinen nur dort möglich, wo auch die außermoralischen realen Bedingungen des menschlichen Lebens, wozu freilich auch die Reaktionen der handelnden Personen auf das Geschehen und deren Psychologie gehört, verfälscht oder zum mindesten ganz oberflächlich dargestellt werden. Mit der Darstellung und Behandlung des Moralischen in diesem Sinne, vornehmlich in der antiken Tragödie, aber auch in ernsten Dramen späterer Zeiten, soweit Übereinstimmung und Kontrast zum besseren Verständnis der Eigenart der antiken Tragödie beitragen können, beschäftigen sich die folgenden Abhandlungen. Ihr eigentliches Ziel ist das bessere Verständnis antiker Tragödien. Da es aber unumgänglich war, dabei öfter von allgemeineren Prinzipien auszugehen und Begriffe zu benützen, über deren Geltung und Sinn in der neueren Literatur wenig Übereinstimmung und Klarheit herrscht, habe ich den Versuch gemacht, diese, so weit es auf den wenigen Seiten einer Einleitung möglich ist, zu klären. Zur Ergänzung verweise ich auf das ausgezeichnete Buch von Emil Staiger, »Grundbegriffe der Poetik'25, das zwar von ganz anderen Problemen ausgeht als denen, die hier im Vordergrund stehen, aber gegenüber der bei vielen Theoretikern des modernen Dramas herrschenden Verwechslung des Epischen und des Didaktisch-reflektierenden die poetischen Gattungen z. B. in hervorragender, das Wesentliche treffender, Analyse von einander scheidet, sich jedoch dabei sehr wohl bewußt bleibt, daß es die reinen Gattungen nicht gibt, sondern jede Gattung unvermeidlich auch Elemente der ändern enthält, sobald sie sich in einem Dichtwerk konkret verwirklicht. Auch die Poetik der Tragödie von Otto Mann28 enthält, vor allem in ihren ersten Kapiteln, viel Wesentliches und Richtiges, verliert sich aber später vielleicht etwas allzusehr in der Fülle der Möglichkeiten. Von der Fülle des Möglichen aus wird man gegen das, was in dieser

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Einleitung in möglichster Kürze gesagt worden ist, mancherlei Einwände erheben können. Aber gerade wegen der Neigung der Gegenwart zu unendlichen, bald zu einem Viertel, bald zur Hälfte, bald zu drei Viertel gelungenen Experimenten, von denen bei weitem die meisten doch nur ephemere Geltung besitzen werden, ist es notwendig, auf die sich gleichbleibenden Grundgesetze der dramatischen Kunst wieder aufmerksam zu machen. Ein Buch, das sich mit den Meinungen der verbreitetsten Gruppen von Interpreten und Theoretikern in Widerspruch setzt, wird naturgemäß auch viel Widerspruch und Kritik herausfordern. Die modernen Avantgardisten werden es für antiquiert erklären; die Mehrzahl der philologischen Kritiker wird es mißbilligen, daß solche avantgardistischen Theorien in dieser Einleitung überhaupt in den Kreis der Betrachtung gezogen worden sind, „nur weil" die avantgardistischen Praktiker und Theoretiker auch auf Aristoteles Bezug genommen und sich mit ihm auseinanderzusetzen versucht haben. Aber auch die philologische Interpretation, wenn auch selten avantgardistisch, ist nicht von den vorherrschenden Meinungen und Begriffen der Zeit unbeeinflußt. Das Buch von Tycho von Wilamowitz über die dramatische Technik des Sophokles, das auf die philologische Interpretation vor allem in Deutschland bis auf die Gegenwart einen sehr starken Einfluß ausübt, ist gerade in seinen Einseitigkeiten aufs Stärkste durch die zu Beginn dieses Jahrhunderts einsetzende an sich durchaus berechtigte Reaktion gegen die romantische und bis zu einem gewissen Grade gegen die moralistische Interpretation der antiken Tragödie bedingt. Man kann aber die Dinge am besten da fassen, wo sie ihren unverhülltesten und energischsten Ausdruck gefunden haben, und das ist im gegenwärtigen Augenblick nicht bei den philologischen Interpreten, sondern bei den avantgardistischen Theoretikern. Da die in diesem Bande vereinigten Abhandlungen zu verschiedener Zeit entstanden sind und verschiedene Gegenstände haben, tritt das Hauptproblem, das in dieser Einleitung hergehoben worden ist, nicht überall mit gleicher Deutlichkeit hervor. Ein Mangel vom Standpunkt dieses Problems aus ist es auch, daß das moralisch Unechte nur gelegentlich am Rande kurz behandelt worden ist. Der Grund dafür liegt darin, daß eigentlicher Gegenstand der Interpretationen Meisterwerke sind, in denen das Unechte nicht zu finden ist. Da ferner das Unechte gegenüber

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dem Echten ebenso wie das Unwahre gegenüber dem Wahren bei weitem die größere Mannigfaltigkeit besitzt, würde es ein mehrfaches des von den folgenden Untersuchungen in Anspruch genommenen Raumes beanspruchen, das Unechte in alle seine Schlupfwinkel zu verfolgen oder auch nur die Hauptformen, in denen es auftreten kann, an einleuchtenden Beispielen aufzuweisen. Wer seinen Blick an der Betrachtung von Beispielen des Echten geschärft hat, wird es trotzdem nicht allzu schwer finden, das Unechte in seinen verschiedenen Formen als solches zu erkennen. München Kurt von Fritz

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TRAGISCHE SCHULD UND POETISCHE GERECHTIGKEIT IN DER GRIECHISCHEN TRAGÖDIE Wenn von der Tragödie die Rede ist, wird im allgemeinen auch von tragischer Schuld gesprochen. Wenn vor zweihundert Jahren von tragischer Schuld die Rede war, war meistens auch von poetischer Gerechtigkeit die Rede oder stand dieser Begriff und diese Forderung doch zum mindesten unausgesprochen im Hintergrund. In neuerer Zeit wird dieser zuletzt erwähnte Begriff kaum mehr offen auf Tragödien, vor allem nicht auf antike Tragödien, angewandt. Aber unausgesprochen und in mehr oder minder verschleierter Form spielt diese Vorstellung bei der Interpretation antiker Tragödien immer noch eine sehr beträchtliche Rolle. Jedenfalls ist eine Einigung darüber, wieweit der Held einer griechischen Tragödie für seine Schuld leide oder, ganz grob ausgedrückt, wieweit ihm mit seinem Leiden recht geschieht, in keiner Weise erzielt. Immer noch stehen sich die beiden Parteien gegenüber, von denen die eine behauptet, daß z. B. Oedipus und Antigone unschuldig leiden, während die andere Partei nicht nur ihre Schuld nachzuweisen sucht, sondern auch, daß sie „gerechterweise" leiden1. Angesichts dieser Tatsache ist es vielleicht zweckmäßig, nicht nur mit neuen Argumenten auf der einen oder der anderen Seite Partei zu nehmen, sondern der Ursache der Meinungsverschiedenheit nachzugehen. Eine gewisse Unstimmigkeit in dem Begriff der Schuld, der hier zugrunde liegt, tritt auch darin hervor, daß man im Englischen nicht von der tragischen Schuld zu reden pflegt, sondern von „the tragic flaw". A flaw bedeutet eine Unvollkommenheit, z. B. in einem Gewebe, jedenfalls aber etwas ganz anderes als eine Schuld. Das Wort „flaw" wird ohne das Epitheton „tragic" von der Unvollkommenheit von Dingen oder z. B. auch in dem Charakter eines Menschen gebraucht, aber nicht von Handlungen, während „Schuld" in der gewöhnlichen, nicht von einer besonderen philosophischen Theorie bestimmten Rede, etwas ist, l'9'J

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Tragische Schuld

das ausschließlich durch Handlungen erzeugt wird. Das Wort „Schuld" ruft den Eindruck von etwas Schwerem und Düsterem, und wenn das Epitheton „tragisch" dazugesetzt wird, von etwas Furchtbarem und Schrecklichem hervor. Niemand wird bei dem Wort „flaw" an etwas Schweres und Düsteres denken, und selbst wenn das Epitheton „tragic" dazugesetzt wird, ruft es keineswegs denselben Eindruck hervor wie der deutsche Ausdruck „tragische Schuld". Trotzdem werden die beiden Ausdrücke als synonym behandelt. Es gibt keinen anderen englischen Ausdruck, der dem deutschen Ausdruck „tragische Schuld" entspräche und umgekehrt2. Eine weitere Folge dieser Tatsache ist es, daß die beiden Ausdrücke in beiden Sprachen auf Beispiele angewandt werden, auf die sie im einen Fall in der einen, im anderen Fall in der anderen Sprache nicht passen. Immer wieder wird behauptet, die tragische Schuld der Antigone bestehe in dem Trotz, mit dem sie dem König gegenübertritt, oder die des Oedipus in der leidenschaftlichen Heftigkeit, mit der er nach dem Mörder seines Vaters sucht und dabei den Seher Teiresias und seinen Schwager Kreon beargwöhnt. Umgekehrt kommt es vor, daß die Tatsache, daß Oedipus seinen Vater erschlagen und seine Mutter geheiratet hat, mit „the tragic flaw" gleichgesetzt wird. Und doch würde es niemand im gewöhnlichen Leben einfallen, die leidenschaftliche Heftigkeit eines Mannes, der um das Wohl seines Landes besorgt ist und dabei ein Komplott gegen sich selbst zu entdecken glaubt, als Schuld, geschweige denn als tragische / Schuld, oder die Tatsache, daß jemand seinen Vater erschlagen hat, als „a flaw" zu bezeichnen. Nur wenn von der Tragödie und dem Tragischen die Rede ist, werden so seltsame Reden geführt und die Worte in so seltsamer Weise gebraucht. Man muß die Verwirrung, die hier offenbar vorliegt, auf ihren Ursprung zurückführen, um sie aufzuklären. Dieser Ursprung liegt in der Poetik des Aristoteles, der aber an der Verwirrung selbst, wie sich zeigen wird, ganz unschuldig ist. Wie jedermann weiß, war Aristoteles der Meinung, daß die Tragödie im Zuschauer Furcht und Mitleid oder richtiger Schrecken und Mitjammer hervorrufen muß. Wenn er in seiner Erörterung zu der Frage kommt*, welche Art von Mensch sich am besten zum Helden einer Tragödie eigne, fragt er sich daher naturgemäß, wie ein Mensch beschaffen sein müsse, damit sein Leiden im höchsten Grade eben diese Wirkung im 2

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Tragische Schuld

Zuschauer hervorrufe. Das erste Ergebnis, zu dem er dabei kommt, ist, da der tragische Held nicht vollkommen weise, nicht im moralischen Sinn vollkommen sein d rfe. Denn, sagt Aristoteles, das Leiden eines solchen Menschen w rde nur gr lich (μιαρόν) sein. Es w rde in uns nicht den Schrecken und den Mitjammer hervorrufen, den wir beim Anblick des Leidens eines Menschen wie wir selbst (τον δμοιον) empfinden k nnen. Mit anderen Worten: was Aristoteles hier meint, ist offenbar, da wir nur bei dem Leiden eines Menschen, der fehlbar ist, wie wir selbst4, den Eindruck haben: tua res agitur, da wir nur dann das Geschehen als etwas uns unmittelbar Angehendes empfinden k nnen. Diese Unvollkommenheit im Charakter des Helden der Trag die, die nach Aristoteles' Meinung in einer guten Trag die notwendig ist, kann sehr gut als „the tragic flaw" bezeichnet werden. Hier pa t das englische Wort vortrefflich, w hrend das deutsche Wort „tragische Schuld" offenbar ganz fehl am Platz ist. Zugleich ist offenbar, da diese notwendige Unvollkommenheit des tragischen Helden nichts mit der Vorstellung zu tun hat, da der Held gerechterweise f r seine Schuld oder Unvollkommenheit leiden m sse. Ja, Aristoteles schlie t diese Vorstellung von einer poetischen Gerechtigkeit geradezu und ausdr cklich aus, indem er darauf hinweist, da wir den gr ten Jammer ber das Leiden eines Menschen empfinden, der unverdient (ανάξιος) leidet, und daraus den Schlu zieht, da in einer guten Trag die der Held unverdient leiden m sse. Kurz nach diesen Ausf hrungen allerdings sagt nun Aristoteles, die gr te tragische Wirkung werde erzeugt, wenn das Leiden des tragischen Helden die Folge einer gro en ΰμαρτία sei. Im Neuen Testament bedeutet das Wort αμαρτία S nde oder Schuld. Es ist daher begreiflich, da das Wort auch an dieser Stelle mit Schuld bersetzt worden ist. Die Tatsache ferner, da Aristoteles von der αμαρτία unmittelbar nach seinen Ausf hrungen ber die notwendige Unvollkommenheit des tragischen Helden spricht, hat zur Folge gehabt, da von der berw ltigenden Mehrheit der Interpreten die Unvollkommenheit des Helden mit seiner αμαρτία gleichgesetzt5 oder zum mindesten als ihre notwendige Ursache betrachtet worden ist. Eine weitere Folge ist die Gleichsetzung der beiden oben diskutierten englischen und deutschen Ausdr cke, von denen der eine auf die Unvollkommenheit des Charakters6 vortrefflich pa t, w hrend die Frage, ob und wieweit der Ausdruck „tragische [195]

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Tragische Schuld

Schuld" das, was Aristoteles mit αμαρτία meint, korrekt wiedergibt, erst noch einer genauen Untersuchung unterzogen werden mu . Jedenfalls aber h tte ein auch nur etwas genaueres Aufmerken auf das, was Aristoteles wirklich sagt, sofort zu dem Ergebnis f hren m ssen, da seiner Meinung nach die Unvollkommenheit des Helden und seine αμαρτία keinesfalls identisch sein k nnen. Denn wo er seine Aussage noch einmal wiederholt7, sagt er, der gr te Effekt werde erzielt, wo das Leiden hervorgerufen werde durch eine gro e αμαρτία eines Menschen, der so ist wie wir oder etwas besser. Die αμαρτία soll also nach M glichkeit gro sein, die Unvollkommenheit dagegen klein. Wie k nnten sie dann identisch miteinander sein? Da sie gewi nicht, wie immer wieder bald ausdr cklich behauptet, bald stillschweigend vorausgesetzt wird, miteinander identisch sein k nnen, schlie t nat rlich nicht aus, da die eine, vielleicht sogar notwendigerweise, die Ursache der anderen sein k nnte. Aber es mu doch darauf hingewiesen werden, da Aristoteles nirgends einen solchen Zusammenhang behauptet. Wer nachzuweisen sucht, da er besteht, mag recht haben, aber er kann sich nicht auf die Autorit t des Aristoteles berufen. Ferner mu — dies ist sehr wichtig — darauf aufmerksam gemacht werden, da Aristoteles die Unvollkommenheit des Helden als notwendige Bedingung einer guten Trag die bezeichnet, dagegen nur sagt, da die tragische Wirkung am gr ten sei. wenn das Leiden durch eine gro e αμαρτία des Helden hervorgerufen werde, nicht dagegen, da dies notwendigerweise der Fall sein m sse. Tats chlich ist die erste Forderung in allen erhaltenen griechischen Trag dien erf llt. Dagegen d rfte es schwer sein, im Philoktetes oder im Oedipus auf Kolonos die αμαρτία zu finden. Doch um diese Frage entscheiden zu k nnen, ist es notwendig, zuerst Klar- / heit dar ber zu schaffen, was die αμαρτία eigentlich ist. Die Grundbedeutung des Verbums άμαρτεΐν, von dem das Wort αμαρτία stammt, ist „etwas (ein Ziel) verfehlen", „einen Fehler begehen". Im f nften und vierten Jahrhundert kann das Wort sowohl zur Bezeichnung eines moralisch v llig indifferenten Fehlers oder Irrtums wie zur Bezeichnung einer moralisch oder sonst tadelnswerten Handlung gebraucht werden8. In der Nikomachischen Ethik unterscheidet Aristoteles das verwandte αμάρτημα sowohl vom ατύχημα wie vom αδίκημα, indem er sagt, ein Schaden, den man einem anderen aus Unwissenheit (μετ' αγνοίας) zu4

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f ge, sei ein αμάρτημα, und zwar nenne man eine solche Handlung, wenn der Schaden gegen jede vern nftige Erwartung (παραλόγως) eintrete, ein ατύχημα, wenn er dagegen h tte erwartet werden k nnen, aber keine b se Absicht vorgelegen habe, im engeren Sinne in αμάρτημα, sei jedoch der Schaden absichtlich zugef gt, dann sei die Handlung ein αδίκημα. An einer anderen Stelle der NE9 sagt Aristoteles, in gewisser Weise sei jeder schlechte Mensch unwissend in bezug auf das, was man tun und lassen m sse, und durch eine solche αμαρτία w rden Menschen άδικοι und schlie lich κακοί. Diese Stellen, an denen Aristoteles das αμάρτημα im ethischen Sinne behandelt, sind offenbar weder der Auslegung derjenigen g nstig, die den Ausdruck αμαρτία in der Poetik als Bezeichnung einer moralisch voll zurechenbaren Schuld ansehen, noch denen, die in dem dunklen Gef hl, da gerade in den gro artigsten antiken Trag dien, wie dem Oedipus oder der Orestie, doch kaum von einer moralisch voll zurechenbaren Schuld die Rede sein k nne, die Meinung vertreten haben, mit αμαρτία meine Aristoteles in der Poetik einen blo en intellektuellen Irrtum, einen „error of judgement"10. Da jedoch auf der anderen Seite die in der NE gegebenen Begriffsbestimmungen kaum voll ausreichen, um eine Trag die zu interpretieren, so k nnen sie nur dazu dienen, anzudeuten, in welcher Richtung etwa die Bedeutung des Wortes in der Poetik zu suchen und in welcher sie nicht zu suchen ist. Die eigentliche Bedeutung des Wortes mu aus einer Betrachtung der Trag dien selbst, auf die sich Aristoteles bezog, gewonnen werden. In Sophokles' Antigone wird von vielen Interpreten die Schuld der Antigone zu bestimmen gesucht. Hier scheiden sich dann wieder die Parteien. Die einen finden die Schuld der Antigone in der Auflehnung gegen die legitime Staatsgewalt. Eine solche Auflehnung sei immer schuldhaft, auch wenn das Gebot der Staatsgewalt, dem zuwidergehandelt wird, an sich verwerflich ist. Die anderen sind der Meinung, Antigone habe zwar recht, wenn sie unter allen Umst nden das Begr bnis ihres Bruders durchsetzen wolle. Ihre Schuld aber bestehe in dem Mangel an Demut und in dem Trotz, mit dem sie dem legitimen Herrscher gegen bertrete. Es ist seltsam, da bei solchen Betrachtungen so selten daran gedacht wird, da eine Schuld — und das ist ja das Ungl ck der Trag dieninterpretation, da hier sogleich immer alle W rter in einem Sinn gebraucht werden, den sie im gew hnlichen Leben niemals haben, so da alles in

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einem geheimnisvollen Nebel der Unbestimmtheit verschwimmt —, daß also eine Schuld im gewöhnlichen Sinne eine bessere Alternative des Handelns notwendig voraussetzt. Stellt man nun die Frage nach einer solchen Alternative, so ist sie offenbar im Stück selbst durch das Verhalten der Ismene gegeben. Vielleicht sind nun die Fürsprecher des absoluten Gehorsams gegen die Staatsautorität der Meinung, Antigone hätte wie Ismene handeln sollen. Aber man braucht nur das Stück anzusehen, um zu erkennen, daß dies nicht die Ansicht des Sophokles gewesen sein kann. Es bleibt also ihr Trotz. Nun ist es richtig, daß Antigone keineswegs als vollkommen weise dargestellt wird. Sie hat die Leidenschaften, Schwächen und Begrenztheiten, die der menschlichen Natur eigen sind. Darin ist die erste Forderung des Aristoteles erfüllt. Wenn aber ihr trotziges Verhalten ihre „tragische Schuld" sein soll, so ist offenbar, daß hier wiederum das Wort Schuld in einem Sinn gebraucht wird, den es in gewöhnlicher Rede nicht hat. Wenn ferner diese Schuld die Ursache ihres Leidens sein soll, so muß man denn doch fragen, ob man glauben soll, der von Sophokles geschilderte Kreon würde sogleich nachgegeben haben, wenn Antigone sich auf demütige Bitten verlegt hätte, statt ihm mit Schroffheit und Trotz entgegenzutreten, oder er hätte sich vielleicht nach einigen Tagen umstimmen lassen, während deren dann freilich der Leichnam doch unbeerdigt dagelegen hätte. Ist aber eine solche Annahme offenkundig absurd und mit der Schilderung des Kreon im Stück in Widerspruch, so ist die Behauptung, die Schuld der Antigone sei die Ursache ihres Leidens, offenbar falsch. Aber das Leiden der Antigone besteht nicht einfach darin, daß sie für ihre Tat sterben muß, auch nicht allein darin, obwohl das in ihrer Klage auch hervorgehoben wird, daß sie jung sterben muß und ohne den Kreis ihres Lebens vollendet zu haben. Die Tragödie hat es mit dem tiefsten menschlichen Leiden zu tun. Das tiefste menschliche Leiden ist nicht physisches, sondern moralisches Leiden. Dieses moralische Leiden konzentriert sich in der Antigone in der Szene, wo sie mit dem Chor allein ist, bevor / sie zum Tode geführt wird11. Der Chor preist sie als eine Heldin, die durch ihre Tat über die Grenzen, die ihrem Geschlecht gesetzt sind, hinausgegangen ist. Aber eben mit diesem Lob mißversteht er sie, für die das, was sie getan hat, das ganz einfach Natürliche und Richtige gewesen ist. Und durch eine tragische Ironie ist sie in der Szene zwischen Kreon 6

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und Haimon, der nicht — auch das mißversteht der Chor — durch Liebe verblendet ist, sondern Antigone versteht und das Richtige sieht, nicht zugegen gewesen. So fühlt sich Antigone trotz der redseligen Bewunderung des Chores ganz allein und kommt schließlich dazu, zu zweifeln, ob irgendwer, ob selbst die Götter, deren Gesetz sie doch gegen den König erfüllt hat, verstehen, was sie getan hat, obwohl sie in ihrem innersten Herzen weiß, daß sie recht gehandelt hat. Diese äußerste Verlassenheit, dieser Zweifel, ob es irgend jemand gibt, selbst unter den Göttern, der auf ihrer Seite steht, ist das moralische Leiden, durch das Antigone zu gehen hat. Dies Leiden hat mit der Frage des recht oder unrecht Handelns zu tun. Aber es setzt nicht notwendig eine subjektive Schuld voraus. So schrecklich aber auch die moralische Verlassenheit der Antigone sein mag, so ist dies doch noch nicht das tiefste moralische Leiden, durch das ein Mensch zu gehen vermag. Auch von Oedipus wird gesagt, er sei schuldig, und auch hier ist es deutlich, daß er kein vollkommener Weiser ist, daß auch er an der menschlichen Unvollkommenheit teil hat, die nach Aristoteles' Meinung von dem Helden einer Tragödie untrennbar ist. Aber sonst wird in Sophokles' Stück alles getan, um zu zeigen, daß er an den beiden schrecklichen Dingen, die er getan hat, subjektiv unschuldig ist. Er weiß nicht, daß er seine Mutter geheiratet hat. Nachdem er von dem Orakel gewarnt worden war, hat er, wie er glaubt, sich absichtlich von seinen Eltern entfernt, um die Erfüllung zu vermeiden. Ebenso weiß er nicht, daß es sein Vater war, den er an dem Kreuzweg getötet hat12. Es ist oft gesagt worden, seine Schuld bestehe eben darin, daß er den Fremden getötet habe und seine Strafe bestehe eben in der Entdeckung, daß der vermeintliche Fremde sein Vater gewesen ist. Aber das heißt den Sinn des Stückes völlig verkennen. Niemand in der klassischen Zeit des Griechentums hätte es als ein Verbrechen betrachtet — geschweige denn ein Verbrechen, das nach einer solch furchtbaren Strafe verlangt —, wenn jemand an einem einsamen Ort, wo es keine Polizei und keine Gerichtsordnung gibt, einen Fremden, von dem er sich angegriffen und bedroht fühlt, erschlägt. Hier gilt, ganz grob gesprochen, die Regel: wer zuerst schießt, bleibt am Leben. Jeder Mann aus Texas würde das heutzutage noch ohne weiteres verstehen, und es ist anzunehmen, daß die Athener des fünften Jahrhunderts von solchen Zuständen zeitlich

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und räumlich noch nicht so weit entfernt waren, daß sie anders empfunden hätten. Jedenfalls findet sich im Stück des Sophokles keinerlei Andeutung, daß etwa Oedipus selbst anders empfunden hätte. Auch nach der Entdeckung, daß der Erschlagene sein Vater gewesen ist, kommt er nicht zu dem Schluß, daß man sich bei einem Zusammentreffen mit Fremden an einem einsamen Ort sorgfältig hüten müsse, nicht in einen Streit zu geraten oder gar die Notwehr zu überschreiten13. Das moralische Leiden des Oedipus wird nicht dadurch hervorgerufen, daß er bewußt und absichtlich etwas Böses oder Unrechtes getan hat, sondern dadurch, daß er, ohne es zu wissen und zu wollen, etwas getan hat, was objektiv furchtbar ist, obwohl er subjektiv daran unschuldig ist. Ja, man kann sagen, daß sein Leiden um so größer ist, weil er unschuldig ist. Denn so sehr ein bewußter Übeltäter seine Tat bereuen mag, so besteht doch eine gewisse Verwandtschaft zwischen ihm und seiner Tat, während für den unschuldigen Oedipus das, was er getan hat, um so schrecklicher und gräßlicher ist, weil es seinem innersten Wesen widerspricht. Hier ist denn also die Ursache des furchtbarsten Leidens eine . Sie ist nicht eine persönliche Schuld im Sinne der subjektiven Verantwortlichkeit. Aber der Nachdruck liegt auch nicht darauf, daß „nur" ein intellektueller Irrtum vorliegt, wie die meisten Gegner der Annahme von Oedipus' Schuld glauben, sondern auf der objektiven Schrecklichkeit der Tat14. Der Fall des Orestes der äschyleischen Orestie ist verschieden. Aber im letzten Grunde ist der Begriff der als einer objektiven ohne subjektive Schuld derselbe hier wie dort. Orestes tötet seine Mutter nicht wie Oedipus seinen Vater in Unkenntnis. Er weiß, daß er seine Mutter tötet. Somit ist er in gewisser Weise schuldig, und im letzten Teil der Trilogie wird er für seine Tat vor Gericht gestellt. Aber wieder ist ganz deutlich, daß er nicht im gewöhnlichen Sinne des Wortes schuldig, d. h. für seine Tat subjektiv verantwortlich ist. Denn Verantwortlichkeit würde voraussetzen, daß Orestes hätte anders handeln können als er handelt und daß er, wenn er anders gehandelt hätte, richtiger gehandelt hätte. Auch hier wiederum hat aber der Dichter alles getan, um zu zeigen, daß dies nicht so ist. Die Tat wird Orestes von dem Gott Apollon befohlen. Es ist gewiß nicht die Meinung des Aeschylus — obwohl dies später die Meinung des Euripides gewesen sein mag —, daß Orestes 8

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besser / daran tun würde, dem Gebot des Gottes den Gehorsam zu verweigern. Denn das Gebot des Gottes wird nicht nur durch die schrecklichsten Drohungen unterstützt, sondern es wird auch auf das sorgfältigste motiviert. Orest lebt unter Umständen und in einer Zeit, in der die ganze gesetzliche Ordnung auf der Autorität des Herrschers beruht. Es gibt keinen Gerichtshof, der über den König oder Herrscher ein Urteil fällen könnte. Wenn daher ein Verbrechen gegen den legitimen Herrscher begangen worden ist und der Mörder oder die Mörder den Thron usurpiert haben, gibt es keine Wiederherstellung der verletzten Rechtsordnung, außer durch den legitimen Erben des Thrones. So fällt die ganze Bürde der Rache für den Tod seines Vaters auf Orestes allein. Aber es handelt sich nicht allein — obwohl dies im Vordergrund steht — um die Rache für den Tod des Vaters und die verdiente Bestrafung der Schuldigen. Das ganze Land kann nicht von der Notwendigkeit, unter der Herrschaft eines Usurpators und Mörders — von zwei Weibern, wie Orestes verächtlich sagt, denn der Liebhaber seiner Mutter hat einen weibischen Sinn — zu stehen, erlöst werden, wenn es der legitime Erbe nicht auf sich nimmt, die alte Ordnung wiederherzustellen. Die einzige Weise, in der er das vollbringen kann, ist dadurch, daß er die beiden Usurpatoren tötet, und da der eine von beiden seine Mutter ist, seine Mutter15. So ist der Befehl des Gottes nicht der Ausdruck eines unerforschlichen Ratschlusses oder einer willkürlichen Entscheidung, nach deren Grund nicht gefragt werden darf. Er ist nichts als der Ausdruck der immanenten Notwendigkeit der Situation. Und doch ist es ganz wesentlich und unentbehrlich, daß diese Notwendigkeit in dem Befehl des Gottes ihren Ausdruck findet. Denn die bloße rationale Überlegung, daß es aus den und den Gründen seine Pflicht sei, seine Mutter zu töten, würde nicht ausreichen, um Orestes zu veranlassen, zu tun, was ihm von Natur so schrecklich ist. Die Autorität des Gottes ist nötig, um seinen natürlichen Widerstand zu überwinden. So ist auch hier wieder ganz deutlich, daß es nicht die Meinung des Dichters gewesen ist, Orestes würde besser daran getan haben, dem Gebot des Gottes den Gehorsam zu verweigern. Im Gegenteil, wenn er es getan hätte, wäre er seiner Pflicht ausgewichen und wäre den Folgen dieser Pflichtversäumnis nicht entgangen. Und trotzdem — das ist der entscheidende Punkt — nimmt die Tatsache, daß

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Orestes nicht hätte anders handeln können, seiner Tat nichts von ihrer Schrecklichkeit. Hier liegt in klarster Ausprägung vor, was man mit Recht einen tragischen Konflikt genannt hat: ein unausweichlicher Widerspruch zwischen einer klaren Pflicht und der objektiven Schrecklichkeit der Tat, die diese Pflicht erfordert. Das Parodoxon dieses Konfliktes findet im weiteren Verlauf der Trilogie seinen Ausdruck darin, daß Orestes wegen seiner Tat von den Erinnyen verfolgt und dann vor ein Gericht gestellt, aber, wenn auch mit Stimmengleichheit, freigesprochen wird. Es ist aber auch ganz wesentlich, daß ihm nicht wie einem christlichen Sünder vergeben, sondern daß er freigesprochen wird, womit eben ausgesprochen ist, daß ihm die Tat nicht als subjektive Schuld zugerechnet werden kann, da er ihr nicht ausweichen konnte. Diese Betrachtung von drei der größten griechischen Tragödien macht es uns möglich, das Verhältnis zwischen dem, was Aristoteles die nennt und der nach seiner Meinung unentbehrlichen Unvollkommenheit des tragischen Helden genauer zu bestimmen. Es ist nun kaum mehr nötig, ausdrücklich festzustellen, daß das Leiden des Helden in keiner Weise mit seinen menschlichen Schwächen oder Unvollkommenheiten kommensurabel zu sein braucht. Es war ja auch die Meinung des Aristoteles, daß die tragische Wirkung größer ist, wenn eine solche Kommensurabilität nicht besteht. Darüber hinaus ist aber auch klar geworden, daß die nicht notwendigerweise die Folge irgendwelcher Schwächen und Unvollkommenheiten des Helden zu sein braucht. Dies ist besonders deutlich im Falle des Orestes des Aeschylus. Denn obwohl der Orestes der Choephoren und der Eumeniden gewiß nicht als vollkommener Weiser charakterisiert ist — aber Aeschylus hat überhaupt wenig getan, ihn als individuelle Persönlichkeit zu charakterisieren —, so hat der Dichter doch ganz deutlich gemacht, daß Orest, auch wenn er der vollkommenste aller Männer gewesen wäre, der Notwendigkeit, die schreckliche Tat zu vollbringen, nicht hätte entgehen können. Zugleich zeigt die Aeschyleische Orestie, daß Aristoteles, falls er seine Lehre von der nicht ausschließlich aus dem Oedipus Rex ableitete — in welchem Fall sie nicht als zu einer allgemeinen Theorie der Tragödie gehörig ernst genommen werden könnte — mit der nicht einen bloßen intellektuellen Irrtum gemeint haben kann. In den beiden letzten Stücken der Orestie kommt kein Irrtum vor, der dem Irrtum oder 10

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den Irrt mern des Oedipus entspr che, infolge deren dieser seinen Vater get tet und seine Mutter geheiratet hat. Ebensowenig nat rlich in der Antigone, sofern man in diesem St ck von einer αμαρτία reden kann. Also besteht die αμαρτία prim r und wesentlich nicht in einem Irrtum, sondern im Falle des Orestes in der T tung seiner Mutter, im Fall des Oedipus in der / T tung seines Vaters und der Heirat mit seiner Mutter, eine αμαρτία, die doch nicht als subjektive Schuld zugerechnet werden kann. Auch im Oedipus besteht keine kausale Beziehung zwischen dem, was man als die Unvollkommenheit, the tragic flaw, im Charakter des K nigs bezeichnen kann — einer Unvollkommenheit brigens, die seiner Gr e keinen Eintrag tut — und seiner αμαρτία. Die Leidenschaftlichkeit, mit der der K nig nach dem T ter sucht, die Ungerechtigkeit, mit der er Teiresias und seinen Schwager Kreon eines Komplottes verd chtigt, die Blindheit, mit der er nicht sieht, da er selbst es ist, um den es sich handelt, bringen die Spannung und den Schrecken und das Mitf hlen der Zuschauer auf den h chsten Grad. Aber die Annahme, da hier des K nigs „tragische Schuld" zu suchen sei, da es diese Blindheit und diese Leidenschaft oder Ungerechtigkeit sei, wegen deren er leiden m sse, zeigt nur, zu welchen K nstlichkeiten die moderne Vermengung der tragischen Unvollkommenheit des Helden mit seiner αμαρτία mit Notwendigkeit f hren mu . Wenn damit nun nachgewiesen ist, da die Unvollkommenheit des Helden der Trag die und seine αμαρτία nicht in einem notwendigen Zusammenhang miteinander stehen, so ist damit allerdings nicht gesagt, da sie nicht in einem Zusammenhang stehen k nnen oder d rfen. Es ist nicht m glich, im Rahmen eines Aufsatzes alle erhaltenen griechischen Trag dien auf diese Frage hin zu untersuchen. Aber es ist nicht schwer zu sehen, da in der Danaidentrilogie des Aeschylus, von der nur das erste St ck erhalten ist, die αμαρτία der Danaiden mit ihrer Schw che zusammenh ngt. Dasselbe gilt von der Deianira der Trachinierinnen des Sophokles. Ebenso ist die αμαρτία des Aias in dem gleichen St ck des Sophokles mit seiner „Unvollkommenheit", wenn auch sehr indirekt, in kausale Beziehung gesetzt16. Bei anderen St cken des Aeschylus und des Sophokles w rde es einer sehr sorgf ltigen Analyse bed rfen, um festzustellen, wieweit man berhaupt von einer αμαρτία im selben Sinne wie in der Orestie, 11981199 ]

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der Danaidentrilogie, dem König Oedipus, dem Aias und den Trachinierinnen sprechen kann und wieweit dabei dann eine kausale Beziehung zwischen „tragic flaw" und nachgewiesen werden kann. Aber von Euripides läßt sich ganz allgemein 'sagen, daß in der großen Mehrzahl seiner Stücke die kausale Beziehung zwischen der Unvollkommenheit im Charakter des Helden und seiner nicht zu übersehen ist. Euripides hat nur selten den zweiten Teil des Rates oder der Forderung des Aristoteles beachtet, daß der Held einer Tragödie uns ähnlich sein müsse „oder eher etwas edler und besser". Mit wenigen Ausnahmen sind die Personen, die im Mittelpunkt Euripideischer Tragödien stehen, gar sehr „wie wir". Es ist oft gesagt worden, z. B. schon von Euripides' Zeitgenossen Aristophanes, daß viele der Euripideischen Tragödienfiguren beträchtlich unter dem Durchschnitt stehen, und Aristoteles selbst hat von dem Menelaos des Euripideischen Orestes gesagt, er sei von einer „unnötigen" (d. h. offenbar: durch die Fabel und die dramatischen Notwendigkeiten des Stückes nicht geforderten) Niedrigkeit der Gesinnung. Die , welche die zentralen Charaktere Euripideischer Tragödien begehen, sind zweifellos zu einem sehr beträchtlichen Teil die Folge ihrer sehr deutlich gemachten Unvollkommenheiten und Schwächen. Und doch kann man ganz allgemein auch von den Helden der Euripideischen Stücke sagen, daß sie, gemäß der von Aristoteles als allgemeingültig ausgesprochenen Forderung, in gewissem Sinne unverdient leiden. Wenn sie schwach und unvollkommen sind — und sie sind oft sehr schwach und unvollkommen —, so werden sie in Situationen gestellt, die über ihre Kraft und ihre moralische Einsicht hinausgehen. So ist es z. B. bei dem Orestes des Euripides in dem gleichnamigen Stück. In gewissem Sinn, wenn auch in einem sehr anderen Sinn als von dem Orestes des Aeschylus oder dem Oedipus des Sophokles, kann man also auch von den Helden der Dramen des Euripides sagen, daß ihnen ihre Taten nicht ganz subjektiv zugerechnet werden können, daß sie in diesem Sinn unschuldig schuldig sind. So ist auch hier der Grundcharakter der antiken Tragödie gewahrt, obwohl in gewisser Weise die Tragödie des Euripides einer Form der Tragödie, die erst in späterer Zeit aufgetreten ist, näher steht. Aristoteles sagt, daß die Tragödie durch die Darstellung menschlichen Leidens Schrecken und Mitjammer erzeugen solle und dadurch eine Reinigung dieser Affekte. Sowohl die Forderung, daß der Held einer

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Tragödie nicht vollkommen sein dürfe, wie auch die Meinung, daß eine besonders starke tragische Wirkung erzielt werde, wenn das Leiden des Helden durch eine große verursacht werde, werden aus dieser Definition des Wesens einer Tragödie abgeleitet. Aristoteles sagt aber auch, daß die Dichtung — und offenbar meint er dabei vor allem auch die tragische Dichtung — philosophischer sei als die Geschichte. Denn während die Geschichte das darstelle, was tatsächlich geschehen sei, also z. B. was Alkibiades tatsächlich getan hat und was ihm tatsächlich widerfahren ist, habe die Dichtung es mehr mit einem , einem Allgemeinen, zu tun, indem sie zur Darstellung bringe, was sich ereignen könne „gemäß der Wahrscheinlich / keit oder der Notwendigkeit" ( ). Ist das nun nicht eine seltsame Behauptung, wenn man sie auf die größten griechischen Tragödien anzuwenden sucht? Ist es wirklich allgemeines menschliches Schicksal, daß jemand in Gefahr ist, aus Unkenntnis seinen Vater zu erschlagen und seine Mutter zu heiraten, oder daß er gezwungen wird, seine Mutter zu töten? Oder wenn man besonderen Nachdruck auf die Stelle in der Poetik des Aristoteles legt, an der er sagt, daß die Dichtung darstelle, was „einem solchen Mann", d. h. einem Mann von bestimmter Art, mit Notwendigkeit oder der Wahrscheinlichkeit nach zustoßen werde, ist es wirklich richtig, daß ein Mann von der Art des Oedipus, wie er im Stück des Sophokles dargestellt ist, wahrscheinlich seine Mutter heiraten wird? Oder wenn, wie es vielfach geschehen ist, die Annahme gemacht wird, es handle sich um die notwendigen oder wahrscheinlichen Folgen einer schrecklichen Tat, die dargestellt werden sollten, wäre es nicht äußerste Trivialität, eine Tragödie zu schreiben, um der Zuschauerschaft vor Augen zu führen, welche schrecklichen Folgen es hat, wenn man seine Mutter heiratet oder seinen Vater erschlägt? Offenbar kann alles dies nicht der Sinn der Behauptung des Aristoteles sein, soweit sie auf die erhaltenen griechischen Tragödien Anwendung findet. Noch weniger kann natürlich davon die Rede sein, daß etwa die griechische Tragödie die allgemeinen Wahrheiten, welche die moderne Psychoanalyse über das unbewußte Seelenleben des Menschen entdeckt zu haben glaubt, in dichterischer Form habe lehren wollen. Ob es nun den Oedipuskomplex gibt oder nicht, der Oedipus der Tragödie hat ganz sicher seinen Vater nicht deshalb getötet, weil er auf dessen Verhältnis [1991200]

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zu seiner Mutter eifersüchtig war, da er auch nicht die geringste Vermutung davon hatte, daß der Fremde, den er erschlug, sein Vater sei. Wenn er einen Oedipuskomplex gehabt hätte, hätte er seinen Stiefvater töten müssen. Aber es ist kaum nötig, sich in dem gegenwärtigen Zusammenhang mit diesem Mißbrauch einer großen dichterischen Gestalt auseinanderzusetzen. Das einzige, was Aristoteles gemeint haben kann, wenn er, wie doch unzweifelhaft ist, bei seiner Feststellung auch und zwar ganz besonders an die Tragödie dachte, ist, daß diese als eine Form der Dichtung eine Grundbedingung der menschlichen Existenz enthüllt. Die Grundbedingung der menschlichen Existenz, die im Oedipus enthüllt wird, besteht darin, daß es einem Menschen widerfahren kann, daß er aus Unkenntnis etwas tut, das ihm, wenn er sieht, was er getan hat, als etwas Gräßliches erscheint und das seinem innersten Wesen widerspricht, in der Orestie, daß ein Mensch in eine Lage kommen kann, in der es seine unausweichliche Pflicht wird, etwas zu tun, vor dem doch, wenn es an sich betrachtet wird, sein ganzes moralisches Gefühl zurückschaudert und das ihn, wenn er es getan hat, als etwas Gräßliches verfolgen wird, trotzdem es seine Pflicht gewesen ist, in der Antigone, daß jemand auf Geheiß seines Gewissens eine Tat zu tun sich gedrungen fühlt und auch tatsächlich vollbringt, für die er nicht nur bestraft wird, sondern für die er bei niemandem, auch nicht bei seinen Freunden, die ihn bedauern oder selbst bewundern, das Verständnis findet, nach dem er zur Bestätigung seiner eigenen Gewißheit des schlichten Rechthandelns sucht, in vielen anderen Tragödien, vor allem aber in den meisten Tragödien des Euripides, daß ein Mensch mit den gewöhnlichen Schwächen der durchschnittlichen menschlichen Natur, die es ihm unter gewöhnlichen Umständen gestattet hätten, ein ganz normales Leben zu führen, sich LTmständen gegenübersehen kann, denen gegenüber recht und richtig zu handeln weit über seine moralischen Kräfte und seine moralische Einsicht hinausgeht, und daß er sich im Kampf mit diesen Umständen Leiden und zwar auch moralische Leiden zuzieht, die weit über das hinausgehen, was ihm etwa als eine persönliche Schuld zugerechnet werden kann. Im menschlichen Leben, wie es meistens ist, wird nur selten eine Situation eintreten, die so extrem ist wie diejenigen, welche den Gegenstand der größten griechischen Tragödien bilden. Aber es ist die philosophische

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Wahrheit der antiken Tragödie, daß sie konkret und in extremer und damit eindrucksvollster Form dem Zuschauer vor Augen stellt, was in weniger extremen Formen jedermann widerfahren kann und in irgendeiner Form einem jeden wohl auch einmal widerfährt. Dabei ist es allen antiken griechischen Tragödien gemeinsam, daß, was immer an Schwäche und Unvollkommenheit an einem Helden einer griechischen Tragödie zu finden sein mag, sein Leiden nicht in irgendeiner Weise mit dem, was ihm etwa an subjektivem Verschulden zugerechnet werden kann, kommensurabel ist. Die antike griechische Tragödie hat daher nicht nur nicht die sogenannte poetische Gerechtigkeit zum Ziel, sondern sie schließt sie geradezu aus. Dadurch unterscheidet sie sie sich zutiefst von anderen Formen des Dramas, die im Abendland erst zu späterer Zeit aufgetreten sind. Es ist nur die andere Seite dieser selben Grundeigentümlichkeit der antiken griechischen Tragödie, daß die tragische Situation immer von außen kommt, von außen gegeben ist, d. h. daß sie nicht mit Notwendigkeit aus dem Charakter des Helden / hervorgeht. Dies will nun freilich nicht besagen, daß die Art des Menschen, der im Mittelpunkt einer Tragödie steht, das was man seinen Charakter nennen kann, auf das tragische Geschehen keinen Einfluß hätte. Ismene und Chrysothemis in der Antigone und der Elektra des Sophokles haben nicht dasselbe tragische Schicksal wie ihre Schwestern, weil sie anders sind, weil sie auf diese tragische Situation sozusagen nicht ansprechen, was nicht bedeutet, daß nicht auch eine Ismene oder eine Chrysothemis in eine für sie tragische Situation geraten könnte, wenn auch auf eine andere, vielleicht mehr euripideische Weise. Entscheidend ist jedoch, daß Antigone, obwohl es für sie charakteristisch ist, daß diese Situation für sie eine tragische wird, diese Situation nicht von sich aus hervorbringt. Wenn sie nicht von außen her in eine Situation gestellt wäre, wo ihre Brüder sich gegenseitig im Zweikampf getötet haben und ihr Oheim und König den Befehl gegeben hat, den Leichnam des einen, weil er gegen die eigene Vaterstadt gezogen ist, den Hunden zum Fraß zu lassen, würde ihr Geschick nicht zu einem tragischen. Dasselbe gilt in noch stärkerem Maße für den Orestes der Aeschyleischen Trilogie und bis zu einem gewissen Grade selbst der Euripideischen Stücke, der als ein glücklicher Herrscher und legitimer Nachfolger hätte herrschen können, ohne durch einen tragischen [2001201]

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Konflikt hindurchzugehen, wenn sein Vater eines natürlichen Todes gestorben und nicht von Orestes' Mutter getötet worden wäre. Auch darin liegt ein wesentlicher, aber mit dem ersten eng zusammenhängender Unterschied zwischen griechischer und moderner Tragödie. Auch steht es wohl damit in Zusammenhang, daß die Hauptfiguren der antiken Tragödie, wie oft bemerkt worden ist, im allgemeinen „flächenhafter" gezeichnet sind als die der modernen Tragödie, daß gerade bei den Hauptfiguren im Gegensatz zu manchen Nebenfiguren, wie z. B. dem Wächter in der Antigone, nicht der Versuch gemacht ist, sie „rundherum" als Charaktere zu zeichnen, was jedoch nicht bedeutet, wie manchmal ganz fälschlich behauptet worden ist, daß eine Figur der antiken Tragödie keinerlei Einheit des Charakters zu haben brauche und ganz verschieden gezeichnet werden könne, je nachdem, wie es gerade der durch eine individuelle Szene zu erreichende Effekt erfordere. Ist es nun also eine Eigenschaft durchweg aller erhaltenen griechischen Tragödien, daß in dem angegebenen Sinn die tragische Situation von außen kommt und nicht mit Notwendigkeit aus dem Charakter der handelnden Personen hervorgeht, so ist doch nicht nur, wie schon gezeigt worden ist, die Art der tragischen Situation und des tragischen Konfliktes jeweils eine verschiedene, sondern es läßt sich auch beobachten, daß jeder der drei großen tragischen Dichter das tragische Grundgeschehen innerhalb einer noch umfassenderen Auffassung des menschlichen Lebens verschieden auszudeuten scheint. In den erhaltenen Tragödien des Aeschylus findet man fast immer, wenn nicht am Ende jeder individuellen Tragödie, so doch am Ende der ganzen Trilogie, eine Art Versöhnung und Lösung des tragischen Konfliktes. Am Ende der Orestie wird Orestes freigesprochen und von dem Fluch, der auf ihm lastet, und von der Verfolgung durch die Erinnyen, die sich unter dem Namen der Eumeniden aus Rachegeistern in Hüterinnen einer besseren und höheren Ordnung verwandeln, befreit. Am Ende der Prometheustrilogie fand aller Wahrscheinlichkeit nach eine Versöhnung zwischen Zeus und Prometheus statt, und es kann jedenfalls kein Zweifel daran sein, daß Prometheus von seinem Leiden und der ihm auferlegten Strafe befreit wurde. Ebenso ist es äußerst wahrscheinlich, daß am Ende der Danaidentrilogie die Danaiden von der Blutschuld des Mordes an ihren gewaltsamen Freiern gereinigt wurden und die natürliche Ordnung der Dinge 16

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wiederhergestellt17. Die Perser enden zwar mit dem Klagezug des zurückgekehrten Xerxes und der Perser im Schmerz über die Katastrophe des persischen Heeres. Aber auch hier ist die natürliche Ordnung wiederherstellt. Xerxes ist durch den Untergang seines Heeres für seine , mit der er die Staatsform der despotischen Alleinherrschaft über die ihr von den Göttern gesetzte Grenze hinaus auszudehnen versucht hatte, bestraft. Aber er wird seiner legitimen Herrschaft nicht beraubt, und in Griechenland ist die von den Göttern gewollte Freiheit wiederhergestellt. Selbst diejenige Tragödie des Aeschylus, die das düsterste Ende hat, die Stehen gegen Theben, endet mit einem Ausblick auf eine bessere Zukunft. Denn obwohl Eteokles in den Kampf geht mit dem Bewußtsein, daß er dem Fluch nicht entgehen kann, der will, daß er und sein Bruder Polyneikes einer von des anderen Hand beide ihren Tod finden, und obwohl er die Erfüllung dieses Fluches dadurch, daß er beschließt, persönlich das Tor der Stadt zu verteidigen, das von seinem Bruder berannt wird, freiwillig und bewußt auf sich nimmt, so geht er doch eben auf Grund dieses Entschlusses mit dem Bewußtsein in den Tod, daß der Fluch durch seine freiwillige Erfüllung zu Ende kommen wird und die Stadt, die er verteidigt, einer lichteren Zukunft entgegengeht. So scheint, wenn man nach den erhaltenen Tragödien schließen kann, überall am Ende die Aussicht / auf eine Herstellung oder Wiederherstellung einer Ordnung gestanden zu haben, in welcher das tragische Leiden aufgehoben ist, ohne daß dies dem Leiden, solange es dauert, etwas von seiner tragischen Tiefe nimmt. Am Ende der Tragödien des Sophokles ist eine Versöhnung und Lösung der Art, wie sie für die Trilogien des Aeschylus charakteristisch ist, nicht zu finden, auch dann nicht, wenn, z. B. im Aias oder in der Antigone, am Ende das Unglück über die Gegner des Helden hereinbricht. Denn Aias und Antigone gehen ja nicht wie der Eteokles der Stehen in den Tod mit dem Bewußtsein, daß durch ihren Tod ein Fluch erfüllt und eine bessere Ordnung wiederhergestellt werde. Aias geht in den Tod, weil er zu dem Wissen gekommen ist, daß auf dieser Erde kein Platz mehr für ihn ist, auf dem er als der Aias, der er ist, leben kann, und Antigone geht in den Tod im Zweifel, ob es irgend jemand gibt, selbst unter den Göttern, der ihre Tat versteht, so wie sie sie versteht. Daß Aias dann das zuerst von seinen Gegnern verweigerte Begräb[2011202]

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nis zugestanden wird, und daß Kreon der Strafe für seine verfällt, ist keine Lösung der tragischen Situation in der Art, wie sie für Aeschylus charakteristisch ist. Überhaupt ist die Tragik der Dramen des Sophokles bei aller scheinbaren größeren Ausgeglichenheit viel härter und unerbittlicher als die des Aeschylus und in gewisser Weise selbst als die des Euripides. Es gibt in den Dramen der beiden anderen Tragiker nichts, was sich an Härte dem der Elektra, gesprochen von der Tochter zu ihrem Bruder, als er die Mutter tötet, an die Seite stellen läßt. Im übrigen ist es schwieriger, die besondere Art, mit der etwa bei Sophokles das Tragische in eine umfassendere Gesamtauffassung des Lebens hineingestellt wird, zu bestimmen als bei Aeschylus. Vielleicht ist es auch richtig, daß, wie von den Vertretern der rein ästhetischen Auffassung der Dichtung gesagt wird, eine solche Gesamtauffassung gar nicht notwendig ist, und daß bei Sophokles, dem reinen Künstler, im Gegensatz zu Aeschylus, bei dem gedankliche Momente ganz unverkennbar eine große Rolle spielen, danach gar nicht gefragt werden sollte, mit anderen Worten, daß von ihm nur die höchste Wirkung auf den Zuschauer durch die eindringlichste Darstellung des tragischen Leidens gesucht worden ist. Aber zum mindesten in einer Anzahl von Tragödien des Sophokles zeigt sich doch ein Gemeinsames, das weder in den Dramen des Aeschylus noch in denen des Euripides zu finden ist, in den Tragödien des Sophokles aber auch da, wo es nicht, wie in der Mehrzahl der erhaltenen Stücke, im Zentrum erscheint, doch sich sozusagen am Rande erkennen läßt. Dies ist, daß der Held der Tragödie, der scheinbar nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich zerstört wird, im Kerne seines Wesens ganz unberührt bleibt oder noch gereinigt und erhöht aus dem Leiden hervorgeht, und daß daran selbst die Götter, wenn sie ihm feindlich sind, nichts ändern können. So ist es im Aias. In dem nächtlichen Anschlag auf seine Feinde hat er etwas getan, was seinem ganzen Wesen als dem Urbild des immer gerade und offen auf seinen Gegner zugehenden Helden widerspricht, und in der Sinnverwirrung des Rindermordes ist seine Schande aller Welt offenbar geworden. So scheint er viel gründlicher vernichtet als der physische Tod ihn vernichten könnte. Daß er sich das Leben nimmt, ist nur ein Ausdruck dafür, daß er als der alte Aias nicht mehr fortleben

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kann. Und doch wird gerade durch seinen Tod, in den er nicht in blinder Flucht hineinstürzt, sondern den er nach voller Überlegung und in voller Einsicht vollzieht, der Kern seines Wesens wiederhergestellt, so daß er nun als das gereinigte Bild des offenen und geraden Heldentums für alle Zeiten weiterleben wird. Der zweite Teil des Stückes ist nur die Bestätigung von außen für das, was sich in der Szene des Entschlusses zum Tode und in der Todesszene selbst von innen abgespielt hat. Ebenso wird in und nach dem Tode der Antigone das Recht, an dessen Anerkennung selbst durch die Götter sie im Tode noch gezweifelt hat, strahlend offenbar. Endlich im Oedipus auf Kolonos scheint Sophokles am Ende seines Lebens noch einmal ein eigenes Stück geschrieben zu haben, um das in aller Eindringlickkeit unmittelbar vor Augen zu führen, was dem Sehenden schon am Ende des König Oedipus offenbar ist. Dabei ist es ganz wesentlich, daß der Oedipus dieses Dramas nicht demütig wird, sondern im Gegenteil, nachdem er die Folgen seiner unschuldig schuldig vollbrachten Taten ohne jede Schonung für sich selbst durchlitten hat, als nun andere glauben, ihn als Werkzeug behandeln zu können, seine Würde mit äußerster Härte aufrecht erhält. Das ist von Reinigung durch Reue im christlichen Sinne und von Vergebung der Sünden bei Bußfertigkeit und Demut soweit als möglich entfernt. Bei Euripides fehlt auch diese Erhöhung des Helden in der tragischen Vernichtung. Die ^reinen" Charaktere in den Tragödien des Euripides sind nicht diejenigen, an denen sich das eigentlich tragische Geschehen vollzieht, auch wenn sie wie Alkestis und die aulische Iphigenie im Titel des Stückes erscheinen. Diese Tragödien sind nicht falsch / benannt, da sich das tragische Geschehen an den und um die Personen, die im Titel erscheinen, vollzieht. Aber sie sind nicht diejenigen, deren Leiden unter den Personen des Stückes das tragischste ist. Im Gegensatz zu den Helden des Sophokles leiden die Charaktere des Euripides, die dem tragischen Leiden ausgesetzt sind, weil sie einer Situation gegenüberstehen, der sie nicht gewachsen sind. So gibt es am Ende der euripideischen Stücke keine Lösung und Versöhnung wie bei Aeschylus, denn die Lösungen durch einen deus ex machina, die Euripides liebt, sind ironisch und stellen keine ernsthafte Lösung dar. Noch weniger gibt es bei ihm eine Erhöhung des Helden in der Vernichtung wie so oft bei Sophokles. Das Leiden ist gegenüber Sophokles in gewisser Weise weniger tief, eben

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weil die Charaktere des Euripides weniger groß sind, aber es bleibt ungelöst. Dennoch ist, wie schon früher hervorgehoben, auch ihm mit seinen Vorgängern gemeinsam, daß das tragische Leiden in gewisser Weise von außen kommt und insofern „unverdient "ist, als es mit einer subjektiv zurechenbaren Schuld nicht kommensurabel ist. Nun gibt es neben den bis auf den heutigen Tag immer wiederholten Versuchen, eine subjektiv zurechenbare Schuld als der Tragödie und damit auch der antiken Tragödie wesentlich nachzuweisen, auch noch die weitverbreitete Meinung, es handle sich bei der tragischen Schuld zwar nicht um eine Schuld im alltäglichen Sinn des Wortes, wohl aber um eine „Schuld", die in unserer Endlichkeit liege und unauflöslich mit dieser verbunden sei. Offenbar handelt es sich dabei um eine Lehre, die aus der sich schließlich doch aufdrängenden Einsicht, daß gerade bei einigen der größten griechischen Tragödien von Schuld in gewöhnlichem Sinne nicht die Rede sein kann, und dem Bestreben, die traditionelle Meinung von der „tragischen Schuld" doch irgendwie festzuhalten, als ein Kompromiß hervorgegangen ist. Doch hat diese Lehre dieselbe nebelhafte Unbestimmtheit, die so vielem von dem, was über die Tragödie geredet wird, eigen ist, wie schon daraus hervorgeht, daß bald die Endlichkeit selbst als eine Schuld bezeichnet, bald die Schuld nur als auf irgendeine Weise mit dieser Endlichkeit unlösbar verbunden betrachtet wird. Nun ist es richtig, daß jene Grundbedingung des menschlichen Lebens, die die Tragödie in ihren mannigfachen Ausprägungen zum Gegenstand hat18, ein Aspekt der Endlichkeit des Menschen ist oder, wie die Griechen es ausdrücken, der Tatsache, daß die Menschen „Sterbliche" und nicht Götter sind. Aber die , von der Aristoteles redet, gehört zwar als eine immer offene Möglichkeit zu dieser Grundbedingung des menschlichen Daseins, ist aber als etwas ganz Konkretes, und hat weder mit der indischen Karmalehre, noch mit der christlichen Erbsünde, noch mit einer etwaigen orphischen Lehre von dem Begrabensein der menschlichen Seele in einem Körper, falls es eine solche Lehre im Athen des fünften Jahrhunderts gab, noch auch mit der Wahl eines Lebens, wie sie im Mythos von Er im platonischen Staat geschildert wird und die etwa eine metaphysische Schuld konstituieren könnte, das geringste zu tun. Die Rede von der tragischen Schuld der Endlichkeit ist daher, auf die griechische Tragödie angewendet, zum mindesten irreführend, weil 20

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völlig unpräzis, während die ganz Präzises ist.

, von der Aristoteles redet, etwas

2. Erweist sich also die Auffassung der tragischen Schuld in der griechischen Tragödie, die in der ganzen Neuzeit in verschiedenen Abwandlungen herrschend gewesen und noch herrschend ist, als falsch, so erhebt sich allerdings die Frage, wie ein solcher Irrtum, an dem nicht nur zweitrangige Interpreten und Kritiker, sondern die ersten Geister mehrerer Jahrhunderte beteiligt gewesen sind, möglich war. Offenbar kann er nicht nur aus einer zufälligen falschen Interpretation einer Stelle der Aristotelischen Poetik, die, wenn man nur ein wenig schärfer zusieht, gar nicht so mißverständlich ist, hervorgegangen sein. Tatsächlich zeigt denn auch eine Untersuchung der Geschichte des Mißverständnisses, daß dieses sehr viel tiefere historische und philosophische Gründe hat, weshalb es auch unmöglich ist, das Mißverständnis wirksam zu beseitigen, ohne diese Gründe aufzuweisen. Es ist, wie gezeigt, eine wesentliche Voraussetzung der griechischen Tragödie, daß nicht nur physisches, sondern auch im vollsten Sinne moralisches Leiden möglich ist, ohne oder zum mindesten ohne voll zurechenbare subjektive moralische Schuld, wie dies am schärfsten in der Orestie des Aeschylus und im König Oedipus des Sophokles zum Ausdruck kommt, aber in irgendeiner Form auch für alle anderen erhaltenen antiken griechischen Tragödien gilt. In diesem Sinne ist nun schon die Philosophie des Sokrates untragisch oder geradezu antitragisch, indem sie die Bedeutung allen äußeren Geschehens für den Menschen herabzumindern sucht. Damit hängt es auch zusammen, daß Sokrates, wie die Furcht vor dem eigenen Schicksal und den Jammer über eigenes Leiden, so auch die Mitfurcht für und den Mitjammer mit anderen ab- / lehnt. Bei Plato, der von Natur der Wirkung der Tragödie gegenüber sehr empfänglich war, führt dies zum Verbot der tragischen Aufführungen in seinem Staat, da die Tragödie geeignet sei, unmännliche und weichliche Gefühle hervorzurufen. Bei Platons Enkelschüler Polemon endlich wird die Tragödie, in grotesker Überspitzung der platonischen Haltung, zu einem Mittel der Übung in der Unempfindlichkeit, indem man eigens in eine Tragödienaufführung geht, um trotz aufmerksamen Zuhörens von dem tragischen Geschehen sich in keiner Weise mitreißen /203/204]

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und affizieren zu lassen19. Damit wird die Wirkung, die Aristoteles als der Tragödie selbst, wenigstens in der Form, in der sie bis dahin bestanden hatte, als Kunstform wesentlich betrachtet hatte, abgelehnt. Doch ergibt sich daraus noch nicht unmittelbar ein notwendiges Mißverständnis des Sinnes der griechischen Tragödie. Ein solches unvermeidliches Mißverständnis ergab sich erst, als der Versuch gemacht wurde, auf Grund einer im Sinne der griechischen Tragödie untragischen und antitragischen Weltauffassung Dramen zu schaffen, die dem ersten Teil der aristotelischen Tragödiendefinition als Darstellung einer ernsthaften in sich geschlossenen Handlung entsprachen und daher als Tragödien bezeichnet werden zu können schienen, obwohl der zweite Teil der Definition nicht mehr auf sie zutraf, und als sich aus solchen Anfängen eine neue, sich allmählich weithin verbreitende, dramatische Kunstform entwickelte, die dann, als ihr Ursprung vergessen wurde, einfach mit der antiken griechischen Tragödie, wie sie Aristoteles definiert hatte, gattungsmäßig gleichgesetzt wurde. Der Anfang zu einer solchen Entwicklung wurde unter dem Einfluß der stoischen Philosophie gemacht. Die stoische Moralphilosophie ist bekanntlich zu einem sehr großen Teil eine Radikalisierung und Dogmatisierung von Elementen des sokratischen Philosophierens, die aber bei Sokrates noch ganz lebendig und undogmatisch gewesen waren. Hier wird nun radikal alles, was in der Außenwelt geschieht, als für den Menschen letzterdings unwesentlich erklärt. Nur auf die richtige vernunftgemäße Einsicht und das von ihr bestimmte, an sich richtige Handeln kommt es an. Was den Menschen von außen betreffen kann, aber auch die äußeren Folgen seines Handelns, sofern es nur vernunftgemäß richtig war, gehen ihn im Grunde nichts an. In der späteren Stoa wird diese Lehre an einem Gleichnis erläutert. Dafür, daß einer ein guter Schütze ist, kommt es nur darauf an, daß er richtig gezielt hat. Wenn dann sein Pfeil durch einen Wind oder sonst eine ihm nicht kontrollierbare Ursache vom Ziel abgelenkt wird, ändert das an seiner Vortrefflichkeit als Schütze nicht das geringste20. Ebenso ist die „Tugend" oder Vortrefflichkeit, die , des Weisen und damit seine , die allein von seiner abhängt, völlig unabhängig von den äußeren Folgen seiner Handlungen, sofern er nur an sich vernunftgemäß gehandelt hat. Es ist nicht schwer, zu sehen, daß auf Grund einer solchen Philosophie

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eine Tragödie im Sinne des fünften Jahrhunderts völlig unmöglich ist. Wenn Orestes, wie es der Meinung des Aeschylus zu entsprechen scheint, richtig und vernunftgemäß gehandelt hat, indem er seine Mutter tötete, dann ist nach stoischer Auffassung kein Grund vorhanden, weshalb er von den Furien verfolgt und von seinem Gewissen gequält werden sollte. Auch ein Streit zwischen göttlichen Mächten über seine Verurteilung kann nicht stattfinden; denn das Göttliche kann nicht mit sich selbst in Widerspruch stehen. Ebenso wenn Oedipus vernunftgemäß gehandelt hat, als er, da ihn das thebanische Volk zum König haben wollte, die Königin-Witwe heiratete, um keinen Zweifel an der Erbfolge aufkommen zu lassen, der ja ein Unsegen für das Land sein würde, so hat er keinerlei Grund zu verzweifeln, wenn sich nachträglich herausstellt, daß es seine Mutter war, die er geheiratet hat21, da ja diese , ebenso wie das Verfehlen des Zieles durch einen Schützen, der richtig gezielt hat, dessen Pfeil aber durch einen Windstoß abgelenkt worden ist, an seiner nichts ändert. Wenn auf der anderen Seite der euripideische Orestes des gleichnamigen Dramas höchst unmoralisch und unvernunftgemäß handelt, weil er in einer eines Weisen durchaus unwürdigen Weise um sein Leben bangt, so ist diese selbst seine Strafe und die notwendige Folge seines Mangels an wahrer Einsicht. Ob er im äußeren Leben vom Volke, das ihn zum Tode verurteilt hat, auch tatsächlich hingerichtet wird oder ob, wie bei Euripides, im letzten Augenblick ein nach stoischer Auffassung höchst ungöttlicher deus ex machina, den es daher in Wirklichkeit nicht geben kann, ihn vom Tode rettet, ist für die stoische Beurteilung seiner oder völlig irrelevant. Im ersten Jahrhundert n. Chr. Geb. hat es nun Seneca unternommen, auf dem Hintergrund dieser stoischen Philosophie Dramen zu schreiben, die er Tragödien nannte. Es ist unzählige Male gesagt worden, daß die Tragödien Senecas „rhetorisch" seien und daß sie sich an dichterischer Qualität mit / den Tragödien der großen Dichter des fünften Jahrhunderts in keiner Weise vergleichen lassen, während von anderer Seite wiederum der Versuch gemacht worden ist, Seneca zu verteidigen, indem man seine bei aller Übertreibung doch in mancher Hinsicht großartige Darstellung der Affekte und den moralisch erbaulichen Charakter seiner Dramen hervorgehoben hat22. [2041205]

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Aber was immer die ästhetischen Vorzüge oder Mängel der Dramen Senecas sein mögen, daran kann jedenfalls kein Zweifel sein, daß seine Tragödien in der Zeit der Renaissance außerordentlich viel gelesen und bewundert worden sind und daß sie auf die Entstehung und die frühe Entwicklung der modernen Tragödie einen ganz entscheidenden Einfluß ausgeübt haben, einen sehr viel größeren Einfluß als die Tragödien der drei griechischen Tragiker. Da nun die stoische Weltanschauung, die den Hintergrund der Dramen Senecas bildet, in dem oben angegebenen Sinne untragisch und antitragisch ist, so liegt hier offenbar ein entscheidender historischer Wendepunkt in der Geschichte der Tragödie. Es ist daher notwendig, das Verhältnis der Dramen Senecas zur griechischen Tragödie des fünften Jahrhunderts nicht nur vom ästhetischen Standpunkt aus zu bestimmen. Hier ist nun sofort deutlich, daß die Tragödien Senecas eine Mischung darstellen von Elementen, die aus der griechischen Tragödie stammen — wie ja auch die Sujets der Dramen Senecas durchweg aus dieser übernommen sind — und von Elementen der im Grunde, wie gezeigt, antitragischen stoischen Philosophie, die einen entscheidenden Einfluß auf die Tragödie Senecas ausgeübt haben. Diese sind die Lehre von den Affekten als der Ursache alles Übels, die Anschauung vom Weisen und vom Tugendhelden, der die Affekte und alles Übel überwindet, und der Begriff des Fatums oder der , die aber auch als göttliche erscheint. Aber die Art, wie diese Elemente in den Dramen erscheinen, ist weitgehend durch das Vorbild der griechischen Tragödie bestimmt. Am meisten zeichnen sich die Dramen Senecas aus durch die bis aufs äußerste getriebene Darstellung der wildesten, rasendsten und grausamsten menschlichen Leidenschaften. Das ist bis zu einem beträchtlichen Grade in einigen Tragödien des Euripides vorgebildet, der überhaupt der späteren Tragödie und Seneca näher steht als die anderen beiden älteren Tragiker. Aber Seneca geht in der Darstellung der wilden Zerrissenheit des mit sich selbst uneinigen Menschen, des Schwankens zwischen Gut und Böse, der allmählichen Steigerung des Affektes und der Leidenschaft bis zum vollen Paroxysmus, in der grellen und düsteren Schilderung der Leidenschaften und des daraus folgenden Unheils noch weit über Euripides hinaus23. Eben damit hat Seneca auf die moderne Tragödie vor allem in ihren Anfängen eine außerordentliche Wirkung 24

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ausgeübt. Vor allem in der Medea, in der Phaedra und im Thyestes steht dieses Element im Vordergrund. Der siegreiche Tugendheld wird von Seneca in den beiden Heraklestragödien, dem Hercules Furens und dem Hercules Oetaeus, sofern und soweit das letztere Stück von Seneca ist24, zur Darstellung gebracht, wie ja die Gestalt des Herakles schon bei den älteren griechischen Stoikern und vor ihnen schon bei Antisthenes vielfach diese Rolle gespielt hatte. Aber die Darstellung des unvollkommenen Weisen und des Tugendhelden, der nur noch gegen äußere Schwierigkeiten zu kämpfen hat, ist kaum für die Bühne oder selbst das Lesedrama geeignet; und so tritt an dessen Stelle bei Seneca der Tugendheld, der noch seine eigenen Leidenschaften und Affekte zu bekämpfen hat, ja selbst in Wahnsinn verfällt, bis er am Ende alles überwindet, obwohl die alte Stoa eine absolute Kluft zwischen dem Weisen und dem Menschen, der nur nach Weisheit strebt, statuiert hatte. War nun die Schilderung menschlicher Affekte und Leidenschaften bis zu einem gewissen Grade bei Euripides vorgebildet, so kann man sagen, daß die Verklärung des Helden am Ende eines Stückes bis zu einem gewissen Grade im Oedipus auf Kolonos, den Trachinierinnen, und selbst dem Aias des Sophokles25 ihre Vorbilder hat. Doch können diese Beziehungen zur alten griechischen Tragödie die Tatsache nicht verschleiern, daß die Tragödie Senecas ihrem Wesen und vor allem dem Wesen der gesuchten Wirkung nach etwas völlig anderes ist. Stellt man sich als Zuschauer der Tragödien Senecas einen stoischen Weisen vor, so wird er wie Polemon, der Lehrer Zenons, die Leiden und Leidenschaften der Personen des Dramas, über die er ja als Weiser erhaben ist, mit unerschütterlichem Gleichmut vor sich vorüberziehen lassen. Ist er kein Weiser, so mag er beim Anblick der von ihren Leidenschaften zerrissenen und zugrundegerichteten Personen der Dramen wohl Schrecken und Jammer empfinden, vor allem, wenn er an seine eigenen Unvollkommenheiten denkt, wie andererseits der Anblick des Leidens und Duldens des Tugendhelden und seiner endlichen Überwindung in ihm Bewunderung erregen mag und nach Absicht des Autors / zweifellos erregen soll. Aber dieser Schrecken und dieser Jammer werden doch grundverschieden sein von dem Schrecken und Mitjammer, den nach Aristoteles' Meinung der Anblick des unverdienten Leidens des Helden [2051206]

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einer Tragödie erregen soll und welchen die Tragödie des fünften Jahrhunderts in dem empfänglichen und nicht künstlich verhärteten Zuschauer tatsächlich erregt. Denn die Voraussetzung der Dramen des Seneca ist es ja, daß jeder nach Weisheit streben und sich durch unablässiges Streben ihr annähern kann, wobei denn, je größer die Annäherung bei dem Helden der Tragödie ist, um so mehr der Schrecken und der Mitjammer des Zuschauers in Bewunderung übergehen, das Leiden des Helden selbst aber zu dessen Glorifizierung dienen wird. In beiden Fällen aber wird die Wirkung der Tragödie eine moralische sein, indem sie vor den Leidenschaften warnt und zum Streben nach Weisheit und Tugend, durch welche die Leidenschaften überwunden werden, anfeuert. Man stelle sich daneben vor, daß Sophokles seine Antigone geschrieben habe, um davor zu warnen, daß etwa jemand aus Trotz und ungezügelter Leidenschaft seinen Bruder gegen den Befehl der Obrigkeit bestatte, oder den Oedipus, um davor zu warnen, daß nicht jemand aus Unkenntnis seinen Vater erschlage oder seine Mutter heirate — denn das ist ja der Ursprung des Unglücks des Oedipus und nicht eine „flaw" in seinem Charakter, die er etwa in seinem Verhalten gegenüber Teiresias oder Kreon zeigt —, um den ganzen Unterschied zwischen einer Tragödie des fünften Jahrhunderts und einer Tragödie Senecas zu ermessen. Aber auch Seneca hat ja einen Oedipus geschrieben, und dieses Stück ist besonders interessant, weil es zeigt, wie es nicht immer leicht war, die alten tragischen Sujets mit einem stoischen Inhalt zu füllen. Die überkommenen Fabeln des Thyestes und der Medea, aber auch des Hippolytus und der Troer innen boten sich leicht dar zur Darstellung der zerstörenden Wirkung der Affekte, die Troerinnen vor allem auch zur Darstellung des Schmerzes, der den Stoikern ja auch als Affekt galt, ebenso die Heraklesfabeln zur Darstellung des Tugendhelden. Aber mit der Oedipusfzbel ist es anders, da hier die Affekte und Leidenschaften des Oedipus, obwohl vorhanden, für den entscheidenden Punkt, die Tötung des Vaters und die Heirat der Mutter, keine entscheidende Rolle spielen. Diese beiden entscheidenden des Oedipus sind vielmehr ausschließlich durch das Fatum bestimmt. Hier ist nun besonders interessant, wie sich Seneca dieser Vorstellung, die ja, wie erwähnt, auch eine stoische ist, bedient. 26

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Die stoische ειμαρμένη ist zugleich g ttliche πρόνοια. Sie zwingt die Welt zu dem von ihr gewollten und vorgesehenen Ende, das ein gutes ist. Daher kann sie dem Menschen viele Pr fungen und Schwierigkeiten bringen. Aber f r den Weisen sind diese Pr fungen keine B rde und kein bel, da er dem Fatum willig folgt und ihm alles zum Guten werden mu . Daher betete Kleanthes am Ende seines Gebetes an Zeus, den g ttlichen Lenker der Welt: „F hre mich, Zeus, und du, g ttliche Notwendigkeit, wohin zu gehen ich durch euch bestimmt bin, so da ich willig folge. Denn wenn ich nicht folgen will, weil ich schlecht geworden bin, werde ich um nichts weniger folgen m ssen", ein Gebet, das Seneca selbst vereinfacht und, die Bitte in eine Feststellung verwandelnd, bersetzt hat: ducunt fata volentem, nolentem trahunt. Prinzipiell und theoretisch ist dieser Charakter des Fatums wohl auch noch in Senecas Trag dien gewahrt; aber faktisch geht die stoische Vorstellung des Fatums oder der πρόνοια mit den Vorstellungen von dem Fortwirken eines Fluches oder einer Befleckung, die vielen griechischen Trag dien zugrunde liegt, eine Verbindung ein, die das Fatum zu einer d steren und schrecklichen Macht werden l t. Die Schwierigkeiten, die sich aus diesem doppelten und widerspr chlichen Ursprung des Fatums bei Seneca ergeben, treten vielfach hervor, am deutlichsten aber in seinem Oedipus. Wie fr her gezeigt, haben die M ngel im Charakter des Oedipus bei Sophokles wenig oder nichts mit seinen άμαρτίαι zu tun, in die er vielmehr ohne sein Wissen ger t und an denen er daher subjektiv unschuldig ist. Aber das kann Seneca nicht brauchen, da er ja vielmehr das Verderbliche der Affekte und Leidenschaften zeigen will, und da das Unterliegen des Menschen unter seinen Affekten nach stoischer Lehre niemals dem Fatum zugeschrieben werden kann. Dabei ist es charakteristisch, da Seneca doch nicht, wie einige moderne Erkl rer oder Nachahmer des Sophokles, gewagt hat, Oedipus eine subjektive und direkte Schuld daran zuzuschreiben, da er seinen Vater erschlagen und seine Mutter geheiratet hat. Er hilft sich daher in anderer Weise. Er macht die Furcht vor dem Schicksal zu dem beherrschenden Affekt des ganzen St ckes26. Das St ck beginnt mit einem Monolog des Oedipus, in dem er von den Schrecken spricht, mit denen ihn das Schicksal bedroht, und die kurze Antwort lokastes auf diesen Monolog schlie t mit den Worten: [206]

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haud est virile terga Fortunae dare, worauf Oedipus antwortet: Abest pavoris crimen ac probrum procul, virtusque nostra nescit ignavos metus. / Trotzdem schließt seine Schilderung des Mutes und der Unerschrockenheit, mit denen er der Sphinx gegenübergetreten ist, mit dem Ausdruck der Verzweiflung darüber, daß der Schrecken kein Ende ist. Dies Motiv zieht sich durch das ganze Stück hindurch; und immer wieder finden sich Stellen, an denen schon ganz äußerlich die Worte, die Furcht oder Angst bedeuten, sich häufen, wie 243 ff.: O.: Curat peremptum nemo quem incolumen timet. C.: Curam perempti maior excussit timor. O.: Pium prohibuit ullus officium metus. C.: Sphinx et nefandi carminis tristes minae. Oder 699 ff.: O.: Dubia pro certis solent timere reges. C.: Qui pave t vanos metus veros meretur. O.: Quisquis in culpa fuit, dimissus odit; omne quod dubium est cadat. C.: Sie odia fiunt. O.: Odia qui nimium timet regnare nescit; regna custodit metus. C.: Qui sceptra duro saevus imperio regit, timet timentes; metus in auctorem redit. Es ist ein dauerndes Ankämpfen gegen die Furcht, das doch eben zeigt, daß diese alles beherrscht und schon die ganze Vergangenheit, aus der die schreckliche Gegenwart hervorgegangen ist, beherrscht hat. Am Ende des Stückes aber zieht der Chor die Lehre (980 ff.): Fatis agimur; cedite fatis. Non sollicitae possunt curae mutare rati stamina fusi. Quidquid patimur mortale genus, quidquid facimus, venit ex alto, servatque suae decreta colus Lachesis nulla revoluta manu. Omnia secto tramite vadunt primusque dies dedit extremum. Non illa deo vertisse licet quae nexa suis currunt causis. It cuique ratus prece non ulla mobilis ordo. Mulus if sum metuisse nocet, multi ad fatum venere suum dum fata timent. Die Lehre jedoch, die der Chor hier ausspricht, bleibt zweideutig, Multi ad fatum venere suum dum fata timent, sagt der Chor. Aber bedeutet dies, daß sie ihrem Fatum entgangen wären, daß Oedipus seinen Vater nicht erschlagen, seine Mutter nicht geheiratet hätte, wenn er nicht voll Furcht gewesen wäre? Offenbar hätte er seine Pflegeeltern in Korinth nicht verlassen und also Laios nicht am Kreuzweg, seine Mutter lokaste nicht in Theben begegnet, wenn er nicht aus Furcht vor dem durch das Orakel verkündeten Schicksal diesem auszuweichen versucht hätte. Aber wenn richtig ist, was in demselben Chorlied gesagt ist, daß der Mensch dem Schicksal nicht ausweichen kann, so scheint doch damit 28

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ausgesprochen zu sein, daß Oedipus auf keine "Weise dem Schicksal entgehen konnte, seinen Vater zu erschlagen und seine Mutter zu heiraten, und daß er ihm also auch dann nicht entgangen wäre, wenn er keine Furcht gehabt hätte. Das ist denn auch der Schluß, den lokaste zieht, und sie zieht daraus die weitere Folgerung, daß sie und Oedipus nicht schuldig sind (1019: Fati ista culpa est; nemo fit fato nocens). Trotzdem wendet sie diese Folgerung auf sich nicht wirklich an, indem sie sich gleich darauf als socia scelerum bezeichnet und sich den Tod gibt. Soll man denn also annehmen, daß Oedipus und lokaste richtiger gehandelt hätten, die Tötung des Vaters durch den Sohn und die Heirat zwischen Mutter und Sohn als vom Schicksal bestimmt und unausweichlich mit Gelassenheit hinzunehmen? Wenn das die Meinung des Seneca gewesen ist, und als Stoiker mußte er eigentlich dieser Meinung sein, wird es doch kaum der Eindruck sein, mit dem der Zuschauer aas Theater verläßt, nachdem er das Stück mit den Worten des Oedipus „violenta fata et horridus Mortis tremor Maciesque et atra Pestis et rabidus Dolor mecum ite, mecum. Ducibus his uti Übet" hat enden sehen, oder jedenfalls doch dann nicht, wenn er das Theater nicht schon als fertiger Stoiker betreten hat. Hier bleibt also ein ungelöster Rest, und es zeigt sich, wie die größte der klassischen griechischen Tragödien sich am stärksten dagegen wehrt, sich in eine moralisch-exemplarische Tragödie nach der Art Senecas umwandeln zu lassen. Eine noch radikaler antitragische Auffassung des menschlichen Daseins als die Sokratik und die Stoa hat das Christentum gebracht. Vielleicht läßt sich diese am besten an einem Vergleich der Abrahamgeschichte wie sie Kierkegaard in seiner Schrift „Furcht und Zittern" so eindringlich im christlichen Sinne ausgelegt hat27, deutlich machen. In der Orestie des Aeschylus handelt Orestes auf ausdrücklichen Befehl des Gottes Apollon. Aber es ist nicht genug, daß der Befehl von einem Gott erteilt worden ist. Der Befehl wird auch ausdrücklich und eingehend motiviert. Auf der anderen Seite nimmt die Tatsache, daß Orestes auf ausdrücklichen Befehl einer Gottheit handelt und daß dieser Befehl vernunftgemäß begründet werden kann, der Tat nichts von ihrer objektiven moralischen Gräßlichkeit. In der Geschichte von Abraham und der Opferung seines Sohnes Isaak ist das ganz anders. Der Befehl kommt von Gott, und sobald feststeht, daß der Befehl wirklich von Gott kommt, wird nicht nur [207]

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nicht nach einer Begründung gefragt, sondern es wäre eine Beleidigung der göttlichen Majestät, wenn Gott gesprochen hat, nach einer Begründung zu fragen. Was Gott befohlen hat, ist eben dadurch sofort geheiligt, was immer der Inhalt des Befehls sein mag. Daher mag es für Abraham wohl schwer sein, seinen Sohn zur Opferbank zu führen, da er ihn liebt. Aber / etwas moralisch Schreckliches kann es für ihn, sofern er nur sicher ist, daß er nach göttlichem Befehl handelt, nicht sein. Damit ist ein tragischer Konflikt wie derjenige der Orestie des Aeschylus unmöglich geworden. Freilich ist diese Auffassung der göttlichen Allmacht als einer Macht, die unerforschlich und ohne Rechenschaft geben zu müssen auch das an sich Schreckliche heiligen kann, nicht nur der griechischen Tragödie, sondern auch der sokratischen Auffassung des göttlichen Verhältnisses zu einem an sich und unabhängig gegebenen Richtigen, wie sie etwa in Platons Euthyphron ausgesprochen ist, entgegengesetzt. Aber obwohl die letzterdings aus der Sokratik stammende stoische und die christliche Auffassung vom Göttlichen keineswegs identisch sind28, so haben sie doch das Gemeinsame, daß sie das Auseinanderfallen einer subjektiv zurechenbaren Schuld und einer objektiv doch als moralisch schrecklich empfundenen , auf dem die altgriechische Tragödie beruht, ausschließen. So ist es kein Zufall, daß es in den im vollsten Sinne christlichen Jahrhunderten zwar ernste dramatische Aufführungen, aber keine Tragödie gegeben hat. Auch die mittelalterlichen Ministerien oder Mysterienspiele stellen menschliches Leiden dar. Aber diese Leiden ebenso wie der Schrecken und der Mitjammer, den sie etwa im Zuschauer hervorrufen mögen, sind anderer Art als bei der griechischen Tragödie. Das Leiden der Heiligen und Märtyrer dient ihrer Glorie, und dahinter ist das Wissen der Zuschauer, daß sie für ihr Leiden mit der ewigen Seligkeit belohnt werden. Das Leiden der Sünder, die am Ende Buße tun und gerettet werden, mag wohl Furcht um den Ausgang und Mitempfinden hervorrufen. Aber im Hintergrund steht doch auch hier die Hoffnung auf die Erlösung und ewige Seligkeit. Vor allem aber soll die Darstellung der Sünde und Buße der Erbauung und moralischen Erweckung dienen, die ganz untragisch ist. Endlich gibt es die, die auf dem Weg der Verdammnis einherwandeln und am Ende der ewigen Verdammnis anheimfallen. Ihr Schicksal mag wohl Schrecken erregen; aber sie sind für den Zuschauer nicht im Sinne des Aristoteles. 30

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Die Verbindung zwischen ihnen und den noch auf Rettung und Gnade hoffenden Sündern ist zerschnitten, so sehr, daß nach Ansicht Tertullians, die doch auch von dem heiligen Thomas wiederholt worden ist, die Freuden der Seligen durch den Anblick der Qualen der Verdammten vergrößert werden und daß nach Ansicht Dantes es dem Menschen nicht einmal erlaubt ist, mit den in die unteren Kreise der Hölle Verbannten Mitleid zu haben. So werden die mittelalterlichen Mysterienspiele wohl auch im Zuschauer Schrecken und Mitempfinden hervorrufen — wie könnten sie sonst auch als Dramen wirksam sein? — aber nicht die Art des und , von der Aristoteles spricht29. Aus allen diesen Gründen ist es nur natürlich, daß es das ganze Mittelalter hindurch keine Tragödie gegeben hat30 und daß etwas der antiken Tragödie in irgendeiner ihrer Formen Ähnliches erst mit der Wiederentdeckung der Antike und dem Eindringen antiker weltanschaulicher Elemente entstehen konnte. Für diese weitere Entwicklung, die äußerlich mit der „ersten modernen Tragödie", der tragoedia Ecerinis des italienischen Dichters Mussatus zu Anfang des 14. Jahrhunderts beginnt, ist es nun bestimmend geworden, daß der Einfluß der christlichen Auffassung des menschlichen Daseins, selbst da wo diese bewußt abgelehnt wird, nie mehr ganz verschwindet, und daß die originalen Tragödien des fünften vorchristlichen Jahrhunderts erst dann überhaupt in den Gesichtskreis der modernen Dichter und Kritiker traten, als sich unter dem Einfluß der Tragödien Senecas31 und von Elementen antiker, vor allem platonischer Philosophie, welche mit dem Christentum die mannigfachsten Verbindungen eingingen, eine oder vielleicht auch mehrere neue Formen des ernsthaften Dramas herausgebildet hatten, die nun wiederum mit dem antiken Namen der Tragödie bezeichnet wurden. Als dann die Aufmerksamkeit sich endlich der originalen Tragödie zuwendet und man die Fabeln von Tragödien der drei großen Tragiker von neuem dramatisch bearbeitet, ist die neue Form des ernsten Dramas schon so weit ausgebildet, daß man das Drama des fünften vorchristlichen Jahrhunderts unwillkürlich nach Analogie des zeitgenösischen Dramas beurteilt. Dasselbe gilt mutatis mutandis für die entscheidenden Stellen in der Poetik des Aristoteles, die zwar theoretisch mehr oder minder noch für lange Zeit überall als Autorität anerkannt bleibt, aber da, wo sie allzusehr mit der modernen Auffassung in Widerspruch kommt, gelegentlich

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offen angegriffen oder für unverständlich erklärt, häufiger aber so uminterpretiert wird, daß sie mit den modernen Auffassungen übereinzustimmen scheint. Hier liegt also der historische Ursprung des Mißverständnisses, das dann bis auf den heutigen Tag herrschend geblieben ist.

3. Die Entwicklung der modernen Tragödie steht also jahrhundertelang unter dem Einfluß von drei einander teilweise widersprechenden Elementen. / Das erste ist die christliche Deutung des menschlichen Lebens im allgemeinen, die unvermeidlicherweise jede spätere dramatische Dichtung entscheidend beeinflussen mußte. Demgegenüber ist die direkte Wirkung speziell des ganz und ausschließlich aus dem Christentum hervorgegangenen mittelalterlichen Mysterienspiels auf das moderne Drama auf die Anfänge und spätere romantische Wiederbelebungsversuche beschränkt. Das zweite ist die stoische Moral und Lebensdeutung. Diese spielt seit der Wiedererweckung des Altertums auch in der praktischen Philosophie außerhalb der dramatischen Literatur eine nicht unbeträchtliche Rolle, hat aber auf das moderne Drama doch vor allem durch die Tragödien Senecas gewirkt. Das dritte endlich ist die griechische Tragödie. Diese hat ihre Wirkung zunächst vor allem durch ihre Stoffe ausgeübt, die ja auch von Seneca benützt worden waren und ihn, wie gezeigt, gelegentlich zu einem Kompromiß zwischen stoischer und griechisch-tragischer Weltauffassung gezwungen hatten. Eine direkte Wirkung durch Beschäftigung mit den griechischen Originalen ist erst verhältnismäßig spät eingetreten und zu einer Zeit, als man gar nicht mehr imstande war, diese Originale anders als durch das Medium der späteren Tragödie zu sehen. Denn da die Entwicklung, die zu diesem Resultat geführt hatte, eine allmähliche gewesen war, wurde man sich des Unterschiedes gar nicht bewußt. So kam es, daß man glaubte, daß auch die aus der griechischen Tragödie abgeleitete Theorie des Aristoteles sich ohne weiteres auf Seneca und die moderne Tragödie anwenden lassen müsse. Da dies in Wirklichkeit nicht der Fall ist, war man gezwungen, die Poetik so umzuinterpretieren, daß sie sich so anwenden ließ, was freilich, wie sich zeigen wird, nicht ohne große Gewaltsamkeit zu erreichen war. Endlich war es unvermeidlich, daß dann auf Grund der falsch verstandenen Theorie des Aristoteles 32

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der Versuch gemacht wurde, die antike Tragödie selbst in diesem Sinne umzudeuten. Die Entwicklung der modernen Tragödie selbst, die zu diesem Resultat geführt hat, in allen ihren Verzweigungen zu verfolgen, würde ein umfangreiches Buch erfordern. Für den gegenwärtigen Zweck ist dies jedoch in keiner Weise erforderlich. Vielmehr lassen sich die für das vorliegende Problem entscheidenden Einsichten sehr viel besser durch eine etwas eingehendere Analyse von einigen schlagenden Beispielen aus den Höhe- und Wendepunkten der Entwicklung gewinnen. Dabei ist es zweckmäßig, mit der romanischen Tragödie zu beginnen, da hier die Entwicklung von dem ersten Versuch, wieder eine Tragödie „im antiken Sinne" zu schreiben, durch Mussato bis zu dem Höhepunkt im Frankreich Richelieus und später Ludwigs XIV. am ungebrochensten gewesen ist32. Hier trifft es sich ferner sehr gut, daß der größte Tragödiendichter des romanischen Kulturbereiches, Pierre Corneille, nicht nur Tragödien geschrieben hat, an denen sich der Unterschied griechischer und moderner Tragödie auf das deutlichste aufweisen läßt, sondern daß er sich auch theoretisch über Aristoteles' Poetik und die Frage der tragischen Schuld geäußert hat. Von den kleinen Abhandlungen, die P. Corneille über die dramatische Dichtung geschrieben hat, sind zwei für den gegenwärtigen Gegenstand von grundlegender Bedeutung, die Schrift sur le poeme dramatique und der Aufsatz sur la tragedie et sur les moyens de la trailer selon le vraisemblable ou le necessaire. In der ersten dieser beiden Abhandlungen sucht Corneille zunächst zu zeigen, daß das Ziel des dramatischen Dichters allein das Vergnügen (le plaisir) der Zuschauer sein müsse, nicht ihre Belehrung, fährt dann aber fort mit der Behauptung, dies schließe den moralischen Nutzen der Tragödie in keiner Weise aus, da es unmöglich sei „nach den Regeln" zu gefallen, ohne daß zugleich viel Nutzen aus dem Theaterstück zu ziehen sei (puisqu'il est impossible de plaire selon les regies qu'il ne s'y rencontre beaucoup d'utilite). Auf diese Behauptung folgt eine Auseinandersetzung mit Aristoteles, die für uns von grundlegender Wichtigkeit ist und daher etwas ausführlicher zitiert und analysiert werden muß. II est vrai, sagt Corneille, qu' Aristote dans tout son Traite de la Poetique n' a jamais employe ce mot (utilite) une seule fois, qu'il attribue l'origine de la poesie au plaisir que

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nous prenons a voir imiter les actions des hommes, qu'il prefere la partie du poeme qui regarde les moeurs parce que cette premiere contient ce qui agree le plus, comme les agitations et les peripeties, qu'il fait entrer dans la definition de la tragedie 1' agrement du discours dont eile est composee, et qu'il l'estime enfin plus que le poeme epique en ce qu'elle a de plus la decoration exterieure et la musique qui delectent puissament et, qu' etant plus court et moins diffuse le plaisir qu'on y prend est plus parfait: mais il n'est pas moins vrai qu' Horace nous apprend que nous ne saurions plaire a tout le monde si nous n'y melons l'utile, et que les gens graves et serieux, les vieillards et les amateurs de la vertu, s'ils n'y trouvent rien a profiter „centuriae seniorum agitant expertia frugis". / All dies ist nun außerordentlich interessant. Zuerst wird einer weit verbreiteten Meinung gegenüber, daß die Tragödie vor allem moralisch nützen solle, die Auffassung verteidigt, daß der Dichter vor allem oder sogar allein das Vergnügen der Zuschauer im Auge haben solle, dann aber sofort hinzugesetzt, das könne er gar nicht, ohne gleichzeitig moralisch zu nützen. Wenn das so ist, sollte man annehmen, daß der große Aristoteles, der doch die Regeln für die dramatische Dichtung formuliert hat, etwas darüber gesagt hätte. Aber das hat er offenbar nicht getan. Ja, was er sagt, scheint einer solchen Regel eher zu widersprechen. So verfällt Corneille zunächst darauf, eine andere antike Autorität zu Hilfe zu rufen. Aber diese Autorität ist charakteristischerweise ein Römer. Noch viel aufschlußreicher ist, was bei Corneille auf diese ersten Ausführungen folgt. Corneille sucht nun festzustellen, auf welche Art die Tragödie moralisch nützen könne, und kommt zu dem Ergebnis, daß dies auf vier verschiedene Arten geschehe. Die erste Art ist für uns nicht von großer Bedeutung: es sind die moralischen Sentenzen und Maximen, die man in einem Drama, wie er sagt, überall einflechten kann. Aber damit, sagt er, soll man zurückhaltend sein, um nicht den Fortschritt der Handlung aufzuhalten und den Zuschauer zu langweilen. Auch müssen die Sentenzen dem Charakter der Personen entsprechen, denen sie in den Mund gelegt sind. Der zweite Nutzen, sagt Corneille, besteht in der simplen Abbildung der Laster und Tugenden (la naive peinture des vices et des vertues), und zwar in einer solchen Weise, daß ihre Züge so deutlich sind, daß es 34

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unmöglich ist, sie miteinander zu verwechseln und etwa das Laster, oder besser den Fehler, für eine Tugend zu halten (ni prendre le vice pour la vertu). Der Nutzen liegt dann darin, daß die Tugend, wenn sie so rein und unverfälscht dargestellt wird, immer Liebe und Zuneigung hervorruft, auch wenn sie unglücklich ist, das Laster und das Böse dagegen Haß hervorruft, auch wenn es triumphiert. Vielleicht bedeutet dies nicht notwendig, daß die in einer Tragödie auftretenden Personen entweder Bösewichter oder ganz tugendhafte Personen sein müssen, was mit Aristoteles* Vorschrift, daß der Held einer Tragödie weder vollkommen weise und gut noch ein vollendeter Bösewicht sein dürfe, in flagranter Weise in Widerspruch stehen würde und übrigens auch der Praxis Corneilles selbst durchaus nicht entspricht. Vielleicht bedeutet es nur, daß das Drama keinen Zweifel darüber lassen darf, ob die Handlungsweise eines Menschen, der in der Tragödie auftritt, gut oder böse ist. Aber selbst dann schließt diese Forderung den eigentlich tragischen Konflikt, wie er für die griechische Tragödie charakteristisch ist, aus. Noch wichtiger ist, was Corneille über die dritte Art des moralischen Nutzens der Tragödie sagt. Das antike Drama, sagt Corneille, begnügte sich im allgemeinen mit der einfachen Darstellung der Tugenden und Laster, wie sie seiner zweiten Forderung entspricht, „sans se mettre en peine de faire recompenser les bonnes actions et de punir les mauvaises", wofür er dann Beispiele gibt. Aber, fährt er fort, „notre theatre souffre difficilement de pareils sujet", denn das Interesse, das die Zuschauer an den Tugendhaften und Unschuldigen nehmen, ist so groß, daß es die dramatischen Dichter gezwungen hat, anders als dies in der Antike (einschließlich Seneca!) üblich gewesen ist, ihre Dramen mit der Belohnung der guten und der Bestrafung der schlechten Handlungen enden zu lassen. Dies, sagt Corneille, ist nicht „un precepte de l'art, mais un usage", von dem sich jedoch der einzelne Dichter nur auf seine eigene Gefahr hin entfernen kann. Hier also haben wir denn auf das deutlichste die Forderung der poetischen Gerechtigkeit, von der aber ausdrücklich gesagt wird, daß es sich hier nicht um ein der Kunst inhärierendes notwendiges Prinzip, sondern um eine Forderung des zeitgenössischen Theaterpublikums handle. Der französische Dichter ist auch wiederum ehrlich genug, zuzugeben, daß es zwar Stücke, die dieser Forderung nachkommen, im Altertum gegeben haben müsse, da Aristoteles solche er-

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wähne, daß aber Aristoteles diese Art von Stücken ausdrücklich mißbilligte und sagte, sie verdankten ihre Entstehung der Anpassung an einen schlechten Publikumsgeschmack. Trotzdem sucht Corneille diese Forderung und die Dichter, die ihr Raum gaben, zu rechtfertigen, indem er darauf hinweist, daß man natürlicherweise das Theater mit einem Gefühl der Empörung verlasse, wenn in dem aufgeführten Stück das Laster triumphiert habe, dagegen mit moralischer Befriedigung, wenn das Laster bestraft und die Tugend belohnt worden sei. Eben darin, in der Erwartung des Zuschauers, daß die Tugend belohnt werde, und seiner Befriedigung darüber, liege der dritte Nutzen der Tragödie, da es den Zuschauer vom Begehen schlechter Handlungen abschrecke und zu guten Taten anfeuere. Über die vierte Art, auf welche die Tragödie moralisch nützlich sein könne, äußert sich Corneille in der zuerst genannten Schrift nur kurz, indem er feststellt, dieser Nutzen bestehe in der Reinigung der Leidenschaften durch Furcht und Mitleid (la quatrieme utilite consiste en la purgation des pas- / sions par le moyen de la pitie et de la crainte). Ausführlicher spricht er darüber dagegen in der zweiten der erwähnten Schriften, der Schrift Sur la tragedie. Corneille beginnt hier mit einem — nicht ganz wörtlichen — Zitat des Aristoteles. „Nous avons pitie, dit-il (Aristote), de ceux que nous voyons souifrir un malheur qu'ils ne meritent pas, et nous craignons qu'il ne nous arrive un pareil quand nous le voyons souifrir a nos semblables." Darauf versucht Corneille eine Interpretation des Sinnes der zitierten Worte zu geben und der weiteren Folgerungen, die daraus zu ziehen sind. „Ainsi la pitie", fährt er fort, „embrasse l'interet de la personne que nous voyons souffrir, la crainte qui la suit regarde le nötre, et ce passage seul nous donne assez d'ouverture pour trouver la maniere dont se fait la purgation des passions dans la tragedie. La pitie d'un malheur oü nous voyons tomber nos semblables nous porte a la crainte d'un pareil pour nous; cette crainte (nous porte) au desir de Peviter, et ce desir ä purger, moderer, rectifier, et meme deraciner en nous la passion qui plonge a nos yeux dans ce malheur les personnes que nous plaignons, par cette raison commune mais naturelle et indubitable que pour eviter l'eifet il faut retrancher la cause. Hier ist es zunächst interessant zu beobachten, in welchem Verhältnis dieser vierte Nutzen, den die Tragödie haben soll, zu dem zweiten und dritten steht. Im Gegensatz zu dem ersten Nutzen, der durch die Sen36

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tenzen und Maximen entsteht, die ja aber keine beherrschende Rolle spielen sollen, handelt es sich bei den drei anderen Arten durchweg um einen Nutzen, der durch den Anblick des Handelns und Leidens der Personen des Dramas gestiftet werden soll. Der erste Nutzen besteht, wie sich gezeigt hat, darin, daß die Tragödie Tugend und Laster so klar voneinander scheidet und so deutlich vor Augen stellt, daß die erste unmittelbar zur Nacheiferung anregt, das zweite unmittelbar abschreckend wirkt. Der zweite Nutzen wird dadurch hervorgerufen, daß in der Tragödie die Tugend belohnt, das Laster aber bestraft wird, wodurch die erste Wirkung der Anziehung und Abschreckung sich verstärkt. Der dritte Nutzen besteht darin, daß wir sonst gute Menschen aus Leidenschaft Fehler begehen sehen, durch die sie in großes Unglück gestürzt werden, und dadurch, da wir ja nicht auch in solches Unglück geraten wollen, angeregt werden, unsere Leidenschaften zu bekämpfen. Es ist leicht zu sehen, daß der dritte Nutzen im Grunde mit dem zweiten identisch ist. Der Unterschied besteht nur darin, daß es sich im dritten Fall um Leidenschaften handelt, in die ein sonst guter Mensch verfällt, im zweiten Fall um Leidenschaften, die den ganzen Menschen in einen Bösewicht verwandelt haben. Aber die zweite Art des Nutzens, die sich eng mit der dritten berührt, setzt eine Art der Tragödie voraus, die, wie Corneille selbst ausdrücklich bemerkt, von Aristoteles mißbilligt wird, und die erste Art des Nutzens ist doch immerhin auch mit der Forderung des Aristoteles, daß der tragische Dichter Charaktere bevorzugen müsse, die weder ganz gut noch ganz böse sind, nur schwer zu vereinigen. Erst der dritte Nutzen scheint mit den Regeln des Aristoteles wirklich vereinbar zu sein; und hier wird denn auch Aristoteles zum erstenmal im positiven Sinn erwähnt. Aber selbst dieser Versuch, nun doch wenigstens an einer Stelle Aristoteles' Theorie der Tragödie der Lehre vom moralischen Nutzen der Tragödie dienstbar zu machen, gelingt nicht, und man darf es wohl als ein Zeichen dafür nehmen, daß Corneille selbst seiner Sache nicht ganz sicher war, wenn er unmittelbar nach der oben zuletzt zitierten Stelle fortfährt: Cette explication ne plaira pas a ceux qui s'attachent aux commentateurs de ce philosophe. Tatsächlich setzt ja denn auch die Interpretation Corneilles voraus, daß es sich bei der aristotelischen um eine Reinigung von jeder Art von Leidenschaften handle, die in einer [211]

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Trag die zur Darstellung kommen, was dem klaren Wortlaut der ber hmten Stelle in der Poetik widerspricht, in der von einer κάθαρσις των τοιούτων παθημάτων, also einer Reinigung solcher Leidenschaften (d. h. nach dem Zusammenhang: von Schrecken und Jammer und hnlichen Affekten, aber nicht von irgendwelchen beliebigen Leidenschaften) die Rede ist. Ferner wird ja bei Aristoteles von einer Reinigung solcher Affekte und nicht wie bei Corneille von ihrer Unterdr ckung gesprochen. Diese letztere Abweichung von dem was Aristoteles wirklich sagt, zeigt zugleich, wie in der Interpretation Corneilles an Stelle des Aristoteles unvermerkt der Platoniker Polemon, der Lehrer des Begr nders der Stoa, tritt3*. Ganz deutlich aber wird die v llige Unvereinbarkeit von Corneilles Auslegung der Aristotelischen Lehre mit der wahren Meinung des Aristoteles, wenn Corneille im folgenden beginnt, sich mit Aristoteles' Auffassung individueller Trag dien auseinanderzusetzen. Es handelt sich um die Anwendung der aristotelischen Lehre von der Notwendigkeit, einen „mittleren" Charakter zu w hlen, auf den K nig Oedipus und eine nicht erhaltene Trag die Thyestes. 11 reste done, sagt hier Corneille, a / trouver un milieu entre ces deux extremites par le choix d'un homme qui ne soit tout a fait bon ni tout a fait mediant et qui par une faute ou faiblesse humaine tombe dans un malheur qu'il ne merite pas. Aristote en donne pour exemple Oedipe et Thyeste, en quoi veritahlement je n'enten s pas s pensee. Le premier ne me semble faire aucune faute bien qu'il tue son p£re parce qu'il ne le connait pas et qu'il ne fait que disputer le chemin en homme de coeur contre un inconnu qui l'attaque avec avantage. Neanmoins comme la signification du mot Grec hamartema peut s'etendre a un simple erreur de meconnaissance teile qu'etait la sienne, admettons-le avec ce philosophe bien que je ne puisse voir quelle passion il nous donne a purgerni de quoi nous pouvons nous corrigersur son exemple. Es ist nicht notwendig, auf die wesentlich l ngeren Ausf hrungen Corneilles ber die Thyestes-Trag die hier einzugehen, zumal da diejenige Thyestestrag die, auf die sich Aristoteles bezog, Corneille ja nicht vorlag. Wohl aber ist wesentlich, da Corneille am Ende seiner Ausf hrungen zu dem berraschenden Resultat kommt, da sich unter den erhaltenen griechischen Trag dien keine finde, welche die Forderung der „purgation des passions" wirklich erf lle, wohl aber einige moderne. 38

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Vor allem dieser zuletzt zitierte Abschnitt der Abhandlung Corneilles ist nun für unser ganzes Problem von kapitaler Bedeutung. Zunächst springt in die Augen die Ehrlichkeit und Unbestechlichkeit in der Interpretation eines Dramas, mit der Corneille — im Gegensatz zu jenen modernen Kommentatoren, die an einem Stück so lange drehen und es so lange mißinterpretieren bis es ihrer Theorie entspricht — ganz einfach und uneingeschränkt zugibt, daß den Oedipus bei der Tötung seines Vaters keine subjektiv zurechenbare Schuld trifft, ja daß jeder „homme de coeur" an seiner Stelle genau so gehandelt hätte. Noch erstaunlicher ist die Ehrlichkeit und Unbefangenheit, mit der Corneille am Ende seiner Untersuchung feststellt, daß es kein erhaltenes griechisches Drama gibt, welches der Forderung des Aristoteles, wenn man sie so auffaßt, wie er sie im Vorhergehenden interpretiert hat, entspricht. In Wirklichkeit ist damit Corneilles Auffassung der aristotelischen Lehre schon widerlegt, da Aristoteles diese Lehre ja aus der Analyse der griechischen Tragödie und, wie seine Beispiele zeigen, zum großen Teil aus auch heute noch erhaltenen griechischen Tragödien abgeleitet hatte. Wenn dies so ist, so erhebt sich jedoch um so dringender die Frage, wie ein Mann von so durchdringendem Geist und von solcher intellektueller Ehrlichkeit wie Corneille in einen so mit Händen zu greifenden Irrtum verfallen konnte. Denn nicht den Irrtum selbst aufzuweisen ist wichtig — das hat schon Lessing, wie sich zeigen wird, in jenen Abschnitten der Hamburgischen Dramaturgie getan, in denen er von der handelt —, sondern die historischen Gründe des Irrtums aufzudecken. Um dies zu erreichen ist es jedoch zweckmäßig, zunächst die dichterische Praxis Corneilles noch etwas näher anzusehen, und da es im Rahmen der gegenwärtigen Studie unmöglich ist, alle die zahlreichen Tragödien Corneilles in den Kreis der Untersuchung zu ziehen, ist es notwendig eine Auswahl zu treffen, an der sich alle im gegebenen Zusammenhang wichtigen Seiten seiner Tätigkeit als Tragödiendichter nach Möglichkeit aufweisen lassen. Auch läßt sich an einer solchen Auswahl leicht zeigen, daß Corneilles Praxis wesentlich mannigfaltiger ist, als man aus seinen theoretischen Ausführungen, die der Zeit angehören, als er schon aufgehört hatte, Tragödien zu schreiben, entnehmen könnte und daß sich in ihr deutlichste Spuren aller jener drei Elemente aufzeigen lassen, die

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im Vorhergehenden erörtert worden sind; der griechischen Tragödie, der Tragödie Senecas und des mittelalterlichen Märtyrerdramas. Die erste große Tragödie Corneilles von 1635, die Medee, steht stark unter dem Einfluß Senecas. In der Dedication dieser Tragödie an einen Herrn P. T. N. G. entschuldigt sich Corneille dafür, daß in diesem Stück das Verbrechen „en son char de triomphe" erscheine und daß wenige Personen darin vorkommen „dont les moeurs ne soient plus mauvaises que bonnes". Er macht jedoch darauf aufmerksam, daß die künstlerische Darstellung von den schlechten Handlungen, die auf die Bühne gebracht werden, nicht dadurch abschrecke, daß sie im Stück ihre Strafe finden, sondern durch die unverhüllte Schilderung ihrer ganzen Scheußlichkeit. Dies sei in seiner Tragödie in solchem Maße geschehen, daß wohl niemand durch den Triumph Medeas veranlaßt werden könne, irgendeine Neigung zu verspüren, sie nachzuahmen. Diese Dedikation zeigt auf das deutlichste, daß die Forderung, das Verbrechen oder Laster müsse auf der Bühne seine gerechte Strafe finden, schon zur Zeit der Anfänge Corneilles weit verbreitet war. Doch schließt sich Corneille dieser Forderung nur insoweit an als er zugibt, daß die Tragödie von dem Verbrechen und dem Laster abschrecken müsse. Dagegen gibt er schon in dieser frühen Dedikation der Meinung Ausdruck, daß die Abschrek- / kung vom Laster auch durch andere Mittel als die Bestrafung auf der Bühne erreicht werden könne. Dem entspricht es bis zu einem gewissen Grade, daß Corneille in seiner späten theoretischen Abhandlung sagt, die poetische Gerechtigkeit sei kein precepte de l'art, aber eine Forderung des zeitgenössischen Publikums, der der Dichter auf seine eigene Gefahr hin sich weigere, Folge zu leisten. Der Cid des folgenden Jahres (1636), mit dem Corneille seinen ersten ganz großen Erfolg als Tragödiendichter erzielte, unterscheidet sich von der Medee dadurch, daß hier die edlen Gefühle und Handlungen bei weitem überwiegen. Noch wichtiger ist, daß hier in der Stellung des Don Rodrigo zwischen seinem Vater, der vom Vater der Geliebten des Sohnes beleidigt worden ist und den letzteren auffordert, seine Ehre zu rächen, und der Geliebten selbst ein im Sinne der griechischen Tragödie tragischer Konflikt angelegt ist. Um so charakteristischer ist es, daß dieser tragische Konflikt keineswegs in seine letzten möglichen Konsequenzen verfolgt wird. Obwohl Don Rodrigo den Vater seiner Geliebten im Zweikampf 40

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tötet, braucht er nicht durch ein dem Leiden des äschyleischen Orest auch nur vergleichbares Leiden zu gehen. Durch seine tapfere und umsichtige Verteidigung der Stadt erwirbt er sich den Dank des Königs und des Volkes und darf am Schlüsse hoffen, auch die Geliebte, die einsieht, daß ihr Vater der Schuldige gewesen ist, wiedergewinnen zu können. So wird zum Hauptgegenstand des Stückes das Spiel und Widerspiel der menschlichen Leidenschaften, während ein im antik griechischen Sinn tragischer Konflikt nur am Rande auftaucht, um dann wieder beseitigt zu werden. Von einer anderen Seite außerordentlich interessant ist der Polyeucte des Jahres 1640, der den Titel tragedie chretienne trägt und zum Helden einen christlichen Märtyrer hat. Hier scheint also das christliche Märtyrerspiel wieder aufgenommen zu sein. Es ist jedoch sehr bezeichned, daß das Stück zwar bei dem allgemeinen Publikum mit Enthusiasmus aufgenommen wurde, aber gleich bei seinem Erscheinen gerade von streng christlicher Seite lebhafte Kritik erfuhr. Voltaire in seinen Anmerkungen zu dem Stück berichtet, daß Madame de Rambouillet und ihr Zirkel, vor allem aber Godeau, der Bischof von Vence, sich sogar gegen die Aufführung des Stückes aussprachen, und zwar wegen des unchristlichen Verhaltens, dessen sich Polyeucte, der doch als Heiliger erscheinen solle, bei verschiedenen Anlässen schuldig machte. Nach Angabe Voltaires wandte sich der Bischof unter anderem vor allem dagegen, daß Polyeucte eine heidnische Opferhandlung gewaltsam stört, und machte darauf aufmerksam, daß mehrere Synoden der frühen christlichen Kirche solche Angriffe auf die damals noch heidnische öffentliche Ordnung ausdrücklich untersagten und daß man sogar übereifrigen Christen, die diesem Gebot zuwiderhandelten, die Kommunion verweigerte. Man wird vielleicht sagen, Konzilsbeschlüsse hätten nichts mit einem dramatischen Kunstwerk zu tun. Aber der Anstoß, den der Bischof nahm, ist keineswegs von Konzilsbeschlüssen abhängig. Noch deutlicher als in der Störung des Opfers tritt das, was bei Bischof Godeau Anstoß erregt hatte, in einer Szene des fünften Aktes hervor. Als der heidnische Schwiegervater Polyeuctes, der als Gouverneur der Provinz seinen Schwiegersohn hat festnehmen lassen müssen, diesen retten will, und, um wenigstens einen Aufschub zu erreichen, ihn schließlich bittet, wenn er schon keine Konzessionen machen wolle, ihn doch wenigstens über das [213]

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Christentum zu belehren, antwortet ihm Polyeucte: «Non, non, persecutez et soyez l'instrument de nos felicites: Gelle (Tun vrai chretien n'est que dans les souffrances; les plus cruels tourments lui sont des recompenses. Dieu qui rend le centuple aux bonnes actions pour comble donne encore les persecutions; Mais ces secrets pour vous sont fächeux ä comprendre; Ce n'est qu'ä ses elus que Dieu les fait comprendre.» Statt die Gelegenheit zu benutzen, seinen Schwiegervater zu belehren, der freilich in diesem Augenblick noch nicht wirklich an christlicher Belehrung interessiert sein kann und nur seinen Schwiegersohn retten will, versucht er ihn durch sein Verhalten geradezu zu zwingen, sein Henker zu werden, wodurch er doch, wie Polyeucte glauben muß, der ewigen Verdammnis ausgeliefert würde. Auch1 läßt sich nicht verhehlen, daß Polyeucte hier nicht wie ein wirklich Heiliger das ihm von Gott gesandte Martyrium auf sich nimmt, sondern sich unter Vernachlässigung seiner christlichen Pflichten mit unziemlicher Hast in das Martyrium stürzt. Trotzdem trifft ihn im Stück keinerlei Tadel. Der Bischof hatte also, auch ohne sich auf Konzilsbeschlüsse stützen zu müssen, mit seiner Kritik völlig recht. Sieht man sich nun neben der christlichen die säkulare Kritik des Stückes an, so findet man, daß Andre Dacier das Stück verurteilt34, weil es gegen die aristotelische Regel verstoße, daß der Held einer Tragödie nicht vollkommen, d. h. nicht ein Heiliger sein dürfe. Dagegen hat Voltaire den Polyeucte Corneilles verteidigt, und zwar mit dem / Hinweis darauf, daß der Enthusiasmus des Polyeucte den Zuschauer trotz aller Einwände, die man vom christlichen Standpunkt aus gegen ihn machen könne, mit fortreiße: «il me parait que le spectateur pardonne a Polyeucte son imprudence comme celle d'un jeune homme penetre d'un zele ardent que le bapteme fortifie en lui. Il n'examine pas si ce zele est selon la science. Au theatre on prßte toujours aux sentiments naturels des personnages; on devient enthusiaste avec Polyeucte, inflexible avec Horace, tendre avec Chimene. Le dialogue est vif et il entraine.» Natürlich hat damit Voltaire auch gegenüber Dacier recht. Aber nur deshalb, weil der Polyeucte Corneilles eben kein Heiliger ist, der er im Stück doch sein soll, und das Stück selbst eine moderne Leidenschaftstragödie, kein Märtyrerspiel. Das christliche Element setzt sich also eben42

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sowenig wirklich, durch wie die Elemente antik griechischer Tragik, die in der Medee und im Cid zu finden sind. An sich würden schon die drei besprochenen Stücke wohl hinreichen, um das Verhältnis Corneilles zur griechischen Tragödie inhaltlich und geschichtlich zu bestimmen. Doch ist es zur Verdeutlichung wohl wünschenswert, noch zwei andere Stücke, den Oedipe und den Horace, in den Kreis der Betrachtung zu ziehen. Die Oedipusfabel hatte, wie oben gezeigt, schon bei Seneca der Modernisierung den unüberwindlichsten Widerstand entgegengesetzt. Immerhin hatte Seneca die Modernisierung im Sinne der Leidenschaftstragödie mit Hilfe eines der Fabel selbst nicht ganz fremden Elementes, der Angst vor dem Schicksal, zu erreichen versucht. Dagegen hat Corneille der ursprünglichen Fabel völlig fremde Motive eingeführt: Eine Liebesaffaire der jüngeren Schwester des Oedipus mit Theseus, dem König von Athen, Streitigkeiten um die Thronfolge, und ähnliches. Die Intrigen und Verwicklungen, die sich aus dem Spiel der Leidenschaften der Liebe, des Ehrgeizes, des Stolzes, der Herrschsucht ergeben, beherrschen mehr als drei Viertel des Stückes. Am Ende lenkt es dann doch in die Oedipustragödie, wie Sophokles sie dargestellt hat, ein. Aber damit fällt das Stück, wie schon Voltaire mit Recht hervorgehoben hat, hoffnungslos in zwei unvereinbare Teile auseinander. Es ist daher auch unter den bekannteren Stücken Corneilles eines der am wenigsten erfolgreichen gewesen. Der Horace ist sehr viel besser und einheitlicher und hat gleich bei Erscheinen großen Beifall gefunden. Da sich an diesem Stück das Verhältnis Corneilles zur antiken Tragödie besonders gut illustrieren läßt, mag hier vielleicht etwas genauer auf seinen Inhalt eingegangen werden. Gegenstand ist die aus Livius allgemein bekannte Geschichte von den Horatiern und Curiatiern aus der ältesten Geschichte Roms. Rom ist in einen langwierigen Krieg mit Alba Longa verwickelt, da beide Städte die Vorherrschaft unter den Latinern beanspruchen und damit jeweils auch die Oberherrschaft über die andere Stadt. Da beide Städte demselben Stammesverband angehören, sind ihre Bürger durch manche Bande des Blutes und der Verschwägerung miteinander verbunden. Besonders eng sind die Bande zwischen der Familie der Horatier in Rom und der Curiatier in Alba. Das Stück beginnt mit Klagen über den nicht endenden Krieg, in

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dem keine Partei einen entscheidenden Sieg über die entgegengesetzte davonzutragen vermag und darüber, daß die Horatier durch diesen Krieg von ihren Schwähern auf der anderen Seite getrennt und gegen ihre Neigung sogar gegen sie zu kämpfen gezwungen sind. In diese Klagen hinein kommt die freudige Nachricht, daß die beiden Parteien sich geeinigt haben, einen Frieden zu schließen. Die Frage der Vorherrschaft soll durch einen Einzelkampf zwischen drei ausgewählten Römern und drei ausgewählten Albanern entschieden werden. Die Partei, deren Vertreter in diesem Kampf unterliegen, soll sich der anderen ohne Kampf unterwerfen. Auf diese Freudenbotschaft folgt bald die weitere, daß die drei jungen Horatier vom Volk ausgewählt worden sind, für ihre Stadt zu kämpfen, die höchste Ehre, die einem Römer widerfahren kann. Diese Freude wird jedoch bald in ihr Gegenteil verkehrt durch die Nachricht, daß die Albaner ihrerseits die drei jungen Curiatier als Vorkämpfer gewählt haben. Denn nun sehen sich die Horatier vor die Notwendigkeit gestellt, ihre eigenen Schwäher zu töten, wenn sie nicht von ihnen getötet werden und damit zugleich ihre Stadt der Oberherrschaft der anderen ausliefern wollen. Hier finden sich nun alle Elemente eines tragischen Konfliktes im Sinne der alten griechischen Tragödie beisammen. Denn die Horatier stehen vor der Alternative, entweder ihre Pflicht ihrem Vaterland gegenüber zu verletzen, indem sie sich weigern, als dessen Vorkämpfer aufzutreten, obwohl sie allgemein als diejenigen betrachtet werden, welche die größte Aussicht haben zu siegen, oder aber den Versuch zu machen, die Männer zu töten, mit denen sie durch die engsten Familienbande verbunden sind, eine Handlung, die jeder natürliche Mensch als etwas moralisch Schreckliches empfinden muß. Es kann wohl kein Zweifel daran bestehen, daß ein griechischer Tragiker des fünften Jahrhun / derts diesen Konflikt zum Zentrum seiner Tragödie gemacht hätte, wenn er den Stoif in der vorliegenden Form zu einem Drama hätte verwenden wollen. Dagegen hat Corneille gerade an dieser Stelle die ihm von Livius gegebene Geschichte so geändert, daß der im antiken Sinne tragische Konflikt ausgeschaltet wird und die persönliche Schuld und Leidenschaft an seine Stelle tritt. Als es bekannt wird, daß von den Römern die Horatier, von den Albanern die Curiatier als Kämpfer gewählt worden 44

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sind, empfinden ihre Mitbürger auf beiden Seiten sofort das Schreckliche, daß in einem solchen Zweikampf liegen würde, und beschließen, beiderseits andere Vorkämpfer zu wählen. Damit ist der tragische Konflikt beseitigt und die Handlung kann nur durch persönliche schuldhafte Leidenschaft wieder in Gang gebracht werden. Die Horatier, vor allem der jüngste von ihnen, wollen die Ehre, für ihre Vaterstadt zu kämpfen, nicht aufgeben und beharren gegenüber allen Bitten ihrer Verwandten auf ihrem Entschluß. Wenn die Horatier kämpfen, müssen auch die Curiatier kämpfen, da sie die besten Kämpfer der Albaner sind. So nimmt das Schicksal seinen Lauf. Im Kampf fallen zwei der Horatier, aber der jüngste bleibt unverletzt, während die drei Curiatier alle in verschiedenem Grade verwundet sind. Durch die bekannte List gelingt es dem jüngsten Horatier zu siegen und alle drei Curiatier zu töten. Als der siegreiche Bruder zurückkommt wird er von der Bevölkerung mit Jubel empfangen. Aber seine Schwester, die mit einem der Curiatier verlobt gewesen ist, macht ihm seinen verbrecherischen Ehrgeiz zum Vorwurf, der am Tode ihres Verlobten Schuld ist; und nun tötet er sie in leidenschaftlicher Empörung über diese Herabsetzung seiner glorreichen Tat. Die Tötung der Schwester wird auch bei Livius erzählt. Dagegen findet sich von jener entscheidenden Wendung, die bei Corneille in der Mitte der Tragödie eintritt, dem Beschluß der beiden Völker, andere Kämpfer an die Stelle der Horatier und Curiatier treten zu lassen, bei Livius keine Andeutung. Dadurch ist auch die Beurteilung der Tat grundlegend geändert. Bei Livius hat der Horatier nur seine Pflicht getan. Da Livius keine Tragödie schreibt, war für ihn kein Grund vorhanden, den Konflikt zu betonen, der für die Horatier zwischen patriotischer Pflicht und Verwandtenliebe entstehen konnte, wie er überhaupt die Familienbande zwischen den beiden Geschlechtern außer der Verlobung der Schwester nicht erwähnt. So trifft das Verhalten des jungen Horatiers im Kampf bei Livius kein Tadel. Die Schwester ist mit ihren Vorwürfen im Unrecht, und der junge Horatier wird zwar wegen Verwandtenmord vor Gericht gestellt, aber das Volk spricht ihn frei. So ist das Ganze bei Livius weder eine antike noch eine moderne Tragödie, sondern eine patriotische Geschichte von harter Römertugend. Trotzdem enthält diese Geschichte, wenn die Familienbande betont [215]

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werden, das Material für eine griechische Tragödie. Corneille hat von diesem Material Gebrauch gemacht, dann aber den im antik griechischen Sinn tragischen Konflikt fast gewaltsam beseitigt, um eine Tragödie schuldhafter Leidenschaft schreiben zu können, die dann in der bei Livius nur angehängten Anekdote der Tötung der Schwester kulminiert. Denn bei Corneille hat im Gegensatz zu Livius die Schwester recht, da ihr Bruder durch keine patriotische Pflicht zum Kampf gezwungen war, und ihre Tötung zeigt in schrecklicher Weise, wohin die ungehemmte Ruhmsucht, die sich in das Gewand des Patriotismus hüllt, die aber, ihres eigentlichen Charakters heimlich bewußt, keine Kritik vertragen kann, schließlich führen muß. Die drei Elemente, die in die Geschichte des ernsten abendländischen Dramas bis zum Ende des Mittelalters eingegangen sind, lassen sich also alle noch in Corneilles Tragödien erkennen. Aber sie sind nicht gleichmäßig miteinander gemischt. Im antik griechischen Sinn tragische Konflikte und Situationen treten immer wieder auf, nicht nur in denjenigen Tragödien, deren Fabeln von alten Tragikern übernommen sind, sondern auch bei anderen Stoffen. Sie werden jedoch durchweg absichtlich entweder abgeschwächt, wie im Cid, oder durch Einführung anderer Stoffe beiseite gedrängt, wie im Oedipe oder gewaltsam beseitigt, wie im Horace. Mit dem im strengeren Sinne christlichen Element ist es genau umgekehrt. Es wird im Polyeucte gewaltsam in die Tragödie eingeführt und bestimmt ihren Ausgang, kann sich aber doch nicht durchsetzen. Bei weitem am nächsten steht die Tragödie Corneilles in ihrem Grundcharakter der Tragödie Senecas. Doch bestehen auch hier wesentliche Unterschiede. Zunächst sind die Tragödien Corneilles denen des Seneca im allgemeinen als Kunstwerke weit überlegen. Es fehlen die grellen Farben und krassen Übertreibungen, die für die meisten Tragödien Senecas charakteristisch sind. Die Darstellung der Charaktere ist subtiler, voller, menschlicher, und die Auswahl der verschiedenen Charaktere mannigfaltiger als bei Seneca. Dies ist nicht allein der größeren dichterischen Potenz Corneilles — obwohl dieser natürlich auch / und vor allem — zu verdanken. Es bedeutet auch, daß die Fesseln, welche die stoische Philosophie der Tragödie Senecas angelegt hatte, im wesentlichen gefallen sind. Seneca 46

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hatte die Schrecklichkeit und Verderblfchkeit der unkontrollierten menschlichen Leidenschaften, und den Kampf des Tugendhelden mit Leiden und Leidenschaften auf die Bühne zu bringen versucht. Die Menschen, die er auf die Bühne stellt, sind wesentlich Ilustrationen dieser Affekte und Leidenschaften und des Kampfes mit ihnen. Daher werden sie als menschliche Individuen nicht ganz lebendig. Corneille stellt demgegenüber Menschen auf die Bühne, die von Leidenschaften beherrscht und ergriffen sind, daher so, daß dieselbe Leidenschaft in verschiedenen Charakteren sich doch wieder verschieden äußert. An die Stelle der Pathologie der Leidenschaften, die Seneca bringt, tritt bei Corneille die Kenntnis des menschlichen Herzens. Diese Kenntnis zeigt sich bei Corneille nicht nur und nicht einmal vornehmlich in der Darstellung verderblicher und zerstörender Leidenschaften, sondern vor allem in der hohen und gar nicht leichten Kunst, mit der er edle Gefühle und Regungen sich mit überzeugender Unmittelbarkeit und Natürlichkeit äußern zu lassen versteht. Dergleichen wäre auf Grund von Senecas etwas starrer und schematischer Vorstellung vom Kampf des Tugendhelden nicht möglich gewesen. Hier zeigt sich die Überlegenheit von Corneilles freierer Kunst und lebendigerer Menschendarstellung am deutlichsten. Die Tragödiendichtung Corneilles ist also keineswegs einfach eine Fortsetzung der Form der Tragödiendichtung, die Seneca geschaffen hatte. Trotzdem läßt sich zeigen, daß die Tragödie Corneilles in dem für unser Problem entscheidenden Punkt der Tragödie Senecas sehr viel näher steht als der antiken griechischen Tragödie oder dem christlichen Märtyrerstück. Auf den ersten Blick und wenn man nur auf die Darstellung des Charakters blickt, könnte es vielleicht scheinen, als knüpfe Corneille an die Tragödie des Euripides an. Auch Euripides hat ja das Spiel und Widerspiel menschlicher Affekte und Leidenschaften auf die Bühne gebracht, und seine Darstellung ist sehr viel subtiler und eindringlicher, wenn auch weniger gewaltig und gewaltsam, als die des Seneca. Es gibt viele Stellen in Euripides, an denen er eine außerordentliche Kenntnis des menschlichen Herzens zeigt. Trotzdem bleibt ein ganz fundamentaler Unterschied zwischen ihm und Corneille, vermöge dessen dieser doch wieder mit Seneca zusammen rückt. Die Affekte und Leidenschaften der Personen der euripide-

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isdien Dramen, und die Verstrickungen, in Hie sie durch diese Affekte und Leidenschaften geraten, können dem Zuschauer nicht zur moralischen Warnung dienen. Denn wenn immer bei Euripides das Leiden einer Person des Dramas durch ihre eigenen Fehler und Schwächen hervorgerufen oder veranlaßt worden ist, wird doch auf jede Weise deutlich gemacht, daß es diesem Menschen oder einem Menschen wie ihm unmöglich ist, über seine eigenen Begrenzungen hinauszukommen. Es würde dem Orestes der gleichnamigen Tragödie des Euripides nichts nützen, wenn er sich selbst und sein Verhalten vorher auf der Bühne gesehen hätte. So wie er ist, wäre er doch nicht im Stande, wesentlich anders zu handeln. Das ist die relative Unschuld des Helden einer griechischen Tragödie in seiner Schuld oder seinem , und diese subjektive Unschuld ist, wie sich sowohl an der Praxis der griechischen Tragödiendichter wie an der daraus abgeleiteten Theorie des Aristoteles hat zeigen lassen, der griechischen Tragödie wesentlich. Ebensowenig können die „reinen und edlen" Gestalten griechischer oder speziell euripideischer Stücke den Zuschauer zur Nachahmung begeistern. Die Folgen des Edelmutes und der Selbstaufopferung der Alkestis oder der Iphigenie in Aulis sind ja selbst tragische35, und können daher nicht zur Nacheiferung anregen. Dasselbe gilt natürlich in noch höherem Maße von Sophokles. Die Vorstellung, die Verklärung und Heroisierung des Oedipus im Oedipus auf Kolonos könne einen Zuschauer begeistern, es dem Oedipus gleich tun zu wollen, oder das Leiden des Oedipus im König Oedipus könne ihn von ähnlichem Verhalten abschrecken, ist völlig unvollziehbar und zeigt sofort die Absurdität einer Interpretation der griechischen Tragödie, die voraussetzt, sie habe in diesem Sinne moralisch wirken sollen. Dagegen ist eine solche Wirkung Corneillescher Tragödien auf den empfänglichen Zuschauer durchaus natürlich, wie ja Corneille in seiner späteren Abhandlung über die Tragödie eine solche Wirkung ausdrücklich verlangt und sie als der Tragödie allgemein notwendig eigen bezeichnet. Für das Ehrgefühl, den jugendlichen Enthusiasmus, die Tapferkeit des jungen Don Rodrigo im Cid, für die Überlegenheit und Milde des Augustus im Cinna, ja, wenn es sich hier auch z. T. um ein Mißverständnis und eine falsche Bewertung handelt, auch für den Glaubenseifer des Polyeucte kann sich der Zuschauer begeistern und

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den Wunsch empfinden, es ihnen nachzutun. Ebenso können die Leidenschaften und ihre Folgen, wie sie in Corneilles Tragödien / dargestellt sind, zur Warnung dienen. Der Horace Corneilles ist nicht wie der Admet, der Orest, der Agamemnon, die Phaedra des Euripides in eine Situation gestellt, die er, auch wenn sie mit von ihm veranlaßt ist, wie in der Alkestis oder der aulischen Ipbigenie, nicht vorhergesehen hat und der er schlechterdings moralisch nicht gewachsen ist. Er kann sich frei entscheiden, und es ist nur die ganz spezifische Leidenschaft des Ehrgeizes, die ihn das Unrechte tun und sein weiteres Schicksal heraufbeschwören läßt. Gewiß ist das nicht der ganze Inhalt einer Tragödie Corneilles und kann man eine solche Tragödie auch verstehen und genießen, ohne die Absicht zu haben, sich von ihr moralisch bessern zu lassen. Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß jede Tragödie Corneilles etwas enthält, „sur quoi", wie er selbst sagt, „nous pouvons nous corriger", während dies der klassischen griechischen Tragödie ganz fremd ist. Auf der anderen Seite ist das Prinzip der poetischen Gerechtigkeit, von dem Corneille in seiner Abhandlung sagt, es sei zwar kein precepte de l'art, aber ein usage, von dem der Dichter sich auf seine eigene Gefahr entferne, in seinen eigenen Tragödien keineswegs konsequent gewahrt. Gleich in dem Dedicationsbrief zu seiner ersten Tragödie entschuldigt sich Corneille, wie früher erwähnt, daß das Laster „en son char de triomphe" erscheine. Aber auch von keiner anderen Tragödie Corneilles, nicht einmal vom Cid, welcher der Erfüllung der Forderung relativ am nächsten kommt, kann man sagen, daß das Prinzip der poetischen Gerechtigkeit, der Belohnung des Guten und der Bestrafung des Schlechten am Ende der Handlung, rein zur Anwendung gebracht ist. Viel eher kann man es in einigen von Corneilles Komödien angewendet finden; und dies gilt übrigens ganz allgemein, nicht nur für Corneille. Diese Abweichung Corneilles von dem „usage", den er doch selbst theoretisch anerkennt, ist sehr bedeutsam. Die Tragödie Corneilles geht den im klassisch griechischen Sinn voll tragischen Situationen, wie sich immer wieder gezeigt hat, aus dem Wege. Aber solche Situationen drängen sich nicht nur in den von den griechischen Tragikern übernommenen Stoffen, sondern auch sonst überall, ein. Der Grund alles dessen ist nun nicht mehr so schwer einzusehen. Wie Ari[2161217]

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stoteles mit Recht festgestellt hat, ist das unverdiente Leiden des Helden der Tragödie wesentlich. In der tragischen Situation, wie sie für das klassische griechische Drama charakteristisch ist, wird das unverdiente Leiden in diesem Sinne, das die Unvollkommenheit des Helden nicht ausschließt, sondern als Ergänzung fordert, auf die Spitze gebracht. Die poetische Gerechtigkeit auf der anderen Seite schließt das unverdiente Leiden soweit es nicht nur Durchgangspunkt zum Sieg und zur Belohnung der Tugend ist, aus. Daher ist sie mit der Tragödie in irgendeiner Form, wenn konsequent durchgeführt, unvereinbar. So ist es nicht verwunderlich, daß sie vor allem in der Komödie ihre Heimstätte gefunden hat. Die Tragödie Corneilles aber bleibt zwischen den beiden Extremen in der Schwebe. Da sie moralisch wirken will, kann sie die im vollsten Sinn tragische Situation, das schrecklichste moralische Leiden bei subjektiver Unschuld oder doch subjektiver Unmöglichkeit, anders zu handeln, nicht brauchen und zerstört sie daher, wo sie sie findet. Aber sie kann auch das Prinzip der poetischen Gerechtigkeit nicht voll durchführen, wenn sie noch etwas von tragischer Wirkung, selbst in einer der Klassik gegenüber abgeschwächten Form, beibehalten will. Es ist bedeutsam, daß Corneille in der Theorie seines Alters über seine Praxis hinausgeht, und das Prinzip theoretisch anerkennt, das er doch in seiner Praxis aus zwingenden Gründen in der Tragödie nie voll durchgeführt hat. Auch hier lassen sich die historischen Gründe wohl einsehen. Sowohl die Tragödie Senecas wie das mittelalterliche Märtyrerspiel wollen moralisch wirken, wenn auch das Märtyrerspiel religiöse und metaphysische Elemente enthält, die über das rein Moralische hinausgehen. Seneca braucht keine poetische Gerechtigkeit. Für den Stoiker sind die Laster und Leidenschaften ihre eigene Bestrafung und die Tugend ihr eigener Lohn. Eine systematische Einführung äußerer Belohnungen und Strafen würde dem Sinn seiner Stücke widersprechen. Das christliche Spiel kann eine poetische Gerechtigkeit im Sinne der Belohnung und Bestrafung in diesem Leben ebenfalls nicht brauchen, da eben der Christ als Christ in diesem Leben bis zuletzt leiden muß. Seligkeit und Verdammnis liegen für den Christen über dieses Leben hinaus. Trotzdem ist leicht zu sehen, wie beides zusammen zu der Forderung der poetischen Gerechtigkeit Anlaß gegeben hat. Bei der zu-

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nehmenden Saecularisierung der Dichtung, der häufigen Wahl heidnischer Stoffe, war die Verlegung von Lohn und Strafe ins Jenseits nicht aufrecht zu erhalten. Zugleich war doch auch die stoische Philosophie teilweise von christlichen Ideen verdrängt, teilweise mit ihnen gemischt. Da man sowohl auf Grund der von Seneca ausgehenden wie auf Grund der christlichen Tradition eine moralische Wirkung des Stückes verlangte, so ist es sehr begreiflich, daß die Forderung aufkam, Belohnung und Strafe im / Drama ins Diesseits zu verlegen, wobei jedoch bei den Einsichtigeren das Bewußtsein erhalten blieb, daß es sich hier nicht um ein dem dramatischen Kunstwerk inhaerentes Prinzip handeln könne. Dagegen steht die Vorstellung, daß die Tragödie moralisch wirken müsse — wenn auch nicht notwendig durch das Mittel der poetischen Gerechtigkeit —, eine Vorstellung und Forderung, in der Seneca und die christliche Dichtung übereinstimmten, völlig fest, und es ist daher nicht verwunderlich, daß man diese Wirkung auf alle Weise auch in der antiken Tragödie zu finden suchte und sie in Aristoteles' Theorie der Tragödie hineininterpretierte, da man eben gar nicht mehr anders sich eine Tragödie vorstellen konnte. Hier liegt denn also der historische Ursprung des Irrtums, der von da an die Interpretation der griechischen Tragödie durchweg bestimmt, und von dem auch diejenigen noch nicht ganz loskommen, die sich gegen den Begriff der tragischen Schuld gewendet haben, indem sie entweder nur einfach die Schuld verneinen und nicht sehen, daß das doch auch ein moralisches und nicht nur ein Irrtum ist, oder aber, wenn sie die Schwierigkeit sehen, sie mit Hilfe einer modernen Metaphysik zu lösen versuchen, statt sich anzusehen, was in der antiken Tragödie wirklich zu finden ist. Corneille steht am Ende der Entwicklung, die diesen Irrtum hervorgebracht hat. Er ist deshalb sehr interessant, weil bei ihm noch alle die Elemente, die zu dieser Entwicklung beigetragen haben, zu finden sind und miteinander im Kampf liegen, weil seine Theorie nicht ganz mit seiner Praxis übereinstimmt und eben dadurch das Gegenspiel von geschichtlich bedingten theoretischen Forderungen und praktischen Möglichkeiten zu erkennen erlaubt, und weil er so ehrlich ist, daß er es schonungslos ausspricht, wenn der Befund der antiken Tragödie mit seiner Theorie, an deren Gültigkeit er doch glaubt, nicht übereinstimmt. [2171218]

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Bei Racine hat sich die moderne Form der Tragödie schon vollständig durchgesetzt. Seine Tragödien sind einheitlicher. Eben deshalb ist für die gegenwärtige Untersuchung weniger aus ihnen zu gewinnen, da sich die verschiedenen Elemente, die zu ihrer Entstehung geführt haben, bei ihm nicht mehr erkennen lassen. Ein besonderes Problem stellen allerdings die beiden späten alttestamentarischen Tragödien Esther und Athalie. Aber dies Problem hat mit der Schuld in der antiken Tragödie nichts mehr zu tun und braucht daher hier nicht erörtert zu werden. / 4.

Eine Darstellung der weiteren Folgen des Irrtums sowie der daran anknüpfenden Erörterungen und der mannigfaltigen Versuche, ihn zu überwinden, bis auf die Gegenwart würde ein mehrbändiges Werk erfordern. Hier soll nur der Versuch gemacht werden, auf einige der allerwichtigsten Phasen der Entwicklung kurz einzugehen, um zu zeigen, wie die Aufdeckung des Ursprungs der modernen Vorstellung von der tragischen Schuld auch auf manche späteren Wandlungen dieses Begriffes noch einiges Licht zu werfen vermag. Da jedoch von der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts an Shakespeare in der theoretischen Erörterung eine wichtige Rolle spielt, ist es notwendig, zunächst so kurz als möglich seine Stellung in der Entwicklung zu bestimmen. Das Drama der Vorgänger und Zeitgenossen Shakespeares in England ist außerordentlich diffus. Es zeigt sich hier wie bei den Vorgängern und Zeitgenosse Corneilles, daß sich das Wesentliche einer Entwicklung nur schwer an zweit- und drittrangigen Werken, an denen nichts Bestimmtes und Klares ist, ablesen läßt. Doch ist der bestimmende Einfluß Senecas auch auf das englische Drama der elisabethischen Zeit deutlich sichtbar, wofür auf die früher zitierte Arbeit von H. W. Wells verwiesen werden mag36. Das Bestreben, durch das Drama einen moralischen Einfluß auszuüben, tritt häufig hervor. In den in England zahlreichen Stücken, die zwischen Komödie und Tragödie stehen, wird oft das Prinzip der poetischen Gerechtigkeit angewandt und gelegentlich, wie z. B. in Ben Jonsons berühmten Volpone, am Ende mit Nachdruck darauf aufmerksam gemacht. Um so mehr erscheint Shakespeares Tragödiendichtung als vollkom52

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men sui generis. Zwar gibt es eineganzeReihe von Stücken Shakespeares, in denen das Prinzip der poetischen Gerechtigkeit mit einer Vollständigkeit und Konsequenz durchgeführt ist, wie man es weder bei Corneille noch, so viel ich sehen kann, bei Shakespeares englischen Zeitgenossen irgendwo wiederfindet. Aber der untrügliche Sinn des großen Dichters für den Unterschied der Gattungen zeigt sich sofort darin, daß die Anwendung des Prinzips ausschließlich auf die ernsthaften Komödien beschränkt ist, wie Maß für Maß, Ende gut, alles gut, den Kaufmann von Venedig, etc.; denn den Untergang der „Bösewichter' Richard IIL oder Macbeth kann man nicht zur Anwendung dieses Prinzips rechnen, da in denselben Stücken so viele andere, die es nicht verdient haben und für die es keine Kompensation gibt, durch sie zugrunde gehen; und selbst in einer Märchendichtung wie dem Sturm bleibt, was etwa als poetische Gerechtigkeit ausgelegt werden kann, ganz an der Oberfläche und werden die lacrimae rerum durch das luftige Zauberspiel hindurch sehr deutlich sichtbar gemacht. Die großen Tragödien Shakespeares sind nicht nur dem Prinzip der poetischen Gerechtigkeit völlig inkommensurabel; sie unterwerfen sich auch nicht der von Corneille in seiner Praxis sehr viel ernster genommenen Forderung, daß die Tragödie, „um nach den Regeln zu gefallen", etwas enthalten müsse, „sur quoi nous pouvons nous corriger", d. h. daß die Tugenden so dargestellt werden müssen, daß sie den empfänglichen Zuschauer zur Nachahmung hinreißen, die Laster, Fehler und Leidenschaften so, daß der Zuschauer vor ihnen gewarnt wird. Durch den Horace Corneilles kann der Zuschauer vor dem verderblichen, unbeschränkten Ehrgeiz gewarnt, durch das Verhalten des Augustus im Cinna zur Großmut gegen seine Gegner angeregt werden. Aber obwohl Romeo aus Liebesleidenschaft handelt, ist die Vorstellung, der Zuschauer solle oder könne durch Romeo und Julia vor der Liebesleidenschaft, durch Julius Cäsar vor Ehrgeiz und Herrschsucht, ja selbst durch Othello vor dem Verderblichen der Eifersucht gewarnt werden, nicht weniger absurd als die Annahme, der Oedipus des Sophokles solle den Zuschauer davor warnen, aus Unkenntnis seinen Vater zu erschlagen oder seine Mutter zu heiraten. Hier werden Mächte des menschlichen Gemütes in Bewegung gesetzt, die / über die Möglichkeit derjenigen Art von moralischer Wirkung hinausliegen, die Corneille theoretisch fordert [2191210]

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und — obwohl in fast allen seinen Tragödien ungewollt auch etwas ist, was darüber hinausliegt — in der Praxis erstrebt und bis zu einem gewissen Grade erreicht37. Damit steht Shakespeare in dem, was 3as Wesen der Tragödie ausmacht, der antik griechischen Tragödie viel näher als irgendein anderer moderner Tragödiendichter, obwohl er lange Zeit als der barbarische Verletzer aller aus der Antike ererbten Regeln der Tragödiendichtung galt, während die französischen Tragödiendiditer, die der antiken Tragödie im Grunde so viel ferner stehen, sich auf das eifrigste um die Einhaltung dieser Regeln bemühten. Trotzdem besteht auch zwischen der Tragödiendichtung Shakespeares und derjenigen der griechischen Tragiker ein fundamentaler Unterschied, der wohl nicht ohne Zusammenhang ist mit der allgemeinen Entwicklung, die in Frankreich die so anders geartete Tragödie Corneilles und Racines hervorgebracht hat. Es ist der klassischen griechischen Tragödie, wie früher gezeigt, wesentlich , daß die tragische Situation von außen kommt, auch da wo sie, wie bei Euripides häufig, durch Schwächen des Helden bestimmt ist. Das ist in den meisten der großen Tragödien Shakespeares völlig anders. Hier geht die tragische Situation mit Notwendigkeit aus dem innersten Charakter des Helden hervor und die äußere Welt und ihre Ereignisse bedingen nur die spezielle Form, in der sie sich realisiert. Das Leben Antigones oder Orests brauchte nicht tragisch oder jedenfalls nicht in höchster tragischer Zuspitzung zu verlaufen, wenn sie nicht von außen her in eine Situation gestellt würden, in der der eine seinen Vater an seiner Mutter zu rächen, die andere die letzte Pflicht an ihrem Bruder gegen den Befehl der höchsten staatlichen Autorität zu erfüllen hat. Wenn man die Tragödie vom König Lear gesehen hat, kann man sich wundern, daß diesem Mann nicht Analoges, wenn auch in anderer Form, schon früher widerfahren ist, was dem König jedoch durchaus nichts von seiner tragischen Größe nimmt. Cäsar hätte unter allen Umständen eine Cäsartragödie erlebt, auch wenn er nicht als Sohn einer großen Familie in einem Weltreich geboren worden wäre. Daß Romeo am Anfang der Tragödie Rosalie liebt und Julia also nicht seine erste Liebe ist, was bei vielen romantisch gesinnten Kritikern so heftigen Anstoß erregt hat, weil es der Einzigkeit seiner Liebe zu Julia Eintrag tut, besagt im Grunde nichts anderes. Überall in den großen Tragödien Shakespeares, mit 54

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einer einzigen, vielleicht nur scheinbaren Ausnahme geht das Schicksal unmittelbar aus dem Charakter des Helden hervor. Die Ausnahme ist der Hamlet. Es ist gewiß kein Zufall, daß das Sujet dieser Tragödie Stück für Stück das der antiken Orestestragödie ist. Die Situation Hamlets ist genau diejenige Orests, und sie kommt für ihn von außen. Vielleicht ist trotzdem der Hamlet nur die Probe aufs Exempel. Es ist kein Zufall, daß Hamlet im Gegensatz zu seinem antiken Gegenstück, aber auch im Gegensatz zu allen anderen Helden Shakespearescher Tragödien, nicht handeln kann. Aber was bedeutet es, daß Hamlet nicht handeln kann? In gewisser Weise handelt Hamlet das ganze Stück hindurch in der angestrengtesten und planvollsten Weise; in dem Engagement der Schauspieler, in der Einwirkung auf seine Mutter, in dem angenommenen Wahnsinn, in seinem Verhalten gegenüber den Rosenkranz und Güldenstern. Dann ist er wieder imstande, in der Eingebung des Augenblickes unüberlegte Handlungen zu begehen, wie die Tötung des Polonius durch die Wand, indem er den König zu treffen glaubt. Endlich in der entscheidenden Szene am Ende des Stückes fehlt es ihm an rascher Energie des Handels nicht. Trotzdem ist es nicht unrichtig, wenn immer wieder von ihm gesagt worden ist, daß er nicht handeln kann. Er handelt entweder aus der unreflektierten Eingebung des Augenblickes oder sein Handeln kommt nicht zu Ende. Es kommt deshalb nicht zu Ende, weil Hamlet nicht wie die Helden aller anderen Tragödien Shakespeares unter dem Antrieb einer mächtigen Leidenschaft handelt. Er handelt nur dann wie sie, wenn er unter dem Einfluß einer augenblicklichen Regung steht. Wenn er mit Überlegung handelt, handelt er nicht, um einer persönlichen Leidenschaft zu dienen, sondern um das Richtige zu tun. Aber er kann nicht sicher sein, das Richtige zu tun, ohne Gewißheit zu haben über das hinaus, was dem Menschen in diesem Leben an Gewißheit gegeben ist. Sobald dies gesehen ist, trennt sich der moderne Orest von seinem antiken Gegenstück und reiht sich, wenn auch als ein ganz anderer, in die Reihe der Shakespeareschen Tragödienhelden ein. Für den antiken Orest kommt die tragische Situation ganz von außen. Es ist kein Grund, warum er nicht als guter und glücklicher Herrscher hätte herrschen sollen, wenn ihm nicht von außen das schreckliche Schicksal auferlegt worden wäre, den Tod seines Vaters an seiner Mutter und ihrem Lieb[220]

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haber zu rächen. Dasselbe Schicksal kommt auch für Hamlet ohne sein Zutun von außen. Nur der Auftrag der Rache an der Mutter ist gemildert, bzw. die eigentliche Rache auf den Liebhaber der Mutter und Usurpator beschränkt. Trotzdem ist alles ganz / anders als bei Orest. Für den, der sicher sein will, richtig zu handeln, und zwar nicht nur im Sinne des Stoikers, der den faktischen Ausgang als betrachtet, wenn nur die Intention richtig gewesen ist, wird jedes Handeln in einer entscheidenden Sache zur Unmöglichkeit. So ist die Hamlettragödie in gewisser Weise die Umkehrung der antiken Tragödie, die Tragödie dessen, der ganz sicher sein will, kein zu begehen. Sie ist trotzdem eine wahre Tragödie und eben damit eine indirekte Bestätigung der Auffassung der menschlichen Existenz, die der antiken Tragödie zugrunde liegt. Zugleich ist sie doch wieder modern und nicht antik, insofern nun doch in paradoxer Weise bei Hamlet, obwohl der Anstoß wie bei Orest von außen kommt, die Tragödie mit Notwendigkeit seinem Charakter entspringt. Denn anders als bei Orest, der nur weil ihm diese Aufgabe auferlegt ist, etwas zu tun gezwungen ist, was seiner innersten Natur moralisch widerspricht, kann man wohl sagen, daß das Leben dessen, der nur handeln will, wenn er sicher sein kann, daß der Erfolg der richtige ist, notwendig zu einer Hamlettragödie werden muß, auch wenn ihm keine orestische Aufgabe auferlegt ist. So hat Shakespeare als einziger und ganz von sich aus — denn es gibt keine zeitgenössische Analogie und er war gewiß nicht durch die klassische griechische Tragödie beeinflußt — wieder eine Tragödie in antikem Sinn geschaffen, und doch eine ganz andere, indem er die unschuldige Schuld, die das Wesen der Tragödie ausmacht, aus dem Innern der Menschen hervorgehen läßt, die doch in gewisser Weise unschuldig bleiben, insofern keiner anders als nach dem Wesen seines Charakters handeln kann.

5. Für die weitere Theorie des Tragischen in den hundert oder wenig mehr als hundert Jahren nach dem Tode Corneilles sind am wichtigsten Andre Dacier, nächst seiner berühmteren Gattin Anne der einflußreichste der Theoretiker der Dichtung in seiner Zeit, und Lessing. Bei Dacier ist die Autorität des Aristoteles absolut geworden. Jede 56

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Berufung auf eine andere Autorität, die Aristoteles widerspricht, wie sie bei Corneille noch gelegentlich vorkommt, wird von vornherein abgelehnt. Aber auch die Schwierigkeiten, die Corneille gehabt hatte, seine Interpretation der Lehre des Aristoteles mit der antiken Tragödie und andererseits auch wieder einige deutliche Meinungen des Aristoteles mit seiner eigenen Auffassung vom Wesen der Tragödie in Einklang zu bringen, hat Dacier offenbar nicht empfunden. Diese Schwierigkeiten sind aber bei ihm nur deshalb verschwunden, weil die Umdeutung des Aristoteles im modernen Sinne nunmehr eine vollkommene geworden ist. Die Unstimmigkeiten, die dadurch entstehen, bemerkt Dacier gar nicht mehr. Zwar beginnt er noch damit, zu sagen, daß die unverdienten Leiden des Helden der Tragödie Furcht und Mitleid erregen, fährt aber dann fort, die Leiden eines Menschen, der über den anderen stehe, könnten nicht Furcht und Mitleid erregen, obwohl Aristoteles ausdrücklich gesagt hatte, der Held einer Tragödie müsse so sein wie wir oder hesser und nur den fehlerfreien als Helden der Tragödie ausgeschlossen hatte. Noch deutlicher aber wird die radikale Umdeutung im folgenden, wo nun die moralische Wirkung der Tragödie durch Darstellung von Lohn und Strafe im Diesseits, also im Grund die poetische Gerechtigkeit, als Grundforderung erscheint, obwohl die vorangegangene Bemerkung über das unverdiente Leiden dies alles im Grunde ausschließt. So gibt denn Dacier als Grund dafür, daß der Held einer Tragödie moralisch nicht über dem Durchschnitt stehen dürfe, an: «Si ses malheurs ne peuvent exciter la pite et la crainte ils ne peuvent par consequence purger les passions; car le spectateur voyant la vertu malheureuse s'abandonner au desespoir murmure meme souvent et ne travaille plus a combattre ses passions voyant qu'il les vaincrait inutilement puisque la vertu ne precipite pas moins dans le malheur que le crime38.» Hier ist nun ganz besonders interessant zu sehen, wie die moderne Theorie, wo sie in voller Konsequenz durchgeführt wird, nicht nur mit der antiken griechischen Tragödie und mit Aristoteles in Konflikt gerät, auf die sie sich beruft, sondern auch mit der stoischen Philosophie und mit dem Christentum, aus denen sie doch, wie gezeigt, wenn auch als Endprodukt eines langen Umwandlungsprozesses, letzterdings historisch hervorgegangen ist. Denn sich durch die Beobachtung, daß auch der recht Handelnde im äußeren Leben ins Unglück geraten kann, davon [221]

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abhalten zu lassen, recht zu tun und gut zu handeln, ist vom stoischen wie vom christlichen Standpunkt aus gleich verwerflich. Daher kann es auch, wie schon früher gezeigt, nicht der Sinn einer im eigentlichen Sinne christlichen oder stoischen Tragödie oder, sofern es eine stoische oder christliche Tragödie im strengsten Sinne nicht gibt, eines ernsten stoischen oder christlichen Dramas sein, durch das Mittel der poetischen Gerechtigkeit moralisch wirken zu wollen. Wie sich die neue, nunmehr völlig zum Dogma erhobene, Theorie in der praktischen Anwendung auswirkt, mag dann vielleicht noch an zwei schlagenden Beispielen gezeigt werden. Es ist schon früher erwähnt worden, daß Dacier den Polyeucte l Corneilles verwirft, weil ein Märtyrer notwendig „un homme tres vertueux" sein müsse und ein solcher sich nicht zum Gegenstand einer Tragödie eigne. Er fügt hinzu, der Dichter sei zwar bis zu einem gewissen Grade durch den Erfolg gerechtfertigt, aber es sei schwierig, diesen Erfolg zu rechtfertigen (weil er der Regel des Aristoteles widerspricht). — Dabei ist gerade an dieser Stelle das Kriterium, mit Hilfe dessen Aristoteles seine Regeln festzustellen sucht, ausschließlich die Wirkung auf und damit der Erfolg beim Publikum. Dacier hat hier nicht gesehen, daß das Stück Corneilles den Erfolg, den es hatte, zum großen Teil der Tatsache verdankt, daß es wider die Absicht seines Urhebers kein wahres Märtyrerstück ist, und daß umgekehrt auch ein wahres Märtyrerstück auf ein dafür empfängliches Publikum eine tiefe Wirkung haben kann, freilich eine Wirkung sehr verschieden von der einer klassischen Tragödie. Wird so auf der einen Seite der Polyeucte Corneilles auf Grund einer rigorosen, aber z. T. mißverständlichen, Anwendung aristotelischer Prinzipien getadelt, so weist Dacier auf der anderen Seite Corneilles Skrupel und Schwierigkeiten in der Beurteilung des sophokleischen Oedipus von hoher Warte aus zurück. Natürlich muß die größte aller klassischen Tragödien der Regel des Aristoteles in jeder Weise entsprechen. Da Dacier diese Regel im Sinne einer bald leicht gemilderten, bald verschärften poetischen Gerechtigkeit deutet, muß Oedipus im Sinne der subjektiv persönlichen Verantwortung schuldig sein. Hier geht nun freilich Dacier nicht so weit wie der Existenzialist Küster, der Oedipus auf eine geheime Weise ahnen läßt, daß er seinen Vater erschlägt 58

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und seine Mutter heiratet. Nein, darin, sagt Dacier39, ist Oedipus ganz unschuldig, und das ist es auch eigentlich gar nicht, was ihn ins Unglück stürzt. «Cette punition aurait ete en quelque mani£re injuste parceque ces crimes etaient involontaires.» Sein Unglück wird vielmehr hervorgerufen durch den Jähzorn, seinen Hochmut und seine Unvorsichtigkeit, mit der er einen alten Mann erschlägt und eine ältere Frau heiratet, nachdem er gewarnt worden ist, daß er seinen Vater erschlagen und seine Mutter heiraten werde. Die Frage, ob denn Oedipus, wenn er vorsichtiger gewesen wäre, seinem Schicksal hätte entgehen können, wird gar nicht gestellt, obwohl er doch gerade durch seine vermeintlichen Vorsichtsmaßregeln das Orakel erfüllt. Vor allem aber wird hier ganz naiv vorausgesetzt, daß das ganze schreckliche Geschehen nur in Bewegung gesetzt werde, um den Zuschauer vor Jähzorn und Unvorsichtigkeit zu warnen. Die größte Tragödie des Altertums ist hier in Gefahr, zu einem grausigen Kapitel in einem grandiosen Struwelpeter für Erwachsene zu werden, in welchem ja auch die Eindringlichkeit der Ermahnung zu Tugend und gutem Benehmen durch die groteske Disproportion zwischen der Anlaß gebenden Sünde und den schrecklichen Folgen erhöht wird. Wenn Dacier mit seiner Interpretation recht hätte, stünde die antike Tragödie weit unter den ernsten Dramen der großen französischen Dramatiker, in denen doch die dargestellten Fehler und Leidenschaften in einem sehr viel besser abgemessenen Verhältnis zu ihren Folgen stehen. Man kann wohl sagen, daß Daciers Kommentar zu Aristoteles' Poetik den Höhepunkt darstellt in der konsequenten Ausbildung der neuen Theorie von der moralischen Absicht der Tragödiendichtung und dem moralischen Sinne der „Reinigung der Leidenschaften", und damit in der Mißdeutung des Aristoteles. Die Schwierigkeiten, die sich aus seiner Deutung des Aristoteles ergeben, scheint Dacier gar nicht gesehen zu haben. Zwischen der Publikation von Daciers Kommentar und dem Erscheinen der zweiten Hälfte von Lessings Hamburgischer Dramaturgie liegen sechsundsiebzig Jahre. In diesen sechsundsiebzig Jahren sind die Schwierigkeiten, die Dacier nicht gesehen hatte, wiederentdeckt worden und haben eine lebhafte Diskussion hervorgerufen. Diese Diskussion [222]

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führte zur Bildung von zwei Parteien, von denen die eine sich verzweifelt bemühte, den von der neuen Theorie geforderten angeblichen Sinn der Ausführungen des Aristoteles auf irgendeine Weise mit dem vorgefundenen Wortlaut in Einklang zu bringen und das ganze als sinnvoll und richtig nachzuweisen, während die andere Partei die Lehren des mißverstandenen Aristoteles angriff und zu widerlegen suchte, ohne zu bemerken, daß bei Aristoteles die angegriffene Lehre gar nicht zu finden ist. Erst Lessing mit seiner unvergleichlichen Verstandeshelle hat wenigstens in bezug auf die Lehre von der Reinigung der Leidenschaften den Nebel, der jahrhundertelang über der aristotelischen Poetik gelegen hatte, mit einem Male zerstreut. Er wies darauf hin40, daß Mitleid und Furcht im Zuschauer erregt werden, daß sie dagegen als Affekte der Personen des Dramas nur sehr selten, jedenfalls unvergleichlich viel seltener als andere Affekte und Leidenschaften, zum Anlaß der Katastrophe oder des Unglücks werden, das über den Helden einer Tragödie hereinbricht. Wenn also die Reinigung der Leidenschaften, von der Aristoteles spricht, darin bestünde, daß der Zuschauer durch die schrecklichen Folgen der Leidenschaften der Personen im Stück davor gewarnt wird, sich ähnlichen Leidenschaften / hinzugeben, so müßte die Tragödie von allen anderen Leidenschaften eher reinigen als von Mitleid und Furcht, die doch, was immer der Sinn des sein mag, jedenfalls die einzigen sind, die Aristoteles ausdrücklich erwähnt. Dies Argument ist durchschlagend, und die Auffassung Corneilles von der Reinigung der Leidenschaften ist denn nach Lessing auch allmählich aus der Theorie und Praxis verschwunden und spielt — wenn man, wie billig, von dem Versuche Schottlaenders, sie mit Hilfe von Parallelstellen wieder zu beleben, absieht41 — seit langem keine Rolle mehr. Lessing hat auch wieder energisch darauf hingewiesen, daß Aristoteles es als der Tragödie wesentlich bezeichnet hatte, daß der tragische Held unverdient leide42, und er erklärte im Zusammenhang seiner Erörterung der aristotelischen Lehre von Furcht und Mitleid als der Tragödie wesentlichen Wirkungen, daß die Franzosen keine wahren Tragödien hätten43, was die Meinung einschließt, daß die Tragödien Corneilles und Racines keine wahren Tragödien seien. Es ist unzählige Male gesagt worden, daß Lessing für die Größe Racines und vor allem 60

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Corneilles keinen Sinn gehabt habe, für das Politische bei Corneille, das auf Napoleon einen solchen Eindruck machte, daß er sagte, er würde Corneille zum Fürsten gemacht haben, wenn er zu seiner Zeit gelebt hätte44, und das Großartige in der Schilderung menschlicher Leidenschaften bei beiden großen französischen Dichtern. Nun hat freilich Lessing in einem Augenblick des Unmuts über die Vorherrschaft der französischen Bühne in Deutschland die Äußerung getan: „man nenne mir das Stück des großen Corneille, das ich nicht besser machen könnte", und es ist mit Recht demgegenüber immer wieder gesagt worden, daß Corneille Qualitäten als Dichter hatte, die Lessing fehlen. Aber an der Stelle, an der Lessing von dem Verhältnis der großen Franzosen zur Theorie und Praxis der griechischen Tragödie spricht, hatte er keine Ursache, auf das Politische bei Corneille einzugehen, sagt aber ausdrücklich, daß Corneille und Racine unter den Dichtern keinen geringen Rang einnnehmen45. Dann fährt er freilich fort: „Nur daß sie von dem wenig oder nichts haben, was den Sophokles zum Sophokles, den Euripides zum Euripides, den Shakespeare zum Shakespeare macht". Der Sinn dieser Festsellung aber ist dem Zusammenhang nach, daß die Tragödien der französischen Dichter nicht oder nicht in vollem Maße die Art von Furcht und Mitleid hervorrufen, die Aristoteles als wesentliche Wirkung der wahren Tragödie bezeichnet hatte. Damit aber hat Lessing, so bewundernswert die ernsten Dramen Corneilles und Racines auch in anderer Hinsicht sind, uneingeschränkt recht, da sich bei diesen Dichtern nicht nur keine voll entwickelten tragischen Situationen im antiken Sinne finden, sondern sie diesen, wie oben aufgezeigt worden ist, wo sie sie in ihren Sujets vorfanden, absichtlich, um eines anderen Zieles willen, aus dem Wege gegangen sind. In den Ausführungen Lessings in der Hamburgischen Dramaturgie findet sich, wenn man genau aufmerkt, alles, was zu einem richtigen Verständnis der griechischen Tragödie gehört4". Aber vieles ist nicht ausgeführt. Vor allem hat sich Lessing über die aristotelische und den modernen Begriff der tragischen Schuld nicht ausführlich geäußert. Obwohl man das Richtige aus dem, was er über die Reinigung der Affekte und über die Charaktere in der Tragödie nach Aristoteles sagt, im wesentlichen ableiten kann, so sind die wenigen Äußerungen, die er über die moralische Wirkung der Tragödie und über den Zusammenhang zwischen den

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Schwächen des tragischen Helden und seinen Handlungen getan hat, obwohl an sich nicht unrichtig, doch so, daß ein in der damals herrschenden Tradition lebender Leser sie bis zu einem gewissen Grade auch als Bestätigung dieser traditionellen Auffassungen betrachten konnte. Dies gilt vor allem von dem Satz im 57. Stück, in dem Lessing darauf hinweist, daß der Held der Tragödie sein Unglück nicht verdient haben dürfe, „ob er es sich schon durch eine Schwachheit zugezogen", woraus der Leser leicht einen notwendigen Kausalnexus zwischen der „flaw" im Charakter des Helden und seinem Leiden herleiten kann, obwohl, wie früher gezeigt, ein solcher Kausalnexus in der griechischen Tragödie zwar bestehen kann, aber keineswegs bestehen muß, und obwohl Lessing in Wirklichkeit einen solchen notwendigen Kausalnexus keineswegs behauptet. Das zweite ist die wiederholte Feststellung Lessings, daß die Tragödie naturgemäß eine moralische Wirkung haben müsse, eine Behauptung, die, wenn man das Wort „moralische Wirkung" in seinem weitesten Sinne nimmt, zwar durchaus richtig ist, aber wiederum leicht dahin mißverstanden werden kann, als ob es sich nun doch wieder um eine moralische Wirkung der Art handle, wie sie Corneille anstrebte, obwohl dies von Lessing selbst ja gerade widerlegt worden war. So blieb in bezug auf den wesentlichen Punkt trotz Lessing der Weg zu weiteren Mißverständnissen offen. 6.

Wenn Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie feststellte, daß die ernsten Dramen Corneilles und Racines keine Tragödien im Sinne der alten griechischen Tragödie und der darauf beruhenden Definition des Aristoteles seien, so war es keines- / wegs seine Absicht, damit Dramen der Art, wie sie diese Dichter geschaffen hatten, die Existenzberechtigung abzusprechen. Er hätte sonst seine eigenen dramatischen Arbeiten, einschließlich der Emilia Galotti, die auch keine Tragödie im antiken Sinne ist, in dieses Verdammungsurteil einschließen müssen. Die richtige Einsicht in das Wesen der Tragödie ist natürlich keineswegs gleichbedeutend mit der Fähigkeit, eine wahre Tragödie zu schreiben, selbst wenn sie wie bei Lessing mit unbezweifelbarem dramatischem Talent, ja selbst wenn sie mit den höchsten dichterischen Gaben verbunden ist47. 62

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Auch ging zunächst noch für einige Zeit Hie Tendenz des Zeitalters nicht auf das Tragische, sondern auf das Moralische. Der Charakter der dramatischen Produktion unmittelbar nach Lessing wäre daher wohl auch dann kein wesentlich anderer gewesen, wenn Lessing seine Einsichten über das Wesen der Tragödie deutlicher ausgearbeitet und diese sich infolgedessen allgemein durchgesetzt hätten. Wohl aber hätten sich dadurch vermutlich, wie sich zeigen wird, Irrwege, die eine spätere Zeit eingeschlagen hat, vermeiden lassen. Nur sechzehn Jahre nach der zweiten Reihe von Lessings Hamburgischer Dramaturgie veröffentlichte Schiller seine berühmte Jugendschrift über die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet. Hier ist, wie schon der Titel andeutet, alles auf die moralische Wirkung der Tragödie und Komödie abgestellt. Sie sollen nicht nur die Laster und Torheiten der Menschen so darstellen, daß die Zuschauer von den ersten abgeschreckt, von den zweiten geheilt werden, sondern sie sollen auch zu dem Großen und Guten begeistern. Die Beispiele dafür, daß die große dramatische Kunst dies wirklich leiste, werden von überall hergenommen, von Corneille, von Lessing, aber auch von Shakespeare, wobei denn freilich im König Lear z. B. die Undankbarkeit der Töchter statt des sich mit innerer Notwendigkeit vollziehenden Schicksals des Königs in den Mittelpunkt gerückt wird. Aber Schiller erwartete zu der Zeit, als er seinen Aufsatz in Mannheim vorlas, eine noch unmittelbarere moralische Wirkung des ernsten Dramas überhaupt auf die jeweilige Gegenwart, als sie Corneille je angestrebt hatte. „Wenn die Gerechtigkeit für Gold verbündet und im Solde des Lasters schwelgt, wenn die Frevel der Mächtigen ihrer Unmacht spotten und Menschenfurcht den Arm der Obrigkeit bindet, übernimmt die Schaubühne Schwert und Waage und reißt die Laster vor einen schrecklichen Richterstuhl", so ruft er aus. Manche von Schillers frühen Dramen, wie Kabale und Liebe und die Räuber, zeigen denn auch diese Tendenz, unmittelbar die speziellen Schäden der Zeit aufzudecken und zu geißeln, auf das deutlichste, andere, wie Don Carlos, auf etwas entferntere Weise, und auch Lessings bedeutendste ernste Dramen, Emilia Galotti und Nathan der Weise, gehören in die letztere Kategorie. Es braucht kaum hinzugefügt zu werden, daß das Drama, das sich die Bekämpfung der offenen und verborgenen moralischen Schäden der zeitlichen und räumlichen Gegen-

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wart des jeweiligen Autors zum Ziele gesetzt hat, in der Geschichte der dramatischen Dichtung des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts bis in die Gegenwart hinein eine außerordentlich große Rolle gespielt hat. In seinen späteren Jahren hat sich Schiller jedoch von diesen Anschauungen seiner Jugend sowohl in der Theorie wie in der Praxis entfernt. In dem acht Jahre nach der Veröffentlichung des Aufsatzes über die Schaubühne als moralische Anstalt gedruckten Aufsatz Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen heißt es: „Die wohlgemeinte Absicht, das moralisch Gute überall als höchsten Zweck zu verfolgen, die in der Kunst schon so manches Mittelmäßige erzeugte und in Schutz nahm, hat auch in der Theorie einen ähnlichen Schaden angerichtet", und in der im gleichen Jahre veröffentlichten Schrift Über die tragische Kunst führt Schiller ganz im Sinne des Aristoteles aus, der höchste Grad des Mitleids werde im Zuschauer dann erzeugt, wenn der Gegenstand unseres Mitleids „wider seine Neigung dahin gebracht wird, Urheber des Unglücks zu werden". Auch die dramatischen Werke Schillers aus seiner späteren Zeit entfernen sich gleichzeitig von dem moralischen Tendenzstück und nähern sich bis zu einem gewissen Grade der antiken Tragödie, ohne diese doch zu erreichen — wenigstens da, wo Schiller es sich nicht geradezu zum Ziel gemacht hat, eine antike Tragödie zu schreiben. Von ganz besonderem Interesse für das gegenwärtige Problem aber ist das Stück, in dem Schiller sich ganz bewußt dieses Ziel gesetzt hat, nicht zuletzt deshalb, weil er hier nun doch auf einen Irrweg geraten ist, eine Analyse seines Irrtums aber besonders geeignet ist, das wirkliche Wesen der antiken griechischen Tragödie noch genauer bestimmen zu helfen. In der Braut von Messina sind alle Ingredienzien der dramatischen Verwicklung aus der antiken Tragödie genommen, ja sie stammen sogar alle aus der Geschichte des Labdakidenhauses, die neben der Geschichte des Atridenhauses den großen attischen Tragödiendichtern den Stoff zu den größten Tragödien des Altertums geliefert hat. Der Fluch des Ahnherrn in Schillers Drama, der die Brüder gegeneinanderhetzt, entspricht dem Fluch des Oedipus über die Söhne Eteokles und Polyneikes. Das Schicksal Beatrices, die auf Grund eines Orakels oder 64

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eines orakelhaften Traumes ausgesetzt werden soll, aber durch die Mutter gerettet wird und dann unschuldig schuldig den Greuel herbeiführt, entspricht dem Schicksal des Oedipus selbst. Aber aus der Mischung dieser Elemente ergibt sich nun doch etwas, das in keiner erhaltenen griechischen Tragödie vorkommt, und, wenn, man nach Analogie des Erhaltenen und nach den von Aristoteles aus allen ihm bekannten Tragödien abstrahierten Regeln urteilen darf, in der antiken griechischen Tragödie nicht vorkommen konnte. Don Cesare tötet seinen Bruder Don Manuel und erfüllt damit den Fluch, der auf ihrem Schicksal gelastet hat, wie Eteokles in den Sieben gegen Theben seinen Bruder Polyneikes in Erfüllung des Fluches des Oedipus tötet. Aber Eteokles tötet seinen Bruder in einem Kampf, von dem er weiß, daß er selbst darin umkommen wird; und er tut dies, um dadurch den Fluch zu erfüllen und die Stadt zu retten und von den Folgen des Fluches zu lösen, wie denn ja auch das Stück mit der Freude des Chores über die Rettung endet. Ihn trifft daher keine subjektive Schuld, obwohl er das objektiv Schreckliche tut. Don Cesare dagegen handelt aus schuldhafter Leidenschaft. Das Schuldhafte seines Handelns aber — im Gegensatz zur Tat des sophokleischen Oedipus, der in Notwehr zu handeln glaubt und nicht ahnt, daß der Gegner sein Vater ist — tritt um so stärker hervor, als er nicht nur weiß, daß es sein Bruder ist, den er tötet, sondern sich auch der Gegenliebe Beatrices niemals versichert hat und gewahr sein muß, daß sein Bruder schlechterdings nicht wissen kann, daß Beatrice seine Erkorene ist, also auch nicht die Absicht gehabt haben kann, dem Bruder die Geliebte zu nehmen. Trotzdem handelt Don Cesare nicht nur in einer augenblicklichen Aufwallung, sondern hält an der Rechtfertigung seiner Tat und dem erneuten Hasse gegen den Bruder fest, bis er zu seinem Entsetzen erfährt, daß Beatrice seine Schwester ist. Nach dieser Enthüllung freilich lenkt das Drama Schillers bis zu einem gewissen Grade wieder in die Bahnen der antiken Tragödie zurück, wenn Don Cesare, ehe er sich selbst den Tod gibt, ausruft: „Dann, Mutter, wenn ein Totenmahl den Mörder zugleich mit dem Ermordeten umschließt, ein Stein sich wölbet über beider Staube, dann wird der Fluch entwaffnet sein." Aber weder dies noch daß Beatrice wie Oedipus unschuldig unwissend Anlaß zu den Greueln wird, kann [22

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die Tatsache aus dem Wege schaffen, da Don Cesare in voller Kenntnis den Brudermord begeht, ohne durch eine h here Pflicht wie Eteokles oder Orestes zu dem Schrecklichen gezwungen zu sein, und da dies doch die unausweichliche Folge eines Fluches sein soll, an dem Don Cesare v llig unschuldig ist. Diese — man ist versucht zu sagen kalvinistische — Pr destination zu einer subjektiv voll zu verantwortenden Schuld ist der antik griechischen Trag die durchaus fremd und steht im Widerspruch zu der aristotelischen Maxime, da der Held ανάξιος leiden m sse, ganz abgesehen davon, da sie eine moralische Monstrosit t ist. Denn der Einwand, der Polyneikes der Stehen gegen Theben sei doch das genaue Gegenst ck zu Don Cesare, trifft deshalb nicht zu, weil Polyneikes in der Trag die des Aeschylus nur als der ferne Anla des Leidens und Handelns des Eteokles im Hintergrund steht, sein eigenes Schicksal aber in dieser Trag die unmittelbar keinerlei Rolle spielt. Sollte aber darauf geantwortet werden, dasselbe gelte im Grunde doch auch f r den Don Cesare Schillers, wenn er auch im Gegensatz zu Polyneikes auf der B hne erscheine, und der wahre Gegenstand der Trag die sei das Schicksal Beatrices, die ja auch die Titelheldin sei, so wird das durch die letzten Worte des Chores widerlegt, in denen die Schuld als der bel gr tes bezeichnet wird, also doch wohl auch vorausgesetzt wird, da die Trag die es mit Schuld im vollsten Sinne des Wortes zu tun gehabt habe. berhaupt aber l t sich nun mit diesen Abschlu worten des Schillerschen Dramas noch einmal die Probe machen auf die Richtigkeit oder Unrichtigkeit alles dessen, was bisher und vor allem im ersten Abschnitt dieser Abhandlung ber die Schuld in der griechischen Trag die gesagt worden ist. Versucht man, diese Schlu worte in das Griechische zu bersetzen und das deutsche Wort Schuld mit άρματία oder άμαρτάνειν wiederzugeben, so da es etwa lauten w rde κακών δε πάντων εσχατον το άμαρτάνειν, so f llt der Satz vollkommen flach zu Boden und ist berhaupt nicht brauchbar. Ersetzt man dagegen das άμαρτάνειν durch άδικεϊν, so k nnte zwar der Satz in jeder stoischen Trag die stehen. Aber man wird sich dann doch erinnern, da es bei Aristoteles hei t: δι'άμαρτίαν μεγάλην η οίου εϊρηται ή βελτίονος μάλλον ή χείρονος und nicht δι' άδικίαν μεγάλην und da der Satz, wenn man in dieser Weise άδικίαν an Stelle von άμαρτίαν setzt, durch einen inneren Widerspruch v llig in die Br che geht. 66

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Hier hat man also das ganze Problem bzw. den ganzen, jahrhundertelang bis auf die Gegenwart herrschenden, Irrtum der Modernen noch einmal in einer Nußschale zusammen, und es zeigt sich noch einmal, daß die stoische Auffassung, die unterirdisch, ohne daß es dem einzelnen bewußt zu werden braucht, auf die Entwicklung des modernen Dramas in den verschiedensten Abwandlungen einen so starken Einfluß ausgeübt hat, mit der Grundvoraussetzung der antiken griechischen Tragödie unvereinbar ist. / Auf Schillers Braut von Messina folgte in kurzem Abstand in Deutschland eine ganze Welle von Schicksalstragödien, von denen Müllners „Schuld" den größten Theatererfolg gehabt hat. Hier ist die Oedipustragödie völlig ins Absurde verkehrt. Eine Zigeunerin prophezeit einer Spanierin, das Kind, das sie unter dem Herzen trage, werde, wenn es ein Sohn sei, ihren älteren Sohn töten. Um dies zu vermeiden, gibt diese das Kind nach seiner Geburt einer nordischen Freundin zur Adoption, die es mit in den Norden nimmt, um ein Zusammentreffen der Söhne zu verhindern. Als der jüngere Sohn herangewachsen ist, führt ihn sein Schicksal jedoch nach Spanien. Dort wird er der nächste Freund seines Bruders, ohne zu wissen, daß es sein Bruder ist, verliebt sich aber in dessen Frau und ermordet seinen Bruder schließlich aus Leidenschaft auf der Jagd, um seine Frau heiraten zu können. Als man dem Dichter die moralische Monstrosität vorhielt, daß der Held des Stückes durch ein vorherbestimmtes Schicksal bestimmt ist, seinen nächsten Freund — ob er daneben noch sein Bruder ist, macht ja unter diesen Umständen für die Schwere des Verbrechens kaum etwas aus — aus verbrecherischer Leidenschaft zu töten, antwortete er zwar, er habe doch dadurch, daß er die Zigeunerin die Prophezeiung nur unter der Voraussetzung aussprechen lasse, daß das Kind ein Knabe sein werde, angedeutet, daß die Zigeunerin die Zukunft gar nicht wisse und ihre Prophezeiung nicht ernst zu nehmen sei. Aber das zeigt nur erst recht die völlige Hohlheit der ganzen Konzeption. In der sophokleischen Tragödie steht das Orakel dafür, daß auch der, der gar keine Neigung zum Verbrechen hat und der es aus tiefster Seele verabscheut, unter der Möglichkeit steht, dennoch aus Unkenntnis und in Folge einer Verkettung von ihm unkontrollierbaren Umständen das objektiv Schreckliche zu tun. Hier ist es ganz in der Ordnung. Wenn dagegen die schreckliche Gewalt menschlicher Leidenschaften [225/226]

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dargestellt werden soll, ist es völlig überflüssig, Prophezeiungen und Orakel zu bemühen, und kann dies nur zur totalen Verwirrung aller moralischen Begriffe führen. In Wirklichkeit steht hinter dem Stück Müllners gar keine Erkenntnis, wie er in seinen mannigfaltigen Verteidigungen glauben machen will. Er hat aus den widersprechendsten Elementen ein Produkt zusammengebraut, das allerdings den durchschlagenden Erfolg gehabt hat, seine Zuschauer das Gruseln zu lehren. Eben mit diesem Erfolg aber demonstriert das Stück aufs deutlichste die Unrichtigkeit der verbreiteten Lehre, es komme bei einem dramatischen Kunstwerk nur auf die Theaterwirksamkeit an, demgegenüber sei der gedankliche und sittliche Hintergrund ganz irrelevant; ja selbst, daß die einzelnen wirksamen Szenen miteinander zusammenhängen, sei nur von sekundärer Bedeutung48. Von den sonstigen Schauerstücken der Gattung, dem 24. Februar von Zacharias Werner und dem 29. Februar von Müllner, ist es besser ganz zu schweigen. Doch mag immerhin darauf hingewiesen werden, daß unter dem Begriff Schicksalstragödie die heterogensten Dinge zusammengefaßt zu werden pflegen und daß es um des Verständnisses und der literarischen Kritik willen nützlich wäre, sorgfältiger zu unterscheiden. Houwalds „Leuchtturm" z. B. hat einen völlig anderen Hintergrund als die Schicksalstragödien Müllners und Zacharias Werners und wurde verfaßt, „um den finsteren Schicksalstragödien, die ihre Helden als Sklaven des Geschicks darstellen, sie an das Eisen einer kalten schauerlichen Notwendigkeit schmiedend, eine wahre, kein Gemüt unheilbar verletzende Schicksalsfabel gegenüberzustellen". Zwar steht auch dieses Stück nicht auf einer sehr hohen Stufe und ist technisch viel weniger geschickt angelegt als Müllners „Schuld", aber es vermeidet doch die schlimmsten Absurditäten der Schicksalstragödien Müllners und Zacharias Werners. Diese Unterschiede können hier nicht im einzelnen analysiert werden. Wohl aber lohnt es sich, kurz auf Grillparzers Ahnfrau einzugehen, schon deshalb, weil es sich hier um das Werk eines Dichters von wesentlich höherem Range handelt. Stellt man an dieses Stück die Frage nach dem Verhältnis zwischen einem „Schicksal" und dem Verhalten, Leiden und Handeln des einzelnen, die wir im Vorhergehenden an die Dramen des Sophokles, Schillers und Müllners gestellt haben und auf die in jedem dieser

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Fälle eine klare Antwort gegeben werden konnte, obwohl diese bei Schiller und noch viel mehr bei Müllner einen inneren Widerspruch aufgedeckt hat, so scheint es bei Grillparzers Schicksalsdrama, so sehr man auch die einzelnen Szenen für sich und im Zusammenhang auszudeuten versucht, immer wieder unmöglich, zu einer klaren Antwort zu gelangen. Nun könnte dies ja daran liegen, daß es dem Interpreten nicht gelungen ist, tief genug in die Intentionen des Dichters einzudringen. Glücklicherweise hat aber Grillparzer selbst in einer Reihe von kurzen Aufzeichnungen über die Rolle des Schicksals in der Tragödie, die er in langen Abständen in den Jahren 1817, 1818 und 1845 niedergeschrieben hat, sich unmißverständlich dazu geäußert und eben jene gekennzeichnete Dunkelheit in der Rolle des Schicksals als das eigentlich Poetische, wo immer der Begriff des Schicksals in der Tragödie überhaupt verwendet werde, geradezu gefordert. Am deutlichsten ausgesprochen ist dies in/ dem ältesten Stück der Aufzeichnungen, in dem Grillparzer offenbar auch die Ahnfrau verteidigen will. Hier heißt es: „Der Begriff Schicksal ist bei uns nicht eine Frucht der Überzeugung, sondern der dunklen Ahnung ... Im Drama sprechen die handelnden Personen, und hier liegt es in der Macht des Dichters, ihre Charaktere so zu stellen, den Sturm ihrer Leidenschaften so zu lenken, daß die Idee des Schicksals in ihnen entstehen muß ... Aber nie trete der Dichter vor und erkläre den Glauben seiner Person für den seinigen. Dasselbe Dunkel, welches über das Wesen des Schicksals herrscht, herrsche auch über seiner Erwähnung desselben; seine Personen mögen ihren Glauben daran deutlich aussprechen, aber immer bleibe dem Zuschauer unausgemacht, ob er dem launischen Wechsel des Lebens oder einer verborgenen Waltung das schauderhafte Unglück zuschreiben soll; er selber ahne das letztere, es werde ihm aber nicht klar gemacht; denn ein ausgesprochener Irrtum stößt zurück." Damit ist die Absicht des Dichters auf das deutlichste bezeichnet und es zeigt sich, daß er den Irrtum, in den Schiller verfallen ist, indem er das Schicksal objektivierte und dann doch für eine in schuldhafter Leidenschaft begangene Handlung verantwortlich machte, nicht begangen hat. Aber es bleibt noch festzustellen, wie sich Grillparzers Vorstellung von der Rolle des Schicksals und seinem Verhältnis zur „tragischen Schuld" zu der griechischen Tragödie verhält, und es wird sich zeigen, [2261227]

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daß sich auch daraus wieder eine noch genauere Bestimmung des Wesens der antiken griechischen Tragödie gewinnen läßt. In einer zwei Jahre später als die oben zitierte, d. h. im Jahre 1819, gemachten kurzen Aufzeichnung über das Wesen der Tragödie wendet sich Grillparzer scharf gegen Corneilles und seiner Vorgänger und Nachfolger Auffassung von der Reinigung der Leidenschaften ebenso wie gegen die Lehre des jungen Schiller von der moralischen Absicht der dramatischen Dichtung: „Die wahre Darstellung hat keinen didaktischen Zweck, sagt irgendwo Goethe, und wer ein Künstler ist, wird ihm beifallen. Das Theater ist kein Korrektionshaus für Spitzbuben und keine Trivialschule für Unmündige." In derselben Abhandlung erklärt sich Grillparzer über das Schicksal in der Tragödie und über die Reinigung der Leidenschaften in der folgenden Weise: „Im Trauerspiele wird entweder der Freiheit über die Notwendigkeit der Sieg verschafft oder umgekehrt. Die Neueren halten das erste für das allein Zulässige, worüber ich aber ganz der entgegengesetzten Meinung bin. Die Erhebung des Geistes, die aus dem Siege der Freiheit entspringen soll, hat durchaus nichts mit dem Wesen des Tragischen gemein und schließt nebst dem das Trauerspiel scharf ab, ohne jenes weitere Fortspielen im Gemüte des Zuschauers zu begünstigen, das eben die eigentliche Wirkung der wahren Tragödie ausmacht. Das Tragische, das Aristoteles nur etwas steif mit Erweckung von Furcht und Mitleid bezeichnet, liegt darin, daß der Mensch das Nichtige des Irdischen erkennt, die Gefahren sieht, welchen der Beste ausgesetzt ist und oft unterliegt; daß er, für sich selbst das Wahre und Rechte hütend, den strauchelnden Mitmenschen bedaure, den fallenden nicht aufhöre zu lieben, wenn er ihn gleich straft, weil jede Störung vernichtet werden muß des ewigen R.echts. Menschenliebe, Duldsamkeit, Selbsterkenntnis, Reinigung der Leidenschaften durch Mitleid und Furcht wird eine solche Tragödie bewirken ... Es ist ein Schicksal, das den Gerechten hienieden fallen läßt und den Ungerechten siegen." Es ist leicht zu sehen, daß dies trotz der Verwendung einiger moderner Begriffe, wie z. B. des Freiheitsbegriffes, der so nicht antik ist und sich gar nicht — auch nicht durch , geschweige denn durch — ins Griechische übersetzen läßt, dem wirklichen Aristoteles und der wahren griechischen Tragödie sehr viel näher 70

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kommt als irgendeine der bis hierher in dieser Untersuchung angeführten modernen Erklärungen mit Ausnahme der Abschnitte aus Lessings Hamburgischer Dramaturgie. Dennoch ist auch hier der moderne Irrtum noch nicht völlig überwunden. Von der poetischen Gerechtigkeit ist nicht mehr Hie Rede. Sie wird wie bei Aristoteles von der wahren Tragödie geradezu ausgeschlossen. Die Reinigung der Leidenschaften ist nicht mehr eine Reinigung von den Leidenschaften der Personen im Stück durch die Darstellung ihrer schrecklichen Folgen, sondern durch Furcht und Mitleid und durch die Erkenntnis der Nichtigkeit des Irdischen, was zweifellos ein zentraler Aspekt der aristotelischen , ist. Aber schon wenn die Reinigung der Leidenschaften in der Erweckung von Duldsamkeit und Menschenliebe gesehen wird, ist das kaum mehr reiner Aristoteles. Zwar daß zum Wesen der richtigen Wirkung der Tragödie das Verstehen des Menschlichen in der , auch wo diese im engeren Sinne eine moralische Verfehlung ist, gehört, und daß daher, darf man wohl hinzufügen, die grob und hochmütig abwertenden Urteile über handelnde Personen, die bei den modernen moralisierenden Tragödieninterpreten so häufig sind, ipso facto als Zeichen mangelnden Verständnisses gelten können, darin hat Grillparzer völlig recht. Aristoteles hat das implicite in seiner Forderung des ausgesprochen. Aber so hoch Grillparzers Auffassung der durch die Tragödie zu bewirkenden sich auch über die moralisierende Auslegung erhebt, so wird sie doch gerade den größten Werken der griechischen Tragiker nicht gerecht. Dem Admet, dem Orest, dem Agamemnon, der Phaedra des Euripides gegenüber kann man allenfalls „für sich selbst das Rechte und Wahre hütend, den strauchelnden Mitmenschen auf der Bühne bedauern", obwohl damit auch die Tiefe der euripideischen Tragik nicht adaequat erfaßt wird. Aber dem Orest des Aeschylus oder dem Oedipus des Sophokles gegenüber ist es ganz unmöglich, „für sich selbst das Wahre und Rechte zu hüten", und das Bedauern der Mitmenschen reicht an sie gar nicht heran. So wird die volle Tiefe und Unerbittlichkeit der Tragik einer antiken griechischen Tragödie auch von Grillparzer nicht erkannt. Aber auch seine Vorstellung von dem Dunklen, das man ahnen, aber nicht scharf sehen darf, als dem eigentlich Poetischen ist durchaus romantisch und nicht antik. 71

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Die antike Tragödie zeigt wohl den dunklen Untergrund der menschlichen Existenz, aber nicht als etwas, das dunkel zu ahnen ist. Vielmehr erhellt sie diesen dunklen Untergrund mit einem schonungslos hellen Licht. Ich habe nun diesen ganz kurzen Überblick über die Geschichte der Schicksalstragödie in Deutschland mit Schillers Braut von Messina begonnen, einmal weil hier der Übergang von der Auffassung der Tragödie als eines Mittels moralischer Belehrung zu einer ganz anderen Auffassung des Wesens der Tragödie ein besonders schroffer ist, dann weil Schiller, wenn auch in irrtümlicher Weise, mit diesem Stück ganz bewußt im Sinne der antiken Tragödie dichten wollte und mit seiner Auffassung, soviel ich sehen kann, keinen Vorgänger gehabt hat, endlich, weil die spätere Schicksalstragödie in Deutschland durch Schillers Werk und zugehörige Theorie aufs stärkste beeinflußt worden ist. Ganz kurz vor Schillers Werk entstand jedoch in Deutschland noch eine andere Tragödie, die in gewisser Weise auch als Schicksalstragödie bezeichnet werden kann und sogar gewisse Ingredienzien der späteren romantischen Schicksalstragödien aufweist, welche bei Schiller noch fehlen, und die doch ganz anderer Art ist als die Braut von Messina und alles, was sich an dieses Werk Schillers angeschlossen hat: Kleists Familie Schroffenstein. Da es sich hier um das Werk — wenn auch um ein von den meisten Kritikern nicht sehr geschätztes Jugendwerk — eines ganz großen dramatischen Dichters handelt, lohnt es sich wohl, einen Augenblick dabei zu verweilen. Eine Prosafassung dieses Dramas hat Kleist i. Jahre 1801 in Paris verfaßt. Im folgenden Jahr in Thun begann er damit, es inhaltlich und der Form nach umzuarbeiten, wobei die ersten drei Akte sorgfältig ausgearbeitet wurden, der vierte dagegen nur noch widerwillig und in großer Eile umgearbeitet worden sein soll. Den fünften Akt sollen Kleists Freunde nach dem Prosaentwurf und in Anknüpfung an die umgearbeiteten ersten Akte so gut es ging in Jamben fertig gemacht haben. Es ist hier nicht der Ort, sich mit der Frage der Entstehung der verschiedenen Teile des Stückes auseinanderzusetzen. Daran jedenfalls kann keinerlei Zweifel bestehen, daß Kleist in keiner Weise von der im wesentlichen in der zweiten Hälfte des Jahres 1802 verfaßten, aber erst zu Anfang des folgenden Jahres vollendeten Braut von Mes~

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sina beeinflußt worden sein kann, wie auch umgekehrt Schiller offenbar in keiner Weise von Kleists Unternehmen beeinflußt worden ist, obwohl er durch Wieland davon gehört haben mag. Wichtig ist, was sich über den Zusammenhang des Kleistschen Frühwerkes mit Kleists innerer Entwicklung sagen läßt. Der Abfassung dieses Werkes war eine tiefe Erschütterung vorangegangen, die Kleists ganzes Denken zu Anfang des Jahres 1801 durch die Lektüre eines philosophischen Werkes erfahren hatte, und die ihren lebhaftesten und unmittelbarsten für uns noch greifbaren Ausdruck in zwei Briefen vom 22. und 23. März 1801 an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge und an seine Schwester Ulrike gefunden hat. Obwohl dies Werk von Kleist nicht genannt wird und in dem Brief an die Schwester von ,kantischer Philosophie', in dem Brief an die Verlobte vom Tage vorher dagegen von ,der neueren sogenannten kantischen Philosophie' die Rede ist, ist es E. Cassirer gelungen49, das fragliche Werk mit außerordentlich großer Wahrscheinlichkeit aus inhaltlichen Anklängen in Kleists Briefen und sonstigen bezeugten Äußerungen als Fichtes Schrift über die Bestimmung des Menschen' zu identifizieren. Wie E. Cassirer gezeigt hat, waren es der erste und der zweite Teil dieser Schrift, die auf Kleist eine so erschütternde Wirkung ausgeübt hatten: der erste Teil, in dem der Versuch gemacht war, zu zeigen, daß in einem geschlossenen System der Naturerklärung, in dem auch der Mensch seinen Platz finden muß, alles als streng determiniert erscheinen muß und daher kein Platz für freie Willensentscheidungen zum Guten oder zum Bösen bleibt, und der zweite, in welchem gezeigt werden soll, daß die im ersten Teil geschilderte systematische Naturerkenntnis nicht die Erkenntnis eines von uns unabhängigen realen Seins darstellt, sondern nur des systematischen Zusammenhangs unserer Vorstellungen und der Regeln, „nach denen sich diese Welt der Vorstellung aus ursprünglichen Elementen aus den ersten Anfangsdaten der Empfindung entwickelt und aufbaut". Der dritte ,positive' Teil der Fichteschen Schrift, in der Fichte einen neuen Begriff des Glaubens zu entwickeln suchte, scheint Kleist nicht befriedigt zu haben. Wie nun Kleist von frühester Jugend an das leidenschaftlichste Bedürfnis gehabt hatte, einen ,Plan' für sein Leben, d. h. für jedes Handeln und jede Entscheidung eine feste Erkenntnisgrundlage zu haben, 73

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umgekehrt aber auch jede Erkenntnis ihm jederzeit nicht etwas nur Theoretisches, sondern unmittelbar in Handeln Umzusetzendes gewesen war, so mußte es die Grundlagen seines Lebens erschüttern, wenn die Befreiung von einem Determinismus, der für freie sittliche Entscheidungen keinen Raum läßt, nur um den Preis der Leugnung einer jeden Erkenntnis eines objektiven Seins erkauft werden zu können schien. Ein Glaube, der doch kein Wissen ist, schien ihm dafür keinen Ersatz zu bieten zu können. Er zieht auch sofort die äußersten praktischen Konsequenzen daraus. „Der Gedanke", schreibt er in dem Brief an die Schwester, „daß wir hienieden von der Wahrheit nichts, gar nichts wissen, daß das, was wir hier Wahrheit nennen, nach dem Tode ganz anders heißt, und daß folglich das Bestreben, sich ein Eigentum zu erwerben, das uns auch ins Grab folgt, ganz vergeblich und fruchtlos ist, dieser Gedanke hat mich in dem Heiligtum meiner Seele erschüttert. Mein einziges und höchstes Ziel ist gesunken, ich habe keines mehr. Seitdem ekelt mich vor den Büchern, ich lege die Hände in den Schoß und suche ein neues Ziel, dem mein Geist froh-beschäftigt, von neuem entgegenschreiten könnte. Aber ich finde es nicht, und eine innerliche Unruhe treibt mich umher". Es ist hier nicht der Ort, Kleists Auseinandersetzungen mit den Gedanken Fichtes im einzelnen weiter zu verfolgen. Der Passus über die Unsicherheit darüber, ob das, was wir hier Wahrheit nennen, nach dem Tode nicht vielleicht ganz anders heißt, und über die Vergeblichkeit des Bestrebens, sich ein Eigentum zu erwerben, das uns in das Grab folgt, zeigt, wie sehr sich Kleist von Anfang an von dem Zusammenhang, den die Gedanken bei ihrem Urheber hatten, entfernt und sie in ein ganz Persönliches umsetzt. Wichtig ist jedoch, daß die weitere Auseinandersetzung nicht allein durch abstraktes Denken, sondern vor allem auch durch lebendige dichterische Gestaltung der Kleist nun beschäftigenden Probleme erfolgt. Das erste Resultat dieser Auseinandersetzung ist eben d'ie,Familie Schroffenstein'. Wenn und soweit dies Drama eine Schicksalstragödie ist, wurde es deshalb dazu, weil es für Kleist selbst eine brennende Frage war, ob und wie weit der Mensch von den Umständen abhängig sei und, wie er es in einem Briefe an Wilhelmine von Zenge aus dieser Zeit50 einmal ausdrückt, „an tausend feingesponnenen Fäden vom Zufall allgewaltig fortgeführt" werde oder wie weit er sich selb-

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ständig darüber erheben könne, und und nahm nicht deshalb diese Form an, weil Kleist, wie Schiller, eine vermeintliche antike Form des Dramas wiederbeleben wollte. Daher ist es nicht nur um Kleists willen bedeutsam, was unter diesen Umständen daraus geworden ist. Entsprechend seiner Entstehung ist das Stück völlig frei von jenen Ingredienzien, wie Orakeln, Prophezeiungen, Wirkung von Verfluchungen oder von in vergangenen Geschlechtern begangenen Verbrechen, welche die Erneuerer der vermeintlichen antiken Schicksalstragödie meist in mißverstandener Weise in ihre Dramen glaubten aufnehmen zu müssen. Dagegen spielt der Zufall von Anfang an eine über das normale Maß hinausgehende Rolle, und gegen Ende des Stückes häufen sich die verhängnisvollen Zufälle nebst anderen schauerlichen Zutaten so sehr, daß Kleists Freunde, als er ihnen das Stück in der ursprünglichen Prosafassung vorlas, darüber in Gelächter ausbrachen, in das Kleist selber schließlich einstimmte. Auf das darin liegende Problem wird später noch einzugehen sein. Die Ausgangssituation jedoch, in der die zwar über das normale Maß hinausgehenden, aber noch keineswegs unwahrscheinlichen Zufälle ihre verhängnisvolle Wirkung ausüben können, ist sehr geschickt gewählt und hat an sich durchaus nichts Unnatürliches. Zwei Zweige desselben ritterlichen Geschlechts, die nicht weit von einander ihren Besitz und ihre Burgen haben, haben einen Erbvertrag geschlossen, nach welchem bei Aussterben der einen Linie deren ganzer Besitz an die andere fallen soll. Damit ist bei unerwarteten und in ihrer Ursache nicht sogleich völlig durchsichtigen Todesfällen ein natürlicher Grund zu Verdacht und Argwohn gegeben. Kommen noch starke positive Verdachtsmomente hinzu, so wird in einem argwöhnischen und leidenschaftlichen Gemüt der Verdacht leicht zur Gewißheit. So steht es zu Beginn des Stücks. Der erste Anlaß zu einem schwärenden Argwohn liegt schon weit zurück. Als der jetzige Inhaber des Schlosses Rossitz nach dem Tode seines Vaters die Herrschaft hatte antreten wollen, war er plötzlich krank geworden und hatte zwei Tage ohnmächtig dagelegen. Obwohl er sich dann erholte und seither zwanzig Jahre lang ungefährdet gelebt hatte, auch damals keinerlei besonderen, geschweige denn irgendwie greifbare Verdachtsmomente vorlagen, ist doch bei ihm und bei manchen der Seinigen der dunkle Verdacht erhalten geblieben, die Vettern von War-

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wand hätten bei seiner damaligen Erkrankung die Hand im Spiel gehabt. Nun hat sich etwas ereignet, das den seit zwei Jahrzehnten unterirdisch schwelenden Verdacht zu hellen Flammen auflodern läßt. Der jüngere Sohn des Rossitzer Grafen ist ermordet aufgefunden worden. Bei der Leiche standen Knechte des Grafen von Warwand. Die aufgeregt herbeieilenden Leute hielten sie unbesehen für die Mörder. Der eine der beiden Knechte wurde sofort getötet. Den ändern hat man unter Toben und Schreien auf den Marktplatz geschleppt und ihn mit Schlagen und Foltern getötet. Vor seinem Tod hat er auf irgend eine Weise den Namen des Grafen auf Warwand, Sylvester, genannt. Es entspricht durchaus den Gesetzen der Psychologie, daß daraus für die aufgeregte Menge das Geständnis wird, der Knabe sei im Auftrag des Grafen Sylvester von seinen Knechten ermordet worden: natürlich als erster Schritt zur Beseitigung der Erben des anderen Zweiges des Geschlechts. Aber auch der Graf selbst und sein ältester Sohn, der einzige legitime Erbe, der ihm geblieben ist, glauben fest daran. Nur die Gräfin, Eustache, mahnt vergeblich zu Mäßigung und vernünftiger Überlegung. So beginnt das Stück damit, daß Rupert, der Rossitzer Graf, die Seinigen auf die Hostie schwören läßt, an dem vermeintlichen Mörder Rache zu nehmen. Zugleich sendet er einen Boten an Sylvester, ihm schonungslose Fehde anzusagen. Indessen hat es auch auf der ändern Seite nicht an Argwohn gefehlt. Dem Grafen auf Warwand sind kurz nacheinander eine Tochter und ein Sohn gestorben, und in seiner Familie und bei seinen Leuten geht das Gerücht um, daß der Knabe von den Rossitzern vergiftet worden sei. Nur der Graf, Sylvester, will davon nichts wissen und verweist es den Seinigen, ein schmerzliches Schicksal, das jede Familie treffen kann, ohne jeden greifbaren Anlaß auf ein scheußliches Verbrechen zurückzuführen. Als nun der Bote von Rossitz kommt, um ihm Fehde anzusagen, ist ihm das nur eine Bestätigung dafür, wie verderblich es ist, sich ohne Besinnung von düsteren Vermutungen bestimmen zu lassen; und er ist im Gefühl seiner völligen Unschuld sofort bereit, selbst nach Rossitz zu gehen, um den Vetter von der Grundlosigkeit seines Verdachtes zu überzeugen. Erst als ein naher Freund der Familie, ein Verwandter aus einem dritten Zweig des Schroffensteinschen Geschlechts, Jeronimus, ihn ebenfalls einen Mörder nennt, da er sich von den Rossitzern hat überzeugen lassen, trifft ihn dies so hart, 76

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daß er in Ohnmacht fällt. Nun nimmt das Unheil weiter seinen Lauf. Der Bote aus Rossitz wird von den empörten Leuten des Grafen von Warwand erschlagen. Das ist den Rossitzern ein neuer Beweis für die Ruchlosigkeit der Vettern von Warwand, und als später Jeronimus, der sich inzwischen von der Unschuld Sylvesters überzeugt hat, nach Rossitz kommt, um dort, wo er ebenfalls ein naher Freund der Familie ist, für ihn einzutreten, läßt ihn der Rossitzer Graf von seinen Leuten töten, während er eine Ohnmacht vortäuscht: er glaubt, Jeronimus habe sich, da er die Tochter Sylvesters liebt, dadurch erkaufen lassen, die Seite des Unrechts zu nehmen. Der Rest des Stückes ist voll von weiteren unheilvollen Zufällen, denen nicht in allen Einzelheiten nachzugehen notwendig ist. Der Rossitzer Graf hat noch zwei Söhne, einen ehelichen Ottokar und einen unehelichen Johann. Beide lieben die Tochter Sylvesters, Agnes. Johann wird von Leuten aus Warwand getroffen, wie er dem Mädchen folgt, das vor ihm flieht; und da er aus Rossitz ist, glauben die Leute, er wolle sie ermorden. Sie verwunden ihn, halten ihn fest und bringen ihn nach Warwand. Ottokar trifft sich mit Agnes und gewinnt ihre Liebe. Beide überzeugen sich gegenseitig von der Unschuld ihrer Väter, und es gelingt ihnen, die wahren Mörder des Bruders Ottokars festzustellen. So könnte alles aufgeklärt werden und eine Ehe zwischen den beiden Kindern der Grafen könnte auch jeden Grund für künftigen Argwohn wegen des Erbvertrages aus dem Wege räumen. Da werden sie von Rupert und seinen Leuten überrascht, als sie ihre Mäntel vertauscht haben, und Rupert tötet seinen eigenen Sohn Ottokar, den er für Agnes hält, um Rache zu nehmen dafür, daß die Warwander, wie er glaubt, zwei seiner Söhne getötet haben. Kurz darauf kommt Sylvester dazu und tötet, da er die vermeintliche Leiche seiner Tochter Agnes vor sich liegen sieht, nun auch von der Verruchtheit der Rossitzer überzeugt, in leidenschaftlichem Zorn die wirkliche Agnes, die noch den Mantel Ottokars trägt. Zu spät erkennen die beiden Väter ihren Irrtum, und über den Leichen der Kinder kommt es endlich zur Versöhnung. Es ist nicht zu leugnen, daß hier, vor allem am Ende des Stückes, dem Zufall etwas viel zugemutet wird, und da noch andere schauerliche Details, wie ein abgeschnittener Finger des jüngsten Sohnes des Rossitzer Grafen, den eine alte Hexe zu einem Zaubergebräu verwenden wollte,

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dabei eine Rolle spielen, so ist es nicht zu verwundern, wenn der Schluß der Tragödie, vor allem in der ursprünglichen Prosafassung, die noch etwas krasser gewesen sein mag, auf Kleists Freunde eine komische statt einer tragischen Wirkung ausgeübt hat. Aber es lohnt sich vielleicht doch, über die Ursachen dieser unbeabsichtigten Wirkung etwas weiter nachzudenken. Mann kann wohl nicht sagen, daß die Unwahrscheinlichkeit der Zufälle in Kleists Jugenddrama an sich größer ist als in Sophokles' König ödipus. Ist auch die Häufung der Zufälle größer, so wird dies doch in gewisser Weise dadurch ausgeglichen, daß keiner von ihnen, mit Ausnahme der letzten, an sich sehr unwahrscheinlich ist; und selbst diese erreichen kaum die Unwahrscheinlichkeit der Zufälle, in Folge deren ödipus seinen Vater erschlägt und seine Mutter heiratet. Damit ist das Kleistsche Drama eine interessante Illustration zu dem, was Aristoteles im neunten Kapitel seiner Poetik ausführt: daß nämlich die Wirklichkeit immer die Möglichkeit in sich schließt, und daß, wo die Tragödie das ganz Extreme (und deshalb ganz Unwahrscheinliche, fast Unmögliche), zur Darstellung bringt, sie in der Wirklichkeit eine Stütze findet, wobei im Falle des ödipus die Wirklichkeit durch die allgemein bekannte und als wirklich geglaubte Sage vertreten wird. Auch beim Ödipus könnte der reine tragische Eindruck durch die Unwahrscheinlichkeit der Zufälle, auf denen das Geschehen beruht, gestört werden, wenn nicht der Zuschauer sie ohne weiteres Nachdenken hinnähme, weil er von Jugend auf mit der Sage vertraut ist und sie angenommen hat. Aber das ist doch wiederum nur die eine Seite der Sache. Auch wenn die Sage von der Familie Schroffenstein so bekannt und so stark in einer von jedermann von Kindesbeinen an aufgenommenen Tradition verankert wäre, wie die Sage von ödipus, so würde das Stück doch nicht an die großen antiken Tragödien — und auch nicht an Kleists eigene spätere große Tragödien — heranreichen: und auch das hängt, wenn auch in anderer Weise, mit der Häufung der Zufälle — nicht mit ihrer Unwahrscheinlichkeit — zusammen. Obwohl es mit der Bezeichnung der Tragödie als Drama im Widerspruch zu stehen scheint, gehört es doch zum Wesen der Tragödie, daß, wenn sie dieses Wesen in seiner größten Vollkommenheit verwirklichen soll, nicht zu viel in ihr geschehen darf, oder, was dasselbe ist, daß das Geschehen im innern, nicht im äußern Handeln sich entfalten muß. In einer ganzen Reihe der größten antiken Tragö-

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dien, dem König ödipus, dem Aias, den Persern, dem Prometheus, den Eumeniden, in gewisser Weise auch der Alkestis, wo der Tod der Alkestis ja nur eine Art Einleitung und zugleich der Abschluß eines vor dem Stück liegenden Geschehens ist, liegt das wichtigste äußere Geschehen vor der ,Handlung£ des Stückes selbst. Bei den meisten anderen konzentriert es sich in einer einzigen Tat: alles andere geht im Innern der Personen des Stückes vor. Die ,Familie Schroffenstein' hat in dieser Hinsicht einen höchst eindrucksvollen und vortrefflichen Anfang. Auch hier liegt ein wichtiger Teil des Geschehens: die Erkrankung des Grafen von Rossitz, der Tod seines jüngsten Sohnes und zweier Kinder des Grafen von Warwand, vor dem Beginn des Stückes. Die seelischen Folgen dieses Geschehens: der über jedes durch die faktischen Indizien gerechtfertigte Maß hinausgehende Verdacht bei den Rossitzern und einem Teil der Warwander, die Verblendung und der leidenschaftliche Rachedurst bei dem Rossitzer, die ruhige Besonnenheit, die sich durch kein Zureden irre machen läßt, bei dem Warwander Grafen, das alles wird dem Zuschauer in höchster Intensität vor Augen gestellt. Wenn es so weiter ginge, würden selbst unwahrscheinliche weitere Zufälle, und selbst wenn diese nicht im Sinne der Theorie des Aristoteles durch ,Wirklichkeiti gestützt würden, nur bei dem stumpferen, nicht aber bei dem sensitiveren, für die Tiefe des Seelischen empfänglichen, Zuschauer den tragischen Eindruck ins Komische verkehren. Aber schon vom zweiten Akt ab und dann immer mehr bis zum fünften nimmt das Mannigfaltige des äußeren Geschehens überhand und verhindert die Entfaltung des seelischen Geschehens. So wird die Aufmerksamkeit auf das Groteske und Unwahrscheinliche der Zufälle gelenkt. Sieht man aber von diesen und ändern weniger wesentlichen Mängeln dieses Erstlingswerkes ab, so zeigt sich in voller Deutlichkeit, daß das Stück ganz und gar frei ist von jenem viel radikaleren Mangel oder Irrtum, an dem alle aus dem Bestreben, die antike jSchicksalstragödie' zu erneuern, hervorgegangenen dramatischen Werke, von der in der Straffheit der Form und in der Konzentration auf die Darstellung des Seelischen dem Kleistschen Frühwerk weit überlegenen Braut von Messina bis zu den Schauerstücken Müllners und Zacharias Werners, kranken. Von einer Seite her gesehen kann es so scheinen, als ob alle Personen des Stückes wie willenlose Marionetten an jenen ,feingesponnenen Fäden des 79

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Zufalls' hingen, von denen Kleist in seinem Briefe an Wilhelmine von Zenge spricht, und in ihren Bewegungen völlig von ihnen gelenkt würden. Aber es fehlt darin vollständig die der Braut von Messina, Müliners Schuld, und ändern Schicksalstragödien dieser Art, zu Grunde liegende Vorstellung, daß es jemand durch ein Orakel oder dergleichen vorausbestimmt sein könne, bewußt, wenn auch aus Leidenschaft oder in einer augenblicklichen Aufwallung, ein Verbrechen zu begehen. Die handelnden Personen werden durch irreführende Umstände, durch ihre Leidenschaften und die aus beiden zusammen entstehende Verblendung zu den schrecklichen Taten getrieben, die sie begehen und die sie, nachdem sie erkannt haben, was sie getan haben, bereuen. Aber nirgends wird die Möglichkeit angetastet, daß sie hätten anders handeln können. So steht das Frühwerk Kleists, das aus seinen eigenen Erlebnissen und aus seiner eigenen lebendigen Auseinandersetzung mit den Problemen des menschlichen Lebens hervorgegangen ist, trotz aller seiner Mängel und Unvollkommenheiten in seiner sittlichen Grundlage der antiken Tragödie näher als die Schicksalstragödien, die aus dem bewußten Bestreben hervorgegangen sind, die antike Tragödie zu erneuern. Das zeigt zugleich, wie schwierig, wenn nicht unmöglich es ist, eine vergangene Kunstform mit bewußter Absicht wieder zu beleben. Die dichterische Intuition kann nur aus der eigenen Lebenserfahrung des Dichters hervorgehen. Diejenigen Vorstellungen einer vergangenen Zeit, die in einer späteren Zeit nicht mehr lebendig sind, können bis zu einem gewissen Grade auch dann noch innerhalb des lebendigen Zusammenhangs eines Dichtwerkes der vergangenen Epoche verstanden werden. Sollen sie aber in einem neuen Dichtwerk verwendet werden, so werden sie naturgemäß zunächst abstrakt und reflektierend isoliert. Sie dann aber in den Zusammenhang eines neuen Kunstwerks in der richtigen Weise wieder einzufügen, erfordert eine andere Art der Reflexion als sie selbst dem reflektierenden Dichter natürlich ist.

7. Der eben gegebene Überblick hat gezeigt, daß in der auf die einschneidende Kritik Lessings an der Tragödientheorie der französischen Klassiker folgenden Epoche die Auffassung des Wesens der Tragödie in Deutschland — aber ähnliches gilt, wenn auch in etwas anderer Weise SO

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für Frankreich, wo eine Zeit lang die Theorie der tragedie de la sensibilite eine wichtige Rolle gespielt hat, später aber auch der Einfluß der deutschen Kritik sich fühlbar macht — eine außerordentlich schwankende gewesen ist. Jedenfalls werden die festen Vorstellungen von der poetischen Gerechtigkeit und der Aufgabe der Tragödie, mit Hilfe der Darstellung der schrecklichen Folgen von Lastern und Leidenschaften durch Abschreckung sittlich zu wirken, die bis dahin in Frankreich und mehr oder minder auf dem ganzen europäischen Kontinent geherrscht hatten, aufgelockert. Die von Lessing wieder hergestellte aristotelische Auffassung, daß das tragische Leiden ein unverdientes Leiden sein müsse, zum mindesten in dem Sinne, daß der tragische Held über das, was er verdient haben mag, hinaus leiden muß, gewinnt wieder an Boden. In den Schicksalstragödien von der Art der Braut von Messina oder von Müllners Schuld, ist dadurch, daß die verbrecherische Tat als vom Schicksal vorausbestimmt erscheint, im Grunde sogar die moralische Verantwortlichkeit und damit die Schuld im gewöhnlichen Sinn dieses Wortes beseitigt. Trotzdem spielt dieser Begriff allenthalben weiter eine beherrschende Rolle: so sehr, daß er in Schillers Drama in der Schlußsentenz: ,der Übel größtes aber ist die Schuld', dem Zuschauer aufs Eindringlichste vor Augen gestellt wird, und daß er bei Müllner zum Titel seines berühmtesten Werkes werden konnte. Aber der Begriff der Schuld selbst konnte seinem eigentlichen Inhalt nach unter diesen Umständen nicht derselbe bleiben, der er bei den französischen Klassikern gewesen war. Es ist daher sehr interessant zu sehen, wie sich dies in der philosophischen Reflexion des Endes der eben betrachteten Periode, vor allem bei dem Philosophen ausgewirkt hat, der sich in jener Zeit mit dem Begriff des Tragischen eingehend beschäftigt und der andererseits auf das Denken der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts und darüber hinaus nicht nur innerhalb der Grenzen der Fachphilosophie den größten und weitest reichenden Einfluß ausgeübt hat, nämlich bei Hegel. Die klarste und ausführlichste Formulierung von Hegels Theorie der Tragödie findet sich in seinen zuerst i. J. 1818 in Heidelberg gehaltenen dann bis zum Winter 1828/29 immer wieder umgearbeiteten ergänzten und erweiterten, endlich vier Jahre nach Hegels Tod i. J. 1835 zum ersten Mal von H. G. Hotho herausgegebenen Vorlesungen über Aestbetik. Dieser Theorie nach entsteht das Tragische aus Konflikten, die 81

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wiederum daraus hervorgehen, daß „die sittlichen Mächte wie die handelnden Charaktere unterschieden sind in Rücksicht auf ihren individuellen Inhalt und ihre individuelle Erscheinung"51. Über den „allgemeinen Grund für die Notwendigkeit solcher Konflikte" hat Hegel das Folgende zu sagen52: „Die sittliche Substanz ist als konkrete Einheit eine Totalität unterschiedener Verhältnisse und Mächte, welche jedoch nur in tatlosem Zustand als selige Götter das Werk des Geistes im Genuß eines ungestörten Lebens verbringen. Umgekehrt liegt es ebensosehr im Begriff dieser Totalität selbst, sich aus ihrer zunächst noch abstrakten Idealität zur realen Wirklichkeit und weltlichen Erscheinung umzusetzen. Durch die Natur dieses Elementes nun ist es, daß die bloße Unterschiedenheit auf dem Boden bestimmter Umstände von individuellen Charakteren aufgegriffen, sich zur Kollision und Entgegensetzung verkehren muß. So erst wird es wahrhaft Ernst mit jenen Göttern, welche nur im Olymp und Himmel der Phantasie und religiösen Vorstellung in ihrer friedlichen Ruhe und Einheit verharren, wenn sie jetzt aber wirklich, als bestimmtes Pathos einer menschlichen Individualität zum Leben kommen, aller Berechtigung unerachtet, durch ihre bestimmte Besonderheit und deren Gegensatz gegen Anderes, in Schuld und Unrecht führen." „Hiermit ist jedoch ein unvermittelter Widerspruch gesetzt, der zwar durch Realität heraustreten, sich jedoch in ihr nicht als das Substantielle und wahrhaft Wirkliche erhalten kann, sondern sein eigentliches Recht nur darin findet, daß er sich als Widerspruch aufhebt. So berechtigt als der tragische Zweck und Charakter, so notwendig als die tragische Kollision, ist daher drittens auch die tragische Lösung dieses Zwiespalts. Durch sie nämlich übt die ewige Gerechtigkeit sich an den Zwecken und Individuen in der Weise aus, daß sie die sittliche Substanz und Einheit mit dem Untergang der ihre Ruhe störenden Individualität herstellt. Denn obschon sich die Charaktere das in sich selbst Gültige vorsetzen, so können sie es tragisch dennoch nur in verletzender Einseitigkeit widersprechend ausführen. Das wahrhaft Substantielle, das zur Wirklichkeit zu gelangen hat, ist aber nicht der Kampf der Besonderheiten, wie sehr derselbe auch im Begriff der weltlichen Realität und des menschlichen Handelns seinen wesentlichen Grund findet, sondern die Versöhnung, in welcher sich die bestimmten Zwecke und Individuen ohne Verletzung und Gegensatz einklangsvoll betätigen. Was daher in dem tragischen 82

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Ausgang aufgehoben wird, ist nur die einseitige Besonderheit, welche sich dieser Harmonie nicht zu fügen vermocht hatte, und nun in der Tragik ihres Handelns, kann sie von sich selbst und ihrem Vorhaben nicht ablassen, sich ihrer ganzen Totalität nach dem Untergange preisgegeben, oder sich wenigstens genötigt sieht, auf die Durchführung ihres Zweckes, wenn sie es vermag, zu resignieren." Im folgenden sucht dann Hegel zu zeigen, daß Aristoteles' Theorie von Furcht und Mitleid aufs Beste zu seiner Erklärung des Wesens der Tragödie passe, bzw. daß, wenn man Aristoteles hierin richtig verstehen wolle, man ihn eben im Lichte von und im Einklang mit seiner, Hegels, Theorie der Tragödie interpretieren müsse. Unter Furcht und Mitleid also könne nicht Furcht vor und Mitleid mit gewöhnlichen, wenn auch noch so großen Leiden verstanden werden. Denn53 „was der Mensch wahrhaft zu fürchten hat, ist nicht die äußere Gewalt und deren Unterdrückung, sondern die sittliche Macht, die eine Bestimmung seiner eigenen freien Vernunft und zugleich das Ewige und Unverletzliche ist, das er, wenn er sich dagegen kehrt, gegen sich selber aufruft." Und „nur ein wahrhafter Gehalt schlägt in die edle Menschenbrust ein, und erschüttert sie in ihren Tiefen. Daher dürfen wir denn auch das Interesse für den tragischen Ausgang nicht mit der einfältigen Befriedigung verwechseln, daß eine traurige Geschichte, ein Unglück als Unglück, unsere Teilnahme in Anspruch nehmen soll. Dergleichen Kläglichkeiten können dem Menschen ohne sein Dazutun und Schuld durch die bloßen Konjekturen der äußeren Zufälligkeiten und relativen Umstände, durch Krankheit, Verlust des Vermögens, Tod u.s.f. zustoßen, und das eigentliche Interesse, welches uns dabei ergreifen sollte, ist nur der Eifer, hinzueilen und zu helfen. Vermag man dies nicht, so sind die Gemälde des Jammers und Elends nur zerreißend. Ein wahrhaft tragisches Leiden hingegen wird über die handelnden Individuen nur als Folge ihrer eigenen ebenso berechtigten als durch ihre Kollision schuldvollen Tat verhängt, für die sie auch mit ihrem ganzen Selbst einzustehen haben." Vielleicht ist es zweckmäßig, noch einen weiteren Satz zu zitieren, in dem Hegels Begriff der tragischen Schuld besonders deutlich gemacht wird54: „Das ursprüngliche Tragische besteht nun darin, daß innerhalb solcher Kollision beide Seiten des Gegensatzes für sich genommen Berechtigung haben, während sie andererseits dennoch den wahren positi83

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ven Gehalt ihres Zweckes und Charakters nur als Negation und Verletzung der anderen, gleich berechtigten Macht durchzubringen im Stande sind, und deshalb in ihrer Sittlichkeit und durch dieselbe ebensosehr in Schuld geraten." Es ist ohne weiteres deutlich, daß sich Hegels Begriff der tragischen Schuld weit von dem der französischen Klassiker und ihrer Vorgänger entfernt. Aber zum mindesten ebenso weit entfernt er sich von dem Schuldbegriff der damals modernen Schicksalstragödie, deren wichtigste Exemplare von der Braut von Messina bis zu Zacharias Werners 24. Februar und Müllners Schuld zur Zeit der Abfassung der Vorlesungen über Aestbetik schon erschienen waren. Das hat Hegel, ohne die gemeinten Autoren zu nennen, an einer späteren Stelle der Vorlesungen auch deutlich ausgesprochen55: „Nichtsnutzige oder auch sogenannte edle Verbrecher mit ihrem leeren Geschwatze vom Schicksal finden wir in der antiken Tragödie ebensowenig, als der Entschluß und die Tat auf der bloßen Subjektivität des Interesses und Charakters, auf Herrschsucht, Verliebtheit, Ehre, oder sonst auf Leidenschaften beruht, deren Recht allein in der besonderen Neigung und Persönlichkeit wurzeln kann." Interessant ist aber vor allem auch, was unter diesen Voraussetzungen bei Hegel aus den Vorstellungen von der poetischen Gerechtigkeit und der Rolle des Schicksals in der Tragödie wird. Gegen die traditionelle Vorstellung von der poetischen Gerechtigkeit wendet sich Hegel mit scharfen Worten56: „Wir dürfen deshalb eine solche Art des Abschlusses (sc. wie er in der antiken Tragödie üblich ist) auch nicht als einen bloßen moralischen Ausgang auffassen, demgemäß das Böse bestraft und die Tugend belohnt ist, d. h. wenn sich das Laster erbricht, setzt sich die Tugend zu Tisch." Ebenso unterscheidet sich Hegels Vorstellung von der Funktion des Schicksals in der Tragödie grundlegend nicht nur von derjenigen der Autoren von Schicksalstragödien im engeren Sinne, sondern auch von derjenigen, die Kleist unmittelbar in seinem Brief an Wilhelmine von Zenge und mittelbar in der Familie Schroffenstein zum Ausdruck gebracht hat. „Ebensowenig", schreibt HegeP7, „ist die Notwendigkeit des Ausgangs (sc. einer antiken Tragödie) ein blindes Schicksal, d. h. ein bloß unvernünftiges unverstandenes Fatum, das viele antik nennen, sondern die Vernünftigkeit des Schicksals, obschon sie hier noch nicht als selbstbewußte Vorsehung erscheint, deren göttlicher Endzweck 84

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mit der Welt und den Individuen für sich und andere heraustritt, liegt eben darin, daß die höchste Gewalt, die über den einzelnen Göttern und Menschen steht, es nicht dulden kann, daß die einseitig sich verselbständigenden und dadurch die Grenze ihrer Befugnis überschreitenden Mächte, sowie die Konflikte, welche hieraus folgen, Bestand erhalten. Das Fatum weist die Individualität in ihre Schranken zurück und zertrümmert sie, wenn sie sich überhoben hat. Ein unvernünftiger Zwang aber, eine Schuldlosigkeit des Leidens, müßte statt sittlicher Beruhigung nur Indignation in der Seele des Zuschauers hervorbringen." In gewisser Weise kann man sagen, daß in diesen Ausführungen Hegels das Schicksal an die Stelle der poetischen Gerechtigkeit, gegen die Hegel sich so schroff ausgesprochen hatte, tritt. Freilich unterscheidet sich diese Art der poetischen Gerechtigkeit sehr von derjenigen der traditionellen Auffassung, wie ja auch die Schuld, auf welche sie sich bezieht, eine andersartige ist. Sie besteht nicht mehr in einem einfachen Belohntwerden der Guten und des Guten und Bestraftwerden des Schlechten, sondern in einer Wiederherstellung der Harmonie der Weltordnung, die durch ein Handeln, das in sich berechtigt und in diesem Sinne gut, aber einseitig war, gestört worden ist. Zweifellos hat nun Hegel sowohl mit seiner Ablehnung der Auffassung des Sinnes der antiken Tragödie durch die französischen Klassiker wie mit seiner Ablehnung der damals modernen Schicksalstragödie recht; und es ist bemerkenswert, wie völlig frei er sich von diesem letzeren Irrtum gehalten hat, obwohl in der Zeit der Entstehung der Vorlesungen über Aesthetik die Schicksalstragödien mit größtem Erfolg über die deutschen Bühnen gingen und obwohl der Irrtum von Schiller ausgegangen war, für den Hegel, wenn er ihn auch öfter im Einzelnen kritisiert, eine große Bewunderung hatte, und von dem er auch in seinem Denken stark beeinflußt worden ist. Der Tragödientheorie des Aristoteles dagegen steht Hegels Auffassung zumindesten näher als die seiner Vorgänger seit dem 17. Jahrhundert mit der allerdings sehr bedeutsamen Ausnahme Lessings. Aber bei alledem ist die Abweichung von Aristoteles doch immer noch sehr groß. Wenn Aristoteles gesagt hatte, der Held einer Tragödie müsse unverdient leiden und eher besser als schlechter sein ,als wir', aber doch möglichst infolge einer großen leiden, so kann diese scheinbare 85

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Paradoxie durch Hegels Theorie ihre glücklichste Erklärung und Auflösung zu finden scheinen, wenn nach dieser Theorie der Held in seinem Handeln völlig berechtigt ist und also, insofern er sich durch dieses Handeln das schwerste Leiden oder gar die Vernichtung zuzieht, unverdient leidet, andererseits aber seine oder, wie Hegel sagt, Schuld eben darin besteht, daß sein Handeln ein einseitiges ist, wobei jedoch das ,Unverdientseinc des Leidens wiederum trotz der Einseitigkeit und Schuld gewahrt bleibt, weil in der konkreten Wirklichkeit die Kollision der Einseitigkeiten unvermeidlich ist. Man könnte also in dieser Hinsicht wohl sagen, daß Hegel zwar von Aristoteles insofern abweicht, als er Dinge sagt, von denen bei Aristoteles gar nichts zu finden ist, daß aber das, was er neu hinzugefügt hat, den Beobachtungen des Aristoteles nicht widerspricht, sondern sie vielmehr ergänzt und die tieferen Gründe für das, was Arsitoteles beobachtet und festgestellt hatte, anzugeben versucht. Auf der anderen Seite bleibt bei dem Versuch, die beiden Theorien auf einander abzubilden und sie dann mit dem Befund an den erhaltenen griechischen Tragödien zur Deckung zu bringen, doch ein Rest. Der aristotelische Begriff der , der freilich, wie sich gezeigt hat, in sich selbst und in der Anwendung auf die erhaltenen Tragödien große Schwierigkeiten bietet, ist mit dem Hegeischen Begriff der tragischen Schuld kaum völlig identifizierbar. Eine Versöhnung und Wiederherstellung der Harmonie der Welt, wie sie Hegel fordert, findet in der antiken Tragödie tatsächlich vielfach statt, vor allem bei Aeschylus, aber in gewisser Weise auch bei Sophokles. Bei Euripides freilich ist die durdi den deus ex machina am Ende herbeigeführte Lösung und , Versöhnung' oft nur eine scheinbare und besteht das Tragische der Situation gerade darin, daß das Leben ohne wirkliche Lösung und Versöhnung weiter geht. Daß solche Lösungen und Versöhnungen auch bei den älteren Tragikern, bei denen sie wirkliche Lösungen sind, oft von Göttern herbeigeführt werden, berührt Hegels Theorie nicht, da, wie er selbst bemerkt, die Göttern dann eben an Stelle dessen stehen, was er Schicksal nennt. Aber bei alledem bleibt, daß in einigen Tragödien — und gerade in der größten von allen, dem König Oedipus — nicht nur Hegels ,vernünftiges Schicksal', sondern auch der unvernünftige Zufall, von dem Hegel gar nichts wissen will, eine entscheidende Rolle spielt. 86

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Endlich ist noch Hegels Meinung über den Zusammenhang zwischen tragischer Schuld und den Charakteren der Tragödie für seine Gesamtauffassung von der Tragödie von Bedeutung. Die wichtigste Stelle darüber ist wohl die Folgende58): „Die tragischen Heroen sind ebenso schuldig wie unschuldig. Gilt die Vorstellung, der Mensch sei schuldig nur in dem Falle, daß ihm eine Wahl offen stand, und er sich mit Willkür zu dem entschloß, was er ausführt, so sind die alten plastischen Figuren unschuldig; sie handeln aus diesem Charakter, diesem Pathos, weil sie gerade dieser Charakter, dieses Pathos sind; da ist keine Unentschlossenheit und keine Wahl. Das eben ist die Stärke der großen Charaktere, daß sie nicht wählen, sondern durch und durch von Hause aus das sind, was sie wollen und vollbringen. Sie sind das, was sie sind, und ewig dies, und das ist ihre Größe. Denn die Schwäche im Handeln besteht nur in der Trennung des Subjekts als solchen und seines Inhalts, so daß Charakter, Willen und Zweck nicht absolut in eins gewachsen erscheinen, und das Individuum sich, indem ihm kein fester Zweck als Substanz seiner eigenen Individualität, als Pathos und Macht seines ganzen Wollens, in der Seele lebt, unentschlossen noch von diesem zu jenem wenden und sich nach Willkür entscheiden kann. Zugleich aber führt ihr kollisionsvolles Pathos sie zu verletzenden, schuldvollen Taten. An diesen nun wollen sie nicht etwa unschuldig sein. Im Gegenteil; was sie getan haben, wirklich getan zu haben, ist ihr Ruhm. Solch einem Helden könnte man nichts Schlimmeres nachsagen, als daß er unschuldig gehandelt habe. Es ist die Ehre der großen Charaktere, schuldig zu sein. Sie wollen nicht zum Mitleiden, zur Rührung bewegen. Denn nicht das Substantielle, sondern die subjektive Vertiefung der Persönlichkeit, das subjektive Leiden rührt. Ihr fester, starker Charakter aber ist Eins mit seinem wesentlichen Pathos, und dieser unscheinbare Einklang flößt Bewunderung ein, nicht Rührung, zu der auch Euripides erst übergegangen ist." Dieser Passus gibt zu verschiedenen Fragen Anlaß. Soll Euripides, den Aristoteles als den der griechischen Tragödiendichter bezeichnet hatte, von der wahren griechischen oder von der wahren Tragödie überhaupt ausgenommen werden, wie dies einige Jahre früher schon durch A. W. Schlegel geschehen war? Oder richtet was Hegel sagt sich nur gegen eine gewisse Tendenz, die bei Euripides zum ersten Mal

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auftritt, aber noch nicht sein ganzes Schaffen bestimmt? Aber wenn dies fremde Element in der Rührung gesehen wird und diese Rührung auf die ,subjektive Vertiefung der Persönlichkeit' das ,subjektive Leiden' zurückgeführt wird, ist nicht bei Sophokles im Aias, im König Oedipus, in der Elektra in gewisser Weise das Äußerste an subjektiver Vertiefung der Persönlichkeit, an Darstellung des subjektiven Leidens erreicht59)? Freilich ist es ganz richtig, daß das gewöhnliche zudringliche Mitleid, die in Tränen zerfließende Rührung, an keine dieser Gestalten hinanreicht, daß sie der Art ihres Leidens ganz inadaequat ist. Wenn Hegel dies sagen wollte, hat er zweifellos recht. Aber gilt dasselbe nicht auch für die Medea und andere Gestalten des Euripides? Endlich: wie verhält sich das, was Hegel hier sagt, zu der früher gemachten Beobachtung00), daß in der antiken Tragödie im Gegensatz zur Tragödie Shakespeares der tragische Konflikt zu den Personen der Tragödie von außen zu kommen scheint? Offenbar bedarf es noch einer präzisierenden Interpretation dessen, was Hegel mit den zitierten Beiträgen zur Theorie der Tragödie gemeint hat, ehe der Versuch gemacht werden kann, zu zeigen, wie weit seine Theorie auf die antike Tragödie zutrifft oder wie weit sie fremde Elemente in die Erklärung hineingetragen hat. Zu diesem Zweck ist es vielleicht notwendig und jedenfalls nützlich zuzusehen, wie Hegels Theorie der Tragödie entstanden ist. In seinem ersten großen systematischen Werk, der Phaenomenologie des Geistes, die im Jahre 1807 veröffentlicht wurde, findet man einen kurzen Abschnitt über die Tragödie als Teil eines Kapitels über ,das geistige Kunstwerk', das selbst wieder eine Unterabteilung des Kapitels über die Kunstreligion darstellt, das zu der Abhandlung über die Religion gehört, die den siebten Abschnitt des gesamten Werkes bildet. In diesem Abschnitt über die Tragödie findet man schon im wesentlichen dieselben Grundgedanken wie in den Vorlesungen über Ästhetik, nur in sehr viel gedrängterer Form und nicht selten dunklerer Ausdrucksweise. Daß nun das Kapitel über die Tragödie in diesem frühen systematischen Werk zu dem Abschnitt über die Religion gehört, zeigt schon an, daß Hegels Theorie der Tragödie weder aus historischen Betrachtungen über den Ursprung und die Entwicklung dieser Dichtung noch auch aus Betrachtungen zur Ästhetik hervorgegangen ist, sondern aus dem Nachdenken über das Wesen und die Entwicklung der Religion, bzw. der Reli-

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gionen. Innerhalb der Phaenomenologie des Geistes findet man eine ausführlichere und eindringendere Erörterung der Begriffe und Zusammenhänge, die in den Vorlesungen über Aesthetik die Theorie der Tragödie bestimmen, nicht in dem Kapitel über die Tragödie, sondern in dem dem Abschnitt über die Religion vorangehenden Abschnitt über den Geist, wo von der ,sittlichen Welt' gehandelt wird. Sieht man aber genauer zu, so zeigt sich, daß dort wiederum die Lehre von den Gegensätzen des sittlichen Handelns, die in den Vorlesungen über Aesthetik bei der Behandlung der antiken Tragödie eine so große Rolle spielt, die Begriffe der Schuld, des Schicksals, und der Versöhnung am Beispiel einer antiken Tragödie, der Antigone, die Hegel an einer Stelle der Vorlesungen über Ästhetik91} eines „der allererhabensten, in jeder Rücksicht vortrefflichsten Kunstwerke aller Zeiten" nennt, verdeutlicht werden. Geht man noch weiter zurück, so findet man Ansätze zu den in der Phaenomenologie des Geistes entwickelten Theorien schon in historischtheologischen Fragmenten, die Hegel in den Jahren 1795 bis 1800 niedergeschrieben hat62); und die Vorliebe für Sophokles und speziell die Antigone geht schon auf Hegels Schulzeit zurück.63) Es ist nun im gegenwärtigen Zusammenhang gewiß nicht möglich Hegels Philosophie in ihrem Zusammenhang darzustellen, sie auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu untersuchen, oder gar auf die verschiedenen äußeren Anstöße und Einflüsse einzugehen, die zur Entstehung und Entwicklung von Hegels Philosophie beigetragen haben. Aber Einiges kann doch aus dem eben gegebenen kurzen Überblick entnommen werden, das für die hier zu erörternden Fragen nicht ganz ohne Bedeutung ist. Zunächst zeigt sich ein fundamentaler Unterschied nicht nur des Inhalts, sondern der Art der reflektierenden Analyse der antiken Tragödie zwischen Hegel und Aristoteles. Wenn Aristoteles in der Poetik sagt84), daß die Tragödie, nachdem sie viele Veränderungen durchgemacht hatte, aufhörte sich zu verändern, da sie ihre ,Natur', d. h. ihr eigentliches Wesen erreicht hatte, so ist das eine spezifische Anwendung der aristotelischen Entwicklungstheorie auf den speziellen Gegenstand. In seiner Erörterung des Unterschiedes zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung65) (wobei er unter der Bezeichnung Dichtung vor allem das Drama und ganz besonders die Tragödie meint), verwendet Aristoteles die Begriffe und " , die er in dieser speziellen 89

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Form selbst geprägt hat und die in seiner Philosophie überall eine große Rolle spielen. Auch der in der Poetik überhaupt grundlegende Begriff der hat zu Aristoteles' allgemeiner Philosophie eine enge Beziehung, wenn er auch sonst bei Aristoteles nicht allzuoft vorkommt. Aber im Ganzen spielen die Grundbegriffe von Aristoteles' Philosophie in der Poetik und speziell in den Abschnitten über die Tragödie keine besonders große Rolle. Noch weniger kann man sagen, daß die Bekanntschaft mit der attischen Tragödie auf Aristoteles' Gesamtphilosophie irgend einen tieferen Einfluß gehabt hätte. Auf der anderen Seite kann man wohl sagen, daß Sophokles' König Oedipus zwar auf Aristoteles offensichtlich einen ganz besonders starken Eindruck gemacht hat und daß er sich bei manchem, was er über die Tragödie im allgemeinen sagt, an dieser speziellen Tragödie überhaupt oder vor allem orientiert zu haben scheint. Aber im Ganzen ist doch auch offenbar, daß Aristoteles, als er die Poetik schrieb, das ganze ungeheure Material der Tragödiendichtung des fünften Jahrhunderts vor Augen hatte und seine Theorien davon abgezogen sind, wobei er dies Material sozusagen ganz unbefangen in die Hand nimmt, es von allen Seiten betrachtet und das Wesentliche daran, das allen Gemeinsame wie das Besondere, zu bestimmen sucht, ohne, wie schon gesagt, Vorstellungen aus seiner allgemeinen Philosophie hineinzutragen oder daraus Wesentliches für seine allgemeine Philosophie zu gewinnen zu suchen. Eben dies ist nun, wie gezeigt, bei Hegel ganz anders. Seine Bestimmung des Wesens der Tragödie ist ganz aus seiner allgemeinen Philosophie geschöpft, diese selbst aber in ihren hierfür relevanten Teilen aufs Stärkste nicht so sehr durch ein eingehendes Studium der Gesamtheit der erhaltenen griechischen Tragödien als durch einige Tragödien, die auf Hegel einen besonders starken Eindruck gemacht haben, beeinflußt. Offenbar ergibt sich daraus auf der einen Seite die Möglichkeit besonders tiefer Einsichten, auf der anderen Seite aber auch die Gefahr gewaltsamer Verallgemeinerungen in der Bestimmung des besonderen Gegenstandes. Die Spaltung des sittlichen Wesens in zwei Gesetze, die Kollision der Pflichten, die sich daraus ergibt, die Schuld, die daraus entsteht, daß im Handeln eines der beiden Gesetze zur alleinigen Richtschnur gemacht wird, und die doch, wo gehandelt wird, unvermeidlich ist, und die Ver90

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söhnung durch den Untergang des Handelnden oder seine Zurückweisung in seine Schranken, alle diese Grundbegriffe der Hegeischen Tragödieninterpretation werden zunächst und vor allem an der Antigone illustriert66). Voraussetzung des Geschehens im Drama sei, daß das Gemeinwesen sich gegen den Angriff des einen Bruders, Polyneikes, verteidigt und erhalten habe, während der andere Bruder, Eteokles, in seiner Verteidigung gefallen sei. So sei es natürlich, daß die Regierung den einen Bruder ehre, den anderen aber „um seine letzte Ehre bestrafe": „wer an dem höchsten Geist des Bewußtseins, der Gemeine, sich zu vergreifen kam, muß der Ehre seines ganzen vollendeten Wesens, der Ehre des abgeschiedenen Geistes, beraubt werden." „Aber", so fährt nun Hegel fort, „wenn so das Allgemeine ... über das sich empörende Prinzip der Einzelheit, die Familie, zwar den Sieg davonträgt, so hat es sich dadurch mit dem göttlichen Gesetze, der seiner selbst bewußte Geist sich mit dem bewußtlosen nur im Kampf eingelassen; denn dieser ist die andere wesentliche und darum von jener unzerstörte und nur beleidigte Macht. Er hat aber gegen das gewalthabende, am Tage liegende Gesetz seine Hilfe zur wirklichen Ausführung nur an dem blutlosen Schatten. Als das Gesetz der Schwäche und der Dunkelheit unterliegt er daher zunächst dem Gesetze des Tages und der Kraft; denn jene Gewalt gilt unten, nicht auf der Erden. Allein das Wirkliche, das dem Innerlichen seine Ehre und Macht genommen, hat damit sein Wesen aufgezehrt. Der offenbare Geist hat die Wurzel seiner Kraft in der Unterwelt; die ihrer selbst sichere und sich versichernde Gewißheit des Volks hat die Wahrheit ihres Alle in Eins bindenden Eides nur in der bewußtlosen und stummen Substanz Aller, in den Wassern der Vergessenheit. Hierdurch verwandelt sich die Vollbringung des offenbaren Geistes in das Gegenteil, und er erfährt, daß sein höchstes Recht das höchste Unrecht, sein Sieg vielmehr sein eigener Untergang ist. Der Tote, dessen Recht gekränkt ist, weiß darum für seine Rache Werkzeuge zu finden, welche von gleicher Wirklichkeit und Gewalt sind mit der Macht, die ihn verletzt ... Sie machen sich feindlich auf und zerstören das Gemeinwesen, das seine Kraft, die Pietät der Familie, entehrt und zerbrochen hat." Was nun hier, vor allem zuletzt, über den Gegensatz zwischen der rationalen und in diesem Sinne hellen Ordnung des Gemeinwesens und der unbewußten und in diesem Sinne dunklen Ordnung der Familie — 91

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wobei freilich dieser Begriff hier sehr viel weiter zu fassen ist als wir ihn heutzutage zu verstehen pflegen — ferner auch über die Verwurzelung dieser letzteren Ordnung im Bereich der Toten, d. h. in der Vergangenheit gesagt wird, ist sehr tief und richtig. Es ist darüber hinaus auch sehr aktuell. Wo in unserer Zeit in ungeheuren Ausmaßen der Versuch gemacht wird, das ganze menschliche Leben vom Staate, vom Gemeinwesen, her nach rationalen Prinzipien zu ordnen, hat dies nicht nur zu unzähligen individuellen Tragödien geführt, sondern wird, wenn die unbewußten und unterirdischen Kräfte sich gesammelt haben und Rache zu nehmen beginnen, noch zu gewaltigen und umwälzenden Kollisionen Anlaß geben. Wenn aber das Wesen der Tragödie überhaupt in als notwendig betrachteten Konflikten dieser Art gefunden werden soll, führt eine genauere Betrachtung des Gegenstandes doch auf schwer wiegende Bedenken. Selbst bei der Antigone melden sich Zweifel an. Hegel stellt es so dar, als ob Antigone und Kreon in der Einseitigkeit, mit denen die eine das Prinzip der ^amilie' und der Ehrung der Toten, der andere das Prinzip des Gemeinwesens vertreten, einander völlig gleich stünden, so daß auch beide gleich viel Recht haben und gleich schuldig werden. Aber so kann es von Sophokles doch kaum gemeint gewesen sein. Zwar daß Kreon zu Anfang von der Richtigkeit und moralischen Berechtigung seines Vorgehens ebenso völlig überzeugt ist wie Antigone von der Richtigkeit und Notwendigkeit des ihren, ist ohne weiteres zuzugeben, und es verrät wenig Verständnis, nach Art moralischer Interpreten mit hochmütigen Werturteilen über ihn herzufallen. Aber objektiv gesehen kann kaum ein Zweifel daran bestehen, daß er sich in einem Irrtum befindet, der in diesem Falle überdies auf Mangel an Überlegung und Selbstkontrolle zurückzuführen ist. Es ist für das künftige Heil des Gemeinwesens keineswegs notwendig, ja nicht einmal zuträglich, nachdem der Angriff abgeschlagen ist, noch den Toten zu schänden; ja es kann aus eben den Gründen, die Hegel im zweiten Teil seiner Ausführungen so lichtvoll angegeben hat, diesem nur abträglich sein. Das hätte sich auch ohne das Erscheinen von Sehern und göttliche Wunderstrafen voraussehen lassen. Ganz anders steht es mit Antigone. Was sie tut, dient nicht nur dem Toten und der Sitte der Familie, sondern, obwohl sie sich dessen nicht 92

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bewußt ist und obwohl sie, nach außen hin gesehen, gegen den Befehl des Staatsoberhauptes handelt, auch dem Gemeinwesen, ja sogar, wenn er es verstehen wollte, Kreon selbst wie ihm sein Sohn Haimon in einer unvergleichlichen und meistens mißverstandenen Szene vergeblich klar zu machen versucht67). Um diesen Unterschied zwischen Antigone und Kreon ganz klar zu sehen, braucht man sich nur die Frage vorzulegen, ob Antigone und ob Kreon besser wären, wenn sie anders handelten, als sie es tatsächlich tun. Die Antwort ist bei Antigone ein klares nein, bei Kreon ein ebenso klares ja. Daher verhalten sie sich auch ganz verschieden, als über jeden von beiden seine persönliche Katastrophe hereinbricht. Angesichts der Verständnislosigkeit des Chores, der sie in einer Weise preist, in der sie nicht gepriesen werden will, beginnt freilich Antigone zu zweifeln, ob selbst bei den Göttern als Recht anerkannt werden wird, was ihr doch göttliches Recht ist. Das ist ihre tragische Verlassenheit und Einsamkeit. Aber in ihrem innersten Herzen kann sie doch nicht zweifelhaft werden, ob sie recht gehandelt hat. Es ist undenkbar, daß sie wünschen könnte, rückgängig zu machen, was sie getan hat. Dagegen ist Kreon durch seine Katastrophe ganz vernichtet. Er möchte alles rückgängig machen, was er getan hat. Aber dies ist nicht mehr möglich. So läßt sich das Gleichgewicht der beiden Seiten des Gegensatzes nicht aufrecht erhalten. Viel eher kann man in der Orestie ein Gleichgewicht der beiden Seiten finden, die denn auch in den Vorlesungen über Aestbetik nächst der Antigone in der Analyse und Theorie der antiken Tragödie die größte Rolle spielt. Hier wird ja in der Auseinandersetzung zwischen Apollon und den Erinnyen und dem Freispruch des Orest mit Stimmengleichheit die volle Berechtigung beider Seiten, wenn auch Apollon schließlich mit Hilfe Athenas zu siegen scheint, ausdrücklich betont; und auch die Versöhnung selbst entspricht wenigstens weitgehend den Forderungen Hegels, wenn auch nicht unmittelbar der Täter in seine Schranken gewiesen wird, sondern durch eine Gottheit Einrichtungen geschaffen werden, bei deren Bestehen die Kollision, die den Inhalt des tragischen Geschehens gebildet hat, nicht mehr möglich ist. Aber wenn auch in gewisser Weise die Notwendigkeit, die unerträglichen durch die Usurpation des Thrones Agamemnons entstandenen Zustände zu beseitigen und eine legitime Ordnung des Gemeinwesens wieder herzustellen, das 93

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objektiv zwingendste Motiv zu Orests Muttermord ist, so stehen sich doch auch hier nicht einfach das Recht des Gemeinwesens und das Recht der Familie und der Toten gegenüber, wie sich schon darin ausdrückt, daß im Verlauf der Trilogie auf beiden Seiten sozusagen ein Toter kämpft. Noch schwieriger ist die vielleicht größte Tragödie des Altertums, der König Oedipus des Sophokles, mit Hegels Schema in Einklang zu bringen. Offenbar hat dies Hegel selbst gefühlt und nach einem Ausweg gesucht. In der Phaenomenologie des Geistes schreibt er über den König Oedipus66): „Dem Handeln liegt nur die eine Seite des Entschlusses überhaupt an dem Tage; er ist aber an sich das Negative, das ein ihm Anderes, ein ihm, der das Wissen ist, Fremdes gegenüberstellt. Die Wirklichkeit hält aber die andere, dem Wissen fremde Seite in sich verborgen und zeigt sich dem Bewußtsein nicht, wie sie an und für sich ist, — dem Sohn nicht den Vater in seinem Beleidiger, den er erschlägt, — nicht die Mutter in der Königin, die er zum Weibe nimmt. Dem sittlichen Selbstbewußtsein stellt auf diese Weise eine lichtscheue Macht nach, welche erst, wenn die Tat geschehen, hervorbricht und es bei ihr ergreift; denn die vollbrachte Tat ist der aufgehobene Gegensatz des wissenden Selbst und der ihm gegenüberstehenden Wirklichkeit. Der Handelnde kann das Verbrechen und seine Schuld nicht verleugnen; — die Tat ist dieses, das Unbewegte zu bewegen und das nur erst in der Möglichkeit Verschlossene hervorzubringen und hiermit das Unbewußte dem Bewußtsein, das Nichtseiende dem Sein zu verknüpfen. In dieser Wahrheit tritt also die Tat an die Sonne; — als ein Solches, worin ein Bewußtes einem Unbewußten, das Eigene einem Fremden verbunden ist, als das entzweite Wesen, dessen andere Seite das Bewußtsein, und auch als das Seinige, erfährt, aber als die von ihm verletzte und feindlich erregte Macht." Schon daß das, was hier über den Oedipus gesagt wird, sehr viel weniger klar ist als das über die Antigone Gesagte, ist kaum ein Zufall. Aber auch die Dunkelheit der Formulierung kann letzterdings nicht verschleiern, daß hier der Versuch gemacht wird, ganz heterogene Dinge unter einen Begriff zu bringen. Wenn, wie Hegel an vielen Stellen ausgeführt hat, die tragische Schuld darin besteht, daß der Handelnde nur die eine Seite des sittlichen Gesetzes sieht und sich seiner Einseitig94

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keit nicht bewußt ist, so kann dies doch seinem eigentlichen Sinn nach nicht bedeuten, daß er überhaupt nicht weiß, was er tut, wie denn auch Orest sehr wohl weiß, daß er seine Mutter tötet und was das bedeutet, und Antigone weiß, daß sie das Gebot des Herrschers übertritt. Oedipus dagegen weiß gar nicht, was er tut, wenn er seinen Vater tötet und seine Mutter heiratet. Er vertritt auch, wenn er seinen Vater tötet, keinerlei sittliches Prinzip wie Orest oder Antigone, sondern handelt nur in fast reflexartiger vermeintlicher Notwehr, von der er allerdings zurückgehalten würde, wenn er wüßte, gegen wen er sich wehrt. Das ist etwas völlig anderes als der Fall des Orest oder der Antigone. Im Grunde stellt Hegel selbst dies auch fest, wenn er kurz nach der Erörterung des Oedipus sagt: „Aber das sittliche Bewußtsein ist vollständiger, seine Schuld reiner, wenn es das Gesetz und die Macht vorher kennt, der es gegenübertritt, sie für Gewalt und Unrecht, für eine sittliche Zufälligkeit nimmt und wissentlich, wie Antigone, das Verbrechen begeht." Freilich wird hier der Versuch gemacht, den Unterschied zu einem bloß gradweisen zu machen. Aber es ist offensichtlich, daß er ein absoluter und qualitativer ist. In den Vorlesungen über Ästhetik**) wird denn auch in etwas verklausulierter Weise zugegeben, daß sich der König Oedipus Hegels Schema im Grunde nicht fügt: „Formeller ist noch eine zweite Hauptkollision, welche die griechischen Tragiker besonders in dem Schicksal des Oedipus darzustellen liebten, wovon uns Sophokles das vollendetste Beispiel in seinem Oedipus Rex und Oedipus auf Kolonos zurückgelassen hat. Hier handelt es sich um die Berechtigung dessen, was der Mensch mit selbstbewußtem Wollen vollbringt, demgegenüber, was er unbewußt und willenlos nach der Bestimmung der Götter wirklich getan hat. Oedipus hat den Vater erschlagen, die Mutter geheiratet, in blutschänderischem Ehebett Kinder erzeugt, und dennoch ist er, ohne es zu wissen und zu wollen, in diese ärgsten Frevel verwickelt worden. Das Recht unseres heutigen tieferen (!) Bewußtseins würde darin bestehen, diese Verbrechen, da sie weder im eigenen Wissen noch im eigenen Wollen gelegen haben, auch nicht als Taten des eigenen Selbst anzuerkennen; der plastische Grieche aber steht ein für das, was er als Individuum vollbracht hat, und zerscheidet sich nicht in die formelle Subjektivität des Selbstbewußtseins, und in das, was objektive Sache ist." 95

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Hier wird also ausdrücklich gesagt, daß die Behandlung der des Oedipus als tragisch, also nach Hegels Meinung als tragische Schuld, aus dem dem unsrigen gegenüber weniger tiefen Bewußtsein der Griechen hervorgegangen ist. Aber wie die in Anmerkung 14 erzählte Geschichte von dem Offizier beweist, tritt nicht nur ,der plastische Grieche' für das ein, was er als Individuum vollbracht hat, sondern auch der moderne natürlich empfindende Mensch, und tut er dies ganz unwillkürlich und ohne Reflexion. Es ist daher doch vielleicht der Wirklichkeit entsprechender, anzuerkennen, daß es zur condition humaine gehört, daß moralisches Leiden ohne subjektiv zurechenbare Schuld selbst der von Hegel als tragisch bezeichneten Art, entstehen kann, und daß diese Art des Leidens ein wahrer Gegenstand der Tragödie ist. Hier zeigt sich aber überhaupt eine ganz wesentliche Lücke der Hegelschen Theorie. Wo von der Schuld und dem Untergang der Helden der Tragödie die Rede ist, ist wohl auch des öfteren von ihrem ,Unglückc und ihrem Leiden die Rede. Aber im Gegensatz zu der neueren, vor allem philologischen Interpretation, wo diese Seite vielfach überbetont wird, findet sie bei Hegel nur ganz geringe Beachtung. Besonders stark kommt dies auch in jenem schon erwähnten Abschnitt zum Ausdruck, in dem Hegel von dem Stolz der tragischen Helden auf ihre Schuld spricht. Sofern dies nur besagen soll, daß die Helden der griechischen Tragödie kein demütiges Sündenbewußtsein70) haben, ist es natürlich richtig. Aber sonst gibt es in der griechischen Tragödie eine unendliche Variation des Verhältnisses des Täters zu seiner Tat. Am ehesten kann man in der älteren Tragödie von Antigone sagen, daß sie auf ihre Tat stolz ist. Aber wenn ihr tragisches moralisches Leiden darin besteht, daß sie in ihrer inneren Vereinsamung daran zweifelt, ob selbst die Götter ihre Tat anerkennen, so ist, was ihr an Stolz bleibt, doch eben dadurch bestimmt, daß sie im Innersten überzeugt bleibt, daß sie recht gehandelt hat, auch wenn niemand sonst es sieht. Von dem Orestes der Orestie kann man kaum sagen, daß er auf seine Tat stolz ist, wenn er sie auch natürlich nicht im christlichen Sinne bereuen kann, da er ja nicht anders hat handeln können. Auch Oedipus, der unschuldigste von allen, ist nicht stolz auf seine Tat oder auf seine Schuld. Erst nachdem er bis aufs Äußerste unter dem Schrecklichen seiner ganz ungewollten Tat gelitten hat und nun sein Sohn glaubt, ihn im Elend noch zum Werkzeug seiner 96

Tragische Schuld

selbstsüchtigen Pläne machen zu können, bäumt sein Stolz sich dagegen auf. Nun wird er auch als der von den Göttern wie ein vom Blitz getroffener Baum Gezeichnete zum Heros erhöht. Aber das ist doch etwas sehr Verschiedenes von Stolz auf seine Schuld. So findet man bei den beiden älteren Tragikern eine große Anzahl von Variationen, aber doch keinen eigentlichen Stolz auf die Tat als Schuld, oder doch nur in dem Sinne, daß, wo die Tat, wie bei Orest und Oedipus, als etwas moralisch Schreckliches empfunden wird, der Täter weder diese Schrecklichkeit zu leugnen oder sich ihr zu entziehen versucht noch die Tat jbereuen' kann, da er sie ja nicht vermeiden konnte. Erst von der Medea des Euripides kann man sagen, daß sie auf ihre Tat im vollen Bewußtsein ihrer Schrecklichkeit und in diesem Falle auch Schuldhaftigkeit stolz ist. Aber gerade von Euripides sagt Hegel, daß er das ,subjektive Leiden' und damit die dem Stolz der tragischen Helden der älteren Tragiker inadaequate ,Rührung' eingeführt habe. Noch deutlicher und zugleich von einer ganz anderen Seite her läßt sich die Lücke in Hegels Theorie der Tragödie vielleicht an einem anderen Beispiel aufweisen. In seiner eingehenden Auseinandersetzung mit Sokrates in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie11} nennt Hegel das Schicksal des Sokrates „echt tragisch": „Ein Recht tritt gegen ein anderes auf, — nicht als ob nur das Eine Recht, das Andere Unrecht wäre, sondern beide sind Recht, entgegengesetzt, und Eins zerschlägt sich am Anderen." Dies entspricht völlig Hegels Theorie, daß das Tragische überall da auftrete, wo zwei gleich berechtigte, aber einseitige sittliche Prinzipien miteinander in Kollision geraten. Aber das Schicksal des Sokrates und sein Tod sind gar nicht tragisch. Es ist ein Mißverständnis, eine Sokratestragödie schreiben zu wollen, und die nicht ganz seltenen Versuche dieser Art sind alle mißlungen und sechsten Ranges. Es fehlt völlig das moralische Leiden, das viel mehr als alles andere zum Wesen der Tragödie gehört. Es fehlt sogar trotz des gewaltsamen Todes das ,Unglück*. Sokrates war, wie es Platon festgestellt hat, . Und wenn etwas die Größe des Sokrates bezeichnet, so eben dies, daß er auch und besonders in seinem gewaltsamen Tode gewesen ist. Sokrates ist nicht wie Antigone im Tode ganz allein und verlassen. Aber auch wenn er es wäre, bliebe er nicht nur wie diese im Innersten gewiß, daß er recht gehandelt hat, sondern er würde auch keinen 97

Tragische Schuld

Augenblick daran zweifeln, daß die Götter, wenn sie wirklich Götter sind — und sonst gehen sie ihn nichts an — auf seiner Seite stehen müssen. Angesichts dessen gibt es nur eine Alternative: entweder es gibt eine Möglichkeit, sich oberhalb des Tragischen anzusiedeln. So ist es zweifellos von Platon verstanden worden, der der Tragödie bekanntlich feindlich gesinnt war. Oder, wenn man das Schema Hegels auf Sokrates konsequent anwendet, kann man nur zu dem Schluß kommen, daß Sokrates' in Wirklichkeit die äußerste Verblendung ist: daß er auch in seiner ,Katastrophe', anders als die Helden der griechischen Tragödie, gar nichts von der Einseitigkeit des von ihm vertretenen Prinzips geahnt hat. So hat ja von einer anderen Seite her Tertullian Sokrates in die tiefste Hölle verbannt, weil er aus philosophischem Hochmut den Versuch gemacht habe, ohne Gottes Gnade gut sein und gut handeln zu wollen. Aber selbst von dieser Auffassung aus gibt es keine Sokratestragödie, sondern höchstens ein Drama als moralisches Exemplum, in dem die Hauptperson in ihrer völligen Verblendung am Ende symbolisch oder wirklich vom Teufel geholt wird. Zur Tragödie dagegen gehört — das ist eine einfache empirische Feststellung — das moralische Leiden. Hier hat Hegel ebenso wie im Falle des Oedipus die Unterschiede verschleiert, um sein Schema überall durchführen zu können. Die Hegelsche Theorie über das Wesen der Tragödie ist in Wirklichkeit eine metaphysische Theorie über gewisse Aspekte des menschlichen Lebens in seinem Verhältnis zum ,Geist', die teilweise unter dem Einfluß bestimmter antiker Tragödien entstanden ist. Aber in der Anwendung auf die Tragödie als innerhalb der menschlichen Geschichte empirisch vorgefundenes Phaenomen tut sie ihrem Gegenstand Gewalt an und läßt sich nicht mit ihm zur Deckung bringen. Trotzdem bleibt Hegel auch in dieser Hinsicht ein großes Verdienst: negativ die Befreiung von den beiden Irrtümern der Auffassung der Tragödie als eines Mittels der Warnung vor zügellosen Leidenschaften und der von Schiller zuerst vertretenen Vorstellung von der Rolle des Schicksals in der antiken Tragödie, positiv, was viel wichtiger ist, die Erkenntnis, daß die Tragödie überall mit Notwendigkeit aus der Begrenztheit des Menschen entsteht. Nur ist das von ihm gegebene Schema für diese Begrenztheit zu eng gefaßt. Richtig ist auch, daß viele,

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wenn auch nicht alle, tragischen Helden gerade dadurch in die tragische Situation geraten, daß sie, wie Aristoteles sagt, „besser sind als wir," so Antigone im Gegensatz zu Ismene, Elektra im Gegensatz zu Chrysothemis. Aber auch da, wo das Tragische sie nur zu fassen bekommt, weil sie „besser sind als wir" und unbeschadet dieses Besserseins ist es doch wiederum durch ihre menschliche Begrenztheit bedingt: bei Oedipus dadurch daß er, der klügste und weiseste, der das Rätsel der Sphinx gelöst hat, in tragischer Ironie das ganz Einfache nicht weiß, was sonst jeder weiß: wer sein Vater und seine Mutter sind. Bei Orest ist es die Grenze, die ihm dadurch gesetzt ist, daß er über die ihm in seiner Zeit gesetzten Bedingungen des rechtlichen und politischen Zustandes nicht hinaus kann, obwohl, wie die Lösung am Ende der Trilogie zeigt, Ordnungen möglich sind, in denen die spezifische tragische Situation, in die er gerät, nicht entstehen kann. Bei Antigone ist die Grenze, jenseits deren das Tragische aufhört, sogar ganz nahe und, unbeschadet der menschlichen Größe Antigones, dem Menschen an sich erreichbar: wenn Antigone die Festigkeit, Gelassenheit und Überlegenheit des Sokrates hätte, wäre sie trotz gleichem äußeren Geschehen nicht mehr eine tragische Figur. Bei den Charakteren des Euripides sind die Begrenzungen enger, was hier gleichbedeutend damit ist, daß sie meist nicht ,besser sind als wir*. Die Begrenzung besteht hier in der Regel in einer speziellen Blindheit gegenüber den moralischen Situationen, in denen die Handelnden stehen72). Trotzdem kommt, wie früher bemerkt73), auch bei Euripides die tragische Situation insofern von außen, als die Begrenzungen der Charaktere, wenn sie nicht in eine durch besondere Umstände hervorgerufene Situation gerieten, an sich nicht zu einem tragischen Schicksal zu führen brauchten. Erst bei Shakespeare ist die Begrenzung oder Determiniertheit der Charaktere derart, daß sie spezifische tragische Situationen unter normalen Bedingungen mit Notwendigkeit produziert. Doch ist diese Determiniertheit der Charaktere bei Shakespeare anderer Art als bei Euripides und so, daß sie nicht notwendig verhindert, daß diese »besser sind oder sein können als wir.' Niemals handelt es sich in der antiken und Shakespeareschen Tragödie um ein schuldhaftes Handeln aus einer Leidenschaft, der man durch bloßen Entschluß oder Willensanstrengung auch widerstehen kann, so daß seine dramatische Darstellung zur Warnung und zur Verhinderung

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Tragische Schuld

ähnlichen Geschehens in der Zukunft dienen kann. Immer jedoch bleibt die Möglichkeit, über die Grenzen, die bewirken, daß in bestimmten Situationen das Tragische entsteht, hinauszukommen, so sehr andererseits der tragische Held in den Grenzen seiner Situation oder seiner spezifischen Blindheit ohne Ausweg eingeschlossen zu sein scheint. So gehört es zum Wesen der Tragödie, auf der Grenze zwischen Freiheit und Notwendigkeit angesiedelt zu sein, auf der sich das menschliche Leben infolge seiner Begrenztheit bewegt. Beides hat Hegel gesehen und ausgesprochen, wenn er diese Erkenntnis auch in eine allzuenge Formel eingeschlossen hat. Aber in ihrer weiteren Form ist es eine Erkenntnis, die für die ganze Tragödie wenigstens der griechischen Tragiker und Shakespeares, aber entgegen deren theoretischer Überzeugung und wider ihre Absicht weitgehend sogar für Seneca und die französischen Klassiker gilt. Sie ist weder bei Aristoteles noch bei Lessing deutlich ausgesprochen, wenn sie in gewisser Weise auch in ihren Formulierungen implicite mit enthalten ist. 8.

Hegels Theorie der Tragödie hat in der folgenden Zeit auf die Auffassung der Tragödie bei Dichtern, Philosophen und Kritikern einen bedeutenden Einfluß ausgeübt, während die philologische Interpretation kaum irgendwie davon berührt worden ist. Von besonderem Interesse ist vielleicht Hebbels Verhältnis zu dieser Theorie, zumal da Hebbel ganz kurz nachdem er in Kopenhagen mit Hegels Vorlesungen über Ästhetik bekannt geworden war, sich in zwei Aufsätzen unter dem Titel ,Ein Wort über das Drama' und ,Mein Wort über das Drama"1*) etwas ausführlicher über seine Auffassung des Wesens der Tragödie ausgesprochen hat. Vor allem der Anfang in dem früheren der beiden Aufsätze ist ganz hegelisch: „Das Drama ist, wie es sich für die höchste Kunstform schicken will, auf gleiche Weise ans Seiende wie ans Werdende verwiesen: ans Seiende, indem es nicht müde werden darf, die ewige Wahrheit zu wiederholen, daß das Leben als Vereinzelung, die nicht Maß zu halten weiß, die Schuld nicht bloß zufällig erzeugt, sondern sie notwendig und wesentlich mit einschließt und bedingt; ans Werdende, indem es an immer neuen Stoffen, wie die wandelnde Zeit und ihr Niederschlag, 100

Tragische Schuld

die Geschichte, sie ihm entgegenbringt, darzutun hat, daß der Mensch, wie die Dinge um ihn her sich auch verändern mögen, seiner Natur und seinem Geschick nach ewig derselbe bleibt. Hierbei ist nicht zu übersehen, daß die dramatische Schuld nicht, wie die christliche Erbsünde, erst aus der Richtung des menschlichen Willens entspringt, sondern unmittelbar aus dem Willen selbst, aus der starren, eigenmächtigen Ausdehnung des Ichs hervorgeht, und daß es daher dramatisch völlig gleichgültig ist, ob der Held an einer vortrefflichen oder einer verwerflichen Bestrebung scheitert." In dem zweiten wesentlich umfangreicheren der beiden Aufsätze, der einige Monate später geschrieben wurde und in dem Hebbel sich mit Einwänden auseinandersetzt, die J. L. Heiberg im Kopenhagener Intelligenzblatt vorgebracht hatte, nachdem der erste Aufsatz ins Dänische übersetzt und in einer anderen dänischen Zeitung abgedruckt worden war, finden sich zwei interessante Abweichungen- Das erste ist in gewisser Weise ein Zugeständnis an Heiberg, der Hebbel das christliche Drama entgegengehalten und an Stelle des Schuldbegriffes den christlichen Begriff der Sünde gesetzt hatte. Dazu schreibt Hebbel nun: „Diese (sc. die tragische) Schuld ist eine uranfängliche, von dem Begriff des Menschen nicht zu trennende und kaum in sein Bewußtsein fallende; sie ist mit dem Leben selbst gesetzt. Sie zieht sich als dunkelster Faden durch die Überlieferungen aller Völker hindurch und die Erbsünde selbst ist nichts weiter, als eine aus ihr abgeleitete, christlich modifizierte Konsequenz." Im folgenden verschärft dann Hebbel noch den Schlußsatz des aus dem älteren Aufsatz angeführten Passus, indem er sagt: „es ist nicht bloß gleichgültig, ob der "Held an einer vortrefflichen oder verwerflichen Bestrebung zu Grunde geht, sondern es ist, wenn das erschütterndste Bild zustande kommen soll, notwendig, daß jenes, nicht dieses geschieht." Er wirft endlich Heiberg vor, daß er statt ,des allgemeinen Schuldbegriffes nur einen dürftigen speziellen Sündenbegriff in sich ausgebildet' habe, und daß er nicht bemerkt habe, „daß an dem Ort, wo ich die Erbsünde ausschloß oder richtiger einschloß, indem ich sie dem Gattungsbegriff, dem sie angehört, unterordnete, nicht vom christlichen Drama die Rede war." So sehr nun Hebbel in dem ersten Teil dieser Ausführungen noch zu verschärfen scheint, was er in dem älteren Aufsatz gesagt hatte, so ist 101

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doch am Ende die Unterscheidung zwischen (tragischer) Schuld und Sünde weniger scharf als in dem älteren Aufsatz. Die ganze Kontroverse aber zeigt, wie sehr die Beibehaltung des Wortes Schuld durch Hegel an Stelle des griechischen Wortes trotz aller erklärenden Zusätze, was mit Schuld gemeint sei, es nahelegt, den Begriff der tragischen jSchuld' dem der Sünde anzunähern, also dem Begriff einer Verfehlung, die mit dem vollen Bewußtsein, daß es eine moralische Verfehlung im strengsten Sinne, ein Handeln wider göttliches Gebot sei, begangen wird, was aber in der aristotelischen , auch wo es sich objektiv um wirkliche moralische Verfehlungen handelt, gerade ausgeschlossen wird. Das wird sich auch im folgenden immer noch wieder zeigen. Die zweite Abweichung ist eine Abweichung von Hegel, die nichts mit Heiberg zu tun hat, darum aber nur um so interessanter ist. Über die Antigone schreibt Hebbel im selben Zusammenhang: „Antigone will eine heilige Pflicht erfüllen, bewußt die Verwandten- und Liebespflicht gegen den unbegraben daliegenden Bruder, unbewußt die Pflicht gegen die Götter, dennoch geht sie unter, obgleich sie nichts als ein bürgerliches, in sich selbst unhaltbares und nur der Form nach die Idee des Staates repräsentierendes Gesetz übertritt" Hier korrigiert Hebbel — wahrscheinlich ohne sich dessen bewußt zu sein — Hegel, von dessen Formulierungen er sonst offensichtlich stark abhängig ist. An seinem natürlichen Empfinden gleitet Hegels Gleichstellung von Antigone und Kreon als zwei gleich einseitigen, aber auch gleich berechtigten Vertretern entgegengesetzter sittlicher Prinzipien einfach ab. Noch ein dritter Passus in dem zweiten Aufsatz endlich ist für die Grundfrage der Tragödieninterpretation von großer Bedeutung. Hier schreibt Hebbel: „Das Drama, wie ich es konstruiere, schließt keineswegs mit der Dissonanz, denn es löst die dualistische Form des Seins, sobald sie zu schneidend hervortritt, durch sich selbst wieder auf; es stellt, wenn ein Gleichnis erlaubt ist, die beiden Kreise auf dem Wasser dar, die sich eben dadurch, daß sie einander entgegenschwellen, zerstören, und in einem einzigen großen Kreis, der den zerrissenen Spiegel für das Sonnenbild wieder glättet, zergehen. Aber es läßt allerdings eine Dissonanz unerledigt, und zwar die ursprüngliche Dissonanz, die es von Anfang an überging; indem es die Vereinzelung, ohne nach der causa 102

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prima zu forschen, als mit oder ohne Kreation unmittelbar gegebenes Faktum hinnahm. Es läßt daher nicht die Schuld unaufgehoben, wohl aber den inneren Grund der Schuld unenthüllt. Doch dies ist die Seite, wo das Drama sich mit dem Weltmysterium in ein und dieselbe Nacht verliert."' Hier ist mit vorbildlicher Präzision die Grenze bezeichnet, welche das Drama als Kunstwerk und damit auch die Interpretation, die Analyse, ja selbst die Theorie der Tragödie, so weit sie nichts anderes sein wollen als eben dies, von der philosophischen Spekulation, die in die Tiefe des Weltmysteriums selbst einzudringen versucht, trennt. Es zeigt sich dabei auch, daß Aristoteles, obwohl Philosoph, innerhalb der angegebenen Grenze geblieben ist, während Hegel sie zu überschreiten versucht75). Die Ausführungen Hebbels zeigen deutlich einen weiteren Fortschritt in der Befreiung von falschen Auffassungen des Wesens der antiken Tragödie, wie sie im Laufe der Jahrhunderte unter dem Einfluß neuer Weisen, die Welt und die Stellung des Menschen in ihr zu betrachten, aufgekommen waren. Nur der Begriff der tragischen ,Schuld' behält auch bei ihm noch eine gewisse Zwielichtigkeit, die leicht zum Anlaß werden konnte, die alten Irrtümer in etwas veränderter Form wieder aufleben zu lassen. Während nun die moderne Philologie in sehr starkem Maße traditionsgebunden geblieben ist, so daß in der wissenschaftlichen' Diskussion die moralisierende Interpretation noch immer eine große Rolle spielt und aus der Schulphilologie noch nicht einmal die Vorstellung von der poetischen Gerechtigkeit in der Tragödie verschwunden ist, hat die neueste Philosophie in vielen ihrer Vertreter sich in außergewöhnlichem Maße von allen Traditionen frei zu machen und einen ganz neuen Anfang zu finden gesucht. Dadurch sollte auch der Blick für eine unbefangene Betrachtung der griechischen Tragödie frei geworden sein. Tatsächlich hat denn auch z. B. Karl Jaspers in seinem Buch „Von der Wahrheit"16} über das Tragische sehr viel Gutes und Richtiges gesagt. Vieles davon, vor allem, was über die verschiedenen Arten, wie eine tragische Situation entstehen kann, dort gesagt wird, ist nicht nur als Beobachtung vortrefflich, sondern hält sich durchaus innerhalb der Grenzen, welche die einfache Analyse und Interpretation von der philosophischen Spekulation trennen. Anderes gehört unzweifelhaft in den Bereich der philo103

Tragisdie Schuld

sophischen Spekulation, die das legitime Geschäft des Philosophen ist, mit der aber als solcher die vorliegende Untersuchung es nicht zu tun hat. Daß die Grenzen zwischen beidem nicht immer scharf bezeichnet sind, liegt ebenfalls in der Natur des philosophischen Denkens, das die Erkenntnis der Einzelgegenstände naturgemäß nur als Mittel betrachtet, darüber hinaus zu allgemeineren Ansichten der Welt als Ganzes fortzuschreiten. Aber ganz hat das Weiterwirken der alten Irrtümer auch in der philosophischen und halbphilosophischen Spekulation der Gegenwart nicht aufgehört; und es ist vielleicht nicht ohne Nutzen, an einem besonders instruktiven Beispiel zu zeigen, wie sie in immer neuen Formen auftreten und wie auch die richtigsten schon gewonnenen Erkenntnisse in ihr Gegenteil verkehrt werden, wenn die Spekulation sich nicht unaufhörlich selbst an ihrem Gegenstand kontrolliert, zumal wenn der Blick noch getrübt wird durch die leider besonders in Deutschland verbreitete Neigung, philosophische Spekulation und Metaphysik als Mittel der Selbstberauschung zu verwenden. Vor einigen Jahren ist ein Buch über die griechische Tragödie erschienen, das, wie es scheint, einiges Aufsehen erregt hat, Gerhard Nebels „Weltangst und Götterzorn"™. Es ist im Rahmen der vorliegenden Untersuchung natürlich nicht möglich, sich mit allen Teilen des Buches auseinanderzusetzen. Es genügt aber für unseren Zweck, die Analyse, die von Sophokles' König Oedipus gegeben wird, zu prüfen. Hier werden zunächst mehrfach sehr richtige Dinge gesagt. So bemerkt Nebel gegenüber der Interpretation dieser Tragödie durch den Grafen York von Wartenburg, der bei Oedipus von Erbsünde spricht, und gegen die Interpretation von Weinstock, der die „Schuld" des Oedipus als Teil einer Allverschuldung erklärt, mit Recht, daß bei Sophokles weder von einer Erbsünde noch von einer Allverschuldung die Rede ist78. Er stimmte dem Grafen York zu, wenn dieser darauf hinweist, daß „Oedipus, weit entfernt, eigenmächtig der Gottheit gegenüberzutreten, vielmehr die ganze Kraft seines Geistes dazu anwendet, die Wege der Gottheit zu erforschen und auf ihnen zu wandeln"79. Er sagt sehr zutreffend, daß Oedipus moralisch unschuldig ist und doch, als sich ihm die Wirklichkeit entdeckt, sich von einem Berg von Schuld erdrückt fühlt80, worin ja eben implizit enthalten ist, daß diese Schuld 104

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keine moralisch zurechenbare Schuld sein kann. Alles dies könnte kaum zutreffender gesagt werden. Aber dann wird plötzlich mit einem Salto mortale das „Verfahren" der griechischen Tragödie mit dem der „reformatorischen Theologie" verglichen. Keine Ge- / stak der Geistesgeschichte, heißt es, stehe Luther näher als Sophokles. Die opera operata des Oedipus seien nicht zu tadeln, aber trotzdem äußerste Verworfenheit. Der Gott Apollon lasse sich durch die guten Werke des Labdakiden nicht magisch zur Gnade zwingen81. Am Schluß der Tragödie nehme Oedipus die Last der Sünde — schon vorher sind tragische Schuld und Sünde identifiziert worden — demütig auf sich. Er erniedrige sich in einem „ekstatischen Sündenbewußtsein"82 und so fort. Hier wird nun das, was zuerst so schön rein herausgestellt worden war, wieder mit völlig heterogenen Dingen in einen grauen Brei zusammengerührt, und man weiß wirklich nicht, wem dabei schlimmer mitgespielt wird, dem Christentum, dessen fundamentalste Begriffe, wie Sünde, Gnade, Verlorenheit usw., hier in der Anwendung auf die griechische Tragödie einen Sinn bekommen, den höchstens ein ins Absurde überspitzter Überkalvinismus noch als christlich betrachten kann, oder der griechischen Tragödie, der eine kalvinistische Zwangsjacke angezogen wird. Unvermeidlich wird dadurch auch die Auslegung des Verhaltens des Oedipus am Ende des Stückes von Grund auf verfälscht. Oedipus ist weder demütig noch nimmt er „die Last der Sünde" in „ekstatischem Sündenbewußtsein" auf sich. Sünde setzt auch bei Luther, auf den sich Nebel beruft, und nicht nur in katholischer Theologie, voraus, daß der Sünder wußte oder zum mindestens ahnte, daß er einem göttlichen Gebot zuwiderhandelte, wenn er auch entgegen seiner Willensbemühung aus Schwäche der Versuchung unterlegen sein mag und als Folge der Erbsünde unterliegen muß. Dagegen hätte Oedipus das, was er getan hat, ganz gewiß nicht getan, wenn er gewußt hätte, was er tat. Hier gilt, was schon früher gesagt worden ist, daß zwischen dem Sünder und seiner Tat, auch wenn er sie bereut und verabscheut, eine Affinität besteht, während das Gräßliche für Oedipus eben gerade ist, daß das, was er getan hat, ihm nur ein Greuel und seinem innersten Wesen völlig fremd ist. Wenn man das mit etwas vergleichen kann, so ist es die Legende vom Hermelin oder, nach einer anderen Version, vom weißen Einhorn, das, wenn sein weißes Fell einmal befleckt worden ist und es

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den Fleck nicht entfernen kann, stirbt, weil es die Befleckung nicht ertragen kann. Oedipus freilich wagt nicht einmal zu sterben, weil er sich scheut, in seiner Befleckung den Verwandten in der anderen Welt zu begegnen. Auch darin erweist sich im übrigen die völlige Unrichtigkeit der Nebeischen Interpretation. Wenn Oedipus „die Last der Sünde" demütig auf sich nähme, so müßte er doch wohl wissen, daß auch die anderen Sünder sind und dürfte, auch dann, wenn seine eigene Sünde größer wäre, was aber nicht der Fall ist, sich nicht scheuen, sich demütig in seiner Sünde vor ihnen zu zeigen. Die Abwegigkeit der Interpretation des König Oedipus wirkt sich notwendigerweise auch auf die des Oedipus auf Kolonos aus. Hier wird mit dem Begriff der Heiligkeit ebenso ein Spiel getrieben wie in dem vorangegangenen Kapitel mit den Begriffen der Sünde, der Gnade und der Verlorenheit. Zuerst wird Oedipus einfach als „heilig" bezeichnet, was richtig ist, wenn man heilig im griechischen Sinn nimmt, als ,unantastbar', ,Scheu erregend', , einer göttlichen Aura umgeben', wie eine vom Blitz getroffene, von der Gottheit gezeichnete Eiche. Aber kurz darauf erscheint Oedipus als Heiliger, der die „Sünde durch Heiligkeit ausgelöscht" hat, also doch anscheinend als Heiliger im christlichen Sinne. Es heißt „besser sollte man die beiden Oedipusdramen auf Christi Passion und Himmelfahrt beziehen", und dies nachdem unmittelbar vorher gesagt worden ist, Oedipus habe, seit er in der Gunst der Götter stehe, sittlich nicht zu, sondern abgenommen. Man weiß bei dieser Zusammenstellung nicht, ob das zuletzt Gesagte auch für Christus gelten soll. Hier sind nicht nur wieder ganz heterogene Dinge miteinander vermischt, sondern es wird auch jedes für sich selbst verfälscht, indem aus der Ablehnung der bloßen Werkgerechtigkeit durch Luther einerseits und der Abwesenheit einer subjektiv zurechenbaren Schuld in der griechischen Tragödie andererseits ein geradezu amoralisches, wenn nicht antimoralisches, Christentum und eine antimoralische Tragödie konstruiert und damit beide völlig entstellt werden. Wie sehr muß man gegenüber dieser Art, schon gewonnene richtige Erkenntnisse zu verfälschen, um sich an metaphysischen Paradoxien zu berauschen, die im eigentlichsten Sinne Hirngespinste sind und mit Religion oder religiöser Erfahrung nichts zu tun haben, die gerade Ehrlichkeit eines Corneille bewundern, der in einer Tradition aufgewachsen war, die ihm das richtige Verständnis

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der griechischen Tragödie verwehrte, und der dann vor der größten Tragödie des Sophokles, deren Wirkung er doch verspürt und die er in diesem Sinne auch in gewisser Weise verstanden hat, schlicht und einfach bekennt, daß er sie — theoretisch und von seiner Vorstellung von dem Tragischen aus — nicht verstehen kann. Das Buch Nebels aber ist ein sehr eindrucksvolles Beispiel für die fast unüberwindliche Neigung der Modernen, in die Interpretation der Tragödie fremde Begriffe hineinzutragen; und es war um so nötiger, dies hier noch einmal auf zuweisen, als das Buch mit durchaus zutreffenden Beobachtungen beginnt. Wegen der außerordentlichen Wirkung, welche die Philosophie Heideggers in der Gegenwart ausübt, / ist es wohl unumgänglich, zum Schluß noch seine Auslegung griechischer Tragödien in den Kreis der Betrachtung zu ziehen, obwohl sich Heidegger, soviel ich sehen kann, in seinen veröffentlichten Schriften nicht über die griechische Tragödie im allgemeinen, sondern nur über den König Oedipus ausgesprochen hat. In seiner Einführung in die Metaphysik hat Heidegger über den König Oedipus das Folgende zu sagen:83) „Oedipus, zu Anfang der Retter und Herr des Staates, im Glanz des Ruhmes und der Gnade der Götter, wird aus diesem Schein, der keine bloße subjektive Ansicht des Oedipus von sich selbst ist, sondern das, worin das Erscheinen seines Daseins geschieht, herausgeschleudert, bis die UnVerborgenheit seines Seins als des Mörders des Vaters und des Schänders der Mutter geschehen ist. Der Weg von jenem Anfang des Glanzes bis zu diesem Ende des Grauens ist ein einziger Kampf zwischen dem Schein (Verborgenheit und Verstelltheit) und der Unverborgenheit (dem Sein) ... Mit der Leidenschaft dessen, der in der Offenbarung des Glanzes steht und Grieche ist, geht Oedipus an die Enthüllung dieses Verborgenen. Schritt für Schritt muß er dabei sich selbst in die Unverborgenheit stellen, die er am Ende nur so erträgt, daß er sich selbst die Augen aussticht, d. h. sich aus allem Licht herausstellt, verhüllende Nacht um sich schlagen läßt und als Geblendeter dann schreit, alle Türen aufzureißen, damit dem Volk ein solcher offenbar werde, als der, der er ist." Diese Interpretation, die sidi im wesentlichen an die von Karl Reinhardt in seinem Sophoklesbuch gegebene anschließt, ist bis zu einem gewissen Grade richtig, wenn auch der, dem vor allem an der Interpretation der antiken Tragödie gelegen ist, es wohl vorziehen würde, wenn [2291230]

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eine wiederum aus einer speziellen modernen Philosophie stammende und, da zunächst und unmittelbar der Schein das Offenbare und Unverborgene, die Wirklichkeit aber das Sein, das Verborgene ist, irreführende Terminologie vermieden wäre. Die Interpretation ist aber nach verschiedenen Richtungen hin der Ergänzung bedürftig, wenn sie nicht wieder der Anlaß zu neuen Mißinterpretationen und Vergewaltigungen der griechischen Tragödie werden soll. Es ist sehr treffend, wenn Heidegger sagt, der Glanz des Ruhmes, in dem Oedipus lebt und aus dem er herausgeschleudert wird, sei ein Schein, der keine bloße Ansicht des Oedipus von sich selbst ist, sondern das, worin das Erscheinen seines Daseins geschieht. Dieses glanzvolle Dasein — und das gilt für jeden Glanz eines Herrschers, wie Solon in der Solon-Kroisosgeschichte bei Herodot ausführt — steht auf einem unsicheren Grund. Dieser Grund wird enthüllt durch die Entdeckung, daß Oedipus seinen Vater erschlagen und seine Mutter geheiratet hat. Aber nachdem das Entsetzen über diese Entdeckung mit allen seinen äußeren Folgen schonungslos und bis ins letzte durchlebt worden ist, geht das Königliche des Oedipus aus diesem läuternden Feuer nicht nur unverletzt hervor, sondern es ist noch gereinigt und erhöht und nun zugleich unzerstörbar geworden. So geht Oedipus als Heros in die Ewigkeit ein. Der König Oedipus des Sophokles steht einzig da unter den erhaltenen griechischen Tragödien, insofern als hier allein der Held der Tragödie selbst mit Leidenschaft die Enthüllung sucht, die ihn aus dem Glanz und Schein seines bisherigen Lebens werfen wird. Aber sonst kommt ein solcher Fall aus dem Schein in die Wirklichkeit in der griechischen Tragödie nicht ganz selten vor. Auch der Aias der gleichnamigen Tragödie des Sophokles tut einen Fall in die Wirklichkeit, nicht wie Oedipus aus dem Glanz des Königtums, aber aus dem Glanz des unbekümmerten Helden- und Rittertums, in dem er bis dahin gelebt hat; und auch hier wird, nachdem der äußere Glanz abgefallen ist, eben im Tod des Aias die Gestalt seines Heldentums nun als unzerstörbar wiederhergestellt. Aber es ist nicht immer so, daß, wenn der äußere Glanz abgefallen ist, sich das Wesen des tragischen Helden als jenes Glanzes würdig erweist und nun von neuem in einem vielleicht dunkleren, aber dafür unzerstörbaren Glanz erstrahlt wie im Aias und in den Oedipusdr&men des Sophokles. Auch der Admet der Euripideischen Alkestis und der Jason

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der Medea z. B. tun einen Fall aus dem Schein in die Wirklichkeit84. Aber der erste ist ein M rchenk nig, der andere ein M rchenprinz. Sie haben in der glanzvollen Existenz, die sie gef hrt haben, bevor sie in oder vor der Trag die den Fall in die Wirklichkeit tun, nicht wie Oedipus und Aias sozusagen die Kosten f r diese glanzvolle Existenz selbst voll getragen. Daher enth llt ihr Fall in die Wirklichkeit, da der Kern ihres Wesens den Schein, in dem sie gelebt haben, nicht ausgef llt hat, wenn auch diejenigen Interpreten Unrecht haben, die sich nicht genug tun k nnen, von der H he ihrer eigenen moralischen berlegenheit aus die moralische J mmerlichkeit der genannten Figuren des Euripides, vor allem des Jason, zu schm hen. Admet und auch Jason sind immer noch tragische Gestalten. Sie sind nur einfach όμοιοι und nicht, wie der Oedipus und der Aias des Sophokles, βελτίονες. Es w re aber nun ganz falsch — und deshalb ist hier darauf eingegangen worden — daraus, da nicht nur im K nig Oedipus, sondern auch in anderen Trag dien des Sophokles und des Euripides ein Fall aus dem Schein in die Wirklichkeit vorkommt, den Schlu zu ziehen, da dies immer so sein m sse und nun etwa wieder dieses Schema der / griechischen Trag die generell oder auch nur allen Trag dien des Sophokles und Euripides aufzwingen zu wollen. Was der griechischen Trag die generell eignet, ist von Aristoteles mit vorbildlicher Klarheit und Vollst ndigkeit gesagt worden. Die Trag die ist die Darstellung einer ernsten Handlung, die durch die Erregung von Furcht und Jammer die Reinigung dieser Affekte bewirkt. Um dies zu k nnen, mu sie das tiefste menschliche Leiden darstellen, und zwar unverdientes Leiden, obwohl das tiefste Leiden notwendig ein moralisches ist. Als Dichtung stellt sie ferner dar οία αν γένοιτο. Aber was dies οία αν γένοιτο jeweils in concreto ist, dar ber gibt es auch f r die griechische Trag die keine Regeln, und solche Regeln aufstellen zu wollen, w rde ihr nur eine neue Zwangsjacke anlegen. Von hier aus ist es vielleicht auch m glich, die eine Zeit lang viel er rterte und, wenn sie auch in letzter Zeit in den Hintergrund getreten ist, doch immer wieder auftauchende Frage zu beantworten, ob die griechischen Tragiker mit ihren Trag dien etwas „lehren" wollten oder ob ihnen nur daran gelegen war, „gute St cke zu schreiben". Zweifellos war es nicht die Absicht der drei gro en griechischen Tragiker, [2301231]

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durch ihre Stücke speziellen moralischen Schäden ihrer Zeit entgegenzutreten und so reformatorisch zu wirken, wie dies etwa Brieux in allen seinen Dramen, Ibsen in manchen seiner Stücke getan haben. Darüber hinaus hat sich gezeigt, daß sie auch offenbar nicht wie Corneille in allgemeinerer Weise durch die Darstellung menschlicher Leidenschaften und ihrer Folgen vor diesen abschrecken und so ihre Zuschauer bessern wollten. Trotzdem machen es sich diejenigen zu leicht, die sich dabei beruhigen, daß die antiken Tragiker eben einfach „gute Stücke machen" wollten, sofern dabei nicht gefragt wird, was denn eigentlich ein Stück zu einem „guten" Stück macht, oder stillschweigend oder ausdrücklich von der Annahme ausgegangen wird, daß es nur auf den Effekt ankomme. Wäre die letztere Annahme richtig, so käme es wirklich nicht darauf an, ob ein Stück innere Einheit hat, sofern nur jede einzelne Szene den Zuschauer mit fortreißt, was ja in neuerer Zeit auch öfters behauptet worden ist, und müßte jedes Erfolgsstück an Rang den größten Tragödien des Sophokles oder Shakespeares an die Seite gestellt werden. Gegen die erste Behauptung hat sich schon Aristoteles mit Nachdruck ausgesprochen, das zweite werden selbst die Vertreter der Theorie der „guten Stücke", wenn sie vor den konkreten Fall gestellt werden, kaum aufrecht erhalten wollen. Hier liegt also der Kern der Frage. Der augenblickliche Effekt genügt nicht, um das Stück im höheren Sinne zu einem „guten" zu machen. Die Wirkung muß eine dauernde sein. Sie muß anhalten lange nachdem das Stück auf der Bühne gesehen worden ist. Sie muß sich mit der Zeit noch vertiefen. Dazu genügt die „technische" Vollkommenheit des Stükkes nicht. Das Stück muß auch Gehalt haben. Das setzt die Einheit des Stückes voraus. Wo ferner der Gegenstand des Dichtwerks die Darstellung moralischen Leidens ist, muß dieses Leiden „echt" sein. Um als echt erkannt werden zu können, muß es auf etwas bezogen sein und muß das, worauf es bezogen ist, „Wahrheit" haben, freilich nicht im Sinne einer in Lehrsätzen formulierbaren Lehre, die sich als Teil einer systematischen Theologie oder Philosophie niederlegen ließe. Fragmente solcher Theologien und Philosophien mögen im Hintergrund einer Tragödie mit größerer oder geringerer Deutlichkeit erscheinen und treten tatsächlich bei allen drei griechischen Tragikern in verschiedenem Grade auf. Diese theologischen und philosophischen Bezugssysteme können von110

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einander abweichen. Die eigentliche „Wahrheit" in der Dichtung aber liegt in der Erfahrbarkeit. Das Entsetzen des Oedipus über das, was er getan hat, obwohl er es nicht gewollt hat, ist erfahrbar. Ein „Sündenbewußtsein" anläßlich einer Tat, die man mit keiner Faser seines Wesens gewollt hat, ist nicht echt errahrbar, sondern ein reines Hirngespinst. Ebensowenig ist der Zusamenhang zwischen einer Tat der Leidenschaft und einem Orakel, das sie vorher angekündigt haben soll, echt erfahrbar. Ob das Orakel dabei als die Zukunft bestimmend angenommen wird oder nicht, macht dafür keinen Unterschied. Ein Stück, das auf solchen Unmöglichkeiten aufgebaut ist, ist kein „gutes Stück", auch wenn es außerordentlichen Erfolg auf dem Theater gehabt hat, wie dies ja nach den zeitgenössischen Berichten bei Müllners Schuld der Fall gewesen zu sein scheint. Damit stellt sich noch einmal die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der richtigen Erkenntnis des Wesens der griechischen Tragödie und der dichterischen Praxis; und es ist vielleicht erlaubt, zum Schluß darauf noch kurz einzugehen, da auch hier ein tiefgewurzelter Irrtum aufzuklären ist. Lessing sagt im 81. Stück der Hamburgischen Dramaturgie, die Franzosen hätten deshalb noch keine Tragödien, weil sie schon welche zu haben glaubten, d. h. weil sie sich über das Wesen der wahren, d. h. der griechischen Tragödie im Unklaren befänden. Dies impliziert die Annahme, daß die französischen Dichter wohl wahre Tragödien geschrieben haben würden, wenn sie den Irrtum, den Lessing im folgenden aufzudecken sucht, nicht begangen hätten. Tatsächlich verwahrt sich auch / Lessing zu Anfang des Kapitels ausdrücklich dagegen, daß er etwa die Franzosen für unfähig hielte, wahre Tragödien zu schreiben. Das ist alles sehr plausibel und zugleich den Franzosen gegenüber sehr höflich. Aber Lessing selbst, der doch das richtige Verständnis der aristotelischen Theorie der Tragödie sehr weitgehend wiederhergestellt hat, hat selbst keine Tragödien im griechischen Sinn geschrieben. Sieht man sich aber das Verhältnis anderer und größerer Dichter zur griechischen Tragödie an, so kommt man zu einem eigentümlichen Resultat. Shakespeare hat im Hamlet die tragische Gnindsituation einer der größten antiken Tragödien übernommen. Aber er hat weder die Namen der Personen noch die mythische Umgebung beibehalten; und, was wichtiger ist, er hat die Handlung, die aus der tragischen Grundsituation folgt,

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von Grund aus verändert. Es ist nicht wahrscheinlich, daß Shakespeare die Poetik des Aristoteles studiert hat und es ist fraglich, ob er sich über das Wesen der griechischen Tragödie in der Weise Corneilles oder Lessings theoretisch Gedanken gemacht hat. Trotzdem ist er von allen modernen Dichtern derjenige, dessen Tragödien am meisten im antik griechischen Sinne wahre Tragödien sind, wenn er auch, wie gezeigt, in einer Hinsicht von der griechischen Tragödie abgewichen ist. Die besten Stücke Corneilles sind diejenigen, in denen er, was er in seinen sujets etwa an tragischen Konflikten im Sinne der griechischen Tragödie vorgefunden hatte, entweder radikal beseitigte wie im Horace oder stillschweigend beiseite schob wie im Cid. Wo er im Oeäipe den im antiken Sinn tragischen Konflikt nicht völlig zu beseitigen wagte, ist ihm das Stück mißlungen. Schiller näherte sich im Laufe seiner Entwicklung auf natürliche Weise und unbewußt der antiken Tragödie, ohne sie zu erreichen. Als er aber bewußt eine Tragödie nach antikem Vorbild schaffen wollte, ist er auf einen Irrweg geraten. Es ist nicht schwer die weitere Anwendung auf oben besprochene wie auf nicht besprochene Dichter zu machen. Die Annahme Lessings, daß es nur der richtigen Erkenntnis des Wesens der griechischen Tragödie bedürfe, um einen genialen Dichter zu befähigen, Tragödien im antiken Sinne zu schreiben, erweist sich also als falsch. Kein Dichter kann sich aus den Bedingungen der Zeit, in der er lebt, entfernen. Daher kann nur der Tragödien im antiken Sinn verfassen, der sie auch dann schaffen würde, wenn er von der antiken Tragödie gar keine Kenntnis hätte. Ein vollständiger Verlust der Kenntnis der antiken Tragödie könnte daher der Dichtung, so groß der Verlust auch sonst sein würde, nicht schaden. Aber halbe Erkenntnisse haben, wie der gegebene Überblick zeigt, oft großen Schaden angerichtet, und nicht nur bei Dichtern dritten Ranges. Das macht es zu einer besonders dringenden Aufgabe, den Irrtum aufzuklären; und bei einem Irrtum dieser Art genügt es nicht, das Richtige einfach auszusprechen, sondern ist es notwendig, den historischen Ursprung des Irrtums aufzudecken und diesen dann in seine verschiedenen Verzweigungen zu verfolgen, um immer wieder das Richtige so genau als möglich gegen ihn abzugrenzen. Das ist, da der Irrtum unendliche Möglichkeiten hat, eine unendliche Aufgabe, von der ein kleines aber wesentliches Stück hier zu leisten versucht worden ist. 112

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DIE ORESTESSAGE BEI DEN DREI GROSSEN GRIECHISCHEN TRAGIKERN Mit ganz wenigen Ausnahmen, hauptsächlich aus der ältesten Zeit der griechischen Tragödie — den Persern des Aeschylus, den Pboenissen, der Einnahme von Milet, und möglicherweise noch einem weiteren Stück des Phrynichus —, sind fast alle Stoffe griechischer Tragödien, von denen wir wissen, der griechischen Heldensage entnommen, wie sie vorher vor allem in epischen Dichtungen behandelt, aber auch mündlich in mannigfachen Varianten weitergegeben worden war. Diese Heldensage ist ganz außerordentlich reich an den verschiedensten Stoffen; aber ihr Reichtum ist doch nicht unbegrenzt. Nicht alle Sagen waren für eine tragische Behandlung besonders geeignet. Gerade die berühmtesten Epen, die Ilias und die Odyssee, boten für eine tragische Verarbeitung verhältnismäßig wenig Stoff. Das schränkte die Auswahl noch etwas weiter ein. Wir besitzen etwas mehr als dreißig altgriechische Tragödien. Aber schon allein die drei großen attischen Tragiker, Aeschylus, Sophokles und Euripides, produzierten zusammen im Verlauf ihres Lebens nahezu zehnmal so viel. Nimmt man die weniger berühmten tragischen Dichter, von denen sich keine vollständigen Stücke erhalten haben, hinzu, so wird die Zahl noch einmal mehr als verdoppelt. Da kann man wohl die Frage aufwerfen, ob sich die Beschränkung der Stoffe auf die Sage nicht im Laufe der Zeit als Nachteil auswirken mußte. Denn entweder war es nötig, denselben Gegenstand immer von neuem dramatisch zu verarbeiten. Aber das bedeutete, wenn die Zuschauer sich nicht langweilen sollten, daß ihm immer neue Seiten abgewonnen werden mußten. Da kann man fragen, ob das möglich war, ohne zu künstlichen Mitteln zu greifen oder den Stoff mit seinem Wesen fremden Zutaten zu würzen. Oder die Dichter waren gezwungen, nach immer neuen Stoffen zu suchen und sich am Ende auch solcher Stoffe zu bedienen, die für eine dramatische und tragische Behandlung nur wenig geeignet waren. 113

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Tatsächlich ist dem letzten der drei großen Tragiker, Euripides, schon von einigen seiner antiken Kritiker, mit Aristophanes angefangen, der Vorwurf gemacht worden, daß er sich für seine Tragödien seltsame und ausgefallene Gegenstände ausgesucht und die bekannten, die er von neuem bearbeitete, auf so seltsame und abwegige Weise verändert oder mit fremden Zutaten gewürzt habe, daß ihre natürliche, einfache Schönheit zerstört wurde. Moderne Kritiker wie Schlegel haben diesen und ähnliche Vorwürfe wiederholt. Vielleicht, so könnte man denken, ist diese Kritik rein sachlich berechtigt, aber subjektiv ungerecht, da Euripides als Spätkömmling infolge der Erschöpfung der zur Verfügung stehenden Stoffe in eine Notlage versetzt war, in der er nicht anders handeln konnte. Man kann jedoch das hier zugrunde liegende allgemeine Problem noch von einigen anderen Gesichtspunkten aus betrachten, die vielleicht einen tieferen Einblick in seine eigentliche Natur erlauben. In den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts ist öfter die Meinung ausgesprochen worden, es liege in der Natur der Sache, daß die großen dramatischen oder tragischen Stoffe mehrfach behandelt würden, bis endlich ein ganz großer Dichter die vollkommene und endgültige Form für sie finde, womit dieser Stoff dann für alle Zeiten erschöpft sei. So habe es viele dramatische Bearbeitungen des Don-Juan-Stofies gegeben, bis er in Mozarts Oper seine vollkommene Verkörperung gefunden habe, nicht durch Zufall hier in der Form einer Oper. So stehe es mit Goethes Faust im Verhältnis zu Marlowes und anderen früheren dramatischen Bearbeitungen. Daher sei es unsinnig nach Goethe noch einen Faust, nach Mozart noch einen Don Juan schreiben zu wollen. In bezug auf die Nibelungen konnte sich dann eine Kontroverse entwickeln, ob Hebbel oder Wagner oder keiner von beiden die völlig adaequate dramatische Form für den großen Gegenstand gefunden habe1. In den zuletzt genannten Fällen handelt es sich um Stoffe, die an eine ganz bestimmte, mit Namen bezeichnete Figur, oder, wie im Fall der Nibelungen, an eine Gruppe von Figuren, mit deren ganz bestimmten Charaktereigenschaften, Handlungen und Schicksalen gebunden sind. Aber man kann die Sache auch etwas abstrakter ansehen. Goethe hat bekanntlich gesagt, es gebe nur ganz wenige tragische Grundsituationen: er selbst kenne nur siebzehn. Nimmt man dies als im wesentlichen rich114

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tig an — wobei es nichts ausmacht, ob man die Zahl der Grundsituationen noch um einige, vielleicht selbst auf das Doppelte, vermehren zu können glaubt — und wendet man darauf die Vorstellung von der vollkommenen Lösung an, so scheint sich logischerweise zu ergeben, daß nach siebzehn oder zwanzig oder vielleicht dreißig vollkommenen' Tragödien die Möglichkeiten erschöpft sind und es danach nur noch zweitrangige Produkte in diesem Genus geben kann. Und auf den ersten Blick zum mindesten sieht es ja so aus ,als müsse, wenn beide Vorstellungen, die von den tragischen Grundsituationen und die von den ,vollkommenen Lösungen' richtig sind, eine solche Anwendung gemacht werden. Denn die rein historische oder mythische oder legendäre Einkleidung — ob etwa die Orestestragödie unter dem Namen des Orestes an einem archaischen griechischen Königshof oder unter dem Namen des Hamlet an einem dänischen sich abspielt — kann für das Wesen der Sache keinen Unterschied machen. Oder gibt es doch etwas, das eine Variation derselben tragischen Grundsituation ermöglicht und also in diesem Sinne verschiedene gleich ,vollkommene' Lösungen erlaubt, das aber dann offenbar nicht bloße Einkleidung sein kann? Und was ist das, wenn es so etwas geben sollte? So seltsam eine solche Betrachtungsweise und Problemstellung auf den ersten Blick auch erscheinen mag, so führt sie doch, wie sich sogleich zeigen wird, in ganz wesentliche Probleme sowohl des Tragischen an sich wie seiner dramatischen Verkörperung hinein; und die Oresteslegende ist offenbar ganz besonders geeignet, dies sichtbar zu machen. Denn hier ist derselbe Stoff und zugleich unbezweifelbar dieselbe tragische Grundsituation in derselben archaisch griechischen Einkleidung von allen drei großen griechischen Tragikern und dann noch einmal in einer modernen Einkleidung von dem größten aller modernen dramatischen Dichter zur Darstellung gebracht worden. Hier ist es nicht so leicht, von vorbereitenden unvollkommenen und einer späteren, vollkommenen Lösung zu reden. Zwar der Orestes des Euripides ist von einem modernen Kritiker wie A. W. Schlegel sehr gering eingeschätzt und sogar als ein minderwertiges Spektakelstück bezeichnet worden, und auch der größte Kritiker des Altertums, Aristoteles, hat gegen manche Züge des Stückes Einwendungen erhoben. Die Euripideische Elektra ist von Schlegel milder beurteilt worden. Aber auch in diesem Fall hätte er zweifellos nicht ge115

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zögert, sie weit unter die Orestestrilogie des Aeschylus und die Elektra des Sophokles zu stellen. Sieht man jedoch zunächst von den Stücken des Euripides ab, so bleiben immer noch drei dramatische Darstellungen derselben tragischen Grundsituation übrig, die sich ganz und gar voneinander unterscheiden, die alle drei zu den größten Tragödien aller Zeiten gehören, und von denen es doch ganz unmöglich ist, eines auszuwählen und zu behaupten, daß es gegenüber den ändern die wahre und vollkommene Lösung der durch den Gegenstand gestellten dramatischen Aufgabe darstelle. Auch daß das Stück des Sophokles ^Elektra' heißt und in ihm Elektra und nicht ihr Bruder Orestes als Hauptfigur erscheint, kann an dem Grundproblem nichts ändern, da doch die tragische Grundsituation völlig dieselbe bleibt und das Problem eben darin besteht, ob und inwiefern die Übertragung des Hauptaugenmerks von einer auf eine andere Person dieselbe Grundsituation so affizieren oder variieren kann, daß eine ganz neue Aufgabe entsteht, die auch eine neue Lösung notwendig macht. In der Orestie des Aeschylus und in Shakespeares Hamlet ruht der Nachdruck auf derselben Figur, wenn sie auch in beiden Fällen einen verschiedenen Namen trägt; und doch wird niemand leugnen wollen, daß hier die identisch selbe tragische Grundsituation in ganz entscheidender Weise variiert ist. Was ist es also, daß diese Variation ermöglicht? Es ist wohl nicht schwer zu sehen, daß dieses Problem für die bekannte Kontroverse zwischen zwei Schulen von Tragödieninterpreten, von denen die eine behauptet, der tragische Dichter wolle den Zuschauer moralisch belehren und durch die dramatische Darstellung der Tugend und des Lasters moralisch bessern, während die andere behauptet, dies liege dem wahren Dichter völlig fern, er wolle nur gute Stücke schreiben, von. fundamentaler Bedeutung ist. Nehmen wir an, der tragische Dichter sollte und wollte moralisch belehren und bessern, geben dann alle tragischen Bearbeiter desselben Stoffes dieselbe Lehre, oder geben sie verschiedene Lehren, die einander in gewisser Weise ergänzen, oder geben sie gar entgegengesetzte Lehren? Das letztere scheint ja in gewisser Weise bei den dramatischen Bearbeitern der Orestessage der Fall zu sein, wenn bei Aeschylus Orestes seine Mutter auf Befehl des Gottes tötet und dann später von einem göttlich-menschlichen Gericht von seiner Blutschuld freigesprochen wird, wenn bei Euripides der Gott in der Elektra im Gegensatz dazu

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wegen seines Befehls getadelt wird2 und in einem anderen Stück, dem Orestes, Orest sich nach dem Mord ganz unwürdig verhält, so daß die am Ende des Stückes gegebene versöhnende* Lösung als eine Farce erscheint3, wenn endlich bei Shakespeare Hamlet-Orestes auf Befehl der jenseitigen Mächte seiner Mutter nur ins Gewissen redet, sie sonst aber mit Schonung behandelt? Muß man ferner, wenn sich die ,Lehren* der verschiedenen Dichter so zu widersprechen scheinen, dem einen gegen den anderen recht geben? Und müßte man dann nicht, da doch die Lehren, wenn es Lehren sein sollen, auch richtig sein sollten, den einen Dichter, der eine falsche Lehre gegeben hat, auch wenn sein Drama vom Standpunkt der ästhetischen Wirkung aus noch so vollkommen sein sollte, wegen seiner Irrlehren verdammen, wie es im Altertum, wo man ehrlicher und freimütiger zu sein pflegte, dafür aber gegen Widersprüche empfindlicher war, ja auch nicht ganz selten vorgekommen ist? Oder wenn es möglich sein sollte, daß sich die entgegenstehenden ,Lehrenc nur scheinbar widersprechen, weil die Grundsituation entsprechend variiert ist, sollte sich die moralisierende Interpretation nicht darauf konzentrieren, eben diese Zusammenhänge aufzudecken, statt, wie es bei der modernen moralisierenden Interpretation fast durchweg der Fall ist, sich damit zu begnügen, die wirklichen oder vielleicht auch weitgehend nur scheinbaren Urteile des Dichters über seine Gestalten mit meist vergröbernden Worten zu wiederholen und zu bekräftigen? Folgt man aber der Auffassung, der Dichter habe nicht moralisch belehren, geschweige denn Moral predigen, sondern nur ein ,gutes Stück* schreiben wollen, so erheben sich auch hier ganz analoge Probleme. Die allen genannten Stücken gemeinsame Grundsituation, die Situation eines jungen Mannes, dessen Mutter mit Wissen den Mörder ihres Mannes geheiratet hat und an dem Mord selbst entweder direkt oder mindestens durch Vorwissen beteiligt gewesen ist, ist gewiß eine Situation, die moralische Entscheidungen erfordert; und es läßt sich wohl nicht leugnen, daß diese moralischen Entscheidungen und ihre Folgen den eigentlichen Stoff bilden, aus dem eine jede Tragödie, die auf dieser Grundsituation aufbaut, gemacht sein muß. Kann nun der Dichter, der ein ,gutes Stück' schreiben will, diese Entscheidungen ad libitum behandeln? Selbst wenn man der Meinung huldigt, es sei das einzige Kriterium eines guten Stückes, daß es die Zuschauer in Spannung versetzt und in ihnen die 117

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Emotion der Furcht und des Mitleids oder Mitjammers errege, ohne auf die aristotelische Forderung der Katharsis, was diese auch immer bedeuten mag, zu achten, wäre dies nicht der Fall. Denn das bewußte oder unbewußte moralische Urteil der Zuschauer über die handelnden Personen wird unvermeidlich auch ihre Emotionen entscheidend beeinflussen. Aber das ist nicht alles. Wir sind es gewöhnt, daß in unseren Theaterund Filmkritiken gewisse Stücke als ,Reißerc bezeichnet werden, also als Stücke, die geeignet sind, in den Zuschauern die höchste Spannung zu erzeugen und die stärksten Emotionen auszulösen, ohne daß damit gerade eine hohe Bewertung solcher Stücke zum Ausdruck gebracht würde. Es beleuchtet die ganze Schwäche der modernen Tragödieninterpretation, wenn von bewundernden Interpreten antiker Tragödien immer wieder behauptet wird, es sei den antiken Tragikern wesentlich nur auf die Bühnenwirksamkeit der einzelnen Szenen angekommen, und sie hätten dieser sogar nicht selten die moralische Einheit ihrer Stücke geopfert, womit die so beurteilten Stücke ja noch unter das Niveau eines guten Reißers zu stehen kommen, der doch Einheit haben kann — und dies ohne daß den modernen Interpreten der Widerspruch ihrer Interpretation zu ihrem gleichzeitigen Festhalten an der hohen Einschätzung der griechischen Tragödie zum Bewußtsein zu kommen scheint. Wir sind es auch gewöhnt, daß gewisse Stücke als »kitschig* bezeichnet werden. Das Wort ,kitschig' soll das Unechte in den Gefühlen, im Aesthetischen und im Moralischen, bezeichnen. Ein Kriterium dafür, was echt und unecht sei, wird dabei jedoch selten gegeben. Vielleicht ist es schwierig oder unmöglich, über allerallgemeinste und darum im Einzelnen versagende Bestimmungen hinaus ein solches Kriterium zu geben. Vielleicht muß man ein Gefühl dafür haben, was echt und unecht, kitschig und nicht kitschig ist. Aber selbst dann ist offensichtlich, daß die Frage, ob echt oder unecht, mit den rein technischen Vorzügen eines Stückes nichts zu tun hat. Ein Stück kann eine ausgezeichnete Exposition haben in dem Sinne, daß dem Zuschauer alles, was er über Situation und Vorgeschichte wissen muß, auf die natürlichste Weise durch den Dialog der dramatischen Figuren mitgeteilt wird; der Dialog kann lebhaft sein, er kann höchste Spannung erregen, ja das Stück kann darüber hinaus sogar Einheit haben und bei allen diesen Vorzügen doch kitschig sein. Auf der ändern Seite kann das Stück mehrerer dieser Vorzüge, abge-

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sehen von der Einheit der Handlung, entbehren und doch nicht ,kitschig' sein. Dennoch ist der Vorwurf, ein Stück sei ,kitschigf, ein viel vernichtenderer Vorwurf als der, daß etwa die Exposition ungeschickt oder gewaltsam sei oder selbst, daß es Längen habe. Da nun das tragische Leiden wesentlich ein moralisches Leiden ist, und da die Echtheit und Unechtheit der Gefühle, die in einer Tragödie zur Darstellung kommen oder durch sie im Zuschauer erzeugt werden, untrennbar mit den moralischen Konflikten und ihrer moralischen Beurteilung verknüpft ist, so ist das Echte und Unechte im Moralischen offenbar etwas, das den Kern der Tragödie betrifft. Damit sind wir vom entgegengesetzten Ende her wieder bei demselben Problem angelangt, das sich von der moralisierenden Interpretation der Tragödie her gestellt hatte. Tragödien sollen nach dieser Art der Interpretation moralische Lehren und Urteile enthalten. Aber die Lehren und Urteile selbst ganz großer Dichter scheinen einander zu widersprechen. Muß dann die Lehre oder das Urteil des einen oder des anderen als ,unecht' bezeichnet werden? Oder geht der Relativismus der Werte so weit, daß ein großer Dichter das Eine, ein anderer das Entgegengesetzte ,echtc machen kann? Und bleibt dann nicht letzterdings das Urteil darüber, was echt und was unecht sei, dem persönlichen Geschmack überlassen, so daß auch auf diesem Gebiet künstlerischer Wertung völliger Subjektivismus, d. h. völlige Anarchie des Urteils, als unvermeidlich betrachtet werden muß? Das werden die moralisierenden Interpreten am wenigsten wahr haben wollen. Aber auch die rein ästhetisierenden Kritiker können das Problem, das darin liegt, daß das Moralische in der Tragödie eine zentrale Stellung einnimmt und daß die Frage der Unechtheit oder Echtheit in der höheren Kritik spontan überall auftaucht, nicht einfach umgehen. Jedenfalls aber zeigt sich, daß weder die moralisierende Interpretation, so weit sie sich, wie es meistens geschieht, damit begnügt, die dem Stücke wirklich oder nur vermeintlich impliziten Urteile des Dichters über seine Charaktere und ihre Handlungen in vergröbernder Form explizit zu machen und etwaige Lehren daraus abzuleiten, noch die rein ästhetisierende, ihr Augenmerk auf das Technische im weitesten Sinne richtende, Interpretation im Stande ist, das wesentliche Problem auch nur klar zu sehen. In dieser Situation bedeutet es wohl einen Glücksfall, daß dieselbe 119

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tragische Grundsituation von vier gleich großen oder nahezu gleich großen Dichtern in völlig verschiedener Weise zur Darstellung gebracht worden ist. An diesem Anschauungsmaterial, wenn irgendwo, muß es möglich sein, die Natur des Zusammenhanges zwischen dem Tragischen und Moralischen deutlich sichtbar zu machen und wenigstens einen Zugang zu der Lösung der damit zusammenhängenden Probleme, wenn es eine solche gibt, zu finden. Dabei wird wohl auch einiges Licht fallen müssen auf die Beziehung zwischen Handlung und Charakteren in der Tragödie und auf die Frage des von Aristoteles in gewisser Weise behaupteten Vorrangs der Handlung vor den Charakteren. Wenn nun im folgenden der Versuch gemacht wird, die bedeutendsten dramatischen Bearbeitungen des Orestesstoifes auf diesen Punkt hin zu analysieren, so sollte es wohl kaum notwendig sein, ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß für die Gesamtbeurteilung eines Stückes auch das Technische und darunter die Kunst der Erregung der Spannung sowie von Mitleid und Furcht im Zuschauer von höchster Bedeutung sind und daß diese Kunst sich auch in Szenen zeigen kann, in denen der moralische Konflikt nicht unmittelbar in Erscheinung tritt, wie in der Spannung der Wiedererkennungsszenen in mehreren der antiken Orestes- oder Elektratragödien. Unser Augenmerk wird jedoch auf diese Dinge im folgenden nur soweit gerichtet sein, als es zur Klärung unseres Hauptproblemes notwendig oder dienlich ist. 2.

Der Anfang der Choephoren, des zentralen Stückes der Orestie des Aeschylus, ist in den Handschriften nicht erhalten und kann nur aus Anspielungen und Zitaten in anderen antiken Schriftstellern bruchstückweise ergänzt werden. Aber so viel ist deutlich, daß das Stück damit begann, daß Orest mit seinem Freund Pylades zu dem Grab seines Vaters kommt, um dort zu opfern. Er ruft den chthonischen Hermes, den Totengeleiter, an, ihm beizustehen; wie eine spätere parallele Anrufung des chthonischen Hermes durch Elektra zeigt, ist damit gemeint, er solle ihm beistehen und bewirken, daß sein Vater drunten bei den Toten seine Anrufung hört. Er legt eine Locke, die er sich abgeschnitten hat, am Grabe nieder, und er ruft dann den toten Vater an, indem er beklagt, daß er bei seiner Bestattung nicht zugegen gewesen ist. Die 120

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Handschriften beginnen damit, daß Orest Elektra mit dem Chor, einer Gruppe asiatischer Sklavinnen, herannahen sieht, die offenbar am Grabe Spenden darbringen wollen. Er verbirgt sich mit seinem Freund. Die letzten Worte, die er spricht und in denen er Zeus anfleht, ihm bei der Rache für den Tod seines Vaters willig beizustehen, lassen keinen Zweifel darüber, zu welchem Zweck er gekommen ist. Elektra und der Chor kommen auf ausdrückliches Geheiß der Klytämnestra. In einem späteren Dialog zwischen Orestes und dem Chor erfährt man, daß der Anlaß dieses Gebotes nicht spontane, aus dem Herzen kommende, Reue gewesen ist, sondern ein Traum, der Klytämnestra erschreckt hat, so daß sie aus Angst durch die Sendung Elektras — sie selbst wagt offenbar nicht, die Handlung am Grabe des von ihr ermordeten Gemahls selbst vorzunehmen oder sich daran zu beteiligen — den Versuch machen will, den Toten und die unterirdischen Mächte, wenn es noch möglich sein sollte, zu versöhnen und dem durch den Traum angedeuteten drohenden Schicksal zu entgehen. Sehr eindrucksvoll beleuchten gleich die ersten Worte Elektras4 das Sinnlose des aus der Angst geborenen Gebotes Klytämnestras und die widerspruchsvolle Lage, in die Elektra selbst dadurch geraten ist. Sie selbst möchte gerne am Grabe des Vaters Spenden darbringen. Aber was für Worte soll sie dazu sprechen, wenn sie als Abgesandte seiner Mörderin kommt? Alles, was bei solchen Spenden zu sagen üblich ist, müßte zu einer Beleidigung des Toten werden. Dasselbe gilt in erhöhtem Maße für die Gebete um Wohlwollen für den Spender, die man am Grabe zu sprechen pflegt. So wird unter dem Einfluß des Chores, den Elektra um Rat angeht, die Sendung in ihr Gegenteil verkehrt. Das ist sehr kunstvoll angelegt. Der Name Klytämnestras wird in der Szene nicht genannt. Elektra, sagt der Chor5, soll für die Wohlgesinnten beten, d. h. für sich selbst „und alle, die Aegisthus hassen", worin der Chor sich einschließt. Sie soll des Orest gedenken, dann der Schuldigen an dem Mord, und beten, daß ein göttliches oder menschliches Wesen kommen möge als Richter über sie. Als dann der Chor noch deutlicher wird und sagt, damit sei gemeint einer, der den Mord mit Mord vergilt, zögert Elektra für einen Augenblick und fragt, ob es keine Verletzung der Götter sei, solches von ihnen zu erbitten. Aber der Chor antwortet": Wie sollte es unrecht sein, Böses mit Bösem zu vergelten? Damit scheint 121

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Elektras kurzes Bedenken beseitigt. Ihr folgendes kurzes Gebet entspricht genau den Weisungen des Chors. Sie erwähnt die Mutter zweimal, einmal indem sie sich beklagt, daß sie von ihr wie eine Sklavin am Hofe gehalten werde, dann um zu beten, daß sie selbst weiser und ihre Hand unsträflicher sein möge als die der Mutter. Dann bittet sie den toten Vater, daß ein Rächer erscheinen möge und die Mörder sterben müssen. Wieder wird Klytämnestra nicht ausdrücklich genannt. Aber es kann kein Zweifel sein, daß sie unter denen, die sterben müssen, mitgemeint ist. Von einem Zögern ist nach der einen Frage der Elektra an den Chor nichts mehr zu merken. Es folgt die Entdeckung der Locke und der Fußspuren des Orest durch Elektra, das Auftreten des Orest selbst und die Erkennungsszene. Dann betet Orest zu Zeus7, er möge das Haus der Atriden, das jetzt so tief gefallen ist, wieder aufrichten und die junge Brut des Adlers, der m den Umschlingungen einer schrecklichen Schlange zu Grunde gegangen sei, nicht umkommen lassen. Auch hier kann kein Zweifel sein, wer mit dem Bilde gemeint ist und welche Folgerungen daraus zu ziehen sind. Von zentraler Bedeutung für das Verständnis des Stückes und die Motivierung der Tat des Orest ist jedoch, was dieser unmittelbar nach diesem Gebet auf eine kurze Warnung des Chores, nicht zu offen zu reden, damit er nicht verraten werde, zur Antwort gibt: Apollon, sagt er8, werde nicht zulassen, daß seine Absicht zu nichte werde; denn er habe ihm durch ein Orakel den Befehl gegeben, die Rache an den Mördern seines Vaters zu vollziehen und zwar indem er sie ermorde, wie sie seinen Vater ermordet hatten. Er habe ihm mit den fürchterlichsten Strafen gedroht, wenn er diesen Befehl nicht ausführe: er habe verkündet, was der Zorn der grollenden Toten für die Lebenden bedeutet, die er trifft: Aussatz und Pest werden sie treffen, ihr Fleisch verzehren und ihr Haar ergrauen lassen; die Erinyen des Vaters werden sie verfolgen, sie mit Wahnsinn schlagen und sie im Schlaf mit schrecklichen Träumen plagen; der unsichtbare Zorn des toten Vaters wird sie von den Altären vertreiben; niemand wird sie bei sich aufzunehmen wagen; einsam und verlassen werden sie elend zu Grunde gehen. Aber, so fährt Orestes fort9, auch wenn ich dem Orakelspruch. keinen Glauben schenkte, so könnte ich doch nicht anders handeln. Denn vieles drängt mich zu der Tat: das Schreckliche, das dem Vater widerfahren 122

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ist, die Not in die wir geraten sind, vor allem aber, daß nicht meine Mitbürger, die ruhmvollsten aller Sterblichen, die Eroberer Trojas, unter der Herrschaft zweier Weiber bleiben können: denn auch Aegisthus hat einen weibischen Sinn10. Dieses Nebeneinander zweier Begründungen, durch den Befehl des Gottes mit den Strafandrohungen, die ihn begleiten, und durch emotionale und rationale Gründe, die aus der Sache selbst genommen sind, ist für das Stück von fundamentaler Bedeutung. Apollon und die griechischen Götter überhaupt sind nicht der selben Art wie der Gott des alten Testaments, der aus seinem unerforschlichen Ratschluß heraus und um den Menschen zu prüfen, Abraham die Opferung seines Sohnes auferlegt und einfach gläubigen Gehorsam verlangt. Sein Befehl ist durch die Lage der Dinge auf das sorgfältigste motiviert, wie es ja in den Worten des Orest, daß er auch, wenn er dem Orakel nicht glaubte, ebenso handeln müßte, ausgesprochen ist. Orestes ist als in einer Zeit lebend gedacht, in der es keine unabhängigen Gerichte, überhaupt nichts, was über dem Herrscher stünde oder von ihm unabhängig wäre, gibt, wo die ganze Ordnung des Staates auf der Legitimität des Herrschers beruht. Das ist auch schon am Ende des ersten Stückes der Trilogie deutlich zum Ausdruck gekommen, wo der Chor, der sich über die feige Ermordung des Agamemnon empört und seine Empörung dem Aegisthus ins Gesicht· schleudert11, doch diesem schließlich, als er das Herrscheramt an sich genommen hat, nichts entgegenzuhalten weiß als die Drohung mit der Rückkehr des Orestes, wenn dieser herangewachsen sein wird. Eben damit wird dem Zuschauer unmittelbar vor Augen geführt, daß niemand das Land von der Herrschaft der ,beiden Weiber', der Mörder des legitimen Herrschers, befreien kann als der legitime Erbe: und er kann es, da er als Verbannter und seines Erbes Beraubter keine eigene Macht besitzt nur dadurch, daß er den Mord mit Mord vergilt. Daraus ergibt sich wenn nicht die Rechtfertigung', jedenfalls die Notwendigkeit von Orestes' Tat. Trotzdem werden dadurch der Befehl und die Drohungen des Gottes keineswegs überflüssig. Denn allgemein und auf das Ganze gesehen ist zwar die Notwendigkeit der endlichen Wiederherstellung der legitimen Ordnung, und daß diese unter den bestehenden Umständen nur durch Ermordung der Mörder geschehen kann, einleuchtend. Aber subjektiv für den, der die Tat vollbringen

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soll, ist der Muttermord etwas so Schreckliches, daß er nicht zu verstehen wäre, wenn nur die allgemeinen Erwägungen und Motive, die Orestes ausspricht, zur Wirkung kämen, und nicht die ganze schreckliche Macht und Autorität des Gottes dahinter stünde. Doch auch das ist noch nicht alles. Der Befehl des Gottes mit seinen Drohungen und die allgemeinen Gründe für die objektive Notwendigkeit der Tat reichen aus für den Entschluß. Aber der Entschluß ist noch nicht die Tat. Nachdem der Entschluß gefaßt ist, rufen Orest, Elektra und der Chor in einem langen Wechselgesang den toten Agamemnon um seinen Beistand bei seiner Ausführung an. Die erste Triade dieses Wechselgesanges12 enthält die ersten Anrufungen des Toten durch die Geschwister und den Ausdruck ihres Zweifels, ob sie mit ihren Anrufungen zu ihm in das Dunkel seines Grabes dringen können, aber auch die Versicherung des Chores, kein Feuer (das den Leib verzehrt), könne den Geist des Toten vernichten; auch spät noch werde sein Zorn sich zeigen und der Mörder offenbar werden. In der zweiten Triade13 stellen der Chor und Orest sich vor, wie es gewesen wäre, wenn Agamemnon ruhmvoll vor Troia in der Mitte seiner Kampfgefährten gefallen wäre: dann würde er auch im Jenseits als König unter den Seinen leben. Um so deutlicher wird fühlbar, daß er diese Ehren, die ihm von Rechts wegen zukämen, nicht genießt. Denn das Schicksal des Menschen im Jenseits ist bei den Griechen identisch mit dem Erinnerungsbild, das sie von ihm haben, und das traurige Ende Agamemnons hat seine Gestalt als großer Feldherr und Krieger überschattet. In der dritten Triade14 steigert sich das 'Leid der Kinder um den Vater, der noch im Jenseits der ihm zukommenden Ehren beraubt ist, auf das Höchste; hier wird zum ersten Mal innerhalb des Kommos Klytämnestra persönlich erwähnt; und am Ende sagt Orest, sein Herz sei der Mutter gegenüber wie ein grimmiger Wolf, der nicht durch freundliches ,Wedeln' besänftigt werden kann. In der letzten Triade endlich wird der Grimm Orests auf die Mutter noch gesteigert, durch die Beschreibung, wie Klytämnestra nach der Ermordung ihren Gatten ohne alles Gefolge, unbeweint, ohne alle die Totenklagen, die dem Toten geschuldet werden, hat verscharren lassen. Darauf bekräftigt Orest seinen Entschluß, die Mutter ohne jede Rücksicht auf die Folgen zu töten: die Götter werden ihm helfen; sein Arm wird stark genug sein; und wenn die Tat vollbracht ist, will er 124

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gerne zu Grunde gehen. Darauf folgt, wenn man die Anordnung der Handschriften anerkennt, noch die Mitteilung des Chores, daß an dem Toten der jMaschalismos' vorgenommen worden sei: jener scheußliche Ritus, bei welchem dem Toten die Gliedmaßen abgeschnitten und um den Hals gebunden werden, in der primitiven Überzeugung, daß er sich dann nicht mehr rächen kann. Über den Sinn dieses ganzen Kommos gibt es eine Kontroverse zwischen U. v. Wilamowitz15 und anderen Interpreten, vor allem Schadewaldt und K. Reinhardt16. Nach Wilamowitz' Meinung ist es der Sinn des Kommos, daß in ihm „der Knabe", der vorher noch zögert und unsicher ist, durch den Chor und Elektra sowie durch die eindringlichen Beschwörungen am Grabe des Vaters schließlich zu dem Entschluß, die Mutter zu töten, getrieben wird. Um diese Interpretation ganz plausibel zu machen, ist es für Wilamowitz jedoch notwendig die Verse, in denen Orest seinen Entschluß ausspricht, von der Stelle, an der sie in den Handschriften stehen17, ganz an das Ende des Kommos zu rücken. Nach Schadewaldts Meinung steht der Entschluß des Orest schon vor dem Kommos unwandelbar fest und wird auch im folgenden niemals wankend. Nur „das Bild der Entschlossenheit des Orest wird", so meint er es formulieren zu müssen, „im Fortschritt der Handlung von Stufe zu Stufe deutlicher, zwingender, glaubhafter, je mehr die Tat näher rückt"18. Eine Umstellung von Versen entgegen der Überlieferung ist bei dieser Auffassung nicht notwendig. Mir scheint, daß keine der beiden Erklärungen völlig das Richtige trifft, wenn auch beide wichtige Elemente der Wahrheit enthalten. Unzweifelhaft hat Schadewaldt recht, wenn er sagt, daß der Entschluß des Orest, wenn man unter Entschluß die feste Überzeugung von der Notwendigkeit, die Tat auszuführen, versteht, schon vor dem Kommos feststeht, und daß keinerlei Anzeichen dafür gefunden werden können, daß Orest vor oder während des Kommos in diesem ,Entschlußc wankend wird. Aber die feste Überzeugung von der Notwendigkeit der Tat und die Fähigkeit, sie auch auszuführen, wenn die Mutter ihm in eigener Person gegenübersteht, sind nicht ganz ein und dasselbe. Daher muß zu dem Befehl des Gottes und den objektiven Gründen noch ein drittes hinzu kommen: die emotionale Vorbereitung auf die Tat, die erst ihre Durchführung ermöglicht. Da ist es nun die höchste Kunst, wie diese Vorberei125

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tung aus der Beschwörung des Toten hervorwächst. Womit hilft der Tote denn den Geschwistern, die um seine Hilfe flehen? Dadurch, daß er sie durch die lebendige Erinnerung an die Schmach, die ihm wiederfahren ist, zur Durchführung der Tat fähig macht. In diesem Sinn, aber auch nur in diesem Sinn, hatte Wilamowitz recht, wenn er darauf bestand, daß Orest erst im Verlauf des Kommos zur Tat reif gemacht wird. Zugleich zeigt sich jedoch auch, daß Schadewaldt recht hatte, wenn er der Umstellung der Verse, in denen Orest seinen Entschluß bekräftigt, widerspricht. Es ist sehr viel eindrucksvoller, wenn die Erwähnung des an Agamemnon vollzogenen Maschalismos, durch den der Tote unfähig gemacht werden sollte, sich zu rächen, unmittelbar auf die Bekräftigung des Entschlusses Orests, seine Mutter zu töten, folgt: des Entschlusses, durch den Agamemnon seine Fähigkeit, sich unbeschadet des Maschalismos zu rächen, soeben bewiesen hat: und dies umsomehr, als die Erzählung von dieser äußersten Schändung des Vaters Orest in seinem Entschluß noch bestärken muß. Was im weiteren Verlauf der Orestie noch für unsere Grundfrage wichtig ist, kann ganz kurz zusammengefaßt werden. Auf die letzten Anrufungen des toten Agamemnon durch Elektra, Orest und den Chor, folgt die ausführliche Mitteilung des Schrecktraums der Klytämnestra, der sie veranlaßt hatte, Elektra mit Opfergaben an das Grabmal ihres ermordeten Gatten zu schicken und der zugleich unzweideutig den Erfolg der geplanten Rache verheißt. Darauf besprechen die Geschwister kurz den Plan ihres Anschlages auf die Mörder ihres Vaters19. Orest und Pylades begeben sich zu dem Palast und geben sich für Fremde aus, die gekommen sind, den Tod des Orest im fernen Phokis zu melden. Sie werden von Klytämnestra freundlich aufgenommen, die sogleich nach Aegisth sendet, damit er als Mann die Fremden über die Kunde, die sie bringen, näher ausfragen könne. Eine kleine Zwischenszene mit einer kilikischen Amme, die Orest als kleines Kind genährt hat, wird eingeschaltet, um dem Zuschauer keinen Zweifel darüber zu lassen, daß die Trauer, welche Klytämnestra bei der Nachricht vom Tode ihres Sohnes geäußert hat, geheuchelt war und daß sie sich in Wirklichkeit darüber freut, von der Angst vor dem einzigen möglichen Rächer ihres Gatten befreit zu sein20. Aegisthos kommt und wird, kaum, daß er den Palast betreten hat, von Orest und Pylades überfallen und getötet. Seine Leiche 126

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wird herausgetragen, und als Klytämnestra herausstürzt, um nach der Ursache des Tumultes zu fragen, dringt Orest auf sie ein. Aber nun, wo er der Mutter selbst gegenübersteht und sie, die errät, wer er ist, ihn daran erinnert, daß sie ihn geboren und an der eigenen Brust genährt hat, wird er für einen Augenblick schwankend und scheut vor der Tat zurück. Als ihn jedoch Pylades an das Gebot des Gottes erinnert, drängt er sie nach einer kurzen Auseinandersetzung ins Haus und tötet auch sie. Nachdem die Tat vollbracht ist, weist Orest zunächst auf die Leichen hin und rühmt sich, das Land von den Tyrannen befreit zu haben. Er erzählt noch einmal, auf welch grauenvolle Weise sein Vater umgarnt und ermordet worden ist. Aber während er noch die tote Mutter eine Natter schilt, kommt ihm das Schreckliche seiner eigenen Tat voll zum Bewußtsein. Er weiß nicht mehr, ob er seine eigene Tat loben oder verurteilen soll. Er sucht sich vor sich selbst zu rechtfertigen. Er weist darauf hin, daß der Gott ihm die Tat befohlen und ihm verkündet hat, wenn er die Tat vollbringe, werde er ohne Schuld sein. Aber schon sieht er die Erinnyen der Mutter, die sich ihm nahen und stürzt fort, um bei dem Gott Hilfe zu suchen. Im letzten Stück der Trilogie sendet Apollon Orest bekanntlich aus seinem Heiligtum in Delphi nach Athen, wo er von einem menschlichen Gerichtshof unter dem Beistand der Göttin Athene freigesprochen wird und auch die Erinnyen, die gegen das Urteil Einspruch erhoben haben, versöhnt werden, so daß sie nicht nur von den Göttern gezwungen, sondern freiwillig von ihrem Opfer ablassen und zu Eumeniden werden. Was ist nun der Sinn des Ganzen? Wilamowitz hat die Meinung ausgesprochen21, Aeschylus habe die Tat des Orest verurteilt und sei damit notwendigerweise zu dem Apollon seiner Trilogie in Gegensatz getreten. Er sei darin der Vorläufer des Euripides gewesen. Aber das kann in dieser Form nicht richtig sein. Man müßte den Freispruch am Ende so auffassen, daß er deshalb erfolgte, weil Orest von dem Gott ohne eigene Schuld in die Irre geführt worden ist. Aber davon findet sich bei Aeschylus nicht die geringste Andeutung. Trotzdem steckt in der Meinung Wilamowitz' etwas Richtiges. Aber es muß genauer bestimmt werden. Zunächst das Verhältnis der Orestie des Aeschylus zu früheren Behandlungen der Sage. Ob hinter den mannigfachen Anspielungen bei den Chorlyrikern Simonides, Stesichoros 127

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und Pindar eine ,delphische'', epische Orestie steht, wie Wilamowitz glaubte nachweisen zu können22, ist nicht mit Sicherheit nachzuweisen. Aber darin hat Wilamowitz wohl recht, daß in der älteren Dichtung der von dem Gott befohlene Muttermord als »eine Heldentat* dargestellt wurde oder wenigstens die Pflicht des Orest zur Blutrache viel stärker betont wurde als das Schreckliche des Muttermords. Darin liegt also eine Neuerung des Aeschylus, daß er das Tragische des Konfliktes auf das Äußerste zugespitzt hat, indem er die Notwendigkeit der Tat und das Schreckliche an ihr gleich stark hat hervortreten lassen. Aber Aeschylus hat es nicht nur verstanden, als dramatischer Dichter tragische Konflikte auf das Äußerste zuzuspitzen und in größter Eindringlichkeit auf die Bühne zu bringen, sondern es liegt auch in seiner ,Theologie was gemeinsam, (d. h. im gemeinsamen Interesse der Menschen, f r die er bittet, und der G tter) ist, denn eine Stadt, der es wohl geht, ehrt die G tter", l t etwas anklingen von jener freundlichen Auffassung des Verh ltnisses der G tter zu den Menschen, die sich bei den Griechen entwickelt hat: da die G tter vor allem an dem in freudiger Dankbarkeit und Frohsinn dargebrachten Gebet und Opfer Wohlgefallen haben. Das Korrelat dazu ist, da die Menschen, wenn es ihnen gut geht, am spontansten an die G tter denken und sie an ihrer Freude teilnehmen lassen wollen, eine sehr spezifisch griechische Auffassung25, die sich sehr von der bei Juden und Christen so h ufig zu findenden Beobachtung und Bef rchtung entfernt, da der Mensch, wenn es ihm gut geht, Gott vergi t und erst durch Leiden zu ihm zur ckgebracht werden mu . Aber in dem vorangehenden Gebet, die Stadt zu retten und sie nicht unter das Joch der Knechtschaft fallen zu lassen, sind nicht nur Zeus und alle die Stadt sch tzenden, d. h. in der Stadt einen Kult genie enden, G tter angerufen worden, f r die eine solche Anrufung sehr passend ist, sondern auch die g ttlichen M chte des Fluches und der Erinys des Vaters, die gewi nicht zu den M chten geh ren, die an mit Frohsinn und Freude gebrachten Opfern ein besonderes Wohlgefallen haben. Von ihnen kann man h chstens erhoffen, da sie ihren Blick und ihre Wirkung weglenken, und auch das nur von der Stadt, aber nicht von Eteokles, auf den sie ja eben gerichtet sind. So dr ckt sich schon in diesem kurzen Gebet — und die Art, wie es in diese wenigen Zeilen zusammengedr ngt ist, ist h chste Kunst — die eigent mliche Doppelheit der Stellung des Eteokles sowohl der Stadt wie den G ttern gegen ber aus: der Stadt gegen ber die engste Verbundenheit in der Sorge f r sie, die ihn auch die G tter f r sie bitten l t, und gleichzeitig die Trennung von ihr, die darin liegt, da sie nur durch Trennung des unabtrennbar auf ihm liegenden Fluches von der Stadt gerettet werden kann: den G ttern gegen ber, indem er f r die Stadt noch auf sie hofft, f r sich selbst aber, soweit sie αρά und Erinys mitumfassen, nicht eigentlich auf sie hoffen kann26. 216

Sieben gegen Theben

Über das Verhältnis des Eteokles zu den Göttern, wie es sich in der folgenden Auseinandersetzung mit den aufgeregten Mädchen ausdrückt, ist oft und richtig gehandelt worden, so daß hier nicht viel hinzuzufügen ist. Eteokles ist alles andere als ein Atheist. Er hat ja auch die göttlichen Mächte allzusehr am eigenen Leib und der eigenen Seele zu spüren bekommen als daß er an ihrer Existenz Zweifel hegen könnte. Er zweifelt auch nicht, daß sie sich hilfreich erweisen können und daß man deshalb zu ihnen beten soll, wie er es selbst unmittelbar vorher getan hat. Aber er ist nicht nur davon durchdrungen, daß sie ihm kein Jota von seiner eigenen Verantwortung abnehmen können, sondern er weiß auch zu viel davon, wie Städte und Einzelne, die auch auf die Götter vertraut und zu ihnen gebetet hatten, von ihnen im Stich gelassen worden sind, wie die Götter eine Stadt ganz buchstäblich verlassen haben, aus ihr ausgewandert sind, um sich an sie klammern zu können27. Der Kontrast zwischen ihm und den Mädchen in dieser Hinsicht ist sehr eindrucksvoll. Die Mädchen sind voll fassungsloser Angst. Aber eben in dieser fassungslosen Angst liegt auch der Instinkt, sich an etwas zu klammern, dem man vertraut. Sie würden sich noch mit angstvollem Vertrauen an die Götter klammern, im Augenblick, wo der Feind sie packt, um ihnen die Kehle durchzuschneiden. Sofern in Eteokles auch etwas von Angst ist, ist es eine ganz andere Art von Angst: nicht eine fassungslose, sondern eine sehr gefaßte Angst. Auch deshalb kann es bei ihm keinen Instinkt des Sichanklammerns geben. Die Götter sind da, aber sie sind fern und man kann sich nicht auf sie verlassen. Auch das gehört zu der Atmosphäre von Einsamkeit und Verlassenheit, die Eteokles von Anfang an umgibt. Kommt dann noch hinzu, daß unter den göttlichen Mächten, mit denen er persönlich zu tun hat, der Fluch und die Erinys des Vaters sind, so ist der Schritt von dem Gebet, in dem dieser Fluch mit den ändern Göttern um Rettung der Stadt angefleht wird, zu der Einsicht, daß er, Eteokles, von den Göttern ganz aufgegeben ist, doch nicht so weit. Ist es daher auch nicht ganz unrichtig, von einer dem Falle des Oedipus vergleichbaren Verblendung des Eteokles in der ersten Hälfte des Stückes zu reden, insofern er die ganze Schrecklichkeit und Ausweglosigkeit seiner Lage dort noch nicht erkennt, so sind die Voraussetzungen und die sich daraus ergebende Situation in beiden Fällen doch völlig verschieden: dort der, 217

Sieben gegen Theben

was die Reinheit seines Wollens angeht, ganz Unschuldige, der ganz ohne es zu wollen, das objektiv Fürchterliche getan hat, davon aber gar nichts weiß und erst im Laufe des Stückes allmählich entdeckt, daß er selbst der Urheber alles Unglücks ist, hier dagegen ein Mann, der sich von Anfang an des Fluches, der, ob verschuldet oder unverschuldet, aber doch wohl nicht ganz ohne seine Schuld, auf ihm lastet, voll bewußt ist und dem nur seine Folgen noch nicht in ihrer vollen Schrecklichkeit deutlich geworden sind. Beide sind um ihre Stadt besorgt. Aber Oedipus ist zunächst ganz eins mit ihr, während Eteokles trotz seiner Sorgen um die ändern von einer Atmosphäre der Einsamkeit umgeben ist. Oedipus, dem das Schreckliche erst in einem Prozeß von atemberaubender Spannung innerhalb der auf der Bühne dargestellten Handlung offenbar geworden ist, ist von der Gräßlichkeit des nun Erkannten so überwältigt, daß er sich die Augen ausreißt und weder im Leben noch im Tod mehr einen Ausweg weiß, da er sich seinen Eltern noch selbst unter den Toten gegenüberzutreten scheut. Eteokles dagegen ist von Anfang an von Schrecknissen umgeben, denen er ganz allein ins Gesicht zu sehen hat. Nachdem er bis zuletzt trotz allem das, was er als seine Pflicht betrachtet, zu tun versucht hat, schließen sich die Schrecknisse noch enger um ihn zusammen, bis er am Ende sozusagen mit vollem Bewußtsein durch das Höllentor zu gehen hat: ein Ritter gegen Tod und Teufel, der nur nicht ruhig auf seinem Pferde sitzt wie auf dem Dürerschen Stich, sondern den höllischen Gewalten selbsttätig entgegengehen muß28. Hier sind nun Situation und Gestalt des Eteokles völlig eins. Die Situation kann nur die sein, welche sie ist, weil Eteokles der ist, der er ist; und umgekehrt kann es eine Gestalt wie diejenige als die Eteokles im ganzen Stück erscheint, nicht geben, ohne die Situation, in der sie erscheint. Insofern ist es nicht ganz unrichtig, wenn Wilamowitz den Charakter des Eteokles, von dem er sagt, er sei mehr individualisiert als alle anderen Personen vor der Orestiezg — ich würde sagen, einschließlich der Orestie — aus der dramatischen Situation abzuleiten versucht, die sich Aeschylus aus der Vereinigung der Sagenversion von dem ruhmreichen Verteidiger seiner Vaterstadt und der Version von den vom väterlichen Fluch getroffenen Brüdern ergab. Aber in wie weit ist es richtig, wenn er weiter sagt30: „Der Dichter hat sich gewiß nicht gefragt, wie zeichne ich meinen Eteokles, sondern er nahm, was ihm gegeben 218

Sieben gegen Theben

war"? Sofern damit gemeint ist, daß Aeschylus sich seine Charaktere nicht ausdachte, sondern sie sich ihm mehr oder minder unbewußt zu lebendigen Gestalten formten, wird der erste Teil des Satzes gewiß richtig sein. Was den zweiten Teil des Satzes angeht, so ist er wohl richtig in Bezug auf alle individuellen Züge des Eteokles, die Wilamowitz anführt: daß er mit festem Selbstvertrauen seine Pflicht tut (der ruhmreiche Verteidiger), daß er sich des Fluches bewußt ist, der ihn unheimlich einem Ziele zutreibt, vor dem ihm graut (der Eteokles der späteren Version) und daß er gleichwohl es als Feigheit betrachten würde, dem Fluche nicht zu gehorchen (ich würde sagen: aus dem Wege zu gehen), wenn es ohne Verletzung seiner Pflicht der Stadt gegenüber nicht möglich ist. Aber die Individualisierung der Gestalt geht, wie mir scheint, weit darüber hinaus, und eben damit auch hinaus über die Individualisierung der Gestalten der gesamten Orestie, nicht nur von Orest, der verhältnismäßig unindividualisiert bleibt, sondern auch Agamemnon, Klytaimnestra, Kassandra, Aigisth und Elektra. So etwas wie die konzentrierteste Darstellung der äußersten Fassung bei der äußersten Spannung, wie sie die Gestalt des Eteokles das ganze Stück hindurch kennzeichnet, wird keinem Dichter einfach durch eine sich durch die Überlieferung des Stoffes ergebende Situation in die Hand gegeben. Diese Darstellung vollzieht sich sozusagen in einem dreifachen Bogen, von denen jeweils der folgende eine weitere Spannung als der vorhergehende hat. Der erste Bogen umfaßt den Prolog. Er findet seinen Abschluß in dem Gebet, in dem die Doppelheit der Stellung des Eteokles zu den Göttern und zu der Stadt einen so konzentrierten Ausdruck findet, an dessen Ende aber Eteokles dennoch ganz gefaßt und zum Handeln gesammelt ist. Der zweite Bogen spannt sich über die Auseinandersetzung des Eteokles mit dem Chor nach der Parodos. Hier wird die Spannung in ihm in dem heftigten Ausbruch gegen die Mädchen zum ersten Mal auch äußerlich offenbar. Wer an dieser Stelle die von Patzer nur als Möglichkeit diskutierte Interpretation annähme, daß darin eine Schwäche des Eteokles liege, oder gar angedeutet werde, daß er in Wirklichkeit kein guter Herrscher sei, würde damit zeigen, daß er das Stück gar nicht verstanden hat. Wenn Eteokles hier völlig ruhig bliebe, würde dies entweder bedeuten, daß er eine Abgeklärtheit besitzt, die jenseits des Glaubens an die Wirksamkeit eines Fluches liegt, und 219

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damit wäre die Grundvoraussetzung des Stückes zerstört, oder Eteokles würde zu einer Abstraktion des unerschütterlichen Herrschers, der jedes Leben fehlt. Die Gefahr, eine solche Abstraktion aus ihm zu machen, hätte gerade auf Grund der aus den überlieferten Sagenversionen sich ergebenden Situation nahe gelegen, und manche der modernen Interpreten haben eine solche Abstraktion („der ideale Herrscher, entschlossenen Willens, klar den Kopf und stark die Hand") aus ihm gemacht. Darin, daß Aeschylus dieser Versuchung nicht erlegen ist, bzw. daß es für ihn keine solche Versuchung gab, zeigt sich, daß er ein großer Dichter war. Am Ende der Szene senkt sich der Bogen jedoch wieder. Eteokles wendet sich, wieder völlig gefaßt, seiner nächsten Aufgabe zu, obwohl die Mädchen ihm Widerstand entgegengesetzt haben und er mit ihrem Widerstand nicht ganz fertig geworden ist31. Der dritte Bogen ist der am weitesten gespannte. Die Spannung, nicht nur im Zuschauer, sondern auch in Eteokles, steigt langsam an bis zu dem Bericht des Boten über das siebte Tor, der nicht nur keinen Zweifel darüber läßt, daß Polyneikes persönlich als Führer am Angriff teilnehmen wird und Eteokles als der geeignete Verteidiger ihm gegenüber übrig geblieben ist, sondern auch die Entschlossenheit des Polyneikes, es bis zum äußersten kommen zu lassen und der Stadt Gewalt anzutun, bekräftigt. Darauf folgt der zweite Ausbruch des Eteokles, der sich nicht wie der erste nur in Worten äußert, sondern auch und vor allem in der Hast, mit der er den Entschluß faßt, den Fluch, so wie er jetzt seinen Sinn erkennt, zur Erfüllung zu bringen, und sich die Waffen bringen läßt, um ihn auszuführen. Aber auch hier ist er am Ende schon wieder ganz gesammelt und gefaßt. Nun wo er sieht, daß es keinen ändern Ausweg gibt und daß, wie er sagt, die Götter sich schon nicht mehr um ihn kümmern, ist er bereit, auch das auf sich zu nehmen. Die weiteren Einwände der Mädchen prallen einfach an ihm ab, ohne daß er noch einmal heftig würde. Er ist schon wieder ganz auf das Handeln gerichtet, wie er es am Ende der beiden vorhergehenden Abschnitte der Handlung gewesen war. Gegen diese Interpretation wird nun zweifellos der übliche Einwand gemacht werden, sie sei ,psychologisierend* und lege damit in das Stück etwas hinein, was einem Archaischen' Dichter noch ganz fern gelegen habe und deshalb dort nicht gefunden werden könne. Aber die Wahr220

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scheinlichkeit eines solchen Einwandes kann nur der Anlaß dazu sein, den Versuch zu machen, die sehr verschwommenen Begriffe, mit denen hier traditionell operiert wird, etwas zu klären und auch die Frage zu erörtern, wie weit die allgemeinen Behauptungen, daß es zu einer gegebenen Zeit etwas geben oder nicht geben könne, berechtigt sind. Auch an dieser Stelle ist ein Vergleich mit Euripides recht instruktiv. Auch für ihn war, wenn er gegenüber den Sieben gegen Theben die moralischen Akzente anders setzen und gewissermaßen die Kehrseite der Medaille zeigen wollte, eine Situation vorgezeichnet, aus der sich gewisse Folgerungen für die Charakterisierung von selbst ergaben. Er hat, um Eteokles zu belasten, die Verhandlungen zwischen den Brüdern und das Opfer des Menoikeus eingeführt. Aber das allein genügte nicht, wenn der Charakter und das Verhalten des Polyneikes so blieb, daß die Verteidigung der Stadt gegen ihn als eine Notwendigkeit erschien. Da nun bei Aeschylus unter anderem schon die Tatsache, daß Polyneikes mit einem Heer so wilder Gesellen einen Angriff auf die eigene Vaterstadt unternimmt, dazu benützt wird, dem Zuschauer vor Augen zu führen, daß er als Herrscher dieser Stadt nicht geeignet ist, war es notwendig, Polyneikes in ein anderes Licht zu setzen und sein Vorgehen begreiflich zu machen. Dazu gebraucht Euripides die Mittel seiner Psychologie. Sein Polyneikes zieht keineswegs mit wildem Haß gegen seine Vaterstadt und seinen Bruder zu Feld. Sein Inneres ist gespalten. Schon die ersten Worte, die er zu der Mutter spricht, welche ihn, als er zur Verhandlung kommt, als erste empfängt, besagen dies: „ich komme mit guten und nicht mit guten Gedanken zu denen, die mir feind sind"32. Dann spricht er von seiner Liebe zur Heimat, von den Leiden des Verbannten, der sich unter fremden Menschen herumtreiben muß und von den Freunden und Verwandten, die er in der Heimat zurückgelassen hat, nicht einmal Nachricht bekommt. Seine eifrigen Erkundigungen nach dem Vater und den Geschwistern8* zeigen, daß er nicht heuchelt in dem, was er sagt. In der Auseinandersetzung mit dem Bruder ist er zunächst, obwohl er es ist, der sein Recht zu fordern gekommen ist, in der Defensive, und erst nachdem Eteokles ihm angekündigt hat, daß er ihn nicht nur aus der Stadt vertreiben, sondern auch töten will, wird er schließlich dazu getrieben zu sagen, seine Hoffnungen auf Rückkehr in die Heimat seien noch nicht ,sdilafen gegangen' und er hoffe, nachdem er 221

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den Bruder getötet habe, als Herrscher in seine Vaterstadt zurückzukehren. Der Unterschied zwischen der Selbstdarstellung des Eteokles in den Sieben und des Polyneikes in den Phoenissen fällt in die Augen. Der Polyneikes des Euripides enthüllt sein Inneres unmittelbar. Bei dem Eteokles des Aeschylus ist alles, was er sagt, auf das Handeln und seinen Gegenstand gerichtet, und die Spannung in seinem Innern offenbart sich nur indirekt. Doch ist dieser Unterschied zwischen direkter und indirekter Äußerung nicht das Entscheidende. Einige der frühesten wie einige der spätesten Stücke des Euripides, die Alkestis in der Darstellung des Admet, die Medea in lason und Kreon, Iphigenie in Aulis in der Darstellung des Agamemnon, weisen eine viel raffiniertere Kunst der psychologischen Analyse auf als sie in dem Polyneikes der Phoenissen in Erscheinung tritt. In allen diesen Fällen wird das Innere der handelnden Personen nicht so sehr durch direktes Aussprechen dessen enthüllt, was sie bewegt, wie bei dem Polyneikes der Phoenissen, sondern durch ihre Zögerungen, durch die Halbwahrheiten, die sie sagen, durch den Widerspruch zwischen ihren Worten, ihrem Wollen und Wünschen, und dem was sie wirklich tun. Von dieser Art raffinierter Psychologie, einer Psychologie der kleinen enthüllenden Züge und innerlich zerrissener Charaktere ist Aeschylus in der Darstellung des Eteokles und überhaupt in seinen Hauptcharakteren sehr weit entfernt. Auch wo die innere Spannung des Eteokles sich in einem Ausbruch äußert, bleibt er doch ganz auf ein Ziel gerichtet und ist nichts Zwiespältiges in ihm. Dabei ist nicht schwer zu sehen, daß es nicht allzu schwierig gewesen wäre, den Eteokles der Stehen auf Euripideische Weise zu psychologisieren. Man hätte nur einigen Zweifel in seine Brust zu senken brauchen, ihn schwanken lassen zwischen wirklicher Sorge um die Stadt und egoistischer Herrscherbegier — wie es ja schon von Patzer als Möglichkeit angedeutet worden ist — und dies dann in allerhand kleinen Zügen zum Ausdruck kommen zu lassen, und aus dem Aeschyleischen Helden wäre ein Euripideischer geworden. Den Polyneikes des Euripides in eine Aeschyleische Gestalt zu verwandeln wäre schwieriger. Aber unmöglich wäre es keineswegs. Die Liebe zu seiner Vaterstadt könnte statt durch direkte Darstellung durch sein Verhalten den Mitangreifern gegenüber indirekt zum Ausdruck kommen und Ähnliches. Hier hat man also 222

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eine wirkliche Verschiedenheit der Mittel, deren sich die verschiedenen Dichter bedienen. Diese Verschiedenheit ist gewiß auch bis zu einem gewissen Grade zeitbedingt. Man kann auch fragen, wie weit es sich jeweils um ein Nichtkönnen oder Nichtwollen handelt. Daß Aeschylus nicht ganz unfähig war, einen Charakter auch in kleinen psychologischen Strichen zu zeichnen, zeigt vielleicht die Gestalt des Okeanos im gefesselten Prometheus. Aber für die großen tragischen Figuren wollte er es offenbar nicht. Hier ist die von manchen Kunsthistorikern seit Anfang des Jahrhunderts etwas allzu stark in Anspruch genommene Theorie von der Verschiedenheit des Kunstwollens nicht ganz fehl am Platze; und auch Aristophanes hatte recht mit seinem Hinweis, daß Euripides Dinge auf die Bühne brachte, die seine großen Vorgänger bewußt vermieden hatten. Nicht minder aber lassen sich an diesen Stücken die Grenzen der entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung demonstrieren. Daß verschiedene Dichter, vor allem, wenn sie verschiedenen Generationen angehören, Verschiedenes wollen und sich verschiedener Mittel bedienen, ist eine Binsenwahrheit. Aber die Verschiedenheit präzise zu bezeichnen, ist oft nicht leicht; und die moderne Interpretation ist nicht ganz selten der Gefahr erlegen, aus der Interpretation eines früheren Dichters a priori etwas auszuschließen — wie hier etwa das Psychologische — weil es erst einem späteren Dichter anzugehören schien und man den Unterschied zwischen dem, was hier und dort mit demselben Namen psychologisch* bezeichnet wurde, sich nicht deutlich genug machte. Ebenso kann ein antiker Dichter oder Philosoph naturgemäß nicht weniger als ein moderner eine Entwicklung gehabt haben; und es ist töricht, dies, wie es z. B. für Aristoteles geschehen ist, deshalb zu leugnen, weil die Antike im allgemeinen solchen Entwicklungen wenig Beachtung geschenkt hat. Aber auch hier besteht die Gefahr einer allzu einlinigen Konstruktion oder Rekonstruktion. Das stärkere oder weniger starke Hervortreten gewisser Darstellungsformen und Darstellungsmittel wird nicht nur durch die ,innere Entwicklung* des Dichters oder die Entwicklung seiner technischen Mittel, sondern zu einem nicht geringen Grade auch durch den von ihm gewählten Stoff bestimmt. Dieser Faktor ist in der antiken Dramendichtung von sehr viel größerer Bedeutung als in der modernen, weil der antike Tragödiendichter bei der Fülle seiner 223

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Produktion und seiner Bindung an den Mythos sich seine Stoffe bei weitem nicht so frei wählen konnte wie der moderne Dramatiker es kann. Insofern lag in dem Hinweis von Wilamowitz darauf, daß die stärkere Individualisierung des Eteokles gegenüber allen anderen dramatischen Gestalten des Aeschylus durch die ihm vergebenen Sagenversionen bestimmt gewesen sei, etwas sehr Richtiges, wenn auch ein geringerer Dichter auf Grund derselben Vorausbedingungen gewiß nicht eine so großartige Gestalt geschaffen hätte, wie der Eteokles der Sieben es ist. Diese Wirkung des vorgegebenen Stoffes läßt sich aber gerade an den Sieben gegen Theben und an Eteokles vielleicht auch noch nach einer ändern Richtung hin illustrieren. Fast alle Tetralogien des Aeschylus, die sich erhalten haben und ebenso das Einzelstück ,die Perser', das nicht einer zusammenhängenden Tetralogie eingeordnet war, enden mit der Wiederherstellung einer Ordnung, manchmal einer höheren und vollkommeneren als derjenigen, innerhalb welcher das tragische Geschehen und Leiden entstanden war. So wird am Ende der Perser die von den Göttern gewollte Ordnung der Welt im Osten und im Westen wiederhergestellt, indem die Griechen des Westens ihre Freiheit siegreich verteidigt haben, aber auch die von den Göttern gewollte absolute Herrschaft des Xerxes in der östlichen Hälfte der Welt erhalten bleibt trotz aller Leiden, die er über sein Volk gebracht hat durch den Versuch, sie auf den dafür nicht bestimmten Westen auszudehnen. So wurde am Ende der Prometheustrilogie Prometheus mit Zeus versöhnt und dadurch eine Ordnung geschaffen, in die der trotzige Gegner des Himmelsgottes sich freiwillig einordnen kann. So wurden am Ende der Danaidentrilogie aller Wahrscheinlichkeit nach die Danaiden an griechische Ehegatten in einer griechischen Ehe vermählt34, und so eine Ordnung wiederhergestellt, die durch das rohe und gewaltsame Werben der Aegyptossöhne und ihre darauf folgende Ermordung durch die Danaostöchter in der Brautnacht verletzt worden war. Am Ende der Orestie endlich steht der Freispruch des Orest durch den Areopag, die Verwandlung der Rachegöttinnen in wohltätige Bewahrerinnen einer gesetzlichen Ordnung, und die Einsetzung eines Gerichtshofes, der nicht meHr nur nach dem richtet, was als äußere Tat geschehen ist, sondern der auch nach den Motiven fragt.

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Sieben gegen Theben

Die Sieben gegen Theben sind das letzte Stück einer tragischen Trilogie. Hier müßte also nach Analogie am Ende etwas Ähnliches stehen. In gewisser Weise ist dies auch der Fall. Die Stadt ist gerettet, wenn auch Eteokles untergegangen ist. Aber auch der versöhnliche Ausgang der übrigen Einzelstücke oder Trilogien kann das tragische Leiden, den tragischen Untergang einzelner Gestalten, und die gewesene Störung der menschlichen oder göttlichen Ordnungen nicht ungeschehen machen. Trotzdem besteht ein Unterschied. In der Sage folgte noch, wenigstens in bekannten Versionen, die Antigonegeschichte und als noch spätere Phase der Zug der Epigonen gegen Theben und die Zerstörung der Stadt. In dem Drama des Aeschylus, soweit es von ihm stammt, war davon nichts angedeutet. Aber wie stark es dem Zuschauer gegenwärtig war, zeigt der unechte Schluß, in dem auf neue tragische Verwicklungen hingedeutet wird. Der Labdakidenmythos ist einer der, wenn nicht der düsterste, unter den überkommenen griechischen Mythen, der am wenigsten einen Ausblick auf eine endgültig wiederhergestellte, das Alte versöhnende oder gar höhere Ordnung läßt. Diesen seinen Charakter konnte auch Aeschylus, wenn er sich seiner bediente, nicht völlig beseitigen. Stand auch am Ende die Rettung der Stadt und wurde von dem späteren tragischen Geschehen der Sage nichts angedeutet, so hatte der Tod des Eteokles unter dem väterlichen Fluch doch etwas Düstereres und Unversöhnteres als selbst die Ermordung des Agamemnon in der Qrestie, die ja auch in den späteren Stücken der Trilogie gerächt wird und nicht am Ende des Ganzen steht. Sophokles* größte Tragödien sind eben dem Sagenkreis entnommen, der sich gewissermaßen gegen die bei Aeschylus sonst vorherrschende Form der Tragik sträubt. Das hängt damit zusammen, daß die sophokleische Form der Tragik eine andere ist. Sie ist härter als die des Aeschylus. Es ist nicht für sie charakteristisch, daß jeweils am Ende die Wiederherstellung einer Ordnung oder gar einer höheren Ordnung steht, oder jedenfalls nicht in der Weise des Aeschylus. Wohl aber ist es für einige seiner größten Tragödien charakteristisch, daß der Held nach den furchtbaren Leiden, durch die er ganz zerstört zu werden scheint, dennoch in seinem innersten Wesen und als Gestalt, wie er dem Zuschauer vor Augen bleibt, nicht nur ganz unzerstört aus dem Leiden hervorgeht, sondern noch weit über das hinausgehoben ist, was er vor 225

Sieben gegen Theben

seinem tragischen Leiden gewesen war. Davon ist andeutungsweise schon in dem Eteokles der Sieben gegen Theben etwas zu finden. Er hat nicht die Durchsichtigkeit der großen Gestalten der Tragödien des Sophokles, der auch insofern zwischen Aeschylus und Euripides steht, als seine dramatischen Personen ganz fest umrissene Gestalten bleiben, aber doch einen Einblick in ihr Inneres erlauben, während bei Euripides nicht selten das Plastische der Gestalten durch zu viel Psychologie verloren geht. Aber er ist das erste Beispiel einer ganz individualisierten großen tragischen Gestalt; und es ist wohl nicht ganz uninteressant zu beobachten, daß Aeschylus diesen Schritt auf eine neue Form des Tragischen zu bei der dramatischen Gestaltung eines Stoffes getan hat, der seiner Natur nach von vorne herein der sophokleischen Form des Tragischen besonders angepaßt gewesen ist.

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HAIMONS LIEBE ZU ANTIGONE Wo immer in der modernen Literatur über Sophokles' Antigone die Haimonszene behandelt wird, steht — ausgesprochen oder unausgesprochen — die Frage im Vordergrund, warum die leidenschaftliche Liebe Haimons zu Antigone in dieser Szene nicht deutlicher zum Ausdruck komme. Für Ewald Bruhn in der Einleitung zu seiner Ausgabe der Antigone1 (S. 25—27) wird diese Frage zum Anlaß einer Charakteristik Haimons als einer weichen Natur, die bei aller Reinheit der Gesinnung doch vorsichtige Klugheit mehr auszeichne als starkes Wollen. So begreiflich es sei, daß er so leidenschaftlich an dem stolzen Mädchen hänge, Antigone hätte in ihm schwerlich den Mann gefunden, zu dem sie hätte aufblicken können. Gegen diese Sentimentalisierung des Verhältnisses zwischen Haimon und Antigone haben sich die neueren Erklärer — um nur die wichtigsten zu nennen: Tycho von Wilamowitz2, W. Schadewaldt3, H. Weinstock4 — mit Recht gewandt. Aber bei allen bleibt doch als Grundvoraussetzung, daß Haimons Leidenschaft für Antigone die eigentliche Triebfeder seines Handelns — seines Verhaltens gegenüber Kreon wie seines Selbstmordes — sei. Bei Schadewaldt findet sich (S. 66) der Satz: „Haimon ... äußert leidenschaftliche Liebe zu Antigone." Das ist geradezu falsch. Denn in der ganzen Haimonszene findet sich nicht ein Wort, durch das eine solche Liebe unmittelbar geäußert würde. Wenn überhaupt, kann man sie nur aus seinem Handeln und Verhalten erschließen, aber ausgesprochen wird sie von ihm nicht. Bei Weinstock und T. v. Wilamowitz ist dies mit voller Klarheit / gesehen. Nach Weinstock ist es „schöne Keuschheit", die Haimon „von einem Gefühl schweigen läßt, dessen Mächtigkeit seine Tat sichtbarer macht als jedes Geständnis" (S. 124). T. v. Wilamowitz geht immerhin so weit, aus der großen Szene zwischen Haimon und Kreon die Leidenschaft Haimons ganz ausgeschaltet sein zu lassen: Sophokles habe diese Leidenschaft nur gebraucht, um den Tod Haimons zu motivieren (S. 42). Eben dieser [19120]

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Gegensatz zwischen der großen Haimonszene, in welcher eine Leidenschaft Haimons nichts zu suchen habe, und der Motivierung seines Todes ist ihm jedoch nur eine Bestätigung seiner These, daß Sophokles kein Bedürfnis empfunden habe, für eine Nebenfigur wie Haimon eine einheitliche Motivierung und eine persönliche Form zu erfinden. Aber vom modernen Empfinden aus sei die Kritik richtig, die Sophokles vorwirft, daß er den Ausdruck des tieferregten Gefühls für Haimon nicht gefunden habe und daß Haimon bei ihm aus der Sache ein Wortgefecht mache und darüber seine persönlichen Argumente aus den Augen verliere. Nur müsse man eben deshalb nur um so schärfer den Unterschied hervorheben zwischen dem modernen Empfinden und dem antiken, das an derartigen Dingen keinen Anstoß genommen hätte. Es sollen hieran keine allgemeinen Erörterungen angeknüpft werden, die über den speziellen Gegenstand hinausgehen. Ich will nur ganz kurz meine Stellung zu den Gesamtresultaten bezeichnen, zu denen T. v. Wilamowitz in seinem Buche kommt. Ich halte seine Feststellungen über die dramatische Technik des Sophokles, der es nur auf das ankommt, was unmittelbar zur sichtbaren Handlung gehört, und der Widersprüche in dem, was zwischen den Auftritten vor sich geht, zumal wenn man nur durch Nachrechnen und Nachkonstruieren darauf kommen kann, absolut gleichgültig sind, für eine der wertvollsten und wesentlichsten Erkenntnisse über das Wesen des antiken Dramas, die seit langem gewonnen worden sind. Dagegen halte ich die Ausdehnung seines Prinzips auf die Charaktere nicht in vollem Umfang für richtig. Richtig ist zweifellos, daß es gerade für die Hauptcharaktere bei Sophokles keinerlei Nebenzüge gibt, daß er sie nicht gewissermaßen plastisch von allen Seiten und in den verschiedensten Situationen — auch solchen, die mit der Haupthandlung nicht in direkter Beziehung stehen — charakterisiert, wie es das moderne Drama liebt. / Vielmehr wird gerade dies, und zwar offenbar bewußt und absichtlich vermieden und jeder Charakter nur gerade allein in und für das Geschehen, in das er hineingestellt ist, und das Schicksal, das sich an ihm vollzieht, charakterisiert5. Dagegen scheint es mir nicht richtig zu sein, daß Sophokles keine einheitlichen Charaktere hätte, daß bei ihm derselbe Mensch vollkommen anders erscheinen kann, je nachdem es die Situation und die Bühnenwirksamkeit verlangt. Ich halte es für ein ganz wesentliches Verdienst des Aufsatzes von 228

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W. Schadewaldt, gezeigt zu haben, da es trotz der Richtigkeit der brigen Beobachtungen von T. v. Wilamowitz eine Einheit der Hauptcharaktere bei Sophokles gibt, wenn ich auch seiner Erkl rung im einzelnen nicht berall beistimmen kann6. Aber alle diese allgemeinen Fragen sollen im folgenden ganz aus dem Spiel bleiben und nur gefragt werden, zu welcher Erkl rung des Verhaltens Haimons eine Analyse derjenigen Szenen der Antigone, in welchen er auftritt oder die auf ihn Bezug haben, f hrt. Man kann dabei gerade an Fragestellungen ankn pfen, wie sie bei T. v. Wilamowitz immer wiederkehren. Man kann also zuerst die Frage stellen, warum in der gro en Szene zwischen Kreon und Haimon die Leidenschaft Haimons jedenfalls nicht im Vordergrund stehen darf. Die Antwort darauf ist leicht zu geben. Sobald hier die Leidenschaft Haimons in den Vordergrund tr te, m te das Interesse sich ihm zuwenden oder w re zum mindesten zwischen ihm und Antigone geteilt. Die herbe Klarheit und Einlinigkeit, mit der im ganzen St ck — auch in den letzten Teilen, wo es sich um Kreon handelt — die Tat und das Schicksal der Antigone die Handlung bestimmt, w rde zerst rt, wenn hier auf einmal die pers nliche Leidenschaft Haimons ins Spiel k me. Aber noch viel wichtiger ist ein zweites: was Haimon seinem Vater gegen ber vorbringt, verliert seine ganze Kraft und G ltigkeit, wenn es / pers nliche erotische Leidenschaft f r das M dchen ist, was ihn so reden l t. Denn nicht darum, ob Kreon Recht hat oder ob Antigone schuldig ist, geht es dann letzterdings, sondern darum ob Haimons Braut gerettet wird. So ist denn auch die ganze Szene aufgebaut. Schon gleich zu Anfang (v. 635 ff.) ist es ausdr cklich nicht die Ehe mit Antigone, die Haimon verteidigt. Das έμοί γαρ ουδείς άξιώσεται γάμος μείζων φέρεσθαι σου καλώς ηγουμένου (637/38) schlie t doch ein, da keine Ehe, auch nicht die mit Antigone, ihm h her steht als der Gehorsam gegen seinen Vater, wenn dieser nur καλώς ηγείται. Und das bleibt der Grundton die ganze Szene hindurch. Der Vater ist es, der dem Sohn immer wieder vorwirft, er sei ein weibischer Kerl oder ein Weiberknecht, weil er f r das M dchen eintrete, statt f r den Vatser. Aber jedesmal ist die Antwort des Sohnes: nicht um das M dchen geht es mir, sondern um dich (v. 740/41: Κρ.: δδ', ως εοικε, τη γυναικί συμμαχεί. Αϊμων: εΐπερ γυνή συ. σου γαρ οΰν προκήδομαι und ν. 748/49: Κρ.: ό γοΰν λόγος σοι πας υπέρ κείνης δδε. Αϊμων: και σου [21122]

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, ). Soll das denn alles bloß eine Verschleierung der persönlichen Leidenschaft des Haimon sein, die als wirkliche Triebfeder dahintersteht? Aber auch der ganze Sinn der Szene im Aufbau des Stückes macht eine solche Auffassung unmöglich. Sie hat eine doppelte Aufgabe zu erfüllen in der Gesamtökonomie des Stückes. Sie ist einmal eine Vorbereitung auf das Unglück, das am Ende des Dramas über Kreon hineinbrechen wird, indem sie den Tod des Haimon vorausahnen läßt. Sie bildet auf der anderen Seite den Höhepunkt derjenigen Szenen, in denen die ganze Widersinnigkeit der Handlungsweise Kreons vor Augen geführt wird, bevor das Schicksal der Antigone sich vollzogen hat, d. h. in einem Augenblick, wo es noch als möglich erscheint, daß alles einen guten Ausgang nimmt. Sie bildet damit die unmittelbare Vorbereitung auf die große Antigoneszene, zu der sie, wie noch gezeigt werden wird, in einem ganz besonderen Verhältnis steht und in der das Stück als Ganzes seinen Höhepunkt erreicht. Dann vollendet sich in den letzten Szenen das Schicksal Schlag auf Schlag. In diesem Zusammenhang ist die Ismeneszene, die der Haimonszene vorausgeht, die erste Vorbereitung. Bis hierhin hat/die Tat der Antigone im Vodergrund gestanden. Der Eindruck war beherrscht durch ihre Überlegenheit über Kreon in der Straffheit ihres gespannten Willens. Ihr selbst kommt bis dahin das eigene Schicksal, das ihr bevorsteht, gegen die Tat, die sie getan hat, noch gar nicht in Betracht; und auch der Zuschauer mag wohl schon um sie bangen, aber auch für ihn überwiegt der gegenwärtige Eindruck ihrer hinreißenden Kraft und Überlegenheit noch ganz. Nun tritt in der Verzweiflung Ismenes zum ersten Mal das Grausame und Widersinnige ihres Schicksals in den Vordergrund. Damit stellt diese Szene die Verbindung zwischen dem Vorhergehenden und dem Folgenden her. Denn auf der einen Seite tritt durch die hilflose Verzweiflung der Ismene, die nur mitsterben kann, aber weder mithandeln konnte noch die Tat gebilligt hat, der Gegensatz der handelnden Kraft und Unbedingtheit Antigones zu dieser Haltung noch einmal scharf hervor, auf der anderen Seite wendet sich die Aufmerksamkeit schon der Grausamkeit ihres Schicksals zu; aber hier ist der Eindruck noch geschwächt durch die passive Hilflosigkeit Ismenes, die nur für das Leben Antigones eintritt, nicht für ihre Tat und für ihr Recht. 230

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Mit der Haimonszene setzt die Steigerung ein. Sie ist schon dadurch gegeben, daß Haimon Kreon unvergleichlich viel näher steht als Ismene, dann aber vor allem dadurch, daß dem Kreon hier nicht Hilflosigkeit, sondern eine feste Überzeugung gegenübertritt. So freilich beginnt dann alles ganz ruhig. Es ist auch zunächst nicht die eigene Meinung, die Haimon seinem Vater gegenüberstellt, sondern die der Leute in der Stadt: wie man im Volk über die Tat Antigones und über die Haltung Kreons denkt. Erst dann, als Kreon in seiner Selbstherrlichkeit darauf nichts gibt, tritt Haimon mit seiner eigenen Meinung auf, nun aber mit um so größerem Gewicht, als er den Vater liebt, als er dem Vater mit kindlicher Ehrfurcht und Liebe gegenübersteht und mindestens ebenso sehr um und für den Vater wie um Antigone kämpft. Gerade das wird vollkommen zerstört, wenn man persönliche Leidenschaft für das Mädchen für die eigentliche Triebfeder Haimons hält. Denn dann geht es ja gar nicht mehr in erster Linie um die Sache und das Recht und den Sinn der Tat, sondern um dieses persönliche Verhältnis: und alles was Haimon sagt, erhält dadurch eine persönliche Färbung und verliert seine letzte objektive Gültigkeit. / Läßt man aber nur diese Voraussetzung der persönlichen Leidenschaft beiseite, so ist der Aufbau der Szene ganz wundervoll. Da es Haimon um die Sache geht und um den Vater, so muß er diesem mit kindlicher Ehrfurcht gegenübertreten. Es ist eine ganz törichte Forderung, daß er von Anfang an mit Leidenschaft das Leben seiner Braut fordern sollte oder gar, als das nichts hilft, wie man es von einem männlicheren Charakter gefordert hat, das Volk aufwiegeln und einen Versudi machen, sie mit Gewalt zu befreien. Es geht ihm ja gar nicht um das Leben der Antigone allein — gleichgültig was sonst geschieht, wenn sie nur am Leben bleibt —, sondern um den Vater und um die Tat. Es kann daher auch gar keine Rede davon sein, daß er deshalb nicht leidenschaftlich von seiner Liebe redete, weil er den starrsinnigen Charakter seines Vaters schon kennt und weiß, daß es doch nichts nützen wird (so E. Bruhn S. 26); sondern die Voraussetzung für die ganze Szene ist, daß er glaubt, seinen Vater umstimmen zu können, aber natürlich nicht durch die Argumente einer persönlichen Leidenschaft, sondern dadurch, daß er ihm zeigt, daß das Recht nicht so auf Kreons Seite ist, wie dieser glaubt. Erst als er auf absolute Verständnislosigkeit stößt, als Kreon [23124]

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jeder sachlichen Auseinandersetzung ausweicht und mit starrsinniger Hartnäckigkeit immer wieder auf seinen Autoritätswahn zurückkommt — dem Sohn gegenüber, der nichts mehr wünschte, als der echten Autorität des Vaters bedingungslos folgen zu können —, erst da wendet sich Haimon gegen den Vater: in Verzweiflung über dessen Verblendung. Gerade diese Steigerung ist ganz ausgezeichnet. Es ist auch falsch, was T. v. Wilamowitz behauptet, daß die Diskussion sich am Schluß in „für uns unerfreuliche Allgemeinheiten auflöst" (S. 43). Es gibt kaum eine konkretere, menschlich ergreifendere Situation als die, in welche Haimon hier gestellt ist: der natürliche Anwalt der Braut und des Vaters zugleich zu sein und des Vaters gegen den Vater, so daß er ihm, den er liebt und den er verehren möchte, am Schluß die Worte ins Gesicht schleudern muß: ' ' ( . 755): wenn du nicht mein Vater wärest, würde ich sagen, daß du nicht ganz recht im Kopfe bist. Gewiß tritt damit auch das Schicksal Haimons in den Vordergrund. Aber eben das ist das Großartige an der Szene, daß in / dem Schicksal Haimons unmittelbar alle Seiten der Tat wie des Schicksals der Antigone und der Handlungsweise Kreons in leuchtender Klarheit zur Erscheinung kommen. In einer persönlichen Leidenschaft Haimons dagegen, die doch ganz ebenso betroffen wäre, wenn Antigone aus ganz anderen Gründen sterben müßte oder ihm entrissen würde, würde gerade das in den Hintergrund gedrängt. Das genügt wohl, um zu zeigen, daß zum mindesten in dieser Szene eine persönliche Leidenschaft Haimons nicht zum Ausdruck kommen darf, ja daß man die Szene überhaupt erst versteht, wenn man jeden Gedanken daran ausmerzt, wie ja auch Sophokles im Verhalten Haimons alles getan hat, um diesen Gedanken fern zu halten. Aber am Schluß der Szene deutet Haimon an, daß er sich selbst töten will, und diesen Entschluß führt er später auch aus. Das kann er nach übereinstimmender Meinung aller modernen Erklärer nur aus Leidenschaft für Antigone tun. Man muß von dem Botenbericht über den Tod Haimons ausgehen, um zu sehen, ob diese Meinung richtig ist. Dieser Botenbericht ist kurz, aber deutlich genug. Kreon ist durch die drohenden Prophezeiungen des Teiresias, denen schon schreckliche Vorzeichen vorangegangen sind, plötzlich anderen Sinnes geworden. Er will Antigone aus ihrem Gefängnis befreien und sogar Polyneikes begraben lassen. Aber als 232

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er mit seinen Leuten zu der Felsenkluft kommt, in der Antigone eingeschlossen ist, ist es schon zu sp t. Als sie eintreten, finden sie Antigone „κρεμαστήν αυχένας ... βρόχω μιτώδει σινδόνος καθημμένην" (1222). Haimon hat sie um die Mitte gefa t — wie man immer angenommen hat, um sie aus der Schlinge zu l sen, da v. 123 6 ff. angenommen wird, da sie auf der Erde liegt — und bejammert den Tod der Braut, die έργα πατρός und das δύστηνον λέχος, d. h. sein ungl ckliches Verl bnis. Als Kreon dies sieht, ger t er in h chste Angst um seinen Sohn. Er bittet ihn flehentlich herauszukommen. Aber als Haimon ihn erblickt, speit er ihm ins Gesicht und st t mit dem Schwert nach seinen Vater. Dann, als dieser ausweicht und er ihn verfehlt, kehrt er αύτφ χολωθείς das Schwert gegen sich selbst und t tet sich. Hier ist also in dem αύτω χολωθείς das Motiv angegeben, warum er sich t tet. Das hat auch T. v. Wilamowitz gesehen (S. 22 u. S. 42 Anm.). Aber es ist ihm ein spezielles Nebenmotiv neben dem Hauptmotiv der pers nlichen Leidenschaft und scheint ihm als solches sogar in einem gewissen "Widerspruch zu diesem Hauptmotiv / und berhaupt zu allem Vorhergehenden zu stehen, so da es ihm seine Meinung zu best tigen scheint, Sophokles habe hier Widerspr che nicht vermieden. Aber dann wird das Verfahren des Sophokles h chst sonderbar. Er hat nach T. v. Wilamowitz' eigener Meinung die Leidenschaft Haimons in der gro en Szene zwischen Haimon und Kreon in keiner Weise als Motiv verwendet. In der letzten Augenblicksmotivierung seines Todes ist sie wieder ausgeschaltet. Also braucht sie Sophokles nur f r das ganz kurze Zwischenst ck: die Todesdrohung am Ende der Haimonszene und das Verhalten Haimons im Felsengrab, bevor er sich t tet. Es ist deutlich, was T. v. Wilamowitz zu dieser verzweifelten Annahme veranla t hat: da ihm das αύτφ χολωθείς kein ausreichendes Motiv f r das ganze Verhalten Haimons ist. Das ist es nun allerdings f r sich genommen auch nicht. Aber wenn man nur die Verbindung zu dem, was vorhergeht, herstellt, so ergibt sich eine so vollst ndige Motivation, als man sie sich nur w nschen kann, und ohne da pers nliche Leidenschaft zu dem M dchen die geringste Rolle zu spielen braucht. In der Folge der Klage ber den Tod der Braut, die έργα πατρός und das δύστηνον λέχος sowie des αύτω χολωθείς bis zu seinem Tod treten die Motive, die ihn zum Selbstmord treiben, noch einmal mit vollster Klarheit hervor. Er ist der Anwalt beider: der Braut und des Vaters, und des Vaters gegen [25126]

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ihn selbst. Nun hat er die Braut verloren durch die Verblendung des Vaters, gegen die er — ihr natürlicher Beschützer — sie nicht hat schützen können, weil der Schuldige sein Vater war. Und er hat seinen Vater verloren auf eine viel schlimmere Weise als durch den Tod. In diesem Augenblick, wo er vor seiner Braut steht, die von seinem eigenen Vater wegen ihrer herrlichsten Tat gemordet wurde, ist die Situation auf der Spitze: da wendet er sich mit dem Schwert gegen seinen Vater, und dann, als ihm zum Bewußtsein kommt, was er tut, wendet er — das Schwert gegen sich selbst und tötet sich. Ich glaube nicht, daß es an dieser Stelle noch irgendeiner anderen Motivierung bedarf. Natürlich bedarf es auch am Ende der Haimonszene keiner anderen Motivierung. Denn hypothetisch ist die Situation dort / genau so auf der Spitze wie in der Szene im Felsengrab. Aber man kann auch ganz genau die Gründe dafür angeben, warum Haimon sich dort nicht sofort tötet, und ebenso für alles, was er nachher tut. Es wäre ja lächerlich, wenn er sich wie ein Theaterheld vor Kreon voreilig den Dolch in die Brust stieße, bevor das Urteil vollzogen ist. Natürlich muß er warten, bis dies geschehen ist (vgl. auch v. 751), so wenig er auch persönlich noch Hoffnung haben mag. Natürlich muß er auch zu dem Felsengefängnis gehen, in dem Antigone eingeschlossen ist, da er nur dort Gewißheit bekommen kann. Nur danach darf man nicht fragen, ob er Hoffnung hatte, sie vielleicht noch lebend anzutreffen, oder gar, wie er gehandelt hätte, wenn sie noch am Leben gewesen wäre. Das weiß der Dichter nicht und will er nicht wissen. Aber dieses Nichtwissen ist nicht einmal eine Eigentümlichkeit des Sophokles oder der antiken Tragödie allein; vielmehr würden sich dafür auch aus der modernen Dichtung zahlreiche Analogien erbringen lassen. Soweit ist also deutlich geworden, daß der Sinn der Haimonszene, seiner Todesdrohung und seines Todes überhaupt, nur dann voll erfaßt werden kann, wenn man persönliche Liebesleidenschaft ganz aus dem Spiele läßt. Aber nun folgt auf die Haimonszene das berühmte Chorlied: ' (781 it.), das alles umzustoßen scheint, was bisher behauptet wurde. Denn hier wird — anscheinend vom Dichter selbst — für das Verhalten Haimons genau der Grund angegeben, der bis jetzt verworfen wurde. Aber schon für das Chorlied gilt dies doch jedenfalls nicht im Sinne der modernen Auffassung. Für diese liegt das 234

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Schöne und Herrliche gerade darin, daß Haimon sich für seine Geliebte opfert, daß er sich um ihretwillen das Leben nimmt. Wenn man ihm einen Vorwurf zu machen hat, so ist es der, daß er nicht noch viel leidenschaftlicher für sie Partei nimmt, daß er nur passiv um ihretwillen stirbt, nicht aktiv für sie eintritt und sie mit Gewalt oder List befreit oder zu befreien versucht. Wenn er bei einem solchen Versuch getötet würde, wäre ihm die uneingeschränkte Bewunderung der Modernen gewiß. Der Chor teilt diese Auffassung nicht. Für ihn ist die Liebe eine Art des Wahnsinns: „ ' " ( . 790) sagt er ausdrücklich. Und das ist die sehr griechische — altgriechische — Ansicht, daß die Liebe eine Krankheit sei. / Die platonische Verherrlichung des ist demgegenüber etwas Neues, und auch da handelt es sich nicht um Liebe zwischen Mann und Frau, geschweige denn zwischen Braut und Bräutigam. Etwas Herrliches und Hohes wie die Modernen sieht also der Chor in Haimons Liebe nicht. Dagegen kann es nicht verwundern, daß ihm die Liebesleidenschaft den Schlüssel zu dem Verhalten Haimons gibt. Denn wenn er wirklich verstünde, worum es Haimon geht, müßte er ganz auf seiner Seite gegen Kreon stehen. Das darf er nicht. Denn auf der inneren Verständnislosigkeit des Chores beruht die absolute Einsamkeit, die Antigone in der folgenden großen Szene umgibt. Und das gehört zum Zentrum des Stückes. Ohne diese Einsamkeit Antigones ist das Herz des Dramas herausgebrochen, wie später noch zu zeigen sein wird. Der Chor darf also Haimon nicht verstehen. Dann muß ihm aber seine Auflehnung gegen den Vater und König als Verblendung und Wahnsinn erscheinen; und dann ist für diesen Wahnsinn, da es sich um ein Mädchen und um die Braut des Haimon handelt, die Erklärung durch die Macht des einfach die gegebene. Daß also der Chor diesen Schluß zieht und ziehen muß, ist kein Beweis dafür, daß es die Meinung des Dichters ist. So falsch jedoch, wie ich gezeigt zu haben glaube, die Meinung des Chores über die Motive Haimons ist, so ist doch die Grundanschauung, von der sie ausgeht, eine griechische; und wenn man schon daran festhalten will, daß sie die richtige Auslegung des Verhaltens Haimons' sei, dann sei man konsequent und mache sie sich ganz zu eigen. Das ergibt wenigstens eine mögliche und eine griechische Auffassung des Stücks. Dann ist Haimon von den Göttern mit der Verblendung des Liebeswahnsinns geschlagen, um Kreon für seinen Frevel zu strafen. Aber [27128]

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dann liegt auch nichts ethisch Wertvolles in seinem Verhalten gegenüber Kreon und in seiner Tat. Er ist dann nur ein Werkzeug der Götter, die durch ihn Kreon strafen, ein weiteres Opfer des Fluches, der auf dem Labdakidenhause liegt. Nur von der modernen Vorstellung, als ob die Liebesleidenschaft als solche etwas Hohes oder gar ethisch Wertvolles sei, trage man nichts in das Stück hinein. Von dieser Vorstellung war gerade das ältere Griechentum vollkommen frei. Man möchte fast sagen: vielleicht hat gerade deshalb auch die / Liebesleidenschaft in der ältesten griechischen Dichtung ihren unmittelbarsten menschlich ergreifendsten Ausdruck gefunden, weil sie sich von der unklaren Vermischung der erotischen und der ethischen Sphäre — zu der die Liebe zwischen Eltern und Kindern und das Verhältnis der Ehegatten gehört — vollkommen frei gehalten hat. Man muß nur sehen, wie noch Euripides, der doch die Liebesleidenschaft wie kein anderer darzustellen verstand, aus dem Verhältnis des Achill zu Iphigenie, das zu dem Haimons zu Antigone viele Analogien hat, jede Vermischung dieser Sphären aufs strengste ferngehalten hat. Wenn also Leidenschaft die Triebfeder Haimons sein soll, dann schalte man auch alles Ethische aus seinem Verhalten aus und betrachte ihn als das unglückliche Opfer des Wahnes, mit dem ihn die Götter geschlagen haben. Aber ich glaube gezeigt zu haben, daß das mit der Kreon-Haimonszene nicht vereinbar ist und ihren ganzen Sinn zerstört. Dann bleibt nichts anderes übrig, als die Auffassung des Chores als das zu betrachten, was sie nach Meinung des Dichters sein soll: als einen Irrtum. Man sage auch nicht, daß für den Zuschauer das nicht verständlich gewesen wäre. Denn ihm fehlte ja gerade die Voraussetzung, die den Modernen immer wieder die Erklärung verdorben hat, die Auffassung, daß in der Liebesleidenschaft etwas ethisch Wertvolles gelegen sei. Sie war dem antiken Menschen eine große Macht und als solche etwas Göttliches wie alle großen Mächte, die in das menschliche Leben eingreifen, aber vom Ethischen, von den , hat er sie immer ferngehalten, und auch der Chor setzt sie ihnen (v. 799) ausdrücklich als gleichmächtig entgegen. Der antike Zuschauer konnte daher gar nicht in den Irrtum der Modernen verfallen, zumal da Sophokles in der Rede des Haimon (v. 635 ff., 701 ff., 729, 741, 749) wie in der Motivierung seines Todes (v. 1235) und in der Charakterisierung des Chores, der durch die Art, wie er 236

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(v. 681/82) zuerst Kreon, dann (v. 724/25) Haimon zustimmt, und durch sein Verhalten in der Antigoneszene seine Haltung gen gend offenbart, alles getan hat, um einen solchen Irrtum zu verhindern. Freilich ergibt sich daraus eine etwas andere Auffassung des ber hmten Chorliedes (v. 781 ff.), als sie blich ist. Es ist nicht / mehr ein Preis der Macht der Liebe; oder vielmehr: es ist wohl ein Preis ihrer Macht, aber einer Macht, die den Menschen ins Verderben zu st rzen vermag und ihn wider Recht und Gerechtigkeit freveln l t. So spricht es der Chor auch unmittelbar aus: συ και δικαίων αδίκους ορρένας παρασπδς επί λώβςι (791 f.), und das soll man nicht wegerkl ren. Dadurch verliert das Lied nichts an seiner Sch nheit und auch nichts an der Wahrheit der allgemeinen Anschauung, die darin ausgesprochen ist, wenn auch die Anwendung, die der Chor auf Haimon macht, sich gegen ber der hellen Klarheit von dessen berzeugung des Rechts in einer eigent mlichen tragischen Ironie als falsch erweist. Ob Haimon in dem Augenblick, wo er den Leichnam seiner Braut in den Armen h lt, das M dchen, f r das er sich eingesetzt hat, dessen Tat er bewundert und das er nicht hat retten k nnen, auch liebt, soll man weder bejahen noch verneinen — es zu verneinen w re unmenschlich und pedantisch zugleich. Aber schon die Frage zu stellen, ist gegen ber der bewu ten Klarheit, mit der Sophokles alle wesentlichen Elemente der Situation Haimons herausgestellt hat, eine Zudringlichkeit. Aus den Motiven Haimons jedenfalls ist eine pers nliche Leidenschaft von Anfang bis zu Ende fernzuhalten. Nur so ist es m glich, eine der sch nsten Gestalten, die Sophokles geschaffen hat, von den modernen Mi verst ndnissen zu befreien, die sie ganz verdunkelt haben, und sie in ihrer urspr nglichen Sch nheit sichtbar zu machen. Es ist vielleicht erlaubt, zur Erg nzung noch etwas ber die gro e Antigoneszene zu sagen, die sich an die Haimonszene anschlie t. Denn sie wirft ein doppeltes Licht auf jene zur ck: 1. indem sie die Stellung dieser Szene im Gesamtaufbau des St ckes genauer bestimmt und 2. indem sie erkl rt, warum der Chor die Motive Haimons mi verstehen mu . Wie in der Haimonszene die Frage nach Haimons Leidenschaft, so steht in der Antigonezsene die Frage nach der scheinbaren Charakterwandlung Antigones im Mittelpunkt des Interesses. Hier hat man Ansto daran genommen, da dieselbe Antigone, die bis dahin in [29130]

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unbeugsamem Trotz f r ihre Tat eingetreten ist, und der die Strafe, die auf diese Tat gesetzt war, neben der Tat nichts zu bedeuten schien, auf einmal weich geworden ist und in laute Klagen ausbricht / ber ihr Geschick. Nach Ewald Bruhn (S. 26) zeigt dies, da „die Heldin ein lebenskr ftiges M dchen geblieben ist, in dem sich leidenschaftlich der Schmerz aufb umt, als sie vom Sonnenlichte scheiden soll". Ich kann diese Erkl rung nicht so ganz verwerfen, wie W. Schadewaldt (S. 82) es tut. Man mu ihre modern sentimentale Form nur in Griechische wenden, dann gibt sie wirklich den einen Grund der nderung in Antigones Verhalten an. Es ist den Griechen nie anst ig gewesen, da auch der Held klagt, wenn er das Leben im Licht der Sonne mit dem schattenhaften Dasein im Hades vertauschen soll. Und echt griechisch ist es auch, da Antigone ber ihr unvollendetes Dasein klagt: dar ber, da sie in der Bl te der Jugend dahin gehen soll, ehe es ihr verg nnt gewesen ist, in Ehe und Mutterschaft den nat rlichen Ring ihres Daseins zu vollenden. Aber es ist das Verdienst W. Schadewaldts, gezeigt zu haben, da dies noch nicht der tiefste Anla zu der Wandlung in ihrer Haltung ist. Es kann hier nicht meine Aufgabe sein, mich noch einmal mit Schadewaldts Auffassung auseinanderzusetzen7. Ganz tief und richtig aber scheint mir von ihm zum ersten Male gezeigt worden zu sein, da die Frage nach dem Recht zu ihrer Tat es ist, welche Antigone hier zutiefst ersch ttert und welche die Wandlung in ihrer Haltung zuletzt bedingt. Es bleibt nur noch zu zeigen, wie diese Frage die ganze Szene von Anfang an beherrscht und wie sie im Gesamtaufbau des St ckes mit der Haimonszene und mit dem Verhalten des Chores zusammenh ngt. In dem Beginn der Klage scheint diese Frage nach dem Recht noch nicht ber hrt zu sein. Aber als der Chor Antigone zu tr sten versucht mit dem Hinweis auf das Ruhmvolle ihres Geschicks, das sie der Heroin Niobe an die Seite stellt, antwortet sie οΐμοι, γελώμαι, τί με, προς θεών πατρώων ουκ ούλομέναν υβρίζεις, αλλ' έπίφαντον (839 ff.). Warum f hlt sie sich durch diese Tr stung des Chores verh hnt? R. C. Jebb8 antwortet auf diese Frage: „she had looked for present pity. They had comforted her with the hope of postumous glory." Und hnlich H. Weinstock (S. 121): „als sie zum Tode gef hrt mit den Greisen des Chores allein ist, ... / fleht sie den Chor um Mitleid an. Aber die Alten bringen nur den Trost gro er

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Worte auf, den sie als Hohn empfindet." Aber ist es denn wirklich nur Mitleid, um das sie bittet? Kann man sich vorstellen, da sie damit zufrieden w re, wenn der Chor in laute Klagen ausbr che ber ihr Los — an Tr nen spart ja brigens der Chor auch nicht (vgl. v. 803 ff.) — und w rde sie das weniger als Hohn empfinden? Mir scheint, schon gleich die ersten Worte: όρατ' εμ5 ώ γας πάτριας πολΐται, τάν νεάταν όδόν στείχουσαν κτλ. (806 ff.) fordern doch etwas mehr. Noch weist sie nur hin auf den Anblick, wie sie in voller Jugendbl te zum Tod gef hrt wird, aber was sie eigentlich damit will, ist doch nicht leeres Mitleid, sondern die Anerkenntnis, da ihr Unrecht geschieht; und der direkte Hinweis auf ihr gegenw rtiges Geschick — seht an, wie man mich fortschleppt, — ist nur der ganz nat rliche und unmittelbare erste Ausdruck daf r. Aber gerade dieses Anerkenntnis, da ihr Unrecht geschieht, verweigert ihr der Chor: zun chst noch indirekt, indem er sie mit dem άλλ° α υ τ ό ν ο μ ο ς ζώσα μ ό ν η δη θ ν α τ ώ ν Άΐδαν καταβήστ] aus der Gemeinschaft der Menschen heraushebt, dann mit den Worten: καίτοι φθιμένα μέγα κάκοϋσαι τοις Ισοθέοις σύγκληρα λαχεϊν (836 f.) den Heroen zugesellt. Was darin liegt, versteht sie nat rlich sofort, und deshalb, nicht weil es der Chor an Klagen und Tr nen fehlen l t, sagt sie οϊμοι γελώμαι κτλ. Es ist also f r sie auch gar nichts Neues mehr, als der Chor dann sagt: προβασ' έπ' εσχατον θράσους ύψηλόν ες Δίκας βάθρον προσέπαισας (853 ff.) und im folgenden immer wieder hervorhebt, da Antigone durch ihre Tat, die dem Menschen und vor allem der Frau im Staat gesetzten Grenzen berschritten hat, und da ihr also, auch wenn Kreons Verbot ungerecht war, kein Unrecht geschehen ist. Mit alledem sagt der Chor nur deutlich und geradezu, was er mit seinen tr stenden Worten schon gleich zu Anfang f r den, der es zu h ren verstand — und Antigone ist daf r hellh rig genug —, schon angedeutet hatte. Er verweigert ihr in seiner Tr stung und in seinem Lob gerade das, worum es ihr geht, die Anerkennung ihres einfachen menschlichen Rechts. Dadurch entsteht jene ungeheure Einsamkeit um Antigone, in der sie zuletzt zwar nicht an ihrem Recht verzweifelt, wohl aber daran, ob es — selbst bei den G ttern — irgendeinen Richter gibt, vor dem dies ihr Recht auch wirklich fraglos gilt. Erst dadurch wird / sie im Innersten ersch ttert und ein Abgrund des Leidens aufgerissen, der ihr Schicksal wirklich zu einem tragischen macht. Steht also in der Antigoneszene von Anfang an — zuerst unausgespro[32133]

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dien, dann ausgesprochen — die Frage des Rechts im Vordergrund und ist also die Szene eine noch viel geschlossenere Einheit als man bisher gesehen hat, so ist ohne weiteres klar, warum der Chor Haimon nicht verstehen darf und warum das Chorlied der Antigoneszene vorausgehen muß. Aber auch die Stellung der Haimonszene in dem kunstvollen Aufbau der Tragödie erscheint in einem neuen Licht. In der Ismeneszene wird zum ersten Mal das Grausame des Schicksals der Antigone unmittelbar vor Augen geführt. Aber in deren eigenstem Anliegen, der Anerkenntnis ihres Rechtes, kann Ismene, da sie die Tat nicht gebilligt hat und nur über den Tod Antigones verzweifelt, dieser keine Stütze sein. So ist es eine eigene tragische Ironie, daß Antigone in der Haimonszene, wo sich zeigt, daß es ein Verständnis für ihr Handeln gibt, nicht anwesend ist. Sie darf nicht anwesend sein, da sonst die ganze Antigoneszene unmöglich wird. Aber es ist vom Dichter mit einer fast raffinierten Kunst so angelegt, daß während der Antigoneszene der Zuschauer weiß, daß Antigone nicht so allein steht, nicht von der absoluten Einsamkeit der Verständnislosigkeit umgeben ist, wie sie selbst es glaubt, und daß Antigone im Stück davon nichts wissen kann und sich ganz verlassen glauben muß. In diesen Zusammenhang der Szenen ordnet sich das Chorlied ein. Wenn man sich das vor Augen hält, ist es wohl nicht mehr erlaubt zu glauben, daß hier die Macht der Liebe gepriesen werde, um die Tat Haimons zu verherrlichen, der aus Leidenschaft für Antigone sterben wird. Der ganze kunstvolle Zusammenhang der Szenen wird zerrissen, wenn man eine solche Annahme macht. Schon in der Haimonszene hat sich die ganze Hoffnungslosigkeit der Lage Antigones gezeigt. Aber eines ist doch in ihr in voller Klarheit zum Ausdruck gekommen, was für sie das innerste wesentlichste Anliegen ist, die Anerkennung ihres Rechts. Das wird durch die tragische Ironie des Mißverständnisses der Motive Haimons in dem Chorlied wieder gründlich zerstört. Das ist die Vorbereitung der Stimmung, die in der Antigoneszene herrschen wird. Es gibt hier also einen Zusammenhang, der die übliche Auffassung des Chorliedes ganz unabhängig von der Frage nach Haimons Leidenschaft unmöglich macht. Damit ist wohl das letzte Hindernis beseitigt und die abschließende Bestätigung für die hier vertretene Auffassung erbracht.

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ZUR INTERPRETATION DES AIAS Seit Gottlieb Welckers berühmtem Aufsatz ,Über den Aias des Sophokles' im Rhein. Mus. von 1829 ist die Frage nach dem Sinn der sog. Täuschungsrede (v. 646 ff.) in Sophokles' Aias und nach ihrer Vereinbarkeit mit dem Charakter des Aias nicht zur Ruhe gekommen. Die wichtigsten Etappen auf dem Wege zu ihrer Lösung — und nur auf diese kann hier Rücksicht genommen werden, wenn sich die Untersuchung nicht in uferlose Einzelauseinandersetzungen verlieren soll — bilden das Buch von Tycho von Wilamowitz über die dramatische Technik des Sophokles (Philologische Untersuchungen Heft 22, Berlin 1917) und der Aufsatz von W. Schadewaldt über Aias und Antigone (Neue Wege zur Antike Heft 8, Berlin 1929). Von diesen Lösungsversuchen baut jeder auf dem vorangehenden auf, indem er die Ergebnisse des Vorgängers benützt und nur das verwirft, was sich bei genauerer Betrachtung als unrichtig oder unvollkommen erweist. Im selben Sinne ist die folgende Untersuchung der Arbeit von W. Schadewaldt verpflichtet, ohne die sie nicht möglich wäre, auch und gerade da, wo sie zuletzt doch zu anderen Resultaten kommt. Die Situation, um die es sich handelt, ist folgende: Schon als der rasende Aias aus seinem Wahnsinn erwachte, hat Tekmessa angesichts des wilden Ausbruches seines Schmerzes und des tiefen wortlosen Hinbrütens, das darauf gefolgt ist, befürchtet, daß Aias sich selbst töten wird. In der folgenden Szene hat er selbst diesen Entschluß unzweideutig zum Ausdruck gebracht. Dann ist Aias in sein Zelt gegangen, und Tekmessa ist ihm dorthin gefolgt. (So nach der unzweifelhaft richtigen Konstruktion des Bühnen Vorganges durch T. v. Wilamowitz). Als Aias wieder aus dem Zelt heraustritt, scheint er verwandelt. Er spricht davon, daß er weich geworden sei, daß er jetzt Mitleid habe mit Weib und Kind, daß er gelernt habe, den Göttern zu weichen und zu . Dann gibt er seine Befehle, da er ans Meer gehen will, um / sich vom Blut zu reinigen. Der Chor und Tekmessa glauben, er werde sich nicht [1131114]

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mehr töten. In der zweitfolgenden Szene tötet er sich, und es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß er den Entschluß dies zu tun, nie aufgegeben hatte. Also wurden der Chor und Tekmessa durch seine Rede getäuscht, und da der Inhalt seiner Rede so ist, daß diese Täuschung sehr begreiflich wird, so ist die nächstliegende Annahme die, daß Aias beide bewußt getäuscht und betrogen hat. Hier aber liegt die Schwierigkeit. Denn es hilft nichts, darauf hinzuweisen, daß die Lüge bei den Griechen weniger hart beurteilt worden sei als in unsrer Zeit: es sei z. B. nicht als Flecken auf dem Bilde des Odysseus empfunden worden, daß er listig und ränkereich ist und kräftig zu lügen versteht. Denn eben der Aias, um den es sich hier handelt, wird schon von Homer und mehr noch von Sophokles selbst gerade darin als Gegensatz zu Odysseus geschildert. Er ist aufrecht, geradezu, auf seine Kraft und seinen Mut, nicht auf List vertrauend. Eben darum trifft es ihn so schwer, daß Odysseus bei dem Wettstreit um den Schild des Achilleus ihm vorgezogen wurde, weil er dessen Art verachtet, weil ihm alles dies Schlaue, Listige, auf krummen Wegen zum Ziel Gelangende ( nennt er Odysseus v. 103) verhaßt ist. Wie kann ihn also Sophokles selbst zu einer List und einer bewußten Täuschung seine Zuflucht nehmen lassen? Das Problem wurde zuerst von Welcker gestellt, der darauf die Antwort gab: Aias wollte gar nicht täuschen. Was er sagt, ist alles buchstäblich wahr. Es ist, wenn überhaupt, die Schuld des Chores und der Tekmessa, wenn sie ihn nicht richtig verstehen, wenn sie glauben, er habe die Absicht aufgegeben sich zu töten, während diese Absicht doch gerade in der sog. Täuschungsrede mit kaum verhüllten Worten ausgesprochen ist. Die Deutung ist in dieser Form nicht angenommen worden und das wohl mit Recht. Die ersten Worte des Aias (v. 646 ff. und vor allem 655 ff. vgl. 653!) sind so gewählt, daß die Täuschung fast notwendig ist und Aias über die Wirkung seiner Worte kaum im Zweifel sein kann. Auch ist es charakteristisch, daß gerade die ersten Worte zur Täuschung führen müssen, während in der Bitterkeit der folgenden immer deutlicher die Wahrheit durchblickt. Das sieht nicht nach zufälliger Täuschung aus. Endlich bliebe es selbst ohnedies ein seltsames Mittel / des Dichters, die Personen seines Stückes so zufällig und ohne daß ein Wort darüber verloren wird, getäuscht werden zu lassen. Ganz unbe242

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greiflich aber erscheint es dadurch, daß Aias im Drama des Sophokles — bei Aeschylus war er bei seinem Selbstmord nicht allein — nicht nur aus äußeren, sondern aus inneren Gründen allein sein muß (vgl. unten). Um so unbegreiflicher also, wenn ihm dies Alleinsein auf so zufällige Weise und ohne sein Zutun zuteil wird. So brachte das Werk von T. v. Wilamowitz den Rückschlag. Nach ihm ist die Täuschung beabsichtigt. Aias lügt wirklich und mit voller Absicht. Der Widerspruch mit seinem Charakter bleibt bestehen. Aber für Sophokles und sein Drama bedeutet ein solcher Widerspruch nichts. Man darf von ihm kein psychologisch konsequentes und einheitliches Charakterbild verlangen, weil es Sophokles nur auf die konkrete einzelne Situation und ihre höchste Wirkung ankommt. Die Schwäche der Interpretation von T. v. Wilamowitz ist in einem Satz ausgesprochen, der in seinem eigenen Buche steht (S. 40): ,Es liegt außerhalb des Rahmens dieser Arbeit, die entscheidende Frage zu stellen, wieweit die attischen Tragiker die Absicht und die Fähigkeit hatten, individuelle Charaktere zu bilden, wobei vor allem zu bestimmen wäre, was unter einem Charakter zu verstehen ist.' Daß T. v. Wilamowitz diese Frage nicht zu beantworten versucht hat, bedeutet eine Schwäche dieses ganzen Teiles seiner Untersuchung. Daß W. Schadewaldt sie zu beantworten sucht, daß er darüber hinaus in eingehender Analyse den Unterschied zwischen dem Charakter der Personen eines modernen Dramas und dem · der Personen einer antiken Tragödie heraus1 gehoben hat , bedeutet eine außerordentliche Vertiefung der Fragestellung. Diese macht es überhaupt erst möglich, sinnvoll von neuem die Frage nach der Einheit des Ethos bei dem Helden einer antiken Tragödie zu stellen. / Man kann zu dem, was Schadewaldt ausgeführt hat, vielleicht noch einiges hinzufügen, was sich, wenn man nur weniges ergänzt, aus den Beobachtungen von T. v. Wilamowitz selbst entnehmen läßt. Es ist der antiken Tragödie — und das gilt sogar für Euripides trotz seiner vielberufenen Psychologie — fremd, einen Charakter in vielen einzelnen kleinen Strichen und Zügen und in aller Mannigfaltigkeit seiner Äußerungen zu zeichnen oder zu malen. Sie zeichnet ihn nur in den ganz harten klaren Umrißlinien, in denen er in dem Geschehen, das sich auf der Bühne abspielt, erscheint. Man braucht nur zu vergleichen, wie Julius [1151116]

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Caesar bei Shakespeare in einer Fülle kleiner Szenen auftritt, die alle einen Zug zu seinem Charakterbilde fügen, ohne unmittelbar zum Fortschritt der Handlung beizutragen; man braucht nur an die erste Szene des Prinzen von Homburg zu denken oder selbst an ein scheinbar so klassisch strenges Drama wie Goethes Tasso, um den tiefen Unterschied zu sehen, der hier das moderne Drama ganz allgemein von dem antiken trennt. Es ist in diesem Zusammenhang sehr bezeichnend, daß Charakterisierung im modernen Sinne viel eher der antiken Komödie als der Tragödie eigen ist, und daß die einzige Gestalt bei Sophokles, die vielleicht einen Ansatz zur Charakterisierung in diesem Sinne aufweist, der in der Antigone, eine komische Figur und eine Nebenfigur in der Tragödie ist. Das bedeutet umgekehrt, daß auch nicht jedes Wort und selbst nicht jede längere Ausführung einer Person unmittelbar als Zug im Bilde ihres Charakters gewertet werden kann. Das hat T. v. Wilamowitz an der Antigonerede v. 905 ff. unwidersprechlich gezeigt. Aber es war falsch, daraus die weitere Folgerung zu ziehen, daß die antike Tragödie überhaupt keine Einheit des Charakters oder besser des Ethos kennt. Schon die ganz einfache Überlegung, daß das tragische Schicksal der Antigone nur Antigone widerfahren kann, und daß dasselbe äußere Schicksal nicht mehr tragisch ist, wenn es Ismene widerfährt, hätte zeigen müssen, daß dies nicht richtig sein kann. Aber dann ist die Lösung von T. v. Wilamowitz unmöglich, und es muß von neuem der Versuch gemacht werden, die Einheit wenn nicht des Charakters so des des Aias trotz der Täuschungszsene aufzuweisen, bzw. zu zeigen, daß die Täuschungszsene nicht mit dieser Einheit in Widerspruch steht. Diesen Versuch hat W. Schadewaldt gemacht. / Seine Erklärung ist folgende: Die Rede des Aias ist weder eine reine Täuschungsrede, d. h. bewußte und gewollte Lüge, noch ist es, wie Welcker meinte, einfach Zufall, wenn Aias, der von sich die Wahrheit spricht, seine Zuhörer täuscht. Die Rede ist vielmehr ein : was Aias sagt, ist wirklich wahr und doch von vornherein auf Täuschung angelegt. Wahr ist die Stimmung und Erkenntnis, die aus der Rede spricht, die allgemeine Auffassung der Dinge, die in ihr zum Ausdruck kommt. Täuschen soll sie über die konkrete Folgerung, die Aias daraus für sein zukünftiges Handeln zieht; und diese Täuschung v/ird erreicht. Es wird sich noch zeigen, daß diese Auffassung der Rede 244

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richtig ist. Aber ich glaube nicht, da die Deutung der Stimmung des Aias und seiner Erkenntnis, die W. Schadewaldt gibt, sich aufrechterhalten l t. Nach W. Schadewaldt ist Aias zu der Erkenntnis gekommen, da er Unrecht hat, oder — nach den Worten von Jebb, die Schadewaldt mit Zustimmung zitiert — 'he has come to recognise his offence against social order' und er hat erkannt, da der Mensch den G ttern weichen mu . Damit ist eine Milde und Nachgiebigkeit ber ihn gekommen, welche die Grundstimmung der T uschungsrede bildet. Diese Stimmung ist also echt, wenn auch die Folgerung, die Aias aus seiner Erkenntnis zieht, nicht die ist, da er weiterleben kann und wird, wie seine Frau und seine Krieger nach seinen Worten glauben m ssen, sondern da er sterben mu . Um Schadewaldts eigene Worte zu gebrauchen: ,Die Zeit hat wirklich eine Wandlung gebracht; das Unglaubliche, dem Helden selber Unerwartete ist eingetreten, der harte Sinn ist zu Fall gekommen, eine neue Milde und Nachgiebigkeit ist in diese starre Seele eingezogen. ... Er ist nun wirklich der Norm des Ma es ahnungsvoll innegeworden, die f r alle Sterblichen gilt. Er wird wissen den G ttern zu weichen, den gerechten Zorn der Athene zu vers hnen — n mlich wenn er aus dem Leben geht.' Diese Erkenntnis und die ,innere Erweiterung' des Helden durch diese Erkenntnis ist es, die nach Schadewaldt im Zentrum der sophokleischen Trag die steht. Die Interpretation der T uschungsrede selbst mu den Pr fstein daf r bilden, ob sich diese Auffassung durchf hren l t. Der Anfang der sogenannten T uschungsrede, d. h. der Teil, der eigentlich zur T uschung f hren mu — denn hier wird / gesagt «έθηλύνθην στόμα προς τήσδε της γυναικός» und das kann nichts anderes hei en als da Aias am Leben bleiben will, da Tekmessa darum gefleht und gebeten hat — scheint allerdings aus der Stimmung heraus gesprochen zu sein, die Aias in dieser Szene nach Schadewaldt beherrscht. Aber von dem Augenblick an, wo Aias von der Verschleierung seines unmittelbaren Vorhabens zu allgemeineren Betrachtungen kommt, wird es anders. «Τοιγάρ το λοιπόν είσόμεσΰα μεν θεοΐς εΐκειν.» Das ist nach Schadewaldt wirklich dem tige Erkenntnis, da sich der Mensch den G ttern f gen mu , eine Erkenntnis, die das Bekenntnis eigenen Unrechts in sich schlie t. Aber unmittelbar darauf folgen die Worte: [1171118]

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«μαθησόμεσθα δ' Άτρείδας σέβειν. άρχοντες είσιν; ώστ' ύπεικτέον τι μην;» von denen selbst Schadewaldt (S. 74) zugeben mu , da sie mit bitterer Ironie gesprochen sind. Aber setzt das nicht eine Pl tzlichkeit des bergangs von dem tigem Sichf gen zu tiefster Bitterkeit in einem und demselben Vers voraus, die selbst in einem modernen Drama als u erst hart empfunden werden m te, im strengen Stil der antiken Trag die aber, schon weil der Schauspieler in Mimik und Tonfall nicht folgen kann, ganz undenkbar ist? Fast noch schlimmer steht es mit der zweiten Stelle, an der von einem σωφρονεϊν die Rede ist. Aias hat davon gesprochen, wie selbst die gewaltigsten M chte der Natur einem m chtigeren Gegner weichen m ssen. Dann f hrt er fort: ημείς δε πώς ου γνωσόμεσθα σωφρονεϊν; εγώ δ5 έπίσταμαι γαρ άρτίως δτι δ τ' εχθρός ήμΐν ες τοσόνδ' έχθαρτέος ως και φιλήσων αύθις, ες τε τον φίλον τοσαΰθ' υπουργών ώφελεΐν βουλήσομαι ως αίέν ου μενοϋντα. Ist das nun wirklich der Ausdruck dem tiger Erkenntnis des eigenen Frevels gegen ein g ttliches Sittengesetz und nicht vielmehr bitterster Menschenha ? Was Aias hier sagt, kehrt ja fast w rtlich wieder in den Spr chen des Bias von Priene in Verbindung mit dem Satze οι πλείστοι άνθρωποι κακοί und diese Spr che waren so bekannt, da die Mehrzahl der Zuschauer im Theater an diesen Satz erinnert werden mu te und, wenn Sophokles die Worte von dorther bernahm, / erinnert werden sollte. Das sieht nicht nach dem tiger Erkenntnis aus. Nicht erst durch die letzte Rede des Aias unmittelbar vor dem Selbstmord, die Schadewaldt (S. 76 Anm. 3) als mit seiner Auffassung vereinbar zu erweisen sucht, kommt also ein Widerspruch zu der These von Aias' dem tiger Erkenntnis hinein, sondern ein solcher Widerspruch steckt unmittelbar in der ganzen zweiten H lfte der T uschungsrede selbst. Nur mit der ersten H lfte dieser Rede ist Schadewaldts Auffassung berhaupt vereinbar und gerade diese H lfte ist unmittelbar auf T uschung angelegt. Hier erhebt sich daher ein anderes Problem, das Schadewaldt nur zu verschleiern, nicht zu l sen vermocht hat. 246

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Wenn Aias sagt έθηλύνθην στόμα προς τήσδε της γυναικός (ν. 651/2), unmittelbar nachdem er von Tekmessa angefleht worden ist, sich nicht das Leben zu nehmen, so t uscht er dadurch nicht nur die Frau und die Krieger, sondern mu sich auch bewu t sein, da er sie t uscht. Genau dasselbe gilt f r die zweideutigen Worte, mit denen er im folgenden von dem Vergraben seines Schwertes spricht. Ob die Stimmung, die Aias mit seinen ersten Worten zum Ausdruck zu bringen scheint, echt ist oder nicht — keine Interpretation kann dar ber hinweghelfen, da er ber seine Absicht nicht nur t uscht, sondern bewu t t uschen will. Diese T uschungsabsicht wird durch einen echten Ausdruck seiner Stimmung nicht aufgehoben oder auch nur abgeschw cht und sie wird mit seinem Charakter nicht besser vereinbar dadurch. Die Aufgabe, die eine bessere Einsicht in die Forderung der Einheit des ήθος in einer sophokleischen Trag die stellte, ist also durch Schadewaldt nicht gel st. Aber wie ist es berhaupt noch m glich, an dieser Einheit festzuhalten, wenn auch Schadewaldts Erkl rung sie nicht retten zu k nnen scheint? Die grundlegende Erkenntnis, aus der heraus eine solche L sung berhaupt nur m glich ist, hat gerade Schadewaldt gewonnen. Es gibt keine Psychologie und Charakteristik der kleinen Einzelz ge bei Sophokles, aber es gibt eine innere Entwicklung der Helden, in welcher Erkenntnis eine zentrale Rolle spielt. Man mu das ήθος des Aias und sein Schicksal sowie die Wirkung, die dieses Schicksal auf sein Inneres aus bt, von Anfang an betrachten, um zu sehen, wie die T uschungsrede begreiflich wird und welches ήθος und welche Erkenntnis aus ihr spricht. / Was in der Trag die an Bemerkungen ber die Vorgeschichte des Aias vorkommt, vor allem in dem Bericht des Boten ber den Dialog des Teukros mit dem Seher Kalchas (v. 750 ff.), hat nicht nur dadurch Bedeutung, da es den Zorn der Athena gegen Aias erkl rt, sondern es gibt auch ein Bild von Charakter und ήθος des Aias vor dem Wahnsinn, mit dem ihn Athena geschlagen hat. Hier erscheint der ganze Aias, wie er bei seinem Auszug aus der Heimat, aber auch noch viele Jahre sp ter w hrend der K mpfe bei Troja gewesen ist: der gerade, trotzige, etwas b renhafte Held, der ganz in kriegerischem Ehrgeiz, und in naivem Vertrauen auf die eigene K rperkraft lebtj ohne viel nachzudenken, und der durch dies allzu naive Vertrauen auf sich selbst die G tter beleidigt, ohne es zu wollen und selbst ohne dessen gewahr zu werden. Es ist eine [1191120]

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klare und einfache Welt des Rittertums, der Kampfeslust und der Ehre, in der er bis dahin gelebt hat. Heldentum, Ruhm, Kampf und Sieg sind die Kategorien, die in ihr gelten; und es versteht sich f r Aias von selbst, da dem der Siegespreis geb hrt, der in offenem ehrlichem Kampf durch seine Kraft den Sieg davongetragen hat. Deshalb ist ihm Odysseus mit seinen R nken und Listen so verha t und deshalb empfindet er es als eine so tiefe pers nliche Kr nkung, als ihm der Siegespreis verweigert und diesem verha testen seiner Mitk mpfer und Nebenbuhler zugesprochen wird. Es ist die erste, seinen Begriffen von Rittertum ganz widersprechende Erfahrung, die in sein Leben einbricht und die einfachen und klaren Gesetze seiner Welt zerst rt. Die Reaktion ist furchtbar. Er kann sich das Geschehene nur aus Neid und Bosheit erkl ren. Daher sein Ha gegen die Atriden, die er f r den Ausfall des Urteils verantwortlich macht. Zum erstenmal steht er damit auch einer Macht gegen ber, die er nicht in offenem Kampf bek mpfen kann. So reift in ihm der Plan zu dem n chtlichen Mordanschlag, den er in rasendem Ha sofort auszuf hren unternimmt. Das N chtliche, Heimliche seines Beginnens zeigt, ohne da ihm selbst dies noch zum Bewu tsein kommt, wieweit er schon aus der Bahn seines bisherigen Lebens eines freien offenen Rittertums geworfen ist. Bei der Ausf hrung seines Beginnens wird er von Athena mit Wahn geschlagen, so da er die Rinder und Schafe f r / Achaeer h lt. So wird er im St ck zuerst dem Zuschauer vorgef hrt. Die barbarische urw chsige Freude, seinen Feind zu schinden, war, wie das Beispiel des Achill mit der Leiche Hektors zeigt, dem Griechen nichts Fremdes, in einer noch nicht allzulang zur ckliegenden Zeit kaum etwas Anst iges. Aber die Art, wie er Athena gegen bertritt, die Unehrerbietigkeit, mit der er ihre Worte zur ckweist: χαίρειν, Αφάνα, ταλλ' εγώ σ' έφίεμαι· κείνος δε τείσει τήνδε κούκ αλλην δίκην.

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geht weit ber die b renhafte Selbstsicherheit hinaus, mit der er der G ttin fr her gegen bergetreten ist und unterscheidet sich sehr von dem Verhalten, das Achilleus gegen ber den G ttern zeigt. Wie Aias dann endlich zu seinem Schl chterhandwerk zur ckkehrt: 248

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χωρώ προς έργον τοΰτο σοι δ5 έφίεμαι, τοιάνδ5 αεί μοι σύμμαχον παρεστάναι. (116/17) macht erst in grauenhafter Weise deutlich, wieweit ihn Raserei und Wahn ber die Grenzen seiner ritterlichen Natur hinausgetrieben hat, und wie ihm noch jede Art der Selbstbesinnung fehlt. Es dauert lange, bis Aias nach dieser Szene wieder auf der B hne erscheint. Sein Erwachen aus dem Wahnsinn wird von Tekmessa geschildert, die es miterlebt hat. Die erste Reaktion ist noch spontan: Er tobt und rast vor Schmerz — diesmal gegen sich selbst. Dann folgt die erste Besinnung. Er l t sich erz hlen, was geschehen ist; und als er ganz erfa t hat, was er getan, erfolgt ein neuer wilder Ausbruch des Schmerzes vor Scham. Dann tritt ein Umschwung ein. Er sitzt still da und br tet. Tekmessa hat Recht, wenn sie das als unheimlicher empfindet als sein wildes Toben vorher. Aias tut, was er wohl vorher nie getan hat, er gr belt nach. Beim Erwachen aus seinem stummen Hinbr ten verlangt er nach seinem kleinen Sohn und nach seinem Halbbruder und Gef hrten Teukros. Dann, als Tekmessa das Tor des Zeltes ffnet und den Chor zu ihm herantreten l t, bricht er zum erstenmal in Klagen aus, die in Worte gesammelt sind. Schon hier taucht der Gedanke an Selbstmord auf (v. 391), aber ist noch nicht verdichtet zu einem unwiderruflichen Entschlu . / Allm hlich sammeln sich seine Gedanken. Sein bisheriges Leben und was dessen Inhalt ausgemacht hat, zieht noch einmal an ihm vor ber: der Ruhm seines Vaters und sein eigener Ruhm, dann das Unrecht, das ihm die Atriden getan haben und die Vereitelung der Rache durch Athena. In die Erinnerung daran ist eingeschlossen die Erkenntnis, da ein Weg k nftigen Handelns abgeschnitten ist — der n chstliegende — die Rache an den Feinden. Einmal war der Gedanke daran noch kurz aufgetaucht (v. 389/90). Aber der erste Versuch war ja an der Macht der G tter zerschellt. So kann er nicht ernsthaft auf den Gedanken kommen, einen zweiten Versuch zu machen. Damit konzentriert sich seine berlegung auf die M glichkeiten des Handelns, die ihm dann noch geblieben sind: και νυν τί χρή δράν; (ν. 457). Nachdem der Weg der Rache abgeschnitten ist, bleiben noch zwei Wege der R ckkehr zu seinem fr heren Dasein. Der eine: zu seinen Eltern in die Heimat zur ckzukehren. [1211122]

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Aber dieser Gedanke ist ihm unerträglich, nachdem ihm die Ritterehre genommen ist. Der andere Weg: sich in den Kampf mit den Troern zu stürzen und den Tod zu suchen. Auch das wäre eine Art von Selbstmord., aber eine Art, die zugleich eine Rückkehr zu der alten Form seines Daseins bedeuten würde. « »: nachdem er noch ein letztes Mal eine Tat ritterlichen Heldentums vollbracht hätte, würde er sterben. Aber auch dieser Ausweg ist abgeschnitten. Sein Handeln würde nur den Atriden zugute kommen, die er haßt. So bleibt nur der eine Ausweg, sich zu töten, dieselbe Entscheidung, die sich ihm schon gleich zu Anfang aufgedrängt hatte. Aber erst jetzt, nachdem er sich in klarer Überlegung aller Möglichkeiten bewußt geworden ist, ist diese Entscheidung ganz realisiert und zum Entschluß geworden. Sobald dieser Entschluß gefaßt ist, gibt es keine Betrachtungen mehr, sondern nur aktive Vorbereitungen für die Tat: die Anordnungen für seinen Tod. Die Wandlung, die mit Aias in dieser Szene vor sich gegangen ist, ist größer als die von dem jungen Helden, der aus dem Vaterhause auszog, zu dem rasenden Aias zu Beginn des Stückes. Der alte Aias hätte sich in einer Aufwallung ins Schwert gestürzt. Daß dies nicht geschieht, zeigt, daß er noch in ganz anderem Sinn zur Besinnung gekommen ist als durch das Erwachen aus dem Wahn. Die Welt ist für ihn / durchsichtig geworden. Er handelt nicht mehr wie früher aus dem Impuls des Augenblicks. Er ist der Welt, die ihn umgibt, zu fern gerückt, als daß er noch so unmittelbar aktiv handelnd in ihr stehen könnte, wie es ihm früher natürlich war. Dieser Aias kann nicht mehr mit Gewalt den Tod erzwingen und er kann sich nicht mit jemandem darum streiten, ob er sterben darf. Die ganze wundervolle Steigerung, die darin liegt, daß der Gedanke an den Selbstmord zuerst in dem rasenden Schmerz der Scham über den Rindermord und die vereitelte Rache aufflammt und dann doch erst im Augenblick der Überlegung und Besinnung zum Entschluß wird, würde zerstört, wenn Aias über sein Recht zum Selbstmord sich erst mit jemand auseinandersetzen muß. Die kurzen Repliken am Ende der Szene mit Eurysakes und Tekmessa zeigen, wie weit entfernt für Aias jede Möglichkeit einer solchen Auseinandersetzung ist. Das ist der äußere Zwang, welcher die Täuschungsrede, da Tekmessa und der Chor für Aias' Leben fürchten und ihm den Weg zum Alleinsein verlegen, zur Notwendigkeit macht. 250

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Da dieser Aias bei seinem Tod allein sein mu und da die T uschungsrede notwendig ist, um ihm die M glichkeit des Alleinseins zu verschaffen, kann also nicht bezweifelt werden. Es kommt nun darauf an, die inneren Voraussetzungen zu verstehen, aus denen heraus die T uschungsrede m glich ist. Gewi , Aias ist zur Besinnung und zur Einsicht gekommen. Diese Einsicht hat sich vorbereitet von dem Augenblick seines Erwachens an. Sie hat sich gesteigert bis zu dem Augenblick, wo er den Entschlu zum Selbstmord fa t und sie ist in voller Klarheit vorhanden in der Szene, als er die Anordnungen gibt f r seinen Tod. Aber sie ist keine Einsicht in sein eigenes Unrecht: «Ώ παϊ γένοιο πατρός ευτυχέστερος, τα δ' αλλ' όμοιος και γένοι' αν ου κακός» sagt er zu seinem kleinem Sohn. Das u ere Schicksal ist es, das ihn zerschmettert hat, nicht bei sich selbst sucht er die Schuld. Es ist auch keine dem tige Erkenntnis, aus der Aias sich der Macht der G tter f gt. Gewi : er spricht nicht die Unwahrheit, wenn er sagt, da er gelernt hat, den G ttern zu weichen — und den Atriden —, aber nicht indem er sich ihrem νόμος einf gt. Dann k nnte er leben bleiben, wie ja auch der Chor und Tekmessa ihn verstehen, oder aber, wenn die Atriden das nicht zulassen, w re sein Tod ein zuf lliger / und kl glicher. Ein Tod gar zur Bu e f r sein Vergehen w re im Zusammenhang dieser Trag die absurd. Er weicht vielmehr den G ttern — und den Atriden —, indem er aus einer Welt weggeht, in der den Atriden der Sieg geblieben ist. Das ist die bittere Erkenntnis, zu der er gekommen ist, da in dieser Welt der Atriden und der Athena kein Platz mehr f r ihn ist. Aus diesen Voraussetzungen heraus wird auch der erste Teil der Rede verst ndlich, aus dem keine Interpretation der Welt die bewu te T uschung hinwegerkl ren kann. Die einfache unkomplizierte Welt der Kraft, des Mutes und des Heldentums, in welcher der einzelne ein Held ist aus eigener Kraft, seinen Freunden freund und seinen Feinden feind — «είναι δε γλυκύν ώδε φίλοις, έχθροΐσι δε πικρόν τοΐσι μεν αίδοϊον, τοΐσι δε δεινόν ίδεϊν» ist auch aus der Seele des Aias gesprochen — ist zusammengebrochen — oder schlimmer noch: sie besteht weiter, aber sie hat ihn ausgesto en. Er hat sich gesto en an einer unheimlichen Macht, der gegen ber seine Kraft und sein Heldentum ohnm chtig waren und einfach zerschellt sind. Die ganze Welt hat f r ihn eine andere Farbe bekommen, wie er selbst sein Antlitz ver ndert hat. Er ist nicht mehr der [123/124]

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unbekümmerte, selbstvertrauende Held, als der er beim Auszug aus der Heimat und in den Kämpfen um Troja geschildert wird. Es ist, als ob ein Antlitz plötzlich von tiefen Gräben zerfurcht wäre. Er ist den Menschen, die ihn umgeben, so ferne gerückt, so außerhalb der Welt, in der sie leben, daß die Kategorien der geraden Ehrlichkeit oder der List und Täuschung ihre Bedeutung verloren haben. Wie er schon längst innerlich ganz allein und seiner Umgebung entrückt war, so muß er auch äußerlich allein sein bei seinem Tod. Da es kein anderes Mittel dazu gibt, täuscht er sie und täuscht sie bewußt. Er wird nicht zum listen- und lügenreichen Odysseus durch diese Täuschung, die nur Ausdruck der inneren Fremdheit gegenüber seiner Umgebung ist. Daher kann er auch schon nach den ersten Worten, die für die Täuschung nötig sind, so reden, wie ihm wirklich ums Herz ist. Er ist den ändern so fern gerückt, daß sie gar nicht verstehen, was er sagt, während der Zuschauer den wahren Sinn seiner Worte ahnen soll. Von diesen Voraussetzungen aus fügt endlich auch der Todesmonolog sich dem ganzen Bilde ein, ohne daß man zu / gezwungenen Erklärungen seine Zuflucht zu nehmen braucht. Die Täuschungsszene scheint eine Steigerung nicht mehr zuzulassen. Und doch kann man im Todesmonolog vielleicht eine solche finden. Die Täuschungsszene hat gezeigt, wie der sehend gewordene Aias schon fast jeder Möglichkeit einer Verständigung mit der Welt, die ihn umgibt, entrückt ist. Im Todesmonolog wendet er sich dieser Welt noch einmal zu. Er bittet Zeus, daß Teukros ihn zuerst auffinden möge und daß ihm ein Begräbnis zuteil werden möge, das von seinen Feinden nicht verhindert werden kann. Er bittet den Hermes • um einen schnellen Tod. Er bittet die Erinnyen, ihn an den Atriden zu rächen, dann Helios, der alles überblickt, seinen Eltern Nachricht zu bringen von seinem Tod. Darauf begrüßt er zum letztenmal das Licht der Sonne, das er jetzt mit dem schattenhaften Dasein im Hades vertauschen wird, das heimatliche Land von Salamis, die Burg der Stadt Athen, der sein Geschlecht entstammt, zuletzt die Gefilde von Troja, die sein Heldentum gesehen haben. Dann stürzt er sich in sein Schwert. Diese letzte Zuwendung zu der Welt, die ihn umgibt und in der er gelebt hat, steht nicht im Widerspruch mit der Deutung der Täuschungsszene, die oben gegeben worden ist. Im Gegenteil. Die Welt, in der Aias 252

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bis dahin in naivem trotzigem Selbstvertrauen gelebt hat, hat ihr Gesicht für ihn verändert, aber für ihn, da er an der unheimlichen Macht der Göttin gescheitert ist. Diese Erkenntnis ist geblieben. Die Welt hat ihn ausgestoßen. Er geht aus ihr weg. Er lebt eigentlich schon nicht mehr in ihr. Aber der Kern des des Aias hat sich nicht geändert. Daß er unverändert geblieben ist, bildet die Voraussetzung dafür, daß er in dieser Welt nicht bleiben kann. Daher sind auch die Wertungen der Dinge dieselben geblieben. Jetzt treten ihre positiven Seiten wieder hervor. Natürlich zweifelt Aias nicht am Dasein der Götter und an ihrer Macht. Er hat sich ja soeben auf das schmerzlichste an ihr gestoßen. Daher zweifelt er natürlich auch nicht daran, daß ein Gott ihm helfen kann — nicht dazu, weiter in dieser Welt zu leben: das ist unmöglich — wohl aber dadurch, daß er ihn an seinen Feinden rächt oder indem er seinen Eltern Nachricht bringt von seinem Tod. Auch alle die Dinge, die das Leben im Licht der Sonne von dem schattenhaften Dasein im Hades unterscheiden, sind / geblieben, was sie waren. Endlich auch sein eigenes früheres Heldentum bleibt in seinem Glanz ganz unberührt. Nur das Selbstvertrauen, mit dem er in dieser Welt gelebt hat, das Vertrauen auf das Ausreichen seiner eigenen Kraft ist nicht mehr da. Und es ist etwas geschehen, was ihm das Weiterleben in der alten Form seines Daseins unmöglich gemacht hat und das heißt für ihn das Weiterleben überhaupt. Es ist gar kein Zweifel mehr für ihn vorhanden, daß er aus dieser Welt weichen muß, nicht, weil er das Recht der Göttin und sein eigenes Unrecht anerkennt, sondern, weil er an der Macht der Göttin gescheitert ist. Es ist fast noch eine Steigerung gegenüber der Täuschungsszene, daß nun unmittelbar vor dem Tode, als er äußerlich ganz allein ist, die Welt noch einmal ganz in ihren vollen Farben für ihn erstrahlt. Es bleibt nun nur noch übrig, aus der gegebenen Interpretation die Folgerungen für das Wesen von und Charakter in der sophokleischen Tragödie und für die eigentümliche Form, in der das Tragische in den sophokleischen Tragödien der Epoche, welcher der Aias angehört, erscheint, zu ziehen. Man kann mit einem gewissen Recht von einer Charakterentwicklung des Aias reden, wie auch Schadewaldt eine solche anerkennt. Aber man muß sich darüber klar sein, daß dies Wort dann nicht dasselbe bedeutet, was man im modernen Drama darunter versteht. Man kann von einem anderen Standpunkt aus ebensogut sagen, [125U26]

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daß es bei Sophokles weder einen Charakter noch eine Entwicklung, sei es des Charakters, sei es des des Helden gibt. Wie sich an Sophokles' Aias bestätigt hat, ist es die Beschränkung der Charakterzeichnung auf einen großen Wesenszug, denjenigen, der für das dramatische Geschehen bedeutsam ist, was der antiken Tragödie die herbe klare Linienführung gibt, welche sie von der modernen Tragödie unterscheidet. Auch eine Wandlung des Ethos, um diesen Ausdruck für das, was in der antiken Tragödie dem Charakter in der modernen entspricht, beizubehalten, findet im Aias nicht statt. Im Gegenteil: daß sein Ethos von Anfang bis zum Ende dasselbe bleibt, ist die notwendige Voraussetzung für das Schicksal, das ihm widerfährt, und für seinen Tod. Es gibt keine innere Umkehr des Helden durch Einsicht in seine Schuld, ebensowenig ein inneres Reifwerden durch diese Einsicht. / Alles das sind moderne Begriffe. Trotzdem kann man von einer Wandlung sprechen, die mit Aias vor sich geht. Aber diese Wandlung vollzieht sich in einer ganz anderen Dimension. Sie ist ganz nur zu verstehen im Zusammenhang mit der sophokleischen Grundkonzeption des Tragischen überhaupt. Die äußere Glätte, die fein geschliffene Sprache, der klare durchsichtige und strenge Aufbau der Stücke des Sophokles, vielleicht auch, was aus der Antike über das glückliche, heiter ausgeglichene Temperament des Dichters überliefert ist, hat immer wieder dazu verführt, auch im Geschehen seiner Tragödien eine gewisse Ausgeglichenheit und Milde, eine Vermeidung des Allzuschroffen zu suchen, bis man dann immer von neuem mit Erstaunen entdeckte, daß sich gerade in seinen Dramen Stellen finden, die, wie z. B- das , , der Elektra bei der Ermordung der eigenen Mutter, an Härte und ungemilderter Wildheit und Grausamkeit von keinem anderen Tragiker auch nur erreicht werden. Aber dies gilt nicht nur für einzelne Stellen, sondern für das Ganze der sophokleischen Dramen — vielleicht mit Ausnahme derer der letzten Zeit —, die je tiefer sie verstanden werden, um so mehr die schonungslose Härte ihrer Tragik enthüllen, der gegenüber selbst die Tragik in den Dramen des Aeschylus trotz ihrer gigantischen Größe, ihrer Wucht und ihrem Pathos noch als gemildert erscheint. Die innere Einsamkeit, in die Eteokles in den Sieben gegen Theben hineingestellt ist, der von Beginn des Stückes an ganz allein ist mit dem Fluch, von 254

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Aias

dem er weiß, daß er ihm nicht entgehen kann und den er schließlich freiwillig erfüllt, reicht nicht heran an das Ausgestoßensein des Aias aus der Welt. Denn Eteokles bleibt noch die Hoffnung, durch die freiwillige Erfüllung des Fluches die Stadt zu retten. Er hat noch eine Aufgabe zu erfüllen und er fällt im Kampf mit dem Landesfeind, wenn das auch der eigene Bruder ist. Aias bleibt nichts mehr übrig, als aus der Welt wegzugehen. Er ist vernichtet, und diese Vernichtung wird nicht gemildert durch das Bewußtsein, für sein eigenes Unrecht zu leiden, durch ein Weichwerden und Schmelzen der harten Seele, wie Schadewaldt es nennt. Dadurch wird die sophokleische Tragödie nicht zu einem bloßen Exemplum für die absolute Ohnmacht des Menschen gegenüber der Macht der Götter — ad maiorem dei gloriam (Schadewaldt S. 115). Wenn sie nichts anderes wäre, so wäre / sie nicht einmal eine Tragödie mehr. Was sie zur Tragödie macht, ist gerade, daß in Aias — und ebenso in Antigone oder Oedipus — etwas lebt, was der Macht der Götter unangreifbar bleibt: sein Ethos, seine Wertung der Dinge, die er noch in der Selbstvernichtung bewahrt, bei Antigone das Bewußtsein ihres Rechtes, das sie auch dann behält, als sie zu zweifeln beginnt, ob es selbst bei den Göttern Anerkennung findet. Das andere ist die Erkenntnis, der Durchblick durch die Welt und seine Stellung in ihr, die es Aias möglich macht, den Entschluß zu fassen, freiwillig aus der Welt zu wegzugehen, als er nicht mehr als der Aias, der er ist, in ihr leben kann, und die ihn zugleich über diese Welt und sein Schicksal erhebt.

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EURIPIDES' ALKESTIS UND IHRE MODERNEN NACHAHMER UND KRITIKER

1. Schon seit dem vierten Jahrhundert vor Christi Geburt ist keiner der drei großen griechischen Tragiker mehr gelesen und wiederaufgeführt worden als Euripides. Seine Wirkung ist schon zu seinen Lebzeiten, und dann vor allem in der hellenistischen Zeit, weit über Attika hinausgedrungen. Keiner hat größeren Einfluß auf die dramatische Literatur der Folgezeit, vor allem auch die neuere Komödie, ausgeübt als er. Es ist zum mindesten zweifelhaft, ob es reiner Zufall war, daß sich mehr Tragödien des Euripides bis auf unsere Zeit erhalten haben als irgendeines seiner großen Vorgänger. Jedenfalls aber hat sich nach der Wiederbelebung des Studiums der antiken Literatur dasselbe Phänomen wiederholt. Wenn man vom König ödipus des Sophokles absieht, sind die Tragödien keines der antiken Tragiker in neuerer Zeit mehr gelesen, diskutiert und nachgeahmt worden als die des Euripides. Um so bemerkenswerter ist die Tatsache, daß die Stücke des Euripides von Anfang an der schärfsten Kritik ausgesetzt gewesen sind. Zu seinen Lebzeiten hat er viel weniger Siege in dem dramatischen Wettstreit der Dionysien davongetragen als seine beiden großen Vorgänger. Er hat sich die heftige Kritik des Aristophanes zugezogen, der dabei einen sehr großen Teil des attischen Publikums auf seiner Seite gehabt haben muß. Aristoteles nennt ihn den tragischsten', d. h. den wirkungsvollsten, der drei großen Tragiker, übt aber zugleich an einigen der Charaktere seiner Stücke eine scharfe Kritik1, wie er sie gegen seine großen Vorgänger nicht richtet. Auch darin ist die moderne Zeit dem Altertum gefolgt. Immer wieder ist er aufs schärfste angegriffen worden. In Deutschland bekannt ist vor allem die heftige Kritik, die A. W. Schlegel an einzelnen Stücken des Euripides, vor allem z. B. am Orestes, geübt hat2 und die ihm freilich

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Euripides' Alkestis

von Goethe die Zurechtweisung eintrug3, wenn so ein moderner Mensch wie Schlegel an einem so großen Dichter wie Euripides etwas auszusetzen habe, dann solle er es auf den Knien tun. Ebenso bekannt ist die Anklage Nietzsches gegen Euripides als den Frevler, der die griechische Tragödie zugrunde gerichtet habe*. Interessanter noch als diese direkte Kritik ist die indirekte Kritik, die an Euripides von seinen modernen Nachahmern geübt worden ist, indem diese in demselben Augenblick, in welchem sie seine Stoffe wieder aufnahmen, das Bedürfnis empfanden, nicht nur in der Weise zu ändern wie etwa Corneille den König ödipus des Sophokles geändert hat, um ihn einem modernen Publikum interessanter zu machen, sondern dem Stück ein vollkommen neues und anderes Ethos zu geben. / Die Ursache dieser Erscheinung ist offenbar, daß man, bei aller Bewunderung, an den meisten Stücken des Euripides doch zugleich in irgendeiner Weise Anstoß nahm, daß irgend etwas daran als unangenehm und nicht in Ordnung empfunden wurde. Auf dieselbe Ursache ist es offenbar zurückzuführen, daß die Stücke keines der beiden anderen großen Tragiker so völlig verschieden erklärt worden sind wie die des Euripides. Dabei scheiden sich die Erklärer wiederum in zwei Gruppen, von denen die eine Euripides ,retten* will, indem sie das allgemein als anstößig Empfundene auf die mannigfachste Weise hinwegzuerklären versucht, während die andere die angeblichen Fehler als Zugeständnisse an einen schlechten Publikumsgeschmack oder als Folgen einer damals noch nicht voll ausgebildeten dramatischen Technik oder einer Verschiedenheit moderner und antiker Anschauungen erklärt, wobei nur die seltsame Tatsache bleibt, daß Euripides, wie die verhältnismäßig geringe Anzahl seiner Siege und die Kritik des Aristophanes zeigen, schon bei seinen Zeitgenossen oder doch einem beträchtlichen Teil von ihnen denselben Anstoß erregt zu haben scheint wie bei den Modernen, was den angeführten Erklärungen widerspricht. So ist das Euripidesproblem bis auf den heutigen Tag offengeblieben, und es ist daher vielleicht sowohl für das Verständnis des Euripides selbst wie für das Verständnis des Verhältnisses der Modernen zu ihm nicht ohne Gewinn, an dem Beispiel eines Stückes eine Reihe solcher moderner Nachahmungen und Interpretationen Revue passieren zu lassen. Für einen solchen Versuch ist die Alkestis besonders geeignet, da es [27128]

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Euripides' Alkestis

sich hier um das älteste der erhaltenen Stücke des Euripides handelt, das aber doch von Euripides auf der Höhe seiner künstlerischen Entwicklung, im Alter von nahezu vierzig Jahren, verfaßt worden ist, und da dieses Stück in moderner Zeit besonders oft nachgeahmt worden ist und besonders viele verschiedene Interpretationen erfahren hat. Ja, bei diesem Stück findet sich das höchst eigenartige Phänomen, daß mehrfach ein Dichter auf Grund einer vorangegangenen dichterischen oder philologischen Interpretation des Euripideischen Stückes durch einen anderen Autor den Versuch gemacht hat, eine Dichtung zu verfassen, die dieser Interpretation wirklich vollauf entsprach, eben damit freilich zugleich den indirekten Beweis dafür erbringend, daß die Interpretation, von der er ausging, dem Stücke des Euripides selbst nicht ganz gerecht geworden war. Im übrigen sind die auf diese seltsame Weise entstandenen Dichtungen zum großen Teil durchaus nicht schlecht oder ohne Gehalt. Es läßt sich jedoch beobachten, daß sie im allgemeinen um so gehaltvoller sind, je weniger sie sich von Euripides entfernen. Dies wirft ein eigentümliches Licht auf das fast allgemein gefühlte Bedürfnis, den Euripides zu verbessern oder umzuinterpretieren. Vielleicht kann aber eben deshalb eine kritische Analyse solcher Versuche zu einem besseren Verständnis des Euripideischen Stückes und weiterhin der Euripideischen Tragödie überhaupt führen. Zu diesem Zweck ist es nun durchaus nicht nötig, die ganze Geschichte der direkten und indirekten /l/&es£mnterpretationen und Alkestiskriuk in allen ihren Einzelheiten zu verfolgen, was ein umfangreiches Buch erfordern und die wirklich wesentlichen Punkte unter der Fülle unwesentlichen Details nur verdunkeln würde5. Es genügt, einige der wichtigsten modernen Auseinandersetzungen mit dem Euripideischen Stück zu analysieren und ganz kurz auf verwandte Interpretationen zu verweisen, soweit sie auf einem genügend hohen Niveau stehen, um überhaupt Be- / achtung zu verdienen. Doch wird es zweckmäßig sein, sich zunächst kurz den Verlauf der Euripideischen Alkestis zu vergegenwärtigen mit besonderem Augenmerk auf diejenigen Besonderheiten dieses Stückes, die immer wieder Anstoß erregt oder sonst in dem Streit um seine korrekte Interpretation eine hervorragende Rolle gespielt haben. Die Tragödie beginnt mit einem Monolog des Gottes Apollon, aus dem man die Vorgeschichte erfährt. Apollon war von Zeus dazu ver258

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Euripides' Alkestis

urteilt worden, mehrere Jahre lang bei einem Sterblichen, bei Admet, als Knecht zu dienen. Zum Dank dafür, daß Admet in ihm während dieser Zeit den Gott geehrt hat, hat Apollon ihn, als die Zeit des ihm vom Schicksal bestimmten frühen Todes nahe gekommen war, gerettet, indem er die Moiren dazu überredete, zu gestatten, daß ein anderer an seiner Stelle stürbe. Als Admet davon erfuhr, hat er sich der Reihe nach an seinen Vater, seine Mutter und andere ihm nahestehende Personen gewendet. Aber niemand ist bereit gewesen, an seiner Stelle zu sterben, außer seiner Gemahlin Alkestis. Jetzt ist der Tag gekommen, an dem Alkestis sterben soll. Der Todesdämon naht sich schon. Apollon versucht ihn zu überreden, auch Alkestis zu verschonen. Aber als der Todesdämon sich über das Eingreifen des Gottes beschwert und auf seinem Recht besteht, gibt Apollon nach, prophezeit jedoch, daß ein anderer ihm das Opfer doch entreißen werde. Von den Elementen der Vorgeschichte, die in diesem Prolog enthüllt werden, spielen nur zwei in der direkten und indirekten Kritik des Stückes eine wesentliche Rolle: Admets Verhältnis zu Apollon, das ihn als frommen König und Götterfreund erscheinen läßt, und die Voraussetzung, die hier wie anderwärts im Stück gemacht wird, daß zwischen Alkestis' Gelübde, an Stelle ihres Gemahles sterben zu wollen, und ihrem Tod eine zwar unbestimmte, aber doch nicht ganz kurze Zeit gelegen ist, wie denn auch bei Euripides, im Gegensatz zu anderen Versionen der Alkestislegende, Gelübde und Tod nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit der Hochzeit der beiden stattfinden, sondern Alkestis ihrem Gemahl schon zwei Kinder geboren hat. Es folgt die Parodos, in der sich der Chor dem Tore des Palastes nähert im Zweifel, ob die herrschende Stille bedeute, daß Alkestis noch lebt oder daß sie schon gestorben ist, eine Szene, welche mit Recht immer wieder die Bewunderung aller Nachahmer und Kritiker hervorgerufen hat. Der Zweifel des Chores wird gelöst durch eine Dienerin, die aus dem Palast tritt und in einer Art Botenbericht beschreibt, wie Alkestis sich auf den Tod vorbereitet. Nach einem weiteren Chorlied erscheinen endlich Alkestis und Admet selbst nebst ihren kleinen Kindern. In dieser Szene nimmt Alkestis von ihren Lieben Abschied, während ihr Gemahl ihr immer wieder seine Untröstlichkeit über ihren bevorstehenden Verlust versichert. Aber seine Versicherungen haben einen eigentümlich

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hohlen Klang. Unter anderm sagt er seiner Gattin, er wolle sich eine Puppe machen lassen, die ihr gleiche. Die wolle er dann zu sich ins Bett nehmen und umarmen — ein frostiger Trost, wie er freilich hinzufügt6. Es gibt nicht wenige Interpreten, die der Meinung sind, Euripides sei nicht gewahr gewesen, welche unglaubliche Geschmacklosigkeit, um es milde auszudrücken, er seinen Admet mit diesen Worten sagen läßt. Aber mit solchen Interpreten ist nicht zu rechten. Seltsamerweise hat diese Stelle unter den Anstößen, die man an der Admetgestalt des Euripides genommen hat, nur eine geringe Rolle gespielt. Doch ist sie darum für die Interpretation des Stückes von nicht geringerer Bedeutung. Im übrigen werden Admets Beteuerungen gegen Ende der Szene immer überschwenglicher. Wenn er die Sangesgabe des Orpheus hätte, so versichert er, würde ihn auch der / schreckliche Höllenhund nicht davon abschrecken können, in die Unterwelt hinabzusteigen und Alkestis wieder heraufzuholen7. Ja, am Ende fordert er seine Gattin sogar auf, ihn mit ins Totenreich zu nehmen. Nur davon ist nicht die Rede, daß sie ja gar nicht zu sterben brauchte, wenn es nicht wäre, damit er weiterleben kann. Da aber die Zuschauer in jeder Weise darüber informiert sind, daß Alkestis für Admet stirbt und daß Admet um ein solches Opfer gebeten und es angenommen hat, so kann der Dichter das ja wohl auch nicht vergessen haben, und der Kontrast zwischen Admets Worten und seinen Taten muß beabsichtigt sein. Nachdem die Vorbereitungen zur Bestattung der Alkestis getroffen sind, kommt Herakles auf dem Wege zu einem seiner Abenteuer, um Admets Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen. Als er sieht, daß im Hause Trauer herrscht, will er nicht lästig fallen und daher umkehren, um anderweitig Unterkunft zu suchen. Aber Admet will es nicht ertragen, daß ein Gast, und gar ein solcher Gast, an seiner Tür wieder umkehrt. So täuscht er Herakles mit zweideutigen Worten, als ob es sich um eine dem Hause nicht nahe verbundene Tote handle, und Herakles läßt sich überreden, zu bleiben8. Als Herakles in den Palast gegangen ist, wird Admet vom Chor wegen seiner unzeitigen Gastfreundschaft in nicht sehr schonenden Worten getadelt9. Admet verteidigt sich damit, daß er sagt, er wäre wohl auch getadelt worden, wenn er einen solchen Gast hätte gehen lassen. Man könne es den Leuten eben nie recht machen. Darauf scheint der Chor seine Meinung zu ändern und preist nun Ad260

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mets immer bewiesene Gastfreundschaft und allgemeine Liberalität. Aber bei alledem ist doch nicht zu verkennen, daß Admets Handlungen nach seinen eigenen Äußerungen mehr durch die Überlegung, was wohl die Leute dazu sagen werden, als durch seine spontanen Gefühle des Schmerzes oder der Freundschaft bestimmt zu werden scheinen. Als endlich der Leichenzug dabei ist, sich in Bewegung zu setzen, erscheint Admets Vater Pheres, um in den zu allen Zeiten und bei allen Völkern in ähnlichen Fällen üblichen Worten sein Beileid auszusprechen und sich an der Bestattung zu beteiligen10. Auch Totengaben hat er, wie es sich gehört, mitgebracht. Der Sohn Admet zeigt sich jedoch über sein Erscheinen keineswegs erfreut und sagt dem Vater vielmehr mit dürren Worten, wenn er, Pheres, der ohnehin nicht mehr lange zu leben habe, bereit gewesen wäre, für seinen Sohn zu sterben, hätte sich Alkestis nicht für ihn (Admet) zu opfern brauchen, er sei also indirekt gewissermaßen an ihrem Tode schuld und seine Anwesenheit bei der Bestattung daher keineswegs erwünscht. Der Vater verfehlt nicht, daraufhin seinen Ton ebenfalls zu ändern und seinem Sohn, den er zuerst als liebes Kind angeredet hatte, in gleicher Münze herauszugeben. Es stehe ihm nicht an, ändern Vorwürfe zu machen, da seine Gattin ja noch am Leben wäre, wenn er, der Sohn, dem doch zuerst zu sterben bestimmt war, nicht zu feige gewesen wäre, sein Schicksal auf sich zu nehmen. So entwickelt sich ein höchst unerfreuliches Gezänk zwischen Vater und Sohn, das damit schließt, daß der Vater an der Leiche der Frau, die ihr Leben für den Sohn dahingegeben hat, ausspricht, sie sei zwar eine anständige Frau gewesen, aber nicht ganz recht im Kopfe, sich für einen solchen Kerl wie seinen Sohn zu opfern". Auch hier kann man nur wieder sagen, daß dem Euripides etwas derartig Krasses ja wohl nicht unabsichtlich entschlüpft sein kann, obwohl dies die Ansicht der meisten Interpreten zu sein scheint. / Nachdem der Leichenzug endlich ohne den Vater sich in Bewegung gesetzt hat und abgezogen ist, kommt ein Diener aus dem Haus und beklagt sich bitterlich über den ungehobelten Gast, den Admet in sein Haus aufgenommen hat und der sich ganz ungebührlich benimmt12. Obwohl er weiß, daß im Hause ein Trauerfall eingetreten ist — und der Diener scheint zunächst zu glauben, daß Herakles wisse, um wen es sich handelt —, betrinkt sich der Gast und singt grölend Lieder, die der Situa[30131]

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Euripides' Alkestis

tion ganz und gar nicht angemessen sind. Indessen tritt Herakles selbst aus dem Hause und erteilt dem Diener eine Lektion darüber, wie man Gäste zu behandeln habe: ein Trauerfall — zumal wenn es sich um jemand handle, der dem Hause nicht nahe verbunden gewesen sei — sei noch lange kein Grund, einem Gast mit sauertöpfiger Miene zu begegnen, und überhaupt sei es weibisch und weichlich, um den Tod ein solches Wesen zu machen, da wir alle einmal sterben müssen und niemand weiß, wann seine Stunde schlagen wird. Das gibt dem Diener, nachdem ihn Herakles endlich zu Wort hat kommen lassen, Gelegenheit, ihn darüber aufzuklären, um wen es sich handelt, und nun ist Herakles auf das tiefste beschämt und beschließt, seinen Fehler wiedergutzumachen, indem er versucht, Alkestis dem Todesdämon mit Gewalt zu entreißen. In der Schlußszene endlich kommt Admet jammernd von der Bestattung seiner Gemahlin zurück. Kurz darauf erscheint Herakles mit einer verschleierten Gestalt13. Er macht zunächst Admet Vorwürfe, ihn über den Tod seiner Gattin getäuscht und trotz des Trauerfalles als Gast in sein Haus aufgenommen zu haben. Dann bittet er ihn, die verschleierte Frau, die er in einem athletischen Wettkampf gewonnen habe, bis zu seiner Rückkehr von dem bevorstehenden Diomedesabenteuer für ihn in seinem Hause aufzuheben. Admet, der in der Sterbeszene seiner Gattin versprochen hat, nicht wieder zu heiraten, weigert sich zunächst, die fremde Frau, deren Gestalt ihn nur allzusehr an Alkestis erinnert, in sein Haus aufzunehmen. Eine schöne alleinstehende Frau sei nicht sicher in einem frauenlosen Haushalt, und wenn er sie etwa m seine oder seiner verstorbenen Gemahlin Gemächer aufnehmen wollte, so fürchte er, ins Gerede zu kommen. Herakles scheint diese Skrupel seines Freundes nicht zu verstehen. Der Schmerz über den Tod seiner Gattin werde mit der Zeit schon nachlassen, und dann solle er wieder heiraten. Was könne es denn der Verstorbenen nützen, wenn er ewig ledig bleiben wolle. Admet verwahrt sich heftig gegen solche Gedanken, willigt aber schließlich widerstrebend ein, die verschleierte Frau bei sich aufzunehmen und entdeckt nun, daß es seine eigene Gattin ist, die Herakles vom Tode zurückgebracht hat. Als er sie jedoch voll Glück, aber noch zögernd, anredet, wird ihm von Herakles die Weisung, daß es ihr noch nicht erlaubt sei, zu ihm zu sprechen, bevor sie durch die entsprechenden Riten von der Bindung an die Unterirdischen, denen sie schon verfallen war, 262

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gelöst ist, und daß dies nicht vor Anbruch des dritten Tages der Fall sein könne. Auch diese letzte Szene enthält viel Seltsames. Vor allem wird auch hier wieder deutlich gemacht, eine wie außerordentlich große Rolle für Admet bei allem zweifellos echten Schmerz über den Tod seiner Gattin die Meinung der Leute spielt14. Dies wird von sehr vielen Interpreten des Stückes, vor allem jener außerordentlich zahlreichen Gruppe, die den Charakter des Admet zu ,hebenc bestrebt ist, völlig ignoriert. Und doch ist es keinem Zweifel unterworfen, daß, wenn ein so bewußter Dichter wie Euripides einen solchen Zug im Charakter einer der Hauptpersonen seines / Stückes von Anfang bis zu Ende immer wieder hervortreten läßt, er dies nicht ohne Absicht getan haben kann. Was diese Absicht gewesen ist, ebenso wie die Absicht des seltsamen Spieles, das er seinen Herakles mit Admet treiben läßt, kann erst die Gesamtinterpretation des Stückes am Ende ergeben. 2.

Schon diese kurze Übersicht über die wichtigsten Szenen der Tragödie hat wohl auf das deutlichste gezeigt, warum das Stück bei vielen Lesern oder Zuschauern Anstoß erregen mußte — so großen Anstoß, daß viele Kritiker und Interpreten die krassesten Stellen, die ich in meinem Resümee hervorgehoben habe, mit Stillschweigen übergehen, um den Schock zu mildern. Der krasse Realismus der Mittelszenen des Stückes, vor allem der Pheresszene und der Heraklesszenen, schien mit dem Märchencharakter der Eingangs- und der Schlußszene, und der keineswegs ideale Charakter des Admet ebenso wie das rüpelhafte Verhalten des Herakles in den Mittelszenen mit dem idealen Charakter des Sujets der Tragödie völlig unverträglich zu sein. Nun ist freilich schon im Altertum der Versuch gemacht worden, die Mischung tragischer und burlesker Elemente in diesem Stück daraus zu erklären, daß es in der Tetralogie des Aufführungsfestes die letzte Stelle einnahm, also die Stelle, die nach einer damals schon seit längerer Zeit bestehenden Tradition gewöhnlich von einem Satyrspiel eingenommen wurde. Diese Erklärung ist von sehr vielen modernen Erklärern angenommen und vielfach weiter ausgeführt worden. Ja, sogar Lessing soll einmal mündlich die Vermutung ausgesprochen haben, daß die Alkestis [31132]

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kein ,Trauerspiel', sondern ein ,satyrisches Drama' sei, wobei allerdings wohl zu berücksichtigen ist, daß sich zu Lessings Zeit die Erkenntnis noch nicht durchgesetzt hatte, daß Satire und Satyrspiel gar nichts miteinander zu tun haben, so daß der genaue Sinn der Lessingschen Äußerung mangels einer authentischen Auslegung offenbleiben muß. Gegenüber der Erklärung selbst aber ist vor allem festzustellen, daß die Alkestis des Euripides trotz der burlesken Elemente, die sie zweifellos enthält, von dem fröhlichen Geist, der für das echte Satyrspiel charakteristisch ist und auch den Euripideischen Kyklops auszeichnet, obwohl man an diesem Stücke sehen kann, daß das Satyrspiel dem Euripides nicht lag, so weit als irgend möglich entfernt ist. Aber selbst wenn der besondere Charakter der Euripideischen Alkestis etwas damit zu tun haben sollte, daß sie in der Tetralogie an vierter Stelle stand, so wäre damit im Grunde doch sehr wenig erklärt. Denn wenn die tragischen und die burlesken Elemente, die sich in dem Stücke finden, miteinander vereinbar sind, so sind sie auch in einer Tragödie miteinander vereinbar, wie ja derartiges in Shakespeares Tragödien nicht selten vorkommt, ganz abgesehen davon, daß eine antike Tragödie überhaupt kein ,Trauerspiel' zu sein braucht. Sind sie dagegen in der besonderen und schroffen Weise, in der sie bei Euripides nebeneinanderstehen, nicht miteinander vereinbar, so wird diese Unvereinbarkeit nicht dadurch behoben, daß das Stück in der Tetralogie an der Stelle des Satyrspiels stand; denn daß das Stück echt tragische Elemente enthält und nicht ein reines Satyrspiel ist, in dem etwa die tragischen Elemente nur in parodischer Funktion vorkämen, hat noch niemand bestritten. Anstöße dieser Art waren es denn jedenfalls auch, welche die modernen Bearbeiter und Nachahmer der Euripidischen Tragödie von Anfang an veranlaßt haben, das Stück von Grund auf / umzugestalten. Hier zeigte sich jedoch sogleich, daß es keineswegs ausreichend war, die krassesten Stellen, wie sie etwa oben hervorgehoben worden sind, zu beseitigen, sondern daß eine ganz wesentliche Schwierigkeit schon darin lag, daß Admet, wie er bei Euripides dargestellt ist, des Opfers, das seine Gattin für ihn bringt, unwürdig zu sein scheint. Diese Unwürdigkeit aber ist wiederum durchaus nicht abhängig von dem, was Euripides seinen Admet sagen läßt, sondern scheint schon damit gegeben, daß Admet das Opfer des Lebens seiner Gattin annimmt, ja eigentlich diese, 264

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wie schon vorher seinen Vater und seine Mutter sowie andere ihm Nahestehende, geradezu dazu aufgefordert hat. Daher ändern denn auch die ältesten modernen Bearbeiter des Stoffes bis zum Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts — Hans Sachs in seiner Tragoedia von der Getreten Frau Alkestis und ihrem getrewen Mann Admeto, Alexandre Hardy in seiner Alceste ou la fidelite (1602), Quinault in seiner Alceste, die von Lully vertont worden ist, Calsabigi in seinem Libretto zu der Oper Glucks, und viele andere — fast durchweg eben diese Grundvoraussetzung der Euripideischen Tragödie. Meist geschieht dies in der Weise, daß Admet entweder erst nach dem Tode seiner Gattin von ihrem Gelübde erfährt oder doch erst, nachdem sie es getan hat, worauf sich dann im letzteren Falle ein edler Wettstreit zwischen den Gatten erhebt, von denen jeder für den ändern sterben will, bis der Todesdämon diesem Wettstreit ein Ende macht, indem er Alkestis hinwegführt. Da bei allen Verschiedenheiten dieser Stücke im einzelnen das Mittel, mit dem sie die Schwierigkeit überwinden zu können glaubten, überall dasselbe ist, so ist es für den gegenwärtigen Zweck nicht nötig, sie alle zu diskutieren. Es genügt durchaus, instar omnium, das Singspiel Wiclands vom Jahre 1773 etwas ausführlicher zu analysieren, was den großen Vorteil hat, daß in diesem Fall der Autor selbst sich über die Gründe seiner Abweichungen von Euripides in einer Reihe von Briefen an seinen Freund Jacobi ausführlich geäußert und dazu noch einen kurzen kritischen Überblick über frühere deutsche Bearbeitungen des Stoffes geliefert hat. Aus eben diesem Grunde kann die direkte Angabe der von Wieland vorgenommen Änderungen ganz kurz gehalten werden. Zunächst hat Wieland sowohl die Prologszene zwischen Apollon und dem Todesdämon und die Szene zwischen Admet und seinem Vater Pheres und damit auch die zugehörigen Personen vollständig gestrichen. Ebenso verzichtet er auf den Chor und auf die Rollen des Sklaven und der Dienerin. Dagegen hat er als neue Person eine Schwester der Alkestis mit dem Namen Parthenia eingeführt, die freilich nur eine Nebenrolle spielt. Im übrigen ist der Verlauf des Stückes so geändert, daß Alkestis zuerst von dem Orakel erfährt, das zugleich verkündet, daß es Admet bestimmt ist, zu sterben, und daß er gerettet werden kann, wenn sich jemand findet, der bereit ist, freiwillig an seiner Stelle in den Tod zu

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gehen. Alkestis bietet sich sofort den Göttern an. Erst als Admet voll Freude kommt, um seiner Gattin seine ganz unverhoffte plötzliche Genesung mitzuteilen, erfährt er von ihrem Opfer, ist untröstlich, bittet die Götter, das Gelübde nicht anzunehmen, und will schließlich mit ihr sterben. Als sie stirbt, sinkt er vor Schmerz betäubt zu Boden. Herakles jedoch, der, wie bei Euripides, kommt, um auf dem Wege zu einem neuen Abenteuer Unterkunft zu suchen, ist von Admets Schmerz und von der Treue der Gemahlin erschüttert. Er bringt nach einem Kampf mit dem Todesdämon Alkestis zurück. Auch hier wird sie Admet zunächst als verscheierte Frau zugeführt, um ihn auf die Probe zu stellen. Aber Admet besteht die Probe glänzend. „Nicht meine Treue — die ist ewig, ewig Alkesten heilig — unsre Freundschaft setzest du auf eine Probe, — der sie unterliegt. Ich geh' — und du — hast einen Freund verloren", antwortet er dem Versucher und hat eben damit seine Würdigkeit bewiesen, seine geliebte Gemahlin wieder zurückzuerhalten. / Von einem gewissen Interesse ist zunächst die Einführung der Gestalt der Parthenia, gerade weil die Art, wie sie geschieht, zeigt, daß Wieland nicht in allem den Tendenzen seiner Zeit völlig nachgegeben hat. In seinem zweiten Brief an Jacobi sagt Wieland darüber, er sei zunächst in der Absicht, mehr Interesse in die ,Alcestef zu bringen, im Begriffe gewesen, „einen Liebeshandel zwischen Parthenia und Hercules anzulegen". Dann aber gibt er die Gründe dafür an, daß er diesen Gedanken wieder aufgegeben hat: „Hercules würde dadurch zu den gewöhnlichen Opernhelden herabgesetzt worden sein. Die große Tat, Alcesten aus dem Land der Schatten zurückzubringen, hätte die Hälfte ihrer Größe verloren, und Parthenia mit einem zwischen ihrem Liebhaber und ihrer Schwester geteilten Herzen hätte nur eine frostige Person dargestellt." Hier weist der erste der zitierten Sätze auf das allgemeine Vorurteil, daß es ein volles Interesse des Gemüts an einer Handlung ohne einen ,Liebeshandel' nicht geben könne, ein Vorurteil, das in dem galanten Frankreich schon ein Jahrhundert vor Wieland so stark gewesen war, daß selbst der das Heroische und die Staatsaktionen liebende Corneille sich veranlaßt sah, in seine Üi&'/wstragödie eine Liebesgeschichte einzufügen. Um so bemerkenswerter ist das künstlerische Gefühl, das Wieland verhindert hat, dem allgemeinen Vorurteil nachzugeben, wenn auch die Gestalt der Parthenia als eine Art Residuum der ursprünglichen Absicht, nun aber 266

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ausschließlich in der Rolle der mitfühlenden und mitleidenden Verwandten, übriggeblieben ist. Wichtiger jedoch als diese Neueinführung einer Nebenrolle sind die Änderungen, die Wieland an den Charakteren der Hauptpersonen vorgenommen hat, und die Gründe, die er dafür gibt. „Der Charakter der Heldin des Stückes", so sagt er in dem vierten Brief an Jacobi, „ist derjenige, worin Euripides triumphiert." Daher habe er auch die Alkestis des Euripides zum Urbild seiner eigenen Alceste gemacht. Aber trotzdem sei er genötigt gewesen, seine Alceste — wie er selbst sagt: „auf Unkosten der Natur und Wahrheit" — zu verschönern. „Verdorben, wie wir sind", so führt er aus, „finden wir in den Tränen, womit Alceste ihr Ehebette überschwemmt, in der Mühe, die sie hat, sich davon loszureißen, ich weiß nicht was Eigennütziges, das dem Wert ihrer Zärtlichkeit Abbruch tut. Vergebens würde man uns sagen: es ist Natur, schöne, keusche, unentheiligte Natur! Unsre Sitten sind nicht rein, unsre Begriffe selbst nicht echt genug, uns die moralische Schönheit in diesem Zug empfinden zu lassen." Dies ist also die erste Änderung, die Wieland an der Darstellung der Alkestis vorzunehmen für nötig hielt. Die zweite bezieht sich auf die Szene, in der Alkestis von Admet Abschied nimmt. „Was meinen Sie", sagt Wieland, „daß unser Parterre oder wenigstens unsere Logen zu der langen Rede gesagt hätten, welche Euripides seine Alceste halten läßt, um ihren Gemahl zu bewegen, daß er ihr eidlich angelobe, sich nicht wieder zu vermählen? Es ist wahr, alles, was er sie sagen läßt, ist Natur, ist den Sitten ihres Zeitalters vollkommen gemäß. Sie redet die Sprache einer edlen tugendhaften Frau, in einer Zeit, wo Überfluß von Geselligkeit und Verfeinerung die charakteristischen Züge jeden Geschlechts und Standes noch nicht wegpoliert hatte. ... Aber dem Manne, für den sie stirbt, in acht schönen Versen die Wohltat, die sie ihm erweist, vorrücken — dem Manne, für den sie stirbt, durch eine lange Reihe von dringenden unwidersprechlichen Vorstellungen einen Eid, daß er ihrem Andenken und ihren gemeinschaftlichen Kindern nicht untreu werden wolle, abnötigen —, dies konnte meine Alceste nicht, dies durfte sie nicht, ohne ihn und den Dichter (der am Ende doch, wie billig, die Schuld allein tragen muß) in den Augen aller schönen Seelen aufs

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Sdimählichste zu erniedrigen. Hier war nun freilich vonnöten, die Spur des griechischen Dichters zu verlassen." / Das Bemerkenswerte an diesen Ausführungen Wielands ist, daß er sich zwar einerseits genötigt fühlt, den Charakter seiner Alceste gegenüber der Alkestis des Euripides noch weiter zu idealisieren, sich aber dabei bewußt ist, daß diese Idealisierung auf Kosten der Naturwahrheit geht. Doch enthält der letzte Teil seiner Ausführungen auch schon eine leise Kritik an Euripides. Auf der einen Seite scheint es Wieland natürlich, daß eine Frau in der Besorgnis um die Zukunft ihrer Kinder ihrem Gatten das Versprechen abnimmt, ihnen nach ihrem Tode keine Stiefmutter zu geben. Auf der ändern Seite findet er es doch etwas beleidigend für den Gatten, daß sie ihn einen Eid darauf schwören läßt. Freilich setzt dies voraus, daß der Gatte sich so verhalten hat, daß sie seiner ewigen Treue und Liebe sicher sein kann. Dies aber ist nun eben bei dem Admet des Euripides durchaus nicht der Fall. An der Darstellung des Charakters des Admet durch Euripides übt denn auch Wieland die schonungsloseste Kritik. Der Grundfehler in dem Charakter, den Euripides seinem Admet gegeben hat, liegt schon darin, daß er in das Opfer seiner Gattin eingewilligt hat. „Den Mann, der dies tun konnte, können wir unmöglich lieben, unmöglich an seinem Schmerz Anteil nehmen. Seine Klagen empören uns wider ihn." Dazu kommen noch die Geschmacklosigkeiten, die ihn Euripides in der Abschiedsszene sagen läßt. „Wir werden immer nur eine sehr mittelmäßige Meinung von einem Manne haben, der in dem Augenblicke, wo er eine Gattin wie Alceste verliert, eine wohlgesetzte Rede in vierzig schönen Versen zu halten fähig ist. Glaubt er etwan, wir sollen darum besser von ihm denken, weil er Alcesten sagt, er wolle sich von einem großen Meister ihre Statue machen lassen, wolle diese Statue alle Nächte mit sich zu Bette nehmen, sie umarmen, sie mit ihrem Namen nennen, sich dann einbilden, er habe seine liebe Frau im Arm — und was der Albernheiten mehr sind? ... Denken Sie nicht etwan, daß dies das Frostigste ist, was er ihr vorsagt; es kommt noch besser. Denn nun sagt er ihr gar, was er tun wollte, wenn er so schön singen und leyern könnte wie Orpheus, und prahlt, daß ihn weder Pluton's Hund noch Charon mit seiner großen Schierstange zurückhalten sollte, zur Hölle hinabzusteigen und seine liebe Alceste zurückzuholen. Aber auf alle diese schönen Einfalle und 268

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Phrases haben wir nur die eine Antwort, die wir ihm bei jedem Worte ins Gesicht stoßen: wer hat die Schuld, daß Alceste sterben muß? Wer willigte ein, sein Leben um einen so hohen Preis zu kaufen? usw." Dieselbe Unvollkommenheit im Charakter des Admet tritt in der Streitszene mit seinem Vater Pheres hervor, von dem „er sich die niederschlagendsten Dinge ins Gesicht sagen lassen muß." Kaum geringeren Tadel scheint Wieland Euripides' Darstellung des Herakles zu verdienen. Er beschreibt ausführlich das schlechte Benehmen des Halbgottes im Drama des Euripides und kommt dann zu dem Schlüsse: „Gestehen wir's, der Sohn Jupiter's macht bei diesem Allem eine sehr mittelmäßige Figur ... Nach unserer Sitte würde eine solcher Hercules verächtlich". „Ich verlange", so fährt Wieland fort, „mir kein Verdienst daraus zu machen, daß ich hier von Euripides abgewichen bin. Denn was hab ich getan, als was er selbst, hätt' er sein Drama 2200 Jahre später zu verfertigen gehabt, auch getan haben würde?" An diesen Ausführungen Wielands ist zunächst vor allem die Unbestechlichkeit und Ehrlichkeit hervorzuheben, mit der er trotz der traditionellen Ehrfurcht vor dem antiken Dichter, die er mit seinen Zeitgenossen teilt, das ihm Anstößige ohne jede Verschleierung herausstellt, im Gegensatz zu vielen späteren Interpreten, die es durch gewaltsame und gekünstelte Interpretation zu beseitigen versuchten. Nicht minder bemerkenswert aber ist die stillschweigende Voraussetzung, die er allenthalben macht, daß nämlich ein Mangel in den Charakteren des Herakles und des Admet not- / wendig ein Mangel oder ein Kunstfehler des Dichters sei, obwohl doch sonst ein Künstler für die treffende und eindringliche Darstellung eines unvollkommenen Charakters nicht weniger gelobt zu werden pflegt als für diejenige eines edlen und vollkommenen. Der Gedanke, daß Euripides mit seiner Darstellung der Charaktere einen tieferen Zweck verfolgt haben könnte, scheint Wieland gar nicht zu kommen. Bis zu einem gewissen Grade freilich hat sich Wieland offenbar allerdings Gedanken darüber gemacht, wie Euripides wohl dazu gekommen sein könne, Fehler — aber es bleiben für Wieland eben Fehler — zu begehen, die ein moderner Dichter seiner Meinung nach niemals begangen haben würde. Der eigentliche Gegenstand des Stückes — so legt er es sich zurecht, sind der Opfertod der Alkestis und ihre Wiederkehr. Aber nun [35136]

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erhob sich für den Dichter das Problem „womit beschäftige ich ihn (sc. den Admet) in einem Zwischenraum von zwei Akten bis zu dem alle unsere Hoffnungen übersteigenden Augenblick, da uns die erblaßte Heldin wieder lebendig dargestellt wird? Und wie fülle ich diese Akte aus, ohne das Interesse erkalten zu lassen?" In dieser Verlegenheit hat eben dann Euripides nach Ansicht Wielands die anstößigen Szenen, d. h. die Szene, in der Admet Herakles als Gast annimmt, indem er ihn über die Natur des Trauerfalles täuscht, die Pheresszene und die Szene mit dem trunkenen Herakles eingefügt. Die häßliche Streitszene zwischen Vater und Sohn ist ferner daraus zu erklären, „daß es des weisen Euripides eigentümliche Schwachheit ist, keiner Gelegenheit, wo er seine Personen schöne Reden halten lassen kann, widerstehen zu können." Ebenso weiß Wieland für die besondere Gestaltung der Heraklesszenen noch einen Grund. Admet sei vor allem wegen seiner Gastfreundschaft berühmt gewesen, „einer Tugend, die in heroischen "Zehen, d. h. in Zeiten des Faustrechts, ein großes Verdienst in sich schließt". So habe Euripides die ganze Verwicklung seines Stücks auf die Hospitalität des Admet begründet. Die Heraklesszenen hätten daher die Funktion, die Gastfreundschaft Admets im vollsten Licht erstrahlen zu lassen. Diese Tugend Admets decke auch im Urteil des Euripides und seines Publikums alle Fehler, die Admet sonst etwa haben möge, zu. Uns freilich sei es nicht mehr möglich, das voll und ganz nachzuempfinden, da in unserer Zeit die Gastfreundschaft nicht mehr so hoch eingeschätzt werde wie im Altertum. Deshalb habe er (Wieland) eben in dieser Hinsicht ändern müssen. Wieland scheint sich gar nicht dessen bewußt gewesen zu sein, daß er mit seiner Grunderklärung der Mittelpartien des Stückes dessen Verfasser zum Stümper stempelt, obwohl er doch zweifellos nicht nur vorgibt, den Euripides zu bewundern, sondern ihn in vieler Hinsicht wirklich bewundert hat. Denn was immer man über den Unterschied antiker und moderner dramatischer Technik sagen mag — worüber noch zu reden sein wird —, so kann ein Stück, in dem reichlich die Hälfte Füllsel ist und dazu noch Füllsel, das zum eigentlichen Gegenstand und Charakter des Stückes gar nicht paßt, nur als stümperhaft bezeichnet werden, zu welcher Zeit es auch immer verfaßt sein mag und so wirkungsvoll die als Füllsel gebrauchten Szenen, für sich genommen, auch sein mögen. Das hat man auch im Altertum gewußt, wie die Bemerkung des Aristo270

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teles zeigt, der größte Fehler eines Dramas sei es, zu sein, d. h. aus Szenen zusammengesetzt, die keinen notwendigen Zusammenhang miteinander haben15. Aber auch sonst lassen sich die Erklärungen Wielands schlechterdings nicht aufrechterhalten. Die Schwächen im Charakter Admets treten bei Euripides keineswegs nur in der Pheresszene hervor. / Vielmehr sind sie in der Szene, in der Admet von seiner Gattin Abschied nimmt, wie Wieland selbst ja mit Recht hervorhebt, noch viel deutlicher zu sehen, wenn man auf die Geschmacklosigkeiten, die Euripides seinen Admet dort sagen läßt, nur natürlich reagiert. Da diese Szene kein Füllsel ist, sondern auch nach Wielands Meinung zum Zentrum des Stückes gehört, kann Euripides nicht wohl durch die Verlegenheit, eine Lücke füllen zu müssen, veranlaßt worden sein, seinen Admet dort so reden zu lassen, wie er tatsächlich redet. Wenn ferner eine gewisse Schwäche im Charakter Admets schon darin liegt, daß er das Opfer seiner Gattin annimmt, und Euripides sich darin an die Legende gebunden glaubte, wie sie ihm vorlag, so ist doch ganz deutlich, daß Euripides in der Abschiedsszene nicht den geringsten Versuch macht, diese Schwäche zu mildern, sondern sie vielmehr auf jede Weise hervortreten läßt. Damit entfällt auch die Erklärung, daß für Euripides die Gastfreundschaft eine so überwältigende Tugend gewesen wäre, daß sie seiner Meinung nach alle anderen Mängel des Admet zudeckte. Er hätte dann doch wohl kaum diese anderen Schwächen so stark hervorheben und außerdem noch den Chor Admet für seine unzeitige Gastfreundschaft tadeln lassen dürfen. Wenn es also ein Fehler war, Admet so darzustellen, wie Euripides es getan hat, so kann nicht der geringste Zweifel daran bestehen, daß Euripides diesen Fehler nicht aus Versehen und weil er nicht wußte, wie er eine Lücke ausfüllen sollte, sondern mit vollem Bewußtsein begangen hat. Ist dies aber so, so ist es doch wohl nötig, die wahre Absicht des Euripides zu erkennen, ehe man sein Verfahren als fehlerhaft erklärt. Erweisen sich also Wielands Erklärungen des Stückes des Euripides als unhaltbar, so ist es doch der Mühe wert gewesen, sich etwas ausführlicher mit ihnen auseinanderzusetzen, wenn aus keinem anderen Grunde, so schon deshalb, weil sie in mehr oder minder abgewandelter Form bis in die neueste Zeit bis zum Überdruß wiederholt worden sind. Darüber hinaus sind sie vor allem deshalb der Beachtung wert, weil sich an Wielands [36137]

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Singspiel die Folgen der Änderungen, die er glaubte vornehmen zu müssen, beobachten lassen, und zwar um so mehr, als es sich bei Wielands Singspiel nicht wie bei den drei ältesten deutschen Singspielen, über die er in dem früher erwähnten Traktat höchst amüsant berichtet, um ein an sich minderwertiges Machwerk handelt. Wie überall zeigt sich Wieland auch in diesem Singspiel als der Sprachkünstler, dem die Entwicklung der deutschen Sprache zu größerer Glätte sehr viel zu verdanken hat. Er darf sich mit Recht rühmen, gegenüber der Schwülstigkeit seiner deutschen Vorgänger zu einem natürlichen Ausdruck menschlicher Gefühle und Empfindungen zurückgefunden zu haben. Ebenfalls im Gegensatz zu den Produkten seiner deutschen Vorgänger, die sich nicht genug tun konnten in der Einführung abenteuerlicher Verwicklungen, die mit dem Gegenstand des Stückes nichts zu tun haben, hat die Handlung bei Wieland Einheit, ja man kann sagen, daß sie auf den einfachsten Nenner gebracht ist. Alles dies sind unzweifelhafte Vorzüge nicht geringer Art. Um so bezeichnender ist es, daß alle diese Vorzüge doch nicht darüber hinweghelfen können, daß ein Stück, in dem alle Personen an Edelmut und Opfermut miteinander wetteifern, an einer gewissen Leere leidet, wie dies denn auch Wieland von dem jungen Goethe in seiner Farce Götter, Helden und 'Wieland ziemlich schonungslos vorgehalten worden ist, Aber auf diese Kritik Goethes wird später noch in anderem Zusammenhang zurückzukommen sein. Für den Augenblick mag es genügen, darauf hinzuweisen, daß gegen Ende des 18. Jahrhunderts Alfieri in der Alceste Seconda, die er im Jahre 1798 seiner früher verfaßten Übersetzung der Euripideischen Alkesiis an die Seite stellte, der Wielandschen Auffassung der Alkestislegende eine künst- / lerisch noch eindrucksvollere Form gegeben hat und doch nicht mit wesentlich besserem Erfolg. Die Sprache des italienischen Dichters ist volltönender, männlicher, kräftiger als die mehr zarte, in Empfindungen schwelgende Sprache Wielands. Selbst der kritische Leser, der nicht den unmittelbaren Eindruck der Kunst des Schauspielers ausgesetzt ist, wird sich nicht erwehren können, von dem leidenschaftlichen Ausdruck des Schmerzes der handelnden Personen, vor allem zu Beginn des Stückes hingerissen zu werden. Aber die Tragödie Alfieris ist länger als das Singspiel Wielands. Alfieri hat im Gegensatz zu Wieland die Person des Vaters Pheres beibehalten, der sich bei ihm aber auch für 272

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seinen Sohn und seine Schwiegertochter opfern will. Zwar hat Alfieri versucht, in die dadurch gegebene Gleichförmigkeit der Charaktere und Gefühle einige Abwechslung zu bringen, indem er Admet seiner Gattin Vorwürfe machen läßt, weil sie ihn durch ihr Opfer viel schlimmer treffe, als wenn sie ihn hätte sterben lassen. Auch wird die Euripideische Streitszene zwischen Vater und Sohn dahin variiert, daß Admet seinen Vater heftig dafür tadelt, daß er das Orakel befragt hat, da erst dadurch das Opfer der Alkestis möglich geworden ist. Aber das alles kann doch nicht ganz verhindern, daß über die Gleichförmigkeit des Edelmutes aller auftretenden Personen, von denen keine den allgemeinen menschlichen Schwächen ausgesetzt erscheint, und des hohen Tones, in dem sie alle reden, das Interesse des Lesers — und doch wohl auch des Zuschauers — gegen Ende erlahmt. Hier wie bei Wieland ist die von Aristoteles ausgesprochene Regel nicht beachtet, daß eine Tragödie nur dann ihre vollste Wirkung ausüben kann, wenn die in ihr auftretenden Personen Menschen sind wie wir. 3.

Während die Alkestisdichtungen des 18. und der vorhergehenden Jahrhunderte, zu denen auch noch Herders im Jahre 1802 veröffentlichtes Drama Admetus' Hans oder der Tausch des Schicksals gerechnet werden muß, den Anstoß, den die Euripideische Tragödie den Modernen gegeben hat, dadurch zu beseitigen suchen, daß sie Admet von dem Opfer der Alkestis erst dann erfahren lassen, als er es nicht mehr verhindern kann, herrscht im 19. Jahrhundert die Tendenz vor, die Euripideische Voraussetzung, daß Admet das Opfer seiner Gattin annimmt, zu akzeptieren, aber den Charakter des Admet gegenüber seiner Darstellung bei Euripides mit ändern Mitteln zu heben. Auch hier genügt es wieder, einige besonders wichtige Dichtungen und Interpretationen instar omnium zu analysieren. Einer der interessantesten, wenn nicht der interessanteste, Versuche einer dichterischen Auslegung des Euripideischen Stückes, die im 19. Jahrhundert unternommen worden sind, ist das im Jahre 1871 vollendete Gedicht Balaustion's Adventure von Robert Browning. Das Gedicht beginnt mit einer Rahmenerzählung. Nach der katastrophalen Niederlage des athenischen Heeres unter Nikias vor Syrakus und seiner Ein-

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Schließung in den Steinbrüchen, aber noch vor seiner völligen Vernichtung, beschließt die Stadt Kameiros auf Rhodos, von dem attischen Seebund abzufallen und auf die spartanische Seite überzugehen. Aber ein von attischem Geist und attischer Kultur begeistertes junges Mädchen, das die ihr barbarisch erscheinenden rauhen und amusischen Sitten der Spartaner verachtet, Balaustion, will es nicht ertragen, unter diesen Umständen länger in ihrer Heimatstadt zu leben. Es gelingt ihr, ihre Familie und ihre Verwandten zu überreden, mit ihr auszuwandern und / anderweitig eine neue Heimat zu suchen. Unterwegs werden sie von einem Piratenschiff verfolgt, und als sie auf der Flucht endlich einen Zuflucht verheißenden Hafen sichten, entdecken sie zu ihrem Schrecken, daß sie dabei sind, in den Hafen von Syrakus einzulaufen. Unter den Umständen bleibt ihnen nichts anderes übrig als um die Erlaubnis zum Landen nachzusuchen. Aber ein syrakusisches Kriegsschiff verweigert den Athenerfreunden den Eintritt in den inneren Hafen. Alle Bitten scheinen nichts zu helfen. Da fällt es dem Kapitän des rhodischen Schiffes ein, daß in Syrakus eine große Begeisterung für Euripides herrscht und daß einige athenische Verwundete und Gefangene freigelassen worden sind und nach Athen zurückkehren durften, wenn sie Euripides rezitieren konnten. Er ruft Balaustion auf, die Feinde mit dem Versprechen einer Euripidesrezitation zu gewinnen. Sie verspricht, „to recite the main of a whole play from first to last; that strangest, saddest, sweetest song of his, ALKESTIS ...". Ihr Angebot wird angenommen, und das Schiff darf mit den Auswanderern in den Hafen einlaufen. Der größte Teil des Browningschen Gedichtes besteht nun in der Wiedergabe eben dieser Rezitation der Euripideischen Alkestis durch das Mädchen Balaustion. Ein großer Teil des Folgenden ist daher eine mehr oder minder wörtliche Übersetzung des Euripideischen Stückes. Aber Balaustion rezitiert nicht nur. Sie beschreibt auch, was auf der Bühne zu sehen war: die Erscheinung, die Gesten, die Sprache der Schauspieler; ja sie geht, wie ihr von den Syrakusanern vorgehalten wird, darüber hinaus und beschreibt den wechselnden Gesichtsausdruck der handelnden Personen, obwohl die Maske des griechischen Theaters ja einen solchen Wandel nicht erlaubte. Sie spricht sich darüber aus, wie das Verhalten der Personen im Stück zu beurteilen sei, und liefert damit, zugleich mit ihrer Rezitation, einen erklärenden Kommentar. Dieser Kommentar 274

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der Balaustion, der in Wirklichkeit natürlich der Kommentar des Dichters ist, ist es, der uns vor allem interessiert. Bei weitem am besten ist, was Balaustion-Robert Browning über Alkestis selbst zu sagen haben Im Gegensatz zu der überwältigenden Mehrzahl der modernen Erklärer vor und nach ihm, die dies entweder nicht gesehen haben oder es nicht sehen wollten, weil es zu ihrer Auffassung, wie sich Alkestis eigentlich verhalten müßte, nicht paßt, weist Browning darauf hin, daß für Alkestis bei Euripides in dem Augenblick, in dem sie wirklich sterben soll, das Sterben ganz anders aussieht als zu der Zeit, da sie ihr Gelübde getan hat, der Augenblick seiner Erfüllung aber noch in einiger Ferne lag: „We grew to see in that severe regard, — hear in that hard dry pressure to the point, word slow pursuing word in monotone, — what Death meant when he called her consacrate henceforth to Hades. I believe the sword — its office was to cut the soul at once from life — from something in this world which hides thruth, and hides falsehood, and so lets us live somehow. Suppose a rider furls a cloak about a horse's head; unfrightened so between the menace of a flame, between solicitation of a pasturage, untempted equally he goes his gait to journey's end: then pluck the pharos off! Show what delusion steadied him i'the straight o' the path, made grass seem fire and fire seem grass, all through a little bandage o'er the eyes! As certainly with eyes unbandaged now Alkestis looked upon the action here, self-immolation for Admetos here." All dies ist eine sehr schöne und richtige Interpretation des ersten Auftretens von Alkestis bei Euripides, nachdem die Dienerin zuerst indirekt ihre Vorbereitungen zum Tode beschrieben hat. Nur das wäre vielleicht hinzuzufügen, daß es nicht einmal nötig ist, mit Balaustion den Blick und die Gesten von Alkestis zu beschreiben, um den Sinn der Szene zu verstehen, da ihn Euripides mit den Worten, die er seine Alkestis sprechen läßt, völlig deutlich gemacht hat. / Browning hat auch erkannt und darauf hingewiesen, daß in der allerletzten Szene vor ihrem Tod, in der Alkestis von ihrem Gatten und ihren Kindern Abschied nimmt, eine gewisse Erkaltung in ihren Gefühlen für den Mann, für den sie stirbt, nicht zu verkennen ist: „Saw with a new sense all her death would do, and which of her survivors had the right, and which the less right, to survive thereby. For, you shall [39140]

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note shö uttered no one word of love more to her husband, though he wept plenteously, waxed importunate in prayer — folly's old fashion when its seed bears fruit. I think she judged that she had bought the ware o' the seller at its value — nor praised him, nor blamed herself, but with indifferent eye saw him purse money up, prepared to leave the buyer with a solitary bale — true purple — but in place of all that coin had made a hundred others happy too, if so willed fate or fortune! What remained to give away, should rather go to these than one with coin and clink to contemplate. Admetos had his share and might depart. The rest was for the children and herself." Wie sollte es Euripides, wenn diese Abschiedsszene überhaupt irgendeine Realität haben soll, auch haben unterlassen können, die Entfremdung, welche hier zwischen den Gatten eintritt, auch von Seiten der Alkestis wenigstens anzudeuten, da er doch seinen Admet völlig hilflos dabeistehen und die törichtsten und ungereimtesten Dinge sagen läßt. Auch dies wird von Balaustion sehr treffend und richtig hervorgehoben, wenn sie zunächst die Beteuerungen Admets wiedergibt und dann hinzufügt: „So he stood sobbing: nowise insincere, but somehow childlike, like his children, like childishness the world over. What was new in this announcement that his wife must die? What particle of pain beyond the pact he made, with eyes wide open, long ago — made and was, if not glad, content to make? Now that the sorrow he had called for came he sorrowed to the height: none heard him say however what would seem so pertinent: „to keep this pact I find surpass my power; rescind it, Moirai! Give me back her life, and take the life I kept by base exchange! Or failing that here stands your laughing-stock fooled by you, worthy just the fate o' the fool who makes a pother to escape the best and gain the worst you wiser powers allot!" No, not one word of this: nor did his wife despite the sobbing and the silence soon to follow, judge so much was in his thought — fancy that, should the Moirai acquiesce, he would relinquish life nor let her die ..." Auch dies ist eine völlig korrekte und zugleich schöne und eindringliche Interpretation der Intentionen des Euripides. Sie zeigt aufs deutlichste, wie die Abschiedsszene bei Euripides gerade durch die schonungslose Darstellung der Schwäche des Admet und der Entfremdung zwischen den Gatten, die eben in dem Augenblick eintritt, in dem die Frau 276

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für ihren Mann das höchste Opfer bringt, einen echt tragischen Gehalt gewinnt, der weit über das hinausgeht, was in den beiden Alkestisdramen Wielands und Alfieris zusammengenommen zu finden ist, von den Elaborationen minderer Dichter ganz zu schweigen. Aber so ausgezeichnet Brownings Interpretation des ersten Drittels der Euripideischen Tragödie ist, so ist er doch nicht imstande, der Schonungslosigkeit und Härte des Euripides in der Darstellung menschlicher Schwächen und Unvollkommenheiten bis ans Ende zu folgen. Der Weg, den er vom zweiten Drittel des Stückes an einschlägt, ist weitgehend bestimmt durch die in der neueren Dramatik seit den mittelalterlichen Spielen, in denen die Bekehrung des Sünders dargestellt wird, weitverbreitete Tendenz, eine moralische Entwicklung des Helden auf die Bühne zu bringen. Zwar daß der Euripideische Admet nach dem Tod seiner Gattin eine ähnliche Erfahrung macht wie AI- / kestis unmittelbar vor ihrem Tod: die Erfahrung, daß alles plötzlich ganz anders aussieht, wenn unmittelbare Wirklichkeit geworden ist, was vorher nur antizipiert worden war, ist noch durchaus richtig, und auch hier wieder hat Browning dieses Gewahrwerden mit eindringlichen Worten dargestellt: „He (Admet) had used himself this long while (as he muttered presently) to practise with the terms, the blow involved by bargain, sharp to bear, but bearable because of plain advantage at the end. Now that in fact not fancy the blow fell, needs must he busy him with the surprise: — not to see her nor be seen, hear nor be heard of by her anymore today, to-morrow, to the end of time — did I mean this to buy my life? thought he". Auch daß, wie Browning sagt, in der Pheresszene dem Admet ein Spiegel seiner selbst in dem Verhalten seines Vaters vorgehalten wird, ist richtig, und es ist vielleicht auch nicht ganz unberechtigt, mit Browning zu schließen, daß Admet gegen seinen Vater deshalb so heftig wird, weil er, ohne es sich einzugestehen, im Vater seine eigenen Schwächen sozusagen in photographischer Vergrößerung zu sehen bekommt. Aber wenn Balaustion-Browning hier die Anfänge einer inneren Umkehr des Admet sieht (so the old selfish Pheres went his way, casehardened as he came; and left the youth, only half-selfish now since sensitive, to go on learning by a light the more), so setzt an dieser Stelle die Interpretation etwas hinzu, was bei Euripides nirgends angedeutet [40141]

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ist; und im Folgenden muß Balaustion zunehmend durch ihre Beschreibung von Admets Redeweise und Gesten sowie von ihrer Wirkung auf die Zuschauer ersetzen, was bei Euripides nicht zu finden ist (z. B.: then Admetos spoke, turned on the comfort with no tears this time. He was beginning to be like his wife. I told you of the pressure to the point, word slow pursuing word in monotone Alkestis spoke with; so Admetos now solemnly bore the burden of the truth, and as the voice of him grew, gathered strength, and groaned on, and persisted to the end, we felt how deep had been descent in grief, and with what change he came up now to light, and left behind such littleness as tears). Vor allem aber hätte Euripides die Schlußszene des Stückes ganz anders gestalten müssen, wenn er, wie Browning annimmt, hätte zeigen wollen, daß Admet nun völlig gewandelt und eben dadurch würdig geworden ist, seine Gattin aus der anderen Welt wiederzuerhalten. Aber darauf wird später noch ausführlicher einzugehen sein. Noch stärker aber als in der Charakterisierung des Admet weicht Balaustion-Browning in der Charakterisierung des Herakles von Euripides ab. An Stelle des rauhen, ungeschlachten Heros des Euripides erscheint bei Browning von Anfang an ein wahrer Halbgott; und Balaustion muß immer wieder Dutzende von Versen, von denen sich bei Euripides keine Andeutung rindet, darauf verwenden, seine herrliche, strahlende, sieghafte, wahrhaft göttliche Erscheinung zu beschreiben, als ob Euripides dafür eine Bühnenanweisung hinterlassen hätte. Was aber bei Euripides dieser Darstellung widerspricht, sucht Balaustion dadurch zu entwerten, daß sie den Diener, der sich über Herakles* Trunkenheit und sein mißtönendes Grölen beklagt, als eine minderwertige Kreatur bezeichnet, die für den Halbgott kein Verständnis hat. Ja, sie muß, um dies Urteil zu begründen, groteskerweise es gar in einer langen Tirade dem armen Teufel zum Vorwurf machen, daß nicht er an Stelle der Alkestis für seinen Herrn gestorben ist. All dies ist jedoch für die Geschichte der modernen Alkestisdeutung außerordentlich interessant, weil Browning, indem er einfach Euripides zu interpretieren suchte und bis zu einem Punkt am Ende des ersten Drittels seines Stückes auch tatsächlich sehr richtig interpretiert, man darf wohl / sagen, die bis heute beste moderne Alkestisdichtung geschaffen hat, aber von der Mitte des Stückes an doch nicht mehr den Mut 278

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hatte, Euripides in seinem schonungslosen Realismus der Menschendarstellung zu folgen. Nicht minder interessant ist ein reflektierendes Nachspiel, das Browning in seinem Gedicht der Rezitation des Euripideischen Stückes durch seine Balaustion folgen läßt. Nachdem Balaustion ihren Vortrag beendet hat, wirft sie die Frage auf, warum wohl Euripides für ein so ausgezeichnetes Stück nicht den ersten Preis bekommen habe und was für eine Alkestis wohl Sophokles, der Sieger im dramatischen Wettstreit, geschaffen haben würde, wenn er sich dieses Thema gewählt hätte. Nun, was so ein großer Dichter daraus hätte machen können, wagt sie nicht zu sagen. „Aber", fährt sie fort, „da ein Ding so viele Seiten hat, so kann ich, glaube ich, schon sehen, wie du oder ich oder irgend jemand es hätte anfangen können, eine neue Alkestis und einen neuen Admet zu schaffen." Darauf folgt eine kurze Inhaltsangabe dieser potentiellen Alkestisdichtung, und es ist eine sehr nachdenkliche Dichtung, die Balaustion hier skizziert. Im Gegensatz zu Euripides, bei dem von den Herrschertugenden des Admet, abgesehen von seiner Gastlichkeit und Liberalität, nicht weiter die Rede ist, erscheint hier Admet als das Urbild eines vollkommenen Herrschers, der Weisheit und Festigkeit in sich vereint und der ganz im Dienste seines Volkes aufgeht. Als er erfährt, daß er im besten Alter sterben muß, ist er voll Bitterkeit gegen die göttlichen Mächte, welche seinen Vorgängern, die nur ihren eigenen Lüsten dienten, eine lange Herrschaft und ein langes Leben gewährt haben, während er, der sein Leben selbstlos dem Wohle des Volkes gewidmet hat, sterben soll, bevor es ihm gelungen ist, seine Aufgabe zu Ende zu führen. Da bittet seine Gattin Alkestis den Gott Apollon, sie an Stelle ihres Gatten sterben zu lassen, damit er seine Aufgabe zu Ende führen kann. Der Gott lehnt nicht ab. Aber er ist skeptisch. „Warum fürchtet ihr denn", sagt er, „daß, wenn Admet jetzt stirbt, alles Gute, das er zu wirken berufen war, mit ihm stirbt? Kann nicht sein plötzlicher Tod in der Mitte seiner segensreichen Wirksamkeit einen tieferen Eindruck auf die Menschen machen als was er hätte lebend vollbringen können?" Trotzdem gewährt der Gott die Bitte der Alkestis. Nun bereut Admet sofort die Anklagen, die er gegen die Götter gerichtet hat, und den unweisen Wunsch, gegen den Beschluß des Schicksals

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weiterleben zu dürfen. Er will das Opfer seiner Gattin nicht annehmen. Aber Alkestis sucht ihn zu überreden, daß er unrecht hat. Er sei doch jederzeit bereit gewesen, sein Glück und sein Leben für das Wohl seines Volkes einzusetzen und, wenn nötig, zu opfern. So müsse er auch bereit sein, das Liebste, was er habe, seine Frau, seinem hohen Ziele zum Opfer zu bringen. Durch solche Vorstellungen gelingt es ihr, ihren Gatten zum Nachgeben zu überreden. Der Schluß, der darauf folgt, ist seltsam. Durch Alkestis' freiwilligen Tod ist ihre Seele mit der des Admet vereinigt worden und seine seelische Kraft verdoppelt. Aber das können die Götter nicht dulden: „two souls in one were formidable odds; Admetos must not be himself and thou", und so kehrt auf der Götter Geheiß Alkestis wieder ins Leben zurück: „and so, Alkestis was alive again and of Admetos' rapture who shall speak?" Aber das Alkestisdrama, das sich Balaustion ausgedacht hat, endet nicht wie ein Märchen mit der Erfüllung aller Wünsche der treuen Ehegatten, die ihre Würdigkeit erwiesen haben, sondern es schließt: „So the two lived together and well. But never could I learn by word of scribe or voice of poet rumour wafts our way that of the scheme of rule in righteousness, the bringing back again the Golden Age, which rather than renounce / our pair would die — that ever one faint particle came true, with both alive to bring it to effect: such is the envy gods still bear mankind." Vielleicht ist dieser Schluß etwas gar zu metaphysisch, vor allem die Angabe des Grundes, warum die Götter oder Persephone Alkestis wieder zum Leben erwachen lassen. Bewundernswert aber ist, wie hier Browning schon im vornhinein davor warnt, den märchenhaften Schluß mit seiner Belohnung der Treue der Ehegatten beizubehalten, den Charakter des Admet aber dadurch zu heben, daß man ihm eine Stellung und eine Aufgabe gibt, die es gerechtfertigt erscheinen lassen oder selbst als eine Pflicht oder ein Opfer von seiner Seite, wenn er die Stellvertretung seiner Gattin im Sterben annimmt. Die Wirklichkeit ist nicht so, daß es dem Menschen am Ende erspart bliebe, den Preis wirklich zu bezahlen, oder daß er ihn, wenn er nur bereit ist, ihn zu zahlen, zur Belohnung am Ende nur scheinbar zu bezahlen braucht oder sozusagen seine Auslagen wiederbekommt. Trotz der Warnung Brownings ist dieser Weg, den Charakter des 280

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Admet von den ihm bei Euripides anhaftenden, den Modernen aber durchweg so ganz unerträglichen, Mängeln zu reinigen, im 19. und 20. Jahrhundert öfters beschatten worden. Auch hier wird es jedoch genügen, die, soviel ich sehen kann, beste Alkestisdichtung dieser besonderen Gruppe einer Betrachtung zu unterziehen, die Alkestis von Hugo von Hofmannsthal. Wie bei Browning, so besteht auch bei Hofmannsthal ein großer Teil seiner Dichtung aus einer Übersetzung von Teilen des Stückes des Euripides. Doch während Brownings Balaustion zwar nicht den ganzen Text des Euripideischen Stückes wiedergibt und vor allem gegen Ende durch ihre Beschreibung von Erscheinung, Gesten, Ausdruck und selbst von Gefühlen der handelnden Personen den Sinn des Euripideischen Stückes ändert, da wo sie rezitiert aber am Euripideischen Text selbst keine Änderungen vornimmt, hat sich Hofmannsthal schon von den ersten Szenen an tiefgreifende Abweichungen vom Text des Euripides erlaubt. Vor allem ist bei Hofmannsthal die Grundvoraussetzung der Euripideischen Tragödie, daß Admet von der Möglichkeit eines stellvertretenden Todes weiß und durch Suchen nach einem Stellvertreter das Opfer seiner Gattin veranlaßt, zwar nicht aufgegeben, aber doch stark modifiziert. Zwar hat sein Admet „zwischen Scham und Todesangst" die Frage getan, ob jemand bereit sei, für ihn zu sterben, aber „die Frage, kaum getan, gereut ihn, und er wäre lieber tot". Auch kann man Hofmannsthals Admet den Vorwurf nicht machen, den Balaustion dem Admet des Euripides macht, er komme bei allen Klagen über den Tod seiner Gattin gar nicht auf den Gedanken, die göttlichen Mächte zu bitten, den Handel wieder rückgängig zu machen. Denn die Schicksalsmächte haben Alkestis beim Worte genommen, und es wird deutlich gemacht, daß es vergeblich wäre, sie noch einmal umstimmen zu wollen. Ganz im Einklang damit hat Hofmannsthal in der Abschiedsszene zwischen Admet und Alkestis nicht nur alle die Stellen, die bei den Modernen von Wieland an den heftigsten Anstoß erregt hatten, aufs sorgfältigste entfernt, sondern er hat auch die anstößigste von ihnen, in der Admet seiner sterbenden Gattin erklärt, er wolle in Zukunft eine nach ihrem Ebenbild gemachte Puppe zu sich ins Bett nehmen, durch hochpoetische Verse ersetzt: „So: lang ich leb, ist Trauer meine Herrin, / Setzt sich mit mir zu Tisch, geht hinter mir. / Und steht des Nachts an meinem leeren Bette

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/ Und sieht mich an mit eisernen Augen stumm. / Und manches Mal schlaftrunken wähn ich dann, / Du stündest da, und strecke meine Arme / Nach ihr und schlafe selig ein, / Bis sie mir ihre kalte Hand aufs Herz / Hinlegt und schauerlich der Wahn zerrinnt." / Soweit ist das Verhalten des Admet im Vergleich zu seinem Verhalten bei Euripides gemildert, da er sich zwar in einem Augenblick der Schwäche nach einem Stellvertreter umgesehen, das Opfer seiner Gattin aber nicht wirklich gewollt hat. Im Folgenden sucht dann Hofmannsthal zu zeigen, daß Admet zwar nicht in dem Augenblick, als ihm die Möglichkeit einer Stellvertretung angekündigt wurde, das Opfer fordern durfte, wohl aber später es anzunehmen berechtigt war, da er sich seiner als völlig würdig erweist. Um dies zu erreichen, hat Hofmannsthal zwischen die Szene, in der Admet Herakles als Gast bei sich aufnimmt, und die Pheresszene noch eine Rede des Admet eingeschaltet, die bei Euripides kein Vorbild hat, und in der Admet sozusagen dem Zuschauer den Maßstab in die Hand gibt, nach dem er ihn beurteilen soll: „Wer mich hier nicht versteht, wer fragen will, / Wie dieses Tun zu solcher Trauer stimmt, / Wem alles dies unziemlich scheint und hart, / Der schweige und bedenk: der König tat's." Und etwas weiter: „Mir ist auferlegt, / so königlich zu sein, daß ich darüber / Vergessen könne all mein eignes I.eid. / Der schöne Leib der Königin /' Ward in die Erde eingesenkt als Same: / Nun sollen Wunderbäume Zweige spreizen / Von Taubenschwärmen rauschen; alle Flüsse / In meinem Lande sollen kühner rollen / In lauterem Triumph und grollend spiegeln / Den Schatten wundervoll erhöhten Lebens / Und Zaum und Zügel aller dieser Wunder / Will ich wie diesen Stab in meiner Hand / Beherrschend halten und mein Leid vergessen." Danach muß notwendigerweise auch der Sinn der darauf unmittelbar folgenden Pheresszene von Grund auf verändert werden. Pheres kann nun nicht mehr dazu dienen, dem Sohne gewissermaßen in einem Spiegel sein eigenes Verhalten vor Augen zu führen. Vielmehr wird er nun zu einer Kontrastfigur, die dazu dient, das Verhalten des Sohnes durch den Gegensatz in besserem Lidit erscheinen zu lassen und zu erhöhen. Der Vater ist ganz selbstisch und freut sich kichernd, daß er noch frisch und am Leben ist und eine Schwiegertochter gefunden hat, die ihn davor be282

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wahrt, sich entweder für den Sohn opfern zu müssen oder den Sohn selbst, die Stütze seines Alters, zu verlieren. So kann der Sohn, der dieses Opfer nicht gewollt hat, sich aber, als er es nicht mehr verhindern konnte, durch seine vergebliche Weigerung, es anzunehmen, und seine guten Vorsätze seiner würdig zu erweisen schien, sagen: „Es ist der Vater, denk, es ist der Vater! / Wie grauenvoll, daß bloße Zeit dies wirkt, / Dies ganz unwürdig hilflos Häßliche, / Fast wie das Alter selber hassenswert." Freilich ist es dabei, entgegen der Absicht des Dichters, schwer, diese Worte Admets nicht ein wenig pharisäisch zu finden angesichts der Tatsache, daß er außer vergeblichen Wünschen und guten Vorsätzen nichts Positives aufzuweisen hat, um die Würdigkeit zu beweisen, deren er auf einmal so sicher ist. Jedenfalls aber kann kein Zweifel daran bestehen, daß es Hofmannsthals Absicht gewesen ist, Admet von Anfang an als edlen Mann darzustellen, der nur im Laufe des Stückes sich noch weiter läutert, die leichten Mängel, die ihm zu Anfang noch anhafteten, überwindet und innerlich wächst, während er bei Browning eine vollkommene innere Umkehr erfährt. Dagegen scheint die Darstellung des Herakles bei Hofmannsthal gegenüber Browning zunächst die realistischere zu sein. Während Herakles von Balaustion von Anfang an als strahlender Held geschildert wird, an dem kein Mangel haftet, kommt er bei Hofmannsthal betrunken auf die Bühne und singt „ungefüge und nicht deutlich verständlich". Aber dieser Eindruck wird bald wieder verwischt. Als der Diener ihm wegen seines unziemlichen Verhaltens Vorwürfe macht, antwortet Herakles mit einer tiefsinnigen Rede über das Verhältnis zwischen Trunkenheit und Tod, von der sich bei Euripides nicht die / leiseste Andeutung findet, die es Hofmannsthal aber erlaubt, das Ganze nun doch wieder gegenüber Euripides auf eine ,höhere Ebene* zu heben: „Göttliche Art der Trunkenheit vielleicht / Ist, was wir Totsein heißen! / Weintrunkne und Verliebte, die Berauschten / Der Kypris, schaun mit solchen sonderbaren / Augen auf einen, als ob sie aus Dämmrung /Voll Wundern zwinkernd ins Alltäglich-Grelle / Einträten — kämen aber Tote wieder, / Sie hätten noch viel wundervollre Augen / So vollgesogen innerlich mit Wundern, / Mit riesenhafter Lust, mit schwarzen Flammen, / Und was noch sonst im Herzen träumt der Erde / Wie Diamanten, die vom Licht d.es Tags / Dem eingeschluckten, nachts [44145]

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unmäßig strahlen! / Ja, irgend eine schlechte blöde Magd / Kam aus dem Tor des Todes so zurück / Wie ihr erschauernd eine Göttin träumt." Der Euripideische Herakles ist demgegenüber von solchen feierlich-romantischen Vorstellungen von Tod und Trunkenheit so weit wie nur irgend möglich entfernt und hat für Feierlichkeit und Romantik überhaupt wenig Sinn18. Hofmannsthal aber bleibt seinem Streben, sich, soweit es mit seiner Auffassung irgend vereinbar ist, aufs engste an Euripides anzuschließen, aber zugleich doch nach Möglichkeit alle Gefühle zu , veredeln' und dem Ganzen eine mystisch-symbolische Bedeutung zu verleihen, auch in der Schlußszene treu. Bei Euripides gibt Herakles Admet die nüchterne Ermahnung: „Verhalte dich in Zukunft fromm und richtig Fremden gegenüber", eine Ermahnung, die neben der Anerkennung der Gastfreundschaft Admets doch auch den leisen Tadel mitschwingen läßt, daß Admet sich mit seiner Verheimlichung des Todes der Alkestis Herakles gegenüber nicht ganz richtig verhalten hat17. Bei Hofmannsthal werden daraus die Verse: „Sei stets dem Fremden hold / Du weißt doch nie, / Wer dir ein Heiland wandeln übern Weg / Und aus dem Herzen aller Dinge kommen / Und wiederbringen kann, was sich verlor." Es ist nun sehr interessant, zu sehen, wie in dieser Alkestistragöd'ie Hugo von Hofmannsthals fast alle Mittel, welche von irgendeinem Dichter des 18. und 19. Jahrhunderts gebraucht worden sind, um die Anstöße, welche das Drama des Euripides den Modernen bot, zu beseitigen, in irgendeiner Weise auch angewendet werden, aber alle nur bis zu einem gewissen Grad. Hofmannsthals Admet ist nicht eine fleckenlose Idealgestalt wie der Admet Wielands, Alfieris oder der meisten ändern Verfasser von Alkestisdramen im 18. und in den früheren Jahrhunderten der Neuzeit, ein Admet, der niemals auch nur für eine Sekunde daran denken würde, einen ändern für sich sterben zu lassen, wenn er es verhindern könnte. Er ist nicht frei von der Schwäche, in einem Augenblick unmittelbarer Todesangst sich um einen Stellvertreter umzusehen. Aber er willigt doch keinen Augenblick bewußt in das Opfer seiner Gattin ein. Er ist zutiefst erschrocken über ihr Gelübde und nimmt es erst an, als er es nicht mehr ändern kann. Auf der ändern Seite ist er auch nicht wie der Admet des von Brownings Balaustion erdachten zwei284

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ten Stückes oder einiger späterer moderner Dramen ein Mann, der sich der Bedeutung seiner Aufgabe als König so bewußt ist, daß er sich überzeugen läßt, er dürfe oder müsse sogar um dieser Aufgabe willen das Opfer des Lebens seiner Gattin annehmen. Aber obwohl er dies Opfer nicht eigentlich oder jedenfalls nicht freiwillig angenommen hat, so überzeugt er sich doch später („Um einen König, / Um einen milden König über Männer / Und Land und Flüsse, einen reichen / König hat diese sterben dürfen"), daß er dieses Opfers nicht ganz unwürdig gewesen ist oder sich seiner doch würdig machen kann. Er ist nicht ein / kindlicher und unreifer Selbstsüchtling, der aber dann eine volle innere Umkehr erfährt, wie in Browning-Balaustions Auslegung der Euripideischen Tragödie. Aber obwohl er von Anfang an sich als edler Mann gezeigt hat, erfährt er doch im Verlaufe des Stückes noch eine gewisse innere Läuterung. Endlich zieht Hofmannsthal auch Admets Gastfreundschaft heran, um die ganz ungewöhnliche Huld der Götter, die ihm am Ende widerfährt, zu erklären, und schließt sich damit bis zu einem gewissen Grade an Wielands Erklärung des Euripideischen Stückes an, nach der es die Absicht des Euripides gewesen sein soll, diese Tugend seines Admet alle seine übrigen Fehler und Schwächen überstrahlen zu lassen. Es ist, als ob sich Hofmannsthal heimlich bewußt gewesen wäre, daß keines dieser Motive, die von den verschiedensten modernen Dichtern in den Stoff hineingetragen worden sind, ausreichend sei, die Schwierigkeiten zu beseitigen, welche die Modernen in dem Stück des Euripides gefunden hatten, und dennoch der Tragödie einen vollen Gehalt zu geben. Aber reichen sie alle drei vereint dazu besser aus? Sosehr man die schöne Sprache, die Musik der Verse, den samtenen sanften Glanz, der wie so oft bei Hofmannsthal über allem liegt, die ,tiefenc poetischen Gedanken, die darum nicht wahr zu sein brauchen18 bewundern mag, so kann dies alles doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Schwierigkeit, die in dem Gegenstande liegt, nicht behoben, sondern nur verschleiert worden ist. Nicht nur der Admet Hofmannsthals, sondern das ganze Stück in der Form, die ihm Hofmannsthal gegeben hat, hat etwas von jenem Claudio, der im Zentrum von Hofmannsthals Jugenddrama „Der Tor und der Tod" steht. Was bei der Umarbeitung der Euripideischen Tragödie herausgekommen ist, ist ein traumhaftes Spiel, bei dem man nicht allzugenau nachprüfen darf, wie die einzelnen [45146]

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Teile menschlich und moralisch zusammenpassen. Mit der harten Tragik der Tragödien nicht nur des Euripides, sondern auch seiner großen attischen Vorgänger hat all das nicht das geringste zu tun.

4. Hofmannsthals Alkestis ist gewissermaßen eine Kombination aller bis dahin unternommenen Versuche, die Tragödie des Euripides zu ^verbessern', d. h. dem Geschmacke der Modernen anzupassen und, da der Autor ein Dichter von einigem Range ist, besonders geeignet, zu zeigen, daß diese Versuche nicht zum Ziele führen konnten und warum. Es gibt nun aber noch eine andere neuere Dichtung, die den Versuch macht, das Problem zu lösen, eine Dichtung, die als dichterischer Lösungsversuch ganz allein steht und sich von allen früheren unterscheidet, zugleich aber auch deshalb ein besonderes Interesse für sich in Anspruch nehmen darf, weil sie offensichtlich auf eine philologische Interpretation der Euripideischen Tragödie zurückgeht. Es ist dies die Interpretation der Alkestis, welche der englische Philologe A. W. Verrall gegen Ende des vorigen Jahrhunderts im ersten Abschnitt seines Buches Euripides the Rationalist gegeben hat19. / Dies Buch ist auch sonst durchaus der Beachtung wert. Zwar läßt sich auch Verralls Erklärung des Sinnes der Euripideischen Alkestis, wie sich zeigen wird, in ihrem wesentlichsten Stück durchaus nicht aufrechterhalten. Auch wird die Unhaltbarkeit seiner Erklärung wieder dadurch bestätigt, daß die moderne Alkestisdichtung, die diese Erklärung wirklich anzuwenden versucht, obwohl als Dichtung gar nicht schlecht, ganz anders ausgefallen ist als das Drama des Euripides. Aber der weitaus größte Teil der Abhandlung Verralls besteht in einer eingehenden Kritik seiner Vorgänger; und hier, im Negativen, trifft er vielfach den Nagel auf den Kopf. Verrall führt von Anfang an seinen Kampf gegen zwei Fronten. Die eine Front wird für ihn repräsentiert durch den englischen Dichter Swinburne, der Euripides einen 'botcher* genannt hatte, d. h. einen Mann, der eine Sache gut anfängt, aber sie dann durch irgendeinen Mißgriff vollständig verdirbt. Auf Euripides angewendet soll dieser Vorwurf bedeuten, daß es Euripides zwar vortrefflich verstanden habe, ein Stück an286

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zulegen, und daß er auch einzelne Szenen von großer Durchschlagskraft auf die Bühne gestellt habe, daß er aber in der weiteren Durchführung sich alles wieder verdorben habe, indem er in demselben Stück Szenen nebeneinanderstellte, die nicht nur nicht gut zusammenpassen, sondern geradezu miteinander im Widerspruch stehen. Mit ändern Worten: es sei die Gewohnheit des Euripides gewesen, der Wirksamkeit der Einzelszenen die Einheit des Ganzen zum Opfer zu bringen; und zwar so, daß der Zuschauer oder Leser zwar nicht umhin kann, von den Einzelszenen mitgerissen zu werden, daß er von dem Ganzen aber doch einen unbefriedigenden und unangenehmen Eindruck erhält. Es ist kaum nötig, noch einmal darauf hinzuweisen, daß schon Wieland ähnliche Vorwürfe gegen Euripides erhoben hatte, wenn auch in weit geringerem Ausmaß. Vor allem aber hat dieses Erklärungsprinzip in der Interpretation des Euripides und der griechischen Tragödie überhaupt durch Philologen des 20. Jahrhunderts eine sehr große Rolle gespielt. Ja, hier ist sogar die Lehre aufgestellt worden, die antiken Dramatiker hätten es überhaupt nur auf die Bühnenwirksamkeit der einzelnen Szenen abgesehen gehabt, obwohl doch, wie schon früher bemerkt, Aristoteles, der seine Kunstregeln schließlich aus der Dramatik des fünften Jahrhunderts abgeleitet hatte, es als die größte Sünde bezeichnet, die ein dramatischer Dichter begehen kann, Stücke zu schaffen, die aus einzelnen nicht völlig innerlich zusammenhängenden Szenen bestehen. Im übrigen hat damit Aristoteles natürlich ein Kunstprinzip aufgestellt, das für alle Zeiten gilt, und es ist jedenfalls vorzuziehen, wenn ein Dichter wie Swinburne den Autor eines Stückes, in dem er solche Fehler zu finden glaubt, als botcher bezeichnet, wenn er sich in dem speziellen Falle auch im Irrtum befindet, als wenn ein Kunstfehler zum Vorzug erhoben wird, weil der Dichter traditionell bewundert werden muß, in dessen Werken man den Fehler findet, weil man sie nicht verstanden hat. Die entgegengesetzte Front, gegen die Verrall zu kämpfen hat, wird für ihn repräsentiert durch den englischen Philologen Way. Nach der Überzeugung dieser Schule sind die Anstöße, welche die Modernen an der Tragödie des Euripides genommen haben, einfach darauf zurückzuführen, daß die Beurteilung gewisser Haltungen und Handlungsweisen sich seit dem fünften Jahrhundert v. Chr. geändert hat. Die zeitgenössische Zuhörerschaft konnte nach dieser Meinung an dem Stück nichts

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Anstößiges finden. Für sie paßten die Szenen trefflich zusammen. Es ist nicht die Schuld des Euripides, wenn wir heute anders empfinden. Die ganze moderne Kritik an ihm beruht nach dieser Auffassung auf einem Mißverständnis. Es ist nicht uninteressant, zu bemerken, daß Wieland auch / dieses Erklärungsprinzip schon gebraucht hatte, aber nur bis zu einem gewissen Grade, wenn er sagte, Euripides würde, wenn er zu seiner (Wielands) Zeit gelebt hätte, gewiß manches anders gemacht haben, dann aber doch auf vermeintliche Fehler des Euripides hinweist, die nach seiner Meinung doch auch im 5. Jahrhundert v. Chr. nicht entschuldbar gewesen seien. Zwischen den beiden Gruppen, die Verrall durch Swinburne und Way repräsentiert sein läßt, bewegt sich die große Masse derer, die auf der einen Seite das Anstößige an der Tragödie des Euripides durch mehr oder minder gewaltsame Erklärungen zu mildern suchen, auf der ändern Seite aber doch zugeben, daß manches Anstößige bleibt, das sich auf diese Weise nicht hinwegerklären läßt. Diese große Gruppe, innerhalb der es naturgemäß die verschiedensten Schattierungen gibt, wird für Verrall vor allem durch Brownings Gedicht Balaustion's Adventure repräsentiert, mit dem er sich ausführlich auseinandersetzt. Mit Recht hebt Verrall gleich zu Anfang seiner Ausführungen hervor, daß der Hauptanstoß, den die Tragödie des Euripides den Modernen gegeben hat, in den Charakteren des Admet und des Herakles liege und daß die meisten Kritiker die Darstellung dieser beiden Gestalten als unerfreuliche oder zum mindesten sehr unvollkommene Charaktere ohne weiteres mit schlechter Charakterzeichnung identifizieren, obwohl es doch sonst ein allgemein zugestandenes Prinzip sei, daß der Dichter gerade auch in der Darstellung unerfreulicher Charaktere brillieren könne. Er findet die Ursache der seltsamen Tatsache, daß die Modernen eine Regel, die sonst allgemein anerkannt wird, auf Euripides' Stück nicht anwenden wollen, darin, daß in diesem speziellen Falle die Unwürdigkeit des Charakters Admets mit der Erhabenheit des Gegenstandes der Tragödie in unauflöslichem Widerspruch zu stehen scheine. Einen weiteren Grund für dieselbe Erscheinung findet Verrall darin, daß den modernen Erklärern und Nachahmern des Euripideischen Stückes die Heraklesszenen und die Pheresszene zur Handlung des Stückes nichts beizutragen schienen. Doch gilt dies letztere faktisch nur 288

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für Swinburne und Wieland sowie ihre allerdings außerordentlich zahlreichen Anhänger und Nachfolger, d. h. für alle diejenigen, welche in dem Tod und der Wiederkunft der Alkestis die einzige wirkliche Handlung des Stückes sehen. Für die am ändern Extrem stehende Gruppe, die durch Way repräsentiert wird, gehören die Heraklesszenen durchaus zur Haupthandlung, da sie dem Zuschauer die Gastlichkeit Admets ad oculos demonstrieren, für die er dann durch die Rückkehr der Alkestis belohnt wird. Die Heraklesszenen sind also nach Auffassung dieser Gruppe zur Motivierung des letzten Teiles der Handlung unentbehrlich. Nur die Pheresszene erscheint im Rahmen dieser Auffassung als nicht unentbehrlich aber doch auch nicht durchaus überflüssig, da sie den Gegensatz zwischen dem nur selbstischen Pheres und dem großmütigen und freigebigen Admet illustrieren soll, eine Auffassung, die übrigens auch der Gestaltung der Pheresszene bei Hofmannsthal zugrunde liegt. Für die mittlere Gruppe der Erklärer gilt die von Verrall erwähnte zweite Ursache des Anstoßes überhaupt nicht. Für Browning z. B. sind sowohl die Pheresszene als auch die Heraklesszenen Etappen in dem Läuterungsprozeß, den Admet durchmacht, und der allein nach dieser Auffassung die Belohnung des Admet durch die Rückkehr seiner Gattin vom Tode verständlich machen kann. Zusammenfassend kann man also wohl sagen, daß bisher sämtliche modernen Erklärer und Nachahmer des Euripides, mit alleiniger Ausnahme Verralls und seiner Anhänger, aber selbst mit Einschluß derjenigen Erklärer, die Euripides durch den Versuch einer „Rettung" des Charakters / Admets zu rechtfertigen versuchen, daran Anstoß genommen haben, daß der Charakter Admets, wie er bei Euripides gezeichnet ist, entweder überhaupt oder in einzelnen Szenen, wenn nicht für das antike Gefühl, wie man es sich zu rekonstruieren sucht, so doch für das moderne, als mit der Erhabenheit des Gegenstandes der Tragödie unvereinbar erschien. Dagegen ist die Auffassung Euripides sei ein 'botcher* gewesen, der zwar sehr eindrucksvolle Einzelszenen zu schaffen verstand, aber nicht die Fähigkeit oder den Willen besaß, sie zu einem einheitlichen Ganzen zusammenzufügen, durchaus nicht allen seinen modernen Erklärern und Kritikern gemeinsam. Vielmehr hängt die Beurteilung der Einheit der Handlung bei den einzelnen Erklärern jeweils davon ab, was von einem jeden als Gegenstand der Haupthandlung betrachtet wird, bzw. ob dem Admet ein [48149]

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wesentlicher Anteil an dieser eingeräumt wird oder nicht. Es ist daher notwendig, Verralls etwas vereinfachende Darstellung in dieser Hinsicht zu emendieren und zu vervollständigen, um den Wert seiner Kritik an den Vorgängern wie auch seines eigenes Lösungsversuches richtig beurteilen zu können. In der Kritik seiner Vorgänger trifft Verrall überall da den Nagel auf den Kopf, wo er sich mit den Versuchen auseinandersetzt, das Stück des Euripides so umzudeuten, daß Admet oder Herakles oder beide , veredelt* werden. Demgegenüber zeigt Verrall in eingehender und eindringlicher Interpretation, daß von den Personen des Stückes selbst die Tugend der Gastfreundschaft keineswegs so hoch eingeschätzt wird, daß sie auch nur Admets Täuschung seines Freundes Herakles, um ihn zur Annahme der Gastfreundschaft zu bewegen, voll entschuldigen könnte, geschweige denn, daß durch diese Tugend alle die Schwächen und Mängel, die Admet in dem Verhalten seinem Vater und seiner Gattin gegenüber zeigt, zugedeckt werden könnten. Mit gleicher Eindringlichkeit zeigt Verrall, daß von einer so tiefen inneren Umwandlung des Admet, daß er sich dadurch die Rückkehr seiner Gattin vom Tode verdient haben könnte, schlechterdings keine Rede sein kann. Nicht minder durchschlagend ist seine Widerlegung der verklärenden Auslegung, die Balaustion dem Verhalten und dem Charakter des Herakles angedeihen läßt. Für die Frage der inneren Einheit des Stückes ist diese Analyse der Charaktere insofern von nicht geringer Bedeutung, als Verrall unwidersprechlich gezeigt hat, daß Euripides jedenfalls nicht durch die Einfügung von Szenen, welche mehr schlecht als recht die Lücke zwischen dem Tode und der Wiederkehr der Alkestis ausfüllen sollten, die Einheit seiner Charaktere gefährdet oder zerstört haben kann. Denn die Schwächen des Admet treten überall in den nach jeder möglichen Auffassung unentbehrlichen Szenen des Anfangs und Endes nicht minder als in den angeblich entbehrlichen Szenen der Mitte hervor. Freilich ist damit die Einheit der Handlung noch nicht erwiesen. Ob jede Szene des Stückes für die Haupthandlung unentbehrlich ist oder nicht, hängt vom Sinn dieser Haupthandlung ab. Hier kann man jedoch Verrall nicht mehr ohne Einschränkung folgen. Browning hatte den Sinn der Mittelszenen des Stückes darin gesehen, 290

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daß sie die innere Umkehr und Sinnesänderung des Admet teils unmittelbar vor Augen führen, teils vorbereiten, und daß diese Umkehr für den Ausgang des Stückes unentbehrlich ist. Wird nun gezeigt, daß eine Sinnesänderung so durchgreifender Art bei Euripides nicht stattfindet und wird zugleich die Erklärung zurückgewiesen, daß Admets Gastfreundschaft allein schon ausreiche, um den märchenhaften Ausgang zu motivieren, muß nicht nur eine neue Erklärung für die Funktion der Mittelszenen gefunden werden, sondern auch die Schlußszene bleibt unmotiviert. Für die Schlußszene hat Verrall / diese Konsequenz gezogen und ausgesprochen, daß die Rückkehr der Alkestis vom Dichter nicht ernsthaft gemeint sein könne. Darüber hinaus sucht er die Unwirklichkeit dessen, was in dieser Szene geschieht, aus einer eingehenden Interpretation der Szene selbst zu erweisen. Wie sich zeigen wird, kommt auch hierin Verrall der Wahrheit sehr viel näher als die meisten anderen Erklärer. Selbst wenn er (S. 78) sagt, es sei die Absicht des Euripides gewesen, die Legende vom Tode der Alkestis als im Grunde unwahr und unmoralisch zu erweisen, so liegt darin ein Körnchen Wahrheit, wenn auch in dieser Formulierung ein Element auf Kosten anderer nicht minder wichtiger Elemente überbetont wird. In der weiteren Interpretation des Stückes geht dann Verrall freilich völlig in die Irre. Nach Verralls Auffassung hat Euripides sein Stück sozusagen auf zwei Ebenen für zwei ganz verschiedene Arten von Zuhörern geschrieben. Die Aufführung griechischer Tragödien, so argumentiert er, war eine religiöse Veranstaltung. Die Alkestislegende war, wie alle frommen Legenden, ein Teil der griechischen Religion. Also konnte diese Legende nicht anders auf die Bühne gebracht werden als so, daß die gläubige Mehrheit der Zuschauer in dem Drama eine ernsthafte Dramatisierung der Legende sah. In Wirklichkeit aber war Euripides ein Rationalist, welcher der traditionellen Religion ablehnend gegenüberstand und sie auch aus moralischen Gründen verwarf. Unter diesen Umständen blieb ihm nichts anderes übrig, als seinen Stücken sozusagen einen doppelten Boden zu geben und sie so abzufassen, daß der naive Zuhörer, wenn auch vielleicht mit gelegentlicher Verwunderung und gelegentlichem Kopfschütteln, alles gläubig hinnehmen konnte, der skeptische und gewitzigte Zuschauer aber erkennen konnte, daß alles gar nicht wirklich so gemeint war. So haben die Zwischenszenen nach Verralls Meinung den Sinn, zu [49150]

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zeigen, daß Alkestis mit übergroßer Eile bestattet wird. Das soll den Zuschauer erraten lassen, daß sie gar nicht wirklich tot ist, sondern scheintot, daß Herakles also gar nicht mit dem Todesdämon kämpft, sondern nur am Grabe nachsieht, ob sie auch wirklich tot ist, und als er seine Vermutung, dies sei gar nicht der Fall, bestätigt findet, sie eben wieder zurückbringt und nun dem Admet, der sich ebenso wie Alkestis durch das Orakel hat täuschen lassen, noch weiter ein kleines Theater * 1 2ft vorspielt . Dies ist nun freilich eine groteske Mißdeutung des Euripideischen Stückes, und es ist kaum zu begreifen, wie ein Autor, der in der Kritik seiner Vorgänger und in der Auslegung einzelner Szenen soviel Verstand zeigt, in dem Versuch, das Problem, welches das Stück als Ganzes bietet, zu lösen, so in die Irre gehen kann. Schon die Voraussetzung, daß eine Legende wie die Alkestislegende ein Teil der griechischen Religion gewesen sei, den man nicht habe kritisieren können, ohne sich der Anklage der Gotteslästerung auszusetzen, trifft nicht zu. Vor allem aber scheint sich Verrall gar nicht darüber klargeworden zu sein, daß er, der Euripides weit über die beiden anderen großen griechischen Tragiker stellt, ihm im Grunde als tragischem Dichter einen noch viel tieferen Rang zuweist als selbst die schärfsten früheren Kritiker seiner Dramen es getan hatten. Denn wenn das Stück eine Tragödie ist, dann muß sein Zentrum im Leiden und Handeln der tragenden Charaktere liegen und in den Verstrickungen, in die sie geraten; und wenn es eine große Dichtung ist, dann muß sie so angelegt sein, daß selbst diejenigen, die sie mißverstehen, die sich gegen sie auflehnen und sie anders haben möchten, noch etwas von der von dem Dichter beabsichtigten Wirkung verspüren. Die richtige Wirkung darf nicht davon abhängig sein, daß der Zuschauer etwas so Äußerliches errät, wie daß Alkestis gar nicht, wie es doch auf / der Bühne dargestellt wird, tot gewesen sein soll. So lange man nicht annehmen will, daß die große Wirkung, die Euripides jahrhundertelang ausgeübt hat, schlechterdings auf einem Mißverständnis beruht, wird man daher nach einer anderen Deutung des Stückes suchen müssen. Aber es ist schade, daß Verrall durch die unglückliche Form, die er seiner Lösung gegeben hat, auch das viele Gute, ja Vortreffliche, das er zur Interpretation des Stückes beigetragen hat, um einen großen Teil seiner Wirkung brachte. 292

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Es ist nun jedoch höchst bemerkenswert und zugleich charakteristisch für die große Mannigfaltigkeit von Möglichkeiten, die in dem überlieferten Stoffe liegen, daß selbst eine so seltsame Deutung der Euripideischen Tragödie wie die von Verrall gegebene einem Dichter den Anstoß gegeben hat, eine Alkestisdichtung zu scharfen, welche dieser Deutung tatsächlich weitgehend entspricht. Freilich sieht diese Dichtung ganz anders aus als die Euripideische Alkestis und erbringt eben damit den Beweis, daß ein Dichter, wenn er auf Grund der von Verrall angenommenen Voraussetzungen eine wirkliche Dichtung schaffen wollte, ganz anders vorgehen mußte als Euripides. Es handelt sich um das Gedicht The Dream of Alcestis des amerikanischen Dichters Theodore Morrison21. In diesem Gedicht ist Admet selbst ein Aufklärer, der als König in dauerndem Kampf liegt mit einer Priesterschaft, die das Volk durch Drohungen mit übernatürlichen Mächten, Orakeln und Vorzeichen, in abergläubischer Furcht zu erhalten und durch entsprechende Sühneriten ihre Macht zu erhöhen weiß. Als er erkrankt, befragen die Priester gegen seinen Willen das Orakel. Er glaubt nicht an die Antwort, daß er sterben müsse, wenn nicht ein anderer freiwillig an seine Stelle trete. Er hält auch dies für eine der Machenschaften der Priester, die durch ein Menschenopfer ihre Macht noch weiter erhöhen und auch ihn von sich abhängig machen wollen. Als dann Alkestis das Gelübde tut, an seiner Stelle sterben zu wollen und nun wirklich erkrankt, während er selbst gesundet, ist er nicht nur besorgt um seine Gattin, sondern auch voll Zorn über diesen Zufall, der den Priestern recht zu geben scheint und ihm den Kampf gegen den Volksbetrug, den sie üben, noch schwerer macht. Auch die Gestalt des Herakles entspricht in dieser Dichtung Verralls Interpretation der Alkestis des Euripides, welche die Schwächen, die der Halbgott bei Euripides hat, noch übertreibt. Er wird geschildert als ein guter Kerl, der einen Überschuß an Leibeskräften hat und trotz seiner Gutmütigkeit immer in Gefahr ist, jemanden umzubringen, weil er nicht weiß, wo er mit seinen Kräften hin soll. Er ist ein wenig dumm und weiß das auch. Immer wieder klagt er darüber, daß ihm das Denken schwerfalle und für ihn eine viel größere Anstrengung bedeute als die größten Heldentaten, die er vollbracht hat. Aber er ist seinen Freunden

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auf das treueste ergeben und bei all seiner Ungeschlachtheit nicht ohne wirkliches Zartgefühl. So betrinkt er sich, schämt sich dann seiner Trunkenheit, möchte gern seinen Freunden helfen und bildet sich ein, auch mit dem Todesdämon kämpfen und ihn besiegen zu können. In diesem Wahn dringt er bis zu dem Sterbebett der Alkestis vor. Inzwischen ist Alkestis immer schwächer geworden und schließlich in eine totenähnliche Erstarrung verfallen. In diesem Zustand hat sie einen Traum. Sie wandert allein in einem öden Gefilde, wo sie den Todesdämon trifft, der sie in die Unterwelt entführen will. In dieser höchsten Not ruft sie nach ihrem Mann. Aber ihr Mann hört sie nicht. Dieser Traum situation entspricht in der / Wirklichkeit, daß Adrnet zwar auf das höchste um seine Frau besorgt, aber doch nicht mit allen seinen Gedanken bei ihr ist, da ihn Regierungssorgen und die Aufgabe des Kampfes für die Aufklärung seines Volkes und seine Befreiung aus dumpfem Aberglauben erfüllen. In diesem Augenblick, in dem Alkestis in der Krisis ihrer Krankheit sich von ihrem Gatten verlassen fühlt, tritt Herakles an ihr Sterbebett und spricht zu ihr. Seine Stimme dringt zu ihr in ihren Traum, und sie spürt seine Lebenskraft. So erscheint er ihr im Traum als der Retter, der den Todesdämon in die Flucht schlägt, und sie überwindet die Krisis ihrer Krankheit. Als Alkestis aus ihrer Erstarrung erwacht, fühlt sie sich naturgemäß hingezogen zu dem Mann, der im Augenblick der Krise bei ihr gewesen und dessen Lebenskraft auf sie übergeströmt ist und sie so vom Tode zurückgebracht hat. Zugleich fühlt sie eine gewisse Entfremdung von ihrem Manne, der ihr nicht hat helfen können und der selbst in der Stunde ihrer Agonie sich nicht ganz und ausschließlich ihr gewidmet hat, sondern mit einem Teil seiner Gedanken noch immer bei seinen Regierungssorgen und seinen Aufgaben als König gewesen ist. Aber am Ende findet sie in einem Gespräch mit Admet doch zu ihrem Gatten zurück, indem sie zu der Einsicht kommt, daß sie an der Seite eines solchen Mannes, auch wenn sie sein Leben nicht ganz ausfüllt, doch ein volleres und sinnerfüllteres Leben führen kann als an der Seite eines noch so lebensvollen Schlagetots. Alles dieses ist in der Dichtung Morrisons mit sehr viel mehr Subtilität und Anmut dargestellt als in einem kurzen Resümee ihres Inhalts 294

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angedeutet werden kann. Vor allem aber ist es dem Dichter gelungen, trotz der seltsamen Voraussetzungen, die er ja offenbar von Verrall übernommen hat, wirkliche lebendige Menschen hinzustellen mit ihren individuellen Tugenden und Schwächen und den echten Konflikten und Nöten, die sich aus diesen Tugenden und Schwächen unter gegebenen Umständen ergeben , wenn diese Konflikte und Nöte auch weit entfernt sind von der Unerbittlichkeit und Härte wirklich tragischer Konflikte, wie sie im Zentrum aller Tragödien der großen griechischen Tragiker stehen. Um so lehrreicher ist es jedoch, daß all dies nur dadurch erreicht ist, daß der Dichter in zwei ganz wesentlichen Dingen von Verrall bzw. von dem Verrauschen Euripides abgewichen ist: Er hat die Aufklärungstendenz in seine Dichtung selbst aufgenommen und ebenso den Scheintod der Alkestis. Mit ändern Worten, er hat das Rätselraten, das nach Veralls Auslegung zum Verständnis des Euripideischen Stückes notwendig ist, überflüssig gemacht. So kann seine Dichtung unmittelbar wirken, wie es eine Dichtung soll, während das Stück des Euripides, wenn Verralls Erklärung richtig wäre, sich seiner eigentlich künstlerischen Wirkung selbst berauben würde. Damit kann der Überblick über die modernen Nachahmer und Kritiker des Euripideischen Dramas vorläufig abgeschlossen werden. Denn das Alkestisgedicht Rilkes, das etwa noch in diesem Zusammenhang erwähnt werden könnte, schließt sich nicht an die Euripideische Tragödie an, sondern an einen von Wilamowitz unternommenen Versuch, eine voreuripideische Form der Alkestislegende zu rekonstruieren. Auch ist dies Gedicht und sein Verhältnis zu Wilamowitz' Rekonstruktionsversuch im III. Band von „Antike und Abendland" von Ernst Zinn ausführlich behandelt worden32, so daß auf diesen Aufsatz verwiesen werden kann. Dagegen ist es notwendig, noch auf ein kleines Werk des größten der modernen Dichter einzugehen, die sich mit Euripides' Aikestis auseinandergesetzt haben, auf ein Werk, das bisher nur im Vorbeigehen erwähnt worden ist, das / aber freilich auch weder eine Nachahmung des Dramas des Euripides darstellt noch eine Kritik an der antiken Alkestis, sondern eine Kritik ihrer modernen Nachahmer und Kritiker: Goethes Farce Götter, Helden und Wieland.

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Goethes kleine dramatische Satire ist unmittelbar nach dem Erscheinen von Wielands Singspiel Alkestis und der erklärenden Briefe Wielands an Jacobi im Teutschen Merkur von Goethe bei einer Flasche Burgunder in einem Zuge niedergeschrieben worden und gibt den Eindrücken und Empfindungen, die Goethe bei der Lektüre hatte, den unmittelbarsten Ausdruck. Es ist für den gegenwärtigen Zweck nicht notwendig, die sehr lustige Eingangsszene zu rekapitulieren, in der sich der Gott Hermes-Mercurius dagegen verteidigen muß, für die Dinge verantwortlich gemacht zu werden, die in seinem Namensvetter, dem Teutschen Mercur, gedruckt worden sind. Es genügt, mit der Szene zu beginnen, in welcher Wieland, von Hermes zitiert, selbst in der Unterwelt erscheint und nun wegen seines Stückes und seiner Briefe an Jacobi von Admet, Alkestis, Herakles und Euripides zugleich angegriffen wird. Schon hiermit ist ein Faktor gegeben, der von den Kommentatoren und Kritikern der Goethischen Farce allgemein, ja selbst von Lessing, sehr zu Unrecht außer acht gelassen worden ist. Der Admet und die Alkestis, mit denen sich Wieland bei Goethe in der Unterwelt auseinanderzusetzen hat, sind keineswegs der Admet und die Alkestis des Euripideischen Dramas, sondern der , wirkliche* Admet und die , wirkliche' Alkestis, also vielmehr der Admet und die Alkestis der Legende, aus der Euripides den Stoff zu seiner Tragödie genommen hat. Dadurch bekommt Goethes Kritik eine eigentümliche dreidimensionale Tiefe. Der Euripides der Goethischen Satire übt an Wielands Singspiel ästhetische Kritik vom Standpunkt der dramatischen Technik aus und erweist damit die Überlegenheit seiner Alkestis als dramatisches Kunstwerk über Wielands Stück. Dagegen kritisieren Admet, Alkestis und Herakles die Auffassung des Sinnes des Opfers der Alkestis bei Wieland und seine Darstellung der Charaktere, wobei sie deutlich zum Ausdruck bringen, daß auch Euripides durchaus nicht alles so dargestellt hat, wie ,es wirklich war', nur daß er sich freilich ihrer Meinung nach nicht so völlig von der ,Wirklichkeit' entfernt hat wie Wieland. Goethes Admet, Alkestis und Herakles sind also mit der Tragödie des Euripides keineswegs ganz zufrieden. Sie sagen nur, daß sie ihnen wesentlich besser ge296

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falle als Wielands Singspiel. Wenn daher die Kommentatoren und Kritiker Goethes, von Lessing angefangen, immer wieder von der stillschweigenden Voraussetzung ausgegangen sind, Goethe habe in seiner Satire die Euripideisdien Gestalten sprechen lassen, und dann es Goethe zum Vorwurf machen, daß sein Admet, seine Alkestis und sein Herakles denen des Euripides nicht in jeder Hinsicht gleichen, so tun sie Goethe Unrecht, da dieser keinen Zweifel darüber gelassen hat, daß er nicht den Admet des Euripides sprechen lassen wollte, sondern den , wirklichen' Admet. Goethes Kritik an Wieland bedeutet also nur sehr indirekt eine Interpretation des Euripideischen Stücks, was jedoch keineswegs besagt, daß sie nicht — richtig verstanden — zu einem besseren Verständnis der Tragödie des Euripides ein gut Teil beitragen könnte. Was nun zunächst die ästhetische Kritik angeht, die Goethe durch seinen Euripides an Wieland übt, so wirft er ihm vor allem die Einförmigkeit und das Nichtssagende seiner Charaktere vor: / „Eure Leute sehen einander ähnlich wie die Eier, und Ihr habt sie zu einem unbedeutenden Breie zusammengerührt. Da ist eine Frau, die für ihren Mann sterben will, ein Mann, der für seine Frau sterben will, ein Held, der für sie beide sterben will, so daß nichts übrigbleibt als das langweilige Stück Parthenia, die man gerne wie den Widder aus'm Busch bei den Hörnern kriegte, um dem Elend ein Ende zu machen." Das Schicksal und die Wirkung der Alkestisdramen Wielands und Alfieris trotz des hohen Ranges ihrer Urheber zeigen, daß Goethe hiermit einfach recht hat. Viel interessanter noch ist jedoch, was Goethes Alkestis, Admet und Herakles über sich selbst und ihre Motive zu sagen haben. Zunächst Alkestis: „Sagt mir: Was war Alcestens Tat, wenn ihr Mann sie mehr liebte als sein Leben? Der Mensch, der sein ganzes Glück in seiner Gattin genösse, wie euer Admet, würde durch ihre Tat in den doppelt bittern Tod gestürzt werden, Philemon und Baucis erbaten sich zusammen den Tod, und euer Klopstock, der doch immer unter euch ein Mensch ist, läßt seine Liebenden wetteifern — Daphnis, ich sterbe zuletzt. Also mußte Admet gerne leben, sehr gerne leben, oder ich war — was? — eine Komödiantin, — ein Kind — genug, macht aus mir, was ihr wollt." Dann Admet: „Und den Admet, der euch so ekelhaft ist, weil er nicht sterben mag. Seid ihr jemals gestorben? Oder seid ihr jemals ganz glücklich gewesen? Ihr redet wie großmäulige Hungerleider." Und als ihm [53/54]

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Wieland in der Satire vorhält, nur Feiglinge fürchteten den Tod: „Den Heldentod, ja. Aber den Hausvatertod fürchtet jeder, selbst der Held. So ist's in der Natur. Glaubt ihr denn, ich würde mein Leben geschont haben, meine Frau dem Feinde zu entreißen, meine Besitztümer zu verteidigen? Und doch ..." Und weiter: „Ein jüngerer, ganz glücklicher, wohlbehaglicher Fürst, der von seinem Vater Reich und Erbe und Güter empfangen hatte und drinne saß mit Genüglichkeit und genoß und ganz war und nichts bedurfte als Leute, die mit ihm genossen, und sie, wie natürlich, auch fand und des Hergebens nicht satt wurde und alle liebte, daß sie ihn liebten, und sich Götter und Menschen so zu Freunden gemacht hatte, daß Apoll den Himmel an seinem Tische vergaß — der sollte nicht ewig zu leben wünschen!" und so fort. Endlich Herakles: „Meinst du, wir lebten wie das Vieh, weil eure Bürger sich vor den Faustrechtszeiten kreuzigen? Wir hatten die bravsten Kerle unter uns." Und auf Wielands Frage, was er denn brave Kerle nenne: „Einen, der mitteilt, was er hat. Hatte er einen Überfluß an Kräften, so prügelte er die ändern aus. Und versteht sich, ein rechter Mann gibt sich nie mit Geringem ab, nur mit Seinesgleichen, auch Größern wohl. Hatte er denn Überfluß an Säften, machte er den Weibern so viel Kinder als sie begehrten, auch wohl ungebeten. Wie ich denn selbst in einer Nacht fünfzig Buben ausgearbeitet habe. Fehlte es einem an beiden, und der Himmel hatte ihm — auch wohl dazu — Erb und Hab vor Tausenden gegeben, eröffnete er seine Türen und hieß Tausende willkommen, mit ihm zu genießen — und so fort." Die Stelle zeigt auch, daß Goethes Kritik nicht nur auf Wieland und die Idealisten des 18. Jahrhunderts anwendbar ist, daß vielmehr der sanft und tiefsinnig über Tod und Trunkenheit philosophierende Herakles Hofmannsthals Goethes Spott mindestens ebensosehr herausgefordert haben würde wie Wielands Tugendheld, der im Vergleich mit Hofmannsthals Herakles noch geradezu als die Frische und Lebensfülle selbst erscheint. Freilich ist das alles keine adäquate Interpretation der Tragödie des Euripides. Darin hatte Lessing durchaus recht. Aber es ist schon darauf hingewiesen worden, daß es ein Irrtum ist, anzunehmen, Goethe habe eine solche geben wollen. Dagegen trifft in bezug auf die Legende, von der das Drama des Euripides seinen Ausgang nahm, wenn man nur von den etwas allzu kraftmeierischen / Allüren des jungen Goethe absieht, 298

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das, was die Figuren seiner Satire sagen, den Nagel auf den Kopf. Da nun die Tragödie des Euripides zu der Legende, aus der sie hervorgegangen ist, in einer ihrem Autor sehr bewußten Beziehung steht, ist es nötig, zunächst die Legende richtig zu verstehen, wenn man die Alkestis des Euripides richtig verstehen will. Die Frage nach der ursprünglichen Form der Legende, die der Tragödie des Euripides zugrunde liegt, ist in ausgezeichneter Weise von Albin Lesky behandelt worden23. Er hat gezeigt, daß den Kern der Alkestissage eine Erzählung bildet, die in vielen Variationen bei den verschiedensten Völkern wiederkehrt. Überall handelt es sich darum, daß ein junger Mann oder ein junges Mädchen in der Blüte seiner Jahre oder der Fülle seines Glückes sterben soll, daß dieser junge Mensch den Tod bittet, ihn zu verschonen, und daß ihm diese Bitte gewährt wird unter der Bedingung, daß er jemand findet, der freiwillig an seiner Stelle zu sterben bereit ist. Dann fragt er verzweifelt seine Freunde und Verwandten, von denen keiner für ihn sterben will, bis endlich die Mutter oder Schwester oder der Geliebte oder die Geliebte zu dem Opfer bereit ist und sich au seiner Stelle dem Todesdämon überliefert. In einigen lyrischen, balladenhaften Versionen ist die Geschichte damit zu Ende. Es ist im gegenwärtigen Zusammenhang nicht notwendig, auf die von Lesky behandelte Frage einzugehen, ob diese Kurzform der Erzählung die ursprüngliche oder von einer ausführlicheren abgeleitet ist. Wo die Kurzform auftritt, dient sie überall der Verherrlichung des Opfermuts der Liebe, kann aber, wie so viele dieser alten weitverbreiteten Geschichten, auch als Problemlegende aufgefaßt werden; hier also so, daß die Frage beantwortet werden soll, wer am stärksten und reinsten liebt, die Mutter, die Schwester oder die Frau und Geliebte, bzw. wo es ein Mädchen ist, das sterben soll, der Vater, die Mutter oder der Geliebte; oder auch wiederum so, daß die verschiedenen Bewerber auf die Probe gestellt werden, wer sie wahrhaft liebt. Dem Märchen im engeren Sinne aber, ob dieses nun als die älteste oder als eine abgeleitete Form der Erzählung betrachtet wird, ist es eigentümlich, daß es nach einem glücklichen Ausgang strebt, d. h. also nach einem Ausgang, in dem die Selbstentäußerung ihren Lohn findet. Daher ist es sehr natürlich, daß die Erzählung oft eine Fortsetzung erhält, in welcher der Tod seine Beute entweder freiwillig wieder herausgibt oder sich wieder entreißen lassen

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muß, Daß dies dann wiederum zu mannigfachen Kombinationen mit ursprünglich selbständigen Legenden führen kann, in denen von Anfang an anstatt des Opfertodes ein Kampf mit dem Todesdämon im Mittelpunkt gestanden hatte, ist ebenfalls nicht verwunderlich. Für den Wesenskern der Legende macht das alles nicht viel aus. Es ist nun für das griechische Märchen und die griechische Legende der alten Zeit durchweg charakteristisch, daß sie niemals, wie so oft bei ändern Völkern, einfach von einem jungen Mann oder einem jungen Mädchen oder auch von einem nicht weiter bestimmten König handeln, sondern daß die darin auftretenden Personen immer einen Namen erhalten und in Raum und Zeit fixiert werden, und zwar auch da, wo das vorgriechische Original nachweislich eine solche Fixierung und Konkretisierung nicht erfahren hatte. So treten an Stelle des jungen Mannes und seiner Geliebten der König Admet und seine Frau oder Braut Alkestis. Der Held, der den Tod besiegte, wird konkretisiert in der bekannten Sagengestalt des Herakles. Der König Admet war schon früher in der Sage mit Apoll verknüpft gewesen. So lag es nahe, daß Apollon, der Admet liebt, weil er in / ihm, als er zur Sühne bei einem Sterblichen dienen mußte, einen frommen Herrn gefunden hatte, zu dem Vermittler wird, der die Schicksalsmächte überredet, das stellvertretende Opfer zu gestatten. Damit kommen weitere Elemente der Apollonlegende hinein. Alles das ist von Euripides in seiner Tragödie verwendet worden. Trotz alledem bleibt das Kernstück auch für Euripides das Märchen in seiner ursprünglichen Form. Das Märchen aber — und dies ist von fundamentaler Wichtigkeit — sieht in allen den vielen Variationen, die sich erhalten haben, nur auf die Schönheit des Opfertodes und allenfalls noch darauf, daß der, für den sich ein freiwilliger Stellvertreter gefunden hat, ja nun gerettet ist und weiterleben kann, ja vielleicht auch die Braut oder Geliebte, die sich für ihn geopfert hat, durch Oberwindung des Todes wiederbekommt. Es fragt nicht, was es für den Geretteten bedeutet, daß er sie nun nicht mehr hat, und daß er es über sich gebracht hat, sie für sich sterben zu lassen. Eben dies ist nun aber durchweg charakteristisch für Euripides in seinem Verhältnis zu dem überlieferten Mythos, daß er überall darauf besteht, auch die andere Seite zur Anschauung zu bringen: l'envers du 300

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decor. Dazu ist es unumgänglich notwendig, daß im übrigen die Grundvoraussetzungen der Legende strikte beibehalten werden. Schon daraus ist leicht zu sehen, warum Euripides nicht auf den Ausweg verfallen konnte, den Browning erwähnt und skeptisch ablehnt, den so viele moderne Nachahmer, darunter bis zu einem gewissen Grade Hofmannsthal, aber eingeschlagen haben: Admet dadurch zu rechtfertigen, daß er das Opfer seiner Gattin wegen der großen Aufgabe, die er zu erfüllen hat, annehmen darf. Das spielt im Märchen ja keine Rolle, in dessen meisten Variationen gar nicht einmal von einem König die Rede ist. Der springende Punkt im Märchen ist, daß der junge Mann aus dem vollsten Glück in den Tod soll. Um ihm das Weiterleben in diesem Glück zu ermöglichen — damit er nicht hinweg muß, wenn es am schönsten ist — geht die Geliebte für ihn m den Tod. Das hat auch Goethe mit vollster Klarheit gesehen. Wenn Euripides daran geändert hätte, dann hätte er die Grundvoraussetzung der Legende geändert und sich, wie noch zu zeigen sein wird, gleichzeitig des eigentlich tragischen Elementes seiner Tragödie beraubt. Daraus ergibt sich auch, wie völlig falsch es ist, zu behaupten, was seit Wieland immer wieder und leider auch von einem so ausgezeichneten Philologen wie A. Lesky24, wiederholt worden ist: daß Euripides an Admet im Grunde kein besonderes Interesse gehabt habe und die Pheresszene ebenso wie die Heraklesszene nur Füllsel seien. Freilich wäre es unrichtig, Euripides' Alkestis zu einer / reinen Admettragödie zu machen. Wenn in dem Drama des Euripides schonungslos gezeigt wird, was aus dem Glück wird, das mit dem Opfertod eines geliebten Menschen erkauft worden ist, so wirkt dies ja notwendigerweise auch auf den Opfertod der Alkestis selbst zurück. Überhaupt wäre dieser Opfertod zwar zweifellos erhebend und erbaulich, aber nicht tragisch — wie sollte er Furcht und Mitleid oder Jammer im Zuschauer erregen? —, wenn sonst zwischen den Ehegatten alles in Ordnung wäre. Das wird auch dadurch erwiesen, daß bei den modernen Nachahmungen, die in diesem Punkt von Euripides abgewichen sind, um sein Stück zu verbessern, durchweg die tragische Wirkung ausbleibt, bzw. nur soweit und bis zu eben demjenigen Grad eintritt, als die Nachahmungen sich dem Original wieder nähern, indem sie auf irgendeine Weise über den bloßen Opfertod hinaus einen tragischen Konflikt neu einführen, z. B. zwischen den königlichen Pflichf56/57J

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ten des Admet — von denen bei Euripides schlechterdings nicht die Rede ist — und seiner Liebe zu seiner Gattin. Es ist seltsam, daß von den vielen Kritikern des Euripides dies niemand gesehen zu haben scheint. Aber es ist nun an der Zeit, die Tragödie des Euripides selbst etwas genauer anzusehen. In der Vorgeschichte des Opfertodes der Alkestis hat Euripides gegenüber dem Märchen eine Änderung vorgenommen, die von den Kommentatoren viel erörtert worden ist, ohne daß doch ihr Grund voll eingesehen wurde. In den meisten Variationen des Märchen, soweit es von einem Mann und seiner Frau oder Geliebten handelt, findet das Gelübde des Opfertodes vor der Hochzeit oder bei der Hochzeit statt, und folgt der Tod unmittelbar auf das Gelübde. Bei Euripides liegt zwischen Gelübde und Tod ein Zeitraum von unbestimmter, aber beträchtlicher Länge. Zweifellos war auch für diese Änderung der Wunsch des Euripides maßgebend, allem, was geschieht, die größtmögliche Realität zu geben. Wenn Alkestis für Admet in einem Augenblick enthusiastischer Aufwallung stirbt, wie sie bei der Hochzeit natürlich ist, und wenn Admet bei ihrem Tode noch unter dem unmittelbaren Eindruck der Ankündigung steht, daß er mitten aus seinem Glück heraus sterben soll, dann wissen beide nicht ganz genau, was sie tun. Nur wenn Alkestis, wie bei Euripides, viele Jahre nach ihrem Gelübde stirbt, und zu einer Zeit, zu der Admet sich lange von seinem unmittelbaren Schrecken hat erholen können, gewinnt ihr Opfertod und seine Bereitschaft, ihn anzunehmen, volle Wirklichkeit. So sind denn auch die drei Szenen, die bei Euripides dem Tode der Alkestis vorausgehen, sehr weit entfernt von jenem falschen Idealismus, der die meisten modernen Nachahmungen und Verbesserungen der Euripideischen Tragödie kennzeichnet, in welchen Alkestis völlig frei ist von allen Schwächen des menschlichen Fleisches, und häufig auch noch alle anderen Gestalten des Stückes sich darin in keiner Weise von ihr unterscheiden. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern, bei denen der Nachdruck auf dem objektiven Geschehen liegt, hat Euripides die Folge von Szenen, die dem Tode der Alkestis unmittelbar vorausgeht, psychologisch bis ins letzte folgerichtig aufgebaut. Es beginnt mit dem Bericht der Dienerin, die dem wartenden Chor beschreibt, wie Alkestis die Vorbereitungen zu 302

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ihrem Tod getroffen hat. Als der ihr zum Sterben bestimmte Tag gekommen war, hat sie bei lebendem Leibe an sich die Waschungen vorgenommen, die sonst für die Leiche vorgeschrieben sind, und hat dann die Totenkleidung angelegt. Dann hat sie die Göttin Hekate gebeten, sich ihrer verwaisten Kinder schützend anzunehmen und ihnen zu gewähren, daß sie gute Gatten finden. Darauf hat sie die Runde bei den Altären des Hauses gemacht und den Göttern zum letzten Male ihre Verehrung erwiesen, indem / sie ihre Altäre schmückte. Während aller dieser Verrichtungen — solange es etwas zu tun gab — ist sie ganz ruhig und gefaßt geblieben und hat weder eine Träne geweint noch einen Laut der Klage hören lassen. Erst nachdem sie alle Pflichten erfüllt hatte, hat sie Abschied genommen von dem ehelichen Gemach; und nun sind ihre Tränen reichlich geflossen. Sie hat sich nicht losreißen können. Immer wieder ist sie in das Schlafgemach zurückgekehrt und hat sich auf das Bett geworfen. Das ist die Szene, von der Wieland befürchtete, daß er sie dem Zartgefühl seiner Zuhörer nicht zumuten könne, weil in diesem Sichnichtlosreißenkönnen von dem ehelichen Gemach und Bett etwas Egoistisches liege, das der idealen Vorstellung, die man nun einmal von einer Alkestis habe, widerspreche. Doch war sich Wieland immerhin bewußt, daß seine Verbesserung des Euripides auf Kosten „der Natur und der Wahrheit" gehe. Bei Euripides dagegen ist dies alles voller Lebenswahrheit. Was aber Admet angeht, so ist es kaum ohne Absicht des Dichters, daß in der ganzen Beschreibung der Vorbereitungen der Alkestis zum Tode von Admet nicht mit einem Worte die Rede ist. Erst zum Abschluß sagt die Dienerin — damit nun freilich sozusagen das Stichwort für das Folgende gebend— : „Solch Unglück ist nun in dem Haus Admets. Und wäre er gestorben, wäre dies das Ende. Da er jedoch dem Tode entgangen ist, hat er solchen Schmerz zu tragen, daß er ihn niemals vergessen wird." Dann fügt sie auf die Frage des Chores, ob Admet den Tod seiner Gattin beklage, hinzu: „Er hält sie weinend in den Armen und beschwört sie, ihn nicht zu verlassen." Hier liegt schon in den ersten Worten einer indirekten Schilderung des Verhaltens Admets seine gänzliche Hilflosigkeit und das Paradoxe seiner Situation, daß er zwar alle die Gefühle hat, die ein Gatte hat, wenn er seine geliebte Gattin sterben sieht, diese Gefühle aber doch eine eigentümliche Unwirklichkeit dadurch erhalten, daß er nicht [57/58]

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nur ungewollt, sondern gewollt der Anlaß und die Ursache des Todes seiner Gattin ist. Dies ist es, was von Euripides im weiteren Verlauf des Stückes immer deutlicher und krasser herausgestellt wird. Nach einem Chorlied treten endlich Alkestis und Admet, von denen der Zuschauer bisher nur durch den Bericht der Dienerin gehört hat, selbst auf; und nun, da alles erledigt ist, was die Aufmerksamkeit ablenken konnte, sowohl die von der Sitte und Religion geforderten Vorbereitungen als auch der Abschied von geliebten Menschen und Dingen, wird Alkestis von ganz elementarer Todesangst erfaßt. Nun, da gar nichts mehr zwischen ihr und dem Tode steht, sieht alles ganz anders aus als in dem Augenblick, als sie ihr Gelübde getan hatte; und sie verfällt in einen Paroxysmus der Todesfurcht, in dem sie schon die Gestalten der Unterwelt vor sich zu sehen glaubt, die sie wegzuschleppen versuchen25. Und wieder zeigt die Begleitmusik der aufrichtig betrübten, aber ganz nichtssagenden Äußerungen, mit denen Admet ihren Aufschrei in der höchsten Not begleitet, seine ganze Hilflosigkeit und Verlegenheit. So ist es denn auch zweifellos die bewußte Absicht des Dichters, daß Alkestis, als der Paroxysmus endlich sich löst und sie sich wieder ihrer Umgebung zuwendet, ihre Kinder anruft, ihren Gatten aber nicht mehr erwähnt26. In der folgenden Szene spricht dann freilich Alkestis wieder zu Admet. Aber durch die Art, wie sie es tut, wird nur um so deutlicher, wie sie nun zueinander stehen. Alkestis' ganze Sorge gilt nun der Zukunft ihrer Kinder. In der Szene, in der sie von dem ehelichen Gemach und Bett Abschied nahm, war es ihr noch als selbstverständlich erschienen, daß ihr Gatte, um dessen Weiterleben / im Glücke willen sie ja in den Tod geht, sich wieder eine Frau nehmen wird27. Nun denkt sie daran, was eine Stiefmuter für ihre Kinder bedeuten würde und nimmt ihrem Gemahl das Versprechen ab, nicht wieder zu heiraten1*. In der Beflissenheit seiner Beteuerungen, diesen Wunsch gewiß erfüllen zu wollen, versteigt sich Admet zu den geschmacklosen und grotesken Äußerungen, die mehrfach hervorgewoben worden sind. Alkestis ihrerseits aber, obwohl sie ihr Opfer natürlich nicht zurücknimmt, äußert in dieser letzten Szene kein einziges Wort der Liebe für ihren Gatten mehr. Das alles hat auch Browning mit der Einsicht des Dichters deutlich gesehen, und seine Balaustion weist ausdrücklich darauf hin. Hier beginnt das Tragische des 304

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Studies, das nicht in dem Opfertod der Alkestis als solchem liegt, sondern darin, daß sich die Gatten in eben dem Augenblick fremd geworden sind, in dem der eine für den ändern das höchste Opfer bringt. Nach dem Tode der Alkestis gibt Admet Anordnungen für eine allgemeine Trauer des ganzen Volkes, die zwölf Monate dauern soll. Dann tritt nach einem Chorlied, in dem Alkestis betrauert und gepriesen wird, Herakles auf, der auf dem Wege zu einem neuen Abenteuer bei Admet um Unterkunft nachsuchen will. Er sieht die Trauervorbereitungen und fragt, was für ein Unglück das Haus des Admet betroffen habe. Admet täuscht ihn durch zweideutige Worte29, so daß Herakles glauben muß, die Tote sei eine Frau, die der Familie des Admet nicht nahegestanden hat. So läßt sich Herakles nach einigem Widerstreben überreden, bei Admet trotz des Trauerfalles einzukehren. Dies ist die Szene, in der nach der Meinung vieler moderner Interpreten Admet die Tugend der Gastfreundschaft in so überwältigender Weise übt, daß sie, wenn auch nicht nach dem Empfinden der modernen, so doch in dem der antiken Zuschauerschaft, alle Fehler des Admet überstrahlen und auslöschen mußte; wobei nur die Frage bleibt, warum Euripides, wenn dies sein Ziel gewesen sein sollte, diese Fehler so stark betonen mußte, ganz abgesehen davon, daß der Chor des Stückes die angebliche Bewunderung der attischen Zuschauer für die Art, wie Admet diese Tugend übt, zunächst ganz und gar nicht teilt, obwohl er doch den archaischen Vorstellungen von Gastfreundschaft näherstehen müßte als das athenische Publikum der Mitte des fünften Jahrhunderts30. In Wirklichkeit ist der Sinn der Szene im Zusammenhang des ganzen Stückes nicht schwer zu erkennen. Der Admet des Euripides ist zweifellos ein freigebiger, liberaler, generöser Herr, ganz so wie ihn Goethe in seiner Satire geschildert hat. Aber sein Verhalten gegenüber Herakles enthüllt den ganzen Widerspruch der Situation, in die er durch den Opfertod seiner Gattin gekommen ist. Alkestis ist für ihn gestorben — wiederum ganz wie es Goethe durchaus richtig dargestellt hat —, damit er als glücklicher freigebiger Herrscher weiterleben kann. Aber — und hier macht nun Euripides schonungslos sichtbar, was die Legende gänzlich übersieht und auch Goethe seinen Admet des Märchens übersehen läßt — eben weil sie für ihn gestorben ist und weil er ihr Opfer angenommen hat, ist es für ihn ganz unmöglich geworden, sein bisheriges

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Leben fortzusetzen. In seinem bisherigen Leben hat Admet immer gewußt, was für ihn als reichen und mächtigen König zu tun das Richtige war. Jetzt ist er plötzlich in einer Situation, in der er nicht weiß, was er tun soll. Den Gast, und dazu noch solch einen Gast, von seiner Tür gehen zu lassen, scheint ihm ganz unmöglich. Aber l wenn er ihm offen sagt, was geschehen ist, wird der Gast nicht bleiben: und leise fürchtet Admet auch schon das Urteil des Helden darüber, daß er seiner Frau für sich zu sterben erlaubt hat. In diesem Zweifel entscheidet er sich — das ist für ihn sehr charakteristisch —, so zu handeln, wie es seinem bisherigen und gewohnten Leben entspricht. Der Schluß derselben Szene — als Herakles in den Palast gegangen ist und Admet mit dem Chor allein zurückbleibt — zeigt dann noch einmal, daß bei allem, was in dieser Szene vor sich ging, Admets Liebe zu Alkestis und seine Trauer über ihren Tod — obwohl er natürlich ehrlich traurig ist — eine sehr geringe Rolle gespielt haben gegenüber seinem Gefühl für das Peinliche der Situation. Der Chor tadelt Admet mit dürren Worten für die Ungeschicklichkeit, in einem solchen Augenblick einen Gast ins Haus genommen zu haben, und Admet — vor allem um die Meinung der Leute besorgt — antwortet31: „Ja, hättet ihr mich denn weniger getadelt, wenn ich einen solchen Gast weggeschickt hätte? Was wäre damit gewonnen gewesen, wenn ich mich bei allem Unglück noch in den Ruf eines ungastlichen Mannes gebracht hätte?" Kann man deutlicher zum Ausdruck bringen, was für Admet trotz aller Trauer um den Tod seiner Gattin die erste Rolle spielt? Und ändert es daran etwas, daß der Chor auf diese Bemerkungen hin geflissentlich seine Zustimmung gibt? Im Folgenden ist es nun ganz großartig, wie Euripides auf das Chorlied, in dem der Chor Admets eigene Auslegung und Bewertung seiner Handlungsweise gelehrig annimmt und ihn wegen seiner alles Dagewesene übertreffenden Gastfreundlichkeit in den Himmel erhebt, in krassem Gegensatz die Pheresszene folgen läßt, die sofort wieder die Kehrseite zeigt. Pheres nähert sich der Leiche der Alkestis mit den Gaben, die man den Toten mitzugeben pflegt, und mit den Reden, die in solchem Falle üblich und schicklich sind, nur daß sie hier noch besonders hohl klingen, weil Alkestis nicht hätte sterben müssen, wenn Pheres be306

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reit gewesen wäre, an Stelle seines Sohnes zu sterben. Aber ganz Analoges gilt ja für den Sohn selbst und für all die Worte, die dieser bei und nach dem Tode seiner Gattin gesprochen hat. Da kann es Admet, dessen Gefühl für seine schiefe Lage sich durch die eben vorangegangenen Lobpreisungen des Chores nur wenig verringert hat, nicht ertragen, sich selbst im Spiegel des Verhaltens seines Vaters zu sehen, und er explodiert dem Vater ins Gesicht. In dem folgenden Streit, in dem sie alle beide jede Scham vergessen, erscheint der Sohn keineswegs als der Edlere gegenüber seinem Vater — darin hat Hofmannsthal die Euripideische Tragödie vollkommen verfälscht —; denn wenn auch so am Leben zu hängen bei dem alten Mann noch unedler erscheinen mag als bei dem noch jugendlicheren Sohn, und wenn auch einige Worte des Pheres die natürliche Ehrfurcht vor der Toten besonders kraß verletzen, so hat er doch nicht unrecht, wenn er sagt, daß schließlich jeder zuerst sein eigenes Schicksal auf sich zu nehmen hat, und wenn er den Anspruch des Sohnes auf den Opfertod der Eltern zurückweist. Aber auch von einer Reue und LTmkehr des Sohnes, wie sie Browning annimmt, ist in dieser Szene bei Euripides auch nicht die leiseste Andeutung zu finden, da vielmehr der einzige Schluß, den Admet aus seiner Auseinandersetzung mit dem Vater zieht, der ist, daß er den Eltern, die nicht für ihn sterben wollten, völlig absagt, ja sich durch eine öifentliche Ankündigung seiner Sohnschaft ihnen gegenüber ledig erklären will32. Welch krasseren Egoismus könnte es geben, als dem Vater, der ihm sein Königtum überlassen hat, zu sagen: wenn du nicht für mich sterben willst, sind alle Bande zwischen uns gelöst? / Auf diese Szene, die im Zentrum des Stückes steht, folgt, nachdem sich der Leichenzug unter der Führung Admets endlich in Bewegung gesetzt hat, ohne Zwischenspiel, nicht einmal das eines längeren Chorliedes, die zweite Heraklesszene, die bei den Neueren nächst der Pheresszene immer den größten Anstoß erregt hat. Es ist nun aber, wenn man auf den Sinn der ersten Heraklesszene geachtet hat, durchaus nicht mehr schwer, zu verstehen, warum Euripides Herakles sich betrinken läßt. Dies ist zunächst nichts als die weitere Ausführung dessen, was in der ersten Heraklesszene schon angelegt war: zu zeigen, wie das Weiterführen seines bisherigen Lebens, das durch den Opfertod der Alkestis hatte gewährleistet werden sollen, Admet eben durch diesen Opfertod völlig unmög[60161]

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lidi geworden ist und schon im Äußerlichen zu immer neuen Peinlichkeiten führt. Es ist jedoch seltsam, daß, soviel ich sehen kann, alle modernen Interpreten des Stückes nur auf das Peinliche und Unpassende des Verhaltens des Herakles geachtet haben, indem sie entweder den Dichter dafür tadelten oder das Peinliche, wie Browning, durch gewaltsame Interpretation zu beseitigen trachteten, daß aber niemand auf das geachtet hat, was Herakles sagt, noch gar die Frage gestellt, ob das, was Herakles sagt, nicht zu dem Ganzen des Stückes in einer notwendigen Beziehung steht. Und doch ist es nicht schwer, zu sehen, daß die Lehren, die Herakles hier dem Diener gibt, zu dem Thema des Stückes, wie es in den vorangehenden Szenen durchvariiert worden ist, in einer kontrapunktischen Beziehung stehen. Als der Diener Herakles zuerst durch Mienen und dann durch Worte darauf aufmerksam macht, daß es unschicklich sei, in einem Hause, in dem ein Trauerfall eingetreten ist, sich zu betrinken und zu grölen, hält ihm Herakles, der ja noch immer in dem Glauben lebt, die Tote habe zu dem Hause des Admet nur in einer losen Verbindung gestanden, eine Vorlesung über das Verhältnis des Menschen zum Tode, die sich von den tiefsinnigen Äußerungen des Hofmannsthalschen Herakles über Tod und Trunkenheit freilich sehr unterscheidet. Er sagt dem Diener, es sei nicht anständig, wegen eines Trauerfalles, der die Familie nur von ferne berührt, ein solches Aufheben zu machen, und dem Gast, den man in das Haus aufgenommen hat, eine sauertöpfische Miene zu ziehen, wenn er sich benimmt, wie es ihm natürlich ist. Im übrigen sollte doch jeder wissen, daß er einmal sterben muß und niemals sicher sein kann, ob er am nächsten Tag noch am Leben sein wird. Daher sei es töricht und weichlich, ein solches Wesen davon zu machen, wenn uns das, was doch unser aller Los ist, an einem Menschen, den wir kennen, unmittelbar vor Augen tritt. Da wir einmal Sterbliche sind, sollen wir unser Los als Sterbliche auf uns nehmen. Unaufhörlich mit einer Leichenbittermiene herumzulaufen, weil wir einmal sterben müssen, sei kein Leben, sondern eine Strafe33. Nun hat Herakles, der jeden Tag bereit ist, sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen, und dem es niemals eingefallen wäre, von jemand anderem zu verlangen, daß er an seiner Stelle sterben solle, unter den von

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ihm angenommenen Umständen volles Recht, so zu reden, wie er redet. Im Gegensatz zu Admet — und eben um dieses Gegensatzes ist er da und hat Euripides die Szene eingefügt — ist er ganz aus einem Stück; und auch darin hat Goethe völlig recht, daß sich dieser Herakles unbeschadet seiner Halbgöttlichkeit einen Rausch antrinken kann. Freilich zeigt sich dann wieder die Paradoxie und die unausschöpfliche Mannigfaltigkeit der Aspekte des menschlichen Daseins darin, daß derselbe Herakles, unbeschadet der Tatsache, daß er in seiner zwiespaltlosen Ganzheit dem zwiespältigen Admet mit seiner halb wahren, halb unwahren Trauer um den Tod seiner Gattin so sehr überlegen ist, und unbeschadet dessen, daß er ein gewisses Recht hat, den Tod anderer / nicht tragischer zu nehmen als seinen eigenen Tod, doch in dem Augenblick, in dem er hört, daß die Tote, um die Trauer getragen wird, Alkestis ist, das Unschickliche seines Betragens sofort einsieht und sich aufs äußerste schämt. Diese Scham — und durchaus nicht das übermenschliche Verdienst des Admet als Gastgeber — veranlaßt ihn dann zu dem Entschluß, durch einen Kampf mit dem Todesdämon selbst seine Verfehlung wiedergutzumachen. Eben hier wird die Dichtung ganz dicht und ist in ihr, wie dies zum Wesen einer wahren Dichtung gehört, viel mehr angedeutet, als sich je in einer nachrechnenden Interpretation ausschöpfen läßt. Aber daß selbst die beste Interpretation eine Dichtung nicht voll ausschöpfen kann, bedeutet nicht, wie man angesichts vieler moderner Interpretationen fast glauben sollte, daß die wahre , Wissenschaftlichkeit' einer Interpretation darin besteht, sich gegen den künstlerischen und menschlichen Gehalt einer Dichtung ganz blind zu machen oder eine logische Konsequenzmacherei zu treiben, die den lebendigen Gehalt der Dichtung totschlägt. Auf die zweite Heraklesszene folgt zunächst die Rückkehr des Admet von der Bestattung seiner Gattin. Hier ist nun wirklich die Erkenntnis Admets, wie sich die Welt durch den Tod seiner Gattin für ihn verändert hat — eine Erkenntnis, die sich in den vorangehenden Szenen, in seiner Hilflosigkeit in der Sterbeszene, seiner Unbehaglichkeit dem Chor gegenüber, seiner Unsicherheit in bezug auf die Forderungen der Gastfreundschaft, und in seinen heftigen Angriffen auf den Vater, in welchem er doch sich selbst im Spiegelbild sehen muß, halb unbewußt angebahnt und entwickelt hat —, zur vollen Reife gediehen. Jetzt preist er mit [61162]

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voller Wahrheit die Gattin glücklich, die doch gestorben ist, damit sein Glück fortdauere. Sie ist von den Schmerzen des Lebens befreit und hat noch großen Ruhm erworben. Auf ihn, der nicht hätte leben sollen und der dem ihm bestimmten Tod entgangen ist, wartet ein Leben nicht des Glücks, sondern voll Trauer und Qual. Wenn er ins Haus geht, muß er wieder fliehen vor der Leere und Öde, die der Tod der Gattin zurückgelassen hat, und vor der Trauer der Kinder und des Gesindes, die um die tote Mutter oder Herrin weinen und ihr Leben von ihm zurückzufordern scheinen. Geht er hinaus, so muß er fliehen vor den Orten, an denen die Altersgenossinnen seiner Frau in Frohsinn zusammenkommen, weil er es nicht ertragen kann, an seine Gattin erinnert zu werden, deren er sich selbst beraubt hat. Dazu kommt das Gemurmel seiner Feinde, das ihn überallhin verfolgen wird: „Da geht der Mann, der es nicht fertiggebracht hat, dem Tod ins Auge zu sehen, und der aus Feigheit das Leben seiner Gattin an Stelle des eigenen dahingegeben hat." Eduard Schwartz hat diesen kurzen Monolog Admets vortrefflich charakterisiert, wenn er sagt8*: „Wer das intimste Wesen euripideischer Menschenkenntnis belauschen will, der beobachte Admet, wie er von der Bestattung seiner Frau heimkehrt und ihm nun erst, vor dem verödeten Hause, zum Bewußtsein kommt, welchen Preis er sich für sein eigenes Leben hat zahlen lassen ... Der Dichter, der diese innere Tragik des leidenden Individuums geschaffen, verdient unter die Großen des Geistes gezählt zu werden welche der Welt die individuelle Persönlichkeit erschlossen haben." Aber diese Einsicht, die sich Admet nun von allen Seiten her mit unwiderstehlicher Gewalt aufdrängt und der er sich nicht mehr entziehen kann, bedeutet keineswegs, wie es Browning und viele nach ihm der Euripideischen Tragödie haben unterlegen wollen, eine völlige innere Umkehr und Wandlung Admets. Wie von Anfang an, wie in der Vorgeschichte des Stückes, als er das Opfer seiner Frau zuerst angenommen hat, wie in der Sterbeszene, wie in der Szene mit Herakles, wie / in der Pheresszene, so ist er auch jetzt bei aller neuen Einsicht in die Folgen seines Handelns, unfähig, etwas anderes zu sehen, als was ihn selbst betrifft. Nirgends weitet sich seine Seele zu einer vollen Teilnahme an dem Leiden und Fühlen anderer aus. Das ist auch in der Schlußszene nicht anders. Natürlich ist Admet ein anständiger und ehrlicher Mann, der das 310

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Gelübde, das er seiner Frau gegeben hat, halten will. Deshalb ist es ihm äußerst peinlich, als Herakles die ,fremde Frau* ihm anvertrauen will und ihm im Verlauf der Auseinandersetzung, die sidi daran anschließt, audi noch den Rat gibt, wieder zu heiraten. Er weiß nicht, wie er die Frau in dem frauenlosen Haushalt sicher unterbringen soll, ohne sie in seine eigenen Gemächer aufzunehmen. Er fürchtet sich, wenn er dies tun sollte, vor dem Urteil der Leute und auch vor dem seiner verstorbenen Frau in der jenseitigen Welt und scheint doch auch, wenn die Versuchung in solcher Gestalt ihm täglich nahe gebracht würde, seiner selbst nicht ganz sicher zu sein35. Trotzdem überwiegt bei ihm auch hier wieder, wie schon zuvor, schließlich das Gefühl, daß man die Bitte eines Freundes wie Herakles nicht abschlagen kann, und so gibt er nach und erklärt sich bereit, die ,fremde Frau* bei sich aufzunehmen. Es ist, wenn man auf das achtet, was Euripides seinen Admet in diesen letzten Szenen sagen läßt, fast unbegreiflich und nur aus der Schwierigkeit, den Sinn der Rückkehr der Alkestis vom Tode unter anderen Voraussetzungen zu verstehen, überhaupt erklärlich, daß die überwältigende Mehrzahl der Interpreten — mit fast alleiniger Ausnahme Verralls, der die Unzulänglichkeiten Admets auch in dieser letzten Szene kräftig hervorgehoben hat — darauf besteht, Admet ,bewähre sich' in diesen letzten Szenen in solchem Maße, daß er das Wunder der Wiederkehr seiner Gattin vom Tode verdiene. Man kann darauf nur sagen: wenn das die Meinung des Euripides gewesen ist, dann war es seiner Meinung nach nicht schwer, sich die außerordentlichsten Wunder zu verdienen. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß dies die Meinung des Dichters gewesen ist, den Aristoteles als den der drei griechischen Tragiker bezeichnet hat und der, wenn nicht der in seiner Tragik härteste — das ist wohl doch Sophokles —, so doch der den Menschen gegenüber kritischste gewesen ist. In Wirklichkeit ist der Euripideische Admet mit seiner inneren Begrenztheit, für die er nichts kann, die aber ja auch die Ursache davon ist, daß er zu der Zeit, als er einen Stellvertreter im Tode suchte und in seiner Gattin fand, gar keine Vorstellung davon hatte, was dies für ihn bedeuten würde, und der auch, als diese Einsicht schließlich kommt, von ihr nicht wirklich ausgeweitet und verwandelt wird, eine viel tragischere Gestalt im antiken Sinne als ein verwandelter und ,bekehrter' Admet dies sein würde. Überhaupt aber sind

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der antiken griechischen Tragödie Bekehrungen und Umwandlungen dieser Art, wie sie in gewissen Typen des modernen Dramas unter dem Einfluß stoischer und christlicher Traditionen eine große Rolle spielen, völlig fremd. Die ,versöhnenden Ausgänge' vieler Tragödien und vor allem Trilogien des Aeschylus haben einen ganz anderen Sinn. Ist diese Auslegung richtig, so erhebt sich freilich die Frage, wie der Schluß der Euripideischen Tragödie denn dann verstanden werden könne, wenn Admet die Rückkehr seiner Gattin aus dem Reich der Toten, die doch nun einmal den Schluß des Stückes bildet, weder durch seine überwältigende Gastfreundschaft noch durch seine Reue und Buße oder sonstige tiefe Sinneswandlung verdient. Aber hier muß nun freilich ein für allemal gesagt werden, daß die berühmten Euripideischen / Tragödienschlüsse, in denen am Ende ein deus ex machina erscheint, der den unentwirrbar verschlungenen tragischen Knoten zerhaut und alles mit einem Schlage zur allseitigen Zufriedenheit löst — und der Herakles der Alkestis hat, wenn er auch anders als die di ex machina vieler späterer Stücke des Euripides nicht nur am Ende erscheint, sondern auch im Stück selbst eine wichtige Rolle spielt, die Funktion eines deus ex machina —, in keinem Fall ernst gemeint sein können. Äußerlich haben diese Tragödienschlüsse den Zweck, wieder zu der überlieferten Fabel zurückzuführen. Aber daß der Dichter „an die überkommene Fabel gebunden" war, ist kaum, wie die meisten Erklärer — hier nun sogar einschließlich Verrall — behaupten, der Hauptgrund für sein Erscheinen. Abweichungen von der überkommenen Fabel sind weder bei Euripides noch bei seinen Vorgängern selten. Aber eben dadurch, daß bzw. wenn — denn er tut es ja nicht immer — Euripides mit Hilfe eines deus ex machina ein künstliches happy end an eine Tragödie ansetzt (ich wähle diesen Ausdruck mit Absicht), wird der Kontrast zwischen dem ,idealistischen' Optimismus des Märchens und dem schneidenden Realismus, mit dem der Dichter die Märchensituation im Innern des Stückes behandelt, viel schärfer sichtbar, als wenn er den überlieferten Ausgang geändert hätte. Diese Auffassung des deus ex machina bei Euripides für alle Stücke, in denen er vorkommt, eingehend zu begründen, würde eine eigene Untersuchung erfordern. Aber nach zwei Seiten kann und muß die Frage hier doch noch kurz weiterverfolgt werden. Zunächst ist zu bemerken, daß Euripides, wo er in seinen späten Stücken den deus ex machina ver312

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wendet, die Unwirklichkeit dieser glücklichen Lösungen immer stärker hat hervortreten lassen. Am weitesten geht er darin im Orestes. In diesem Stück steht Orest mindestens achtzig Verse lang mit dem Messer an der Kehle der Hermione, der Tochter seines Onkels Menelaos, da, drohend, das Mädchen umzubringen, das ihm nur Gutes getan hat, bis endlich der deus ex machina, in diesem Falle Apollon, erscheint und ihm erklärt, es sei ihm vom Schicksal bestimmt, das Mädchen zu heiraten, „an dessen Kehle du das Messer hältst"36. Nach weiteren achtzehn Versen nimmt dann endlich Orestes das Messer weg mit den Worten: „Sieh her, ich lasse Hermione ungeschlachtet gehen"37 und erklärt sich mit der ihm vom Schicksal bestimmten Ehe einverstanden, „falls der Vater seine Einwilligung gibt", worauf dieser Vater nicht nur ohne jedes Zögern seine Zustimmung zu dieser Ehe erklärt, sondern auch noch seiner Zufriedenheit darüber Ausdruck verleiht, daß zwei so adelige junge Leute durch das Band der Ehe miteinander vereinigt werden sollen. Wenn das nicht bitterer Hohn ist auf das happy end einer Orestestragödie, dann weiß ich nicht, wie blutiger Hohn etwa sonst noch aussehen könnte. Es ist, als ob Euripides aus Verzweiflung darüber, daß das allgemeine Publikum den Sinn der unvermutet glücklichen Ausgänge vieler seiner Tragödien gar nicht verstehen wollte, diesen Sinn hier einmal ganz kraß deutlich zu machen suchte: freilich, wie die späteren Kommentare zu seinem Orestes zeigen, auch jetzt nicht mit durchschlagendem Erfolg. Und doch sollte — auch wenn man die grotesken Elemente der Orestes-Hermione-Szene ganz außer acht läßt — mit Händen zu greifen sein, daß der Euripides, der in seiner Elektra alles getan hatte, das Furchtbare des Muttermordes, gleichgültig, unter welchen Umständen er erfolgt sein mag, vor Augen zu führen, und der am Ende dieses Stückes die Dioskuren als di ex machina den Gott Apollon aufs heftigste dafür hatte tadeln lassen, daß er Orestes den Muttermord anbefoh- / len hatte, nicht ernsthaft der Meinung gewesen sein kann, es brauche nun nur dieser selbe Gott Apollon erscheinen und einige Anordnungen über Heiraten und sonstige Sühnemaßnahmen zu geben, damit dann alles wieder in bester Ordnung sei. In der Alkestis freilich wird, wie in allen früheren Stücken des Euripides, die ein happy end haben, die Unwirklichkeit dieses glücklichen Ausganges leiser angedeutet als in den Stücken seines letzten Jahrzehnts. [64165]

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Ein Hinweis auf diese Unwirklichkeit liegt aber schon darin, daß Alkestis bis zum Ende des Stückes stumm und unberührbar bleibt. Allerdings verkündet Herakles, dies solle nur für drei Tage dauern38, d. h. bis die Bindung an die Unterirdischen, denen Alkestis schon verfallen war, gelöst sein wird. Aber damit wird doch nur ganz leicht verdeckt, daß nach dem, was vorgefallen ist, die Gatten sich nicht einfach in die Arme fallen und weiterleben können, als ob nichts geschehen wäre. Was hätte denn Euripides auch sonst ans Ende stellen können außer etwa ganz banalen Äußerungen über das Glück des Wiedersehens, die dem tragischen Charakter des Stückes, der ja eben auf dem nicht nur physisch gebrochenen Verhältnis der Ehegatten beruht, doch gewiß nicht entsprochen hätten? Entweder ein genaues Gegenstück zu der Sterbeszene, in dem schneidend klargeworden wäre, daß sich in dem Verhältnis der Ehegatten, wie es dort zutage getreten war, immer noch nichts Wesentliches geändert hatte, d. h. daß auf der Seite Admets die Liebe immer noch nur in der Form der , des Den-andern-Brauchens, nicht wie bei Alkestis in der Form des vorhanden war. Aber Euripides schreibt keine Ibsenschen Nora-Szenen, ganz abgesehen davon, daß dadurch gerade die ironische Tiefe des in die Wirklichkeit versetzten Märchens zerstört worden wäre. Oder aber, es hätte nun wirklich, wie es am Ende der Romane Dostojewskijs sooft heißt, ,eine ganz andere Geschichte' beginnen müssen, eine ganz andere Geschichte, die aber Euripides offenbar nicht zu schreiben beabsichtigte, und die auch Dostojewski] aus leicht einzusehenden Gründen de facto nie geschrieben hat. So wird man es einfach hinnehmen müssen, daß Euripides, so wie er am Anfang vom Märchen ausgegangen ist, am Ende wieder zum Märchen zurückkehrt, nachdem er in dem ganzen Rest des Stückes gezeigt hat, was aus dem Märchen wird, wenn man es in die Wirklichkeit versetzt. Freilich — und damit komme ich zu dem zweiten Punkt — könnte es scheinen, als führe diese Auffassung von der Rolle des deus ex machina bei Euripides im allgemeinen und von dem glücklichen Ausgang der Alkestis im besonderen nun doch wieder, wenn auch in etwas anderer Weise, zu der an Verrall getadelten Annahme zurück, man müsse erst ein Rätsel lösen, um die Stücke des Euripides zu verstehen und von ihnen den Eindruck zu bekommen, den der Dichter beabsichtig hatte. Aber das ist durchaus nicht der Fall. Wenn gesagt worden ist, die happy 314

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ends, die von di ex machina herbeigeführt werden, könnten nicht ernsthaft gemeint sein, so bedeutet dies natürlich nicht, daß der ein Euripideisches Stück am besten versteht, der, wenn der deus ex machina erscheint, zu sich sagt: „Ach, solche di ex machina gibt es ja im wirklichen Leben nicht. In Wirklichkeit wäre Orest gesteinigt worden oder Alkestis im Grabe geblieben." Im Gegenteil. Ob Euripides an das Erscheinen von di ex machina im wirklichen Leben geglaubt hat oder nicht, ist ganz irrelevant. Im Stück sollen natürlich ihr Auftreten ebenso wie die Anordnungen, die sie geben, vom Zuschauer als wirklich genommen werden. Sonst geht die ganze Wirkung der tiefen Ironie dieser Tragödienschlüsse verloren. Aber das happy end, das diese di ex machina bewirken, ist, wie der Orestes ganz grob zeigt, kein happy end. Oder kann irgend jemand glauben, daß die Ehe zwischen Orest und / Hermione, die Orest hat umbringen wollen, nur um seinem Onkel einen Tort anzutun, obwohl sie selbst ihm nur Gutes getan hat, eine sehr glückliche sein wird? Ist aber das einmal gesehen, und zwar als etwas von Euripides zweifellos Beabsichtigtes gesehen, so enthüllt sich die ganze Paradoxie der Wirkung der Euripideisdien Tragödienschlüsse. Daß das happy end des Orestes grotesk und kein wirkliches happy end ist, hat auf irgendeine Weise wohl jeder Zuschauer oder Leser gespürt, und ganz gewiß seine antiken und modernen Kritiker, die ihm zum Vorwurf machen, daß er die Lösung „auf eine so äußerliche und mechanische Weise" herbeiführe. Insofern haben sie ihn — unbewußt — also ganz richtig verstanden. Sie haben den Schock verspürt, den sie verspüren sollten. Nur haben sie zu gleicher Zeit Euripides nun doch auch wiederum nicht verstanden, indem sie ihm diese „äußerliche Lösung" zum Vorwurf machen und gar nicht sehen, daß diese Lösung in Wirklichkeit gar nicht so äußerlich, sondern, indem das Leben weitergeht, im Grunde viel tragischer bzw. von einer dem Orest, wie er bei Euripides dargestellt wird, viel angemesseneren Tragik ist, als es sein Tod durch Steinigung gewesen wäre. Und doch sollte mit Händen zu greifen sein, daß Euripides, wenn es ihm nur darauf angekommen wäre, die Verwicklung am Schluß auf irgendeine Weise zu lösen und den Anschluß an den überlieferten Ausgang zu finden, keine so groteske Szene wie diejenige zwischen Hermione, Orestes, Apollon und Menelaos ans Ende gesetzt hätte. [65166]

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Beim Orestes hat man den Schock verspürt und gemerkt, daß das happy end kein happy end sein kann. Deshalb hat man den Dichter angeklagt, seinem Stück eine „mechanische" Lösung gegeben zu haben, als ob er das happy end als happy end betrachtet hätte. Bei der Alkestis hat man auch den Schock verspürt, den man verspüren sollte, und damit auch in gewisser Weise — man könnte sagen unbewußt und gefühlsmäßig — den Dichter verstanden. Aber zugleich hat man das happy end als happy end ernst genommen, und nun, da dieses happy end — nach Absicht des Dichters — aus dem ihm vorangehenden Stück schlechterdings gar nicht zu rechtfertigen war, entweder die verzweifeltsten Versuche gemacht, das Stück so umzudeuten, daß das happy end wirklich happy sein kann, oder aber, wo man sah, daß dies nicht möglich war, dem Dichter wiederum den Vorwurf gemacht, er habe sein Geschäft nicht verstanden, und sein Stück zu verbessern gesucht, nur mit dem seltsamen — in Wirklichkeit aber ganz natürlichen — Resultat, daß die verbesserten Stücke, wenn man sie sich etwas näher ansah, gar sehr an Wirkung und Gehalt hinter dem verbesserten Original zurückblieben. So kann man sagen, daß die Alkestis und der Orestes — aber Ähnliches gilt auch von ändern viel umstrittenen Stücken des Euripides — in gewisser Weise auch von denen verstanden worden sind, die sie mißverstanden haben. Das beweist auch die Mischung von enthusiastischer Bewunderung und heftiger Kritik, mit der Euripides von Anfang an empfangen worden ist. Denn hier handelt es sich ja in Wirklichkeit nicht um Kritik an einzelnen Kunstfehlern, noch ist es so, daß einfach einer Gruppe von enthusiastischen Bewunderern eine Gruppe heftiger Kritiker gegenüberstünde. Vielmehr zeigt die ganze Geschichte der Euripideskritik und der Euripidesnachahmung, wie gerade die intelligentesten seiner Leser und Hörer zwischen Bewunderung und Abneigung hin- und hergerissen worden sind, und dies ist bei der Alkestis ganz besonders der Fall. Alles dies ist die Wirkung der schneidenden Dissonanz, die Euripides in fast alle seine Stücke gelegt hat, und die in vielen davon auch in der krassen Diskrepanz zwischen der Handlung und dem scheinbar glücklichen Ende zum Ausdruck kommt. Eben diese Wirkung beweist, daß die Dissonanz, wie / Euripides es wollte, auch von denen gehört worden ist, die das Rätsel, warum sie so tief aufgestört wurden, nicht lösen konnten. 316

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Mit diesen letzten Beobachtungen ist auch die Frage nach dem Grund der Schwierigkeit des Verständnisses der Alkestis — und einiger anderer Tragödien des Euripides — schon im wesentlichen beantwortet. Der Grund der Abneigung — denn es handelt sich durchaus um eine tiefsitzende Abneigung und nicht um ein rein intellektuelles Unvermögen —, das Stück richtig zu verstehen, liegt nicht in der Schonungslosigkeit und Härte der Euripideischen Tragik, die etwa vielen Zeitgenossen ebenso wie der Mehrzahl der Modernen unerträglich gewesen wäre. Diese ist bei Sophokles nicht geringer. Es liegt auch nicht einfach daran, daß viele der Charaktere der Tragödien des Euripides, und darunter eben auch der Admet der Alkestis, keine ,tragische Größe* haben wie fast immer bei Aeschylus und Sophokles, sondern ihre Tragik sehr oft gerade dadurch bedingt ist, daß sie ganz· gewöhnliche Menschen sind, nicht besser und schlechter als die Menschen, die man täglich trifft. Dies mag bei den Zeitgenossen des Euripides ebenso wie bei den Kritikern und Nachahmern des Euripides im 18. Jahrhundert tatsächlich eine nicht geringe Rolle gespielt haben. Aber im 19. Jahrhundert war man an durchschnittliche Charaktere im ernsthaften Drama durchaus gewöhnt. Trotzdem hat selbst Hugo Steiger, der Euripides zu einem antiken Ibsen stempeln wollte, was in vieler Hinsicht ganz falsch ist, sich mit einigen Zügen im Charakter des Admet nicht abfinden können und den sonst von ihm bewunderten Dichter dafür getadelt39. Der Grund der allgemeinen Abneigung, die Alkestis des Euripides — und einige andere seiner Stücke — so zu verstehen, wie er sie verstanden haben wollte, und sie dann so zu akzeptieren, liegt einfach darin, daß sich das Märchen als stärker erwiesen hat als Euripides: selbst bei Goethe, dem unter den Schatten, dessen Admet und Alkestis, wenn sie auch ihren Landsmann Euripides weit über Wieland stellen, doch ausdrücklich sagen, daß sie auch mit seiner Darstellung ihres Lebens und Handelns keineswegs einverstanden sind. Das Märchen legt allen Nachdruck auf die moralische Schönheit des Opfers des Mädchens, das für ihren Geliebten stirbt. Schließt es mit der Rückkehr des Opfers aus dem Totenreich, so liegt darin nichts als das von der Märchenatmosphäre untrennbare Verlangen nach einem „happy

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end" und nach einer Belohnung des Guten. Soweit das Märchen dem Jüngling, für den das Mädchen stirbt, überhaupt Beachtung schenkt, versteht es seine Not und sein heißes Verlangen, aus dem schönen Leben, das eben erst für ihn begonnen hat, nicht schon wieder scheiden zu müssen. Ja, es versteht sogar, daß für ihn die Liebe des Mädchens, das dann für ihn zu sterben bereit ist, nur einen Teil seines glückhaften Daseins darstellt, den er für die Erhaltung des Restes hinzugeben bereit ist — was nicht ausschließt, daß er vielleicht unter anderen Umständen, wenn ihm das Mädchen hätte entrissen werden sollen, für seine Erhaltung oder Errettung sein Leben aufs Spiel gesetzt hätte. Das alles hat Goethe mit seiner angeborenen Kenntnis des menschlichen Herzens mit unübertrefflicher Klarheit gesehen und zur Darstellung gebracht, und man braucht nicht den / indischen Brauch der Witwenverbrennung heranzuziehen, wie dies von einigen Gelehrten fälschlich getan worden ist, um das ganz einfach Menschliche zu verstehen. Euripides hat alle Voraussetzungen des Märchens gewahrt; auch darin, daß für Admet, der an die Stelle des Jünglings im Märchen getreten ist, trotz aller Trauer um ihren Verlust, seine Gattin von Anfang bis zu Ende nur als Teil seines eigenen Lebens existiert. Dennoch hat er alles von Grund auf geändert, einzig und allein dadurch, daß er von Anfang an indirekt, aber mit allen nur möglichen indirekten Mitteln sichtbar macht, daß ein Mensch nie nur ein Teil im Leben eines anderen Menschen sein kann, und daß es unmöglich ist, ihn wie irgendein anderes Besitztum um der Erhaltung des eigenen Lebens willen — selbst mit seinem Willen und seiner Zustimmung — zu opfern, ohne daß dies für den, der auf diesen Handel eingegangen hat, die tiefstgreifenden Folgen hat, sowenig er sich auch selbst über die Gründe im klaren sein mag. Nur dadurch wird das ganz untragische Märchen zu einer Tragödie, wird aber auch Alkestis — nicht nur Admet — zu einer tragischen Gestalt. Von den modernen Bearbeitern, Kritikern und Interpreten der Euripideischen Tragödie, soweit sie sich eingehend darüber geäußert haben — was bei Goethe und E. Schwartz ja nicht der Fall ist —, hat, soviel ich sehen kann, keiner, auch Verrall nicht, diese Verwandlung des optimistisch idealistischen und rührenden Märchens in eine Tragödie ohne Einschränkungen ertragen. Mit alleiniger Ausnahme Verralls, der aber nach einer anderen Seite ausweicht und aus der Tragödie ein aufkläre318

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risches Tendenzstück macht, haben sie alle versucht, sich zwar an Euripides anzuschließen, aber doch etwas von dem rührenden und ,idealistischen' Charakter des Märchens beizubehalten, ein Versuch, der auch dann nicht gelingen konnte, wenn dabei viele wesentliche sachliche Voraussetzungen des Märchens, die Euripides bewußt beibehalten hatte, aufgegeben wurden. Es wird kaum notwendig sein, zum Beweis noch einmal alle die früher besprochenen Nachahmungen und Auslegungen der Euripideischen Tragödie Revue passieren zu lassen. Aber es ist vielleicht gut, an einigen von ihnen, die extreme Möglichkeiten der Auffassung vertreten, die Probe aufs Exempel zu machen. Am erstaunlichsten sind wohl Äußerungen wie die Leskys, Admet habe den Dichter nicht weiter interessiert und sei „im großen und ganzen farblos" geblieben, eine Auffassung, der auch Erwin Rohde und andere nahegestanden zu haben scheinen. Dies ist um so erstaunlicher, als es sich hier nicht um Philologen zweiten und dritten Ranges handelt, sondern um Gelehrte, die anderweitig ihr Verständnis für Dichtung bewiesen haben. Aber es ist wohl kein Zufall, daß Rohde durch Werke über den griechischen Liebesroman und über griechische Mythen berühmt geworden ist und Lesky bei seiner Behandlung der Alkestis von den Legenden und Märchen, die der Euripideischen Tragödie zugrunde liegen, ausging. So demonstrieren sie beide die Gewalt des Märchens und seiner Wunschwelt über den menschlichen Geist, die ja auch sonst das richtige Verständnis des Euripides, der diese Wunschwelt rücksichtslos zerstört, verhindert hat. Sonst wäre ein solches L^rteil über den Euripideischen Admet schlechterdings unverständlich, der unaufhörlich von allen ändern Figuren des Stückes charakterisiert wird und sich durch sein Handeln und Reden selbst charakterisiert, und zwar so, daß die Grundzüge seines Charakters durch alle Erfahrungen, die er macht, und alle Einflüsse, die er durch sie erfährt, hindurdi mit der äußersten Konsequenz festgehalten werden. Auf der entgegengesetzten Seite weicht z. B. Leo Weber, der in seiner kommentierten Ausgabe die Dichtung als Einheit zu verstehen sucht und — vielleicht unter dem Einfluß der oben angeführ- / ten Äußerung von E. Schwartz, die auch er zitiert —, für ihren tragischen Gehalt einiges Verständnis zeigt, am Ende ins Erbauliche aus, wenn er die Rückkehr der Alkestis aus dem Totenreich damit erklärt, daß „ein so unverhofftes [68169]

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Glück den unausgeglichenen jungen Mann wohl am besten heilen" werde40. Damit ist denn freilich wieder eine Verharmlosung der Euripideischen Tragödie erreicht, die sie für eine Schüleraufführung der sechsten Gymnasialklasse durchaus geeignet erscheinen läßt. Aber selbst Brownings Interpretation, obwohl unvergleichlich dichterischer, subtiler und tiefer, ist von dieser Verharmlosung nicht ganz frei. Hugo von Hofmannsthal endlich kann man das Urteil nicht ersparen, daß er in seiner Bearbeitung die harte Tragik des Euripideischen Stückes gelegentlich durch Talmitiefsinn verschleiert hat. Noch von einer anderen Seite her ist Morrisons Dream of Alcestis die Probe aufs Exempel. Es ist die einzige moderne Alkestisdichtung, die mir zu Gesicht gekommen ist, in welcher die menschlichen Beziehungen und ihre moralischen Implikationen ohne idealistische Verklärung schlicht, sauber und ohne Verfälschung dargestellt sind, und doch viel milder und weniger hart und tragisch als bei Euripides. Aber hier sind nun auch die märchenhaften Elemente konsequent beseitigt. Das Opfer des Alkestis ist eine Illusion und wird auch von Admet als solche betrachtet. So entsteht die Frage der Annahme oder Ablehnung des Opfers, die allen anderen modernen Alkestisdichtern so unüberwindliche Schwierigkeiten bereitet hat, überhaupt nicht. Auch der Tod der Alkestis ist durch eine schwere Krankheitskrisis ersetzt. So wird zum Gegenstand der Dichtung das Verhältnis zweier Ehegatten, von denen dem einen bei aller Liebe zu seiner Gattin doch seine Arbeit, die Aufgabe, die ihm seine königliche Stellung auferlegt, das Wichtigere ist. Das ist ein echtes menschliches, wenn auch nicht ein im antiken Sinn tragisches, Problem. Es ist daher durchaus zum Gegenstand einer ernsten Dichtung geeignet, wenn auch nicht zum Gegenstand einer Tragödie. Aber mit der Alkestislegende in ihrer ursprünglichen Form, ebenso wie mit dem Drama des Euripides, hat diese Dichtung kaum mehr als den Namen gemein. Demgegenüber hat Euripides in seiner Tragödie mit unerbittlicher Konsequenz gezeigt, was aus dem Märchen wird, wenn es aus der für das Märchen charakteristischen idealen Wunschwelt in die Wirklichkeit übertragen wird. Was dabei herauskommt, ist nicht erheiternd, sondern eine wirkliche Tragödie; eine Tragödie ferner, die sich nicht, wie meist bei Aeschylus oder Sophokles, über das alltägliche Leben erhebt, sondern trotz des selbstlosen Opfers der Alkestis und trotz der äußeren Beibehal320

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tung m rchenhafter Z ge ganz in ihm befangen bleibt. Aber wenn Aristoteles mit seiner Behauptung recht hat, es sei die Aufgabe der Dichtung darzustellen οία αν γένοιτο κατά το εικός ή το άναγκαϊον und τω ποίω τα ποία αττα συμβαίνει λέγειν ή πράττειν κατά το εικός ή το άναγκαϊον, dann hat Euripides im Gegensatz zu fast allen seinen Nachahmern und Nachfolgern diese Aufgabe erf llt.

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DIE ENTWICKLUNG DER IASON-MEDEASAGE UND DIE MEDEA DES EURIPIDES Die Medea gehört nicht zu den umstrittenen Stücken des Euripides oder jedenfalls nicht zu den umstrittensten. Es gibt keine Bücher über das Rätsel der Medea wie über das Rätsel der Bakchai. Das Stück ist nicht in den vergangenen drei- bis vierhundert Jahren zum Gegenstand der entgegengesetztesten Interpretationen gemacht worden wie die Alkestis. Niemand hat davon gesagt, wie A. W. Schlegel von der euripidcischen Elektra, sie sei ein seltenes Beispiel poetischer oder vielmehr unpoetischer Verkehrtheit. Sie wird von den Modernen allgemein als eines der besten Stücke des Euripides anerkannt, und der schon erwähnte Euripidomastix A. W. Schlegel hat sie nur mit Maßen kritisiert. Auch in der Gesamtinterpretation des Stückes scheinen die Modernen, auf den ersten Blick wenigstens, nicht so stark voneinander abzuweichen, wie es bei vielen ändern Dramen des Euripides der Fall ist. Die Meinungsverschiedenheiten, die natürlich auch hier bestehen, scheinen sich mehr auf speziellere philologische Probleme zu beziehen, wie etwa, ob gewisse Stellen vom Dichter stammen oder als Interpolationen zu betrachten sind und dergleichen. Da jedoch die Beantwortung solcher scheinbar sehr speziellen Fragen doch von tiefer liegenden Auffassungen der Charaktere oder gewisser Abschnitte der Handlung abhängt, so kann man wohl die Frage auf werfen, ob die Übereinstimmung in der Auffassung des Ganzen wirklich so groß ist, wie es an der Oberfläche erscheint; und es verlohnt sich wohl, diesen Dingen etwas nachzugehen. Ganz abgesehen von den vorhandenen oder nicht vorhandenen Verschiedenheiten in den Auffassungen der Modernen, gibt es jedoch vielleicht noch eine tiefer greifende Abweichung in dem Eindruck, den das Stück auf seine antiken und auf seine modernen Zuschauer oder Leser gemacht hat, eine Abweichung, die sich zwar nicht dokumentarisch unmittelbar beweisen, aber doch auf Grund indirekter Anzeichen mit

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ziemlicher Sicherheit erschließen läßt. Schon daß das Stück sich in der Moderne einer seit dem siebzehnten Jahrhundert zunehmenden Bewunderung erfreut und seit den Zeiten der Romantik fast durchweg als eines der besten Stücke des Euripides gilt, während es von dem attischen Publikum bei der ersten Aufführung abgelehnt worden ist, scheint darauf hinzuweisen, daß die Zuschauer des fünften Jahrhunderts v. Chr. vieles anders empfunden haben als die Mehrzahl der modernen Leser. Wichtiger ist aber noch etwas anderes. Im Altertum galt Euripides als Weiberhasser, und zwar gerade wegen seiner Darstellung solcher weiblicher Charaktere wie Medea und wegen einiger Worte, die er ihnen in den Mund gelegt hat. Bei den Modernen dagegen gilt er als der erste, der für das weibliche Geschlecht und für die weibliche Seele tieferes Verständnis gehabt habe, und als der erste, der durch seine Dramen für die Rechte des weiblichen Geschlechtes eingetreten sei. Aber auch innerhalb der Moderne hat sich ein Wandel vollzogen. Sehr interessant ist in dieser Hinsicht Corneille1. Einerseits kann man an einigen Stellen seiner Tragödie, die weitgehend derjenigen des Euripides nachgebildet ist, schon eine gewisse Bewunderung für Medea verspüren; und dies ist auch von französischen Kritikern des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts hervorgehoben worden. Andererseits sucht er sich in seiner Dedikation des Stückes zu / rechtfertigen, daß er in Medeas Triumph am Ende des Stückes ,le triomphe du vice' auf die Bühne gebracht habe. Seit den Zeiten der Romantik aber reicht die Auffassung der Medea von ihrer Beurteilung als schrecklicher, aber doch großartiger Barbarin über die Bezeichnung als dämonisches Weib, das aber doch auch dämonische Größe habe, bis zur vollen romantischen Bewunderung der Unbedingtheit ihrer Leidenschaft, während zu gleicher Zeit die Beurteilung des lason immer härter und abschätziger geworden ist. Nun ist Euripides zweifellos ein rebellischer Dichter gewesen. Es gibt viele Anzeichen dafür, daß seine Stücke von den Zeitgenossen nicht immer so verstanden worden sind, wie er sie verstanden haben wollte. Es läßt sich wohl auch zeigen, daß er in solchen Fällen gelegentlich in einem späteren Stück das, was er in dem früheren Stück hatte zum Ausdruck bringen wollen, in schärferer und schonungsloserer Form wiederholte2. [33134]

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Daher ist es a priori durchaus nicht unmöglich, daß die moderne Auffassung der wahren Meinung des Euripides näherkommt als die der Majorität seiner Zeitgenossen. Aber ein Romantiker im modernen Sinn ist Euripides doch wohl kaum gewesen, und die moderne romantische Bewunderung für die maß- und fessellose Leidenschaft ist so durchaus unantik und vor allem ungriechisch, daß man sie selbst dem gegen vieles in seiner Zeit revoltierenden Euripides kaum ohne striktesten Beweis wird zuschreiben dürfen. Auch ist es in diesem Zusammenhang doch wohl nicht ganz ohne Bedeutung, daß Euripides eine Tragödie Aigeus geschrieben hat3, in der Medea dem attischen König Aigeus, zu dem sie aus Korinth geflohen und dessen Frau sie geworden war, den Rat gab, seinen Sohn Theseus aus früherer Ehe, der noch unerkannt aus Troizen zu ihm gekommen war, zu vergiften, da er ihn der Herrschaft berauben wolle, was allerdings im letzten Augenblick durch einen verhindert wird und zur erneuten Verbannung der Medea führt. Zwar hat sich Euripides nicht gescheut, dieselben Gestalten der Sage in verschiedenen seiner Tragödien verschieden darzustellen und bald in härterem, bald in milderem Licht erscheinen zu lassen. Aber eine völlige Umkehrung der Einschätzung und Wertung eines Charakters wird sich kaum nachweisen lassen. Man kann aber doch wohl kaum annehmen, daß Euripides durch diesen neuen Anschlag, diesmal auf den Sohn ihres Wohltäters Aigeus, die Großartigkeit der Leidenschaft Medeas im hellsten Licht erstrahlen lassen wollte: einer Leidenschaft dann wohl des Ehrgeizes für ihren Sohn Medos, dessen Thronfolgerschaft sie durch Theseus bedroht sieht. Es ist durchaus möglich, daß der Aigeus früher ist als die Medea1 und daß Euripides erst in der / Medea sich darauf konzentriert hat, Medeas Handeln von innen zu durchleuchten und verständlich zu machen. Aber so weit gehen, wie manche der Modernen wollen, konnte er darin nicht, solange der Aigeus noch frisch in der Erinnerung war. Erst recht aber hätte er dieses Stück dann seinen Zuschauern nicht durch die Einfügung der Aigeusszene, die dramaturgisch durchaus nicht unentbehrlich ist, ins Gedächtnis zurückrufen dürfen. Schrieb er aber den Aigeus erst nach der Medea, was an sich unwahrscheinlich ist, so mußte er als sehr negativer Kommentar zu der Darstellung des Charakters der Medea in der gleichnamigen Tragödie wirken. Das Problem des Verständnisses des Charak324

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ters der Medea, das damit aufgeworfen ist, ist wohl einer etwas eingehenderen neuen Untersuchung wert. Wie schon gesagt, ist Euripides ein rebellischer Dichter gewesen. Es ist offenbar, daß er die überlieferten Mythen und Legenden oft sehr eigenwillig interpretiert hat. Am deutlichsten ist dies in der Elektra, in der er sich offenkundig mit seinen großen Vorgängern und wohl noch mehr mit der vorherrschenden Auffassung ihrer Stücke durch das Publikum auseinandergesetzt hat. In den Phoenissen hat er die traditionelle Einschätzung des Eteokles und Polyneikes, die sich schon in ihren Namen ausdrückt und von seinen Vorgängern übernommen worden war, umgekehrt. Aber auch eine genauere Analyse der Alkestis zeigt, daß er hier der idealistischen Auffassung des alten Märchens vom Opfertod der Frau für ihren Gatten oder Geliebten eine schonungslos realistische gegenübergestellt hat5. Ähnliches läßt sich mutatis mutandis für viele seiner Stücke nachweisen. Da nun die lason-Medea-Sage vor Euripides eine lange Geschichte gehabt hat, die sich teilweise noch rekonstruieren läßt, so ist es zweifellos eine große Hilfe für das Verständnis des Stückes des Euripides, zuzusehen, wie es sich zu der Entwicklung der Sage bis auf den Dichter verhält8. Die ersten Anfänge der Sage lassen sich nicht wie spätere Phasen ihrer Entwicklung aus Dokumenten rekonstruieren. Aber es ist möglich, die älteste greifbare Form der Sage in ihre Elemente zu zerlegen. Wie vielfach in der griechischen Sage finden wir auch hier Motive, die in ihren wesentlichen Zügen in den Märchen und Legenden der verschiedensten Völker wiederkehren und die, da in der menschlichen Natur gelegen, wohl auch unabhängig an verschiedenen Orten spontan entstanden sind. Nur dadurch unterscheiden sich die altgriechischen Märchen durchweg von denen anderer Völker, daß in ihnen niemals einfach von einem König, einem Prinzen oder einer Prinzessin die Rede ist, sondern daß alle vorkommenden Personen nicht nur jeweils eigene Namen haben, sondern auch geographisch und — innerhalb der fiktiven Sagengeschichte und Sagenchronologie — zeitlich fest lokalisiert werden. Dies gilt für die alten Griechen so allgemein, daß dem Herodot zum Beispiel aus einer Geschichte über einen anonymen Pharao, die ihm in Ägypten erzählt worden war7, ganz von selbst die Geschichte von einem zeitlich innerhalb der Abfolge der

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ägyptischen Könige fixierten König Pheros (= Pharao) wird. Man muß daher von diesen speziellen Konkretisierungen absehen, um die Motive in ihrer Reinheit zu erfassen. Das älteste Element der Sage ist wohl der Zug des lason zur Einholung des Goldenen Vlieses, auf welchem der Held Gefahren zu bestehen hat, die selbst dem größten Helden aus eigener Kraft / siegreich zu überwinden unmöglich ist, die er aber mit Hilfe der Zauberkünste und des guten Rates der Königstochter, die in Liebe zu ihm entbrennt, besteht. Dem liegt ein Motiv zugrunde, das in den verschiedensten Formen überall verbreitet ist und das sich in seiner älteren Form wohl so ausdrücken läßt, daß dem, der sich durch nichts erschrecken läßt, die göttlichen Mächte auch da beistehen, wo seine eigenen Kräfte nicht ausreichen. In einer späteren Entwicklungsphase hat sich dieses Motiv in dem etwas nüchterneren Spruch fortes fortuna adiuvat kristallisiert, und in einer ganz säkularisierten und psychologisiertenForm lebt es noch in dem Prinzip fort, daß sich die Schreckgespenster der Einbildung verflüchtigen, wenn man ihnen nur mutig ins Auge sieht. In neuerer Zeit hat es übrigens noch in Strindbergs Märchen von den Drangsalen des Lotsen einen hübschen Ausdruck gefunden. Mit diesem allgemeinen Motiv erscheint nun in der lasonsage von Anfang an verbunden das speziellere Motiv, daß in den strahlenden Helden sich die Mädchen verlieben und sich daher bemühen, ihm zu helfen, wenn er in eine Lage geraten ist, in der er sich nicht mehr selber helfen kann. Die beiden Motive der göttlichen und der menschlichen Hilfe verbinden sich dann in der Wendung, daß die Göttin der Liebe das Mädchen verliebt macht, so daß es dem Helden helfen muß: ein Motiv, das auch noch in der Tragödie des Euripides eine wichtige Rolle spielt. Es scheint nun eine älteste Form der Geschichte gegeben zu haben, in welcher die beiden genannten Motive in ihrer natürlichen Verbindung miteinder alleinherrschend waren, und auch das Happy-End, das dem Märchen natürlich ist, gewahrt blieb: Medea folgt lason in seine Heimat lolkos, und dort leben sie glücklich und in Freuden bis an ihr natürliches Ende8. Schon früh scheint sich jedoch damit noch ein weiteres Motiv ver326

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Bunden zu haben, das mit Märchen von gefährlichen Abenteuern, die ein Held zu bestehen hat, ebenfalls bei den verschiedensten Völkern sehr häufig in Verbindung gebracht wird: das Motiv, daß der Held von einem bösen Verwandten, der ihn als Rivalen fürchtet, ausgesandt wird in der Hoffnung, daß er den Gefahren erliegen und nicht wiederkehren werde. Damit erhält natürlicherweise auch der Ausgang der Geschichte eine andere Wendung. Denn nichts ist natürlicher, als daß der Held nach seiner Rückkehr an dem bösen Verwandten, dessen Absicht er inzwischen entdeckt hat, Rache nimmt. Das braucht jedoch an dem Happy-End der Geschichte im wesentlichen nichts zu ändern. Zu den Tribulationen des Helden kommt eben nur nach seiner Heimkehr — wie in anderer Form auch bei Odysseus — noch eine weitere hinzu. Aber dann ist das Happy-End wirklich erreicht. Ein besonderes und für den weiteren Verlauf der Entwicklung der Legende außerordentlich wichtiges Element wird in diesen vorläufig letzten Akt der lasongeschichte jedoch hineingetragen durch die Rolle, welche Medea in ihm spielt. Schon in den ältesten Fassungen der Sage erscheint Medea als der Zauberei kundig. Wenn auch erst aus etwas späteren Epen und lyrischen Dichtungen uns unmittelbar bekannt, scheint es doch ebenfalls ein Zug schon einer sehr alten Fassung der Sage gewesen zu sein, daß Medea nach der Rückkehr ihre Fähigkeiten dazu verwendet, lasons Vater Aison — oder nach einer anderen Fassung, die aber vielleicht nur aus einer Verwechslung der Namen Aison und lason entstanden ist, lason selbst — zu verjüngen9. Auch das gehört immer noch zu dem Happy-End, ja bedeutet offenbar zunächst nichts als eine weitere Ausmalung desselben. Mit Einführung der / Rache an Pelias wird nun aber dieses Motiv dahin abgewandelt, daß Medea durch Ausführung des Verjüngungszaubers an einem alten Widder die Töchter des Pelias dazu veranlaßt, ihren Vater zu zerstückeln, wobei jedoch der Verjüngungszauber mißlingt, weil Medea ihnen das wirkliche Geheimnis doch nicht verraten hat. Erscheint nun auch die Rache an dem Usurpator hier zunächst immer noch als durchaus legitim — wie ja die Märchen aller Völker voll sind von grausamer Rache an Bösewichtern, die als durchaus befriedigend empfunden wird — so wird doch damit Medea unvermerkt aus einer guten und wohlwollenden zu einer unheimlichen Zauberin. [36137]

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Ganz unabhängig von der Peliasgeschichte scheint zunächst eine andere Weiterführung der lason-Medea-Geschichte entstanden zu sein, welche in der Überlieferung auf die Korinthiaka des Eumelos zurückgeführt wird10. Danach hatte Aietes, der Vater der Medea, von seinem Vater Helios Korinth zum Geschenk erhalten. Er setzte zuerst Bunos, dann Epopeus, dann Korinthos als Vizekönige ein. Als danach kein geeigneter Vizekönig mehr zu finden war, riefen die Korinther nach dieser Version Medea aus lolkos als Königin herbei. Durch sie wird lason König von Korinth. Daß auch diese Version verhältnismäßig früh entstanden sein muß, geht daraus hervor, daß bis zu dem zuletzt erzählten Punkt alle düsteren Züge der Sage noch fehlen. Offenbar setzt die Version voraus, daß die Unterstützung lasons durch Medea keinen unheilbaren Bruch zwischen ihr und ihrem Vater Aietes hervorgerufen hat. Die spätere Version, daß Medea auf der Flucht ihren eigenen Bruder Apsyrtos getötet habe, ist dadurch ipso facto ausgeschlossen. Auch von einer Vertreibung des lason und der Medea aus lolkos ist keine Rede. Vielmehr handelt es sich um eine ehrenvolle Berufung auf den korinthischen Thron. Erst recht ist natürlich dadurch, daß es hier Medea ist, die auf den korinthischen Thron berufen wird, der Konflikt, der den Inhalt der euripideischen Tragödie bildet, von vornherein ausgeschlossen. An die Geschichte von der Berufung der Medea als Königin nach Korinth hat sich nun aber ein weiteres Motiv angeschlossen — es ist nicht ganz sicher, ob schon bei Eumelos selbst —, das für die weitere Entwicklung der Legende und speziell für Euripides die größte Bedeutung erlangt hat. Danach11 habe Medea die Kinder, die sie dem lason gebar, im Heratempel verborgen und versucht, sie unsterblich zu machen. Dabei sei sie von lason ertappt worden. Der Zauber sei nicht gelungen. Die Kinder starben daran. lason verweigerte Medea die Verzeihung und kehrte nach lolkos zurück. An dieser Version ist zunächst wichtig, daß sie nochmals bestätigt, daß in der Version des Eumelos von einer Vertreibung des lason und der Medea aus lolkos keine Rede gewesen sein kann. Ihr Verhältnis zu lolkos ist ungetrübt. Im übrigen handelt es sich offensichtlich um eine Parallele oder Dublette zu der berühmten Geschichte von Peleus und Thetis, die auch von Apollonios Rhodios in den Argonautica erzählt wird12. Nach dieser Geschichte bemüht sich Thetis, ihren Sohn Achilleus unsterblich und un328

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verwundbar zu machen, indem sie ihn über ein Zauberfeuer hält, das ihn ,fest* machen soll. Dabei wird sie von Peleus ertappt, der ihr voller Entsetzen das Kind entreißt und so verhindert, daß der Zauber völlig gelingt. Die Ferse bleibt verwundbar, und durch sie wird später Achilles getötet. In der Medea version sind die Folgen des Mißlingens des Zaubers unmittelbarer. Wichtig ist an dieser Version für die Weiterentwicklung der Sage natürlich vor allem, daß hier zum ersten Male die Tötung der Kinder durch Medea erscheint, wenn auch zunächst noch als eine unab- / sichtliche, und daß dies zum Anlaß eines Konfliktes zwischen lason und Medea wird, der zur Folge hat, daß lason Medea verläßt. Ist auch die Reihenfolge der Ereignisse hier die umgekehrte als bei Euripides, so wird doch auch hier wieder das Unheimliche an der Zauberin Medea, das in der letzten Fassung der lason-Pelias-Geschichte so stark hervortritt, betont. In späteren Versionen der Medeasage wird dieses Element immer weiter verstärkt. Die Reihenfolge der Entstehung der beiden folgenden Versionen läßt sich nicht mehr mit Sicherheit feststellen. Doch sind beide jedenfalls jünger als Eumelos und wesentlich älter als die Tragödie des Euripides. Nach der ersten13 empörten sich die Korintherinnen dagegen, von einer Barbarin und Zauberin beherrscht zu werden. Sie wollen daher sie und ihre Kinder töten. Die Kinder fliehen an den Altar der Hera, werden aber dennoch getötet. Hera sendet zur Strafe eine Pest. Zur Reinigung von der Blutschuld und der Befleckung des Heiligtums müssen jedes Jahr sieben vornehme Jünglinge und Jungfrauen sich dem Dienst der Hera in ihrem Tempel in Korinth weihen. Hier ist also die Geschichte mit einem Aition verknüpft. Zugleich ist mit der Siebenzahl, der doch aller Wahrscheinlichkeit nach die Zahl der getöteten Kinder entsprach, offenbar ein Element aus der Niobesage eingedrungen, wie in der zuvor erörterten Version ein Element aus der Achilleussage. — lason kommt in der überlieferten Fassung dieser Version nicht vor. Es ist aber offenbar, daß er darin, auch wenn er irgendwo genannt wurde, keine beherrschende Rolle spielen konnte, jedenfalls nicht dieselbe wie in der Tragödie des Euripides. Sehr wichtig für die Entwicklung der Legende und für das Verhältnis des Euripides zu ihr ist es, daß hier, im Gegensatz zu Euripides, die Korintherinnen nicht

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auf der Seite der Medea stehen, sondern vielmehr gerade sie es sind, die Medea vertreiben und die Kinder töten. Die zweite der späteren, aber noch voreuripideischen Versionen, wird von Didymos14 auf Kreophylos zurückgeführt. Danach tötete Medea Kreon und floh vor der Rache der Korinther nach Athen. Da sie die Kinder auf ihrer eiligen Flucht nicht mitnehmen kann, läßt sie sie im Heratempel zurück in der Hoffnung, daß lason sich ihrer annehmen werde. Sie werden jedoch dennoch dort ergriffen und auf Befehl der Verwandten Kreons getötet. Um dem Odium der Tat zu entgehen — so heißt es in einer Fassung15 dieser Version —, hätten die Korinther das Gerücht in Umlauf gesetzt, Medea habe ihre Kinder selbst getötet. In den erhaltenen Fassungen dieser Version wird weder gesagt, warum Medea und lason sich in Korinth niedergelassen haben, noch, warum Medea Kreon tötet. Aber so viel ist doch klar, daß nach dieser Version Medea nicht als Königin nach Korinth berufen worden sein kann, da ja Kreon König ist. Da sie ferner nach der Tat nicht nach lolkos, sondern nach Athen flieht, kann auch das Verhältnis zur Heimat des lason kein ungetrübtes gewesen sein. Es ist daher anzunehmen, daß in dieser Version, wie bei Euripides, vorausgesetzt war, daß lason und Medea als Flüchtlinge nach Korinth kamen. Auf der anderen Seite kann aber nach dieser Version das Verhältnis zwischen lason und Medea kein ganz schlechtes gewesen sein, da sie hofft, daß er sich der Kinder annehmen werde. Da sie ferner annimmt, daß er dazu imstande sein werde, kann er aber auch kaum in den Konflikt der Medea mit der korinthischen Regierungsgewalt verwickelt gewesen sein, es sei denn, sie erwartete, daß er den Kindern mit Gewalt zu Hilfe kommen werde. Aber im einen wie im anderen Fall muß man wohl schließen, daß diese Version mit der / unmittelbar vorher diskutierten darin übereinstimmte, daß die Korinther von der Zauberin und Barbarin Medea nichts wissen wollen, während lason an allem nur indirekt beteiligt ist. Neu ist nur, daß es Kreon ist, der die Ausweisung anordnet, und daß Medea dafür an ihm Rache nimmt. Interessant daran ist, daß jeweils in den geschichtlich späteren Versionen Ansatzpunkte der nächst früheren Version weiterentwickelt sind, und daß dabei gelegentlich unabhängig voneinander entstandene Versionen so miteinander kombiniert werden, daß ein in sich geschlossenes und plausibles Neues entsteht. So ist die Geschichte von der Verban330

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nung des lasen und der Medea aus lolkos nach Korinth das natürliche Produkt einerseits aus dem unheimlichen Charakter der Rache der Medea an Pelias, andererseits aus der Versetzung von lason und Medea nach Korinth, die ursprünglich keineswegs den Charakter einer Verbannung hat und zu der Peliasgeschichte in gar keiner Beziehung steht. Mit der zuletzt erörterten Version ist das Ende desjenigen Abschnittes der Entwicklung der Sage erreicht, der sich mit Sicherheit vor Euripides ansetzen läßt. An diesem Punkte ist es daher notwendig, einzuhalten und zuzusehen, was soweit in diesem Entwicklungsprozeß aus lason und Medea geworden ist. Daß nun Medea im Verlauf dieses Prozesses immer barbarischer und unheimlicher geworden ist, ist offensichtlich und wurde schon gesagt. Dagegen scheint lason, oberflächlich betrachtet, ziemlich unverändert aus dem Prozeß hervorgegangen zu sein. Aber bei genauerem Zusehen zeigt sich doch, daß auch er, wenn auch in fast unmerklicher Weise, sich in diesem Prozeß verändert hat; und es wird sich zeigen, daß diese unmerkliche Veränderung für das Verständnis des Dramas des Euripides von großer Bedeutung ist. Es gehört zur Natur des Märchens, daß es »idealisiert* und daß es in der Idealisierung die Dinge ins Wunderbare erhöht, oder, wenn man es prosaisch ansieht, daß es sie dem realen Leben gegenüber ,übertreibt'. Bei der märchenhaften Idealisierung des Helden nimmt dies die Form an, daß das Märchen ihn Dinge vollbringen läßt, welche über das der menschlichen Kraft Erreichbare hinausgehen. Dies kann nun auf zwei verschiedene Weisen geschehen. Entweder geschieht es derart, daß dem Helden selbst Kräfte zugeschrieben werden, welche über das menschliche Maß hinausgehen, ohne daß dabei Zauberei im eigentlichen Sinne im Spiele ist. Das ist der Fall des Herakles, der alles aus eigener Kraft vollbringt und keiner Zauberei bedarf, weder eigener noch fremder, die ihm etwa von außen zu Hilfe käme. Dem skeptischen Verstand gegenüber ist eine solche Gestalt, vor allem wenn in der Darstellung die Grenzen überschritten werden, die das Poetische vom Realistischen trennen, immer ein wenig in Gefahr, komisch zu werden. So ist denn auch Herakles später zu einer Lieblingsfigur der attischen Komödie geworden. Aber schon auf archaischen Vasenbildern wird die Muskelkraft des Herakles gelegentlich ganz absichtlich zu komischen Wirkungen benutzt16; und selbst in der

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Tragödie, wie in der Euripideisdien Alkestis, nimmt Herakles gelegentlich komische Züge an. Die andere Möglichkeit ist die, daß dem Helden andere Mächte, menschliche oder übermenschliche, zu Hilfe kommen. Das ist der Fall lasons. Hier steht es etwas anders. Am Anfang steht die ganz natürliche und im gewissen Sinn sogar berechtigte Überzeugung, daß dem Kühnen und Mutigen da, wo seine eigenen Kräfte nicht mehr ausreichen, göttliche Mächte zu Hilfe kommen. Aber wenn gar zu viele der Taten des Helden durch oder mit Hilfe anderer Mächte vollbracht werden, dann wird sein Heldentum selbst leicht als unwirklich und brüchig erscheinen können. / Eben dies ist nun in der Entwicklung der lasonsage in steigendem Maße der Fall. Schon die Taten, welche lason zur Erlangung des Goldenen Vlieses vollbringt, werden alle nur mit Hilfe der Medea vollbracht. Aber hier bedarf es doch immer noch seines eigenen Mutes, um die Gefahren zu bestehen und die Tat zu vollbringen. Bei den Geschichten, die sich später daran angeschlossen haben, ist dies anders, obwohl es sich hier fast überall um Dinge handelt, die keine übermenschlichen Fähigkeiten verlangen. Seinen bösen Oheim Pelias mit Hilfe seiner Freunde und Gefährten in offenem Kampfe zu bekämpfen, sollte doch wohl für einen Helden wie lason nicht unmöglich gewesen sein. Aber die, wenn auch legitime, Rache wird durch Medea mit Hilfe ihrer Künste allein vollzogen163. Nicht nur zum Herrscher von lolkos, sondern auch zum Herrscher von Korinth wird lason in der älteren Version allein durch Medea. Welche der vielen erhaltenen Versionen von der Tötung des Apsyrtos älter sind als Euripides, läßt sich nicht mehr mit Sicherheit feststellen. Aber nur in einer von ihnen wird Apsyrtos von lason getötet17, und auch da nicht im ehrlichen Kampf, sondern nachdem er von Medea und durch Verrat in einen Hinterhalt gelockt worden ist. Damit bekommt das Heldentum von lason unvermeidlich etwas Brüchiges. In der Entwicklung der Sage bis auf Euripides hatte sich also an das ursprüngliche und naive Märchen schon mancherlei angesetzt, was mit dem ursprünglichen Sinn des Märchens nicht mehr übereinstimmte, so daß die zuletzt entstandenen Versionen schon manche widersprüchlichen Elemente enthielten. Für einen Dichter wie Euripides, der die tragischen Konflikte für seine Dramen immer wieder dadurch gewann, daß er die 332

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im einen oder im anderen Sinne idealisierten, das heißt ins Übermenschliche oder jedenfalls ins Uberalltägliche gesteigerten, menschlichen Beziehungen der Sage in die unerbittliche Realität gegenwärtigen Lebens zurückübertrug, mußte der Stoff gerade in dieser Form die großartigsten Möglichkeiten für eine tragische Behandlung bieten. Eben deshalb ist es wichtig, zu wissen, was er vorfand, um das, was er daraus gemacht hat, voll zu verstehen. Es gibt nun noch einige Versionen der Sage, die dem Inhalt der Tragödie des Euripides sehr viel näher stehen als die bisher besprochenen, von denen sich jedoch nicht mit unbedingter Sicherheit nachweisen läßt, daß sie älter sind als die Medea des Euripides. Der Perieget Pausanias18 erwähnt einen Glauke-Brunnen in Korinth, in den sich die Tochter Kreons gestürzt haben sollte, um den Brand des vergifteten Gewandes zu löschen, das ihr Medea zum Geschenk gemacht und das die Unglückliche angelegt hatte. Der Schluß, daß diese Version älter sein müsse als Euripides und unabhängig von ihm, weil sie sich an eine konkrete örtlichkeit knüpft und weil bei Euripides von einem / Brunnen nicht die Rede ist, kann nicht als zwingend betrachtet werden, da die Phantasie, wenn sie einmal durch die Tragödie angeregt war, die Dinge immer weiter ausspinnen konnte, und es auch sonst Beispiele dafür gibt, daß auch in nacheuripideischer Zeit noch neue Sagenaitia aufgekommen sind, die sich an bestimmte örtlichkeiten knüpften. Doch finden sich bei Hygin19 Spuren einer ähnlichen Version der Sage, nach welcher lason, Glauke, und Kreon von Medea vergiftet wurden. Hier fehlt also der Mord an den Kindern, an deren Stelle lason tritt. Das ist eine einfachere Version als diejenige des Euripides. Aber ein bündiger Beweis dafür, daß sie darum älter sein muß als diese, ist dies natürlich auch nicht. Über die Ermordung der Kinder durch Medea selbst gab es später eine natürlich apokryphe Tradition30: Euripides habe von den Korinthern fünf Talente dafür bekommen, daß er das Odium der Untat des Kindermordes von ihnen genommen und auf Medea übertragen habe. Die Geschichte hat natürlich zur Voraussetzung, daß Euripides der erste war, der die Ermordung der Kinder durch Medea in die Sage einführte. Aber eine Garantie dafür, daß die Urheber der Geschichte darüber genau informiert waren, gibt es nicht, zumal da die korinthische Version ja bekannt war und unter etwaigen Versionen, die den Mord Medea zuschrie[40141]

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ben, die Tragödie des Euripides natürlich bei weitem die bekannteste war. Viel wichtiger jedoch ist ein anderes Problem. Nach der Hypothesis zur Medea des Euripides berichteten Aristoteles und Dikaiarch übereinstimmend, daß die Medea, des Euripides eine Umarbeitung eines Stückes eines sonst nicht näher bekannten Tragödiendichters Neophron gewesen sei. Aus der Medea eines Neophron haben sich nun drei Fragmente21 erhalten, welche dem Stück des Euripides allerdings außerordentlich nahestehen. In dem ersten Fragment kommt Aigeus zu Medea, um sich von ihr einen Spruch der Pythia auslegen zu lassen, da er von ihrer Weisheit gehört hat. Sein Kommen ist also in gewisser Weise besser motiviert als bei Euripides, wo er nur zufällig nach Korinth kommt und mit Medea ins Gespräch gerät. In dem zweiten Fragment scheint Medea mit sich zu ringen, ob sie ihre Kinder töten soll. Damit wäre also, wenn Neophron früher ist, eben das Motiv, durch das sich die Tragödie des Euripides von allen ändern Versionen der Sage unterscheiden soll, schon vorweggenommen gewesen. In dem dritten Fragment prophezeit Medea lason, daß er sich erhängen wird. Die Annahme liegt daher nahe, daß er durch die Tötung der Kinder zum Selbstmord getrieben werden sollte. Nun hat U. v. Wilamowitz22 vor vielen Jahren diese ganze Tragödie des Neophron für „eine böswillige tendenziöse peloponnesische Fälschung" erklärt und sein Anathema ausgesprochen über „die dorischen Neidharte", die „den Athenern den Ruhm nicht gönnten". Aber bei allem Respekt für den großen Philologen darf man hier doch wohl sagen, daß diese Erklärung gar zu unwahrscheinlich ist28. Zunächst ist es an sich schon nicht recht zu glauben, daß jemand sich die Mühe gemacht haben sollte, eine ganze Tragödie zu verfassen, nur um den Euripides des Plagiats beschuldigen zu können, und weil er den Athenern nicht gönnte, ein so großes Kunstwerk aus eigener Erfindung hervorgebracht zu haben. Dann ist nicht einzusehen, warum er zu solchem Zweck sich / gerade die Medea des Euripides herausgesucht haben sollte. Die Annahme von Wilamowitz setzt ganz naiv die moderne Einschätzung der Medea des Euripides voraus, während wir doch durch ganz unbezeifelbare Überlieferung wissen, daß das Stück bei den Zeitgenossen keineswegs besonderen Beifall gefunden hat. Endlich sind die Fragmente nicht in dorischem Dialekt abgefaßt, wie es doch der Fall sein müßte, wenn 334

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die Tragödie des Neophron als Beispiel sikyonischer Dramatik der athenischen des Euripides hätte entgegengesetzt werden sollen. Damit fällt auch die zweite Voraussetzung für Wilamowitz' Annahme dahin. Handelt es sich aber um eine attische Tragödie, so können wiederum Aristoteles und Dikaiarch, die im Besitz der Didaskalien waren, sich kaum über das Zeitverhältnis geirrt haben24. Daran würde sich selbst dann kaum etwas ändern, wenn man den Namen des Aristoteles für eine Korruptel für Aristophanes (von Byzanz) halten sollte. Zwar hat man darauf aufmerksam gemacht, daß sich in den Fragmenten drei Worte oder Wortverbindungen finden, die in der attischen Dichtung des fünften Jahrhunderts nicht oder erst in späteren Studien des Euripides vorkommen. Aber die uns erhaltene Literatur reicht ja bei weitem nicht aus, um uns zu erlauben, mit Sicherheit zu sagen, was für Wörter in Athen vor oder erst nach 431 in einer Tragödie vorkommen konnten, sofern es sich nicht um offenkundige Verstöße gegen die attische Sprache überhaupt handelt, was hier durchaus nicht der Fall ist. Hält man nun aber trotz der guten Bezeugung auf Grund von solchen Beobachtungen oder sonstigen Bedenken an der Unechtheit fest, so ist man schließlich zu so verzweifelten Auskünften gezwungen wie daß es einen Tragödiendichter Neophron vor Euripides gegeben habe, der möglicherweise auch eine Medea verfaßt habe, daß aber die erhaltenen Fragmente nicht von diesem stammten, sondern von einem jüngeren Neophron25. Der eigentliche Grund, weshalb die Fragmente fast einstimmig für nacheuripideisch angesehen und die auf Aristoteles und Dikaiarch zurückgeführte Überlieferung angezweifelt wird, liegt aber natürlich nicht in sprachlichen Beobachtungen, sondern darin, daß man es nicht glauben kann, daß Euripides sich so eng an das Stück eines Vorgängers angeschlossen haben sollte. Aber eben darin liegt das Problem. Ganz abgesehen von den sehr beträchtlichen Schwierigkeiten, in die man sich verwickelt, wenn man die Unechtheit der Fragmente des Neophron verteidigen will, ist es doch wohl auch nötig, sich die Frage vorzulegen, was denn eigentlich wahrscheinlicher ist: daß ein obskurer Tragödiendichter Neophron sich so eng an Euripides angeschlossen hat, wobei er doch riskieren mußte, daß jedermann sofort gerufen hätte: Das ist ja von Euripides!, oder daß ein rebellischer großer Dichter wie Euripides, der notorisch mehrfach die überlieferte Sage einschließlich der von seinen

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Vorgängern gegebenen Versionen auf den Kopf gestellt hat, sich einmal ganz eng an eine von einem Vorgänger erfundene Version angelehnt hat: was dann freilich nur zu dem Zwecke geschehen sein kann, ihr einen ganz neuen Sinn und tragischen Inhalt zu geben. Stellt man die Frage in dieser Weise, so erscheint es mir als durchaus nicht unwahrscheinlich, daß die Entwicklung der Sage vor Euripides durch Neophron ihrem rein faktischen Inhalt nach noch sehr viel näher an die Fassung, die ihr Euripides gegeben hat, herangeführt worden war, als sich aus den nachweisbar voreuripideischen Versionen entnehmen läßt. Mit absoluter Sicherheit kann man dies allerdings nicht beweisen. / Als historisch völlig gesicherte, zugleich aber entscheidend wichtige Voraussetzung für das Drama des Euripides bleibt daher nur, daß das Bild der Medea sich im Laufe der Entwicklung immer mehr verdüstert hat, bis sie ganz zur schrecklichen Barbarin und unheimlichen Zauberin geworden war. Dagegen war das Bild des lason als Helden im wesentlichen von Flecken frei geblieben. Das Brüchigwerden seines Heldentums, von dem wir gesprochen haben, ist in den späteren Versionen nur implizite vorhanden und dadurch allerdings, wie sich zeigen wird, für Euripides von fundamentaler Bedeutung geworden. Aber es gibt keine Anzeichen dafür, daß diese Brüchigkeit seines Heldentums schon vor Euripides irgendwo offen und bewußt zum Ausdruck gebracht worden wäre. Es ist nun wohl notwendig, der Interpretation der Euripideischen Tragödie eine kurze Erörterung der Prinzipien der Interpretation dramatischer Kunstwerke im allgemeinen und antiker Tragödien im besonderen vorauszuschicken. Nicht als ob es sich hier um besonders schwierige und tiefliegende Dinge handelte. Vielmehr ist das, was hier zu sagen ist, im Grunde ganz elementar, ich möchte fast sagen trivial, da es sich eigentlich von selbst versteht. Es ist aber trotzdem notwendig, diese elementaren Prinzipien deutlich auszusprechen, da praktisch in der Interpretation antiker Tragödien unaufhörlich dagegen verstoßen wird. Zunächst etwas zur Interpretation einzelner Stellen. Wenn auch die Tragödien des Euripides später viel gelesen worden sind, so waren sie doch von ihrem Urheber nicht als Lesedramen gedacht, sondern für die Aufführung bestimmt. Daraus ergibt sich die Regel, daß in einzelne Stellen nichts hineininterpretiert werden darf, was der Zuschauer selbst 336

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bei aufmerksamem H ren an der betreifenden Stelle, d. h. auf Grund des bis dahin geh rten Teiles des St ckes, unm glich aus ihnen heraush ren kann. Dies Prinzip erleidet nur eine einzige, allerdings au erordentlich wichtige Ausnahme, die freilich im eigentlichen Sinne keine Ausnahme ist. Da der Dichter im allgemeinen zugleich Regisseur war, und da Regiebemerkungen im Altertum nicht in das Manuskript der Dramen aufgenommen wurden, ist es m glich, da der Dichter manchen Stellen einen Sinn gab, der beim Lesen nicht notwendig sofort bemerkt wird, der aber durch den Schauspieler auf Anweisung des Dichters durch Aussprache und Betonung f r den Zuschauer unmittelbar deutlich gemacht werden konnte. Der moderne Interpret hat also unter anderem die Aufgabe, zu versuchen, das Gesch ft des antiken Regisseurs nach M glichkeit nachzuvollziehen, eine Aufgabe, die von den nur an den Umgang mit schriftlichen Texten gew hnten Philologen meist v llig vernachl ssigt wird. Ich will f r beides nur je ein Beispiel geben. Gleich zu Anfang des Prologes des St ckes20 spricht die Amme den Wunsch aus, da die Argo niemals nach Kolchis gekommen w re. Denn dann h tte auch Medea niemals ihr Heimatland verlassen. Dann, sagt sie, w re sie auch nicht, nachdem sie die T chter des Pelias berredet hatte, ihren Vater zu t ten, nach Korinth gekommen ξύν άνδρί και τέκνοισιν, άνδάνουσα μεν φυγή πολιτών ων άφίκετο χθόνα, αυτή τε πάντα ξυμφέρουσ' Ίάσονι ηπερ μεγίστη γίγνεται σωτηρία, όταν γυνή προς άνδρα μη διχοστατη. / Dann f hrt die Amme fort: νυν δ' έχ·θρά πάντα και νοσεί τα φίλτατα. Nach der Meinung von Page in seinem sonst in vieler Hinsicht vortrefflichen Kommentar27 soll man hier zu άνδάνουσα μεν und zu αύτη τε in dem ersten Abschnitt hinzuverstehen μισουμένη δε υπό του ανδρός. Es ist aber nicht schwer, zu sehen, da es f r den Zuschauer bei den vielen verschiedenen Versionen der Medeasage, die damals umliefen, gar nicht m glich war, dies aus den Versen herauszuh ren, da er gar nicht wissen konnte, was der spezielle Inhalt des Dramas sein werde. Aus demselben Grunde konnte es ihm auch kein Schauspieler durch besondere Aussprache oder Betonung suggerieren. Im brigen folgt auch das dem μεν von άνδάνουσα μεν entsprechende δε in νυν δ' έχθρα πάντα und kann daher auch [43144]

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nicht in Gedanken vorweggenommen werden. Durch die von Page vorgeschlagene Interpretation wird aber ein sehr wesentliches Element der Gesamtinterpretation des St ckes, n mlich die Auffassung des Verh ltnisses des lason zu Medea pr judiziert. Diese Art, eine bestimmte Gesamtinterpretation des St ckes in eine Stelle zu Anfang hineinzuinterpretieren, wo sie vom Zuh rer, selbst wenn sie richtig w re, unm glich beim H ren aufgefa t werden kann, ist illegitim. Als Beispiel f r die zweite M glichkeit nehme ich eine Stelle aus dem gro en Streitgespr ch zwischen lason und Medea in der Mitte des St ckes. Hier wirft gleich zu Anfang lason Medea vor, sie handle ganz sinnlos und gegen ihre eigenen Interessen, wenn sie Drohungen gegen den Beherrscher der Stadt, Kreon, aussto e. Damit k nne sie nur sich selber schaden. Darauf folgen die Verse (451 ff.): κάμοί μεν ουδέν πράγμα* μη παύση ποτέ λέγουσ' Ίάσον' ως κάκιστος έστ' άνήρ. α δ' ες τυράννους εστί σοι λελεγμένα παν κέρδος ήγοΰ ζημιουμένη φυγή. Dies wird nun meistens bersetzt: „Nun. Mir ist es gleichgiltig. Meinetwegen kannst du nicht aufh ren, den lason einen Schurken zu hei en. Aber deine Drohungen gegen das Herrscherhaus bringen dir keinen anderen Gewinn als die Verbannung." Aber die Worte „Mir ist es gleichgiltig" sind ja kein sehr sinnvoller Gegensatz zu „Aber deine Drohungen gegen das Herrscherhaus k nnen dir nur Schaden bringen", wenn auch bei Diskussionen zwischen Waschfrauen — aber lason, was immer seine Fehler sein m gen, ist keine Waschfrau — gelegentlich so geredet werden mag. L t man dagegen den Schauspieler das έμοί betonen und danach eine ganz kurze Pause machen, so bedeuten die Worte nicht mehr „mir ist es gleichgiltig", sondern „Nun, mir gegen ber macht es nichts aus. Mich kannst du beschimpfen, so viel du willst (ich tu dir nichts zuleide, was immer du auch tust). Aber gegen die Herrscher mu t du keine Drohungen aussto en. Denn damit schadest du nur dir selbst". Damit bekommt der ganze Zusammenhang einen sehr viel besseren Sinn; und hier kann der Schauspieler durch richtige Betonung den Zuschauer unmittelbar veranlassen, den Satz richtig zu verstehen. Auch in diesem Falle aber ist die richtige Auffassung des Satzes f r die Gesamtauffassung des Verhaltens des lason Medea gegen ber nicht ohne

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Bedeutung. Denn es macht doch wohl einen wesentlichen Unterschied, ob lason zu Medea sagt „Mir ist es gleichgiltig, was mit dir geschieht" — eine Äußerung, die übrigens, wie später zu zeigen sein wird, mit dem ganzen Tenor seiner Rede in Widerspruch stehen würde — oder ob er sagt „Nun, mich kannst du beschimpfen, so viel du willst. Aber beschimpfe doch nicht den Herrscher der Stadt. Damit ziehst du dir nur selber Schaden zu / (was ich auf jede Weise verhindern möchte)1*. Ob lason, wenn er so redet, ein Heuchler ist, ist eine ganz andere Frage. Aber um die tieferen Hintergründe seines Handelns und Redens verstehen zu können, ist doch wohl nötig, zunächst einmal den einfachen Wortsinn dessen, was er sagt, richtig zu verstehen. Auch in bezug auf die Gesamtinterpretation antiker Tragödien ist es jedoch notwendig, Warnungstafeln nach entgegengesetzten Richtungen hin aufzustellen. Auf der einen Seite gab es und gibt es noch, vor allem in Deutschland, eine starke Tendenz, in die Interpretation antiker Tragödien und vor allem in die moralische und sonstige Beurteilung der Handlungen und der Charaktere moderne romantische Vorstellungen und Wertungen hineinzutragen, welche der gesamten Antike völlig fremd waren. Auf der anderen Seite ist seit dem Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts, wiederum vor allem in Deutschland, aber in etwas anderer Form auch in den angelsächsischen Ländern, eine Richtung aufgekommen, welche dazu neigt, für die antike Tragödie völlig andere Gesetze zu postulieren als die für das moderne Drama geltenden. Diese Richtung erhielt in Deutschland ihren Anstoß durch die an sich durchaus berechtigte Reaktion gegen die verbürgerlichend-sentimentalisierende Interpretation der Tragödien des Sophokles in den Kommentaren von Ewald Bruhn, in den angelsächsischen Ländern durch eine Reaktion gegen die moralisierende Interpretation der griechischen Tragödie überhaupt. Sie führte zu der Theorie, daß es den antiken Dramatikern nur auf Theaterwirksamkeit angekommen sei, und gipfelt in der vor allem wieder in Deutschland weit verbreiteten Meinung, daß die antiken Dramatiker weder an einer Einheit der Handlung noch gar an einer Einheit der Charaktere interessiert gewesen seien, sondern nur die höchstmögliche Wirkung der einzelnen Szenen auf den Zuschauer angestrebt hätten. Wieder eine andere Gruppe moderner Interpreten — oder man muß in diesem Fall schon eher sagen, von Bewunderern der antiken Tragödie, [44145]

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denn von Gesamtinterpretation eines Stückes kann bei einer solchen Auffassung schon nicht mehr die Rede sein — betonte infolge einer ähnlichen Reaktion gegen frühere Interpretationsversuche den streng klassischen, fast hieratischen, Charakter der Kunst des fünften Jahrhunderts. Dieser bedinge es, daß von dramatischen Kunstwerken dieser Zeit jede psychologische' Interpretation, ja jeder Versuch, die Handlungen der Charaktere nach auch uns verständlichen Kriterien menschlich verstehen zu wollen, aufs strengste ferngehalten werden müsse. Die Auffassung dieser Gruppe gipfelt in dem Ausspruch von A. von Blumenthal, die Helden der griechischen Tragödie stünden so hoch über uns, daß wir sie überhaupt nicht verstehen könnten. War nun auch die Reaktion gegen einseitige und mangelhafte frühere Interpretationsversuche durchaus berechtigt, so schießen die genannten Meinungen doch offenbar weit über das Ziel hinaus. Beide setzen sich im übrigen in direkten Widerspruch zu Aristoteles, der in seiner Poetik ausdrücklich konstatiert hat28, daß es der schlimmste Kompositionsfehler einer Tragödie sei, wenn sie ,episodischc sei, d. h. aus Szenen bestehe, die nicht den genauesten Zusammenhang miteinander besitzen, und der von dem Helden einer Tragödie gesagt hait, er müsse sein, d. h., er müsse wesentlich so sein wie wir, wenn auch vorzugsweise etwas besser, weil wir sonst beim Anblick seines Schicksals nicht Schrecken und Jammer empfinden könnten, wie es dem Wesen der Wirkung einer Tragödie entspreche. / Nun ist demgegenüber behauptet worden, schon Aristoteles habe eben die Tragödie des fünften Jahrhunderts nicht mehr richtig verstanden. Aber die Richtigkeit seiner Behauptungen läßt sich doch wohl plausibel machen. Wenn ein so scharfer Beobachter wie Aristoteles aus der Analyse einer enorm großen Anzahl von Tragödien, von denen wir nur noch einen Bruchteil besitzen, das Gesetz der Einheit der Handlung abgeleitet hat, so müßte es doch wohl seltsam zugehen, wenn es dort gar nicht zu finden gewesen wäre, und es dürfte dann doch wohl eher an den modernen Interpreten liegen, die sie da, wo sie vorliegt, nicht gesehen haben. Im übrigen handelt es sich um ein so grundlegendes, allgemeines, der dramatischen Kunst inhärentes Gesetz, daß wir, wenn wir ehrlich sein wollen, den griechischen Tragödien den Charakter großer Kunstwerke absprechen müßten, wenn dies Gesetz in ihnen nicht beachtet 340

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wäre. Was aber das menschliche Verständnis der Charaktere angeht, so ist die Meinung, die griechische Tragödie sei so esoterisch gewesen, daß außer dem Dichter selbst und vielleicht ein paar wenigen Auserwählten sie niemand verstehen konnte, völlig absurd bei Kunstwerken, die dazu bestimmt waren, vor der gesamten Bevölkerung von Attika aufgeführt zu werden. An dieser Stelle ist es daher wohl nötig, den Begriff des Verständnisses eines dramatischen Kunstwerks überhaupt etwas zu klären. Jedes Drama, das etwas taugt, muß im Handeln und Leiden der in ihm auftretenden Personen, und damit auch in bezug auf ihre Motive und Empfindungen, wie Aristoteles sehr richtig hervorgehoben hat, der Gesamtheit der Zuhörer, soweit sie nicht geistig oder seelisch verkrüppelt sind, unmittelbar so weit verständlich sein, daß sie mit diesen empfinden, daß sie beim Anblick ihres Schicksals Schrecken und Jammer empfinden können. Ein Drama, das darin esoterisch sein wollte, das sich darauf kaprizierte, Gestalten auf die Bühne zu stellen, die so weit über uns stehen, daß wir sie überhaupt nicht verstehen können, hätte ipso facto seinen Zweck verfehlt. Aber es ist freilich etwas ganz anderes, dieses unmittelbare gefühlsmäßige Verständnis zu haben oder dies Verständnis in das Licht der Reflexion zu erheben, sich über die Gründe der gehabten Empfindungen klarzuwerden, die Absichten des Dichters zu erkennen und den auf der Bühne dargestellten Konflikt in seiner Tiefe zu verstehen. Hier gibt es eine ganze, aber kontinuierliche, Skala von der oberflächlichsten und einseitigsten Auffassung bis zum tiefsten Verstehen. Die Alkestis des Euripides ist, wie ich hier zu zeigen versucht habe29, ein Beispiel dafür, daß selbst geniale Dichter zwar beim Anschauen oder Lesen des Stückes genau das empfinden konnten, was sie nach der Absicht des Dichters empfinden sollten, und sich doch über die Absicht des Dichters täuschen, so daß sie glaubten, sein Stück verbessern zu müssen: freilich nur, um dann zu ihrem eigenen Erstaunen erfahren zu müssen, daß mit der vermeintlichen Verbesserung gerade das, was die tiefste und stärkste Wirkung des Originals ausgemacht hatte, verlorengegangen war. Aber selbst auf dieser höheren Ebene des Verstehens ist noch eine fundamentale Unterscheidung zu treffen. Wenn eine Gruppe von modernen Interpreten darauf besteht, daß man die Gestalten der antiken Tragödie nicht psychologisch' interpretieren dürfe, so ist daran richtig, daß die

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Gestalten des Aeschylus nodi verhältnismäßig wenig individualisiert sind. Obwohl sie keineswegs so form- und farblos bleiben, daß man sie etwa miteinander vertauschen könnte, kann man doch sagen, daß an ihnen wesentlich allgemein menschliches Handeln und Leiden demonstriert wird. Aber ob und wieweit ähnliches auch für Sophokles und Euripides gilt, kann nicht nach allgemeinen Vorstellungen / davon, wie die Kunst des fünften Jahrhunderts auszusehen habe, entschieden werden. Was der Dichter den Personen seiner Dramen an Individualität, an besonderen Neigungen, Leidenschaften, Eigenschaften des Temperaments, an durch Geburt oder Tradition und Umgebung bedingten Grenzen der Einsicht und dergleichen mitgegeben hat, kann nur aus der Dichtung selbst jeweils entnommen werden. Im übrigen ist in dieser Hinsicht der Wille und die Absicht des Dichters, soweit sie sich bei sorgfältiger Beobachtung erkennen lassen, für die Interpretation absolut verbindlich, obwohl es natürlich möglich ist, die Absichten des Dichters in dieser Hinsicht nicht nur falsch oder richtig, sondern auch tiefer oder weniger tief zu verstehen. Nicht ganz so steht es mit der moralischen oder sonstigen Wertung und Beurteilung der zur Darstellung kommenden Konflikte, Handlungen und Leiden. Je größer eine dramatische Dichtung ist, um so mehr ist das, was sie auf die Bühne stellt, ein wirkliches Stück Leben, daher nicht etwas, das wie ein Rechenexempel aufgeht, und nicht etwas, worüber Menschen ein abschließendes und endgültiges Urteil fällen könnten. In dieser Hinsicht ist es daher nicht nur möglich, sondern auch erlaubt und fruchtbar, über den Inhalt einer dramatischen Dichtung über den Dichter hinaus, oder selbst gegen ihn, zu philosophieren. Wie aus seiner Vorrede hervorgeht, hat zum Beispiel Bernard Shaw sein Stück ,Getting Married' geschrieben, um für eine Liberalisierung der Ehescheidungsgesetze Propaganda zu machen. Aber da er trotz seiner Neigung zu Paradoxien und zum Predigen ein wirklicher Dichter war, hat er ein so wirkliches Stück Leben auf die Bühne gestellt, daß es viel mehr enthält, als er um der Theorie und Propaganda willen hineinlegen wollte. Vor allem zeigt er aufs deutlichste, daß die Konflikte und Schwierigkeiten, die hier auftreten können, viel tiefer liegen, als daß sie durch eine wie immer geartete Gesetzgebung gelöst oder vermieden werden könnten. Es ist daher sehr wohl möglich, gerade auf Grund seines 342

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Stückes zu dem Schluß zu kommen, daß die Ehe trotz allem unauflöslich sein müsse, oder der Meinung der Figur des Father Anthony zuzustimmen, der der Überzeugung ist, daß nur die völlige Enthaltsamkeit und Ehelosigkeit eine wirkliche Lösung darstelle. Ebenso erweist sich Jean Paul Sartre als wirklicher Dichter dadurch, daß man über die aus seinen Dramen zu ziehenden praktischen Konsequenzen mit ihm völlig verschiedener Meinung sein kann, die Lebensechtheit der von ihm auf die Bühne gestellten Charaktere und ihrer Konflikte aber durchaus anerkennen muß. Noch größere Dichter freilich, wie Shakespeare, haben von vornherein nicht den Versuch gemacht, ihren Hörern oder Lesern praktische Folgerungen oder moralische Beurteilungen aufzudrängen, sondern sich darauf konzentriert, ein Stück Leben in seiner ganzen Mannigfaltigkeit, Fülle und Tiefe auf die Bühne zu stellen, über welches ein abschließendes Urteil zu fällen für Menschen eben deshalb nicht möglich ist. Wie es damit bei Euripides steht, kann wiederum nur eine eingehende Betrachtung seines Werkes selbst erweisen. In der Medea, des Euripides gibt es nun vieles: das allmähliche Erwachen der Medea aus ihrem dumpfen Dahinbrüten, den wilden Ausbruch ihrer leidenschaftlichen Klagen, das Reifen ihres Entschlusses, sich zu rächen, ihre Selbstbeherrschung in den Vorbereitungen zur Durchführung dieses Entschlusses, das Ringen zwischen ihrer Mutterliebe und dem Entschluß sich durch Tötung der Kinder an ihrem treulosen Gatten zu rächen, und vieles andere, was von dem Dichter mit unvergleichlicher Kunst dargestellt ist und vom Zuschauer unmittelbar mitempfunden wird. Dabei pflegt denn auch die Interpretation vor allem zu verweilen. Dagegen ist die Interpretation des Konfliktes zwischen lason und Medea bisher selten weit über die Gegenüberstellung der ,dämoni- / sehen, aber großartigen Leidenschaftlichkeit' oder auch der ,barbarischen Wildheit' der Medea mit dem ,kleinlichen Egoismus' oder der Jämmerlichkeit' des lason hinausgekommen. Auch zeigen sowohl die Interpretationen einzelner Verse, von denen ich zu Anfang zwei Beispiele gegeben habe, ebenso wie vor allem die auch hier zahlreich auftretenden Interpolationstheorien, daß hier vieles noch nicht verstanden ist. Und doch liegt in diesem Konflikt der Kern des ganzen Dramas. Denn die Darstellung der Leidenschaftsausbrüche eines einzelnen Menschen und selbst seines Kampfes mit sich selbst ist für sich genommen noch kein Gegenstand für ein Drama, [47148]

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das vielmehr einen Gegenspieler verlangt. Ebenso ist, daß eine Frau von ihrem Gatten verlassen wird, für sich genommen noch kein ausreichender Stoff für eine Tragödie. Ja, selbst daß ein ,dämonisches Weib' an einen Jämmerling' geraten ist, wie es von manchen Interpreten dargestellt wird, dürfte für sich genommen eher zum Gegenstand eines Schmierenmelodramas als zum Gegenstand einer antiken Tragödie geeignet sein. Auf die Besonderheit des Konfliktes kommt es offenbar für das Verständnis der Tragödie des Euripides an.

Fast alles, was für den Konflikt zwischen lason und Medea und seine menschlichen und persönlichen Voraussetzungen kennzeichnend ist, kommt in der einen großen Szene ihrer ersten Begegnung zum deutlichsten Ausdruck, die am Ende des ersten Drittels des Dramas steht30. Sie bedarf daher einer besonders sorgfältigen Interpretation. Es ist lason, der aus eigenem Antrieb zu Medea kommt. Er ist es auch, der die Aussprache eröffnet, und er beginnt damit, ihr wegen ihrer seiner Meinung nach sinnlosen Drohungen und Zornausbrüche, mit denen sie nur sich selber schade, Vorwürfe zu machen. Sie hätte, sagt er ihr, im Lande bleiben können, wenn sie es über sich gebracht hätte, die Dinge ruhig und gelassen zu nehmen. Nur durch ihre wilde Unbeherrschtheit habe sie selbst es verschuldet, daß sie nun mit den Kindern außer Landes müsse. Aber wenn sie auch noch so große Beschimpfungen gegen ihn ausstoße, so könne er doch nicht verhindern, daß er ihr immer noch wohlgesinnt sei. Deshalb wolle er ihr, soweit es in seiner Macht stehe, helfen und zu verhindern suchen, daß sie in der Fremde mit den Kindern in Not gerate. An dieser Stelle wird er von Medea unterbrochen. Sie nennt ihn einen Feigling31: das Schlimmste, wie sie sagt, das eine Frau einem Mann vorwerfen kann. Es sei kein Mut, sondern Schamlosigkeit, wenn jemand wage, den ihm Nahestehenden, nachdem er sie beleidigt und ihnen Unrecht getan habe, ins Gesicht zu sehen. Sie hält ihm vor, was sie alles für ihn getan und geopfert hat. Sie erinnert ihn an die Eide, die er ihr geschworen und die er nun gebrochen habe. Sie fragt ihn, wohin sie sich 344

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denn nun wenden solle, nachdem sie sich seinetwegen die Menschen bei ihr zu Hause in Kolchis, aber auch in seiner eigenen Heimat in lolkos, und schließlich überall zu Feinden gemacht hat. Sie schließt mit der Klage an Zeus, warum er es den Menschen möglich gemacht habe, echtes von falschem Gold durch das einfache Mittel des Probiersteines zu unterscheiden, den menschlichen Schurken aber kein Merkmal aufgeprägt habe, durch das man sie leicht als solche erkennen kann. lason versucht sich in einer fast ebenso langen Rede zu rechtfertigen. Er versucht Medeas Verdienste um ihn herabzumindern; nicht als solche, sondern ihren Motiven nach: sie habe, sagt er ihr, / ja gar nicht aus freiem Entschluß gehandelt, sondern unfrei unter dem Zwang der Göttin Kypris. Was sei daran also von persönlichem Verdienst? Im übrigen habe sie mehr von ihm empfangen, als sie ihm gegeben habe. Denn er habe sie aus dem Barbarenland in ein Land höherer Rechtsordnung gebracht. Durch ihn allein auch habe sie Ruhm erworben, ohne den das Leben nicht lebenswert sei. Vor allem aber sei alles, was er jetzt geplant und ins Werk gesetzt hätte, und wegen dessen sie ihm so sehr zürne, zu ihrem eigenen und der gemeinsamen Kinder Vorteil und Nutzen geplant gewesen. Nicht weil er sich in das hübsche Gesicht der Königstochter vergafft habe und nicht, um von dieser Kinder zu bekommen (obwohl er auch impliziert, daß er wohl solche bekommen werde), sei er auf das Angebot der Ehe mit ihr eingegangen, sondern um für sich und seine Familie, vor allem aber für die Kinder, bessere Lebensbedingungen zu schaffen. Hätte er eine so herrliche Gelegenheit ungenützt lassen sollen? Sie seien doch beide über das Alter der Verliebtheit hinaus. Sie hätten doch Kinder zusammen gehabt, für deren Zukunft sie nun sorgen müßten. Habe es denn da Sinn und Verstand, sich um der bloßen Bettgemeinschaft willen aller Vorteile selbst zu berauben? An diesem Punkt wird er von Medea mit der Frage unterbrochen, warum er denn, wenn er Pläne für die Zukunft gehabt habe, die er ihr gegenüber verteidigen zu können glaube, sie dann nicht vorher mit ihr besprochen habe. Eben deshalb, ist seine Antwort, weil er ihren leidenschaftlichen und unvernünftigen Charakter gekannt habe, sei er gezwungen gewesen, sie vor vollendete Tatsachen zu stellen, damit sie seine Pläne nicht schon im Entstehen durchkreuze. Zum Schluß wiederholt lason noch einmal: nur ihre eigene Unvernunft, die das Glück, das ihnen [48149]

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beiden in den Schoß gefallen sei, nicht habe als solches erkennen wollen, sei daran schuld, daß sie nun in die Verbannung gehen müsse, statt alle Vorteile eines Lebens am korinthischen Königshof zu genießen. Jedem, der die dieser Szene vorangehenden Szenen gelesen oder gehört und Medea in ihren leidenschaftlichen Ausbrüchen verstanden hat, muß der Atem stocken, wenn er hört, was lason in dieser Szene zu Medea sagt, da er gewahr sein muß, daß jedes Wort, das aus seinem Munde kommt, Medea noch rasender machen muß. Und doch kann man gerade auch die Tragödie der Medea selbst nicht ganz verstehen, wenn man ihr in allem zustimmt und lason nur für einen Heuchler hält. Zum mindesten ist es nötig, näher zu bestimmen, in welchem Sinne er ein Heuchler ist. Im gewöhnlichen Sinne des Wortes zu heucheln hat lason gar keinen Grund. Nichts, weder in der jetzt besprochenen noch in irgendeiner anderen Szene des Stückes, deutet darauf hin, daß lason Medea etwa deshalb zu versöhnen suchte, um ihrer Rache zu entgehen. Die allgemeine Meinung aller Personen des Stückes scheint zu sein, das beste Mittel, Medeas Rache zu entgehen, sei, ihr nicht in die Nähe zu kommen und sie so schnell wie möglich außer Landes zu bringen. Gerade durch sein Entgegenkommen ihr gegenüber macht lason wie Kreon es ihr möglich, ihre Rachepläne auszuführen. Auch die Furcht, sich in Korinth einen schlechten Namen zu machen, wenn er sich nicht um Medea annimmt oder sie nicht zu versöhnen versucht, kann kaum das bestimmende Motiv für lason gewesen sein. Bei denen, auf die es für ihn ankommt, braucht er solche Befürchtungen gewiß nicht zu hegen; und auf die korinthischen Frauen des Chores Rücksicht zu nehmen, die Medea mit Schaudern bewundern, weil sie sich gegen die Zurücksetzung ihres Geschlechtes auflehnt, kann ihm, so wie er ist, kaum einfallen. Man mag daher sagen, daß er zu Medea kommt, um sein Gewissen zu beruhigen, und es als Heuchelei bezeichnen, daß er sich, einzureden versucht, ein gutes Gewissen zu haben, wo er kein gutes Gewissen haben kann. Aber auch abgesehen davon, daß erst noch zu untersuchen, ist, ob und / wieweit dies zutrifft, wäre dies doch eine andere Art der Heuchelei als die direkte Heuchelei, die ändern vorzutäuschen versucht, was der Heuchler selbst ganz und gar nicht glaubt. Endlich besteht keinerlei Anlaß, zu bezweifeln, daß lason Medea nicht haßt, sondern, soweit das 346

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nicht mit seinen eigenen Interessen in Konflikt kommt, wirklich um sie besorgt ist. Nur daß freilich diese Art der Besorgnis die Bitterkeit der Medea nicht zu mildern geeignet ist, sondern sie noch verschärfen muß. Eine der dichtesten Stellen im ganzen Stück, eine der Stellen, an denen die größte Anzahl von Beziehungen und Zusammenhängen in ein paar wenige Sätze zusammengedrängt sind, ist der Anfang von lasons Rechtfertigungsversuch, wo er sagt, was Medea für ihn getan habe, sei gar nicht ihr Verdienst. Denn sie habe es ja gar nicht aus ihrem eigenen freien Willen, sondern von Aphrodite und Eros gezwungen getan. Jedermann muß, ebenso wie Medea und wie der Chor, dies spontan als eine ungeheure Sophisterei empfinden, mit der lason sich aus den Verpflichtungen, die er Medea gegenüber eingegangen ist, herauszulügen versucht. Und doch steht das, was er sagt, in gewisser Weise durchaus im Einklang mit der Auffassung der alten Märchen, nach welcher die göttlichen Mächte sich der Mädchen bedienen, um dem Helden in den Gefahren zu helfen, die er nicht aus eigener Kraft überwinden kann, und zwar mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Die alte Heldenethik, wenn man es so nennen darf, geht darin sehr weit. Daß Alkestis statt ihres Gatten in den Tod gehen will, erscheint natürlich im ursprünglichen Märchen als bewundernswert. Aber auch daß Admet ihr Opfer annimmt, erscheint dem Märchen durchaus natürlich, und erst Euripides hat daraus ein Problem gemacht. In zahlreichen Sagen entführen Helden Mädchen aus ihrer Heimat, nachdem sie ihre Eltern getötet haben, und machen sie dann zu ihren Geliebten, ohne daß daraus dem Helden in irgendeiner Weise ein Vorwurf entsteht. Tekmessa im Aias des Sophokles beschwört Aias, sich nicht das Leben zu nehmen, „denn", sagt sie32, „nachdem du mein Vaterland mit Waffengewalt verwüstet hast und ein anderes Geschick mir meine Mutter und meinen Vater durch den Tod geraubt hat, bist du das einzige, was ich auf dieser Welt habe", wobei das, was sie über das Geschick in bezug auf ihren Vater sagt, ein Euphemismus für die oder eine Milderung der älteren durch Dictys Cretensis bewahrten33 Sagen version ist, daß Aias ihren Vater selbst getötet hat. Theseus laßt Ariadne, die ihn aus Todesgefahr errettet hat, allein auf Naxos zurück, ohne den Versuch zu machen, für ihre Zukunft zu sorgen. Es gibt zwar Versionen der Sage, die verraten, daß man sich Gedanken darüber gemacht hat, ob Theseus wohl recht gehandelt habe, und

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sein Verhalten durch göttlichen Zwang zu entschuldigen suchen. Aber überall bleibt sein Bild als das eines großen Helden und weisen und gerechten Königs im wesentlichen ungetrübt. Doch auch wenn man von jeder mythologischen Erklärung oder überhaupt von dem, was ich die Heldenmoral genannt habe, absieht, so bleibt, was lason gesagt hat, auf einer anderen Ebene doch immer noch richtig. Denn was Medea für lason getan hat, ist ja wirklich nicht aus einer freien Entscheidung im vollen Sinne hervorgegangen, die doch auch eine moralische Entscheidung, also auch von Verantwortung getragen sein müßte, sondern aus der blinden Liebe und Leidenschaft für lason, die sie auch das Fürchterlichste und Verwerflichste ohne Bedenken hat tun lassen, wenn es im Interesse des Geliebten gelegen war oder, wie im Falle der Tötung des Pelias, auch nur in seinem Interesse gelegen zu sein schien. Aber eben darin liegt die atemraubende Spannung der Szene, daß lason, obwohl das, was er sagt, objektiv richtig ist, gar kein Recht hat, es Medea vorzuhalten. Denn wenn sie auch nicht aus freiem Entschluß, sondern unter dem Einfluß einer Gewalt, die stärker gewesen war als sie selbst, / gehandelt hat, so bleibt doch, daß sie nicht nur um lasons willen alles geopfert hat, sondern daß lason ihr Opfer auch angenommen hat. Schon deshalb ist es ganz und gar ungroßmütig von ihm, ihr vorzuhalten, sie habe unter dem Zwang einer höheren Macht gehandelt, und sie damit der einzigen Kompensation zu berauben, die ihr für die Hingabe von allem anderen geblieben ist: des Anspruchs auf ihn selbst. Aber damit nicht genug. lason hat nicht nur die erlaubte Hilfe Medeas angenommen und es damit hingenommen, daß sie um seinetwillen Eltern, Familie und Vaterland verloren hat. Er hat auch die Verbrechen angenommen, die sie für ihn begangen hat. Ja, er spricht es mit brutalen Worten geradezu aus „und soweit das, was du unter dem Einfluß des Eros und der Aphrodite getan hast" — und dazu gehört die Ermordung ihres eigenen Bruders, die an anderer Stelle ausdrücklich erwähnt worden ist — »mir zugute gekommen ist, das ist ja ganz in Ordnung, daran habe ich nichts zu tadeln". Das ,aber', welches auf diesen Satz folgen müßte, verschweigt lason. Statt dessen weist er Medea darauf hin, welche Kompensationen sie schon für ihre Opfer erhalten habe. Aber es ist ja deutlich genug, daß das unausgesprochene ,aber' ergänzt werden 348

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müßte: „Aber wenn deine blinde Verliebtheit in midi mir keinen Vorteil mehr bringt, sondern zu meinem Schaden ausschlägt, dann habe ich keine Verpflichtung, auf deine Gefühle Rücksicht zu nehmen." Es ist eben diese Verbindung von Wahrheit und Sophistik, bei der alle Bürde, auch der begangenen Verbrechen, auf Medea fällt, während lason, der doch der willige Nutznießer dieser Verbrechen gewesen ist, frei und jeder Verantwortung, wie auch jeder Verpflichtung ihr gegenüber ledig bleibt, die Medea ins Herz treffen und rasend machen muß, wenn sie es nicht schon ist. Und doch ist umgekehrt das, was lason sagt, infolge seiner Blindheit und seines Verbleibens innerhalb der Begriffe der Heldenmoral für ihn selbst so plausibel, daß er sich damit nicht nur vor Dritten, sondern bis zu einem gewissen Grade sogar vor Medea rechtfertigen zu können glaubt. Denn daß er dies glaubt, wird über allen Zweifel hinaus einfach dadurch bewiesen, daß er es sagt. Wenn er nicht völlig blind wäre, würde er das, was er sagt, gewiß nicht sagen, da er dann gewahr sein müßte, daß es Medeas Raserei zur Weißglut bringen muß. Und so zu heucheln, daß Medea noch rasender werden muß, ist ganz gewiß nicht in seinem Interesse noch sein Wunsch. Es ist kaum nötig, darauf hinzuweisen, daß sich dieselbe Blindheit lasons in seinen folgenden Worten verrät, in denen er Medea vorhält, sie habe reichliche Kompensation für ihre Opfer erhalten, da er sie in ein Land gebracht habe, in dem es eine feste Rechtsordnung gibt und daher Gerechtigkeit herrscht, statt wie in ihrem barbarischen Vaterlande rohe Gewalt; dazu habe er es ihr möglich gemacht, in einem Lande Ruhm zu erwerben, in dem der Ruhm etwas bedeutet, Ruhm, ohne den alle anderen Güter des Lebens geringwertig sind. Wiederum kann kein Zweifel daran bestehen, daß lason das, was er sagt, ganz naiv glaubt: Das Gefühl der Überlegenheit der Griechen über Barbaren ist eine alte Tradition und war zur Zeit der Aufführung des Stückes noch sehr lebendig; und Ruhm zu erwerben ist das natürliche Ziel des Helden, der, wie lason, auszieht, um gefährliche Abenteuer zu bestehen. Für Medea dagegen muß es als bitterster Hohn erscheinen, wenn ihr eine Rechtsordnung angepriesen wird, die es lason erlaubt, aus ihren Taten ohne eigenen Schaden allen Nutzen zu ziehen, sie selber aber dem Elend in der Fremde zu überlassen, nachdem sie alles für ihn geopfert hat; und der Ruhm, den sie in Griechenland erworben hat, ist so herrlich, daß sie

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keinen Ort mehr finden zu können glaubt, an dem sie aufgenommen zu werden hoffen kann. / Es bleiben endlich die Schwüre, die lason Medea geleistet hat, und auf welche sie sich auch in dieser Szene immer wieder beruft. Damit öffnet sich zugleich ein neuer Ausblick auf die Gründe von lasons Blindheit und auf die Hintergründe seines Mißverstehens. lasons Rechtfertigung gegenüber Medeas Anklage, daß er die Schwüre gebrochen habe, ist die Enthüllung der Pläne, die er für sich und seine Familie einschließlich Medeas gehabt haben will. Wiederum deutet nichts darauf hin, daß er lügt in dem, was er über seine Pläne sagt. Nirgends ist auch angedeutet, daß er lüge, wenn er sagt, daß er Kreusa nicht deshalb heiraten wolle, weil er in sie verliebt sei oder weil ihm Medea nicht mehr gefalle, sondern wegen der Aussichten, welche sich dadurch für ihn und die Seinigen eröffneten, so sehr es andererseits für Medea, für welche die Liebe alles ist, charakteristisch ist, daß sie ihn beschuldigt, sie zu verlassen, weil sie anfange älter zu werden und weil er eine jüngere Frau zu haben wünsche: wie sollte sie, so wie sie ist, sich ein anderes Motiv denken oder an es glauben können? Viele Interpreten werden sagen, daß es eine sehr viel niedrigere Gesinnung verrät, wenn lason Medea wegen solcher äußerer Vorteile aufgibt, als wenn er von einer unüberwindlichen Leidenschaft zu Kreons Tochter ergriffen wäre34. Aber darum handelt es sich jetzt nicht, sondern um die Vorstellungen, die bei ihm hinter seiner Rechtfertigung stehen und die im wesentlichen tatsächlich sein Handeln bestimmt haben. Da ist zunächst wieder nicht schwer zu sehen, daß in seinem Handeln eine fortgesetzte Anwendung dessen liegt, was ich die Heldenmoral genannt habe. Wie die göttlichen Mächte ihm, dem Prinzen und Helden, in Kolchis durch Medea geholfen haben, übermenschliche Gefahren zu bestehen, so helfen sie ihm jetzt, nachdem er um seinen Thron in lolkos gekommen ist, durch die Tochter Kreons, doch noch auf einen Königsthron zu kommen oder vorläufig wenigstens Anwärter darauf zu werden. Nur liegt freilich eine gewisse Ironie darin, daß es sich jetzt nicht mehr um das Bestehen übermenschlicher Gefahren handelt, sondern, um es mit voller Absicht etwas trivial auszudrücken, um eine friedliche Karriere, und daß er den Heldenruhm, der ihm diese Karriere bei Kreon 350

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und seiner Tochter eröffnet, wesentlich der Hilfe der Medea verdankt, die nun beiseite treten soll. Aber auch die Pläne, die lason für Medea und seine Kinder gehabt hat, bedeuten — und darin liegt ein weiteres Element der Ironie — in gewisser Weise einen Übergang ins Zivile, um nicht zu sagen, ins Bürgerliche, wenn es auch eine Verbindung mit einem Königshause ist, die lason eingehen will, und damit einen Übergang in das Gebiet bürgerlicher Moral. Die Geschlechtsmoral gegenüber den Bürgertöchtern war im Athen des Euripides ganz auf die bürgerliche Versorgung abgestellt. Die Heiraten wurden unter den Eltern abgemacht; und wenn ein unverheirateter junger Athener eine Base hatte, die Waise geworden war, mußte er sie entweder selber heiraten oder einen Mann für sie finden. Nach persönlichen Neigungen wurde dabei nicht viel gefragt. Daß die korinthischen Frauen, welche den Chor in der Medea bilden, unter ähnlichen Bedingungen stehen, wird von Medea in ihrer ersten Ansprache an die Korintherinnen auf das deutlichste ausgesprochen35. Das bedeutet freilich nicht, daß ein verheirateter Athener, der etwa Gelegenheit hatte, eine reichere Frau zu heiraten, dies mit Zustimmung seiner Mitbürger hätte tun und seine erste Frau mit einer Versorgung in dem neuen Haushalt hätte abspeisen können. Aber hier fällt nun trotz einer gewissen Verbürgerlichung der Atmosphäre wieder ins Gewicht, daß es sich um eine Einheirat in ein Königshaus handelt, und / dies um so mehr als — anders als bei einem attischen Bürger — lasons ganze Existenz und letzterdings auch Medeas Verhältnis zu ihm darauf basieren, daß er ein Prinz ist. Es ist vielleicht nicht ganz unnütz, daran einige weiterreichende Betrachtungen zu knüpfen. Es wäre durchaus möglich, eine Komödie zu schreiben, in der das Verhältnis zwischen lason und Medea so weitergeführt wird, daß lason Medea treu bleibt und sich in Korinth als Schuhmachermeister niederläßt. Es brauchte nur gezeigt zu werden, was unter solchen Umständen aus der Ehe wird. Wenn Goethe die Medea des Euripides geschrieben und dann die modernen Kommentare dazu gelesen hätte, hätte er wahrscheinlich wenigstens die Skizze einer solchen Komödie verfaßt, wie er eine solche zu einer Fortsetzung des Werther und eine Satire zu Wielands Auslegung der Euripideischen Alkestis geschrieben hat. Eine solche Komödie würde sehr anschaulich zeigen, daß [52153]

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man, wenn man sich über das Verhalten des lason moralisch entrüstet, die tragische Ironie der Lage des lason und der Medea vor dem Beginn der Katastrophe noch gar nicht verstanden hat. Dieselbe Komödie würde ferner zeigen, daß die Schwüre, die lason der Medea geschworen und gebrochen hat, nicht das einzige Versprechen sind, das er ihr nicht gehalten hat, sondern daß er ihr schon durch seine Person als strahlender Held ein Versprechen gegeben hatte, das er ihr seit längerer Zeit nicht hatte halten können. Freilich zeigt sich die tragische Ironie umgekehrt auch darin, daß doch etwas von diesem strahlenden Helden an ihm gewesen sein muß, wie ja auch das Abenteuer der Einholung des Goldenen \7Iieses aus Kolchis trotz der Hilfe der Medea einen nicht geringen Wagemut erfordert hat. Die eigentliche Tragödie der Medea liegt in der Brüchigkeit dieses Heldentums, die schon in den phantastischen Elementen des ursprünglichen Märchens ihren freilich dort noch ganz unbewußten Ursprung hat und die sich dann in der weiteren Entwicklung der lason-Medea-Legende, ohne daß dies bewußt gewollt wird, immer deutlicher zeigt. Eben darin knüpft Euripides an die Entwicklung der Legende an, indem er sichtbar macht, was bis dahin in ihr verborgen gewesen war. Darum kann man seine Tragödie nicht völlig verstehen, wenn man diese sehr wesentliche Seite des Konfliktes nicht beachtet. Was hier zuletzt gesagt worden ist, kann freilich dem Zuschauer, während er das Stück auf der Bühne sieht, nicht einfallen und enthüllt sich erst einer reflektierenden Interpretation, die jedoch auch der Zuschauer vornehmen kann, wenn er, nachdem er das Stück gesehen hat, weiter darüber nachzudenken unternimmt. Kehren wir jedoch zu der Frage der möglichen und wahrscheinlichen unmittelbaren Reaktion des Zuschauers zurück, so waren die durch die jeweiligen Traditionen gegebenen Voraussetzungen für diese Reaktionen bei dem antiken und vor allem attischen Zuschauer und dem modernen Leser wohl etwas verschieden. Zwar darin, daß man seine Schwüre nicht brechen soll, dürften antike und moderne Moral übereinstimmen. Im übrigen aber wird das moderne Empfinden sehr wesentlich durch die romantische Auffassung der Liebe bestimmt, das antike dagegen einerseits durch die aus dem Epos und der Sage übernommene Heldenmoral, andererseits durch den Gesichtspunkt, der in der bürgerlichen Moral des Atheners des fünften Jahrhunderts im Vordergrund steht, daß es vor allem auf die Versorgung von Frau 352

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und Familie ankomme. Das macht für die Beurteilung der Frage, worin das Halten der Schwüre zu bestehen habe, einen sehr wesentlichen Unterschied. Wilamowitz — der einzige unter den modernen Interpreten, der sich, soviel ich sehen kann, darüber Gedanken gemacht hat — hat das sehr deutlich gesehen. Er ist sogar so weit gegangen, zu sagen, er fürchte, die meisten der Athener der Zeit des Euripides hätten so gedacht wie lason. Mag dem aber sein, wie es will, soviel darf man auf Grund der bezeugten antiken Reaktionen auf Euripides' Frauen- / dramen mit Sicherheit annehmen, daß der antike Zuschauer mehr Verständnis als der moderne dafür hatte, daß lason glauben kann, gar nicht im Unrecht zu sein, wenn er Medea eine Stellung als eine Art Hofdame am Königshof und ihren Kindern eine Erziehung als Prinzen bieten kann, wo sie doch ohne seine neue Heirat als Flüchtlinge gar keine Stellung in der Gemeinde hätten, und daß er ganz ehrlich darüber böse sein kann, daß Medea in ihrer, wie er meint, in ihrem Alter ganz sinnlosen Leidenschaft, alle diese höchst vernünftigen Pläne zuschanden macht. Natürlich bedeutet dies keineswegs, daß Euripides selbst diese durch die Tradition gegebenen Auffassungen und Reaktionen des durchschnittlichen Zuschauers teilte. Im Gegenteil. Daß dies nicht so ist, zeigt sich auf das deutlichste in der Gewalt, die er dem Ausdruck der leidenschaftlichen Gegenargumente der Medea gegeben hat, ebenso wie in der Brutalität, mit der er den diesem freilich unbewußten Egoismus des lason sich in den Versen 529 ff. hat ausdrücken lassen, wie ferner in seiner Bereitwilligkeit, Medea, nachdem sie einmal seine Pläne für sie und die Kinder durch ihre leidenschaftlichen Ausbrüche gestört hat, sogar mit den Kindern in die Verbannung gehen zu lassen. Aber wenn man die Absicht des Dichters, wenn man die Art, wie er die Gewichte verteilen wollte, verstehen will, muß man dies alles gegen den Hintergrund der Reaktionen, die er von seinen attischen Zuschauern erwarten konnte, und nicht gegen die natürlichen Reaktionen moderner romantisch gestimmter Zuschauer oder Leser sehen. Die tragische Zuspitzung der Lage der Medea und des Verhältnisses der — ehemaligen — Ehegatten zueinander kommt überhaupt erst auf dem Hintergrund der relativen Gutgläubigkeit der Selbstverteidigung des lason voll zur Geltung. Denn für Medea sind freilich alle die Überlegungen und Pläne des lason völlig grotesk. Sie ist ja selbst eine Königs153/54]

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tochter. Sie hat um Jasons willen ihre Eltern und Geschwister aufgegeben. Sie hat ihren eigenen Bruder getötet: und das alles, um nun als Hofdame der zweiten Gattin des Mannes zu enden, für den sie alles getan hat. Ihre Lage ist viel härter als diejenige der Tekmessa, deren Vaterland derselbe Aias verwüstet hat, der sie dann zu seiner Geliebten gemacht hat. Das war wenigstens Gewalt und Übermacht gewesen, gegen deren Zwang sie ohnmächtig gewesen ist. Aber lason wäre gar nicht imstande gewesen, Medea zu rauben, sondern jämmerlich zugrunde gegangen, wenn sie ihm nicht geholfen hätte: und nun soll sie von demselben Mann zugunsten einer neuen Gattin beiseite geschoben werden und sich mit einer zweiten Rolle zufrieden geben. Es ist kein Wunder, daß das, was lason ihr über seine Pläne sagt, sie nur noch rasender macht. In seinem bekannten Buche über Die Entdeckung des Geistes setzt B. Snell Euripides mit Sokrates in Gegensatz, indem er schreibt: „Die Medea des Euripides sagt ,Ich weiß, welch Schlechtes ich zu tun im Begriff bin, aber meine Leidenschaft ist stärker'38. Dagegen wendet Sokrates ein: ,Wenn man das Gute weiß, tut man es auch — es kommt nur darauf an, daß man wirklich erkannt hat, was das Gute ist. Niemand tut freiwillig Schlechtes.'" Das ist in gewisser Weise richtig, wenn auch die , von denen Medea hier spricht, wohl kaum das moralisch Schlechte bezeichnen, wie die meisten Interpreten wollen, sondern das Schlechte, d. h. die Leiden, die sich Medea durch die Tötung ihrer Kinder selbst zufügen wird. Aber in einer anderen Weise kann man das ganze Stück des Euripides als Illustration zu dem Satze des Sokrates betrachten, daß das Recht-Handeln auf Erkenntnis beruht, freilich auf einer Erkenntnis, die nicht ganz mit der identisch ist, die Sokrates wohl im Sinne gehabt hat. / Sowohl Medeas wie lasons Handeln und Reden geht aus einem Mangel an Erkenntnis hervor. Beide sind völlig blind sowohl in bezug auf sich selbst wie in bezug auf einander wie in bezug auf den Charakter dessen, was sie tun und sagen. Medea war so blind in lason verliebt, daß sie weder die Folgen ihres Handelns für sich selbst noch die Schrecklichkeit ihrer Taten, zu denen doch der Brudermord gehört, gesehen hat, solange es um lason geht. Sie ist noch blinder lason gegenüber gewesen. Sie hat sich verliebt in den strahlenden Helden, ohne zu merken, daß es mit dem Heldentum des jungen Mannes, der sie um ihre Hilfe angeht und 354

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für den sie alles tun muß, nicht gar so gut bestellt ist. Sie hat es selbst dann nicht bemerkt, als es sich nicht mehr um einen Kampf mit feuerschnaubenden Stieren und Drachen, der vielleicht für einen Sterblichen wirklich nicht ohne übernatürliche Hilfe zu bestehen war, handelte, sondern um die Abwehr menschlicher Verfolger oder die Auseinandersetzung mit einem menschlichen Usurpator, in der ein Held sich doch auch ohne Hilfe von Zauberkünsten sollte bewähren können. Sie hat, was tiefer geht, es offenbar auch nicht bemerkt, daß der lason, der sie jetzt treulos verläßt, sich doch eigentlich schon damals als derselbe lason erwiesen hat, als er es so ohne weiteres hingenommen hat, daß sie um seinetwillen ihren Bruder tötete. Diese Blindheit der Medea aber ist nicht etwas, was erst „eine moderne psychologische Ausdeutung, die dem Altertum fremd war", in das Stück hineininterpretieren muß. Vielmehr weist lason in der Tragödie selbst in doppelter Weise darauf hin: einmal direkt, indem er Medea sagt, sie habe gar nicht aus freiem Willen getan, was sie für ihn getan hat, sondern unter dem Zwang der Aphrodite und des Eros, und zweitens indirekt durch jenen brutalen Satz, dessen Brutalität er sich aber gar nicht bewußt ist: „nun soweit das. was du getan hast, zu meinem Nutzen war (dazu gehört der Brudermord), das war ja alles in schönster Ordnung". Wie könnte er deutlicher zeigen, daß er schon damals derselbe lason war, der jetzt um die Tochter Kreons freit. Aber damals, solange er ihr nicht als Gatte oder Geliebter ( sagt er selbst ganz richtig)37 untreu war, hat sie es nicht bemerkt. Aber genauso blind wie Medea, nur nicht aus Liebe und Leidenschaft, ist lason in bezug auf sich selbst, in bezug auf den Charakter seiner Handlungen und in bezug auf Medea. Natürlich ist er in seinen eigenen Augen ein Held. Daß die Königstöchter, dem Willen der höheren Mächte gehorchend, ihm zu Hilfe kommen, nimmt er als ganz natürlich und sich von selbst verstehend an. Damals war es Medea. Jetzt ist es die Tochter Kreons. Wie ganz gegen alle Ordnungen der Heldenwelt, daß Medea, statt ihm weiter zu helfen oder sich wenigstens seinem Interesse zu fügen, ihm jetzt Schwierigkeiten macht! Er hat schlechterdings keine Vorstellung davon, was es moralisch bedeutet, daß er Medea es hat auf sich nehmen lassen, seinetwegen ihren eigenen Bruder zu töten. Aber am blindesten ist er wiederum seinem Partner gegenüber. Das ist von Euri355

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pides mit geradezu raffinierter Kunst dargestellt in jener Szene, wo lason Medea, wie er glaubt, ,zur Vernunft bringen' will und gar nicht merkt, daß jedes Wort, das aus seinem Munde kommt, sie noch rasender machen muß. Erst diese Blindheit der beiden Hauptcharaktere macht aus dem Stück eine antike Tragödie und speziell eine euripideische Tragödie. Aber bevor der Versuch gemacht wird, dies zu zeigen, ist es vielleicht nützlich, noch einmal auf das Verhältnis des Euripides zur Sage einzugehen. Wie bei der Alkestis, so beruht auch bei der Medea der Kern der Tragödie darauf, daß Euripides aus den in der Sage gegebenen Elementen die unerbittlichsten realistischen Konsequenzen gezogen hat. Der Unterschied ist nur der, daß die lason-Medea-Legende vor Euripides eine noch längere Entwicklung durch- / gemacht hatte als das Alkestismärchen. Im Laufe der Entwicklung war, wie gezeigt, Medea immer mehr zur wilden Barbarin und unheimlichen Zauberin geworden, während lason seinen Charakter als griechischer Held im wesentlichen beibehalten hatte, obwohl unbemerkt in sein Heldentum etwas Brüchiges gekommen war, je mehr die Sage sich schon vor Euripides von der phantastischen Welt des ursprünglichen Märchens entfernt und realistischere Elemente in sich aufgenommen hatte. In dieser Hinsicht hat Euripides in gewisser Weise nichts getan, als die letzten Konsequenzen zu ziehen und offenbar zu machen, was bis dahin nur halb verborgen zu sehen gewesen war. Er hat mit voller Deutlichkeit die Kehrseite der Medaille, die Kehrseite des Heldentums des lason, gezeigt, wie er in der Alkestis die Kehrseite des schönen Märchens von der Frau, die für ihren Mann in den Tod geht, gezeigt hat, indem er zur Darstellung brachte, was es für den Mann bedeutet, daß er auf diesen Handel eingegangen ist. Höchst interessant ist aber auch, was aus dem Barbarentum der Medea geworden ist. Es ist in doppelter Hinsicht von Bedeutung, ohne daß es doch, wie später bei Grillparzer, zum eigentlichen Dreh- und Angelpunkt des Stückes gemacht wird. Es spielt eine gewisse Rolle, insofern als es die Abneigung des korinthischen Königs gegen Medea und seine Furcht vor ihr verstärkt und insofern als lason, bis zu einem gewissen Grad in gutem Glauben, es als Verdienst für sich in Anspruch nehmen kann, sie aus dem Barbarenland in ein Land gebracht zu haben, wo statt roher Gewalt Recht und Sitte herrscht. Aber das alles betrifft ja nur den 356

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Hintergrund des Geschehens und nicht Medea selbst. Was aber Medea selbst angeht, so ist es großartig, wie hier das Barbarentum ganz und gar nicht in irgendwelchen Äußerlichkeiten, wie wiederum etwa bei Grillparzer, der darauf seinen tragischen Konflikt aufbaut, eine Rolle spielt, sondern nur darin, daß die im Menschen liegenden Möglichkeiten äußerster Leidenschaft bei Medea nicht wie bei den Korinthern durch Sitte und bürgerliche Beschränkung und Erziehung unterdrückt und gezähmt, sondern völlig ungebrochen sind, eine Ungezähmtheit und Ungebrochenheit, die aber im Stück — und auch das wohl nicht ohne Absicht — mindestens ebensosehr auf Medeas königliche Abkunft, auf die Tatsache, daß sie zu den ,Herren' gehört hat, selbst eine Herrin gewesen ist und daher von Kindesbeinen an nicht gewohnt, sich zu fügen38, zurückgeführt wird wie auf ihre barbarische Abkunft. Insofern ist es, obwohl diese Ungezähmtheit der Leidenschaft bis zu der extremsten Konsequenz der Rache durch den Kindermord getrieben wird, etwas ungebrochen Menschliches, das durch das Barbarentum hindurch zum Ausdruck gebracht wird. So verstehen es auch die durch Sitte gezähmten und sich der bürgerlichen Ordnung unterwerfenden, zugleich aber, wenn auch nicht mit der Tat, so doch im Gefühl sich dagegen auflehnenden Korintherinnen, wenn sie sagen, daß Medea die übliche relative Einschätzung der Geschlechter ändern und dem weiblichen Geschlecht Ruhm bringen werde. Aber darauf wird noch in anderem Zusammenhang zurückzukommen sein39. Insoweit haben die modernen Interpreten ganz recht, wenn sie der Meinung sind, daß die bis dahin in der Sage herrschende Einschätzung der beiden Hauptfiguren der Sage von Euripides bis zu einem gewissen Grade umgekehrt worden ist, und wenn sie auf das Negative im Charakter des lason hin- / weisen, so wie ihn Euripides auf die Bühne gestellt hat, während es der Mehrzahl der antiken Zuschauer, wie noch an der Weiterentwicklung der Sage in der Antike zu zeigen sein wird, offenbar schwergefallen ist, Euripides ganz zu folgen und sich selbst angesichts seines Stückes von der traditionellen Einschätzung der Charaktere ganz frei zu machen. Aber wenn die antiken Zuschauer mutmaßlich in ihrer Auffassung der Charaktere hinter der Absicht des Dichters zurückgeblieben sind, so gehen die meisten modernen Interpreten in ihrer Auffassung in entgegengesetzter Richtung weit darüber hinaus, wenn [56157]

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sie den lason einfach als „krassen Egoisten" (Pohlenz)40 oder gar als „ready made villain" (Kitto)41 bezeichnen. Aber auch die Bezeichnung der Medea als „unheimliches Weib" (Pohlenz)42 oder als „woman of disastrous temperament" (Kitto)43 wird weder dem Grauenvollen ihrer Rache noch auf der anderen Seite dem ungebrochen, aber allgemein Menschlichen in ihrem Charakter voll gerecht. Es ist seltsam, wie stark sich die modernen Interpreten in ihrer Auffassung euripideischer Charaktere von Äußerlichkeiten ihres Schicksals haben bestimmen lassen. Weil Admet am Ende der Alkestistraepdie seine Gattin wiederbekommt, hat man annehmen zu müssen geglaubt, entweder, daß alle seine mit Händen zu greifenden Schwächen durch seine überschwengliche Gastfreundschaft so überkompensiert seien, daß sie überhaupt nicht mehr zählen, oder daß er sich, obwohl davon in dem Stück nichts zu finden ist, in seinem Verlauf so geläutert habe, daß er der unerhörtesten Wunder würdig ist. Weil umgekehrt lason die Folgen seiner Schwächen und seines Egoismus bis ins Extrem / auskosten muß, bezeichnet man ihn dagegen ohne Einschränkung als Jämmerling oder gar als ready made villain. Und doch sollte nicht schwer zu sehen sein, daß Admet und lason im Grunde eines Geistes Kinder sind, wie sich denn auch Admet in der Alkestis von seinem Vater Pheres kaum weniger niederschlagende Dinge sagen lassen muß als lason von Medea, nur daß Admet, der nicht auf gefährliche Abenteuer ausgegangen ist und daher auch nicht auf die Hilfe zauberkundiger Barbarenkönigstöchter angewiesen war, genug Klugheit besaß, sich eine sanfte und aufopfernde Frau von der Art, die Napoleon als für sich allein geeignet bezeichnet hat, zur Gattin zu wählen44, während lason nicht hatte wählen können, sondern durch die Umstände eine Frau von ungezähmter Leidenschaftlichkeit zur Geliebten und dann zur Gattin bekommen hat von jener Art, der Napoleon nach seinen eigenen wiederholten Äußerungen sorgfältig aus dem Wege ging. Euripides wäre nicht der große Dichter und Menschenkenner gewesen, der er tatsächlich war, wenn es seine Absicht gewesen wäre, die beiden naiven Egoisten Admet und lason mit so völlig verschiedenen Maßen zu messen, wie die modernen Interpreten annehmen. Überhaupt aber ist es nicht die Aufgabe des Dichters, moralisch in Schwarz und Weiß zu malen und seinen Zuschauern oder Lesern Stoff zu wohlfeiler mora358

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lischer Entr stung zu geben, am wenigsten in bezug auf die Hauptfigur seiner Dichtung. Vielmehr ist es gerade umgekehrt seine Aufgabe, auch hinter dem Schrecklichsten und Niedrigsten noch das Menschliche sichtbar und f hlbar zu machen45. Selbst in einem bewu ten Schurken, wie Shakespeare's Richard III., ist noch etwas, was ihn ber die einfache moralische Verdammung hinaushebt, und selbst in Schillers sp teren Dramen findet man keine Figuren mehr wie Franz Moor oder den Sekret r Wurm, die doch auch nur Nebenfiguren sind. Die euripideische Tragik ist freilich anders angelegt und hat andere Voraussetzungen als diejenige Shakespeare's. Ich habe an anderer Stelle40 zu zeigen versucht, da in der antiken Trag die generell im Gegensatz zur modernen die tragische Situation von au en kommt. Am st rksten ist dies bei Aeschylus und Sophokles ausgepr gt. Die Helden ihrer Trag dien sind, wie Aristoteles sehr richtig beobachtet hat, „wie wir oder besser". Sie werden durch u ere Umst nde in Situationen versetzt, aus denen es f r sie, nicht selten gerade weil sie edler und besser sind als die Menschen gemeinhin, keinen ndern als einen tragischen Ausweg gibt. Bei Euripides ist es insofern anders, als die „Helden" oder besser die Hauptfiguren seiner Trag dien zwar nicht immer, aber doch h ufig, wie wiederum schon Aristoteles bemerkt hat, gar sehr wie der menschliche Durchschnitt oder gar noch unvollkommener oder gar niedriger sind. Er n hert sich der modernen, vor allem der Shakespeareschen Trag die insofern, als die Schicksale seiner Helden nicht selten durch die Begrenztheit, die M ngel ihres Charakters, ihren Mangel an moralischer und menschlicher Einsicht bedingt sind. Aber es fehlt ihnen v llig die Bewu theit Shakespeare'scher Helden. lason wei nichts von sich. Er ist unendlich weit / entfernt von dem Charakter eines Richard III., der von sich sagen kann „Ich will ein Schurke sein". Er wei nicht, was seine Handlungen f r Medea wirklich bedeuten. Daher wei er auch, als die Katastrophe ber ihn hereinbricht, im w rtlichsten Sinne nicht, wie ihm geschieht. Aber auch Medea ist trotz ihres και μανθάνω μεν οία δραν μέλλω κακά, θυμός δε κρείσσων των έμών βουλευμάτων in ihrer blinden Leidenschaft von der Bewu theit vieler Shakespearescher Helden weit entfernt. [58159]

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Es ist das Eigentümliche der Tragik des Euripides, daß in der Blindheit seiner Helden eine gewisse Unschuld liegt. Der Unterschied shakespeare'scher und euripideischer Tragik drückt sich auch darin deutlich aus, daß Cäsar nur eine Cäsartragödie, Lear nur eine Leartragödie, Othello nur eine Othellotragödie erleben kann. Dagegen ist es für Euripides charakteristisch, daß die Schicksale Admets und lasons, obwohl sie doch, wie zu zeigen versucht worden ist, eines Geistes Kind sind, völlig verschieden sind. Zwar ist auch bei ihnen, daß sie eine Tragödie erleben, und bis zu einem gewissen Grade sogar die Art der Tragödie, die sie erleben, durch ihren Charakter bestimmt. Aber die ganz verschiedene Form, die diese Tragödie annimmt — und darin bleibt Euripides im Rahmen der antiken Tragik, so sehr er sich innerhalb ihrer der modernen annähert —, wird durch die äußeren Urnstände bedingt. Im übrigen gibt es auch bei Euripides wie bei Aeschylus ein , eine Erkenntnis durch Leiden: bei Admet, wenn nach dem Tode seiner Frau die ganze Atmosphäre sich verändert hat und er erkennen muß, daß er das Leben, um dessen Erhaltung willen er das Opfer des Lebens seiner Frau angenommen hat, nicht weiterführen kann, bei lason, wenn er in der Katastrophe nicht umhin kann zu erkennen, was sein Handeln für Medea bedeutet hat. Aber in beiden Fällen ist es für Euripides charakteristisch, daß diese Erkenntnis unvollkommen bleibt, und daß das Leben in dieser unvollkommenen und steril gebliebenen Erkenntnis mit dem Leiden, das dadurch bedingt ist, weitergeht.

Damit könnte die Erörterung des eigentlichen tragischen Konflikts, der der Tragödie zugrunde liegt, wohl abgeschlossen werden. Aber das Stück des Euripides ist so reich an Inhalt, daß es noch viele Aspekte hat, von denen einige für ein volles Verständnis des tragischen Konfliktes wie auch einzelner Stellen von nicht geringer Bedeutung sind. Die Blindheit Medeas ist ganz durch ihre Leidenschaft für lason bedingt, die sie nichts anderes sehen läßt. Die Blindheit lasons ist nicht nur die einfache Unfähigkeit, zu sehen, was seine Handlungsweise für Medea bedeutet. Sie ist auch durch seine Vorstellungen von dem natürlichen Verhältnis zwischen Mann und Frau und vor allem des Helden zu den Frauen und der Frauen zu dem Helden bedingt. 360

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Diese Vorstellungen sind nicht dem Geiste lasons entsprungen. Sie sind durch Tradition gegeben: so sehr, da selbst diejenigen, die gegen sie revoltieren, in der u erung ihrer Auflehnung dagegen noch durch sie beeinflu t sind. Auch darin liegt eine tragische Ironie, die dem St ck des Euripides Tiefe gibt. Das der Auseinandersetzung zwischen Medea und lason vorangehende Chorlied hat den Interpreten schon immer gro e Schwierigkeiten gemacht, vor allem im Verh ltnis zu den unmittelbar vorher von Medea gesprochenen Worten: so sehr, da man diese Worte selbst, obwohl sie zu den ber hmtesten und pr gnantesten des ganzen St ckes geh ren, f r interpoliert erkl rt hat. Es lohnt sich, die Gr nde f r diese Annahme etwas genauer anzusehen. / Die Verse, die dem Chorlied vorausgehen47, lauten wie folgt: Medea:

όρφς ά πάσχεις· ου γέλωτα δει σ' όφλεΐν τοις Σισυφείοις τοΐσδ* Ιάσονος γάμοις, γεγώσαν έσθλοϋ πατρός Ήλιου τ' από. έπίστασαι δε. προς δε και πεφύκαμεν γυναίκες, ες μεν εσθλ' άμηχανώταται, κακών δε πάντων τέκτονες σοφώταται.

Darauf folgt das schon fr her erw hnte Chorlied, in dem Medea gepriesen wird, weil sie dem weiblichen Geschlecht Ruhm bringen und die bliche Einsch tzung des Wertes der Geschlechter umst rzen werde. Damit scheinen freilich die letzten der unmittelbar vorher von Medea gesprochenen Worte schlecht zu harmonieren. Aber auch aus anderen Gr nden hat man gegen sie Einspruch erhoben. Einer der entschiedensten Verfechter der Athetese schreibt48: „Die berlistung Kreons und der geplante Giftmord sind dem urw chsigen Rechtsempfinden nicht nur erlaubte, sondern gebotene Mittel der Vergeltung: eine Heliosenkelin soll nicht zum Gesp tt im Kreise von Sisyphosenkeln werden. So schlie t die Erw gung Medeas ber ihre Rache mit dem Ausdruck leidenschaftlichen Stolzes und Rechtbewu tseins wirksam ab (v. 404-06). Dagegen ist die Charakterisierung der Rache als b se, wie die angeh ngte Sentenz sie ausspricht, sachlich unpassend. Vom Kindermord, wie er auch zu beurteilen w re, ist hier ja noch gar nicht die Rede. brigens nimmt das folgende Chorlied in den Versen 418-28 die Frauen gegen hergebrachte [59160]

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Urteile in Schutz, und es w rde ein st render Widerspruch entstehen, w rden die Frauen unmittelbar vorher als ,alles B sen gewitzteste Schmiede* bezeichnet. Medea mu auch gerade in diesem Moment im Recht sein gegen ber dem ungetreuen Mann." Was hier, vor allem im letzten Satz, gesagt wird, ist nicht ganz unrichtig. Medea kann wirklich nicht am Ende der Rede, in der sie ihren Entschlu zur Rache mit Leidenschaft ausgesprochen hat, sich selbst desavouieren; und das folgende Chorlied ist wirklich mit einem solchen sich selbst Desavouieren Medeas unvereinbar. Aber ganz abgesehen von der allgemeinen Frage, wer denn diese pr gnanten Verse interpoliert haben soll und zu welchem Zweck, k nnen sie denn das hei en, was in dieser Interpretation aus ihnen herausgelesen wird? Kann irgend jemand, der die Verse hier eingesetzt hat, gemeint haben, da Medea sich und ihr Vorhaben damit desavouieren soll? Wer immer sie eingesetzt hat, mu sie doch im Trotz haben gesagt sein lassen. „Es geht nicht an", sagt sie zu sich selbst, „da du dich zum Gesp tt machen l t, da du von Helios, einem hohen Vater, abstammst. Und au erdem bin ich auch noch eine Frau, und wenn wir Frauen auch zu hohen Taten nichts taugen, verstehen wir uns auf schlimme Dinge doch aufs trefflichste", das hei t: an der F higkeit, Rache zu nehmen, fehlt es uns nicht. Niemand kann auch diesen Vers, wie es sonst nicht selten vorkommt, aus einem ndern St ck genommen und hier an den Rand gesetzt haben als eine Glosse zu dem, was Euripides Medea hatte sagen lassen. Denn das ες μεν εσθλ' άμηχανώταται ist offenkundig pr gnant und mit Absicht dem έσθλοΰ πατρός από gegen bergestellt. Wer immer diese Verse eingesetzt hat, war ein Dichter von nicht geringer Kraft. Man kann sie daher nicht so ohne weiteres beiseite schie- / ben, ohne wenigstens zu fragen, was er denn eigentlich damit gewollt hat. Wenn die Antwort darauf gefunden wird, ergibt sich vielleicht, da dieser Dichter doch Euripides gewesen sein mu . Das Wort, das die Schwierigkeit hervorruft, ist offenbar das Wort κακών. Vielleicht ist es daher f rderlich, von einer ndern Stelle desselben St ckes auszugehen, an der dasselbe Wort den Interpreten ebenfals betr chtliche Schwierigkeiten bereitet hat. Das erste Wort, das Medea auf lasons Vorhaltungen in ihrer gro en Auseinandersetzung mit ihm zu antworten hat, lautet49: 362

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ώ παγκάκιστε, τοΰτο γαρ σ' ειπείν έχω γλώσση μέγιστον είς άνανδρίαν κακόν. Das ist ja, wenn man es w rtlich bersetzt, etwas sonderbar gesagt. „Du Allersdilechtester! Das ist das Schlechteste (oder: das gr te Schlechte), was ich gegen dich sagen kann." Nun ja, nat rlich. Aber das ist doch eine h chst seltsame Tautologie. Sie gewinnt nur Sinn, wenn das Wort κακός in der Anrede παγκάκιστε eine etwas andere Bedeutung hat als in dem folgenden μέγιστον κακόν. Diese andere Bedeutung wird aber durch den Zusatz είς άνανδρίαν auf das deutlichste bezeichnet. Es bedeutet die Unm nnlichkeit, die Feigheit; und das ist ja auch in den Augen einer Frau die gr te Beschimpfung, die sie einem Mann antun kann. In den folgenden Versen f hrt sie das noch weiter aus: das sei kein m nnlicher Mut, den Nahestehenden, wenn man ihnen bles angetan hat, ins Gesicht zu sehen, sondern Mangel an Scham. Diese Verse, und was weiter folgt, zeigen aber auch, da es sich nicht einfach um gew hnliche Feigheit und Unm nnlichkeit handelt. Es ist das Krumme und Unaufrichtige, das sie in lasons Verhalten empfindet: da er, wie sie meint, das Unrecht, das er tut, empfinden und ein schlechtes Gewissen haben mu , und da er sich trotzdem vor ihr, vor dem Chor, und bis zu einem gewissen Grade vor sich selbst, zu entschuldigen versucht. Sein Verhalten steht damit im Gegensatz zu dem eines ,edlen* Mannes ohne Falsch, der geradeheraus handelt, der das gegebene Wort h lt, der sein schlechtes Gewissen nicht hinter sophistischen Argumenten vor ndern und vor sich selbst zu verbergen braucht. Auch hier ist also der Gegensatz zu dem κακόν das έσθλόν, das Hohe und das Edle. Nun l t sich der Gegensatz zwischen dem έσθλόν als dem Edlen und dem κακόν als dem Niedrigen und Unedlen nat rlich nicht ohne weiteres von dem, was Medea hier gegen lason sagt, auf ihren Ausbruch vor dem vorangehenden Chorlied bertragen. Aber ein gewisser Zusammenhang ist dennoch nicht schwer zu sehen, wenn man umgekehrt von dem έσθλόν ausgeht. Was sind denn die έσθλά, von denen Medea dort sagt, da die Frauen ihrer unf hig sind? Offenbar doch die gro en, die herrlichen Taten, die Heldentaten, die von jedermann bewundert werden. Dann ist es aber ganz richtig, da die Frauen infolge der Stellung, die sie im Leben einnehmen, ganz und gar von der M glichkeit ausgeschlossen sind, solche έσθλά zu vollbringen. „Aber daf r", sagt nun Medea, „ver-

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stehen wir uns auf die κακά, die krummen Wege": „und" — so scheint sie sagen zu wollen — „wenn es darauf ankommt, dann wollen wir den M nnern zeigen, da wir auf diesem Gebiet es nicht nur mit ihnen aufnehmen k nnen, sondern ihnen berlegen sind". Versteht man die Worte der Medea so — und nach den Bedeutungsnuancen der Worte wie nach dem Zusammenhang kann man sie kaum anders verstehen —, so passen sie zun chst auf das trefflichste mit dem zusammen, was sie nachher zu lason sagt: „Du als ein Held solltest dich berall wie ein έσ^λός betragen. Aber du gehst krumme Wege." Die Fortsetzung dazu hat sie schon vorher aus- / gesprochen: „Was als έσθλά im eigentlichen Sinn gilt, habe ich freilich als Frau nicht vollbringen k nnen. Aber wenn wir uns auf krumme Wege begeben wollen: nun das k nnen wir als Frauen noch besser als ihr." Auch das dazwischenliegende Chorlied50 pa t nun mit Medeas Worten auf das beste zusammen und bekommt durch die Beziehung auf sie erst seinen vollen Sinn: „Jetzt flie en die Str mungen der heiligen Fl sse bergauf. Jetzt ist Recht und alles umgekehrt. M nner sinnen auf schlechte Listen, und die bei den G ttern geschworene Treue ist ihnen nicht mehr festgef gt. Jetzt werden die Reden der Menschen meine (d. h. die weibliche) Art, das Leben zu f hren, umkehren, so da sie Ruhm haben wird. Ehre kommt zu dem weiblichen Geschlecht. Keine herabsetzende Rede wird mehr die Frauen treffen. Die Musen der S nger werden aufh ren, wie in alter Zeit meine (d. h. der Frauen) Treulosigkeit zu besingen" und so fort. Der Nachdruck liegt hier nat rlich auf den δόλιαι βουλαί, den schlechten und tr gerischen Ratschl gen lasons, und auf seiner άπιστοσύνη. Aber die Treulosigkeit lasons allein kann ja dem weiblichen Geschlecht noch keine Ehre bringen. Es mu also mehr in den Worten der korinthischen Frauen liegen, als in ihnen unmittelbar ausgesprochen ist. Nun ist auf Seiten des lason deutlich, da das έσθλόν des Helden, das ihm in den Augen und Reden (φαμαι) der Menschen angehaftet hat, durch sein treuloses, sein niedrig listiges, sein krummes Verhalten sich in sein Gegenteil verwandelt oder als sein Gegenteil erwiesen hat. Dann mu die Ehre, die zu dem weiblichen Geschlecht kommen soll, darin bestehen, da es auf Medeas Seite umgekehrt ist. Das Entscheidende dabei ist nat rlich 364

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wiederum, da sie ihm bis zu dem Augenblick, wo er die Treue verletzte, die Treue gehalten hat. Sie hat sie ihm durch Taten gehalten, die, wie die T tung ihres Bruders und die T tung des Pelias, alle nicht im Sinne des offenen heldenhaften Kampfes έσθλά, sondern krumm und hinterr cks, also in den Augen der Menschen χ>κυκ gewesen sind: deshalb ist sie ja auch in der Sage als Gestalt immer unheimlicher geworden. Aber nun stellt sich heraus, da sie in ihrer Loyalit t dem Gatten gegen ber doch in gewisser Weise gerade und έσθλά gewesen sind. Aber auch auf das, was Medea unmittelbar vor dem Chorlied gesagt hat, mu dieses, wenn es im Zusammenhang verst ndlich sein soll, Bezug haben; und auch wenn man die inkriminierten Verse 407—09 wegl t, hat Medea unmittelbar vorher nicht von ihren Verdiensten um lason gesprochen, sondern von der schrecklichen Rache, die sie an ihm nehmen will. Hier aber ist von dem τόλμης το καρτερόν, dem u ersten des Wagens, die Rede gewesen, bis zu dem sie gehen will, und von dem άγων εύψυχίας, in den sie sich nun begeben mu . Die Art aber, auf die sie alles wagen will, hat sie selbst als δόλω und σίγα bezeichnet. Auch darin enth llt sich also eine Umkehrung der traditionellen Wertungen und Begriffe. So wie hinter den έσθλά, die lason vollbracht zu haben scheint, seine κακία zum Vorschein kommt, so verbirgt sich hinter den κακά, die Medea vollbracht hat und noch vollbringen will, ihre τόλμα, ihre εύψυχία, in gewisser Weise ihre πίστις, alles Dinge, die eigentlich zu den έσθλά geh ren, die in der Tradition als dem m nnlichen Geschlecht vorbehalten gelten. Es zeigt sich also, da , wenn man das Chorlied so versteht, wie es im Zusammenhang mit dem, was vorangeht und was folgt, auch unter Weglassung der Verse 407-09, verstanden werden mu , wenn es einen guten und vollen Sinn haben soll, diese Verse selbst ganz und gar nicht damit im Widerspruch stehen, sondern im Gegenteil, das, worum es sich handelt, von dem einzig m glichen / Standpunkt aus auf das pr ziseste bezeichnen. Wenn sie von einem Interpolator stammten, m te dieser die Absicht des Dichters besser verstanden haben als dieser selbst. Versteht man die Verse aber so, dann ist es ganz gro artig, wie in dem leidenschaftlichen Ausbruch der Medea, der dem Chorlied vorangeht, in diesem Chorlied selbst und in der Auseinandersetzung zwischen lason und Medea, die ihm folgt, die Dialektik des έσθλόν und des κακόν in ihren verschiedenen Bedeutungen nadi allen Seiten hin durchfiguriert wird. [62163]

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Großartig ist es aber auch, wie das, was in dem Umschlagen der Wertungen und in dem harten Aufeinanderprallen der Hauptcharaktere sozusagen gleichzeitig in abstracto und in seinen extremen Ausprägungen vordemonstriert wird, in den Reaktionen des Chores zugleich noch einmal in concreto und im gewöhnlich und einfach Menschlichen seinen Ausdruck findet. Auf den Ausbruch der Medea und die Ankündigung ihres festen Willens zur Rache antwortet der Chor zunächst mit begeisterter Zustimmung, die aus der Auflehnung dagegen hervorgeht, daß die Frauen gezwungen sind, sich in eine Welt männlicher Wertungen zu fügen. So sprechen sie es auch aus51, wenn sie sagen, daß der Gott Apollo die Dichtergabe ungerecht zwischen den Geschlechtern verteilt hat. Sonst hätten die Frauen wohl schon früher Gelegenheit genommen, den Männern ihre eigenen Geschichten oder Versionen von Geschichten „entgegenzusingen". In der ersten Wallung der Auflehnung, die durch Medeas Drohungen angestachelt worden ist, sind sie ganz Jubel und Zustimmung. Aber schon in der zweiten Hälfte desselben Chorliedes überwiegt die sanftere Klage über das Schicksal, das Medea zuteil geworden ist. In dem Chorlied jedoch, das auf die Auseinandersetzung zwischen lason und Medea, in die der Chor doch zunächst auch auf der Seite Medeas eingegriffen hat, folgt52, schlägt der Chor sanftere und resigniertere Töne an. Auch von dem Ruhm, den Medea dem weiblichen Geschlecht bringen soll, ist nicht mehr die Rede, so sehr der Chor ihr in Sympathie verbunden bleibt. Allzu heftiger Eros, heißt es nun, bringt weder Ruhm noch . Und die Frauen bitten nun Aphrodite (die hier in der Rolle des Eros erscheint), nicht von ihrem goldenen Bogen den Pfeil, dem niemand entfliehen kann, gegen sie zu senden. Sie bitten um , „das schönste Geschenk der Götter", und sie bitten darum, daß ihre Ehe von Streit und Unfrieden verschont werden möge, vor allem von jenem „nie zu sättigenden Haß und Streit", der aus der Eifersucht entsteht. Sie schließen daran die Bitte, daß es ihnen niemals bestimmt sein möge, die Heimat zu verlieren. Lieber möchten sie sterben, als solches Schicksal zu erdulden. Denn nichts geht über den Schmerz, keine Heimat zu haben! Daß das so ist, brauchen sie nicht von ändern zu lernen. Denn sie haben das eindringlichste Beispiel dafür an Medea selbst vor Augen. Obwohl das Mitgefühl der korinthischen Frauen mit

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Medea nicht geringer geworden ist, sondern sidi eher noch vertieft hat, und obwohl die letzten Worte des Chorliedes, ohne lason zu nennen, einen Tadel gegen ihn enthalten, liegt in dem Chorlied nichts mehr von der Auflehnung gegen die von den M nnern oder von den G ttern zugunsten des m nnlichen Geschlechtes geschaffene Ordnung, die in dem vergangenen Chorlied einen so starken Ausdruck gefunden hatte. Wunderbar ausgewogen ist es auch, da in einem sp teren Chorlied33, als Medea zu dem Entschlu gekommen ist, ihre Kinder zu t ten, der Chor noch einmal von den Gaben der Muse im Ver- / h ltnis zu den Frauen spricht, nun aber in ganz anderem Ton. Hat der Chor sich in dem Chorlied, das der lason-Medea-Szene vorausging, dar ber beklagt, da die G tter die Gabe des Gesanges so ungleich unter den Geschlechtern verteilt haben, und gesagt, wenn es anders w re, so wollten sie wohl den M nnern Lieder ndern Inhalts entgegensingen, so sagt er nun: πολλάκις ήδη δια λεπτότερων μύθων εμολον και προς άμιλλας ήλ-θον μείζους ί) χρή γενεάν θήλυν έρευναν, άλλα γαρ εστίν μοΰσα και ήμΐν, η προσομιλεΐ σοφίας ένεκεν. πάσαισι μεν οΰ· παΰρον δε τι δη γένος εν πολλαΐς εΰροις αν ίσως ουκ άπόμουσον το γυναικών. „Oft schon habe ich subtilere berlegungen anstellen m ssen und oft schon bin ich auf gewaltigere Konflikte gesto en, als das weibliche Geschlecht auszuforschen suchen sollte. Aber auch wir haben eine Muse, die zu uns kommt, uns Weisheit zu geben: nicht allen freilich; denn nur einen kleinen Teil d rftest du vielleicht unter den Frauen finden, der der Muse nicht fern ist." Dann philosophiert der Chor dar ber, da denen, die nie Kinder gehabt haben und die aus Mangel an Erfahrung gar nicht wissen, ob es s oder schmerzlich ist, Kinder zu haben, viele M hen und Schmerzen erspart bleiben und da es trotzdem der gr te aller Schmerzen ist, Kinder, wenn sie herangewachsen sind, durch den Tod zu verlieren. Auch hier nehmen die Frauen in gewisser Weise etv/as f r sich in Anspruch, was nach der geltenden, von den M nnern bestimmten, Meinung nur den M nnern zukommt. Aber der ganze Ton ist [63164]

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auf ein Sicheinfügen in die gegebenen Ordnungen abgestimmt. Von der Auflehnung des früheren Chorliedes ist hier nichts mehr zu spüren.

Nach diesem Überblick ist es wohl möglich, die Frage zu beantworten, ob die Medea des Euripides wie die früher erwähnten Stücke von Shaw oder Sartre1** oder wie durchweg alle Dramen etwa Brieux's eine „Tendenz" hat und ob gemäß der vorherrschenden Meinung des Altertums Euripides ein Weiberfeind oder, wie viele moderne Interpreten zu zeigen versucht haben, vielmehr ein Fürsprecher des weiblichen Geschlechts und vielleicht sogar ein Befürworter einer gewissen Emanzipation der Frauen gewesen ist. Es ist offensichtlich, daß Euripides in der Auflehnung des Chores gegen die männlichen Wertungen in dem Chorlied vor der großen lasonMedea-Szene etwas Berechtigtes gesehen hat und daß die Brüchigkeit der Heldenmoral, wie sie in den alten Märchen zum Ausdruck kommt, in seiner Tragödie, wie übrigens schon in der Alkestis, eine ganz entscheidende Rolle spielt. Wenn die Befangenheit in diesen Vorstellungen den lason bis zu einem gewissen Grad entschuldigt, ja, wenn die Blindheit, in der er gar nicht über diese Vorstellungen hinaus zu sehen fähig ist, ihm eine gewisse Unschuld gibt, durch die er erst gleich Medea zu einem tragischen Charakter wird, so wird dadurch die Heldenmoral, die ihn so blind macht, nur um so gründlicher verdammt. Es kann kaum ein Zweifel daran / bestehen, daß dies die Absicht des Euripides gewesen ist, und insofern mag man in ihm wohl auch in gewissem Sinn einen Moralisten und Aufklärer sehen. Aber wie unendlich weit ist er doch gleichzeitig von jener Art der Tendenzdramatik entfernt, die zu beweisen sucht, daß, wenn nur dieses oder jenes gebessert würde — etwa die Ehescheidungsgesetze wie bei dem erwähnten Stück von Shaw oder die Gewohnheit der Franzosen, zuviel Wein zu konsumieren, um ein Stück von Brieux als Beispiel zu nehmen —, den Menschen alle die Leiden erspart blieben, die der Dichter auf der Bühne so eindrucksvoll wie möglich dem Zuschauer vor Augen zu führen versucht hat. Nimmt man die Heldenmoral weg, so wird zwar zugleich die Voraussetzung einer Seite der Blindheit des lason Medea gegenüber beseitigt, und das Stück müßte wohl an einer entschei368

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denden Stelle eine andere Wendung nehmen. Aber das Verhältnis der Ehegatten wäre damit noch nicht in Ordnung gebracht, noch wären die inneren und äußeren Schwierigkeiten ihrer Lage beseitigt. Es bliebe immer noch die fundamentale Schwierigkeit, daß lason nicht der Held ist — aber doch auch wieder nicht, wie viele Interpreten wollen, ganz und gar nicht der Held —, in den Medea sich verliebt hat. Es bliebe immer noch, daß er nicht so liebt wie Medea und deshalb ihre Art zu lieben gar nicht verstehen kann und daher auch andere Auffassungen von der Ehe hat. Das ist bei ihm konstitutionell und unabhängig von seinen moralischen Vorstellungen. Eben deshalb, weil es konstitutionell ist, ist es aber auch wieder in gewissem Sinne etwas, woran er unschuldig ist und das er nicht ändern kann. Es bliebe ferner als Resultat dieser inneren Voraussetzungen die Ausweglosigkeit der Situation, da es, wenn lason das Angebot Kreons ablehnt, nur drei Möglichkeiten gibt: entweder von neuem ins Exil zu gehen und sich ein neues Asyl zu suchen oder sich in Korinth als Bürger niederzulassen, wenn Kreon das zulassen sollte, oder aber als Held von neuem auf Abenteuer auszugehen. Die letzte Möglichkeit ist dadurch ausgeschlossen, daß lason kein Herakles ist, daß, wenn man von der Vergangenheit auf die Zukunft schließen darf, Medea bald wieder für ihn würde handeln müssen und daß dies aller Wahrscheinlichkeit nach zu neuen Verbrechen führen würde. Die zweite Möglichkeit würde, selbst wenn sie für den geborenen Prinzen lason erträglich wäre, die Ehe bald für Medea unerträglich machen. Die erste Möglichkeit aber würde bald auf die Alternative der beiden anderen Möglichkeiten zurückführen. Das ist die Falle, in der lason und Medea gefangen sind und die dadurch, daß sie Kinder haben, noch auswegloser wird. Eben dadurch erweist sich nun Euripides als ein großer Dichter, daß es zwar bei ihm — nicht nur in der Medea, sondern auch in vielen ändern Stücken — eine Schicht gibt, die etwas enthält, „sur quoi" nach der bekannten Forderung des Corneille „nous pouvons nous corriger"55 oder vielleicht genauer, da es sich bei der Moral des Heldenmärchens um etwas Zeitgebundenes handelt, „sur quoi ses spectateurs anciens pouvaient se corriger", aber daß unmittelbar unter dieser Schicht eine andere Schicht sichtbar wird, in der die Konflikte sich nicht mehr auf so verhältnismäßig einfache Weise beseitigen lassen, und darunter eine noch

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tiefere, so daß es mehr1 als der berühmten zwölf Stunden, die Sokrates an einer Stelle gestanden haben soll, um eine moralische Frage zu lösen, bedürfte, um mit dem Nachdenken darüber zu Ende zu kommen, wenn das überhaupt möglich ist. Daß aber Euripides als wahrer Dichter nicht nur unbewußt Stücke schrieb, die tiefer waren als die Tendenz, die er mit ihnen verfechten wollte, sondern daß er auch dann, wenn er gewisse zu seiner Zeit gängige Anschauungen scharf angriff und ihre Hohlheit sichtbar zu machen suchte, sich bewußt war, daß dahinter noch tiefere / Schwierigkeiten und Konfliktmöglichkeiten standen, und auch diese zur Darstellung bringen wollte, scheint mir durch den großartigen Bogen, der sich über die mittleren Chorlieder der Medea spannt, unwiderleglich bewiesen zu sein. Doch das „sur quoi nous pouvons nous corriger", wie es Corneille gemeint hat, bezieht sich eigentlich nicht, wie bei den Tendenzdramatikern im engeren Sinne, auf falsche zeitgebundene Auffassungen und Tendenzen, denen man entgegenwirken, oder auf Einrichtungen, die man ändern kann, sondern auf die menschlichen Leidenschaften und Laster, die es zu allen Zeiten gegeben hat. Durch die Darstellung der schrecklichen Folgen der Leidenschaften und der Scheußlichkeiten des Bösen und Schlechten sollte der Zuschauer veranlaßt werden, seine Leidenschaften zu zügeln und sich von dem Bösen und Schlechten abzuwenden. Wie weit Corneille diesen theoretischen Forderungen nachgekommen ist und wie weit bei ihm im Gegenteil die Erfüllung der eigentlichen Aufgabe des Dichters, den Menschen auch in seinen Irrungen zu verstehen, selbst gegen seine Theorie sich geltend macht, habe ich an anderer Stelle zu zeigen versucht56. Insofern Euripides mit Vorliebe Charaktere, „die sind wie wir", in den Mittelpunkt seiner Dramen stellt und ihre Leiden aus ihren moralischen Unvollkommenheiten hervorgehen läßt, kann man vielleicht sagen, daß er sich der modernen Dramatik nähert. Aber von jener Art des Moralisierens, die es dem Zuschauer angesichts der dargestellten Charaktere möglidi macht, zu sagen „Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie jener" ist er noch weiter entfernt als Corneille. Daß ihn die modernen Interpreten nicht selten doch so interpretiert haben, scheint mir einer der größten Mängel der modernen Euripidesinterpretation zu sein. Nur so ist es auch möglich gewesen, Euripides und Ibsen, bei dem solches Moralisieren tatsächlich nicht selten ist, als verwandte 370

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Geister zusammenzustellen. Aber damit wird Euripides ganz verkannt. Einen Vergleich zwischen Euripides und Ibsen durchzuführen, würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Aber gerade an dem Vergleich mit Ibsen, der in der Beherrschung der dramatischen Technik unter den Dramatikern aller Zeiten kaum seinesgleichen hat57 und der einer der entschiedensten Moralisten unter den Dramatikern ist, ließe sich zeigen, daß selbst die virtuoseste dramatische Technik nicht ausreicht, eine wirklich große Tragödie hervorzubringen, und daß das Moralisieren im Drama gerade das Moralische, das der eigentliche Stoff ist, aus dem die Tragödie gemacht ist, unvermeidlich verdirbt53.

Das zuletzt Gesagte hat jedoch vielleicht gezeigt, daß sich manches, was für das Stück des Euripides charakteristisch ist, deutlicher sichtbar machen läßt, wenn man es mit anderen Dichtungen vergleicht. Es lohnt sich daher vielleicht, noch auf einige spätere Behandlungen der lasonMedea- / Legende einzugehen, soweit sich aus ihnen etwas für das Verständnis des Euripideischen Dramas gewinnen läßt. Die antiken nacheuripideischen Bearbeitungen des Stoffes sind vor allem deshalb interessant, weil sie zeigen, wie sich die Auffassung und Einschätzung der Medea und des lason nach Euripides weiterentwickelt hat. Sehr instruktiv ist schon, was bei den hellenistischen Dichtern daraus geworden ist. Zwar, daß Kallimachos die Geschichte von dem Versuch der Medea, Aigeus zu überreden, seinen Sohn Theseus, den er noch nicht erkannt hat, zu vergiften, in seine Hekale aufgenommen hat59, ist kaum von größerer Bedeutung, da die Geschichte eben in den Zusammenhang paßt und einen guten Hintergrund dafür abgibt, daß Theseus heimlich zu seinem Abenteuer aufbrechen muß, weil sein Vater ängstlich geworden ist. Aber die Behandlung des lason und der Medea in den Argonatttica des Apollonios Rhodios ist höchst interessant. Da Apollonios nur das Argonautenabenteuer selbst bis zur Rückkehr nach lolkos zum Gegenstand seines Gedichtes genommen hat, so kann er sich natürlich nicht an Euripides anschließen. Was er zum Gegenstand seines Gedichtes gemacht hat, ist etwas, das, wenn auch nicht durchweg zum ältesten, so doch zu relativ alten Bestandteilen der Sage gehört. Die jüngeren Entwicklungsstadien betreffen im wesentlichen alle, wie früher ge[66167]

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zeigt worden ist, Ereignisse, die nach die Rückkehr nach lolkos fallen. Um so interessanter ist es, daß dennoch ein gewisser Einfluß der Euripideischen Tragödie auf die Auffassung der Charaktere unverkennbar ist. Der Überblick über die Entwicklung der lason-Medea-Sage vor Euripides hatte ergeben, daß das Heldentum des lason unvermerkt etwas brüchig geworden war, da in den späteren Auszweigungen der Sage Medea immer mehr lason nicht nur da hilft, wo er mit übermenschlichen Kräften zu kämpfen hat, sondern auch da für ihn handelt, wo menschliche Kräfte wohl ausgereicht hätten, daß diese Brüchigkeit seines Heldentums jedoch, soweit sich erkennen läßt, nicht ausdrücklich und bewußt hervorgehoben war. Es hatte sich ferner ergeben, daß diese selbe Brüchigkeit des Heldentums lasons in Euripides' Medea ein sehr wesentliches Element im Hintergrund des tragischen Geschehens bildet, das nicht übersehen werden darf, wenn man die tragische Situation in allen ihren Aspekten verstehen will. So ist es höchst interessant, daß Apollonios diesen Zug, der dem ursprünglichen Märchen ganz fremd ist und dem unverbildlichten fortes fortuna adiuvat geradezu widerspricht, aufgenommen hat, in der Ausführung im einzelnen aber gerade dadurch in Schwierigkeiten gerät, die er nicht ganz überwunden hat. Das ganze Gedicht hindurch wird lason nicht als ein Held geschildert, der voll Abenteuerlust auszieht, allerhand Fährlichkeiten zu bestehen, aber auch nicht als ein Mann, der die ihm von außen her auferlegten Prüfungen oder die Gefahren, die ihm unversehens entgegentreten, mit festem Mut und Unerschrockenheit besteht. Gleich zu Anfang, noch vor der Ausreise, als seine Begleiter voller / Fröhlichkeit das Abschiedsmahl feiern, sitzt er allein da in schwere Gedanken versunken, „einem mutlosen Mann gleichend", und muß sich dafür von Idas schelten lassen60. Auf Lemnos wird er nur durch das Schelten und Drängen des Herakles davon abgehalten, sich bei Hypsipyle zu verliegen61. Als die Argonauten nach der Abfahrt von Mysien bemerken, daß sie Herakles aus Versehen zurückgelassen haben, wird lason zwar von Telamon beschuldigt02, er habe das absichtlich so veranstaltet, um den Ruhm der Gewinnung des Goldenen Vlieses nicht mit Herakles teilen zu müssen. Aber mit keinem Wort wird angedeutet, daß diese Beschuldigung gerechtfertigt sei. Als sich ein Streit darüber erhebt, ob man zurückfahren sollte, um Herakles 372

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zu suchen, sitzt lason vielmehr stumm da cmj und wagt weder der einen noch der anderen Partei zuzustimmen83. Im folgenden allerdings, nach der glücklich überstandenen Durchfahrt durch die Symplegaden, stellt sich lason nur verzagt, um den Sinn seiner Gefährten zu erproben, und freut sich, als sie ihm mit ermunternden Reden antworten64. Daß lason zunächst verzagt ist, als ihm in Kolchis Aietes die Bedingungen mitteilt, unter denen er ihm das Goldene Vlies überlassen will, macht ihm keine Schande. Aber auch bei der folgenden Beratung der Argonauten bei den Schiffen ist er der Verzagteste von allen. Als zuerst der Vorschlag gemacht wird, die Hilfe Chalkiopes und durch sie der Medea anzugehen, sagt lason, das sei eine schlechte Hoffnung, wenn ihre Rückkehr in die Heimat von Frauen abhängig sei60. Aber als dann andere, Telamon, Idas, Peleus, sich anbieten, an seiner Stelle den Kampf mit den Stieren und die übrigen Prüfungen zu bestehen66, stimmt er zu und wird nun von Idas gescholten67, daß man Weiberhilfe in Anspruch nehme, statt sich auf seine eigene Kraft zu verlassen. Am Ende freilich besteht lason, nachdem er mit Hilfe Medeas durch nächtliche Beschwörungen der Hekate, die ebenfalls wieder als unwürdige Hilfsmittel den Zorn des Idas hervorgerufen haben, dafür ausgerüstet und mit wunderbaren Mitteln gestärkt worden ist, den Kampf mit gewaltiger Kraft, wie es die Sage erfordert. Aber es ist doch wieder charakteristisch, daß die Beschreibung der Beschwörungen, mit deren Hilfe lason „fest" gemacht wird, sowie der Verwendung und Erprobung der der Medea kaum weniger Raum einnimmt als die Beschreibung des Kampfes mit den Stieren und ihrer Überwindung. Mit den Männern, die aus den Drachenzähnen herauswachsen, braucht er infolge des guten Rates, den ihm Medea gegeben hat, nicht zu kämpfen68. Immerhin sind es bei all den bisher erwähnten Fällen entweder unbekannte Gefahren, denen er entgegengeht, oder Proben, die über menschliche Kräfte hinausgehen, die er zu bestehen hat. Anders, als sie von den Kolchern eingeholt werden und diese die Herausgabe der Medea verlangen. Freilich stehen auch hier die Argonauten einer großen Übermacht gegenüber. Aber es ist doch eine menschliche Übermacht, und der Ausgang zeigt, daß es vielleicht doch nicht unmöglich gewesen wäre, ihr in offenem Kampfe zu widerstehen. Aber die Argonauten — hier ist

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nicht einmal von einem Widerspruch des Idas die Rede — beschließen, zwar das Goldene Vlies nicht herauszugeben, aber Medea in / einen Artemistempel zu bringen, wo sie das Urteil der Könige der umliegenden Völkerschaften erwarten soll, ob sie den Kolchern auszuliefern sei oder nicht69. Erst als Medea den lason beiseite nimmt und ihn beschwört, sie nicht auszuliefern, sonst werde sie sich das Leben nehmen und ihn nach ihrem Tode als Erinnye verfolgen, erklärt ihr lason, daß auch ihm die Abmachung „nicht gefalle"70. Es habe aber gegolten, Zeit zu gewinnen. Denn wenn sie alle im Kampfe fielen und dann Medea den Kolchern als Beute lassen müßten, sei es doch noch schlimmer als jetzt. Wenn dagegen die Kolcher ihres Führers beraubt seien, dann würden die umwohnenden Völker ihnen nicht mehr in gleichem Maße helfen, und dann sei auch er bereit, mit den Kolchern zu kämpfen, wenn sie versuchen sollten, ihn weiter an der Heimkehr zu hindern. Darauf erklärt sich Medea bereit71, ihren Bruder ihm durch falsche Vorspiegelung in die Hände zu spielen. Aber selbst als er mit Apsyrtos und dessen wenigen Begleitern auf einer Insel zusammentraft, fordert lason ihn nicht einmal unter solchen Bedingungen zum ehrlichen Zweikampf heraus, sondern überfällt ihn von hinten und tötet ihn72. Dann vollzieht er an ihm noch die scheußlichen Riten, die den Geist des Toten verhindern sollen, sich an dem Mörder zu rächen. Eine etwas andere Situation ergibt sich, als die zweite Abteilung der verfolgenden Kolcher, die durch den Bosporus in die Aegeis gefahren ist, auf ihrem Weg in den Westen mit den Argonauten auf der Phaeakeninsel zusammentrifft. Alkinoos will es nicht zum Kampfe zwischen den Fremdlingen in seinem Lande kommen lassen, sondern den Streit durch einen Schiedsspruch entscheiden73. Hier ist lason durch die Pflicht des Gastes entschuldigt, wenn er nicht gleich zu den Waffen greift, um Medea zu verteidigen. Aber höchst eigentümlich ist, was die Königin Arete zu ihrem Gemahl Alkinoos sagt7*, um ihn dazu zu bewegen, den Fremden seinen Schutz angedeihen zu lassen. „Wie ich höre", sagt sie, „hat lason der Medea gewaltige Eide geschworen, sie bei sich zu seiner Gemahlin zu machen. Bringe du ihn nun nicht in die Lage, eidbrüchig zu werden." Daran, daß lason auf alle Fälle Medea verteidigen und lieber mit ihr sollte sterben wollen als sie auszuliefern, scheint sie gar nicht zu denken. Tatsächlich wird ja dann durch die Entscheidung des Alkinoos und die 374

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sofort vollzogene Ehe zwischen lason und Medea, die bis dahin wie gut bürgerliche Brautleute mit dem Vollzug der Ehe hatten warten wollen, bis sie zu Hause in der Heimat richtig Hochzeit feiern könnten, Medea gerettet, ohne daß lason über seine Bereitwilligkeit, das Brautbett zu besteigen, hinaus einzugreifen brauchte75. Es ist höchst bemerkenswert, wie hier also das ganze Gedicht hindurch das zu unmittelbarer Anschauung gebracht wird, was bei Euripides den zum vollen Verständnis der Tragödie notwendigen Hintergrund bildet, aber doch eben Hintergrund bleibt. Man sieht also, wie stark sich dieser Aspekt dem Apollonios aufgedrängt hat. Ja, dies ist um so auffallender, als Apollonios mit diesem Aspekt des Verhaltens des lason eigentlich gar nicht viel anfangen kann und bei ihm alles ohne Folgen bleibt: zunächst im Äußeren: das ganze Gedicht endet mit der glücklichen Heimkehr nach lolkos nach Überstehen aller Fährlichkeiten. Von den schweren Schicksalen, die lason und Medea in der Zukunft / noch bevorstehen, wird nichts angedeutet. Dann aber auch, was viel wichtiger ist, im Moralischen: Zwar wird lason immer wieder von Idas getadelt. Aber Idas greift an anderer Stelle76 auch den Seher Idmon an und wird von diesem wegen seiner frevelhaften Reden zurückgewiesen. Auch das bleibt übrigens ohne Folgen, und es wird nicht eindeutig klargemacht, wem der Dichter in diesem Streite recht gibt. Für die übrigen Argonauten bleibt lason jedenfalls immer der unbezweifelte Führer, ob zaghaft oder nicht. Sie machen alles mit, was er unternimmt, sogar den feigen Mord an Medeas Bruder Apsyrtos. Das ist nun in doppelter Weise höchst interessant und von Bedeutung nicht nur für Apollonios, sondern auch für die Auffassung der Tragödie des Euripides im Altertum. Es bestätigt sich, was über die Entwicklung des Märchens von den Anfängen bis auf die Tragödie des Euripides gesagt worden ist. Dem ursprünglichen Märchen ist die Zaghaftigkeit des Helden, die Brüchigkeit seines Heldentums, völlig fremd. Sie ist erst durch die zugewachsenen Episoden hineingekommen. Daher paßt sie nicht in die Geschichte vom Argonautenzug und bleibt bei Apollonios, der diesen allein zum Gegenstand genommen hat, im Grunde ein Fremdkörper. Es bestätigt sich, was über diesen selben Zug als Hintergrund der Euripideischen Tragödie gesagt worden ist. Apollonios hat ihn bemerkt und herausgestellt, obwohl er zum Gegenstand seines Gedichtes eigent[69170]

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lieh nicht paßt. Es bestätigt sich endlich, was über das mutmaßliche Urteil der Mehrheit der antiken Zuschauer und Leser über Charakter und Verhalten des lason gesagt worden ist. Obwohl Apollonios die Brüchigkeit des Heldentums des lason bei Euripides bemerkt und sie von diesem übernommen hat, führt dies doch nicht dazu, daß lason, wie bei den meisten modernen Interpreten, völlig verdammt und abgewertet wird. Er bleibt immer noch eine positive Gestalt. Vor allem aber erstrahlt die hohe Kunst des Euripides im hellsten Licht, der es verstanden hat, gerade aus dem Widerspruch, der sich in der Entwicklung des Märchens ergeben hatte, eine in ihrer Widersprüchlichkeit einheitliche menschliche Gestalt zu formen, während bei Apollonios trotz des Versuches, durch immer erneute Wiederholung derselben Charakterzüge einen einheitlichen Charakter zu schaffen, eine unüberbrückbare Kluft zwischen der Funktion des Helden im Gesamtgeschehen des Gedichtes und seinem individuellen Charakter bestehenbleibt, die innerhalb des Gedichtes in keiner Weise überbrückt oder ausgefüllt wird76a. Etwas anders, aber in gewisser Weise doch analog, steht es mit der Figur der Medea. Eines der Glanzstücke, wenn nicht das Glanzstück des Gedichtes des Apollonios, sind die umfangreichen Abschnitte im dritten Buch77, in denen der Kampf zwischen der mädchenhaften Scham der Medea und ihrer Liebe zu lason, ihr Schwanken zwischen der Angst vor den Eltern und ihrem überwältigenden Wunsch, den strahlenden Helden vor dem sicheren Untergang zu retten, in allen Einzelheiten und in allen Phasen geschildert wird. Das ist raffinierte hellenistische Kunst, die dem alten Märchen zwar / natürlich fremd ist, aber mit dessen wesentlichem Inhalt doch zunächst nicht in Widerspruch gerät. Auch vieles in den späteren Teilen des Gedichtes, die bitteren Tränen, mit denen Medea Kirke verläßt78, nachdem sie von ihr nach dem Vollzug der Reinigungsriten wegen der Ermordung des Apsyrtos aus dem Hause gewiesen worden ist, ihr flehentlicher Appell an Arete bei den Phaeaken79, ja auch ihre wilde Beschwörung des lason, sie nicht auszuliefern, als sie von den Kolchern unter Apsyrtos eingeholt werden80, ihre Drohung, sich das Leben zu nehmen und nach ihrem Tod lason als Erinnye zu verfolgen, wenn er sie preisgibt, alles das bleibt im Rahmen der Psychologie und Charakterschilderung, die im dritten Buch vom ersten Auftreten der Medea an angelegt worden ist. Selbst daß Medea, wie sie selber sagt, 376

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nachdem sie einmal mit Taten, die ihr Schande bringen, angefangen hat, in der Verzweiflung bereit ist, bis zum Äußersten zu gehen und ihren Bruder dem lason zu feigem Meuchelmord in die Hände zu liefern, läßt sich noch im Rahmen der zu Anfang angelegten Psychologie verstehen. Aber eben darin zeigt sich die Schwäche des Gedichtes des Apollonios in der eindringlichen Menschendarstellung trotz aller raffinierten Psychologie, daß in den späteren Szenen wieder das Mädchenhafte im Vordergrund steht, daß sich also an Medea seit dem Mord an dem Bruder nichts Wesentliches geändert hat. Nun kann man gegen diese Kritik freilich einwenden, daß die Darstellung der Entwicklung von Charakteren der antiken Kunst überhaupt fremd oder wenigstens bis auf Poseidonios fremd geblieben sei, obwohl dieses philologische Dogma vielleicht auch der Modifizierung bedarf. Aber das kann nichts daran ändern, daß die Erfassung des Menschlichen in Medea, wie es nach der Ermordung des Bruders und dem Mord an Pelias geworden ist, bei Euripides viel reicher und tiefer ist, obwohl er im Psychologischen viel zurückhaltender ist als Apollonios. * Ergaben sich für Apollonios gewisse Schwierigkeiten daraus, daß er sich in der Darstellung der Hauptcharaktere, vor allem des lason, hatte von Euripides beeinflussen lassen, zu seinem Gegenstand aber einen Teil der lason-Medea-Legende gewählt hatte, der viel älter war als Euripides und in den Apollonios vorliegenden Versionen seinen voreuripideischen Charakter bewahrt hatte, so behandelt die Medea-Tr^ödie des Seneca genau denselben Gegenstand wie Euripides. Übereinstimmungen und Abweichungen sind also hier rein durch die Auffassung und Absicht des Dichters bestimmt. Die auffallendste, auf den ersten Blick sichtbare, Abweichung von Euripides ist, daß der Chor nicht auf der Seite Medeas steht; dann die Darstellung des lason selbst. Bei Euripides beginnt die große Auseinandersetzung zwischen lason und Medea mit einer längeren Anrede des Jason an Medea, in der er sie zu beschwichtigen sucht und auf die Iedea mit dem Vorwurf der Feigheit und Heuchelei antwortet. Es bedarf bei ihm der genauesten Interpretation, um zu sehen, wie weit nach Meinung des Dichters die Vorwürfe Medeas gerechtfertigt sind. Seneca dagegen hat der Auseinandersetzung zwischen den Ehegatten einen kurzen Mo-

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nolog des lason vorausgeschickt81, in dem lason ohne Rücksicht auf andere seine Gefühle und Gedanken enthüllt, so daß ein Interpretationsproblem wie dasjenige bei Euripides nicht entstehen kann. lason beklagt sich über das Geschick, das, wenn es ihn zu retten oder ihm ein Mittel zur Rettung zu bieten scheint, ihn jedesmal noch schwerer trifft, als wenn es offen gegen ihn wütet. Jetzt ist er durch das Angebot des Korintherkönigs, ihn gegen die Feinde / zu verteidigen, wenn er seine Tochter heiratet, in eine Lage gekommen, wo er entweder seine Treuepflicht Medea gegenüber verletzen oder sterben muß. Aber nicht feige Furcht, sagt er, kann ihn dazu bewegen, die der Medea geschworene Treue zu brechen, sondern nur die Sorge um die Kinder, die ebenfalls sicherem Verderben ausgeliefert sind, wenn die Eltern sterben müssen. Er ruft die Göttin der Gerechtigkeit zum Zeugen an, daß es nur die Sorge um die Kinder ist, die seinen Entschluß bestimmt hat, und er spricht die Hoffnung aus, daß auch bei Medea, obwohl sie ferox est corde nee paticns iugi, der Gedanke an die Kinder schließlich den Sieg über alles andere davontragen werde. So will er versuchen, mit Bitten ihren Zorn zu besänftigen. Aber im selben Augenblick hat sie ihn erblickt, und er erschrickt vor dem Ausdruck wildester Leidenschaft, den er in ihren Mienen sieht. Hier kann kein Gedanke an Heuchelei aufkommen, nicht einmal in dem Sinne, daß lason sich selbst zu belügen versucht. In der folgenden Auseinandersetzung zwischen lason und Medea, in der Seneca viel von Euripides übernommen hat, ist es freilich nicht ganz leicht, die Unschuld lasons aufrechtzuerhalten. „Wieder einmal", sagt ihm Medea82, „ist es Zeit, zu fliehen. Nur der Grund der Flucht ist diesmal ein anderer. Bisher bin ich immer diejenige gewesen, die deinetwegen geflohen, ins Exil gegangen ist. Jetzt ist es an dir, für mich dasselbe zu tun, wo du bleiben könntest, wie ich in Kolchis hätte bleiben können." Und leidenschaftlich hält sie ihm vor, was sie alles für ihn getan und für ihn aufgegeben hat. lason hat darauf zunächst nichts zu erwidern, als daß Kreon Medea töten lassen wollte und daß er es erreicht hat, daß sie nur in die Verbannung geschickt wird. Es erscheint uns nicht als sehr edel, wenn lason jeden Anteil an den Verbrechen Medeas, den Morden an Apsyrtos und an Pelias, von sich weist. Aber es ist ganz und gar im Einklang mit den Prinzipien der stoischen Philosophie, wenn lason auf Medeas Vorhaltung, der sei der Urheber der Verbrechen, zu dessen 378

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Gunsten sie begangen worden sind und der daraus Nutzen gezogen hat, antwortet, ein Leben, „das anzunehmen man sich schämt", das heißt das durch Mittel erhalten worden ist, deren man sich schämen muß, sei kein Gut, für das man dankbar sein muß83. Wenn man dies als für lason wahr nehmen will, muß man freilich annehmen, daß lason und Medea schon vor dem Verbrechen an Pelias Kinder gehabt haben. Doch steht dieser Annahme nichts im Wege, da die Kinder schon einige Jahre alt sind, und die Vertreibung aus lolkos wegen der Ermordung des Pelias als unmittelbar vorangehend gedacht werden muß. Ganz ähnlich steht es mit der zweiten Hälfte der Auseinandersetzung zwischen lason und Medea. Wir können kaum umhin, es als eine gewisse Brüchigkeit im Heldentum des lason zu empfinden, wenn er immer wieder auf die Übermacht der Gegner hinweist, mit denen er sich nicht zu messen wagt8*. Und als ihm Medea entgegenhält, mit allem wolle sie ihm helfen fertig zu werden, wenn er ihr nur die Treue hält, weicht er aus: „laß uns die lange Auseinandersetzung abbrechen, damit sie nicht Verdacht erregt"85. Am Ende aber kommt lason zu seinem Ausgangspunkt zurück: „Ich wollte und würde dir gehorchen. Aber der Gedanke an die Kinder macht es mir unmöglich86." Und um keinen Zweifel daran zu lassen, daß lason hierin ehrlich ist, gibt eben dies Medea den Gedanken ein, sich durch Ermordung der Kinder an ihm zu rächen87: „So sehr liebt er die Kinder! Nun hab ich ihn. Nun weiß ich die Stelle, an der ich ihn treffen kann." / Alles dies ist nun wieder außerordentlich interessant. Man geht kaum fehl, wenn man annimmt, daß die ausweichenden Antworten lasons sowohl in der ersten wie in der zweiten Hälfte der Auseinandersetzung, auf die aufmerksam gemacht worden ist, nicht so sehr Ausdruck der Verlegenheit lasons als des Dichters sind. Besonders auffallend ist dies m der ersten Hälfte der Auseinandersetzung. Die einzige Antwort, die lason — abgesehen von seiner Sorge um die Kinder — auf die leidenschaftlichen Vorhaltungen der Medea geben kann, und die, wie das Folgende zeigt, in gewisser Weise auch als berechtigt angesehen werden soll, ist dies, daß es sich bei der Einholung des Goldenen Vlieses um ein legitimes ritterliches Unternehmen gehandelt hat, daß aber die jetzige Bedrohung durch die Verbrechen der Medea hervorgerufen worden ist. Aber dies von lason sagen zu lassen, würde spontan beim Zuhörer die [72173]

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Empfindung hervorrufen, daß es doch ganz und gar unedelmütig von ihm sei, ihr das Verbrechen vorzuwerfen, das sie um seinetwillen begangen hat. So hilft sich der Dichter damit, daß er lason zunächst ausweichen und dann mit Hilfe einer etwas künstlichen Wendung Medea selbst die Verbrechen, die sie begangen hat, lason vorwerfen läßt: 493 ff.:

las: Dum licet abire, profuge teque hinc eripe: gravis ira regum est semper. Med: Hoc suades mihi praestas Creusae: paelicem invisam amoves, las: Medea amores obicit? Med: Et caedem et dolos. las: Obicere tandem quod potes crimen mihi? Med: quodcumque feci. las: Restat hoc unum insuper tuis ut etiam sceleribus fiam nocens, etc.

Nun kann lason, ohne gleich großen Anstoß zu erregen, sagen, er habe diese Verbrechen doch nicht gewollt, und wenn er ihnen — oder dem einen davon — tatsächlich sein Leben verdanke, so sei ein Leben, das durch eine schändliche Tat gerettet ist, kein erstrebenswertes Gut. Aber ganz wird auch dadurch der Anstoß, den wir instinktiv nehmen, nicht beseitigt. So bestätigt sich auch bei Seneca in anderer Weise, was schon bei Apollonios zu beobachten gewesen war, daß der spätere antike Dichter die negativen Züge, die Euripides dem Charakter des lason gegeben hatte, nicht mehr auszumerzen imstande war, daß er aber nicht dieselben Konsequenzen daraus gezogen hat wie die Mehrzahl der modernen philologischen Interpreten des Euripides, sondern im Gegenteil spontan bestrebt war, ihn möglichst positiv zu erhalten. Hinsichtlich des Charakters der Medea brauchte Seneca Euripides gegenüber nicht soviel zu ändern. Er sah sich auch nicht der Schwierigkeit gegenüber, an der Apollonios bis zu einem gewissen Grade gescheitert war, daß er mit der jugendlichen Medea zu beginnen und den Übergang zu der Verbrecherin zu finden hatte, was Apollonios, wie gezeigt, nicht ganz gelungen ist. Auch er exzelliert wie Apollonios in der Psychologie des Schwankens zwischen den verschiedensten Gefühlen und Motiven, die Medea hierhin und dorthin zerren, so daß sie am Anfang sogar einen Augenblick wünschen kann, daß alle anderen Beteiligten grausam vernichtet werden, aber lason, den sie immer noch liebt, gesund und heil erhalten bleiben soll88, während sie vorher und nachher in ihm denjeni380

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gen sieht, an dem es vor allem Rache zu nehmen gilt. Aber bei allem Schwanken ist seine Medea von Anfang bis zu Ende aus einem Guß. / Trotzdem ist durch die Veränderung im Charakter lasons auch an Medea etwas Entscheidendes geändert. Wie es der allgemeinen Tendenz des stoischen Dramas Senecas entspricht, wird an Medea die Verderblichkeit der Leidenschaften, zuerst der Liebe als Leidenschaft89, dann des Zornes und Hasses, in den die verratene Liebe umschlägt, der Leidenschaften, die den Menschen blind machen und zum Verderben treiben, demonstriert. Aber es fehlt jener tief menschliche Zug, den Euripides in so unvergleichlicher Weise zur Darstellung gebracht hat: daß Medea in ihrer Bewunderung der strahlenden Erscheinung des jungen Helden sich von Anfang an in seinem Charakter getäuscht hat — bei Seneca wird er ja weitgehend von den Mängeln, die er bei Euripides hat, reingewaschen — und daß ihr in dieser Blindheit alle Verbrechen, die sie für ihn begangen hat, gut und unbedenklich erschienen sind, wenn es nur für ihn war, bis sie an sich selbst seine Mängel zu fühlen bekommt. So ist die Medea des Seneca bei aller Verblendung durch die Leidenschaft ihrer selbst viel mehr bewußt als die des Euripides. Vom ersten Anfang des Stückes an spricht sie von ihren Verbrechen, ihren scelera, und bezeichnet sie selbst mit diesem Wort. Damit hängt nun noch ein weiterer Faktor zusammen, der eine Verbindung zwischen dem Stück des Seneca und dem des Euripides herstellt und an dem sich doch wieder zugleich ein fundamentaler Unterschied zwischen den beiden manifestiert. Wie an anderer Stelle zu zeigen versucht worden ist00, zeigt sich die hohe Kunst des Euripides eben darin, wie er an einer oft mißverstandenen Stelle zuerst Medea sagen läßt, das weibliche Geschlecht sei von den ausgeschlossen, verstehe sich aber vortrefflich auf alle , und unmittelbar darauf den Chor in einen Lobpreis der Medea ausbrechen läßt, durch welche die traditionelle Einschätzung der Geschlechter korrigiert, wenn nicht in ihr Gegenteil verkehrt, wird. Hier kehren sich bei Euripides eben die Fronten um: von weithin scheinenden, bewunderten Heldentaten ist Medea wie alle Frauen ausgeschlossen. Sie muß die krummen Wege des Truges, der Zauberei, des Giftmordes gehen. Aber eben darin, wie sie es tut und getan hat, zeigt sie männlichen Mut und Kraft — und Treue und Zuverlässigkeit, solange ihr selbst die Treue nicht gebrochen worden ist. Da[73174]

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gegen hat sich das Heldentum lasons, der die weithin glänzenden, von allen bewunderten Heldentaten, die & , vollbracht hat, als brüchig, hat er sich als treulos erwiesen, ist er gezwungen, sich Medea gegenüber in gewundenen Reden zu ergehen. Bei Seneca ist davon übriggeblieben, daß Kreon an Medea neben der weiblichen Bosheit und Gewitztheit in bösen Machenschaften ihre männliche Stärke, ihr robur virile hervorhebt91, daß an anderer Stelle92 die Frau allgemein als dux malorum und scelerum artifex bezeichnet wird, und daß endlich, wiederum in einem anderen Stück93 (gegen Odysseus gerichtet), List und krumme Wege als das Gegenteil mann- / licher virtus erscheinen. Soweit ist also auch bei Seneca noch bewahrt, was über die Bedeutung der Begriffe und in der archaischen Heldenmoral gesagt worden ist. Aber das Gegenstück fehlt: sowohl die spezifische Blindheit lasons, die durch seine aus einem bestimmten Aspekt der Heldenmoral hervorgegangene Auffassung von der natürlichen Rolle des weiblichen Geschlechtes den Helden gegenüber hervorgerufen ist, als auch die deutlich sichtbar gemachte Brüchigkeit von lasons eigenem Heldentum. Das sind aber alles grundlegende Verschiedenheiten, und an ihnen läßt sich am besten zeigen, worin sich die Tragödie Senecas, auch abgesehen von der rein technischen Durchführung, von derjenigen des Euripides wesentlich unterscheidet. Lange Zeit sind die Tragödien Senecas im Abendland außerordentlich bewundert worden und haben auf die Entwicklung der abendländischen Dramatik einen sehr großen Einfluß ausgeübt. In unserer Zeit ist dann das Urteil, vor allem bei den philologischen Interpreten, umgeschlagen. Man hat die Tragödien Senecas als „rhetorisch" bezeichnet und ihm vorgeworfen, abstrakte Leidenschaften und keine wirklichen Charaktere auf die Bühne zu stellen. Daneben gab es dann freilich auch wieder Versuche, „einer gerechteren Beurteilung" der Tragödien Senecas Bahn zu brechen94. Vielleicht läßt sich auch diese Frage am besten beantworten, wenn man festzustellen versucht, was denn Seneca vor allem von seinem großen Vorgänger unterscheidet. Geht auch Seneca in dem Gebrauch von Worten, die das Schreckliche, Furchtbare, Grausame etc. bezeichnen, beträchtlich über seine griechischen Vorbilder hinaus, und kann man darin auch eine gewisse Neigung zum Rhetorischen sehen, so ist es doch ganz und gar ungerecht, in seinen Tragödien nichts als leere Rhetorik zu finden. Es finden sich darin durchaus 382

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edit menschliche Töne, wie in der Selbstbehauptung der Medea mit ihrer Amme, als diese sie beschwört, nachzugeben, da es sinnlos sei, sich gegen die Übermacht aufzulehnen95, einer Selbstbehauptung, die später von dem großen Corneille zu einer der mit recht berühmtesten Szenen seiner /ec/erttragödie gesteigert worden ist96. Ähnliches gilt von dem leidenschaftlichen Apell der Medea an lason97, wenn alle ihre Verbrechen verurteilten, dürfe er es doch nicht tun, um dessentwillen sie sie begangen habe: um nur zwei Beispiele aus vielen zu nennen. Eben diese Beispiele zeigen auch, daß Seneca, sei es nun absichtlich, sei es ohne Absicht und weil außer dem stoischen Moralisten doch auch etwas von einem wirklichen Dichter in ihm war, nicht nur abstrakte Leidenschaften auf die Bühne gestellt, sondern seinen Figuren auch Züge von wirklichen Menschen gegeben hat, die sich nicht auf Abstraktionen reduzieren lassen. Was Seneca jedoch gegenüber Euripides fehlt, ist die Tiefendimension, die das euripideische Drama durch die Verstrickung seiner Hauptcharaktere in die verschiedensten Arten der Blindheit erhält, einer Blindheit wiederum, die durch das Zusammenwirken der Charakteranlagen in ihrer natürlichen / Beschränkung mit der Umweltsituation hervorgerufen wird. Erst dadurch entsteht bei Euripides jenes Zusammenspiel zwischen dem allgemeinen Menschlichen (auch in den menschlichen Schwächen) und dem Individuellen, dem allgemeinen moralischen Anspruch und der besonderen Form, welche die moralische Forderung im Bewußtsein bestimmter historischer Zeiten annimmt, das das euripideische Drama erst zu einem vollen Bild menschlichen Lebens macht. Den Mangel daran haben die modernen Interpreten bei Seneca instinktiv empfunden. Aber weil die Kategorien zu seiner Erfassung fehlten, kam es zu dem L^rteil, die Dramen Senecas seien bloße Rhetorik, oder er habe nur abstrakte Leidenschaften auf die Bühne gestellt. Daher ist es notwendig, diese Kategorien zurückzugewinnen, um die Eigenheit der Dichtung des einen und des anderen Dichters nicht nur unbewußt zu empfinden, sondern auch in ihrem eigentlichen Wesen zu verstehen.

Von einer ganz anderen Seite her ist die Medeatragödie Corneilles nicht nur für die Geschichte des Medeamotivs, sondern auch für das Verständnis des Euripides interessant. Die Medee kann wohl als die [75176]

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erste Tragödie im eigentlichen Sinn betrachtet werden, die Corneille geschrieben hat. Denn über die fünf Jahre früher geschriebene Tragödie Clitandre hat Corneille selbst später ein sehr hartes Urteil gefällt08, indem er behauptet, er habe sie geschrieben, um seine ein Jahr früher geschriebene Komödie Melite zu verteidigen, die man angegriffen hatte, weil in ihr die damals geforderte Einheit der Zeit nicht beobachtet war. Um also zu zeigen, daß diese Komödie trotz ihrer Verletzung der Regel „die wahren Schönheiten des Theaters auf weise", habe er es unternommen, „d'en faire une reguliere (in diesem Fall allerdings eine Tragödie, nicht eine Komödie), c'est-a-dire dans ces vingtquatre heures, pleine d'incidents et d'un style plus eleve, mal s qui ne v audr ait r ien du tout; en quo i j e r e us si s parfaitement". In der Medee als der ersten seiner Tragödien ist Corneille, wie man leicht sehen kann, seines metiers noch nicht so sicher wie in seinen späteren Meisterwerken. Aber da er auf dem Wege war, ein großer Meister zu werden, sind auch seine Fehler sehr interessant. Vor allem aber hat die Tragödie auch deshalb ein besonderes Interesse, weil Corneille selbst sagt, daß er die Tragödie des Euripides zu seinem Ausgangspunkt genommen habe, und zugleich im einzelnen angibt, wo und warum er von ihm abgewichen ist, so daß man in bezug auf die Gründe seiner Änderungen nicht auf Rückschlüsse aus dem Stück selbst angewiesen ist. Da ferner Corneille die Kritik seines eigenen Stückes, in der er diese Angaben macht, viele Jahre später und nachdem er schon seine Meisterwerke, wie den Cid, den Horace, den Cinna, und den Polyeucte geschrieben hatte, verfaßt hat, so läßt sich aus ihr entnehmen, welche Änderungen er auch später noch im wesentlichen für richtig gehalten hat und was er später anders gemacht hätte. Die Mehrzahl der Änderungen dem Euripideischen Stück gegenüber sind nun von Corneille aus technischen Gründen vorgenommen worden, um Unwahrscheinlichkeiten zu vermeiden oder um einer besseren Motivierung willen. Sehr interessant ist in dieser Hinsicht, was er über die Aigeusszene bei Euripides sagt. An dieser Episode mißfallen ihm drei Dinge: Einmal, daß Aigeus ganz zufällig — „en passant", wie Corneille sagt —, gerade im rechten Augenblick in Korinth erscheint, daß er allzu / auffällig als reine Nebenfigur zu einem bestimmten Zweck in das Stück eingeführt ist und kein eigenes Interesse hat. Dann findet Corneille es 384

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unpassend, daß Aigeus, obwohl er selbst König ist, sich bei seiner Durchreise in Korinth mit dem zufälligen Zusammentreffen mit Medea begnügt und keine Verbindung mit dem Hofe aufnimmt, womit er alle Gepflogenheiten internationaler Höflichkeit verletze. Endlich, meint Corneille, sei auch für Medeas Zukunft bei Euripides nur schlecht gesorgt, einmal weil Aigeus Medea sein Versprechen, ihr Asyl zu gewähren, nuf auf Grund eines Dienstes gibt, den sie ihm in Zukunft leisten will, dann aber auch vor allem, weil er seine Reise nach Troizen fortsetzen will, wo er, wie man aus der Sage weiß, erst mit der Königstochter Aithra einen Sohn Theseus zeugen wird, so daß er kaum rechtzeitig in Athen ankommen kann, um Medea, wenn sie am folgenden Tag mit ihrem Drachengespann dort ankommt, in Empfang zu nehmen und dafür zu sorgen, daß sie von den einheimischen Behörden gut aufgenommen wird. Um alle diese Mängel des Euripideischen Stückes zu vermeiden und vor allem, um, wie er sagt, dem Aigeus innerhalb der Handlung des Stückes ein eigenes Interesse zu geben, läßt Corneille Aigeus heftig in Kreusa verliebt sein und als Werber um ihre Hand und damit als Rivalen des lason auftreten. Aigeus wird dann von Kreusa abgewiesen, weil sie lason liebt, aber auch mit der Begründung, daß sie als Erbin ihres Vaters nicht außer Landes heiraten, sondern einen Gatten nehmen wolle, der die Nachfolge ihres Vaters als Herrscher von Korinth antreten könne. Durch diese Abweisung aufs tiefste beleidigt, versucht Aigeus mit den Schiffen, die er im Hafen liegen hat, einen Handstreich auf Korinth und eine gewaltsame Entführung der Kreusa, die fast gelingt und nur im letzten Augenblick durch das Eingreifen und die Tapferkeit des lason verhindert wird, der Aigeus zum Gefangenen macht und sich dadurch erst recht die Zuneigung der Kreusa und ihres Vaters Kreon erwirbt. Der gefangene Aigeus seinerseits wird jedoch von Medea, vor deren Zauberstab sich alle Schlösser öffnen, aus seiner Gefangenschaft befreit. Damit verdient sie sich seine unauslöschliche Dankbarkeit. Er ist nun auch von seiner Liebe zu Kreusa befreit und verspricht, Medea gleich nach ihrer Ankunft in Athen zu heiraten. Die Episode mit Troizen wird also ausdrücklich ausgeschaltet und damit Vorsorge für eine gesicherte Zukunft Medeas in Athen geschaffen. Dies alles ist nun wieder in mehrfacher Hinsicht interessant. Die An-

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stoße, die Corneille an der Aigeusszene bei Euripides genommen hat, sind zweifellos alle berechtigt, wenn auch von verschiedenem Gewicht. Der schwerste ist der, daß Aigeus bei Euripides ganz offenkundig nur zu dem Zweck eingeführt wird, Medea ein Asyl zu verschaffen. Sogar bei Neophron war sein Erscheinen wenigstens etwas besser motiviert als bei Euripides". Daß er gerade innerhalb der zehn oder zwölf Stunden, wo Medea ihn braucht, völlig zufällig mit ihr zusammentreffen soll, obwohl er nicht die geringste Absicht dazu gehabt hat und ganz woanders hin unterwegs ist, heißt nicht nur dem nachrechnenden Leser, sondern selbst dem Zuschauer im Theater, der nicht so genau nachrechnen kann, etwas viel zumuten. Dafür soll man den Euripides ruhig tadeln. Das ist sehr viel besser als die bei den modernen Philologen, beliebte Methode, die Grundregeln des Dramas außer Kraft zu setzen, weil es bei einem großen klassischen Dichter nichts zu tadeln geben darf. Alles, was man zur Verteidigung des Euripides in dieser Hinsicht sagen kann, ist, daß er sich — wenn, wie ich es für wahrscheinlich halte, die Tragödie des Neophron mit ihrer besseren Motivierung der seinen vorangegangen war, vielleicht / sogar mit einer gewissen absichtlichen eigenwilligen Nichtachtung — über die technische Regel hinweggesetzt hat, um einen Zweck zu erreichen. Das kann jedoch nichts daran ändern, daß es noch besser gewesen wäre, wenn er seinen Zweck ohne Verletzung der technischen Regeln erreicht hätte. Zu Corneilles Zeit wurden gerade die technischen Regeln des Dramas aufs eifrigste diskutiert, und wenn auch die Medee die erste eigentliche Tragödie Corneilles war, so hatte er doch vorher schon einige Komödien geschrieben und, wie seine theoretischen Äußerungen aus dieser und aus späterer Zeit zeigen, über die Regeln der Technik intensiv nachgedacht. So ist es nur natürlich, daß er die offenkundigen Mängel des Euripideischen Dramas in dieser Hinsicht zu korrigieren versuchte. Aber es ist auch sehr interessant, zu sehen, was dabei herausgekommen ist. Voltaire hat die Behandlung der Aigeusepisode durch Corneille heftig kritisiert. Er schreibt darüber: „II est inutile de remarquer combien le röle d'Aege'e est froid et insipide. Une piece de theatre est une experience sur le coeur humain. Quel ressort remuera l'äme des hommes? Ce ne sera pas un vieillard amoureux et meprise, qu'on met en prison et qu'unc sorciere delivre. Tout personnage principal doit inspirer un degre 386

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d'interet; c'est une des regies inviolables: elles sont routes fondees sur la nature." Diese Kritik Voltaires ist in doppelter Hinsicht unzutreffend. Zunächst trifft die Kritik, daß Aigeus ein „vieillard amoureux" sei, nicht das Stück Corneilles, wenn auch möglicherweise Aufführungen desselben, die zur Zeit Voltaires stattgefunden haben mögen. Bei Corneille findet sich keine Andeutung, daß Aigeus alt zu denken sei. Da er im Gegensatz zum Stück des Euripides als bisher unverheiratet gedacht ist und die Könige im Altertum nicht spät zu heiraten pflegten, ist eher anzunehmen, daß er noch jung ist. Dieser Einwand fällt also weg. Viel wesentlicher ist der zweite. Er wiederholt gegen Corneille, was dieser an Euripides auszusetzen gehabt hatte: daß die Figur des Aigeus kein eigenes Interesse hervorrufen könne. „Tout personnage principal doit inspirer un degre d'interet." Ganz richtig. Aber ist Aigeus „un personnage principal"? Muß er bloß deshalb als solche betrachtet werden, weil er ein König ist? Vielleicht wäre es unrichtig, diese zweite Frage schlankweg zu verneinen. Wenn ein König auftritt, erregt er einfach dadurch, daß er ein König ist, ein gewisses Interesse. Man kann daher vielleicht sagen, daß ein König sich nicht sehr gut zur bloßen Hilfs- und Nebenfigur in einem Drama eignet, so wie ein Bote oder ein Hirte oder dergleichen. Tatsache ist jedoch, daß Aigeus bei Corneille ebenso wie bei Euripides, wenn man es von der Haupthandlung aus ansieht, ausschließlich dazu gebraucht wird, Medeas Zukunft zu sichern. Angesichts dessen ist es gar nicht nötig, darüber zu streiten, ob Voltaire recht hat, wenn er Corneille beschuldigt, es sei ihm trotz seines Bemühens nicht gelungen, für Aigeus ein eigenes Interesse zu erwecken. Wenn Corneille gelungen wäre, was ihm nach Voltaires Meinung nicht gelungen ist, so würde es erst recht die Einheit der Handlung beeinträchtigen und das Interesse, das zumal bei einem so intensiven Konflikt auf die Haupthandlung konzentriert bleiben muß, zersplittern. Tatsächlich tut die Aigeusepisode dies bei Corneille auch ohnedies in beträchtlichem Grade. Der Einwand hätte also gerade der entgegengesetzte sein sollen. Damit enthüllt sich jedoch ein eigentümliches Dilemma. Denn was vorher über die mangelnde Motivierung des Auftretens des Aigeus bei Euripides gesagt worden ist, wird durch die letzte Betrachtung keineswegs außer Kraft gesetzt. Das Dilemma entsteht dadurch, daß Aigeus in

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der Euripideischen Tragödie eigentlich die Funktion des deus ex machina hat. Sieht man einmal von dem Problem ab, das dieses von Euripides so oft gebrauchte dramatische Hilfsmittel überhaupt bietet / und das eine längere zusammenhängende Untersuchung erfordern würde, so bietet die Motivierung beim deus ex machina, wenn er wirklich als solcher und nicht in menschlicher Gestalt erscheint, weiter keine Schwierigkeit, da der Gott als Gott ja jederzeit eingreifen kann, wenn es eine Situation ihm zu fordern scheint. Auch das Dilemma, daß eine Hauptperson ein eigenes Interesse haben muß, entsteht bei ihm nicht, da das „Interesse" bei ihm ja in seiner Macht liegt und er kein besonderes Interesse als individuelle Persönlichkeit zu erwecken braucht. Erscheint er dagegen in menschlicher Gestalt, so wird eben beides zum Problem für die dramatische Darstellung. Daß dieses Problem nicht unlöslich ist, hat Euripides in der Alkestis bewiesen, wo Herakles die Rolle des deus ex machina spielt. Zwar kommt auch dort Herakles zufällig vorbei, als Alkestis gestorben ist. Aber es ist nicht unnatürlich, daß er auf dem Wege zu neuen Taten seinen alten Freund Admet besucht und ihn um Quartier bittet, während es in der Medea unnatürlich ist, daß Aigeus in Korinth mit Medea zusammentrifft, ohne sich um den König zu kümmern. Ferner hat Euripides es fertiggebracht, daß Herakles in der Alkestis ein eigenes persönliches Interesse erweckt, dieses aber so intensiv auf die Haupthandlung bezogen ist, daß deren Einheit in keiner Weise gestört und die Anteilnahme des Zuschauers an der Haupthandlung in keiner Weise unterbrochen wird100. Das ist in der Medea anders, wo das Auftreten des Aigeus unnatürlich und unmotiviert ist und seine Person, obwohl er ein König ist, kein eigenes Interesse hervorzurufen vermag. Diesen Mangel hat Corneille sehr richtig bemerkt. Aber es ist höchst instruktiv, daß er es mit seiner Änderung nicht besser, sondern schlechter gemacht hat, weil es ihm nicht gelungen ist, das Interesse an Aigeus so mit dem Interesse an der Haupthandlung zu verschmelzen, daß sie sich gegenseitig nicht stören. Dies zeigt sehr schön, daß es unter den Grundregeln des Dramas eine Rangordnung gibt. Ohne Zweifel wird das Vollkommenste erreicht, wenn alle Regeln auf eine natürliche, nicht gezwungene Weise beobachtet sind. Aber wenn eine Regel verletzt wird, dann ist es besser, die geringere zu verletzen: und dies ist im vorliegenden Falle zweifellos die der ausreichenden und natürlichen Motivation, 388

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oder die Regel, daß eine Person, die durch ihren Rang natürlicherweise Interesse erregt, auch ein persönliches menschliches Interesse erregen sollte, gegenüber der höheren und wichtigeren Regel der Einheit der Handlung und des Interesses, die schon von Aristoteles mit Recht als Grundregel der Dramatik hervorgehoben worden ist. Eine zweite wichtige Änderung, die Corneille Euripides gegenüber vorgenommen hat, betrifft ebenfalls die Motivierung der Handlungen gewisser Personen des Dramas. Corneille findet es unwahrscheinlich, daß Kreon seiner Tochter erlauben sollte, die Geschenke Medeas anzunehmen, nachdem er vorher die Befürchtung geäußert hatte, sie werde den kurzen Aufschub, den er ihr gewährt hat, dazu benützen, Unheil zu stiften und sich zu rächen. Um diesen Anstoß zu beseitigen, hat er nach seiner eigenen Angabe drei Änderungen vorgenommen: erstens, daß Medea das Kleid, das sie Kreusa schenkt, dieser nicht von sich aus anbietet, sondern Kreusa selbst vielmehr leidenschaftlich wünscht, es zu besitzen, und lason veranlaßt, es von Medea zu erbitten: unter diesen Umständen, meint Corneille, könne das Geschenk als solches nicht suspekt sein; zweitens, daß Kreon von Medea nicht um einen Aufschub gebeten wird, sondern ihr einen solchen von sich aus anbietet, um die seinem eigenen Empfinden nach etwas ungerechte Gewalt, die er ihr antut, doch in etwa zu mildern; drittens, daß endlich, um trotz allem ganz sicherzugehen, eine Dienerin Nise zuerst das / Kleid anlegen muß. Medea hat es aber mit ihrer Zauberei so eingerichtet, daß das Gift nur an denjenigen Personen seine Zauberkraft ausübt, für die es bestimmt ist. Nun mag man wohl zugeben, daß der Anstoß, den Corneille hier genommen hat, nicht ganz unberechtigt ist, obwohl darüber noch einiges zu sagen sein wird. Aber welchen Preis hat er für seine Beseitigung gezahlt! Was den ersten Punkt angeht, so kann man die Berechtigung von Voltaires bissiger Bemerkung kaum leugnen: „Convenons que ce n'est pas un trop bon moyen d'apaiser une femme et une mere que de lui arracher ses enfants et de lui prendre ses habits. Cette invention de comedie produit une catastrophe horrible; rnaisce contraste meme d'une intrigue faibie et basse avec un denoument epouvantable, forme une bigarrure qui revoke tous les esprits cultives." Wenn ein Geschenk unter diesen Umständen weniger suspekt sein soll, könnte es dies nur deshalb sein, weil Medea daraufhin lason und seine neue Braut derart verachten [79180]

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müßte, daß es sich nicht einmal mehr lohnte, Rache zu nehmen. Aber daran können diese nicht denken. Der dritte Punkt ist aus einem ganz anderen Grund von höchstem Interesse und hat eine weiterreichende Bedeutung. Medeas Fähigkeit, so zu zaubern, daß das Gift nur auf die Personen wirkt, für die es bestimmt ist, macht sie zu einer ganz anderen Art von Zauberin als diejenige, als welche sie bei Euripides erscheint, und zwar in solcher Weise, daß dadurch Grundvoraussetzungen des ganzen Stückes zerstört werden. Die Fähigkeit der Euripideischen Medea ist, wie die der menschlichen Zauberinnen in der Antike überhaupt, an ganz bestimmte Dinge gebunden und daher eng begrenzt. Sie braucht Zauberkräuter und Beschwörungen, und auch diese sind wiederum auf ganz spezifische Wirkungen beschränkt. Den Drachenwagen, der sie nach Athen entführt, kann sie nicht einfach kommandieren, sondern er wird ihr von ihrem Großvater Helios zur Verfügung gestellt. Dies wiederum ist ein einmaliger Akt. Die göttliche Macht ihres Großvaters steht ihr keineswegs uneingeschränkt zur Verfügung. Dagegen sind bei Corneille die Grenzen von Medeas Zaubermacht völlig unbestimmt. Daß sie einen Zauberstab hat, vor dem sich alle Schlösser öffnen und alle Fesseln abfallen, mag noch hingehen, obwohl auch das über Euripides hinausgeht. Aber in ihrer Auseinandersetzung mit lason sagt sie: La flamme m'obeit, et je commande aux eaux L'enfer tremble, et les cieux, sitot que je les nomme. 1st das eine Rodomontade, oder entspricht es der Wirklichkeit? In einem Dialog mit ihrer Amme oder Dienerin Nerine sagt Medea: Oui, tu vois en moi seule et le fer et la flamme, et la terre, et la mer, et l'enfer, et les cieux, et le sceptre des rois, et le foudre des dieux, worauf Nerine ihr antwortet: L'impetueuse ardeur d'un courage sensible a vos ressentiments figure tout possible, mais il faut craindre un roi fort de tant de sujets, worauf Medea ihrerseits: Mon pere qui l'etait, rompit-il mes projets? 390

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Also bloße Einbildung oder Rodomontade? Aber abgesehen davon, daß dies dem Charakter der Medea, wie er sonst gerade bei Corneille dargestellt wird, Eintrag tut, sollte man doch denken, daß eine Zauberin, vor deren Zauberstab sich alle Türen öffnen und die die Gifte so dirigieren kann, / daß sie nur den bestimmten individuellen Personen Schaden tun, für die sie sie bestimmt hat — und das sieht der Zuschauer ja vor seinen Augen, so daß er daran nicht zweifeln kann —, auch die Möglichlichkeit haben sollte, mit den Schergen Kreons ohne Schwierigkeit fertigzuwerden. Überhaupt aber machen solche exzessiven übernatürlichen Kräfte aus Medea ein Wesen, das einem Teil der Leiden und Beschränkungen, denen sie in der Tragödie unterworfen ist, logischerweise nicht mehr unterworfen sein könnte. Das bedeutet nicht, daß ein solches Wesen nicht eine menschliche Tragödie erleben könnte. Man kann sich seine Macht wohl so beschränkt denken, daß es mit all seiner Zaubermacht die Liebe eines Menschen, den es liebt, nicht gewinnen oder seine Treue sich nicht erhalten kann und dann gezwungen ist, dies entweder zu erdulden oder das geliebte Wesen zu vernichten. Aber die spezifischen Voraussetzungen der lason-Medea-Tragödie, die Corneille doch von Euripides übernommen hat, werden durch solche übergroße Zaubermacht der Medea, wenn nicht völlig zerstört, so doch empfindlich gestört. Dies scheint übrigens Corneille selbst gefühlt zu haben. Denn er läßt Medea in der letzten Szene des 4. Aktes zu Aigeus, indem sie sich des Asyls bei ihm versichert, sagen: Non pas que je les craigne (sc. mes ennemis); eux et toute la terre a leur confusion me livreraient la guerre. Mais je hais ce desordre, et n'aime pas a voir Qu'il me faille pour vivre user de mon savoir. Doch dieser Anstoß wird dadurch nicht wirklich beseitigt. Auch hier ist es wiederum nicht uninteressant, die Urteile der eminenten Kritiker zu hören. In einer Anmerkung zu Corneilles eigenem Examen de Medee bemerkt Voltaire: „Une magicienne ne nous parait pas un sujet propre a la tragedie reguliere, ni convenable a un peuple dont le goüt est perfectionne. On demande pourquoi nous rejetterions des magiciens, et que non seulement nous permettons que dans la tragedie on parle d'ombres et de fantomes, mais meme qu'une ombre paraisse quelquefois sur le theatre. II n'y a certainement pas plus de revenants que de [80181]

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magiciens dans le monde et si le theatre est la representation de la verite, il faut bannir egalement des apparitions et la magie. Voici, je crois, la raison pour la quelle nous souffririons l'apparition d'un mort, et non le vol d'un magiciendans lesairs. II est possible que la Divinite fasse paraitre une ombre pour etonner les hommes par ces coups extraordinaires de sä providence, et pour faire rentrer les hommes en eux-memes; mais il n'est pas possible que les magiciens aient le pouvoir de violer des lois eternelles de cette meme providence: telles sont aujourd'hui les idees regues. Un prodige opere par le ciel meme ne revoltera point; mais un prodige opere par un sorcier, malgre le ciel, ne plaira jamais qu'ä la populace." Eine ähnliche, aber doch etwas verschiedene Bemerkung hatte er schon zur ersten Szene des vierten Aktes des Stückes selbst gemacht: „Dans la tragedie de Macbeth, qu'on regarde comme un chef-d'oeuvre de Shakespeare, trois sorcieres font leurs enchantements sur le theatre: elles arrivent au milieu des eclairs et du tonnerre avec un grand chaudron dans lequel elles fönt bouiller des herbes. ,Le chat a miaule trois fois', disentelles, ,il est temps, il est temps'. Elles jettent un crapaud dans le chaudron et apostrophent le crapaud, en criant en refrain: ,double, double, chaudron, trouble; que le feu brüle, que l'eau bouille; double, double'. Cela vaut bien les serpents qui sont venus d'Afrique en un moment et ces herbes que Medee a cueillies le pied nu, en faisant pälir la lune; et ce plumage noir d'une harpie. Ces puerilites ne seraient pas admises aujourd'hui. C'est a l'opera, c'est ä ce spectacle consacre aux fables que ces enchantements conviennent, et c'est la qu'ils ont ete le mieux traites." / Bekanntlich hat Lessing in der Hamburglscben Dramaturgie Shakespeare gegen diesen und ähnliche Angriffe Voltaires in Schutz genommen und statt dessen Voltaire angegriffen, weil er in einem seiner Stücke einen Geist am hellichten Tage erscheinen ließ. Er suchte zu zeigen, daß Shakespeares Geister, ob man theoretisch an Geister glaubt oder nicht, auf der Bühne glaubwürdig sind, weil Shakespeare eine Atmosphäre zu schaffen weiß, in der sie als glaubwürdig erscheinen; Voltaires Geist dagegen nicht, weil Voltaire eine solche Atmosphäre zu schaffen nicht verstanden hat. Es verlohnt sich wohl, einen Augenblick darüber nachzudenken, wer hier recht hat und wieweit. Voltaire beurteilt die Frage vom Standpunkt einer rationalistischen Theologie; und insofern eine solche Theologie bei dem gebildeten Publi392

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kum seiner Zeit vorherrschend war, hat er wohl recht, wenn er meinte, daß eine solche Zuhörerschaft die Magie auf der Bühne nicht als Lebenswirklichkeit, sondern nur als fabelhaftes Element verstehen könnte. Sehr viel tiefer trifft jedoch die Bemerkung Lessings. Auch wo eine rationalistische Theologie sich im bewußten Denken vollständig durchgesetzt hat, bleibt im Unbewußten und Halbbewußten von dem Glauben an übernatürliche und magische Kräfte nicht unmittelbar göttlichen Ursprungs überall so viel erhalten, daß Handlungen und Geschehnisse dieser Art auf der Bühne ihre Wirksamkeit und Verständlichkeit behalten, wenn es dem Dichter, wie Shakespeare, gelingt, die richtige Atmosphäre zu schaffen. Freilich ist auch dies bis zu einem gewissen Grade zeitbedingt. Voltaire war ein älterer Zeitgenosse Lessings. In seinen Anfängen war die rationalistische Theologie oder zum mindesten ihre Herrschaft im Bewußtsein der Gebildeten noch verhältnismäßig jung, daher die Reaktion gegen das, was Voltaire ,le gout du populace' nennt und was? er auch ,les croyances du populace' hätte nennen können, bei ihm selbst und dem Publikum, das er im Auge hat, noch heftig, so daß sie die Aufnahmewilligkeit für solche Dinge auf der Bühne wohl beeinträchtigen konnte. Für Lessing war die rein rationalistische Theologie auf der einen Seite schon so gefestigt, auf der anderen Seite schon so weit modifiziert und in ihrer striktesten Form überwunden, daß man sich im Theater ruhig der Darstellung von Hexenszenen und ähnlichem hingeben konnte, wenn der Dichter es verstanden hatte, die richtige Atmosphäre zu scharfen. Wichtig ist noch ein Drittes. Bleibt auch die Fähigkeit, an Magie zu glauben oder sich doch unter dem Eindruck der Dichtung in diesen Glauben zu versetzen, in gewisser Weise zu allen Zeiten erhalten, so ist doch die Form, die dieser Glaube annimmt, zu verschiedenen Zeiten verschieden. Das bedeutet nicht, daß der Zuschauer oder Leser sich nicht in den Geist einer seiner Zeit fremden Form versetzen oder von ihm in Bann geschlagen werden könnte. Wohl aber muß der Dichter sich davor hüten, nicht die Formen verschiedener Zeiten so zu vermischen, daß Widersprüche und Ungereimtheiten entstehen. Dies ist Corneille in der Medee nicht gelungen, und das ist ein sehr viel gewichtigerer Einwand gegen die Behandlung der Magie in seinem Stück als der Einwand Voltaires. Die Schwierigkeit, an der Corneille hier gescheitert ist, tritt jedoch nicht

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nur bei der Behandlung des bernat rlichen auf. Jeder Dichter, der einen alten Stoff wieder aufgreift, mu notgedrungen bis zu einem gewissen Grad modernisieren, nicht so sehr, weil das Alte den Zuschauern nicht mehr verst ndlich oder der Stoff in seiner originalen Form nicht mehr „aktuell" ist — je gr er das Dichtwerk ist, desto mehr steht es in seiner essentiellen Wirkung ber den Zeiten —, sondern weil der Dichter selbst sich nicht so v llig von den Bedingungen seiner Zeit frei machen kann, um in allem, was die Bedingungen einer Zeit betrifft, die nicht seine eigene ist, „echt" zu sein. Daher sind die modernen Versuche, ganz und gar antike Trag dien zu schreiben, immer mi lungen, und zwar an / nicht immer ganz leicht zu entdeckenden, aber entscheidenden Punkten. Schillers Braut von Messina ist ein Beispiel daf r1"1, aber auch die antiken Trag dien Peladans. Die wahre Kunst des Dichters bew hrt sich darin, das Neue und das Alte, das mit dem Stoff notwendigerweise bis zu einem gewissen Grad erhalten bleibt, so zu verschmelzen, da keine Diskrepanzen entstehen. Es bleibt noch der zweite Punkt, in dem Corneille um der besseren Motivierung willen ge ndert hat: die Szene zwischen Kreon und Medea. Auch von diesem Punkt her f llt Licht nicht nur auf das St ck Corneilles, sondern auch auf das des Euripides. Nach seiner eigenen Aussage hat Corneille Kreon der Medea einen Tag Aufschub geben lassen, nicht wie Euripides auf ihre dringenden Bitten, sondern aus eigenem Antrieb „comme pour diminuer quelque chose de l'injuste violence qu'il lui fait, dont il semble avoir honte en lui-meme". Er wollte damit die Schwierigkeit vermeiden, da Kreon Medea einen Aufschub gew hrt, obwohl er f rchtet, sie werde diesen Aufschub ben tzen, um Unheil zu stiften, und da er sp ter die Annahme ihrer Geschenke durch seine Tochter zul t. Einen hnlichen Ansto haben nun auch einige moderne Interpreten an der Euripideischen Szene genommen, so sehr, da sie sogar den Text ndern zu m ssen glaubten102. Die letzten Worte des Kreon in der Euripideischen Kreon-Medea-Szene lauten: ήκιστα τούμόν λήμ' εφυ τυραννικόν, αίδούμενος δε πολλά δη διέφθορα· και νυν ορώ μεν έξαμαρτάνων, γΰναι, όμως δε τεύξ·ρ τοΰδε* προυννέπω δε σοι, 394

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εΐ σ' ή έπιοϋσα λαμπάς δψεται ·&εοΰ και παϊδας εντός τήσδε τερμόνων χθονός, θαντ)· λέλεκται μΰθος άψευδής οδε. νυν δ', εί μένειν δει, μίμν' εφ ήμέραν μίαν ου γαρ τι δράσεις δεινόν ων φόβος μ' έχει. Hier wurden die beiden letzten Verse von A. Nauck athetiert, und G. M ller stimmt ihm zu mit der Beg ndung: „Die Verse hinken nach und schw chen die Wirkung von λέλεκται μΰθος άψευδής δδε unertr glich ab." Diese Begr ndung sei unwiderleglich. Dies ist nun wieder ein Schulbeispiel f r jene Art von Interpolationskritik, die davon lebt, da der Kritiker seinen Autor nicht verstanden hat, aber auch f r jene von einer gewissen Philologenschule z h gegen alle Evidenz festgehaltene Vorstellung, da ein klassischer Autor wie Euripides nur starre Typen, aber keine individuellen Charaktere mit einer eigenen Psychologie auf die B hne gestellt haben k nne. In Wirklichkeit jedoch ist der Kreon des Euripides so weit als m glich von dem Klischee des harten Tyrannen entfernt, das er nach Ansicht dieser Gruppe von Interpreten verk rpern soll. Schon die harten Worte, mit denen er Medea bei seinem Auftreten anf hrt, sind ein Ausdruck nicht seiner harten Entschlossenheit, sondern seiner inneren Unsicherheit103. Wenn er wirklich der harte Tyrann w re, w rde er sich nicht mit Medea in eine Diskussion einlassen, sondern sie von seinen Trabanten ergreifen und ber die Grenze bringen lassen. Ist seine erste Anrede an Medea ein harter Befehl, das Land unverz glich zu verlassen, so gibt die zweite Reihe von Versen, die Euripides ihm in den Mund gelegt hat, / seiner Furcht vor Medea unverh llten Ausdruck. Im Folgenden mu er gegen ber den Argumenten und Bitten Medeas sich selbst immer wieder an diese Furcht erinnern, um fest zu bleiben. Gleich in den ersten Versen versichert er Medea, er werde nicht in seinen Palast zur ckkehren, bevor er sie au er Landes wisse1"*. Nach ihrer ersten l ngeren Rede versichert er ihr aufs neue, da sein Entschlu unbedingt feststehe und es v llig vergeblich sei, ihn umsto en zu wollen105. Nach einer weiteren Auseinandersetzung, in der er sich ihrer Argumente und Bitten zu erwehren versucht, f llt er um und geht in seinen Palast zur ck, nicht nur ohne Medea au er Landes zu wissen, sondern nachdem er ihr z gernd und wider seine bessere Einsicht einen Aufschub von einem Tag gew hrt hat. Dazu erkl rt er in den oben zitierten Versen, er [83184]

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wisse wohl, daß er einen Fehler begehe, wenn er ihr so entgegenkomme, und er sei schon öfter so zu Schaden gekommen. Darauf versucht er wieder sich stark zu machen: „Aber das sage ich dir: wenn du morgen noch hier bist, mußt du sterben. Das ist mein absolut endgültiges Wort11*" (wie vorher das Wort, daß er nicht nach Hause gehen werde, ehe er sie außer Landes wisse). Mit diesem Schwanken ist es völlig im Einklang und ganz vortrefflich, wenn er sich am Ende noch damit zu beruhigen sucht: „nun, an dem einen Tag wirst du ja wohl nicht viel Unheil anrichten können". Gerade das Nachhinken, das Nauck ganz richtig bemerkt hat, und die „unerträgliche Abschwächung" der vorher gebrauchten Worte sind das Vortreffliche daran. Es ist nun aber auch höchst interessant, wie sich das zu Corneille verhält. Der Einwand Corneilles, der ihn veranlaßt hat, die Szene zu verändern, gewinnt ja außerordentlich an Gewicht, wenn man die von Nauck und Müller athetierten Worte — die Corneille aber zweifellos gelesen hat, da es zu seiner Zeit noch keine von Interpolationskritikern mit Einklammerungen versehenen Ausgaben gab — wegläßt. Was Corneille durch seine Änderung zu erreichen sucht, daß die „Unvorsichtigkeit" der gesamten Gegenpartei Medeas verständlicher wird, das sucht Euripides durch seine Charakterisierung lasons und Kreons zu erreichen, die beide in dem Bewußtsein, daß Medea von ihnen sehr hart behandelt wird — wenn siei auch beide meinen, sie habe es sich selbst zuzuschreiben —, ihr entgegenkommen wollen, die beide „schwach" sind und sich wie alle Schwachen über die Folgen ihrer Schwäche zu täuschen versuchen. In dieser Charakteristik sind die beiden athetierten Verse ein völlig unentbehrlicher Bestandteil. Es ist aber ein hübscher Zufall, daß gerade der Einwand Corneilles dazu dienen kann, die beiden später athetierten Verse als sicher echt zu erweisen. Viel wichtiger als diese Änderungen im einzelnen, die Corneille aus von ihm selbst ausdrücklich dargelegten Gründen vorgenommen hat, ist seine Behandlung der Charaktere. Was nun den Charakter des lason angeht, so treten hier dieselben Schwierigkeiten auf, die sich bei Apollonios und Seneca beobachten ließen. Ja, sie sind noch verstärkt, da Corneille offenbar neben Euripides auch Seneca benutzt hat, und zwar gerade in denjenigen Teilen, die den Charakter des lason in besserem Lichte erscheinen lassen als bei Euripides.

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Der Verse der dritten Szene des dritten Aktes: Medea: Tu presumes en vain de t'en mettre a couvert; Celui-la fait le crime a qui le crime sert. lason: J'ai honte de ma vie, et je hais son usage, Depuis je la dois aux effets de ta rage. Medea: La honte genereuse, et la haute vertu! Puisque tu la hais tant, pourquoi la gardes-tu? lason: Au bien de nos enfants, dont l'äge faible et tendre Contre tant de malheurs ne saurait se defendre: Deviens en leur faveur d'un naturel plus doux sind eine zum Teil fast wörtliche Adaption von Seneca 500 ff.: Medea: Tua, tua sunt illa: cui prodest scelus Is fecit — — — — — — — — lason: Ingrata vita est cuius acceptae pudet im Verein mit den Szenen bei Seneca, in denen lasons Liebe zu seinen Kindern und seine Sorge um sie ihren Ausdruck findet. Stünde die Szene für sich allein, so könnte man annehmen, daß Corneille lasons Verteidigung mit dem Interesse seiner Kinder, dem er alles opfern will, als Heuchelei angesehen wissen wollte. Aber in dem vertrauten Gespräch, das lason bei Corneille zu Beginn des Stückes mit seinem alten Freunde Pollux führt, finden sich die folgenden Verse: Le mepris insolent des off res d'un grand roi Aux mains d'un ennemi livrait Medee et moi. Je l'eusse fait pourtant, si je n'eusse ete pere: L'amour de mes enfants m'a fait Tame legere; Ma perte etait la leur; et cet hymen nouveau Avec Medee et moi les tire du tombeau: Eux seuls m'ont fait resoudre; et la paix est conclue. Was lason über seine Motive sagt, scheint also wie bei Seneca echt zu sein. Dazu hat Corneille lason in eine noch größere Zwangslage versetzt als Seneca, da dieser, wie die zitierten und die ihnen vorangehenden Verse zeigen, befürchten muß, von Kreon nebst Frau und Kind an seine erbitterten Feinde ausgeliefert zu werden, wenn er auf Kreons Vorschlag, seine Tochter zu heiraten, nicht eingeht. Da es ihm außerdem gelungen ist, Kreon von seinem Entschluß, Medea an den empörten Sohn [84185]

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des Pelias auszuliefern, abzubringen, rettet er auch ihr Leben, indem er sie verläßt. Endlich folgt auf die Szene mit Pollux ein Monolog des lason, in dem er dem Zwiespalt, der in seiner Seele herrscht, lebhaften Ausdruck gibt: Depuis que mon esprit est capable de flamme, Jamais un trouble egal n'a confondu mon äme. Mon coeur, qui se partage en deux affections, Se laisse dechirer a mille passions. Je dois tout a Medee, et je ne puis sans honte Et d'elle et de ma foi tenir si peu de compte: Je dois tout a Creon, et d'un si puissant roi Je fais un ennemi si je garde ma foi ... etc. Wenn hier wie sonst ferner zum Ausdruck kommt, daß lason Kreusa liebt, so weiß man nicht, ob man dies als Entschuldigung auffassen soll gegenüber den rein praktischen Überlegungen des Euri- / pideischen lason, der immer wieder beteuert, daß er nicht in seine neue Braut verliebt ist und daß er sie rein aus Gründen der Zweckmäßigkeit heiraten will. Sieht es nun aber angesichts solcher Szenen so aus, als ob lason, wie bei Seneca, vor dem Verdacht der Heuchelei sorgfältig bewahrt bleiben und bis zu einem gewissen Grade gerechtfertigt werden sollte, so gibt es andere Szenen, die mit einer solchen Auffassung völlig unvereinbar erscheinen. Hierher gehört jene Gruppe von Szenen, in denen lason Kreusas Verlangen nachgibt, Medeas Gewänder, nach denen Kreusa Verlangen trägt, von Medea zu erlangen. Hier sinken lason und seine neue Braut Kreusa, wie Voltaire mit Recht bemerkt hat, in einen Abgrund der Niedrigkeit. Es ist daher interessant, aus Corneilles eigenem Munde zu wissen, daß er die Szenen keineswegs eingefügt hat, um lason zu charakterisieren, sondern aus dem rein technischen Grunde, die Unvorsichtigkeit lasons und Kreons in der Annahme der geschenkten Gewänder weniger groß erscheinen zu lassen, eine Begründung, die fast zu dem Schlüsse nötigt, daß Corneille sich nicht ganz bewußt war, wie tief er lason und seine Braut hier sinken läßt. Um so seltsamer ist es, daß am Anfang des Stückes eine Szene steht, deren Beginn der zuletzt genannten Szenengruppe völlig entspricht. Das Stück beginnt damit, daß Pollux in Korinth mit seinem alten Freunde 398

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lason zusammentrifft und seine Freude über dieses Zusammentreffen äußert, worauf lason antwortet: Vous n'y pouviez venir en meilleur saison; Et pour vous rendre encore Tame plus etonnee, Preparez-vous a voir mon second hymenee und auf Pollux erstaunte Frage: Quoi! Medee est done morte, ami? lason: Non, eile vit; Mais un objet plus beau la chasse de mon lit. und als Pollux darauf weiter fragt: Dieu! et que fera-t-elle? lason: Et que fit Hypsipile, Que pousser les eclats d'un courroux inutile? Elle jeta des cris, eile versa des pleurs, Elle me souhaita mille et mille malheurs; Dit que j'etais sans foi, sans coeur, sans conscience Et lasse de le dire, eile prit patience. Medee en son malheur en pourra faire autant: Qu'elle soupire, pleure et me nomme inconstant; Je la quitte a regret, mais je n'ai point d'excuse Contre un pouvoir plus fort qui me donne a Creuse! Doch es kommt noch besser. Auf seines Freundes Bemerkung, Isaon habe sich nie mit communes maitresses abgegeben, sondern immer Prinzessinnen zu bezaubern verstanden, rühmt steh lason seiner Erfolge und der Vorteile, die sie ihm immer wieder gebracht haben: Aussi je ne suis pas de ces amants vulgaires; J'accomode ma flamme au bien de mes affaires; Et sous quelque climat que me jette le sort, / Par maxime d'etat je me fais cet effort. Nous voulant a Lemnos rafraichir dans la ville, Qu'eussions-nous fait, Pollux, sans J'amour d'Hypsipile? Et depuis a Colchos, que fit votre Jason, Que cajoler Medee, et gagner la toison? Alors, sans mon amour, qu'eut fait votre vaillance? Eut-elle du dragon trompe la vigilance? [86187]

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Ce peuple que la terre enfantait tout arme Qui de vous 1'eut defait, si Jason n'eut aime? Maintenant qu'un exil m'mterdit ma patrie, Creuse est le sujet de mon Idolatrie; Et j'ai trouve 1'adresse, en lui faisant la cour, De relever mon sort sur les ailes de l'amour. Das ist nicht mehr die naive Heldenmoral des Märchens, die bei Euripides in ihrer Brüchigkeit enthüllt wird, obwohl sie in gewisser Weise auch bei dieser Szene Pate gestanden hat. Sondern es ist diese Heldenmoral verbunden mit oder übersetzt in die besten Künste eines eitlen französischen Galans aus dem 17. Jahrhundert, „qui fait marcher les femmes", um seine Karriere zu fördern. Wiederum hat Voltaire recht mit seiner Kritik: „C'est la le style de la comedie." Er fügt jedoch — und das ist sehr wichtig — hinzu: „on n'ecrivait point alors autrement les tragedies", und er bemerkt, daß, wenn hier zu Anfang seiner ersten Tragödie Corneille noch dem Stil seiner Zeit ein Opfer gebracht habe, man ihm um so dankbarer sein müsse, „de s'etre tire dans ses beaux morceaux de cette fange oü son siecle l'avait plonge". Ich glaube, in diesem Fall muß man Voltaires Verdikt einfach annehmen, bzw. noch einige weitere Folgerungen daraus ziehen. Es ist verlorene Mühe, diese zuletzt zitierten Verse mit den früher zitierten, in denen lason sagt, er sei bereit gewesen, sich mit Medea zusammen seinen Feinden ausliefern zu lassen und mit ihr zu sterben, wenn ihn nicht die Sorge um seine Kinder abgehalten hätte, zu einem einheitlichen Charakterbild zu vereinen. Man sucht selbst vergebens zwischen den beiden Versgruppen nach einer Äußerung des Pollux, die lason von seiner frivolen Selbstgefälligkeit abbringen und ihn auf das Niedrige seiner Gesinnung hätte aufmerksam machen können. Im Gegenteil: alle Äußerungen des Pollux bis dahin sind schmeichelhaft für lason und erst nachdem dieser selbst ernstere Töne angeschlagen hat und sich seiner Verantwortung bewußt geworden zu sein scheint, äußert auch Pollux ein Wort der Kritik: Bien que de tous cotes l'arfaire resolue Ne laisse aucune place aux conseils d'un ami, Je ne puis toutefois l'approuver qu'a demi. Sur quoi que vous fondiez un traitement si rude, 400

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C'est montrer pour Medee un peu d'ingratitude; Ce qu'elle a fait pour vous est mal recompense. II faut craindre apres tout son courage offense; Vous savez mieux que moi ce que peuvent ses charmes. Und gerade darauf gibt lason eine Antwort, die an Niedrigkeit alles übersteigt, was bei Euripides ihm in den Mund gelegt ist: / Ce sont a sä fureur d'epouvantables armes; Mais son bannissement nous en va garantir. Es hilft nichts. Der lason Corneilles ist nicht „ein Mensch mit seinem Widerspruch" wie bei Euripides, sondern er besteht aus Stücken, die aus Seneca und Euripides genommen sind, teilweise aber auch den Vorstellungen der Zeit Corneilles selbst, ja sogar, wie Voltaire ganz richtig bemerkt hat, der zeitgenössischen Komödie entstammen und die nicht zu einer wirklichen menschlichen Einheit zusammengewachsen sind. Das ist nun allerdings nicht nur für die Geschichte der lason-Medea-Legende und ihrer dichterischen Bearbeitungen, sondern auch für die Entwicklung Corneilles interessant. Er hat das Schreiben von Theaterstücken als Metier begonnen, und er hat viel über die Regeln und Gesetze seines Metiers, von außen her aufoktroyierte und aus dem Wesen der Kunst selbst stammende, nachgedacht. Die Medee ist sein erster Versuch in der Tragödie, nachdem er vorher eine Reihe von zum Teil sehr gut aufgebauten Komödien verfaßt hatte. Außer den antiken Tragödien, deren Voraussetzungen doch andere gewesen waren als die seiner Zeit, fehlte es, da Shakespeare als regellos und barbarisch abgelehnt wurde, auf dem Gebiet der Tragödie durchaus an großen modernen Vorbildern. So ist es kein Wunder, daß Corneille in diesem ersten Stück noch tastend seinen Weg sucht. Corneilles Genie kann sich hier noch nicht voll entfalten; oder vielmehr: es zeigt sich außer der glänzenden Versifikation vor allem in der Ausführung im einzelnen, aber noch nicht, wie in den späteren Meisterwerken, in der dramatischen Gesamtgestaltung und in den geschlossenen Charakteren. Da Corneille jedoch alles andere als ein Stümper, und da er ein denkender Künstler war, der sich über die Resultate seines Nachdenkens auch theoretisch geäußert hat, so sind auch seine Fehler und die Irrwege, die er eingeschlagen hat, außerordentlich instruktiv. Die Darstellung der Medea bot nicht die gleiche Schwierigkeit wie die lasons, weil hier nicht in gleichem Maße das Märchen und seine reali[87188 J

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stische Ausdeutung durch den antiken Dichter, die antike Tendenz, lason zu rechtfertigen, und die Aufweisung des Brüchigen in seinem Charakter durch Euripides (ohne doch wie die spätere romantisch beeinflußte moderne Interpretation ihn ganz und gar abzuwerten) miteinander im Streite liegen. Die Ausbrüche der Medea enthalten Stellen von großer Schönheit, die auch Voltaires Bewunderung hervorgerufen haben, der gleich zu dem ersten Monolog der Medea mit Recht bemerkt: „Ces vers sont dignes de la vraie tragedie, et Corneille n'en a guere fait de plus beaux", und auch später immer wieder gerade beim Auftreten der Medea seiner Bewunderung Ausdruck gibt, während er vieles andere scharf kritisiert. Trotzdem stimmt auch hier nicht alles ganz zusammen. In dem Widmungsschreiben an Mr. P. T. N. G., das Corneille der ersten Ausgabe seines Stückes vorangestellt hat, sagt er gleich zu Anfang: „Je vous donne Medee toute mechante qu'elle est, et ne vous dirai rien pour sä justification", und etwas später: „Ici vous trouverez le vice dans son char a triomphe." Aber im Stück selbst weiß Medea mit solcher Überzeugungskraft für ihre Sache zu plädieren, daß der Schluß des Stückes vom Zuschauer gewiß nicht einfach als ,triomphe du vice' empfunden werden kann, und Medea selbst ist bei aller Fürchterlichkeit ihres Handelns gewiß nicht nur als toute mechante dargestellt. Das war dem Dichter zweifellos bewußt, und die Worte, die er in dem Widmungsschreiben an Herrn P. T. N. G. gerichtet hat, haben offenbar mehr den Zweck, das Stück gegen zu befürchtende Angriffe der Moralisten zu verteidigen, als seinen Gehalt adäquat zu bezeichnen. Aber das ist noch nicht alles. Wie seine Aufsätze sur la tragedie und sur le poeme dramatique zeigen, ist Corneille ganz überzeugt gewesen, daß das Drama die Aufgabe habe, eine moralische / Wirkung auszuüben und daß es dieser Wirkung dienlich sei, wenn im Drama die schrecklichen Wirkungen der Leidenschaft, vor allem auch für den, der sich ihr hingibt, geschildert werden. Daher ist es doch wohl ganz ehrlich, wenn er sich bei dem Adressaten der Widmung entschuldigen zu müssen glaubt, weil Medea am Ende seines Stückes den schrecklichen Folgen ihrer Leidenschaft zu entgehen scheint, wobei freilich nicht in Betracht gezogen ist, daß trotz aller Befriedigung über die gelungene Rache an lason das weitere Leben für Medea mit dem Bewußtsein des Mordes an ihren eigenen Kindern schrecklich sein muß. Doch steht schon bei Corneille der 402

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moralistischen Tendenz auch eine halb unbewußte Bewunderung für die großen Leidenschaften und für die Menschen starken Willens, die sich im Sturm der äußeren Gefahren wie der eigenen Leidenschaften zu behaupten wissen, gegenüber. Dies hat einen unübertrefflichen Ausdruck gefunden in der Art, wie Corneille die beiden Verse des Seneca: 165/66 Nutrix: nihilque superest opibus e tantis tibi. Medea: Medea superest in einen zusammengezogen hat: Nerine: Dans un si grand revers que vous reste-t-il? Medee: Moi! In diesem Vers, der von Boileau, von Voltaire, von La Harpe und vielen ändern bewundert worden ist, zeigt sich das Genie Corneilles in vollem Glanz. Es sind solche Verse, die Napoleon veranlaßt haben zu sagen, wenn Corneille zu seiner Zeit gelebt hätte, hätte er ihn in den Fürstenstand erhoben. Aber — es ist schade, es zu sagen, aber es muß gesagt werden, weil es für den Stand der Kunst Corneilles zur Zeit der Abfassung der Medee charakteristisch ist — wenn man nicht nur auf die Szene sieht, in welcher der Vers vorkommt, sondern auf das ganze Stück, wird der Wert von Medeas Selbstbehauptung abgeschwächt durch die allzu große Zaubermacht, die Corneille ihr gegeben hat. Wenn man dem Feuer und dem Meer, dem Himmel und der Hölle gebieten kann, ist die Selbstbehauptung gegenüber bloßen Königen nicht ganz so bewundernswert. * Die Medee Corneilles wurde durch seine späteren Tragödien und noch später durch die Tragödien Racines überschattet. Aber etwas mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Medee Corneilles erschien eine andere Afedee, von Hilaire Bernard de Requeline, Baron de Longepierre, die, obwohl sie hundert Jahre später in einer Sammlung mit dem Titel Theatre des auteurs du second ordre107 wieder abgedruckt wurde, sich zunächst eines außerordentlich starken Theatererfolgs erfreute, so daß Voltaire in seinen Anmerkungen zur Medee Corneilles schreiben konnte: „on ne represente d'autre Medee a Paris que celle de Longepierre." Aber obwohl Voltaire damit fortfährt, dieses Werk Longepierres als ,une tragedie a la verite tres mediocre* zu bezeichnen, lassen sich an ihr doch wohl einige sowohl für Euripides wie für Corneille interessante Beobachtungen machen.

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In einer Anmerkung zu Corneilles „Examen de Medee" bemerkt Voltaire: „Les amateurs du theatre qui liront cet examen et les suivants s'apercevront assez que Corneille raisonnait plus qu'il ne sentait; au Heu que Racine sentait plus qu'il ne raisonnait: et au theatre il faut sentir." Dieser Vergleich zwischen Corneille qui pense plus qu'il ne sent und Racine qui sent plus qu'il ne pense war / schon von demselben Baron de Longepierre angestellt worden, mit dessen Medea wir uns jetzt beschäftigen wollen, und zwar in einem „Vergleich zwischen Corneille und Racine", den er acht Jahre vor der Vollendung seiner Medeatragödie veröffentlicht hatte108. Dieser Vergleich ist zugleich eine Art von Manifest zugunsten der „Tragedie de la sensibilite". Longepierre ist von der Überlegenheit der letzteren überzeugt. Denn, sagt er, „il n'y a personne qui n'ait un coeur pour sentir; et tout le monde n'a pas d'esprit pour connaitre; outre que le coeur est un juge bien plus sincere et bien meilleur que l'esprit. Ce dernier est sujet a se laisser eblouir par de faux brillants, mais le coeur peut sentir dans chaque chose que ce qui y est", eine Bemerkung, die ganz und gar den Überzeugungen des Jahrhunderts der Empfindsamkeit entspricht, aber kaum ohne Einschränkung den Beifall des Euripides gefunden hätte. Und ferner: „Le coeur se refroidit tandis qe l'esprit s'echauffe; en un mot ne peut toucher vivement les deux tout a la fois. La vraisemblance meme est blessee par ces manieres trop spirituelles." Es kann danach wohl kaum einem Zweifel unterliegen, daß Longepierre Corneilles Medee durch eine dramatische Behandlung desselben Gegenstandes im Stil der tragedie de la sensibilite ersetzen wollte; und es ist interessant, zu sehen, was dabei aus dem Gegenstand geworden ist. Zunächst ist offenbar, daß Longepierre einige der „Fehler" Corneilles vermieden hat; und da die Beziehung zwischen den beiden Stücken eng ist, so darf man, wenn auch keine eigene Äußerung Longepierres darüber •vorliegt, annehmen, daß er es bewußt getan hat. Wie bei Corneille beginnt das Stück Longepierres mit einem Zwiegespräch zwischen lason und einem seiner alten Freunde, der bei Longepierre statt Pollux Iphitos heißt. Wie bei Corneille erzählt lason seinem Freund von; seiner neuen Liebe zu Kreusa. Aber wir finden nicht wie bei Corneille einen plötzlichen Wechsel von den frivolsten Reden zur Versicherung, er würde mit Medea in den Tod gehen, wenn er nicht um der Kinder willen sich er404

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halten müßte, einen Wechsel, der weder durch einen allmählichen Übergang zu ernsteren und verantwortlicheren Überlegungen noch durch die Zwischenreden des Dialogpartners in irgendeiner Weise motiviert ist. Vielmehr beginnt die Szene damit, daß lason sich gegen die Ermahnungen seines Freundes, der — muß man annehmen — schon vor dem Hochgehen des Vorhanges ihn immer wieder auf seine Verpflichtungen Medea gegenüber hingewiesen hat, verteidigt: Je sais ce que je dois a l'amour de Medee; Cesse, Iphite, a mes yeux d'en retracer l'idee ... und ihnen nur immer wieder das eine entgegensetzt, daß seine Liebe zu Kreusa ihn so überwältigt habe, daß er sich ihrer nicht erwehren könne und alles andere demgegenüber zunichte werde: Mais du sort, de l'amour la fatale puissance Fait taire mes remords et ma reconnaissance. Die Uneinheitlichkeit des Charakters, die bei Corneille schon in der ersten Szene offenkundig wird, ist hier vermieden: sofern der lason Longepierres von entgegengesetzten Gefühlen zerrissen wird, ist er wirklich in gewisser Weise ein Mensch mit seinem Widerspruch, und in eben diesem Widerstreit der Gefühle liegt offenbar ein wichtiges Element der tragedie de la sensibilite*. Auch andere Fehler Corneilles sind vermieden: so die Störung des Interesses an der Haupthandlung durch die Ausführung der Aigeusszene zu einer Handlung mit eigenem Interesse: die Gestalt des Aigeus, die von Euripides an bei allen dramatischen Bearbeitern des Gegenstandes Schwierigkeiten hervorgerufen hatte ist bei Longepierre überhaupt verschwunden. Ebenso fehlt das später von Vol- / taire so bissig kritisierte Motiv, daß Kreusa das Prachtgewand der Medea zu besitzen begehrt und lason es von seiner von ihm verlassenen Frau herauszubekommen versuchen muß. Nur der durch die zeitgenössischen Vorstellungen von der Macht eines Zauberers hervorgerufene Fehler, daß Medea eine für die Voraussetzungen ihrer Lage im Stück viel zu große Macht zugeschrieben wird, ist nicht beseitigt, ja er macht sich in noch verstärktem Maße bemerkbar. Es wirkt ein wenig komisch, wenn Medea, als sie Kreon, Kreusa und ihre eigenen Kinder umgebracht hat und lason, den sie noch verhöhnt, sich auf sie stürzen will, ihn durch Berührung mit ihrem Zauberstab „festbannt", [90191]

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so daß er mit erhobenem Schwert stehen bleibt und sidi nicht rühren kann. Geradezu ein Widerspruch aber ist es, wenn Medea in der fünften Szene des zweiten Aktes (die Longepierre von seinem Vorgänger übernommen hat) leidenschaftlich fragt: Partons puisqu'il le veut! Mais ou m'envoyez-vouz? Reverrai-je Colchos? Irai-je en Thessalie? Implorer les bontes des filles de Pelie? Irai-je sur le Phase, oü mon pere irrite Reserve un juste prix a mon impiete? Helas! du monde entier pour Jason seul bannie, Ai-je encore quelque asile en Europe, en Asie? am Schlüsse des Stückes dagegen, als sie ihren Drachenwagen besteigt, bereit, sich in die Lüfte zu erheben, erklärt: Et je recouvre enfin ma gloire, mon räpos, Mon sceptre, mes parents, la toison, et Colchos, es sei denn, man nehme an, die Tatsache, daß sie nicht einfach von lason sich hat verstoßen lassen, sondern an ihm Rache genommen hat, versichere sie der Verzeihung ihrer beleidigten Eltern und der völligen restitutio in integrum in der Heimat, was freilich nirgends ausgesprochen wird. Aber die Frage der Vermeidung oder Beibehaltung von „Fehlern" ist doch nur von untergeordneter Bedeutung. Im ganzen kann man wohl sagen, daß Longepierre aller Wahrscheinlichkeit nach die meisten „Fehler" Corneilles als solche erkannt hat, daß er aber nicht nur den Fehlern, sondern auch den Schwierigkeiten, durch die sie verursacht worden waren, nach Möglichkeit einfach aus dem Wege gegangen ist. Die Behandlung der Asyl frage ist dafür sehr charakteristisch. Statt sich damit herumzuschlagen, ein Asyl für Medea zu finden, läßt er sie einfach nach Kolchis zurückkehren und überläßt es dem Zuschauer oder Leser, sich auszudenken, wodurch ihr das ermöglicht wird. Ähnlich steht es mit der Frage, wie lason und seine Braut so unvorsichtig sein können, die Geschenke Medeas anzunehmen. Einerseits behält Longepierre die Fähigkeit Medeas, das Gift nur für bestimmte Personen wirksam sein zu lassen mit ihrer sonstigen exzessiven Zaubermacht bei, ohne doch die Vorsichtsmaßregel der Gegenseite, das Gewand erst an einer Sklavin zu erproben, beizubehalten; andererseits reduziert er die offenen Drohungen

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der Medea auf ein Minimum und läßt sie — scheinbar — so schnell und völlig nachgeben und die Gefügige und Versöhnte spielen, daß bei lason und Kreusa kaum ein Verdacht aufkommen kann. Unvergleichlich viel wichtiger ist der positive Gehalt der Tragödie; denn wenn Corneille von seinem Clitandre sagte, er habe ihn geschrieben, um zu beweisen, daß man alle Regeln auf das sorgfältigste beobachten, und doch ein Stück schreiben könne, „qui ne vaudrait rien de tout", so gilt dies ebenso von dem Vermeiden von Fehlern, wenn es auch ungerecht wäre, zu sagen, daß die Medee Longepierres ganz und gar nichts tauge. / Hier hat nun Longepierre gegenüber allen seinen Vorgängern eine grundlegend wichtige Änderung vorgenommen. Während bei Euripides und Seneca lason leugnet, Kreusa zu lieben und kein Grund besteht, dies zu bezweifeln, während bei Corneille lason zwar Kreusa liebt, aber geleugnet wird, daß dies das bestimmende Motiv seines Handelns sei, wird bei Longepierre alles durch lasons Liebe zu Kreusa bestimmt. Zwar ist die äußere Lage dieselbe wie bei Seneca und Corneille. Aber während bei beiden Dichtern aller Nachdruck auf die schreckliche Zwangslage gelegt wird, in der sich lason dadurch befindet, ist davon bei Longepierre nur nebenbei die Rede. Während bei Euripides sich das Heldentum des lason als brüchig erweist und bei Seneca und Corneille von dieser Brüchigkeit noch Spuren vorhanden sind, die freilich dort mit anderen Aspekten seines Charakters nicht ganz zusammenstimmen, spricht der lason Longepierres mit dem größten Leichtsinn von Gefahren, wenn es sich um die Liebe handelt. Nicht nur weist er alle Warnungen seines Freundes Iphitos vor der Möglichkeit einer schrecklichen Rache der Medea mit dem Hinweis auf seine neue Leidenschaft zurück, die ihm keine ängstlichen Bedenken gestatte, sondern er bricht auch Kreusa gegenüber, als sie ähnliche Befürchtungen äußert, in die Worte aus109: Je defie ä la fois les mortels et les dieux Et tout l'art de Medee et l'enfer et les cieux. Freilich liegen dem auch einige Illusionen zugrunde. Er glaubt, weil Medea ihn liebt, werde sie es nicht über sich bringen können, ihm etwas Böses anzutun, selbst wenn er sie verläßt: Mais de l'amour aussi je sais quel est l'empire. Plus puissant que son art, plus fort que son courroux [91192]

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De Medee en fureur il suspendra les coups. Elle m'aime, il suffit; et sä tendresse extreme Parlera puissament pour un ingrat qu'elle aime hatte er kurz zuvor seinem Freunde auf dessen letzte und dringendste Warnungen geantwortet110. Wie der Gedanke an von außen drohende Gefahren, so treten auch alle moralischen Bedenken hinter der Liebesleidenschaft völlig zurück. Während bei Euripides lason glaubt, sich Medea gegenüber moralisch rechtfertigen zu können, ja ihr geradezu böse ist, weil sie auf die ihm so vernünftig erscheinenden Vorschläge nicht hatte eingehen wollen und dadurch ihr eigenes Unglück erst, wie er meint, selbst heraufbeschworen hat, während bei Seneca lason auf das äußerste bedrängt ist von dem Zwang, zwischen den Pflichten seinen Kindern und seinen Pflichten Medea gegenüber wählen zu müssen, und bei Corneille trotz des Eindringens fremder Elemente, welche die Einheit des Charakters lasons zerstören, davon doch noch etwas übriggeblieben ist, treten bei Longepierre die Verpflichtungen lasons Medea gegenüber, man ist fast versucht zu sagen, nur noch als störende Gefühle auf, die man nicht ganz loswerden kann, die aber von den stürmischen Gefühlen der neuen Liebe einfach in den Hintergrund gedrängt werden. So drückt sich lason gleich zu Anfang des Stückes seinem Freund Iphitos gegenüber in den schon zitierten Versen aus. So findet es noch stärkeren, aber auch noch leichtsinnigeren Ausdruck in den Versen, mit denen lason in der Mitte des Stückes111 Kreusa antwortet, als sie die Befürchtung äußert, er könne ihr ebenso untreu werden, wie er früher Medea und Hypsipyle untreu gewesen ist: / Leur exemple inegal vous trouble sans raison, Madame, banissez un injuste . Hypsipyle et Medee, en prevenant mon äme, Avaient su m'engager ä repondre a leur flamme. Touche de leur bienfaits, sensible ä leur amour, Mon coeur crut leur devoir quelques soins ä son tour; Et d'y repondre au moins ne pouvant me defendre, La crainte d'etre ingrat me forca de me rendre. Mais des que je vous vis, un trouble imperieux Asservit tout mon coeur au pouvoir de vos yeux. 408

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D'une pressante ardeur 1'extreme violence Surmonta ma raison, for^a. ma resistance, etc.112. Es ist nun jedoch sehr interessant, daß eben in Verbindung mit dieser Neuerung, durch die sich Longepierre so weit von allen seinen Vorgängern und am weitesten von Euripides entfernt, ein Zug, in freilich veränderter Form, wieder auftritt, der bei Euripides, wie sich gezeigt hat, von zentraler Bedeutung ist: die Blindheit Tasons Medea gegenüber. Dieses Motiv des „aveuglement" wird von dem Dichter bewußt gleich in der ersten Szene angeschlagen, wenn er Iphitos seinen Freund warnen läßt: C'est ainsi que l'amour, trop fertile en excuses, Aveugle par son charme et seduit par ses ruses. Meme en nous egarant, il feint de nous guider. De ses pi£ges flatteurs songez a vous garder. Es tritt dann wieder auf in der Illusion, der sich lason hingibt, Medeas „tendresse" für ihn werde sie davon abhalten, ihm oder seiner neuen Braut etwas zuleide zu tun, selbst wenn er sie verlasse. Es erreicht seinen Gipfel in der Szene am Ende des dritten Aktes, in der sich lason mit der größten Leichtigkeit durch Medeas scheinbare Nachgiebigkeit und Versöhnlichkeit täuschen läßt. Diese Szene ist, von den Grundvoraussetzungen des Longepierreschen Dramas aus betrachtet, nicht schlecht. Es beginnt damit, daß lason noch einmal über die unangenehmen und den Genuß seines Liebesglücks störenden Gefühle klagt, die ihm der Gedanke an sein Unrecht Medea gegenüber und an ihren Zorn bereiten und die er zu bekämpfen und zu unterdrücken sucht. Da kommt Medea selbst. Sie spielt die Versöhnte und Nachgiebige, bittet aber, ihr wenigstens die Kinder zu überlassen. Auch dies wird ihr von lason verweigert, der sich nicht von ihnen trennen kann und große Pläne für sie hat. Medea hat sich so sehr in der Gewalt, daß sie auch dies ohne Protest zugesteht, lason aber, dessen Gewissensbisse sich einen Augenblick Medeas Nachgiebigkeit gegenüber noch vermehrt hatten: C'en est trop. Ah, de grace, epargnez-moi, madame. Aimez moins un ingrat qui trahit votre flamme; N'offrez point a ses yeux une tendre douleur. C'est augmenter mon trouble et dechirer mon coeur.

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Dieser selbe lason ist nun so völlig beruhigt, daß er mit liebevollen Wünschen für ihre Zukunft von ihr scheidet: / Puisse le juste ciel, ä mes voeux favorable, Vous accorder, madame, un repos desirable! Jason a son destin cedant avec regret, Nourissant loin de vous un deplaisir secret, Gardera cherement dans le fond de son äme Le tendre souvenir d'une si belle flamme. Zweifellos ist diese völlige Blindheit lasons Medea gegenüber eine vom Autor beabsichtigte tragische Ironie. Aber wenn hier also ein zentrales Motiv der Euripideischen Tragödie in anderer Form wieder auftaucht, so wird dadurch nur um so mehr der ungeheure Abstand zwischen den beiden Werken sichtbar. In gewisser Weise kann man sagen, daß die Blindheit lasons bei Longepierre nicht der Blindheit des Euripideischen lason Medea gegenüber, sondern der Blindheit Medeas lason gegenüber entspricht. Es ist nicht die völlige Unfähigkeit, zu verstehen, was für den Partner, mit dem er zusammen gelebt hat, die Dinge bedeuten, sondern die Verblendung durch die Liebesleidenschaft. Aber eben darin zeigt sich der ganze Unterschied zwischen Euripides und Longepierre. Es macht schon einen großen Unterschied, daß es bei Euripides die Frau ist, die durch die Liebe verblendet ist. Medea hat sich nicht nur in die schönen Augen des lason verliebt, sondern in den großen und strahlenden Helden, als der er ihr erschienen ist. Ein Teil ihrer Verblendung besteht allerdings darin, daß sie nicht von Anfang an gesehen hat, daß er das nicht ist. Aber sie hat ihm alles geopfert: ihr Vaterland, die Verbindung mit ihren Eltern, das Leben ihres Bruders. Es ist nicht nötig, des Apollonios Schilderung ihres Schwankens, ihres Kampfes mit sich selbst zu lesen, um zu wissen, was es sie gekostet hat. Es wird in der Tragödie des Euripides genügend deutlich gemacht. Der lason Longepierres dagegen opfert Kreusa gar nichts. Er hat nur Vorteil von der Liebe zu ihr. Im übrigen erzeugt diese Liebe in seinem Kopf rosige Wölkchen, die ihm die Wirklichkeiten, die äußeren wie die moralischen, verschleiern, wenn ihn die letzteren auch gelegentlich etwas zwicken, ohne daß er recht gewahr wird, was ihn da eigentlich zwickt. Wenn dieser lason einer Medea gegenübergestellt wird, so bleibt wirklich nicht sehr viel mehr übrig, als daß, freilich nicht ein ,ready made 410

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villain' — dazu hat er nicht genug Gewicht —, aber ein flatterhafter Galan an eine ,woman of disastrous temperament' geraten ist. Der grausige Schluß der Tragödie wirkt dann etwa wie wenn mit Kanonen nach Spatzen geschossen wird. Schon das ist eine wirksame Widerlegung der bei den modernen Interpreten weitverbreiteten Meinung, daß die zerstörerische Leidenschaft der Medea allein schon das Werk des Euripides zu einer großen Tragödie mache. Den Charakter der Medea selbst hat Longepierre natürlich im wesentlichen von seinen Vorgängern übernommen. Im Gegensatz zu Euripides und teilweise zu dessen früheren Nachfolgern läßt er Medea nicht den ganzen Schlag auf einmal treffen. Wie bei Seneca hofft Medea zunächst noch, lason umstimmen zu können. Dann glaubt sie noch, die Kinder behalten und mitnehmen zu können, was ihr aber ebenfalls abgeschlagen wird, da lason sich nicht von den Kindern trennen kann. Es wäre durchaus möglich, daraus eine dramatische Spannung und Steigerung zu gewinnen, die von der des Euripideischen Stückes abweicht. Aber um die völlige Verblendung und Sorglosigkeit des lason glaubhaft zu machen, muß Longepierre die Ausbrüche von Medeas Zorn und Leidenschaft so sehr herabstimmen, daß diese Möglichkeit nicht ausgenutzt werden kann. Bei dem letzten Schock, der Verweigerung der Kinder, hat sich Medea, wie schon bemerkt, so sehr in der Gewalt, daß sie nicht / einmal mehr unmittelbaren Widerspruch erhebt. So kann sich Medea auf der Bühne nicht voll entfalten, und es bleiben die Szenen des ersten Zornes, der scheinbaren Nachgiebigkeit und endlich des Planens und der Ausführung der Rache in sich selbst zu schwach entwickelt und zugleich zu unvermittelt nebeneinander stehend. Vor allem aber läßt sich nun zeigen, worin der fundamentale Unterschied zwischen der Euripideischen Tragödie und derjenigen Longepierres besteht und damit von neuem beweisen, was für die des Euripides das Wesentliche ist. Das tiefste Leiden ist das moralische Leiden. Deshalb nimmt es in der wahren Tragödie überall eine zentrale Stelle ein. Bei Longepierre tritt es, der Haltung des Zeitalters der Empfindsamkeit entsprechend, nur in der verdünnten Form der Gefühle auf. Bei Euripides ist es mit seinem vollen Gewicht auch und gerade da gegenwärtig, wo die handelnden Personen dafür blind sind113. Zugleich stößt es aber bei dem Tragiker Euripides an die Grenzen des Individuums, über die hinaus194/95}

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zukommen diesem nicht möglich ist. Die „Leidenschaft" lasons für Kreusa bei Longepierre ist trotz der beredten Worte, mit der dieser lason ihre Gewalt und Unüberwindlichkeit schildert, eine Leidenschaft, die man bekämpfen kann — oder könnte, wenn dieser lason überhaupt verstünde, wie es mit ihm und Medea steht. Die Leidenschaft Medeas bei Euripides ist etwas, das den Kern ihres Wesen so erfaßt hat, daß selbst der Gedanke, sie könnte durch Besinnung oder Überlegung oder Selbstbeherrschung damit fertig werden, grotesk erscheint. Aber auch der lason des Euripides ist in den Grenzen seines Wesens, der Art, wie er das Leben und die Dinge zu sehen gelernt hat, so eingeschlossen, daß er, selbst wenn man es ihm klarzumachen suchte, nicht darüber hinaus sehen, höchstens etwas darüber Hinausliegendes mit Staunen und moralischem Unbehagen feststellen, aber es nicht eigentlich verstehen könnte. Das kommt in jenem Zusammenstoß zwischen lason und Medea in der zentralen Szene bei Euripides mit unnachahmlicher Eindringlichkeit zum Ausdruck. Alles was darauf folgt, ist dann nur noch die schauerliche, aber logische Folge davon. Demgegenüber rücken selbst die moralistische Tragödie Senecas und Longepierres tragedie de la sensibilite in gewisser Weise zusammen. Wenn die stoische Tragödie die schreckliche Wirkung der unbeherrschten Leidenschaften zeigen will, so ist ihre stillschweigende oder ausgesprochene Voraussetzung, daß man sie durch Philosophie und Einsicht überwinden kann. Das ist die Voraussetzung der moralischen Wirkung, die sie ausüben will. Das wollte der Theorie nach, wie seine theoretischen Schriften zeigen, auch Corneille. Dagegen gehört es zum Wesen der antiken Tragödie, daß sie Konflikte auf die Bühne stellt, die mit rein menschlichen Mitteln und Kräften nicht zu überwinden sind. Obwohl Corneille seiner Theorie nach moralistische Tragödien schreiben wollte114, war in ihm als Dichter etwas, das ihn der antiken Tragödie annäherte. Aber das läßt sich besser an seinen späteren Tragödien zeigen als an der Medee, in der er noch zu sehr mit technischen, Schwierigkeiten und mit dem Problem, die aus Euripides und Seneca übernommenen Elemente miteinander und mit modernen Auffassungen zu vereinen, ringt. Bei Longepierre ist nur das Gemälde der Leidenschaften übriggeblieben. Aber man braucht nur das Moralische deutlicher zu machen, um zu etwas Seneca Ähnlichem zu gelangen, oder es bei Seneca zu verdünnen, um zu

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Longepierre zu gelangen. Die Euripideische Tragödie dagegen hat eine ganz andere Tiefendimension. / Das Problem ist jedoch noch etwas komplexer. Vielleicht ist dies am leichtesten sichtbar zu machen, wenn man die Medeatrzgödie Longepierres nicht nur mit ihren Vorgängerinnen, sondern auch mit dem etwa hundert Jahre nach ihm von Fra^ois Benoit Hoffmann verfaßten Libretto zu der Medeaoper Cherubinis vergleicht. Dann wird sogleich offenbar, daß die Tragödie Longepierres sich als tragedie de la sensibilite vor allem durch das charakterisiert, was ihr ihren Vorgängerinnen gegenüber fehlt: dies jedoch nicht im rein negativen Sinne, sondern so, daß mit gewissen Elementen, die Seneca und Corneille noch von Euripides übernommen hatten, bei ihm auch die Störungen im Aufbau und Fluß der Handlung weggefallen sind, die sie dort noch verursachen. Auf diese Weise kann sich das Emotionale in ununterbrochenerem Fluß, obwohl, wie gezeigt, auch bei ihm nicht ganz ungehemmt, entfalten. Vergleicht man die Ausführung bei Longepierre im einzelnen jedoch mit dem Libretto F. B. Hoffmanns, so sieht man sogleich, wie reflektiert, wie wenig unmittelbar der Ausdruck der Leidenschaft bei Longepierre auf weite Strecken hin ist. Sein lason versteht es, sich in der beredtesten Weise über die Unbezwinglichkeit seiner Leidenschaft für Kreusa zu äußern, aber wie sie ihn wirklich überwältigt, sieht man nicht. Die Leidenschaft Medeas äußert sich gelegentlich etwas unmittelbarer, aber auch sie kann über ihre Liebe, ihren Haß, ihren Schmerz in einer Weise reden, wie es die wirkliche Leidenschaft auf dem Höhepunkt ihrer Intensität kaum vermag115: L'amour seul animait ma main encore tremblante La haine avec l'amour, le courroux, la douleur M'embrasent a present d'une juste fureur. Que n'enfantera point cette fureur barbare? etc. Man hätte die soeben zitierten Verse wohl nur schwer in Musik setzen können. Dagegen findet bei Hoffmann die Leidenschaft überall ihren natürlichen und unmittelbarsten Ausdruck. Sein Libretto ist eine ausgezeichnete Grundlage für die herrliche Musik Cherubinis. In der Oper hat die von Longepierre intendierte tragedie de la sensibilite ihre volle Verwirklichung gefunden. Hier hat sie auch ihr volles Recht, frei[95196]

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lieh als ein Gebilde völlig anderer Art als die eigentliche Tragödie. Longepierres eigene Tragödie ist ein Zwittergebilde geblieben. Blickt man jedoch von hier auf Euripides zurück, so findet man, daß bei ihm in den Ausbrüchen Medeas, vor allem zu Anfang des Stückes die Leidenschaft einen viel unmittelbareren, überzeugenderen, man möchte wohl sagen musikalischeren Ausdruck gefunden hat als bei Longepierre. Was Longepierre angestrebt, aber nicht erreicht hat, das ist bei Euripides in großartiger Verwirklichung auch zu finden. Es ist das, was von seinen modernen Interpreten überall hervorgehoben wird. Aber sein Werk enthält noch sehr viel mehr und für die Tragödie im eigentlichen Sinn Wesentlicheres, das allzu wenig Beachtung gefunden hat. * Die Analyse der bedeutenderen nacheuripideischen dramatischen Bearbeitungen der lason-Medea-Legende bis zum Ende des 18. Jahrhunderts hat bei jedem Schritt von neuem die zentrale Bedeutung der großen Auseinandersetzung zwischen lason und Medea bei Euripides und des moralischen Gehaltes dieser Szene bestätigt. Dieser Gehalt konnte schon deshalb nicht als Ganzes von einem späteren Dichter übernommen werden, weil die moralischen Vorstellungen, welche in der Blindheit / lasons Medea gegenüber eine sehr wichtige Rolle spielen, zeitbedingt waren116, und weil Euripides' eigene Haltung diesen Vorstellungen gegenüber eine sehr subtile und nicht ohne weiteres übertragbar war. Daher machen sich die Fragmente des Gehaltes dieser Szene, die noch übrigbleiben, in den späteren Stücken bis zu Corneille auf die verschiedenste Weise störend bemerkbar. Bei Longepierre dagegen, bei dem sie endlich fast völlig verschwunden sind, entsteht statt dessen eine Leere, die nur in der Oper, welche zum Ausdruck des Gefühls und des Emotionalen die Musik zu Hilfe nimmt, nicht mehr fühlbar ist. Die Probe auf das Exempel ist, daß, wenn aus dem Stoff wieder eine Tragödie im vollen Sinne des Wortes werden sollte, ein neuer, im eigentlichen Sinne tragischer, Gehalt an Stelle des euripideischen treten mußte. Das ist zum ersten Male in der Medeatragödie Grillparzers der Fall. Die Schwierigkeit des vollen Verständnisses der Euripideischen Medeatragödie liegt zu einem sehr großen Teil darin, daß, um die Tragik des Verhältnisses des lason und der Medea zueinander, wie es in ihrer großen Auseinandersetzung zum Ausdruck kommt, zu verstehen, die ganze Vor414

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geschidhte der beiden gegenwärtig sein muß, die direkten Hinweise auf diese Vorgeschichte aber in einem Drama, das sich an einem einzigen Tage in Korinth abspielt, naturgemäß sehr eingeschränkt sein müssen. Mit den Elementen der Vorgeschichte sind denn auch Euripides' Nachfolger, von Apollonios angefangen, der eben diese Vorgeschichte zu erzählen hatte, am wenigsten fertig geworden. Dem hat Grillparzer dadurch abzuhelfen gesucht, daß er mit einer gewissen, wenn auch nicht völligen, Anlehnung an antike Muster den gesamten Sagenkomplex in Form einer Trilogie, bestehend aus zwei Tragödien von vollem Umfang und einem einaktigen tragischen Vorspiel, zur Darstellung brachte. Auch darin hat er sich an antike, im wesentlichen freilich voreuripideische. Vorbilder anzulehnen gesucht, daß er in dem Vorspiel mit dem Titel „Der Gastfreund" eine Tat begehen läßt, die Ermordung des Phrixos durch Aietes, die dann als Fluch immer weiterwirkt, wobei jedoch die Wirkung des Fluches nicht mehr als eine reale und sozusagen magische, sondern als eine psychologische genommen wird. Im übrigen hat Grillparzer immer wieder, und auch bei der ersten Aufführung der Trilogie, betont, daß die beiden ersten Stücke nicht selbständig für sich genommen werden dürfen, sondern erst als Teile des Ganzen ihre volle Bedeutung bekommen, weshalb er auch die Kritiker bat, sich nicht über die beiden ersten Stücke zu äußern, ehe sie am letzten Abend auch das dritte, die Afei/erftragödie, gesehen hätten. So schließt auch der Epilog, der nach der Aufführung der beiden ersten Teile von dem Regisseur auf dem Theater gesprochen wird: Drum folget günstig unsern Schritten nach; Und schiebt für heute noch das Urteil auf, Bis sich das Ganze als ein Ganzes zeigt! Es ist jedoch für das Verständnis der Medeatragöd'ie Grillparzers nicht nötig, die Handlung der beiden ersten Stücke im einzelnen zu verfolgen. Wichtig ist nur das Verhältnis, in dem Medea in / ihrer Heimat Kolchis zu ihrer Umgebung steht. Die Atmosphäre dieser Umgebung wird bestimmt durch das dumpfe Barbarentum ihres Vaters Aietes. Er hat eine primitive Vorstellung von Recht und Billigkeit gegenüber denen, die zum selben Clan gehören. Aber er ist voll feiger Furcht und Mißtrauen gegenüber allen Fremden und voll Gier nach allem, was reich und mächtig macht oder glänzt. Er hat keine Skrupel, Phrixos zu töten, der ihm [97198]

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friedlich entgegentritt und bei ihm Schutz und Gastfreundschaft sucht, aber nachdem er ihn getötet hat, hat er eine dumpfe Furcht vor den Folgen seines Fluchs. Demgegenüber stellt sich Medea dar als ein Mädchen, das sich zwar auf die Bereitung von Zauberkräutern und Zaubersalben versteht, das aber diese Dinge nicht liebt. Sie liebt vielmehr die Jagd, ein freies und kühnes Leben in der Natur. Sie ist zornig auf eine ihrer Gespielinnen, die sich aus Liebe zu einem Hirten geschlichen hat, nicht aus Gründen der „Sittlichkeit", sondern weil sie es nicht verstehen kann, daß man seine Gefährtinnen verlassen und sich einem Mann Untertan machen kann. Fremden gegenüber ist sie scheu, trotzig und ablehnend. Aber sie ist entsetzt über den Mord, den ihr Vater an dem wehrlosen Gast vollbringt. Seit dem Mord ist ihr das Haus ihres Vaters verhaßt. Sie zieht sich in die Einsamkeit zurück, Sie ist zwiespältig, als der Vater sie anfleht, ihm gegen lason und die neu angekommenen Fremdlinge zu helfen, und will die Götter um Rat bitten, was für sie zu tun sei in dem Konflikt zwischen der Pflicht dem Vater gegenüber und ihrem Abscheu vor seinen Taten. Da trifft sie lason. Es ist unnötig, darauf einzugehen, wie er ihre Liebe gewinnt und wie sie vergebens dagegen ankämpft. Wichtig dagegen ist für das folgende Stück, daß sie bereit ist, ihm zu folgen, ihn aber flehentlich bittet, auf das Goldene Vlies zu verzichten, das ihm nur Unheil bringen werde, und daß er sich mit wilder Rücksichtslosigkeit über ihr Flehen hinwegsetzt117. Wichtig ist endlich auch die Rolle des Absyrtos. Er ist mutiger als sein Vater: ein wahrer Krieger, offen im Kampf, nicht voll dumpfer Furcht und nicht für krumme Wege. Er Hebt seine Schwester und möchte ihr helfen, soweit es ihm ohne Verletzung seiner Kriegerehre und der Pflichten gegen den Vater möglich ist. lason, der ihm an Kraft weit überlegen ist, will ihn nicht töten, gibt aber den Argonauten, nachdem er ihn überwunden hat, Befehl ihn mitzuschleppen als Geisel, bis sie in Sicherheit sind. Aber er reißt sich los, stürzt sich von einer Klippe ins Meer und kommt um. Damit sind zwei wesentliche Voraussetzungen der Medeatragödie des Euripides geändert. Das Heldentum lasons ist nicht brüchig. Zwar schaudert er einen Augenblick beim Eintritt in die Höhle des Drachen, der das Vlies bewacht, zurück. Aber er ist entschlossen, lieber sein Leben zu verlieren, als ohne das Vlies zurückzukehren; und erst als Medea sieht, daß

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er tatsächlich in den sicheren Tod geht, rettet sie ihn. Die Situation des ursprünglichen Märchens, in dem der Held tatsächlich über menschliche Kräfte hinausgehenden Gefahren furchtlos entgegentritt und dann von übernatürlichen Mächten oder mit übernatürlichen Mitteln gerettet wird, ist wiederhergestellt. Sein Motiv ist nicht Habgier oder Machtgier, sondern das Gefühl, daß es eine unerträgliche Schande für ihn wäre, ohne das Vlies, das zu holen er versprochen hat, in die Heimat zurückzukehren: Mein Wort hab ich gegeben, es zu holen, Und ohne Siegespreis kehrt lason nicht zurück. Auch in dieser Hinsicht befinden wir uns, kann man sagen, im Bereich der ursprünglichen, nicht der brüchig gewordenen Heldenmoral, zu der freilich auch gehört, daß, wo es um die Heldenehre / geht, eine Rücksicht auf zartere Gefühle nicht möglich ist. Aber auch von dem Makel, den Bruder Medeas, Absyrtos, feig ermordet zu haben, wie es bei Apollonios geschieht, oder gar zugelassen zu haben, daß Medea ihren Bruder um seinetwillen ermordet, wie es bei Euripides vorausgesetzt wird, ist lason bei Grillparzer befreit. Dasselbe gilt dann natürlich auch von Medea, die bei dem Abschied von Kolchis keine Verbrechen begangen hat, wenn man nicht, daß sie lason rettete, als er in die Höhle des Drachen eindrang, und ihm es so ermöglichte, das von Aietes durch einen Mord erworbene Vlies zu holen, als Vergehen gegen ihren Vater betrachten will. Damit sind ganz wesentliche Voraussetzungen der Tragödien des Euripides und seiner Nachfolger bis auf Corneille geändert. Trotzdem ist die Lage des lason und der Medea in Korinth im wesentlichen dieselbe wie bei den früheren Dichtern. Die Tragödie beginnt mit einer etwas früheren Phase des Geschehens als die des Euripides, Senecas und Corneilles. lason und Medea sind aus lolkos vertrieben worden, weil sie beschuldigt werden, den König Pelias ermordet zu haben. Sie suchen Schutz bei Kreon von Korinth, bei dem lason seine Jugend verbracht hatte. lason möchte zuerst allein mit Kreon sprechen. Er ist zuversichtlich, daß Kreon ihn aufnehmen wird. Aber er fürchtet, daß der Anblick Medeas, die überall in Griechenland als Fremde und Barbarin gehaßt und als unheimliche Zauberin gefürchtet wird, ihn abstoßen werde. Deshalb will er für Medea erst bitten, wenn er ihn ganz für sich gewonnen [98199]

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hat. Aber Kreon kommt selbst mit seiner Tochter Kreusa. Kreon fragt ihn, ob etwas wahr sei an den Anklagen, die gegen ihn erhoben werden, lason beschwört, daß sie unwahr* sind. Da glaubt Kreusa, auch die Behauptung, er habe eine „giftmischende Barbarin" geheiratet, sei eine Verleumdung. In diesem Augenblick tritt Medea auf. lason tritt für sie ein und erklärt, nicht ohne sie in Korinth bleiben zu wollen. So entspinnt sich in der Mitte des ersten Aktes das folgende Gespräch: Jason: Und was entscheidest Du? König: Ich hab's gesagt. Jason: Gewährst Du Schutz mir? König: Ja. Jason: Mir und den Meinen? König: Ich habe dir ihn zugesagt. — So Folge!, und gegen Ende des ersten Aktes sagt lason noch einmal: .. . Eh' du vollendest, höre mich! Du nimmst uns beide, oder keinen, Herr! Mein Leben war' erneut, wüßt ich sie fort. Doch muß ich schützen, was sich mir vertraut. Kreusa ist dann die erste, die gewonnen wird. Medea selbst wendet sich ihr zu, und lason und Medea zusammen werden in Korinth aufgenommen. Aber trotz so vielen guten Willens von allen Seiten tritt der tiefe Zwiespalt zwischen lason und Medea von der ersten Szene an in Erscheinung. Das Stück beginnt damit, daß Medea die Zauberinstrumente, die sie aus Kolchis mitgebracht hat, zusammen mit dem Goldenen Vlies in der Erde vergräbt: die ganze Vergangenheit, alles, was sie noch mit ihrer barbarischen Heimat verbindet, soll damit begraben sein. Aber ihre Dienerin Gora, die mit ihr von Kolchis gekommen ist, tadelt sie dafür, daß sie Heimat und Ursprung verleugnen will; und sie hat Medeas Kinder gelehrt, daß die Griechen betrügerische und feige Menschen sind118, lason freut sich, daß Medea das Versprechen halten und das ganze Zauberwesen völlig von sich abtun will. Aber im Augenblick, da er ihr sagt, daß er ihr vertraut, spürt man, daß er doch noch mißtrauisch ist und daß der bloße Gedanke an das Zauberwesen sie ihm abstoßend macht. / Kreusa versucht, die beiden Ehegatten wieder zusammenzubringen. Sie will Medea griechische Sitten lehren, durch die sie ihren Gemahl erfreuen soll. Aber alles mißlingt und macht die Dinge noch schlimmer. Medea bemüht sich, ein griechisches Lied zur Leier zu lernen. Aber es 418

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fällt ihr schwer. lason sieht nicht das rührende Bemühen, sondern ist abgestoßen dadurch, daß es ihr so schlecht gelingt. Da zerbricht sie im Trotz die Leier, mit deren Spiel sie ihm hatte eine Freude machen wollen. Aber schon vorher haben die beiden Ehegatten der vermittelnden Kreusa gegenüber ihre gegenseitigen Gefühle enthüllt. Medea bemüht sich mit aller Kraft, zu tun und zu lernen, was lason gefällt und was ihr seine Liebe wiedergewinnen kann. Aber noch während sie es tut, bricht es aus ihr heraus: Du kennst ihn nicht, ich aber kenn ihn ganz! Nur er ist da, er in der weiten Welt, Und alles andere ist nichts als Stoff zu Taten. Voll Selbstheit, nicht des Nutzens, doch des Sinns, Spielt er mit seinem und der ändern Glück. Es ist nichts Geringes, wie hier das Thema von der Heldenmoral in einer ganz anderen Weise als bei Euripides erneuert wird. lason ist, anders als bei Euripides, noch fest entschlossen, an Medea festzuhalten und für sie einzustehen. Aber er kann nicht verhindern, daß er in jedem Augenblick empfindet, daß das kolchische Zauberwesen ihn nicht nur in den Augen der ändern befleckt hat, und daß alles, was sein Leben aus der Bahn geworfen hat, auch wenn Medea daran unschuldig ist und das Zauberwesen abgetan hat, für sein Empfinden in ihr verkörpert ist. Da kommt der Herold der Amphiktionen und verlangt die Auslieferung lasons und Medeas wegen des Mordes an Pelias; und jetzt bricht die Vergangenheit erst völlig wieder auf. lason hat schon vorher jede Schuld geleugnet. Das einzige, was er getan hat, ist, daß er Medea verboten hat, Pelias zu helfen, als die Töchter des Pelias zu ihm kamen und ihn baten, auf Medea einzuwirken, daß sie ihn von der Krankheit, die ihn befallen hat, heile. Nun erfahren er und Kreon, daß Medea später doch auf erneute Bitten der Töchter zu Pelias gegangen ist, und daß man ihn danach mit geöffneten Pulsadern verblutet vorgefunden hat. Da stellt sich Kreon spontan auf lasons Seite, erklärt, er wolle ihm zum Zeichen des Glaubens an seine Unschuld seine Tochter zur Frau geben und sei bereit, ihn gegen alle Feinde zu verteidigen. Und nun wendet sich auch lason von Medea ab. Aber später kann sie sich rechtfertigen. Sie hat wirklich Pelias zu heilen versucht, sich nur das Goldene Vlies als [100]

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Preis der Heilung ausbedungen. Aber als sie später kam, es zu holen, wird Pelias, der schon auf dem Weg der Genesung gewesen war, beim Anblick des Vlieses vom Wahnsinn ergriffen, reißt sich die Adern wieder auf, verblutet und stirbt. Aber nicht nur trifft Medea keine unmittelbare Schuld. Sie kann auch lason zeigen, daß er nicht frei gewesen ist von bösen Gedanken. Gewiß, er hat weder an der Heilung noch am Tode des Pelias teilgehabt. Aber als die Töchter des Pelias zum ersten Male zu ihr gekommen waren, hat er sie da nicht seltsam angesehen und gesagt: „Zu dir kommen sie, um Heilung zu suchen für ihren Vater?" Was hat er sich dabei gedacht? So webt sich aus lauter Dingen, die nicht gewollt und nicht getan worden sind, ein unzerreißbares Gewebe der Schuld. Auch den Absyrtos hat lason ja nicht getötet, auch nicht Medeas Vater Aietes. Aber es heißt, daß Aietes, Medea fluchend, sich selbst den Tod gegeben hat. So sollte lason wohl einsehen, daß er unrecht hatte, wenn er sich auf den Bericht des Herolds hin von Medea abgewendet hat. Wenn jemand hier schuldig war, so war er es, obwohl er von ihren / Handlungen nichts wußte, nicht weniger als sie. Indem sie als Preis für die Heilung das Vlies forderte und es sich zu holen kam, hat sie nur seine Tat wiederholt, mit der alles Unheil angefangen hatte. Aber gerade weil lason spürt, daß er, obwohl er doch außer dem Raub des Vlieses selbst — und das sollte nach allen Anschauungen der Heldenwelt eine strahlende Ruhmestat sein — nichts Unedles, geschweige denn etwas Verbrecherisches mit Willen und Zustimmung getan hat, durch böse Gedanken, durch halbe Handlungen, durch untätiges Zulassen auch moralisch in den Greuel verstrickt ist, ist es ihm unmöglich, zu Medea zurückzukehren. Immer mehr verkörpert sich für ihn in ihr alles, was wider seinen Willen und ohne daß er sich erklären kann, wie es gekommen ist, sein helles griechisches Heldentum befleckt hat, und vor dem er in die helle Welt des griechischen Korinth und seiner Jugendgespielin Kreusa flüchten möchte. Er möchte Medea gegenüber gerecht sein und bewegt Kreon dazu, sie anzuhören, als dieser sie ungehört verbannen will, und wendet sich dann doch mit brutaler Ungerechtigkeit und Selbstgerechtigkeit von ihr ab in dem Augenblick, als er sehen mußte, daß er ihr Unrecht getan hat. So tritt zuerst in der Mitte des dritten Aktes, als der König Medea nicht anhören will, lason dafür ein, daß sie sich rechtfertigen darf. 420

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Damit du siehst, daß idi dein Wort nicht scheue. Laß uns, o König! Hören will ich sie. und später entspinnt sich zwischen ihnen folgendes Gespräch: Medea: . .. Du wärest also rein? Jason: Ich bin's. Medea: Und um den Tod des Oheims hast Du nicht gebetet? Jason: Ihn befördert nicht. Medea: Mich nicht versucht, ob ich's nicht üben wollte? Jason: Der erste Zorn spricht manches sprudelnd aus, Was, reifer überdacht, er nimmer übt. Medea: Einst klagtest du dich selber dessen an, Nun ist gefunden, der die Schuld dir trägt. Jason: Nicht der Gedanke wird bestraft, die Tat. Und als dann Medea ihm genau berichtet hat, wie sie das Vlies als Schutz vorgehalten hat, als Pelias, der schon auf dem Wege der Besserung war, nach ihr greifen wollte, und wie er darauf in Wahnsinn verfiel und sich selbst das Leben nahm, ruft lason aus: Das sagst du mir, Zaubrische, Gräßliche! Hebe dich weg von mir! fort! Gerade in dem Augenblick, in dem ihre Unschuld, soweit ein gewolltes Verbrechen in Frage kommt, bewiesen wird, stößt ihn das Gräßliche und Unheimliche, das mit dem Vlies, das er doch selbst gegen Medeas Willen geraubt hat, verbunden ist, so ab, daß er gegen Medea ganz ungerecht wird. Er weiß, daß er nicht wieder werden kann, was er vor dem Argonautenzug gewesen ist. Aber Medea soll in die Verbannung gehen, damit er, wie er meint, noch das bewahren kann, was ihm geblieben ist. Der letzte Streit entspinnt sich um die Kinder. Medea ist schließlich bereit, in die Verbannung zu gehen, wenn sie die Kinder behalten kann, lason verweigert es zuerst. Schließlich gesteht er ihr zu, daß eines der beiden bei ihr bleiben soll. Die Kinder selber sollen entscheiden, welches von ihnen der Mutter folgen will. Aber vor der wilden Leidenschaft der Mutter erschrecken sie und fliehen beide zu der sanften Kreusa, die sich inzwischen um sie angenommen hat. Das bringt die Entscheidung. Medea gibt scheinbar nach. Aber sie ist nun entschlossen, die Kinder, die sie verlassen haben, und Kreusa, die ihr nun als falsche Verführerin erscheint, die ihr Gatten und Kinder genommen hat, zu töten. Der Rest ist nur noch Planung und Ausführung der Tat. [101]

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Pohlenz hat diese Abweichung in der Motivierung des Kindermordes scharf getadelt119: „Grillparzer glaubt den Entschluß Medeas dadurch psychologisch begreiflich machen zu müssen, daß die Kinder sich von der Mutter abwenden und sich zur Nebenbuhlerin, der weichen, sanften Kreusa flüchten. Bei Euripides kommen die Kinder zutraulich zu Medea heran. Die Mutter streichelt, küßt / sie, fühlt selbst, wie sie weich zu werden droht, und im nächsten Augenblick wird sie das Schwert gegen sie zücken. Hier spüren wir wohl, was psychologisch ,vertiefendec Verflachung und was wahrhaft große Tragik ist." Aber das ist nur ein neues Beispiel dafür, wie wenig selbst die am meisten gelesenen und bewunderten modernen philologischen Interpreten imstande sind, ein Ganzes zu sehen. Wenn Grillparzer wie Hofmannsthal anläßlich der Alkestis in einer Übersetzung des Euripideischen Stückes120 geglaubt hätte, dem großen antiken Dichter sein Konzept verbessern zu müssen, hätte Pohlenz ihn mit Recht getadelt. Er hat aber nichts dergleichen getan. Er hat sich im Gegenteil im Epilog zu den beiden ersten Stücken ausdrücklich dagegen verwahrt, irgend etwas besser machen oder auch nur mit den früheren Dichtern wetteifern zu wollen. Er hat nur von seinem Recht als Dichter Gebrauch gemacht, dem überlieferten Stoff einen neuen tragischen Inhalt zu geben. Mit diesem neuen tragischen Gehalt aber hängt die neue Motivierung des Kindermordes aufs genaueste zusammen. In der Euripideischen Tragödie wäre die Grillparzersche Motivation völlig fehl am Platze. In dem Augenblick, in dem sich die Kinder zärtlich an die Mutter drängen, in dem Augenblick, wo das Aufwallen des mütterlichen Gefühls sie in ihrem Entschluß beinahe schwankend macht, spürt sie auch, was es für lason, an dem sie sich rächen will, bedeuten muß, die Kinder durch einen gräßlichen Mord zu verlieren. So tötet sie sie im nächsten Augenblick. Bei Grillparzer ist es nicht wie bei Euripides die blinde Leidenschaft für lason, daher auch nicht die Rache an lason, die alles bestimmt. Daher scheidet Medea am Ende auch nicht wie bei Euripides von ihm mit wildem Hohn, sondern fast mit Sympathie: In all den Schmerzen, die uns jetzt umnachten, Zu all dem Jammer, der noch künftig droht, Sag ich Dir Lebewohl, mein Gatte. Doch was auch kommen mag: halt aus Und sei im Tragen stärker als im Handeln! 422

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Was in aller Welt sollte in einem solchen Zusammenhang die Euripideische Motivierung des Kindermordes? Was Medea bei Grillparzer zu ihrer Verzweiflungstat treibt, ist ihr Ausgestoßensein, die Zurückweisung, die sie überall erfährt, wo sie geliebt hat, wo sie helfen wollte, wo sie sich bemüht hat, das ihr Fremde zu lernen, sich ihm einzufügen. Wie sie nun gar noch von den eigenen Kindern verlassen wird und selbst diese zu der „glatten" Griechin fliehen, die ihr schon den Gatten genommen hat, da ist das Maß voll: da muß sie zerstören, was ihr den größten Schmerz bereitet hatm. Vielleicht ist der tragische Konflikt, den Grillparzer an Stelle des euripideischen gesetzt hat, nicht ganz so tief. Eben weil die beiden tragenden Figuren weniger blind sind als bei Euripides, weil sie mehr von sich selber wissen, liegt die Möglichkeit einer nichttragischen Lösung nicht ganz so fern wie bei Euripides, wie ja auch der Ausgang der Tragödie bei Grillparzer trotz dem Kindermord nicht so kraß wie bei Euripides, ja in gewisser Weise fast ein versöhnlicher ist. Aber wie unvergleichlich viel tiefer ist die Untreue lasons bei Grillparzer motiviert als bei Longepierre, wo er sich einfach in die schönen Augen und das süße Frätzchen der Kreusa vergafft. Auch der Medee Corneilles, die noch viele Schwächen eines ersten Versuches aufweist, ist die Medea Grillparzers, abgesehen von der Versifikation, die nicht Grillparzers Stärke ist, bei weitem überlegen, wenn auch, auf das Ganze / des dramatischen Werkes gesehen, Corneille der größere Dichter ist. Man muß Grillparzer wohl den Ruhm lassen, der erste gewesen zu sein, der gesehen hat, daß es nötig war, das, was an den Voraussetzungen und Hintergründen der Euripideischen A/Werttragödie zeitgebunden war, radikal zu beseitigen, dann aber nicht wie Longepierre eine leere Stelle zu lassen, sondern es durch etwas Neues zu ersetzen: durch eine neue Art des tragischen Konflikts. Das ist ihm gelungen. Grillparzer ist daher auch der erste, von dem man sagen kann, daß er nach Euripides eine Medeatragödie im vollsten Sinne des Wortes und aus einem Guß geschrieben hat, nicht nur ein moralisches Exemplum oder eine tragedie de la sensibilite: das Moralische ist bei ihm in seiner vollen Intensität gegenwärtig, aber nicht so, daß man über die handelnden Personen bequem aburteilen und am Schluß eine schöne Lehre daraus ziehen kann.

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Jean Anouilh hat sein Medeadrama. unter seine ,pieces noires* einge-, reiht. Vielleicht ist dieses Wort einfach als eine moderne Übersetzung des Wortes Tragödie zu verstehen. Vielleicht hat Anouilh es gebraucht, um das „Hochtrabende" zu vermeiden, das für das Gefühl der Modernen dem Wort „Tragödie" anhaften mag. Vielleicht hat der Gebrauch der neuen Bezeichnung aber auch einen tieferen Sinn. Vergleicht man die Medee Anouilhs mit der Medca Grillparzers, so fällt der Unterschied im Stil und in der Atmosphäre auf. Es ist der ganze Unterschied zwischen dem Nachklang des Klassizismus am Ende des ersten Viertels des neunzehnten Jahrhunderts und dem Realismus der Mitte des zwanzigsten. Das moderne Drama ist erdiger, bewußt gröber und direkter im Ausdruck, „tougher", um einen Ausdruck zu gebrauchen, der sich kaum ins Deutsche übersetzen läßt, aber das Gemeinte besonders gut bezeichnet, skeptischer gegen große Worte der alten Art, ohne doch den Gebrauch einer neuen Art „realistischer" großer Worte entbehren zu können. Aber bei alledem ist es erstaunlich, wieviel das Stück nicht nur in der äußeren Situation, sondern in seinem inneren Gehalt mit dem seines österreichischen Vorgängers gemeinsam hat: was jedoch ganz und gar nicht bedeutet, daß Anouilh bei diesem eine Anleihe gemacht hätte: er braucht die Medea Grillparzers nicht einmal gekannt zu haben. Die Übereinstimmung in einem ganz wesentlichen Zug der Grundsituation ist um so interessanter, wenn Anouilh der Tragödie Grillparzers gar keine Beachtung geschenkt hat: aber auch die Unterschiede im einzelnen und im Ausgang, die sich trotz dieser Übereinstimmung ergeben. Manches führt übrigens, wie sich zeigen wird, auch zu Euripides zurück, ohne daß dadurch die Einheit des Stückes, das wie bei Grillparzer ganz aus einem Guß ist, gestört wird. Die Ausgangsituation ist ähnlich wie bei Gritlparzer. Nur wird alles viel enger zusammengepreßt, so daß für die zarteren Entwicklungen, die sich bei Grillparzer zu Anfang anzubahnen scheinen, die aber in der Atmosphäre der Hartgesottenheit, die bei Anouilh, dem Stil des zwanzigsten Jahrhunderts entsprechend, vorherrscht, ohnehin nicht aufkommen könnten, kein Platz übrigbleibt. Die Flüchtlinge sind auf korinthischem Territorium angekommen. Medea wartet mit ihrer Amme, ob es lason gelingen wird, vom König für sie alle Asyl zu erlangen, da sie von ihren Feinden, die überall ihre Auslieferung verlangen, verfolgt 424

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sind. Inzwischen hören sie das Geräusch von Festlichkeiten, eine Musik, die Medea nicht angenehm in den Ohren klingt. Schließlich kommt ein Bote, der ihnen meldet, daß sie gerettet sind. Aber, wie sich bald darauf herausstellt, ist ihre Rettung / eigentümlicher Art. Kreon hat den Fall genau untersucht. Er hat gefunden, daß lason an den Verbrechen — die Medea anders als bei Grillparzer wirklich begangen hat — unschuldig ist. Er hat lason seine Tochter zur Frau angeboten und wollte Medea töten lassen. Doch lason hat es erreicht, daß das Urteil in bloße Verbannung aus dem Lande abgeändert worden ist. Das also ist die ganze Rettung. Medeas Reaktion auf diese Nachricht ist kein leidenschaftlicher Ausbruch wie bei Euripides. Zwar fühlt sie den Haß gegen lason in sich aufsteigen. Aber sie freut sich fast über „dieses neue Kind, das ihre Seele zu gebären sich anschickt". Sie hat die Liebeshörigkeit, in der sie lason gegenüber seit seinem Aufenthalt in Kolchis gelebt hat, schon lange als Last empfunden. So ist es im ersten Augenblick für sie fast ein Gefühl der Erleichterung, daß sie ihn nun von Herzen hassen kann. Aber es zeigt sich bald, daß dies Gefühl sie getrogen hat und daß sie nicht von ihm loskommen kann. Bei ihrem Zusammentreffen mit Kreon, der sie des Landes verweist, bittet sie ihn abwechselnd, ihr lason zu lassen und sie zu töten. Als er ihr auch das letztere verweigert mit der Begründung, er habe als Herrscher genug Blut vergießen müssen und habe genug davon, antwortet sie ihm mit wildem Hohn: er sei ein alter Löwe, dessen Magen nicht mehr richtig funktioniere. Er solle sich in acht nehmen. Er werde dafür bezahlen müssen, daß seine Drüsen so altersschwach geworden sind, daß er feige geworden ist und nicht mehr zu töten wagt122. In der unmittelbar folgenden Auseinandersetzung zwischen lason und Medea, die auch bei Anouilh im Zentrum des Stückes steht, wiederholt sie abwechselnd beide Bitten, die erste indirekt, indem sie lason zu zeigen versucht, daß sie untrennbar miteinander verbunden sind, die zweite direkt, indem sie ihn bittet, Kreon zu veranlassen, sie zu töten. Aber lason ist nicht altersschwach und aus härterem Holz geschnitzt. Mit äußerster Härte sagt er ihr: auch der Tod würde sie, wenn er von ihm veranlaßt würde, noch verbinden. Er aber will sie ganz vergessen. Dann wird die Geschichte ihrer Liebe enthüllt, zuerst von lason. Zu Anfang haben sie das füreinander gehabt, was man die Liebe zwischen [1031104]

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den Geschlechtern nennt. Während dieser ganzen Zeit waren noch die Waffengefährten und die mit ihnen vollbrachten Taten und bestandenen Gefahren der eigentliche Inhalt von lasons Leben. Aber eines Abends, als sie mit dem Kopf an seiner Brust eingeschlafen war, trat eine Veränderung ein. „Da", sagte lason, „wurde ich dein Vater und deine Mutter; und der junge Mann lason lebte nicht mehr." Danach wurden ihm seine Waffengefährten gleichgültig. Sie merkten, daß sie ihren Führer verloren hatten. „Nun", sagt lason, „hatte ich nur noch einen Argonauten, nur noch eine ganz kleine Armee, und das warst du." „Es kam die Zeit, wo wir alles zusammen getan und gedacht haben, und wenn es so weitergegangen wäre, wäre alles gut." Selbst so, wie es gekommen ist, kann es nicht ganz wieder verlorengehen, da es einmal dagewesen ist. Es ist aber nicht so geblieben. Die andere Art der Liebe hat sich wieder bemerkbar gemacht; und nun sind ihre Wege auseinandergegangen. Eines Nachts, als lason vor dem Zelt getrennt von Medea geschlafen hat, hat sie sich zu einem Hirten geschlichen. Aber obwohl der Hirte sie liebte, hat sie sich nicht von lason trennen können. Sie hat lason veranlaßt, den Hirten zu töten. Seither hat lason nur noch den Wunsch, sich ganz von ihr zu befreien, sie ganz zu vergessen: nicht wegen des Ehebruchs, sondern weil ihm die ganze Vergangenheit unerträglich geworden ist und weil sie für ihn in Medea verkörpert ist. / „Je t'ai aimee, Medee. J'ai aime notre vie forcenee. J'ai aime le crime et l'aventure avec toi. Et nos etreintes, nos sales lüttes de chiffoniers, et cette entente de complices que nous retrouvions le soir, sur la paillasse, dans un coin de notre roulotte, apres nos coups. J'ai aime ton monde noir, ton audace, ta revoke, ta connivence avec l'horreur et la mort, ta rage de tout detruire. J'ai cru avec toi qu'il fallait toujours prendre et se battre et que tout est permis." Hier berührt sich das Stück Anouilhs ganz eng mit der Tragödie Grillparzers: in dem Grundmotiv, daß lason sich, indem er sich von Medea abkehrt, von seiner Vergangenheit befreien will. Auch darin stimmt Anouilh mit Grillparzer überein, daß das Heldentum lasons nicht wie bei Euripides dadurch etwas Brüchiges bekommt, daß lason kaum etwas selbst vollbringt, daß alles von Medea für ihn vollbracht werden muß — an Mut in Abenteuern hat es dem lason Anouilhs so wenig wie dem lason Grillparzers gefehlt —, sondern daß sich das abenteuernde Hel426

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dentum selbst als etwas Brüchiges erweist. In allem übrigen freilich gehen die beiden Stücke auseinander. Es fehlt bei Anouilh das Zarte, das Delikate, das „Idealistische", das ein wichtiges Element in Grillparzers Tragödie ist. Medea macht bei ihm keine rührenden Versuche, die Barbarin abzulegen und zur sanften, Laute spielenden Griechin zu werden. Das spielt für sie wieder dieselbe Rolle wie bei Euripides. Auch die Verbrechen und harten Taten bleiben wie bei Euripides eben dies und werden nicht durch Handlungen ersetzt, die ungewollt zustande gekommen sind und für die niemand ganz verantwortlich gemacht werden kann. Anouilh versucht nicht wie Grillparzer eine moralische Reinigung seiner Hauptcharaktere. Dafür ist sein lason ehrlicher als der Griilparzers. Wenn er mit Medea seine Vergangenheit abstreifen will, so versucht er nicht, diese Vergangenheit und seine Verantwortung für sie zu leugnen. Aber jetzt soll ein Ende mit dieser Vergangenheit sein. Er will das Leben annehmen, wie es ist. Aber er will versuchen, eine Ordnung zu schaffen, in der er leben kann. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte er sie mit Medea zusammen schaffen und mit ihr in dieser Ordnung leben wollen: „J'aurais tout donne pour que nous devenions deux vieux, Tun a cote de l'autre, dans un monde apaise! C'est toi qui ne l'a pas voulu." Und Medeas Antwort darauf ist ein bekräftigendes „non". So müssen sie sich trennen. Es folgt eine kurze Szene, die nicht ohne Tiefe ist. Nachdem lason nochmals seinen Entschluß ausgesprochen hat, fragt ihn Medea nach einigem Zögern: „Si je te disais que je vais essayer maintenant avec toi, tu me croirais?" und nun ist lasons Antwort ein kurzes „non". Darauf Medea nach kurzem Überlegen: „Tu aurais raisonm." Als lason sich daraufhin anschickt zu gehen, ruft ihm Medea nach: „Tu äs raison, tu es bon, tu es juste ... mais une seconde, une seule seconde, doutes-en! Retourne-toi et je serai peut-etre delivree ..." Aber lason ist schon gegangen. So folgt die Katastrophe. Medea tötet Kreon, Kreusa und die Kinder und am Ende, anders als bei allen früheren Dichtern seit Euripides, sich selbst. Aber lason ist durch die Katastrophe nicht gebrochen. Er läßt sozusagen, was übriggeblieben ist, wie Scherben zusammenkehren. Dann wendet er sich seiner neuen Aufgabe zu: „Oui, je t'oublierai. Oui, je vivrai, et malgre la trace sanglante de ton passage a cote de moi, je

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referai demain avec patience mon pauvre echafaudage d'homme sous 1'oeil indifferent des dieux ... Qu'un de vous garde autour du feu jusqu'a ce qu'il n'y ait plus que / des cendres, jusqu'a ce que le dernier os de Medee soit brule ... 11 faut vivre maintenant, assurer 1'ordre, donner des lois a Corinthe et rebätir sans illusions un monde ä notre mesure pour y attendre a mourir." Dann sieht man noch im Auftreten der kleinen Leute, wie das tägliche Leben wieder erwacht: Die Amme: „Apres la nuit vient le matin et il y a le cafe a faire et puis les lits. Et quand on a balaye, on a un petit moment tranquille au soleil avant d'eplucher les legumes ..." Der Wächter: „II va faire beau aujourd'hui . .." Und zum Schluß: Die Amme: „La recolte sera bonne par chez vous?" Der Wächter: „Fautpasseplaindre. Il y aura encore du pain pour tout le monde cette anne-ci." Was ist hier nun aus der Medeatragödie geworden, und was ist eine piece noire? Vielleicht gibt es eine Form des Lebens, in der das Moralische so durchsichtig geworden ist und eine solche Gewalt bekommen hat, daß ein solches Leben der Möglichkeit des Tragischen entgeht. In dem Leben und der Philosophie des Sokrates mag sich eine solche Möglichkeit andeuten. Aber auch das Christentum und orientalische Religionen haben das Tragische, wenn auch auf andere Weise, zu überwinden gesucht. Gibt es also vielleicht ein Leben oberhalb der tragischen Möglichkeit, über das das Tragische keine Gewalt mehr hat, so gibt es wohl auch ein Leben unterhalb des Tragischen, wo trotz vorhandener natürlicher Vitalität die Seelen nicht genug Spannkraft haben, um dem Tragischen zugänglich zu sein124. Der lason Anouilhs scheint seinen Standpunkt sowohl oberhalb wie unterhalb des Tragischen nehmen zu wollen: oberhalb, insofern er das Leben in seinen verschiedenen Aspekten durchschaut zu haben glaubt, unterhalb insofern, als er das Leben mit allen seinen Schwächen akzeptieren will und sich der Unvollkommenheit, ja, wie er selbst andeutet, der Armseligkeit der Ordnung bewußt ist, die er schaffen und in der er leben will. Vielleicht wird dabei das Moralische allzu „cavalierement" behandelt und ist die Auffassung lasons allzusehr von Sartrescher Philosophie bestimmt. Man darf daher wohl zweifeln, 428

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ob es ihm gelingen wird. Aber daß das Leben, das vitale Leben, über alle Tragödien hinweg seinen Gang geht, ist richtig und im Schluß des Stückes sehr schön zur Darstellung gebracht. Auch ist trotz allem das Moralische in Anouilhs piece noire durchaus anwesend, und zwar, wie bei allen wahren Dichtern, in solcher Weise, daß man nicht aburteilen kann, sondern die Charaktere in ihrem Kampf gegen das Moralische, um das Moralische und mit dem Moralischen zu verstehen gezwungen ist. So ist Anouilhs Stück weder ein moralisches Exemplum noch eine tragedie de la sensibilite. Wie alle Dichter von Medeadramen, mit Ausnahme von Longepierre, hat Anouilh auch gesehen, daß man keine Tragödie, überhaupt keine Medeadichtung, die über dem Niveau eines Melodramas steht, auf der bloßen Untreue lasons, oder darauf, daß er ein „ready made villain" ist, aufbauen kann, sondern daß die ganze Vorgeschichte lasons und Medeas in das Stück mit hineinwirken muß. Das ist auch bei Euripides in eindringlichster Weise der Fall. Man muß es nur sehen.

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ENTSTEHUNG UND INHALT DES NEUNTEN KAPITELS VON ARISTOTELES' POETIK In einem Aufsatz mit dem Titel The Problem of the Genesis of Aristotle's Text im ersten Band der Zeitschrift Phronesis1 hat F. Grayeff an einer Reihe von Beispielen den Beweis zu erbringen versucht, da die Lehrschriften des Aristoteles nicht in ihrer urspr nglichen Form auf uns gekommen, sondern voll von sp teren Zus tzen sind. Eines von diesen Beispielen ist das neunte Kapitel der Poetik, das vor allem in seinen beiden ersten Dritteln f r die Theorie der Dichtung so grundlegend wichtig ist, da es sich wohl lohnt, sich nicht nur mit den Argumenten GrayefFs auseinanderzusetzen, sondern vor allem die Interpretation der nicht wenigen schwierigen Stellen von neuem aufzunehmen. Grayeffs Argument ist das folgende. Wenn Aristoteles am Anfang dieses Kapitels sagt, es sei nicht Aufgabe des Dichters τα γενόμενα λέγειν, αλλ5 οΐα αν γένοιτο και τα δυνατά κατά το εικός ή το άναγκαΐον, so k nne damit nichts anderes gemeint sein als die Freiheit des Dichters, Situationen zu erfinden (wie z. B. die Begegnung zwischen Elektra und Orest) und neue Charaktere einzuf hren (wie z.B. den W chter in der Antigone), wodurch er sich eben vom Historiker unterscheide, der an die historischen Fakten gebunden ist. Mit anderen Worten: der Gegensatz zwischen γενόμενα und οΐα αν γένοιτο sei ganz einfach der Unterschied zwischen historischem Faktum und der Erfindung dichterischer Phantasie. Diese h chst einfache und einleuchtende Unterscheidung werde jedoch verdunkelt durch das, was folgt. Wenn hier gesagt werde, die Dichtung sei philosophischer und ernsthafter (σπουδαιότερον) als die Geschichte, weil sie mehr καθόλου sei als diese und weil sie darzustellen versuche τω ποίω τα ποία αττα συμβαίνει λέγειν ή πράττειν κατά το εικός ή το άναγκαΐον, w hrend die Ge/ schichte beschreibe, was Alkibiades tats chlich getan habe und was ihm tats chlich widerfahren sei, so werde der Gegensatz zwischen Faktum und Erfindung pl tzlich durch den Gegensatz zwischen Einzelnem und Allgemeinem ersetzt, was nur zur Verwirrung f hren k nne. Das zeige 430

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sich auch sogleich in dem, was im Text darauf folgt. Denn wenn hier, um die größere Allgemeinheit der Dichtung zu beweisen, mit der Komödie exemplifiziert werde, so zeige das Folgende, daß das für die Tragödie im Gegensatz zur Komödie gar nicht gelte. Denn was von ödipus oder Orestes erzählt oder auf der Bühne dargestellt werde, sei nicht weniger individuell als was die Geschichte von Themiistokles oder Alkibiades zu berichten habe. Die Komödie (wenigstens die neuere, welche der Urheber dieses Abschnittes offenbar im Auge habe) stelle typische Charaktere auf die Bühne, den geriebenen Sklaven, den verwöhnten Sohn, den geizigen, den allzustrengen, den allzunachgiebigen Vater, usw., aber nicht die Tragödie, die vielmehr gerade in ihren hervorragendsten Exemplaren ganz und gar individuelle Charaktere auf die Bühne stelle. Der Gegensatz zwischen Dichtung und Geschichte werde also unvermerkt durch den Gegensatz zwischen Tragödie und Komödie ersetzt; und wenn man das zuvor über das als das Charakteristikum der Dichtung Gesagte wirklich anwenden wollte, so käme dabei heraus, daß die Komödie wirkliche Dichtung sei, die Tragödie dagegen nicht. Das führe, wenn man es richtig durchdenke, zu so absurden Konsequenzen, daß das Ganze, wie es dasteht, unmöglich von Aristoteles sein könne. Diese Absurdität sei denn auch offenbar bei Lesungen des so beschaffenen Manuskripts im Peripatos bemerkt worden; und was auf den zuletzt diskutierten Abschnitt folge, sei offenbar ein gekürzter Report über eine Diskussion, die sich unter Mitgliedern des Peripatos darüber entwickelt habe. Das lasse sich aus dem Verhältnis der Teile dieses Reports zueinander noch erweisen. Zuerst werde gesagt, daß auch die Tragödie — und zwar selbst dann, wenn sie faktisch Geschehenes dramatisierte — doch jedenfalls das Mögliche darstelle, da das wirklich Geschehene auch möglich sein müsse. Dann werde bemerkt, auch die Tragödie könne ganz oder teilweise erfunden sein; außerdem könne auch eine bekannte Handlung dieselbe Wirkung auf den Zuschauer haben wie eine erfundene, jedenfalls auf diejenigen, denen die Geschichte bzw. das Geschehnis vorher nicht bekannt war. Drittens und endlich werde gesagt, daß, selbst wenn eine dramatische Handlung aus der Wirklichkeit genommen sei, doch nichts im Wege stehe, daß einiges von dem wirklich Geschehenen auch wahrscheinlich sei (wie es die Dichtung verlangt). Hier sei nun sofort wieder eine Inkonsistenz zwischen der ersten und

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der letzten Bemerkung zu statuieren. Denn in der ersten werde behauptet, das Wirkliche sei immer möglich, es schließe die Möglichkeit unvermeidlich ein, während die letzte im Gegensatz dazu besage, das Wirkliche könne manchmal auch wahrscheinlich (oder möglich) sein. Ebenso bestehe eine Inkongru / enz zum mindesten des Standpunktes zwischen der ersten und der zweiten Behauptung. Denn wenn, wie in der ersten behauptet werde, das Wirkliche die Möglichkeit in sich schließt, dann folge mit Notwendigkeit, daß Tragödien mit erfundener Handlung Tragödien, die ihrer Handlung ein wirkliches Geschehen zugrunde legen, unterlegen seien, während doch gerade behauptet worden war, die Dichtung sei der Geschichtsschreibung allgemein »Verlegen, weil sie es nicht wie diese mit der Wirklichkeit, sondern mit dem Möglichen zu tun habe. Das alles sei nicht zu verstehen, wenn man nicht etwa folgenden Vorgang annehme. Zuerst habe der eigentliche Autor, Aristoteles, nur die an das Faktische gebundene Geschichte von der ihren Gegenstand in freier Phantasie sich schaffenden oder doch gestaltenden Dichtung unterschieden. Dann habe ein „systematischer Philosoph" (den man sich also als von Aristoteles verschieden zu denken hat) das Erfundene mit dem Allgemeinen, das Faktische mit dem Individuellen gleichgesetzt, und, um die Verbindung zwischen den beiden herzustellen, sich des Begriffs des Möglichen bedient. Dann habe jemand bemerkt, daß das, was hier nun von der Dichtung gesagt werde, doch eigentlich besser auf die Komödie als auf die Tragödie passe: und nun müsse sich einmal im Peripatos über den so konstituierten Text ungefähr folgender Dialog entsponnen haben: A: Was hier gesagt wird, paßt eigentlich besser auf die Komödie, wo die Dichter typischen Charakteren beliebige Namen geben. B: Aber es gibt doch auch Tragödien, in denen nur wenige bekannte Charaktere (Namen) vorkommen, die übrigen aber erfunden sind. A: Immerhin: In Tragödien hält man sich meist an eine schon bekannte Fabel. C: Der Grund dafür ist, daß die Handlung glaublich sein soll. Aber wir betrachten das, von dem wir nicht wiesen, daß es wirklich geschehen ist, nicht immer als möglich. Wenn wir aber wissen, daß es wirklich geschehen ist, ist der Zweifel hinsichtlich der Möglichkeit behoben. B: Aber in manchen Tragödien sind Namen und Handlung vollständig 432

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erfunden, wie in Agathons Antheus; und sie gefallen doch. Deshalb sollten sich die Trag diendichter nicht immer an berlieferte Fabeln halten. Dieser Dialog sei irgendwie aufgezeichnet und in verk rzter Form dem Text einverleibt worden. Am Schlu aber sei noch ein Redaktor dar ber gekommen, der das Ganze etwas gl ttete, so da die Widerspr che und Inkongruenzen nicht mehr ganz so kra in die Augen fielen. Er habe zu diesem Zweck aller Wahrscheinlichkeit nach an einigen Stellen den Text ge ndert. Die wichtigste nderung habe er gleich in dem ersten Satz vorgenommen, in welchem Dichtung und Geschichte einander gegen bergestellt werden (1451 a, 39). Hier habe er hinter οία αν γένοιτο die Worte και τα δυνατά κατά το εικός ή το άναγκαϊον eingef gt, um den Zusammenhang mit dem Folgenden herzustellen. An sich seien diese Worte an dieser Stelle sonst v llig berfl ssig. / Ebenso habe er hinter der ersten Einschaltung (des „systematischen Philosophen"), in der der Gegensatz zwischen dem M glichen, bzw. Wahrscheinlichen, und dem Wirklichen durch den Gegensatz zwischen dem Allgemeinen und dem Individuellen ersetzt werde, in dem Satz (1451 b, 15/16) επί δε της τραγωδίας των γενομένων [ονομάτων] αντέχονται hinter γενομένων das Wort ονομάτων eingef gt, das sich schon dadurch als interpoliert erweise, da es grammatisch mit γενομένων nur schwer zu verbinden sei. Urspr nglich habe der Satz (als Einwand gegen das unmittelbar zuvor Gesagte) nur darauf aufmerksam machen wollen, da auch die Trag die (genauso wie die Geschichte) es mit dem wirklich Geschehenen zu nun habe. Denn die Sage sei, wie auch das im Text Folgende beweise, von den Griechen als wirklich Geschehenes betrachtet worden. Diese Ausf hrungen, deren Inhalt ich hier etwas ausf hrlicher berichtet habe, da es auf die Einzelheiten ankommt, haben das unbezweifelbare Verdienst, auf die noch ungel sten Schwierigkeiten in der Interpretation dieses in der Geschichte der Theorie der Dichtung so einflu reichen und soviel benutzten und er rterten Abschnittes von Aristoteles' Poetik energisch aufmerksam zu machen. Auch da der zweite Teil des Abschnittes (wie vieles in den Lehrschriften des Aristoteles) den Charakter einer auf das K rzeste zusammengedr ngten Diskussion hat, ist ganz richtig beobachtet. Aber auch abgesehen davon, da man ber die Interpretation einzelner S tze anderer Meinung sein kann, ist nicht schwer zu sehen, da die Theorie sich gerade an der entscheidenden Stelle nicht in [69170]

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der von Grayeff vorgeschlagenen Weise durchf hren l t, wodurch die Theorie als Ganzes sehr zweifelhaft wird. Aristoteles soll also nur die Absicht gehabt haben zu sagen, da die Dichtung erfinden darf und nicht an Fakten gebunden ist. Aber auch abgesehen davon, da diese Feststellung auch f r die Zeit des Aristoteles eine Trivialit t gewesen ist, kann der erste Satz, der (ohne die von Grayeff als sp terer Zusa/tz gestrichenen Worte) dies besagt, nicht vor dem zweiten gr eren Abschnitt des Kapitels (1451 b, 33 ff.) allein gestanden haben, da er sonst v llig in der Luft schwebt. Auch Grayeff hat sich daher veranla t gesehen, wenigstens den n chstfolgenden l ngeren Satz noch dem Aristoteles zu lassen. In diesem Satz wird gesagt, der Historiker und der Dichter unterschieden sich nicht dadurch, da der zweite in Versen schreibe, der erste dagegen in Prosa. Denn wenn man auch das Werk des Herodot in Verse setze, so bleibe es doch Geschichte und werde keine Dichtung. Denn der Unterschied sei eben (wie vorher bemerkt), da der Historiker τα γενόμενα λέγει, der Dichter dagegen οΐα αν γένοιτο. Hier steht noch kein Wort von καθόλου und καθ3 εκαστον. Aber es ist doch v llig klar, da Aristoteles schon hier der Dichtung, indem er sie von der Gebundenheit an die γενόμενα frei erkl rt, / etwas der Geschichte gegen ber Positives zuschreiben will. Sonst h tte er umgekehrt sagen m ssen: wenn man auch Dichtung in Prosa umsetzt, wird doch noch lange keine Geschichte daraus, eine Bemerkung, die angesichts der Versuche des Hekataios, der Mythographen Akusilaos von Argos und Pherekydes von Athen, und noch von einigen Atthidographen bis tief ins vierte Jahrhundert hinein, Dichtung in Geschichte umzusetzen, durchaus sinnvoll gewesen w re. Wenn er statt dessen sagt, aus der Geschichte werde noch keine Dichtung, wenn man sie auch in Verse setze, so mu er also meinen, da die Dichtung au er dem Versma noch etwas hat, was sie positiv von der Geschichte unterscheidet, sie in gewisser Weise ber diese hinaushebt. Ist dies aber seine Meinung, so mu er aber auch sagen, was dies ist. Der folgende Satz ber das καθόλου und das καθ5 εκαστον mit dem Zusatz, da die Dichtung philosophischer sei als die Geschichte, weil sie μάλλον καθόλου sei, enth lt nun genau diese notwendige Erg nzung. Der Satz ist also nach dem Vorangegangenen v llig unentbehrlich und kann unm glich nachtr glich durch einen interpolierenden Philosophen in den Text gekommen sein. 434

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Was nun im weiteren Text der Poetik, wie er berliefert ist, im Anschlu an diesen grundlegend wichtigen Satz gesagt wird, ist allerdings die aufs u erste zusammengedr ngte Diskussion einiger Schwierigkeiten, welche sich aus der Anwendung des Satzes auf verschiedene Arten des antiken Dramas ergeben. Aber wenn schon der Satz selbst, aus dem diese Schwierigkeiten hervorgehen, nicht als Interpolation beseitigt werden kann, so sollte doch auch f r das Folgende zun chst die M glichkeit offen gelassen werden, da es von Aristoteles stammt, bzw. von dem Autor, der auch den Anfang geschrieben hat. In jedem Fall jedoch ist es notwendig, zun chst sorgf ltig zu interpretieren, und zwar nicht nur nach dem Wortsinn, sondern auch nach dem Wortsinn im Hinblick auf die gemeinte Sache oder Sachen, eine Art der Interpretation, die von der zeitgen ssischen Philologie leider vielfach vernachl ssigt wird. Zun chst also der Sinn des im Zentrum des Ganzen stehenden οία αν γένοιτο. Bei einer (ganz au erhalb des gegenw rtigen Zusammenhangs stehenden) Erw hnung des Ausdrucks in einer Konversation pl dierte Prof. Raubitschek (Princeton) daf r, nicht im Text, aber dem Sinne nach, noch einmal τα γενόμενα dazu zu erg nzen und „wie wohl (das Geschehene) geschehen sein k nnte" zu bersetzen statt der blichen bersetzung „was wohl geschehen k nnte". Dieser Vorschlag weist mit Recht auf die Schwierigkeit einer bersetzung ins Deutsche (oder Englische) hin, wenn er sich auch nach der grammatischen Seite hin kaum halten l t. Es ist richtig, da οία nicht dasselbe wie α ist. Aber es ist auch nicht dasselbe wie ως, dem im Deutschen und Englischen das Wort „wie" oder „how" entsprechen w rde. Es bedeutet das „wie Beschaffene". Aber das wie Beschaffene in bezug worauf? Im Text wird dies etwas weiter erkl rt. Die Dichtung, hei t es dort, sucht/darzustellenτφ ποίψ τα ποία αττα συμβαίνει λέγειν ή πράττειν κατά το εικός ή το άναγκαϊον, also, der wie Beschaffene nach Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit wie Beschaffenes sagen oder tun wird. Mit anderen Worten: die Personen des Dramas m ssen so reden und handeln, wie es ihrem Charakter entspricht. Das ist eine bekannte Forderung, die auch heute jeder Kritiker erhebt. Sie gilt ferner f r die typischen Charaktere der Kom die ebenso wie f r die individuellen der Trag die. Sie gilt sogar f r die lteste Trag die, obwohl in dieser die Charakterzeichnung noch wenig entwickelt und die Handlung als solche noch durchaus die Haupt[71172]

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sache ist. Schon in den Hiketiden müssen die Danaiden, Danaos, Pelasgos, schon im Prometheus müssen Hephaistos, Kratos, Okeanos, und Hermes ganz verschieden handeln und reden, wie es jeweils ihrem Charakter entspricht: und es würde das ganze Stück zerstören, wenn Hermes z. B. bald so wie Hephaistos, bald so wie Okeanos reden und sich verhalten würde. Es ist auch deutlich, diaß damit das weitgehend auch das und das bestimmt, da es eben auch, zum mindesten bis zu einem hohen Grade, bestimmt, was Hephadstos oder Okeanos sagt und tut, und wie er es tut. Darin ist also kein Unterschied zwischen den verschiedenen Arten des Dramas oder den verschiedenen Exemplaren innerhalb derselben Gattung. Ein Unterschied dagegen besteht darin, daß in der Komödie der Dichter die äußeren Umstände und die Gesamtsituation frei erfindet, während er in der Antike bei der Tragödie meist einen schon vorhandenen Vorwurf behandelt und nur die Einzelheiten frei erfindet. Man könnte also sagen, daß in diesem Sinne in der Tragödie die schon vorgefunden sind und daß der Dichter hier nur mehr das „wie" im einzelnen erfindet, obwohl, wie eben gezeigt, dieses „wie" zugleich notwendigerweise das „was" im einzelnen ist. Es besteht aber auch ein wichtiger Unterschied zwischen der älteren Tragödie des Aischylos einerseits und der jüngeren des Sophokles und des Euripides andererseits, die mit der größeren Entwicklung der Bedeutung des Charakters oder des Ethos bei den jüngeren Dichtern zusammenhängt. Ich habe an anderer Stelle zu zeigen versucht2, daß in der antiken griechischen Tragödie das tragische Schicksal durchweg von außen kommt, nicht wie bei Shakespeare durch den Charakter des Helden unvermeidlich hervorgebracht wird. Das bedeutet für die jüngeren Dichter jedoch nicht, daß dieselbe Situation für jeden Charakter eine tragische oder gar in derselben Weise eine tragische ist. Vielmehr kommt es bei Sophokles mehrfach vor, daß auf eine potentiell tragische Situation von zwei Charakteren sozusagen nur der eine anspricht, so daß sie nur für ihn zu einer tragischen wird, so in der Antigone l nur für Antigone, nicht für Ismene, in der Elektra nur für Elektra, nicht für Chrysothemis. Andererseits ist ein und dieselbe Situation tragisch für Orest in den Tragödien der drei großen tragischen Dichter, aber bei jedem in einer anderen Weise. In irgendeiner Form besteht dieser Zusammenhang zwischen dem Tragischwerden der 436

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tragischen Situation, bzw. der Art und Weise, wie sie tragisch wird, und dem Charakter oder Ethos der Person, f r die sie tragisch wird, berall bei Sophokles und Euripides. In diesem Sinn ist also nicht nur das im Text der Poetik ausdr cklich erw hnte λέγειν und πράττειν, sondern auch das παθεΐν in seiner ποιότης durch die ποιότης dessen bestimmt, dem es widerf hrt. Dies ist nun interessant in bezug auf eine kleine, aber bedeutsame Inkongruenz in der Bezeichnung des Gegensatzes zwischen Dichtung und Geschichtsschreibung in der Poetik. Die Dichtung, so hei t es, ist an das οΐα αν γένοιτο gebunden, die Historic an die γενόμενα. Aber bei der n heren Erkl rung des ersten hei t es τα ποία αττα συμβαίνει λέγειν ή πράττειν, bei der Erkl rung des zweiten τί επραξεν ή τί επαφεν. Mit anderen Worten: der Dichter ist bei dem, was er seine Personen sagen und tun l t, fest gebunden an das, was ihrem Charakter entspricht, was innerhalb dieses m glich, wahrscheinlich, oder der gegebenen Situation nach notwendig ist. Jede geringste Abweichung davon ist ein schwerer Kunstfehler. Der Historiker ist in dem, was er die Akteure in der von ihm erz hlten Geschichte tun und was er ihnen widerfahren l t, unbedingt an das wirklich Geschehene gebunden. Jede Abweichung davon ist ein Versto gegen die historische Wahrheit. Wir wissen aber, da die antiken Historiker sich in bezug auf das, was sie die historischen Akteure sagen lie en, sich nicht so strikt an das Faktische gebunden hielten. Thukydides erkl rt bekanntlich, er wolle seine Redner das sagen lassen, was seiner Meinung nach der Situation am angemessensten war: also in gewisser Weise ein οία αν γένοιτο, aber sich dabei so nahe als m glich an die Gesainttendenz dessen halten, was wirklich gesagt worden war: also ein γενόμενον. Es ist also kein Zufall, da Aristoteles da, wo er von der Bindung des Historikers an die γενόμενα redet, das λέγειν ausl t, aber es nimmt doch eine Zwischenstellung ein. hnlich steht es auf der Seite der Dichtung mit dem παθεΐν. Insofern auf gewisse potentiell tragische Situationen nur gewisse Charaktere ansprechen, so da nur f r sie die Situationen aktuell tragisch werden, ist auch das παθεϊν in der Trag die dem Prinzip des οία αν γένοιτο unterworfen, oder genauer, dem δυνατόν, εικός oder άναγκαΐον, insofern diese an den Charakter gekn pft sind. Aber insofern in der antiken griechischen Trag die die tragische Situation als solche von au en kommt und

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nicht, wie dies bei Shakespeare der Fall zu sein pflegt, aus dem Charakter mit Notwendigkeit hervorgeht — es ist nicht im Charakter der Antigone gelegen, da sie in eine Situation kommen mu , in der sie zu entscheiden gezwungen ist, ob sie ihren Bruder unbe / erdigt lassen oder dem Befehl des K nigs trotzen will, wie es im Charakter des K nigs Lear, des Julius C sar, des Macbeth gelegen ist, da sie fr her oder sp ter einmal in eine Situation geraten m ssen der analog, in der sie sich bei Shakespeare befinden —, insofern scheint sie an nichts Weiteres gebunden zu sein, jedenfalls nicht in der Weise, in der das οΐα αν γένοιτο bis hierher in der Poetik n her erkl rt worden ist. Eben f r die tragischen Situationen in dieser Hinsicht, d. h. sofern sie von au en kommen, werden nun in der Trag die h ufig bekannte mythische oder historische Situationen gew hlt. Hier wird also das οία αν γένοιτο des παθεϊν durch ein wirkliches oder angenommenes γενόμενον erg nzt und tats chlich weitgehend ensetzt, ebenso wie umgekehrt in der (antiken) Historiographie bei dem λέγειν das γενόμενον durch ein οία αν γένοιτο erg nzt und weitgehend ersetzt wird. Es ist daher auch kein Zufall, da bei der n heren Erkl rung des οία αν γένοιτο das παθεΐν fehlt. Aber das παθεΐν ist doch offenbar auch nicht ganz ohne Beziehung zu dem οΐα αν γένοιτο. Was bedeutet dies nun und warum ist dies so? Im Text der Poetik wird auf diese Frage die Antwort gegeben: weil die Wirklichkeit die M glichkeit in sich schlie t, d. h. weil wir, wenn etwas wirklich geschehen ist, zugeben m ssen, da es m glich ist, auch wenn wir die M glichkeit sonst bezweifelt h tten. Diese Antwort setzt voraus, da die Situationen und Verwicklungen, die in einer Trag die vorkommen, eine solche Bekr ftigung ihrer Glaubw rdigkeit nicht selten n tig haben. Sonst machte die Begr ndung keinen Sinn. Aber diese Voraussetzung trifft ja auf nicht wenige Trag dien und gerade auf einige der ber hmtesten zu. Die tragischen Situationen sind schon im allgemeinen durchaus nicht das, was im gew hnlichen Leben am h ufigsten geschieht und was der einzelne am wahrscheinlichsten erleben wir/d. Es sind im Gegenteil immer extreme Situationen, aufs u erste zugespitzt. Ja, bei einigen der hervorragendsten Trag dien, wie z. B. dem K nig dipus, den Aristoteles, wie viele Stellen der Poetik zeigen, bei seiner Analyse des Wesens der Trag die sehr lebhaft vor Augen gehabt hat, werden die unwahrscheinlichsten Verket438

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rangen von Umst nden vorausgesetzt. Wenn die Geschichte nicht aus dem Mythus bekannt w re, t te ein Dichter vielleicht besser, so unwahrscheinliche und ausgefallene Verwicklungen nicht auf die B hne zu bringen. Die Best tigung daf r ist, da in den F llen, in denen Dichter den Versuch gemacht haben, derartiges aus eigener Machtvollkommenheit und Erfindung auf die B hne zu stellen, der Erfolg zweifelhaft gewesen ist, weil der Zuschauer die M glichkeit bezweifelt3. Hier aber, wo die Fabel vorlag, hat Sophokles daraus eine der gr ten Trag dien aller Zeiten gemacht. Es zeigt sich also, da es auch in bezug auf die von au en kommende tragische Sitiuation oder Verwicklung in gewisser Weise eine Bindung an das οΐα αν γένοιτο gibt. Sonst brauchte sich der Dichter in dieser Hinsicht gar keine Schranken aufzuerlegen und bed rfte auch der Best tigung durch / das wirkliche oder angeblich wirkliche Geschehen nicht, um den Glauben an die M glichkeit zu st tzen. Aber dieses οία αν γένοιτο ist offenbar ganz anderer Natur als das zun chst im Hinblick auf die Charaktere und ihr Reden und Handeln beschriebene: es schlie t das Seltene und Unwahrscheinliche, sofern es sich nur als m glich erweisen l t, nicht aus. Auf der ndern Seite ndert das Zugrundeliegen einer solchen extremen und unwahrscheinlichen Situation oder Verwicklung nicht im geringsten etwas daran, da f r die Ausf hrung im einzelnen die strikteste Bindung an das εικός und άναγκαΐον hinsichtlich des λέγειν und πράττειν des einzelnen Charakters bestehenbleibt. So seltsam und unwahrscheinlich die Verwicklung ist, in die dipus ger t, so mu doch jedes Wort, das er sagt, jede Geste, die er macht, jede Handlung, die er vornimmt oder begeht, nach den striktesten Gesetzen des εικός und άναγκαΐον aus seinem Charakter hervorgehen. Es zeigt sich also, da das οΐα αν γένοιτο zwei ganz verschiedene Aspekte hat, je nachdem es sich auf die Gesamtsituation oder Gesamtverwicklung oder die Ausf hrung der Handlung im einzelnen bezieht. Bevor jedoch der Versuch gemacht wird, die Natur der zweiten Art des οΐα αν γένοιτο noch genauer zu bestimmen, ist es notwendig, auf Grund der soweit gewonnenen Erkenntnis die Einzelinterpretation der in der Poetik einander folgenden S tze nachzuholen. Die Er rterung ber das Verh ltnis zwischen Wirklichkeit und M glichkeit in bezug auf die tragische Grundsituation beginnt mit dem Satz: επί δε της τραγωδίας των γενομένων ονομάτων αντέχονται. Hier hat Grayeff mit Recht bemerkt, da der Ausdruck των γενομένων ονομάτων etwas hart [74175]

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ist und da der Satz, f r sich genommen, leichter zu verstehen ist, wenn man das ονομάτων wegl t. Auch k nnte das Wort von einem Interpolator aus dem Vorangegangenen oder dem Folgenden erg nzt sein, wo es je einmal vorkommt. Aber das alles ist noch kein Beweis, da es nicht von Aristoteles, bzw. dem urspr nglichen Autor hierhingesetzt worden ist, solamge nicht durch sorgf ltige Interpretation festgestellt ist, warum es hier steht. Nun ist im Vorangehenden gesagt worden, die Freiheit des Dichters im Erfinden nach dem Prinzip des εΙκός zeige sich am deutlichsten in der Kom die. Denn hier erfinde der Dichter auch die Fabel und die Charaktere und gebe den letzteren beliebige Namen (τα τυχόντα ονόματα). Darauf folgt der oben zitierte Satz, der feststellt, da der Trag diendichter sich meistens nicht so freier Erfindung bedient und als Grund daf r angibt, da die Benutzung von etwas wirklich Geschehenem die Glaubw rdigkeit erh he. Da nun die antike griechische Trag die sich nur ganz selten, wie etwa in Aischylos' Persern, eines historischen Ereignisses bedient, in der berw ltigenden Mehrzahl der F lle dagegen von Sagen Gebrauch macht, so hat Grayeff ganz recht, wenn er bemerkt, diese Bemerkung der Poetik setze voraus, da die Zuschauer die Sage als wirklich Geschehenes nehmen. Sonst k nnte ihre Benutzung durch den Dichter ja auch nicht die Glaubw rdig / keit erh hen. Vom Standpunkt der Mehrzahl der Zuschauer aus bringen also die Dichter tats chlich meist γενόμενα auf die B hne: των γενομένων αντέχονται (ohne ονομάτων). Aber auf der anderen Seite kann doch auch kaum ein Zweifel daran bestehen, und wird es durch andere Stellen der Poetik bewiesen, da Aristoteles selbst die Sage nicht einfach als historische Wahrheit betrachtet hat; und das d rfte doch aller Wahrscheinlichkeit nach auch f r andere Mitglieder des Peripatos gelten, die etwa an der Diskussion teilgenommen haben k nnten. Es ist daher doch nicht ganz wahrscheinlich, da einer von ihnen so einfach gesagt haben sollte, da die Trag diendichter των γενομένων αντέχονται. Was die Trag diendichter wirklich tun, ist, da sie die aus der Sage bekannten Charaktere nebst ihren Schicksalen (die letzteren im gro en ganzen, nicht im Detail) nehmen und den Charakteren ihre traditionellen Namen lassen. Dadurch erh lt das auf die B hne gebrachte Geschehen f r die Mehrzahl der Zuschauer die Best tigung durch die Wirklichkeit. Vom Standpunkt des Schreibenden (im Gegensatz zu dem 440

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des Zuschauers) aus erscheint der Zusatz ονομάτων daher notwendig. Wenn ferner die Wortverbindung γενομένων ονομάτων im Sinne der aus der Sage bekannten, d. h. im Proze der Entstehung der Sage gebildeten Figuren und sie bezeichnenden Namen auch ungew hnlich ist, so erscheint sie doch keineswegs unm glich, wenn man bedenkt, da das Wirkliche sonst mit τα οντά bezeichnet zu werden pflegt, dieser Ausdruck hier aber nicht pa t, und da auch τα παρόντα, an das man sonst etwa denken k nnte, der Sache nicht ganz angemessen ist. Der Text ist also nicht zu ndern, und die etwas ungew hnliche Wortverbindung verdankt ihre Entstehung der Verbindung in einem Ausdruck von zwei Aspekten derselben Sache, einmal f r den Schreibenden, zum ndern f r die Leute im allgemeinen, in diesem Fall als Theaterbesucher. Auf den Satz mit γενομένων ονομάτων folgt der fundamentale Satz ber das Verh ltnis von Wirklichkeit und M glichkeit in den Grundsituationen der Trag die, der schon interpretiert worden ist. Dieser wiederum ist gefolgt von einigen Einschr nkungen, die der Interpretation nur einige ziemlich an der Oberfl che liegende und nicht allzu schwer zu l sende Schwierigkeiten bieten. In einigen Trag dien, hei t es hier, kommen nur ein oder zwei bekannte Gestalten vor. Die ndern sind, wie in der Kom die, frei erfunden. Ja, in einigen St cken, wie dem Antheus* des Agathon, sind alle erfunden. Und doch hat das St ck Erfolg gehabt. Deshalb, so wird weiter gefolgert, soll man sich nicht immer an die berlieferten Mythen oder Sagen halten. Denn auch die bekannten Sagen sind nur relativ wenigen bekannt, und doch haben die davon hergenommenen St cke bei allen Erfolg. / Mit dieser letzten Bemerkung scheint nun allerdings die Bemerkung, mit der dieser Abschnitt beginnt, bis zu einem gewissen Grade widerrufen zu werden. Denn wenn diejenigen, die die Sage (oder das historische Ereignis), die der Trag die zugrunde liegt, nicht kennen, diese genausogut genie en k nnen wie diejenigen, welche sie kennen, wie kann man dann noch sagen, da die Benutzung eines wirklichen (oder als wirklich betrachteten) Geschehens notwendig ist, um die Glaubw rdigkeit des auf der B hne dargestellten Geschehens zu erh hen? Aber in Wirklichkeit handelt es sich ja hier offensichtlich nur um verschiedene Grade auf beiden Seiten. Die Situationen in den Trag dien sind durchweg extrem und daher nicht allt glicher Natur. Aber sie sind in der Mehrzahl der F lle doch nicht so [76177]

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extrem und unwahrscheinlich, da der Zuschauer durch den Zweifel an ihrer M glichkeit gest rt wird. Es ist deshalb auch durchaus m glich, Trag dien zu schaffen, deren Fabeln von Anfang bis zu Ende erfunden sind; und da die Zahl der verwendbaren Sagen begrenzt ist, liegt es nahe, den Dichter aufzufordern, sich auch an frei erfundenen Verwicklungen zu versuchen. Aber bei einigen der bekanntesten Trag dien, wie dem K nig diptts oder dem Thyestes, ist die Fabel bzw. die Verwicklung so extrem, da ohne die St tze durch den bekannten Mythus der Zuschauer tats chlich durch die Unglaubw rdigkeit der Fabel gest rt werden kann. Bezieht man die anscheinend einander widersprechenden Bemerkungen nur auf die verschiedenen tats chlichen F lle und daraus resultierenden M glichkeiten, so verschwindet der Widerspruch vollst ndig und wird das Ganze ohne Schwierigkeit verst ndlich. Nur die eine sehr wichtige Frage bleibt allerdings unbeantwortet: warum denn gerade diejenige antike Trag die, die einer solchen — im allgemeinen doch als nicht n tig bezeichneten — St tze durch den akzeptierten Mythus am dringendsten bedarf, die gro artigste der erhaltenen antiken und eine der gr ten Trag dien aller Zeiten ist. Das letzte St ck des Abschnittes, das Grayeff dem „harmonisierenden" Redaktor zuschreibt, bereitet wieder betr chtliche Schwierigkeiten. Zwar der Anfang ist noch verh ltnism ig einfach. Aus dem vorher Gesagten, hei t es hier, geht deutlich hervor, da der Dichter mehr ποιητής der Fabeln als der Verse sein mu , und zwar um so viel mehr, als er Dichter gem der μίμησις ist: „μιμείται δε τάς πράξεις". Eine gewisse semantische Schwierigkeit an dieser Stelle liegt darin, da ποιητής sowohl als terminus technicus den Dichter als auch seiner Etymologie nach den Macher, Sch pfer, Hersteller, Former einer Sache bezeichnen kann, das letztere insofern, als der Schutimacher, der einen Schuh, oder der T pfer, der einen Krug macht, diese ja nicht aus nichts machen, sondern dadurch, da sie das Material, das sie ben tzen, formen. Nun wird zwar in der Poetik allgemein das Wort ποιητής speziell f r den Dichter gebraucht. Aber es ist doch nicht zu verkennen, da an der eben zu besprechenden Stelle, wo von dem Verh ltnis / des Dichters zur Fabel und zur Versifikation die Rede ist, die urspr ngliche und weitere Bedeutung des Wortes durchblickt, wie denn auch GrayefT ganz richtig mit „creator" bersetzt. Der Sinn ist also, da der Dichter in einem wesentlicheren Sinne dadurch Dichter ist, da 442

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er die Fabel (oder die Handlung) schafft oder formt, als dadurch, da er die Verse macht. Dichter aber (oder: Former), hei t es weiter, sei er gem der μίμησις. Hinsichtlich der Bedeutung des Begriffes der μίμησις an dieser Stelle geht aus dem unmittelbar zuvor ber die Kom die Gesagten hervor, da es sich nicht um die Nachahmung bestimmter wirklich geschehener Handlungen handeln kann, sondern vielmehr — um es allgemein und ohne Unterlegung einer bestimmten Theorie auszudr cken — um die Schaffung oder Erfindung oder Formung von Handlungen, die so sind, wie Handlungen im wirklichen Leben sein k nnen (d. h. οΐα αν γένοιτο). Seltsam und auf den ersten Blick schwierig zu verstehen ist dagegen der Schlu des Ganzen. „Wenn es sich aber auch trifft", so hei t es weiter, „da der Dichter etwas dichtet (schafft?, formt?), das wirklich geschehen ist, so ist er doch um nichtsdestoweniger sein Dichter (Sch pfer?, Former?). Denn es steht nichts im Wege, da einiges von dem, was wirklich geschieht, so beschaffen ist wie das, was wahrscheinlich geschieht oder m glicherweise geschehen kann in bezug auf das, in bezug worauf er sein Dichter (Sch pfer?, Former?) ist." Abgesehen von der Dunkelheit vor allem des letzten Satzes an sich ist hier nun durchweg auch die Ambiguit t des Wortes ποιητής hinderlich, da man bei jeder Wendung sich nicht nur die Frage vorlegen mu , ob die weitere oder die engere Bedeutung vorliegt, sondern auch noch, wenn die erstere, ob die erfindende oder formende T tigkeit des Dichters gemeint ist. Doch kann wenigstens im ersten Satz ber das, was gemeint ist, kaum ein Zweifel sein. Denn wenn der Dichter einen historischen Stoff (oder mythischen Gegenstand) behandelt, so erfindet er ihn zwar nicht, aber er formt ihn doch, ist also in diesem Sinne sein ποιητής, und zwar auf eine andere Weise als man dies auch von dem Historiker sagen kann, da seine Art, den Stoff zu formen, in der Erfindung der Einzelheiten besteht, die dem Historiker verboten ist: d. h. auch die Handlung folgt im Dichtwerk nur in den allgemeinen Umrissen den (wirklichen oder angeblichen) γενόμενα, richtet sich dagegen in allen Einzelheiten ausschlie lich nach der Regel des οία αν γένοιτο. Das ist nicht allzuschwer zu verstehen. Aber was soll es hei en, da nichts im Wege stehe, da einiges von dem, was wirklich geschehen ist, so beschaffen sei, da es auch wahrscheinlicheroder m glicherweise geschehen k nne, zumal da kurz vorher ganz richtig festgestellt worden ist, da alles Wirkliche auch m glich sein m sse? Auch

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hier kann die richtige Interpretation des Gesagten wieder nur gefunden werden, indem man sich die Sache, auf die es sich bezieht, selbst ansieht und / zusieht, ob es nicht in bezug auf diese Sache etwas Richtiges oder zum mindesten Verständliches besagt. Vielleicht ist es sogar nützlich, in diesem Falle, wo ja auf das wirklich Geschehene reflektiert wird, von der Geschichtsschreibung auszugehen, aber von demjenigen Teil, der zwischen Historic und Dichtung steht, insofern der (antike) Historiker für sich das Recht in Anspruch nahm, sich hier von den bis zu einem gewissen Grade zu emanzipieren und statt dessen dem Prinzip des zu folgen, nämlich den Reden. Es wird von Thukydides ausdrücklich ausgesprochen und ist allgemein anerkannt, daß er die Reden in seinem Geschichtswerk selbst verfaßt hat, wobei er freilich, seiner eigenen Angabe nach, sich soweit als möglich an die Gesamttendenz dessen zu halten suchte, was wirklich gesagt worden war. Ein Satz in einer pseudolysianischen Rede5 läßt es jedoch als außerordentlich wahrscheinlich erscheinen, daß Perikles die berühmte Äußerung über die ungeschriebenen Gesetze, die wir in seiner Leichenrede bei Thukydides6 lesen, bei dieser Gelegenheit in zum mindesten ähnlicher Form wirklich getan hat. Gegen die Annahme, daß dies wirklich so sei, wird zwar der Einwand erhoben, das widerspreche den Stilgesetzen der antiken Historiographie. Aber das ist eine irrige Vorstellung von Stilgesetzen7. Obwohl der Historiker sich im allgemeinen nur an die Gesamttendenz des wirklich Gesagten hält, im übrigen aber den Wortlaut der Rede frei erfindet, steht doch durchaus nichts im Wege, daß er auch wirklich Gesagtes aufnehmen kann, wenn es in den Zusammenhang paßt. Nicht viel anders steht es mit der dichterischen Verarbeitung historischen Geschehens. Es ist bekannt, daß Shakespeare in seinem Julius Caesar einige von den historischen Personen, die in seineni Drama auftreten, gesprochene Sätze aus Plutarch übernommen hat, obwohl sonst alles einzelne, was er seine Charaktere sagen läßt, naturgemäß von ihm erfunden ist. Die stilistische Einheit des Stückes wird dadurch nicht im geringsten gestört. Ebenso läßt Zacharias Werner in seiner Weibe der Kraft Luther in Worms die bekannten Worte sagen: „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. /Gott helfe mir. Amen." Daran läßt sich noch eine weitere für das Verständnis des Aristotelestextes förderliche Betrachtung anknüpfen. In neuerer Zeit ist der Versuch gemacht worden, zu beweisen, daß Luther 444

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diese Worte gar nicht gesprochen, sondern da er vielmehr geschwiegen hat8. Es kommt f r unseren Zweck nicht darauf an, ob dieser Nachweis gelungen ist oder nicht. Angenommen, er w re gelungen, so w rde der k nftige, jedenfalls der wissenschaftlich gesinnte moderne Historiker die ber hmten Worte nicht mehr in seine Schilderung der Szene aufnehmen, sondern h chstens noch anhangweise erw hnen. Der Dichter dagegen k nnte sie in einem Lutherdrama immer noch verwenden. Was ist hier nun das εικός? In gewisser Weise ist es vielleicht der pers nlichen und historischen Situation Luthers noch angemessener, da er geschwiegen hat (wenn er geschwiegen hat). Aber wenn er geschwiegen hat, so war der Sinn seines Schweigens doch eben genau derjenige, der durch die ber hmten Worte ausgesprochen wird. Wenn also die Legende diese Worte erfunden hat und der Dichter sie gebraucht, so machen sie nur explizit, was in dem historischen Schweigen implizit enthalten war. F r den Dichter aber kommt es nicht darauf an, ob die Worte wirklich gesprochen oder erfunden sind, wenn sie nur f r Luthers Charakter und seine Situation in dem gegebenen Augenblick charakteristisch sind (οία αν γένοιτο). Diese Beispiele zeigen wohl, da der letzte Satz des diskutierten Abschnittes weder sinnlos ist noch mit dem vorher ber das Verh ltnis zwischen Wirklichkeit und M glichkeit Gesagten in Widerspruch steht. Zum vollen Verst ndnis des Satzes reichen sie freilich nicht aus. Dazu wird es notwendig sein, zu der Frage des καθόλου und καθ' εκαστον zur ckzukehren. Zuvor ist es jedoch geboten, die Resultate der bisherigen Analyse zusammenzufassen. Die Frage des Gegensatzes von καθόλου und καθ' εκαστον ist bisher aus der Diskussion absichtlich herausgelassen worden. Dabei hat es sich herausgestellt, da die meisten Schwierigkeiten und Widerspr che, die Grayeff in dem Abschnitt findet, gar nicht von der Einf hrung dieses Gegensatzes abh ngig sind, au er in dem ganz u erlichen Sinne, da der Hinweis auf das Typische der Charaktere in der Kom die in dem Zusammenhang, in dem er steht, dazu dient, das καθόλου der Dichtung gegen ber der Historic zu illustrieren. Aber wenn der Hinweis auch nicht aus diesem Grunde an dieser Stelle eingef gt w re, bliebe es doch der Sache nach richtig, da die Trag die sich im Gegensatz zur Kom die vornehmlich gegebener (d.h. nach dem Gef hl der Majorit t des Theaterpublikums historisch wirklicher) Charaktere und Geschehnisse bediente. Auch die da-

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mit zusammenh ngende Bemerkung, da sie dies deshalb tue, um dem, was an sich schwer glaublich ist, gr ere Glaubw rdigkeit zu geben, ist von der Frage des καθόλου und καθ' εκαστον / v llig unabh ngig. Wenn es also ein Widerspruch ist, da am Anfang gesagt wird, die Dichtung habe es nicht mit den γενόμενα zu tun, sondern stelle dar οΐα αν γένοιτο, hier aber von der Trag die behauptet wird, sie bediene sich der γενόμενα, um die Glaubw rdigkeit der M glichkeit des auf der B hne Dargestellten zu f rdern, dann ist dieser Widerspruch gewi nicht von der Einf hrung des Gegensatzes von καθόλου und καθ' εκαστον abh ngig. Es hat sich aber auch gezeigt, da es gar kein Widerspruch ist, denn die Freiheit des Dichters, die Einzelheiten der Handlung und den gesamten Dialog nach dem Prinzip des οΐα αν γένοιτο zu erfinden, welche der Historiker in dieser Weise nicht hat, wird dadurch, da er die tragische Gesamtsituation aus der Sage oder Geschichte bernimmt, in keiner Weise ber hrt. Ebenso hat sich der vermeintliche Widerspruch zwischen der Feststellung, da alles Wirkliche ipso facto auch m glich sein m sse, und der sp teren Bemerkung, da einiges wirklich Geschehene auch im Sinne der Dichtkunst wahrscheinlich (oder besser: der Situation nach einleuchtend, εικός) und m glich sei, als ein nur scheinbarer herausgestellt. Die Aufkl rung dieser scheinbaren Widerspr che wurde dadurch erm glicht, da gezeigt wurde, da das οία αν γένοιτο in der Trag die drei verschiedene Aspekte hat: in bezug auf das λέγειν und πράττειν, in bezug auf das παθεϊν der einzelnen Charaktere, und in bezug auf die tragische Situation im allgemeinen und insofern sie f r die Personen der Trag die von au en kommt. Der Unterschied zwischen diesen drei Aspekten wird im Text nirgends definiert. Die scheinbaren Widerspr che entstehen dadurch, da der Leser, der sozusagen nur liest, was dasteht, und nicht auf die Sache schaut, auf die es sich bezieht, im einzelnen Fall nicht wei , wovon die Rede ist. Sieht man aber auf die Sache, die ja auch uns noch zug nglich ist, so ist es durchaus m glich, zu erkennen, was jedesmal gemeint ist, und dies gibt einen guten Sinn. Es bleibt also noch zu erkl ren, was es mit dem καθόλου und καθ' εκαστον auf sich hat, die nach GrayefTs Meinung erst durch einen von Aristoteles verschiedenen „systematischen Philosophen" in den Text gebracht worden sind und sich in Wirklichkeit mit dem Gegensatz von γενόμενα und οία αν γένοιτο nicht vertragen. Was nun das καθόλου angeht, so ist offenbar, da die Trag die und die Kom die keine allgemeinen S tze 446

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aussprechen wie eine wissenschaftliche Abhandlung — au er etwa indirekt durch in den Dialog eingestreute Sentenzen, die aber, auch wenn dies nicht ausdr cklich gesagt w rde, schon deshalb nicht die Hauptsache sein k nnen, weil das Drama eine μίμησις πράξεως ist. Als μίμησις πράξεως ist es ferner naturgem und notwendigerweise die Darstellung einer einzelnen individuellen Handlung. Das gilt f r die Kom die nicht minder als f r die Trag die. Wenn also diese Tatsache es unm glich macht, die Dichtung als das μάλλον καθόλου der Historic als dem μάλλον καθ' εκαστον gegenberzustellen, dann gilt das nicht nur f r die Trag die, wie Grayeff anzunehmen scheint, sondern auch f r die Kom die. / Nun wird freilich im Text gerade die Kom die als Beispiel f r das μάλλον καθόλου verwendet, und zwar verm ge einer Eigenschaft, durch welche sie sich von der Trag die unterscheidet. Aber wenn die Bedeutung dieser Tatsache im Zusammenhang der gesamten Theorie verstanden werden soll, ist es notwendig, zuerst festzustellen, was denn dieses καθόλου in der Kom die ist. Es besteht darin, da in der Kom die „typische" Charaktere erscheinen, die dann beliebige, aber oft auch den Charakter bezeichnende Namen bekommen. Das Typische ist ein Allgemeines im Sinne von etwas, das so oder hnlich immer wieder vorkommt. Wenn nun die Forderung ist, da das St ck im einzelnen aus lauter εικότα zusammengesetzt sein mu , so bedeutet dies, da der Dichter den Geizhals lauter Dinge sagen und tun lassen mu , die f r einen Geizhals, den jungen Liebhaber Dinge, die f r einen solchen charakteristisch sind, usw. Trotzdem m ssen es zugleich lauter einmalige und individuelle Dinge sein, und der Dichter darf beileibe nicht wiederholen, was von hnlichen Charakteren in der gleichen Situation anderswo gesagt worden ist, es sei denn ausnahmsweise und um einen besonderen Effekt zu erzielen. Es w re aber gar nicht m glich, dies zu tun — was doch jeder Dichter, der sein Handwerk einigerma en versteht, unaufh rlich tut —, wenn es nicht m glich w re, durch eine ganz individuelle Handlung und durch ganz individuelle Reden hindurch ein Allgemeineres durchscheinen zu lassen und sichtbar zu machen, und zwar besser und eindringlicher, als dies durch eine abstrakte Beschreibung in allgemeinen Formulierungen m glich w re. Dies ist die Art, wie das καθόλου in der Kom die zum Ausdruck kommt. Die Trag die stellt im Gegensatz zur sogenannten Neueren Kom die, aber auch z. B. zu den besten Kom dien Molieres, keine typischen Cha[81182]

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raktere auf die B hne, sondern ganz und gar individuelle. Trotzdem fehlt das καθόλου in der Trag die nicht und ist das Verh ltnis zwischen καθόλου und καθ' εκαστολ in der Trag die keineswegs toto coelo verschieden von dem in der Kom die. Auch in der Trag die gilt ebenso strikt wie in der Kom die die Regel, da alles einzelne, was eine Person des Dramas tut oder sagt, sich κατά το εικός η κατά το άναγκαΐον aus dem Zusammentreffen eben dieses so gearteten Charakters und der Situation, in der er sich befindet, ergeben mu . Aber wie w re es m glich, dies zu erreichen, wie w re es m glich, da ein Zuschauer beim Anschauen einer Trag die mit berzeugung ausrufen kann: „Ja, so mu dieser Charakter unter diesen Umst nden handeln?", wenn nicht auch darin in gewisser Weise ein καθόλου enthalten w re? Da dies aber m glich ist, liegt daran, da in jedem Menschen au er seinem eigenen Charakter auch die M glichkeiten anderer Charaktere als etwas allgemein Menschliches gelegen sind. Dies macht es dem Dichter, aber bis zu einem gewissen Grade auch dem Zuschauer, m glich, weit ber das, was sich durch blo e empirische Menschenbeobachtung lernen l t, hinaus, zu beurteilen, was f r Reden und Handlungen in einem gegebenen Charakter sozusagen als/Potentialit t enthalten sind. Das zeigt sich auch darin, da etwa ein Zuschauer oder eine Zuschauerin, die im wirklichen Leben wie Ismene oder Chrysothemis handeln w rden und sich vielleicht unter hnlichen Umst nden tats chlich wie diese verhalten haben, sich trotzdem in der Regel in die Situation der Antigone oder Elektra versetzen und aus ihr heraus empfinden k nnen, ja, da sie dies bis zu einem gewissen Grade selbst wider Willen auch dann tun werden, wenn sie Antigones oder Elektras Verhalten aus ihrem eigenen Charakter oder ihrer eigenen Denkweise heraus verurteilen. Auch hier zeigt sich also wieder ein καθόλου, das tats chlich mit dem είκός identisch ist. Das οία αν γένοιτο hat aber, wie gezeigt worden ist, noch einen anderen Aspekt; und auch hier l t sich aufweisen, da es in engster Beziehung zu einem καθόλου steht. Die Kom die bringt das tats chliche Leben auf die B hne, aber doch nicht in den trivialsten Aspekten seines ως επί το πολύ wie, da jeder schl ft, aufsteht, sich anzieht, zu Mittag i t, usw., sondern sofern es in irgendeiner Hinsicht bedeutsam ist. Dagegen ist es der Trag die wesentlich, da sie die in ihr auftretenden Charaktere in extreme Situationen bringt. Das wird an anderer Stelle der Poetik auch ausdr cklich gesagt und im einzelnen ausgef hrt9. Es liegt im Wesen des Extremen, 448

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da es nicht allt glich ist und um so weniger allt glich, je extremer es ist. Daher kann das ganz Extreme auch unglaublich erscheinen; und die Bemerkung im Text der Poetik ist daher ganz richtig, da es aus diesem Grunde w nschenswert sein kann, die Glaubw rdigkeit durch den Hinweis darauf, da es wirklich geschehen ist, zu erh hen. Aber obwohl das Extreme das Seltene, unter Umst nden das ganz Seltene ist, so liegt doch darin auch ein καθόλου, und zeigt sich gerade an dieser Stelle die Verbindung zwischen dem καθόλου und dem δυνατόν. Denn wenn die tragische Situation in der Trag die auch eine so seltene ist, da sie fast unglaubw rdig erscheinen kann, so ist es doch eine sehr wesentliche Bedingung des menschlichen Lebens, da es jederzeit und f r jedermann, also allgemein, wenn auch nicht f r jedermann in derselben Weise, in eine tragische Situation geraten kann. Da dies aber nicht eine Interpretation ist, die von au en her in den Text der Poetik hineingetragen wird, wird durch die bekannte Stelle bewiesen, an der gesagt wird, der Held einer Trag die m sse όμοιος sein, d. h. er m sse sein wie wir, weil wir sonst nicht φόβος und έλεος in der Weise empfinden k nnten, wie dies f r die Trag die wesentlich ist, d. h. im Sinne des tua res agitur, als etwas, was (als M glichkeit) jeden Menschen angeht und betrifft. Es zeigt sich also in einer ganz entscheidenden Hinsicht, da das καθόλου tats chlich mit dem δυνατόν identisch ist. Ferner erkl rt sich daraus nun auch die zweite H lfte des seltsamen letzten Satzes des ganzen Abschnittes, dessen erste H lfte vorher erkl rt worden ist: Jedes Wirkliche ist δυνατόν, aber nur einiges Wirkliche ist in dem Sinne δυνατόν, wie es der (Trag diendichter) braucht und in der μίμησις formt: im Sinne der extremen M glichkeit. / Es bleibt danach noch zu zeigen, inwiefern die Dichtung μάλλον καθόλου ist als die Historie. Denn einiges von dem, was innerhalb der zuletzt gegebenen Interpretation gesagt worden ist, gilt auch f r die Geschichtsschreibung; und es ist v llig unrichtig, wie es so h ufig geschieht, die Poetik dahin auszulegen, da dort behauptet werde, die Historie habe es nur und ausschlie lich mit dem καθ' έ'καστον zu tun, da in dem entscheidenden Satz ή μεν γαρ ποίησις μάλλον τα καθόλου, ή δ' ιστορία τα καθ' εκαστον λέγει sich das μάλλον offensichtlich ebensosehr auf τα καθ' έ'καστον wie auf τα καθόλου bezieht10. Auch w re der Satz sonst sowohl sachlich unrichtig als auch im Widerspruch mit dem ber hmten Satz des Thuky[83184]

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dides von den μέλλοντα ποτέ κατά το άνθρώπινον τοιαύτα και παραπλήσια εσεσθαι. Aber es besteht nicht der geringste Anla , den Satz der Poetik so zu interpretieren, da er damit in Widerspruch ger t. In Wirklichkeit ist es der Historie und der Dichtung gemeinsam, da sie, wenn sie ihr eigentliches Wesen erf llen sollen, ein Allgemeines nicht allgemein und in abstrakter Form ausdr cken, sondern durch die Darstellung eines ganz und gar Individuellen und Einmaligen hindurchscheinen lassen, bzw. zum Ausdruck bringen m ssen. Aber es ist auch richtig, wenn die Poetik sagt, da die Dichtung μάλλον τα καθόλου, die Historie μάλλον τα καθ' εκαστον λέγει, und zwar deshalb, weil die Historie an die γενόμενα, die Dichtung dagegen nicht an die γενόμενα, sondern an die Darstellung von οία αν γένοιτο gebunden ist, und dies, wie ebenfalls in der Poetik sehr nichtig gesagt wird, obwohl nichts im Wege steht, da auch das wirklich Geschehene in dem Sinne οία αν γένοιτο sein kann, in dem der Dichter dieses braucht. Das καθόλου im Sinne des άνθρώπινον, von dem Thukydides spricht, des allgemein Menschlichen, wie auch vor allem des allgemein menschlich Bedeutsamen ist auch im wirklichen historischen Geschehen enthalten. Der Historiker mu es durch die Auswahl der Fakten, die er aus der unendlichen F lle des wirklich Geschehenen trifft, herausholen. Das ist die Kunst des Historikers im Gegensatz zu seiner Wissenschaft. Aber obwohl er in diesem Sinne ein K nstler sein mu , so ist er doch infolge seiner absoluten Bindung an die γενόμενα kein ποιητής (oder doch nur der antike Historiker in Beziehung auf die Reden, die wirklich von ihm bis zu einem gewissen Grade erdichtet werden), und es ist nicht allzuschwer zu zeigen, warum die Freiheit von dieser Bindung / die Dichtung bef higt, mehr καθόλου zu sein, als dies f r die Geschichtsschreibung, sofern sie wissenschaftlich bleiben will, m glich ist. Denn wenn auch ein wirkliches Geschehen alle die εικότα und αναγκαία enthalten haben sollte, die f r eine Trag die n tig sind, und also der Dichter nur aus den γενόμενα auszuw hlen brauchte, um eine Trag die zu schreiben, so kann doch niemals von dem wirklich Geschehenen so viel erinnert werden oder aufgezeichnet worden sein, da man das, was an δυνατά und εικότα bedeutsam ist, vollst ndig daraus zusammenstellen k nnte11. Der Dichter mu daher, wenn nicht die γενόμενα selbst, so doch zum mindesten das, was davon erinnert oder gewu t wird, nach dem Prinzip des οία αν γένοιτο durch eigene Erfindung erg nzen, wenn er das καθόλου voll450

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st ndig durch das Individuelle der dramatischen Handlung hindurch zum Ausdruck bringen will. Eben dies erm glicht es ihm auf der anderen Seite, das allgemein Menschliche und allgemein menschlich Bedeutsame in konzentriertierer Form zur Darstellung zu bringen, als dies f r den Historiker m glich ist, und zwar gerade deshalb, weil f r dies allgemeinste Menschliche unter Umst nden wiederum jedes Wort und jede Geste bedeutsam ist, die im einzelnen unm glich alle erinnert werden k nnen. Es zeigt sich also, da das καθόλου mit dem δυνατόν, dem εΙκός und dem οία αν γένοιτο, das μάλλον καθ5 εκαστον mit dem γενόμενον keineswegs k nstlich und unberechtigt zusammengebracht worden sind, sondern da sie tats chlich in dem genauesten sachlichen Zusammenhang miteinander stehen. Kehren wir nun noch einmal zu der Struktur des Ganzen zur ck, so hat sich gezeigt, da die scheinbaren Widerspr che verschwinden, wenn man nur sein Augenmerk darauf richtet, auf welchen Aspekt der Sache jede Bemerkung, die in dem Abschnitt steht, sich bezieht, Ja, es hat sich gezeigt, da nicht nur alles, was hier gesagt wird, widerspruchslos, sondern da es sogar alles sachlich richtig ist. Es kann aber auch weiter gezeigt werden, da zum mindesten in der ersten H lfte des Abschnittes, nachdem einmal der erste Satz, soweit ihn GrayefF f r aristotelisch h lt, da steht, nichts entbehrlich ist. Denn wenn gesagt wird, da der Dichter nicht τα γενόμενα λέγει, sondern οία αν γένοιτο, so kann dies in einer Poetik ja nicht einfach das Negative bedeuten, da der Dichter nicht an das faktisch Geschehene gebunden ist, was die trivialste aller Binsenwahrheiten w re, sondern es mu , wie ja auch im folgenden sehr deutlich gemacht wird, bedeuten, da der Dichter nicht nach Belieben frei erfinden kann, und da die Bindung an das Prinzip des οία αν γένοιτο in ihrer Art ebenso streng ist und ebensosehr eine im Wesen der Sache gelegene Einschr nkung bedeutet, wie die Bindung an die γενόμενα/ es w re. Dann ist es aber doch n tig, da das οΐα αν γένοιτο n her bestimmt wird. Dies geschieht durch den Zusatz και τα δυνατά κατά το εικός ή το άναγκαΐον. Also darf dieser nicht fehlen und kann er nicht erst durch die Interpolation eines harmonisierenden Redaktors hineingebracht worden sein, wenn man nicht annehmen will, da alles f r die Sache Wichtige erst einem Redaktor verdankt wird. Aber auch dieser Zusatz bedarf ja einer weiteren Erkl rung, und diese Erkl rung wird in folgenden S tzen gegeben, die daher ebensowenig fehlen d rfen. Man k nnte allenfalls sagen, da es nicht n tig war, [S5I86]

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an dieser Stelle die Geschichte hineinzubringen. Aber da das Ganze anf ngt mit dem Gegensatz von γενόμενα und οία αν γένοιτο und der Dichter sich tats chlich vom Historiker dadurch unterscheidet, da dieser an die γενόμενα, jener an das οία αν γένοιτο gebunden ist, war es so naheliegend wie zweckm ig, die Dinge an diesem Gegensatz zu illustrieren. Freilich beginnt von diesem Punkte an die Auseinandersetzung au erordentlich gedr ngt und skizzenhaft zu werden. Schon, da das μάλλον in bezug auf τα καθόλου und τα καθ* εκαστον, das, wie gezeigt worden ist, ganz wesentliche Bedeutung hat, nicht weiter erkl rt wird, erschwert das Verst ndnis au erordentlich und hat schon im Altertum zu schwerwiegenden Mi verst ndnissen mit weitreichenden Folgen gef hrt. Erst recht ist es f r das Verst ndnis hinderlich, da die verschiedenen Aspekte des δυνατόν und des οία αν γένοιτο, die oben aufgewiesen wurden, nicht explicite definiert und voneinander unterschieden werden, so da man erst durch Betrachtung der Sache selbst, die Aristoteles hier behandelt, herausfinden mu , auf welchen Aspekt dieser Sache er sich in jedem Fall bezieht und was er damit meint. Aber wieviel leichter erkl ren sich Unklarheiten dieser Art aus der Situation eines Mannes, der nicht f r Publikation schreibt, wie ja die Pragmateiai generell zweifellos nicht f r Publikation geschrieben sind, sondern der f r sich selbst und f r die Benutzung in Vorlesungen und bungen seine Gedanken sich notiert und, da er dabei naturgem die Sache selbst vor Augen hat, genau wei , worauf sich jede seiner Bemerkungen bezieht, als durch die Annahme, es handle sich um einen gek rzten Dialog, in dem doch jeder Teilnehmer seinen Partnern klarmachen mu , was er meint, und infolgedessen gerade dies in jedem einzelnen Falle h tte klarwerden m ssen. Es liegt also nicht nur kein Grund vor anzunehmen, man habe es hier teilweise mit einem gek rzten peripatetischen Dialog und durchweg mit der T tigkeit eines harmonisierenden Redaktors zu tun, sondern es ist u erst unwahrscheinlich, da derartiges vorliegt, w hrend die der berlieferung entsprechende traditionelle Annahme, es handle sich um Aufzeichnungen des Aristoteles f r sich selbst und als Grundlage f r Diskussionen im Peripatos, die vorgefundene Sachlage auf das allerbeste erkl rt. Es ist aber nun vielleicht doch auch noch etwas zur Methode einer solchen Untersuchung zu sagen. Ich habe mir in dieser Untersuchung erlaubt, ge / legentlich das, was Aristoteles sagt, aus dem, was sich aus einer 452

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Betrachtung des von Aristoteles behandelten Gegenstandes ergibt, zu ergänzen, wenigstens soweit als dies zur Auffindung eines in der Argumentation des Aristoteles fehlenden Zwischengliedes notwendig ist. Ich habe mir sogar erlaubt, zu sagen, daß das, was Aristoteles über seinen Gegenstand sagt, wenn man es richtig versteht, richtig ist. Bei der seltsamen Einteilung der sogenannten Forschung in verschiedene streng voneinander geschiedene Dkziplinen, der wir heute huldigen, gilt dies bei einer weit verbreiteten Philologenschule als dem Philologen unerlaubt: er solle sich streng an den „Wortsinn" halten. Ein Versuch, auf die Sache selbst zu reflektieren, bringe ein fremdes Element und die Gefahr des Subjektivismus hinein. Nun kann man angesichts der Gepflogenheit nicht nur der Mehrzahl der Philosophen der deutschen Romantik, sondern auch berühmter und einflußreicher zeitgenössischer Philosophen, schrankenlos ihre eigenen Gedanken in die Werke antiker Philosophen hineinzuinterpretieren, eine solche ängstliche Haltung wohl verstehen. Aber wenn, wie ich annehme, das Ziel der Philologie wie der Philosophie ist, die Wahrheit zu finden, wozu sowohl die historische Wahrheit darüber, was der antike Autor gemeint hat, wie die Wahrheit hinsichtlich der Sache, die er behandelte und über die er möglicherweise eine eigene Einsicht gehabt haben kann, gehört, dann ist doch offenbar durch eine solche Verteilung der Aufgaben, die den Philologen eines der wichtigsten Mittel der Interpretation beraubt und dem Philosophen, dem man die Freiheit, einen antiken Philosophen im Hinblick auf den von ihm diskutierten Gegenstand zu betrachten, nicht gut nehmen kann, die Freiheit nach Belieben zu phantasieren läßt, der Sache wenig gedient. Ihr kann nur dadurch gedient werden, daß Philologe und Philosoph zusammen oder jeder für sich eine Methode entwickeln, die sich aller Mittel, die dem Verständnis dienen können, bedient, zugleich aber ein Ausweichen ins Subjektive nach Möglichkeit verhindert. Dazu gehört es, daß der Blick auch auf die Sache, nicht nur auf die Worte gerichtet ist, um zu bestimmen, worauf an der Sache die Worte sich beziehen, wie man auch eine geometrische Figur benutzt, um einen sonst schwer verständlichen geometrischen Beweis besser zu verstehen, und daß, wo es zum vollen Verständnis notwendig ist, ein Zwischenglied der Argumentation aus der Betrachtung der Sache zu ergänzen, darauf geachtet wird, daß es nicht nur dem vom Autor an dieser Stelle oder anderswo Gesagten nicht widerspricht, sondern auch positiv genau in die im Text

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gelassene logische Lücke hineinpaßt. Dieser Methode habe ich mich zu bedienen versucht. Aber die Sache hat noch eine andere Seite. So ängstlich die Philologen darin sind, zur Interpretation dessen, was über eine Sache gesagt wird, die Sache selbst heranzuziehen, so mutig sind sie und so große Freiheit geben sie sich selbst, wenn ein Text nicht gleich auf den ersten Augenblick verständlich ist, die Schwierigkeit durch Theorien über die Entstehung des Textes: Einflüsse / einer Entwicklung des Autors, Schichten in der Entstehung des Werkes, Annahme von Interpolationen usw. mehr zu beseitigen als zu lösen, ohne daß bisher ein Versuch, sich über die fundamentalen methodischen Voraussetzungen solcher Unternehmungen klarzuwerden, gemacht worden zu sein scheint. Von den genannten Brklärungsprinzipien erfreut sich die Entwicklungshypothese zur Zeit der geringsten Beliebtheit. In neuerer Zeit ist gegen Hypothesen dieser Art der etwas seltsame allgemeine Einwand erhoben worden, man dürfe nicht die Entwicklung eines antiken Autors rekonstruieren wollen, weil die Antike selbst der Entwicklung von Schriftstellern keine Beachtung geschenkt und z.B. alle Äußerungen eines Philosophen über eine Zeit von mehreren Jahrzehnten hin als Teile ein und desselben unveränderlichen philosophischen Systems betrachtet habe. Und doch ist es nicht schwer zu sehen, daß derartige Theorien noch am ersten zu verifizieren sind. Wenn Autoren wie Thukydides oder Polybios notorisch ein langes Leben hindurch an ihrem Hauptwerk gearbeitet haben und in dieser Zeit eine solche Veränderung der allgemeinen Verhältnisse eingetreten ist, daß frühere Ereignisse wohl später in einem anderen Licht erscheinen konnten, so ist es eine sinnvolle Frage, ob Spuren einer entsprechenden Änderung ihres Standpunktes in ihren Werken entdeckt werden können, ebenso wenn Aristoteles als Mitglied einer platonischen Akademie zu philosophieren angefangen, später aber eine eigene von der platonischen abweichende Philosophie entwickelt hat. Jedenfalls ist eine solche Theorie sowohl sachlich interessant als nachprüfbar und kann, selbst wenn sie sich als unrichtig herausstellt, zu wichtigen Einsichten führen. Im Gegensatz zu den Entwicklungshypothesen sind Interpolationstheorien im allgemeinen noch heute außerordentlich populär. Nun kann nicht bestritten werden, daß Erscheinungen, die als Interpolationen bezeichnet werden können, in den überlieferten Texten nicht ganz selten 454

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sind. Abgesehen von den nicht sehr häufigen absichtlichen Interpolationen aus politischen Gründen, sind die wichtigsten Arten der Änderungen die in Neuauflagen von Handbüchern oder aus ähnlichen Gründen in Dramen zum Zweck der neuen Aufführung vorgenommenen und die unabsichtlich aus Randbemerkungen in den Text geratenen und von späteren Revisoren oder dem Schreiber selbst dem Zusammmenhang angepaßten Sätze und Satzfolgen. Die ersteren sind nicht immer leicht zu erkennen, eben deshalb weil sie häufig gut und der Sache angemessen sind. Wenn z. B. in den Elementen Euklids gelegentlich unvollkommene ältere Beweise durch neuere bessere ersetzt worden sind, würde es schwer für uns sein, sie als Interpolationen zu erkennen, wenn nicht der alte Beweis daneben stehengeblieben wäre, es sei denn, daß in einem späteren Beweis offenbar ein unvollkommenerer früherer Beweis vorausgesetzt wird, was aber naturgemäß, da in den späteren Beweisen die früher bewiesenen Sätze und nicht deren Beweise benutzt werden, nur ganz selten / der Fall ist. Dagegen sind die unabsichtlichen Interpolationen ihrer Natur nach meist kurz und, da nicht für den Zusammenhang geschrieben, häufig nicht allzuschwer zu entdecken. In beiden Fällen ist es jedenfalls sinnvoll und bis zu einem gewissen Grade, wenn auch nicht immer mit Sicherheit, möglich, das Ursprüngliche von den späteren Zusätzen zu trennen. Dagegen ist es gerade das Alleninw.ahrscheinlichste, daß Unklarheiten und Schwerverständliches in der Behandlung eines schwierigen Gegenstandes durch Interpolation (ich rede natürlich nicht von Textkorruptelen) in den Text gekommen sein sollten. Kommentierende Paraphrasen von Kants Werken sind zwar meist weniger tief, aber obenhin leichter verständlich als das Original. Dasselbe gilt für die antiken Paraphrasen des Aristoteles. Wozu würde es führen, wenn man die Schwierigkeiten in Kants Kritik der reinen Vernunft aus der Einfügung von verkürzten Dialogen von Kantschülern erklären wollte! Schwierigkeiten dieser Art erklären sich entweder dadurch, daß der Autor den Gegenstand nur skizzenhaft behandelt hat, wie dies bei Aristoteles' Poetik der Fall ist, oder aus der Schwierigkeit des Gegenstandes selbst, oder daraus, daß der Autor mit seinem Gegenstand nicht fertig geworden ist. Sie können daher nur durch sorgfältige Interpretation überwunden werden. Es ist aber notwendig, in jedem Fall genau zuzusehen, worum es sich handelt. Wenn Polybios notorisch jahrzehntelang an seinem Werk gear-

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beitet und einen Teil später hinzugefügt hat, und wenn in dieser Zeit solche Veränderungen in der Struktur des römischen Staates eingetreten sind, daß sie wohl Polybios' Auffassung der römischen Staatsordnung beeinflussen konnten, so ist es sinnvoll, zu fragen, ob sich selbst in dem frühen sechsten Buch Dinge finden, die Zusätze unter dem Einfluß solcher später Erfahrungen sind. Finden sich aber in demselben Buch Schwierigkeiten, die zu diesen historischen Veränderungen keinerlei Beziehung haben, sondern offenkundig daraus hervorgegangen sind, daß die politischen Theorien, die Polybios von ändern übernahm, nicht ganz zusammenpassen und auf den konkreten historischen Gegenstand, den er damit zu erfassen sucht, nur schwer anzuwenden sind, so ist es sinnlos, zu fragen, ob er in diese Schwierigkeiten in zwei, drei, vier oder mehr Etappen gekommen ist, aber ebenso sinnlos, nachweisen zu wollen, daß er in alle diese Schwierigkeiten auf einmal geraten ist. Es ist schlechterdings unmöglich, das zu wissen, aber es ist auch völlig irrelevant. Das einzige, was in dieser Hinsicht zu wissen wichtig ist, ist, woraus die Schwierigkeiten sachlich entstehen und warum die Theorien auf den Gegenstand nicht passen. Die ganze unendlich fortgesetzte Schichtendiskussion, ob sie nun eine positive oder eine negative Antwort auf eine falsch gestellte Frage gibt, führt nur von dem wirklichen und sehr wichtigen Problem hinweg. Darin liegt nun aber überhaupt eine Gefahr. Sofern die Interpolations- / theorie sich auf eine einzelne Stelle oder ein Kapitel bezieht, kann sie, selbst wenn sie falsch ist, das Verdienst haben, auf noch ungelöste Schwierigkeiten, energisch aufmerksam zu machen: Der Aufsatz von Grayeff, von dem ich ausgegangen bin, hat in dieser Hinsicht ein beträchtliches Verdienst. Überhaupt würde ich dafür plädieren, das bloße Aufdecken von nicht bemerkten Schwierigkeiten auch ohne neue Lösung als wissenschaftliche Leistung anzuerkennen. Aber da es im allgemeinen unwahrscheinlich ist, daß eine Schrift nur an einer Stelle durch absichtliche Interpolationen erweitert worden sein sollte, haben die Interpolationst/heorien die Tendenz, sich sofort von einer Stelle aus über eine ganze Schrift, wenn nicht über die ganze Schriftstellerei eines Autors, auszudehnen. Es wird dann gelegentlich die Forderung erhoben, man müsse erst die Theorie in ihrer Gesamtheit widerlegt haben, bevor man auch nur eine einzige angezweifelte Stelle mit Sicherheit als echt betrachten könne, da die erwiesene (?) Unechtheit von einigen Stellen zeige, daß überall Interpolatoren 456

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am Werk gewesen seien. Aber da es offensichtlich möglich ist, eine solche Diskussion mit immer neuen Argumenten ins Endlose auszudehnen, wird damit jeder Fortschritt in dem Verständnis der antiken Schriftsteller durch die Rücksicht auf uferlose Spekulationen vollständig blockiert12. Da ich noch immer der Meinung bin, daß das sachliche und historische Verständnis der antiken Schriftsteller das erste und letzte Ziel des Philologen / sein sollte, so möchte ich ferner dafür plädieren, anzuerkennen, daß ein Autor oder Interpret alles getan hat, was man von ihm verlangen kann, wenn er den Sinn der Stelle, des Kapitels, der Schrift, die er sich als Gegenstand genommen hat, durchsichtig klargemacht und zugleich gezeigt hat, daß keinerlei innerer Grund vorliegt, an dieser Stelle eine Interpolation anzunehmen, mit anderen "Worten: daß nicht von ihm verlangt werden kann, daß er sich jedesmal mit der ganzen Interpolationstheorie in bezug auf andere Stellen auseinandersetzt. Nach diesen Prinzipien habe ich die erste Hälfte des neunten Kapitels der Poetik hier behandelt.

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ANMERKUNGEN

EINLEITUNG 1

Max Pohlenz, die griechische Tragödie, 2 Bände, 2. Aufl. Göttingen 1954. Ernst Howald, Die griechische Tragödie, München, 1930. 3 H. D. F. Kitto, Greek Tragedy, London, 1939; Form and Meaning in Drama, A Study of six Greek Plays and Hamlet, London, 1956; Sophokles, Dramatist and Philosopher, London, 1958. 4 Vgl. U. v. Wilamowitz-Möllendorff, Herakles I: Einleitung in die griechische Tragödie, 4. Aufl., Darmstadt, 1959, S. 108: „Eine attische Tragödie ist ein in sich abgeschlossenes Stück Heldensage, bearbeitet in erhabenem Stil für die Darstellung durch einen attischen Bürgerchor und zwei bis drei Schauspieler, und bestimmt, als Teil des öffentlichen Gottesdienstes im Heiligtum des Dionysos aufgeführt zu werden." 5 Vgl. darüber ausführlicher unten S. 33. 6 Bertolt Brecht, Schriften zum Theater. Berlin, 1957. 7 a.a.O., S 131. 8 ibidem, S. 72. 9 ibidem, S. 146. 10 ibidem. 11 ibidem. 12 ibidem. 13 ibidem, S. 133. u ibidem, S. 143. 15 Marianne Resting, Das epische Theater, Stuttgart, 1959. 16 a.a.O., S. 10. i? ibidem, S. 22. 18 ibidem. 19 Daß die Ilias und die Odyssee, obwohl ihrer Entstehung nach zweifellos Rezitationscpen, in der Mannigfaltigkeit der in ihnen sich durchkreuzenden Episoden dennoch auch eine erstaunliche Einheit haben, erklärt sich nach der mir sehr einleuchtenden Erklärung von E. Kapp daraus, daß sie sozusagen das Repertoire eines Rhapsoden aus einem bestimmten Sagenkreis waren, das sich diesem zu einer Einheit zusammengeschlossen hatte, wenn er auch jeweils immer nur einzelne Episoden daraus vortrug. Durch die Niederschrift blieben sie zwar in gewisser Weise dasselbe, was sie im Kopfe dieses Dichter-Rhapsoden gewesen waren, wurden aber doch für die Aufnehmenden als Leser zu etwas seiner Natur nach ganz Anderem als sie vorher in der Gestalt der Einzelrezitationen gewesen waren. 20 M. Resting, a.O., S. 10. 21 Vgl. darüber auch unten S. 435 f. u. 495, Anm. 12. 22 Vgl. vor allem das Buch von Tycho von Wilamowitz-Möllendorff: Die dramatische Technik des Sophokles, Philologische Untersuchungen, Band XXII, Berlin, 1917, und für Euripides das Buch von Walter Zürcher, Die Darstellung des Menschen im Drama des Euripides, Basel 1947, das die Einheit der Charaktere bei Euripides 2

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Einleitung radikal leugnet. Für eine Widerlegung, die mir jedoch nicht weit genug zu gehen scheint, vgl. A. Lesky in Entretiens sur l'antiquite classique. Fondation Hardt, VI (1958), S. 125—168. 22a Vgl. dazu auch den interessanten Aufsatz von Walter Jens, Antikes und modernes Drama, in Eranion, Festschrift für Hildebrecht Hommel (Tübingen 1961), p. 43-62, den ich erst erhalten habe, nachdem die vorliegende Einleitung schon in den Druck gegangen war. Obwohl Jens von anderen Beobachtungen ausgeht, kommt er doch ebenfalls zu dem Resultat, daß der Anti-Aristotelismus der modernen deutschen Avantgardistischen' Theoretiker zum großen Teil auf einem Mißverständnis beruht. Gerade die Forderung der Vermeidung jeder Art von erzählender Mitteilung wichtiger Teile des Geschehens oder, positiv ausgedrückt, der vollständigen Durchdialogisierung des Dramas, welche Szondi als wesentliches Charakteristikum des .aristotelischen' bürgerlichen Dramas betrachtet, ist eine durchaus moderne Forderung, die von der antiken Tragödie mit ihren vielen Botenberichten nie erfüllt und von Aristoteles nie aufgestellt worden ist. In dieser Hinsicht ist die antike Tragödie viel ,epischer' als die Mehrzahl der von Brecht nach den Prinzipien des ,epischen' Theaters verfaßten Stücke. Die Vorstellung gar, daß alle für das Geschehen wesentlichen Handlungen auf der Bühne stattfinden müssen, ist nichts als das Resultat einer falschen Logik, die diese Forderung aus dem Begriff der ^Handlung' ableiten zu müssen glaubt, einer falschen Logik, der Aristoteles niemals verfallen ist. Soweit es die technischen Regeln und nicht die Behandlung des Moralischen im Drama angeht, ist das .aristotelische Theater', von dem die modernen Theoretiker als einem Gegensatz zum ,epischen Theater' reden, zum großen Teil eine moderne Konstruktion, die mit dem wirklichen Aristoteles und der wirklichen antiken Tragödie höchstens einige Berührungspunkte hat. 23 B. Brecht, Schriften zum Theater, S. 173. 24 Vgl. darüber unten S. 368 ff. 25 Emil Staiger, Grundbegriffe der Poetik, Zürich, 1956. 26 Otto Mann, Poetik der Tragödie, Bern, 1958. Die eine Avantgardistische' Theorie vertretenden Bücher von Peter Szondi, Theorie des modernen Dramas, Frankfurt a. Main, 1959, und Versuch über das Tragische, Frankfurt a. Main, 1961, sind wesentlich subtiler als das erwähnte Buch von M. Resting über das epische Theater und enthalten, wie natürlich auch die Schriften Brechts, viel Beachtenswertes, leiden aber, wie mir scheint, darunter, daß Szondi versucht, alles einem Begriff des Dialektischen unterzuordnen, der von Hegel stammt, ohne mit Hegels Begriff des Dialektischen in der Tragödie identisch zu sein, der aber, da ihm zu viel zugemutet wird, vage und unbestimmt bleibt und daher die Dinge eher verdunkelt als erhellt.

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TRAGISCHE SCHULD UND POETISCHE GERECHTIGKEIT IN DER GRIECHISCHEN TRAGÖDIE Eine vollständige Liste aller Erörterungen des Begriffes der tragischen Schuld seit dem 17. Jahrhundert oder noch früher, wenn es bei der Fülle und Verbreitung solcher Erörterungen überhaupt möglich sein sollte, eine annähernd vollständige Liste dieser Art aufzustellen, würde ein kleines Buch füllen. Ich muß mich daher auf einige Hinweise beschränken. Eine interessante kritische Besprechung der Behandlung des Problems bei Lessing und seinen Zeitgenossen und unmittelbaren Vorgängern findet sich bei Max Kommereil, Lessing und Aristoteles. Untersuchung über die Theorie der Tragödie. Frankfurter wissenschaftliche Beiträge. Kulturwissenschaf tliche Reihe, Band 2, Frankfurt, 1940, S. 118 ff. Im übrigen erwähne ich die folgenden Beiträge aus den letzten Jahren: 1. M. Pitcher, Aristotle's good and just heroes, Philological Quarterly, XXIV (1945), S. 1 if.; 2. P. W. Harsh, again, Transactions of the American Philological Association LXXVI (1945, S. 47 ff.; 3. Carlo Del Grande, Hybris, Colpa e Castigo nell' Espressione poetica e letter aria degli Scrittori della Grecia antica da Omero a Cleante, Napoli, 1947, Kapitel III/IV, S. 83—211; 4. H. B. Jaffee, How tragic is the tragic flaw? The Classical Bulletin, XXVI (1950), S. 13 ff.; 5. C. H. Whitman, Sophocles. A Study of Heroic Humanism, Harvard University Press, 1951, Kapitel II: Scholarship and Hamartia, S. 22—41. In den genannten Schriften, die nur eine, wenn auch repräsentative, Auswahl aus den Erörterungen der Frage in neueren Jahren darstellen, finden sich völlig entgegengesetzte Auffassungen hinsichtlich der subjektiven Schuld oder Unschuld der Helden der griechischen Tragödie sowie eine ganze Anzahl verschiedener Erklärungen des Begriffes der , den Aristoteles in der Poetik auf die Tragödie anwendet. Bei der Fülle der Literatur und der abweichenden Ansichten wäre es wenig sinnvoll, sich mit jedem Beitrag zu der Frage einzeln auseinanderzusetzen, was einen starken Band erfordern würde. Ich habe mich daher im folgenden der Einzelpolemik im allgemeinen enthalten und mich nur in den Anmerkungen gelegentlich mit abweichenden Interpretationen auseinandergesetzt.. Dagegen habe ich von dem als Nr. 2 angeführten Artikel von Ph. Harsh, obwohl ich mit seinen Resultaten nicht übereinstimme, mehrfach positiven Gebrauch gemacht, da er eine sorgfältige und wertvolle Untersuchung der Bedeutung des Wortes vor und bei Aristoteles enthält. Die in vorliegender Abhandlung versuchte Lösung der Frage habe ich in keiner der mir zu Gesicht gekommenen Arbeiten gefunden, wenn sie sich auch unvermeidlicherweise in einzelnen Punkten mit früheren Lösungsversuchen berührt. Es ist aber das Ziel der vorliegenden Arbeit, nicht nur eine präzisere Lösung der Frage nach dem Wesen der sogenannten tragischen Schuld in der griechischen Tragödie zu geben als bisher gegeben worden ist, sondern auch den Ursprung des modernen Mißverständnisses aufzudecken. Denn so tiefgreifende Gegensätze der Erklärung wie sie hier vorliegen, sind niemals aus einem einfachen, sozusagen philologischen, Interpretationsirrtum entstanden, sondern entspringen einer tiefen Änderung des

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Anmerkungen Denkens. Daher läßt sich das Mißverständnis in solchen Fällen auch nicht einfach dadurch überwinden, daß man eine falsche durch eine richtigere Interpretation ersetzt; sondern es ist notwendig, die historischen Voraussetzungen des Mißverständnisses zu beseitigen und sie durch die richtigen zu ersetzen. Auf der anderen Seite it es zu dem angegebenen Zweck durchaus nicht notwendig, eine vollständige Geschichte des Begriffes der tragischen Schuld zu schreiben, so wünschenswert es auch ist, daß eine solche Geschichte einmal geschrieben werde, und so viel Interessantes sie auch, wenn sie einmal geschrieben wird, zutage fördern wird. Dem vorliegenden Zweck dagegen ist es sehr viel dienlicher, die Hauptwendepunkte der Geschichte des Begriffes deutlich hervorzuheben und mit Hilfe der dichterischen und theoretischen Werke der hervorragendsten Autoren zu beleuchten als diese Geschichte in alle ihre Ramifikationen zu verfolgen, wodurch der Blick nur von den wesentlichen Punkten abgelenkt werden würde. 2 In neuester Zeit taucht allerdings auch in englisch geschriebener Literatur gelegentlich der Ausdruck .tragic guilt' auf. Aber das ist offenkundig eine aus der in beiden Sprachen weitergeführten Diskussion stammende Übersetzung des deutschen Ausdrucks .tragische Schuld'. Noch in dem oben Anm. l zitierten Aufsatz von H. B. Jaffee von 1950 steht .tragic flaw' trotz der an sich im Englischen ganz anderen Bedeutung des Wortes durchaus auch für »tragische Schuld'. 3 Aristoteles, Poetik, 1452 b, 30 ff. 4 Kommereil (S. 117) spricht sich im Zusammenhang mit einem Zitat aus Robortelli dagegen aus, das „als Gleichheit des sittlichen Niveaus zwischen dem ziemlich guten Helden und dem ziemlich guten Zuschauer" zu verstehen, und verlangt statt dessen „ein umfassenderes Begreifen des als gleicher Schicksalslage und Exponiertheit". Aber das ist nur teilweise richtig. Zunächst verlangt Aristoteles allerdings nicht eine Gleichheit des sittlichen Niveaus des Helden und des Zuschauers, da er vielmehr ausdrücklich sagt, der Held der Tragödie solle so sein wie wir oder besser, aber nicht schlechter (1453 a, 16). Aber wovon er an dieser Stelle redet, ist doch nicht die gleiche Schicksalslage und Exponiertheit, die ja vielmehr bei dem Helden der Tragödie eine extreme ist, sondern daß der Held nicht in jeder Weise sein darf, also nicht so hoch über dem Zuschauer stehen, daß dieser nicht mehr um ihn wie um seinesgleichen bangen kann. Damit erübrigt sich übrigens auch das törichte Gerede mancher Bewunderer der antiken Tragödie wie A. von Blumenthal, die Helden der griechischen Tragödie stünden so hoch über uns daß wir sie überhaupt nicht verstehen können, wobei dann nur die Frage zu stellen wäre, warum wir uns dann überhaupt mit ihnen beschäftigen. 5 Vgl. z. B. den oben Anm. l angeführten Aufsatz von H. B. Jaffee, S. 16: "The may then be anything in the bcroe's action or character or both, any inadequacy or mistake or flaw — as it may still be called — that mitigates in some appropriate measure the distress felt by the spectator for the hero's suffering." Die Gleichsetzung der mit der von Aristoteles postulierten Unvollkommenheit des tragischen Helden könnte nicht schärfer formuliert werden als hier. Aber auch Whitman (S. 33 ff.) identifiziert beides und beschuldigt dann Aristoteles der Unbestimmtheit und Unklarheit, die doch erst durch die modernen Interpreten in seine Theorie hineingetragen worden sind. Eine Ausnahme macht nur Kommereil, der in seinen Ausführungen (S. 124), die Unvollkommenheit des Helden und seine1 nicht miteinander verwechselt, aber das weit verbreitete moderne Mißverständnis auch nicht ausdrücklich richtig stellt.

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Tragische Schuld 6

Ich bediene mich hier und gelegentlich im folgenden des modernen Wortes Charakter, wo Aristoteles von SOQ(£ redet, obwohl die Einw nde, die gegen einen solchen Wortgebrauch vielfach erhoben worden sind, eine gewisse Berechtigung haben, weil uns ein besseres Wort nicht zur Verf gung steht und die Verwendung des griechischen Wortes Ethos wegen seiner sonstigen Connotationen auch irref hrend ist. Um Mi verst ndnisse zu vermeiden, ist es aber vielleicht am Platze, hier kurz etwas dar ber zu sagen. Es ist mit Recht oft (vgl. z. B. Kommereil, S. 108 ff.) hervorgehoben worden, da der deutsche (aber auch franz sische und englische) Begriff Charakter so etwas wie „die organische Individualit t" oder die „angeborene pers nliche" Natur einschlie e, was in dem griechischen Begriff des ήθος, der vielmehr Gewohnheit bedeute, nicht liege. Das ist durchaus richtig. Doch gibt es auch eine Gefahr, den Unterschied gr er erscheinen zu lassen als er ist. Die Erkenntnis, da Menschen von Geburt an verschiedene, nicht nur intellektuelle, sondern bis zu einem gewissen Grade auch sittliche Anlagen haben, war dem Altertum nicht unbekannt. F r Plato braucht man nur an den Mythus von der Beimengung von Gold, Silber und Kupfer im Menschen zu denken, der im Staat vorgebracht wird und, wenn symbolisch verstanden, ja keine L ge ist. F r Aristoteles lassen sich aus der Politik und den Ethiken (vgl. z. B. Nikomachische Ethik 1144b, 4 ff.) viele Stellen f r dieselbe Anschauung anf hren. Aber das Entscheidende f r die antike und vor allem auch f r die aristotelische Auffassung ist doch, da der sittliche Charakter des einzelnen letzterdings und wesentlich aus seinen προαιρέσεις entsteht. Da dies bei den Griechen nicht nur eine philosophische, sondern eine im allgemeinen Bewu tsein verankerte Auffassung ist, ergibt sich schon daraus, da man im Griechischen sagt αγαθός έγένετο statt „fortem se praebuit" oder „er zeigte sich t chtig". Aristoteles aber in seiner Diskussion der ηθική αρετή zu Anfang der Nikomachiscben Ethik (1103 a, 14 ff.) f hrt aus, da die ηθική αρετή der Anlage nach im Menschen vorhanden ist, aber erst durch das Handeln zur Wirklichkeit wird: τα μεν δίκαια πράττοντες δίκαιοι γινόμεθα, τα δε σώφρονα σώφρονες, τα δ'ανδρεία ανδρείοι (1103 b, Iff.), und im Anfang ist das richtige Handeln schwer, aber wenn immer wieder richtig (gerecht, tapfer etc.) gehandelt worden ist, wird es zur Gewohnheit und leicht, was jedoch nicht bedeutet, da die ηθική αρετή eine reine Gewohnheit ist, da sie vielmehr von Aristoteles ausdr cklich als έξις bezeichnet wird (vgl. z.B. 1144b, 13). Zusammenfassend kann man also sagen, da das Wort ήθος wie es in der Poetik von Aristoteles gebraucht wird, nicht etwas ganz anderes bedeutet als das moderne Wort Charakter, da aber bei dem modernen Wort der Nachdruck auf dem zu liegen pflegt, was man den angeborenen Charakter nennen kann, bei Aristoletes dagegen auf dem erworbenen Charakter. Da diese Verschiedenheit f r das Wesen der griechischen Trag die nicht unwichtig ist, geht allerdings daraus hervor, da die „Charaktere" der griechischen Trag die im allgemeinen „fl chenhaft" bleiben und da das Verh ltnis zwischen dem „Charakter" des Helden einer griechischen Trag die und seinem Handeln und Leiden ein anderes ist als in der modernen Trag die (vgl. dar ber oben S. 12 und S. 15 ff.). ' Aristoteles, Poetik, 1453 a, 15 f.: δι' άμαρτίαν μεγάλην ή οίου εΐρηται (sc. ομοίου) ή' βελτίονος μάλλον ή χείρονος. 8 Eine Zusammenstellung des Materials f r die Zeit vor Aristoteles wird gegeben von Ph. Harsh, op. coll. In bezug auf die Bedeutung der W rter αμαρτία und αμάρτημα in den erhaltenen Trag dien des 5ten Jahrhunderts kommt H. zu dem

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Anmerkungen Ergebnis, da "these words are used to designate acts which are sometimes sins against Heaven, sometimes crimes of the blackest sort, but usually acts not deliberately wicked but nevertheless carrying a degree of culpability". Dies ist im gro en und ganzen richtig, bedarf jedoch in doppelter Hinsicht einer gewissen Berichtigung oder Pr zisierung. Zun chst geh ren einige der von Harsh f r die ersten beiden Kategorien in Anspruch genommenen Beispiele nur sehr bedingt in diese, sondern vielmehr in die letzte, so da also das schon von Harsh f r diese festgestellte bergewicht ber die beiden anderen noch gr er wird. Wenn z. B., um nur ein Beispiel zu nennen, der Chor in Aeschylus' Prometheus zu Prometheus sagt (262/263): ούχ δρφς ότι ήμαρτες; ώ; δ'ήμαρτες οΰτ' έμοί λέγειν καθ'ήδονήν σοί τ'άλγος und Prometheus darauf antwortet (268): εκών εκών ημαρτον, ουκ άρνήσομαι, so kann man das ja zwar als „a sin against Heaven" betrachten insofern Prometheus sich gegen Zeus, den Himmelsvater, aufgelehnt hat. Aber sowohl der Chor wie Prometheus sind weit davon entfernt, darin in irgendeiner Weise ein moralisches Vergehen zu sehen. Das αμάρτημα in den Augen des Chores, der von der Gerechtigkeit der Herrschaft des Zeus ja in keiner Weise berzeugt ist, besteht nur darin, da es unweise war, sich gegen die absolute bermacht aufzulehnen. Aber damit f llt allerdings das αμάρτημα des Prometheus auch nicht ganz in die dritte Kategorie. Denn es ist, wie er selbst sagt, jedenfalls „deliberate", aber vom moralischen Standpunkt aus gewi nicht „wicked", und wenn es „culpable" genannt wird, so bedarf der Begriff der „culpability" jedenfalls noch einer genaueren Bestimmung. Diese n here Bestimmung zu finden, ist aber eben das Ziel der vorliegenden Arbeit. Harsh diskutiert auch die oben aus der Nikomachischen Ethik (1135b, 11—25) angef hrte Stelle ber αδίκημα, αμάρτημα und ατύχημα. 9 Aristoteles, Nikomacbiscbe Ethik, 1110 b, 29 f. 10 Vgl. dazu den oben, Anm. l, angef hrten Artikel von M. Pitcher, der auch eine Reihe fr herer Vertreter dieser Auffassung der αμαρτία anf hrt. 11 F r eine eingehendere Interpretation dieser Szene vgl. unten S. 239. 12 In einem Aufsatz ber „Die Schuld des K nigs Oedipus" in Beitr ge zur geistigen berlieferung, Godesberg, 1947, S. 167 ff. hat freilich Otto K ster den Versuch gemacht zu zeigen, da Oedipus von Anfang des St ckes an heimlich ahnt oder wei , da er der Frevler und Schuldige ist, von dem das Orakel redet, und da er berhaupt sein ganzes Leben lang in geheimnisvoller Weise wissend, unwissend in den Frevel hineingelaufen ist. Aber das zeigt nur, bei welcher K nstlichkeit der Interpretation man schlie lich ankommt, wenn man den modernen und christlichen Schuldbegriff in eine griechische Trag die einf hren will. Der Aufsatz ist aber eben auch deshalb interessant, weil er durchweg bald mit alttestamentarischen, bald mit christlichen Vorstellungen operiert. Er ist ein besonders interessantes Produkt der neuesten Bestrebungen, die antike Trag die ins Christliche, diesmal ins existenzialistisch Christliche, umzudeuten. Aber auch zu Senecas Auffassung der Oedipustrag die zeigt K sters Interpretation eine gewisse Affinit t, was ebenfalls interessant ist, da Seneca, wie sich zeigen wird, schon nicht mehr den griechischen Begriff des Tragischen hat und seine Trag dien auf die moderne Trag die einen au erordentlich starken Einflu ausge bt haben. 13 Harsh allerdings (S. 48) sagt dar ber: „Surely the preeminently good and just man ..., given the oracle of Oedipus, would rather die before slaying a mau old enough to be his sire or before marrying a woman old enough to be his mother."

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Tragisdie Schuld

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Dies ist freilich richtig, wenn nicht in Bezug auf den eminent gerechten, so doch auf den sehr vorsichtigen Mann. Zieht man jedoch in Betracht, daß Oedipus nach der Voraussetzung des Stückes fest überzeugt war, seinen Vater und seine Mutter in Korinth zurückgelassen zu haben, so kann man wohl sagen, daß ein so vorsichtiger Mann nicht ein Mensch „wie wir" gewesen wäre, nicht ein im Sinne des Aristoteles. Hinsichtlich Corneilles Meinung über das Verhalten eines normalen Menschen in der Situation des Oedipus am Kreuzweg vgl. unten, S. 38. Da dieser Punkt für das Verständnis der antiken Tragödie von absolut grundlegender Bedeutung, für die Modernen aber ganz besonders schwer zu fassen ist, weil das moderne Denken, auch wo dies dem einzelnen gar nicht zum Bewußtsein kommt, von stoischen und christlichen Theorien bestimmt wird, ist es vielleicht nützlich, ihn hier noch einmal auf doppelte Weise, vom historischen und vom rein menschlichen Standpunkt aus, zu beleuchten. Es ist eine alte griechische und wahrscheinlich vorgriechische Vorstellung, daß die Schrecklichkeit einer Tat an dieser selbst haftet und unabhängig ist von den Motiven des Täters. Ein Mann, der seinen Bruder oder seinen Freund aus Versehen getötet hat oder weil er durch eine höhere Pflicht gezwungen war, ist nicht weniger von Schuld befleckt und muß sich nicht weniger von dieser Befleckung reinigen als derjenige, der seinen Bruder im Zorn oder aus Habsucht getötet hat. Von dieser alten Vorstellung hat unter den Tragikern vor allem Aeschylus mehrfach Gebrauch gemacht. Orest wird von den Erinnyen verfolgt, obwohl er auf Geheiß des Gottes gehandelt hat. Die Danaiden stehen unter dem Blutbann, obwohl sie ihre Vettern und Gatten in der Verzweiflung über deren Gewaltsamkeit und Roheit getötet haben (vgl. darüber unten S. 171 ff.). In beiden Fällen freilich werden am Ende der Täter oder die Täterinnen durch eine Gottheit, die nach den Motiven urteilt, von der Blutschuld befreit. Aber der Fluch, der an der Tat selbst haftet und von den Motiven unabhängig ist, bildet doch den Ausgangspunkt der Handlung. Bei Sophokles und Euripides sind, wenn man genau zusieht, objektive Schrecklichkeit der Tat und subjektive Schuld, auch wo faktisch beide vorliegen, immer deutlich geschieden, aber doch nicht so, daß eine Tat alle Schrecklichkeit verliert, wenn nur der Täter unschuldig ist. Dies Gefühl, daß eine Tat moralisch schrecklich sein kann, auch wenn sie dem Täter nicht zugerechnet werden kann, ist im Grunde sehr menschlich. Vielleicht ist es erlaubt, dies an einem Ereignis, das wirklich vorgekommen ist, zu illustrieren. Während des ersten Weltkrieges kam ein deutscher Offizier auf Urlaub nach Hause. Das erste, was ihm entgegenkommt, ist sein kleines Töchterchen. In der Freude des Wiedersehens hebt er es hoch und stößt seinen Kopf so unglücklich gegen einen herabhängenden Kronleuchter, daß das Kind kurz darauf stirbt. Dieser Vorgang ist nicht zum Gegenstand einer Tragödie geeignet. Trotzdem kann er sehr wohl dazu dienen, eben jenen Punkt zu beleuchten, der zum Verständnis der griechischen Tragödie so wesentlich ist. Der Stoiker würde sagen, daß der Vater über seine Tat keinen moralischen Schmerz zu empfinden braucht, da er sie nicht gewollt hat und der Weise nur für seine Absicht, nicht für die von seinem Wollen unabhängigen Folgen seiner Tat. verantwortlich ist. Der Christ würde vielleicht sagen, daß das Unglück eine Schickung Gottes gewesen ist, die der Vater in Ergebenheit in den Willen Gottes tragen muß. Trotzdem ist es natürlich, daß der Vater über den Tod des Kindes einen vielfach verschärften Schmerz empfinden wird, weil er ihn selbst „verschuldet" hat.

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Anmerkungen

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Vielleicht wird man darauf antworten, das liege eben an der Schuld des Vaters, der zwar den Tod nicht gewollt, aber ihn doch durch seine Unvorsichtigkeit hervorgerufen hat. Aber wäre wirklich der ein besserer Mensch und ein besserer Vater, dessen Freude nie so groß und überwallend ist, daß er darüber die Vorsicht vergißt? Oder, um die Frage noch deutlicher auf die Theorie der Tragödie zu beziehen: Wenn es nach einer später zu besprechenden, in der neueren Zeit lange herrschend gewesenen, Theorie die Aufgabe der Tragödie ist, die Leidenschaften dadurch zu reinigen, daß sie den Zuschauer lehrt, die Aufwallungen und daraus folgenden Fehler zu vermeiden, durch die er die Gestalten auf der Bühne ins Unglück kommen sieht, ist es die Aufgabe des Theaters, den Zuschauer so vorsichtig, so pusillanim zu machen, daß ihm ein solches Unglück nicht widerfahren kann? Diese Überlegungen zeigen, daß die Möglichkeit einer „Schuld", die an der Tat als solcher haftet, und weder aus einer oder noch aus einem Fehler abzuleiten ist, der sich verbessern ließe, nicht nur in altertümlichen dunklen Vorstellungen vorkommt, die etwa noch historisch in die griechische Tragödie hineinwirken, sondern zu den Grundbedingungen der menschlichen Existenz gehört. Dies zu sehen, ist für das volle Verständnis der griechischen Tragödie unerläßlich, obwohl der Begriff der bei Aristoteles noch etwas weiter ist. Vgl. Aeschylus, Choephoren, 269 ff., besonders 298 ff. Vgl. darüber ausführlicher unten S. 247 ff. Vgl. unten S. 179 ff. Vgl. oben S. 8 und Anm. 14 sowie unten S. 105 ff. Vgl. Diogenes Laert. IV, 3, 17/18, wahrscheinlich aus Antigonos von Karystos. Vgl. Vgl. Stoicorum vet. Frag., ed. von Arnim, III, frgt. 18/19. Nach Diogenes Laert. VI, 2,80 hat schon Diogenes von Sinope, der ja in mancher Hinsicht ein Vorläufer der Stoa ist, eine Tragödie Oedipus geschrieben, in der er nach Philodem, de Stoicis, col. X I . (W. Crönert, Studien zur Palaeographie und Papyruskttnde, VI, Leipzig, 1906) zu zeigen versuchte, daß es ganz töricht von Oedipus war, darüber, daß er seine Mutter geheiratet hatte, in Verzweiflung zu geraten. Vgl. vor allem O. Regenbogen, Schmerz und Tod in den Tragödien Senecas. Vorträge der Bibliothek Warburg, 1927—1928 (Leipzig, 1930), S. 176 ff.; ferner L. Herrmann, Le Theatre de Seneque (Paris, 1924); F. Egermann, Seneca als Dichterphilosoph, Neue Jahrbücher, 1940, S. 18 ff.; C. W. Mendell, Our Seneca, New Haven, 1941; Berthe Marti, Seneca's Tragedies. A new Interpretation, Transactions of the American Philological Association LXXXVI (1945), S. 216 if. Vgl. darüber auch O.Regenbogen, a.O. S. 187 ff. und 207 ff. Vgl. A. S. Pease, On the Authenticity of the Hercules Oetaeus, Transactions of the American Philological Association IL, (1918), S. 3 ff. Vgl. unten S. 255. Gerhard Müller in einem Aufsatz über Senecas Oedipus als Drama in Hermes LXXXI (1953), der im einzelnen viel Gutes enthält, bestreitet freilich, daß Seneca die Schicksale seiner dramatis personae „moralisierend gesehen" habe, vielmehr habe er sie „dichterisch und menschlisch mit Schauern der Ergriffenheit gesehen, genau wie Shakespeare". Im übrigen könne man Senecas Dramen „in Fatums- und Leidenschaftsdramen aufteilen nach dem hauptsächlichen oder alleinigen Motor des Geschehens". Aber damit setzt er sich zu Seneca selbst in Gegensatz, der in den epistulae morales (vgl. z. B. XVIII, 5,24 ff., XIII, 3,6 ff.) mehrfach auseinandersetzt,

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Tragische Schuld daß nur diejenige Dichtung von Wert sei, aus der sich moralische Lehren ableiten lassen. Mit Recht wendet Müller sich freilich gegen diejenigen Interpreten, welche die moderne Auslegung des Sophokleischen Oedipus, die »tragische Schuld" des Oedipus bestehe in seiner Heftigkeit und seinem Jähzorn, nun gar noch auf den Oedipus Senecas anwenden, auf den sie ganz und gar nicht paßt. Dagegen ist die beherrschende Rolle, welche die Angst vor dem Schicksal in Senecas Oedipustragödie spielt, ihm seltsamerweise ganz entgangen. Und doch wird die daraus zu ziehende „Moral" von dem Chor in den oben im Text angeführten Versen auf das deutlichste ausgesprochen. Richtig ist nur, daß allerdings die Stoisierung der Oedipusgeschichte noch viel weniger vollständig gelungen ist als die der übrigen Tragödienstoffe, die Seneca von seinen griechischen Vorbildern übernommen hatte. Aber ähnliche Beobachtungen werden sich überall machen lassen, wo der Versech gemacht worden ist, diese Stoffe zu Dramen zu verwenden, in denen eine im Sinne der griechischen Tragödie untragische Auffassung des menschlichen Lebens zum Ausdruck kommt. 27 Genau dieselbe Auffassung der Abraham-Isaak-Geschichte, nicht wie bei Kierkegaard theoretisch analysiert, sondern unmittelbar auf der Bühne dargestellt, findet sich auch in der Rappresentazione d'Abraame e d'hsac suo Figliolo des Matteo Belcari, die i. J. 1444 in Florenz aufgeführt wurde. 28 Über den Unterschied zwischen der stoischen Lebensauffassung Senecas und der christlichen des Mittelalters sowie ihren Einfluß auf das moderne ernste Drama vgl. vor allem auch K. Vossler, Die Antike und die Bühnendichtung der Romanen, Vorträge der Bibliothek Warburg 1927—1928 (Leipzig, 1930), S. 219 ff., vor allem S. 246 ff. 29 Inhaltsangaben einer großen Anzahl italienischer Mysterienspiele, die das oben Gesagte bestätigen, finden sich bei Julius L. Klein, Geschichte des Dramas IV (Leipzig, 1866), S. 152 ff. 30 Vgl. darüber auch K. Vossler, Jean Racine, Bühl, 1948, S. 126 sowie in dem Anm. 28 zitierten Aufsatz S. 219 ff. 31 Über den außerordentlich großen Einfluß Senecas auf die Anfänge der modernen Tragödiendichtung und, wie sich zeigen wird, weit über diese hinaus vgl. die beiden Anm. 22 und 28 zitierten Aufsätze von Regenbogen und Vossler, S. 167 ff. und S. 246 ff. Für England vgl. H. W. Wells, Senecan Influence on Elizabethan Tragedy: A Reestimation, Bulletin of the Shakespeare Association XIX (1944), S. 71 ff. Die Schätzung, deren sich Senecas Tragödien bei den Humanisten des 16. Jahrhunderts erfreuten, wird illustriert durch die auch von B. Marti zitierte Äußerung Scaligers: Seneca ... quem nullo Graecorum majestate inferiorem existimo, culto vero ac nitore etiam Euripide maiorem. 32 Eine ausgezeichnete Darstellung der Entwicklung der italienischen Tragödie, die den durchgehenden Einfluß sowohl Senecas wie auch christlicher Auffassungen zeigt, findet sich bei L. Ebel, Die italienische Kultur und der Geist der Tragödie, Freiburg i. B., 1948. 33 Vgl. oben S. 25. Vgl. ferner den Aufsatz von W. Schadewaldt, „F«rcfei und Mitleid?", im Hermes LXXXIIII (1955), S. 129 ff. Schadewaldt hat in diesem Aufsatz die Auffassung der aristotelischen Katharsis als einer ,moralischen' Reinigung beliebiger Leidenschaften oder von beliebigen Leidenschaften nicht nur auf Grund einer sorgfältigen Interpretation der Poetik, sondern auch unter Heranziehung anderer Stellen aus Aristoteles' Schriften, in denen der Begriff der Katharsis in der

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Anmerkungen Anwendung auf menschliche Emotionen vorkommt, funditus widerlegt und zu zeigen versucht, da es sich vielmehr um eine Art medizinischer Heilkur (ιατρεία τις: so sagt Aristoteles selbst in den Politica 1339 b,15), eine .Purgation' von den Verkrampfungen der Seele handelt. Das ist zweifellos richtig, so sehr es den historisch eingewurzelten Vorstellungen widerspricht und daher auch sogleich nach Ver ffentlichung des zitierten Aufsatzes lebhaften Widerspruch erfahren hat. Man kann jedoch vielleicht hinzuf gen — oder vielleicht auch nicht hinzuf gen, da es mir, wenn auch nicht so deutlich ausgesprochen, in Schadewaldts Ausf hrungen implicite mit enthalten zu sein scheint — da auch in dieser ,Purgierung' in gewisser Weise eine .moralische' Wirkung Hegt, nur eine ganz andere als diejenige, die so lange Zeit in Aristoteles' Formel hineininterpretiert worden ist. Denn jene .Purgierung' der .Verkrampfungen' und des Gestockten und Ungel sten in der Seele der Zuschauer kann bei der gro en Trag die ja nicht in dem einfachen Zerflie en in R hrung bestehen, das in empf nglichen Gem tern auch durch ein R hrst ck sechsten Ranges erzeugt werden kann, sondern darin, da die Seele des Zuschauers, indem sie an einem gro en Schicksal in Furcht und Mitjammer teilnimmt, sich erweitert, sich von ihren kleinlichen Verkrampfungen l st und sich ber ihren allt glichen Jammer erhebt. Es ist nun in diesem Zusammenhang jedoch vielleicht n tig, wenigstens ein paar Worte ber den Aufsatz von R. Schottlaender, Eine Fessel der Trag diendeutung> Hermes LXXXI (1953), S. 22 ff., zu sagen. Hier wird der Versuch gemacht, mit Hilfe von Parallelstellen zu beweisen, da τα τοιαΰτα soviel wie „alle" hei en kann.Worauf es dabei hinauskommt, ist, da , wenn jemand auf die Frage „Was sind Raubtiere?" antwortet „L wen, Tiger, W lfe, Marder und dergleichen", er nat rlich alle Raubtiere meint. Dabei hat S. nicht bemerkt, da , wenn jemand sagt, „L wen, Tiger, Marder und dergleichen S ugetiere", er niemals alle S ugetiere meint und da er auf die obige Frage nicht antworten kann „L wen, Marder und dergleichen Raubtiere". Nat rlich verh lt sich dies im Griechischen mit τα τοιαύτα ganz genau so wie im Deutschen mit „dergleichen", und es w re nicht notwendig gewesen, nach griechischen Parallelstellen zu suchen, um dies festzustellen. Diese beweisen nat rlich, wenn man sie richtig interpretiert, da τα τοιαΰτα παθήματα mat, wie S. glaubt, alle παθήματα bedeuten kann. Was S. ber die Reinigung des έλεος sagt, ist nicht weniger unrichtig. Er sucht den έλεος geradezu von den durch die Trag die zu reinigenden Affekten auszuschlie en mit der Begr ndung, die Annahme, die Trag die habe die Wirkung, den ϊ?λεος zu reinigen, w rde voraussetzen, da die Athener im f nften Jahrhundert an einem berma von Mitleid gelitten h tten oder da man das Mitleid als einen besonders gef hrlichen Affekt betrachtet h tte. Es g be aber weder ein Anzeichen f r die erste Annahme, noch k nne Nietzsches pathologische Furcht vor dem Mitleid bei den Griechen oder bei Aristoteles eine Rolle gespielt haben. Hier h tte nun S., anders als bei τα τοιαΰτα, allerdings gut daran getan, sich die Bedeutung des Wortes έλεος etwas n her anzusehen. Er h tte dann gefunden, da es erst im Laufe der Geschichte der griechischen Sprache allm hlich die Bedeutung „Erbarmen", „t tiges Mitleid" annimmt, urspr nglich aber „Jammer" bedeutet, wie ja auch das Verb έλεεΐν sogar lautmalerisch „Jammern" bedeutet. Dem Jammer ber die Leiden des Daseins aber waren die Griechen, wie die griechische Literatur allenthalben zeigt, allerdings sehr zug nglich. Diesen Jammer und dergleichen Affekte soll die Trag die „reinigen", indem sie sie im Zuschauer zugleich ausl st, l st, und ihn ber sie erh ht.

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Tragische Schuld Der Aufsatz von S. aber ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wozu es führt, wenn der blinde Glaube an angeblich exakte medianisch anwendbare Methoden zur Folge hat, daß die Methode den Verstand ersetzt. 34 Dacier, La Poetique d'Anstote. Avec des remarques, Paris 1692, S. 177 t. Nachdem Dacier festgestellt hat, daß das Aristotelische Prinzip „d'exclure de la trage'die les malheurs d'un homme tres vertueux" die Märtyrer von der Bühne verbannt, wendet er dies auf Corneilles Polyettcte an und weist Corneilles Versuch sich mit Hilfe anderer Autoritäten als Aristoteles zu verteidigen, zurück. Dann fährt er fort: II vaut mieux avouer franchement que M. Corneille, a connu son siecle et qu'il a hazarde ce Poeme sur la connaissance qu'il en avoit. Le Succez justifie assez le Poete; mais je ne scay s'il seroit aise de justifier ce succez. Je ne parle ici que du sujet dont peu de gens jugent; car d'ailleurs c'est peut-etre la piece de M. Corneille la mieux conduite; eile est pleine de beaux sentiments et a de parfaitement beaux caractercs oü les moeurs sont marquees admirablement mais ce sujet n'est nullement propre au Theatre qui ne doit exposer ny le bonheur ny le malheur d'un homme tres vertueux. De quelque maniere qu'on regarde le martyre, ou comme un mal ou comme un bien, il ne peut exciter ny la pitie ny la crainte et par consequence il ne purgera pas les passions, ce qui est l'unique but de la Tragedie comme on l'a deja vu. Es ist höchst interessant zu beobachten, wie Dacier hier, ohne es zu bemerken, in alle Arten von Widersprüchen gerät, weil er jeweils die autoritative und traditionelle Auffassung eines Charakters oder einer Theorie annimmt, ohne sich beide unvoreingenommen anzusehen. Das Stück Corneilles hat den größten Erfolg gehabt, und es ist nach Daciers Ansicht wirklich eines der schönsten Stücke Corneilles; aber es hätte nicht auf die Bühne gebracht werden sollen, weil es der Regel des Aristoteles widerspricht und deshalb nicht die richtige Wirkung auf die Zuschauer haben kann. In Wirklichkeit ist der Charakter des Polyeucte nicht so vollkommen wie Corneille ihn haben wollte und Dacier, der Absicht des Dichters folgend, annimmt. Das hat der Wirkung des Stückes, wie Voltaire mit Recht hervorhebt, nicht geschadet, da die Mehrzahl des Publikums keine so feinen Unterscheidungen machte zwischen wahrem Märtyrertum und falschem Glaubenseifer wie der Bischof von Vence. Es ist richtig, daß die Leiden eines vollkommen guten oder fehlerlosen Charakters nicht die Art des Mitleids oder Jammers und der Furcht oder des Schreckens hervorrufen kann, die Aristoteles für der Tragödie wesentlich hält. Aber wenn unter purgation des passions die moralische Besserung verstanden wird, wie dies zu den Grundthesen Daciers gehört, ist schlechterdings nicht einzusehen, warum die Zuschauer nicht durch die zahlreichen durch Polyeuctes Märtyrertum bewirkten Bekehrungen, die in Corneilles Stück vorkommen, wenn sie einem solchen Einfluß überhaupt zugänglich sind, beeinflußt und gebessert werden sollen. 35 Für das Tragische in der Selbstaufopferung der Alkestis vgl. unten S. 318. 35 Vgl. oben Anm. 3J. 37 Es mag vielleicht in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, daß Shakespeare diese gewaltigen Mächte des menschlichen Gemüts auf der Bühne zur Darstellung zu bringen versteht, ohne zu einer barocken Ubertreibung in der Darstellung der schrecklichen Leidenschaften greifen zu müssen, während Senecas Darstellung der Leidenschaften trotz aller barocken Übertretungen ganz innerhalb der

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Anmerkungen

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Grenzen dessen bleibt, was eine moralische Wirkung im engeren Sinne auf den Zuschauer ausüben kann. A. Dacier, a. O. (vgl. Anm. 34). Ibidem, pp. 183 ff. Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 78. Stück. Vgl. oben Anm. 33. Hamb. Dram., 75. Stück. Ibidem, 80. Stück. Grillparzer hat zu dieser Äußerung Napoleons grimmig bemerkt, wenn Corneille wirklich zur Zeit Napoleons gelebt hätte, so hätte dieser ihn vielmehr lebenslänglich einsperren lassen. Aber das wäre, falls es richtig sein sollte, in gewisser Weise ja nur ein noch eindringlicherer Beweis der hohen Meinung des Kaisers von den Stücken des großen Dramatikers gewesen. Freilich muß zugegeben werden, daß die Aufzählung der Vorzüge der Dramen der beiden großen Franzosen, die Lessing im 68. Stück gibt, »eine sehr sinnvolle Verwicklung, die ausgespartesten Situationen, meistens sehr wohl angelegte bis ans Ende erhaltene Charaktere, nicht selten viel Würde und Stärke im Ausdruck, wie die Stücke der großen Spanier, nebst einer ihnen allein eigenen mechanischen Regelmäßigkeit", einige der größten Vorzüge der Dramen Corneilles und Racines nicht erwähnt oder zum mindesten nicht deutlich bezeichnet. Dies bedeutet nicht, daß Lessings Auslegung des Aristoteles in allen Einzelheiten richtig ist. Im 77sten Stück hat er z. B. die Worte des Aristoteles ' offenbar falsch bezogen. Das Verhältnis Goethes zum Tragischen von dem hier behandelten Problem aus zu bestimmen, würde eine eigene Untersuchung erfordern, die hier sowohl aus Raumgründen wie auch weil sie auf einen Seitenweg führen würde, nicht gegeben werden kann. Sie würde wohl zeigen, daß Goethe für das Tragische in der antiken Tragödie ein tieferes Verständnis gehabt hat als selbst Lessing, der sich der Frage von der Seite des Verstandes aus genähert hatte. Aber er scheute davor zurück und war sich dessen auch bewußt, wie seine bekannte Äußerung zeigt, für das eigentlich Tragische sei seine Natur wohl zu konziliant gewesen. So sind denn seine Dramen, einschließlich des Faust, des Egrnont und des Tasso, auch alle keine Tragödien, obwohl diese Werke in gewisser Weise zeigen, daß Goethe fähig gewesen wäre, Tragödien zu schreiben, wenn er sich dazu hätte bringen können. Diese letztere Meinung hat in der philologischen Interpretation griechischer Tragödien in den letzten Dezennien eine sehr große Rolle gespielt, obwohl sie in direktem Widerspruch steht zu der Meinung des Aristoteles, daß der größte Fehler, den eine Tragödie haben könne, der sei, zu sein, das heißt also, in einzelne an sich wirksame, aber nicht in vollem Zusammenhang mit dem Rest des Stückes stehende und in diesem eine notwendige Funktion habende Szenen zu zerfallen. Offenbar hat also Aristoteles doch geglaubt, daß die bedeutendsten Werke der drei großen Tragiker, die er bewundert, diesen Fehler nicht besitzen. Trotzdem ist es geradezu zur Mode geworden zu behaupten, Sophokles und Euripides sei es nur auf die Wirksamkeit der Einzelszenen angekommen und sie hätten die Einheit ihrer Stücke oft bedenkenlos der Wirksamkeit der Einzelszene geopfert. Wie falsch und verflachend diese Auffassung ist, habe ich an dem Beispiel von Euripides' Alkestis, bei deren Interpretation sie eine besonders große Rolle gespielt hat, unten S. 319 ff. zu zeigen versucht.

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Ernst Cassirer, Heinrich von Kleist und die kantische Philosophie. Philosophische Vorträge der Kantgesellschaft, Nr. 22; Berlin 1919. 50 Brief an Wilhelmine von Zenge vom 9. April 1801. 51 Vorlesungen über Aesthetik, Dritter Teil: Das System der einzelnen Künste; Dritter Abschnitt: Die romantischen Künste; Drittes Kapitel: Die Poesie; 3, Die Arten der dramatischen Poesie und deren historische Hauptmomente; a) Das Prinzip der Tragödie, Komödie und des Dramas, ßß. Band XIV, S. 529 der Jubiläumsausgabe von Hegels Werken, Stuttgart 1954. 52 ibidem. 53 Ibidem , S. 531. 54 Ibidem ßß, S. 529. 55 Ibidem c: Die konkrete Entwicklung der dramatischen Poesie und ihrer Arten, S. 550; vgl. auch b. Unterschied der antiken und modernen dramatischen Poesie, S. 543, speziell zur Kritik von Müllners Schuld. 56 Ibidem c, , S. 554. 57 Ibidem. 58 Ibidem, S. 252. 59 In neuerer Zeit sind ganze Bücher und Abhandlungen erschienen über die subjektive Vertiefung der Persönlichkeit und das subjektive Leiden bei Sophokles, z. B. K. Reinhardts Sophokles, W. Schadewaldts Buch über Sophokles und das Leid, um nur die bekanntesten zu nennen. 60 Vgl. oben S. 15 ff. 61 Vorlesungen über Ästhetik, Zweiter Teil: Entwicklung des Ideals zu den besonderen Formen des Kunstschönen, Zweiter Abschnitt: Die klassische Kunstform, Erstes Kapitel: Der Gestaltungsprozeß der klassischen Kunstform; 2. Kampf der alten und neuen Götter; b, , S. 51 des XIII. Bandes der Jubiläumsausgabe. 62 Vgl. darüber im einzelnen W. Dilthey, Die Jugendgeschichte Hegels, Band IV der Gesammelten Schriften (Leipzig 1921) S. 68 ff. 63 Vgl. ibidem, S. 6. 6-1 Aristoteles Poetik 4, 1449 a 14 f, 65 Ibidem, 9, 1451 a 36 ff.; vgl. auch unten S. 434 ff. 66 Phaenomenologie des Geistes, VI. Der Geist; A. Der wahre Geist, die Sittlichkeit; b) Die Schuld und das Schicksal; 3. Auflösung des sittlichen Wesens: Band II, S. 363 f. der Jubiläumsausgabe. 67 Vgl. darüber unten S. 227 ff. 68 Phaenomenologie des Geistes VI, A, b, 2: Gegensätze des sittlichen Handelns, Bd. II., S. 359 f. der Jubiläumsausgabe. 69 Vorlesungen über Aesthetik, Dritter Teil, dritter Abschnitt, C, 3, c: die konkrete Entwicklung der dramatischen Poesie und ihrer Arten, Bd. XIV, S. 551/52 der Jubiläumsausgabe. 70 Daß die Sünde in der klassischen Kunst keinen Platz hat, sagt Hegel ausdrücklich in den Vorlesungen über Aesthetik, Zweiter Teil, zweiter Abschnitt: Die klassische Kunstform; Einleitung: Vom Klassischen überhaupt 2, c. Band XIII, S. 15 der Jubiläumsausgabe. 71 Vorlesungen über Geschichte der Philosophie, Erster Teil: Geschichte der griechischen Philosophie, Erster Abschnitt, Erste Periode, Zweites Kapitel, B: Die Philosophie des Sokrates, 3. Schicksal des Sokrates, b; Band XVIII, S. 119 der Jubiläumsausgabe.

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Anmerkungen 72 Vgl. darüber unten S. 310, S. 348 ff. und 354 ff. « Vgl. oben S. 15 f. 74 Die beiden Artikel wurden zuerst im Abstand von einigen Monaten in der Stuttgarter Morgenzeitung unter den beiden oben angegebenen Titeln gedruckt und später von Hebbel zusammen unter dem gemeinsamen Titel ,Mein Wort über das Drama,', unter dem sie in den meisten Hebbeiausgaben als eine Abhandlung abgedruckt sind, als Broschüre herausgegeben. 75 Die Beziehung von Hebbels Theorie der Tragödie zu seinen eigenen Dramen zu analysieren würde eine eigene umfangreiche Abhandlung erfordern, die hier naturgemäß nicht gegeben werden kann. 76 K. Jaspers, Von der Wahrheit, S. 915 ff. 77 Gerhard Nebel, Wehangst und Götterzorn. Stuttgart 1951. ™ A.a.O., S. 206. ?9 Ibid., S. 212. so Ibid., S. 214. 81 Ibid., S. 217. 82 Ibid., S. 222. 83 Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Tübingen, 1953, S. 91.

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DIE ORESTESSAGE BEI DEN DREI GROSSEN GRIECHISCHEN TRAGIKERN 1

Das Problem tritt brigens schon bei Voltaire auf. Im 32. Kapitel seines Siede de Lotus XIV diskutiert er die Gr nde der pl tzlichen Bl te und des bald darauf eintretenden Verfalls der Dichtung in Frankreich im 17. und 18. Jahrhundert und f hrt den zweiten auf die beschr nkte Zahl der zur Verf gung stehenden geeigneten Gegenst nde zur ck: „Les sujets et les embellissements propres au sujets ont des bornes bien plus resserres qu'on ne pense. L'abbe du B s ... trouva que dans toute l'histoire de France il n'y avait de vrai sujet de poeme έρίςυε que la destruction de la ligue par Henri le Grand ... II en est de meme dans l'art de la tragedie; il ne faut pas croire que les grandes passions tragiqucs et les grands sentiments puissent se varier a l'infini d'une maniere neuve et frappante: tout a ses bornes." 2 Euripides, Elektra, 1246, vgl. auch unten, p. 142 ff. 3 Vgl. unten p. 146 ff. und 312 ff. 4 Aeschylus, Choephoren, 87 ff. 5 Ibid., 109 * Ibid., 122 l Ibid., 246 ff. 8 Ibid., 269 ff. 0 Ibid., 298 ff. 1° Ibid. 304: δυοϊν γυναικοΐν ώδ'υπηκόους πέλειν. ϋήλεια γαρ φρήν. 11 Aeschylus, Agamemnon, 161, 2 ff. 12 F r die Einteilung des Kommos und zur Interpretation des Einzelnen vgl. den sorgf ltigen Aufsatz von W. Schadewaldt, Der Kommos in Aeschylos' Choephoren^ Hermes 67 (1932), p. 312 ff. 13 Aeschylus, Choephoren, 340 ff. 14 Ibid. 400 ff. 13 Aischylos Orestie, griechisch und deutsch von U. v. Wilamowitz-M llendorff; Zweites St ck: Das Opfer am Grabe, Berlin, 1896, p. 186 ff. und U. v. WilamowitzM llendorff, Aischylos, Interpretationen, Berlin. 1914. p. 177 f. und 205, wo Wilamowitz seine Ausf hrungen gegen inzwischen hervorgetretene abweichende Interpretationen, vor allem von Blass, verteidigt. 16 Karl Reinhardt, Aischylos als Regisseur und Theologe, Bern, 1949, p. 112 ff. Reinhardt schlie t sich im einzelnen gegen Wilamowitz im wesentlichen Schadewaldt an, f gt aber vieles Interessante hinzu. ber die in unserem Zusammenhang vor allem wichtige Frage sagt er zum Schlu (p. 119): „Wenn denn die Frage nach der Pflicht, das hei t die Frage: soll ich oder nicht:, die Frage nach dem Ob und Was in diesem ganzen Kommos berhaupt nicht aufgeworfen wird — und da sie aufgeworfen w rde, kann ich nicht erkennen — so wird doch die Frage nach dem Wie in umso reicherer Orchestrierung durchgef hrt, dazu in einer Steigerung, die bis zum Ende anh lt. Denn zum ,Wie' geh rt: mit welcher F lle von Bedeutungen, Vergegenw rtigungen, Hilfen und Gew hren, St tzen und Erm chtigungen, von oben und unten, vom Diesseits und Jenseits, von Toten und Lebenden, von

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Anmerkungen G ttern und Menschen, wie ger stet und durchstr mt von was f r Kr ften, erf llt von was f r Gesichten, getrieben von was f r N ten, Orest der Verlassene, Hilflose und als Hilfloser Verzweifelnde ... zu seinem schweren Werk sich anschickt". Das kommt der im folgenden vertretenen Auffassung von der Funktion des Kommos sehr nahe. 17 Choephoren, 434 ff. Da die Verse an der Stelle, an die Wilamowitz sie setzt (nach 455), keinen befriedigenden bergang zu den folgenden Versen (456 ff.) bieten, mu Wilamowitz noch eine L cke danach annehmen. Vgl. auch K. Reinhardt a. O. p. 113. 18 Schadewaldt, a. O. 351 19 Choephoren, 551 ff. 20 Ibid., 734 ff. 21 Aischylos, Interpretationen, 205 22 Das Opfer am Grabe, 21 ff. und Aischylos, Interpretationen, 190 ff. M Vgl. Reinhardt, a. O. 24 In seinem in vieler Hinsicht ausgezeichneten Buche, ,The political Plays of Euripides', Manchester University Press, 1955, hat G. Zuntz die Argumente, mit denen man bis dahin allgemein die Elektra des Euripides ziemlich genau auf das Jahr 413 v. Chr. datieren zu k nnen geglaubt hatte, mit, wie mir scheint, durchschlagenden Gegenargumenten entkr ftet und das St ck auf Grund stilistischer Indizien in den Zeitraum zwischen 422 und 416 datiert. Stilistische Indizien erlauben naturgem immer einen gr eren Spielraum. Die Elektra des Euripides von seinem Orest chronologisch allzuweit zu entfernen, scheint mir wegen der engen inneren Beziehung zwischen beiden St cken nicht ratsam. Die Frage des Verh ltnisses zwischen der Elektra des Sophokles und der des Euripides, die weiter unten behandelt wird, wird durch die von Zuntz vorgenommene Umdatierung nicht ber hrt. Wichtig f r unser Problem ist nur, da die Elektra des Euripides lter ist als sein Orest; und dies chronologische Verh ltnis bleibt auch bei der von Zuntz vorgenommenen Umdatierung bestehen. 2 5 Sophokles, Elektra, 32 ff. 26 Xenophon, Anabasis, III, I, 5 ff. 27 Sophokles, Elektra, 37: ενδίκους σφαγάς, 28 Ibid., 36/37: ασκευον οντά ασπίδων τε και στρατοί δόλοισι κλέψαι... 2