Annäherungen: Das Zeugnis der altkirchlichen und byzantinischen Väter von der Erkenntnis Gottes [1 ed.] 9783788731847, 9783788730222, 9783788730215

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Annäherungen: Das Zeugnis der altkirchlichen und byzantinischen Väter von der Erkenntnis Gottes [1 ed.]
 9783788731847, 9783788730222, 9783788730215

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Susanne Hausammann

Annäherungen Das Zeugnis der altkirchlichen und byzantinischen Väter von der Erkenntnis Gottes

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Weitere Angaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de ISBN 978-3-7887-3022-2  2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter, Niederkrüchten Satz: Dorothee Schönau, Wülfrath

Vorwort

Wer könnte es wagen zu behaupten: ›So ist Gott und nicht anders‹? Der von den apostolischen, früh- und altkirchlichen Vätern überkommene christliche Glaube stellt sich diesem Wagnis. Aber, was macht uns so sicher, dass wir in dessen Nachfolge nicht einer Selbsttäuschung unterliegen? Gibt es Gott überhaupt? Und wenn es Ihn gibt, wie sind die Zeugnisse von Ihm in den Heiligen Schriften und bei den Vätern des Glaubens zu bewerten? Können wir heute wirklich noch glauben? Oder ist unser ›Glaube‹ das Produkt einer Resignation vor dem Undurchschaubaren, das uns Angst macht? Welches Gewicht hat dabei die Tradition, in die wir hineingewachsen sind? Gestatten wir uns, über sie nachzudenken, oder nehmen wir einfach hin, was wir uns zu beurteilen nicht zutrauen? Diese und entsprechende Fragen haben mich beim Schreiben der hier veröffentlichten Aufsätze umgetrieben. Dabei sah ich mich zunächst veranlasst, über die Frage nachzudenken, inwiefern der Glaube, der ja zweifellos auch ein Willensakt ist, als Glaubensgehorsam gefordert und dem Glaubenden als Verdienst angerechnet werden kann. Wer die Zeugnisse von Schrift und Tradition genauer anschaut, wird zum Schluss kommen, dass der Glaube kein Verdienst, sondern ein Geschenk ist, das in einer persönlichen Begegnung mit dem, an den man glaubt, ermöglicht wird. Doch wie kommt diese persönliche Begegnung zustande? Diese Frage veranlasste mich, mir noch einmal genauer das Zeugnis der Heiligen Schriften und der frühen Väter im Glauben anzusehen. Wichtig wurde mir, dass dieses Zeugnis uns durch Tradition und Sukzession als Beauftragung zur Verkündigung zugeflossen ist, wobei man diese Tradition und Sukzession unterscheiden muss von den einzelnen Traditionen, den Vorschriften und Bestimmungen (Kanones), die Konzile, Synoden und Lehrschriften von Hierarchen festgeschrieben haben und in manchen Fällen auch wieder zurücknehmen mussten. Denn es geht bei aller Berufung auf Tradition un Sukzession letztlich um die Einmütigkeit der aus der Heiligen Schrift und den Zeugnissen der Väter gewonnenen Glaubenseinsichten, wie sie uns trotz aller Irtumsfähigkeit kirchlicher Institutionen durch Generationen übermittelt worden sind.

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Vorwort

Zu diesen Glaubenseinsichten gehören auch die Bekenntnisse, wie sie 325 und 379/81 formuliert worden sind und in der ökumenischen Christenheit heute in Geltung stehen. Bezüglich dieser Bekenntnisse bin ich durch die Lektüre der Schriften der drei großen kappadokischen Theologen (Basilius der Große, Gregor von Nazianz und Gregor von Nyssa) darauf gestoßen worden, dass es vorzuziehen ist, das ›homoousios‹ mit ›wesensgleich‹ und nicht mit dem missverständlichen ›wesenseins‹, das auch eine personale Einheit von Vater und Sohn und Heiligem Geist besagen kann, ins Deutsche zu übersetzen. Davon handelt das dritte Referat, das ich hier veröffentliche. In einer kuzgefassten Untersuchung von Predigten zur Verklärung Christi (Mt 17,1–9) aus dem 5.–14. Jahrhundert stieß ich immer wieder auf die Aussage, dass Gottes unendliche Lichthaftigkeit den Jüngern auf dem Berg Tabor vom Herrn nur so weit zugemutet wurde, ›wie sie es zu ertragen vermochten‹. Die einzelnen Prediger haben diesen Sachverhalt verschieden interpretiert: als Rücksicht auf die ›conditio humana‹ oder als menschliches Ungenügen und Konsequenz der mangelnden Hingabe in der Nachfolge Christi. So oder so: Das ungeschaffene göttliche Licht der Trinität übersteigt das menschliche Fassungsvermögen und gibt dennoch durch Seine Energien den Gläubigen ein Angeld (arrabôn, 2Kor 1,22; Eph 1,14) der künftigen Lichthaftigkeit in der Vereinigung mit Ihm. Das Thema des fünften Aufsatzes ist die sogenannte Negative Theologie, wie sie das Corpus Dionysiacum in der ersten Häflte des 6. Jahrhunderts zusammengefasst hat. Sie ist in ihrem Kern bereits bei den kappadokischen Theologen des 4. Jahrhunderts zu finden und beschreibt die Suche nach der Erkenntnis Gottes aufsteigend vom Leiblich-Körperhaften zum Geistig-Geistlichen, was zu einer Begegnung mit Gott durch den Einstieg ins Dunkle des Nichtwissens führt. In diesem Dunkel ist zwar Gott, aber Er ist nicht einfügbar in ein philosophisches System und die Schau Gottes im Dunkeln bringt keine gesicherte Gotteserkenntnis, sondern die Notwendigkeit einer Reinigung als Voraussetzung für eine Erleuchtung und Vergöttlichung in der jenseitigen Welt. Die Negative Theologie ist somit der konsequente Verzicht auf ein rational erworbenes und abgesichertes Wissen von Gottes Wesen und Sein. Die nachfolgenden drei Aufsätze beschäftigen sich mit dem Hesychasmus, der vom 4.–14. Jahrhundert in einem Prozess einer Spiritualisierung des östlichen Möchtums Gestalt gewann. Die großen geistlichen Väter des Hesychasmus bis hin zu Gregor Palamas (1296/7– 1359) waren Theologen, die das streng rationale Denken nicht scheuten und dennoch die Beschränktheit menschlicher Gottes- und Welter-

Vorwort

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kenntnis in Rechnung zogen. Daher lag ihnen ein Denken in Antinomien (Gegensätzen) nahe: Gott ist unfassbar und gibt Sich uns dennoch zu kosten; Gottes Wesen ist von Seinem Wirken zu unterscheiden und dennoch sind beide eins; das Wirken von Vater und Sohn und Heiligem Geist ist eines und doch ergießt es sich in viele Ausflüsse; Gottes Licht ist nicht sinnlich und doch wird es mittels der Sinne wahrgenommen. Eine solche Theologie tut gut daran, mit dem Schweigen zu beginnen, führt immer wieder zum Schweigen zurück und holt von da Kraft und Geduld zum ›Gebet ohne Unterlass‹ (1Thess 5,17), das den Hesychasten besonders am Herzen liegt. Es hat bei den Vertretern dieser monastischen Richtung im immerwährenden Herzensgebet eine besondere Ausprägung erhalten und hat weithin auch die Psalmenlesungen verdrängt. Die so geübte Art von Schweigen ist für die Hesychasten aber nicht nur ein Verzicht auf Worte, sondern ebenso der Verzicht auf Bilder, Tätigkeiten und Leidenschaften, die uns gefangen halten und verhindern, dass wir in jedem Augenblick unseres Daseins Gottes eingedenk sind. Hier stellt sich ein Problem für die Christen, die nicht den Weg monastischer Abgeschirmtheit gehen, sondern weltlichen Aufgaben verpflichtet sind. Wie ist es ihnen möglich, trotz weltlicher Beanspruchung mit den Gedanken und dem Herzen im Gebet zu bleiben oder doch immer wieder dazu zurückzukehren? Eine Antwort auf diese Frage kann man, so glaube ich, den biblischen Texten, in denen Jesus zur Nachfolge aufruft, entnehmen. Der längste Aufsatz dieses Bandes beschäftigt sich mit dem Glauben an Engel, Dämonen und den Fall Luzifers von den biblischen Anfängen über Origenes, Athanasius bis zu den kappadokischen und antiochenischen Vätern. Anlass für meine Beschäftigung mit diesem Theam war die Wahrnehmung, dass auch heute viele Gläubige in Ost und West das Böse, mit dem sie zu kämpfen haben, Dämonen zuschreiben. Dem glaubte ich die Worte Basilius des Großen entgegenhalten zu müssen: »Suche also das Böse nicht außerhalb [deiner selbst], stelle dir darunter nicht eine primitive, perverse Natur vor; jedermann muss sich selbst als Ursache des Bösen, das in ihm ist, erkennen.« Aber warum hat sich der primitiv-volkstümliche Engel- und Dämonenglaube auch bei manchen Intellektuellen bis heute lebendig erhalten? Eine Antwort, auf die ich gestoßen bin, verbirgt sich im Sachverhalt, dass Origenes vor der Erschaffung unserer sichtbaren, materiellen Welt eine gute, ewige, geistige Schöpfung durch Gott postulierte und damit den Glauben an körperlose Geistwesen, von denen einige mit Luzifer durch eigene Schuld zu Fall gekommen sein sollen, in ein philosophisches System eingebunden hat. Athanasius hat dann Erzählungen der Wüstenväter über Dämonen in seine Vita des heiligen Antonius aufgenommen,

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Vorwort

um zu zeigen, dass Christus als Sieger über die gefallene Welt auch Herr über die bösen Mächte ist. Interessant ist indes, dass im 4. Jahrhundert bei den großen drei Kappadokiern und den Antiochenern zwar viel von Engeln, aber seltener und formelhafter von Dämonen die Rede ist und dass diesen nicht die Schuld am gottwidrigen Handeln der Gläubigen angelastet wird. Der zehnte Aufsatz dieses Bandes geht der Frage nach, wie zu verstehen ist, dass Gott in den heiligen Schriften wie auch bei den Vätern des Glaubens sowohl als der gerechte Richter als auch der barmherzige Vater gepriesen wird. Schließen sich im Gericht Gerechtigkeit und Barmherzigkeit nicht aus? Muss Gerechtigkeit nicht immer unbarmherzig gegenüber den Verurteilten sein und ist die Barmherzigkeit nicht in jedem Fall ungerecht gegenüber denen, die durch die Übeltäter zu Schaden gekommen sind? Und der letzte Aufsatz des Buches ist entstanden unter dem Eindruck der immer neuen Flüchtlingsströme aus dem Osten, unter denen sich vermehrt auch Christen aus Kirchen befinden, die sich im fünften/ sechsten Jahrhundert von der byzantinischen Reichskirche getrennt haben, jedoch bisher im Westen kaum in Erscheinung getreten sind. Was ist aus diesen Kirchen geworden? Wie verstehen sie heute ihren damaligen Protest gegen die Christologie der altkirchlich-byzantinischen Konzile? Wieweit sind auch sie heute eingebunden in die ökumenischen Glaubensgespräche und gibt es eine berechtigte Hoffnung, dass man sich bei allen verbleibenden Unterschieden näher kommt und verstehen lernt, dass die von Christus geschenkte und geforderte sichtbare Einheit der Christen nicht gemeinsame Organisationsformen, Gesetze und Kanones im Blick hat? Das sind also die Fragen und Probleme, denen wir in diesem Band nachgehen. Sie haben sich mir während der Beschäftigung mit biblischen und altkirchlichen Texten in den letzten vier Jahren aufgedrängt und mögen zeigen, dass es sich auch für uns heute lohnt, den altkirchlichen Vätern des Glaubens Gehör zu schenken und mit ihrer Hilfe die Glaubensprobleme neu zu durchdenken. Zu danken habe ich vor allem Pfr. Christian Hohmann in Bad Oeynhausen, mit dem ich, auch über Landesgrenzen hinweg, lange theologische Gespräche führen konnte, sowie Novize Christoph Lorentz in der Skite des heiligen Spyridon in Geilnau, der einige meiner Arbeiten kritisch mitgelesenund durch seine Einwände und Fragen vertieft hat, ebenso Frau Magdalena Meyer-Dettum, Geilnau, die mich in sprachlicher Hinsicht kompetent beraten hat, aber auch der Familie Appenzeller in Küsnacht/Zürich und Goldingen / St. Gallen, die mich in Krank-

Vorwort

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heit versorgt und mir so den Freitraum zum Weiterarbeiten erhalten hat. Ich danke auch Herrn E. Starke, in Neukirchen-Vluyn, der sich für die Veröffentlichung der Aufsätze eingesetzt und mit seinem Team die Drucklegung besorgt hat, sowie Frau D. Schönau, Wülfrath, die die Druckvorlage bereinigt hat, Ihnen allen meinen herzlichen Dank! Wallisellen, Ostern 2016

Susanne Hausamann

Inhalt

Vorwort .................................................................................................. 5 I.

Christlicher Glaube – eine Gnadengabe Gottes ......................... 13

II.

Schrift, Tradition und Sukzession in der Kirche der ersten Jahrhunderte und ihre Bedeutung für die Kirchen in der Gegenwart ........................................................................ 21 1. Zur Fragestellung ................................................................... 21 2. Die Quellen des Glaubens in den paulinischen Gemeinden ... 21 3. Tradition und Sukzession bei Ignatius von Antiochien und Polykarp von Smyrna ..................................................... 26 4. Tradition, Sukzession und Heilige Schriften bei Irenäus von Lyon ................................................................................ 29 5. Tradition und Traditionen ...................................................... 35 6. Tradition und Lehrentwicklung ............................................. 37 7. Der Konsens der Väter und ihre Synoden ............................. 40

III.

Zum Verständnis von ›homoousios‹ in der Alten Kirche ......... 46

IV.

Die Bedeutung der Verklärung Christi nach Predigten altkirchlicher und byzantinischer Kirchenväter ......................... 56

V.

Zur Bedeutung der Negativen Theologie für den christlichen Glauben ...................................................................................... 67

VI.

Zum Glaubensverständnis der vom Hesychasmus geprägten orthodox-byzantinischen Theologie .......................................... 77

VII. Das Schweigen und das Mysterium der Gotteserfahrung bei den monastischen Vätern und Müttern im Osten ................ 85 1. Schweigen hat seine Zeit und Reden hat seine Zeit .............. 85 2. Die Bedeutung des Schweigens im Hesychasmus ................ 95 3. Aspekte des Schweigens ...................................................... 101

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Inhalt

VIII. »Betet ohne Unterlass!« (1Thess 5,17) im altkirchlichen und byzantinischen Mönchtum und im Leben von Christen in der Welt ................................................................................ 104 IX.

Engel und Dämonen in der Heiligen Schrift, bei Origenes, Athanasius und den kappadokischen und antiochenischen Theologen des vierten Jahrhunderts......................................... 113

X.

Zur Frage nach Gottes Barmherzigkeit und Gerechtigkeit in der biblischen und altkirchlichen Theologie........................ 143

XI.

Die altkirchlichen Ökumenischen Konzile (325–553) und ihre Aufarbeitung durch die ökumenischen Gespräche der Gegenwart .......................................................................... 169

I. Christlicher Glaube – eine Gnadengabe Gottes Christoph Lorentz zu seiner Aufnahme in die Orthodoxe Kirche am 3. Okt. 2013 gewidmet.

Geht man vom heutigen Sprachgebrauch aus, so wird der Begriff ›Glaube‹, sofern er auf einen Sachverhalt bezogen ist, auf eine Überzeugung von einer Angelegenheit, die nicht beweisbar ist oder von der man keine sicheren Informationen hat, angewandt. Bezogen auf eine Person, ist nach allgemeinem Verständnis der Glaube das Vertrauen, dass diese Person sich in ihren Äußerungen als zuverlässig erweist. In beiden Fällen handelt es sich um eine subjektive Einschätzung, die im Normalfall nicht willentlich hergestellt wird, sondern in einer unmittelbaren Begegnung entsteht. Was nun den christlichen Glauben betrifft, so wird man zunächst fragen müssen, worauf er sich bezieht: auf einen Sachverhalt oder eine Person? Und gegebenenfalls: Wer ist diese Person? Hinsichtlich der erstgenannten Frage gibt es in der Heiligen Schrift Zeugnisse für beide genannten Varianten. Mk 1,15 bezieht den Glauben auf die von Jesus verkündete Botschaft vom nahe herbeigekommenen Gottesreich;1 nach Gal 3,16ff. dagegen ist der Glaube auf die Person Jesu Christi Selbst zu beziehen.2 In beiden Fällen handelt es sich beim christlichen Glauben um eine Antwort auf einen Anspruch, der durch eine unmittelbare Begegnung mit Christus verursacht ist. Dieser Anspruch kann eine Verheißung sein, die Glauben fordert (Lk 5,4–11), eine Aufforderung, neue Wege zu gehen (Lk 5,27–28; Apg 9,1–9), eine Predigt, die neues Verstehen bringt (Lk 8,1–3), doch immer besteht sie in einer persönlichen Begegnung. Die Evangelien erzählen von Menschen, die durch eine solche Begegnung mit Jesus von ihren körperlichen und geistigen Leiden geheilt worden sind, wobei Jesus ihr gläubiges Vertrauen in Anspruch genommen hat. So Mt 9,27–29: »Und als Jesus von da weiterging, folgten Ihm zwei Blinde nach, die schrien: ›Erbarme Dich unser, Du Sohn Davids!‹ Als Er aber in das Haus hineinging, kamen die Blinden zu Ihm. Und Jesus sagt zu ihnen: ›Glaubt ihr, dass ich dies tun 1 2

Vgl. u.a. auch Lk 16,21; 24,25; Röm 1,16. Vgl. u.a. auch Röm 3,21–26.

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I. Christlicher Glaube – eine Gnadengabe Gottes

kann? Sie sagen zu Ihm: ›Ja, Herr!‹ Da rührte Er ihre Augen an und sprach: ›Euch geschehe nach eurem Glauben!‹ Und ihre Augen wurden geöffnet.« Wir wissen nicht, wie die beiden Blinden zu ihrem Glauben kamen. Mag der Leidensdruck, unter dem sie gestanden haben, mitgewirkt haben, in jedem Fall war jedoch die persönliche Begegnung mit Jesus das entscheidende Moment. Seine Gegenwart gab ihnen das Vertrauen, dessen sie bedurften, um sich an Ihn zu wenden und auf die Frage nach ihrem Glauben mit »Ja, Herr!«3 zu antworten. Die Person, auf die sich der Glaube bezieht, ist also Jesus Christus, der menschgewordene Sohn Gottes. So verhält es sich nicht nur in dieser Geschichte, sondern in den Wunderberichten der Evangelien ganz allgemein. Doch man kann sich nun fragen: Sind es in den Kirchen im Osten wie in den katholischen Kirchen im Westen nicht vor allem auch die Gottesmutter und die Heiligen, an die sich die Gläubigen mit ihren Bitten wenden und denen sie gläubiges Vertrauen entgegenbringen? Und ist dies nicht eine Übertretung des Ersten Gebotes? Hier muss man, was die Orthodoxe Kirche östlicher Provenienz betrifft, einen Unterschied wahrnehmen: Nicht von der Gottesgebärerin und den Heiligen ist die entscheidende Hilfe zu erwarten, sondern von Jesus Christus, der als ›Einer der Heiligen Dreiheit‹ allein die Macht über Erde und Himmel hat. Die Gottesmutter und die Heiligen werden zwar als vollendete Glieder der Kirche um Fürbitte angegangen, so wie auch die lebenden Gemeindeglieder sich gegenseitig untereinander durch Fürbitte beistehen. Der Glaube, der ihnen entgegengebracht wird, besteht in der Erwartung, dass sie nicht tot sind, sondern im Herrn leben und in ihrer gottesabbildlichen Güte für die bei Ihm einstehen, die mit ihren Hilferufen an sie gelangen. Zwar lässt sich nicht bezweifeln, dass im Osten wie im Westen von manchen Gläubigen die Gottesmutter auf eine Weise verehrt wird, die fatal an die Verehrung der Artemis der Epheser (Apg 19,28) oder der ägyptischen Isis mit dem Horusknaben erinnert. Die Gründe dafür sind einerseits die Unwissenheit der Gläubigen und der Leidensdruck, unter dem diese stehen, andererseits auch die antiken Familienstrukturen, die bis heute im Osten noch weitgehend vorherrschen.4 Vor allem aber haben es die kirchlich Verantwortlichen versäumt, das Ergebnis (den ›horos‹) des 3

Die Anrede ›Herr‹ (kyrie) bezeugt in diesem Kontext, dass die beiden Blinden Jesus, den sie als Sohn Davids (= Messias) ansprechen, als den ›Herrn und Gebieter‹ ihres Lebens anzuerkennen bereit sind. 4 In diesen Strukturen ist es üblich, wenn man von jemandem sich einen Gefallen erhofft, einen engen Familienangehörigen, also etwa die Mutter, um Fürsprache anzugehen.

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Konzils von 787 in die gottesdienstliche Praxis umzusetzen. Denn dieser Horos bestimmt, dass man den Bildern der ›Gottesgebärerin, der verehrungswürdigen Engel und aller Heiligen und Frommen‹ wie auch der ›Gestalt des kostbaren und lebendigmachenden Kreuzes‹, den ›heiligen Evangelien‹ und den ›übrigen heiligen Weihegaben‹ durch ›achtungsvolle Verehrung‹ (›timitikê proskynesis‹), jedoch nicht durch ›wahre Anbetung‹ (›alêtinê latreia‹), begegnen soll.5 Dennoch werden beispielsweise das heilige Kreuz und je nach Feiertag auch bestimmte Heilige, deren Reliquien zur Verehrung auf dem Analogion ausgelegt sind, durch Große Metanien6 verehrt, was streng genommen nur Christus und der Dreiheit Gottes zustehen würde. Und die Ikone der Gottesgebärerin wird wie die Christusikone nicht nur durch das Kreuzeszeichen, sondern auch durch eine anschließende Kleine Metanie ausgezeichnet. Dadurch wird einer Verehrung der Gottesgebärerin und der Heiligen Vorschub geleistet, welche die 787 gesetzten Grenzen verletzt.7 Dennoch ist der grundsätzliche Unterschied zwischen dem Glauben an Gott Vater, an Jesus Christus und an den Heiligen Geist und der Anrufung der Gottesgebärerin und der Heiligen um Fürbitte wenigstens in der Theorie festgehalten. Und man darf sicher sein, dass Gottes Güte und Langmut gegenüber der Unwissenheit und Schwachheit der Gläubigen gnädig sein und ihnen diese Übertretung nicht anlasten wird, sondern ihnen trotz dieser Verirrung die Begegnung mit Christus zuteil werden lässt, die auch ihnen den wahren Glauben ermöglicht, was aber keine Rechtfertigung des Versäumnisses derer, die dafür die Verantwortung tragen, bedeutet. Der Glaube ist also aus der Begegnung mit Christus geboren, nicht ohne diese Begegnung denkbar, mithin nicht ein aus sich selbst erzeugter Willensakt, sondern ein Geschenk, das die Gläubigen anzunehmen vermögen und das seinerseits ihr Ja-Wort herausfordert.

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Josef Wohlmuth, Conciliorum Oecumenicorum Decreta. Dekrete der Ökumenischen Konzile Bd. 1: Konzilien des ersten Jahrtausends. Von Nizäa (325) bis zum Vierten Konzil von Konstantinopel (869/70), 2. Aufl. Paderborn 1998, S. 135f. 6 Unter einer ›Großen Metanie‹ versteht man einen Kniefall, unter einer ›Kleinen Metanie‹ eine Verbeugungen mit Berührung des Bodens. 7 Man kann diese unterschiedslose Verehrung der Heiligen und der Gottesgebärerin, des Kreuzesholzes, des Christusbildes und der Dreiheit Gottes nicht dadurch rechtfertigen, dass letztlich immer das Christusgeschehen im Blick sei. Schon der Sachverhalt, dass viele (vor allem slavische) Gläubige nicht nur die auf den Analogien ausgelegten Ikonen, sondern möglichst alle erreichbaren Ikonen des Kirchenraumes verehren, zeigt, dass bei ihnen die Vorstellung herrscht, dass diese alle als einzelne Personen bedacht werden sollen, wodurch die Unterscheidung zwischen ›timitikê proskynesis‹ und ›alêtinê latreia‹ besonders dringend wird.

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I. Christlicher Glaube – eine Gnadengabe Gottes

Denn der Glaube ist kein ›Werk‹, das der Mensch durch die Aufbietung der eigenen Kräfte zu leisten vermag, sondern eine Gabe der Begegnung, die sich dort entfalten kann, wo Christus als ›Herr‹ erfahren und erkannt wird. So sind denn auch die Worte »Mein Herr und mein Gott!« (Joh 20,24–29), die gemäß dem Johannesevangelium der Apostel Thomas ausrief als Antwort auf Christi Aufforderung, seine Finger in die Wundmale des Auferstandenen zu legen und zu glauben, ein vollständiges christliches Glaubensbekenntnis. Durch dieses wird beispielsweise bereits die Abweisung der Arianer, wie sie im Zweiten Ökumenischen Konzil von 381 nach 60 Jahren hartem Ringen beschlossen wurde, vorweggenommen. Der Glaube aber, der hier von Thomas gefordert und bezeugt wurde, war kein frei gewähltes Werk des Jüngers, sondern ist an der Begegnung mit der Person Jesu Selbst entstanden. Dass der Glaube an Christus nicht als ein vom Menschen zu vollbringendes Werk gesehen werden darf, hat der Apostel Paulus in seinen Schriften deutlich gemacht. In Röm 3,28 lesen wir: »So halten wir nun dafür, dass der Mensch durch den Glauben gerechtgesprochen werde ohne Werke des Gesetzes.« Und in Gal 2,16 wird die Erkenntnis festgehalten, »dass ein Mensch nicht aus Werken des Gesetzes gerechtgesprochen wird, sondern durch Glauben an Christus Jesus ..., denn aus Werken des Gesetzes wird kein Fleisch gerechtgesprochen.« Und der in dieser Tradition stehende Verfasser des Epheserbriefes bringt in Eph 2,8–10 die Aussage auf den Punkt: »Denn vermöge der Gnade seid ihr gerettet durch Glauben, und das nicht durch euch – denn Gottes Gabe ist es – nicht aus Werken, damit nicht jemand sich rühme. Denn Sein Gebilde sind wir, erschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, zu denen uns Gott zum voraus bereitet hat, damit wir in ihnen wandeln sollten.« Hier wird die Rettung durch den Glauben klar als Gottes Gnade und Gabe bezeichnet und nicht dem menschlichen Vermögen zugeschrieben. Die nachfolgenden ›guten Werke‹ sind keine ›conditio sine qua non‹, keine Bedingungen, durch deren Erfüllung man sich Lohn oder Strafe, Himmel oder Hölle, erwerben könnte. Sie gehören vielmehr zum neuen Leben in Christus, das dieser uns durch Sein Zu-unsKommen ermöglicht und erstrebenswert macht und das wir glaubend ersehnen, suchen und finden. Gerichts- und Strafandrohungen für Säumige sind daher fehl am Platz, ebenso aber auch die Anstrengung von Gläubigen, für sich ›gute Taten‹ zusammenzutragen, um sich da-

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mit im Himmel einen besseren Platz zu erwerben. Glaube heißt, bezogen auf die Person Jesu Christi, dass wir die Begegnung mit Ihm nicht ausblenden und dem Vergessen anheimfallen lassen, sondern ihr in uns Raum geben, so dass sie unser Leben erfüllen kann. Wie aber kommt für uns Nachgeborene die Begegnung mit der Person Jesu Christi zustande? Die Antwort fällt je nach Konfession unterschiedlich aus. Im Lager der Evangelischen Konfessionen besteht die Tendenz, sich auf das ›sola scriptura‹ zu berufen und die Heilige Schrift dabei weithin einer historisch-kritischen oder subjektiv-individualistischen Interpretation zu überlassen, wobei allerdings einschränkend mitberücksichtigt werden muss, dass dem ›sola scriptura‹, recht verstanden, immer auch das ›solus Christus‹ als Richtmaß beizufügen ist, was bedeutet, dass die einzelnen Schriftaussagen auf den Gesamtskopus des Christusgeschehens hin interpretiert werden müssen, der seinerseits durch die exegetische Tradition vermittelt und bestimmt ist.8 Im westlichen Katholizismus wird die Schriftinterpretation eingebunden in die Kirche, deren Leitplanken die hierarchische Sukzession und die von den Konzilen unfehlbar festgeschriebenen Traditionen darstellen.9 In den Orthodoxen Kirchen östlicher Provenienz ist die Schriftauslegung auch an die kirchliche Sukzession und Tradition gebunden, nur dass hier die Sukzession den regionalen Gegebenheiten stärker Rechnung trägt10 und die ›Tradition‹ zu unterscheiden ist von den ›Traditionen‹, d.h. den einzelnen synodalen Kanones,11 die, wo sie 8

Vgl. auch Gerhard Ebeling in seinem Aufsatz über »›Sola scriptura‹ und das Problem der Tradition«, den er als Vorarbeit für die Vierte Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung in Montreal 1963 gehalten hat und der abgedruckt erschienen ist in: Gerhard Ebeling, Wort Gottes und Tradition. Studien zu einer Hermeneutik der Konfessionen, Kirche und Konfession Bd. 7, Göttingen 1964, S. 91–143. 9 Im Zweiten Vatikanischen Konzil hat sich insofern ein Wandel im Verständnis der Tradition vollzogen, als die antireformatorische Betonung der Zwei-QuellenTheorie im Konzil von Trient (vgl. Adolf Schönmetzer / Henricus Denzinger, Enchiridion Symbolorum, Definitionum et Declaratorum de rebus fidei et morum, 34. Aufl. Freiburg/Rom 1967, Nr. 1501–1508) und im Ersten Vatikanum (daselbst Nr. 3006–3007, sowie Nr. 3026–3029) einer Betonung der Einheit von Schrift und Tradition gewichen ist (vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Über die göttliche Offenbarung. Dokumente lateinisch-deutsch. Bd. VII: Authentische Textausgabe, Trier 1966, S. 18–49; ferner: Katechismus der katholischen Kirche, München 1998, Artikel 2, Nr. 78, S. 59 und Nr. 80–97, S. 60–63). 10 Nach orthodox-byzantinischem Verständnis der Sukzession darf ein Bischof oder Erzbischof nur in seiner Diözese oder Metropolie sein Leitungsamt ausüben; auch ein Patriarch kann nicht in fremde Diözesen hineinregieren; es ist bei Unregelmäßigkeiten allenfalls Sache der zuständigen Synode, einen Bischof seines Amtes zu entheben oder zu maßregeln. 11 Die Unterscheidung von der Tradition und den Traditionen ist konstitutiv für das Orthodox-Byzantinische Traditionsverständnis, vgl. Georgij V. Florovskij, So-

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in Konflikt kommen mit dem, was die Liebe gebietet, nicht nach dem strengen Recht (kat' akribeian), sondern gemäß dem, was die Liebe erfordert (kat' oikonomian), angewandt werden müssen.12 Das bedeutet, wie Florovski formuliert: »Tradition in der [Orthodoxen] Kirche ist nicht eine Stetigkeit des menschlichen Gedächtnisses oder eine Dauerhaftigkeit der Rituale und Bräuche. Es ist eine lebendige Tradition ... Im Grunde ist Tradition die Fortdauer der Anwesenheit des Heiligen Geistes in der Kirche, eine Fortdauer göttlicher Führung und Erleuchtung. Die Kirche ist nicht an den ›Buchstaben‹ gebunden. Vielmehr wird sie ständig vom ›Geist‹ weitergeführt. Derselbe Geist, der Geist der Wahrheit, welcher ›durch die Propheten sprach‹, welcher die Apostel führte, drängt die Kirche ständig zu vollerem Erfassen und Verstehen der göttlichen Wahrheit.«13 Metropolit Hilarion (Alfeyev) interpretiert diesen Sachverhalt, indem er ausführt, Christus habe in den Evangelien nicht alles gesagt, was für den Christen notwendig sei, denn Er fahre fort, den Menschen den Vater zu offenbaren durch den Heiligen Geist im Schoße der Kirche, was nicht bedeute, dass in der Kirche neue Dogmen eingeführt würden, vielmehr, dass schon in der Schrift Enthaltenes und implizit Gesagtes präzisiert werde. Daraus folge, dass die Heilige Schrift ein Teil der Tradition sei und man sie von der gesamten Tradition her lesen müsse, wie man als Christ das Alte Testament vom Neuen Testament her lese.14 Das heißt, dass in diesem Kontext Glaube weder eine subjektivindividuelle Überzeugung noch eine durch die Kirche festgelegte Annahme von Glaubensgesetzen ist, sondern ein in der Kirche Stehen durch die Teilnahme an der Herabrufung des Heiligen Geistes (der Epiklese) auf die feiernde Gemeinde und ihre Mysterien, gemäß den an die Jünger gerichteten Herrenworten: »Wahrlich, ich sage euch: Was ihr auf Erden binden werdet, das wird im Himmel gebunden sein, und was ihr auf Erden lösen werdet, das wird im Himmel gelöst sein. Wiederum sage ich bornosst. Kirche, Bibel, Tradition. Aus dem Englischen übersetzt von Ilja Trojanov, München 1989. Florovskij bemerkt (S. 101), es sei charakteristisch, »dass in dem ganzen Streit mit den Arianern kein einziges Mal auf die ›Traditionen‹ im Plural Bezug genommen wurde. Man bezog sich stets auf die ›Tradition‹ ... welche den ganzen und vollständigen Inhalt der Apostolischen ›Lehre‹ enthielt und in der ›Regel des Glaubens‹ zusammengefasst war. 12 Vgl. Hamilcar S. Alivizatos, Die Oikonomia. Die Oikonomia nach dem kanonischen Recht der Orthodoxen Kirche, hg. von Andréa Belliger, Frankfurt a. Main 1998, S. 50–72. 13 Vgl. Florovskij, Sobornost S. 87. 14 Vgl. Hilarion Alfeyev, Le Saint-Esprit dans la doctrine de saint Grégoire de Nazianze, in: Ysabel de Andia / Peter Leander Hofrichter, Der Heilige Geist im Leben der Kirche, Pro Oriente Bd. 29, Innsbruck 2005, S. 80f.

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euch: Wenn zwei von Euch auf Erden darin übereinstimmen werden, irgend eine Sache zu erbitten, so wird sie ihnen zuteil werden von meinem Vater in den Himmeln. Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.«15 Diese innerhalb der sog. ›Gemeinderegel‹ (Mt 18,15–20; Lk 17,1–6) überlieferten Herrenworte haben nicht vereinzelte, besonders begnadete Glaubenshelden im Blick, sondern die Gemeinschaft der Jünger Jesu (Lk 17,5f.: die ›Apostel‹), die durch die Sendung des Heiligen Geistes an Pfingsten zur Kirche (Ekklesia) wurde. Entsprechendes ist auch in Bezug auf Joh 14,12–18 und Joh 16,23f. zu sagen: Die Abschiedsreden Jesu wenden sich an den Jüngerkreis, der den Herrn während Seiner Wirksamkeit begleitet hat und der nach Seinem Tod und Seiner Auferstehung dazu bestimmt war, Sein Werk fortzuführen. Das schließt nicht aus, dass auch die einzelnen Gläubigen der Erhörung ihrer Gebete gewiss sein dürfen, wenn sie ihre Bitten gemäß dem Glauben der Kirche und im Vertrauen auf Gottes offenes Ohr und die Unverbrüchlichkeit Seiner Verheißung vorbringen. Aber auch so ist das Gebet der Einzelnen letztlich immer nur der Mit- und Nachvollzug des Gebetes der Kirche, wie auch der Glaube des Einzelnen, recht verstanden, der Mit- und Nachvollzug des Glaubens der Kirche ist.16 Denn nicht die Erleuchtung eines Einzelnen, sondern, »quod ubique, quod semper, quod ab omnibus creditum est« (›was überall, was immer, was von allen‹ [Gemeinden der Kirche]) geglaubt wird, entspricht der rechtgläubigen christlichen Botschaft, wie sie Schrift und Tradition bezeugen.17 Doch wie sicher vermögen Schrift und Tradition die Gläubigen zu leiten? Gibt es nicht auch Fehlentwicklungen in der Kirche, Fehlurteile von Synoden, Fehlinterpretationen der Schrift bei Kirchenvätern? Dass es dies alles gibt, dürfte nicht zu bestreiten sein. Denken wir nur an den Gnostizismus und den Judaismus der ersten zwei Jahrhunderte und an gewisse Auswüchse im origenistischen Mönchtum des 4.–6. Jahr-

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Mt 18,18–20; Lk 17,5f. Das ist die orthodoxe kirchliche Haltung. Selbstverständlich kann Gott auch die Bitten Andersgläubiger erfüllen; die Frage ist nur, woher diese die Gewissheit nehmen, von Gott erhört zu werden. 17 Vincentius von Lerinum, Commonitorium II,5,24–26. Vgl. dazu auch Florovskij, Sobornost S. 87. Daher unterscheidet man in der orthodoxen Theologie zwischen dem ›diachronen‹ Aspekt der Tradition, d.h. der Überlieferung durch die Abfolge der Zeiten (quod semper creditum est), und dem ›synchronen‹ Aspekt der Tradition, der einmütigen Synodalbeschlüsse im gegenwärtigen Zeitpunkt und deren Akzeptierung durch das Kirchenvolk (quod ubique et ab omnibus creditum est). Vgl. dazu André Borrely, L'Église n'est-elle qu'une institution?, Toulon 1994, S. 43f.

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I. Christlicher Glaube – eine Gnadengabe Gottes

hunderts,18 an den Messalianismus im frühen syrischen Wandermönchtum und in gewissen Spielarten des byzantinischen Hesychasmus,19 an die monophysitischen und monotheletischen Streitigkeiten,20 an die häretischen Synoden während des Bilderstreites21 und während der Auseinandersetzungen um Gregor Palamas22 und schließlich an die im Konzil von Florenz mit der Römischen Kirche geschlossene Union, die infolge des Protestes des orthodoxen Kirchenvolkes wieder rückgängig gemacht werden musste.23 Konzile können irren, Synodalbeschlüsse aufgehoben werden, Bischöfe und Patriarchen sich auf Irrwegen verlieren, aber der Glaube der Kirche bleibt in seinem Kern unbehelligt. Dieser Kern ist das Christusgeschehen, wie es in der Heiligen Schrift bezeugt, im Glaubensbekenntnis von 381 zusammengefasst und in den Orthodoxen Liturgien gefeiert wird. Denn das Christusgeschehen endet nicht mit der Himmelfahrt Christi, sondern findet in der Sendung des Heiligen Geistes an Pfingsten auf die Repräsentanten der Kirche seine Fortsetzung, da in den kirchlichen Mysterien (Sakramenten) mit dem Heiligen Geist auch Christus Selbst gegenwärtig ist und sich mit uns vereinigt. Und diese Gegenwart Christi, diese Begegnung mit Christus in den Mysterien der Kirche, vermag in uns den Glauben zu schaffen, der nicht nur ein frommes Gefühl ist, sondern uns unsere Schuldhaftigkeit einsehen und dennoch den Weg des Glaubens weitergehen lässt, wie wir ihn in der Gnade des Herrn zu gehen vermögen.

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Vgl. dazu meine Ausführungen in: Von Gott reden, heißt: in Bildern reden. Mythologie und begriffliche Spekulationen im frühchristlichen und byzantinischen Weltbild und die Botschaft des Fünften Ökumenischen Konzils von 553, Göttingen 2007, bes. S. 17–49 und 97–106. 19 Vgl. Klaus Fitschen, Messalianismus und Antimessalianismus. Ein Beispiel ostkirchlicher Ketzergeschichte, FKDG 71, Göttingen 1998; ferner: Reinhard Staats, Beobachtungen zur Definition und zur Chronologie des Messalianismus, in: Jahrbuch der Österreichischen Byzantinistik 32/4, 1982, S. 235–244. Die endgültige kirchliche Verurteilung des Messalianismus erfolgte 431 auf dem Ökumenischen Konzil von Ephesus, aber noch 1347–1351 verteidigte Nikolaus Kabasilas den Vorsteher der Athosklöster Niphon vor Gericht gegen die Anklage auf Messalianismus. 20 Vgl. meine Ausführungen in: Alte Kirche Bd. 4: Das Christusbekenntnis in Ost und West, Neukirchen-Vluyn 2004, S. 118–145. 21 Insbesondere die Synode von Hiereia 754; vgl. Alte Kirche Bd. 4, S. 262–269. 22 Hier ist an das Konzil von 1344 zu denken, das Gregor Palamas verurteilte, was erst 1347 aufgehoben wurde. Vgl. Alte Kirche Bd. 5, Der andere Weg der Orthodoxen Kirchen im Osten, Neukirchen-Vluyn 2005, S. 230–245. 23 Vgl. Alte Kirche Bd. 5, S. 93–108. Nach orthodoxem Verständnis gehört zur Gültigkeit eines Konzils dessen Rezeption durch das Volk; vgl. Panagiotis Boumis, Grundriß des Kanonischen Rechtes der Orthodoxen Kirche, in: Handbuch der Ostkirchenkunde, Bd. III, Düsseldorf 1997, S. 172.

II. Schrift, Tradition und Sukzession in der Kirche der ersten Jahrhunderte und ihre Bedeutung für die Kirchen in der Gegenwart

1. Zur Fragestellung Was die Quellen des christlichen Glaubens betrifft, ist innerhalb der Ökumene eine wesentliche Differenz zwischen den Protestantischen Kirchen einerseits und der Römisch-Katholischen, den Orthodoxen Kirchen östlicher Provenienz sowie der Anglikanischen Kirche andererseits auch heute noch im Bewusstsein des Kirchenvolkes. Das mögen die oft verwendeten Schlagworte veranschaulichen, mit denen man sich auf der evangelischen Seite allein auf Christus und allein auf die Heilige Schrift beruft, auf der katholisch-orthodoxen Seite dagegen im Hinblick auf die Schrift Tradition und Sukzession ins Spiel bringt. Wir fragen, wie das Gewicht dieser Differenz einzuschätzen ist; ob sie das Gottesverständnis dergestalt prägt, dass dadurch eine gemeinsames Bekenntnis zum christlichen Glauben verunmöglicht wird oder ob sie letztlich nur auf einer Fehleinschätzung der eigenen und/oder fremden Position beruht und durch historisch bedingte Gewichtsverlagerungen in der zeitbedingten Bewertung theologischer Fragen zustande gekommen ist? Um darauf eine Antwort zu finden, gehen wir zunächst zurück zu den Zeugnissen der allgemein als rechtgläubig anerkannten Kirchen der ersten Jahrhunderte und fragen, worauf sich damals die hervorragendsten Theologen stützten, wenn es darum ging, über die Quelle ihres Glaubens Rechenschaft abzulegen.

2. Die Quellen des Glaubens in den paulinischen Gemeinden Schon beim Apostel Paulus selbst spielt die Tradition eine ganz wesentliche Rolle. Die Schlüsselstelle dafür ist 1Kor 15,1–8: »Ich erinnere euch aber, Brüder, an das Evangelium, das ich euch verkündet habe, das ihr auch angenommen habt, in dem ihr auch steht und in dem ihr auch gerettet werdet, wenn ihr es festhaltet in dem Sinne, wie ich es euch verkündet habe – außer ihr seid vergebens zum Glauben gekommen. Denn ich habe euch in erster Linie überliefert (paredôka), was ich auch empfangen (parelabon) habe, dass Christus für unsere Sünden gestorben ist, nach den Schriften, und dass Er begraben worden und auferstanden ist am dritten Tag,

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II. Schrift, Tradition und Sukzession in der Kirche nach den Schriften, und dass Er gesehen worden ist von Kephas, dann von den Zwölfen. Hernach erschien Er mehr als fünfhundert Brüdern auf einmal, von denen die Mehrzahl bis jetzt noch am Leben ist, einige jedoch entschlafen sind. Hernach erschien er dem Jakobus, dann den Aposteln allen. Zuletzt aber von allen erschien er – gleichsam als der Fehlgeburt – auch mir.«

Mit den Verben ›paredôka‹ (›überliefern‹) und ›parelabon‹ (›als Überlieferung empfangen‹) markiert Paulus den Sachverhalt der Tradition und benennt zugleich ihren primären Inhalt: Christi Tod und Auferstehung für unsere Sünden, wobei beides einen doppelten Beweis erhält: einerseits durch die ›Schriften‹, womit die Bücher des AT gemeint sind, andererseits wird der Tod Jesu durch Sein Begräbnis bezeugt und Seine Auferstehung dadurch, dass Er von Petrus, den Zwölfen, fünfhundert Brüdern, allen Aposteln und zuletzt auch von Paulus selbst gesehen worden ist. Das heißt, dass das entscheidende Element der Tradition, wie sie von Paulus übermittelt worden ist, Christi ›Tod und Auferstehung für unsere Sünden‹ ist. Und dieses Wort der Verkündigung ist kein bloßes Menschenwort, sondern das fleischgewordene Wort Gottes Selbst, das in denen wirkt, die glauben (1Thess 2,13). Es ist kein neues Wort, sondern das aus Gottes ewigem Willen hervorgegangene Wort der Versöhnung, das durch die alttestamentlichen Schriften verheißen worden ist. Wenn Paulus von ›der Schrift‹ oder ›den Schriften‹ spricht, meint er immer das AT, insofern es auf Christus hinweist1 und seit Christi Tod und Auferstehung allen verkündet und von allen – auch den Heiden – als Zeugnis des wahren Glaubens erkannt werden kann. Als Wort Gottes hat das Wort der Verkündigung eine immerwährende Gültigkeit. Darum kann Paulus auch in Gal 1,8–9 sagen: »... wenn wir oder ein Engel vom Himmel euch ein Evangelium predigen würden, das anders ist, als wir es euch gepredigt haben, so sei er ›verflucht‹ (›anáthema ésto‹)!«

Und Paulus kann überdies im Galaterbrief betonen, dass er dieses Evangelium nicht von Menschen empfangen habe, »sondern durch eine Offenbarung Jesu Christi« (Gal 1,12). Entsprechendes scheint Paulus auch im Zusammenhang der von ihm gerügten Abendmahlpraxis der Korinther in 1Kor 11,23 zu sagen: »Denn ich habe vom Herrn empfangen (›parelabon‹), was ich euch auch überliefert (›paredôka‹) habe, dass der Herr, in der Nacht, da er überliefert (›paredidoto) wurde, Brot nahm, dankte, es brach ...«

1

Vgl. Röm 1,2; 16,26; Gal 3,8. 22.

2. Die Quellen des Glaubens in den paulinischen Gemeinden

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Aber soll hier die Wendung ›vom Herrn empfangen‹ auch, wie im Zusammenhang der Wortverkündigung, bestreiten, dass Paulus die Überlieferung vermittelt durch diejenigen, die vor ihm zum Glauben gekommen sind, zugeflossen ist? Der Kontext ist hier ein anderer. Es geht hier nicht um die Glaubwürdigkeit des von Paulus verkündeten Evangeliums, sondern darum, dass das von den Korinthern angenommene Evangelium nicht unter der Hand verfälscht wird durch eine Praxis der Lieblosigkeit, die sich scheinbar an die Tradition hält. »Denn wer so isst und trinkt, dass er den Leib des Herrn nicht achtet, der isst und trinkt sich selber zum Gericht.« (1Kor 11,29)

›Vom Herrn Selbst empfangen‹ bezeichnet also sowohl das Glaubensgut, das aus einer unmittelbaren Offenbarung stammt, wie auch dasjenige, das dem Verkünder von seinen Vorgängern und/oder Glaubensgenossen zugeflossen ist. Das alles bedeutet: Die kirchliche Tradition hat für Paulus normative Bedeutung, weil sie vom Herrn Selbst stammt. Sie umfasst aber nicht nur die Verkündigung des Christusgeschehens als solche: In 1Kor 11,1–16 gibt Paulus Verhaltensregeln aufgrund der damaligen Gepflogenheiten des Zusammenlebens in den Gemeinden. Er hält sich dabei an das, was anerkannt und dem Zusammenleben im gemeinsamen Glauben förderlich ist. Daher strebt er in 1Kor 11,17–34 einen Minimalkonsens für die gemeinsame Feier der Eucharistie an und er sucht in 1Kor 12f. das Verhältnis der einzelnen Gemeindeglieder zum Ganzen der Gemeinde zu klären, so dass in 1Kor 13 die Liebe als oberste Verhaltensnorm in den Vordergrund rückt. Wichtig ist dabei: Nicht zu einer neuen Gesetzlichkeit sollen die Traditionen, die Paulus hier von den Gemeinden respektiert wissen will, führen, sondern zu einem der Situation angepassten Verhalten der Liebe, das Leben und Gedeihen ermöglicht. Denn die Tradition, wie Paulus sie versteht, hat Konsequenzen für das Leben der Gemeindeglieder in der Heiligung (1Thess 4,3). Darum ist sie nicht nur ein Wort, das Glauben fordert, sondern enthält auch Richtlinien, ›wie ihr leben sollt‹ (1Thess 4,1). So kann Paulus im letzten Kapitel des Philipperbriefes schreiben: »Weiter, liebe Brüder: Was wahrhaftig ist, was ehrbar, was gerecht, was rein, was liebenswert, was einen guten Ruf hat, sei es eine Tugend, sei es ein Lob – darauf seid bedacht! Was ihr gelernt und empfangen und gehört und gesehen habt an mir, das tut; so wird der Gott des Friedens mit euch sein.« (Phil 4,8f.)

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II. Schrift, Tradition und Sukzession in der Kirche

Das besagt: Die Tradition umfasst nach Paulus sowohl die Christusoffenbarung wie auch deren Konsequenzen für das Leben und Zusammenleben in der Kirche. Beides gehört zusammen, aber während die Verkündigung des Christusgeschehens in Bezug auf den Inhalt unveränderlich ist, sind die Traditionen des Lebens und Zusammenlebens in den Gemeinden dem zeitbedingten kulturellen Wertekodex von Gerechtigkeit, Güte, Gewissenhaftigkeit und Ehrbarkeit unterworfen, wobei diesen Traditionen ihre jeweilige Geltung aus dem unveränderbaren Christusgeschehen erwächst. Es gibt also schon bei Paulus einen Unterschied zwischen der unveränderbaren Tradition des Christusgeschehens und den Traditionen des menschenlichen Zusammenlebens, die zeitbedingt sind, sich aber immer am Christusgeschehen als dessen Konsequenzen orientieren. Ein weiteres für unsere Untersuchung wichtiges Moment lässt sich ebenso bereits bei Paulus feststellen: Zum Traditionsverständnis gehört unmittelbar auch das Verständnis des Apostelamtes. Paulus leitet seine Autorität hinsichtlich der christlichen Verkündigung von seiner Berufung zum Apostel durch die Erscheinung Christi ab. Diese Berufung legitimiert seine Verkündigung und seine Gemeindegründungen (Röm 11,13f.; 2Kor 4,1f.; 2Kor 5,18– 20). In 1Kor 12,28 stellt Paulus den Korinthern vor Augen, Gott habe zu Diensten in der Gemeinde eingesetzt: erstens Apostel, zweitens Propheten, drittens Lehrer, dann Wundertäter und Heiler und mancherlei Zungenredner (Ekstatiker). Den drei erstgenannten Diensten kommt nach Paulus offenbar eine besondere Dignität zu. Die Apostel sind die Erstverkünder des christlichen Glaubens, vom Herrn Selbst dazu berufen und ausgesandt. Sie sind die Gründer der Gemeinden, die die Gemeindeleitung bestimmt haben und in dem Maße, in dem sie es vermögen, das Gemeindeleben auch weiterhin begleiten. Die Propheten sind diejenigen, die für die Gemeinde erkennbar den Heiligen Geist empfangen und durch Ihn die göttlichen Weisungen an die Gemeinde weitergeben können. Wie die Apostel von Christus ausgesandt sind, so sind die Propheten vom Heiligen Geist geleitet und beauftragt.2 Die Lehrer aber sind offenbar die2

Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums, Grundrisse zum Neuen Testament 5, Göttingen 1969, S. 89 bemerkt, dass die Aufgabe der Propheten bei Paulus nicht darin bestand, die Zukunft vorauszusagen, sondern das Innere der Menschen aufzudecken Richtig ist sicher, dass Zukunftvorhersage nicht das eigentliche Charakteristikum der Propheten ist. Sie sind vielmehr innerhalb der Gemeinde diejenigen, denen in bestimmten Situationen durch den Heiligen Geist Weisungen

2. Die Quellen des Glaubens in den paulinischen Gemeinden

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jenigen, die die Botschaften der Apostel und Propheten kontinuierlich und nachhaltig den Gemeindegliedern vermitteln, indem sie sich vor allem der ›Unverständigen‹ und ›Unmündigen‹ annehmen (Röm 2,20). Trotz der von Paulus vorgegebenen und in seinen Gemeinden tradierten Differenzierungen der Dienste lassen sich diese nicht streng voneinander abgrenzen, denn alle sind Mitarbeiter Gottes, nur diesem Selbst verantwortlich (Röm 3,5–15). Darum sollen ihre Mühen von der Gemeinde respektiert werden. In 1Kor 16,15f. sagt er über die Familie des Stephanas, sie habe sich zum Dienst (›eis diakonian‹) an den Heiligen zur Verfügung gestellt, und er ermahnt seine Adressaten: »Ordnet auch ihr euch solchen unter und allen, die mitarbeiten und sich mühen!« Und in 1Thess 5,12 schreibt er: »Wir bitten euch aber, ihr Brüder, anerkennt die, welche unter euch sich mühen und euch im Herrn vorstehen (›proïstamenous‹) und euch ermahnen ...« Schließlich bezeichnet in Phil 1,1 Paulus die Vorsteher der Gemeinde von Philippi als »Bischöfe und Diakone« (›episkopoi kai diakonoi‹).

Charakteristisch ist für Paulus einerseits, dass hier der Begriff des ›episkopos‹ in der Mehrzahl erscheint, andererseits die Presbyter fehlen. Es gab also in den von Paulus gegründeten Gemeinden ursprünglich keinen monarchischen Episkopat und kein Presbyterium als eigene Institution zwischen Bischof und Diakonen, sondern als ›Episkopen‹ bezeichnet er den Personenkreis, der in der Gemeinde von Jerusalem ›Älteste‹ (›presbyteroi‹) genannt wurde (Apg 14,23;16,4).3 In den Paulus zugeschriebenen Pastoralbriefen4 – die erst am Anfang oder in den 30iger Jahren des zweiten Jahrhunderts entstanden sind5 – scheint der Begriff der ›Ältesten‹ sich mit demjenigen der ›Episkopoi‹ zu decken (Tit 1,5.7–9), wobei jetzt unter den ›Ältesten‹ die Leiter von Gemeinden zu verstehen sind. Das bedeutet, dass sich in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts in den von Paulus gegründeten Gemeinden zwar für die Gemeinden zuteil werden, welche sie verständlich weiterzugeben vermögen. So sind auch sie Vermittler zwischen Gott und der Gemeinde. Vgl. 1Kor 14,24f. 29–32. 37.; Eph 2,20; 3,5; 4,11. 3 Im Gegensatz zu den Paulusbriefen spricht die Apostelgeschichte von ›Ältesten‹ in den paulinischen Gemeinden. Dabei scheint es sich um den gleichen Personenkreis zu handeln, der von ihr auch als ›Bischöfe‹ bezeichnet werden kann; vgl. Apg 20,17 und 28. Waren schon zur Zeit des Paulus die Begriffe ›Bischöfe‹ und ›Älteste‹ austauschbar? Jedenfalls scheint dies zur Zeit der Abfassung der Apostelgeschichte (ca. 70–90 n.Chr.) der Fall gewesen zu sein. Vgl. Philipp Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur. Einleitung in das Neue Testament, die Apokryphen und die Apostolischen Väter, Berlin / New York 1975, S. 406f. 4 Zum monarchischen Bischofsamt vgl. 1Tim 3,1–7; 2Tim 4,2; Tit 3,1–7; zu den Presbytern vgl. 1Tim 5,17–19; Tit 1,5f.; zu den Diakonen vgl. Tim 3,8–13; dazu kommt in den Pastoralbriefen noch das Amt der Witwen, vgl. 1Tim 5,3–16. 5 Vgl. Philipp Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur, S. 237.

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II. Schrift, Tradition und Sukzession in der Kirche

das monarchische Bischofsamt, nicht aber eine Hierarchie von Bischof, Presbytern und Diakonen durchsetzt, da das Presbyterium als eigenständige Institution fehlt. Die Pastoralbriefe sind es auch, die erstmals die Apostolische Sukzession ins Spiel bringen, dadurch, dass sie voraussetzen, die Einsetzung der Bischöfe geschehe durch Handauflegung eines Apostels und/oder benachbarter Gemeindeleiter (1Tim 1,18; 4,12–16; 2Tim 1,6).6 Dabei versteht der Briefschreiber unter dem Amt des ›Episkopos‹ primär ein Lehr- und Wächteramt (2Tim 2,2; 4,2), da ihm die genuine christliche Lehre in den Gemeinden durch die ›fälschlich sogenannte Erkenntnis (Gnosis)‹ (1Tim 6,20–21) bedroht erscheint. Ob mit den hier bekämpften Häretikern, die die christlichen Gemeinden Kleinasiens mit ihren Fabeln und Genealogien, ihrem Eheverbot und ihren Fastengeboten verunsichern (1Tim 1,4.6–7; 1Tim 4,3; 2Tim 2,16–18.23; Tit 3,9), aus dem Judentum erwachsene Gnostiker gemeint sind oder Markion und seine Anhänger in Kleinasien, lässt sich nicht sagen. Aber immerhin lässt sich feststellen, dass in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts sich in den von Paulus gegründeten Gemeinden eine Ordnung herausgebildet hat, in der der monarchische Bischof durch apostolische Sukzession zum Hüter und Bewahrer der rechtgläubigen Tradition wurde. So gehören schon in dieser Zeit apostolische Tradition und apostolische Sukzession zusammen und werden benutzt zur Abwehr von Häresien, während die biblischen Schriften – gemeint sind die Schriften des vom Judentum übernommenen alttestamentlichen Kanons, die vom Christusgeschehen her gelesen und interpretiert werden – zur Beglaubigung der christlichen Verkündigung dienen.

3. Tradition und Sukzession bei Ignatius von Antiochien und Polykarp von Smyrna Ignatius von Antiochien hat durch seine Briefe,7 die er als zum Kampf mit den wilden Tieren Verurteilter auf seiner Reise zum Martyrium in Rom (ca. 107–110) verschiedenen Gemeinden Kleinasiens zukommen lassen konnte, wesentlich zur Verbreitung des Ideals des monarchischen Episkopates und der dreistufigen Gemeindehierarchie beigetra6

Vgl. auch die Mahnung an Timotheus, niemandem zu schnell die Hände aufzulegen (1Tim 5,22). Der Gestus der Handauflegung soll den Heiligen Geist vermitteln, was ja der Sinn der Sukzession ist. 7 Zum Text vgl. Schriften des Urchristentums I: Die Apostolischen Väter. Eingeleitet, herausgegeben, übersetzt und erklärt von Joseph A. Fischer, Studienausgabe, WBG Darmstadt 2004, S. 111–225.

3. Tradition und Sukzession bei Ignatius von Antiochien

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gen, obwohl beides damals hinsichtlich der Wirklichkeit in den Gemeinden wohl noch weithin ein Postulat war.8 Vom Bischof redet Ignatius in seinen Briefen, deren sieben allgemein als echt gelten,9 im Singular; von den Ältesten dagegen redet er im Plural oder als Glieder der Institution des Presbyteriums und auch die Diakone scheinen nach seinen Vorstellungen in einer Gemeinde mehrfach vertreten zu sein. So gelangt er zu einer festen dreistufigen Gemeindehierarchie: Monarchischer Bischof – Presbyter – Diakone, wobei er in allen Briefen – mit Ausnahme des Briefes an die Römer, der von seinem künftigen Martyrium handelt – als zentrales Thema die Unterordnung der Gläubigen unter den Bischof und seine Mitarbeiter predigt.10 Ohne diese soll in der Gemeinde nichts geschehen.11 Der Bischof bildet Jesus Christus ab (E 6,1; Trall 2,1), der Seinerseits Abbild des Vaters ist (Trall 3,1) und somit an Gottes Stelle steht (Mg 6,1). Der Abstand zwischen dem Bischof und dem Presbyterium ist daher so groß wie der Abstand zwischen Christus Gott und den Aposteln (Mg 6,1; Trall 3,1; Sm 8). Die starke Betonung der Unterordnung der Gemeinde unter den Bischof und die unter dessen Leitung stehenden Mitarbeiter hat ihren Grund im Erscheinen doketischer Gnostiker judenchristlicher Herkunft,12 welche die Gemeinden Kleinasiens durch ihre abweichenden Lehren und ihre Fabeln13 verunsichern. Ignatius nennt sie ›Häuserverderber‹ und ›Schmutzfinke‹ (E 16,1–2), ›tollwütige Hunde‹ (E 7,1), ›Bestien‹ (E 7,1; Sm 4,1). Allein dort, wo sich die Gemeinde an den Bischof, seine Presbyter und Diakone hält, können sie keinen Schaden anrichten. Interessant ist nun, dass Ignatius in seinen Briefen weder die Apostolische Tradition, in welcher die Bischöfe stehen, noch deren Apostolische Sukzession durch Handauflegung14 expressis verbis reflektiert, 8 9

Vgl. Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur S. 547f. Brief an die Epheser (E), an die Magnesier (Mg), an die Trallianer (Trall), an die Römer (Rm), an die Philadelphier (Phl), an die Smyrnäer (Sm), an Polykarp von Smyrna (Pol). 10 Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur S. 541f. Vgl. E 6,1; Mg 13,2; Sm 8,1; Trall 2,2–3; Phl 7,1; Pol 6,1. 11 Mg 7,1–2; Trall 7,2; Phl 4. 12 Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur S. 546. ›Doketische Gnostiker‹ meint hier: Pneumatiker, welche das traditionelle Christentum umdeuten zu einer Geheimlehre, nach der Christus einen Scheinleib hatte. Daher leugnen sie auch die leibliche Auferstehung, bleiben dem Herrenmahl fern oder deuten es um, halten ihre eigenen Versammlungen ab und feiern anstelle des Sonntags (Auferstehungstag) den Sabbat. Vgl. Mg 8–11; Phl 6–8. 13 Es sind hier wohl die Genealogien der Gnostiker gemeint. 14 Dreimal wid in den Ignatius-Briefen die Handauflegung genannt: Phl 10,1; Sm 11,2; Pol 7,2. Doch es handelt sich dabei immer um die Bitte, einen Boten nach

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II. Schrift, Tradition und Sukzession in der Kirche

auch nicht ausdrücklich auf die Schriften und Briefe der Apostel zurückgreift, obwohl diese in seinen Ausführungen und deren Formulierungen immer wieder gegenwärtig sind.15 Zwar legt er Wert auf die Übereinstimmung mit den Aposteln16 und insbesondere mit Paulus, »in dessen Spuren« er »erfunden werden« möchte.17 Und er fordert die Magnesier auf, »in den Weisungen des Herrn und der Apostel festzustehen«.18 Die Trallianer weist er an, sich nicht trennen zu lassen von Gott, von Jesus Christus, vom Bischof und von den Anordnungen der Apostel.19 Dabei ist das Bekenntnis zu Christus, das das Fundament seines antihäretischen Kampfes bildet, schon in hohem Maße theologisch reflektiert und die Antinomie der Zweinaturenlehre herausgearbeitet, wenn auch nicht in der späteren orthodoxen Begrifflichkeit: »Einer ist Arzt, aus Fleisch zugleich und aus Geist, erzeugt und nicht erzeugt (›gennêtos kai agennêtos‹), im Fleisch erschienener Gott, im Tode wahrhaftiges Leben, aus Maria sowohl wie aus Gott, zuerst leidensfähig und dann leidensunfähig, Jesus Christus, unser Herr.« (E 7,2)

Christi Leiden, Tod und Auferstehung – also das Bekenntnis zu dessen zwei Naturen – wird damit schon bei Ignatius zum Kriterium des wahren christlichen Glaubens.20 Doch scheint seine Situation des antignostischen Kampfes und die psychische Hochspannung auf dem Weg zu einem ungewissen Martyrium (Römerbrief!) eine grundlegende Reflexion über die Art und Weise der Überlieferung des Glaubensgutes der Väter nicht zuzulassen. Bei Polykarp von Smyrna, der 155/6 oder 167/8 im Stadion von Smyrna als Märtyrer lebendig verbrannt wurde,21 kommen die Schriften der Apostel stärker in den Blick. Von ihm sind zwei Briefe an die Antiochien auszusenden, den man üblicherweise in einer Feier mit Handauflegung verabschiedete. 15 Vgl. z.B. E 9,1 mit Eph 2,21f.; E 10,1 mit 1Tim 5,17; E 14,1 mit 1Kor 13 und 1Tim 1,5; E 15,3 mit Eph 3,17 und 1Kor 3,16f. und 1Kor 6,19 und 2Kor 6,16; Mg 10,2 mit 1Kor 5,7f. um nur wenige Beispiele zu nennen. 16 Vgl. E 11,2. 17 Vgl. E 12,2. 18 Vgl. Mg 13,1. 19 Trall 7,1. 20 E 7,2 An einigen Stellen ist vom ›Evangelium‹ die Rede: Röm 8,2; 9,2; Phl 5,1–2; 9,2; Sm 5,1; 7,2. Damit ist zunächst einfach die christliche Verkündigung von Leiden, Tod und Auferstehung Christi gemeint (Phl 9,2), höchstens in Sm 5,1 und 7,2 könnte ein Evangelienbuch mitgemeint sein. Doch muss dies offen bleiben. 21 Zum Polyykarpmartyrium vgl. Geschichte der urchristlichen Literatur S. 553– 556; Text: Hans von Campenhausen, Bearbeitungen und Interpolationen des Polykarpmartyriums, Sitzungsbericht der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, Heidelberg 1957, S. 5–48; Hans Conzelmann, Bemerkungen zum Martyrium Polykarps, Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, Göttingen 1978, S. 41–58.

4. Tradition, Sukzession und Heilige Schriften bei Irenäus von Lyon

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Philipper erhalten, wobei der erste (der um 115 geschrieben wurde) uns als Kap. 13 des zweiten (entstanden ca.135) überliefert ist.22 Zwar kämpft auch er gegen ein doketisches Christentum, das Christi Leiblichkeit, seinen Tod und die Auferstehung leugnet,23 und auch er verlangt von der Gemeinde, dass sie sich »den Presbytern und Diakonen wie Gott und Christus« unterordne.24 Er jedoch beruft sich nun expressis verbis auf paulinische Briefe25 und setzt voraus, dass seine Adressaten »in den heiligen Schriften wohl bewandert« sind.26 Dies bedeutet, dass für Polykarp die ›heiligen Schriften‹ mit zur von den Aposteln überkommenen Tradition gehören, die ihm – wie Irenäus und Tertullian berichten27 – mit seinem bischöflichen Amt übermittelt worden ist. Das aber heißt: Für Ignatius von Antiochien und Polykarp von Smyrna, die in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts gegen gnostizistische Häretiker kämpften, waren Apostolische Tradition und Apostolische Sukzession ein wesentlicher Bestandteil der Legitimation ihrer Verkündigung und ihres Kampfes, auch da, wo über sie nicht weiter reflektiert wird. So gehören schon in dieser frühen Zeit Tradition und hierarchische Sukzession zusammen und die ›heiligen Schriften‹ werden als Teil der Tradition dazu benutzt, die Wahrheit der rechtgläubigen Verkündigung und des antihäretischen Kampfes zu bezeugen.

4. Tradition, Sukzession und Heilige Schriften bei Irenäus von Lyon Irenäus, Bischof von Lyon in Gallien (ca. 177–200), stammt aus Kleinasien und verbrachte seine Jugend in Smyrna, wo er noch Po22

Zum Text vgl. Die Apostolischen Väter, ed. Fischer S. 247–265. Zur Datierung vgl. Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur S. 552–566. 23 Vgl. Kap. 7, ed. Fischer S. 256–259. 24 Vgl. Kap. 5, ed. Fischer S. 254–257. Während er für die Frauen und Männer, die Jünglinge, die Diakone und Presbyter Anweisungen gibt, wie sie ihr Leben gestalten sollen, ist vom Bischof nirgends die Rede. War in Philippi der monarchische Episkopat noch nicht ausgebildet oder war der Bischofssitz um 135 vakant? 25 Kap.11,2, ed. Fischer S. 260–263: Phil 1,1–11; 2Thess 1,4. 26 Kap. 12, ed. Fischer S. 262f.; gemäß dem aus Eph 4,26 zitierten Psalmwort (Ps 4,5) kann man schließen, dass mit den ›Heiligen Schriften‹ sowohl die Schriften des AT wie auch die Schreiben der Apostel gemeint sind. 27 Nach Irenäus, Adv. haer. III, 3,4 ist Ignatius von Aposteln (Plural) zum Bischof der Asia eingesetzt worden und Tertullian, Praesc. haer. 32,2 präzisiert: der Apostel Johannes habe ihm die Weihe erteilt. Vgl. dazu Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur S. 556. Die Weihe Polykarps durch Johannes bleibt jedoch fragwürdig. Denn es zeigen sich in seinen Briefen kaum Anspielungen auf die Schriften johanneischer Tradition; er verstand sich vielmehr als Paulus-Schüler. Zudem scheint Irenäus den Presbyter Johannes mit dem Apostel Johannes, beide in Ephesus, gleichzusetzen. Vgl. dazu unten Anm. 34.

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II. Schrift, Tradition und Sukzession in der Kirche

lykarp gesehen hat, und er bezeugt überdies, dass er sich an die Orte erinnern kann, an denen dieser auftrat, und auch an einen seiner vornehmen Zuhörer (Florinus).28 Wann und wie Irenäus nach Gallien kam, ist nicht mehr zu ermitteln. Euseb nimmt an, er sei damals schon Presbyter gewesen.29 Dabei setzt Euseb allerdings die dreistufige Hierarchie (Episkopus, Presbyter, Diakon), die zu seiner Zeit sich allgemein durchgesetzt hatte, voraus, während Irenäus in seinen Schriften noch Presbyter und Episkopen gleichsetzten kann.30 Jedenfalls wurde Irenäus von der Gemeinde in Lyon (ca. 177) nach Rom gesandt mit einem Verzeichnis der Märtyrer, unter denen auch ihr bisheriger Bischof Photinus von Lugdunum war. Zweck dieser Reise war vermutlich Irenäus’ Bischofsweihe, da Euseb dessen Einsetzung als Nachfolger des verstorbenen Märtyrerbischofs im Anschluss an diese Reise berichtet.31 Das Hauptwerk des Irenäus ›Adversus haereses‹32, in welchem er die damals um sich greifenden Irrlehren der gnostizistischen Systeme (vor allem der Valentinianer, Basilidianer, aber auch der Kirche des Markion und der judenchristlichen Ebioniten) aufzeigt und zu widerlegen sucht und dagegen die Verkündigung der Apostel setzt, wie sie in der heidenchristlichen weltweiten, katholischen Kirche durch Tradition und Sukzession geglaubt wird, macht ihn für die theologiegeschichtliche Forschung besonders interessant. Aber auch seine ›Epideixis tou apostolikou kerigmatos‹ (›Darlegung der apostolischen Verkündigung‹), die nach ›Adversus haereses‹ entstand33 und erst um 1904 in einer aramäischen Übersetzung wieder aufgefunden worden ist, zeigt die Grundlagen der damaligen kirchlichen Verkündigung auf. Dabei gilt es allerdings zu berücksichtigen, dass Irenäus in seinen Darlegungen der

28

Euseb, Hist. Eccl. IV, 14,1–8 und V,19,3–8; Irenäus, Adv. haer. II,22,5 und III,3,4. 29 Euseb, Hist. Eccl. V, 4,1. 30 Euseb, Hist. Eccl. V,4,1–2; Irenäus, Adv. haer. II, 22,5; III,2,2, IV,26,2 und 5; IV,27,1. Vgl. dazu auch Michael Fiedrowicz, Handbuch der Patristik. Quellentexte zur Theologie der Kirchenväter, Freiburg 2010, Nr. 80 und Nr. 740. 31 Euseb, Hist. Eccl. V,5,8–9. 32 ›Entlarvung und Widerlegung der fälschlich sogenannten Gnosis‹, entstanden in den 80-iger Jahren des 2. Jahrhunderts, vgl. die Ausgabe von A. Rousseau / L. Doutreleau / B. Hemmerdinger / C. Mercier in SChr 100; 152–153; 210–211; 263– 264; 293–294, Paris 1965–1982. Dazu die deutschen Übersetzungen von E. Klebba, in: BKV, 2. Aufl. Bde 3–4, Kempten/München 1912 und von Norbert Brox, in: Fontes Christiani 8, 1–5, Freiburg 1993–2001. 33 Vgl. Irenäus von Lyon, Epideixis. Darlegung der Apostolischen Verkündigung, übersetzt und eingeleitet von Norbert Brox, in: Fontes Christiani Bd. 8/1, Freiburg i.Br. 1993, S. 32–97.

4. Tradition, Sukzession und Heilige Schriften bei Irenäus von Lyon

31

apostolischen Sukzession diese möglicherweise, was Kleinasien betrifft, um eine Generation verkürzt hat.34 Wie sieht nun Irenäus das Verhältnis von Heiligen Schriften, kirchlicher Tradition und bischöflicher Sukzession? Maßgebend ist für Irenäus hinsichtlich der gültigen christlichen Lehre die genuine Tradition, wie sie von Christus auf die Jünger und die von ihnen eingesetzten Presbyter gekommen ist. Die rechte kirchliche Lehre ist also aufs engste mit der Apostolischen Sukzession verbunden. Grund dafür ist nicht die menschliche Zuverlässigkeit der kirchlichen Amtsträger, sondern das stetige Wirken des Heiligen Geistes. So schreibt Irenäus an einer Stelle: »Die Verkündigung der Kirche ist überall unveränderlich und gleichbleibend. Sie ist durch Propheten und Apostel und die Jünger, wie gezeigt wurde, bezeugt, umfasst Anfang und Mitte und Ende und die gesamte Heilsordnung Gottes und Sein ganzes Wirken zum Heil des Menschen, das zu unserem Glauben gehört. Wir haben diesen von der Kirche empfangen und bewahren ihn. Er ist durch den Geist Gottes ständig als kostbares hinterlegtes Gut wie in einem edlen Gefäß jung und hält auch das Gefäß selbst jung, in dem er ist. Denn dieses Geschenk Gottes (vgl. Joh 4,1) ist der Kirche anvertraut wie die Anhauchung des Geschöpfes (vgl. Gen 2,7), damit alle Glieder davon empfangen und belebt werden ... ›In der Kirche‹, heißt es nämlich, ›hat Gott Apostel, Propheten und Lehrer eingesetzt‹ (1Kor 12,11). An Ihm haben all diejenigen keinen Anteil, die nicht zur Kirche kommen; durch falsche Lehre und üble Praktiken bringen sie sich ums Leben. Denn wo die Kirche ist, da ist auch der Geist Gottes; und wo der Geist Gottes ist, dort ist die Kirche und alle Gnade.«35

34

Irenäus führt die Einsetzung der kleinasiatischen Presbyter, wie Polykarp von Smyrna und Papias von Hierapolis, direkt auf die Apostel zurück (vgl. Adv. haer. II, 22,5; III,3,4; V,33,3–4; Epideixis, Praefatio 3). Papias, der als ›Hausgenosse von Polykarp‹ sein in Fragmenten erhaltenes Werk ›Logiôn kyriakôn exêgêseis‹ um 130/140 geschrieben hat, soll ein Hörer des Apostels Johannes gewesen sein (Adv. haer. V,33,4). Euseb (Hist. Eccl. III, 39,5–6) ist indes der Meinung, dass der von Papias und Polykarp genannte Johannes nicht der Apostel, sondern ein Presbyter gleichen Namens gewesen sei und dass dieser Johannes auch die Apokalypse geschrieben habe, auf die sich Irenäus als auf eine apostolische Schrift von zentraler Bedeutung beruft (vgl. Adv. haer. V, 26,1; 30,1–4; 33,3). Es hat also nach Euseb in Ephesus zwei Johannes gegeben, wie es daselbst auch zwei Grabstätten von ›Johannes‹ gab. Dafür spricht vor allem auch die Zeitrechnung. Auch wenn es richtig sein sollte, dass – wie Irenäus behauptet – der Apostel Johannes bis in die Zeit Trajans (98–117) in Ephesus gelebt hat, liegen doch mindestens 60–70 Jahre zwischen dem Tod des Johannes und demjenigen von Polykarp. Offenbar konnte Polykarp, der die Sukzession der Bischöfe Roms bis in seine Zeit (Adv. haer. III,3,1–2) glaubhaft wiederzugeben in der Lage war, sich nur verschwommen an die Zeitdimension der in seiner Kindheit erfahrenen Geschichten erinnern. 35 Adv. haer. III,24,1; zitiert nach Fiedrowicz, Handbuch Nr. 722.

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II. Schrift, Tradition und Sukzession in der Kirche

Inhaltlich lässt sich die in der Kirche durch die Sukzession weitergegebene Lehre im Taufbekenntnis zusammenfassen, auf das Irenäus wiederholt eingeht. So kann Irenäus sagen: »Obwohl nämlich die Kirche über die ganze Welt bis an die Enden der Erde verbreitet ist, hat sie von den Aposteln und deren Schülern den Glauben empfangen an einen Gott, den Vater, den Allmächtigen, der ›den Himmel und die Erde, das Meer und alles darin geschaffen hat‹ (Ex 20,11); und an den einen Christus Jesus, den Sohn Gottes, Fleisch geworden zu unserem Heil; und an den Heiligen Geist, der durch die Propheten verkündet hat die Heilspläne Gottes und das Kommen und die Geburt aus der Jungfrau und die Passion und die Auferweckung von den Toten und die leibliche Aufnahme des geliebten Christus Jesus, unseres Herrn, in die Himmel und Seine Wiederkunft aus den Himmeln in der Herrlichkeit des Vaters, um ›alles zusammenzufassen‹ (Eph 1,10) und das Fleisch der gesamten Menschheit aufzuerwecken, damit vor Christus Jesus unserem Herrn und Gott und Erlöser und König, nach dem Wohlgefallen des unsichtbaren Vaters, ›jedes Knie im Himmel, auf der Erde und unter der Erde sich beuge und jede Zunge‹ Ihn ›bekenne‹ und Er gerechtes Gericht hält über alle (Phil 2,10f. vgl. Jes 45,23).«36

Da auch die Heilige Schrift nach Irenäus nichts anderes verkündigt als den Glauben der Kirche, gehören auch die Heiligen Schriften Alten und Neuen Testamentes zur durch den Heiligen Geist gesicherten Tradition christlicher Verkündigung, welche die Kirche weiterzugeben die Aufgabe hat. »Wir haben nämlich durch niemand anderen den Plan unseres Heiles erkannt als durch diejenigen, durch die das Evangelium zu uns gelangte. Was sie damals mündlich verkündeten, später aber durch Gottes Willen in schriftlicher Form überlieferten, sollte künftig Fundament und Säule (vgl. 1Tim 3,15) unseres Glaubens sein. ... Denn erst nachdem der Herr von den Toten auferstanden war und sie (sc. die Apostel) durch den Heiligen Geist, der über sie kam (vgl. Apg 1,8), mit Kraft aus der Höhe (vgl. Lk 24,49) ausgestattet waren, wurden sie bezüglich aller Dinge mit Sicherheit erfüllt und besaßen die vollkommene Erkenntnis (Gnosis). Dann erst zogen sie bis ans Ende der Erde, um uns die frohe Botschaft der Güter zu bringen, die Gott uns schenkte, und den Menschen den himmlischen Frieden zu verkünden. Sie besaßen das Evangelium Gottes alle gemeinsam und jeder einzelne für sich. ... (2) Sie alle haben uns überliefert, dass es einen einzigen Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde, gibt, der von Gesetzen und Propheten verkündigt wurde, und einen einzigen Christus, Gottes Sohn. Wer ihnen widerspricht der verachtet die Gefährten des Herrn, verachtet aber auch den Herrn Selbst und verachtet auch den Vater (vgl. Lk 10,16), und er hat sich selbst gerichtet (vgl. Tit 3,11), weil er sich seinem Heil hartnäckig widersetzt. Das tun alle Häretiker«.37 »Diese unmanipulierte Bewahrung der Schriften gibt es bei uns bis heute; eine vollständige Sammlung, ohne Hinzufügung, ohne Fortlas-

36

Adv. hae. I,10,1; Fiedrowicz, Handbuch Nr. 53. Vgl. auch Epideixis I,5–7; I,41. 37 Adv. haer. III,1,1–2; Fiedrowicz, Handbuch Nr. 54.

4. Tradition, Sukzession und Heilige Schriften bei Irenäus von Lyon

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sung; eine unverfälschte Verlesung, eine Auslegung im Einklang mit den Schriften, korrekt und genau, ohne Risiko und Blasphemie«.38

So kommt Irenäus im Blick auf die von ihm bekämpften Häresien zum Schluss: »(1) Angesichts solcher Beweise darf man nicht länger bei anderen nach der Wahrheit suchen. Ohne Mühe kann man sie in der Kirche in Empfang nehmen. In sie haben die Apostel wie in eine reiche Schatzkammer auf das sorgfältigste alles hineingetragen, was zur Wahrheit gehört, so dass jeder, der will, aus ihr den Trunk des Lebens schöpfen kann ... Sollte jedoch über eine unbedeutende Frage ein Zwiespalt entstehen, dann muss man auf die ältesten Kirchen zurückgehen, in denen die Apostel gewirkt haben, und von ihnen die klare und sichere Entscheidung über die strittige Frage annehmen. Hätten nämlich die Apostel nichts Schriftliches uns hinterlassen, dann müsste man eben der Ordnung der Tradition folgen, die sie den Vorstehern der Kirchen übergeben haben. (2) Diese Anordnung befolgen viele Barbarenvölker, die an Christus glauben. Ohne Papier und Tinte haben sie ihr Heil durch den Heiligen Geist in ihre Herzen geschrieben und sorgfältig bewahren sie die alte Tradition. An einen Gott glauben sie als an den Schöpfer des Himmels und der Erde und alles dessen, was darin ist, durch Jesus Christus, Gottes Sohn, der aus überfließender Liebe zu seinem Geschöpf aus der Jungfrau geboren werden wollte, der in Sich den Menschen mit Gott vereinigte, unter Pontius Pilatus litt, auferstand, in Herrlichkeit [in die Himmel] aufgenommen wurde und in Majestät kommen wird als der Erlöser derjenigen, die gerettet werden, und als Richter derer, die gerichtet werden. In das ewige Feuer wird Er die Entsteller der Wahrheit und die Verächter Seines Vaters und Seiner Ankunft schicken. Die diesen Glauben ohne Schrift angenommen haben, sind hinsichtlich unserer Sprache zwar Barbaren, in Anbetracht ihrer Gesinnung, ihrer Gebräuche und ihres Lebenswandels freilich, wegen ihres Glaubens, höchst weise und Gott wohlgefällig, da sie in aller Gerechtigkeit, Besonnenheit und Weisheit wandeln. Käme ihnen einer mit den häretischen Erfindungen und wollte darüber mit ihnen in ihrer Sprache reden, dann würden sie sich sogleich die Ohren zuhalten und weit, weit wegfliehen, weil sie das gotteslästerliche Gerede nicht ertragen könnten. Solches Gerede hat in ihrem Geist keinen Platz, denn keine (gnostische) Unterweisung oder Versammlung hat bei ihnen bisher stattgefunden.«39

Was Irenäus hier mit Blick auf die gallischen Gemeinden darlegt, macht deutlich, dass nicht die Heilige Schrift als solche den christlichen Glauben begründet, sondern dass – gemäß der Apostolischen Tradition und Sukzession der Kirche – die lebendig weitergegebene, unveränderte Verkündigung Christi und Seiner Apostel, welche im Taufbekenntnis zusammengefasst erscheint und den Gläubigen durch Verkündigung und Handeln der Kirche immer neu vermittelt wird, die verbindliche Lehre der Kirche darstellt.

38 39

Adv. haer. IV,33,8; Fiedrowicz, Handbuch Nr. 290. Adv. haer. III,4,1–2; zitiert nach BKV 3, ed. Klebba S. 214f.

34

II. Schrift, Tradition und Sukzession in der Kirche »Aus diesem Grund muss man auch den Presbytern [= Bischöfen] in der Kirche gehorchen, die, wie wir gezeigt haben, die Sukzession von den Aposteln her haben und zugleich mit der Sukzession im Bischofsamt auch das sichere Chrisma der Wahrheit nach dem Wohlgefallen des Vaters empfangen haben; die übrigen hingegen, die sich von der ursprünglichen Sukzession absondern und irgendwo versammeln, muss man für verdächtig halten; es sind entweder Häretiker, Leute von verkehrter Ansicht, oder hochmütige und selbstgefällige Schismatiker oder endlich Heuchler, denen es hierbei nur um Gewinn und nichtigen Ruhm geht. Alle diese Leute sind von der Wahrheit abgefallen ...«40

Die Heilige Schrift ist nach Irenäus also Teil der kirchlichen Tradition und wird durch die Apostolische Sukzession vor häretischen Verfälschungen bewahrt. Trotz diesem entschiedenen Eintreten für die ungebrochene Tradition der Kirche waren für Irenäus nicht jeder kirchliche Brauch und alle Gewohnheiten lokaler Kirchen für die Gesamtkirche verbindlich. So setzte er sich 190/1 beim römischen Bischof Viktor für die kleinasiatischen Kirchen ein, die dieser exkommunizieren wollte, weil sie den Ostertermin anders berechneten und die Fastenzeit anders begingen41 als die übrige Christenheit unter der Führung Roms. Euseb von Caesarea überliefert uns zwei Fragmente eines Briefes von Irenäus an Viktor, in welchem er daran erinnert, dass schon zwischen dem römischen Bischof Anicet und Polykarp eine Differenz in dieser und anderen kleinen Fragen bestanden habe. »Trotz dieser Differenzen blieben beide in Gemeinschaft. Und Anicet gestattete aus Ehrfurcht dem Polykarp in seiner Kirche die Feier der Eucharistie. Und im Frieden schieden sie voneinander. Und es hatte Frieden die ganze Kirche; sowohl die, welche es so hielten, als jene, welche es nicht so hielten.«42

Wir sehen: Bereits Irenäus, wie vor ihm schon der römische Bischof Anicet (154/5–166/7) und Polykarp von Smyrna, wusste zu unterscheiden zwischen der heilsrelevanten Tradition der Kirche und kirchlichen Gepflogenheiten, die für den Glauben an Christus nicht entscheidend sind. Das aber bedeutet: Eine Unterscheidung zwischen der ›Tradition‹ und den ›Traditionen‹ ist keine Erfindung neuerer orthodoxer Theologie, sondern reicht schon in die Frühzeit der Kirche zurück.43 40

Adv. haer. IV, 26,2; Fiedrowicz, Handbuch Nr. 80, S. 90f. Vgl. dazu auch Adv. haer. III,1,1; 3,4; IV,26,2; 33,8. 41 Zu den sog. Quartodezimanern vgl. meine Ausführungen in Alte Kirche Bd. II,2,2,1. 42 Euseb, Hist. Eccl. V,24,12–17. 43 Dass eine solche Unterscheidung nicht einfach ist und gerade in Rom nicht immer klar gehandhabt wurde, hat u.a. auch Firmilian festgehalten, als er Bischof Cyprian von Karthago um 256 im Ketzertaufstreit mit dem römischen Bischof Stephan zu Hilfe kam. Er schrieb ihm: »Dass man aber in Rom nicht in allen Punkten die ursprünglichen Überlieferung beachtet und sich vergeblich auf die

5. Tradition und Traditionen

35

5. Tradition und Traditionen Worin aber besteht diese heilsrelevante Tradition? Nach welchen Kriterien unterscheidet man die ›Traditionen‹ von der einen ›Tradition‹, von der abzuweichen als Häresie beurteilt werden muss? Basilius der Große antwortet im 16. Kapitel seines Buches ›Über den Heiligen Geist‹ (374/5) so: »Wodurch sind wir Christen? ›Durch den Glauben‹ wird man antworten. Auf welche Weise werden wir gerettet? Offenbar durch die Widergeburt in der Gnade der Taufe. Wodurch denn sonst? ... Wenn nämlich die Taufe für mich der Anfang des Lebens und der erste meiner Tage jener Tag der Wiedergeburt ist, dann ist klar, dass das kostbarste aller Worte auch jenes ist, das bei der Gnade der Einsetzung in die Sohnschaft gesprochen wurde. Diese Überlieferung nun, die mich ins Licht führte, die mir die Gotteserkenntnis schenkte, durch die ich zum Kind Gottes wurde, der ich bis dahin aufgrund der Sünde Sein Feind war, diese (sc. Überlieferung) sollte ich preisgeben, umgestimmt durch Überlegungskünste dieser Leute [sc. der Arianer]? Vielmehr bete ich für mich darum, mit diesem Bekenntnis zum Herrn einzugehen, und ich ermahne sie, den Glauben bis zum Tage Christi unversehrt festzuhalten, den Geist vom Vater und vom Sohn ungetrennt zu bewahren und festzuhalten an der Lehre der Taufe [Mt 28,19] im Bekenntnis des Glaubens und im Vollzug der Doxologie.«44

Und an späterer Stelle derselben Schrift formuliert Basilius die Antwort auf die gestellte Frage folgendermaßen: »Unter den in der Kirche bewahrten Glaubenslehren und Verkündigungen haben wir die einen aus der schriftlichen Unterweisung, die anderen haben wir von der Überlieferung der Apostel auf dem Weg der Mysterien übermitAutorität der Apostel beruft, lässt sich auch daran erkennen, dass man bezüglich der Tage, da das Osterfest zu feiern ist, und in vielen anderen Mysterien des Gottesdienstes bei ihnen manche Abweichungen bemerkt, und dass man nicht alles, was in Jerusalem beachtet wird, auch dort in gleicher Weise beachtet. So wird ja auch in den meisten übrigen Provinzen vieles je nach der verschiedenen Gegend und Bevölkerung anders gehandhabt, ohne dass man sich deswegen vom Frieden und der Einheit der katholischen Kirche jemals getrennt hätte (Firmilian, Epistula ad Cyprianum in: Cyprian, Epistula 75, 6,1; zitiert nach Fiedrowicz, Handbuch Nr. 62, S. 79). Zur Bedeutung der Unterscheidung von ›Tradition‹ und ›Traditionen‹ in der neueren Orthodoxen Theologie vgl. Georgij V. Florovskij, Sobornost. Kirche, Bibel, Tradition. Aus dem Englischen von Ilija Trojanow. Mit einem Nachwort von Georgios Metallinos, München 1989, bes. S. 131–136. Ebd. S. 101 stellt Florovskij fest: »Es ist charakteristisch, dass in dem ganzen Streit mit den Arianern kein einziges Mal auf die Traditionen im Plural Bezug genommen wurde. Man bezog sich stets auf die ›Tradition‹«. Vgl. auch Dumitru Staniloae, Orthodoxe Dogmatik Bd. I, Ökumenische Theologie Bd. 12, Zürich/Gütersloh 1984/5, S. 54–67. 44 Basilius von Caesarea, DSS 16, 26; zitiert nach Fiedrowicz, Handbuch Nr. 403, S. 324f.

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II. Schrift, Tradition und Sukzession in der Kirche telt empfangen. Beide haben für den Glauben die gleiche Bedeutung... Wenn wir nämlich versuchten, die ungeschriebenen Bräuche zu beseitigen, als ob sie keinen großen Wert hätten, dann würden wir wohl unbeabsichtigt das Evangelium selbst an zentralen Stellen treffen; mehr noch: wir beschränkten die Verkündigung auf einen bloßen Namen. Zum Beispiel – um an das Nächstliegende und Gebräuchlichste zu erinnern –: Wer hat schriftlich gelehrt, dass die auf den Namen unseres Herrn Jesus Christus Hoffenden sich mit dem Zeichen des Kreuzes bezeichnen? Welcher Text hat uns angewiesen, uns beim Gebet nach Osten zu wenden? Die Worte der Epiklese im Augenblick der Konsekration des Brotes der Eucharistie und des Kelches der Segnung – wer von den Heiligen hat sie uns schriftlich hinterlassen? Wir begnügen uns ja nicht mit dem, was der Apostel oder das Evangelium erwähnen, sondern sprechen vorher und nachher noch anderes, was wir aus der ungeschriebenen Lehre (didaskalia) empfangen haben, was von großer Bedeutung für das Mysterium ist. Wir segnen auch das Wasser der Taufe und das Öl der Salbung und außerdem den Täufling selbst. Aufgrund welcher schriftlichen Zeugnisse? ...«45

Nicht anders urteilt auch Gregor von Nyssa: »Wir bekennen, dass die Lehre des Herrn, die Er den Jüngern gab, als Er ihnen das ›Mysterium der Frömmigkeit‹ (1Tim 3,16) überlieferte, Fundament und Wurzel des rechten und gesunden Glaubens ist; und wir glauben, dass es nichts Erhabeneres und Sichereres gibt als die Überlieferung [also: die Tradition]. Die Lehre des Herrn ist nun folgende: »Geht«, sagt Er, »lehrt alle Völker und tauft sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.« (Mt 28,19)46

Das aber heißt: Die Tradition, die von allen rechtgläubigen Christen festgehalten werden muss, ist das Glaubensbekenntnis der Taufe, das in der kirchlichen Verkündigung, im Lobpreis des Gottesdienstes und in den kirchlichen Sakramenten seinen gültigen Ausdruck findet und auch durch viele kirchliche Bräuche bezeugt wird. Die hier ins Auge gefasste Tradition meint also nicht einfach irgendwelche Gepflogenheiten des kirchlichen Lebens, die im Laufe der Zeit der Kirche zugewachsen sind und in Kanones und Dekreten gleichsam ›gesetzliche‹ Gültigkeit gewonnen haben. Es geht vielmehr um die genuine Verkündigung des Heilsereignisses durch die Menschwerdung Jesu Christi, die in Übereinstimmung mit den Vorankündigungen der Propheten und dem Kerygma der Apostel in der Heiligen Schrift und in den Glaubensbekenntnissen der Väter (insbesondere der Konzile von Nikäa 325 und Konstantinopel 381) ihre bis heute gültigen Formulierungen gefunden hat und in den Gottesdiensten und den kirchlichen Mysterien (Sakramenten) gefeiert wird.

45

Basilius von Caesarea, DSS 25, 66; zitiert nach Fiedrowicz, Handbuch Nr. 138, S. 135f. 46 Gregor von Nyssa, Ep. 5,4; zitiert nach Fiedrowicz, Handbuch Nr. 409, S. 331.

6. Tradition und Lehrentwicklung

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Dies bezeugt auch Johannes Chrysostomus in seiner Auslegung von 2Thess 2,15: »Daraus [sc. aus dieser Stelle] geht klar hervor, dass sie [sc. die Apostel] nicht alles brieflich überliefert haben, sondern vieles auch ohne Schriftstück. Das eine wie das andere ist gleichermaßen glaubwürdig. Daher wollen auch wir die Tradition (paradosis) der Kirche für glaubwürdig halten ...«47

6. Tradition und Lehrentwicklung Heißt das, dass alles, was nicht mit der schriftlich oder mündlich überlieferten Tradition übereinstimmt, als Häresie verworfen werden muss? Gibt es also keine Entwicklung, kein Wachstum der Kirche? Wir entnehmen die Entscheidung in dieser Frage zunächst einem Brief von Gregor von Nazianz, den dieser im Sommer 382 an seinen Stellvertreter, den Priester Kleidonius, geschrieben hat: »Nichts haben wir jemals vorgezogen, noch können wir vorziehen dem Glauben von Nikäa, dem Glauben der heiligen Väter, die sich dort versammelten, um die arianische Häresie zu vernichten. Dies ist vielmehr unser Glaube und mit Gottes Hilfe wird er es bleiben. Wir fügen indessen eine Ergänzung hinzu, was sie (sc. die Väter von Nikäa) in unvollständiger Weise über den Heiligen Geist gesagt haben, weil diese Frage damals nicht aufgeworfen war. Man muss wissen, dass der Vater, der Sohn und der Heilige Geist zu einer einzigen Gottheit gehören, und anerkennen, dass der Heilige Geist ebenso Gott ist.«48

Nach Gregor von Nazianz gibt es also durchaus ein Fortschreiten der Kirche zu einer immer vollkommeneren Erkenntnis. So sagt er in einer seiner Reden, die er in der zweiten Hälfte des Jahres 380 in Konstantinopel gehalten hat: »(26) Das Alte Testament hat den Vater [sc. Gott-Vater] deutlich verkündet, den Sohn nur dunkel. Das Neue Testament hat den Sohn geoffenbart, die Gottheit des Geistes aber nur angedeutet. Jetzt wohnt der Geist unter uns und gewährt uns eine deutlichere Offenbarung Seiner Selbst. Denn es war nicht ohne Gefahr, zu einer Zeit, in der man die Gottheit des Vaters noch nicht kannte, den Sohn in aller Deutlichkeit zu verkünden, oder zu einer Zeit, da man die Gottheit des Sohnes noch nicht angenommen hatte, auch noch den Heiligen Geist, um es gewagt zu formulieren, aufzubürden. Für die Menschen sollte nicht das, was durchaus im Bereich der Möglichkeiten lag, gefährdet werden, indem man sie sozusagen mit einer zu schweren Kost belastete oder sie mit noch zu schwachen Augen ins Sonnenlicht blicken ließ ... 47

Johannes Chrysostomus, Homêlie in 2. Thess. 4,2 (398/400); zitiert nach Fiedrowicz, Handbuch Nr. 142, S. 139. 48 Gregor von Nazianz, Ep. 102,1–2; zitiert nach Fiedrowicz, Handbuch Nr. 604, S. 490.

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II. Schrift, Tradition und Sukzession in der Kirche (27) Du siehst die schrittweisen Erleuchtungen, die uns aufgestrahlt sind, und die Ordnung in der Rede von Gott, an die auch wir uns am besten halten, indem wir sie weder mit einem Mal kundtun noch bis zum Schluss verbergen. Das eine wäre ungeschickt, das andere gottlos; das eine könnte die Außenstehenden befremden, das andere die Unseren entfremden ... Der Erlöser hatte Seine Jünger zwar schon mit vielen Lehren erfüllt, doch gab es noch etwas, was sie zum damaligen Zeitpunkt Seinen eigenen Worten zufolge noch nicht ertragen konnten (vgl. Joh 16,12), vermutlich aus den erwähnten Gründen; deshalb hielt Er es verborgen. Dies alles wird uns wiederum vom Geist gelehrt werden, sobald Er in uns Wohnung genommen hat (vgl. Joh 16,13). Eine von diesen Lehren war, meiner Meinung nach, auch die Gottheit des (sc. Heiligen) Geistes Selbst, die erst später deutlich gezeigt werden sollte, wenn die Erkenntnis bereits entsprechend reif und aufnahmefähig geworden ist ...«49

Diese Sicht teilt auch Basilius der Große, der in einem Brief an Epiphanius von Salamis schreibt: »Wir können dem Glaubensbekenntnis von Nikäa nichts hinzufügen, nicht einmal das geringste Wort, außer der dem Heiligen Geist geltenden Doxologie; da unsere Väter diesen Teil nur beiläufig erwähnt haben. Denn die entsprechende Frage wurde damals noch nicht diskutiert.«50

Und auch Vinzenz von Lérins beurteilt diese Frage in seinem Commonitorium nicht anders. Er vergleicht die kirchliche Lehre mit dem menschlichen Körper, der sich mit dem Alter verändert, in dem aber von Anfang an die Glieder und Funktionen angelegt sind, die im Zustand des Erwachsenen von Bedeutung werden. »(9) So ist es auch für die Lehre der christlichen Religion angemessen, diesen Gesetzen des Fortschrittes zu folgen, dass sie nämlich mit den Jahren gefestigt, mit der Zeit erweitert und mit dem Alter verfeinert wird, aber dennoch unzerstört und unversehrt bleibt und im gesamten Umfang ihrer Teile, sozusagen an allen ihr zugehörigen Gliedern und Sinnen, vollständig und vollkommen ist, dass sie außerdem keine Veränderung zulässt, keinen Verlust ihrer Eigenart und keine Abweichung von ihrer Wesensbestimmung erträgt ... (16) Die Kirche Christi aber, die eifrige und behutsame Wächterin der ihr anvertrauten Glaubenslehren, verändert nie etwas an ihnen, nimmt nichts weg, fügt nichts hinzu; sie schneidet nicht Notwendiges weg, sie setzt nicht Überflüssiges hinzu; sie gibt nicht das Eigene auf, sie eignet sich nicht Fremdes an. (17) Sondern sie bemüht sich mit aller Energie nur darum, das Alte treu und weise zu verwalten, und wenn etwas davon seit alter Zeit unausgebildet und unfertig ist, es auszugestalten und glattzufeilen, wenn etwas bereits deutlich ausgeprägt und entfaltet ist, es zu festigen und zu sichern, und wenn etwas bereits bekräftigt und festgelegt ist, es zu bewahren.«51 49

Gregor von Nazianz, Or 31,26–27; zitiert nach Fiedrowicz, Handbuch Nr. 593, S. 480f. 50 Basilius von Caesarea, Ep. 258,2 (ca. 376); zitiert nach Fiedrowicz, Handbuch Nr. 605, S. 490. 51 Vinzenz von Lérins, Commonitorium 23,9.16–17 (datiert 434); zitiert nach Fiedrowicz, Handbuch Nr. 614, S. 498–501.

6. Tradition und Lehrentwicklung

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Wie aber geschieht eine solche Bewahrung, Sicherung, Festigung und notwendige Ergänzng der Tradition? Nicht durch den Erfindergeist und die Spekulationen eines Einzelnen. Das macht Basilius der Große in einer Homilie über Ps 115 aus den Jahren zwischen 368 und 375 klar, indem er schreibt: »Wer seinen Verstand nicht erniedrigt und nicht wie der Apostel spricht: ›Brüder, ich bilde mir nicht ein, es erfasst zu haben‹ (Phil 3,13); wer vielmehr daran denkt, Gottes Wesen zu begreifen und mit seinen eigenen Spekulationen das Unerreichbare auszumessen; wer sich einbildet, dass Gott gerade so groß sei, als er Ihn mit seinem Denken erfasst; wer überhaupt seinen eigenen Verstand zum Maß der Dinge macht und nicht bedenkt, dass es leichter ist, mit einem kleinen Becher das ganze Meer auszumessen, als mit dem menschlichen Geist die unaussprechliche Größe Gottes zu umfassen ...; wer nicht aus dem Glauben, sondern von sich aus zu reden beginnt, wer sich anmaßt, mit menschlichem Kalkül die Wahrheit zu erfassen, der ist ein Lügner und verfehlt die Wahrheit völlig.«52

Es ist also nicht die Einsicht der menschlichen Vernunft, sondern vielmehr der Heilige Geist Selbst, der unter den Vätern einen Konsens schafft, sei es, dass Er in der Abfolge der Zeiten immer deutlicher die Übereinstimmung der hervorragendsten Theologen erkennbar macht (diachrone Tradition), sei es, dass Er Synoden zu einhelligen Beschlüssen führt, die dann in der Folge auch vom Gottesvolk rezipiert werden (synchrone Tradition). So sagt Basilius der Große denn auch in einem Brief an den Bischof der Kirche von Tarsus und seine Anhänger, die gegenüber dem Begriff ›Homoousios‹ (›wesenseins/wesensgleich‹) ihre Vorbehalte hatten: »Folgendes widerspricht meiner Überzeugung nach eurer Position nicht ..., dass ihr die Glaubensformel, die unsere einst in Nikäa versammelten Väter darlegten, bekennt und keinen der Begriffe verwerft, vielmehr wisst, dass dreihundertachtzehn ohne Streit Versammelte nicht ohne das Wirken des Heiligen Geistes gesprochen haben.«53

Und Johannes Chrysostomus schreibt in seiner Schrift ›Adversus Judaeos‹(386/7): »Wenn aber, wo zwei oder drei sind, Christus in ihrer Mitte ist (vgl. Mt 18,20), um wieviel mehr war Er dann (sc. in Nikäa) gegenwärtig und hat alles bestimmt und geordnet, wo dreihundert und noch viel mehr anwesend waren.«54 52

Basilius von Caesarea, Hom. in Ps. 115; zitiert nach Fiedrowicz, Handbuch Nr. 817, S. 648. 53 Basilius von Caesarea, Ep. 114 an Cyriakus von Tarsus (um 372); zitiert nach Fiedrowicz, Handbuch Nr. 508, S. 415. 54 Johannes Chrysostomus, Adversos Judaeos 3,3 (um 386/7); zitiert nach Fiedrowicz, Handbuch Nr. 509, S. 415.

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II. Schrift, Tradition und Sukzession in der Kirche

7. Der Konsens der Väter und ihre Synoden Schon Tertullian weiß um 210/211 von Synoden, welche die wichtigen Angelegenheiten der Kirche, ihres Lebens und ihrer Lehre beraten und entschließen. So schreibt er in seiner Schrift über das Fasten: »Außerdem werden in den griechischen Ländern an bestimmten Orten jene Versammlungen aus allen Kirchen abgehalten, durch die alle bedeutenden Angelegenheiten gemeinsam verhandelt werden, und worin auch eine Respräsentation der gesamten Christenheit in ehrfurchtsgebietender Weise gefeiert wird.«55

Athanasius aber schreibt (um 358/9) in seiner Schrift über die Dekrete des Konzils von Nikäa: (3) »Es ist nämlich, wie die Väter überliefert haben, eine echte Lehre und ein wahrhaftiges Kennzeichen von Lehrern, wenn alle miteinander übereinstimmen und weder mit sich selbst noch mit ihren Vätern im Streit liegen. Denn diejenigen, die nicht derart sind, muss man vielmehr gottlos und nicht wahre Lehrer nennen. (4) Daher haben die Heiden, die unter sich nicht übereinstimmen, sondern miteinander im Streit liegen, nicht die wahre Lehre. Die Heiligen aber und die echten Verkünder der Wahrheit stimmen untereinander überein und sind untereinander nicht uneins. Denn obwohl sie zu verschiedenen Zeiten lebten, so hatten sie dennoch alle ein Ziel, weil sie Propheten des einen Gottes waren und übereinstimmend das eine Wort verkündigten.«56

So stimmen denn auch alle rechtgläubigen Väter mit dem Symbol von Nikäa 325 überein, wie schon Cyrill von Alexandrien 433 bezeugt: »Keinesfalls dulden wir es, dass von einigen der definierte Glaube oder das Symbolum des Glaubens ins Wanken gebracht werden, das von den heiligen Vätern stammt, die einst in Nikäa zusammengekommen waren. Wir gestatten es weder uns selbst noch einem anderen, auch nur ein Wörtchen, das dort steht, zu ändern oder auch nur von einer einzigen Silbe abzuweichen, eingedenk dessen, der sagte: ›Versetze nicht die alten Grenzsteine, die deine Väter legten!‹ (Prov 22,28). Denn es waren nicht sie selbst, die sprachen, sondern der Geist Gottes und der Vater Selbst.«57

Vinzenz von Lérins sieht darin die Kontinuität des wahren christlichen Glaubens und schreibt in seinem etwa zeitgleich mit dem Zeugnis des Cyrill entstandenen Commonitorium:

55

Tertullian, De Ieunio 13,6 (um 210/11); zitiert nach Fiedrowicz, Handbuch Nr. 500, S. 411. 56 Athenasius, De decretis Nicaeenae synodi 4,3–4; zitiert nach Fiedrowicz, Handbuch Nr. 495, S. 407f. 57 Cyrill von Alexandrien, Ep 39 an Johannes von Antiochien; zitiert nach Fiedrowicz, Handbuch Nr. 538, S. 431.

7. Der Konsens der Väter und ihre Synoden

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»(18) Was hat sie (sc. die Kirche) denn auch je anderes durch die Beschlüsse der Konzilien angestrebt, als dass das, was früher einfach geglaubt wurde, später genauer geglaubt wurde, was früher ruhiger verkündigt wurde, später eindringlicher verkündigt wurde, was früher unbekümmerter verehrt wurde, später eifriger verehrt wurde. (19) Dies und nichts anderes sonst, sage ich, hat die katholische Kirche immer, veranlasst durch die Neuerungen der Häretiker, mit ihren Konzilsbeschlüssen erreicht: nämlich das, was sie früher von den Vorfahren nur durch (sc. mündliche) Überlieferung empfangen hatte, später den Nachkommen auch in schriftlichen Dokumenten zu verbürgen, indem sie eine große Anzahl von Wahrheiten in wenigen Worten zusammengefasst und oft zum Zweck des klaren Verständnisses einen keineswegs neuen Glaubensinhalt mit einem adäquaten neuen Ausdruck bezeichnet hat.«58

Schrift, Tradition und Sukzession gehören in der Kirche also zusammen und haben von Anfang an zusammengehört. Doch diese Zusammengehörigkeit wurde in Ost und West verschieden verstanden, ausgestaltet und in die Praxis umgesetzt: Im Osten musste man in den vielfältigen und langen Kämpfen um den rechten Glauben lernen, dass Glaubensentscheidungen von Konzilien und angesehenen Vätern auch falsch sein können und früher oder später revidiert werden.59 Diese Erfahrungen haben ein Klima geschaffen, in dem eine Umkehr nicht nur für die einzelnen Gläubigen, sondern auch für fehlgeleitete Synoden und Hierarchen möglich ist, was bedeutet, dass aktuell empfundene Missstände im kirchlichen Leben60 durch den Glauben an den Heiligen Geist ertragen werden können und diese die Gläubigen nicht so schnell wie im Westen zum Austritt aus der Kirche veranlassen. Im Westen hatte zunächst die Petrus-Tradition, die sich vor allem seit der Zeit der Päpste Innozenz I. (402–417), Leo I. (440–461) und Symmachus (495–514) immer stärker ausbildete, Einfluss auf das Verständnis von Sukzession und Tradition, so dass hier schließlich alle 58

Vinzenz von Lérins, Commonitorium 23,18–19 (um 434); zitiert nach Fiedrowicz, Handbuch Nr. 540, S. 432f. 59 Man denke an die Synoden von Ephesus 449, Herakleia 754, Konstantinopel 1341, Florenz 1439, die alle anulliert werden mussten, sowie auch an das Schicksal von Entscheidungsträgern wie die Patriarchen Nestorius von Konstantinopel (428–431) und Dioskur von Alexandrien (444–451) oder Severus von Antiochien (513–518), Sergios I. (610–638) und Pyrrhos (638–641 und 654) von Konstantinopel, die bis heute anathematisiert sind. 60 Als aktuell empfundene Missstände könnte man nennen: die in der praktischen Frömmigkeit mangelnde Unterscheidung zwischen ›Anbetung‹, die nur der Dreiheit Gottes gebührt, und ›ehrfürchtiger Verehrung‹, die auch der Gottesmutter, den Heiligen sowie deren Ikonen und Reliquien zukommt. Oder auch: der naive Dämonenglaube, wie er – vor allem vom Mönchtum tradiert und mit dem Weltbild der Evangelien gerechtfertigt – unter dem Einfluss des ostsyrischen Dualismus (Messalianismus, Manichäismus) den Glauben vieler orthodoxen Christen prägt.

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II. Schrift, Tradition und Sukzession in der Kirche

kirchlichen Entscheidungen vom Stuhl Petri approbiert werden müssen und dem Papst kraft seiner Unfehlbarkeit sowohl über die Glaubenslehre und wie auch über die Sittengesetze der Kirche die letztinstanzliche Entscheidung obliegt.61 Wo aber die kirchlichen Kanones und Dekrete erst mit der Approbation durch den Papst ihre Legitimation bekommen und wo der Heilige Geist so institutionalisiert ist, dass alle von Rom erlassenen Bestimmungen unumstößlich und heilsrelevant sind, da wird der Unterschied zwischen ›Tradition‹ und ›Traditionen‹ unbedeutend und das Heil der Gläubigen hängt von der Befolgung kirchlicher Gesetze ab. Dagegen protestierte dann die Reformation: So bekannte Martin Luther 1521 vor dem Reichstag in Worms »... ich glaube weder dem Papst noch den Konzilien allein, da es feststeht, dass sie öfter geirrt und sich widersprochen haben ...«62 Mit dieser Feststellung konnten sich die Reformatoren auch auf die altkirchlichen Väter berufen. Denn auch die altkirchlichen Väter hatten nicht die Irrtumslosigkeit kirchlicher Entscheidungsträger behauptet, sondern darauf vertraut, der Heilige Geist werde auch die Irrtümer von Synoden und irregeleiteter Hierarchen zu Seiner Zeit zu überwinden wissen und die Kirche selbst dort, wo sie sich auf Irrwegen befindet, wieder auf den Pfad des wahren Glaubens zurückbringen. Die Reformation konnte sich daher als Rückkehr zum Glauben der Väter verstehen. Ihre Intention ging ja nicht dahin, das Glaubensbekenntnis zu verändern, die Taufe und das Herrenmahl abzuschaffen und dadurch hinsichtlich der christlichen Verkündigung völlig neue Wege zu beschreiten.63 Und es war auch keineswegs so, dass die Reformatoren eine Berufung auf die altkirchlichen Väter gänzlich verwarfen.64 Man wollte die christliche Verkündi61

Vgl. zur Stellung des Papstes in der Röm.-kath. Kirche: Katechismus der Katholischen Kirche, Deutsche Ausgabe, München 1993 Nr. 880–892; vgl. auch Nr. 552–553; 936–937; 2034–2036; 2041. 62 Vgl. Martin Brecht, Martin Luther. Sein Weg zur Reformation 1483–1521, Stuttgart 1981, S. 438f. Vgl. auch 1521–1971 Luther in Worms. Ein Quellenbuch hg. von Joachim Rogge, Berlin 1971, bes. S. 98–101. In seiner 1539 vollendeten Schrift ›Von den Konzilen und der Kirche‹ äußert sich Luther angesichts des neuen päpstlichen Konzils (Tridentinum) noch radikaler; vgl. Brecht, Martin Luther Bd. 3: Die Erhaltung der Kirche 1532–1546, Stuttgart 1987, S. 194–198. 63 Vgl. Martin Luther, Die drei Symbole oder Bekenntnisse des Glaubens Christi. In der Kirche Christi einträchtiglich gebraucht (1538) in: Luther Deutsch, hg. von Kurt Aland, Bd. 4. Der Kampf um die reine Lehre, 2. Aufl. Göttingen 1964, S. 319–334. 64 Luther selbst wie auch Bugenhagen greifen in der Frühzeit vor allem zu den Schriften Augustins, um zu zeigen, dass sie mit ihren romkritischen Aussagen nicht Neuerer sind. Vgl. Volker Leppin, Die Verwendung von Autoritäten in den frühen Wittenberger Vorlesungen und Disputationen, Lutherjahrbuch. Organ der internationalen Lutherforschung, hg. v. Christopher Spehr, Jahrgang 80, Göttingen 2013, S. 243. Später wird beiden Reformatoren dann auch Athanasius von Ale-

7. Der Konsens der Väter und ihre Synoden

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gung nur von den Zutaten (›Traditionen‹) reinigen, die in der damaligen Situation für viele Christen die Sicht auf das Wesentliche des Glaubens verstellten und das genuine Evangelium, wie die Heilige Schrift es bezeugt, verfälschten. Dabei ist dann allerdings auch einiges zu Fall gekommen oder in Vergessenheit geraten, was für den Glauben sich als Hilfe erweisen kann, ihn fördert und festigt, ihn erfahrbar und liebenswert macht.65 Und es hat sich in mancher Hinsicht in den Evangelischen Kirchen ein Rationalismus und eine Nüchternheit eingestellt, die bis heute prägend wirkt und bisweilen auch eine Belastung darstellt. Die allzu bewusste und rationale Konzentration auf das, was als wesentlich beurteilt wird, verführt leicht dazu, dass die in Christus geschenkte Erneuerung, welche den ganzen Menschen mit all seinen Sinnen und Empfindungen angeht, zu einer Theorie verkommt, die sich schnell verbraucht, leer und inhaltlos wird, was dann in unserer Gesellschaft zur Folge hat, dass man die Leere mit irgendwelchen ›Events‹ zu beheben sucht. Die evangelischen Kirchen sind heute weithin zu Veranstaltern von ›Events‹ geworden und stehen in Gefahr, mit dem Verlust von ›Traditionen‹ auch ›die Tradition‹ (das Glaubensbekenntnis und die kirchlichen Mysterien) zu verlieren. Im westlichen Katholizismus dagegen steht man mit dem Wechsel von Papst Benedikt XVI. zu Franziskus I. möglicherweise an einem Wendepunkt. Die päpstliche Unfehlbarkeit und die vom Papst selbstgexandrien wichtig (so etwa in Luthers Psalmenvorrede von 1528); vgl. dazu Martin Tetz, Zum Psalmenverständnis von Athanasius und Luther, in: Lutherjahrbuch Jahrgang 79. Göttingen 2012, S. 39–61. Stärker vom Humanismus geprägte Reformatoren wie Melanchthon, Zwingli, Bullinger, Calvin und ihre Adlati greifen bei ihren Schriftauslegungen ab 1525 auch zu Irenäus, Tertullian, Origenes, Laktanz, Ambrosius und dem Ambrosiaster (Ps.-Ambrosius Kommentar zu 13 Paulusbriefen), Hilarius, Hieronymus, Johannes Chrysostomus, Kyrill von Alexandrien, wobei sie diese jedoch nur gelten lassen, sofern sie mit ihrer Auslegung nicht dem Konsens und Skopus der Heiligen Schrift widersprechen. Vgl. dazu Alfred Schindler, Zwingli und die Kirchenväter, 147 Neujahrsblatt zum Besten des Waisenhauses Zürich, Zürich 1984, bes. S. 46–48. 52–58. 77f.; Irena Backus, Das Prinzip ›sola scriptura‹ und die Kirchenväter in den Disputationen von Baden (1526) und Bern (1528). Aus dem Engelischen übersetzt von Anette Zillenbiller, Zürich 1997, S. 40–45. 103.106.113f. 121. 65 Hier könnte man an die Ikonen, an Gesänge, an das Kreuzeszeichen, an Verehrungsgesten, an die vielfachen Textwiederholungen in den kirchlichen Diensten und Feiern, an regelmäßig wiederkehrende Festtagsgesänge und -gebräuche denken, alles Momente, die den Gläubigen das Gefühl vermitteln, in der Kirche ›zu Hause‹ zu sein. In seiner »Ermahnung an die Geistlichen, versammelt auf dem Reichstag zu Augsburg« von 1530 schreibt Luther selbst: »Es ist zwar wahr, dass unter den aufgezählten Stücken [die in der gleißenden Kirche in Übung und Brauch gewesen sind] etliche sind, die nicht zu verwerfen sind. Und etliche von ihnen sind gefallen, von denen ich nicht wollte, dass sie gefallen wären; sie können aber wohl nicht wieder aufkommen.« (vgl. Luther Deutsch: Der Reformator. Bd. 5, S. 333f.)

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II. Schrift, Tradition und Sukzession in der Kirche

wählte Aufgabe, als ›Vicarius Christi‹ die Machtfülle und Herrlichkeit Gottes zu repräsentieren, erleidet durch die sichtbar gewordene Ohnmacht der Päpste, ihre eigene Kurie zu beherrschen, einen markanten Einbruch an Glaubwürdigkeit. Und die Gläubigen, insbesondere diejenigen in den nördlichen Ländern, akzeptieren die der Vergangenheit verhafteten römischen Moralvorschriften mit ihrer Gesetzlichkeit und ihrer Unfähigkeit, die offensichtlichen Missstände zu beheben und den wahren Glauben zu erschließen, je länger desto weniger. Wohin wird das führen? Besteht Hoffnung auf eine neue Zuwendung zur ›Tradition‹ im Sinne der orthodoxen Väter und auf eine Unterscheidung zwischen dieser ›Tradition‹ und den zeit- und situationsbedingten menschlichen ›Traditionen‹? Wir wissen es nicht. Wie auch immer: Eine Orientierung an den altkirchlichen Vätern, die zu unterscheiden wussten zwischen den unveränderlichen Wahrheiten und Mysterien des Glaubens und den zeitbedingten Verhaltensnormen christlicher Gottes- und Nächstenliebe, könnte eine Hilfe für eine Neuorientierung sein, so dass Göttliches und Menschliches in Zukunft besser als heute unterschieden werden kann. Kommen wir zurück zur eingangs gestellten Frage, ob die Differenzen in Bezug auf Schrift, Tradition und Sukzession kirchentrennend sind, so ergibt sich zunächst die Feststellung, dass dies dort nicht der Fall ist, wo ein Unterschied gemacht wird zwischen der Tradition und den Traditionen, weil eine Bezugnahme auf ›Tradition‹ und ›Sukzession‹ nicht von vornherein bedeutet, dass dadurch das, was sich als Skopus der Heiligen Schrift erweisen lässt und, wie Luther formuliert, ›Christum treibet‹,66 ausgeschaltet wird, wenn man nicht, wie beispielsweise die Täufer der Reformationszeit, einem fundamentalistischen Schriftverständis anhängt und auf diese Weise die genannte Unterscheidung unterläuft. Sind doch unter der ›Tradition‹ nicht irgendwelche Vorschriften eines Gesetzbuches, eines unfehlbaren, menschlichen Kirchenoberhauptes oder Kollegiums zu verstehen, sondern vielmehr das, was von den Aposteln her an kirchlicher Verkündigung in Worten und Zeichen als der maßgebliche Inhalt der Heiligen Schrift durch das Wirken des Heiligen Geistes einmütig überliefert wurde. Das ›sola scriptura – solus Christus‹ kann also nicht gegen ›Tradition und Suk66

Vgl. Luthers Schmalkaldische Artikel (1537), in: Bekenntnisse der Kirche. Bekenntnistexte aus zwanzig Jahrhunderten, hg. von Hans Steubing in Zusammenarbeit mit J.F. Gerhard Goeters, Heinrich Karpp und Erwin Mühlhaupt, Wuppertal 1970, S. 91–113; weiterhin Luthers Schrift: »Ein kleiner Unterricht, was man in den Evangelien suchen und erwarten solle« (1522), Luther Deutsch Bd. 5, 191– 203 und vor allem Luthers Großer Katechismus von 1529, in: Luther Deutsch Bd. 3, S. 11–150; sowie »Von den Konzilen und der Kirche« (1539), in: Luther Deutsch Bd. 6, S. 22–43.

7. Der Konsens der Väter und ihre Synoden

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zession‹ ausgespielt werden, weil es infolge des Wirkens des Heiligen Geistes selbst Inhalt der ›Tradition‹ ist und dadurch auch Sinn und Ziel der ›Sukzession‹, d.h. Kontinuität der kirchlichen Verkündigung, darstellt. Denn der von den Aposteln im Auftrag ihres Herrn überlieferte Glaube, wie er in den Glaubensbekenntnissen, in Taufe, Herrenmahl und Handauflegungen übermittelt wird und auch in den Evangelischen Kirchen weiterlebt, wird durch das ›sola scriptura – solus Christus‹ nicht umgestoßen. Vielleicht wird er in den Evangelischen Kirchen weithin minimalisiert, sicher aber wurde durch den reformatorischen Protest gegen das römische Traditions- und Unfehlbarkeitsverständnis einer folgenschweren Fehlentwicklung unüberhörbar widersprochen, nachdem die Stimmen aus dem Osten infolge der dortigen politischen Gegebenheiten weithin verstummt waren. Wie auch immer man die Schuldfrage in Bezug auf die daraus erfolgten Kirchentrennungen im Einzelnen beurteilen mag, jedenfalls haben menschliche Herrschsucht und Rücksichtslosigkeit, sowie deren geschichtliche Folgen, die Kirchen einander entfremdet, so dass ihre Zusammengehörigkeit zur einen Kirche auch für die Gläubigen nicht mehr zu erkennen ist und die Differenzen immer wieder zu Zwistigkeiten und gegenseitigen Verurteilungen Anlass geben. Einzig der Glaube an das Wirken des Heiligen Geistes in der »einen heiligen katholischen und apostolischen Kirche«67 vermag in uns die Hoffnung wach zu halten, dass wir, auch wenn wir meinen, hier weithin noch getrennte Wege gehen zu müssen, doch zu einem gemeinsamen Ziel gelangen werden: der Teilhabe am einen Leib Christi, unseres Herrn und Gottes.

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Das Bekenntnis zur ›einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche‹ im Glaubensbekenntnis ist bedeutsam. Dadurch wird bezeugt, dass die Einheit der Kirche nicht einfach sichtbar gemacht und festgestellt werden kann, sondern erst am Ende der Zeiten in der Vereinigung mit Christus offenbar wird und hier wie die anderen Glaubensartikel geglaubt werden muss.

III. Zum Verständnis von ›homoousios‹ in der Alten Kirche Archimandrit Vater Basilius (Grolimund), Abt der Skite des Heiligen Spyridon, zu seinem Namenstag 2014 gewidmet

Im zweiten Artikel des Glaubensbekenntnisses von Nikäa 325 und Konstantinopel 381 bekennen wir vom Gottessohn, Er sei ›homoousios tô patri‹.1 Wie soll man das übersetzen: »dem Vater wesensgleich«2 oder »wesenseins mit dem Vater«?3 Inwiefern sind die beiden Übersetzungen unterschiedlich? Was ist gemeint mit ›wesensgleich‹ oder ›wesenseins‹? Zunächst ist zu sagen, dass beide Übersetzungen, recht verstanden, dasselbe besagen: »Der Sohn Gottes ist Seinem Wesen nach Gott«. Mit dem Begriff ›homoousios‹ ist also festgehalten, was in der Folge im Bekenntnis ausgeführt wird: »Licht vom Lichte, wahrer Gott vom wahren Gott«. Man kann den hier gemeinten Sachverhalt sowohl mit dem Begriff ›wesenseins‹ wie ›wesensgleich‹ ausdrücken. Nur, dass der Begriff ›wesenseins‹ auch missverstanden werden kann, wie dies ein Blick auf die Auseinandersetzungen um die Trinitätslehre im vierten Jahrhundert zu zeigen vermag. Bereits in einer seiner frühesten Reden (Or. 2, zwischen 6. Jan 362 und 31. März 362) macht Gregor von Nazianz deutlich, dass es unabdingbar ist, sowohl den einen Gott als auch die Dreiheit Seiner ›Hypostasen‹ [Existenzen, unterschiedliche Daseinsweisen, Personen] zu bekennen.4 Und ein oder zwei Jahre später führt er in Bezug auf die Gottheit aus: »Anerkennen wir, dass die Drei nicht Einer sind – denn die Namen sind nicht ohne Hypostasen (zugrunde liegende Existenzen) oder einer einzigen 1

Josef Wohlmuth, Dekrete der Ökumenischen Konzilien. Griechischer und lateinischer Text curantibus Josepho Alberigo / Josepho A. Dossetti / Perikle-P. Joannou / Claudio Leonardi / Paulo Prodi consultante Huberto Jedin, 3. Aufl. Bologna 1973, im Auftrag der Görres-Gesellschaft ins Deutsche übertragen und herausgegeben unter Mitarbeit von Gabriel Sunnus und Johannes Uphus, 2. Aufl. Paderborn 1998, S. 5 und S. 24. 2 So Wohlmuth, Dekrete S. 5 und 24. 3 Katechismus der Katholischen Kirche, Deutsche Ausgabe, München 1993 Nr. 184. 4 Grégoire de Nazianze, Or. 2,38, in: Discours 1–3. Introduction, texte critique, traduction et notes par Jean Bernardi, SChr. 247, Paris 1978, S. 140.

III. Zum Verständnis von ›homoousios‹ in der Alten Kirche

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Hypostase zuzuschreiben, als ob der Reichtum für uns nur in Worten, nicht in der Sache bestünde – sondern, dass die Drei eins sind. Denn sie sind nicht bezüglich der Hypostase eins, sondern hinsichtlich der Gottheit. Die Einheit wird in der Dreiheit verehrt und die Dreiheit wird auf die Einheit zurückgeführt: als Ganze verehrungswürdig, königlich als Ganze, auf einem einzigen Thron, der gleichen Ehre würdig, überweltlich, überzeitlich, ungeschaffen, unsichtbar, unberührbar, unfassbar, allein imstande, die Ordnung in Sich zu begreifen, doch würdig, von uns gleichermaßen Verehrung und Dienst zu empfangen.«5

Und nicht anders urteilt er nach seiner Erhebung zum Patriarchen von Konstantinopel: »Wir beten den Vater und den Sohn und den Heiligen Geist an, indem wir ihre Eigentümlichkeiten [Hypostasen] unterscheiden und ihre göttliche Einheit verkünden. So vermeiden wir es, die Drei zu einer einzigen [Hypostase] zusammenzuziehen, was bedeuten würde, an der Krankheit des Sabellius6 teilzuhaben. Wir vermeiden aber auch, sie in drei voneinander getrennte und sich ausschließende Realitäten zu zerteilen und so den Verrücktheiten des Arius7 zu verfallen. Weshalb denn sollte man, wenn eine Pflanze vollkommen auf eine Seite neigt, sie mit Gewalt auf die andere Seite ziehen, indem man die eine Abweichung durch eine zweite zur anderen Seite hin zu korrigieren trachtet, anstelle sich in den Grenzen der Frömmigkeit zwischen den beiden Extremen zu halten.«8

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Grégoire de Nazianze, Or. 6,22, in: Discours 6–12. Introduction, texte critique, traduction et notes par Marie-Ange Calvet-Serati, SChr. 405, Paris 1995, S. 174f. 6 Sabellius, von Geburt wohl ein Lybier, war einige Zeit in Rom Lehrer einer christlichen Philosophenschule, die am Ende des 2. Jahrhunderts von Praxeas, einem Schüler von Noétius von Smyrna, gegründet worden war und wohl von Papst Viktor (189–190) und Papst Zephyrin (198–217) gefördert wurde. Auch Kallistus (217–222) begünstigte vor seiner Erhebung zum Bischof von Rom diese Schule. Nachdem er aber den Bischofsstuhl bestiegen hatte, exkommunizierte er Sabellius, so dass eine Kirchenspaltung entstand. Sabellius kehrte anscheinend nach seiner Exkommunikation nach Lybien zurück, wo – wie Dionysius von Alexandrien an Dionysius von Rom um 258–260 schreibt – der Sabellianismus weiterhin blühte. Was nun die Lehre der Sabellianischen Monarchianer oder Modalisten, betrifft, so gibt es für sie nur eine göttliche Hypostase (Monarchie, Substanz, Person), die zeitweise, je nach Umständen unter dem ›prosôpon‹ (Angesicht, ›modus‹) des Vaters, des Sohnes oder des Heiligen Geistes in Erscheinung tritt, wie im antiken Theater ein Schauspieler unter verschiedenen Masken unterschiedliche Gestalten darstellt. Die Besonderheiten von Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist sind also nach Sabellius nur momentane, vorübergehende Erscheinungsweisen. 7 Auch Arius und seine Gesinnungsgenossen aller Schattierungen sind Monarchianer, da ihnen die absolute Herrschaft Gottes, des Vaters, zentral wichtig ist. Aber im Unterschied zu den Modalisten (Sabellius) ist für sie allein der Vater ungeschaffen (agennêtos), der Sohn ist ein ›Erzeugnis‹ Gottes, das erste Werk Gottes, vor der Schöpfung der Welt. 8 Grégoire de Nazianze, Or. 20,5, in: Discours 20–23. Introduction, texte critique, traduction et notes par Justin Mossay-Guy Lafontaine, SChr. 270, Paris 1980, S. 61f.

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III. Zum Verständnis von ›homoousios‹ in der Alten Kirche

Nicht anders als Gregor von Nazianz urteilt auch Basilius der Große: Im Dokument, das er Eustathius von Sebaste 374, seinem ehemaligen Freund, den er zur Anerkennung der Göttlichkeit des Heiligen Geistes bekehren will, zur Unterzeichnung vorlegt, hält er fest, man müsse »den Sohn als ›homoousios‹ mit dem Vater bekennen, wie [im Bekenntnis von Nikäa 325] geschrieben steht. Man muss aber in einer eigenen Hypostase den Vater bekennen, in einer eigenen den Sohn und in einer eigenen den Heiligen Geist, was auch die Väter deutlich herausgestellt haben. Denn hinreichend deutlich haben sie mit ihren Worten ›Licht vom Licht‹ angezeigt, dass das zeugende Licht eines ist, das gezeugte aber ein anderes, beides indessen Licht und Licht, so dass die Art der ›ousia‹ [des Wesens] ein und dieselbe ist«.9

Und dafür liefert Basilius nun auch die Begründung: »Es gibt nämlich Leute, die auch in diesem Glaubensbekenntnis ›das Wort der Wahrheit‹ verfälschen (2Kor 4,2) und den Sinn seiner Ausdrücke nach ihrem Belieben interpretieren. So hat doch Markellus [von Ankyra]10 es ge9

Basilius, Ep. 125,1 in: Basilius von Caesarea, Briefe. III. Teil. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Wolf-Dieter Hauschild, BGrL 37, Stuttgart 1973, S. 46. 10 Markell von Ankyra (ca. 280–374) kämpfte 325 gemeinsam mit Ossius von Corduba, Alexander von Alexandrien und Eustathius von Antiochien gegen den Arianismus. Nach der Rehabilitierung Eusebs von Nikomedien wurde er 336 auf einem Konzil in Konstantinopel des Sabellianismus angeklagt. 340 wurde er aus Ankara verjagt und begab sich nach Rom, wo er mit Athanasius zusammentraf. Ein römisches Gerichtsurteil (341), das die beiden Flüchtlinge rehabilitierte, wartete er nicht ab, sondern verreiste in den Osten. Die von Kaiser Konstans seinem Bruder Konstantius vorgeschlagene gemeinsame Synode in Serdica 342 nahmen ihn und Athanasius, noch bevor die östlichen Bischöfe eintrafen, in die Glaubensgemeinschaft auf, was die Ostbischöfe nicht akzeptieren konnten und deshalb die gemeinsame Synode verließen, für sich allein tagten und Athanasius wie Markell erneut exkommunizierten, während die Synodalen des Westens ein Bekenntnis verfassten (›das Serdicense‹), das wohl weitgehend die Handschrift Markells trug. Auf der nachfolgenden Synode in Mailand 345 forderten die östlichen Delegierten nochmals Markells Absetzung und Exkommunikation, konnten sich aber nicht durchsetzen. Immerhin wurde einer seiner Schüler, Photin, verurteilt, und Athanasius distanzierte sich von Markell. Nach Konstans Tod (351) wurde Markell aus der Kirche des Ostreiches ausgestoßen und von Konstantius in die Verbannung geschckt, 371 jedoch von einer ägyptischen Synode unter Athanasius in ihre Kirchengemeinschaft aufgenommen. 373 wies Basilius seinen Bruder Gregor von Nyssa brieflich zurecht, weil er in Ankara Synoden abhalte, d.h. mit den Markellianern freundschaftlich verkehre (vgl. Basilius Caes., Ep. 100, ed. Hauschild, BGrL 3, S. 157, Anm. 29). Was die Theologie Markells betrifft, so sind für ihn Vater, Sohn und Heiliger Geist von Ewigkeit her und in alle Ewigkeit eine ›ousia‹, eine ›hypostasis‹ und ein ›prosôpon‹ (Angesicht, Person). In dieser Dreieinheit Gottes gibt es kein Werden außer der Fleischwerdung des Gottessohnes, durch welche dieser erst zum Abbild des Vaters geworden ist. Markell distanziert sich von Sabellius, indem er bemerkt: »Wer wie die Juden und Sabellius die Ewigkeit und die Einheit des Logos mit dem Vater nicht anerkennt, der kennt Gott überhaupt nicht.«

III. Zum Verständnis von ›homoousios‹ in der Alten Kirche

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wagt, bei seinem Frevel gegen die Hypostase unseres Herrn Jesu Christi [zu bleiben], indem er Ihn [sc. Jesu Christi] als ein bloßes Wort interpretierte [und dafür] von dorther [d.h. aus dem Bekenntnis von Nikäa] die angebliche Begründung entnahm, indem er den Sinn des ›homoousios‹ falsch interpretierte. Und gewisse Vertreter der Gottlosigkeit des Lybiers Sabellius, welche die Identität von ›hypostase‹ und ›ousia‹ [Wesen] annehmen, holen sich von dort den Vorwand, um ihre Lästerungen auszuführen, nämlich aus der Tatsache, dass im Bekenntnis geschrieben steht: ›Welche aber sagen, ... Er [der Sohn] sei aus nicht Seiendem geworden oder aus einer anderen Hypostase oder einem anderen Wesen (ousia), ... diese belegt die Katholische und Apostolische Kirche mit dem ›Anathem‹ [der Verurteilung]«.11 Denn man hat dort nicht dasselbe als ›Ousia‹ und ›Hypostase‹ bezeichnet. Wenn nämlich beide Begriffe einen und denselben Sinn hätten, wozu brauchte man dann damals beide?«12

Dass Basilius in den letzten Jahren seines Lebens verdächtigt wurde, heimlich ein Vertreter der Einhypostasentheologie und Anhänger des Apollinaris von Laodicea13 zu sein, zeigt, wie verworren die theologi(Vgl. Fragmente 66–73 bei Karl Seibt, Die Theologie Markells von Ankyra, AKG 59, Berlin / New York 1994, S. 247.) 11 Vgl. Wohlmuth, Dekrete (wie Anm. 1), S. 5. 12 Basilius, Ep. 125,1; Briefe, ed. Hauschild, BGrL 37, S. 45. (Satzkonstruktion leicht verändert). 13 Apollinaris von Laodicea (ca. 310/5–392) und sein gleichnamiger Vater stammten aus Alexandrien, beherbergten in Laodikea Athanasius bei dessen Rückreise aus dem zweiten Exil 346 und wurden von Bischof Georg, einem Homoiousianer, exkommuniziert. 360 jedoch wurde der jüngere Apollinaris von den Homoousianern zum Bischof geweiht und sah sich als Sachwalter von Athanasius in Syrien. Er hielt in Antiochien gut besuchte Vorträge und schickte einen seiner Schüler, Vitalis, nach Rom, um seine Glaubenslehre vom römischen Bischof anerkennen zu lassen. Nach dessen Rückkehr schloss er sich nicht der homoousianischen Gemeinde des Paulinus an, sondern weihte Vitalis zum zweiten Gegenbischof von Meletius in Antiochien. Als Epiphanius von Salamis, der als Vermittler zwischen Paulinus und Vitalis angerufen worden war, sich auf die Seite von Paulinus stellte, schickte Apollinaris erneut einen Schüler nach Rom mit einem Schreiben, das nicht nur Paulinus und Epiphanius, sondern auch Petrus von Alexandrien, Basilius von Caesarea und Diodor von Tarsus anklagte. 377/8 wurde er aber von Rom verurteilt, auf dem Konzil 381 in Konstantinopel dann unter die Häretiker gezählt und 382 in Rom nochmals verurteilt. In Antiochien jedoch konnte sich Vitalis halten. Erst 388 erwirkte Gregor von Nazianz durch Nektarius seinen Nachfolger in Konstantinopel beim Kaiser ein Verbot seiner Lehre, die Apollinaris aber durch pseudonyme Schriften weiter verbreitete. Nach seiner Lehre sind Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist eine Gottheit, eine ›hypostasis‹, eine ›Natur‹, ein ›nous‹ (eine Vernunft). In Maria hat der Sohn Gottes einen menschlichen Leib ohne Seele angenommen, durch die Vereinigung mit Seinem ›nous‹ diesen Leib vergottet und Ihn zu ›einer Natur des fleischgewordenen Gottes‹ gemacht. Christus ist also nicht ›Gott und Mensch‹, sondern als ›Logos und Sohn Gottes‹ ganz Gott. Seiner Vernunft (Seinem ›nous‹) muss sich die menschliche Vernunft unterwerfen und über den Leib und seine Affekte die Herrschaft gewinnen. Nur so wird die Menschheit erlöst und vergöttlicht. Vgl. Alois Grillmeier, Jesus der Christus im

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III. Zum Verständnis von ›homoousios‹ in der Alten Kirche

schen Debatten damals waren: Eustathius von Sabaste verbreitete 373/74 einen Brief von Basilius, den dieser wohl zwischen 350 und 355 an Apollinaris von Laodicea gesandt hatte und in welchem er, noch ganz seiner origenistisch-eusebianischen Herkunft verhaftet, den berühmten Theologen anfragte, was der Sinn des ›homoousios‹ im Bekenntnis von 325 sei. Da dieser theologisch unverfängliche Brief 373/4 zusammen mit einer nicht namentlich gekennzeichneten Abhandlung von Apollinaris an die Öffentlichkeit gebracht wurde, entstand der von Eustathius bewusst erzeugte Eindruck, Basilius sympathisiere mit Apollinaris, was ihn seinen Gesinnungsgenossen, Meletius von Antiochien und Theodotus von Nikepolis, suspekt machte, so dass er mit offenen Briefen an Eustathius,14 an den Klerus und die Mönche,15 wie auch mit seiner Schrift ›De Spiritu Sancto‹16 mühsam versuchen musste, das verlorene Vertrauen seiner Freunde wiederzugewinnen. Wie Basilius selbst das ›homoousios‹ interpretiert und verstanden wissen wollte, verrät ein um 375/6 entstandener Brief an eine Frauengemeinschaft in der Nähe von Colonia in Kappadokien, die befürchtete, dieser Begriff verleite zum Sabellianismus, und die sich über ihren Bischof an Basilius gewandt hatte. Basilius versucht den Frauen klar zu machen, dass gerade dieser Begriff den Sabellianismus verhindere. Er schreibt: »Dieser Begriff beseitigt auch das Übel des Sabellius. Denn er macht die Identität der Existenzen (Hypostasen) unmöglich [d.h. verhindert, dass die Einzelwesen als identisch angesehen werden] und gibt eine vollkommene Vorstellung von den Sachverhalten. Etwas Bestimmtes kann ja nicht mit sich selbst ›homoousios‹ sein, sondern eines mit einem anderen. Deswegen verhält der Begriff sich gut und fromm, weil er die Eigenexistenz der Hypostasen definiert und die Nichtunterschiedenheit der Natur ausdrückt.«17

Genau diesen Hinweis hatte Basilius in den fünfziger Jahren von Apollinaris bekommen, was es ihm wohl ermöglicht hatte, das ›homoousios‹ im Sinne von ›homoios kat' ousian‹ zu verstehen und anzunehmen. Basilius hatte in seiner Anfrage damals auch die Meinung bekundet, die Formulierung ›homoios kat' ousian‹ sei exakter und zuGlauben der Kirche. Band 1: Von der Apostolischen Zeit bis zum Konzil von Chalcedon (451), Freiburg i.Br. 1979, S. 480–497. 14 Basilius, Ep. 223; Briefe, ed. Hauschild, BGrL 37, S. 45–51. 15 Basilius, Ep. 224 und 226; Briefe, ed. Hauschild, BGrL 37, S. 51–54 und 55–59. 16 Vgl. Basile de Césarée, Sur le Saint-Esprit. Introduction, texte, traduction et notes par Benoît Pruche, SChr. 17 bis, 2.Aufl. Paris 1968; Basilius von Cäsarea, Über den Heiligen Geist. Eingeleitet u. übersetzt von Manfred Blum, Sophia 8, Freiburg i.Br. 1967; Basilius von Cäsarea, De Spiritu Sancto. Über den heiligen Geist, Text, Übersetzung und Einleitung von H.-J. Sieben, Fontes Christiani 12, Freiburg i.Br. 1993. 17 Basilius, Ep. 52,3; Briefe, 1. Teil, ed. Hauschild, BGrL 32, Stuttgart 1990, S. 116.

III. Zum Verständnis von ›homoousios‹ in der Alten Kirche

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treffender, weil die Gleichheit des Sohnes mit dem Vater sich auf Ihr Wesen (›ousia‹), nicht auf Ihre Existenz (›hypostasis‹, Person-Sein) beziehe. Apollinaris räumte ein, dass der Begriff ›homoousios‹ sich auf zwei oder mehr Dinge beziehen könne, »speziell bei zwei Menschen oder irgend etwas anderem, das der Art nach sich gleich ist, so dass auf diese Weise zwei und mehr Dinge hinsichtlich des Wesens identisch sind, wie beispielweise wir Menschen alle Adam und damit gleich sind oder wie Davids Sohn David ist, weil er gleicher Art wie jener ist, oder wie Du zutreffend vom Sohn sagst, dass Er hinsichtlich des Wesens das sei, was der Vater ist«.18

Diese Erklärung des Begriffs ›homoousios‹ konnte Basilius akzeptieren. Was ihm an der Theologie eines Sabellius, Markell von Ankyra, eines Apollinaris, aber auch eines Paulinus von Antiochien und dessen westlichen Befürwortern, Mühe machte, war einzig der Sachverhalt, dass diese den spezifischen Besonderheiten der ›Hypostasen Gottes‹ nicht genügend Beachtung schenkten und so letztlich die Möglichkeit preisgaben, den christlichen Glauben in seinem heilsgeschichtlichen Zusammenhang zu verstehen. In einem Brief an Amphilochius von Ikonium schreibt Basilius 375/6: »... wenn wir nicht bei Jeder [sc. jeder göttlichen Hypostase] die abgegrenzten Eigentümlichkeiten bedenken – wie zum Beispiel Vaterschaft, Sohnschaft und Heiligung –, sondern Gott [nur] aufgrund des gemeinsamen Begriffs des Seins bekennen, ist es unmöglich, auf gesunde Weise vom Glauben Rechenschaft abzulegen. Wir müssen also dem Gemeinsamen das Spezifische hinzufügen und so den Glauben bekennen. (...) Damit müssen wir insgesamt die Einheit bewahren durch das Bekenntnis zu der einen Gottheit und das Spezifische der Hypostasen bekennen (...). Diejenigen aber, die Wesen (Ousia) und Existenz (Hypostasis) als dasselbe bezeichnen, werden genötigt, völlig unterschiedliche Personen zu bekennen, und stellen sich, wenn sie vermeiden [wollen], von drei Existenzen (Hypostasen) zu sprechen, sich als solche heraus, die das Übel des Sabellius nicht scheuen, welcher selbst oft, indem er den Begriff vermischt, die Personen zu differenzieren versucht, wobei er sagt, dass dieselbe Existenz (Hypostase) ihre Gestalt ändere je nach dem jedesmal sich ergebenden Bedürfnis.«19

Und in einem Brief an den Comes Terentius zieht Basilius das Fazit: »Wenn aber auch wir unsere Ansicht kurz vortragen sollen, behaupten wir folgendes: In genau dem Verhältnis, in welchem das Allgemeine zum Besonderen steht, steht auch das Wesen (Ousia) zur Existenz (Hypostasis). Denn jeder von uns hat mit dem allgemeinen Begriff ›Wesen‹ (Ousia) am Sein teil und ist durch die ihn betreffenden Spezifika der und der. So ist auch der Begriff ›Wesen‹ (Ousia) allgemein wie zum Beispiel die ›Güte‹, die 18 19

Basilius, Ep. 362; Briefe, ed. Hauschild, BGrL 37, S. 177f. Basilius von Caesarea, Briefe. Dritter Teil. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Wolf-Dieter Hauschild, BGrL 37, Ep. 236,6 Stuttgart 1973, S. 74f.

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III. Zum Verständnis von ›homoousios‹ in der Alten Kirche ›Gottheit‹ oder sonst etwas anderes, was man denken mag. Die Existenz (Hypostase) aber wird im Spezifikum der Vaterschaft, der Sohnschaft oder der heiligenden Kraft erblickt. Wenn sie nun die Personen als hypostaselos bezeichnen, ist diese Redeweise ohne weiteres unsinnig; wenn sie aber zugeben, dass sie in einer wirklichen Hypostase sind, dann sollen sie das, was sie bekennen, auch in der Zahl ausdrücken, damit sowohl der Begriff ›wesensgleich‹ (›homoousios‹) in der Einheit der Gottheit bewahrt wird als auch die fromme Erkenntnis des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes in der vollständigen, vollendeten Hypostase jedes der Genannten verkündet wird.«20

Trotz dieser klaren Argumentation kam Basilius um die Mitte der 80iger Jahre unter doppelten Beschuss: Seinen Freunden missfiel, dass er sich nicht entschiedener für die Göttlichkeit der Hypostase des Heiligen Geistes einsetzte. Die westlichen Theologen samt Athanasius und der Gemeinde des Paulinus von Antiochien misstrauten ihm, weil er an der Dreiheit der göttlichen Hypostasen mit Entschiedenheit festhielt. Dieses Misstrauen hatte wohl auch sprachlich-philosophische Hintergründe. Tertullian (ca. 150 bis nach 220) hatte durch seinen stoischen Denkansatz ›ousia‹ durch den Begriff ›substantia‹ ins Lateinische übertragen. Gott als Vater, Sohn und Heiliger Geist sind also ein substantielles Wesen, jedoch nicht eine Person, sondern drei Personen.21 Nun ist aber der Begriff ›substantia‹ die wörtliche Übersetzung von ›hypostasis‹. Wenn die östlichen Theologen also von drei Hypostasen sprechen, liegt im Westen der Verdacht nahe, sie sprächen von drei getrennten Wesenheiten, stünden also dem Arianismus nahe. Umgekehrt misstrauten die östlichen Theologen dem Begriff ›persona‹, da sie in ihm die Übertragung des Begriffs ›prosôpon‹ (Antlitz, Maske, Schauspielerrolle) erkannten und die Nähe zu Sabellius befürchteten. Gregor von Nazianz konzediert zwar an einigen Stellen seiner Reden, man könne die drei Hypostasen Gottes auch ›Personen‹ nennen, wenn klar sei, dass es dabei nicht um eine Wandelbarkeit von Wesen und Natur Gottes [also um Schauspielerrollen] gehe, sondern um die eigentümlichen Verschiedenheiten Seiner Daseinsweisen. Er begründet seine den westlichen Gepflogenheiten entgegenkommende Haltung damit, dass es nicht angemessen sei, sich über bloße Worte zu streiten.22 Hinsichtlich der Unterscheidung zwischen der einen göttlichen Natur und der Dreiheit der Hypostasen der Gottheit aber kennt er in seinen theologischen Ausführungen keine Kompromisse. Dennoch scheint er während und nach seinem Amt als Patriarch in Konstantinopel ein gewisses Verständnis für die westliche Position gefunden zu haben. Wie anders hätte er sonst dafür plädieren können, dass man Paulinus von

20 21 22

Basilius, Ep. 214,4, ed. Hauschild, BGrL 37, S. 33. Vgl. Tertullian, Adversus Praxeas 25; Apologie 21,13. Gregor v. Nazianz, Or 39,11; vgl. auch Or. 20,6; 42,16.

III. Zum Verständnis von ›homoousios‹ in der Alten Kirche

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Antiochien nach dem Tod des Meletius den Metropolitenstuhl bis zu seinem Ableben überlasse und erst dann einen Nachfolger wähle.23 Was Gregor von Nyssa (335/40–394), den jüngeren Bruder von Basilius dem Großen, betrifft, so haben wir bereits gehört, dass er in der Zeit als Bischof in Nyssa mit Markellianern in Ankyra freundschaftlichen Umgang pflegte und dafür von Basilius gerügt wurde.24 Nach Basilius’ Tod (1. Jan. 379) wehrt er sich in einem Brief gegenüber dem Vorwurf, er habe Markellianer, ohne sie zu prüfen, in die Gemeinschaft der Orthodoxen aufgenommen. Er beruft sich auf einen Auftrag ›der Brüder und Kollegen des Ostens‹25 und versichert, die Aufnahmen seien nicht ungeprüft geschehen. »Die sich aber nach der Richtschnur (Kanon) der Wahrheit richten (Gal 6,16) und sich fromm zu den drei Hypostasen bekennen, die sie rechtgläubig in ihren Eigenheiten erkannt haben, und glauben, dass es nur eine Gottheit (theotêta), ein Gutes (agathotêta), eine Herrschaft (archên), eine Macht (exousian) und Kraft (dynamis) (1Kor 15,24) gibt, und die nicht die Stärke (kratos) der Alleinherrschaft (monarchia) leugnen, noch in Polytheismus verfallen, noch die Hypostasen vermischen, noch die Heilige Dreiheit zusammensetzen aus Wesen, die unterschiedlicher Herkunft und ungleich sind, sondern die in Einfalt den Glaubenssatz (to tês pisteôs dogma) annehmen und alle ihre Hoffnung darauf setzen, dass ihre Rettung (1Thess 5,8) in Vater, Sohn und Heiligem Geist liege, diese denken unserer Meinung nach dasselbe wie die, unter denen auch wir Anteil am Herrn zu haben erflehen.«26

Nicht anders als die drei großen Kappadokier verhielt sich in dieser Frage auch die Kirche, deren Bischof Meletius von Antiochien war und an deren Asketenschule Diodor, der spätere Bischof von Tarsus lehrte, zu dessen Schüler Theodor von Mopsuestia (ca. 350–428) und Johannes Chrysostomus (ca. 349–407) gehörten. Theodor sagt zu Mt 28,19 in seinen Katechetischen Homilien, die allerdings uns nur noch in syrischer Übersetzung zugänglich sind, da das griechische Original bis auf kleine Reste verloren ist: »Es ist offenkundig, dass auch dem Heiligen Geist und Ihm allein aufgrund Seiner Nennung zusammen mit dem Vater und dem Sohn, da Er von dersel-

23

Vgl. meine Ausführungen in: Alte Kirche Bd. III: Gottes Dreiheit – des Menschen Freiheit, Neukirchen-Vluyn 2003, 1.7.2.3, S. 136. 24 Vgl. oben Anm. 10. 25 Es handelt sich wohl um einen Auftrag der Antiochenischen Synode von 379, an der Gregor teilgenommen hatte. 26 Grégoire de Nysse, Lettres. Introduction, texte critique, traduction, notes et index par Pierre Maraval, SChr. 363, Paris 1990, Brief Nr. 5,9 S. 162–163; Gregor von Nyssa, Briefe. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Dörte Teske, BGrL 43, Stuttgart 1997, Nr. 5, S. 52f.

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III. Zum Verständnis von ›homoousios‹ in der Alten Kirche ben Natur (physis) ist, die von Ewigkeit existiert und Ursache aller Dinge ist, wahrhaft der Name Gott und Herr gebührt.«27

Johannes Chrysostomus hat eine Reihe Predigten über die Unverstehbarkeit Gottes gehalten, in denen er u.a. ausführt: Es gelte Gott anzubeten als den unaussprechlichen, unbegreifbaren, unsichtbaren und unverstehbaren Herrn, der auch von den Ihm dienenden Engelchören in Seinem Wesen nicht erkannt werden könne.28 Einzig der Sohn Gottes und der Heilige Geist, die dem Vater wesensgleich, wenn auch eigenständige Hypostasen seien, könnten Gott vollkommen erkennen, wie Er ist.29 Wir sehen also, dass die orthodoxen kappadokischen und antiochenischen Theologen des 4. Jahrhunderts unter dem ›homoousios‹ sowohl die wesensgleiche Göttlichkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist verstanden wie auch die personalen Verschiedenheiten der drei göttlichen Hypostasen gewahrt sahen, während man im lateinischen Westen und bei dessen alexandrinischen und antiochenischen Parteigängern vor einem mehr oder weniger versteckten Sabellianismus nicht gefeit war. Hier machte sich das mit der lateinischen Sprache verbundene stoische Denken bemerkbar, das die Wesensgleichheit als substantielle Wesenseinheit fasste und die existenziellen Verschiedenheiten sich als ›Personen‹ vorstellte, die gemäß antiker Tradition leicht als Schauspielermasken missverstanden werden konnten. Für uns heute stellt der Begriff der göttlichen ›Personen‹ keine Gefahr der Verführung zum Sabellianismus mehr dar. Denn während der antike Begriff ›persona‹ weitgehend vom Wechsel des ›Gesichtes‹ oder der ›Maske‹ des Schauspielers her bestimmt war, schließt der moderne Begriff der ›Person‹ Eigenständigkeit und festgefügte charakterliche Prägung mit ein. Wenn wir also heute von den ›drei göttlichen Personen: Vater und Sohn und Heiliger Geist‹ reden, treffen wir das von den kappadokischen und antiochenischen orthodoxen Vätern mit dem Begriff der ›Hypostasen‹ Gemeinte recht gut. Anders steht es mit den Begriffen ›wesenseins‹ oder ›wesensgleich‹. Falls für den Begriff ›homoousios‹ gilt, was Basilius meinte, wenn er, den Gedanken des Apollinaris aufnehmend, der verunsicherten Frauengemeinschaft in Colonia das Argument weitergab, dass »etwas Bestimmtes ja nicht mit sich selbst ›homoousios‹ sein könne, sondern 27

Theodor von Mospsuestia, Katechetische Homilien IX,5. Übersetzt und eingeleitet von Peter Bruns, FC 17/1, Freiburg i.Br. 1994, S. 207. Vgl. auch Kat. Hom. II,2–3, daselbst S. 91f. und Kat. Hom. IX,15, daselbst S. 215f. 28 Jean Chrysostome, Sur l’incompréhensabilité de Dieu, Texte traduit par Robert Flacelière et présenté par Jean-Yves Leloup, Spiritualités Chrétiennes, Paris 1993, Homélie III, S. 105–126. 29 Jean Chrysostome, Sur l’incompréhensabilité de Dieu, ed. Flacelière/Leloup, Homélie IV et V, S. 127–163.

III. Zum Verständnis von ›homoousios‹ in der Alten Kirche

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[nur] eines mit einem anderen«, dann ist ›wesensgleich‹ die zutreffende Übersetzung von ›homoousios‹. Der Begriff ›wesenseins‹ dagegen ruft bewusst oder unbewusst die Vorstellung von einer undifferenzierten »personalen Einheit« (im heutigen Sinn des Wortes) hervor, was, wie schon Basilius feststellte, ein Sich-Rechenschaft-Geben über den christlichen Glauben letztlich verunmöglichen würde. Denn wie soll man von Gott reden, wenn man nicht von der Menschwerdung Seines Sohnes reden kann; wie soll man von Christus reden, wenn der Heilige Geist außer Sicht bleibt? In Bezug auf die Trinität von ›wesensgleich‹ statt von ›wesenseins‹ zu reden, obwohl beides – recht verstanden – das Gleiche besagt, ist letztlich eine Verständnishilfe, die verhindert, dass die Einheit des Wesens Gottes missverstanden wird als Einheit in einer Person (Hypostase). Denn wenn ich sage, dass zwei Erscheinungen (seien es Dinge oder Personen) eines Wesens (also: wesenseins) sind, lässt sich das zwar auch dahingehend verstehen, dass sie hinsichtlich ihres Wesens gleich sind (also: wesensgleich), aber man kann auch verstehen, dass sie völlig identisch und damit ohne Differenzierung eins sind, wie dies Sabellius behauptete. Diese begriffliche Unklarheit hat sich auf dem Hintergrund der Übersetzung Tertullians von ›ousia‹ in ›substantia‹ und ›hypostasis‹ in ›persona‹ im vierten Jahrhundert so ausgewirkt, dass die römischen Theologen und mit ihnen auch Paulinus, Epiphanius und Hieronymus in Antiochien den antiochenischen Meletianern und den Kappadokiern, insbesondere Basilius, vorwarfen, sie seien heimliche Arianer, die die göttliche Einheit zugunsten der drei Hypostasen auflösen würden. Deshalb blieb der Hilferuf von Basilius an die westlichen Bischöfe, dem Osten gegen den mit kaiserlicher Unterstützung wachsenden Arianismus zu Hilfe zu kommen, ungehört. Das verursachte nicht nur Basilius und den Seinen leidvolle Bedrängnis, sondern hinterließ auch ein bleibendes Misstrauen und eine weitgehende theologische Entfremdung zwischen den Kirchen in Ost und West. Um solche Missverständnisse und Missdeutungen zu vermeiden, scheint es mir ratsam, im deutschen Text des Glaubensbekenntnisses den Begriff ›homoousios‹ mit ›wesensgleich‹ zu übersetzen.30 Dadurch werden die Gläubigen darauf hingewiesen, dass Gott Vater, Gott Sohn und Gott Heiliger Geist zwar inbezug auf das Ihnen zugrunde liegende göttliche Wesen gleich, aber dennoch in ihrer Ansprechbarkeit als Personen zu unterscheiden sind.

30

Denn auch in der deutschen Sprache kann ›Wesen‹ in unterschiedlichem Sinn gebraucht werden: Man kann von einem Menschen sagen, er sei ›ein liebes‹ oder ›schlichtes Wesen‹ und damit die Person in ihrer Besonderheit meinen; oder man kann sagen, er habe ein ›gutes Wesen‹ und damit auf seinen Charakter, also auf das, was seine Person ausmacht, hinweisen.

IV. Die Bedeutung der Verklärung Christi nach Predigten altkirchlicher und byzantinischer Kirchenväter

Die östliche Christenheit kennt im Hochsommer ein Fest,1 das manche Gläubige, da es eines der stillen Feste ist, besonders lieben. Schon sein Festtropar,2 das in allen Gottesdiensten dieses Tages vorgetragen wird, verrät etwas von seiner Besonderheit: »Auf dem Berge wurdest Du verklärt, Christus Gott, und Deine Jünger schauten Deine Herrlichkeit, wie sie dies vermochten, auf dass sie Dein freiwilliges Leiden erkennen könnten, wenn sie Dich gekreuzigt sähen, der Welt aber verkündeten, dass Du in Wahrheit bist der Abglanz des Vaters.«3

Und als Kontakion4 dieses Festtages wird gesungen: 1

Das Datum dieses Festes (am 6. August nach dem Gregorianischen Kalender; nach dem Julianischen Kalender am 19. August) hat seinen Ursprung darin, dass es aus dem Kirchweihfest der von der Kaisermutter Helena in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts auf dem Thabor gebauten Verklärungskirche entstanden ist. Es wurde wohl erst Ende des 7. Jahrhunderts in den Kalender der Reichshauptstadt aufgenommen. Vorher wurde es nur in Jerusalem gefeiert als Patrozinium der ehrwürdigen Thaborkirche. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist es durch Andreas von Kreta (ca. 660–740) in Konstantinopel eingeführt worden, während dieser 685–692 Diakon der Hagia Sophia war, bevor er 692–740 Bischof in Gortyna (Kreta) wurde. Er scheint das Typikon des Jerusalemer Sabbasklosters, das Patriarch Sophronios (634–638) eingeführt hatte, also den Kalender mit Anweisungen für die im Kirchenjahr zu feiernden Gottesdienste, auf die byzantinische Staatskirche (die ›Große Kirche‹) übertragen zu haben. Vgl. Maurice Sachot, L’homélie Pseudo-Chrysostomiènne sur la Transfiguration CPG 4724, BHG 1975, Contextes liturgiques, Restitution à Léonce, prêtre de Constantinople. Edition critique et commentée, Traduction et études connexes. Europäische Hochschulschriften Serie XXIII, Théologie Bd. 151, Frankfurt a.M. / Bern 1981, S. 22–37. 2 Festtropar, d.h. das ›Apolytikion‹; es wird nicht nur am Ende von Vesper und Orthros gesungen, sondern auch wiederholt in der Eucharistischen Liturgie. Und selbst in den Gebeten der Tageszeiten kommt es zum Vortrag. 3 Mênaion tou Augoustou tês Agias tou Christou Megalês Ekklêsias tês Ellados, Epistasia Geôrgiou G. Gegle, Mich. Saliberos, Athen (o.J.), S. 53f.; Vgl. Mysterium der Anbetung, Bd. I: Göttliche Liturgie und Stundengebete der Orthodoxen Kirche, hg. von Erzpriester Sergius Heitz, übersetzt und bearbeitet von Susanne Hausammann und Sergius Heitz, Köln 1986, S. 708. 4 Das Kontakion ist eine Kurzfassung des Festmysteriums, die ihren primären Ort nach der 6. Ode im Morgendienst (Orthros) hat.

IV. Die Bedeutung der Verklärung Christi

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»Verklärt wurdest Du auf dem Berge, Christus Gott, und zeigtest Deinen Jüngern Deine Herrlichkeit, wie sie diese zu fassen vermochten. Laß strahlen auch uns, Sündern, Dein ewiges Licht. Auf die Fürbitten der Gottesgebärerin, Spender des Lichtes, Ehre dir!«5

In den beiden zitierten Festzusammenfassungen wird betont, dass die Apostel den Lichtglanz Christi schauten, ›wie sie es vermochten‹. Bereits Origenes hat diesem Sachverhalt seine Aufmerksamkeit geschenkt. Er sagt von Christus, dieser gebe sich niemandem zu erkennen über das Maß hinaus, das dem, der Ihn erkennt, zuträglich sei.6

Und Johannes Chrysostomus schreibt in seiner Auslegung von Mt 17,9: »Aber wenn wir nur wollen, so können auch wir Christus sehen, nicht bloß so wie die Apostel damals auf dem Berge, sondern noch viel strahlender, denn später (am jüngsten Tag nämlich) wird Er nicht mehr bloß so erscheinen (wie hier auf dem Berge). Hier offenbarte Er aus Rücksicht auf die Jünger nur soviel von Seinem Glanze, als sie ertragen konnten; am Ende der Zeiten aber wird Er wiederkommen in der ganzen Herrlichkeit des Vaters, nicht bloß mit Mose und Elia, sondern mit dem unübersehbaren Heer der Engel, mit den Erzengeln und Cherubim, mit den endlosen Scharen des Himmels; und dazu wird nicht bloß eine Wolke über Seinem Haupte erscheinen, sondern der Himmel selbst wird Ihn umhüllen.«7

Die Rücksichtnahme auf das Fassungsvermögen der Schauenden ist also nach Chrysostomus bedingt durch die körperliche und geistige Begrenztheit der Jünger. So wird dies auch in einer Predigt, die zumeist Ephraim dem Syrer zugeschrieben wird, aber wohl von Basilius von Seleukia aus der Zeit um 451 stammt, gesehen, wenn gesagt wird: »Er [Christus] zeigte ihnen [den Jüngern] Seine Herrlichkeit nicht uneingeschränkt, sondern nur in dem Maße, wie ihre Augen sie aufnehmen konnten.«8 5

Mênaion tou Augoustou (wie oben Anm. 3), S. 50.; Vgl. Heitz, Mysterium der Anbetung S. 707. 6 Éduard Divry, La Transfiguration selon l’Orient et l’Occident. Grégoire Palamas – Thomas d’Aquin vers un dénouement oecuménique, Collection ›Croire et Savoir‹ 54, Paris 2009, S. 139f. 7 Chrysostomus, Kommentar zu Mt 17,9, Homilie 56,4, ed. Baur, BKV 26, S. 199. 8 Michel Coune, Joie de la Transfiguration d’après les Pères d’Orient, Spiritualité Orientale 39, Bellefontaine 1985 (in der franz. Übersetzung von Michel von Esbroeck) S. 101.

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IV. Die Bedeutung der Verklärung Christi

Auch noch eine Predigt über Mt 16,21–17,9, die von dem 518 in einer Petition gegen Severus von Antiochien bezeugten ›Leontius, Priester von Konstantinopel‹ überliefert sein soll,9 interpretiert den Sachverhalt auf diese Weise, da hier zu lesen ist: »Er [Christus] gab ihnen [den Jüngern] volle Zusicherung [der unsichtbaren Herrlichkeit (›doxa‹) des kommenden Reiches], indem Er ihnen die göttliche ›doxa‹ Seines unsichtbaren Reiches zu erkennen gab, nicht so, wie sie in Wirklichkeit war, sondern in dem Maße, wie es die geöffneten leiblichen Augen ertragen konnten; um sie zu schützen, nicht um sie davon auszuschließen. Er zeigte ihnen nicht die ganze Herrlichkeit Seines unsichtbaren göttlichen Reiches, damit sie nicht mit der Schau auch ihr Leben verlören«.10

Von Anastasius dem Sinaiten ist aus der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts eine Predigt überliefert, in der er beschreibt, wie »die Apostel plötzlich mit ihren offenen geistigen Augen das kommende Reich der Himmel sahen, soweit sie es sehen konnten, jedenfalls sicher mehr, als sie es vordem gesehen hatten«.11

Anders dann Johannes von Damaskus, in einer Predigt zum Fest der Metamorphôsis (Verklärung), die er wohl als Priester in Jerusalem in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts gehalten hat. Beeinflusst durch den monastischen Hesychasmus12 betont er die Bedeutung des Gebetes für die Schau Gottes: »Der Herr führte die Jünger auf den Berg, um zu beten (Lk 9,28). Die ›Hesychia‹ ist die Mutter des Gebetes und das Gebet ist die Offenbarung der Herrlichkeit Gottes. Denn, wenn wir die Pforten unserer Sinne geschlossen haben und bei uns selbst sind und bei Gott und frei sind von dem, was in der äußerlichen Welt geschieht, uns in uns selbst befinden, dann werden wir in uns selbst klar das Reich Gottes schauen. ›Denn das Reich der Himmel, das Reich Gottes, ist inwendig in uns‹ (Lk 17,21), das hat Christus, unser Gott, verkündet.«13

Für Johannes von Damaskus ist es also bedeutsam, dass Jesus Seine Jünger zum Gebet auf den Berg führte: Denn nur betend kann man die Dinge schauen, die unsichtbar sind:

9 10

So Sachot, L’homélie Pseudo-Chrysostomiènne S. 160f. und S. 451–463. Vgl. Sachot, L’homélie Pseudo-Chrysostomiènne sur la Transfiguration S. 318f. 11 Coune, Joie de la Transfiguration S. 161f. 12 ›Hesychasmus‹ bezeichnet eine monastische Gebetspraxis, die Gott in der vollständigen ›Ruhe der Seele‹ (›Hesychia‹) im ›monologistischen‹ (sich auf einen Gedanken konzentrierenden) Gebet durch Wiederholungen von Gebetsformeln (z.B. ›Kyrie eleison‹) sucht. 13 Coune, Joie de la Transfiguration S. 197.

IV. Die Bedeutung der Verklärung Christi

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»Nachdem man das Irdische auf Erden gelassen und den elenden Leib überstiegen (Phil 3,21) hat und zum höchsten und göttlichen Gipfel der Liebe geführt worden ist, muss man das betrachten, was man nicht sieht. Denn wer auf dem Gipfel der Liebe angekommen und in gewisser Weise aus sich selbst herausgetreten ist, versteht das Unsichtbare; wer, indem er die Dunkelheit der körperlichen Wolke überfliegt, die den Tag bedeckt, angekommen ist bei der Heiterkeit der Seele, der schaut die Sonne mit mehr Sehschärfe, obwohl er sich an dieser Vision nicht voll sättigen kann.«14

Keiner der Hesychasten hat dann aber die Schau des Thaborlichtes so eng mit dem Gebet verknüpft wie Simeon der Neue Theologe (949–1022). Gemeint ist aber nicht jedes Gebet, sondern nur das sich nach Gottes Gegenwart sehnende, reinigende Gebet in Demut, Reue, Buße und Tränen. Immer und überall soll man so beten, in der Kirche wie in der Zelle.15 Denn es ist die Intensität des Gebetes, welche die Seele reinigt und die Herabkunft des Heiligen Geistes zur Folge hat, die sich in der Schau des göttlichen Lichtes sowie in Visionen und Auditionen bekundet.16 »Wenn Christus gesagt hat, dass Gott schauen werden, die reinen Herzens sind (Mt 5,8), so ist es sicher, dass, wenn die Reinheit erreicht ist, auch die Gottesschau (theôria) ihr folgt. Im übrigen, wenn du dich einmal gereinigt hättest, würdest du wissen, dass diese Verheißung wahrhaftig ist. Aber weil du diese nicht zu Herzen genommen hast, weil du nicht an deren Wahrheit geglaubt hast, hast du auch die Reinigung vernachlässigt und die Gottesschau verpasst. Wenn es hier unten Reinigung gibt, dann gibt es auch die Gottesschau. Aber wenn du sagst, die Gottesschau werde es nach dem Tode geben, wirst du wohl auch die Reinigung auf die Zeit nach dem Tod verlegen, und so wirst du niemals Gott schauen, weil du nach dem Abscheiden keinerlei Tätigkeiten mehr ausüben wirst, die dir die Reinigung erlauben.«17

Hilarion Alfeyew meint, Simeon sei der erste und einzige gewesen, der das Ziel von Askese und Gebet im Empfang von Lichtvisionen gesehen habe.18 Selbst wenn Simeon bezüglich der Verbindung von Gebet und Schau des göttlichen Lichtes eine Extremposition eingenommen hat, 14 15

Ebd. Hymnus 55, 28–37, in: Symeon der Neue Theologe, Lichtvisionen. Hymnen über die mystische Schau des göttlichen Lichtes. Aus dem Griechischen übertragen von Lothar Heiser, Literatur – Medien – Religion, Bd. 18, Berlin 2006, S. 277. 16 Vgl. Hymnus 24,9–19 und 51–58, ed. Heiser S. 138f. 17 Syméon le Nouveau Théologien, Traité Éthique V,115–125, in: Traités Théologiques et Éthiques. Introduction, texte critique, traduction et notes par Jean Darrouzès. Tome II, SChr. 129, Paris 1967, S. 88f. 18 Ilarion Alfeev, Il tema della luce divina in Simeone il Nuovo teologo, in: Sabino Chialà, Lisa Cremaschi e Adalberto Mainardi, monaci di Bose, Il Christo transfigurato nelle traditione spirituale ortodossa, Atti del XV Convengo ecumenico di Bose, Bose 16–19 settembre 2007, Bose 2009, S. 217–243, bes. S. 243.

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IV. Die Bedeutung der Verklärung Christi

so versteht doch auch Gregor Sinaïtes (1255/65–1346) das ›reine Gebet‹ als den Ort, an dem das Thaborlicht erfahren werden kann.19 Nach Gregor hat das Gebet drei Stufen: Der Anfang des Gebetes ist eine mentale Arbeit der Reinigung des Herzens; die Mitte ist das Vermögen der Erleuchtung und Kontemplation; das Ende ist die Ekstase und Entrückung des Geistes (der mens) zu Gott.20 Das Ziel ist die Vergöttlichung als ein hier beginnender und im Jenseits sich vollendender Prozess.21 Dieser wird vorabgebildet in der Verklärung Christi, wie sie Mt 17,1–9 erzählt. Der Weg der Vergöttlichung aber führt von der Dunkelheit zum Licht, vom Horeb zum Tabor, von der Tugend zur Verherrlichung (»doxa«). Der Gott, der auf dem Horeb noch erschreckend war und in Dunkelheit und Feuer erschien, redet auf dem Thabor menschenfreundlich mit Mose und Elias und verheißt die Sohnschaft durch Adoption.22 Sowohl Moses wie Elia waren ja – jeder zu seiner Zeit – von Gott auf den Horeb gerufen worden und haben hier das Gesetz und das Priestertum erhalten. Beide waren auch Gottschauende und Zeugen des göttlichen Lichtglanzes (lamprotêta). Sie standen als Zeugen der Theophanie bei Christus, der eine [Mose] auserwählt aus dem Grabe, der andere [Elia] herabgekommen aus dem Himmel.23 Dass für eine solche Begegnung mit Gott eine Reinigung notwendig ist, macht schon die erste Theophanie auf dem Horeb (Ex 24,12–18) deutlich: Aaron und Hur sowie Josua mussten dem Horeb fern bleiben, weil sie nicht imstande waren, das Feuer und die Dunkelheit auszuhalten. Wer unvollkommen ist, muss zuerst seine Ohren und sein Denken reinigen, bevor er zur Kommunikation mit Gott fähig ist. So ist das Dunkel auf dem Horeb ein Hinweis auf die Lichtfülle auf dem Tabor; das Feuer symbolisiert die Reinigung; die Trompete verweist auf das göttliche Wort, der Donnerschlag auf die Botschaft.24 Die Reinigung, die unerlässlich für die Schau des göttlichen Lichtes ist, geschieht erstmals schon in der Taufe und es gilt, diese Taufgnade durch das Halten der Gebote 19

David Balfour, Saint Gregory the Sinaïte, Discourse on the Transfiguration. Editio princeps of the Greek text with introductory notes and translation, followed by a study of the autor's life story, spiritual profile, published works and doctrine, Theologia 52–54, Athen 1982, S. 59–91. 20 Vgl. Antonio Rigo, La trasfigurazione di Cristo sul Monte Tabor nelle Opere di Gregorio il Sinaita, in: Atti del XV Convengo ecumenico di Bose S. 277–291, bes. S. 280. 21 Gregor Sinaïtes, Sehr nützliche Kapitel, welche ein Akrostichon bilden, Kap. 8, in: Philokalie der heiligen Väter der Nüchternheit, ed. Gregor Hohmann / Dietmar Süssner Bd. IV, Würzburg 2004, S. 178: Der Mensch wurde von Gott weder unwandelbar noch wandelbar geschaffen, »denn er besaß die Kraft der willentlichen Haltung, sich zu wandeln oder nicht. Der Wille nämlich bewirkt für die Natur keine vollständige Unwandelbarkeit. Diese ist ja der Siegespreis der künftigen unwandelbaren Vergöttlichung«. Das heißt: Der Mensch ist hier auf Erden, solange er lebt, wankelmütig und unzuverlässig; erst im Jenseits erhält er die ›stabilitas‹ durch seine Vereinigung mit Christus, die Vergöttlichung. 22 Saint Gregory the Sinaïte, Discourse on the Transfiguration Kap. 4, ed. Balfour S. 22–25. 23 Saint Gregory the Sinaïte, Discourse on the Transfiguration Kap. 5, ed. Balfour S. 24–27. 24 Saint Gregory the Sinaïte, Discourse on the Transfiguration Kap. 6, ed. Balfour S. 26f.

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und das eifrige Gebet zu bewahren oder aber unter Tränen in inbrünstigem Gebet Buße zu tun.25 Wer das nicht beachtet, läuft Gefahr, Täuschungen und Wahnvorstellungen zu erliegen, die schlimme Folgen haben.26 Daher fordert Gregor seine Schüler dazu auf, nicht Bildern oder Lichterscheinungen nachzuhängen, sondern sich auf das reine Gebet, das auf alle Vorstellungen, Formen und Farben verzichtet, zu konzentrieren.

Damit wendet er sich gegen die Sucht, Lichtvisionen zu erfahren, wie sie sich in der Nachfolge von Simeon dem Neuen Theologen im Hesychasmus nach der Jahrtausendwende ausgebreitet hatte.27 Gregor Palamas (1296/7–1359) ist zweifellos von der Tradition des athonitischen Hesychasmus und insbesondere auch von Gregor Sinaïtes beeinflusst.28 Von ihm sind zwei Homilien zum Fest der Verklärung Christi erhalten, die er wohl als Bischof von Thessalonikê (1350–1359) gehalten hat.29 Sie bieten ihm Gelegenheit, seine 25

Gregor Sinaïtes, Sehr nützliche Kapitel, welche ein Akrostichon bilden, Kap. 41–42 in: Philokalie, ed. Hohmann/Süssner, Bd. IV, S. 187. Von den Tränen ist bei Gregor relativ selten die Rede. Aber sie gehören einfach zur Reinigung der Seele dazu, vgl. etwa daselbst S. 188 den Anfang von Kap. 45, wo gesagt wird: »Wer den Geist durch Tränen gereinigt und die Seele dadurch im (Heiligen) Geist auferweckt hat«, werde ein wenig zum Gefährten der Engel und sei leiblos, insofern er unverdorben sei. 26 Gregor Sinates, Sehr nützliche Kapitel, welche ein Akrostichon bilden, Kap. 118; 131; 132; 135in: Philokalie, ed. Hohmann/Süssner Bd. IV, S. 211f.; 222f.; 223f.; 224f. 27 Vgl. ›10 Kapitel von Gregorios dem Sinaïten‹, Kap. 3 in: Philokalie, ed. Hohmann/Süssner Bd. IV, S. 233f. Ferner: ›Darüber, wie der Hesychast sitzen soll zum Gebet und nicht sogleich wieder aufstehen‹, in: Philokalie Bd. IV, ed. Hohmann/Süssner S. 262: »Du aber, wenn du in rechter Weise die einsame Ruhe pflegst und darauf harrst, mit Gott zu sein, billige es niemals, wenn du etwas Sinnliches, Geistiges, Äusserliches oder Innerliches siehst, sei es ein Bild Christi, eine angebliche Gestalt eines Engels oder eines Heiligen, auch nicht, dass ein Licht dem Geist erscheint oder ihm etwas einprägt. Denn auch der [menschliche] Geist selbst besitzt von sich aus von Natur die Vorstellungskraft und vermag bei denen, die noch nicht genau darauf Acht haben, leicht das bildlich darzustellen, wonach er verlangt. Er zieht sich damit selbst den Schaden zu. Und selbst das Gedenken der Güter oder Übel prägt gewöhnlich sogleich die Wahrnehmung des Geistes und bringt ihn zu Vorstellungen. Dann wird ein solcher von sich aus zum Phantast und nicht zum Hesychast. Hab’ darum Acht, dass du nicht zu etwas zustimmst und ihm rasch Glauben schenkst, selbst wenn es etwas Gutes ist, vor der Befragung Erfahrener und gründlicher Untersuchung, damit du nicht Schaden nimmst. Bleib ihm gegenüber vielmehr reserviert und bewahre deinen Geist stets farblos, bildlos, gestaltlos.« 28 Vgl. Ioannis Polemis, Gregorio Palamas e la spiritualità dell’ Epoca: Esperienze sopranaturale e loro contesto, in: Atti del XV Convengo ecumenico di Bose, S. 293–333. 29 Vgl. Grégoire Palamas, Douze Homélies pour les fêtes. Introduction et traduction de Jérôme Cler. L’Echelle de Jacob, Paris 1987, Homélie XI et XII, S. 185– 211; Coune, Joie de la Transfiguration, S. 238–256.

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im Streit mit Akindynos und Niketas Gregoras entwickelten Theorien über den Heiligen Geist und die Wirklichkeit des Thaborlichtes darzulegen.30 Was nun den Sinn und das Ziel des Taborlichtes und dessen Beziehung zum Gebet betrifft, zeigt er sich ganz als Schüler der athonitischen Hesychasten: Als Jesus die Jünger zum Gebet auf den Thabor mitnahm, wollte Er uns lehren, »dass es das Gebet ist, das diese selige Schau bringt, und uns darlegen, dass durch die Nähe zu Gott hinsichtlich des Tuns des Guten und unsere Vereinigung mit Ihm im Geiste, dieser Lichtglanz erscheint, der sich den Blicken all derer darbietet, die nicht aufhören zu Gott hinzustreben mit ihrer Ausdauer in guten Werken und der Reinheit ihrer Gebete. ›Denn nur ein gereinigter Geist‹, so wird gesagt, ›kann die wahre und erstrebenswerte Schönheit, die die allselige, göttliche Natur umgibt, betrachten. Wer aber nach der Lichtfülle und Gnade strebt, nimmt an ihr gemäß seinem Vermögen teil, so, wie wenn ein flüchtiger Lichtstrahl sein Auge berührt hätte‹. Darum hatte Moses, als er mit Gott sprach, ein strahlendes Angesicht (Ex 34,29). Seht ihr, dass auch Moses verklärt worden ist, nachdem er auf den Berg gestiegen und die Herrlichkeit des Herrn geschaut hat? Aber er erlitt die Verklärung; er brachte sie nicht selbst hervor, wie gesagt ist: ›Der hier eingeschränkt leuchtende Lichtstrahl der Wahrheit, brachte mich dazu, die Lichtfülle Gottes zu sehen und zu erleiden‹.«.31

Und am Ende der zweiten Predigt sagt Gregor Palamas: »Diese Herrlichkeit und diese Lichtfülle werden einst alle sehen, wenn der Herr erscheinen wird so, ›wie der Blitz aufgeht im Osten und leuchtet bis zum Westen‹ (Mt 24,27). Heute aber haben die, welche mit Jesus aufgestiegen sind, sie auch gesehen; doch niemand hat je das Wesen oder die Essenz Gottes erkannt oder die Natur Gottes geschaut oder beschrieben. Ferner ist dieses göttliche Licht den Schauenden nur eingeschränkt gegeben; es lässt ein ›Mehr oder weniger‹ gemäß der Würdigkeit der Schauenden zu, wird also begrenzt ohne zerteilt zu werden. Der Beweis dafür ist schnell erbracht: Das Antlitz des Herrn strahlte mehr als die Sonne und Seine Kleider wurden glänzend und weiß wie Schnee. Moses und Elias stehen zwar beide im gleichen Licht, aber keiner von ihnen leuchtet mit der Intensität wie die Sonne. Was indes die Jünger betrifft, so sahen sie dieses Licht, aber konnten ihren Blick nicht darauf richten. Das bedeutet: Dieses Licht wird beschränkt und zugeteilt, ohne zerteilt zu werden; es ist des ›Mehr-oder-weniger‹ fähig; es gibt sich teilweise schon jetzt zu erkennen, teilweise erst später. Deshalb sagt Paulus: ›Denn unsere Erkenntnis ist Stückwerk und unser Reden aus Einge30

Vgl. meine Ausführungen in: Das lebenschaffende Licht der unauflösbaren Dunkelheit. Eine Studie zum Verständnis von Wesen und Energien des Heiligen Geistes und der Schau des göttlichen Lichtes bei den Vätern der Orthodoxen Kirche von Origenes bis Gregor Palamas, Neukirchen-Vluyn 2011, S. 234–265. Coune, Joie de la Transfiguration S. 238 ist der Meinung, dass sich Gregor hinsichtlich seiner Energielehre in seinen beiden Predigten Zurückhaltung auferlegt habe. 31 Cler, Grégoire Palamas, Douze Homélies S. 193 sieht hier eine Anspielung auf Basilius Caesarensis Auslegung von Psalm 29 (30),5, während Coune, Joie de la Transfiguration S. 244, an ein Zitat aus Johannes Chrysostomus denkt.

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bung ist Stückwerk‹ (1Kor 13,9). Ganz unteilbar und unerkennbar ist aber das Wesen Gottes; denn kein Wesen kann ›Mehr-oder-weniger‹ sein.«32

Überschaut man diese Zeugnisse, wird man sagen können: Die Interpretation der Beschränktheit des Auffassungsvermögens der Jünger hinsichtlich der Schau des Thaborlichtes hat im Laufe der Theologiegeschichte des östlichen Christentums eine nicht unbedeutende Veränderung erfahren. Bei den frühen Vätern handelte es sich primär um eine durch die ›conditio humana‹ angeborene Beschränktheit, die insbesondere durch die Leiblichkeit und Zeitlichkeit verursacht ist und die Menschen davor schützt, durch eine Überforderung Schaden zu erleiden. Im hesychastischen Mönchtum wird diese Beschränktheit dann vor allem dem instabilen Willen, sich selbst im Gebet zu reinigen, zugeschrieben. Damit wird, bewusst oder unbewusst, der Trost zur Ermahnung und die hesychastische Gebetspraxis zu einer zu leistenden Bedingung für die Vergöttlichung. Die monastische Gebetsund Lebensweise droht so zum Maßstab und zur Norm eines rechten christlichen Lebens zu werden und die Schau des Taborlichtes – trotz Vorbehalten hellsichtiger Altväter – zum erstrebenswerten Lohn für monastischen Gebetseifer. Damit wandelt sich ein Geschenk zu einem Verdienst, den man sich erwerben kann oder sogar erwerben muss, um bei Gott in Gnade zu stehen. Eine für die Frömmigkeit des Gottesvolkes höchst verhängnisvolle Entwicklung! Ein anderes Moment, das damit zusammenhängt, ist ebenfalls bei den altkirchlichen Vätern angelegt und im spätbyzantinischen Hesychasmus zur Ausformung gelangt. Es handelt sich um die Antwort auf die Frage, wie das Thaborlicht zu verstehen sei? War es eine von Gott geschaffene Gabe oder eine Ausstrahlung der Gottheit Selbst? Und wie konnten es die Jünger wahrnehmen? Bereits die drei großen Kappadokier haben im göttlichen Licht eine Erscheinungsweise Gottes gesehen, durch die Er erkannt, aber nicht in Seinem Wesen erfasst werden kann. Am klarsten hat dies Gregor von Nazianz in seiner Taufhomêlie vom 7. Jan. 381 zum Ausdruck gebracht: »Gott ist das extremste (akrotaton) Licht, unfassbar und unausdrückbar; Es ist nicht erfassbar durch das Denken, nicht mit Worten weiterzugeben und erleuchtet [doch] die gesamte vernünftige Natur. Dieses Licht ist in der geistigen Welt, was die Sonne in der Sinnenwelt darstellt. In dem Maße, wie wir gereinigt sind, erscheint Es uns; in dem Maße, wie Es uns erscheint, wird Es von uns geliebt; in dem Maße, wie wir Es lieben, erkennen wir Es auch. Es durchleuchtet Sich Selbst und nimmt Sich Selbst wahr. Nach außen ergießt 32

Cler, Grégoire Palamas, Douze Homélies S. 209f.; Coune, Joie de la Transfiguration S. 255.

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IV. Die Bedeutung der Verklärung Christi Es Sich nur spärlich. Ich spreche vom Licht, das dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist innewohnt. Sein Reichtum ist die Einheit der Natur (symphyia) und die Ausstrahlung Seines Glanzes.«33

Hier wird zwar die Erscheinung des göttlichen Lichtes auch mit der Reinigung der Seele zusammengebracht, aber diese wird nicht als menschliches Vermögen und Verdienst zur Erlangung der Teilhabe an Gott gefordert, sondern schlicht als Bedingung für die Wahrnehmung der göttlichen Gegenwart vorausgesetzt. Das Licht ist da, ob wir Es erkennen oder nicht; Es wird von uns geliebt und erkannt gemäß unserem geistig-seelischen Zustand. Aber es geht letztlich nicht um unsere Erkenntnis, sondern um das Licht Selbst: die Gegenwart Gottes. Dies wird auch von Gregor von Nyssa bezeugt, wenn er in seiner Rede zum ersten jährlichen Totengedenken für seinen Bruder Basilius bezeugt, dieser sei einer Lichtvision gewürdigt worden. In einem Vergleich zwischen Moses und Basilius sagt er: »Jenem [sc. Moses] leuchtete das Licht im Dornbusch (Ex 3,2). Wir können etwas, was jener Vision ähnlich ist, auch von diesem [sc. Basilius] anführen: Bei Nacht nämlich wurde ihm eine Lichterscheinung zuteil, als er im Hause betete. Es war aber dieses Licht etwas Immaterielles (aulon), das durch [die] göttliche Kraft (›dynamis‹) das Haus erleuchtete und auf keine materielle Ursache zurückzuführen war.«34

Maximus Confessor sucht das Phänomen des göttlichen Lichtes dann begrifflich zu erfassen und unterscheidet die ›ungeschaffenen Energien‹ Gottes vom ›Wesen‹ Gottes. Die Energien fließen aus dem Wesen Gottes als ungeschaffene Ausstrahlungen. Gott ist hinsichtlich Seines Wesens und Seiner Natur ganz und gar nicht mitteilbar, aber Er gibt Sich Seinen Geschöpfen durch Seine ungeschaffenen Ausstrahlungen zu erkennen. Auch die Hypostasen Gottes sind nur soweit erkennbar, als die Energien sie offenbaren.35

Auch Johannes von Damskus unterscheidet die ungeschaffenen Energien vom Wesen Gottes. »Denn wie es sich mit der Sonne unter den sichtbaren Dingen verhält, so verhält es sich auch mit Gott im Bereich des Geistes. (...) Es besteht ein Unterschied zwischen der Sonne – die als Quelle des Lichtes nicht ins Auge gefasst werden kann – und dem Lichtstrahl, der aus der Sonne sich ergießend 33

Or. 40,5 in: Grégoire de Nazianze, Discours 38–41. Introduction, texte critique, notes par Claudio Moreschini. Traduction par Paul Gallay, SChr. 358, Paris 1990, S. 204–207. 34 Gregor von Nyssa, Logos epitaphios auf Basilius zum ersten Basiliusfest, übersetzt von Jos. Fisch, BKV 1. Aufl., Heft 366, Kempten 1880, S. 418, verändert nach Gregorii Nysseni Opera ed. Jäger, Vol. X/1, ed. Lendle S. 127. 35 Jean-Claude Larchet, La Divinisation de l'homme selon Saint Maxime le Confesseur, Cognitio fidei, Paris 1996, S. 506f.

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auf die Erde fällt und den man sehen und betrachten kann, dank der Weisheit und der Güte Gottes, der bewirkt, dass wir nicht völlig der Schönheit der Dinge beraubt sind.«36

Ebenso trifft Simeon, der Neue Theologe, diese Unterscheidung. Er legt dar, dass das, was geschaut wird, nicht ein sinnliches Licht, aber auch nicht das geschaffene Licht des Intellekts sei, sondern das ungeschaffene göttliche Licht der Trinität, das immateriell ist und den Menschen verwandelt und vergöttlicht. Dieses Licht lässt sich nicht mit den natürlichen menschlichen Sinnen erfassen. »Gott gibt sich jedoch denen zu schauen, die dessen würdig sind; nicht in Seiner Fülle lässt Er Sich schauen, vielmehr gibt Er Sich ihnen in unschaubarer Weise zu schauen. Er ist für sie wie ein Schein der Sonne fassbar, Er, der in Seinem Wesen unfassbar ist. Den Sonnenschein kannst Du sehen, die Sonne aber lässt dich eher noch erblinden; ihr Schein ist für dich, wie wir sagten, in unfassbarer Weise fassbar.«37

Gregor Palamas steht also in einer Tradition und ist kein Neuerer, wenn er gegen seine Gegner das Thaborlicht als erfahrbare, aber ›ungeschaffene göttliche Energie‹ vom unzugänglichen ›Wesen Gottes‹ unterscheidet. In einer Predigt aus der Zeit seines Episkopates in Thessalonikê sagt er: »Das Licht, das Christi Verklärung umgab, war nicht ein neues, fremdes Licht, das Er erworben hätte – sonst gäbe es in Christus fortan drei Naturen –, sondern [es war] das Licht Seiner Gottheit, das unter Seiner Menschheit verborgen war; es ist deshalb ein ungeschaffenes Licht.«38

Dass aber dieses ›ungeschaffene Licht‹ nicht identisch mit Gottes Wesen sei, könne man daran erkennen, dass es sowohl Gott wie die Menschen umfasse, was vom Wesen Gottes niemand zu sagen wage.39 Und Palamas bekennt: »Was uns selbst betrifft, so wenden wir uns ab von den alten und neuen Häretikern und glauben, wie wir gelehrt worden sind, dass die Heiligen am Reich, der Herrlichkeit, der Strahlkraft, der Schau des unzugänglichen Lichtes und der Gnade Gottes Anteil erhalten können, nicht aber am Wesen Gottes; wir gehen damit auf das aus Gnaden geschenkte Licht zu, um zu erkennen und zu verehren die dreifach leuchtende Gottheit, die auf unsagbare Weise in Einheit aus einer Natur in drei Hypostasen aufleuchtet.«40

36 37

Coune, Joie de la Transfiguration S. 201. Hymnus 23,230–239, ed. Heiser S. 117; Syméon le Nouveau Théologien, Hymnes 16–40. Texte critique par Johannes Koder. Traduction et notes par Louis Neyrand, tome II, SChr. 174, Paris 1971, S. 204. 38 Cler, Grégoire Palamas, Douze Homélies S. 195. 39 Cler, Grégoire Palamas, Douze Homélies S. 203. 40 Cler, Grégoire Palamas, Douze Homélies S. 210.

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IV. Die Bedeutung der Verklärung Christi

Wozu diese Unterscheidung zwischen Gottes Wesen und Seinen ungeschaffenen Energien, die bei westlichen Theologen weithin auf Unverständnis gestoßen ist? Es geht wesentlich darum, das Mysterium der Unfassbarkeit der göttlichen Dreiheit festzuhalten und dennoch jeden Zweifel daran auszuschließen, dass Gott uns durch den Heiligen Geist Anteil an Sich Selbst gewährt. Die Vereinigung mit Ihm ist nur in diesem Spannungsfeld denkbar. Denn beides kann nicht preisgegeben werden: Gott ist und bleibt Gott, der für uns Unzugängliche, und Er gibt Sich uns, um uns mit Ihm zu vereinigen und so unsere verdorbene Natur zu heilen. Diese Antinomie kommt im Fest der Verklärung bildlich zur Sprache, dadurch, dass Christus Sich von den Seinen in einem Licht schauen lässt, das alles Vorstellbare übersteigt, sie zu Boden wirft und sie dennoch nicht an Überforderung zu Grunde gehen lässt, sondern ihnen Kraft und Mut zum Bleiben gibt: »Petrus aber sprach zu Jesus: ›Herr, es ist gut, dass wir hier sind! Wenn Du willst, so werde ich hier drei Hütten bauen ...‹« (Mt 17,4)

Denn das durch die Energien des Heiligen Geistes geschaffene Wohlbefinden der Jünger ist es, das den zu Boden Geworfenen den Willen einflößt, bei ihrem Herrn zu bleiben und nicht von Ihm wegzulaufen. Dadurch ist ihr Anteilbekommen am göttlichen Licht letztlich nicht das Verdienst ihrer eigenen Anstrengungen, sondern ein Geschenk von oben, bewirkt durch das Licht Selbst, in dem sie durch ihr Bleiben immer mehr verwandelt werden.

V. Zur Bedeutung der Negativen Theologie für den christlichen Glauben

Unsere Vernunft hat in den letzten Jahrhunderten manches erreicht und viel an Einsichten gewonnen. Doch hinsichtlich der Frage, ob Gott ist und wie Er ist, wenn Er ist, dazu weiß die menschliche Vernunft noch immer nichts Sicheres zu sagen. Denn die Schöpfung, die wir als Gottes Werk bekennen und auf Grund der wir unsere Schlüsse über Gottes Existenz und Wesen ziehen, hat einen zwiespältigen Charakter; dicht neben dem Wunderbaren, Lebenschaffenden, Tröstlichen findet sich das Zerstörerische, Schreckliche. Unser Verstand reicht nicht aus, das damit gestellte Rätsel zu entschlüsseln. Alles, was wir dazu sagen können, bleibt im besten Fall Hypothese. Dieser Sachverhalt fordert ein Weltbild, in dem deutlich wird, dass die letzte Wahrheit über Gott und die Welt unserem Denken nicht zur Verfügung steht.1 Die Apophatische oder Negative Theologie, die Gottes Wesen zu beschreiben sucht, indem sie vom Materiell-Zuhandenen ausgehend, zum Allgemeineren, Geistig-Rationalen aufsteigend, und dabei von Gott sagt, was Er nicht ist, sucht dem Fehlen einer übergreifenden Gottesund Welterkenntnis Rechnung zu tragen. Sie ist der östlichen Theologie nicht erst durch die wohl im palästinensischen Raum um die Wende des 5./6. Jahrhunderts in origenistischen Mönchskreisen2 entstandenen und durch die dem Areopagiten Dionysius (vgl. Apg. 17,34) zugeschriebenen Schriften zugewachsen.3 Die 1

Auch die wissenschaftliche Erforschung des Weltalls sieht sich heute nicht in der Lage, über Entstehung, Wandel und Zukunft des Weltalls, mit oder ohne Gott, ein lückenloses, gesichertes Bild zu zeichnen. Auch sie hat nur Hypothesen. 2 Vgl. István Perczel, Once again Dionysios the Areopagite and Leontius of Byzantium, in: Tsotcho Boiadjiev, Georgi Kapriev and Andreas Speer, Die Dionysius-Rezeption im Mittelalter, Turnhout 2000, S. 41–85, bes. S. 84f.; ders., PseudoDionysius and Palastinian Origenism, in: The Sabaite Heritage in the Orthodoxe Church from the fifth Century to the Present, ed. by Joseph Patrich, Orientalia Lovaniensia Analecta 98, Leuven 2001, S. 261–282. 3 Johannes von Skytopolis hat zwischen 536 und 543/53 diese Schriften redigiert und zum »Corpus Dionysiacum« (CD) zusammengefasst. Vgl. Beate Regina Suchla, Dionysius Areopagita: Leben – Werk – Wirkung, Freiburg i.Br. 2008, S. 55– 61. Zu den einzelnen Schriften vgl. Corpus Dionysiacum I, Pseudo-Dionysius

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V. Zur Bedeutung der Negativen Theologie für den christlichen Glauben

Negative Theologie war vielmehr schon ein zentrales Anliegen der drei großen kappadokischen Theologen in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts, Basilius des Großen, Gregor von Nazianz und Gregor von Nyssa. – Bereits Basilius der Große hält in seiner ersten Schrift gegen Eunomius mit Berufung auf 1Kor 2,10f. fest, dass das Wesen Gottes dem Geist der Geschöpfe unbegreifbar ist; nur der Sohn Gottes und der Heilige Geist können Es erkennen.4 Und diese Tatsache ist für Basilius der Grund, dass das menschliche Denkvermögen, auch wenn es immer mehr vom Leiblichen zum Geistigen aufsteigt, hinsichtlich des Wesens Gottes im Nicht-Wissen endet. – Gregor von Nazianz braucht für diesen aufsteigenden Weg zu Gott erstmals das Bild von Moses Aufstieg auf den Sinaï und überträgt es auf seine eigene Gotteserfahrung: »Ich lief, um Gott zu erreichen, und gelangte auf diese Weise auf den Berg und drang in die Wolke ein (Ex 19,9–20), nachdem ich im Innern weit entfernt war von der Materie und den materiellen Dingen und mich, soweit möglich, in mich selbst gesammelt hatte. Als ich jedoch aufblickte, sah ich kaum Gottes Rückseite (vgl. Ex 33,23) und das, obwohl ich doch als Schutz den Felsen (vgl. Ex 33,21–23) hatte, nämlich Gott, das Wort (vgl. 1Kor 10,4; Joh 1,14), das unseretwegen Fleisch geworden war (Joh 1,14). Als ich einwenig hervorschaute, bekam ich nicht die erste, unvermischte [göttliche] Natur zu sehen, die nur von Ihr Selber – ich meine die Trias – erkannt wird, die Natur, die innerhalb des ersten Vorhangs [des Tempels] bleibt und von den CheAreopagita, De Divinis Nominibus (DN), hg. von Beate Regina Suchla, Patristische Texte und Studien 33, Berlin / New York 1990; Corpus Dionysiacum II, Pseudo-Dionysius Areopagita, De Coelesti Hierarchia. De Ecclesiastica Hierarchia. De Mystica Theologia. Epistulae (MTh), hg. von Günter Heil und Adolf Martin Ritter, Patristische Texte und Studien 36, Berlin / New York 1991; Des heiligen Dionysius Areopagita angebliche Schriften über die beiden Hierarchien, aus dem Griechischen (CH und EH) übersetzt von Josef Stiglmayr, BKV, 2. Aufl. Kempten/München 1911; Pseudo-Dionysius Areopagita, Über die himmlische Hierarchie (CH). Über die kirchliche Hierarchie (EH). Eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Günter Heil, BGrL 22, Stuttgart 1986; PseudoDionysius Areopagita, Die Namen Gottes (DN). Eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Beate Regina Suchla, BGrL 26, Stuttgart 1988; Pseudo-Dionysius Areopagita, Über die Mystische Theologie und Briefe (MTh). Eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Adolf Martin Ritter, BGrL 40, Stuttgart 1994; Dionysius Areopagita, Von den Namen zum Unnennbaren (DN). Auswahl und Einleitung von Endre von Ivánka, Christliche Meister 39, Einsiedeln, 3. Aufl. 1990. 4 Basile de Césarée, Contre Eunome suivi de Eunome Apologie. Introduction et notes de Barnard Sesboüé, texte George-Matthieu de Dumrand et Louis Dortreleau, tome I, 12–14, SChr. 299, Paris 1982, S. 214–225.

V. Zur Bedeutung der Negativen Theologie für den christlichen Glauben

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rubim bedeckt wird (vgl. Ex 26,31–33; 36,35f.), sondern nur das äußerste Ende, das bis zu uns hinreicht, die Herrlichkeit (›megaloprepeia‹) Gottes.«5 – Gregor von Nyssa hat wie in seiner kleinen Schrift über die Vita des Moses6 auch im elften Kapitel seiner Auslegung des Hohenliedes dieses Bild aufgenommen und ausgedeutet. Hier schreibt er: »Für den großen Mose begann die Gotteserscheinung im Medium des Lichtes (vgl. Ex 3,2f.). Danach unterhielt sich Gott mit ihm durch eine Wolke hindurch (vgl. Ex 16,10f.). Dann als er bereits höher gelangt und vollkommener geworden ist, erblickt er Gott im Dunkel (vgl. Ex 20,21). Daraus lernen wir Folgendes: Der Übergang von Finsternis zu Licht meint die erste Abkehr von den Lügen und verfehlten Meinungen über Gott. Das genaue Verstehen des Verborgenen, das die Seele durch die Phänomene hindurch zur unsichtbaren Natur hinführt, wird gleichsam zu einer Art Wolke, weil es einerseits alles Sichtbare beschattet, andererseits die Seele dazu führt und daran gewöhnt, auf das Verborgene zu schauen. Wenn dann aber die Seele, die durch dies hindurch nach oben wandert, alles zurücklässt, was immer der menschlichen Natur erreichbar ist, gelangt sie ins ›Adyton‹ [ins ›Unzugängliche‹] der Gotteserkenntnis, ringsum von göttlichem Dunkel umfasst. Darin bleibt, nachdem alles Sichtbare und Erfassbare draußen gelassen wurde, für die Schau der Seele nur das Unsichtbare und Unfassbare übrig, worin Gott ist, wie es der Bibeltext vom Gesetzgeber sagt: ›Mose aber trat ein in das Dunkel, wo Gott war‹ (Ex 20,21 LXX).«7 – In der 12. Homilie der Hohenliedauslegung nimmt Gregor das Bild von Moses Aufstieg ins Dunkel nochmals auf: »Dieser Mann, der solche Größe und Beschaffenheit erreicht hatte, der zu so Großartigem gelangt und durch derart bedeutende Widerfahrnisse zu Gott erhöht worden war, hält immer noch unersättlich am Verlangen nach mehr fest. Er fleht darum, Gott von Angesicht zu Angesicht sehen zu dürfen, obwohl der Bibeltext doch bereits bestätigt hatte, er sei des vertrauten Umgangs von Angesicht zu Angesicht gewür5

Gregor von Nazianz, Or. 28,3 in: Gregor von Nazianz, Orationes Theologicae. Theologische Reden. Übersetzt und eingeleitet von Hermann Joseph Sieben, FC 22, S. 96–99; vgl. auch Or. 29,2–12, daselbst S. 172–185; Or 37,3, S. 276f.; Or 39,13, S. 176–179; Or. 40,5, S. 204f. 6 Griech. Text bei: Grégoire de Nysse, Contemplation sur la vie de Moïse ou Traité de la perfection en matière de vertu. Introduction et traduction de Jean Daniélou, SChr. 1 (bis), Paris 1959; deutsch: Der Aufstieg des Moses. Übersetzt und eingeleitet von Manfred Blum, Sophia 4, Freiburg i.Br. 1963. 7 Gregor von Nyssa, In canticum canticorum homiliae 11, zu Cant. 5,2–4 Homilien zum Hohenlied III. Griechisch-Deutsch. Übersetzt und eingeleitet von Franz Dünzl, FC 16/III, Freiburg i.Br. 1994, S. 582–585.

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digt worden (vgl. Deut 34,10 LXX)! Aber dennoch lässt ihn weder die Tatsache, dass er sich wie ein Freund mit einem Freund unterhält (vgl. Ex 33,11 LXX), noch der vertraute Umgang mit Gott – von Mund zu Mund –, der ihm zuteil wird, zu einem Stillstand im Verlangen nach dem Höheren kommen. Vielmehr sagt er: ›Wenn ich Gnade vor Dir gefunden habe, zeige Dich mir in erkennbarer Weise‹ (vgl. Ex 33,13 LXX). Und Er (sc. Gott), der versprach, die erbetene Gnade zu gewähren und sagte: ›Ich habe dich erkannt vor allen andern‹ (Ex 33,12.17 LXX), Er geht an ihm vorüber, während (Mose) an dem göttlichen Ort auf dem Felsen von der göttlichen Hand bedeckt wird, so dass er nach dessen Vorübergang kaum Seine Rückseite sieht (vgl. Ex 33,21–23). Dadurch lehrt der Text Folgendes, wie ich meine: Wer Gott zu sehen verlangt, sieht den Ersehnten dadurch, dass er Ihm immerzu folgt. Und die Schau Seines Angesichtes ist das unaufhörliche Auf-Ihn-zu-Gehen, das dadurch vollbracht wird, dass man dem Logos nachfolgt.«8 Nach diesem Exkurs zur Vita des Moses kehrt Gregor wieder zum Text des Hohenliedes (Cant 5,6) zurück und sagt: »Der folgende Text aber bestätigt uns noch mehr den Gedanken, der zuvor betrachtet wurde, dass man die Größe der göttlichen Natur nicht dadurch kennen lernt, dass man sie erfasst, sondern dadurch, dass sie ›vorübergeht‹ an aller dem Erfassen dienlichen Vorstellung und (geistigen) Kraft. Die Seele, die bereits über die Natur hinausging, um durch nichts Gewohntes an der Erkenntnis des Unsichtbaren gehindert zu werden, macht nämlich nicht Halt in der Suche nach dem Unauffindbaren, noch hört sie auf, das Unaussprechliche zu rufen. Denn sie sagt: ›Ich suchte Ihn und fand Ihn nicht‹ (Cant 5,6d). Wie nämlich könnte man den finden, den nichts Erkennbares kundtut – nicht Aussehen, Farbe, Umriss, Quantität, Ort, Form, nicht Vermutung, Gleichnis oder Analogie? Weil Er vielmehr stets außer Reichweite eines jeden Zugangs zu finden ist, der dem Erfassen dient, entgeht Er auf jede Weise dem Zugriff der Suchenden. Darum sagt sie (sc. die Braut): ›Ich suchte Ihn mit den forschenden Kräften der Seele in meinen Überlegungen und Gedanken, und Er war weiterhin außerhalb von all dem, weil Er der Annäherung des Denkens entging‹. Wie aber könnte man den, der stets außer Reichweite eines jeden kennzeichnenden Merkmals zu finden ist, mit irgendeiner begrifflichen Bezeichnung erfassen?«9 – Und in einem Brief an den Häretiker Herakleianus schreibt Gregor von Nyssa über das Wesen der Trinität: »Ihr Wesen (...), wie auch 8

Gregor von Nyssa, In canticum canticorum homiliae 12, zu Cant. 5,5f., ed. Dünzl, FC 16/III, S. 638–641. 9 Gregor von Nyssa, In canticum canticorum homiliae 12, zu Cant. 5,6, ed. Dünzl, FC 16/III, S. 640f.

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immer es beschaffen sein mag – denn es ist nicht mit dem Wort zu beschreiben noch mit dem Denken zu erfassen – wird nicht zerlegt in eine Verschiedenheit der Naturen. Deshalb ist das Unfassliche und Undenkbare und mit Überlegungen nicht zu Begreifende bei jeder der drei Personen, an die wir in der Trinität glauben, gleich.«10 Die aufgeführten Beispiele lassen uns fragen, weshalb den drei kappadokischen Theologen die vom Konkret-Leiblichen zum GeistigAllgemeinen fortschreitend aufsteigende Suche nach der Erkenntnis Gottes so wichtig war, obwohl sie wussten und betonten, dass Gott in Seinem Wesen nicht fassbar und in Seinem Wirken durch die Vernunft nicht erkennbar ist. – Gregor von Nazianz, wie nach ihm auch Gregor von Nyssa, sieht in dem von Gott gerufenen, auf den Sinai/Horeb aufsteigenden Moses (Ex 19f.; 33), der von Gott die Verheißung Seiner gnädigen Gegenwart erhalten hat, den Menschen, dem Gott Seine Gnade zuteil werden lässt. Obwohl Christus als Wort Gottes der Fels ist, auf dem dieser Halt finden kann, ist er doch nicht in der Lage, Gott mit seinen leiblichen oder geistigen Augen von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Gott begegnet ihm zwar, aber seine sinnlichen und geistigen Kräfte vermögen nicht, Gott zu erkennen, wie Er ist. Bewusst wird ihm jedoch in der Begegnung die Tatsache von Gottes Gegenwart und Seiner unfassbaren Herrlichkeit. – Der Aufstieg ist also keineswegs vergeblich. Er ist gleichsam die Bedingung, dass der von Gott Gerufene die Begegnung mit Ihm wahrnehmen kann. Gott hat dem von Ihm Erwählten zwar Seine Verheißung gegeben, aber erst dessen Fortschreiten vom Leiblichen zum Geistig-Geistlichen bringt die Realisierung und verdeutlicht, dass auch der Mensch etwas zur Begegnung mit Gott beitragen muss. Denn sie wird gemeinhin nur dem zuteil, der ihr gleichsam nachgeht in der Nachfolge von Gottes Wort und der auf diese Weise bekundet, dass er diese Begegnung auch wirklich mehr als alles andere will. Nicht so, als müsse er sie verdienen und eine Vorleistung dafür erbringen, sondern so wie der Mann im Gleichnis, der einen Schatz, verborgen im Acker, fand und in seiner Freude hinging, alles verkaufte, was er hatte, und sich den Acker erwarb (Mt 13,44).

10

Grégoire de Nysse, Lettres. Introduction, texte critique, traduction, notes et index par Pierre Mareval, SChr. 363, Paris 1990, Nr. 24,5, S. 280f.; Gregor von Nyssa, Briefe. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Dörte Teske, BGrL 43, Stuttgart 1997, Nr. 24, S. 83.

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– Die Bemühung des Menschen um die Gotteserfahrung, das »Aufsteigen«, erfordert eine Entfernung vom Materiell-Alltäglichen im Wissen darum, dass nicht im Leiblich-Machbaren und auch nicht im Geistig-Verfügbaren die Gottesbegegnung zustande kommt, sondern dass diese ein Gnadengeschenk ist. Das Aufsteigen selbst führt nicht weiter als ins Wolkendunkel. In diesem ist zwar Gott; aber Er kann vom menschlichen Geist nicht erkannt werden; es gibt keine Methode, um Ihn zu entdecken, keinen Weg, auf dem Er gesichtet werden könnte. Er offenbart Sich, wie und wo Er will, als »Vorübergegangener«. Ps.-Dionysius Areopagita hat den Aufstieg vom Leiblichen zum Geistig-Spirituellen dann zu einer Methode erhoben, wobei er jedoch festhielt, dass diese Methode nicht in der Gotteserkenntnis, sondern im totalen Nicht-Wissen, im völligen Dunkel, ja im Schweigen, endet und die Begegnung mit Gott auf andere Weise zustande kommt als durch solche Erkenntnisbemühungen. – Seinen Traktat »Über die Mystische Theologie« beginnt Ps.-Dionysius mit einer Anrufung der Allheiligen Dreiheit: »Geleite uns zum Gipfel der geheimnisvollen Worte empor, doch über alles Nichtwissen wie über alles Lichte hinaus. Dort liegen ja der Gotteskunde Mysterien in überlichtetem Dunkel geheimnisvoll verhüllten Schweigens verborgen.«11 – Denn dieser Einstieg ins Dunkle und diese Begegnung mit Gott bringt nicht eine Erkenntnis des göttlichen Wesens und Wirkens: »Wenn aber jemand Gott schaute und sich dessen bewusst war, was er schaute, dann schaute er nicht etwa Ihn Selbst, sondern (nur) etwas an Ihm, das der Seinswelt angehört und (entsprechend) erkennbar ist. Er Selbst aber bleibt erhaben über alles Denken und Sein, eben weil Er überhaupt unerkennbar ist und nicht (einfachhin) existiert: Er ist in einer Weise, die alles Sein transzendiert, und wird erkannt in einer Weise, die höher ist als alle Vernunft. Und dies[es] – in einem höheren Sinne – vollkommene Nichtwissen ist Erkenntnis dessen, der alles Erkennbare übersteigt.«12 11

Pseudo-Dionysius Areopagita, Über die Mystische Theologie (MTh) 1,1, ed. Ritter, BGrL 40 (wie oben Anm. 56), S. 74; vgl. auch: Vladimir Lossky, Mystische Theologie. Betrachtungen über die mystische Theologie der Ostkirche, Orthodoxe Perspektiven Bd. 6, übersetzt von Ines Kallis, Münster 2009, S. 37. 12 Pseudo-Dionysius Areopagita, MTh 1, ed. Ritter, BGrL 40, S. 90; Lossky, Mystische Theologie, S. 35f. Vgl. auch: Saint Maxime le Confesseur, Ambigua ad Joannem 34. Introduction par Jean-Claude Larchet. Avant-propos, traduction et notes par Emmanuel Ponsoye, Commentaires par le Père Dumitru Staniloae, Paris 1994, S. 280f.

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– Wozu aber dann die Mühen des Aufstiegs? Es geht dabei um das Ablegen »der stofflichen Hüllen«, es geht um die Reinigung der Sinne und Gedanken von den weltlichen Bedürfnissen und Wünschen und um die ungeteilte Sehnsucht, mit Gott vereinigt zu werden. »Denn nicht ohne Grund wird der heilige Moses geheißen, sich zunächst selbst zu reinigen und danach sich von denen zu scheiden, die nicht derart (gereinigt) sind. Nachdem er aber völlig gereinigt ist, hört er die vielstimmigen Posaunen (vgl. Ex 19,16.19; 20,18) und schaut eine Lichtfülle, aufblitzend (vgl. ebd.) in reinen, weithin leuchtenden Strahlen. Alsdann sondert er sich von der Menge ab und gelangt in Begleitung der auserwählten Priester zum Gipfel des göttlichen Aufstiegs (vgl. Ex 19,20). Allein, nicht einmal dort trifft er auf Gott Selbst, schaut auch nicht Ihn Selbst – ist Er doch unsichtbar – wohl aber den Ort, da Er weilt (vgl. Ex 20,21; 24,9–11). (...) Danach löst sich (Mose) auch vom Bereich dessen, was sichtbar ist und [er ?] zu sehen vermag, und taucht in das Dunkel des Nichtwissens ein, in das wahrhaft mystische (Dunkel), in dem er sich allem gegenüber verschließt, was die Erkenntnis zu erfassen imstande ist. Er ist darin eingehüllt in das vollkommen Unfassbare und Unsichtbare, dem ganz und gar zu eigen, der alles übersteigt.«13 – Es geht also um die Reinigung, die Katharsis, die die Voraussetzung für die Erleuchtung und für die Vollendung der Vergöttlichung14 im künftigen Äôn (Zeitalter) ist. Was die Notwendigkeit der Reinigung betrifft, bedient sich Ps.-Dionysius weithin der philosophischen Terminologie Plotins. Dennoch unterscheidet sich sein Denken, wie bereits V. Lossky gezeigt hat, grundlegend von demjenigen des Platonismus-Neuplatonismus, denn das, was bei dieser Reinigung abgelegt wird, ist nicht eine die göttliche Einheit aufhebende weltliche Vielheit,15 sondern das weltliche Sinnen und Trachten als solches, das heißt: alles, was uns von der göttlichen Liebe scheidet und unsere vollständige Hingabe an Gott hindert. Das Nichtwissen, in dem die apophatische Methode als an ihrem höchsten Punkt endet, ist nach Ps.-Dionysius nicht einfach ein Ignorieren der Vielfalt der Welt, sondern ein absolutes Dunkel. Hier ist zwar Gott, aber Er ist im Gegensatz zum Platonismus aller Variationen nicht erkennbar und nicht einfügbar in ein philosophisches

13 14

Pseudo-Dionysius, MTh 1,3, ed. Ritter, BGrL 40, S. 75f. ›Vergöttlichung‹ meint hier nicht (wie zumeist in der westlichen Mystik) die Wesensgleichheit mit Gott zu erlangen, sondern bedeutet, im Leibe Christi, der Kirche, vollständig von Gottes Energien durchdrungen zu werden, was hier bereits anfangen muss, jedoch erst im Jenseits vollendet sein wird. 15 Lossky, Mystische Theologie, S. 41f.

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V. Zur Bedeutung der Negativen Theologie für den christlichen Glauben

System. Einzig da, wo vermittelt durch die Kirche16 die Gläubigen in ungeteilter Sehnsucht nach der Vereinigung mit Gott verlangen, wird ihnen als Gnadengeschenk, wann und wo Gott es will, Erleuchtung zuteil. – Diese Erleuchtung ist im eigentlichen Wortsinn »eine Ekstase«, d.h. ein »Aus-der-Welt-Hinausgehoben-Werden«. Sie ist daher nicht machbar und durch keine Methode erreichbar; sie ist der Anfang der Vergöttlichung, deren Vollendung Gott in Jesus Christus für das Leben nach dem Tod verheißen hat. – V. Lossky hat Sinn und Ziel der Negativen Theologie auf den Punkt gebracht, indem er feststellt: »Die Apophatik lehrt uns (...), in allen Dogmen der Kirche vor allem einen negativen Sinn zu sehen; sie ist ein Verbot für unser Denken, seinen gewohnten Weg zu gehen und Begriffe zu bilden, die die geistige Wirklichkeit ersetzen könnten. Denn das Christentum ist keine philosophische Schule, die über abstrakte Begriffe spekuliert, sondern vor allem Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott.«17 – So kann Pseudo-Dionysius am Anfang seiner Schrift »Von den Namen zum Unnennbaren« sagen: »Man darf demnach überhaupt 16

Die Kirche wird bei Ps.-Dionysius verkörpert von den ›irdischen und himmlischen Hierarchien‹. Die ›Himmlische Hierarchie‹ besteht gemäß Ps.-Dionysius aus dreimal drei Wesenheiten: die Seraphim, Cherubim und Throne (nach Johannes von Skytopolis veränderte Reihenfolge: Throne, Cherubim, Seraphim), die Herrschaften (kyriotes), Mächte (dynameis) und Gewalten (exousiai), die Fürstentümer (archai), Erzengel (archangeloi) und Engel (angeloi). Die ›Irdische Hierarchie‹ hat nur die drei Stufen: Hierarchen (Metropoliten und Bischöfe), Presbyter (Priester) und Liturgen (Diakone). Das Wesen der Hierarchien, ihr Zweck und Ziel, lässt sich nach Ps.-Dionysius vor allem an der Himmlischen Hierarchie erkennen. »Zweck der Hierarchie ist also die möglichste Verähnlichung und Einswerdung mit Gott. (...) Demnach besagt der Ausdruck ›Hierarchie‹ eine gewisse, ganz heilige Institution, ein Abbild der urgöttlichen Schönheit, welches in hierarchischen Abstufungen und Erkenntnissen die Mysterien der entsprechenden Erleuchtung heilig auswirkt [d.h. ausführt] und Verähnlichung mit dem eigenen Urbild, soweit es nur immer geschehen kann, hervorbringt. Denn für jedes Mitglied der Hierarchie besteht die Vollendung darin, dass es seinem zuständigen Grade entsprechend zum Nachbild Gottes erhoben werde, ja, dass es wahrhaftig, was noch göttlicher als alles andere ist, wie die Schrift sagt, zu einem Mitwirkenden mit Gott werde (vgl. 1Kor 3,9) und in sich selbst die göttliche Wirksamkeit nach Möglichkeit zeige und hervortreten lasse. Durch die Stufenordnung der Hierarchie ist es bedingt, dass die einen gereinigt werden, die andern reinigen, dass die einen erleuchtet werden, die andern erleuchten, dass die einen vollendet werden, die andern vollenden. Und wie nach diesem Gesetze einem jeden das Nachbild Gottes angemessen sein wird, so wird er zur Teilnahme an Gottes Wirken erhoben.« (Ps.-Dionysius, CH III,2, ed. Stiglmayr, S. 19–21.) 17 Lossky, Mystische Theologie, S. 54.

V. Zur Bedeutung der Negativen Theologie für den christlichen Glauben

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nicht wagen, irgendetwas über die überwesentliche und verborgene Gottheit zu sagen oder gleichwohl zu denken mit Ausnahme dessen, was uns durch göttliche Eingebung in der Heiligen Schrift geoffenbart worden ist.«18 Er geht damit von einer Verbindlichkeit der Heiligen Schrift aus, ohne die der apophatische Aufstiegsinnlos ist. Damit kommt die »Bejahende Theologie« (»Kataphatik«), d.h. die vom Allgemeinen zum Einzelnen herabführende Denkrichtung, als Offenbarung des göttlichen Heilswillens zur Geltung. Sie schließt die Apophatik nicht aus, sondern fordert diese vielmehr, um nicht dahingehend missverstanden zu werden, es handle sich bei ihr um einen Katalog von historischen Wahrheiten und wörtlich zu befolgenden Vorschriften, auf Grund deren Wahrnehmung und Erfüllung man sich das Heil sichern könne. Obwohl also Kataphatik und Apophatik im Verhältnis einer Antinomie (Gegensätzlichkeit) zueinander stehen, gehören sie doch zusammen: Die Kataphatik übt den rechten Gehorsam ein, die Apophatik die rechte Demut; beide ergänzen und interpretieren sich. Sie dienen der Wahrnehmung der verheißenen Begegnung mit Gott, ohne dass dieser dergestalt erkennbar würde, dass man Ihn in ein Weltsystem einordnen und mittels vernünftigem Denken sich Seiner vergewissern könnte, etwa durch »Gottesbeweise«, wie sie Thomas von Aquin vorlegt,19 der dann aber gegen Ende seines Lebens doch wohl die Brüchigkeit seines Systems zur Kenntnis nehmen musste, da er mit dem Schreiben mitten im Artikel über die Buße aufhörte und seine ›Summa theologica‹ unvollendet ließ.20 Nikolaus Kabasilias, der den Hesychasmus für die Laien in der Kirche durch seine Mysterientheologie fruchtbar gemacht hat, sagt in Bezug auf die im Zusammenhang der mit dem immerwährenden Gebet erstrebten Schau Gottes über die nach Reinigung, Erleuchtung und Vollendung Strebenden: »Und mag ihnen auch, solange sie noch im Leibe leben, die Zukunft schon gegenwärtig aufleuchten, ja mögen sie auch schon der Siegespreise gewahr geworden sein, so doch nicht dauernd, ununterbrochen und auch nicht voll18 19

Ps.-Dionysius, DN I,1, ed. Suchla, BGrL 26, S. 21. Vgl. Thomas von Aquin, S.th. Ia, qq. 1–26; bes.: Ia, q.2, a.3. Vgl. auch Lossky, Mystische Theologie, S. 36. 20 Vgl. dazu David Berger, Thomas von Aquins ›Summa theologiae‹, Werkinterpretationen, Darmstadt 2004, S. 28–30; Thomas soll auf Anfrage eines Bruders gesagt haben: »Ich kann nicht mehr, denn alles, was ich geschrieben habe, scheint mir wie Stroh zu sein im Vergleich mit dem, was ich gesehen habe und was mir offenbart worden ist« (daselbst S. 29).

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V. Zur Bedeutung der Negativen Theologie für den christlichen Glauben

kommen. Denn das Leben fasst das nicht. Darum sagt Paulus: ›In der Hoffnung freuen wir uns‹ (Röm 12,12), und ›im Glauben wandeln wir, nicht im Schauen‹ (2Kor 5,7) und ›(nur) teilweise erkennen wir‹ (1Kor 13,9). Wenngleich er Christus gesehen hat (1Kor 9,1; 15,8), so war ihm diese Schau doch nicht jederzeit gegeben. Immerdar geschaut wird das erst im kommenden Leben. Auch darauf weist Paulus selber hin, wenn er seinen Ausführungen über die Ankunft Christi hinzufügt: ›Und wir werden allezeit im Herrn sein‹ (1 Thess 4,17).«21 Und Kabasilas ergänzt diese Aussage etwas später noch mit den Worten: »In dieser Liebe und Freude aber besteht das selige Leben. Dieses Leben ist zum Teil zwar verborgen, nach dem Wort Pauli: ›Verborgen ist euer Leben‹ (Kol 3,3). Zum anderen Teil aber tritt es in Erscheinung. Und wie der Herr sagt, ›weht der Wind, wo er will, und du hörst sein Brausen, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es auch mit jedem, der aus Pneuma geboren ist‹ (Joh 3,8) ... Was sich jedoch den Teilhabern dieses Lebens zeigt, ist die unsagbare Liebe zu Gott und die Freude an Ihm.«22

21

Vgl. Kabasilas, Das Buch vom Leben in Christus, ed. Hoch (wie oben Anm. 47), VII,101, S. 269f. 22 Kabasilas, Buch vom Leben in Christus, ed. Hoch VII, 103–104, S. 270.

VI. Zum Glaubensverständnis der vom Hesychasmus geprägten orthodox-byzantinischen Theologie

»Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht auf das, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht«, so oder ähnlich wird zumeist Hebr 11,1 gemäß dem Luthertext, dem auch die Zürcher Übersetzung hier folgt, zitiert. Doch diese Übersetzung ist in doppelter Hinsicht problematisch: – ›Feste Zuversicht‹ ist eine Übersetzung des griechischen Begriffs ›Hypostasis‹, bei welcher nicht eine Überzeugung oder Gesinnung, sondern das Vermögen, die eigenständige personale Existenz durchzuhalten, im Vordergrund steht. Man wird den ersten Teil dieses Bibelzitates also besser mit der Jerusalemer Übersetzung formulieren: »Es ist aber der Glaube ein Feststehen (oder Durchhalten) in den Dingen, die man hofft.« – Von ›Zweifel‹ ist im Text nicht die Rede. Den griechischen Begriff ›elenchos‹ [Erprobung, Überprüfung] übersetzt man hier m.E. am besten mit ›Sich-Einlassen‹: »und ein Sich-Einlassen auf das, was man nicht sieht«.1 Damit bekommt der Glaube eine andere Dimension. Er ist nicht mehr das ›Für-wahr-Halten‹ eines für mich befremdlichen Sachverhaltes gegen den Zweifel, sondern er ist ein Weg, den ich trotz meiner Unwissenheit und dem oft gegenwärtigen Zweifeln gehen kann, indem ich eine Wirklichkeit zulasse, die man nicht sehen und mit den Sinnen oder dem Verstand überprüfen kann, sondern die man erproben muss.

1

Nicht jeder Zweifel ist negativ zu bewerten, das wussten schon die altkirchlichen Väter. So kann Johannes von Damaskus in der siebten Ode seines Kanons zum ersten Sonntag nach Ostern (Antipascha; Thomas-Sonntag) festhalten: »Nicht war es umsonst, dass Thomas zweifelnd (diastasas) nicht zustimmte Deiner Erweckung. Nein, über allen Zweifel eilte er, diese allen Völkern zu erweisen, o Christus. So führte er durch Unglauben alle zum Glauben und lehrte sie sagen: Du bist der Herr! Der Väter und unser Gott, gesegnet bist Du!« Und im vierten Stichiron (poetischer Vers) zur Großen Vesper des Vorabends dieses Festes kann der Damaskener ausrufen: »O, schöner Unglaube des Thomas! (Ô kalê apistia tou Thôma!).«

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VI. Zum Glaubensverständnis der vom Hesychasmus ...

Dies hängt damit zusammen, dass das Reden von Gott ganz wesentlich von Antinomien [widersprüchlichen, gültigen Sachverhalten] und Gegensätzen gekennzeichnet ist.2 a) Die Grundantinomie des christlichen Glaubens ist der Sachverhalt, dass Gott in Seinem Wesen für uns völlig unfassbar, unbegreifbar, ja undenkbar ist und uns dennoch durch Seinen Sohn im Heiligen Geist an Ihm Selbst Anteil gibt, Sich mit uns vereint und uns so vergöttlicht.3 Bereits die drei großen Kappadokier, Basilius der Große, Gregor von Nazianz und Gregor von Nyssa, haben um diese Antinomie gewusst und die Unfassbarkeit und Unbegreifbarkeit des göttlichen Wesens betont,4 aber erst in den Auseinandersetzungen um den Hesychasmus5 und die Unterscheidung von Wesen und Energie des Heiligen Geistes zwischen Gregor Palamas (1296/7–1359) und seinen Gegnern, dem kalabresischen Mönch Barlaam, Gregor Akindynos (gest. 1347), einem ehemaligen Schüler von Palamas, und dem Humanisten Nikephoros Gregoras (1390/92–1361), ist die Bedeutung und Tragweite dieser Antinomie deutlich geworden.6 2

Vladimir Lossky, À l'image et à la ressemblance de Dieu, Le buisson ardent, Paris 1967, S. 64 hat darauf aufmerksam gemacht, dass dieses Denken in Antinomien innerhalb der östlichen Theologie tief verwurzelt ist. Schon die ersten Konzile im 4. Jahrhundert haben diese Denkstruktur benutzt, so die Konzile von Nikäa und Konstantinopel, wo es um Einheit und Dreiheit, Wesen und Hypostasen Gottes in der Triniätslehre ging, oder die Konzile von Chalkedon und Konstantinopel im 5./6. Jahrhundert, wo in der Christologie die Antinomie von Zweiheit und Einheit, wahrer Gott und wahrer Mensch, festgehalten werden musste. Aber auch Antithesen wie Unsagbarkeit des göttlichen Mysteriums und Offenbarung des göttlichen Heilsgeschehens oder: absolute Transzendenz Gottes und Immanenz der Gotteserfahrung sind hier schon früh zur Sprache gekommen. Das Denken in Antinomien ist also der christlichen Tradition von Hause aus eigen. 3 ›Vergöttlichung‹ meint hier nicht eine Vereinigung mit dem Wesen Gottes, sondern ein Anteilbekommen an Seinen Wirkkräften. Deshalb sprechen wir im Deutschen bewusst nicht von ›Vergottung‹, sondern von ›Vergöttlichung‹. 4 Basilius Magnus, Adv. Eunomium I, 12–14, ed. G.-M. Durand et L. Doutreleau, SChr. 299, S. 214–225; Gregor von Nazianz, Or. 28,22–31, ed. Sieben, FC 22, S. 138–167; vgl. auch Or. 29,2 und 8, daselbst S. 172f. und 184–187, sowie Or. 40,5, ed. P. Gallay, SChr. 358, S. 204–207; Gregor von Nyssa, In Cantica Canticorum homilia XV, zu Cant. 6,9, ed. F. Dünzl, FC 16/3, S. 824–829. 5 ›Hesychia‹: »Ruhe« in der Konzentration aufs Gebet. Die Hesychasten waren Mönche, die gemäß 1Thess 5,17 (»Betet ohne Unterlass!«) einen kurzen Gebetsruf (z.B. Kyrie eleison) unablässig wiederholten und bei diesem monologistischen Gebet auch manchmal von der Schau des göttlichen Lichtes überwältigt wurden. 6 Gregor Palamas wandte sich 1337 erstmals gegen Barlaams Tolerierung des ›Filioque‹ (Ausgang des Heiligen Geistes vom Vater »und vom Sohn« »wie aus einem Ursprung«), da dieses eine Unterordnung (Subordination) des Heiligen Geistes unter Vater und Sohn bedeuten würde. 1338–41 verfasste er dann gegen

VI. Zum Glaubensverständnis der vom Hesychasmus ...

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b) Denn die Folge der besagten Grundantinomie ist eine zweite Antinomie, die den zentralen Punkt der Auseinandersetzungen zwischen Gregor Palamas und seinen Gegnern bildete: Palamas’ Unterscheidung zwischen dem göttlichen Wesen und dessen Wirkkräften, den Energien, die beide eins sind und dennoch unterschieden werden müssen. Denn nicht das Wesen Gottes oder Seine Hypostasen sind es, die die Gläubigen erfüllen und so ihre Vergöttlichung bewirken, sondern deren Wirkkräfte (Energien).7 Barlaam, Akindynos und Gregoras haben Palamas des Polytheismus angeklagt,8 weil er auch diesen Energien das volle Gottsein zuschreibt: Sie sind »ungeschaffen« wie Gott selbst, gehen aus Gottes Sein hervor, vergleichbar den Strahlen, die aus der Sonne hervorbrechen, aber sie sind nicht Gottes Sein in Seiner unfassbaren Ganzheit. Östliche Humanisten wie westliche Theologen haben sich bis in die Gegenwart hinein immer wieder gewundert, was diese Unterscheidung, die auf einer ökumenisch einberufenen Synode 1351 in Konstantinopel für die Orthodoxen Kirchen endgültig dogmatisiert Barlaam, mit dem er durch Vermittlung seines ehemaligen Schülers Gregorios Akindynos im Briefwechsel stand, auf Bitten seiner hesychastischen Freunde seine drei »Triaden zur Verteidigung der heiligen Hesychasten« und den »Tomos Hagioreitikos«, eine Verteidigungsschrift, die von den wichtigsten Vorstehern und Einsiedlern des heiligen Berges Athos unterzeichnet und schließlich in Konstantinopel von den Synoden der Jahre 1341 und (endgültig) 1351 angenommen wurde. Nachdem Barlaam infolge seiner Niederlage heimlich in den Westen zurückgekehrt war, wandte sich Gregor Akindynos gegen Palamas’ Unterscheidung von Wesen und Energie Gottes und erreichte 1344 aus politischen Gründen dessen Verurteilung und Exkommunikation, was allerdings auf drei Synoden 1347 und 1351 wieder zurückgenommen wurde. Akindynos und der Humanist Gregoras wurden 1347 verurteilt. Während Akindynos noch 1347 starb, kämpfte Gregoras bis an sein Lebensende gegen Palamas’ Lehre, ohne ihre Dogmatisierung rückgängig machen zu können. 7 Grégoire Palamas, Défense des saints hésychastes III,1,34, Introduction, texte critique, traduction et notes par Jean Meyendorff, 2 Bde, Spicilegium Sacrum Lovaniense 30–31, 2. Aufl. Leuven 1973. Vgl. daselbst Bd. 31, S. 624f.: »Die vergöttlichende Gabe darf nicht mit dem überwesentlichen Wesen Gottes identifiziert werden; sie ist vielmehr die vergöttlichende Energie des überwesentlichen Wesens Gottes. Sie ist das aber nicht in Ganzheit, obwohl Es [– gemeint ist das Wesen Gottes –] in Sich unteilbar ist.« 8 Juan Nadal Cañellas, La résistance d'Akindynos à Gregoire Palamas. Enquête historique avec traduction et commentaire de quatre traités édités récement. Commentaire historique, 2 volume, Spicilegium Lovanense 50,1 et 2, Leuven 2006, bes. I,6, S. 10f.; I,13, S. 18f.; Nikephoros Gregoras, Rhomäische Geschichte. Historia Romaike. Übersetzt und erläutert von Jan Louis Dieten und Franz Tinnefeld, BGrL 66, Stuttgart 2007, S. 45f. Vgl. Grégoire Palamas, Défense des saints hésychastes III,1, 24–26, ed. J. Meyendorff SSL 31, S. 434–439. Ebenso Gregor Palamas, Tomos Hagioreitikos, Philokalia tôn hierôn nêptikôn, tomos D' Athen 1971, S. 189, Zeilen 24–28.

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worden ist, soll. Ist sie nicht eine völlig willkürliche Verdoppelung der göttlichen Wirklichkeit, die letztlich nichts bringt, ja sogar einen Ansatz zur Aufweichung des christlichen Monotheismus in sich birgt? So haben das Palamas’ Gegner gesehen. Doch für Gregor Palamas war diese Unterscheidung eine Denknotwendigkeit, da er darum bemüht war, beides gleichermaßen festzuhalten: die Unfassbarkeit Gottes, die den Vätern des vierten Jahrhunderts bis hin zu Ps.-Dionysius Areopagita und Maximus Confessor so wichtig war, aber auch die Hoffnung darauf, dass Gott uns durch Christus im Heiligen Geist mit Sich vereine, so dass wir in einem neuen unvergänglichen Leben an Seiner »doxa« (Glorie, Herrlichkeit, Lichthaftigkeit, Weisheit, Güte) Anteil bekommen und auf diese Weise die Vergöttlichung erlangen. Da für Palamas der Heilige Geist genau so wie Gott Vater und Sohn als göttliche Hypostase (Person) ernst genommen werden muss,9 ist auch Er in Seinem Wesen nicht fassbar und leiblich oder geistig erreichbar; Er ist bei uns, in uns und um uns durch Seine Wirkkraft, Seine Energie, Seine Ausstrahlung, Sein Wirken. c) In der so verstandenen Unterscheidung von Wesen und Energien Gottes kommt ein dritter Gegensatz zum Vorschein: die Einheit der göttlichen Energien einerseits und ihre Vielheit andererseits. Die Einheit der göttlichen Energien kommt insofern zum Tragen, als dass dort, wo der Heilige Geist wirkt, auch der Vater und der Sohn mitwirken, also immer alle drei Hypostasen wirksam sind: Die Energie ist eine, allen Hypostasen Gemeinsame.10 Sie ist aber teilbar, während das Wesen Gottes unteilbar ist. Denn an den göttlichen Energien kann man Anteil haben, nicht aber am göttlichen Wesen.11 9

Dem steht die immer wieder bewusst oder unbewusst favorisierte Anschauung entgegen, der Heilige Geist sei ein Fluidum, ein Gott untergeordnetes Hilfsmittel, um uns Seine Gaben zu schenken. Aber diese Auffassung ist schon 381 im Glaubensbekenntnis des Zweiten Ökumenischen Konzils deutlich zurückgewiesen worden, indem im dritten Artikel des Glaubensbekenntnisses dem Heiligen Geist das »Herr-Sein« und »Leben-Schaffen« (to kyrion, to zôopoion) zugesprochen wird. In der Auseinandersetzung zwischen Palamas und Barlaam um das »Filioque« hebt Palamas den Sachverhalt hervor, den bereits die antiarianischen Väter des 4. Jahrhunderts in Ost und West gelehrt hatten, nämlich dass es keine Unterordnung (Subordination) des Heiligen Geistes unter Vater und Sohn geben könne, sondern dem Geist die Wesensgleichheit mit Vater und Sohn zukomme. 10 Gregor Palamas, 150 physische, theologische, ethische und praktische Kapitel, Kap. 138, in; Philokalia tôn hierôn nêptikôn, tomos D' S.183: »Das Wirken (energeia) der drei göttlichen Personen ist nicht insofern ein einziges, als es im Verhältnis der Ähnlichkeit steht (hôs homoia), wie das bei uns der Fall sein kann, sondern es ist wirklich auch zahlenmäßig (kai to arithmô) eins.« 11 Gregor Palamas, 150 physische, theologische, ethische und praktische Kapitel, Kap. 110, in; Philokalia tôn hierôn nêptikôn, tomos D', S.172. Deutsch: Philokalie der heiligen Väter der Nüchternheit, ed. Gregor Hohmann / Dieter Süssner, Bd. IV,

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d) Schließlich findet sich eine weitere Antinomie, die die Gegner von Palamas gegen diesen ausspielten. Sie besteht darin, dass das Licht der Verklärung Christi, wie das der Gottesschau der Hesychasten (also z.B. von Symeon dem Neuen Theologen oder von Gregor Sinaites), kein sinnliches und kein intellektuelles Licht ist und dennoch durch den Heiligen Geist von denen, die es sehen, mit den Sinnen und dem Intellekt wahrgenommen wird. So sagt Palamas in seiner ersten Triade an einer Stelle zum Taborlicht: »Es war kein sinnliches Licht, obwohl die Apostel gewürdigt worden sind, es mit ihren Augen aufzunehmen, aber aufgrund einer anderen Kraft, die nicht von den Sinnen stammt. Darum sagen auch die Theologen, dass der Glanz des Angesichtes Jesu unsagbar, unermesslich und zeitlos gewesen sei, da es sich um etwas den Sinnen Unzugängliches gehandelt habe, wie das Licht, in dem die Heiligen wohnen, wenn sie von hier abscheiden zu dem Los, das ihnen im Himmel beschieden ist, da das Licht, das ihnen hier zuteil wird, nur ein Vorspiel des Glanzes ist und ein Angeld des Lohnes, der sie dort erwartet. Auch wenn dies alles ›Licht‹ genannt wird und manchmal den Sinnen auf eine paradoxe Weise zugänglich scheint, ist es doch höher als das Denkvermögen (der ›nous‹), und selbst die Namen, die wir ihm geben, erreichen die Wirklichkeit nicht.«12

Und in einer Predigt zum Fest der Verklärung Christi aus der Zeit seines Episkopates in Thessalonikê erklärt Palamas dies seinen Zuhörern mit den Worten: »Das Licht, das Christi Verklärung umgab, ... [es war] das Licht Seiner Gottheit ... Daher war dieses Licht nicht sinnlich und die, die es schauten, sahen es nicht einfach mit ihren leiblichen Augen, sondern mit verwandelten Augen durch die Kraft des Heiligen Geistes.«13

Doch wie kommen die Gläubigen zu den verwandelten Augen? Wie erlangen sie den Heiligen Geist? Was ermöglicht ihnen das Feststehen und Durchhalten in der Hoffnung auf Dinge, die man nicht sieht? Es gab damals unter den Gegnern von Palamas Mönche, die meinten mit der Trennung von der Welt, mit der Armut, der Enthaltsamkeit, dem Fasten, dem ununterbrochenen Beten, dem Psalmenlesen, den Gehorsamsübungen sich die Gaben des Heiligen Geistes aneignen zu können. Würzburg 2004, S. 397f.: »Das, wovon man sagt, es habe Anteil (metechein) an etwas, besitzt einen Teil von dem, woran es Anteil hat. Denn hat es nicht an einem Teil, sondern am Ganzen Anteil, dürfte man mit Fug und Recht sagen, es besitze dieses, doch nicht, es habe an ihm Anteil. Teilbar ist also das, woran man Anteil hat, da ja das, was Anteil hat, notwendig an einem Teil Anteil hat. Die Wesenheit Gottes jedoch ist ganz und gar unteilbar und man kann somit auch ganz und gar keinen Anteil an Ihr haben.« 12 Vgl. Grégoire Palamas, Défense des saints hésychastes I,3,28, ed. Meyendorff, SSL 30, S. 170f. 13 Grégoire Palamas, Douze Homélies pour les Fêtes. Introduction et traduction de Jérémie Cler, L'Échelle de Jacob, Paris 1987, S. 195.

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Aber die maßgeblichen Theologen und geistlichen Väter – unter ihnen auch Gregor Palamas – haben sehr wohl gewusst, dass der Heilige Geist Seine Gaben zwar nur dort gibt, wo sie ernsthaft erwünscht sind und erstrebt werden – daher müssen wir um sie bitten und für ihren Erhalt kämpfen –, aber dass Er sie nicht nach Verdienst gibt, sondern aus reiner Gnade. ›Aus Gnade‹, das heißt: aufgrund der Erlösung durch Jesus Christus. Nikolaos Kabasilas14 sagt es so: »Denn alle, die Seinen Tod, den Er wahrhaft um unseretwillen erduldete, in gewissen Symbolen [sc. der Kirche] wie in einer Zeichnung nachahmen – die erneuert Er durch die Wirklichkeit selbst, die formt Er neu, die macht Er zu Teilhabern Seines eigenen Lebens. Indem wir nämlich in den heiligen Mysterien, [die Er gestiftet hat,] Sein Begräbnis nachzeichnen und Seinen Tod verkünden, werden wir durch sie [die Mysterien] geboren und geformt und über die Grenzen der Natur hinaus mit dem Heilbringer vereint. Denn diese Mysterien sind es, durch die wir in Ihm leben, uns bewegen und sind, wie es Paulus sagt (Apg 17,28). Die heilige Taufe spendet das christusgemäße Sein und eigentliche Existieren. Sie nämlich nimmt Tote und Vernichtete auf und führt diese überhaupt erst ins Leben. Die Salbung mit Myron macht den so Geborenen vollkommen, indem sie ihm eine Wirkkraft (energeian) eingibt, wie sie diesem Leben entspricht. Die heilige Eucharistie schließlich bewahrt und erhält dieses Leben und seine Gesundheit. Denn Bewahrung des Empfangenen und Vollendung des Lebenden: – das bewirkt das Brot des Lebens. So leben wir also durch dieses Brot und bewegen uns kraft des Myrons, nachdem wir aus dem Taufbade das Sein empfangen haben.«15

14

Nikolaos Kabasilas (1319 – ca. 1397/8) stand 1347, als Palamas Erbischof von Thessalonikê wurde, im Dienste von Kaiser Johannes VI. Kantakuzenos und hatte den Auftrag, den neugeweihten Erzbischof in seine Diözese zu geleiten. Da Aufständische dem Erzbischof den Zutritt zu seinem Bischofssitz verweigerten, begleitete Kabasilas ihn auf den Athos, wo er während der Wartezeit als Jurist den Protos Niphon, welcher der Häresie (des Messalianismus) angeklagt war, verteidigte. Nachdem 1350 Palamas seinen Bischofsstuhl doch einnehmen konnte, kehrte Kabasilas wieder nach Konstantinopel zum Kaiser zurück, wo er die Verteidigung von Niphon, dessen Prozess die Gegner an den Patriarchen weitergezogen hatten, erneut übernahm und vor der Synode zu einem guten Ende führte. Allein aus diesen Fakten, wie auch aus seinen Werken, wird deutlich, dass er in der Auseinandersetzung zwischen Palamas und seinen Gegnern auf der Seite Palamas gestanden hat, auch wenn er bis an sein Lebensende nie Mönch oder Priester geworden sein sollte – was manche Forscher annehmen, aber offen bleiben muss – und er sich gerade deshalb bemüht hat, sich darüber klar zu werden, dass auch Weltchristen und Laien an den Gaben des Heiligen Geistes Anteil bekommen können. Dazu Marie-Hélène Congourdeau, Introduction, S. 11–16 in: Nicola Cabasilas, La vie en Christ. Introduction, texte critique, traduction et annotation par MarieHélène Congourdeau. Livres I–IV, SChr. 355, Paris 1989 und Livres V–VII, SChr. 361 Paris 1990. Vgl. dazu auch Boris Bobrinskoy, Nicolas Cabasilas et la spiritualité hésychaste, in: La pensée orthodoxe. Travaux de l'institut de théologie orthodoxe XII,1, Paris 1966, S. 21–42, bes. S. 27ff. 15 Nikolaos Kabasilas, Das Buch vom Leben in Christus. Übertragen von G. Hoch; eingeleitet von Endre von Ivánka, Christliche Meister 14, 3. Aufl., Freiburg

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– Das bedeutet: Das »Sich-Einlassen auf das, was man nicht sieht« ist nach dieser Sicht ein Sich-Einlassen auf die Sakramente der Kirche.16 Denn der Heilige Geist ist gemäß der Verheißung Christi (Joh 14,26) an Pfingsten auf die Apostel herabgekommen, hat sie erleuchtet und uns so das Reich der Himmel geöffnet. Kabasilas formuliert diesen Sachverhalt in seiner Liturgie-Erklärung im Zusammenhang der Eingangsektenie mit einer Bezugnahme auf Eph 2,14: Der Herr (Kyrios) hat durch Sein Kreuz die Mauer der Trennung zwischen Gott und den Menschen niedergerissen; »das Kommen des Heiligen Geistes auf die Apostel hat dies bewirkt. Seither ist den Menschen die heilige Taufe und (...) damit die Quelle aller göttlichen Gnaden eröffnet und wir sind, nach den Worten des seligen Petrus, ›Teilhaber der göttlichen Natur geworden‹ (2 Petr 1,4)«.17

Das heißt allerdings für Kabasilas so wenig wie für Palamas, dass die Natur des Menschen unterschiedslos in die göttliche Natur verwandelt würde. Gott bleibt ›Gott‹, der Schöpfer; der Mensch bleibt Geschöpf, auch wenn er durch Christus Anteil erhält an der ›doxa‹, der Herrlichkeit, dem Licht und dem Glanz Gottes. »Denn, wenn er [der Mensch] auch noch die menschliche Natur trägt und von Natur aus mit den göttlichen Gütern nicht als mit seinen eigenen verkehrt, so ist er mit seinem ganzen Willen doch dort. Und in der Macht des Willens liegt es ja, ob wir uns hieran oder daran freuen, ob diese oder jene Lust in uns herrscht.«18

Das »Festhalten und Durchhalten in Bezug auf die Dinge, die man hofft« ist damit sowohl eine Wirkung des Heiligen Geistes als auch eine Sache des menschlichen Willens. Für Kabasilas enthält diese Aussage keinen drohenden Unterton. Im Gegenteil. Er kann sagen: »Auch das zeugt von der Menschenfreundlichkeit [Gottes], dass Er zwar selbst alles gewirkt hat, was mir die Erlösung bringt, dass Er aber auch uns selber etwas zu unserer Befreiung [und zum neuen Leben in Christo] beitragen lässt ...«19 1991, S. 25 und Nicola Cabasilas, La vie en Christ I,18–19, ed. Marie-Hélène Congourdeau, SChr. 355, Paris 1989, S. 92–95. 16 Wie die Ausgießung des Heiligen Geistes in Gestalt von Feuerzungen an Pfingsten die Voraussetzung dafür ist, dass die Kirche die Gaben des Heiligen Geistes den Gläubigen vermitteln kann, so sind Taufe, Myronsalbung (Firmung, Konfirmation) und Eucharistie (Messe, Abendmahl) die in der Kirche geltenden Voraussetzungen dafür, dass die einzelnen Gläubigen den Heiligen Geist empfangen, was nicht heißt, dass der Heilige Geist Selbst in Seinem Wirken nicht dennoch frei ist, »weht, wo Er will« (Joh 3,8), belebt, wen Er will, und Seine Gaben austeilt, wie Er will. Auch hier stoßen wir also auf eine Antinomie! 17 Nicolas Cabasilas, Explication de la Divine Liturgie I,1. Traduction et notes de Séverien Salaville, 2 sième Edition par René Bornet, Jean Goulliard et Pierre Pérrichon, SChr. 4 bis, Paris 1967, S. 56f. 18 Kabasilas, Das Buch vom Leben in Christo VII,71, ed. Hoch, S. 256. 19 Kabasilas, Das Buch vom Leben in Christo II,47, ed. Hoch, S. 64.

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Es ist allerdings nichts Schweres, Großes: »Unser Anteil an diesem [neuen] Leben ist nur, dass wir die Liebe durch alle Wechselfälle des Lebens hindurch erhalten. Mit dem (gelegentlichen) Lieben allein und mit der Hinnahme des Erlebnisses [der Mysterien] ist es nämlich nicht getan. Man muss es vielmehr im Gedächtnis behalten und dem Feuer Stoff bieten, damit es um sich greife.«20

Wie aber macht man das? Kabasilas bietet zwei Hilfsmittel an: einerseits die Meditation des Heilswerkes und der Wohltaten Christi und ihrer Früchte für uns,21 andererseits das Gebet ohne Unterlass (1Thess 5,17), wie es im hesychastischen Mönchtum geübt und von Gregor Palamas gegen Barlaam verteidigt wurde.22 Ziehen wir das Fazit! Wir sagten es schon: Der Glaube ist nach der Erkenntnis der vom hesychastischen Mönchtum beeinflussten byzantinischen Theologie ein Weg, der Weg der Getauften und Gesalbten, die durch die kirchlichen Sakramente ernährt werden und durch das immer neue Gedenken der Wohltaten Christi und das unablässige Anrufen des göttlichen Erbarmens die Hoffnung auf die Vergöttlichung durchhalten, auch wenn sie wissen, dass Gottes Wesen ihnen verborgen ist und für sie unerreichbar bleibt. Ihnen ist die Teilhabe am göttlichen Licht verheißen, an jenem übernatürlichen Licht, das die Heiligen23 hier auf Erden nur selten und für wenige Augenblicke als ein schwaches Aufleuchten in sich wahrnehmen können, an dem sie aber dereinst in Fülle und ohne Ende teilhaben werden.

20 21 22

Kabasilas, Das Buch vom Leben in Christo VII,93, ed. Hoch, S. 266f. Kabasilas, Das Buch vom Leben in Christo VI,9–11, ed. Hoch, S. 176f. Kabasilas, Das Buch vom Leben in Christo VI,101, ed. Hoch, S. 229f. und VII,33, ed. Hoch, S. 237f. 23 »Heilige« sind alle Gläubigen, die durch die Sakramente Anteil an den Gaben des Heiligen Geistes erhalten und diese durch die Teilnahme am Gebet der Kirche in sich wachsen lassen. Darum ruft in den von den östlichen Vätern (Basilius dem Großen, Johannes Chrysostomus) überlieferten Eucharistiefeiern der Zelebrant vor der Kommunion: »Das Heilige den Heiligen!« Und das Volk antwortet: »Einer nur ist heilig, einer nur Herr, Jesus Christus, in der Herrlichkeit Gottes, des Vaters. Amen!«

VII. Das Schweigen und das Mysterium der Gotteserfahrung bei den monastischen Vätern und Müttern im Osten

1. Schweigen hat seine Zeit und Reden hat seine Zeit1 Die altchristlichen Anachoreten (d.h. die Zurückgezogenen), die außer an Sonn-und Festtagen in Hütten oder kleinen Gemeinschaftssiedlungen (Skiten) getrennt voneinander lebten, pflegten sich von den Altvätern ein Wort zu erbitten, das sie gleichsam »kauen« konnten und das ihren Gedanken zur Nahrung werden sollte. Es sollte ein Wort sein, das seine Wurzeln in der Heiligen Schrift – präziser im Christusgeschehen – hat und zugleich ein konkretes Wort in einer konkreten Situation an bestimmte Menschen ist. Dieses Wort sollte den Anfängern den Einstieg in die neue Lebenssituation erleichtern, die Fortgeschrittenen von der ›Akedia‹ [dem Überdruss]2 befreien und ihnen einen neuen Impuls für ihr asketisches Leben geben. Bewährte Mönchsväter schenkten ein solches Wort denen, die darum baten. Sie taten dies in der Nachfolge des Herrn, der gesagt hat: »Bittet, so wird euch gegeben« (Mt 7,7) und »Wer dich bittet, dem gib!« (Lk 6,30). Es handelte sich dabei um ein Offenbarungswort, »eine Art Mysterium, das nur dem enthüllt wird, der danach Verlangen trägt« – wie Ildefons Herwegen festhält.3 Es ist daher ein sehr persönliches Wort. Der nähere Kontext dieses Wortes, der das Verständnis zu erschließen hilft, ist zunächst die Situation zwischen dem Sprechenden und den unmittelbar Angesprochenen, die in den Apophthegmata4, den Logien (Worten) der Väter, beigegeben wird und diese positioniert. In den Centurien,5 wie sie beispielsweise die Philokalie darbietet,6 fällt 1 2

Pred 3,7b. Vgl. Gabriel Bunge, Akedia. Die geistliche Lehre des Evagrios Pontikos vom Überdruss, 4. Aufl. Würzburg 1995. 3 Ildefons Herwegen, Väterspruch und Mönchsregel, Münster i.W. 1937, S. 13. 4 Die Apophthegmata Patrum sind die im frühen ägyptischen Mönchtum gesammelten Aussprüche der Mönchsväter (Logien der Väter). 5 Centurien werden Zusammenstellungen von hundert (oder einer entsprechend großen Zahl) Aussprüchen eines Altvaters oder geistlichen Lehrers genannt. 6 Philokalia tôn hierôn nêptikôn, Athen 1976–1982; deutsch: Philokalie der heiligen Väter der Nüchternheit, Bd. I, ed. Gregor Hohmann / Dieter Süssner, Würzburg 2004.

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VII. Das Schweigen und das Mysterium der Gotteserfahrung

der rahmende Kontext dann jedoch zumeist weg, was zur Folge hat, dass die in eine konkrete Situation hineingesprochene Lebenshilfe zur allgemeingültigen Anweisung wird. Unter den Apophthegmata aus der Sketis befindet sich folgende Erzählung: »Am Anfang (seines Mönchslebens) kam der Altvater Euprepios zu einem Alten und sprach zu ihm: ›Vater, sag mir ein Wort, wie ich gerettet werde‹. Er antwortete: ›Willst du gerettet werden, so sprich, wenn du einen besuchst, nicht, bevor jener dich fragt‹. Der Bruder war von diesem Wort betroffen, machte einen Fußfall [eine ›proskynese‹] und sagte: ›Wahrhaftig, ich habe viele Bücher gelesen, aber eine solche Unterweisung habe ich nirgends gefunden‹. Und mit großem Nutzen ging er weg.«7

Anderswo in den Apophthegmata der sketischen Mönchsväter lesen wir über den Vater Sisoes, einen Schüler von Makarios dem Großen (ca. 300–397): »Ein Bruder fragte den Abba Sisoes: ›Was soll ich tun?‹ Er belehrte ihn: ›Die Sache, die du suchst, ist: Sehr schweigsam sein und sehr demütig; denn es steht geschrieben: Selig sind, die darin verharren (Jes 30,18). So kannst du bestehen.‹«8

Als eine allgemeine monastische Verhaltensregel erscheint das Schweigen in einem weiteren Apophthegma: »Abba Andreas pflegte zu sagen: ›Dem Mönch geziemen diese drei Dinge: ein Leben als Fremdling, Armut und Schweigen in Geduld.‹«9

Und in den Apophthegmata der heiligen Asketinnen, die von Abba Jesaja für die Monialin Theodora gesammelt wurden, liest man: »Die heilige Theodora fragte einmal die heilige Synkletika: ›Was bedeutet es die eigene Seele zu pflegen?‹ Sie antwortete ihr: ›Ich denke, dass diese Pflege sich in der Stille, dem Schweigen und dem Fasten zeigt. Wer diese drei Tugenden mit Gottesfurcht pflegt, der wird durch die Gnade Christi alle Tugenden erwerben.‹«10 »Die heilige Theodora sagte weiter: ›Die Stille, das Schweigen und das Gebet heilen und bringen den Verstand in Ordnung. Es ist dem Menschen unmöglich, sein Gesicht im Trüben zu erblicken, selbst wenn dieses Gesicht

7

Weisung der Väter. Apophthegmata Patrum, auch Gerontikon oder Alphabethicum genannt. Übersetzung Bonifaz Miller. Einführung Wilhelm Nyssen, Sophia Bd. 6, Trier 1980, Nr. 224, S. 89f. 8 Apophthegmata Patrum, ed. Miller, Nr. 845, S. 278. 9 Apophthegmata Patrum, ed. Miller, Nr. 152, S. 62. 10 Meterikon. Die Weisheit der Wüstenmütter, hg. und übersetzt von Martirij Bagin und Andreas-Abraham Thiermeyer, Augsburg 2004, S. 67, Nr. 89.

1. Schweigen hat seine Zeit und Reden hat seine Zeit

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sehr schön wäre. Ebenso ist die Seele: Ohne Stille, Schweigen und Mäßigung kann sie ihre Sünden nicht erblicken und sich nicht retten.‹«11

Dennoch wird dem Schweigen von den frühen Mönchsvätern zumeist nicht ein grundsätzlicher Vorrang vor dem Reden eingeräumt. »Ein Bruder fragte den Altvater Poimen (ca. 340–450): ›Ist Reden besser als Schweigen?‹ Der Greis antwortete ihm: ›Wer Gottes wegen redet, tut gut daran; wer Gottes wegen schweigt, ebenso gut‹«.12

Der Vorzug des Schweigens liegt darin, dass es dem von Unruhe Geplagten Ruhe verschafft, wie Abba Poimen weiterhin bezeugt: »Bist du ein Freund des Schweigens, dann wirst du Ruhe haben an jedem Ort, an dem du wohnst.«13

Und in den Geistlichen Unterweisungen des Mönches Jesaja an die ehrwürdige Theodora liest man: »Ein Mensch, der sich um viele Dinge sorgt, kann nicht in Frieden, in Stille und in Schweigen leben. Denn die Sorgen um die Dinge dieser Welt bringen ihn gegen seinen Willen in Verwirrung und vertreiben von ihm die Ruhe, die Stille und das Schweigen. Die Kleinlichkeit der irdischen Sorgen überliefern die Seele des Mönchs in die Arme des Teufels.«14

Das ist auch einer der Gründe, warum Basilius der Große (330– 379) in seinen längeren Regeln speziell vom Novizen die Übung des Stillschweigens fordert und erklärt: »Für die Novizen ist das Stillschweigen eine gute Übung. (...) Das Stillschweigen führt auch dahin, dass man das Frühere vergisst, weil man es nicht mehr übt; es gibt außerdem die Muße, das Gute zu erlernen. Aus diesem Grunde soll man immer schweigen, außer in der Sorge für die eigene Seele, aus unvermeidbarer Notwendigkeit für die Arbeit, die man gerade verrichtet, oder bei einer dringend gestellten Frage; selbstverständlich ist auch die Zeit des Psalmengesangs [der täglichen Gottesdienste] davon ausgenommen.«15

Dies bedeutet keine Verachtung der Gottesgabe, reden zu können. In einer seiner Predigten fordert Basilius seine unruhigen Zuhörer mit den folgenden Überlegungen zum Schweigen auf:

11 12 13 14 15

Meterikon, ed. Bagin/Thiermeyer, S. 67, Nr. 90. Apophthegmata Patrum, ed. Miller, Nr. 721, S. 240. Apophthegmata Patrum, ed. Miller, Nr. 658, S. 227. Meterikon, ed. Bagin/Thiermeyer, S. 126, Nr. 102. Basilius von Caesarea, Die Mönchsregeln. Hinführung und Übersetzung von Karl Suso Frank, St. Ottilien 1981, Frage 13, S. 116f.

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VII. Das Schweigen und das Mysterium der Gotteserfahrung »Gott, der uns erschaffen hat, gab uns den Gebrauch der Rede, damit wir einander die Gesinnung des Herzens offenbaren und dank der gemeinsamen Natur einander die Gedanken mitteilen, die wir aus den Gründen des Herzens wie aus Vorratskammern hervorholen. Bestünden wir aus Seelen, so könnten wir unmittelbar gegenseitigen Gedankenaustausch pflegen. Nun arbeitet aber unsere Seele unter einer Fleischeshülle verborgen ihre Gedanken aus; sie braucht also Worte und Namen, um das in der Tiefe Ruhende kund zu tun. Hat dann unser Geist einen bestimmten Ausdruck gefunden, so fährt er in der Rede wie in einem Kahn dahin, durchfurcht die Luft und geht vom Redenden zum Hörenden über. Findet er tiefe Stille und Ruhe vor, so landet die Rede in den Ohren der Schüler wie in ruhigem, sicherem Hafen. Bläst ihr aber wie ein wilder Sturm der Lärm der Zuhörer entgegen, so verhallt sie in der Luft und erleidet Schiffsbruch. Schafft also mit Schweigen Ruhe für die Rede; vielleicht enthält sie etwas Wertvolles, was ihr mitnehmen könnt.«16

Und in den kürzeren Basiliusregeln wird die Frage, ob es angemessen sei, immer zu schweigen, aufgenommen und folgendermaßen beantwortet: »Ob Schweigen angemessen ist, hängt von der Zeit und von der Person ab. Das sagt uns die gotterfüllte Schrift. Von der Zeit, wenn sie sagt: ›Der Weise wird in dieser Zeit schweigen, denn es ist eine böse Zeit‹ (Am 5,13). Und ebenso: ›Ich lege an meinen Mund einen Zaum, solange der Gottlose vor mir steht‹ (Ps 38 [39],2). Von der Person, wenn der Apostel schreibt: ›Wenn jedoch einem anderen, der noch dasitzt, eine Offenbarung zuteil wird, dann soll der Erste schweigen‹ (1Kor 14,30). Und wiederum: ›Eure Frauen sollen in den Versammlungen schweigen‹ (1Kor 14,34). Doch diejenigen, die ununterbrochen reden und jenes Wort nicht beachten können: ›Kein hässliches Wort komme aus eurem Mund, sondern nur ein gutes, das erbaut‹ (Eph 4,29), sollen gänzlich schweigen, bis sie von dieser Krankheit des voreiligen Redens geheilt sind und in Zurückgezogenheit gelernt haben, wann, was und wie sie reden müssen, damit – wie geschrieben steht – ›es den Hörern Segen bringe‹ (ebd.).«17

Während die Kappadokischen Väter des vierten Jahunderts das Schweigen und den Rückzug in die Stille als eine zeit- und zweckgebundene vorübergehende Übung in einem aktiven Leben verstanden und geübt haben, wird von einigen geistlichen Vätern den Frauen, die sich für ein asketisches Leben entschieden haben, ein andauerndes Schweigen ans Herz gelegt. So heißt es in den Geistlichen Unterweisungen des Mönchs Jesaja an Theodora: »Wenn du den Weg finden willst, der zum ewigen Leben führt, dann verharre in Schweigen und vermeide auf jede nur erdenkliche Weise den Umgang 16

Basilius von Caesarea, Homilie ›Hab acht auf dich!‹ in der Übersetzung von ›Texte der Kirchenväter nach Themen geordnet‹, Bd. 3, hg. von Alfons Heilmann u. Heinrich Kraff, München 1964, S. 273f. 17 Basilius von Caesarea, Mönchsregeln, ed. Frank, Frage 208, S. 307f.

1. Schweigen hat seine Zeit und Reden hat seine Zeit

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mit den Menschen. Dann wird Christus Selbst ... zu dir kommen. Aber suche Ihn unermüdlich mit Vertrauen und Gottesfurcht, denn wenige finden Ihn. Sei also eifrig, auf dass du nicht hinter diesen Wenigen zurückbleibst und dann zusammen mit den Vielen in die ewige Pein gehst.«18

Dabei wird, wie hier, die Stille und das Schweigen sehr oft zu einem Mittel, sich den Himmel zu erwerben. So antwortet die ehrwürdige Matrona der heiligen Theodora auf ihre Frage, wie sie ihre Seele erretten könne, mit den Worten: »Wenn du immer in der Stille bleibst, schweigst, nie mit einem Mann sprichst, dich als Dienerin Gottes in Langmut und Mäßigkeit erweist und auf die Gnade Gottes hoffst, wirst du am Tage des Gerichts deinen Anteil mit den Geretteten erlangen.«19

So heißt es auch in den geistlichen Unterweisungen des Mönchs Jesaja für die heilige Theodora: »Wer das Schweigen bewahrt, hat Erfolg in allen Tugenden und ist Gott angenehm. Mühelos wird er ins Reich Gottes gelangen. Wie die Delphine im Meer, wenn es still ist, miteinander spielen, genau so erfreut sich der Schweiger in der Stille seines Herzens mit seinem Herrn.«20

Und in den gleichen Unterweisungen: »Deine Werke aber werden dem Herrn nicht gefallen, wenn du eine Woche lang in deiner Zelle das Schweigen bewahrst, aber hernach deine Zelle verlässt, um zumindestens einen oder zwei Tage lang dem Vergnügen nachzugehen; und dann wieder zu schweigen beginnst. In diesem Fall können deine Werke Gott nicht gefallen. Gott wünscht, dass der demütige Mönch immer in seiner Zelle bleibt, durch seine Ausdauer Frucht bringt und den Kampf gegen die bösen Gedanken führt. Wer sich um das Irdische sorgt, kann nicht nach dem Himmlischen streben und wer sich an das Irdische hängt, der kann nicht die himmlischen Gaben erlangen ...«21

Anders bei den Kappadokischen Vätern des vierten Jahrhunderts. Hier ist die Stille und das Schweigen eine Chance, das aktive Leben auszuhalten und zu bestehen: Basilius hat in seinen Auseinandersetzungen mit Eustathius, dessen Anhängern und Gegnern sowie mit Paulinus von Antiochien und den diesen unterstützenden Hierarchen in Alexandrien, Rom und Mailand die Erfahrung gemacht, dass nicht nur Novizen und Aske18 19 20 21

Meterikon, ed. Bagin/Thiermeyer, S. 154, Nr. 191. Meterikon, ed. Bagin/Thiermeyer, S. 68, Nr. 96. Meterikon, ed. Bagin/Thiermeyer, S. 140, Nr. 133. Meterikon, ed. Bagin/Thiermeyer, S. 99f., Nr. 13.

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VII. Das Schweigen und das Mysterium der Gotteserfahrung

tinnen, sondern auch Bischöfe ihre Zunge nicht beherrschen können und sich von der Logik der eigenen Gedanken mitreißen lassen. Von dem aus einer solchen Haltung erwachsenen Wortgezänk ist er so angewidert, dass er gegen Ende seiner Schrift ›Über den Heiligen Geist‹ schreibt: »Vielleicht ist jetzt die Zeit des Schweigens, von der Salomo in seiner Weisheit spricht (Pred. 3,7). Was nützt es in Wirklichkeit, gegen den Wind zu schreien, wenn ein gewaltiger Sturm das Leben anhält, durch den das Denken derer, die das Wort empfangen haben, – wie das Auge durch eine Staubwolke – durch die Täuschung falscher Schlussverfahren erfüllt und ganz verwirrt wird. Jedes Ohr ist voll von lauten und ungewohnten Geräuschen, alles in Unruhre und Gefahr, zu stürzen.«22 Und im letzten Kapitel desselben Buches schreibt er: »Das harte Geschrei derer, die im Widerspruch verfeindet sind, das unverständliche Gerede und unentwirrbare Geräusch, das durch ein unaufhörliches Geschwätz entsteht, erfüllt schon fast die ganze Kirche. Dieses Geschwätz hat die gerade Lehre des Glaubens in Übertreibungen und Auslassungen verkehrt (...). Deshalb hielt ich das Schweigen für nützlicher als das Sprechen, da keines Menschen Stimme in diesem Lärme zu vernehmen ist. Wenn nämlich die Worte des Ekklesiasten wahr sind, dass ›Worte der Weisen in der Stille gehört werden‹ (Pred 9,17), dann dürfte es im gegenwärtigen Zustand kaum angebracht sein, darüber zu sprechen. Mich hält auch jenes Prophetenwort: ›Der Kluge wird in jener Zeit schweigen, weil es eine böse Zeit ist‹ (Amos 5,13) (...) Weil das alles so ist, war es nötig, zu schweigen, aber die Liebe zog von der anderen Seite; sie, die nicht das Ihre sucht (1Kor 13,5) und dafür hält, jede Schwierigkeit der Zeiten und Verhältnisse zu überwinden.«23

Ferner ist für Basilius das Schweigen ein Mittel der Gotteserkenntnis dort, wo das Reden versagt: Denn wenn schon unser Verstand (›nous‹) von Gottes Größe überfordert ist, so ist es noch vielmehr unser Ausdrucksvermögen: »Gott stets zu gedenken, ist fromm und bringt der Seele, die Gott liebt, keinen Überdruss; im Wort aber das, was Gott betrifft, auszuführen, ist gefährlich, einmal weil der Verstand hinter der Erhabenheit der Gegenstände weit zurückbleibt, sodann weil das Wort das Erkannte nur dunkel wiedergibt. Wenn nun unser Verstand so sehr hinter der Größe der Gegenstände zurück22

Zu Basilius’ Äußerungen zum Schweigen in: Basilius von Cäsarea, Über den Heiligen Geist [DSS] Kap. XXIX. Eingeleitet und übersetzt von Manfred Blum, Sophia 8, Freiburg i.Br. 1967, S. 112. 23 Basilius von Cäsarea, DSS XXX, ed. Blum, Sophia 8, S. 115–117. Basilius rechtfertigt hier sein Schweigen über die Wesensgleichheit des Heiligen Geistes mit Gottt Vater und Sohn, ein Schweigen, das seinen Freunden und Anhängern (allen voran Gregor von Nazianz und Amphilochius von Ikonium) Mühe gemacht hat und mindestens teilweise auch kirchenpolitisch bedingt war; dazu die Verteidigung dieser Haltung in der Trauerrede für Basilius von Gregor von Nazianz, gehalten wohl am 1. Jan. 382, in Or 43,68; vgl. Grégoire de Nazianze, Discours 42–43. Introduction, texte critique, traduction et notes par Jean Bernardi, SChr. 384, Paris 1992, S. 274–278.

1. Schweigen hat seine Zeit und Reden hat seine Zeit

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bleibt, das Wort aber noch schwächer ist als der Verstand selbst, wie wäre da nicht das Schweigen unerlässlich, damit nicht etwa durch die billigen Worte das Wunder der Theologie in Gefahr gebracht wird.«24

Von Gregor von Nazianz (329–389/90) wissen wir, dass er sich öfter ins Schweigen zurückgezogen hat. So hören wir aus seinen Briefen, dass er sich nach seinem Rücktritt als Patriarch während der Fastenzeit 382 einem vollkommenen Schweigen hingab und die Gemeindeleitung seinem Presbyter Kledonius überließ. Er sah sich dann allerdings genötigt, gegenüber diesem wie anderen Gesprächspartnern sein Schweigen in kurzen Mitteilungen zu rechtfertigen.25 Er schreibt ihm: »Du fragst, was unser Schweigen soll? Es soll dem Reden und dem Schweigen das rechte Maß geben. Denn der, der alles beherrscht, wird leichter einen Teil beherrschen; außerdem veredelt es das Gemüt, wenn man sich nicht der Schwätzerei hingibt, sondern sich mit sich selbst befasst.«26 Und: »Was das Wort anbelangt, so schweigen wir, indem wir so lernen, nur das Nötige zu sagen, und wir üben uns darin, die Leidenschaften zu beherrschen. Wenn man das akzeptiert, dann ist es gut; wenn nicht, dann ist auch dies ein Vorteil des Schweigens, dass man den Leuten nicht antwortet.«27

An den kaiserlichen Beamten Palladius schreibt Gregor, sein Schweigen sei eine »neue Art der Zurechtweisung: da ich die Zunge durch Reden nicht im Zaum halten konnte, habe ich [mich] durch das Schweigen zu schweigen gelehrt, indem ich [mir] das Gleiche durch das Gleiche beigebracht habe. So ist auch das Gesetz Christi: weil Er uns nicht durch Gebote entsündigen konnte (vgl. Röm 3,20 und 28), besänftigt Er durch Seine Menschlichkeit den Menschen, entsprechend Seiner großen Herzensgüte in der uns betreffenden Heilsordnung«.28

Für Gregor ist das Schweigen also nichts Bedrückendes, Einengendes, Lähmendes. In einer Rede des Jahres 379/80 beglückwünscht er seine Zuhörer in Konstantinopel, dass sie schweigen können und nicht jederzeit zu reden brauchen.

24

Basilius von Caesarea, Homilie De fide 15,1 zit. nach: Michael Fiedrowicz, Handbuch der Patristik. Quellentexte zur Theologie der Kirchenväter, Freiburg/ Basel 2010, Nr. 818, S. 649. 25 Gregor von Nazianz, Briefe, ed. Wittig, Nr. 107–119, S. 149–153. 26 Gregor von Nazianz, Briefe, ed. Wittig, Nr. 107, S. 149. 27 Gregor von Nazianz, Briefe, ed. Wittig, Nr. 108, S. 149. 28 Gregor von Nazianz, Briefe, ed. Wittig, Nr. 110, S. 150.

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VII. Das Schweigen und das Mysterium der Gotteserfahrung Denn zum Reden und Lehren sei nach der göttlichen Ordnung das Priestertum von Gott gesandt und beauftragt.29

Und in der ersten seiner Theologischen Reden sagt er: »Nicht jedermanns Sache ist es, meine Lieben, über Gott zu philosophieren. (...) Und ich füge hinzu: Man kann auch nicht zu jeder Zeit über Gott philosophieren und auch nicht vor allen und in Bezug auf alles. Vielmehr gibt es eine bestimmte Zeit dafür und bestimmte Hörer und bestimmte Themen. Es ist nicht die Sache aller, denn es ist die Sache von Leuten, die sich bewährt und in der Schau (theôria) schon ein gutes Stück Wegs zurückgelegt haben und die davor schon ihre Seelen und ihren Leib rein gemacht haben oder ganz bescheiden dabei sind, es zu tun. Denn für einen Unreinen ist es wohl nicht ohne Gefahr, Reines zu berühren, wie auch für ein krankes Auge nicht, in das grelle Sonnenlicht zu blicken.«30

Darum gibt er den Rat: »Lasst eure Frömmigkeit nicht häufig über Gott reden, sondern öfter in Ihm schweigen. Denn die Zunge ist eine Falle für die Menschen, wenn sie nicht durch die Vernunft beherrscht wird. Seid euch immer bewusst, dass das Hören weniger gefährlich ist als das Reden und, wenn es um Gott geht, es besser ist zu lernen als zu lehren.«31 Und: »Denken wir daran: Wie es bei der Kleidung, der Lebensweise, dem Lachen und der Art zu gehen einer gewissen Zurückhaltung bedarf, so auch beim Wort und beim Schweigen, denn wir verehren doch mit anderen Namen und Kräften auch das Wort. Wenn wir schon streiten wollen, sollen wir auch dabei gewisse Regeln einhalten.«32

Doch diese Ratschläge können missverstanden werden. Gregor muss präzisieren: »Ich sage nicht, dass man nicht allezeit Gottes eingedenk sein soll. Die da in allem leichtfertig und eilig sind, sollen uns nicht schon wieder im Nacken sitzen! Gottes eingedenk zu sein, ist wichtiger als zu atmen, und man darf, wenn man so sagen kann, überhaupt nichts anderes tun. Auch ich gehöre zu denen, die das Wort empfehlen, welches befiehlt, ›Tag und Nacht zu meditieren‹ (Ps 1,2), Ihn ›am Abend und am Morgen und am Mittag zu verkünden‹ (Ps 54 [55],18) und ›den Herrn jederzeit zu preisen‹ (Ps 33 [34], 2) ... Wogegen ich etwas habe, ist also nicht, ständig Gottes eingedenk zu sein, sondern fortwährend über Gott zu diskutieren. Ich habe auch nichts gegen 29

Grégoire de Nazianze, Discours 32–37. Introduction, texte critique et notes par Claudio Morreschini. Traduction par Paul Gallay, SChr. 318, Paris 1985, S. 100– 113. 30 Gregor von Nazianz, Or. 27,3, ed. Sieben, FC 22, S. 70–73. 31 Gregor von Nazianz, Or. 3,7, in: Grégoire de Nazianze, Discours 1–3, Introduction, texte critique, traduction et notes par Jean Bernardi, SChr. 247, Paris 1978, S. 250–253. 32 Gregor von Nazianz, Or. 27,5, ed. Sieben, FC 22, S. 78f.

1. Schweigen hat seine Zeit und Reden hat seine Zeit

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das Reden von Gott, als ob es etwas Gottloses wäre, sondern gegen die falsche Zeit dafür. Ich habe auch nichts gegen das Lehren als solches, nur gegen die Maßlosigkeit dabei. Bringt denn nicht eine bis zum Überdruss gehende Sättigung mit Honig Erbrechen hervor, obwohl es sich um Honig handelt.«33

Was die Themen betrifft, über die man besser schweigt als redet, denkt Gregor vor allem an die Idiomata [Eigenheiten] der göttlichen Hypostasen, die in Konstantinopel durch den arianisierenden Klerus [den Klerus der Eusebianer und Makedonianer] heftig umstritten waren. So lesen wir in der dritten seiner theologischen Reden: »Noch einmal sage ich missbilligend dasselbe: Das ›Gezeugtsein‹ des [Sohnes] Gottes ist durch Schweigen zu verehren. Es ist schon etwas Großes für dich, zu wissen, dass Er [der Sohn Gottes] gezeugt worden ist. Das ›wie‹ zu begreifen, werden wir nicht einmal den Engeln einräumen, geschweige denn dir. Willst du, dass ich dir das ›wie‹ aufzeige?! Also, so wie der Vater, der Ihn zeugte, es weiß, und der Sohn, der gezeugt wurde, [davon Kenntnis hat] (vgl. Mt 11,27; Lk 10,22), [so ist die Zeugung zu verstehen]. Was darüber hinausgeht, ist von einer Wolke verhüllt (vgl. Ex 14,20; Mt 17,5) und entzieht sich deiner Schwachsichtigkeit.«34

Das gilt nicht nur für die Laien, denn vor falschem Reden am falschen Ort sind auch Synoden nicht gefeit. So schreibt Gregor an Prokopius im Sommer 382, nachdem er die Einladung zur Nachfolge-Synode von 381 bekommen hat: »Mir geht es so, wenn man die Wahrheit schreiben soll, dass ich jede Bischofssynode meide, denn ich habe noch bei keinem Konzil ein glückliches Ende gesehen, noch dass es für die Übel eine Lösung (gefunden hätte), anstattt sie zu vergrößern. Es gibt dauernd Streitigkeiten und Rivalitäten (...) und das mehr, als man mit Worten (beschreiben könnte); man würde schneller wegen Verworfenheit angeklagt, wenn man über die anderen zu Gericht säße, als dass man ihre (Schlechtigkeit) beseitigte. Deswegen habe ich mich auf mich selbst zurückgezogen und gedacht, dass die einzige Sicherheit der Seele die Ruhe ist.«35

Aber auch die Schau Gottes, die in der Heiligen Schrift bezeugt wird, gehört zu den Themen, die sich unserem Reden und Verstehen entziehen: »Wenn Paulus hätte ausdrücken können, was ihm der dritte Himmel (vgl. 2Kor 12,2–4) und der Aufstieg bis dorthin und die Auffahrt und die Entrückung gebracht haben, so hätten wir vielleicht über Gott etwas mehr erfah33

Gregor von Nazianz, Or. 27,4, ed. Sieben, FC 22, S. 74f. (Übersetzung leicht verändert). 34 Gregor von Nazianz, Or. 29,9, ed. Sieben, FC 22, S. 186f. (Übersetzung leicht verändert). 35 Gregor von Nazianz, Briefe, ed. Wittig, Nr. 130, S. 157f.

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VII. Das Schweigen und das Mysterium der Gotteserfahrung ren, wenn dies das Geheimnis seines gewaltsamen Fortgerissenwerdens (harpagês) war. Weil diese Dinge aber nicht in Worte zu fassen waren (vgl. 2Kor 12,4), wollen auch wir sie mit Schweigen ehren. Hören wir nur auf Paulus selber, der da sagt: Denn Stückwerk ist unser Erkennen, Stückwerk unser prophetisches Reden (1Kor 13,9).«36

Gregor von Nyssa (ca. 335 – nach 394), der Ästhet und Dichter unter den Kappadokiern,37 hält wenig von einem extremen Verhalten in Einsamkeit und Schweigen.38 Seine Weise zu schweigen besteht in der Mäßigung hinsichtlich des Gebrauchs der Rhetorik, deren Kunst er sich durch seine Studien angeeignet hatte, wie auch in einem gradlinigen, folgerichtigen Denken sowie einer strengen Orientierung am Skopus der Heiligen Schrift und damit an Christus. Daher lässt er in seinem ›Gespräch mit Makrina über Seele und Auferstehung‹ seine Schwester, die er wiederholt seine »Lehrerin« nennt, über die Textauslegung mit philosophischen Methoden sagen: »Ein Verhalten also, das mit dialektischer Gewandtheit durch syllogistische und analytische Kunst auch unsere Glaubenssätze begründen möchte, erachten wir zum Erweis der Wahrheit als ungenügernd und verdächtig: Deshalb lehnen wir eine solche Ausschmückung der Erörterungen ab. Allen ist ja hinreichend bekannt, dass die dialektische Spitzfindigkeit nach beiden Seiten [hin die] gleiche Kraft besitzt, nämlich [jene] zum Umsturz der Wahrheit wie [jene] zur Widerlegung der Lüge. Infolgedessen bringen wir die Wahrheit selbst, dadurch dass sie mit solcher dialektischer Kunst vorgetragen wird, nicht selten in Verdacht, dass eine derartige Fertigkeit unser Denken betrügen und um die Wahrheit bringen könnte. Wenn man aber nur eine Erörterung zulassen will, die jede Ausschmückung verschmäht und sich keiner Kunstgriffe bedient, so müssen wir nach unseren Möglichkeiten die Untersuchung über unsere Frage Schritt für Schritt unter die Leitung der Heiligen Schrift stellen, wie es ihrem Zusammenhang entspricht.«39

Das Schweigen wird also bei den genannten Vätern des 4. Jahrhunderts einerseits als asketische Übung geschätzt, andererseits aber auch als Bewahrung vor lästigem Geschwätz, unnützen Wortgefechten und entzweiendem Streit unter Brüdern wahrgenommen. 36 37 38

Gregor von Nazianz, Or. 28,20, ed. Sieben, FC 22, S. 134f. Gregor von Nyssa, Briefe Nr. 12 und 20, ed. Teske, BGrL 43, S. 60f. und 78–81. Er ist ja auch kein Mönch, sondern ein verheirateter Bischof, der in sexueller Enthaltsamkeit gemeinsam mit seiner ihm »durch das Gesetz verbundenen Gattin« sein Amt versieht. Vgl. Gregor von Nyssa, Briefe Nr. 18,5, ed. Teske, BGrL 43, S. 72; vgl. auch Gregors Mahnung an Libanius Brief Nr. 14,6, daselbst S. 63f. 39 Gregor von Nyssa, Gespräch mit Makrina über Seele und Auferstehung, BKV, 2. Aufl., Bd. 56, München 1927, S. 267f. (Übersetzung leicht verändert; vgl. auch Fiedrowicz, Handbuch der Patristik Nr. 800, S. 632).

2. Die Bedeutung des Schweigens im Hesychasmus

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2. Die Bedeutung des Schweigens im Hesychasmus Das Schweigen begegnet uns auch in späterer Zeit primär als eine monastische Tugend. Daher erstaunt wohl nicht, dass es dann vor allem im Hesychasmus zu einem zentralen Thema wird, ist doch die ›Hesychia‹ (die Ruhe der Seele) im immerwährenden Gebet ein vordringliches Anliegen dieser Bewegung, angefangen bei Evagrius Pontikus bis hin zu den Hesychasten des 10.–14. Jahrhunderts. Beim Schweigen der Hesychasten geht es aber um mehr als um ein bloßes Schweigen des Mundes, um einen Verzicht, sich mit Wörtern verständlich zu machen. Es geht um eine Gotteserfahrung, die nicht in Worte zu fassen ist, sondern höchstens in Bildern und Metaphern angedeutet werden kann. Schon Evagrius Pontikus (345–399) verbindet mit dem Schweigen mehr als ein situationsgerechtes Verhalten gegenüber feindlichen Einwürfen. In seinem 62. Brief schreibt er: »Das Himmelreich bedarf keiner in der Dialektik versierten Seele, sondern einer schauenden. Die Dialektik nämlich findet man auch bei befleckten Seelen; die Schau hingegen findet man nur bei reinen Seelen. (...) Die Dialektik aber verachte, da sie uns auf unserem Wege nichts nützt. Unser Herr hat ja gesagt: ›Kommet, ihr Gesegneten meines Vaters und erbt das euch vor Grundlegung der Welt bereitete Reich. Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich war ein Fremdling und ihr habt mich aufgenommen; ich war krank und ihr habt mich besucht. Ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen‹ (Mt 25,34–36). Du siehst, dass er bei keinem dieser Dinge die Dialektik erwähnt! Das Wort nämlich ist der Bote der Gedanken, das Himmelreich aber besteht nicht im Wort, sondern in der Kraft‹ (1Kor 4,20). ›Kraft‹ aber wird die Reinheit der Seele genannt, die aus der Liebe entsteht, welche auch du durch unseren Herrn von Anfang an besitz[es]t.«40

Thematisch geht dann Johannes vom Sinaï (575–639/40), genannt Johannes Klimakos, im 11. Kapitel seiner Schrift ›Die Himmelsleiter‹ (›Klimax‹) auf das Schweigen ein. Hier lesen wir: »(3) Bewusstes Schweigen ist Mutter des Gebetes, Rückkehr aus der Gefangenschaft, Bewahrung des Feuers, Aufseher über die Gedanken, Wache für die Feinde, Gefängnis der Trauer, Freund der Tränen, Arbeiter des Gedankens an den Tod, ein Maler der ewigen Verdammnis, unermüdlicher Forscher des Gerichtes, Henker der unruhigen Erwartung, Feind der Vertraulichkeit, Lebensgefährte der Hesychia, Gegner der Liebe zum Lehren, Hinzufügung an Erkenntnis, Schöpfer der Betrachtung, unsichtbarer Fortschritt, unbemerkter Aufstieg. (4) Wer seine Fehler kennt, hält seine Zunge zurück. Der Geschwätzige aber hat die nötige Selbsterkenntnis noch nicht erworben. Der Freund des Schweigens nähert sich Gott und wird im geheimen Zwiege40

Evagrios Pontikos, Briefe aus der Wüste. Nr. 62. Eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Gabriel Bunge, Sophia Bd. 24, Trier 1986, S. 282f.

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VII. Das Schweigen und das Mysterium der Gotteserfahrung spräch mit Ihm von Ihm erleuchtet. Das Schweigen Jesu beschämte Pilatus, und die Stille eines Mannes lässt eitles Gerede aussetzen. (...) (7) Wer sich um seinen Ausgang aus der Welt sorgt, begrenzt sein Reden, und wer die Trauer der Seele innehat, wendet sich von der Geschwätzigkeit ab wie vom Feuer. (8) Wer die Hesychia liebt, verschließt seinen Mund. Wer jedoch Freude beim Ausgehen empfindet, wird von der Leidenschaft aus der Zelle getrieben.«41

Es gibt aber noch eine ganz besondere Beziehung des ›Schweigens‹ zum Hesychasmus. Diese Beziehung wird durch den Begriff des ›Mysteriums‹ angezeigt. ›Mysterion‹ kommt von ›myô‹ und bedeutet das Schließen der Lippen und/oder der Augen und Ohren, d.h. ein ›Sich den weltlichen Eindrücken und Leidenschaften Verschließen‹. Das Mysterium ist ferner das ›Zu-Verschweigende‹. Innerhalb der Kirche östlicher Provenienz ist es das, was in der Alten Kirche der ›Arkandisziplin‹ unterstand, d.h. vor der nicht-christlichen Öffentlichkeit verschwiegen wurde.42 Nikolaus Kabasilas (1319/23–1397/98) vergleicht in seinem ›Buch vom Leben in Christus‹ an einer Stelle die Mysterien mit der verschlossenen Pforte des Paradieses, zu dem Christus einen neuen Zugang geschaffen hat und dessen neue Tore viel ehrwürdiger und heilbringender als jene des Paradieses sind: 41

Heiliger Johannes vom Sinaï, Klimax oder Die Himmelsleiter, Kap. 11, übersetzt von Mönch Georgios Makedos, St. Katharinenkloster und Erzbistum Sinaï, Athen 2000, S. 157–159. Zu Johannes Klimakos vgl. Therese Hainthaler, in: Alois Grillmeier, Jesus der Christus im Glauben der Kirche, Bd. II/3: Die Kirche von Jerusalem und Antiochien nach 451 bis 600, Freiburg i.Br. 2002, S. 128–134. 42 ›Mysterium‹ wird im Deutschen oft mit ›Geheimnis‹ übersetzt, was insofern irreführend ist, als ein Geheimnis, das verraten und offenbart wird, aufhört, ein Geheimnis zu sein, während das Mysterium zwar verraten und offenbart werden kann, aber dadurch nicht zu existieren aufhört. Es ist ferner auch das, was im Lateinischen seit Tertullian »sacramentum« (Diensteid) genannt wird: also Taufe, Myronsalbung, Kommunion an Leib und Blut Christi, Absolution in der Beichte und in der Krankensalbung, Weihen von Bischöfen, Priestern, Diakonen und Mönchen, sowie die Ehekrönung. Im Unterschied zur Römischen Kirche, welche die Anzahl der Sakramente auf sieben begrenzt hat, wird die Zahl der Mysterien in den Kirchen des Ostens nicht begrenzt. So wird auch das Reich Gottes – gemäß Mt 13,11; Mk 4,11 – als Mysterium bezeichnet und die Verkündigung des Heilswerkes Christi – wie Röm 16,25f. (vgl. auch Eph 3,3–6; 6,19) – als Mysterium verstanden. Christus Selbst und der Glaube an Ihn wird Mysterium genannt (Kol 1,26f.; 2,2; 4,3; 1Tim 3,9). Aber ebenso wird von der Eucharistie, dem Psalmengesang und dem inbrünstigen Gebet, den Tränen wahrer Buße als von ›Mysterien‹ gesprochen. In diesem Sinne stellt das ›Mysterium‹ sich als ein Geschehen dar, das den Menschen voll und ganz in Anspruch nimmt und ihm keine Möglichkeit lässt, sich nach außen zu wenden. Das bedeutet: Auch wenn die Arkandisziplin heute nicht mehr im ursprünglichen Sinn praktiziert wird, bleibt das Mysterium mit dem Schweigen eng verbunden.

2. Die Bedeutung des Schweigens im Hesychasmus

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»Denn die Paradiestore öffnen sich nur dem, der vorher durch die Tore der Mysterien eingetreten ist. Und die Mysterientore taten sich auf, nachdem die Paradiesestore sich geschlossen hatten. Ferner konnten die Paradiestore die Bewohner auch nach außen entlassen; diese [sc. Mysterientore] aber gewähren nur Eintritt und weisen niemanden wieder hinaus. Jene konnten auch geschlossen werden, und tatsächlich wurden sie ja auch geschlossen. Bei den Mysterien ist der Vorhang vollständig beseitigt und die Trennmauer niedergerissen. (...) Das Leben aber, das der Herr durch Seine Ankunft gebracht hat, besteht darin, dass die Menschen, die durch diese Mysterien hindurchgehen, teilhaben an Seinem Tod und Gemeinschaft gewinnen an Seinem Leiden. Ohne das kann niemand dem Tode entrinnen. Wer nicht getauft ist in Wasser und Pneuma [Heiliger Geist], kann nicht ins Leben eingehen (Joh 3,5); und wer nicht des Menschensohnes Fleisch isst und nicht Sein Blut trinkt, der kann auch kein Leben in sich haben (Joh 6,53).«43

Simeon von Thessalonikê (1418/25–1429) gebraucht in seiner Liturgieerklärung an vielen Stellen den Begriff des Mysteriums: Er spricht vom Mysterium Christi, das die Engel, welche den Dienst der Diakone vollziehen, dienend mitgeteilt haben,44 vom Mysterium der Trinität, das im Trishagion besungen wird,45 vom »ganz reinen Mysterium«, das in der Liturgie vollzogen wird und zu dessen Ausübung der Bischof seine Hände wäscht,46 vom Schließen des Vorhangs der Heiligen Pforte nach dem Großen Einzug mit den Heiligen Gaben, »da es nicht für alle geziemend ist, die Mysterien zu sehen, sondern nur für den als Priester Wirkenden«, und er bezeichnet die Einsetzungsworte als »die Anamnese der Mysterien«.47 Das Herzstück seiner Darlegungen stellt aber sein Kapitel über das Mysterium der Vollendung der Eucharistischen Gaben durch die Geist-Epiklese [Herabrufung des Heiligen Geistes auf »uns und diese Gaben hier«] dar: »Eine ist nämlich die Macht und die Wirkkraft der Trinität und nichts, was der fleischgewordene Sohn zur Vollendung gebracht hat, ist so, dass der Vater nicht zugestimmt oder der Heilige Geist nicht mitgewirkt hätte. Wer also hinsichtlich des Vollzugs der Mysterien die Gebete des Priesters geringschätzt, lässt auch bei allen (anderen) Riten, die der Vollendung dienen, ein 43

Nikolaos Kabasilas, Das Buch vom Leben in Christus, I,40 und 42. Übertragen von G. Hoch; eingeleitet von Endre von Ivánka, Christliche Meister 14, 3. Aufl. Freiburg i.Br. 1991, S. 35f. 44 Symeon von Thessaloniki, Über die göttliche Mystagogie. Eine Liturgieerklärung aus spätbyzantinischer Zeit. Aus dem Griechischen übersetzt von Wolfram Gamber; eingeleitet und herausgegeben von Klaus Gamber, Studia Patristica et Liturgica, Beiheft 12, Regensburg 1984, S. 27, Nr. 53. 45 Symeon von Thessaloniki, Mystagogie Nr. 60–61, S. 28f. 46 Symeon von Thessaloniki, Mystagogie Nr. 75, S. 32. 47 Symeon von Thessaloniki, Mystagogie Nr. 83, S. 35 und 86, S. 36.

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VII. Das Schweigen und das Mysterium der Gotteserfahrung die Vollendung bewirkendes Gebet (telestikên euchên) nicht zu. Ein solcher ist kein Christ ...«48

Damit dürfte deutlich geworden sein, welch zentraler Stellenwert dem Begriff ›Mysterium‹ im hesychastisch beeinflussten Gottesdienst- und Glaubensverständnis der orthodox-byzantinischen Kirche zukommt. Aber, was haben die Mysterien mit dem »Schweigen« zu tun? Dies wird aus dem älteren Cherubischen Hymnus zum Großen Einzug mit den Heiligen Gaben deutlich, dem Hymnus, der heute nur noch in der Basilius-Liturgie des Heiligen und Hohen Samstags gesungen wird. Hier heißt es in der ersten Strophe: »Es schweige alles sterbliche Fleisch und stehe mit Furcht und Zittern und sinne auf nichts Irdisches; denn der König der Könige und der Herr der Herrscher kommt als Opfer geschlachtet zu werden, gegeben als Nahrung den Gläubigen.«49

Das aber bedeutet: Es gibt ein Schweigen und In-Sich-Gehen, das an den kirchlichen Mysterien hängt. Dieses Schweigen besteht darin, dass die Synaxis (Versammlung der Gläubigen), mit Zustimmung des eigenen freien Willens, von Christus, dem Logos Gottes, so erfüllt wird, dass jeder Einzelne nach außen stumm, taub und blind ist. Die orthodoxen hesychastischen Mönchsväter haben dieses mystische Schweigen, ohne die kirchliche Bindung aufzulösen, auf das persönliche Gebet in der Zelle ausgedehnt. Dabei haben sie, im Gegensatz zu den Messalianern,50 die kirchlichen Mysterien nicht geringgeschätzt, sondern ihr persönliches Gebet gleichsam als Nachvollzug und Fortführung des kirchlichen Betens verstanden, gemäß der Mahnung des Apostels Paulus: »Freuet euch allezeit! Betet ohne Unterlass! Danket bei allem! Denn das ist der Wille Gottes in Christus Jesus für euch« (1Thess 5,16–18). Diese Mahnung wird aber nicht als gesetzliche Ver48

Symeon von Thessaloniki, Mystagogie Nr. 88, S. 40. Es geht hier in der Auseinandersetzung mit der Römischen Kirche um die Frage, ob die Epiklese zur Wandlung der Gaben notwendig sei oder ob diese zum Zeitpunkt und durch das Sprechen der Einsetzungsworte geschehe. 49 Sergius Heitz, Mysterium der Anbetung I, Göttliche Liturgie und Stundengebet der Orthodoxen Kirche, hg. von Erzpriester Sergius Heitz, übersetzt und bearbeitet von Susanne Hausammann und Sergius Heitz, Köln 1986, S. 563. 50 Zu den Messalianern vgl. Friederich Dörr, Diadochus von Photike und die Messalianer. Ein Kampf zwischen wahrer und falscher Mystik im fünften Jahrhundert, Freiburger Theologische Studien 47, Freiburg i.Br. 1937; Klaus Fitschen, Messalianismus und Antimessalianismus, ein Beispiel ostkirchlicher Ketzergeschichte, FKDG 71, Göttingen 1998.

2. Die Bedeutung des Schweigens im Hesychasmus

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pflichtung verstanden, sondern als der kostbare Schatz im Acker, für den, der ihn entdeckt hat, alles herzugeben bereit ist, um ihn zu erwerben. Im Umfeld von Symeon dem Neuen Theologen (949–1022), bei dessen Biographen Niketas Stethatos (1000/3 – ca. 1090) lesen wir in der ›Ersten Centurie praktischer Kapitel‹: »Ein schneller Weg für die Aneignung der Tugend [, die für den Aufstieg zu Gott Voraussetzung ist,] ist für die Anfänger das Schweigen der Lippen, das Schließen der Augen und die Taubheit der Ohren. Nachdem nämlich der Geist dadurch die Untätigkeit dieser (Sinne) erlangt hat, indem er die äußeren Eingänge zu sich verschloss, beginnt er sich selbst und die ihm eigenen Bewegungen zu erfassen, und er erforscht sogleich, welches die Erwägungen sind, die im geistigen Meer der Gedanken schwimmen, und welche die Einsichten sind, die in den Trichter seines Denkens geworfen werden, nämlich ob sie rein und unvermischt mit bitteren Samen sind sowie von einem Engel des Lichts stammen oder mit Unkraut vermengt, voller Spreu sind und von jenen stammen, welche dem Licht feind sind. Und so steht er wie ein selbstherrlicher Gebieter inmitten der Überlegungen, beurteilt und trennt die besseren Gedanken von den schlechteren, nimmt manche der Eingebungen mit seiner Geschicklichkeit und Beweglichkeit an und schafft sie in die geistigen Scheunen, nachdem diese durch das Feuer des (Heiligen) Geistes ausgebrannt und mit göttlichem Wasser erfüllt wurden. Indem er sich davon nährt, wird er gekräftigt und mit Licht erfüllt. Andere (Eingebungen) weist er von sich in den Abgrund des Vergessens, indem er deren Bitterkeit von sich abschüttelt. Dieses Werk jedoch vollzieht sich geistigerweise allein bei dem, welcher den Weg betreten hat, welcher unfehlbar zum Himmel und zu Gott führt, und welcher das trauervolle Gewand der finsteren Leidenschaften abgelegt hat.«51

Und die Petrus von Damaskus (8. Jahrhundert) zugeschriebenen Worte erläutern: »Die heiligen Väter nämlich sagen, dass wir zur Zeit des Gebetes unseren Geist bildlos haben sollen, gestaltlos, farblos und ohne irgendetwas aufzunehmen, kein Licht, kein Feuer oder überhaupt etwas anderes; dass wir vielmehr unser Denken mit aller Kraft allein mit den gesprochenen Worten einschließen sollen; denn wer mit dem Mund allein betet, betet in die Luft und nicht zu Gott. Achtet Gott doch auf unseren Geist und nicht auf unser Plappern wie die Menschen. ›Im Geist‹, heißt es, ›und in der Wahrheit muß man Gott anbeten‹ (Joh 4,24), sowie: ›Ich möchte lieber fünf Worte mit meinem Geist sprechen als zehtausend mit der Zunge‹ (1Kor 14,19).«52

51 Niketas Stethatos, Erste Centurie praktischer Kapitel Nr. 26, Philokalie Bd. IV, ed. Hohmann/Süssner, S. 14 (Übersetzung leicht verändert nach der griech. Ausgabe: Philkalia tôn hierôn nêptikôn, tomos Γ’, Athen 1931, S.278f.); vgl. auch daselbst Zweite Centurie physischer Kapitel Nr. 65, S. 68f. 52 Philokalie Bd. III, ed. Hohmann/Süssner, S. 90f. (Übersetzung leicht an den deutschen Sprachgebrauch angepasst.)

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VII. Das Schweigen und das Mysterium der Gotteserfahrung

Das ›Schweigen‹, um das es hier geht, ist also nicht nur ein Verzicht auf Worte, und es ist auch nicht bloß ein Verzicht auf bestimmte Bilder, sondern ein grundsätzlicher Verzicht auf alle Bilder, Vorstellungen und Wünsche, seien diese nun gut und erhaben oder hässlich und verwerflich. Das erfordert ein stetes Sich-Mühen und Arbeiten und ist wohl im Erdenleben nur stückweise zu erreichen. Der nachmalige Patriarch Kallistos I. von Konstantinopel (1350– 1353 und 1355–1363) und sein Bruder Ignatios, beide aus dem Kloster Xanthopoulos, gelten gemeinsam als Autoren einer Centurie mit dem Titel »Weg und Richtschnur« für »jene, die es erwählen in einsamer Ruhe [Hesychia] und monastisch zu leben«. In dieser Schrift wird Isaak der Syrer (Bischof von Ninive 661–681) zitiert, von dem die folgenden Worte überliefert sind: »›Zunächst wollen wir uns bemühen zu schweigen. Und dann wird aus dem Schweigen etwas geboren, was uns unmittelbar zum Schweigen führt. Gott gebe dir, etwas wahrzunehmen, was aus dem Schweigen geboren wird. Wenn du aber mit diesem Wandel beginnst, weiß ich nicht, welches Licht dir daraus aufgehen wird.‹ Und wiederum: ›Das Schweigen ist ein Geheimnis [Mysterium] der kommenden Zeit. Die Worte aber sind ein Werkzeug dieser Welt‹. Und dem Arsenios53 hat die göttliche Stimme zum zweiten Mal folgendes verkündet: ›Arsenios, fliehe, schweige, sei ruhig, und du wirst gerettet werden.‹«54

Mit diesem ›mystischen Schweigen‹ befasst sich auch Kallistos Kataphygiotes,55 über dessen Identität uns nichts Sicheres bekannt ist, von dem aber 92 Kapitel erhalten sind, die gegen Ende des 14. Jahrhunderts entstanden sein sollen. Er schreibt: »(39) Wenn die Worte die erkannten Dinge betreffen, das Verborgene jedoch unerkennbar ist, dann steht also das Verborgene außerhalb des Wortes. Ist nämlich das Unerkennbare des Verborgenen über der Erkenntnis und benötigt das, was über das Erkennbare ist, keineswegs Erkenntnis, dann wird es noch viel weniger eines Wortes bedürfen. Der Geist also, der zu dem verborgenen und einfachen Einen emporgestiegen ist, übt sich notwendig im Schweigen. Und wenn er nicht von Natur aus und ungekünstelt schweigt, ist er noch nicht aufgestiegen und in das verborgene und über alle Maßen einfache Eine getreten.«56 53

Arsenios der Große (354–445) stammte aus einer römischen Senatorenfamilie und war der von Kaiser Theodosius berufene Erzieher der Kaiser Arkadius und Honorius. 395 zog er sich als Anachoret in die Libysche Wüste zurück und wechselte 410 nach dem Einbruch der Barbaren in die Sketis. Er starb nach wiederholtem Ortswechsel 445 in Troe bei Memphis. 54 Kallistos und Ignatios Xanthopoulos, Weg und Richtschnur Kap. 16,6, Philokalie Bd. V, ed. Hohmann/Süssner, S. 34. 55 Kallistos Kataphygiotes, Aus den schlussfolgernden und erhabensten Kapiteln – soweit sie erhalten sind –, Philokalie Bd. V, ed. Hohmann/Süssner, S. 285–372. 56 Philokalie Bd. V, ed. Hohmann/Süssner, S. 320.

3. Aspekte des Schweigens

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Und etwas später: »(52) Wenn der Geist, unbegreiflich erleuchtet, sprachlos geworden ist und sich zwischen Gott und den göttlichen Dingen wahrnimmt, wird er nach Gebühr die Früchte der geistlichen Erkenntnis kosten, er wird vergöttlicht, freut sich und schreitet zu den göttlichen Sehnsüchten voran. Er spricht dabei keineswegs etwas, noch legt er irgendwie innerlich oder äußerlich etwas dar und offenbart sich, sondern er denkt nicht einmal nach, sieht sich vielmehr geistigerweise und einheitlich im Licht der Wahrheit und des Geistes und macht das, was er sieht, für sich zu unveränderlicher Wonne. (53) Wenn sich das Antlitz des Geistes ins Innere des Herzens neigt und dabei sieht, wie die Erleuchtung des Geistes aus ihm stets sprudelnd hervorquillt, dann ist es höchste Zeit zu schweigen.«57

Weiterhin heißt es im 76. Kapitel in Auslegung von Pred. 5,1: »›Trachte nicht danach‹ spricht Salomon, ›ein Wort vor dem Antlitz des Herrn vorzubringen. Denn Gott ist im Himmel oben und du auf der Erde unten‹. Wie gibt er doch ganz klar und ohne Umschweife an und macht deutlich, welches der Zeitpunkt des Schweigens ist! (vgl. Pred. 3,7). Er sagt ja rundweg: Wenn du, der du unten auf Erden bist, vor das Antlitz des Herrn, der droben im Himmel ist, gelangst und einer solch gewaltigen Gnade gewürdigt worden bist, dass du als Niedriger Himmlisches im Sinne haben und betrachten darfst sowie mit geistigem Schritt vor das Antlitz des Herrn treten kannst, dann trachte nicht danach, ein Wort vorzubringen; denn es ist Zeit zu schweigen. Beabsichtige nicht, wenn du geistigerweise, einförmig und gottähnlich von der Wahrheit beeinflusst wirst – dies nämlich ist es, vor dem Antlitz des Herrn zu sein, wenn der Geist die vielen Dinge im Umfeld Gottes in einfachem und einheitlichem Zugang zu Gott einförmig schaut –; wenn du also dies erlebst und vor das Antlitz des Herrn trittst, trachte nicht danach, ein Wort vorzubringen. Oder du trachtest dann wohl ungeschickt danach, freiwillig hinter dir selbst zurückzubleiben und unter dich selbst hinabzusteigen.«58

3. Aspekte des Schweigens Um Einmütigkeit und Vielfalt der Väterzeugnisse deutlich zu machen, sei der Versuch gewagt, die wichtigsten Askpekte des Schweigens, die wir auf unserem Weg durch die Väterlehren angetroffen haben, in einigen kurzen Sentenzen zusammenzufassen: – Die Mönchsväter des vierten Jahrhunderts geben dem Schweigen keinen grundsätzlichen Vorzug vor dem Reden. Beides hat seine Berechtigung, wenn es zur rechten Zeit, in der rechten Haltung, in 57

Philokalie Bd. V, ed. Hohmann/Süssner, S. 331 (Übersetzung leicht verändert nach der griech. Ausgabe: Philkalia tôn hierôn nêptikôn, tomos E’, Athen 1976, S. 33). 58 Philokalie Bd. V, ed. Hohmann/Süssner, S. 343.

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VII. Das Schweigen und das Mysterium der Gotteserfahrung

Demut und Geduld und eingedenk des göttlichen Gebotes der Liebe geschieht. – Doch für die Anfänger auf dem Weg zur Gotteserkenntnis, die Novizen, ist das Schweigen eine gute Übung in Demut und Geduld; denn dem, der die Herrschaft über sich selbst verloren hat, hilft es, sich wieder in Griff zu bekommen; dem, den der Überdruss eines ungewohnt eintönigen Lebens quält, gibt es neuen Elan, dem, der ob der neuen Abgeschiedenheit in Unruhe geraten ist, lässt es wieder zur Ruhe und zum inneren Frieden zurückfinden. – Mehr noch als den Mönchen wird den Asketinnen und Monialinnen die Stille und das Schweigen ans Herz gelegt, was offenbar mit dem vom Judentum übernommenen Frauenbild zusammenhängt. Dabei ist auffällig, dass in diesem Zusammenhang das Bewahren der Stille und das Schweigen als ein Mittel gepriesen wird, sich das Himmelreich zu erwerben, und dass kaum in den Blick kommt, dass das Heil ein Geschenk Gottes ist und nicht der Lohn für die eigenen Mühen. – Anders bei den Kappadokischen Vätern des vierten Jahrhunderts; hier sind Schweigen und Stille Pausen zur Besinnung und zur Neuausrichtung auf das Wesentliche. – Das Schweigen ist bei diesen ferner ein Mittel, sich unnützem Geschwätz, Wortgefechten und Streit zu verweigern. – Das Schweigen hat seine Legitimation und findet seine Grenzen in der Liebe zu Gott und zum Nächsten. – In dieser Gesinnung ist das Schweigen eine Ehrfurchtsbezeugung gegenüber Gottes Wesen, Gottes Wort, Gottes Geist und Seinen Taten. – Worte sind Werkzeuge der Zeit; das Schweigen ist das Mysterium des kommenden überzeitlichen Äôns. – Das Schweigen entlarvt schöne Worte und prüft sie auf ihren Wirklichkeitsgehalt. – Das Schweigen ermöglicht Selbstkritik und ein eigenständiges Denken, das sich nicht von unserer fehleranfälligen Logik tyrannisieren lässt. – Voraussetzung für ein fruchtbares Schweigen ist, dass man sich willentlich auf dem Weg zu Gott befindet und sich bemüht, seine Leidenschaften abzulegen.

3. Aspekte des Schweigens

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– Denn um das Schweigen muss man sich zunächst bemühen, erst danach wird etwas geboren, das dem Schweigen Tiefe verleiht. – Das Schweigen erweist sich als ein Mittel, das Wort Gottes in sich wirken zu lassen und im Gebet sich in eine innere Zwiesprache mit Gott hineinzufinden. – Über Gott zu schweigen im Wissen darum, dass, wie Gottes Wesen so auch das Wunder Seines Zu-uns-Kommens in Wort und Tat für die menschliche Vernunft nicht fassbar ist, ist ein erster Schriftt zur wahrhaften Gotteserkenntnis. – Wo das Schweigen erwählt wird, nähert man sich Gott und wird im geheimen Zwiegespräch mit Ihm erleuchtet. – Vom ›Schließen des Mundes‹ haben die Mysterien der Kirche ihren Namen und sind insofern durch das Schweigen gekennzeichnet, als das, was sie bewirken, nicht mit Worten ausgedrückt und festgehalten werden kann, sondern höchstens mit Bildern und Metaphern andeutbar ist. – Für die hesychastischen Mönchsväter ist das Schweigen sowohl eine Vorbereitung auf die lichthafte Gotteserfahrung wie auch eine Reaktion auf die Gottesschau und eine Weise, das göttliche Licht in sich zu bewahren. – Für sie ist die Herabkunft des Heiligen Geistes der Zeitpunkt des Schweigens. Denn das Verborgene steht außerhalb der Worte, bedarf der Worte nicht, weshalb man nicht versuchen soll, die Gotteserfahrung in Worte zu fassen. – Daraus folgt: Die Stille und das Schweigen sind selbst als ein Mysterium einzuschätzen, sofern sie zur rechten Zeit, im rechten Maß und in der rechten Gesinnung dem Dreieinen Gott dargebracht werden.

VIII. »Betet ohne Unterlass!« (1Thess 5,17) im altkirchlichen und byzantinischen Mönchtum und im Leben von Christen in der Welt

Trotz der vielfachen Wertschätzung des Schweigens in Gott, waren die Altväter in West und Ost nie der Meinung, Gott verurteile uns Menschen zur Stummheit, wie dies die Despoten dieser Welt gerne tun. Vielmehr ermächtigt uns Gottes Wort, durch unser Reden auf Ihn zuzugehen, Ihn anzurufen. Die Altväter waren denn auch große Beter. Von Altvater Arsenios erzählte man in der Sketis: »Spät am Sabbatabend, wenn der Herrentag aufleuchtet, ließ er die Sonne im Rücken, streckte die Hände aus zum Himmel und betete, bis ihm die Sonne wieder ins Gesicht leuchtete und dann erst setzte er sich.«1

Ferner wird berichtet: »Einmal ging der Altvater Moses aus, um Wasser zu schöpfen. Er fand den Altvater Zacharias betend am Teich und über ihm sah er den Geist Gottes ruhen.«2

Und: »Im Sterben sagte Altvater Benjamin zu seinen Söhnen [Schülern]: Tut dies und ihr werdet das Heil finden, nämlich: ›Freuet euch allezeit, betet ohne Unterlass und sagt bei allem Dank!‹ (1Thess 5,16–18).«3

»Betet ohne Unterlass!« (1Thess 5,17) ist denn auch ein Schlüsselwort für die Lehre vom Gebet im altkirchlichen Mönchtum. Mehr noch: Man wird sagen können, dass die Gebetsunterweisungen der altkirchlichen Väter – die ja insgesamt auf die Heilige Schrift zurückgehen, wie sie in den Herrenworten (Mt 7,7–11 / Lk11,9–13; Lk 18,1–8; Mt 21,21f. / Mk 11,23f.; Joh 14,13f.; 16,23f.), aber auch in der Lehre der Apostel sich finden – letztlich als Interpretationen der paulinischen Aufforderung von 1Thess 5,17 zu verstehen sind. Wenn der Altvater Mose den Heiligen Geist auf dem betenden Vater Zacharius ruhen sah, fasste er in ein Bild, was dem Apostel Paulus im Blick auf das Gebet unverzichtbar war: 1 2 3

Apophthegmata Patrum, ed. Miller, Nr. 68, S. 32. Apophthegmata Patrum, ed. Miller, Nr. 244, S. 95. Apophthegmata Patrum, ed. Miller, Nr. 171, S. 69.

VIII. »Betet ohne Unterlass!« (1Thess 5,17)

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»Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch den wir rufen: ›Abba, lieber Vater!‹. Der Geist selbst gibt Zeugnis unserem Geist, dass wir Gottes Kinder sind.« (Röm 8, 15f.)

und: »Desgleichen hilft auch der Geist unserer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt; sondern der Geist Selbst vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen.« (Röm 8,26)

Aus diesen und entsprechenden Schriftstellen haben die Altväter geschlossen, dass das rechte Gebet nicht bloß ein Produkt unserer Worte, unserer Anstrengungen und Mühen ist, sondern ein vom Heiligen Geist Selbst geleitetes Reden; indem Er unsere Worte zu den Seinen werden lässt. Von Neilos dem Asketen (gest. um 430) sind folgende Gedanken überliefert: »Wenn du beten willst, benötigst du Gott, der dem Betenden das Gebet verleiht. Rufe also zu Ihm mit den Worten: ›Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme‹, d.h. der Heilige Geist und Dein einziggeborener Sohn (Mt 6,9f.). So nämlich hat Er es uns gelehrt, als Er sagte, man müsse den Vater im Geist und in der Wahrheit anbeten (Joh 4,24).«4

Schon Basilius der Große macht in einer seiner Predigten den Zuhörern deutlich, dass rechtes Beten sich nicht auf einzelne Bitten in besonderen Situationen beschränken kann, sondern das ganze Leben begleiten muss: »Gebet ist die Bitte um eine Gabe, die der Gläubige an Gott richtet. Diese Bitte äußert sich aber durchaus nicht bloß in Worten. Wir nehmen ja nicht an, dass Gott mit Worten an etwas erinnert werden muss; Er weiß ja, was uns frommt, auch ohne dass wir bitten. Was wollen wir damit sagen? Dass unser Gebet nicht in Silben aufgehen darf, sondern dass die Kraft des Gebetes mehr in der Gesinnung der Seele und in tugendhaften Handlungen ruht, die sich auf das ganze Leben erstrecken. ›Denn möget ihr essen‹, sagt Paulus, ›oder trinken oder sonst etwas tun: tut alles zur Verherrlichung Gottes‹ (1Kor 10,13). Setzest du dich zu Tisch, so bete! Nimmst du Brot, so danke dem Geber! Stärkst du den schwachen Leib mit Wein, so denke an den, der dir die Gabe zur Freude deines Herzens und zur Behebung deiner Schwächen reicht! Ist die Einnahme der Mahlzeit vorüber, so soll damit die Erinnerung an den Wohltäter nicht vorübergehen. Ziehst du das Kleid an, so danke dem, der es dir gegeben! Wirfst du den Mantel um, so wachse in der Liebe zu Gott, der uns für Winter und Sommer mit passenden Kleidern versehen hat, mit Kleidern, die unser Leben schützen und unsere Scham bedecken. Ist der Tag vorüber, so danke dem, der uns die Sonne für das Tagewerk gegeben und das Feuer zur Erhellung der Nacht und zur Befriedigung der übrigen Lebensbedürfnissse verliehen hat! Die Nacht bietet weitere Anlässe zum Gebet. 4

Philokalie Bd. I, ed. Hohmann/Süssner, S. 296, 59.

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VIII. »Betet ohne Unterlass!« (1Thess 5,17) Gotteserfahrung Schaust du zum Himmel empor und betrachtest die Schönheit der Sterne, so bete zum Herrn der sichtbaren Welten, bete den großen Meister des Weltalls an, der alles in Weisheit gemacht hat! Siehst du die ganze lebende Kreatur in Schlaf versenkt, so bete wieder den an, der auch wider unseren Willen durch den Schlaf unsere Arbeiten unterbricht und durch kurze Ruhe uns wieder zu voller Kraft kommen lässt. Die Nacht soll also nicht gleichsam ausschließlich Eigentum des Schlafes sein. Lass nicht die Hälfte deines Lebens in trägem Schlaf verloren gehen, sondern teile die Nachtzeit in Schlaf und Gebet! Ja, der Schlaf selbst soll eine Übung der Frömmigkeit sein. Die Vorstellungen im Schlafe sind ja doch meist Nachklänge unserer Tagessorgen; wie unsere Lebensbeschäftigungen sind auch unsere Träume. Auf die Weise also wirst du ohne Unterlass beten, wenn du dein Gebet nicht auf Worte einschränkst, sondern in deinem ganzen Lebenswandel dich mit Gott vereinigst, so dass dein Leben ein anhaltendes, ununterbrochenes Gebet ist.«5

Dass diese Weise des Gebetes nicht von heute auf morgen zu erreichen ist, sondern über Jahre viel Kraft und Zeit erfordert, lässt Johannes Karpathios, der um 680 Bischof der Insel Karpathos (in der Ägäis zwischen Rhodos und Kreta) war, in seinen Centurien erkennen. Er argumentiert: »Als der Gotteskünder David bereits hochbetagt war, sprach er (...): ›Jetzt hat Dein Diener sein Herz (bereit) gefunden, dieses Gebet zu sprechen‹ (2 Sam [LXX Könige] 7,27). Dies wurde gesagt, damit wir erkennen, dass es viel Kampf und Zeit im Gebet braucht, damit wir endlich den Zustand des Denkens finden, welcher nicht belästigt wird – gewissermaßen einen zweiten Himmel, der sich im Herzen befindet und wo Christus wohnt, wie der Apostel sagt: ›Oder erkennt ihr nicht, dass Jesus Christus in euch wohnt?‹ (2Kor 13,5).«6

Doch welches sind die Voraussetzungen, dass Gottes Geist sich unseres Betens annimmt, dass Sein Wort unser Wort wird, wir Ihn in Geist und in der Wahrheit anbeten? Maximus Confessor (580–662) schreibt in seiner ›Zweiten Centurie über die Liebe‹: »Der erhabenste Zustand des Gebetes besteht, wie man sagt, darin, dass der Geist beim Gebet aus dem Fleisch und der Welt getreten, völlig von der Materie gelöst und frei von Bildern ist. Wer also diesen Zustand unbeeinträchtigt bewahrt, der betet wirklich ›unablässig‹ (vgl. 1 Thess 5,17).«7

Und ein Mönch, namens Elias Ekdikos (Richter), von dem man wenig weiß und der wohl im 11./12. Jahrhundert lebte, verdeutlicht diese Aussage, indem er auf den Kontext von 1Thess 5,17 zurückgreift: 5

Basilius von Caesarea, Homilie über die Märtyrerin Julitta 3–4; in der Übersetzung von ›Texte der Kirchenväter nach Themen geordnet‹, Bd. 3, hg. von Alfons Heilmann u. Heinrich Kraff, München 1964, S. 195f. 6 Philokalie Bd. I, ed. Hohmann/Süssner, S. 475f.,52. 7 Philokalie Bd. II, ed. Hohmann/Süssner, S. 89,61.

VIII. »Betet ohne Unterlass!« (1Thess 5,17)

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»Auszuharren in Treue fordert uns der göttliche Apostel auf, uns zu freuen an der Hoffnung, im Gebet aber beharrlich zu sein, damit das Gut der Freude bei uns bleibe. Wenn es sich aber so verhält, dann ist also, wer nicht ausharrt, nicht treu, und wer sich nicht freut, nicht voll guter Hoffnung. Hat er doch die Ursache der Freude, das Gebet, von sich geworfen, indem er nicht an ihm festgehalten hat.«8

Den tieferen Grund für ein solches Versagen benennt Elias Ekdikos: »Durch die enge Tür des Gebetes (Mt 7,13a) vermag der leidenschaftliche Geist nicht einzutreten, bevor er nicht seine innerliche Sorge losgelassen hat. Wenn er sich aber mit dem Umfeld jener Tür beschäftigt, wird er stets von Schmerz gequält werden.«9

Und von Neilos dem Asketen werden auch noch folgende Worte tradiert: »Wenn sich dein Geist aufgrund seiner großen Sehnsucht nach Gott allmählich vom Fleisch gleichsam zurückzieht, sich von allen Gedanken abwendet, welche aus der sinnlichen Wahrnehmung, dem Gedächtnis und dem Temperament stammen, und dabei mit Gottesfurcht und Freude zugleich erfüllt wird, dann sei überzeugt, dass du dich den Grenzen des Gebetes genähert hast.«10

Theoleptos von Philadelphia (1250–1325) führt in einer Abhandlung über das Mönchtum das Gemeinte noch weiter aus: »Keinesfalls sollst du, wenn du zu beten meinst, weit von Gott abschweifen, dich nutzlos abmühen und umsonst dahineilen. Dies geschieht bei der Psalmodie des Mundes, wenn der Geist sich anderswo umhertreibt und sich zu den Leidenschaften und den Dingen hin zerteilt, so dass er darum auch das Verständnis der Psalmodie untergräbt. Dies geschieht auch im Denken. Wenn es nämlich die Worte des Gebetes durcheilt, geht der Geist oft nicht an seiner Seite und blickt nicht unverwandt auf Gott, auf den auch das Gespräch des Gebetes gerichtet ist; er lässt sich vielmehr unbemerkt durch manche Vorstellungen abwenden. Das Denken spricht wie gewohnt die Worte, der Geist jedoch gleitet von der Erkenntnis Gottes ab. Darum erscheint dann auch die Seele unverständig und ungestimmt; denn der Geist wird in so manche Vorspiegelungen zerteilt und zerstreut sich – entweder zu dem, wozu er sich betören lässt, oder zu dem, was er wünscht. Wenn nämlich die Erkenntnis des Gebetes nicht da ist und auch der Bittende nicht vor Den tritt, Den er anrufen soll, wie wird dann die Seele mit Süßigkeit erfüllt? Wie wird ein Herz frohgemut werden, welches zu beten vorgibt, doch kein wahres Gebet vollzieht?«11

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Philokalie Bd. III, ed. Hohmann/Süssner, S. 42,87 in Auslegung von 1Thess 5,16–18. 9 Philokalie Bd. III, ed. Hohmann/Süssner, S. 41,81. 10 Philokalie Bd. I, ed. Hohmann/Süssner, S. 296,62. 11 Philokalie Bd. IV, ed. Hohmann/Süssner, S. 143f.

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VIII. »Betet ohne Unterlass!« (1Thess 5,17) Gotteserfahrung

Doch die Erfahrungen, die man beim Beten macht, sind verschieden bei den Anfängern und den Forgeschrittenen: Gregor Sinaïtes, der große Lehrer des Hesychasmus (1255/6– 1346), schreibt in seinen 137 Kapiteln: »Gebet ist bei den Anfängern wie Feuer der Freude, welches vom Herzen aufsteigt; bei den Vollkommenen aber ist es wie wirksames und duftendes Licht. Außerdem ist Gebet Verkündigung der Apostel, Wirksamkeit des Glaubens oder vielmehr unmittelbarer Glaube, die Grundlage dessen, was wir erhoffen, wirksame Liebe, engelhafte Regung, Kraft der Leiblosen, ihr Werk und ihre Freude, Evangelium Gottes, volle Zuversicht des Herzens, Hoffnung auf das Heil, Zeichen der Heiligung, Kennzeichen der Heiligkeit, Erkenntnis Gottes, Offenbarung der Taufe, Reinigung des Taufbades, Unterpfand des Heiligen Geistes, Jesu Jubel, Freude der Seele, Erbarmen Gottes, Zeichen der Versöhnung, Siegel Christi, Strahl der geistigen Sonne, Morgenstern der Herzen, Stütze des Christentums, Beweis der Versöhnung mit Gott, Gnade Gottes, Weisheit Gottes oder vielmehr Beginn der absoluten Weisheit, Offenbarung Gottes, Werk der Mönche, Wandel der Hesychasten, Ursprung der einsamen Ruhe [Hesychia], Beweis des engelhaften Lebens. Und warum soll man soviel sagen? Gebet ist Gott, der alles in allem wirkt. Denn es gibt nur eine Wirksamkeit des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, der alles wirkt in Christus Jesus.«12

Alle diese Väterzeugnisse machen klar, dass es bei der Aufforderung von 1Thess 5,17 letztlich nicht um die Menge der Gebete, sondern um deren Qualität geht. Es geht nicht darum, viele Worte zu machen13, sondern Gott wirklich gegenüberzutreten und in Seiner Nähe auszuharren. Ein solches Gebet kann auch schweigend geschehen und findet Erhörung. So werden in den Apophthegmata von Bischof Epiphanius von Salamis (315–403) die Worte überliefert: »Die Kananäerin ruft und wird erhört (Mt 15,22), die blutflüssige Frau schweigt und wird selig gepriesen (Mt 9,20), der Phariäser jedoch schreit laut und wird verdammt, der Zöllner öffnet nicht einmal den Mund und wird erhört (Lk 18,1–14).«14

Das bedeutet jedoch nicht, dass die Aufforderung, »ohne Unterlass zu beten« (1Thess 5,17), nicht wirklich ernst zu nehmen sei, sondern 12 13

Philokalie Bd. IV, ed. Hohmann/Süssner, S. 208f., 113. Vgl. Apophthegmata Patrum, ed. Miller, Nr. 472, S. 168: »Einige fragten den Altvater Makarios [in Ägypten]: ›Wie müssen wir beten?‹ Der Greis antwortete ihnen: ›Es ist nicht notwendig, viele Worte zu machen (Mt 6,7), sondern man muss die Hände ausstrecken und sprechen: Herr, wie du willst und weißt, erbarme dich! Wenn aber eine Anfechtung kommt, dann: Herr, hilf! Denn Er weiß, was förderlich ist und wirkt an uns Erbarmen.‹« 14 Apophthegmata Patrum, ed. Miller, Nr. 201, S. 83.

VIII. »Betet ohne Unterlass!« (1Thess 5,17)

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bloss eine Metapher für ein intensives Beten darstelle, das hinsichtlich von Zeit und Ort begrenzt werden könne auf die festgelegten Dienste in Kirche und Zelle. Niketas Stethatos (gest. ca. 1090), der Biograph von Symeon dem Neuen Theologen, hält in seiner »Zweiten Centurie physischer Kapitel« fest: »Nicht zu einem begrenzten Zeitpunkt und an einem begrenzten Ort wird das Mysterium des Gebetes vollzogen. Wenn du nämlich die Tätigkeit des Gebetes auf Stunden, Zeiten und Orte begrenzest, dann bringt die übrige Zeit folglich eitle Muße in fremden Angelegenheiten mit sich. Die Begrenzung des Gebetes nämlich besteht darin, dass sich der Geist stets um Gott bewegt; sein Werk ist das Verweilen der Seele in göttlichen Angelegenheiten; seine Vollendung aber besteht darin, dass das Denken mit Gott verschmilzt und ein Geist mit Ihm wird, wie es der Apostel [Paulus] umschreibt und sagt: ›Wer aber dem Herrn anhängt, ist ein Geist mit Ihm‹ (1Kor 6,17).«15

Fassen wir zusammen, was die zitierten Väterzeugnisse über das Gebet besagen: – Das rechte Beten ist nach der Sicht der hier zitierten Mönchsväter keine zeit- und ortsbedingte Tätigkeit im Christenleben, sondern eine grundsätzliche Haltung, ein »Habitus« (»hexis«), der darin besteht, dass der Glaubende stets auf Gott ausrichtet ist und sich auf Ihn zubewegt, so dass seine Gedanken Gott umkreisen und sich von Ihm nicht trennen lassen. – Ziel eines solchen Betens ist das »Bei-Gott-Sein« unserer Gedanken, ihr »Verschmelzen«, d.h. ihre Vereinigung mit Gott, indem Sein Wort unser Wort wird und unser Wort Sein Wort. Dies geschieht unter der Regie des Heiligen Geistes, der uns mit Seiner Kraft und Ausdauer begabt. So wird das in 1Thess 5,16–18 Gebotene (»Freuet euch allezeit! Betet ohne Unterlass! Sagt bei allem Dank!«) zur das Leben bestimmenden Wirklichkeit, und zwar auch ohne viele Worte. In diesem Sinn kann Gregor Sinaïtes sagen: »Gebet ist Gott, der alles in allem wirkt«. – Das Gebet hat Stufen; es erfordert Ausdauer und Geduld. Anders ist das Gebet bei den Anfängern, anders bei Fortgeschritteneren. Die Anfänger feuert die Begeisterung über die neuen Erfahrungen an. Diese Begeisterung wandelt sich jedoch über kurz oder lang in Langeweile und führt zu einem Kampf gegen die mangelnde Konzentration und das Abschweifen der Gedanken. Sich selbst immer wieder zurückzurufen zum Sinn der gesprochenen Gebetsworte und damit zur Dankbarkeit und zur Freude, ist über weite Strecken hinweg mühsam und unbefriedigend, so dass die Versuchung, das Ge15

Philokalie Bd. IV, ed. Hohmann/Süssner, S. 73,77.

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VIII. »Betet ohne Unterlass!« (1Thess 5,17) Gotteserfahrung

bet aufzugeben, zu vergessen und vor Gott zu verstummen, groß ist. Nur wer durchhält, kommt dazu, die schwache Glut wahrzunehmen, welche das Gebet im Herzen der Fortgeschritteneren entzündet. – Dies geschieht nach der Meinung der zitierten Mönchsväter erst, wenn zur Zeit des Gebetes unser Geist von den Alltäglichkeiten abgetrennt, in einem bildlosen, gestaltlosen, farblosen Zustand sich aufhält, unfähig, etwas außerhalb der Gebetsworte aufzunehmen, erst dann leuchte Gottes Wort in uns auf und habe Sich mit dem Unseren vereint. Das sei aber nur dort möglich, wo wir unsere Sorgen innerlich losgelassen haben und nicht mehr Sklaven der Leidenschaften sind, ja, wo wir nichts Leibliches mehr erstreben, um nichts Weltliches mehr beten, nicht um Gesundheit und Heilung des Körpers, nicht um Nahrung, nicht um Ruhe im Sturm des Lebens, nicht um irgenwelche irdischen Dinge. Damit stellen sich nun aber den nichtmonastischen Lesern einige Fragen: Ist ein bildloses und gestaltloses Gedenken Gottes für einen Menschen mit weltlichen Aufgaben möglich und ein sinnvolles Ziel? Ist es wirklich die Aufgabe aller Menschen, ohne Unterlass und Ablenkung durch andere Tätigkeiten Gott anzurufen? Ist für die Existenz, die Erhaltung und Bewahrung der Schöpfung nicht auch die Wahrnehmung anderer leiblicher und geistiger Aufgaben nötig und fordern nicht auch diese in vielen Fällen eine ungeteilte Aufmerksamkeit? Gilt es nicht vielmehr, in all unserem Tun und Lassen, unseren Erwägungen und Empfindungen immer wieder zu Gott zurückzufinden? Und soll man nicht gerade auch in irdischen Herausforderungen und Sorgen Gott um Hilfe bitten, da Er uns ja in diese Welt mit ihren mannigfachen Aufgaben hineingestellt hat? Hat nicht Christus Selbst mit Seinen Heilungen und Wundern an denen, die Ihn in irdischen Nöten zu Hilfe riefen, gezeigt, dass Er auch bereit und willig ist, den um irdische Wohltaten Bittenden zu geben, was sie in ihrer Bedürftigkeit erbitten? Bittet nicht auch die Kirche in ihren liturgischen Gebeten um irdische und leibliche Dinge? Ist Christus nur für die wenigen geistigen Hochleistungssportler da, nicht auch für das gewöhnliche Volk, in dessen Aufgabenbereich die Besorgung der alltäglichen Bedürfnisse liegt? Ermächtigt nicht das Wort Gottes gerade auch die Kleinen und Geringen, sich Gottes Hilfe im Kleinen und Geringen wie im Großen zu erfreuen?16 16

Vgl. Mt 11,11; 18,10–14.

VIII. »Betet ohne Unterlass!« (1Thess 5,17)

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Will man hinsichtlich solcher Fragen ins Reine kommen, könnten folgende Überlegungen von Nutzen sein: – Die zitierten hesychastischen Mönchsväter haben ihre Anweisungen zum Gebet ihren Schülern und nicht der Allgemeinheit der Christen gegeben. Für alle Christen gelten aber die Worte des Evangeliums, d.h. die Worte Christi und Seiner Apostel. Es gibt in der Kirche wie in der weltlichen Gesellschaft eine Verschiedenheit der Aufgaben, der eine Verschiedenheit der Gaben des Heiligen Geistes entspricht (1Kor 12,1–30). Die Wertschätzung dieser Aufgaben erfolgt in den Augen Gottes jedoch nicht nach der hierarchischen Stellung der Glieder im Leib der Kirche, sondern nach deren Einsatz ihrer Liebe zur Erfüllung ihrer Aufgabe (1Kor 12,31–13,13).17 – Weder die Überlieferung der Worte und Taten Christi noch die Lehren der Apostel verbieten es, in der Bedürftigkeit Gott um weltliche Dinge zu bitten. Sie gebieten vielmehr, vor allem anderen von Gott das Himmelreich und seine Gerechtigkeit zu erflehen und sich für die Verwirklichung dieses Zieles einzusetzen. Sie verbieten ferner, sich im Blick auf die Zukunft von Sorgen umtreiben zu lassen und so Freude und Dankbarkeit zu verlieren (vgl. Mt 6,25–34; Lk 12,22–32). Denn Gebet, Freude und Dank gehören zusammen (1Thess 5,16–18). – Die Anweisung, ohne Unterlass zu beten (1Thess 5,17), lässt sich verschieden interpretieren. Man kann darunter ein ununterbrochen wiederholtes Gebet, wie das hesychastische Herzensgebet (»Kyrie Jesou Christou eleison!« oder: »Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme Dich meiner, des Sünders!«) verstehen. Man kann darin aber auch ein immer öfteres Gedenken Gottes durch kurze Anrufungen, Gebete oder Meditationen sehen, dergestalt, dass man in allen Lebenslagen und bei allen Tätigkeiten in zunehmendem Maße immer wieder seine Gedanken zu Gott zurückkehren lässt. Diese Haltung haben die hesychastischen Väter einerseits zu einem ununterbrochenen Gebet radikalisiert, andererseits für ihre Schüler leichter erreichbar zu machen versucht durch besondere Hilfestellungen (Körperhaltungen, Atemtechniken), welche jedoch die besondere Situation des monastischen Lebens zur Voraussetzung haben. – Aber nicht alle Nachfolger Christi sind zum gleichen Dienst berufen. Nicht alle Seiner Jünger hat Jesus zu predigen ausgesandt (vgl. Lk 10,1–11.17–20), nicht alle sollten Ihn auf Seinem Weg begleiten 17

Vgl. Apophthegmata Patrum, ed. Miller, Nr. 24, S. 21: »Dem Antonius wurde in der Wüste geoffenbart: ›In der Stadt ist einer, der dir ähnlich ist, seines Zeichens ein Arzt. Seinen Überfluss gibt er den Armen und den ganzen Tag über singt er mit den Engeln das Trishagion.‹«

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VIII. »Betet ohne Unterlass!« (1Thess 5,17) Gotteserfahrung

wie die Zwölf (Mt 10,1–5; Mk 3,13–19; 6,7–13; Lk 6,12–16) und die Ihm aus Galiläa folgenden Frauen (Mk 15,40f.; Lk 23,49). Seine Verklärung und Seinen Kampf in Gethsemane schauten nur drei Seiner engsten Vertrauten (Mt 17,1–9 parr.; Mt 26,37–46; Mk 14,33– 42). Den geheilten Gerasener schickte Er zurück in ›sein Haus‹, zu den ›Seinen‹ (Mk 18–20; Lk 8,38–39), um dort als Zeuge von Gottes Wohltaten zu wirken.18 So hat Jesus schon in Seinem Erdenleben Seine Jünger zu ihrem eigenen, den persönlichen Gegebenheiten entsprechenden Weg der Nachfolge berufen. Er hat jedoch nirgends gesagt, dass eine dieser Berufungen zu einem höheren Ziel führe, wichtiger und verdienstvoller sei als andere. Den Rangstreit unter den Jüngern hat Er vielmehr unterbunden und sie alle nach Seinem Vorbild zur Demut und zum Einander-Dienen aufgerufen. – Mehr noch: Die Worte Jesu: »Wer mir nachfolgen will, verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach!« (Mk 8,34; Mt 16,24; Lk 9,23) oder: »... Wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachfolgt, kann nicht mein Jünger sein« (Lk 14,27), fordern nicht dazu auf, Christi Kreuz zu tragen, das Er Selbst für uns auf Sich genommen hat, sondern die Lasten des daraus ermöglichten eigenen neuen Lebensweges in freier Entscheidung sanftmütig und demütig, wie Er, auf sich zu nehmen (Mt 11,28–30; vgl. auch Mt 5,5). Denn jeder Lebensweg hat sein eigenes Kreuz und seine eigenen Anforderungen, was von manchen Gläubigen, die sich einseitig an den Schriften und Lebenszielen der heychastischen Väter orientieren, übersehen wird. – So kann das monastische Verständnis des ›immerwährenden Gebetes‹ nur bedingt Vorbild für Menschen sein, die den Weg der Nachfolge Christi zu gehen sich entschlossen haben, sich jedoch nicht veranlasst und in der Lage sehen, damit auch die menschliche Gemeinschaft, in der sie verwurzelt sind, zu verlassen. Sie sehen sich genötigt, ihre Aufmerksamkeit auch weltlichen Dingen und Angelegenheiten zukommen zu lassen, und zwar um ihres je eigenen, göttlichen Auftrags willen. Ein ununterbrochenes, leidenschaftsloses Gebet im Sinne der hesychiastischen Väter bleibt ihnen versagt. Dennoch können sie von den monastischen Altvätern darin bestärkt werden, die eigene Christusnachfolge ernstzunehmen und sich immer wieder neu auf ihren Weg der Nachfolge Christi zu besinnen. Das gewährt ihnen Freiheit, den Lebensweg, für den sie bestimmt sind, in Frieden und Dankbarkeit zu gehen und nicht unerreichbaren Zielen und schattenhaften Vorbildern nachzujagen.

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Vgl. auch Mt 9,6f.

IX. Engel und Dämonen in der Heiligen Schrift , bei Origenes, Athanasius und den kappadokischen und antiochenischen Theologen des vierten Jahrhunderts Von Engeln spricht schon die Heilige Schrift im Alten wie Neuen Testament, am Eindrücklichsten vielleicht am Anfang des Hebräerbriefes (Hebr 1,5–8), wo der Verfasser die Einzigartigkeit des Sohnes Gottes hervorhebt und argumentiert: »Denn zu welchem Engel hat Gott jemals gesagt: ›Mein Sohn bist Du, heute habe ich Dich gezeugt‹ (Ps 2,7) und wiederum ›Ich werde Sein Vater sein und Er wird Mein Sohn sein‹ (2 Kön 7,14 LXX). Und wenn Er den Erstgeborenen wieder einführt in die Welt, spricht Er: ›Und es sollen vor Ihm niederfallen alle Engel Gottes‹ (Ps 98,7 LXX). Von den Engeln spricht Er zwar: ›Er macht Seine Engel zu Winden1 und Seine Diener zu Feuersflammen‹ (Ps 103,4 LXX), aber von dem Sohn: ›Dein Thron, o Gott, währt in alle Ewigkeit und das Zepter Deines Reiches ist das Zepter der Gerechtigkeit ...‹ (Ps 44,7–8 LXX).«

Damit sind die Engel als Geschöpfe Gottes charakterisiert, geschaffen zu Seinem Dienst und als Seine Boten, die in Windeseile Seine Befehle ausführen. Dies ist aber bereits eine fortentwickelte Darstellung. Ein kurzer Überblick über die wichtigsten biblischen Aussagen zu Engeln und Dämonen soll das Fundament für die späteren Entwicklungen aufzeigen: In der Frühzeit des Alten Testaments ist ein Engel weithin einfach ein Bote Gottes, der in menschlicher Gestalt auftritt (Gen 16,7; 19,1.15; 21,17; 22,11). Gen 28,12 kann man sich aber fragen, ob die Engel, die Jakob im Traum auf der Leiter auf und ab steigen sieht, überirdische, himmlische Wesen sind oder einfach Traumgestalten? Nach Ex 23,20–24 ist der im Bundesbuch von Gott als Wegführer und Beschützer auf dem Weg ins verheißene Land bestellte Engel letztlich eine Spiegelung Gottes Selbst. In Hiob 33,23–26 ist ein Engel ein Mittler, ›einer von Tausenden‹, der dem Sterbenden ›verkündet, was recht ist‹ und sich seiner erbarmt und spricht: ›Erlöse 1

Es fragt sich, ob hier ›pneumata‹ / ›spiritus‹ mit ›Winden‹ oder mit ›Geistern‹ zu übersetzen ist. Der Kontext von Hebr 1,7 ebenso wie von Ps 103,4 LXX spricht für ›Winde‹, da der nachfolgende, parallele Halbsatz (›und Seine Diener zu Feuersflammen‹) auch auf ein Naturphänomen hinweist. 1 Klem 36,3 und Origenes PA II,8,3 (ed. Görgemanns, S. 391) bestätigen diese Interpretation. Vgl. aber unten zu Anm. 34, wo Origenes ›pneumata‹ mit ›Geistern‹ übersetzt, was seine Theorie der gefallenen Engel stützt.

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IX. Engel und Dämonen in der Heiligen Schrift

ihn, dass er nicht ins Grab hinabsteige, Lösegeld hab’ ich für ihn gefunden!‹ und so dem Sterbenden neues Leben schenkt. Hier ist der Engel eine Vorabbildung Christi, aber damit erscheinen die Engel erstmals auch als Fürbitter. Noch weiter geht Ps 33,8 LXX: »Der Engel des Herrn zieht einen Schutzwall rings um die, die ihn fürchten, und errettet sie.« Hier übernimmt ›der Engel des Herrn‹ die Funktion des Herrn Selbst. In den Evangelien erscheint ›der Engel des Herrn‹, der sich dem Zacharias mit dem Namen ›Gabriel‹ zu erkennen gibt, als Bote Gottes, um ihm einen Sohn zu verheißen (Lk 1,11.19), ebenso erscheint der ›Engel Gabriel‹ der Jungfrau Maria, um ihr ihre Erwählung als Mutter Jesu anzukündigen (Lk 1,26). ›Der Engel des Herrn‹ verkündet aber auch den Hirten auf dem Felde die frohe Botschaft der Geburt Christi (Lk 2,9), er spricht zu Joseph im Traum, um ihn zur Flucht nach Ägypten zu veranlassen und ihn dann wieder zur Rückkehr zu bewegen (Mt 2,13–23). Johannes der Täufer wird in Mt 11,10 (parr) auf Grund einer Prophezeiung (Mal 3,1) von Gott bezeichnet als ›Mein Engel‹, der ›Deinen Weg vor Dir [Christus] bereiten soll‹. Nach der Versuchung Jesu treten ›Engel‹ zu Ihm hin und dienen Ihm (Mt 4,11; Mk 1,13) und im Garten Gethsemane erscheint dem mit dem Tod ringenden Jesus ›ein Engel vom Himmel und stärkt Ihn‹ (Lk 22,43 vgl. Joh 12,29). Schließlich wälzte ›der Engel des Herrn‹ den schweren Stein vom Grab Jesu und verkündete den Frauen die Auferstehung des Herrn (so Mt 28,2–8; vgl. aber auch Mk 16, 5, wo an dieser Stelle von einem Jüngling in langem, weißen Gewand gesprochen wird, ferner Lk 24,4 und Joh 20,12, wo von zwei Männern in glänzenden oder weißen Kleidern die Rede ist, was dann Lk 24,23 als Engel-Erscheinung bezeichnet wird). Die Engel sind in ihrer Gesamtheit in den Evangelien die ›himmlischen Heerscharen‹, die Gottes Lob auf Erden verkünden (Lk 2,13– 15). In den Gleichnissen Jesu erscheinen sie als Beisitzer beim Jüngsten Gericht und als Gerichtsvollstrecker (Lk 12,8f.; 15,10; 16,22; Mt 13,39–50; 16,27). Die Apostelgeschichte redet häufig vom ›Engel des Herrn‹, der in scheinbar auswegslosen Situationen vom Herrn gesandt wurde, den Aposteln und den Gliedern der christlichen Gemeinde weiterzuhelfen (Apg 5,19; 8,26; 10,3.7.22; 11,13; 12,7–11: 27,23). Hier findet sich aber auch schon der Gedanke, die Juden hätten das Gesetz durch ›Weisung von Engeln‹ empfangen, was Paulus in Gal 3,19 ausführt, indem er festhält, das Gesetz sei den Juden ›von den Engeln verordnet worden durch die Hand eines Mittlers‹, wodurch sowohl die Engel als Geschöpfe Gottes (Röm 8,38) wie auch die Schöpfung in ihrer Ganzheit einen zweideutigen Charakter offenbaren, was eine der Ursachen dafür

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ist, dass Paulus in 1Kor 6,3 sagen kann: »Wisset ihr nicht, dass wir die Engel richten werden?« und dass er festhalten kann, durch das Gesetz werde niemand gerechtfertigt (Gal 2,16; 3,1–22). Und in Röm 8,38 zählt er die Engel unter die kosmischen Mächte, die die Gläubigen nicht von der Liebe Gottes in Jesus Christus zu trennen vermögen, was offenbar ihre Absicht sein könnte.2 In den Deuteropaulinen (Kol 1,16)3 werden erstmals Ordnungen der geistigen Mächte aufgezählt: ›Throne‹ (thronoi), ›Herrschaften‹ (kyriotêtes), ›Fürstentümer‹ (archai), ›Mächte‹ (exousiai) und damit auf die Existenz einer Hierarchie der Engelwelt hingewiesen, ohne dies näher zu erläutern. Den Engeln Gottes sind die bösen Engel (Ps 77,49), die Engel des Satans (2Kor 12,7), die unreinen Geister (Mk 1,23–27; Lk 11,24– 26) oder Dämonen (Lk 4,33–36; 8,27–39) gegenübergestellt. Sie werden als die Ursache von geistigen und leiblichen Krankheiten und Gebrechen angesehen. Menschen, die ihnen ausgeliefert sind, gelten als ›Dämonisierte‹, Besessene (›daimonizestai‹); vgl. Mt 4,24; 8,16; 8,28; 15,22). Auf die Bitten dieser Kranken hin treibt Jesus die Dämonen aus und heilt die Bittenden von ihren Leiden (Mt 7,22; 10,8; 17,18; Mk 1,23–27; 1,34; 7,24–30; 9,38; Lk 13,32). Er gibt aber auch Seinen Jüngern, die Er zur Ankündigung Seines Reiches aussendet, Vollmacht über die Dämonen (Lk 10,17). Und wie sie voll Freude über ihre Erfolge zurückkehren, bezeugt Er: »Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen« (Lk 10,18), und Er weist so darauf hin, dass die Dämonen die Macht des Satans darstellen, diese Macht aber schon jetzt dem Untergang geweiht ist durch das in Christus anbrechende Reich Gottes.4 Dies verkündet auch der Apostel Paulus, da er bekennt, dass der Engel des Satans, der ihn mit Fäusten schlug (1Kor 12,7), letztlich seinem Heil diene, indem er verhindere, dass er sich überhebe. Trotz dieser Siegesgewissheit gegenüber dem Satan und seinen Engeln warnt Christus seine Zuhörer vor einer Rückkehr der aus der Seele vertriebenen Dämonen (Lk 11,24–26) und Paulus fordert seine Leser auf, sich nicht leichtfertig gegenüber den Dämonen zu verhalten, insbesondere hinsichtlich des Fleisches, das auf dem Markt als Opferfleisch verkauft wird, nachdem es den Göttern geopfert wurde, und so zum Triumph der Dämonen das Gewissen der schwachen Christen belastet (1Kor 10,19–22).

2 Ob ›archai‹ und das quellenmäßig schlecht bezeugte ›exousiai‹ in Röm 8,38 bereits Engelmächte bezeichnen sollen, lässt sich nicht entscheiden. 3 Vgl. auch Eph 3,10, wo nur von den ›archai‹ und ›exousiai‹ die Rede ist. 4 Wieweit hier schon von Christus Selbst oder dem Evangelisten Lukas auf Jesaja 14,12–23 (und allenfalls auch auf Ezech 28,8.17.19) angespielt ist, wird man offen lassen müssen.

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Was die Dämonen ihrem Wesen nach sind, wird an all diesen Stellen nicht durchreflektiert; ihr Verhältnis zu Gott und zum Satan wird höchstens angedeutet. Wichtig ist dagegen, dass in allen einschlägigen Texten verkündet wird, dass durch Christi Erscheinen auf Erden ihre Macht gebrochen ist. Es war dann Origenes, der über das Wesen von Engeln und Dämonen grundsätzlich nachdachte. In seinem Frühwerk ›Peri Archôn‹ (PA), das er wohl zwischen 220 und 231 noch in Alexandrien verfasst hat5 und in dem er versuchte, die kirchliche Lehre von Gott und Seiner Schöpfung systematisch zu durchdenken,6 spielen auch die Engel eine wesentliche Rolle. Dabei stellt er fest, dass in der christlichen Tradition überliefert werde, dass es Engel gibt und gute Mächte, welche dem Heil der Menschen dienen (vgl. Hebr 1,14). »Wann sie aber geschaffen wurden und welches ihre Eigenschaften sind, das hat keiner klar ausgesprochen.«7 Zudem habe die kirchliche Verkündigung gelehrt, dass der Teufel, seine Engel und die feindlichen Mächte existierten; »aber was sie sind oder auf welche Weise, hat sie nicht ausreichend klar dargelegt. Bei den meisten [Vertretern der christlichen Überlieferung] herrscht jedoch die Meinung, dass der Teufel ein Engel gewesen, dann abtrünnig geworden sei und eine große Zahl von Engeln dazu überredet habe, mit ihm vom Guten abzuweichen; diese [Engel] werden dann auch ›seine [sc. Satans] Engel‹ genannt (vgl. Mt 25,41)«.8 Origenes kommt bei seinem Nachdenken über diese Zusammenhänge zum Schluss, Gott habe durch Sein Wort und Seinen Geist zunächst 5

Lothar Lies, Origenes’ ›Peri Archon‹. Eine undogmatische Dogmatik. Einführung und Erläuterung. Werkinterpretationen, Darmstadt 1992, S. 7; Origenes vier Bücher von den Prinzipien. Peri Archôn tomoi ∆’. Herausgegeben, übersetzt und mit kritischen Anmerkungen versehen von Herwig Görgemanns und Heinrich Karpp, Darmstadt 1976, S. 6. 6 Bei der Interpretation dieses Werkes, wird man eine vierfache Unsicherheit nicht aus den Augen verlieren dürfen: 1. Die griechische Version des Werkes PA ist weitgehend verloren. 2. Die Textüberlieferungen von Hieronymus und von Rufin (diese in lateinischer Übersetzung) sind tendenziös, d.h. suchen Origenes hinsichtlich seiner Rechtgläubigkeit zu be- bzw. entlasten. 3. Wir wissen nicht, ob Origenes auch später in seiner Tätigkeit in Caesarea noch dieselben Thesen vertreten hat, die in PA vorgelegt werden. 4. Zudem wissen wir auch nicht, wieweit diese Thesen von Origenes ernstgemeinte Problemlösungen darbieten sollen oder nur als Anstöße für seine Hörer/Leser gemeint sind, über die Inhalte und Zusammenhänge der christlichen Verkündigung nachzudenken; vgl. dazu unten Anm. 26. 7 Origens PA I, Praef. 10, ed. Görgemanns, S. 97. 8 Origens PA I, Praef. 6, ed. Görgemanns, S. 93–95.

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eine gute, ewige, geistige Schöpfung geschaffen, die ohne Anfang und Ende ist, und sich durch den freien Willen der geistigen Geschöpfe auszeichnet. Zu ihnen gehörten die ›dienstbaren Geister‹ (Hebr 1,14): die Engel und die in Kol 1,16 und Eph 1,21 genannten himmlischen Mächte sowie alle Vernunftwesen, also auch die Menschen.9 Aber auch der Teufel und ›seine Engel‹, in Bezug auf die Origenes den Mythos vom Fall des Luzifers heranzieht, gehören zu den Vernunftwesen. So kann Origenes Ezech 28,1–19 dahingehend interpretieren, diese Schriftstelle sei nicht auf einen Menschen zu beziehen, sondern auf einen Engel, der die Aufgabe gehabt habe, Tyrus zu regieren und dabei hochmütig und in seinem Wächteramt nachlässig geworden sei, weshalb Gott ihn auf die Erde (d.h. in die materielle Welt) verbannt habe.10 Und gleicher Weise sei auch in Jes 14,12 und Lk 10,18 von einem Engel des Lichtes die Rede (Luzifer, der Morgenstern; nach Lk 10,18 Satan), der sein wollte wie Gott und seine Pflichten vernachlässigt habe, von Gott aber auf Grund seiner Nachlässigkeit vom Himmel geworfen11 und so zum ›Fürsten dieser Welt‹ (Joh 12,31; 14,30; 16,11) geworden sei.12 Mit ›dieser Welt‹ ist die materielle, sichtbare Welt gemeint, in der nach dem Sündenfall die Menschen leben, die auf die Hilfe der himmlischen Mächte angewiesen sind, da auch sie der Nachlässigkeit verfallen sind und nur durch Erziehung und Strafen zur Unterwerfung unter Christus gebracht werden können, so dass sie, vom Bösen gereinigt, auf eine höhere Stufe der Leiter zum Himmel (Gen 28,12) aufzusteigen vermögen, da sie nach der Reinigung eine leichtere materielle Hülle tragen.13 Auf diese Weise können Menschen wieder zu Engeln zu werden, wie umgekehrt Engel, in die dichtere Materie verbannt, zu Menschen werden können.14 Reinigung und Aufstieg gibt es also nur im Kampf gegen das Böse, wobei jedes Vernunftwesen auf derjenigen Stufe der Leiter steht, die seinem Verdienst entspricht.15 Dies gilt bis zum Ende dieser Welt.16 Dann wird die Reinheit aller wieder hergestellt sein, doch der Abfall beginnt aufs Neue: Ein neues Weltzeitalter (Äôn) bringt erneut Abstiege und Aufstiege.17 Denn auch 9 10

Origens PA I, 5,1 ed. Görgemanns, S. 193–195; vgl. Lies, Origenes, S. 73–75. Origens PA I, 5,4 ed. Görgemanns, S. 207–209. Ezech 28,15: »Du bist makellos geboren worden in deinen Tagen, von dem Tage an, an dem du erschaffen wurdest, bis die Unrechttaten bei dir entdeckt wurden.« 11 Vgl. Jes 14,12: »Wie ist vom Himmel herabgefallen der Morgenstern, der früh aufgeht! Auf die Erde geschmettert wurde der, der zu allen Völkerschaften (seine Armeen) schickte.« 12 Origens PA I, 5,5, ed. Görgemanns, S. 209–213. 13 Lies, Origenes, S. 69–77; Origens PA I, 4,3–5, ed. Görgemanns, S. 189–193. 14 Origens PA I, 6,2; 7,5, ed. Görgemanns, S. 219–229; 247. 15 Origens PA I, 6,3, ed. Görgemanns, S. 225–227. 16 Origens PA I, 6,3, ed. Görgemanns, S. 229. Origenes stützt sich auf 1Kor 7,31 und Ps 101,27 LXX. 17 Origenes PA I,6,3, ed. Görgemanns, S. 229.

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in einem neuen Äon bleibt der freie Wille der Vernunftwesen bestehen und diese werden im Laufe der Zeit auf die eine oder andere Weise verleitet sein, ihren Dienst zu vernachlässigen.18 Was nun die Aufgaben der Engel betrifft, so sind diesen bestimmte Ämter von Gott zugewiesen: Z.B. hat »Raphael die Aufgabe zu pflegen und zu heilen, Gabriel die Kriege zu lenken, Michael sich der Bitten und Gebete der Menschen anzunehmen. Diese Ämter, so muss man annehmen, haben sie sich verdient, und zwar in der Weise, dass jeder einzelne auf Grund seiner Verdienste, entsprechend seinem Eifer und seiner Tugenden, die er vor der Erschaffung der Welt geübt hat, (ein solches Amt) erhielt. Damals ist dann in der Ordnung der Erzengel dem einen diese, dem andern jene Art Amt übertragen worden, andere waren würdig, in die Ordnung der Engel eingereiht zu werden und unter diesem oder jenem Erzengel oder unter jenen Führern (duce) und Oberen (principe) seines eigenen Ranges (ordinis suis) tätig zu sein. All das wurde, wie gesagt, nicht nach dem Zufall und unterschiedlos, sondern nach der vollkommen angemessenen und gerechten Entscheidung Gottes eingerichtet und nach den Verdiensten geordnet. Gott Selbst entschied und billigte, dass einem Engel die Kirche von Ephesus anvertraut wurde, einem andern die Kirche von Smyrna (vgl. Apk 2,1.8), dass ein Engel zu Petrus, ein anderer zu Paulus gehören sollte (Apg 12,7; 27,23); dann bestimmte Er für die ›Kleinen‹, die in der Kirche sind, welche Engel jeweils den Einzelnen zugeordnet werden sollten, und dass diese ›täglich das Angesicht Gottes sehen‹ sollten (Mt 18,10); ja auch, wer der Engel sein sollte, der ›sich lagert um die her, so Gott fürchten‹ (vgl. Ps 33,8 LXX).«19 Das aber heißt: »Jedem Gläubigen, mag er auch der Kleinste sein in der Kirche (vgl. Mt 11,11), steht, wie es heißt, ein Engel zur Seite, der, wie der Erlöser sagt, ›allezeit das Angesicht Gott Vaters sieht‹ (Mt 18,10); er ist mit seinem Anbefohlenen eins, und wenn dieser durch Ungehorsam unwürdig wird, dann heißt es einerseits, dass dieser Engel Gottes von ihm weggenommen wird, und andererseits wird dann ein Teil von ihm, d.h. der Teil, der menschliche Natur ist, von dem göttlichen Teil abgetrennt und den Ungläubigen zugewiesen, weil er die Mah18

Origenes PA III,3,5, ed. Görgemanns, S. 601: »Denn die Seele ist immer freien Willens, sowohl wenn sie im Körper ist, als auch wenn sie außerhalb des Körpers ist; und der freie Wille hat immer eine Bewegung zum Guten oder Schlechten, und ein Vernunftwesen, sei es eine Intelligenz oder eine Seele, kann nie ohne eine gute oder schlechte Bewegung sein. Dann leuchtet es ein, dass diese Bewegungen die Gründe abgeben für Verdienste, noch bevor (die Vernunftwesen) irgendwelche Handlungen in dieser Welt ausführen; und aufgrund dieser Verdienste werden sie durch die göttliche Vorsehung gleich von Geburt an, ja sozusagen schon vor der Geburt, guten oder bösen Geschicken unterworfen.« 19 Origenes PA I,8,1, ed. Görgemanns, S. 253.

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nungen des Engels, der ihm von Gott beigesellt war, nicht treu befolgt hat.«20 Wieweit die Menschen ihre Begleitung durch die Engel erkennen, ist unterschiedlich. Denn Engel können sich für Menschen sichtbar machen oder ihnen unsichtbar bleiben.21 Offen lässt Origenes die Frage, ob Engel eine Seele haben. Menschen und Tiere haben Seelen (Psychen).22 Seelen (Psychen) sind materialisiert und erkaltet (psychesthai = abgekühlt). Die Engel dagegen sind feurig (Ps 103,4; Hebr 1,7) und erst durch ihren Fall auf die Erde wird ihr ›nous‹ (ihr geistiges Wahrnehmungsvermögen) erkaltet, materialisiert.23 Andererseits spricht man auch von der ›Seele Gottes‹ (vgl. Jer 51,14; Am 6,8; Mt 12,18),24 meint allerdings damit nicht ein Organ, sondern eine bestimmte Kraft. In diesem Sinne wäre es vielleicht auch möglich, von den Seelen der Engel zu reden. Schließlich beendet Origenes diese Erörterungen mit der Bemerkung: »Dies haben wir nach unserem Vermögen über die vernünftige Seele vorgetragen, mehr zur Erwägung des Lesers, denn als fest hingestellte Lehre. Über die Seelen des Viehs aber und der übrigen unvernünftigen Tiere soll das genügen, was wir oben25 kurz und bündig gesagt haben.«26

Unter dem Stichwort ›daimôn‹ (Dämon) bringt Origenes zusätzlich zu dem, was er über die ›bösen Engel‹ gesagt hat, noch drei interessante Ausführungen: a) Während die Engel Geister sind, haben die Dämonen eine ›feine, hauchzarte‹ Körperlichkeit.27 Wenn sie sich vom Satan abwenden, können sie wie die guten Engel rein geistig werden; wenn sie straffällig werden, kann sich ihre Körperlichkeit zu einem menschlichen Leib verdichten.28 20 21 22 23 24

Origenes PA II,10,7, ed. Görgemanns, S. 437. Origenes, Hom 3,1–3 zu Lk 1,11, ed. Sieben, S. 79–81 (s. unten Anm. 32). Origenes PA II,8,1, ed. Görgemanns, S. 381–383. Origenes PA II,8,1–5, ed. Görgemanns, S. 383–399. Origenes kennt anscheinend Versionen des AT, in denen Gott ein Versprechen abgibt, indem Er in hebraisierender Weise bei Seiner Seele (Seinem Leben) schwört. Vgl. dazu auch PA Einführung, S. 24f. Zur Seele Christi vgl. Alois Grillmeier, Jesus der Christus im Glauben der Kirche, Band I, Von der Apostolischen Zeit bis zum Konzil von Chalkedon (451), Freiburg i.Br. 1979, S. 276–278. 25 PA II,8,1, ed. Görgemanns, S. 381–383. 26 Origenes PA II,8,5, ed. Görgemanns, S. 399. Diese Bemerkung ist charakteristisch für Origenes: Ihm geht es wesentlich darum, seine Schüler zu lehren, die christliche Tradition zu durchdenken, und nicht ihnen fertige Lösungen aufzutischen. So muss man wohl manche seiner in ›Peri Archôn‹ geäußerten Theorien als Hypothesen verstehen, die sowohl angenommen wie verworfen werden können. 27 Origenes PA I, Praef. 8f., ed. Görgemanns, S. 95–97. 28 Origenes PA I,6,2, ed. Görgemanns, S. 217–219.

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b) Man kann von Dämonen besessen sein, wie die ›Energoumenoi‹, die ›ohne Verstand und von Sinnen‹ sind oder von Wahnideen beherrscht,29 wodurch sie ihre Freiheit verlieren, während diejenigen, die von guten Engeln inspiriert werden, ihre Willensfreiheit behalten.30 c) Menschen, die Satan und den Dämonen dienen, erhalten von diesen öfter die Gabe des Wahrsagens; wer Christus dient, kann bisweilen die Gnade der göttlichen Prophetie erhalten.31 Als Vergleich zu ›Peri Archôn‹ ziehen wir noch zwei spätere Werke des Origenes heran: die Homilien zum Lukas-Evangelium und den Kommentar zum Römerbrief des Apostels Paulus.32 Was die Lukas-Homilien und ebenso den Römerbriefkommentar betrifft, so wird, wie schon in Peri Archôn, der Begriff der Engel häufig genannt, während von ›Dämonen‹ erstaunlich wenig die Rede ist, obwohl sie als ›böse Engel‹ auch immer im Blick sind. Das hängt wohl damit zusammen, dass für Origenes ›Dämonen‹ ihrer Natur nach gefallene und dem Satan unterworfene Engel sind und dass ihre Erschaffung und ihre ursprünglichen Aufgaben dieselben sind wie die der Engel.33 Von Natur aus sind die Engel wie Gott Geist und Feuer. »›Er macht Seine Engel zu Geistern‹, heißt es, ›und seine Diener zu brennendem Feuer‹ (Ps 103,4 LXX und Hebr 1,7). Für die Heiligen sind die Engel [voll] Geist, denen die Strafe verdienen, bringen sie Feuer und Brand. In diesem Sinne ist auch unser Herr und Heiland, da Er Geist ist, gekommen, ›Feuer auf die Erde zu senden‹ (Lk 12,49).«34 Und die Engel sind zu Hirten der Menschen, der einzelnen Personen wie auch der Völker (Apg 16,9),35 eingesetzt. Die ›guten Engel‹ sind Vorläufer Christi; »sie steigen täglich auf und ab zu unserem Heil«.36 Sie wollten schon immer wie Ärzte den Menschen helfen und vermochten es nicht; darum jubelten sie dann bei der Geburt Christi.37 Engel 29 30 31 32

Wozu Origenes auch den Verräter Judas zählt. Origenes PA III,3,4, ed. Görgemanns, S. 597–599. Origenes PA III,3,3, ed. Görgemanns, S. 593–595. Origenes, In Lucam Homiliae. Homilien zum Lukasevangelium. Übersetzt und eingeleitet von Herrmann-Josef Sieben, Fontes Christiani Bde 4/1–2, Freiburg i.Br. 1991/2. Origenes, Commentarii in Epistulam ad Romanos, Römerbriefkommentar, übersetzt und eingeleitet von Thereasia Heither, Fontes Christiani Bde 2/1–6, Freiburg i.Br. 1991–1999. 33 Origenes, Hom 31,5f. zu Lk 4,9–13, ed. Sieben, S. 319. 34 Origenes, Hom 26,1 zu Lk 3,17, ed. Sieben, S. 277. Ob Origenes nur hier in Psalm 103, 4 und Hebr 1,7 ›pneumata‹ mit ›Geister‹ übersetzt, muss offen bleiben. Jedenfalls stellt diese Übersetzung eine Stütze für seine Lehre vom Fall der Engel dar. 35 Origenes, Hom 12,8. zu Lk 2,8–12, ed. Sieben, S. 149. 36 Origenes, Hom 4,6 zu Lk 1,17, ed. Sieben, S. 91. 37 Origenes, Hom 13,1–3 zu Lk 2,13–16, ed. Sieben, S. 155–157.

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sind in der Kirche anwesend. »Wenn wir etwas sagen, das vernünftig und schriftgemäß ist, dann freuen sich die Engel und beten mit uns zusammen. Und weil Engel in der Kirche anwesend sind, in der Kirche wenigstens, die es verdient und die Christus gehört, wird den betenden Frauen vorgeschrieben ›wegen der Engel auf ihr Haupt einen Schleier zu legen‹ (1Kor 11,10).«38

Denn jedem Menschen steht ein guter und ein böser Engel zur Seite; sie kämpfen um dessen Seele und schauen das Antlitz Gottes nach dem Verdienst derer, deren Engel sie sind, entweder immer oder niemals oder mehr oder weniger.39 Dies gilt grundsätzlich auch für die Engel der verschiedenen Provinzen und Völker,40 welche Daniel als ›Fürsten/Fürstentümer‹ (›principes/principatus‹, archai) bezeichnet (Daniel 10,20f.). Unter diesen Völkerengeln wurde ›von Anfang an die Erde aufgeteilt‹.41 Sie sind aber alle abgefallen von Gottes Gebot und dem ›Fürsten dieser Welt‹ untertan. Zu dem jeweils für ein Volk oder Gebiet zuständigen ›Fürsten‹ werden nach Luk 12,58 die Untertanen durch den ›bösen Engel‹, den ›Widersacher‹, geführt und dann mit ihm vor Gericht gestellt. Denn Christus hat alle ›Fürstentümer‹ und ›virtutes‹ (Mächte)42 besiegt und es gilt für die Einzelnen und die ganzen Völker, freizukommen von ihren Widersachern und ihren ›Fürsten‹, indem sie sich Christus unterstellen. Nur so entgehen sie dem Gericht.43 Engel wie Menschen sind dem Gesetz unterworfen.44 Doch Paulus sagt: »Durch die Werke des Gesetzes wird niemand, der im Fleische ist, vor Gott gerechtfertigt«. Origenes interpretiert: »Meiner Meinung nach, muss ... [dieses] Wort so verstanden weden, dass niemand, der im Fleisch ist und dem Fleisch gemäß lebt, durch das Gesetz Gottes gerechtfertigt werden kann ... (Belege aus Röm 8,7–8; Jes 40,6; Joh 6,6). Aufgrund dieser Zeugnisse also sagt Paulus, dass nach dem Gesetz Gottes ›niemand, der im Fleisch ist‹, vor Ihm gerechtfertigt wird. Doch soll man auch den Zusatz ›vor Ihm‹ nicht achtlos übergehen, wie wir schon öfters gemahnt haben. Es ist nämlich zweierlei, vor Gott gerechtfertigt zu werden und vor den Menschen. Das heißt, im Vergleich mit anderen Menschen kann 38 39 40 41

Origenes, Hom 23,7–8 zu Lk 3,9–12, ed. Sieben, S. 261. Origenes, Hom 35, 4. zu Lk 12, 58–59, ed. Sieben, S. 351. Origenes, Hom 12,4 zu Lk 2,8–12, ed. Sieben, S. 149–153. Vgl. Dtn 32,8f.: Gott setzte die Gebiete der Völker fest nach der Zahl der Engel. Origenes, Comm. ad Rom, Buch, 8,9 zu Röm11,11f. ed. Heither Bd. IV, S. 275. 42 Origenes, Comm. ad Rom., Buch 7,12 zu Röm 8,38f., ed. Heither Bd. IV, S. 127 gibt eine Erläuterung zum Begriff ›virtutes‹ (›exousiai‹ ›Mächte‹): »Hier handelt es sich offenbar um eine der vielen Arten von geistbegabten Wesen, die nicht im sterblichen Leib leben, sondern wie die Engel, aber in einem anderen Stand als die Engel. Auch diese Gewalten bekämpfen uns, um uns von der Liebe Gottes zu scheiden. Aber auch sie, sagt er (Paulus) werden es nicht vermögen, wenn die Liebe fest verwurzelt und festgegründet ist.« 43 Origenes, Hom 35,6–9. zu Lk 5,58–59, ed. Sieben, S. 353–359. 44 Origenes, Comm. ad Rom, Buch, 3,6 zu Röm 3,19–20, ed. Heither Bd. II, S. 89.

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jemand, der sich in seinem Leben einigermaßen von Fehlern frei gemacht hat, als gerecht gelten; im Vergleich mit Gott aber kann nicht nur kein Mensch gerechtfertigt werden, sondern bei Hiob heißt es sogar: ›Selbst die Sterne sind nicht rein vor Ihm‹ (Hiob 25,5). Vor uns sind sie rein, das heißt, im Vergleich mit den Menschen gelten sie als rein und heilig; im Vergleich mit Gott aber können sie nicht rein sein.«45

Unerbittlicher als die Menschen sind die Engel dem Gesetz unterworfen: »›... die Engel, die ihren hohen Rang missachtet und ihren Wohnort verlassen haben, hat Gott mit ewigen Fesseln in der Finsternis der Unterwelt eingeschlossen, um sie am großen Tag zu richten‹ (Jud 6). Daher steht fest, dass sie ein Gesetz in sich tragen. Aber sie haben es nicht beachtet und deshalb das erlitten, was das erwähnte Schriftzitat bezeugt hat. Genauso ist Paulus, wenn er sagt: ›Wisst ihr nicht, dass wir über Engel richten werden?‹ (1Kor 6,3), sich völlig sicher, dass die Engel unter einem Gesetz stehen, weil er von ihnen verkündet, sie würden vor Gericht kommen.«46 Doch er erklärt, »Christus stehe nicht unter dem Gesetz, sondern sei die Erfüllung des Gesetzes (vgl. Röm 10,4).«47

Und Origenes fügt hinzu: »Meiner Meinung nach stehen die bereits Vollkommenen, die mit dem Herrn verbunden sind und ein Geist mit Ihm geworden sind (vgl. 1Kor 6,7), auch nicht unter dem Gesetz. Sondern sind selbst Gesetz. Dem entspricht das Wort des Apostels an anderer Stelle: ›Das Gesetz ist nicht für den Gerechten bestimmt‹ (1 Tim 1,9).«48 Wer sich also im Glauben Christus unterstellt, hat sich dem Gericht entzogen und ist ohne Gesetz und Gericht gerechtfertigt. »Deshalb kommt Gottes Gerechtigkeit durch den Glauben an Jesus Christus zu allen, die glauben, ob Juden oder Griechen. Sie [Gottes Gerechtigkeit] reinigt sie von ihren früheren Sünden, schenkt ihnen die Gerchtigkeit und macht sie aufnahmefähig für Gottes Herrlichkeit, nicht aufgrund ihrer Verdienste oder um ihrer Werke willen, sondern sie verleiht den Glaubenden unverdient die Herrlichkeit ›durch die Erlösung in Christus Jesus‹ (Röm 3,24). Lasst uns genau sehen, was diese Erlösung in Christus Jesus bedeutet: Erlösung ist mit andern Worten der Lösepreis, der den Feinden gegeben wird für ihre Gefangenen, damit sie diese wieder freilassen. Von den Feinden des Menschengeschlechtes wurde also der Mensch in Gefangenschaft festgehalten wie ein durch die Sünde im Kampf Besiegter. Da kam Gottes Sohn ›Er wurde für uns‹ von Gott nicht nur ›zur Weisheit gemacht, zur Gerechtigkeit und Heiligung‹, sondern auch ›zur Erlösung‹ (1Kor 1,30).«49

Nach Origenes haben die Menschen also vor den Engeln den Vorzug, dass für sie Christus Sich als Lösegeld hingegeben hat und sie auf die45 46 47 48 49

Origenes, Comm. ad Rom, Buch, 3,6 zu Röm 3,19–20. ed. Heither Bd. II, S. 93f. Origenes, Comm. ad Rom, Buch, 3,6 zu Röm 3,19–20, ed. Heither Bd. II, S. 89. Ebd. Origenes, Comm. ad Rom, Buch, 3,6 zu Röm 3,19–20, ed. Heither Bd. II, S. 91. Origenes, Comm. ad Rom, Buch, 3,6 zu Röm 3,25–26, ed. Heither Bd. II, S. 111.

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se Weise dem Gericht nach den bisherigen Werken entzogen sind, was von den Engeln so nicht gilt. Origenes bietet somit seinen Hörern und Lesern eine höchst eigentümliche Lehre von der Rechtfertigung der Sünder: Die Menschen können durch den Glauben und durch das neu ermöglichte Halten der Gebote Christi in Seiner Nachfolge sich dem Jüngsten Gericht entziehen; sie werden durch diesen Glauben und das Halten der Gebote Christi gerechtfertigt, während die Engel, sowie die himmlischen Heerscharen und Mächte, im Endgericht streng nach dem Gesetz beurteilt und für ihr Abweichen von Gottes Auftrag und Seinen Geboten bestraft werden. Fragt man, woher diese Hypothesen kommen, wird man antworten müssen, dass sie für Origenes denknotwendig sind, da er der Logik folgt und Widersprüche in seinem System nicht zulassen kann. Da Gott ohne Veränderung ist und Er, Sein Logos und Sein Geist immer schaffend waren, sind und sein werden, muss auch Seine geistige Weltschöpfung als Voraussetzung unserer materiellen Welt immer schon existiert haben.50 Engel als geistige Geschöpfe, die von Ewigkeit her von Gott geschaffen wurden, sind nach Origenes also die denknotwendige Folge des von ihm angenommenen Gottesbegriffs. Dass diesen geistigen Geschöpfen Willensfreiheit und damit die Möglichkeit des Abfalls von Gott zugeschrieben werden muss, folgt aus dem Sachverhalt, dass Gott nichts Schlechtes und Böses geschaffen hat und dennoch unsere materielle Welt aus dem ›Gutsein‹ der ursprünglichen Schöpfung herausgefallen ist. Die Existenz der Engel sowie auch der Fall einiger von ihnen sind im System des Origenes also denknotwendig. Satans Fall und die Existenz der Dämonen aber sind zur Erklärung unserer erlösungsbedürftigen irdischen Situation unerlässlich. Das aber bedeutet: Origenes entnimmt letztlich sein Wissen von Engeln und Dämonen nicht der Offenbarung, sondern der Logik seines Systemansatzes. Den Preis, den Origenes für diese Sichtweise bezahlt, ist die faktische Gleichewigkeit der Schöpfung mit Gott und die Präfiguration unserer der Materie verhafteten Erde durch eine vorlaufende, unsichtbare, gute geistige Welt. Damit ist ein Mythos geboren, der durch seine Rationalität und scheinbare Wissenschaftlichkeit besticht, aber auch den vorchristlichen Engel- und Dämonenglauben aufwertet und so die kirchliche Frömmigkeit bis heute belastet. Doch warum und wozu läßt sich Origenes auf solche Spekulationen ein? Er will an Gottes Unveränderlichkeit und einzigartiger Ewigkeit festhalten, zugleich aber auch dessen ewige, geistige Schöpfung als gutes und unvergängliches Werk sichern.51 Dabei schafft er sich ein 50 51

Origenes PA I,4,4–5, ed. Görgemanns, S. 191; Vgl. 68–71. Lies, Origenes, S. 72f.; vgl. Origenes PA II,3,7, ed. Görgemanns, S. 324–327; sowie Lies, Origenes, S. 90. Nicht ganz eindeutig ist Origenes’ Meinung zur Fra-

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Problem: Die geistige Schöpfung Gottes, die der materiellen vorangeht, ist ewig, aber nicht gleichewig52 wie Gottes Ewigkeit. Ob es aber zwei Arten von Ewigkeit geben kann und worin die Differenz zwischen Gottes Ewigkeit und der Ewigkeit der Geistwesen besteht, diese Fragen kann Origenes nur durch seine spekulative Äonen-Lehre zu beantworten suchen.53 Damit weicht Origenes vom biblischen und altkirchlichen Reden über Engel und Dämonen ab; denn der spezifische Unterschied zwischen den biblischen Erzählungen von Engeln und Dämonen und den philosophischen Erörterungen des Origenes besteht darin, dass die Heiligen Schriften zwar von Engeln und Dämonen berichten, aber sie nicht in ein philosophisches System einbinden und nirgends verlangen zu glauben, dass die über- und unterirdischen Wesen so, wie sie aus der Sicht der Betroffenen in einer Erzählung jeweils dargestellt werden, tatsächlich auch existieren. Zudem: Weder in der durch die Evangelien bezeugten Verkündigung Jesu noch in einem altkirchlichen Glaubensbekenntnis findet sich die Forderung, außer an Gott, Vater und Sohn und Heiliger Geist auch an die Existenz von außerirdischen, guten oder bösen geistigen Personen zu glauben, sondern es geht vielmehr darum anzuerkennen, dass Gott das Böse, das unsere irdische Welt vergiftet, nicht will und es in Jesus Christus für immer überwindet, wenn wir Ihm glauben und nachfolgen. Doch wozu dann die Personifizierung guter und böser Mäche? Da das Böse eine widergöttliche, geistige Realität darstellt, muss es irgendwie unserem an der Materie orientierten Denken fassbar gemacht werden. So liegt es nahe, es zu personifizieren und es so dem menschlichen Willen als ein ihn bedrängendes, von Gott abgefallenes Wesen gegenüberzustellen und zu bekämpfen. Aber dieser Kampf trifft den eigentlichen Gegner gar nicht; er bekämpft nur eine Pappmascheefigur, denn nicht Dämonen erzeugen das Böse, sondern die eigene Lieblosigkeit und Selbstsucht, die in den Leidenschaften Gestalt gewinnt. ge, ob die Materie am Ende der Zeiten gleichewig ist wie die geistige Schöpfung. Diese Frage hat ihre Relevanz für den Glauben an die »Auferstehung des Leibes«. Nach Hieronymus hat Origenes drei Lösungsmöglichkeiten dieses Problems erwogen: a) Am Ende der Zeiten werden die Gerechtfertigten eingehen in Christus und dieser in Gott, so dass sie mit Ihm ein Geist sein werden (vgl. 1Kor 15,28), oder b) sie werden sich in lichter Stofflichkeit aufs Engste an Christus anschließen, oder c) sie werden als unstoffliche Wesen in ein schönes und gutes Land am äußersten Rand des Kosmos (über den Fixsternen) eingehen (vgl. Ex 3,8). Vgl. Origenes PA II,3,7, ed. Görgemanns, S. 324–327; sowie Lies, Origenes, S. 89f. 52 Origenes PA I,4,5, ed. Görgemanns, S. 191; vgl. Lies, Origenes, S. 70. 53 Origenes PA I,4,4, ed. Görgemanns, S. 191; vgl. Lies, Origenes, S. 69–71. Diese höchst problematische Äônenlehre wirkt in den orthodox-griechischen Gebetsschlüssen bis heute nach: »denn Du bist gesegnet in die Äonen der Äonen. Amên.«

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Es ist nun interessant zu beobachten, wie die großen altkirchlichen Väter des vierten Jahrhunderts mit diesem Erbe umgegangen sind. Da wird man sich zunächst die Vita des Antonius, die Athanasius wohl kurz nach dem Tod des Wüsteneroberers (356/7) verfasst hat, ansehen müssen.54 Hier wird nicht nur der Kampf des Antonius mit dem Satan geschildert,55 sondern es werden auch seine Belehrungen über die Dämonen in seinen Reden an die Mönche wiedergegeben. U. a. heißt es da: »... wir haben gefährliche und tückische Feinde, die bösen Dämonen, und gegen sie richtet sich unser Kampf ... Groß ist ihre Zahl um uns herum, und sie sind von uns nicht weit entfernt.«56 Weiter: »Wir müssen einander über die Dämonen aufklären aufgrund der Versuchungen, denen wir durch sie ausgesetzt waren. Ich spreche daher als einer, der darüber eine geiwisse Erfahrung hat ...«57 »Als erstes nun nehmen wir zur Kenntnis, dass die bösen Geister nicht schon darum, weil sie böse heißen, auch von Anfang an so gewesen sind. Denn Gott hat nichts Böses erschaffen; nein, gut sind auch sie von ihrer Erschaffung her gewesen, sind jedoch abgefallen von der himmlischen Weisheit und dann auf die Erde geworfen worden. Mit ihren Truggespinsten haben sie schon die Heiden getäuscht, und aus Neid auf uns Christen setzen sie erst recht alles in Bewegung, weil sie uns am Aufstieg in den Himmel hindern wollen, damit wir nicht dorthin, von wo sie abgefallen sind, emporsteigen können.«58 »Aber weil sie zu keiner wirklichen Tat fähig sind, deshalb besteht ihr ganzes Tun darin, Furcht zu erzeugen. Denn wenn sie könnten, würden sie nicht zögern, sondern das Böse sogleich ins Werk setzen ... Aber machtlos, wie die Dämonen nun einmal sind, müssen sie Angst erzeugen; wenn nicht anders, dann mit gespenstischem Trug.«59

Athanasius verbindet hier Vorstellungen des Origenes über die Herkunft des Bösen mit einer monastischen Frömmigkeit, die im einsamen Wüstendasein gegen die eigenen Vorstellungen kämpft und sie objektiviert. Dies hat seine Vorteile und seine Nachteile: Durch die Objekti54

Athanase d'Alexandrie, Vie d'Antoine, introduction, texte critique, traduction, notes et index par G.J.M. Bartelink, Sources Chrétiennes n° 400, Paris 1994; Des heiligen Athanasius Leben des heiligen Antonius, aus dem Griechischen übersetzt v. Hans Mertel, BKV 2. Aufl. Bd. 31, Kempten 1917; Gérard Garitte, Lettres de S. Antoine. Version géorgienne et fragments coptes traduits, CSCO 148–149, Louvain 1955; Père Matta El-Mascîne, Saint Antoine ascète selon l'Évangile suivi de: Les vingt Lettres de saint Antoine selon la tradition arabe, traduction, Collection Spiritualité Orientale, n° 57, Abbaye de Bellefontaine 1993, die sieben ersten Briefe gelten als echt: S. 82–119; deutsch in systematisch geordneten Auszügen, in: Antonios der Große, Stern der Wüste. Ausgewählt, übersetzt und vorgestellt von Hans Hanakam, Texte zum Nachdenken 1625, Freiburg 1989, S. 80–88. 55 Vgl. auch: Stern der Wüste, ed. Hanakam, S. 22–27. 56 Zitiert nach: Stern der Wüste, ed. Hanakam, S. 80. 57 Ebd. 58 Ebd. 59 Stern der Wüste, ed. Hanakam, S. 84.

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vierung ist es für den Kämpfer einfacher, zu einem gerechten Urteil über das eigene Verhalten in Absehung der eigenen Betroffenheit zu kommen. Andererseits lässt die Personifizierung des Bösen das eigene Fehlverhalten und die eigene Schuld in den Hintergrund treten. Zugleich aber wird so auch eine Furcht vor den dunkeln Mächten der Wüste und der Einsamkeit bekämpft. Darum betont Antonius in seiner Rede immer wieder: »Gott allein ... muss man fürchten; die Dämonen aber muss man für gering achten und darf sie überhaupt nicht fürchten. Allerdings, je mehr sie sich um uns zu schaffen machen, desto mehr sollen wir uns gegen sie auf die Askese konzentrieren. Denn eine wichtige Waffe gegen sie sind ein rechtschaffendes Leben und gläubiges Vertrauen auf Gott.«60 Man muss jedoch auch wissen, dass die Dämonen »listig sind und bereit, sich in alle möglichen Gestalten zu verändern und zu verwandeln. Oft stellen sie sich, als sängen sie unsichtbar Psalmen und gebrauchen die Worte der Schrift.«61 »Wenn wir ruhen, wecken sie uns auf zum Gebet, das tun sie fort und fort, so, dass sie uns fast nicht zu schlafen erlauben. Man soll aber nicht auf sie achten, wenn sie auch zum Gebet aufwecken oder sie uns raten, nicht mehr zu essen, oder wenn sie tun, als ob sie uns anklagten und schmähten wegen dessen, worin sie einmal unsere Mitwisser geworden sind. Denn nicht aus Frömmigkeit oder Wahrheitsliebe handeln sie so, sondern um die einfachen Herzen in Verzweiflung zu stürzen, um die Askese als nutzlos hinzustellen, um die Menschen krank zu machen, als ob das Einsiedlerleben mühevoll und sehr schwer sei, um die zu hindern, die ihnen zum Trotz so leben.«62 Es gilt daher, die Ratgeber, die uns zum Handeln motivieren wollen, unterscheiden zu lernen, wobei, nach Origenes, sich die schlechten Geister durch eine verminderte Klarheit ihrer Botschaft auszeichnen.63

Athanasius sucht also in seiner Vita des Antonius zu zeigen, dass Christus der Sieger über die Dämonen ist, die die Welt zu regieren scheinen und uns mit ihren Ratschlägen vom rechten Weg abbringen wollen. Für Athanasius sind daher die Dämonenkämpfe des Antonius ein Zeugnis für den Sieg des Glaubens an Christus über die Welt, der sich die von Gott abgefallenen Geister bemächtigt haben. Die Philokalie des Origenes, die wohl Gregor von Nazianz und Basilius der Große in den Jahren zwischen 364 und 378 aus den Werken des Origenes zusammengestellt haben,64 nimmt den Mythos 60 61 62 63

Stern der Wüste, ed. Hanakam, S. 84f. Athanasius, Leben des hl. Antonius, Kap. 25, ed. Mertel, BKV Bd. 31. Athanasios, Vita Antonii, Kap. 25. Adalbert de Vogüé, Histoire littéraire du mouvement monastique dans l’antiquité, Partie I, Chap. 1: La vie de saint Antoine, 9. La démonologie, Paris (Cerf) 1991, S. 58–65. 64 Origène, Philocalie 1–20. Sur les Écriture. Introduction, texte, traduction et notes par Marguerite Harl, SChr. 302, Paris 1983, S. 20–24; vgl. auch ders., Philo-

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vom Fall des Satans und seiner Engel zunächst positiv auf. Doch aus einem Kommentar über Ps 4 wird im zweiten Teil der Philokalie u.a. festgestellt, dass aufgrund des freien Willens der Geschöpfe jedes vernunftbegabte Wesen für das Böse, dem es unterworfen ist, selbst die Verantwortung trägt. Auch ein zur Vollkommenheit herangereifter Mensch kann zu Fall kommen, wenn er mit zu viel Stolz, ohne Dem Ehre zu erweisen, Dem sie vor allem gebührt, sich selbst die Ursache des Erwerbs und Erhalts seiner Tugend zuschreibt. »Etwas Entsprechendes, so denken wir, geschah dem, der nach Ezechiel (Ez 28,15) sich auf seinen Wegen untadelig gezeigt hatte, bis zu dem Tag, an dem Unrecht bei ihm gefunden wurde und er nach Jesaja (Jes 14,12) vom Himmel fiel und zerschmetterte, er, der zur Zeit der Morgenröte aufgestiegen war. Denn es ist nicht nur bei den Menschen wahr, dass jemand, der vollkommen ist, dem aber die Weisheit, die von Gott kommt (vgl. Weisheit 9,6), fehlt, ›für nichts gehalten‹ wird. Es trifft vielmehr auch in der Ordnung der Engel, bei deren Ersten (archai) und bei allem, was durch die Anwesenheit Gottes göttlich ist, zu. Das ist vielleicht deshalb gut, weil auch der hl. Apostel [Paulus] sieht, dass unsere freie Wahl, im Vergleich zur Macht Gottes, viel zu gering ist, um die Güter zu erwerben, inbezug auf die er sagt: ›das Ende hängt nicht von dem ab, der will, noch von dem, der läuft, sondern von Gott, der Barmherzigkeit übt‹ (Röm 9,16). Zwar übt Gott nicht Barmherzigkeit ohne den Willen und das ›Laufen‹ [des Wettkämpfers], aber der Wille und das Laufen sind nichts, gemessen an der Barmherzigkeit Gottes. Deshalb fügt er [Paulus], wie es recht ist, hinzu, dass der Verdienst des Guten mehr dem Erbarmen Gottes als dem Willen und dem Laufen des Menschen zu verdanken sei.«65

Hier wird die geistige, himmlische Welt, wie sie sich Origenes vorgestellt hat, samt dem Fall von Luzifer (vgl. Lk 10,17) vorausgesetzt, aber es wird nicht gesagt, ob diese Vorstellungen wörtlich oder symbolisch zu verstehen sind. Sicher ist nur, dass die Verfasser der Philokalie hinsichtlich des ›freien Willens der Geschöpfe‹ und hinsichtlich der über allem Vermögen und Verdienst der Geschöpfe hinausreichenden Gnade Gottes mit Origenes einig sind. In seinen wohl um 378 gehaltenen Homilien zum Hexaéméron übernimmt Basilius dann modifiziert Origenes’ Kosmogonie.66 Wichtig ist Basilius, dass Gott alles, sowohl den Bereich des Geistigen wie des Körperlichen – also: Himmel und Erde, geistig und materiell – geschaffen hat. Er kann Origenes darin zustimmen, dass es vor der calie 21–27. Sur le libre arbitre. Introduction, textecritique, traduction et notes par Éric Junod, SChr. 226, Paris 2006, Introduction, S. 12. 65 Vgl. Kap 26,7, in Philocalie 21–27, ed. Junod, SChr. 226, S. 260–263. 66 Basilius de Césarée, Homélies sur l’Hexaéméron. Texte grec, introduction et traduction de Stanislas Giet, SChr. 26, Paris 1950.

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Entstehung unserer materiellen, sichtbaren Welt einen ersten geistigen Weltzustand gab,67 der – auch von Gott geschaffen – für die himmlischen Mächte bestimmt war. Dieser geistige Zustand der Welt, übersteigt die Kategorien unserer Zeit; er ist überzeitlich, viele Weltzeitalter (Äônen) umfassend, nach unserem Ermessen ewig. Aber diese Ewigkeit ist nicht die Ewigkeit, wie sie von Gott ausgesagt werden muss.68 Wir, die Nachgeborenen, können mit unserer Vernuft diesem Zustand meditierend nachgehen, aber dessen Wirklichkeit (dessen Geschichte) können wir nicht erfassen. Die Erschaffung dieser Geisteswelt wird auch von Moses nicht erzählt; er berichtet nur von der Entstehung unserer sichtbaren Welt.69 Dennoch ist anzunehmen, dass es vor der Schöpfung der sichtbaren Welt ein geistiges Licht gab, das den geistigen Geschöpfen, den vernünftigen und unsichtbaren gottliebenden Naturen, die unser Verstehen übersteigen und deren Namen wir nicht einmal kennen, angemessen war und sie beseligte.70 Diese geistige Welt hat bis heute auch ihre Bedeutung für die Einführung und Formung der menschlichen Seelen, was besagt, dass die Schöpfung der körperlichen Welt nicht ziellos geschehen ist, sondern dass, wie Paulus Röm 1,20 festhält, Gott unseren Geist durch unsichtbare und sichtbare Dinge zur Vollendung führen will.71 Der ersterschaffene Himmel ist also der Ort der gottdienenden geistigen Mächte und ebenso die Schule, in der die vernünftigen Seelen lernen sollten, Gott zu erkennen.72 67

Auch Ambrosius geht in seinem Exameron davon aus, wenn er in I,5,19 sagt: »Aber auch die Engel, Herrschaften und Gewalten, die zwar einmal zu sein angefangen haben, waren bereits da, bevor die Welt erschaffen wurde. Denn alles ist erschaffen und gemacht worden, das Sichtbare und das Unsichtbare, seien es Throne oder Herrschaften oder Fürstentümer oder Gewalten: Alles, heißt es weiter, ist durch Ihn [Christus] und für Ihn erschaffen worden (Kol 1,16).« Vgl. Ambrosius von Mailand, Exameron, übersetzt v. Joh. Ev. Niederhuber, BKV 17, Kempten/München 1914, S. 23. 68 Nach Basilius gibt es verschiedene Ewigkeiten bei Gott, wobei sein Anliegen nicht eine Begrenzung der Abfolgen dieser Zeiträume ist, sondern die Unterscheidung zwischen Gottes zeitloser Ewigkeit (›eis tous aiônas tôn aiônôn‹ [in alle Ewigkeit]) und den unendlichen Zeiträumen und Abfolgen der von Gott geschaffenen Weltzeitalter. Vgl. Basilius Caes., Hexaémeron II, 21 C–E, ed. Giet, SChr. 26, S. 182f. 69 Basilius Caes., Hexaémeron I, 5 C, ed. Giet, SChr. 26, S. 104f. 70 Basilius Caes., Hexaémeron I, 5 C–D, ed. Giet, SChr. 26, S. 104f.; vgl. auch Hexaémeron II, 17 C, ed. Giet, S. 162f.: »Voici notre avis: s’il existait quelque chose avant la formation de ce monade sensible et périssable, il est évident que ce devait être dans la lumière. Car ni ceux des anges qui sont élevés en dignité, ni l’ensemble des armées célestes, ni plus géneralement, ce qui porte un nom ou n’en porte pas parmi les natures intelligibles et les ésprits serviteurs, ne séjournaient dans les ténèbres: c’est en pleine lumière et joie spirituelles qu’ils trouvaient l’état qui leur convenait.« 71 Basilius Caes., Hexaémeron I, 5 E, ed. Giet, SChr. 26, S. 106f. 72 Basilius Caes., Hexaémeron I, 6 E, ed. Giet, SChr. 26, S. 110f. Basilius spricht hier nur von den Seelen der Menschen. Die Seelen der Tiere haben nach seiner

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Aber dieser zu Beginn der Schöpfung geschaffene geistige Himmel ist nicht der Himmel, zu dem wir nachts hinaufschauen und die Sterne bewundern. Denn, wie es mehr als eine Ewigkeit gibt, gibt es auch mehr als einen Himmel. Basilius bekennt: »Wir sind so weit entfernt, in Zweifel zu ziehen, dass es einen zweiten Himmel gibt, als wir einen dritten Himmel für wahr halten: denjenigen, den der gesegnete Paulus erfahren durfte.«73 Damit bewegt sich Basilius auf den Spuren von Origenes.74 Er hält aber nichts von einer Interpretation von Gen 1,7, welche die Trennung der Wasser über und unter des Himmelsgewölbes als Trennung zwischen den Intelligenzen, die Gott das Lob darbringen, und den bösen, gefallenen Geistern, verstehen will. Nach Basilius sind solche Meinungen Traumgewebe und Altweiberfabeln.75 Und er fordert seine Zuhörer auf, diese abzulehnen und die ›Wasser‹ ohne Allegorese76 schlicht als ›Wasser‹ zu verstehen. »Denn selbst, wenn die Wasser über dem Firmament sich der Verherrlichung des gemeinsamen Herrn aller Dinge anschließen, halten wir sie doch nicht für Vernunftwesen.«77 Ablehnen muss man auch die mit der genannten Vorstellung verbundene Ansicht, das Böse komme von den Sternen. Es gibt keine schlechten Sterne. Denn, wenn das Böse von der Natur der Sterne käme, dann wäre ihr Schöpfer der Urheber des Bösen.78 So aber Überzeugung nicht vor der Existenz ihres Leibes Gestalt gewonnen noch existieren sie nach dem Tod weiter. Es gibt also keine Seelenwanderung. Mit beißendem Spott sagt er: »Fliehe die Nichtigkeiten der arroganten Philosophen, die nicht erröten, wenn sie ihre Seelen und die von Hunden völlig gleich erachten und behaupten, früher Frauen, Sträucher oder Meeresfische gewesen zu sein« (Basilius Caes., Hexaémeron VIII, 71D, ed. Giet, SChr. 26, S. 436f.). 73 Basilius Caes., Hexaémeron III, 23 E, ed. Giet, SChr. 26, S. 196. 74 Vgl. Origenes PA I,4,5 – I,6,4, ed. Görgemanns, S. 190–231; Lies, Origenes, S. 68–90. 75 Basilius Caes., Hexaémeron III, 31B–C, ed. Giet, SChr. 26, S. 236f. Vgl. Origenes, Homilies sur la Genèse I,2, ed. H. de Lubac et L. Doutreleau, SChr. 7, 2. Aufl. Paris 1976, S. 66. 76 Zu Basilius’ Einstellung zur Allegorese vgl. meine Ausführungen in: Gottes Wort und unsere Wörter. Der Umgang mit dem Wort Gottes in den Kirchen östlicher und westlicher Tradition, Neukirchen-Vluyn 2013, S. 28–31. 77 Basilius Caes., Hexaémeron III, 31D, ed. Giet, SChr. 26, S. 236f. 78 Basilius Caes., Hexaémeron VI, 56 C, ed. Giet, SChr. 26, S. 358f. Schon Origenes hatte gemäß der Philokalie betont: Nur die Engel könnten die Stellung der Sterne interpretieren (vgl. Philokalie 21–27, SChr. 226, ed. Junod, S. 53). Nach Junods Einleitung zur Philokalie (daselbst S. 47) gibt es keinen Text des Origenes, der der menschlichen Astrologie günstig gesinnt wäre. Basilius geht noch weiter: Er legt keinen Wert auf die von Origenes getroffene Unterscheidung einer Astrologie durch Engel oder Menschen. Als wesentlichstes Argument führt er an, die Astrologie missachte die menschliche Freiheit (daselbst VI, 56 A–D, S. 356–361). Zudem gibt er zun bedenken: »Wenn schlechte Taten oder gute nicht von uns kommen, sondern aus der Notwendigkeit unserer Geburt, dann sind die Gesetzgeber, die uns vorschreiben, was wir tun und lassen sollen, unnütz; unnütz sind auch die Richter, die das Gute belohnen und das Laster bestrafen« (daselbst VI, 56 E, S.

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darf man nicht denken. Fälschlich hat man auch aus dem Sachverhalt, dass Gott ›Licht‹ ist, geschlossen, dass die Finsternis das aktiv Böse sei, so etwa Valentin, Markion und die Manichäer.79 Aber weder diese Behauptung noch die Annahme, das Böse komme von Gott, ist richtig. Denn nichts kommt von seinem Gegenteil: Weder kommt der Tod vom Leben, noch ist die Dunkelheit die Quelle des Lichts. »Wenn aber, wird man einwenden, das Böse nicht von Gott kommt, woher hat es dannn seine Natur? Denn, dass es tatsächlich Böses gibt, wird niemand von denen, die am Leben teilhaben, bestreiten. – Was antworten? Dass das Böse nicht ein lebendiges und beseeltes Wesen ist, sondern eine Disposition der Seele, die der Tugend entgegengesetzt ist und vom sorglosen Preisgeben des Guten kommt.«80 »Suche also das Böse nicht außerhalb [deiner selbst]; stelle dir darunter nicht eine primitive, perverse Natur vor; jedermann muss sich selbst als Ursache des Bösen, das in ihm ist, erkennen. Denn was uns täglich begegnet, hat seine Ursache zum Teil aus der Natur, wie das Alter und die Behinderungen, zum Teil besteht es aus unvorhergesehenen Ereignissen, die durch die Begegnung unterschiedlicher Momente zustande kommen und oft traurig, manchmal auch erfreulich sind (...). Zu einem Teil liegt die Verantwortung dafür, was sich ereignet, aber auch in unserer Macht, wie das Mäßigen unserer Leidenschaften und das Zügeln der Vergnügungssucht, die Kontrolle über unseren Zorn und unsere Faust gegen den, der sich gegen uns auflehnt, oder wie das Sagen der Wahrheit oder einer Lüge, oder das Hervorkehren von Milde oder dominanter Härte im Umgang mit anderen.«81 »Was du in deiner Gewalt hast, dessen Ursache suche nicht außer dir! Als eigentliches Böses anerkenne nur deine freiwilligen Verfehlungen! Wenn das Übel ungewollt ist und nicht von uns abhängt, verursachen die Gesetze für die Betroffenen auch nicht Angstzustände, da das Gericht nicht schwere Strafen verhängen wird.«82

Das bedeutet: Obwohl Basilius Origenes darin zuzustimmen bereit ist, dass Gott vor der Schöpfung der irdischen Welt eine geistige über Ewigkeiten (Äônen) sich erstreckende Lichtwelt geschaffen hat, und Basilius auch den Mythos vom Fall des Luzifers nicht ablehnt, schreibt er doch das Böse, dem Menschen verfallen, nicht dem Satan und den 362f.; vgl. den ganzen Abschnitt VI, 54A–57B, S. 348–363). Mit Origenes und Basilius lehnt auch Ambrosius von Mailand die Astrologie zum Zweck der Erstellung von Nativitäten und Horoskopen vollständig ab, vgl. dessen Exameron IV,4,13–19 zu Gen 1,14, ed. Niederhuber, BKV Bd. 17, S. 141–150. 79 Basilius Caes., Hexaémeron II, 15 D–E, ed. Giet, SChr. 26, S. 154f. 80 Basilius Caes., Hexaémeron II, 15 C–D, SChr. 26, ed. Giet, S. 158f. 81 Basilius Caes., Hexaémeron II, 16 E, SChr. 26, ed. Giet, S. 160f. So auch Ambrosius, Exameron I,8,31 zu Gen 1,2, BKV Bd. 17, ed. Niederhuber, S. 40f.: »Du selbst bist schuld an deiner Sündhaftigkeit, du selbst der Anführer bei deinen Schandtaten und der Verführer zu deinen Missetaten. Was ziehst du eine fremde Natur zur Entschuldigung deiner Fehltritte heran? ...« 82 Basilius Caes., Hexaémeron II, 16 E–17 A, ed. Giet, SChr. 26, S. 160f.

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Dämonen zu, sondern dem freien Willen, welcher Engel wie Menschen zum Abfall von Gott führen kann. Nicht zum Kampf mit Dämonen, sondern zur Bekämpfung der eigenen Leidenschaften muss sich der Nachfolger Christi rüsten. Dämonen spielen in der Gedankenwelt des Basilius faktisch keine Rolle; die Erwähnung von Engeln beschränkt sich im Wesentlichen auf biblische und liturgische Bezüge.83 Bei Gregor von Nazianz ist das grundsätzlich nicht anders: Auch er sagt in einer seiner frühen Reden in Konstantinopel (wohl am 7. Jan. 380): »Glaube, dass das Böse keine Substanz noch Macht hat, dass es in sich selbst keinen Beginn oder Fortbestand aufweist, dass es nicht von Gott kommt. Glaube vielmehr, dass das Böse unser und des Bösen (tou ponêrou) Werk ist und dass es sich bei uns eingefunden hat durch deine Sorglosigkeit, nicht durch die des Schöpfers.«84

Aber im Gegensatz zu Basilius liegt ihm daran, den biblischen Schöpfungsbericht in einen Gesamtzusammenhang der Weltentstehung und Weltvollendung einzuordnen. Davon zeugt der Anfang einer Weihnachtspredigt, die er in Konstantinopel nicht lange nach seiner Ankunft (also wohl am 25. Dez. 379) gehalten hat.85

83

So ist Basilius wichtig, dass Gen 3,1 (»Lasset uns Menschen machen«) nicht, wie die Juden behaupten, zu den Engeln, sondern zum Sohn Gottes gesagt ist; Basilius Caes., Hexaémeron, 87 B–E, ed. Giet, SChr. 26, S. 514–519. 84 Gregor von Nazianz, Or. 40,45, ed. Claudio Moreschini et Paul Gallay, SChr. 358, Paris 1990, S. 304f.; vgl. auch Or. 4,47, ed. Jean Bernardi, SChr. 300, Paris 1983, S. 148f. 85 Einige Forscher plädieren auch für Weihnachten 381; so Claudio Moreschini in Introduction zu Grégoire de Nazianze, Discours 38–41, SChr. 358, S. 16–22. Nach einigem Zögern scheint mir das frühere Datum wahrscheinlicher. Zwei Sachverhalte sprechen eher für 379/80: 1.) eine Frage, die nur einer stellen kann, der sich noch fremd fühlt: »... wollt ihr – denn ich bin ja heute euer Bewirter – dass ich euch, den braven Gästen, die Rede hierüber [sc. über Worte des göttlichen Gesetzes und Erzählungen, die mit diesem Fest in Beziehung stehen] vorsetze, so reichlich und freigebig als möglich, damit ihr wisst, wie der Fremde die Einheimischen, der Mann vom Lande die Leute in der Stadt speisen kann?« 2.) In seiner Predigt über die Taufe am darauf folgenden 7. Januar sagt Gregor: »Wenn möglich, fliehe auch das öffentliche Leben mit seiner vornehmen Gesellschaft ... – denn was hast du mit dem Kaiser oder den Angelegenheiten des Kaisers zu schaffen? – fliehe bis du ruhen kannst, wo nicht Sünde ist und nicht Anschwärzung und keine bissige Schlange auf dem Weg, die deine Schritte zu Gott behindert ...« Hätte Gregor dies so sagen können, nachdem der Kaiser in Konstantinopel eingezogen und ihn am 27. Nov. 380 als designierten Patriarchen in die Apostelkirche geleitet hatte? (Text leicht verändert zitiert nach: Gregor von Nazianz, Ausgewählte Schriften Bd.1 [Or 38 und 40], in: BKV Auswahl der vorzüglichsten patristischen Werke in deutscher Übersetzung, hg. von Valentin Thalhofer, Kempten 1874, S. 16 und 63).

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Darin mutet er seiner kleinen, neuen Gemeinde, trotz deren Festtagserwartungen, zunächst zu, seinen philosophischen Gedankengängen über die Weltentstehung zu folgen: (38,9) »... [Gottes Güte] dachte zuerst an die geistigen und himmlischen Wesen und dieses Denken wurde zum Werk, vollzogen durch das Wort und vollendet durch den Geist. So wurden die ›zweiten Lichter‹ [nach der Trinität, dem ›ersten Licht‹] geschaffen, die im Dienste des ersten Lichtes stehen und die man nur als durch den Intellekt wahrnehmbare Geister ansehen kann oder als immaterielles und unkörperliches Feuer oder als eine andere, diesem möglischst ähnliche Natur, die man sich denken kann. Ich will damit sagen, dass diese Geister sich nicht zum Bösen hin bewegen, sondern allein zum Guten, weil sie ständig im Umkreis Gottes sind und von Ihm als Erste erleuchtet werden – denn die Wesen hier unten werden von Ihm erst als Zweite erleuchtet. Und ich bin versucht, zu denken und zu sagen, dass diese [geistigen Lichter] nicht unmöglich, aber schwer [zum Abstieg] zu bewegen sind, angesichts des Sachverhaltes, dass der Lichtträger (Luzifer, vgl. Lk 10,18) ›Finsternis‹ geworden ist und genannt wird, weil er sich aufgrund seines Glanzes überheben wollte. Und weil die aufrührerischen Kräfte, die sich ihm unterworfen haben, Verursacher des Bösen geworden sind, da sie das Gute verwerfen und das Böse weitergeben.«86

Gregor fährt dann fort: (38,10) »So wurde nun die geistige Welt durch Gott geschaffen – jedenfalls gemäß dem, was ich über diese Dinge aussagen kann, denn mein Sprachvermögen ist zu klein für diese große Sache –. Und weil dieser erste Teil in Seinen [Gottes] Augen gut war, dachte Er an eine zweite, materielle und sichtbare Welt und so wurde aus Himmel und Erde und was sie einschließen und mitbedeuten ein Werk, das lobenswert ist wegen seiner glücklichen Zusammensetzung und seiner Eintracht, wobei das eine zum andern passt und alles eine Welt darstellt. Gott zeigt damit nicht nur Seine Natur, sondern auch Seine Fähigkeit, eine Natur zu schaffen, die Ihm völlig fremd ist. Denn verwandt sind Ihm die geistigen Naturen, die nur durch den Geist Selbst erfasst werden können. Völlig fremd sind Ihm Naturen, die nicht beseelt und bewegt sind.«87

Was das für die Schöpfung bedeutet, zeigt Gregor in der Fortsetzung seiner Predigt auf: (38,11) »Bis dahin waren der Geist und das Sinnenhafte unter sich getrennt und in ihre eigenen Grenzen eingeschlossen und zeugten je für sich von der Größe des Schöpfungswortes; sie lobten schweigend dessen Macht und waren überall deren Verkündiger. Aber es gab noch nicht die Verbindung der beiden Prinzipien, noch die Vermischung der Gegensätze, welche das Erkennungszeichen einer größeren Weisheit und der göttlichen Größe gegenüber den geschaffenen Wesen sind. Der ganze Reichtum der Güte Gottes hatte sich noch nicht offenbart. Da aber der Schöpfer auch diesen aufzeigen wollte, schuf das Schöpfungswort auch ein Lebewesen, das aus beiden, der 86 87

Grégoire de Nazianze, Discours 38,9, ed. Moreschini, SChr. 358, S. 120–123. Grégoire de Nazianze, Discours 38,10, ed. Moreschini, SChr. 358, S. 122–125.

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sichtbaren und der unsichtbaren Natur, bestand: den Menschen. Er zog den Leib des Menschen aus der Materie, die Er schon vorher geschaffen hatte, und Er nahm von Sich Selbst den Atem, den Er in ihn legte. [Er schuf] also eine lebendige Seele und ein Abbild Gottes, wie die Schrift sagt, denn diesen Menschen, ein zweites Universum, gebildet aus verschiedenen Elementen, groß in seiner Kleinheit, setzte Er als Verehrer und Betrachter der sichtbaren Schöpfung und Eingeweihter in die unsichtbare Welt auf die Erde wie ein zweites Engelwesen. Er war ein König dessen, was auf Erden ist, und ein Teilhaber dessen, was oben ist, ein irdisches und ein himmlisches Wesen, zeitlich und unsterblich, sichtbar und geistbegabt, ein Mischwesen zwischen Größe und Niedrigkeit, sowohl Geist wie Fleisch: Geist durch die Gnade, Fleisch wegen seiner Überheblichkeit; das eine, auf dass es immer den Schöpfer preise, das andere, damit es leide und im Leiden sich darauf besinne, was es ist, und sich sein Größenwahn korrigiere und es von hier unten unmittelbar nach oben geleitet werde und aufbreche zu einer anderen Welt und – ein zwiefaches Mysterium – so durch die Zuwendung zu Gott, selbst Gott werde. Denn wahrhaftig: Das Maß des Lichtes der Wahrheit, das mir hier zukommt, bringt mich dazu, die Schau und Erfahrung eines göttlichen Lichtglanzes zu ersehnen und würdig dessen zu werden, der mich ans Fleisch gebunden und wieder losgebunden hat und auf höhere Weise wiederum binden wird.«88

Zwar ist dieses ›Maß des Lichtes der Wahrheit, das mir hier zukommt‹, durchaus ein weihnachtliches Thema, und Gregor wendet sich nach diesen Darlegungen denn auch der Bedeutung der Geburt Christi zu, aber, was Gregor der Festtagsgemeinde zunächst vorgesetzt hat, ist sein Gesamtkonzept einer Kosmogonie, die von Origenes beeinflusst, sich dennoch in nicht unwesentlicher Hinsicht von diesem unterscheidet. Man hat in der Forschung diesen Unterschied damit in Verbindung gebracht, dass Origenes stärker Stoiker, Gregor dagegen Platoniker sei.89 Aber nicht philosophische Denkzwänge unterscheiden Gregor von Origenes, sondern die theologische Notwendigkeit, die Willensfreiheit der gottgeschaffenen Wesen einzuschränken: Sie haben zwar die Freiheit, sich von Gott abzuwenden, finden aber nicht mehr allein zu Ihm zurück, können nicht selbst ihren Stand im Universum durch Rückkehr zum Gehorsam verbessern, sich also nicht selbst erlösen, sondern müssen von Gott ›losgebunden‹ und neu an Ihn ›angebunden‹ werden. Denn während nach Origenes die Erfüllung der Aufgaben und Gebote Gottes die Bedingung für das Verbleiben der erstgeschaffenen Geister in der Nähe Gottes ist und die an den irdischen Strafort verbannten Seelen der Menschen nach Christi Erscheinen durch Glauben und Gehorsam gegenüber Seinen Geboten von ihrer Anbindung an die Erde erlöst werden, ist es nach Gregor allein der Gnade Gottes in Jesus Christus und im Heiligen Geist zu verdanken, wenn die aus Geist und Leib von Gott geschaffenen irdischen Wesen, 88 89

Grégoire de Nazianze, Discours 38,11, ed. Moreschini, SChr. 358, S. 124–127. Anne Richard, Cosmologie et Théologie chez Grégoire de Nazianze, Collection des Études Augustiniennes, Série Antequité 169, Paris 2003, S.72 und 361–373.

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mit Gott versöhnt, in Ihm zur Ruhe kommen. Auch ist nach Gregor die irdische Welt kein Strafort für von Gott abgefallene Geister und Seelen, sondern ein gottgeschenkter Ort der Bewährung des Glaubens und der Sehnsucht, an dem auch bereits etwas von dem göttlichen Licht der künftigen Welt durchzuscheinen vermag. In der Predigt über den Täufer, die Gregor wohl am 7. Januar 380 gehalten hat, nimmt er das Motiv des Lichtes auf: (5) »Gott ist das erste Licht, unerreichbar und unerklärbar; es kann weder durch das Denken erfasst, noch durch das Wort ausgedrückt werden; es erleuchtet jegliche vernünftige Natur. Es ist für die vernünftige Welt, was die Sonne und der Mond für die Sinnenwelt. Und in dem Maße, wie wir gereinigt sind, erscheint es uns; in dem Maße, wie es uns erscheint, wird es von uns geliebt; und in dem Maße, wie wir es lieben, erkennen wir es ... Das zweite Licht ist das der Engel, das eine Art Ausfluss des ersten Lichtes oder der Teilhabe an diesem ist und sich zu diesem hinbewegt und, von Ihm gestützt, seine Leuchtkraft erhält ... Das dritte Licht ist der Mensch, was sogar den Nichtglaubenden erkennbar ist, denn sie geben dem Menschen als solchem den Namen ›Licht‹ aufgrund der Geisteskraft, die in ihm ist. Von uns selbst aber wird ›Licht‹ für die gebraucht, die sich Gott mehr als andere annähern. Ich kenne aber auch noch ein anderes Licht ... die Welt als solche.«90

Hier wird in absteigender Reihenfolge das Göttliche durch einen Begriff charakterisiert, der eindeutig bildlich, symbolisch, zu verstehen ist und deutlich macht, worum es Gregor in seiner ›Kosmogonie‹ geht: nicht um ein intellektuell aufschlüsselbares System, das einzelne Aussagen in ihrer Faktizität als Sachverhalte glaubwürdig festhält. Es geht ihm vielmehr um die Glaubensgrundlage selbst, die nur im Bild ausgedrückt werden kann und wonach Jesus Chrstus »das wahre Licht« »ist«, von dem alles Licht, das uns erleuchtet, seinen Ursprung nimmt (vgl. Joh 1,9). In der vorangehenden Predigt über die Taufe Christi am 6. Jan. 38091 spricht Gregor dann auch über die Dämonen, den mit und im Gefolge von Luzifer von Gott abgefallenen geistigen Wesen. Sie schwatzen den Menschen, die vom Baum des Lebens getrennt sind, Göttermythen auf und öffnen ihnen die Türen der Leidenschaften, indem sie ihre Schwachheit ausnützen und sie der Führung der gesunden Vernunft berauben. Und dies alles, weil sie es nicht ertragen, dass die Irdischen die himmlischen Güter erlangen, deren sie selbst entblößt worden sind. Doch an diesem Übel sind wir mitschuld, weil wir uns von Gott entfernt haben, zu Festungen verschiedenster Leidenschaften geworden sind und noch 90 91

Grégoire de Nazianze, Discours 40,5, ed. Moreschini, SChr. 358, S. 204–207. Grégoire de Nazianze, Discours 39, ed. Moreschini, SChr. 358, S. 150–197.

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darüber hinaus Götter als Beschützer von Leidenschaften aufgestellt haben.92 Doch wir haben die Gnade erhalten, dem Irrtum des Aberglaubens zu entfliehen und dem lebendigen Gott zu dienen, indem wir uns über das Irdische erheben, d.h. über all das, was der Zeitlichkeit unterworfen ist, und so Gott und die göttlichen Dinge erkennen und meditieren, angefangen mit der Furcht Gottes (Sophia Sirach 1,14).93 Wie schon Origenes bedient sich also auch Gregor von Nazianz einer mythologisch-philosophischen Redeweise, um Gott und Welt miteinander in Beziehung zu bringen, wobei Engel und Dämonen als Vermittler zwischen Geist und Materie eine wesentliche Rolle spielen. Das hat für die Gläubigen zwei Seiten: eine wunderschöne, tröstliche, die sich öffnet, wenn in der morgendlichen und abendlichen Bitt-Ektenie vom Herrn ein »Engel des Friedens, einen treuen Geleiter, einen Wächter für unsere Seelen und Leiber« erfleht oder beim großen Einzug mit den Heiligen Gaben den Gläubigen der Mitvollzug der Feier durch die heiligen Engel bewusst wird. Aber die Vorstellung von Engeln und Dämonen als Vermittler zwischen Geist und Fleisch hat auch eine böse, schreckliche und verführende Seite, wenn damit ungewollt dem vorchristlichen Geister- und Teufelsglauben Tür und Tor geöffnet wird. Doch solange man, so wie Gregor, sich bewusst ist, dass man in unzulänglichen Bildern von einem in Gedanken und Worten nicht fassbaren Sachverhalt spricht,94 ist die genannte Gefahr nicht akut. Es ist also ratsam, stets im Gedächtnis zu behalten, dass von ›Engeln‹ und ›Dämonen‹ wie auch von einer ›ersten geistigen Schöpfung Gottes‹ nur in Bildern gesprochen werden kann. Auch Gregor von Nyssa, der jüngere Bruder von Basilius dem Großen, ist sich der symbolischen Rede bewusst, wenn er von Engeln, ihrem Dienst und ihrem Fall spricht, selbst dann, wenn er sich auf den Fall des Luzifers und der ihm dienenden Geister (Lk 10,18) bezieht. Und dies, obwohl er Origenes vielleicht noch näher steht als sein Bruder Basilius und dessen Freund Gregor. In seinen nach 379 entstandenen Katechetischen Reden spricht er davon, dass die gefallenen Engel durch die Schwerkraft ihres Widerstrebens gegen ihren göttlichen Auftrag sich nach der Art eines Steines durch das eigene Gewicht von ihrer Gottesnähe und ihrem Platz im Himmel wegbewegen und immer mehr in die Tiefe absinken.95 92 93 94

Grégoire de Nazianze, Discours 39,7, ed. Moreschini, SChr. 358, S. 160–163. Grégoire de Nazianze, Discours 39,8, ed. Moreschini, SChr. 358, S. 162–165. Gregor von Nazianz, Or 31,11, in: Orationes Theologicae. Theologische Reden, ed. Hermann Joseph Sieben, FC 22, S. 294f. 95 Grégoire de Nysse, Discours catéchétique. Texte grec de E. Mühlenberg. Introduction et notes par Raymond Winling, SChr. 453, Paris 2000, S. 178f. vgl. dazu auch Origenes PA I,3,8, ed. Görgemanns, S. 185; sowie Lies, Origenes, S. 68–71.

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IX. Engel und Dämonen in der Heiligen Schrift Dieser Sturz ist aber nach dem Nyssener nicht die Ursache, dass die Menschen dem Bösen unterworfen sind. Das Böse entsteht vielmehr in jedem Menschen selbst, weil er das Gute danach einschätzt, wieweit es körperliches Vergnügen bereitet. Aber er müsste weiterdenken: Alles Böse ist der Mangel an Gutem; denn das Böse existiert nicht durch sich selbst und kann auch nicht als eine Substanz erfasst und gemessen werden. Wir sind vielmehr durch eine Gott widerstrebende Entscheidung unseres freien Willens in die Verbindung mit dem Bösen gekommen, so dass unser Geist eine Transformation erlitten hat, die uns ans Böse fesselt. Darum kehrt der Körper des Menschen, wenn seine Zeit abgelaufen ist, wieder zur Erde zurück und löst sich auf wie ein irdenes Gefäß, das, nachdem es durch seinen Inhalt unbrauchbar und von diesem getrennt worden ist, aus der Teigmasse neu geformt werden kann. Das sei – so Gregor – auch die Botschaft des Mose, der berichtet, dass der Herr nach dem Sündenfall die Menschen in ›Röcke aus Fell‹ gekleidet habe (Gen 3,21). Es handle sich dabei nicht um Tierfelle, sondern es gehe darum, dass wir nach dem Sündenfall sterbliche Leiber erhalten haben. Doch die Sterblichkeit, die von der Natur der vernunftlosen Wesen kommt und das Äußere des Menschen betrifft, reiche nicht an das Innere, das Abbild Gottes, heran. Das Fleisch aber, der Teil von uns, der dem Bösen verfallen ist, wird aufgelöst wie ein Topf aus Ton, in den Blei gegossen worden ist, das anders nicht vom Ton befreiet werden kann. Erst danach kann der Ton wiederum neu geformt werden und den gewollten Inhalt fassen.96

Diese Ausführungen Gregors zeigen, dass er sich bewusst ist, dass er, wenn er von Engeln, ihrem Fall, dem Bösen und der daraus folgenden Sterblichkeit des menschlichen Körpers spricht, in Bildern redet. Und auch er ruft nicht zu Kämpfen mit Satan und seinen Engeln auf, sondern dazu, sich bewusst zu machen, dass das Böse der eigenen falschen Entscheidung entspringt. Zum Schluss scheint mir noch ein Blick auf Theodor von Mopsuestia (ca. 350–422) aufschlussreich, der in seinen Katechetischen Homilien,97 die er als Presbyter zwischen 379 und 392 gehalten hat,98 sich insbesondere hinsichtlich der Engellehre als getreuer Vertreter antiochenischer Theologie erweist. Wie den Kappadokiern war auch den Antiochenern die Gegenwart der Engel im Zusammenhang des Christusgeschehens wichtig. Doch in seinen Darlegungen über die Erschaffung der Welt erwähnt Theodor die Engel nur gerade in einem Zitat aus Ps 148,1–3.99 Er folgt in seinen Ansprachen an die Katechumenen dem Glaubensbekenntnis, wie es in 379 in Antiochien beschlossen und dann 381 in Konstantinopel mit einer Erweiterung des dritten Artikels übernommen worden ist. 96 97

Grégoire de Nysse, Discours catéchétiqu, SChr 453, ed. Winling, S. 182–193. Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien I und II, übersetzt und eingeleitet von Peter Bruns, Fontes Christiani 17/1–2, Freiburg i.Br. 1994/5. 98 Theodor v. Mopsuestia, Katechetische Homilien, ed. Bruns, Einleitung Bd. I, S. 23. 99 Theodor v. Mopsuestia, Homilien 2,11, ed. Bruns I, S. 97.

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Wichtig ist für Theodor, zu betonen, dass Gott der Schöpfer sowohl der sichtbaren wie der unsichtbaren Dinge ist und diese aus dem Nichts geschaffen hat. »Die sichtbaren Dinge schauen wir mit unseren Augen, die unsichtbaren hingegen sind im Glauben zu sehen.«100

Ebenso wichtig ist ihm aber auch, den Unterschied zwischen Gott, dem Schöpfer, und Gott, dem Vater, gegen die Arianer, die Christus als Erstes der Geschöpfe verstehen wollen, festzuhalten.101 Christus ist kein Geschöpf und Er ist auch nicht einer der Engel.102 Denn Gott als Schöpfer ist zugleich der eine Gott in drei Hypostasen: Vater, Sohn und Heiliger Geist; das allerdings wissen wir erst durch die Menschwerdung Christi.103 Daraus folgt dann auch: Außer dem dreieinen Gott gibt es keine göttliche und damit ewige Natur. »Denn das Geschaffene kann unmöglich als ewigseiend bezeichnet werden und die Geschöpfe können nicht hinnehmen, von Natur aus Gott und Herr, im eigentlichen Sinne, genannt zu werden. Was nämlich von einem anderen geschaffen worden ist, kann unmöglich [selbst] aus dem Nichts etwas schaffen.«104

Das bedeutet, dass Theodor Origenes’ Hypothese der Ewigkeit der Geistwesen, die sich je nach ihrer Gottesliebe und Dienstbeflissenheit näher oder ferner von ihrem Schöpfer bewegen, ablehnt. Charakteristisch ist nun aber für Theodor, dass die Engel erst im Zusammenhang der Christologie in Blick kommen. Denn ihre Aufgabe war und ist es, Christus, und durch Ihn der Erlösung der Welt, zu dienen. »Sie waren bemüht, den göttlichen Willen zu erfüllen. Auch als unser Herr in Betrachtung und in Furcht versunken war, als das Leiden bevorstand, ›erschien‹, wie der selige Lukas sagt, ›ein Engel, der Ihn stärkte und Ihm Kraft gab (Lk 22,43), wie die, die mit ihren Rufen gewöhnlich den Sinn der Athleten anfeuern, wurde Er – der gesalbt worden war, um die Drangsale zu bestehen – durch aufmunternde Worte überzeugt, mit allem Eifer die Drangsale zu ertragen, wobei erzählt wurde, wie gering doch das Leiden sei im Vergleich zu dem Gewinn, der daraus erwachsen soll. Denn nach Seinem Leiden und Sterben sollte Er in großer Herrlichkeit sein und von da an Ursache für viele Güter, nicht nur für die Menschen, sondern auch für die ganze Schöpfung.«105 Und: 100 101 102

Theodor v. Mopsuestia, Homilien 1,8, ed. Bruns I, S. 80. Theodor v. Mopsuestia, Homilien 2,10f., ed. Bruns I, S. 96f. Theodor v. Mopsuestia, Homilien 5,9; 6,10; 8,8, ed. Bruns I, S. 141; S. 163; S. 191f. 103 Theodor v. Mopsuestia, Homilien 2,2, ed. Bruns I, S. 89. 104 Theodor v. Mopsuestia, Homilien 2,1, ed. Bruns I, S. 89. Damit widerspricht er Origenes, der auch die unsichtbaren Geschöpfe als ewigseiend angesehen hat. 105 Theodor v. Mopsuestia, Homilien 15,25, ed. Bruns II, S. 408.

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IX. Engel und Dämonen in der Heiligen Schrift »... auch uns, die wir in den göttlichen Schriften unterwiesen sind, ist klar, dass Engel auch die ganze Zeit, die (Er) im Tode (war), an der Seite Seines Grabes standen; sie saßen auch auf dem Stein und enthüllten den Frauen Seine Auferstehung. Zur Ehre jenes Verstorbenen blieben sie dort, bis sie Seine Aufersteheung schauten. Durch sie wurde ... [Seine Auferstehung] verkündet als ein gemeinsames Gut für alle Menschen und als Erneuerung der ganzen Schöpfung nach dem Wort des seligen Paulus, der gesagt hat: ›Wer in Christus ist, ist eine neue Schöpfung. Das Alte ist vergangen, und alles ist neu geworden‹ (2Kor 5,17).«106

Diese Vorstellungen bestimmen auch das Verständnis der Diakonsdienste in der Liturgie. Denn nach Theodor ist die Liturgie ein Opferdienst im Nachvollzug des ein für allemal vollzogenen Dienstes Christi, und daher kein neues Opfer. »Aber alle Priester des neuen Bundes (diathêkê) bringen beständig, allerorten und jederzeit ein und dasselbe Opfer dar, denn ein einziges ist auch jenes Opfer, das für uns alle dargebracht worden ist, nämlich das (Opfer) Christi, unseres Herrn ... (20) Er (sc. der [liturgische] Opferdienst) ist offenkundig das Gleichnis (omoiôma) der himmlischen Wirklichkeiten, damit wir, sobald dieser [sc. der liturgische Opferdienst] beendet ist, durch Speis und Trank gewürdigt werden, ihn in der wahren Teilhabe an den künftigen Gütern zu empfangen. Wir denken dabei daran, dass Christus im Himmel ist, der für uns gestorben, auferstanden und in den Himmel aufgefahren ist, dass Er es ist, der auch jetzt sinnbildlich (en typois) dahingeschlachtet wird.«107

So sind die Dienste der Diakone in der Liturgie eine Nachahmung und ein Gleichnis der Dienste der Engel, die dem Heilswerk Christi zugeordnet sind. Was nun den Satan und seine Engel betrifft, so kommt Theodor auf diese im Zusammenhang des Exorzismus und der Absage an den Satan in der Taufe zu sprechen. Er übernimmt dabei den Mythos des Sündenfalls wie ihn die Genesis überliefert und wie ihn Origenes interpretiert, da diese Tradition auch Rückhalt hat an den Taufriten, wie sie der Antiochenischen Kirche vorliegen. So kann er den zur Taufe Eingeschriebenen erklären: »Es ist jetzt nötig, dass zu unseren Gunsten Recht gesprochen wird gegen den Tyrannen (tyrannos), den Feind, der mit uns im Kampfe liegt, Satan meine ich, der uns ständig das Heil und unsere Erlösung neidet, der seinen Willen auch jetzt gegen uns zeigt und versucht, gegen uns einen Prozess anzustrengen, dass wir nicht außerhalb seines Herrschaftsgebietes stehen dürften. Er sagt gegen uns aus, dass er schon seit Vorzeit und aus der Rechtsnachfolge des Anführers unseres Geschlechtes (genos) ein Recht auf uns habe. Dazu erzählt er die Geschichte Adams: Dieser habe seinen Worten geglaubt und sich willentlich von seinem Schöpfer entfernt, ja sogar seine ei106 107

Theodor v. Mopsuestia, Homilien 15,27, ed. Bruns II, S. 410. Theodor v. Mopsuestia, Homilien 15,20, ed. Bruns II, S. 404.

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gene Knechtschaft erwählt.«108 »Aufgrund der Bosheit aber und des bitteren Willens des Tyrannen (tyrannos) und aufgrund unserer eigenen Sorglosigkeit haben wir uns zum Bösen hinreißen lassen.«109 Doch nun haben wir uns »zu Recht unserem Herrn zugewandt, dem wir uns noch vor Satans Bosheit verdanken und angehören, sind wir doch von Anfang an im Bilde Gottes geschaffen (Gen 1,27). Wir haben zwar diese Würde durch unsere Sorglosigkeit eingebüßt, doch durch Gottes Gabe haben wir die Würde des Ebenbildes erhalten und sind deshalb unsterblich geworden und Bewohner des Himmels ... Deshalb müssen wir jetzt an die Kirche Gottes herantreten in Hinsicht auf die Befreiung vom Bösen und [die] Freude auf die Güter, da wir durch die Gnade der heiligen Taufe erwarten, im Himmel eingeschrieben zu werden.«110 »Da ihr ... nicht imstande seid, von euch aus und für euch einen Rechtsstreit oder Kampf mit Satan zu führen, ist ›die Inanspruchnahme jener, die Exorzisten genannt werden, unbedingt erforderlich‹, da sie für euch Bürgen der göttlichen Hilfe sind. Denn unter großem Geschrei über lange Zeit hinweg bitten sie, dass der Hasser bestraft und durch ein Urteil des Richters entfernt werde, dass seiner Bosheit gegen uns auch nicht der geringste Raum oder ein Einfallstor gelassen werde, dass wir vielmehr vollständig seiner Knechtschaft entrinnen und in wahrer Freiheit sein werden und uns der jetzigen Einschreibung erfreuen dürfen.«111

So traditionell-mythologisch Theodor hinsichtlich der Darstellung des Satans denkt, so aufgeklärt-rationalistisch ist er bezüglich des Verständnisses ›seiner Engel‹: »Würde ... Satan ohne Hilfe seinen Krieg mit uns führen und durch sich selbst uns Schaden zufügen, wäre jenes Wort genug, das ein Beispiel für das Bekenntnis enthält: ›Ich widersage‹, und du würdest niemals die Freundschaft mit ihm annehmen. Da er nun unsichtbar ist, versteht er doch, durch sichtbare Dinge mit uns Krieg zu führen, durch Menschen, die er sich einmal dienstbar und zu Werkzeugen seiner Bosheit gemacht hat, deren er sich bedient, um auch den Rest zu Fall zu bringen, deshalb fügst du hinzu: ›und all seinen Engeln‹.«112 »Satansengel nennst du alle solche, die seinem Willen dienen, um Menschen straucheln zu lassen und in die Irre zu führen. Satansengel, müssen wir meinen, sind alle diejenigen, die sich um äußere Weisheit bemühen und den Irrtum des Heidentums in die Welt setzen. Satansengel sind offensichtlich alle Dichter (poiêtês), die durch ihre Fabeleien die Götzenfurcht mehrten und den Irrtum des Heidentums durch ihre Weisheit absicherten. Satansengel sind die, die im Namen der Philosophie (philosophia) unter den Heiden verderbliche Lehren aufkommen lassen und viel Zerstörung anrichten, sofern sie nicht mit dem Wort der Religion in Einklang stehen.«113 »Satansengel sind die, die in allen Häresien (airêsis) Häupter und Lehrer des Irrtums sind, da auch sie die Rede des Irrtums führen und aufrecht erhalten, mögen sie auch durch den 108 109 110 111 112 113

Theodor v. Mopsuestia, Homilien 12,18, ed. Bruns II, S. 332f. Theodor v. Mopsuestia, Homilien 12,19, ed. Bruns II, S. 334. Theodor v. Mopsuestia, Homilien 12,21, ed. Bruns II, S. 336f. Theodor v. Mopsuestia, Homilien 12,22, ed. Bruns II, S. 336–337. Theodor v. Mopsuestia, Homilien 13,7, ed. Bruns II, S. 346f. Theodor v. Mopsuestia, Homilien 13,8, ed. Bruns II, S. 347.

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IX. Engel und Dämonen in der Heiligen Schrift Namen des Bischofsamtes oder Priesteramtes geehrt sein. Sie allesamt dienen dem Willen Satans und unter dem Vorwand (s’chêma) der Kirchlichkeit verhelfen sie zum Sturz in den Irrtum.«114 »Satansdienst ist offensichtlich auch, wenn jemand dem Chaldäismus anhängt und die Bewegungen der Sonne und des Mondes und der Sterne erforscht, um sich damit dann auf den Weg zu machen, auszuziehen und irgend ein Werk zu begehen, oder wenn jemand meint, aus der Bewegung und dem Lauf dieser Dinge Nutzen oder Schaden zu empfangen. Kurzum, auf den Lauf der Sterne zu blicken und auf jene, die versprechen, man könne durch sie die Zukunft erfahren, dies ist offenkundig Satansdienst. Von allen diesen Dingen nämlich muss sich fernhalten, wer allein auf Gott zu schauen sich bemüht und von Seiner Vorsehung abhängig ist.«115

Die ›Satansengel‹ sind also nach Theodor nicht primär ›Dämonen‹ im Sinne des Antonius und der ägyptischen Wüstenväter, die den Mönchen schlechte Gedanken einflüstern, um sie von ihrem Vorsatz, ein monastisches Leben zu führen, abzubringen. ›Satansengel‹ sind vielmehr weltliche und gesellschaftliche Verführer zu einem Verhalten, wie es der Norm der heidnischen Umwelt entspricht. Von Dämonen im Sinne der Wüstenväter ist bei Theodor nur beiläufig und formelhaft die Rede, zumeist als Aussage darüber, dass Christus durch Sein Kommen die Herrschaft der Dämonen aufgelöst hat.116 Für den einzelnen Nachfolger Christi bedeutet das, dass er im Kampf ›um die Tugend‹ von Gott nicht allein gelassen wird: »Da nämlich diejenigen, die sich um die Tugend bemühen, unendliche Mühe auf sich nehmen, welche aus den Neigungen der Natur und den Nachstellungen der Dämonen herrühren und auch aus den alltäglichen Vorfällen, die für viele sehr oft zum Stolperstein werden und sie vom sittlich Gebotenen abbringen, haben sie nun in dieser Welt einen unaufhörlichen Krieg zu führen. Damit sie nun nicht meinen, Gott habe sie vollkommmen verlassen, da sie in ihrem alltäglichen Kampf auch kein bisschen Ruhe finden, hat Er (sc. unser Herr) recht treffend den frevelhaften Richter angeführt, um durch einen Vergleich sicherzustellen, dass Gott unmöglich die im Stich lässt, die das Gute erwählt haben. (...) Einen großen Kampf, auch von Seiten der Dämonen, stehen sie durch, da sie beständig mit jenen Leidenschaften zu kämpfen gezwungen sind, die ihnen aus diesen Gegebenheiten entgegenquellen.«117

Es ist typisch für Theodors Verständnis von Dämonen, dass der Kampf mit ihnen, der Kampf mit den eigenen Leidenschaften ist. Das Reden von Dämonen ist für ihn weithin ein bildliches Reden über Versuchungen, die aus einem unbekümmerten weltlichen Leben erwachsen. 114 115 116

Theodor v. Mopsuestia, Homilien 13,9, ed. Bruns II, S. 349. Theodor v. Mopsuestia, Homilien 13,10, ed. Bruns II, S. 350. Theodor v. Mopsuestia, Homilien 7,4, ed. Bruns I, S. 173; Hom 11, 12, ed. Bruns II, S. 309; Hom 12,16, ed. Bruns II, S. 330f.; Hom 13,18, ed. Bruns II, S. 357. 117 Theodor v. Mopsuestia, Homilien 11,4, ed. Bruns II, S. 303f.

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Es sind also nicht unsichtbare Geistwesen, die den Menschen verführen und ihnen Schaden zufügen, sondern weltliche Dinge und irdische Gewohnheiten, in deren Abhängigkeit die Menschen geraten sind. Zusammenfassend lässt sich also sagen: Zwar folgen auch die kappadokischen und antiochenischen Theologen des vierten Jahrhunderts dem origenistischen Mythos der Schöpfung einer geistigen Welt vor der Erschaffung der sichtbar-materiellen Welt, in welcher wir leben, aber sie verneinen eine Gleichewigkeit der vorzeitlich geschaffenen Geistwesen mit Gott, Vater, Sohn und Heiligem Geist. Die Engel sind, nach ihrer Sicht, Christus in Seinem Erdenwandel und Seinem Leiden zu Diensten und für uns Boten Seiner Auferstehung und der Erlösung, die Er uns brachte. Sie sind Vorbilder für den liturgischen Dienst der Diakone und die geistige Haltung der Zelebranten. Der ›Satan‹ ist ein gefallener Engel (gemäß Lk 10,17) und als solcher eine mythische Figur und der Gegenspieler Gottes, den Christus durch Seinen Tod entmachtet hat. Wieweit dabei in der jeweiligen Situation den Autoren das bildliche Reden bewusst ist, wird man dem jeweiligen Kontext entnehmen müssen.118 Das Reden von den ›Dämonen‹ als ›seinen [sc. Satans] Engeln‹ jedenfalls beschränkt sich weitgehend auf allgemeine Floskeln und wird nur konkret durch die Aufzählung weltlicher Versuchungen, Leidenschaften und gesellschaftlicher Anreize, die Menschen in die Irrre führen und von Gott entfernen. Mit den ›Dämonen‹, wie sie Antonius und seine Nachfolger im ägyptischen Mönchtum erlebten, haben diese Kräfte letztlich wenig gemeinsam. Das alles bedeutet: Der Volksglaube von ›Satan‹ und ›seinen Engeln‹, wie er in den Heiligen Schriften, auch im Neuen Testament, übernommen worden ist, um Gottes Macht und Seine Barmherzigkeit kundzutun, ist durch Origenes in ein philosophisches System eingebunden und damit für lange Zeit weltanschaulich zementiert worden. Dennoch erweisen sich die kappadokischen und antiochenischen Theologen des vierten Jahrhunderts kritisch gegenüber der dadurch erfolgten Personifizierung des Bösen und einer Zuweisung der Verantwortung dafür an von Gott abgefallene geistige Mächte. Vielmehr müssen die Gläubigen verstehen lernen, dass sie und ihr freier Wille selbst verantwortlich sind für das Übel in der Welt und dass der Kampf dagegen nicht mit irgendwelchen Dämonen, sondern mit der eigenen Überheblichkeit, Selbstsucht, Lieblosigkeit und mit den Leidenschaften zu führen ist. 118

Man darf aber nicht vergessen, dass schon Gregor von Nazianz in seinen Theologischen Reden darauf hinweist, dass die Wörter und die Sprache unzureichend sind zur Erfassung geistlicher Wahrheiten und dennoch benutzt werden müssen, weil wir keinen anderen Zugang zur geistigen Welt haben; vgl. Gregor von Nazianz, Orationes theologicae. Theologische Reden, ed. Hermann Joseph Sieben, FC 22, S. 294f.

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IX. Engel und Dämonen in der Heiligen Schrift

Was ist also vom Glauben an die himmlischen und satanischen Mächte zu halten? Drei Momente scheinen mir wesentlich: – Wenn wir von Gottes Thron, Seinen Cherubim und Seraphim, Seinen Erzengeln und Engeln sprechen, reden wir in Bildern und Vorstellungen, die uns durch die Jahrhunderte überliefert worden sind. Es geht dabei um geistige Erfahrungen in einem durch die Sinne geprägten Weltverständnis, für die die jüdisch-christliche Tradition eine bildliche, symbolische Ausdrucksweise bereitgestellt hat, in die auch der Volksglaube miteingeflossen ist. Rationalen Überlegungen ist diese Dimension geistiger Erfahrungen unzugänglich, wie auch die Wahrheit über Gottes Sein und Wesen dem rationalen Denken unzugänglich ist. – Logisch nicht fassbar ist ebenso das Wesen und die Herkunft des Bösen. Für die genuin christliche Glaubenstradition steht nur fest, dass nicht Gott Selbst ihr Urheber ist und dass der Satan und seine Engel nicht eine gleichursprüngliche und gleichewige göttliche Macht darstellen, sowie dass für das Böse, das in der Welt geschieht, jeder Täter, infolge seiner Willensfreiheit, selbst verantwortlich ist und seine Verantwortung nicht auf den Saten und die Dämonen abschieben kann. – Schließlich ist daran zu erinnern, dass weder die Heilige Schrift noch die Glaubensbekenntnisse der altkirchlichen Väter (z.B. von 325 und 379/81) verlangen, an die himmlischen Mächte der Engelwelt und an die Herrschaft von Satan und seinen Engeln in unserer irdischen Welt zu glauben. Allein der Glaube an die Heilige Dreiheit, an den Vater und den Sohn und den Heiligen Geist, ist für die Kirchen in der Nachfolge Christi unerlässlich. Zudem entsteht – wie jeder Glaube – auch der Glaube an gute und böse geistige Mächte, die uns umgeben – sofern er mehr als eine bloße Übernahme traditionell-volkstümlichen Denkens ist – durch eine unmittelbare, persönliche Begegnung. Wer eine solche erlebt hat, wird geneigt sein, an die unsichtbaren, geistigen Mächte zu glauben; wer sie nicht erfahren hat, mag skeptisch oder ablehnend gegenüber der Existenz dieser Mächte bleiben oder in ihnen die phantasievolle, bildhaft-poetische Ausdrucksweise einer geistigen Befindlichkeit sehen, ohne dass er dadurch mit dem christlichen Glauben als solchem in Konflikt kommt.

X. Zur Frage nach Gottes Barmherzigkeit und Gerechtigkeit in der biblischen und altkirchlichen Theologie

Gott ist gerecht und Er ist barmherzig, so bezeugt es uns die Heilige Schrift. Doch wie geht das zusammen? Was ist das für eine Gerechtigkeit, die sich barmherzig erweist? Was ist das für eine Barmherzigkeit, die dem Anspruch, gerecht zu sein, nachkommt? Gerecht ist, wenn der Gesetzesübertreter bestraft wird. Aber wo bleibt dann die Barmherzigkeit? In unserer weltlichen Rechtsprechung wird oft geltend gemacht, dass die durch Bosheit und Schuld entstandenen Wunden gemildert oder gar der Heilung zugeführt werden, wenn der, der sie schuldhaft verursacht hat, dafür bestraft wird. Doch ist das wirklich so? Wird nicht vielmehr durch die rächende Strafe und die Vergeltung des Bösen eine empfangene Wunde, die nur durch Barmherzigkeit und Verzeihen zuwachsen könnte, am Heilen gehindert? Und, was Gott betrifft: Wie verhalten sich bei Ihm Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zueinander? Ist Gott primär gerecht und in besonderen Fällen dann doch barmherzig, indem Er Gnade vor Recht ergehen lässt? Oder ist Er primär barmherzig und äussert sich Seine Barmherzigkeit im Vollzug Seiner Gerechtigkeit? Für wen ist Seine Gerechtigkeit barmherzig und für wen Seine Barmherzigkeit gerecht? Was sind die Voraussetzungen Seiner Barmherzigkeit und inwiefern kann von Seiner Gerechtigkeit gesprochen werden? Fragen über Fragen, von denen wir glauben, dass wir sie nicht ohne Hilfe lösen können! Darum gehen wir zurück zu den Anfängen der Kirche und suchen bei den frühen Vätern des Glaubens nach einer Klärung der Probleme und nach Lösungsvorschlägen, die uns zu überzeugen vermögen. Zweifellos haben die ersten Christen ihre Antworten auf solche Fragen ganz wesentlich ihren heiligen Schriften entnommen, zu denen primär die Bücher unseres ›Alten Testaments‹ gehören. Im AT ist ›Gerechtigkeit‹ ein ganz zentraler Begriff. Was aber heißt hier ›Gerechtigkeit‹? Gemeint ist nicht die ›iustitia‹, »die mit verbundenen Augen, streng nach einer über den Parteien stehenden objektiven Norm jedem an Lohn und Strafe zuteilt, was er verdient hat«, wie Walther Zimmerli formuliert.1 Gemeint ist vielmehr die Treue zu dem 1

Walther Zimmerli, Grundriss der alttestamentlichen Theologie, Theologische Wissenschaft 3, Stuttgart 1972, S. 124. Vgl. auch: Gerhard von Rad, Theologie des Alten Testaments Bd. 1, 2. Aufl. 1958, S. 368–380.

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Bund, den Jahwe mit dem von Ihm erwählten Volk zum Heil der ganzen Menschheit geschlossen hat. Dieser Bund hat für Israel zwei Aspekte: Gottes barmherzige Führung und Seine Heilsgaben.2 Die Führung Gottes zeigt sich in Seiner gnädigen3 oder zornigen4 Gegenwart, die Er während des Auszugs aus Ägypten Seinem Volk gewährte. Zu den Heilsgaben Gottes für das Volk Israel gehören dessen Befreiung von der Knechtschaft unter fremden Völkern und die Erlangung der Unabhängigkeit von fremden Herrschern in einem eigenen Land (Landgabe).5 Und trotz des immer wieder erfolgten Treuebruchs der Israeliten hält Jahwe an diesen Seinen Bundeszusagen fest. Das ist Seine mit der Gerechtigkeit verbundene Barmherzigkeit. Denn Er ist ein Gott, »den es reut und der Erbarmen zeigt«, wenn Sein Zorn sich gegen Sein Volk kehrt.6 Immer wieder lässt Er Sich durch Fürbitten erweichen.7 Seine Gerechtigkeit schließt also Seine Barmherzigkeit nicht aus; diese vermag vielmehr den Zorn zu besiegen, auch dort, wo die Verletzungen der Bundesverpflichtungen nicht ohne Folgen für die Übeltäter bleiben können.8 Doch die Gerechtigkeit Gottes ist nicht primär eine überwachende und richtende, eine forensische Gerechtigkeit, so, dass sie das Leben des Volkes und seiner einzelnen Glieder ständig kontrollieren und dadurch Furcht erzeugen würde.9 Gottes Gerechtigkeit hat immer das Heil Seines Volkes im Blick, ist mit einer Achtsamkeit auf das Wohl derer verbunden, die benachteiligt sind und Schaden erleiden.10 Darum droht dann doch Strafe dort, wo die Solidarität und Würde des menschlichen Zusammenlebens verletzt wird.11 Wo indes die Schuldigen ihre Fehler

2

Vgl. von Rad, Theologie des AT, Bd.1, S. 370, der feststellt: »Jahwes Gerechtigkeit war keine Norm, sondern Taten, und zwar Heilserweisungen.« 3 Vgl. Ex 23,20; 24,12–18; 32,34; Num 9,15–23; 10,34; Dtn 1,30–33. 4 Vgl. Ex 32,10. 54; Num 11,10; 12, 9–15; 14,11–25; 20,12; 22,22–35; 25,3f. 5 Ex 3,7f.; Dtn 26,5–10. 6 Hans Jochen Boecker, Recht und Gesetz im Alten Testament und im Alten Orient, Neukirchener Studienbücher 10, Neukirchen-Vluyn 1976, S. 117 (Zitat v. L. Rost). Vgl. auch Ex 32,14; Num 12,9–15; 14,11–12. 7 Vgl. Ex 32,7–14; Num 11,11–23; 12,1–15; 14,13–25; Dtn 9,12–29. Fürbitte zu üben gehört in späterer Zeit zum Amt des Propheten, vgl. von Rad, Theologie des AT, Bd.1, S. 291–293; Zimmerli, Grundriss, S. 25; 155f. und S. 162. 8 Vgl. Num 12,9–15. 9 Vgl. von Rad, Theologie des AT, Bd. 1, S. 371. Gottesfurcht ist etwas anderes als eine Furcht vor einer lebensbedrohenden Strafe. Es ist das Erschrecken und Innehalten vor der überwältigenden Majestät und Heiligkeit Gottes. Vgl. Gen 28,17; Jes 6,5. Prov 1,7. 9.10.15.33; Ps 110 (111),10; Hiob 28,28. 10 Vgl. von Rad, Theologie des AT, Bd. 1, S. 374f. Vgl. auch Dirk Ansorge, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes, Die Dramatik von Vergebung und Versöhnung in bibeltheologischer, theologiegeschichtlicher und philosophiegeschichtlicher Perspektive, Freiburg i.Br. 2009, S. 75. 11 Ansorge, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, S. 87; vgl. Jes 1,21–25.

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eingestehen und bereuen, wird ihnen das Erbarmen Gottes zuteil.12 So steht im Alten Testament die Barmherzigkeit letztlich doch noch über der Gerechtigkeit, auch wenn diese als einer der wichtigsten Leitbegriffe alttestamentlicher Frömmigkeit verstanden werden muss und in der späteren Zeit stufenweise eine Individualisierung und Verlagerung von der Gerechtigkeit Gottes auf die menschliche Gerechtigkeit vor Gott stattgefunden hat.13 Auf ein spezielles Moment muss in unserem Zusammenhang hier noch eingegangen werden: das Vorkommen von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes in den Psalmen. Dies ist insofern für uns von besonderem Interesse, als das christliche Mönchtum von seinen Anfängen an die Psalmen gelesen oder auswendig gebetet hat und in seiner Frömmigkeit durch diese Psalmengebete stark beeinflusst worden ist. In diesem Zusammenhang sind die folgenden Beobachtungen erwähnenswert: – Wenn in den Psalmen die Gerechtigkeit Gottes zur Sprache kommt, geht es immer um ein positives Gut, das erbeten, ersehnt und erhofft wird. Dass diese Gerechtigkeit dem Menschen bedrohlich und lebensgefährdend sein könnte, kommt zumeist nicht in den Blick.14 – Die Gerechtigkeit hat Frieden im Gefolge. Gerechtigkeit und Frieden gehören eng zusammen, weil der Gott der Gerechtigkeit sich als Gott des Friedens zu erkennen gibt.15 – Gottes Gerechtigkeit währt ewig; man kann sich auf sie verlassen, auf sie bauen.16 – Man kann im Gebet vor Gott sich auf Seine Gerechtigkeit berufen und wird nicht grundlos auf Erhörung hoffen.17 – Auch vom Menschen ist gemäß dem Bund Gottes, Gerechtigkeit zu üben, gefordert,18 dennoch ist die Rechtfertigung des Menschen

12 13 14

Ansorge, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, S. 118; vgl. Ps 50 (51). Vgl. Ansorge, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, S. 85–103. Vgl. Ps 5,9; 16 (17),15; 64 (65),5; 70 (71),15–17.24; 118 (119),40.62.138; 144 (145),7. Hier wie überall in dieser Arbeit wird die seit der Reformation im westlichen Christentum aus dem Hebräischen übernommene Zählung der Psalmen in Klammern angegeben und der Wortlaut und die Zählung der Psalmen nach der LXX an die erste Stelle gesetzt, weil die frühe Christenheit den Wortlaut ihres AT der LXX entnommen hat. 15 Vgl. Ps 71 (72), 3; 84 (85),11. 16 Ps 35 (36),7; 110 (111),3; 118 (119),142.160. 17 Ps 4,2; 142 (143),1. 18 Ps 7,9; 71 (72),1–4.

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nicht ein Verdienst seiner Bemühungen, sondern ein göttliches Geschenk.19 – Nicht die menschliche Gerechtigkeit, sondern Gottes Gerechtigkeit errettet den Menschen vom Tode.20 Entsprechendes ist zur Barmherzigkeit Gottes und Seinem Erbarmen zu sagen: – Gottes Barmherzigkeit ist groß und Sein Erbarmen reich.21 – Man kann sich auf sie berufen und sie erflehen.22 – Man kann sich ihrer gewiss sein.23 – Diese Gewissheit fordert allerdings von ihren Empfängern, dass auch sie selbst Barmherzigkeit und Erbarmen an denen üben, die dessen bedürfen.24 – Dennoch ist das Erbarmen Gottes nicht käuflich, sondern ein Geschenk der göttlichen Langmut.25 Im NT sind es vor allem die Evangelien und die Paulusbriefe, in denen Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zur Sprache kommt. Was die Evangelien betrifft, so ist für unseren Zusammenhang bedeutsam, dass das älteste Evangelium, das von Papias Markus zugeschrieben wird,26 nicht mit der Geburt Jesu beginnt, sondern mit dem Auftreten von Johannes, dem Täufer, der in der Wüste des Jordantales Buße predigte und seine Jünger zum Zeichen der Umkehr taufte,27 was die andern Evangelien zwar auch nachgetragen haben, dem sie aber – obwohl ihre Zeugnisse umfangreicher sind – weniger Aufmerksamkeit schenkten.28 Man wird Johannes und seine Bewegung den spätjüdischen Sekten des Jordantales zurechnen müssen, zu denen auch die Gemeinschaft von Qumran gehörte, die uns in einer Höhle, unweit vom Ort der Taufe des Johannes, ihre Schriften hinterlassen hat und die zumeist mit den Essenern identifiziert wird.29 Aber im Unterschied 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29

Ps 23 (24),4–5; 36 (37),4–9; 111 (112),1–7; 131 (132),8–9. Ps 30 (31),2. Vgl. Ps 50 (51), 3; 118 (119),156. Vgl. Ps 24 (25),6–7; 39 (40),12; 50 (51),3; 78 (79), 8; 118 (119),77. Vgl. Ps 23 (24),6; 101 (102),14; 102 (103),4.13; 144 (145),9. Vgl. Ps 108 (109),15–17. Vgl. Ps 102 (103),8; 144 (145),8. Vgl. Euseb, Hist. Eccl. III,39,14. Mk1,1–8. Mt 3,1–12; 11,2–19; Lk 3,1–18; 7,18–35; Joh 1,6–7.15–28; 3,22–36. Vgl. H.H. Rowley, Geschichte der Qumransekte, in: Qumran. Hg. von Karl Erich Grözinger, Norbert Ilg, Hermann Lichtenberger, Gerhard-Wilhelm Nebe,

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zu Qumran, wo die einzelnen Glieder der Bußbewegung durch rituelle Waschungen und eine strenge Ordensdisziplin die Reinheit zu erwerben und bewahren suchten,30 so dass sie auf ein barmherziges Gericht Gottes am Ende der Zeiten hoffen durften, war die Taufe des Johannes ein Zeichen und Versprechen, das Leben zu ändern, im Glauben daran, dass durch eine wahrhafte Buße sie selbst, wie auch ganz Israel, gerettet werden können.31 Dirk Ansorge sieht in der Hoffnung auf die Errettung des ganzen Volkes Israel den wesentlichen Unterschied zwischen Johannes und Qumran,32 während mir der entscheidende Unterschied vielmehr darin zu liegen scheint, dass Johannes seine Jünger nicht in eine feste, dem späteren Mönchtum ähnliche, rigorose Ordnung einbindet, sondern von allen, die zur Taufe kamen, verlangte, an ihrem Ort und in ihrer Situation zu tun, was die Gebote Gottes fordern. Die Gerechtigkeit, zu der sich die Jünger des Johannes in ihrer Buße bekennen, wurzelt in der Barmherzigkeit und der Achtsamkeit auf alle Bedürftigen, nicht in einer strengen Absonderung der Gerechten von ›denen draußen‹ wie in Qumran. Jesus Selbst hat in Seiner Tätigkeit als Wanderprediger und Verkünder des Reiches Gottes diese Haltung übernommen und vertieft: Er hat nicht getauft33 und auch nicht nur Buße gepredigt, sondern diese vielfach durch Seine Wunderheilungen ermöglicht, indem Er Menschen ein neues Leben schenkte und sie so instand setzte, Ihn und die Neuheit ihres Lebens im Glauben anzunehmen.34 Und Er hat die Liebe gegenüber allen Menschen, auch gegenüber Sündern und Feinden, vorgelebt.35

Hartmut Pabst, Wege der Forschung Bd. 4160, Darmstadt 1981, S. 23–57, bes. S. 56f.; André Dupont-Sommer, Schuld und Reinigungsriten in den jüdischen Sekten von Qumran, ebd., S. 263–275. 30 Nach Hans Conzelmann, Grundriss der Theologie des Neuen Testaments, München 1967, S. 40–42 ist Qumran durch dualistische Prädestinationsvorstellungen iranischer Herkunft beeinflusst. Das offenbart sich in der strengen Scheidung zwischen den Sektenmitgliedern, auf die sich die Liebe beschränken soll, und den Sündern, die verloren gehen werden und die man hassen muss. 31 Vgl. Ansorge, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, S. 140–144. 32 Vgl. Ansorge, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, S. 144. 33 Schon Rudolf Bultmann hat in seiner Theologie des Neuen Testaments (2. Aufl. Tübingen 1954, S. 405) darauf hingewiesen, dass in Joh 4,2 durch einen Einschub die Aussage von Joh 3,22, Jesus habe auf Seiner Wanderung durch Judäa getauft, korrigiert wird durch die Bemerkung, nicht Jesus Selbst, sondern Seine Jünger hätten getauft. Auch diese Aussage entspricht wohl nicht der historischen Wirklichkeit; sie wird durch keine anderen Zeugnisse bestätigt. 34 Zu Recht betont Dirk Ansorge, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, S. 153, anders als beim Täufer sei bei Jesus die Vergebung der Sünden nicht an eine vorher zu leistende Umkehr geknüpft. 35 Mt 9,9–13 parr; Lk 7,36–50; Lk 23,34.

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Seine Gerechtigkeit und Seine Barmherzigkeit waren auf diese Weise unzertrennbar eins.36 Für den Apostel Paulus ist nicht primär die Gerechtigkeit Gottes, wohl aber – und damit erweist er sich als Erbe des Spätjudentums – die Gerechtigkeit des Menschen vor Gott das große Thema seiner Briefe. Dabei sieht er sich ganz auf die Barmherzigkeit Gottes geworfen, wie sie sich im Glauben an die Versöhnung mit Gott durch die Menschwerdung, den Kreuzestod und die Auferstehung Jesu Christi darbietet und wie sie in der kirchlichen Verkündigung in Taufe und Herrenmahl gefeiert wird. Denn das bloße Bemühen um das Halten des Gesetzes vermag nicht, den Menschen mit Gott zu versöhnen; zu tief ist die gefallene Menschheit in die Sünde verstrickt und dadurch dem Zorn Gottes verfallen. Daher ist ›Versöhnung‹ mit Gott »ein Geschehen, das ausschließlich von Gott ausgeht«, auch wenn die Zustimmung des menschlichen Willens dazu erforderlich ist.37 Das aber bedeutet: Nach Paulus ist die Gerechtigkeit des Menschen vor Gott ein Geschehen der Barmherzigkeit Gottes, das der Mensch nur mit Dankbarkeit im Glauben annehmen und festhalten kann. Ulrich Luz hat in seiner Theologischen Hermeneutik auf einen Sachverhalt bei Paulus aufmerksam gemacht, den es in unserem Zusammenhang zu beachten gilt.38 Er geht von der Frage aus, warum Paulus in Röm 14,1–15,13 sich gegenüber den Judenchristen anders verhalten habe als in Gal 2,11–14, und kommt zum Schluss, in Antiochien und Galatien seien es die Judenchristen gewesen, die Druck auf die wenigen, zum Christentum konvertierten Heiden ausübten. Ihrem Druck sich zu beugen, wäre Verrat an dem einzig durch Christi Kreuz und Auferstehung ermöglichten Heil gewesen. Es hätte bedeutet, dass neben dem Glauben an Christus noch eine andere Bedingung für die Versöhnung mit Gott eingehalten werden müsse, nämlich das jüdische Ritualgesetz, was einer Entwerung der Heilstat Christi gleichgekommen wäre. Anders aber seien die Verhältnisse in Rom, wie Paulus sie gesehen habe, gewesen. Hier seien die Judenchristen mit ihren für die Umwelt eigenartigen, überkommenen Bräuchen als ›schwache Brüder‹ unter dem Druck des ›aufgeklärten‹ Heidenchristentums gestanden. Ihnen die Anerkennung als Brüder zu verweigern und sie dadurch noch mehr unter Druck zu setzen, hätte gegen die Liebe verstoßen. So wurde für Paulus die Bruderliebe und Barmherzigkeit an den Schwachen

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Dirk Ansorge, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, S. 155 bemerkt zu Mt 20,1– 15 (Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg), hier gehe es um die Erfahrung der unerwarteten Güte Gottes, die jedes formale Gerechtigkeitsdenken transzendiere. 37 Vgl. Ansorge, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, S. 163; vgl. Röm 5,1–11. 38 Ulrich Luz, Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments, NeukirchenVluyn 2014, S. 432–437.

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zur Richtschnur für ein gerechtes Handeln, das zugleich auch ein Handeln gemäß der Barmherzigkeit sein musste, wie dies 1Kor 13 bezeugt. Eine andere Sicht als bei Paulus begegnet uns im Christentum, wie es sich im Johannesevangelium, den Johannesbriefen und der Johannesapokalypse artikuliert. Zwar muss offen bleiben, ob alle diese Schriften vom gleichen Verfasser stammen, wenn ja, dann wohl nicht vom Apostel Johannes, sondern von dem Presbyter Johannes, den nach Euseb um 130/40 noch Papias gehört hat, der in Ephesus sein Grab hatte und die Apokalypse Johannes geschrieben haben soll.39 Doch wahrscheinlicher scheint mir, dass die dem Johannes zugeschriebenen Schriften des NT einer Schultradition entstammen, die sich von einem Johannes herleitete, sei es nun ursprünglich der Apostel Johannes oder Johannes der Täufer gewesen.40 Denn was in dieser Tradition als Gemeinsamkeit auffällt, ist eine dualistische Begrifflichkeit, wie sie das gnostisierende Spätjudentum und auch die gnostischen Mandäer im Jordantal41 aus dem Osten übernommen haben.42 In den Johannesschriften ist mehr noch als bei Paulus von der Liebe die Rede, der Liebe zu Gott, der Liebe zum ›Wort Gottes‹ (Christus), der Liebe zu den gleichgesinnten Brüdern. Doch die Begriffe ›Barmherzigkeit‹ (eleêmosynê) und ›Erbarmen‹ (eleos) werden nicht verwendet. Die ›Gerechtigkeit‹ (dikaiosynê) dagegen kommt häufig als rühmenswerte Eigenschaft Gottes und Christi zur Sprache.43 In Apk Joh 16,5–7 und 19,2 wird Gott als gerecht gepriesen, weil Er das Blut Seiner Knechte, das von der ›großen Hure‹ (Babylon) vergossen wurde, im Endgericht rächt. Und in Apk 19,11–16 wird ausgeführt, dass der Schreiber den ›Logos Gottes‹ auf einem weißen Pferd herbeireiten sehe, der mit Gerechtigkeit kämpfe und mit einem Schwert aus Seinem Munde die Völker (Heiden) schlage. An diesen Stellen ist offensichtlich die Gerechtigkeit Gottes als Vergeltung der begangenen Sünden verstanden.44 Und die vielbeschworene Liebe, ist sie hier wirklich das vorbehaltlose Wohlwollen, das von Christus her allen Menschen zukommt, auch den irrenden und schwachen Brüdern und Schwestern? Oder geht es hier darum, nur die Gleichgesinnten zu lieben und die Welt, samt denen, die ihr scheinbar verfallen sind, zu hassen und zu 39

Euseb, Hist. Eccl. III,39,5–6; vgl. Philipp Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur, Berlin / New York 1975, S. 457–460. 40 Kleinere Verschiedenheiten zwischen diesen Schriften führen zu diesem Schluss; vgl. Philipp Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur, S. 410–507. 41 Die Mandäer waren eine gnostische Weiterentwicklung von Taufsekten im Jordantal; vgl. Vielhauer, Geschcihte der urchristlichen Literatur, S. 446–449. 42 Man denke an den Manichäismus und den Messalianismus, die ihre Wurzeln im Persien haben. 43 Vgl. Joh 16,8.10; 1 Joh 1,9; 2,1.29; 3,7; Apk Joh 15,3. 44 Vgl. Ansorge, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, S. 167–175.

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meiden?45 Das aber bedeutet: Durch den hier eingedrungenen Dualismus ist ein Kontext entstanden, der das Reden von der Liebe wie auch von der Gerechtigkeit zweideutig werden lässt.46 Es war wohl nicht zuletzt diese Zweideutligkeit, die Markion, den Sohn eines reichen Reeders aus Sinope (Hafenstadt am Südufer des Schwarzen Meeres), der gegen 140 n.Chr. nach Rom kam, der dortigen Christengemeinde 200.000 Sesterzien spendete und um 144 dennoch exkommuniziert wurde, dazu brachte, den gerechten Gott des Alten Testaments vom guten Gott und Vater Jesus Christi zu unterscheiden. Der gerechte, zornige und grausame Gott, der Macher (Demiurg) unserer sichtbaren Welt, habe, nach Markion, mit Hilfe des Alten Testaments, das sich als Gesetzbuch des wahren Gottes ausgebe, seine Herrschaft zu erhalten gesucht. Aber der wahre und bisher unbekannte Gott habe in Seiner Güte die an Ihn Glaubenden durch das Opfer Seines Sohnes losgekauft. Für diese gelte es nun, sich als Eigentum dieses Gottes und Seines Sohnes zu verstehen und durch ihren Lebenswandel zu erweisen. Markion gründete nach seiner Exkommunikation eine eigene Kirche, die straff organisiert war und als Heilige Schriften nur ein von alttestamentlichen Einflüssen ›gereinigtes‹ Lukasevangelium sowie zehn Paulusbriefe umfasste, wobei diese ebenfalls von Zusätzen des Demiurgen ›gereinigt‹ waren.47 Charakteristisch ist nun, dass Sich der ›gute Gott‹ bei Markion nicht etwa durch Barmherzigkeit und Wohlwollen gegenüber allen Menschen, auch den Schwachen und den Sündern, auszeichnet, sondern Seine Güte allein denen zukommen lässt, die durch die Erfüllung Seiner Gebote und durch ein asketisches Leben innerhalb Seiner Gemeinde sich als die Seinen erweisen. Es geht also bei Markion nicht darum, die Barmherzigkeit gegenüber der Gerechtigkeit Gottes aufzuwerten, sondern Markion stößt sich allein an der anthropomorphen Sprache über Gott, welche diesem Emotionen zuschreibt. Markion versteht offenbar nicht, dass eine solche Redeweise über Gott bildlich verstanden weden muss. Die Väter des zweiten Jahrhunderts haben also gut daran getan, dass sie Markion nicht gefolgt sind; seine ›Kirche‹ hatte im übrigen nur bis zum 6. Jahrhundert Bestand, seine Kirchenorganisation jedoch ist in mancher Hinsicht der Großkirche zum Vorbild und Muster geworden und hat ihr auf diese Weise einen Dienst erwiesen. Wie aber hat man innerhalb der Großkirche auf die Angriffe von Markion reagiert? Hier bietet sich ein Blick auf Irenäus von Lyon an, 45 46

Vgl. 1 Joh 2,15–17; Apk. Joh 2,6.15; 17,16–17. Vgl. auch Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur, S. 448–450 und 466–484. Ferner: Ulrich Luz, Theologische Hermeneutik, S. 438 und 439; Ansorge, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, S. 167–175. 47 Vgl. auch Ansorge, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, S. 203–209.

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da er mehr als andere in dieser Zeit theologisch denkt und argumentiert.48 In seiner Schrift ›Adversus haereses‹ (›Gegen die Häresien‹ oder ›Entlarvung und Widerlegung der fälschlich sogenannten Gnosis‹), die in den 80iger Jahren des 2. Jahrhunderts entstanden49 ist und in der er vor allem gegen die Gnostiker kämpft, nimmt er auch Markion50 ins Visier. Es sind im Wesentlichen fünf Einwände, die er geltend macht: – Man darf die Heiligen Schriften (AT und NT) nicht nach eigenem Gutdünken beschneiden, sondern muss ihre Verkündigung in ihrer Ganzheit hören und verstehen, sonst missdeutet man sie.51 – Die Patriarchen und Propheten Israels und Jesus Christus, sowie dessen Apostel, verkünden den gleichen Gott. Es gibt daher nur einen Gott, der Himmel und Erde geschaffen und die Menschen mit Sich versöhnt hat, nachdem sie von Ihm abgefallen sind.52 Denn nicht im Namen eines unbekannten, fremden Gottes, sondern nur im Namen des Gottes, an dem die Sünder schuldig geworden sind, konnte Jesus Sünden vergeben.53 – Gott hat die Menschen nach dem Bilde (eikôn) seines Sohnes gemacht und zu dessen Ähnlichkeit (homoiôsis) bestimmt.54 Dass sie dieser Bestimmung nicht nachkamen, war ihre Sünde und nicht die eines Demiurgen.55 Denn um diese Ähnlichkeit zu erreichen, erhielten sie von Gott Seine Gebote. – Doch Gott hat den Menschen wie den Engeln auch den freien Willen gegeben; daher sind sie selbst verantwortlich für ihr Versagen vor ihrem Schöpfer und Seinen Geboten.56 – Gott aber muss als Schöpfer und Richter dieser Welt beides sein: gut und gerecht. Nur so kann er die Welt richten und zu Recht bringen.57 48

Vgl. zum Folgenden auch Ansorge, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, S. 209– 220. 49 Genauer lässt sich nur sagen, dass nach Adv. haer. III,3,3 das dritte Buch zur Zeit des Eleutherus (also vor 189) geschrieben sein muss. Wir legen im Folgenden die Textausgabe von A. Rousseau / L. Doutreleau / B. Hemmerdinger / C.Mercier in SChr 100; 152–153; 210–211; 263–264; 293–294, Paris 1965–1982 zugrunde. 50 Ob man Markion zu den Gnostikern rechnen muss, ist in der Forschung umstritten und kann hier offengelassen werden. 51 Adv. haer. I,27,2. 52 Adv. haer. IV,36,1–2.5.7. 53 Adv. haer. V,17,1. 54 So wird schon von Irenäus Gen 1,27 nach der LXX, wo an dieser Stelle die Begriffe ›eikon‹ (Bild) und homoiosis‹ (Ähnlichkeit) stehen, interpretiert. 55 Adv. haer. V,16,1–2. 56 Adv. haer. IV,37,1.3.5f. 57 Adv. haer. III,25.

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X. Zur Frage nach Gottes Barmherzigkeit

Irenäus scheint mit seiner Kritik die theologischen Schriftsteller unter seinen Zeitgenossen weithin überzeugt zu haben und er hat mit seinen Überlegungen zum freien Willen der Menschen wohl auch Origenes beeinflusst. Origenes von Alexandrien (ca. 183–254) verteidigt die Einheit Gottes sowohl gegen die Gnostiker wie auch gegen Markion.58 – Er bemüht sich, diejenigen zu widerlegen, die »meinen, der Vater unseres Herrn Jesus Christus sei ein anderer Gott als der, welcher Mose das Gesetz mitteilte und die Propheten sandte, der Gott der Väter Abraham, Isaak und Jakob«59 Es gibt nur einen Gott, »der alles geschaffen und geordnet hat und der alle Dinge aus dem Nichtsein ins Sein gerufen hat, [der] Gott, [der] von der ersten Schöpfung und Gründung der Welt an, [ihr Herr] ist«.60 – Wie Irenäus unterscheidet auch Origenes zwischen der Abbildlichkeit (eikôn), die der Mensch von Gott nach dem Bild Seines Sohnes erhalten hat, und der Ähnlichkeit (homoiôsis), die er sich im Laufe seines Lebens durch das Halten der göttlichen Gebote erwerben soll.61 – Und nicht anders als Ireneäus betont auch Origenes, »dass der gerechte und der gute Gott, der Gott des Gesetzes und der Evangelien, ein und derselbe ist; dass Er Gutes tut mit Gerechtigkeit und mit Güte straft, weil weder Güte ohne Gerechtigkeit noch Gerechtigkeit ohne Güte die Würde der göttlichen Natur kennzeichnen kann«.62 – Dabei gilt es jedoch zu beachten, dass Gottes Gerechtigkeit in Bezug auf ihren Rang Seiner Güte untergeordnet ist,63 was aber nicht bedeutet, dass Menschen von Gott ohne Urteil bevorzugt und nicht gemäß ihres Verdienstes behandelt werden.64 58

Vgl. Origenes, Vier Bücher von den Prinzipien, hrsg. (lat./gr.-deutsch), übersetzt, mit kritischen und erläuternden Anmerkungen versehen von Herwig Görgemanns und Heinrich Karpp, Texte zur Forschung 24, Darmstadt 1976, S. 329 (Origenes, PA II,4,1); Lothar Lies, Origenes’ ›Peri Archon‹: Eine undogmatische Dogmatik. Einführung und Erläuterung. Werkinterpretationen, Darmstadt 1992, S. 45f. Vgl. zum Folgenden auch: Ansorge, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, S. 220–232. 59 Origenes, PA II,4,1 (Gö, S. 329). 60 Origenes, PA I, Praef. 4 (Gö, S. 87–89). 61 Origenes, PA III,6,1–2 (Gö, S. 642–651); PA IV,4,9 (Gö, S. 816–819). 62 Origenes, PA II,5,3 (Gö, S. 550f.). 63 Origenes, PA II, 5,4 (Gö, S. 352f.). 64 Origenes, PA I,6,7 (Gö, S. 222–227); I,7,4 (Gö, S. 240f.): Man darf Gott keine Emotionen und Affekte zuschreiben, denn Er ist ohne ›pathos‹ (ohne Leidenschaften und Leiden); vgl. PA II,4,4 (Gö, S. 338f.).

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– Das hängt mit der Willensfreiheit der vernunftbegabten Geschöpfe zusammen; denn diese ist für Origenes ein zentrales Anliegen: Gott hat die geistigen Vernunftwesen, die Engel und die Menschen, selbstverantwortlich geschaffen, so, dass sie das gemäß Seinen Geboten Gute aus freier Entscheidung annehmen oder verwerfen können.65 – Gottes Gerechtigkeit manifestiert sich nun darin, dass Er einerseits alle Geisteswesen in gleicher Weise ›gut‹ geschaffen hat und dass Er andererseits ihre eigenen Entscheidungen für oder gegen Ihn und Seine Gebote belohnt oder bestraft.66 Seine Güte und Seine Barmherzigkeit aber bestehen darin, dass Er Seinen Geschöpfen die Möglichkeit gibt, ihre falschen Entscheidungen zu korrigieren: den himmlischen Wesen durch eine Rückkehr zur getreuen Erfüllung ihres geschuldeten Dienstes, den Menschen durch die Nachfolge Christi, der durch Seinen Wandel auf Erden und Seinen Tod am Kreuz Sich an unserer Stelle Gott unterworfen hat und uns so den Weg zur Vollendung unserer Ähnlichkeit mit Ihm, der durch unsere Schuld für uns nicht mehr gangbar war, neu ermöglicht.67 – Aber auch dieser neue Weg der Nachfolge wird nicht durch Gewalt erzwungen, sondern »durch Wort, Vernunft, Wissen, Aufmunterung der Besseren, gute Lehren, auch durch angemessene, der Sache entsprechende Strafdrohungen, welche in gerechter Weise gegen jene gerichtet sind, die die Sorge um ihr Heil und ihren Nutzen vernachlässigen und sich um ihre Unversehrtheit nicht kümmern«.68 – Das aber bedeutet, dass Origenes das Heil der Engel und Menschen nicht ausschließlich als ein Gnadengeschenk der göttlichen Barmherzigkeit versteht, sondern auch als der gerechte Lohn für die Entscheidungen, die von den Betroffenen selbst gefällt wurden.69 Den Himmel, d.h. die Nähe zu Gott, bekommt man also letztlich nicht geschenkt; man muss sich ihn verdienen.

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Origenes, PA I, Praef. 5 (Gö, S. 91–93); II,1,2 (Gö, S. 286–289); III,1,1–24 (Gö, S. 462–561); III,3,5 (Gö, S. 598–601). 66 Origenes, PA I,6,1–3 (Gö, S. 220–227); I,8,2 (Gö, S. 254f.); III,6,1–9 (Gö, S. 642–667). Ansorge, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, S. 230 stellt zu Recht fest: »Es geht im Gericht [Gottes] nicht um Vergeltung oder Versöhnung, sondern um Schmerz und Reinigung. Beides wird durch die Erfahrung der alles überstrahlenden Liebe Gottes verursacht.« Vgl. auch Lothar Lies, Origenes’ ›Peri Archon‹, S. 117–121. 67 Origenes, PA III, 5,6 (Gö, S. 635–637); III, 5,7 (Gö, S. 639). 68 Origenes, PA III, 5,8 (Gö, S. 639–641). 69 Origenes, PA I,8,4 (Gö, S. 258–265); III,1,17–20 (Gö, S. 530–543).

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Da Augustin durch seine Lehren von der Erbsünde und der Prädestination die Willensfreiheit der Vernunftwesen dergestalt einschränkte, dass diese weitgehend eine leere Behauptung blieb70 und dadurch auch die Barmherzigkeit Gottes gegenüber der Gerechtigkeit in den Hintergrund trat, und da in Augustins Gefolge die im westlichen Mittelalter einflussreichsten Theologen, wie Anselm von Canterbury und Thomas von Aquin, versuchten, sowohl an der Willensfreiheit wie auch an den Lehren von der Erbsünde und der Prädestination festzuhalten,71 bekamen im Westen die Fragen nach der Gerechtigkeit Gottes und der Rechtfertigung des Menschen vor Gottes Gericht deutlich mehr Gewicht als Überlegungen zur Barmherzigkeit Gottes und zur Verpflichtung der Nachfolger Christi, auch, wie Er, Barmherzigkeit gegenüber den Nächsten zu üben. Im Osten dagegen blieben die Theologen des vierten Jahrhunderts und der Folgezeit im Wesentlichen bei einer modifizierten Sicht des Origenes, was insbesondere bei den Meletianern in Antiochien und den kappadokischen Theologen wie Basilius von Caesarea und Gregor von Nazianz erkennbar wird. Zwar war die Frage nach Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes nicht das bevorzugte Thema ihrer Theologie. Ihnen ging es in der Auseinandersetzung mit den arianischen Häretikern vor allem anderen um die schriftgemäße Anerkennung der Wesenseinheit von Gott Vater und Sohn und Heiligem Geist und deren Existenz in drei wesensgleichen Hypostasen. Dabei kam aber auch die Frage nach Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit immer wieder in ihr Blickfeld. Was die Theologie der Meletianer in Antiochien betrifft, so haben wir in den Katechetischen Homilien des Theodor von Mopsuestia (ca. 350–428) ein Zeugnis, das trotz seiner Besonderheit hinsichtlich der Christologie72 im Ganzen zweifellos der Antiochenischen Lehre, wie sie in der bischöflichen Asketenschule (dem ›Asketikon‹) des Diodor von Tarsus gelehrt und 379 auf der Synode in Antiochien im Glaubensbekenntnis der Meletianer festgehalten wurde, entspricht. Es geht in diesen Homêlien um die unmittelbar vor der Taufe gehaltene Unterrichtung der Taufanwärter, welche bereits ihre Zeit als Katechumenen absolviert haben und nun in die Mysterien des Glaubens eingeweiht werden, also erstmals belehrt werden über das Glaubensbekenntnis 70

Vgl. dazu meine Ausführungen in: Susanne Hausammann, Der umgeworfene Spiegel. Grundprobleme der Willensfreiheit in der orthodoxen Tradtion des Ostens im Vergleich zu den Westkirchen, Neukirchen-Vluyn 2009, S. 13–15; ferner: Ansorge, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, S. 232–256. 71 Vgl. Der umgeworfene Spiegel, S. 15–22; Ansorge, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, S. 256–280 und 301–326. 72 Vgl. dazu unten Anm. 88.

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(Homêlien 1–10), das Vater-Unser (Homêlie 11), die Taufe (Homêlien 12–14), die Eucharistiefeier mit Kommunion (Homêlien 15–16,38) das jüngste Gericht am Ende der Zeiten und über die Buße, wenn Gläubige in tödliche Sünden gefallen sind (Homêlie 16,39–44). Es handelt sich also um eine umfassende Glaubenslehre, die hier den Täuflingen, die man bis dahin von den Mysterien der Kirche ferngehalten hat, vermittelt wird. Theodor, der Verfasser dieser Homêlien, war zweifellos ein scharfsinniger, rational denkender, und seinem Lehrer Diodor, dem Leiter des ›Asketikons‹, treu ergebener Theologe. Um 383 von Flavian zum Presbyter geweiht, hat er die Homêlien entweder noch als Priester in Antiochien oder nach seiner Übersiedlung zum neu geweihten Bischof Diodor in Tarsus gehalten, jedenfalls noch vor seiner eigenen Weihe zum Bischof von Mopsuestia (392). Seine Werke sind leider nur noch teilweise im griechischen Original vorhanden und müssen weithin aus dem Syrischen rückübersetzt werden, da Theodors Verurteilung im 5. Ökumenischen Konzil (553), wo er als Cheftheologe der Nestorianer verworfen wurde, zur Folge hatte, dass seine griechischen Schriften zum großen Teil vernichtet wurden.73 Dennoch lassen sich einige für unseren Zusammenhang relevante Momente herausarbeiten: – Theodor folgt Origenes darin, dass er die Willensfreihet der Vernunftgeschöpfe voraussetzt, wobei er betont, der Geist, nicht der Leib, sei es, der das erwähle, was dem Gebot Gottes zuwiderlaufe.74 Er argumentiert: Es war ja die Seele Adams, die auf den Ratschlag des Satans hörte. Deshalb musste der Logos Gottes auch nicht nur einen Leib, sondern auch eine Seele annehmen.75 Ja, mehr noch: Die »vielen Bosheiten und Hässlichkeiten der Sünde« werden »aus der Seele selbst geboren«.76 Darum ergeht das Gericht am Ende der Tage nicht nur über die Lebenden, sondern auch über die Toten, d.h. über die, deren Seelen erweckt werden zu einem immerwährenden Leben, so dass alle Menschen gerichtet werden »und es keinen gibt, der der Prüfung entrinnen könnte, damit sie, wenn sie einmal gerichtet sind, die Vergeltung empfangen, die ihrer Taten würdig ist, die einen für die guten, die anderen für die schlechten. 73

Theodor von Mospsuestia, Katechetische Homilien. Übersetzt und eingeleitet von Peter Bruns, FC 17/1–2, Freiburg i.Br. 1994 u. 1995. Das griechische Original dieser Homêlien ist bis auf wenige Auszüge verloren; erhalten ist eine syrische Übersetzung, die wohl aus der Perserschule von Edessa stammt und möglicherweise ein Werk von Ibas von Edessa (gest. 457) ist. 74 Theodor v. Mopsuestia, Kat. Hom. 5,11, ed. Bruns, S. 142. 75 Theodor v. Mopsuestia, Kat. Hom. 5,11, ed. Bruns, S. 143. Damit wendet sich Theodor gegen Apollinaris von Laodicea, der die These vertrat, dass Christus nur einen menschlichen Leib, nicht aber eine menschliche Seele angenommen habe. 76 Theodor v. Mopsuestia, Kat. Hom. 5,12, ed. Bruns, S. 144. Die Schuld für das Böse kann also nicht einem anderen Wesen als dem Sünder selbst zur Last gelegt werden.

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Und alle werden geprüft und gerichtet, wie es ihr Wille erwählt hat.«77 Für Theodor wird also im Endgericht durch Gott die im irdischen Leben fehlende Gerechtigkeit hergestellt, und zwar so, wie es die einzelnen Seelen für sich selbst ausgewählt haben. Unberücksichtigt lässt Theodor die Frage, ob denn wirklich alle Menschen in ihrem irdischen Leben die Freiheit der Wahl wahrnehmen können. – Wie Irenäus und Origenes interpretiert Theodor Gen 1,27 dahingehend, dass Gott die Menschen nach Seinem Bild (eikôn) und Seiner Ähnlichkeit (homoiôsis, Gleichgestalt) geschaffen hat, wobei die Abbildlichkeit (eikôn) dem Wesen des Menschen für immer eignet, während die Homoiôsis von den Menschen in diesem irdischen Leben durch das Halten der göttlichen Gebote erworben werden muss.78 – Ziel des Erwerbs der Gottähnlichkeit ist ein neues Leben gemäß der Bundesverpflichtungen, die der Schöpfer mit Seinen Geschöpfen eingegangen ist. Diese Bundesverpflichtungen sind aber nicht mehr die Gesetze, die Mose seinem Volk vermittelt hat, sondern Gott ist mit der Sendung Seines Sohnes einen Neuen Bund mit den Menschen eingegangen, indem Er die Kindschaft denen verheißt, die Ihm glauben und in der Taufe mit Christus sterben. Denn »die Gebote des Mose sind für Knechte; wer den Geist der Kindschaft durch Christus empfangen hat, steht nicht mehr unter dem Gesetz, sondern hat das Leben der Kindschaft.«79 Die wichtigste Verpflichtung der menschlichen Partner ist das Bekenntnis des Glaubens: »Glauben muss der, der sich der Religion [sc. der Anbindung an Gott] naht, dass Gott existiert (Hebr 11,6) und dass ferner durch Sein Wort die Welten wurden, dass das Sichtbare vom Unsichtbaren herrührt ... Der Glaube macht jene, die von der Wahrheit fest überzeugt sind, vollkommen; diejenigen jedoch, die sich von ihm entfernt haben, versinken vollständig im Irrtum.«80 Was aber ist der Glaube und was sind die Bundesverpflichtungen, »durch die wir Teilhabe an den Mysterien [des Neuen Bundes] erlangen in der Hoffnung auf diese himmlischen Güter, deren wir uns erfreuen werden, wenn nicht jene, die wir gläubig zum Zeitpunkt der Taufe vor Christus, unserem Herrn, bekennen?«81 In der Taufe »gebt ihr die Worte des Glaubensbekenntnisses und des (Herren-)Gebetes wieder. Dadurch geht ihr mit Gott durch Vermittlung der Priester die Bundesverpflichtungen ein, in der Liebe zur göttlichen Natur 77 78

Theodor v. Mopsuestia, Kat. Hom. 7,11, ed. Bruns, S. 178f. Theodor v. Mopsuestia, Kat. Hom. 2,16f. ed. Bruns, S. 99f. und 14.28, ed. Bruns, S. 385f. 79 Theodor v. Mopsuestia, Kat. Hom. 11,7, ed. Bruns, S. 305f. 80 Theodor v. Mopsuestia, Kat. Hom. 1,9, ed. Bruns, S. 82. 81 Theodor v. Mopsuestia, Kat. Hom. 1,7, ed. Bruns, S. 80.

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(theia physis) auszuharren – diese ist auch, wenn ihr das Rechte über sie denkt, Ursache vieler Güter ... – und in dieser Welt nach euren Kräften so zu leben, wie es sich für Wohnung und Wandel im Himmel geziemt.«82 – Es geht also darum, ein neues Leben zu beginnen und »vollkommen anders (zu) werden und sich eine große Vielfalt an hervorragenden Tugenden (zu) erwerben durch das Geschenk der Gnade Gottes«.83 – Wer sich darum bemüht, kann mit dem Erbarmen Gottes rechnen. Aus Lk 18,2–7 schließt Theodor: »... wie sollte Gott dann eurer Meinung nach, da Er erbarmungs- und mitleidvoll ist und alles für unser Heil und unsere Erlösung tut, so dass er nicht einmal von den Sündern ablässt, wie sollte Er dann denen gegenüber nachlässig sein, die sich um das Gute mühen und Eifer zeigen für das, was Ihm gefällt? Keinesfalls verlässt Er sie, wenn Er sie den Drangsalen und alltäglichen Versuchungen überlässt, die sie gegen ihren Willen gezwungener Maßen erleiden, sei es durch die Qual der natürlichen Leidenschaften, sei es durch die innere, eigene Schwachheit, aufgrund derer sie, ohne es zu wollen, sich zu den Unschicklichkeiten hinreißen lassen. Einen großen Kampf auch von seiten der Dämonen stehen sie durch, da sie ständig mit neuen Leidenschaften zu kämpfen gezwungen sind, die ihnen aus diesen Gegebenheiten entgegenquellen. Die Güter hingegen, die ihnen für ihre Mühen verheißen sind, sind keinesfalls bescheiden. Er (sc. Gott) nimmt ihren Willen an und würdigt solche Menschen Seiner großen Aufmerksamkeit. Er lässt es zu, dass sie in dieser Welt Qualen und Mühen erdulden, damit sie dafür beständige, unaussprechliche Güter erhalten.«84 – Das gilt aber nur für diejenigen, die durch die Taufe mit Christus gestorben sind und sich um das neue Leben in Christus mühen und auch bereit sind, ihre Vergehen zu bereuen und dafür Buße zu tun. Die anderen, die Außenstehenden, wird Gott richten (vgl. 1Kor 5,13). »Die Außenstehenden sind die, die ohne Zurechtweisung verharren und auf jeden Fall eine Strafe erhalten, da sie der Religion [dem Christusglauben] fremd sind. Was die Glaubensgenossen anbelangt, erlangen sie durch diese Zurechtweisung [in der Kirche] (vgl. 1Kor 5,11–13), wenn sie sie annehmen wollen, Vergebung für ihre Verfehlungen und sind von der Strafandrohung in der kom-

82 83 84

Theodor v. Mopsuestia, Kat. Hom. 13,1, ed. Bruns, S. 342f. Theodor v. Mopsuestia, Kat. Hom. 1,4, ed. Bruns, S. 78. Theodor v. Mopsuestia, Kat. Hom. 11,4, ed. Bruns, S. 303f.

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menden Welt befreit.«85 Das Erbarmen Gottes gilt also nur den Gliedern der Kirche, sofern sie sich außerdem um das neue Leben in Christus mühen. – Zu ihren Bemühungen gehört auch, dass sie das Irdische gering achten,86 die Gelegenheit zur Buße und Umkehr nützen und Fortschritte im Guten machen, »denn, wenn wir erst einmal aus dieser Welt geschieden sind, ist die Gelegenheit zu Buße und Umkehr in die Ferne gerückt und es kommt vielmehr die Zeit des Gerichtes.«87 Zusammenfassend wird man sagen können: Theodors Unterweisung zeichnet sich dadurch aus, dass sie den Neuen Bund Gottes mit Seinen Vernunftgeschöpfen streng vom Alten Bund unterscheidet. Es gelten für beide verschiedene Bundesverpflichtungen: im Alten Bund das Gesetz des Mose, im Neuen Bund das Glaubensbekenntnis zu Christus und die Bemühung um ein Leben in Seiner Nachfolge. Zwar gilt für beide, dass Gott den Menschen gemäß Seinem Bild und Seiner Ähnlichkeit erschaffen hat, und ihm als Seinem Partner den freien Willen zubilligt. Aber die Menschen des Alten Bundes scheiterten an ihrer Aufgabe, Gott ähnlich zu werden. Erst nachdem der Logos Gottes einen Menschen aus Leib und Seele angezogen hatte und dieser für die an Ihn Glaubenden am Kreuz starb und auferweckt wurde,88 konnten 85 86 87 88

Theodor v. Mopsuestia, Kat. Hom. 16,43, ed. Bruns, S. 454f. Theodor v. Mopsuestia, Kat. Hom. 11,13, ed. Bruns, S. 311. Theodor v. Mopsuestia, Kat. Hom. 11,14, ed. Bruns, S. 313. Die Christologie Theodors, die auf dem Konzil von 553 als nestorianisch verurteilt wurde, ist in der Tat speziell und begünstigt zumindest den Nestorianismus, auch wenn Theodor bestreitet, von zwei Söhnen in der Person Christi zu sprechen: »Keinesfalls sind wir nämlich, weil wir von zwei Naturen [in Christus] sprechen, gezwungen, auch von zwei Herren oder zwei Söhnen zu sprechen; dies wäre nämlich eine kapitale Torheit (Idiotie) ... zwei [sind es] in der Natur (physis), aber eins durch die Verbindung (synápheia), zwei durch die Natur, da ein großer Unterschied zwischen den Naturen ist, eins durch die Verbindung, da die Anbetung nicht aufgeteilt wird, vielmehr erhält der Angenommene zusammen mit dem Annehmenden (dieselbe Anbetung), da er der Tempel ist, von dem sich sein Bewohner unmöglich fortbewegen kann« (Hom. 8,14, ed. Bruns, S. 197–199; vgl. auch Hom. 5,19–21, ed. Bruns, S. 149–152). Die Frage ist, was unter der ›synápheia akribês‹, der »genauen Verbindung« zu verstehen ist, mit der sich Theodor gegenüber Theologen abgrenzt, die wie Kyrill von Alexandrien eine Synthese (vollständige Vermischung) beider Naturen annehmen? Theodor hält die von ihm postulierte ›Synapheia‹ immerhin für unzertrennlich. Er erklärt: »Wenn man nämlich diese Verbindung auflöst, dann scheint der Angenommene nichts anderes zu sein als ein bloßer Mensch (psilos anthropos) wie wir auch.« Aber Theodor sagt auch, dass Gottheit und Menschheit durch ihre große Verschiedenheit keine wirkliche Einheit eingehen können, sondern eben nur eine ›genaue Verbindung‹ (synapheia akribês) (Hom. 6,3–7, ed. Bruns, S. 155–160). Und, was schwer wiegt, er macht deutlich, dass nicht der Sohn Gottes, der leidensunfähig ist, am Kreuz starb, sondern der mit Ihm verbundene Mensch, und dass der Sohn Gottes bei diesem blieb und Ihn auf-

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seine Anhänger durch die Taufe ihren Glauben an Ihn bezeugen und so Seiner Barmherzigkeit teilhaftig werden. Diese Barmherzigkeit gilt also nur für die, die der rechtgläubigen Kirche angehören und sich hier außerdem um die Nachfolge Christi mühen. Auch wenn sich die ›großen Kappadokier‹ (Basilius der Broße, Gregor von Nazianz) zur Partei der Meletianer zählten, haben sie dennoch eine etwas differenziertere Sicht der Erlösung durch Christus und der Güte und Gerechtigkeit Gottes. Wie schon Irenäus, ist es auch für Basilius den Großen (330 – 1. Jan. 379) zunächst wichtig, gegenüber den Häretikern aller Schattierungen festzuhalten, – dass es innerhalb des christlichen Glaubens nicht angehe, etwas aus der Heiligen Schrift wegzunehmen oder hinzuzufügen. In einer seiner asketischen Schriften schreibt er: »Wenn aber gilt, [was Ps 144 (145),13 sagt:] ›Getreu ist der Herr in all Seinen Worten‹ und [Ps 110 (111),7f.] ›getreu [sind] alle Seine Weisungen, gültig für immer und ewig, gegeben in Kraft und Gerechtigkeit‹, dann ist es offensichtlich ein Abfall vom Glauben und ein hochmütiges Vergehen, entweder etwas von der Schrift zu verwerfen oder etwas zusätzlich einführen zu wollen, was nicht zur Schrift gehört.«89 Damit trifft Basilius sowohl die Arianer wie auch Markion und steht ein für die wortgetreue Überlieferung der Heiligen Schriften. Hinter erweckte: »So heißt es in Hebr 2,9: ›Außerhalb von Gott hat Er für jedermann den Tod gekostet‹, weil die göttliche Natur dies gewollt hat, dass Er zum Nutzen aller den Tod koste, und um anzuzeigen, dass die Gottheit von dem getrennt war, der in der Todeserfahrung litt – da sie überhaupt keine Todeserfahrung machen kann – ohne sich freilich in der Sorge von Ihm zu entfernen, blieb sie vielmehr Ihm nahe und tat das Notwendige und jener Natur Entsprechende, die von Ihr angenommen worden war ... Durch die Todeserfahrung also wurde nicht Er (sc. der Logos) erprobt, sondern Er war bei Ihm und tat das Rechte für Seine Natur, das, was dem Schöpfer recht ist ..., vielmehr um diesen (sc. den angenommenen Menschen) durch Leiden zur Vollendung zu führen und Ihn unsterblich, leidensunfähig unverweslich und unwandelbar zu machen zum Heile der Vielen, die mit Ihm Gemeinschaft haben sollten.« (Hom. 8,9–13, ed. Bruns, S. 192–197) Dabei wurde der Auferstandene erst jetzt vergöttlicht und fuhr danach in den Himmel. »Denn auch dem Leib unseres Herrn eignete nicht von Natur aus (physikos) die Unsterblichkeit und die Gabe der Unsterblichkeit, vielmehr war es der Heilige Geist, der sie Ihm gab, und durch die Aufetstehung von den Toten empfing er die Verbindung mit der göttlichen Natur (theia physis) und wurde unsterblich und zum Urheber der Unsterblichkeit für andere.« (Hom. 15,10, Bruns, S. 394; vgl. auch Hom. 15,11 Bruns, S. 395) Ist das noch orthodoxe Theologie? 89 Basilius Caes., Ascetica: 1 de fide. Zitiert nach: Michael Fiedrowicz, Handbuch der Patristik. Quellentexte zur Theologie der Kirchenväter, Freiburg i.Br. 2010, Nr. 153.

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diesem Urteil verbirgt sich auch die Mahnung, dem eigenen Verstand nicht zuviel zuzutrauen. So schreibt er in seiner Predigt über Ps 114 (115): »Wer seinen Verstand nicht erniedrigt und nicht wie der Apostel spricht: ›Brüder, ich bilde mir nicht ein, es erfasst zu haben‹ (Phil 3,13); wer vielmehr daran denkt, Gottes Wesen zu begreifen und mit seinen eigenen Spekulationen das Unerreichbare auszumessen; wer sich einbildet, dass Gott gerade so groß sei, als er Ihn mit seinem Denken erfasst; wer überhaupt seinen eigenen Verstand zum Maß der Dinge macht und nicht bedenkt, dass es leichter ist, mit einem kleinen Becher das ganze Meer auszumessen als mit dem menschlichen Geist die unaussprechliche Größe Gottes zu umfassen ..., wer nicht aus dem Glauben, sondern von sich aus zu reden beginnt, wer sich anmaßt, mit menschlichem Kalkül die Wahrheit zu erfassen, der ist ein Lügner und verfehlt die Wahrheit völlig.«90 – Für Basilius ist es denn auch nicht zu bezweifeln, dass Gott als der Gerechte auch der Gütige und Barmherzige ist. So antwortet er zur Zeit einer Hungersnot auf die Frage, ob es Gott an Güte mangle mit dem Hinweis: ... »wenn Er nicht gut gewesen, welcher zwingende Grund bestand für Ihn dann im Anfang, den Menschen zu erschaffen? ... Wer hätte Ihn zwingend bereden können, nach Seinem Bild den Menschen mit der Vernunft zu begaben, um von ihr angeregt, Künste zu erlernen und über die höchsten Dinge, die den Sinnen unerreichbar sind, nachzudenken? Bei solcher Erwägung wirst du finden, dass Gott die Güte innewohnt und sie bis zur Stunde Ihm nicht ausgegangen ist. Oder sag mir doch: Was ist Schuld, dass wir jetzt nur eine Trockenheit sehen und nicht eine vollständige Verbrennung? Was würde hindern, dass die Sonne etwas von ihrer gewohnten Bahn abwiche, dem Erdkörper sich näherte und alles Sichtbare in einem Augenblick versengte? Oder was könnte verhüten, dass Feuer vom Himmel regnete, wie schon früher einmal die Sünder bestraft wurden (Gen 19,24)?«91 – Gerade auch in Seinen gerechten Strafen, die wir hier auf Erden erleiden müssen, zeige sich Gottes Güte und Barmherzigkeit. Denn diese sollen uns zur Einsicht bringen, »dass uns Gott, wegen unserer Abkehr von Ihm und wegen unserer Gleichgültigkeit diese Plagen geschickt hat. Er wird uns ja nicht vernichten, sondern nur bes90 Basilius Caes., Hom. in Psalmum 114 (115), zit. nach Fiedrowicz, Handbuch Nr. 817. 91 Basilius Caes., Homilie zur Zeit einer Hungersnot und Dürre, PG 31, 303–328; zitiert nach Basilius von Cäsarea, Mahnreden. Mahnwort an die Jugend und drei Predigten, übersetzt von Anton Stegmann, bearbeitet von Thielko Wohlbergs, Schriften der Kirchenväter Bd. 4, München 1984, S. 72f.

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sern, wie gute Väter gegen leichtsinnige Kinder verfahren, ... nicht, um ihnen Übles zuzufügen, sondern um sie aus ihrem jugendlichen Leichtsinn und ihren Jugendfehlern heraus zu ernster Pflichterfüllung zu bringen.«92 – Denn: »Zu dem Leben aufgrund der Auferstehung macht uns der Herr bereit und deswegen setzt Er den ganzen evangelischen Lebenswandel fest, indem Er für die Art, wie man ist, vorschreibt, ohne Zorn zu sein, duldsam, von Vergnügungssucht unbeschmutzt, nicht Geld liebend, und so richtet Er uns auf, wenn wir das vorgenommen haben aus freier Entscheidung, was jene Welt entsprechend der Natur besitzt.«93 Wie für Origenes ist also auch für Basilius die Entscheidungsfreiheit der Vernunftwesen für oder gegen das Fortschreiten auf dem Weg der geforderten Ähnlichkeit mit Gott, zentral wichtig. Denn auch er unterscheidet in Gen 1,27 zwischen der Abbildlichkeit (eikôn) und der Ähnlichkeit (homoiôsis) und versteht letztere als die Lebensaufgabe irdischer Existenz, da nur so eine Vereinigung mit Gott ermöglicht wird. Es geht dabei um »die Trennung von den Affekten, die von der Liebe zum Fleisch später zu der Seele hinzukommen und sie so von der engen Verbindung mit Gott entfremden. Gereinigt also nun von der Schande, die man durch die Bosheit aufsaugte, und zurückkehrend zu der von Natur aus gegebenen Schönheit und wie einem Königsbild die alte Gestalt durch Reinheit zurückgebend, so nur ist es möglich, sich dem Tröster zu nähern. Der aber nimmt, wie die Sonne, ein gereinigtes Auge an und wird so dir in Sich das Bild des Unsichtbaren zeigen. In der seligen Schau des Bildes wirst du die unaussprechliche Schönheit des Urbildes sehen.«94 – Denn nicht Verderben und Verdammnis soll nach Gottes Plan die Zukunft der sündig gewordenen Menschen sein. »Der Plan Gottes und unseres Erlösers für die Menschen besteht in der Rückberufung aus der Verbannung und in einer Rückkehr von der Entfremdung, die auf Grund des Ungehorsams entstanden war, hin zur Vertrautheit mit Gott. Deshalb die Ankunft Christi im Fleisch, die Darstellung Seines Handelns in den Evangelien, Sein Leiden, das Kreuz, die Grablegung, die Auferstehung: so dass der gerettete Mensch durch die Nachfolge Christi jene alte Sohnschaft empfängt. Zur 92 93

Basilius Caes., Mahnreden, S. 57. Basilius Caes. DSS 15,35; vgl. Basile de Césarée, Sur le Saint-Esprit. Introduction, texte, traduction et notes par Benoît Pruche, Sources Chrétiennes 17 bis, Paris 1968, S. 370; zitiert nach Wolf-Dieter Hauschild / Volker Henning Drecoll, Pneumatologie in der Alten Kirche, Traditio Christiana Bd. 12, Bern 2004, Nr. 140. 94 Basilius Caes. DSS 9,23 (Pruche, S. 326–328) zitiert nach Hauschild/Drecoll Nr. 139,23.

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Vollendung des Lebens ist die Nachfolge Christi notwendig, nicht nur hinsichtlich der Sanftmut, Demut und Langmut in Seinem Leben, sondern auch in Seinem Tod ... Wie nun vollziehen wir den Abstieg zur Unterwelt? Indem wir die Grablegung Christi in der Taufe nachahmen. Denn die Körper der Täuflinge werden ja gleichsam im Wasser begraben ... In der Taufe liegt ein zweifacher Sinn: den Körper der Sünde zu verlassen (vgl. Röm 6,6), damit er nicht mehr dem Tod Frucht bringt (vgl. Röm 7,5); statt dessen dem Geist zu leben und in Heiligkeit Frucht zu bringen (Röm 6,22) ... Das nun ist das Geborenwerden von oben, nämlich aus dem Wasser und dem Geist: dass sich zwar das Sterben im Wasser vollendet, dass aber unser Leben gewirkt wird durch den Geist.«95 – Doch wer sich dieser Reinigung willentlich entzieht, wer Gottes Mahnungen in den Wind schlägt, den erwartet am Ende seines Lebens »ein scharfes Gericht über unsere Lebenstage ... bei dem es keine Zeugen gibt als nur das eigene zeugende Gewissen. Vom gerechten Richter wird aber jedem nach Verdienst vergolten werden ...«96 – So sagt Basilius in seinem Mahnwort an die Jugend: »Deshalb dürfen wir nicht leichtsinnig sein und große Hoffnungen für eine kurze Ruhe eintauschen wollen, wenn wir nicht Schimpf und Schande ernten und Strafe gewärtigen wollen, nicht etwa hienieden vor menschlichem Forum – ist übrigens doch auch dies für einen Vernünftigen keine Kleinigkeit –, sondern vor dem Gericht, mag nun dies unter der Erde oder sonstwo sein. Mag [ferner] dem, der unfreiwillig gegen seine Pflicht verstößt, von Gott vielleicht auch Verzeihung werden, wer vorsätzlich für das Schlimme sich entscheidet, den wird unerbittlich eine vielfache Bestrafung treffen.«97 Und in seiner Predigt an die Reichen sagt Basilius: »Du hast dich nicht erbarmt; du wirst auch kein Erbarmen finden. Du hast Dein Haus nicht geöffnet; du wirst im Himmel nicht Einlass finden. Du hast kein Brot gegeben; du wirst auch das ewige Leben nicht erlangen!«98 – In seinem wichtigsten Werk ›Über den Heiligen Geist‹ sagt Basilius dann: »Die nun, [die] mit dem Heiligen Geist für den Tag der Erlösung gesiegelt [wurden], das Angebot des Geistes, das sie empfin95

Basilius Caes. DSS 15,35, (Pruche, S. 364–371) zitiert nach Basilius von Caesarea, Über den Heiligen Geist. Eingeleitet und übersetzt von Manfred Blum, Sophia Bd. 8, Freiburg i.Br. 1967, S. 58–60. 96 Basilius Caes., Homilie zur Zeit einer Hungersnot und Dürre, Mahnreden, S. 81. 97 Basilius Caes., Mahnwort an die Jugend über den nützlichen Gebrauch der heidnischen Literatur, PG 31, 363–590; Mahnreden, S. 27. 98 Basilius Caes., Homilie an die Reichen, PG 31, 277–303; Mahnreden, S. 55.

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gen, unversehrt und ganz erhalten haben, sind es, die hören werden: ›Recht so, du guter und getreuer Knecht; du warst im Kleinen treu, ich werde dich über Vieles setzen! (Mt 25,21). Gleichzeitig werden, die den Heiligen Geist durch ihren schlechten Lebenswandel gekränkt haben und mit dem Anvertrauten nicht gewirtschaftet haben, das verlieren, was sie einmal erhielten, wobei die Gnadengabe auf andere übertragen wird. Nach einem Evangelisten werden diese ›ganz zerteilt‹ werden (Mt 24,51); ›Zerteilung‹ bedeutet hier die völlige Trennung vom Heiligen Geist. Denn weder wird ein Körper geteilt, damit ein Teil der Verstümmelung übergeben und der andere freigelassen wird, das wäre wie in der Mythologie und entspräche nicht einem gerechten Richter, wenn die Verstümmelung eines, der sich ganz versündigt hat, nur zur Hälfte erfolgen würde; noch wird eine Seele in zwei Teile geschnitten, da sie ja als Ganze den sündhaften Gedanken hatte und mit dem Körper zusammen das Böse gewirkt hat. Die Zweiteilung ist vielmehr, wie gesagt, die endgültige Trennung der Seele vom Geist«.99 Nicht grundsätzlich anders als Basilius urteilt Gregor von Nazianz (335/40–394), der Theologe, wobei seine Überlegungen in mancher Hinsicht differenzierter, subtiler, spekulativer und gefühlsbetonter sind. – Auch für Gregor ist die menschliche Willensfreiheit entscheidend wichtig.100 Aber im Unterschied zu Origenes ist sie nicht für das Schicksal aller Vernunftgeschöpfe (der Engel und der Menschen) in gleicher Weise allein bestimmend. Der göttliche Schöpfungsakt hat nach Gregors Sicht zwei Phasen: die eigentliche Erschaffung und die Ordnung der Welt, so dass Schöpfung und Providenz (Vorherbestimmung) zusammen den Weltlauf beeinflussen. Denn Gott hat jedem Lebewesen seine Aufgabe, seinen Rang und seinen Platz zugewiesen. Diese sind also nicht einfach eine Folge der eigenen Entscheidung, sondern eine Anordnung der göttlichen Weisheit, wobei die Einzelwesen in einer niedrigeren Stellung von ihrem Schöpfer nicht weiter entfernt sind als diejenigen in einem höheren Rang, da Gott allgegenwärtig ist und Seinen Geschöpfen überall nahe sein kann.101 99

Basilius Caes. DSS 16,40, (Pruche, S. 388–391) zitiert nach Blum, Über den Heiligen Geist, S. 67f. 100 Gregor Naz. Or. 31,25. 101 Gregor v. Nazianz, Or 38 vom 25. Dez 380, in: Grégoire de Nazianze, Discours 38–41, Introduction, texte critique et notes par Claudio Moreschini, traduction par Paul Gallay, SChr. 358, Paris 1990, S. 104–149. Ferner: Poemata theologica dogmatica I,1,4: Peri kosmou (Le monde) und I,1,5 Peri Pronoias (La Providence) in: Anne Richard, Cosmologie et Théologie chez Grégoire de Nazianze,

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– Das bedeutet aber auch: Der Wille der Geschöpfe entscheidet nach Gregor nicht permanent aus eigenem Antrieb über die Nähe zu Gott, sondern Gott Selbst ermöglicht ihm in vorbestimmten Entscheidungssituationen, gemäß einer freien Entscheidung seinen Endzustand selbst zu wählen.102 – Ferner: Die materielle Welt ist für Gregor nicht eine Strafanstalt, geschaffen nach dem Sündenfall zur Verbüßung und Heilung der menschlichen Sündhaftigkeit. Gott hat das Irdische vielmehr als eine gute, wenn auch noch unvollendete, Einrichtung erschaffen, als Er Sich über die eben vollendete geistige Schöpfung freute. Und Er wollte, dass mit Hilfe des Menschen Seine Schöpfung so vollendet werde, dass der Geist die Materie beherrscht und diese durch die göttliche Güte, Schönheit, Lichthaftigkeit dergestalt verwandelt wird, dass alles in ihr an Gottes Herrlichkeit Anteil bekommt (›vergöttlicht wird‹), wobei der Mensch als Vermittler Geist und Materie in sich einen sollte.103 – Das bedeutet: Auch Gregor unterscheidet gemäß Gen 1,27 zwischen dem Bild (eikôn) Gottes, dem Abbild des göttlichen Logos, und der Gottähnlichkeit (homoiôsis) des Menschen, die dieser im Laufe seines irdischen Daseins mit Hilfe des Heiligen Geistes durch den Glauben an Christus zu erwerben die Aufgabe hat. Dabei spielt die Kirche als Vermittlerin des Heiligen Geistes durch das Wort, die Taufe, die Salbung, die Kommunion, die Buße und das Gebet eine entscheidende Rolle.104 Mehr als Origenes und offensichtlicher als Basilius betont Gregor die Bedeutung der kirchlichen Heilsvermittlung, aber auch die Bedeutung des Ja-Wortes der einzelnen Gläubigen.105 – Die starke Heraushebung der Unfassbarkeit Gottes jedoch106 macht Gregor zurückhaltend in seinen Aussagen über Gottes Eigenschaften; sie sind – nach seinem Urteil – weithin symbolisch zu verstehen.107 Aber auch er rechnet ohne Zögern mit Gottes Gerechtigkeit, und ebenso mit dessen Güte und Barmherzigkeit. So etwa, wenn er darauf beharrt, dass auch die einfachen Gläubigen in Bezug auf den Glauben nicht hinter den Gebildeten zurückstehen müssen, weil das Collection des Études Augustiniennes, Série Antiquité 169, Paris 2003, Annexes, S. 483–507. 102 Vgl. Richard, Cosmologie, S. 372 und S. 477. 103 Gregor Naz. Or. 38, 7 und 11; 40, 8–10; vgl. Richard, Cosmologie, S. 475. 104 Gregor Naz. Or. 40, 13–14. 105 Gregor Naz. Or. 40,18. 106 Gregor Naz. Or. 28,22–31; 29,2–8; 40,5. 107 Gregor Naz. Or. 31,22.

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mit der Gerechtigkeit und Güte Gottes unvereinbar wäre.108 Und in der Hoffnung auf Gottes barmherziges Gericht geht Gregor über das hinaus, was Origenes, Theodor oder Basilius zugestehen konnten, wenn er erwartet, dass Gott auch an den vom Glauben Abgefallenen Barmherzigkeit üben werde.109 Versucht man nun, das Verhältnis von Gerechtigkeit Gottes zu Seiner Barmherzigkeit bei den östlichen Vätern des 4./5. Jahrhunderts, wie wir es an drei repräsentativen Beispielen erörtert haben, zu überdenken, so wird man in vierfacher Hinsicht eine Gemeinsamkeit im Umgang mit der Botschaft der biblischen Texte wahrnehmen: – Alle diese Väter übernehmen von Origenes die Interpretation von Gen 1,27, die besagt, dass Gott den Menschen sowohl nach Seinem ›Bild‹ (eikôn) als auch zu Seiner ›Ähnlichkeit‹ (homoiôsis) geschaffen hat, wobei die Abbildlichkeit dem Menschen von seiner Erschaffung an eigen ist, während er die Gottähnlichkeit sich während seines irdischen Lebens selbst aneignen muss. – Ebenso übernehmen die östlichen Väter von Origenes die Willensund Wahlfreiheit der Vernunftwesen, d.h. der Engel und Menschen, wodurch diese für ihr Schicksal selbst verantwortlich sind und diese Verantwortlichkeit nicht auf Gott abschieben, Ihn also nicht der Ungerechtigkeit und Unbarmherzigkeit anklagen können. – Alle diese Väter übernehmen aber auch die spätjüdisch-neutestamentliche Anschauung, dass im künftigen Endgericht die Gerechtigkeit und die Barmherzigkeit, die durch den Sündenfall auf Erden verlorengingen, wiederhergestellt werden. – Wiederhergestellt wird im Endgericht damit auch die Güte der Schöpfung Gottes, die durch die Menschwerdung des göttlichen Logos, Seinen Tod am Kreuz, Seine Auferstehung und die Herab108

Gregor Naz. Or. 32,26: »Brüder, nichts wäre ungerechter als unser Glaube, wenn er nur den Weisen zuteil würde und solchen, die mit Sprache und Vernunftbeweisen überreich begabt sind, wenn aber die Mehrzahl der Menschen, wie beim Gold, Silber und anderen Dingen, die hier auf Erden von der Mehrzahl geschätzt und heiß begehrt werden, so auch beim Glauben zurückstehen müsste; dann wäre das Hohe und das, was nur wenige erlangen, Gott lieb und vertraut, das aber, was näher und für die Mehrzahl erreichbar ist, wäre von Ihm verarchtet und verworfen. Nicht einmal die einsichtigeren Menschen könnten dies ertragen, dass sie nicht die Ehren beanspruchen [können], die ihnen möglich sind, sondern sich nur an den Herausragenden erfreuen [können], geschweige denn Gott; unter Seinen vielen bewundernswerten Eigenschaften ist Ihm nichts so eigentümlich, wie die Eigenschaft, allen Gutes zu erweisen.« Zitiert nach Fiedrowicz, Handbuch Nr. 5, 26. 109 Gregor Naz. Or. 42,7.

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kunft des Heiligen Geistes auf Seine Jünger in der Kirche ermöglicht worden ist. Im Rahmen dieser Gemeinsamkeiten gibt es nun aber deutliche Unterschiede im Verständnis der göttlichen Barmherzigkeit: – Theodor schränkt die Barmherzigkeit Gottes insofern ein, als diese nur den Gliedern der Kirche zuteil wird und auch nur dann, wenn sie an die Botschaft des Evangeliums glauben, den Kampf für das Gute auf sich nehmen, sich um die Reinheit ihres Lebens bemühen und ihre Verfehlungen bereuen. Insofern ist bei Theodor die Barmherzigkeit Gottes Seiner Gerechtigkeit untergeordnet. Denn Gott ist immer gerecht und fordert von den Menschen die Erfüllung Seiner Gebote; der Barmherzigkeit gewährt Er nur in beschränktem Maße Raum, dadurch, dass denen, die Christus als die Seinen angenommen hat und die sich bemühen, nach Seinen Geboten zu leben, ihre Verfehlungen verziehen werden, wenn sie diese bereuen. – Anders fasst Basilius der Große den Zusammenhang zwischen der Gerechtigkeit Gottes und Seiner Barmherzigkeit. Nach ihm zeugen alle Nöte und Strafen Gottes, die die Menschen hier auf Erden erleiden, von Gottes Güte und Barmherzigkeit. Gott will ja damit die Menschen nicht verderben, sondern ihnen ein neues Leben ermöglichen, dessen Ziel die Vergöttlichung, d.h. die Teilhabe an der himmlischen Herrlichkeit, ist. Entsprechend sind auch Gottes Gebote nicht einfach die des Alten Bundes, sondern die der Liebe, die Christus vorgelebt hat und durch die Zorn, Vergeltungssucht und Eigennutz überwunden werden können. Die Askese sowie die Nöte des täglichen Lebens sind von Gott geschenkte Mittel zu diesem Zweck. Wer sich indes auf Dauer für Gottes Ansprache völlig taub stellt, riskiert, vom Heiligen Geist endgültig und für immer getrennt zu werden. Damit kommt bei Basilius der freie Wille der Menschen ins Spiel: Durch die Verweigerung von barmherziger Hilfe gegenüber denen, die diese nötig haben, verspielen die Menschen selbstverschuldet Gottes langmütige Nachsicht und Vergebungsbereitschaft. – Gregor von Nazianz setzt nochmals andere Akzente: Gott hat den Menschen zum Vermittler zwischen Geist und Materie bestimmt, da dieser ja aus beiden Elementen besteht. So sollen die Menschen die Schöpfung Gottes mit Hilfe des Heiligen Geistes vollenden. Dabei wirkt die Kirche als Vermittlerin des Heiligen Geistes. Die Barmherzigkeit Gottes wird in diesem Zusammenhang dadurch erfahrbar, als auch der einfache und immer wieder fehlbare Gläubige nicht der Hilfe des Heiligen Geistes entbehrt und die Hoffnung auf Gottes Barmherzigkeit selbst für die vom Glauben Abgefallenen

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nicht aufgegeben werden muss. Das ist eine ungewöhnliche Aussage. Woher kommt diese, uns modern anmutende, Besonderheit Gregors? Wenn ich recht sehe, hängt sie damit zusammen, dass Gregor individualistischer denkt, fühlt und Entscheidungen fällt als seine Umgebung. Er eckt damit bei seinen Zeitgenossen vielfältig an, fühlt sich alleingelassen, zieht sich zurück, übt Kritik an seinen Freunden und selbst an den großen ökumenischen Konzilien und wagt es – trotz aller Skrupel und bei aller Anerkennung der gottgegebenen Autorität der Kirche –, zu seinen eigenen Erkenntnissen zu stehen und in aller Demut seine eigenen Wege zu gehen, indem er Gott zutraut, dass Er Seine Barmherzigkeit auch dort walten lässt, wo sie nach menschlichem Empfinden nicht hingehört. Kehren wir zurück zu den Fragen, die wir am Anfang unserer Untersuchung gestellt haben! Wie muss man nach all dem Gesagten das Verhältnis von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes im Glauben der Christenheit der ersten Jahrhunderte beurteilen? Wie wir gesehen haben, gab es selbst unter den Theologen des meletisch-antiochenischen und kappatokischen Einflussbereiches im vierten Jahrhundert unterschiedliche Auffassungen: Theodor gibt seinen Katechumenen die strenge Observanz eines Asketen weiter: Nur wer getauft ist, sich zur Kirche hält, sich um die Reinheit seines Lebens bemüht und seine Sünden bereut, darf auf Gottes Barmherzigkeit im Endgericht hoffen. Diese Sicht hat sich bis heute im orthodoxen Mönchtum weithin erhalten. Basilius der Große sah sich als Bischof durch eine Hungersnot veranlasst, das Verhältnis von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes etwas anders einzuschätzen: Gott ist der Barmherzige in all Seinem Tun an uns; Er will nicht unser Verderben, sondern unsere Heilung. Wer allerdings in diesem Erdenleben sich gegenüber seinen Mitmenschen unbarmherzig erweist, muss damit rechnen, seinerseits im Endgericht Gottes strenge Gerechtigkeit zu erfahren und von der Teilhabe am Heiligen Geist und der Vereinigung mit Gott ausgeschlossen zu werden. Denn dieses Leben ist eine Vorbereitung auf das kommende ewige Leben. Wobei es nicht darum geht, sich einen selbstgenügsamfrommen Lebensstil anzueignen, sondern sich von der Liebe Gottes vewandeln zu lassen, so dass wir barmherzig werden, wie Christus am Kreuz sich barmherzig erwies, indem Er den Vater für Seine Peiniger um Vergebung bat. Noch einen Schritt weiter in der gleichen Richtung geht Gregor von Nazianz: Gott ist so sehr der Barmherzige, dass jeder, selbst ein vom Glauben Abgefallener, auf diese Barmherzigkeit mit gutem Grund hoffen darf. Aber auch diese Hoffnung kann nicht die Tatsache außer acht lassen, dass es nicht um irgendwelche Rechtsgrundsätze geht, sondern darum, vom Heiligen Geist verwandelt und gottförmig (›vergöttlicht‹) zu werden für ein neues Leben, in welchem die Barmherzigkeit alle Verurteilungen aufhebt und alle Wunden heilt.

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So ist die Barmherzigkeit Gottes die tragende Kraft, die die Welt heilt und verwandelt; die Gerechtigkeit Gottes aber zeigt sich darin, dass Gott nicht, wie wir Menschen, Böses mit Bösem vergilt, sondern das Verletzte durch Seine Liebe heilt und zurecht bringt, was nicht ohne die Einsicht und Einwilligung der Betroffenen geschehen kann und was für diese oft auch schmerzhaft sein wird.

XI. Die altkirchlichen Ökumenischen Konzile (325–553) und ihre Aufarbeitung durch die ökumenischen Gespräche der Gegenwart Pfr. Dr. Christian Hohmann zum 14. Sept. 2015 in Dankbarkeit für die vielen guten Gespräche und die langjährige freundschaftliche Begleitung

Die Ökumenischen Konzile der ersten Jahrhundete galten und gelten bis heute in Ost und West als gemeinsame theologische Basis des christlichen Glaubens, auf die man bei theologischen Gesprächen unter den christlichen Konfessionen zurückgreifen kann.1 Aber, so wird man fragen müssen, versteht man unter den in diesen Konzilen geprägten Bekenntnissen und Verwerfungen überall das Gleiche? Oder verbergen sich hinter den gemeinsamen Formulierungen Unterschiede der Interpretation, die Schwierigkeiten bereitet und zu Konflikten geführt haben? Schon das unter Konstantin dem Großen von westlichen Theologen 325 in Nikäa durchgesetzte Glaubensbekenntnis, das den Sohn und Logos Gottes als ›homoousios tô patri‹ (›dem Vater wesensgleich‹) bezeichnete, hatte in den östlichen Kirchen eine andere Ausrichtung als im Westen. Im Osten (Alexandrien, Palästina, Westsyrien, Kappadokien, Armenien, Ostsyrien) war man vor allem mit Vorstellungen von Platonikern, Neuplatonikern und Gnostikern konfrontiert, gemäß denen eine Emanation aus dem höchsten und ersten Sein, d.h. aus Gott, die Welt mit Leben und Wirkkraft erfüllt. Arianer schlossen daraus, dass der Sohn Gottes das erste Geschöpf des Vaters darstellt. Dies konnten Theologen, die an der vollkommenen, uneingeschränkten Offenbarung Gottes in Christus festhalten wollten, nicht akzeptieren. So schrieb Athanasius in seiner dritten Rede gegen die Arianer: »Wir anerkennen ... einen (einzigen) Ursprung: Vom Schöpfer-Logos sagen wir, dass Er nicht eine andere Weise der Gottheit hat als der einzige Gott, da Er aus Ihm hervorgegangen ist (perphykenai, also der Natur nach hervorgegangen). Vielmehr können die Arianer der Vielgötterei oder der Gottlosigkeit angeklagt werden, da sie ungeschickterweise behaupten, der Sohn sei ein außer(-göttliches) Geschöpf und auch der Geist sei aus dem Nichts (geschaffen). So müssen sie also entweder sagen, der Logos sei nicht Gott; oder 1

Schon von Gregor dem Großen ist die Aussage überliefert: »Ich bekenne, dass ich die vier Konzilien annehme und ehre, so wie die vier Bücher des heiligen Evangeliums«; vgl. Carm. Hist. X 1509–1949; zitiert nach Josef Wohlmuth, Dekrete der ökumenischen Konzilien / Conciliorum Oecumenicorum Decreta, 3. Aufl., Paderborn 1973, S. 22.

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XI. Die altkirchlichen Ökumenischen Konzile sie nennen Ihn Gott wegen der Schrift, nicht aber so, dass Ihm das Wesen des Vaters eigen wäre. Damit ist klar, dass sie wegen der Verschiedenheit der Naturen (von Vater und Sohn) mehrere (viele) Götter einführen; es sei denn, sie wagen zu sagen, dass auch der Sohn nur durch Teilnahme ›Gott‹ genannt werden könne, wie die übrigen Dinge. Wenn das ihre Meinung ist, sind sie in gleicher Weise gottlos, da sie den Logos als Einen von Allem (d.h. unter den Geschöpfen) bezeichnen. Dies wird uns niemals in den Sinn kommen. Denn es gibt nur eine Weise der Gottheit (hen gar eidos theotêtos), wie sie auch in dem Logos ist; und einer ist Gott, der Vater, der in Sich ist, indem Er über allem ist; der aber im Sohn erscheint, indem Er alles durchwaltet; und der im Pneuma ist, indem Er in allem durch den in Ihm seienden Logos wirkt. So nähmlich bekennen wir einen Gott in der Dreiheit (Trias). Diese unsere Meinung entspricht viel mehr der Frömmigkeit als die vielgestaltige und vielteilige Gottheit der Häretiker, da wir die eine Gottheit in der Dreiheit bekennen.«2

Athanasius bringt hier das mit dem Begriff ›homoousios‹ Gemeinte auf den Punkt, indem er erklärt, die Gottheit des Sohnes sei keine andere als diejenige des Vaters. Die westlichen Bischöfe waren nicht in gleicher Weise vom neuplatonischen und gnostizistischen Denken bestimmt. Sie lebten weit mehr in den reichskirchlich geprägten Vorstellungen Kaiser Konstantins, nach welchen Gott im Weltall – wie Konstantin im römischen Reich – die Machtfülle zukommt. Ihnen war daher wichtig, die Monarchie der Gottheit als solche festzuhalten, auch wenn eine Differenzierung zwischen Vater und Sohn und Heiligem Geist unabdingbar war. Dabei übernahmen sie mit der lateinischen Sprache auch stoisches Gedankengut, das Tertullian ihnen überliefert hatte, indem er Gott mit substantiellen Kategorien zu erfassen suchte. A. Grillmeier3 erklärt Tertullians Vorstellungen so: »Tertullian versteht unter der Substanz Gottes einen leichten, feinen, unsichtbaren Stoff, der zwar einheitlich, aber in sich differenziert ist. In der einen Gesamtwirklichkeit Gottes ist Vater, Sohn und Geist. Der Sohn geht aus dieser einen substantia, wie sie im Vater ist, hervor und erhält dadurch Seine Eigenwirklichkeit, ohne getrennt zu sein. Sohn und Geist unterscheiden sich durch die Ordnung des Ursprungs ... Der Vater besitzt die substantiae plenitudo, der Sohn hat Anteil an dieser ungeteilten Fülle. Die göttliche Substanz ist wesenhaft ›eine‹, der Sohn aber ist wie ein Ausfluss aus dieser einen Substanz: ›Pater enim tota substantia est, filius vero derivatio totius et portio‹.4«

2

Athanasius contra Ar. Or. III,15; zitiert nach Alois Grillmeier, Jesus der Christus Bd. I, Freiburg i.Br. 1979, S. 411f. 3 Alois Grillmeier, Jesus der Christus Bd. I, S. 243. 4 Tertullian, Adv. Prax. 9,2. (Vermutlich zwischen 217–222 entstanden).

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So wird denn auch im Ersten Ökumenischen Konzil von Nikäa die lateinische Übersetzung des ›homoousion tô patri‹ mit den Worten wiedergegeben: »unius substantiae cum patre, quod Graeci dicunt ›homoousion‹«5 und in der Folge wird im Westen dort die Formel von ›eine Substanz in drei Personen‹ angewandt, wo im Griechischen von ›einer Wesenheit (ousia) in drei Hypostasen‹ die Rede ist. So brauchen die Lateiner den Begriff ›substantia‹ für die göttliche Wesenseinheit; hinsichtlich der Dreiheit von Vater, Sohn und Geist reden sie dann von ›drei Personen‹6. Diese Differenz zwischen östlichem und westlichem Verständnis des ›Homoousios‹ hatte nach dem dritten Viertel des 4. Jahrhunderts schwerwiegende Folgen: Basilius der Große verfasste, veranlasst durch die Herrschaft der durch Konstantius begünstigten Arianer, vermutlich im Herbst 375 einen bereits im Frühjahr mit Meletius von Antiochien und einigen anderen Gesinnungsgenossen abgesprochenen Brief an die Okzidentalen, in welchem er diese um den Besuch durch eine Gesandtschaft bat, die den bedrängten Orthodoxen des Ostens Unterstützung bringen sollte.7 Auf diesen Brief bekamen Basilius und seine Freunde nie eine Antwort. Doch soll Papst Damasus dem Überbringer, dem Priester Dorotheus, gesagt haben, Meletius und seine Freunde seien arianische Häretiker.8 So unterblieb eine Hilfeleistung der lateinischen Bischöfe für die Homoousianer im Ostreich, weil, wohl durch den unterschiedlichen Gebrauch des Begriffs ›Hypostasis‹ (wörtlich ins Lateinische übersetzt: ›substantia‹), für die westlichen Bischöfe nicht mehr deutlich war, wo die Hilfesuchenden aus dem Osten theologisch standen, ob sie drei oder eine einzige ›Substanz Gottes‹ lehrten. Dieses Misstrauen des Westens gegenüber den mit Meletius von Antiochien verbündeten syrischen und kappadokischen Bischöfen im Osten bestimmte auch die Haltung der westlichen Gesandten und ihrer Verbündeten während des Zweiten Ökumenischen Konzils 381 in Konstantinopel. Dabei spielte sicher auch eine Rivalität zwischen Konstantinopel/Antiochien und Rom/Alexandrien eine gewisse Rolle. Schon Petrus von Alexandrien hatte versucht, mittels einer heimlichen Weihe eines von Gregor von Nazianz in seine Anastasis-Gemeinde in Konstantinopel aufgenommenen Kynikers, namens Maximus, zu verhindern, dass Gregor selbst, als Parteigänger des Meletius von Antio5 6

Wohlmuth, Dekrete der ökumenischen Konzilien, S. 5. Im Osten ist der Begriff ›Person‹ (Prosopon) verdächtig oder mindestens missverständlich, da er von Sabellius gebraucht wurde für eine je nach Situation sich wandelnde Erscheinung von Vater oder Sohn oder Geist. 7 Basilius von Caesarea, Ep. 263, in: Briefe. Dritter Teil. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Wolf-Dieter Hauschild, BGrL 37, Stuttgart 1973, S. 116–119. 8 Wolf-Dieter Hauschild, Einleitung in BGrL 37, S. 14f. und 23.

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chien, zum Patriarchen geweiht werden könne. Als dieses Unterfangen durch die Intervention von Kaiser Theodosius missglückte, fand der Nachfolger von Bischof Petrus II., Timotheus I. (380–385) von Alexandrien, in Übereinstimmung mit Rom und den Rom unterstellten illyrischen Gesandten einen anderen Weg, die bei ihrem Eintreffen in der Konzilsstadt bereits stattgefundene Weihe Gregors anzufechten, indem er sich auf den Kanon 15 von Nikäa berief, der besagt, dass kein Bischof von einer Stadt in eine andere wechseln dürfe.9 Gregor machte zwar geltend, dass er das Amt in Sasima, für das er geweiht worden war, nie angetreten habe, also nie Bischof von Sasima gewesen sei, aber er trat dennoch, tief verletzt, von seinem Amt und der Leitung des Konzils zurück, flüchtete nach Nazianz, wo er sich lange Zeit in vollkommenem Schweigen übte und in der Folge nie wieder ein Konzil besuchte. In Rom hielt man im Übrigen noch immer Maximus für den rechtmäßigen Patriarchen von Konstantinopel, bis Theodosius 382 Papst Damasus zur Anerkennung des Nachfolgers von Gregor, Nektarius, und zur Übernahme der Beschlüsse von 381 zwang. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Synodalbrief der östlichen Bischöfe von 382 an die Bischöfe des Westens. Darin wird versucht, die entstandenen Unklarheiten zu beheben, indem das Nikänum von 325, das ›Bekenntnis der 318 Väter‹, mit klaren und dem Westen entgegenkommenden Worten erklärt wird. Von diesem Bekenntnis wird gesagt: »Es ist sehr alt, geht aus der Taufe hervor und lehrt uns, an den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes zu glauben. Dabei wird eindeutig an eine Gottheit, eine Macht und ein Wesen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes sowie an ihre gleiche Ehre und Würde und gleichewige Herrschaft in drei vollkommenen Hypostasen, d.h. drei vollkommenen Personen, geglaubt. So darf weder die Krankheit des Sabellius Platz greifen, wonach die Hypostasen vermischt oder auch deren Eigentümlichkeit aufgehoben werden, noch gar die Blasphemie der Eunomianer, Arianer und Pneumatomachen Einfluss haben. Nach ihnen wird das Wesen, die Natur oder die Gottheit geteilt und der nichtgeschaffenen, wesengleichen und gleichewigen Dreiheit eine später entstandene, geschaffene oder wesensverschiedene Natur hinzugefügt.«10

Hier wird offenkundig klarzustellen versucht, dass die östlichen Theologen mit dem Begriff der Hypostasen die drei göttlichen Erscheinungsformen meinen, die im Westen mit dem Begriff der ›Personen‹ bezeichnet werden, ein Begriff, der im Osten disqualifiziert ist, da Sabellius, der in Rom zeitweise Anerkennung fand (ca. 190–217), diesen gebrauchte für seine Vorstellung, nach welcher innerhalb der Gottheit die Masken (prosôpa = persones) oder Gestalten (morphai) des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes je nach Bedarf als unterein9 10

Wohlmuth, Dekrete der ökumenischen Konzilien, S. 13. Wohlmuth, Dekrete der ökumenischen Konzilien, S. 28. Die griechische Fassung dieses Schreibens ist uns durch Theodoret, Hist. Eccl. V,9 überliefert, die lateinische Fassung durch Cassiodor, Hist. trip IX,14; vgl. Wohlmuth, S. 20, Anm. 2.

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ander austauschbar dargestellt werden. Schon Gregor von Nazianz hatte dann aber den Begriff ›Personen‹ für die ›Hypostasen‹ zugelassen, da er es nicht für angemessen hielt, um bloße Worte zu streiten.11 Jetzt zeigte sich auch die Bischofsversammlung, die 382 das Ökumenische Konzil des Vorjahres aufarbeitete, offenbar im Wissen um die Verständnisschwierigkeiten, zu dieser Konzession bereit. Doch hat diese Klarstellung in Rom wenig Eindruck gemacht, denn es brauchte das Eingreifen von Theodosius, damit im Westen eine Anerkennung der Beschlüsse von 381 erfolgte. Doch noch Leo I. (440–461) und Gregor I. (590–604) behaupteten, die Kanones von Konstantinopel seien nie »zur Kenntnis des Apostolischen Stuhls« gebracht worden.12 Auch ging das Original des Glaubensbekenntnisses von 381 verloren und wir müssen den genauen Wortlaut einer Aufzeichnung in den Akten des Vierten Ökumenischen Konzils von Chalkedon entnehmen. Diese Verluste sind wohl nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass Rom und Alexandrien nie die Kanones 2 und 3 des Konzils von 381 anerkennen wollten, in denen festgelegt wurde, dass dem Bischof von Konstantinopel als des Neuen Roms ›der Vorrang der Ehre nach dem Bischof von Rom‹ zukomme (Kanon 3) und dass die Vollmacht der Bischöfe auf die Kirchen ihres Verwaltungsgebietes beschränkt sei (Kanon 2). Dadurch fühlte sich Alexandrien in seinem Rang zurückversetzt und Rom in seinem Anspruch auf den jurisdiktionellen Primat des PetrusAmtes bedroht und der Konkurrenz mit dem ›Neuen Rom‹ ausgesetzt. So verblieb man auch nach dem sogenannten ›Zweiten Ökumenischen Konzil von 381‹13 zwischen West und Ost bei einer unterschiedlichen Interpretation des gemeinsamen Glaubens. Das Dritte Ökumenische Konzil, das auf Bitte des Patriarchen Nestorius von Konstantinopel (428–431) von Kaiser Theodosius II. (408–450) auf Pfingsten 431 nach Ephesus einberufen worden war, wurde wieder aufgelöst, bevor es zu gemeinsamen Beschlüssen zwischen Alexandrien und Rom einerseits und Palästina, Syrien, Kleinasien andererseits kam. Es ging bei diesem Konzil um die Frage, ob es legitim sei, Maria ›Gottesgebärerin‹ (›Theotokos‹) zu nennen. Anhänger von Apollinaris von Leodicea verbreiteten in Konstantinopel diesen Ehrentitel Marias, während ihre Gegner darauf bestanden, dass Maria nicht den Sohn Gottes, sondern nur den Menschen Jesus geboren habe und man sie daher ›Menschengebärerin‹ (›Anthropotokos‹) nennen müsse. Patriarch Nestorius, der die Apollinaristen bekämpfte, schlug scheinbar als Vermittler vor, Maria ›Christotokos‹ zu nennen. In diesem Sinne verfasste er auch einen Brief an Papst Coelestin von Rom. Dieser Brief 11 12 13

Gregor von Nazianz, Or. 20,6; 39,11; 42,16. Wohlmuth, Dekrete der ökumenischen Konzilien, S. 22 (Anm. 74). Im Synodalbrief von 382 wird das Konzil von 381 erstmals ›ökumenisch‹ genannt; vgl. Wohlmuth, Dekrete der ökumenischen Konzilien, S. 22, Anm. 10.

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wurde, da man ihn in Rom mangels Griechischkenntnissen nicht ins Lateinische übersetzen konnte, an Kyrill von Alexandrien weitergeleitet. In Alexandrien aber war die Verehrung der Gottesmutter gemäß dem Vorbild der antiken Muttergöttinnen im Volk und bei Mönchen schon fest verankert und Kyrill war zudem der Meinung, es sei nicht zulässig, Gottheit und Menschheit in Christus auseinanderzureißen, sondern man müsse die Einheit Christi nach Seiner Menschwerdung bewahren, gemäß einer Formel, von der er glaubte, sie stamme von Athanasius, die aber durch Apollinaris von Laodicea formuliert worden war und besagte, in Christus sei nach der Menschwerdung des Sohnes Gottes ›eine Natur des menschgewordenen Wortes Gottes‹ (mia physis tou theou logou sesarkômenê/ou) zu bekennen. Nach Kyrill war daher die Bestreitung des Theotokos-Titels für Maria eine Irrlehre, die es zu verurteilen galt, und er verfasste eine Anklageschrift gegen Nestorius und sandte sie zunächst nach Rom, wo Johannes Cassian seinerseits eine Schrift gegen Nestorius (›De incarnatione Domini contra Nestorius‹) schrieb, so dass Nestorius im August 430 in Rom und im November 430 in Alexandrien verurteilt wurde. In dieser Situation wünschte Nestorius ein Konzil im Osten des Reiches und erreichte von Kaiser Theodosius II., im Einvernehmen mit Valentinian, die Konzilseinladung nach Ephesus auf Pfingsten 431. Aber zum festgesetzten Zeitpunkt waren weder die lateinischen Delegierten noch die Gesandten aus Antiochien, Syrien und Palästina, die den mühsamen Weg über Land nehmen mussten, in Ephesus. Nur die Delegation aus Ägypten und aus Konstantinopel hatte auf dem Seeweg den Tagungsort erreicht. Obwohl die östlichen Bischöfe ihre baldige Ankunft ankündigten, erzwangen die Ägypter (Kyrill und Memnon) am 22. Juni die Eröffnung des Konzils, wogegen die Gesandten des Kaisers und 68 Bischöfe vergeblich protestierten. Man schritt nach der erzwungenen Konzilseröffnung auch sogleich zur Verurteilung von Nestorius, der allerdings vor dieser Synode nicht persönlich erschien. Nachdem drei Anklage- und Erwiderungsbriefe gewechselt worden waren,14 wurde Nestorius in Abwesenheit mit 197 Stimmen verurteilt und seines Amtes enthoben.15 Am 26. Juni trafen in Ephesus der Patriarch Johannes von Antiochien und die syrischen, kleinasiatischen sowie palästinensischen Bischöfe ein, wenig später dann auch die römischen Delegierten. Während sich letztere dem Urteil der Ägypter anschlossen, bildeten die östlichen Bischöfe sogleich eine Gegensynode und verurteilten Kyrill und Memnon, weil sie nicht mit der Konzilseröffnung gewartet hatten; worauf die Synode der Ägypter und Römer auch Johannes von Antiochien und seine Anhänger exkommunizierte. Am 29. Juni erklärte Theodosius das Konzil für ungültig und untersag14 15

Wohlmuth, Dekrete der ökumenischen Konzilien, S. 40–61. Wohlmuth, Dekrete der ökumenischen Konzilien, S. 61f.

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te den Bischöfen die Heimreise bis zum Eintreffen eines hohen kaiserlichen Beamten, des Comes Johannes. Als dieser kam, setzte er Kyrill, Memnon und Nestorius ab und nahm sie fest. Im September löste er das Konzil auf und entließ die Gesandten, außer den drei Gefangenen, die er ins Exil zu schicken gedachte. Kyrill jedoch gelang mittels Bestechung die Flucht und in Alexandrien wurde er jubelnd als Sieger empfangen. Nestorius dagegen erhielt zunächst die Erlaubnis zur Rückkehr in sein Kloster, wurde dann aber 435 nach Petra verbannt. Er starb 451 im lybischen Exil, ohne dass seine Person in den weiteren Auseinandersetzungen um die Christologie noch eine Rolle spielte. In Konstantinopel wurde am 25. Okt. 435 Maximian zum Patriarchen geweiht.16 Was heute als Ergebnis des Konzils von 431 gilt und seit dem Vierten Ökumenischen Konzil von Chalkedon als solches anerkannt worden ist, ist die Unionsformel, die Johannes von Antiochien auf kaiserlichen Druck hin durch einen Brief an Kyrill von Alexandrien 433 initiierte. Patriarch Johannes anerkennt darin in dem einen Christus, dem einen Sohn Gottes, dem einen Herrn, die Wesensgleichheit Christi mit dem Vater, was die Gottheit betrifft, wie auch die Wesensgleichheit Christi mit uns, was das Menschsein betrifft, und er gesteht Maria den Ehrentitel ›Gottesgebärerin‹ (›Theotokos‹) zu, wobei er nicht ein neues Bekenntnis formulieren will, sondern sich auf die Bekenntnisse von Nikäa (325) und Konstantinopel (381) beruft. Ausdrücklich billigt er auch die Absetzung von Nestorius und die Wahl von Maximian. Kyrill antwortete mit einem Friedensbrief, in welchem er die Ausführungen von Johannes lobt und sich dagegen verwahrt, er habe, wie einige seiner Anhänger, zu irgendeiner Zeit eine Vermischung oder Vermengung der göttlichen und menschlichen Natur in Christus behauptet, sondern er habe immer festgehalten, dass die göttliche Natur in Christus nicht veränderbar und nicht leidensfähig sei.17 Man wird fragen müssen, ob man sich mit diesen Friedensbriefen wirklich geeinigt hat oder ob hier die Probleme einfach überdeckt wurden? Eines ist sicher: Nestorius und seine Parteigänger waren für immer verurteilt und die Verehrung Marias als ›Theotokos‹ konnte sich im Osten wie in Ägypten und im Westen ohne Einschränkungen ausbreiten. Unklar jedoch bleibt, was es bedeutet, dass Johannes von Antiochien schrieb:

16 17

Wohlmuth, Dekrete der ökumenischen Konzilien, S. 37–39. Wohlmuth, Dekrete der ökumenischen Konzilien, S. 69–74; Pierre Thomas Camelot, Ephesus und Chalkedon. Geschichte der Ökumenischen Konzilien, hg. von G. Dumeige und H. Bacht, Mainz 1963, S. 246. Kyrill wehrt sich hier also gegen eine monophysitische Vereinnahmung seiner Christologie, wie sie Eutyches und dessen Anhänger (s. unten) beanspruchten.

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XI. Die altkirchlichen Ökumenischen Konzile »Was aber die Worte über den Herrn in den Evangelien und in den Schriften der Apostel betrifft, so wissen wir, dass die Theologen die einen ohne Unterscheidung auf eine Person anwenden, die anderen aber unterscheiden und auf zwei Naturen beziehen, wobei sie die gottgemäßen Worte von der Gottheit Christi, die der Niedrigkeit aber von Seiner Menschheit überliefern.«18

Und unklar bleibt auch die Bedeutung von Kyrills Bekenntnis am Schluss seines Briefes: »Denn [die göttliche Natur Christi] bleibt stets, was Sie ist, und hat Sich nicht verändert. Sie dürfte Sich auch nie verändern und wird überhaupt keiner Verwandlung fähig sein. Dass der Logos Gottes außerdem leidensunfähig ist, bekennen wir alle, auch wenn es so aussieht, als würde Er, der Selbst allweise das Heilsmysterium offenbart, die Leiden, die Seinem eigenen Fleisch widerfahren sind, Sich Selbst zuteilen.«19

Heißt dies, dass sowohl bei Johannes von Antiochien wie auch in der Antwort Kyrills doch noch etwas von dem verurteilten Nestorianismus übriggeblieben ist, nämlich die Behauptung, dass nur die Menschheit Jesu am Kreuz gelitten habe und gestorben sei, nicht aber Seine Gottheit? Wenn dies zutreffen sollte, wäre dies eine der Ursachen, warum es nach dem Konzil von Chalkedon zum ›Theopas’chitischen Streit‹ kam, d.h. zum Streit um einen Zusatz, den die monophysitischen Gegner von Nestorius ans dritte Glied des Trishagion anfügten: »[Heiliger Unsterblicher], der Du für uns gekreuzigt worden bist, [erbarme Dich unser!]«? Petrus Fullo, der erste monophysitische Patriarch von Antiochien (470–471, 475–477 und 485–488),20 hatte diesen Zusatz zum Trishagion in Antiochien eingeführt; der gleichfalls monophysitische Patriarch Severus von Antiochien (512–518) hatte ihn dann verteidigt, theologisch gerechtfertigt21 und zum festen liturgischen Bestandteil gemacht. Als ihn aber der mit den Monophysiten sympathisierende Kaiser Anastasius (491–518) in Konstantinopel einführen wollte, kam es zu Tumulten. Denn während in Antiochien das Trishagion auf Christus bezogen wurde,22 hat man es in der Kaiserstadt trinitarisch verstanden, was dem Zusatz einen neuen Sinn gab, den man nicht mehr rechtgläubig interpretieren konnte. Kaiser Justinian hat dann (zwischen 518 und 565) mit seinem Hymnus nach der zweiten Antiphon (›O einziggeborener Sohn und Wort Gottes...‹) das ursprünglich Gemeinte aufgenommen und auch für diejenigen, welche, wie er selbst, nicht dem Monophysitismus zuneigten, akzeptabel zur Geltung gebracht.23 18 19 20 21 22 23

Wohlmuth, Dekrete der ökumenischen Konzilien, S. 70. Wohlmuth, Dekrete der ökumenischen Konzilien, S. 73. Alois Grillmeier, Jesus der Christus Bd. II/2, Freiburg i.Br. 1989, S. 270–277. Alois Grillmeier, Jesus der Christus Bd. II/2, S. 20–185. Alois Grillmeier, Jesus der Christus Bd. II/2, S. 184–185. Alois Grillmeier, Jesus der Christus Bd. II/2, S. 333–359.

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Wie auch immer die genannten klärungsbedürftigen Sätze gemeint waren und welche Konsequenzen sie gemäß ihren Autoren beinhalten, das Problem der göttlichen und menschlichen Natur in Christus hatte mit der Unionsformel nach dem Konzil von Ephesus noch keine andauernde Lösung gefunden, sondern war nur vertagt worden. Das zeigte sich schon 448, als eine Synode des Patriarchen Flavian in Konstantinopel den greisen monophysitischen Archimandriten Eutyches, einen Verehrer Kyrills und Vorsteher von um die 300 Mönchen, verurteilte, weil er darauf bestand, von den zwei Wesenheiten Christi seien nach ihrer Vereinigung nur noch eine, die göttliche, vorhanden, gemäß dem kyrillischen Ausspruch: ›eine Natur des fleischgewordenen Wortes Gottes‹ (›mia physis tou theou logou sesarkomenê‹). Als Flavian mit einiger Verspätung Papst Leo I. darüber Bericht erstattete, verlangte dieser, mit dem Vorwand, die Verurteilung von Eutyches sei nicht eindeutig gewesen, dass dieser nochmals vorgeladen werde und so die Gelegenheit erhalte, sich von seinen Irrtümern zu trennen. Dazu legte er als seinen Beitrag den sog. ›Tomos Leonis ad Flavianum‹ bei und führte darin aus: »Unter Wahrung der Eigentümlichkeit jeder der beiden Naturen und durch ihre Einigung zu einer Person wurde von der Hoheit die Niedrigkeit, von der Kraft die Schwachheit, von der Ewigkeit die Sterblichkeit angenommen; und zur Tilgung der Schuld unseres Zustandes wurde die unverletzliche Natur mit der leidensfähigen Natur vereint, damit, wie es den Heilsmitteln für uns entsprach, der Eine und Selbe ›Mittler zwischen Gott und den Menschen, der Mensch Christus Jesus‹24 sowohl sterben, aufgrund des einen, als auch nicht sterben konnte, aufgrund des anderen ... Jede der beiden Gestalten wirkt nämlich in Gemeinschaft mit der anderen, was ihr eigen ist, das heißt, das Wort wirkt, was des Wortes ist, und das Fleisch führt aus, was des Fleisches ist. Das eine der beiden erglänzt durch die Wunder, das andere unterliegt den Gewalttätigkeiten. Und wie das Wort sich nicht von der Herrlichkeit trennt, die Es in gleicher Weise besitzt wie der Vater, so verlässt das Fleisch auch nicht die Natur unseres Geschlechtes. Denn immer wieder muss es gesagt werden: Ein- und Derselbe ist wirklich Gottessohn und wirklich Menschensohn ... Wegen dieser Einheit der Person also, die bei jeder der beiden Naturen zu denken ist, heißt es einerseits, der Menschensohn sei vom Himmel herabgekommen, obwohl der Gottessohn von der Jungfrau, von der Er geboren wurde, Fleisch angenommen hat, und andererseits, der Sohn Gottes sei gekreuzigt und begraben worden, obwohl Er dies nicht in der Gottheit Selbst,25 durch die Er als Einziggeborener mit dem Vater gleichewig und 24 25

1Tim 2,5. Diese Lehre von der ›communicatio idiomatum‹ ist im Westen in der Lutherischen Reformation besonders betont worden. Aber sie löst letztlich die Frage nicht, mit welchem Recht man sagen kann, nicht nur der Mensch Jesus, sondern der Sohn Gottes Selbst sei als Mensch geboren worden und habe am Kreuz gelitten. Es geht ja dabei nicht nur um den Austausch von irgendwelchen Eigenschaften zwischen Gott und Mensch, sondern um die göttliche Wesenheit als solche.

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XI. Die altkirchlichen Ökumenischen Konzile wesensgleich ist, sondern in der Schwachheit der menschlichen Natur gelitten hat.«26

Als nun Kaiser Theodosius auf den 1. August 449 ein zweites Konzil nach Ephesus einberief, machte Leo I. seine Gesandten an Flavian zu Konzilslegaten und den Tomos ad Flavianum zu einem päpstlichen Sendschreiben, das im Konzil öffentlich verlesen werden sollte. Doch dies unterblieb, da Theodosius II. den Patriarchen Dioskur von Alexandrien zum Vorsitzenden der Synode bestimmt hatte. Statt dessen wurde Eutyches gerechtfertigt, Flavian und Euseb von Doryläum wurden verurteilt, abgesetzt, von ägyptischen Mönchshorden verprügelt und in die Verbannung geschickt, wo Flavian seinen Verletzungen erlag. Die römischen Legaten ergriffen die Flucht und kehrten nach Rom zurück. Papst Leo weigerte sich, das Konzil anzuerkennen, und legte gegen die Konzilsbeschlüsse, zunächst erfolglos, Widerspruch ein. Erst nach dem Tod von Theodosius II. wurde das Konzil vom neuen Kaiser Markian aufgehoben und galt fortan als die ›Räubersynode von Ephesus‹. Kaiser Markian berief auf den 1. Sptember 451 ein neues Konzil nach Nikäa ein, das er, um es selbst überwachen zu können, nach Chalkedon verlegte und das als Viertes Ökumenisches Konzil von Chalkedon am 8. Oktober 451 begann. Papst Leo nahm unter der Bedingung, dass seine Legaten den Vorsitz führten, durch eine hochrangige Delegation daran teil. Jetzt wurde zu Beginn auch der ›Tomos Leonis ad Flavianum‹ verlesen. Aber er wurde nicht einfach von allen Teilnehmern unterzeichnet, wie Leo der Große sich das vorgestellt hatte. Es entstand vielmehr in der fünften Sitzung eine neue Glaubensformel als Konzilsbeschluss, und dies, obwohl man kein neues Glaubensbekenntnis erstellen, sondern sich auf die zwei geltenden Bekenntnisse, das ›Bekenntnis der 318 Väter‹ (von Nikäa 325) und das ›Bekenntnis der 150 Väter‹ (von Konstantinopel 381) beschränken wollte. Zunächst wurde aber das Konzil von 449 für ungültig erklärt, Flavian und Euseb von Doryläum rehabilitiert und Dioskur verurteilt, abgesetzt und in die Verbannung geschickt. In der fünften Sitzung wurde dann der dogmatische Konzilsentscheid beraten, der in der sechsten Sitzung in Gegenwart des Kaisers feierlich verkündigt wurde. Hier wird gesagt: »In der Nachfolge der Väter ist unsere übereinstimmende Lehre und unser Bekenntnis zu ein und demselben Sohn, unserem Herrn Jesus Christus, derselbe vollkommen in der Gottheit, derselbe auch vollkommen in der Menschheit, wahrer Gott und wahrer Mensch, derselbe mit vernünftiger Seele und Leib, dem Vater wesensgleich der Gottheit nach, derselbe auch uns wesensgleich der Menschheit nach, uns in allem ähnlich, die Sünde ausgenommen, vor Zeiten aus dem Vater geboren der Gottheit nach, am Ende der 26

Wohlmuth, Dekrete der ökumenischen Konzilien, S. 78–80.

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Tage aber eben derselbe unseretwegen und um unseres Heiles willen (geboren) aus Maria, der Jungfrau, der Gottesgebärerin, der Menschheit nach, ein und derselbe Christus, Sohn, Herr, Einziggeborener, in zwei Naturen unvermischt (asynchýtôs), unverwandelt (atréptôs), ungeteilt (adiairétôs) und ungetrennt (achôrístôs) erkennbar; niemals wird der Unterschied der Naturen aufgehoben der Einigung wegen; vielmehr wird die Eigentümlichkeit jeder der beiden Naturen bewahrt, auch im Zusammenkommen zu einer Person und einer Hypostase; nicht geteilt oder getrennt in zwei Personen, sondern ein und derselbe einziggeborene Sohn, Gott, Logos, der Herr Jesus Christus, wie schon die Propheten von alters her über Ihn verkündigt haben und Jesus Christus Selbst uns gelehrt hat und wie das Symbol der Väter uns überliefert hat.«27

Damit waren sowohl der Monophysitismus wie auch der Nestorianismus abgewiesen, und man schien sich in dieser Frage28 einig zu sein. Ab 452 war die Formel von Chalkedon Reichsgesetz. Die Einigkeit hielt aber nur bis zum Tod Markians. Die Entwicklung der folgenden hundert Jahre brachte im Osten, auch bei den Befürwortern der Beschlüsse von Chalkedon, eine neue Interpretation der hier angenommenen Glaubensformel, eine Interpretation, die der Westen nie wirklich zur Kenntnis genommen hat; zu verschieden waren die gesellschaftlichen Verhältnisse in beiden Teilen des römischen Reiches. Im östlichen Reichsteil waren die Mönche, die Kyrill verehrten und denen das Bekenntnis zur Gottheit Christi unabdingbar war, zu einer politischen Macht herangewachsen. Als der Tod von Kaiser Markian 457 in Ägypten bekannt wurde, erhoben sich die ägyptischen Mönche, ermordeten den von Markian eingesetzten, flüchtenden Patriarchen Proterius und setzten einen Monophysiten, Timotheos II. Ailouros (457– 477), an seine Stelle. Aber nicht nur in Ägypten, sondern auch in Syrien und Palästina erstarkte die mono- und miaphysitische Opposition,29 die hauptsächlich von den Bewohnern der Klöster, Skiten und Einsiedeleien getragen wurde. In Antiochien wurde der Monophysite Petrus Fullo Patriarch (470–471; 475–477; 485–488), nach ihm der ebenso 27 28

Vgl. Alois Grillmeier, Jesus der Christus Bd. I, S. 754f. Nicht einigen konnte man sich in Bezug auf den sog. Kanon 28, der dem Patriarchat von Konstantinopel als dem ›Neuen Rom‹ die Ehrenstellung unmittelbar nach Rom zubilligte. Der Papst hat diesen Kanon nie angenommen. Dennoch ratifizierte er auf kaiserlichen Druck hin das Konzil als solches. 29 Es ist heute weithin Konsens, den Begriff ›Monophysiten‹ nur noch für Theologen wie Eutyches, Petros Fullo, Severos, Julian von Halikarnass und deren Anhänger zu gebrauchen, für die Gegner von Chalkedon also, welche nach der Vereinigung von Gott und Mensch in Christus nur noch von der einen, göttlichen Natur Christi sprechen wollten. Für die Theologen, die sich zur Miaphyis-Formel Kyrills bekennen und dennoch an der göttlichen und menschlichen Natur der einen Person Christi festhalten, gebraucht man den Begriff ›Miaphysiten«. Doch ist für die Zeit bis Justinian diese Unterscheidung kaum zu vollziehen. Sie ist erst in den Auseinandersetzungen zwischen den Patriarchaten von Alexandrien und Antiochien (576–616) fassbar geworden.

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monophysitische Palladios (490–498) und nach einem Zwischenspiel des Chalkedonensers Flavian (498–512) schließlich der einflussreichste der monophysitischen Patriarchen: Severus (512–518). Die Kaiser versuchten mit mehr oder weniger geeigneten Maßnahmen das Reich zu befrieden und zusammenzuhalten, wobei sie doch immer wieder darauf verfielen, mit Zwangsmaßnahmen der von ihnen jeweils begünstigten Partei einen Vorteil zu verschaffen. So erklärte der Usurpator Basiliskos (475–476) das Konzil von Chalkedon für ungültig und setzte das Konzil von Ephesus 449 erneut in Geltung. Sein Nachfolger Zenon (476–491) entfernte die von seinem Vorgänger eingesetzten monophysitischen Bischöfe dann wieder aus ihren Ämtern, schickte sie in die Verbannung und ersetzte sie durch Befürworter von Chalkedon. Auf diese Weise musste auch Timotheus Ailouros zwei Mal ins Exil. Als er aber 477 starb, weihten seine Anhänger heimlich einen der ihren, Petrus Mongus, zu seinem Nachfolger, so dass in Ägypten ein Schisma entstand und sich zwei ›orthodoxe‹ Kirchen bekämpften. Kaiser Zenon sah schließlich ein, dass Gewaltmaßnahmen nicht weiterhalfen, und nahm sich Palästina zum Vorbild. Hier hatte Patriarch Martyrios von Jerusalem (478–486) um 480 eine Unionsformel in Kraft gesetzt, die sich allein auf die Bekenntnisse von Nikäa 325 und Konstantinopel 381 und die Union von 433 berief und die das bei den Monophysiten und Miaphysiten des Nestorianismus verdächtigte Konzil von Chalkedon sowie den Tomus Leonis gar nicht erwähnte. Nach diesem Vorbild formulierte Patriarch Akakios von Konstantinopel (472–488) im Auftrag des Kaisers das ›Henotikon‹ (482 als kaiserliches Edikt erlassen) für das ganze Reich, in welchem genau wie in der Jerusalemer Formel nur die Bekenntnisse von 325 und 381 und die Union von 433 den Maßstab für die Rechtgläubigkeit bildeten und weder Chalkedon noch der Tomos Leonis erwähnt wurde. Ja, es wurde darin im Gegensatz zum Tomus Leonis gesagt: »Denn wir behaupten, dass dem einen einziggeborenen Sohn Gottes sowohl die Wunder zugehören als auch die Leiden, die Er freiwillig im Fleisch ertrug. Denn mit denen, welche trennen oder vermischen oder einen Scheinleib einführen, sind wir in keiner Weise einverstanden.«30

Hier wird also die ›Communicatio idiomatum‹, die Papst Leo der Große in seinem Tomos verkündet hatte, als ›Trennung der Natur in Christus‹ verstanden und als häretisch abgelehnt. Papst Felix II. (483–492) wurde das Henotikon nicht offiziell mitgeteilt; er erhielt auf Umwegen Kenntnis und schickte daraufhin in seiner Selbstüberschätzung Legaten nach Konstantinopel, die Akakios vor ein päpstliches Gericht nach Rom zitieren sollten. Als man in Konstantinopel darauf nicht reagierte, 30

Alois Grillmeier, Jesus der Christus Bd. II/1, Freiburg i.Br. 1986, S. 286, Abschnitt 7.

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ließ er im Sommer 484 auf einer römischen Synode von 77 Bischöfen Akakios und mit diesem die ganze östliche Reichskirche verurteilen, was zeigt, wie weit man in Rom vom Geschehen im Osten entfernt war. So entstand ein Schisma zwischen Ost und West, das bis 518 dauerte und das ›Schisma des Akakios‹ genannt wird, aber weder im Osten noch im Westen die Situation wesentlich veränderte. Das Henotikon hätte mit mehr Zeit und Geduld möglicherweise das östliche Reich befrieden können, wenn nicht Kaiser Anastasios (491– 518), ein Illyrer und Sympathisant der Monophysiten, Gefallen an dem mit seinen Mönchen aus einem palästinensischen Kloster vertriebenen Abt Severus gefunden, diesen an seinem Hof festgehalten und ihm erlaubt hätte, ein Gutachten, den Typos, zu erstellen, in welchem das Chalkedonense und der Tomos Leonis verflucht werden, weil sie – angeblich – im Widerspruch zur Theologie Kyrills stünden. In einer Disputation darüber zwischen Severus und dem Patriarchen Makedonius von Konstantinopel (495–511) unterlag letzterer, wurde abgesetzt und in die Verbannung geschickt. Der Erfolg des Severus ermutigte diesen zu weiteren Vorstößen: Auf einer Synode von Sidon versuchte er, gemeinsam mit Philoxenos von Mabug, den Typos von allen Bischöfen unterschreiben zu lassen. Da Flavian II. von Antiochien (505–513) und Elias von Jerusalem (493–516) sich weigerten, wurde das Klima weiter aufgeheizt. In Antiochien entstanden Tumulte, geschürt durch monophysitische Mönche, was dem Kaiser den Vorwand gab, Flavian abzusetzen und nach Petra zu verbannen. Sein Nachfolger wurde Severus, der kurz nach seiner Weihe eine Synode einberief, auf der er die Glaubensformel von Chalkedon und den Tomos Leonis feierlich verurteilte. Als die Nachricht davon nach Jerusalem kam, nahmen die Mönche unter Sabbas, dem Geheiligten, und Theodosios, dem Koinobiten, samt Patriarch Elias dagegen Stellung. Patriarch Elias wurde abgesetzt und verbannt, sein Nachfolger Patriarch Johannes, der sich ebensowenig fügte, wurde gefangen nach Caesarea gebracht. Ihm wurde das Versprechen abgenommen, mit Severus Gemeinschaft zu halten, wenn man ihn nach Jerusalem zurückkehren lasse. Als er jedoch in Jerusalem, von Sabbas und Theodosius in die Mitte genommen, vors Volk trat, verurteilte er die ›Häresie‹ des Severus. Einen erneuten Absetzungsbefehl und eine Verbannung konnte der Kaiser nicht mehr ausführen, da er, von den Ostgoten bedrängt, sich mit Kriegsvorbereitungen beschäftigte und dann bereits 518 starb. Kaiser Justin I. (518–527) sowie sein Neffe Justinian I. (527–565), welcher von Anfang an die religiösen Angelegenheiten für seinen Onkel übernahm, ließen das Henotikon fallen und kehrten zu den Vereinbarungen des Konzils von Chalkedon zurück. Sie erreichten, dass bereits im März 519 das Schisma mit Rom beendet wurde, wobei nicht

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nur die Hierarchen, die das Henotikon und den Typos unterschrieben hatten, abgesetzt wurden und in die Wüste oder ins Gebirge flohen, sondern auch die Kaiser Zenon und Anastasios aus den Diptychen (den Fürbittetafeln) gestrichen wurden. Severus verbarg sich anfänglich in ägyptischen Klöstern und organisierte von da seine Kirche im Untergrund. Später war es Justinians Gattin Theodora, die in ihrem Palast die monophysitischen Hierarchen vor den Gerichten versteckte, dies vermutlich nicht ohne Billigung Justinians, der zwar ein überzeugter Chalkedonenser war, aber die religiöse Ausrichtung seiner Frau respektierte31 und, um die Einheit seines Reiches bemüht, spätestens ab 531 nicht mehr primär auf Repression, sondern auf Gespräche mit den Gegnern der Zweinaturenlehre setzte, auch wenn diese zunächst nicht sonderlich erfolgreich waren. Umso erfolgreicher war Theodoras Unterstützung der Monophysiten. Als ein arabischer Fürst sich mit der Bitte an sie wandte, ihm für sein Volk einen Bischof zu senden, bat sie Theodosius I. von Alexandrien (535–566), zwei Bischöfe zu weihen, von denen der eine für die Araber bestimmt war, der andere, Jakob Baradai, als Wanderprediger durch Ägypten und Syrien zog, monophysitische Priester weihte und auf diese Weise sowohl Vater der Jakobiten in Syrien wie auch Organisator der Kopten in Ägypten wurde. Dies verschaffte der monophysitische Opposition einen gewaltigen Aufschwung. Justinian plante nun ein Konzil, in welchem durch eine eindeutige Verurteilung des Nestorianismus den monophysitischen und miaphysitischen Anhängern Kyrills glaubhaft gezeigt werden sollte, dass die Zweinaturenlehre von Chalkedon nichts mit der nestorianischen Häresie zu tun habe und auch für die, welche die nestorianische Christologie ablehnten, akzeptabel sei. Als Vorgabe für ein solches Konzil erließ Justinian 543/44 ein Dekret, in welchen er die sog. ›Drei Kapitel‹, nämlich Werk und Person von Theodor von Mopsuestia (ca. 350–428), die Schriften Theodorets gegen Kyrill und den Brief eines Anonymus (Ibas von Edessa) an den Perser Maris, verurteilte.32 Doch die Bischö31

Theodora stammte aus einer Schaustellerfamilie in Konstantinopel und folgte in jungen Jahren einem Freier nach Alexandrien. Von diesem fallen gelassen, musste sie sich als Prostituierte auf dem Heimweg nach Konstantinopel durchschlagen, wobei ihr offenbar auch monophysitische Mönche weiterhalfen, denen sie ihr Leben lang dankbar war. Später bezeichnet sie den oppositionellen Patriarchen Timotheus III. von Alexandrien (518–535) als ihren geistlichen Vater. Nach Theodoras Rückkehr in ihre Vaterstadt verliebte sich Justinian leidenschaftlich in sie, konnte sie aber erst heiraten, nachdem seine Stiefmutter, die Kaiserin Euphemia, gestorben war. Er war ihr bis zu ihrem Tod (548) liebend ergeben. 32 Sein Ratgeber in dieser Angelegenheit war ein Origenist, Theodor Askidas von Caesarea/Kappadokien, der, wohl im Wissen, dass es Origenes selbst nicht treffe, die Verurteilung der Origenisten unterschrieben hatte, nun aber von dieser Sache abzulenken suchte, dadurch dass er durch seinen großen Einfluss auf den Kaiser

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fe von Illyrien verweigerten die Unterschrift und auch viele Bischöfe der Kirchen im Westen empfanden Justinians Dekret als Verrat an Chalkedon und baten den Papst Vigilius, der gerade auf der Reise von Sizilien aus über Illyrien und Griechenland nach Konstantinopel war (Nov. 545 – Jan. 547),33 der Verurteilung nicht zuzustimmen. Als Vigilius in Konstantinopel ankam, exkommunizierte er sogleich den dortigen Patriarchen Menas (536–552) und alle, die das Dekret unterzeichnet hatten. Am 11. April 548 teilte er Patriarch Menas von Konstantinopel in einem Dokument, dem sog. ›Iudicium‹, mit, dass er die drei Kapitel Justinians verdamme, ihnen also nicht zustimmen werde. So kam es abermals zu einem Schisma zwischen West und Ost. Doch auf Druck von Theodora versöhnten sich die Parteien nach einem halben Jahr wieder und Vigilius nahm das ›Iudicium‹ zurück,34 stimmte in Briefen an Theodora und an Justinian der Verurteilung der ›Drei Kapitel‹ zu und versprach auch selbst daraufhin zu arbeiten, allerdings unter dem Vorbehalt der Geltung von Chalkedon. Im Juni 551, nach Theodoras Tod, versuchte Justinian nochmals mit einem Edikt (der ›Confessio fidei‹) die Sache des Konzils voranzubringen. Auch gegen dieses Edikt stellte sich Vigilius mit der Drohung, dass jeder, der dieses Edikt unterschreibe, von ihm und Datius, dem Metropoliten von Mailand, exkommuniziert werde. Und er verurteilte auch gleich den Patriarchen Menas und den Überbringer des Edikts, Theodor Askidas.35 Da er sich nun im Palast des Apokrisiars (der Gesandtschaft von Päpsten oder Patriarchen) mit seiner Entourage (12 Bischöfen und einer großen Anzahl Klerikern) nicht mehr sicher fühlte, begab sich die römische Delegation ins Kirchenasyl, zunächst in die Kirche Peter und Paul im Homisdas-Palast, dann nach Chalkedon in die Basilika der Euphemia. Unter diesen Umständen sah Justinian keine Möglichkeit mehr, ein ökumenisches Konzil durchzuführen; er zwang Menas und Theodor Askidas, sich vom Papst den Frieden zu erbitten und sich ihm zu unterwerfen. Vigilius zog mit seinen Leuten in den Palast des Apokrisiars zurück. Zehn Monate hatte das Schisma gedauert.36 Als Patriarch Menas starb, übernahm Eutychios (552–565 und 577–582) das Patriarchat Konstantinopel und versprach, mit Vigilius zusammendie Verurteilung der sog. ›Drei Kapitel‹ initiierte und durchsetzte. Vgl. Alois Grillmeier, Jesus der Christus Bd. II/2, S. 439–441. 33 Nach Alois Grillmeier, Jesus der Christus Bd. II/2, S. 446. war es Theodora (sic!), die dem in Italien siegreichen Feldherrn Justinians, Belisar, den Befehl gab, Papst Vigilius in Gewahrsam zu nehmen und mit einer Militäreskorte zum Konzil nach Konstantinopel zu schicken. 34 Alois Grillmeier, Jesus der Christus Bd. II/2, S. 446f. Wohlmuth, Dekrete der ökumenischen Konzilien, S. 105. 35 Hans-Georg Beck, Geschichte der orthodoxen Kirche im byzantinischen Reich, in: Die Kirche in ihrer Geschichte. Ein Handbuch Bd. I/D, Göttingen 1980, S. D28. 36 Ebd., sowie: Alois Grillmeier, Jesus der Christus Bd. II/2, S. 446ff.

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zuarbeiten. Nun war Vigilius mit der Übernahme des Vorsitzes im Konzil einverstanden. Da aber Justinian dem Wunsch des Papstes, das Konzil in Sizilien oder Italien abzuhalten und den westlichen Minoritäten einen erleichterten Wahlmodus zu verschaffen, nicht gewährte, blieb er dann doch dem Konzil fern, entschuldigte sich mit Krankheit und versprach, eine schriftliche Stellungnahme (ein ›Constitutum‹) zu liefern, die – wohl gezielt – erst einen Tag nach der Beschlussfassung eintraf.37 Dieses Constitutum verurteilte zwar 60 Sätze von Theodor von Mopsuestia, aber ohne Schlüsse daraus für dessen Person zu ziehen. Theodoret und Ibas verurteilte der Papst nicht, da sie im Frieden mit der Kirche gestorben seien. Schließlich wurde das Konzil am 5. Mai 553 eröffnet; es dauerte bis zum 2. Juni 553 und ging als das Fünfte Ökumenische Konzil von 553 in die Geschichte ein. Den Vorsitz führten die östlichen Patriarchen gemeinsam. Wie von Justinian und Theodor Askidas geplant, wurde die Verurteilung der drei Kapitel auf dem Konzil angenommen und mit 160 Unterschriften gutgeheißen.38 Aber Papst Vigilius und 16 Bischöfe unterschrieben nicht und anerkannten das Konzil zunächst nicht. Erst in einem Schreiben vom 8. Dezember 553 an Patriarch Eutychios von Konstantinopel nahm der Papst das Konzil an.39 Interessant und bedeutsam ist dieses Konzil durch seine Abweichungen vom Tomos Leonis und den Beschlüssen von Chalkedon, sowohl in der ›sententia‹ (Beschlussfassung) wie auch in den angefügten 14 Anathematismen (Verurteilungen). Es verrät eine neue Sicht der Zweinaturenlehre von Chalkedon: a) Zwar wird auch jetzt an den zwei Naturen und Wesenheiten in Christus streng festgehalten, aber die Aktivität hinsichtlich des Heilswerkes Christi geht allein von der göttlichen Natur aus, wobei diese der menschlichen Natur Anteil an den eigenen Gütern, nicht aber an der eigenen Wesenheit (ousia und physis) gibt.40 b) Es wird in diesen Dokumenten eine klare Unterscheidung zwischen ›ousia‹ und ›physis‹ (Wesenheit und Natur) einerseits und ›hypostasis‹ und ›prosôpon‹ (Substanz und Person) andererseits vorgenommen.41 c) Es wird unterschieden zwischen einer Einigung der Naturen Christi in Bezug auf die Wesenheit und ihrer Einigung in Bezug auf die Hypostase. Die erstgenannte Einigung führt zum Monophy37 38

Der Papst fürchtete offenbar, überstimmt zu werden. Vgl. die ›sententia‹, Wohlmuth, Dekrete der ökumenischen Konzilien, S. 107– 113. 39 Wohlmuth, Dekrete der ökumenischen Konzilien, S. 105. 40 Vgl. Wohlmuth, Dekrete der ökumenischen Konzilien: Sententia S.110f. und Anathematismos 9 und 14, S. 118 und S. 121f. 41 Anath. 4–8; vgl. Wohlmuth, Dekrete der ökumenischen Konzilien, S. 115–118.

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sitismus, d.h. sie leugnet letztlich das wahre Menschsein Christi und hat nur Seine Gottheit im Blick. Die Einigung bezüglich der Hypostase dagegen lässt die zwei Naturen in Christus unvermischt und ungeschieden als Realität begreifen. Denn diese Einigung ›katà sýnthesin‹ (durch Zusammensetzung) führt weder zu einer Vermischung noch zu einer Trennung der Naturen.42 d) Es gibt eine richtige und eine falsche Interpretation der MiaPhysis-Formel Kyrills: Wenn man die ›mia physis‹ in Bezug auf die Wesenheit versteht, denkt man monophysitisch und leugnet damit die wahre Menschwerdung des Logos Gottes. Wenn man – wie Kyrill zugestanden wird – die Formel in Bezug auf die Hypostase versteht, kann sie zum rechten Verständnis Christi beitragen.43 e) Die personale, hypostatische Einigung zwischen Gott und Mensch innerhalb der Person Jesu Christi geschieht durch die Menschwerdung des Logos Gottes aus dem Heiligen Geist und der Jungfrau Maria, indem der göttliche Logos den Menschen in Sich hineingenommen, ›enhypostasiert‹, hat.44 f) Den theologischen Grund, warum der Nestorianismus verurteilt werden musste, deutet das Anathem 10 an: »Wenn jemand nicht bekennt, dass der im Fleisch gekreuzigte, unser Herr Jesus Christus, wahrer Gott und Herr der Herrlichkeit und Einer der Heiligen Dreiheit ist: ein solcher sei mit dem Anathem belegt.«45 Es geht also darum, dass das Heilsgeschehen zunichtegemacht wird, wenn nur ein Mensch, und nicht Gott Selbst, am Kreuz gestorben ist. Fragen wir zum Schluss: Was hat das Fünfte Ökumenische Konzil 553 gebracht? Es hat weder die Probleme mit den Monophysiten noch mit den Nestorianern im östlichen Kaiserreich gelöst. Die Monophysiten ließen sich nicht von der Richtigkeit von Chalkedon überzeugen: Sie sonderten 42 43

Anath. 4; vgl. Wohlmuth, Dekrete der ökumenischen Konzilien, S. 115. Anath. 8; vgl. Wohlmuth, Dekrete der ökumenischen Konzilien, S. 117f., und Sententia, S. 110 und 113. 44 Anath. 3 und 9; vgl. Wohlmuth, Dekrete der ökumenischen Konzilien, S. 114 und 118. Daraus folgt, dass zu jeder Wesenheit eine Hypostase gehört, aber nicht jede Wesenheit eine selbständige Hypostase sein muss. Diese Erkenntnis verdanken Justinian und das Konzil einer Gruppe von Theologen (wie z.B. Johannes Grammatikos aus Caesarea/Paläst.; Johannes von Skythopolis, genannt Johannes Scholastikos; Abt und Apokrisiar Leontios von Jerusalem; Patriarch Ephraim von Antiochien), die in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts den Begriff der ›enhypostasis‹ gegenüber den Severianern ausgearbeitet haben, um deutlich zu machen, dass bei der Menschwerdung des Göttlichen Logos dieser die Menschheit Jesu in Sich aufgenommen hat, so dass aus beiden nur eine Hypostase oder Person entstanden ist, wir also zu Recht nicht zwei Personen in Christus erkennen und verehren. Vgl. Alois Grillmeier, Jesus der Christus Bd. II/2, S. 66–69 und 297–304. 45 Anath 10; Wohlmuth, Dekrete der ökumenischen Konzilien, S. 118.

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sich sowohl in Ägypten wie in Palästina und Syrien immer mehr von der Reichskirche ab. Die Schule der Nestorianer in Edessa war nach ihrer von den Monophysiten erzwungenen Aufhebung (437) in Nisibis (Persien) mit der Unterstützung des dortigen Bischofs Bar Sauma (gest. ca. 495) neu aufgebaut worden und konnte sich so dem Zugriff der Reichssynoden und der oströmischen Kaiser entziehen.46 Dazu kam, dass das Vorgehen Justinians gegenüber dem Papst und den westlichen Diözesen das im Vierten Ökumenischen Konzil zwischen Ost und West Erreichte hinfällig werden ließ. Papst Vigilius beugte sich nur formal den Beschlüssen von Konstantinopel; inhaltlich blieb er beim Tomos Leonis und bei der ›communicatio idiomatum‹ von Chalkedon, während der Osten Chalkedon von nun an immer von den Beschlüssen der Sententia und der Anathematismen von 553 her verstand. Man kann diese östliche Sicht mit dem Schlagwort ›Neuchalkedonismus‹47 bezeichnen; besser ist es jedoch, die konkreten Unterschiede zum Tomos Leonis und zum Horos von 451 zu benennen: – Für das orthodox-byzantinische Verständnis von Chalkedon ist kennzeichnend, dass sowohl die Zwei-Naturenlehre als auch Kyrills Miaphysis-Formel anerkannt werden; und dies, obwohl man weiß, dass Letztere nicht – wie Kyrill glaubte – von Athanasius stammt, sondern von Apollinaris von Laodicea und ursprünglich einen anderen Sinn hatte, als Kyrill schließlich angenommen hat. – Es ist wesentlich, die richtige Interpretation der Einigung von Gottheit und Menschheit in Christus festzuhalten: Christus ist eine Einheit nicht in Bezug auf die Wesenheit und Natur, sondern in Bezug auf die Hypostase, d.h. die Person. – Die Aktivität hinsichtlich der Vereinigung von Gott und Mensch in Christus geht immer von der göttlichen Natur aus; es ist also die Hypostase des Logos Gottes, die die Menschheit in sich aufnimmt (›enhypostasiert‹). 46

Bereits 484 auf der Synode von Bet Lapat hatte sich die Ostsyrische Kirche von der Reichskirche getrennt und sich zum Nestorianismus bekannt; vgl. dazu Alois Grillmeier, Jesus der Christus Bd. II/3, Freiburg i.Br. 2002, S. 248–272; Friedhelm Winkelmann, Die östlichen Kirchen in der Epoche der christologischen Auseinandersetzungen in: Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen I/6, hg. von G. Händler, K. Meier und J. Rogge, 2. Aufl. Berlin 1983, S. 125–128. 47 Der Begriff erscheint erst 1909 bei Joseph Lebon und wird von manchen Theologen abgelehnt. Er charakterisiert die Theologie einiger Chalkedonenser der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts (darunter auch Kaiser Justinian), die, obwohl sie an der Zweinaturenlehre von Chalkedon festhielten, auch Kyrills ›Miaphysis-Formel‹ akzeptierten und anstelle der ›communicatio idiomatum‹ betonten, dass die Aktivität der Beziehung zwischen Gottheit und Menschheit in Christus immer von der göttlichen Wesenheit und Natur ausgeht, so dass man sagen muss, dass Gott Selbst für uns Mensch geworden und am Kreuz gestorben ist. Vgl. dazu auch Alois Grillmeier, Jesus der Christus Bd. II/2, S. 478–484 und Bd. II/3, S. 119–127; 135– 158; 163–168.

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– Die göttliche Natur verwandelt Sich nicht, sondern bleibt, was Sie ist, auch wenn Sie das Fremde, Veränderliche in Sich aufgenommen hat und dieses gemeinsam mit Ihr verehrt werden muss. – Letztlich zielt alles auf die theopas’chitische Formel: Gott Selbst ist Mensch geworden und hat am Kreuz gelitten, obwohl Er als Gott der Leidensunfähige bleibt. Es ist das Verdienst Justinians, auf diesem Sachverhalt insistiert zu haben. Und wo stehen wir heute in Bezug auf diese Auseinandersetzungen? Die westlichen Kirchen haben, noch immer unhinterfragt, in ihrem Glaubensgut den Tomos Leonis und die Communicatio idiomatum von Chalkedon. Die griechischen und slawischen Kirchen, die aus der byzantinischen Reichskirche hervorgegangen sind und sich bisher exklusiv als die ›Orthodoxen Kirchen‹ verstanden haben, sind bei ihrer neuchalkedonischen Interpretation geblieben und halten nach wie vor an ihrer Verurteilung der ›monophysitischen‹ und ›nestorianischen‹ Theologen fest. Sie müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass sie heute in unserer westlichen Welt nicht mehr die einzigen östlichen Kirchen sind, die orthodox zu sein beanspruchen. Durch die Flüchtlingsströme aus dem Osten und aus dem Süden kommen gegenwärtig auch Kirchen zunehmend in den Blick, die bis dahin in unserer Gesellschaft kaum bekannte Minderheiten darstellten (Armenier, Kopten, Äthiopier, Eriträer, Ostsyrer: Chaldäer, Assyrer, Aramäer48) und in Bezug auf ihre Theologie vernachlässigt wurden. Auch sie beanspruchen nun vernehmbar, mit ihren miaphysitischen oder dyophysitischen Interpretationen der Menschwerdung Gottes rechtgläubig, also orthodox, zu sein. So ergibt sich für die christlichen Kirchen weithin die Notwendigkeit, über die rechte (die ›orthodoxe‹) Glaubenslehre neu nachzudenken und dabei nicht nur die je eigene Konfession im Blick zu haben. Die Ökumenische Bewegung, die in den letzten hundert Jahren 48

›Chaldäer‹ werden die mit Rom Unierten Ostsyrer genannt, deren Patriarchat in Bagdad ist. ›Assyrer‹ die über Urima ins Kurdengebiet gelangten Nestorianer, deren Patriarch (früher Katholikos) 1933 in die USA flüchtete, seit 1940 in Chicago und ab 1960 in San Franzisko seinen Sitz hatte. Er wurde 1975 ermordet. Sein Nachfolger hat seinen Sitz in Chicago und einen Zweitsitz im Nordirak, wo wohl noch Reste nestorianischer Christen leben. ›Aramäer‹ nennen sich die ostsyrischen Miaphysiten, die auf dem Gebiet der ostsyrischen Assyrer leben oder gelebt haben. Vgl. C. Detlef G. Müller, Geschichte der orientalischen Nationalkirchen, in: Die Kirche in ihrer Geschichte. Ein Handbuch, hg. v. Bernd Moeller, Band I, D2, Göttlingen 1981, S. 294–311; Wilhelm Baum / Dietmar W. Winkler, Die apostolische Kirche des Ostens. Die Geschichte der sog. Nestorianer, Klagenfurt 2000; Martin Tamke, Christen in der islamischen Welt von Mohamed bis zur Gegenwart, Beck’sche Reihe, München 2008, S. 87–90; Christian Lange / Karl Pinggéra (Hg.), Die altorientalischen Kirchen. Glaube und Geschichte, WBG Darmstadt 2010; Alois Grillmeier, Jesus der Christus im Glauben der Kirche, Bd. 2,4 Freiburg i.Br. 1990, S. 170–398.

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gewachsen ist und neben Zustimmung auch viel Kritik und Ablehnung erfahren hat, weil man zu schnell ›eins sein‹ wollte, ist heute für das friedliche Zusammenleben in unserer multikulturellen Gesellschaft unabdingbar geworden, denn sie ermöglicht, dass sich fern stehende Kulturen in christlichem Geist mit Verständnis und Rücksichtsnahme begegnen. Dabei drängt sich im Zusammenhang mit unserer Betrachtung der ersten fünf Ökumenischen Konzile die Erkenntnis auf, dass die Thesen, über die man sich im 5./6. Jahrhundert nicht einigen konnte, auch heute noch umstritten sind. Zwar ist man in mancher Hinsicht vorsichtiger geworden und bemüht sich, den jeweiligen Gesprächspartner ernst zu nehmen und nicht zu überfahren. Dies ermöglicht, dass man auch dort, wo man sich nicht oder nur teilweise einigt, mit Respekt und gegenseitiger Zuneigung auseinandergehen kann. Beispiele mögen das veranschaulichen: I.) Schon am 29. Juli 1967 erarbeitete eine Studiengruppe von hochrangigen östlichen und ortientalisch-orthodoxen Theologen49 eine gemeinsame Stellungnahme zu Händen ihrer kirchlichen Gremien, die, obwohl offiziell bis heute nicht approbiert, eine Gemeinsamkeit feststellt, die für weitere Gespräche wegweisend sein müsste. Darin wird gesagt: »Seit dem fünften Jahrhundert haben wir verschiedene Formulierungen gebraucht, um unseren gemeinsamen Glauben an den Einen Herrn Jesus Chrsitus, den vollkommenen Gott und vollkommenen Menschen, auszudrücken. Einige von uns bekennen so zwei Naturen, Willen und Energien, die hypostatisch in dem Einen Herrn Jesus Christus vereint sind. Einige von uns bekennen eine gemeinsame, gottmenschliche Natur, Willen und Energie in demselben Christus. Aber beide Seiten sprechen von einer Einheit ohne Vermischung, ohne Änderung, ohne Teilung, ohne Trennung. Diese vier Eigenschaften gehören zu unserer gemeinsamen Tradition. Beide bekennen wir die dynamische Permanenz von Gottheit und Menschheit, mit all ihren natürlichen Eigenschaften und Möglichkeiten in dem einen Christus. Jene, die die Termina ›zwei‹ benutzen, wollen dadurch weder teilen noch trennen. Jene, die die Termina (Bezeichnung) ›eins‹ benutzen, wollen dadurch weder vermischen noch vermengen. Das ›ohne Teilung, ohne Trennung‹ jener, die sagen ›zwei‹, und das ›ohne Vermischung und ohne Änderung‹ jener, die sagen ›eins‹, muss besonders unterstrichen werden, damit wir einander verstehen.«50

49

U.a. gehörten ihr von orthodoxer Seite an: Florovskij, Meyendorff, Nissiotis, Damaskinos Papandreou; von östlich-orthodoxer Seite: Khella, Samuel, Paul Varghese. 50 Vgl. Nikolaus Thon, Quellenbuch zur Geschichte der Orthodoxen Kirche, Sophia Bd. 23, Trier 1983, S. 530–533: Gemeinsame Stellungnahme der Studiengruppe der östlichen und orientalischen orthodoxen Theologen in Bristol am 29. Juli 1967.

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Doch die offiziellen Kontakte zwischen der byzantinisch-orthodoxen Kirche und den orientalisch-orthodoxen Kirchen begannen erst 1985 in Chambésy/Genf und wurden durch eine gemeinsame Erklärung im ägyptischen Kloster Amba Bishoy im Juni 1989 verabschiedet, in welcher die Formel Kyrills ›mia physis tou Theou sesarkomenou/ê‹ dahingehend interpretiert wird, dass ›physis‹ hier im Sinne von ›Hypostasis‹ (Person) verstanden werden muss. Ein Jahr später einigte man sich dann auf eine gemeinsame Verurteilung von Eutyches und Nestorius und empfahl die Aufhebung der gegenseitigen Anathemata, die die Kirchen trennen. Doch zu einer panorthodoxen Rezeption der Ergebnisse der Gespräche ist es bisher noch nicht gekommen. Zwar wurde zwischen der Griechisch-Orthodoxen Kirche Patriarchat Antiochien und der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien schon 1991 eine pastorale Übereinkunft geschlossen, die den Austausch von Studenten und Professoren, gemeinsame Synoden, eine pastorale Zusammenarbeit und für die Gläubigen die Möglichkeit vorsah, in beiden Kirchen die Sakramente zu empfangen. Ebenso haben 2001 das Griechisch-Orthodoxe Patriarchat Alexandrien und die Koptisch-Orthodoxe Kirche eine ›pastorale Übereinkunft‹ unterzeichnet, die konfessionsverschiedenen Partnern den Zugang zu allen Sakramenten in beiden Kirchen ermöglicht.51 II. Dass solche Gespräche auch Auswirkungen auf das Selbstverständis der Kirchen haben, verdeutlicht die ›Gemeinsame Erklärung der Patriarchen der Orientalisch-Orthodoxen Kirchen im Mittleren Osten‹,52 die im koptischen Kloster Amba Bishoy 1998 verabschiedet wurde. Als Grundlage des gemeinsamen apostolischen Glaubens werden genannt: das Alte und Neue Testament, die drei Ökumenischen Konzile von Nikäa (325), Konstantinopel (381), Ephesus (431/33) und die Lehren der Kirchenväter Kyrill von Alexandrien, Gregorios des Erleuchters, Dioskoros von Alexandrien, Mar Philoxenes von Mabbugh, Mar Jakob Baradeus und des hl. Nerses, des Gnädigen. Gemeinsame Basis stellt der Glaubenssatz des hl. Kyrill ›mia physis tou Theou sesarkomenou/ê‹ sowie das Bekenntnis zu Maria als der Theotokos dar.

51

Vgl. Johannes Oeldemann, Orthodoxe Kirchen im ökumenischen Dialog. Positionen, Probleme, Perspektiven, Paderborn 2004, S. 53–58. 52 Unterzeichnet haben diese Erklärung vor anderen: Papst Schenuda III. von Alexandrien, Patriarch Mar Ignatius Zakka I., Patriarch von Antiochien und dem ganzen Osten, Katholikos Aram I. von Armenien. Text bei Athanasios Basdekis, Orthodoxe Kirche und Ökumenische Bewegung: Dokumente – Erklärungen – Berichte 1900–2006, Frankfurt a.M. 2006, S. 693–697.

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Verworfen werden die Lehren des Arios, Sabellios, Apollinarios, Makedonios, Paulus von Samosata, Diodor von Tarsus, Theodor von Mopsuestia, Nestorius, Eutyches und all derer, die diesen folgen. Das bedeutet, dass diese Kirchen, die sich als eine Familie der orientalisch-orthodoxen Kirchen im mittleren Osten verstehen53, sich auf das Henotikon des Kaisers Zenon zurückgezogen haben. Chalkedon wird nicht namentlich erwähnt. Wohl aber wird versucht, Missverständnisse in Bezug auf die Kyrillische Formel abzuwehren, und es werden die vier chalkedonensischen Epitata aufgenommen und akzeptiert. So wird im 4. Abschnitt präzisierend ausgeführt: »Wir glauben, dass unser Herr Jesus Christus, der Logos, Sohn Gottes in Seiner eigenen Person kam. Er nahm nicht Menschengestalt an, sondern durch hypostatische Union nahm Er Selbst volle und makellose menschliche Natur an, vernunftgemäße Seele und Leib, ohne Sünde, von der heiligen Jungfrau Maria durch den Heiligen Geist. Er machte Seine eigene Menschheit zu einer fleischgewordenen Natur und einer fleischgewordenen Hypostase mit Seiner Göttlichkeit gerade in dem Augenblick der Menschwerdung durch die wahre natürliche und hypostatische Union. Seine Göttlichkeit trennte sich nicht von Seiner Menschheit, selbst nur für einen Augenblick oder einen Augenaufschlag. Diese Union ist über alle Beschreibung und Wahrnehmung erhaben. Wenn wir von der ›einen menschgewordenen Natur des Wortes Gottes‹ sprechen, meinen wir nicht Seine Göttlichkeit oder Seine Menschheit allein, d.h. eine einzige Natur, sondern wir sprechen von einem vereinten göttlich-menschlichen Wesen in Christus ohne Änderung, ohne Vermischung, ohne Vermengung, ohne Spaltung und ohne Trennung. Die Eigentümlichkeiten jeder Natur werden nicht verändert oder zerstört aufgrund der Union; die Naturen werden voneinander nur in Gedanken, ›tê theoria mónê‹, unterschieden.«54

Wir fragen: Haben mit dieser Erklärung die orientalischen-monophysitischen Kirchen wieder in die Glaubensgemeinschaft des altkirchlich-byzantinischen Reiches zurückgefunden und durch die Hintertüre, trotz des Rückgriffes auf das Henotikon Zenons, doch noch Chalkedon mit seinen vier Kennworten anerkannt? Der zweitletzte Satz des zitierten Abschnittes könnte darauf hinweisen. Was aber besagt der letzte Halbsatz? Was bedeutet die Aussage, dass die Naturen nur bezüglich der Theorie unterschieden seien? Entspricht der Unterscheidung keine Realität? Und was besagt der Satz: ›Er machte Seine eigene Menschheit zu einer fleischgewordenen Natur und einer fleischgewordenen Hypostase mit Seiner Göttlichkeit‹? Ist nicht die Göttlichkeit die Hypostase, in die die menschliche Natur aufgenommen wird? Und wie ist 53

Gemeinsame Erklärung der Patriarchen der Orientalisch-Orthodoxen Kirchen Abschnitt 5 und 7, bei Basdekis, Orthodoxe Kirche und Ökumenische Bewegung, S. 695f. 54 Ebd. Abschnitt 4, S. 695.

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der Sachverhalt einzuschätzen, dass Dioskur, der infolge seiner auf der Räubersynode von Ephesus (449) geübten Gewalt doch wohl zu Recht in Chalkedon verurteilt wurde, als Kirchenvater propagiert wird? Die Antwort muss einstweilen offen bleiben; allenfalls ergibt sich durch weitere Vereinbarungen dieser Kirchen im ökumenischen Rahmen in der Zukunft etwas mehr Klarheit. III. Ein erster Schritt zur Klärung der genannten Fragen findet sich in der einvernehmliche Stellungnahme zur Christologie zwischen der Anglikanischen und den Orientalisch-Orthodoxen Kirchen, die nach langjährigen Vorarbeiten in Etschniadzin (Armenien) im November 2002 zu einem Abschluss kam.55 Deutlich und präzise ist hier das Bekenntnis zur Einheit aus zwei Naturen in Christus, wenn gesagt wird: »Gottes Sohn nahm Fleisch an, vollkommen in Seiner Gottheit und vollkommen in Seiner Menschheit, wesensgleich mit dem Vater gemäß Seiner Gottheit und wesensgleich mit uns gemäß Seiner Menschheit. Denn es ist eine Einheit aus zwei Naturen gebildet worden. Aus diesem Grund bekennen wir einen Christus, einen Sohn und einen Herrn.«56

Bemerkenswert ist denn auch, dass das Bekenntnis zu Kyrills ›Miaphysis-Formel‹ mit den vier bestimmenden Vokabeln des Chalkedonense verbunden und daraus der Titel ›Theotokos‹ für Maria abgeleitet wird: »Die Lehre unseres gemeinsamen Vaters, des heiligen Kyrill von Alexandrien folgend, können wir gemeinsam bekennen, dass in der einen fleischgewordenen Natur des Wortes Gottes weiterhin zwei verschiedene Naturen existieren: ungetrennt, ungeteilt, unverwandelt und unvermischt. In Übereinstimmung mit dieser Bedeutung der unvermischten Einheit bekennen wir, dass die heilige Jungfrau Gottesgebärerin ist, weil Gott, das Wort, Fleisch geworden ist und Mensch wurde und von der Empfängnis an genau jene vollkommene Menschheit ohne Sünde mit sich vereinte, die Er von ihr nahm.«57

Diese Sicht ermöglicht nun für die bisherigen Miaphysiten eine neue Toleranz gegenüber denen, die in Bezug auf Christus von zwei Naturen sprechen; aber auch für die, welche immer schon Chalkedonenser waren, eröffnet sich eine Möglichkeit, auch das Reden von einer Natur in Christus anzuerkennen, und dies im Bewusstsein, dass Gott mit unserem Reden und Denken ohnehin nicht erfassbar ist:

55

Abgedruckt in: Dokumente wachsender Übereinstimmung Bd. 4, (2001–2010), hg. von Johannes Oeldemann / Friederike Nüssel / Uwe Swarat / Athenasios Vletsis, Paderborn/Leipzig 2012, S. 288–293. 56 Dokumente wachsender Übereinstimmung Bd. 4, S. 289, Absatz Nr. 1. 57 Dokumente wachsender Übereinstimmung Bd. 4, S. 289, Absatz Nr. 2–3.

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XI. Die altkirchlichen Ökumenischen Konzile »... diejenigen unter uns, die von zwei Naturen in Christus sprechen, [sind] in diesem, ihrem Tun, gerechtfertigt, weil sie hiermit nicht deren ungetrennte und ungeteilte Vereinigung leugnen; ähnlich sind diejenigen unter uns, die von einer einzigen fleischgewordenen [Natur] des Wortes Gottes sprechen, in diesem, ihrem Tun gerechtfertigt, weil sie damit nicht die dauernde dynamische Gegenwart des Göttlichen und Menschlichen in Christus ohne Wandel und Vermischung leugnen. Wir wissen um die Grenze jedes theologischen Redens und der philosophischen Terminologie, denen es sich bedient und bedient hat.«58

Dennoch wird von beiden Gesprächspartnern sowohl die Irrlehre des Nestorius wie auch die des Eutyches zurückgewiesen, wobei sich die Anglikaner auf Aussagen von Richard Hooker (16. Jh.) berufen.59 Etwas klarer wird nun auch, was gemeint ist, wenn gesagt wurde, die Unterscheidung der Naturen in Christus geschehe nur ›in der Theorie‹, ›tê theoria mónê‹: »Die Vereinigung der Naturen ist wesentlich, hypostatisch, real und vollkommen. Die Naturen sind allein in unserem Geist gedanklich getrennt. Derjenige, der will und handelt, ist stets die eine Hypostase des fleischgewordenen Logos mit einem einzigen personalen Willen.«60

Es geht hier also darum, klarzustellen, dass es immer die Gottheit ist, die bei allem Tun und Lassen des fleischgewordenen Logos Gottes die Initiative hat, auch was Seinen Tod am Kreuz betrifft. Das war bisher nicht so deutlich gesagt worden, obwohl dies gerade für die Kirchen, denen es wesentlich um die Gottheit Christi geht, von Bedeutung ist. Schließlich wird die Sorge der Orientalisch-Orthodoxen Kirchen hinsichtlich der Assyrischen Kirche des Ostens zur Sprache gebracht, veranlasst durch einen Bericht von der Lambert-Konferenz 1998 über eine Einigung der Anglikaner mit den Assyrern, welche »die Lehren Diodors von Tarsus, des Theodor von Mopsuestia und des Nestorius als orthodox betrachten und sie daher in den Liturgien ihrer Kirche verehren«.61

Von den Anglikanern wird jedoch betont, dass darüber nie eine einvernehmliche Stellungnahme verabschiedet worden sei, und sie bitten die kommenden Lambeth-Konferenzen, die Sorge der OrientalischOrthodoxen Kirchen in künftigen Gesprächen zu berücksichtigen.62 58 59

Dokumente wachsender Übereinstimmung Bd. 4, S. 289, Absatz Nr. 4. Dokumente wachsender Übereinstimmung Bd. 4, S. 290, Absatz Nr. 5. Von Diodor von Tarsus und Theodor von Mopsuestia ist in diesem Zusammenhang nicht die Rede. 60 Dokumente wachsender Übereinstimmung Bd. 4, S. 290f. Absatz Nr. 7. 61 Dokumente wachsender Übereinstimmung Bd. 4, S. 291, Absatz Nr. 9. 62 Ebd. Zu beachten ist, dass hinsichtlich Diodor und Theodor auch jetzt nicht eine einvernehmliche Stellungnahme vorgelegt wird, sondern lediglich dem

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IV. Im Dialog zwischen den Orientalisch-Orthodoxen Kirchen und der Römisch-katholischen Kirche stand zunächst die Ekklesiologie im Vordergrund. So wurde im Jahr 2009 eine ausführliche gemeinsame Stellungnahme zu Wesen, Verfassung und Sendung der Kirche Jesu Christi von einer Gemeinsamen Kommission dieser Kirchen63 im koptischen Kloster Amba Bishoy verabschiedet. Für unseren Zusammenhang sind vier Momente darin besonders interessant: 1.) Die Grundlegung der Ekklesiologie umfasst gemäß dieser Stellungnahme: »das Bekenntnis zum Apostolischen Glauben, wie er in der Tradition gelebt und in der Heiligen Schrift zum Ausdruck gebracht wird, die ersten drei Ökumenischen Konzile (Nikäa 325 – Konstantinopel 381 – Ephesus 431) und das Nikäno-Konstantinopolitanische Glaubensbekenntnis [Anm. als Fußnote: »in der griechischen Originalversion«]; sie glauben an Jesus Christus, das inkarnierte Wort Gottes, der als ein- und derselbe wahrer Gott und wahrer Mensch ist; sie verehren die heilige Jungfrau Maria als Mutter Gottes (theotokos); sie feiern die sieben Sakramente (Taufe, Firmung/Myronsalbung, Eucharistie, Buße/Versöhnung, Ordination; Ehe und Krankensalbung); sie betrachten die Taufe als heilsnotwendig; bezüglich der Eucharistie glauben sie, dass Brot und Wein der wahre Leib und das wahre Blut Christi werden; sie glauben, dass das ordinierte Amt durch die Bischöfe in apostolischer Sukzession weitergegeben wird; bezüglich des wahren Wesens der Kirche bekennen sie zusammen ihren Glauben an die ›eine, heilige, katholische und apostolische Kirche‹ gemäß dem Nikäno-Konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnis.«64

2.) Auch hier wird also Chalkedon nicht genannt, und es wird römisch-katholischerseits auf das ›Filioque‹ verzichtet. Genannt wird die Siebenzahl der Sakramente mit nachfolgender Nennung im Einzelnen in der Form, wie sie auch die orientalischen Kirchen kennen. Nichts gesagt wird über den Zeitpunkt, zu dem die Wandlung von Brot und Wein geschieht. Nach dieser zusammenfassenden Einleitung wird sogleich zum Wesen der Kirche als der ›einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche‹ übergegangen.

Wunsch einer Rücksichtnahme auf die Sorgen des einen Gesprächspartners Ausdruck gegeben wird, was auch bedeutet, dass in dieser Angelegenheit weitere Gespräche notwendig sind. 63 Äthiopisch-Orthodoxe Kirche; Armenisch-Apostolische Kirche Katholikat Etschmiadzin und Katholikat Kilikien; Eritreische Orthodoxe Kirche; Koptische Orthodoxe Kirche; Malankarische-Orthodoxe Syrische Kirche; Syrisch-Orthodoxe Kirche von Antiochien; Röm.-katholische Kirche. 64 Dokumente wachsender Übereinstimmung Bd. 4, S. 850, Absatz Nr. 5.

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3.) Zur Einheit der Kirche wird gesagt: »Die unentbehrlichen Bande der Einheit der Kirche werden gewährleistet durch das Bekenntnis des einen von den Aposteln empfangenen Glaubens, die gemeinsame Feier der Sakramente und die apostolische Sukzession durch das Sakrament der heiligen Weihen.«65

Und es wird im nächsten Abschnitt zugefügt: »Die Kirche hat niemals die Einheit, die zu ihrem Wesen gehört, verloren, selbst wenn die Christen durch viele Spaltungen getrennt worden sind und ihr Verständnis dieser Einheit unterschiedlich sein mag. Die Christen sollten deshalb die Verpflichtung haben, auf das Gebet des Herrn Jesus, ›dass alle eins seien‹ (Joh 17,21), die angemessene Antwort zu geben und die zerrissenen Bande unter ihnen wiederherzustellen.«66

Denn: »Die Christen haben eine von Gott gegebene Verpflichtung, die Wiederherstellung der vollen und sichtbaren Einheit untereinander voranzubringen. Die Katholische Kirche und die Orientalisch-Orthodoxen Kirchen beten weiter für die Einheit der Christen, sowohl in ihren Gebetsgottesdiensten als auch in ihrer Feier der Liturgie.«67

4.) Diese sichtbare, volle Einheit ist ein Ziel, das noch in der Ferne liegt: »Volle Gemeinschaft umfasst und erfordert die Einheit im Glauben, in den Sakramenten und im apostolischen Amt. Die Einheit der Kirche sollte daher sichergestellt werden durch sichtbare Bande der Gemeinschaft; dazu gehören das Bekenntnis des von den Aposteln empfangenen Glaubens, die gemeinsame Feier der Sakramente, insbesondere der Eucharistie, und die Ausübung des apostolischen Amtes.«68

Daher sind weitere Annäherungen und Verständigungen nötig: »Die Katholische Kirche verwendet in Bezug auf andere Christen aufgrund der vielen mit ihnen gemeinsamen Elementen die Formulierungen ›reale, aber unvollkommene Gemeinschaft‹ und ›Stufen der Gemeinschaft‹. Diese ekklesiologischen Aussagen bedürfen für die orientalisch-orthodoxen Christen weiterer Erklärungen. Die Orientalisch-Orthodoxen Kirchen, die miteinander in voller Gemeinschaft im Glauben und in den Sakramenten stehen, bezeichnen ihre Einheit mit dem Begriff ›Familie von Kirchen‹. Was diese Art und Weise über die Gemeinschaft von Kirchen nachzudenken, inhaltlich meint, wird für Katholiken weiterer Erläuterung bedürfen. Volle Gemeinschaft ist das letzte Ziel der ökumenischen Arbeit aller unserer Kirchen.«69 65 66 67 68 69

Dokumente wachsender Übereinstimmung Bd. 4, S. 853, Absatz Nr. 15. Dokumente wachsender Übereinstimmung Bd. 4, S. 853, Absatz Nr. 16. Dokumente wachsender Übereinstimmung Bd. 4, S. 855, Absatz Nr. 25. Dokumente wachsender Übereinstimmung Bd. 4, S. 855, Absatz Nr. 23. Dokumente wachsender Übereinstimmung Bd. 4, S. 855f., Absatz Nr. 26.

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5.) Mit aller Deutlichkeit wird darauf hingewiesen, dass für die Katholische Kirche auch die Einmütigkeit im Petrusamt zur vollen Einheit gehört, während die Orientalisch-Orthodoxen Kirchen ihr kirchliches Leben unabhängig voneinander gestalten, wobei die wesentlichen Elemente der Glaubenslehre allen gemeinsam ist.70 In Bezug auf diese wird gesagt: »Die Katholische Kirche und die Orientalisch-Orthodoxen Kirchen nehmen gemeinsam die Definitionen und Entscheidungen der ersten drei Ökumenischen Konzile (Nikäa 325 – Konstantinopel 381 – Ephesus 431) an. Einige der Definitionen hinsichtlich der Lehre oder der Entscheidungen bezüglich der Disziplin gehören aus beidseitiger Sicht tatsächlich zum gemeinsamen Leben unserer Kirchen (z.B. die Verurteilung der Häresie des Eutyches), andere nicht71 ... Um die Fragen zu klären, die mit den Ökumenischen Konzilen zusammenhängen, plant unsere Kommission weiteres Studium zu Fragen, wie der nach den Kriterien zur Feststellung Ökumenischer Konzile [als ökumenischer], der Zahl der Ökumenischen Konzile, der Autorität von Konzilen für Kirchen, die an ihnen nicht teilgenommen haben, dem verpflichtenden Charakter der Kanones und Anathemata, die aus den früheren Konzilen stammen (einschießlich der lokalen und regionalen Konzile), der Methode zur Behebung von Streitpunkten bezüglich der konziliaren Definitionen, die uns herkömmlicherweise getrennt haben.«72

In diesem Zusammenhang muss auch über die Rezeption von Konzilsentscheidungen nachgedacht werden: »Die Rezeption konziliarer Entscheidungen ist Teil des synodal/konziliaren Prozesses, der die gesamte Christengemeinde in die Kanonsbildung miteinbeziehen will ... Der Rezeptionsprozess kann nicht von Einzelpersonen oder Autoritäten in Absonderung geleistet werden; er muss eine Tat der Gemeinschaft sein, welche die gesamte Christengemeinde zusammen mit ihren Hirten einschließt.«73

Es besteht kein Zweifel: Mit dieser Stellungnahme liegt ein theologisch beachtliches Konzept für das weitere Vorgehen auf dem Weg zur sichtbaren Einheit der Kirchen vor, und dieses ist, trotz des zur Rezeption der konziliaren Entscheide Gesagte, wesentlich römisch-katholisch geprägt. Denn diese sichtbare Einheit der Kirchen wird nicht an der gegenseitigen Liebe, Hilfsbereitschaft, Respektierung und Achtung der unterschiedlichen Glaubenswege festgemacht, sondern an den übereinstimmenden kirchenrechtlichen Verhältnissen (Glaubensaussagen, 70 71

Dokumente wachsender Übereinstimmung Bd. 4, S. 862f., Absatz Nr. 53. Nestorius, dessen Verurteilung sonst immer mit derjenigen des Eutyches zusammen genannt wird, wird hier nicht erwähnt, was doch wohl heißt, dass die Katholische Kirche den Dyophysitismus nicht ohne weitere Überlegungen verurteilen kann. 72 Dokumente wachsender Übereinstimmung Bd. 4, S. 863, Absatz Nr. 54. 73 Dokumente wachsender Übereinstimmung Bd. 4, S. 863, Absatz Nr. 55.

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Kanones und am Amtsverständis). So wird auch der Weg zur Anerkennung des römisch verstandenen Petrusamtes dadurch vorbereitet, dass die Partnerkirchen von Seiten Roms darauf festgelegt werden, dass ihre Ersthierarchen (Patriarch, Katholikos) die Befugnis haben sollen, über die Bischöfe hinweg in die Verwaltung der Diözesen einzugreifen, was logischerweise gegebenenfalls auch dem Nachfolger Petri als einem gemeinsamen Ersthierarch zugestanden werden müsste. V. Die Assyrische Kirche, die nach der Aufhebung der Schule von Edessa 437/9 im Perserreich Zuflucht gefunden hatte und bereits 484/86 die Lehre von Theodor von Mopsuestia zu ihrer dogmatischen Grundlage machte, war zwar seit 1948 Mitglied im ÖRK, aber dennoch weitgehend isoliert, auch weil sie während des Zweiten Weltkriegs vieler ihrer Kleriker und Lehrer beraubt war.74 Doch 1978 iniziierten anlässlich eines persönlichen Zusammentreffens Papst Johannes Paul II. und der Katholikos Mar Dinkla IV. einen Dialog zwischen der Römisch-katholischen Kirche und der Assyrischen Kirche, der von 1984–1994 dauerte und zu einer ›Gemeinsamen Erklärung‹ führte, in der u.a. gesagt wird: »... Daher ist unser Herr Jesus Christus wahrer Gott und wahrer Mensch, vollkommen in Seiner Gottheit und vollkommen in Seiner Menschheit, gleichen Wesens mit dem Vater und gleichen Wesens mit uns allen – außer der Sünde. Seine Gottheit und Seine Menschheit sind in einer Person vereint, ohne Vermischung, ohne Teilung und ohne Trennung. In Ihm wurde die Unterschiedlichkeit der göttlichen und der menschlichen Natur mit all ihren Eigenschaften, Fähigkeiten und Wirkungsweisen gewahrt. Doch weit davon entfernt, ›einer und zugleich ein anderer‹ zu sein, sind Gottheit und Menschheit in der Person des gleichen und einzigen Sohnes Gottes und Herrn Jesus Christus geeint, der das Ziel einer einzigen Anbetung ist. Christus ist daher kein ›gewöhnlicher Mensch‹, den Gott adoptiert hat, um in ihm zu wohnen und ihn zu inspirieren, wie Er es in den Gerechten und Propheten getan hat. Doch das gleiche göttliche Wort, von Seinem Vater gezeugt vor aller Zeit, ohne Anfang in Seiner Gottheit, wurde in der Endzeit in Bezug auf Seine Menschheit von einer Mutter ohne Vater geboren. Die menschliche Natur, die die Jungfrau Maria geboren hat, war immer die des Sohnes Gottes Selbst. Dies ist der Grund, warum die Assyrische Kirche des Ostens die Jungfrau Maria als ›Mutter Christi, unseres Gottes und Herrn‹ verehrt. Im Licht dieses gleichen Glaubens wendet sich die katholische Tradition an die Jungfrau Maria als die ›Mutter Gottes‹ und ebenso als die ›Mutter Christi‹. Wir erkennen beide die Berechtigung und Richtigkeit dieser Ausdrucksformen des gleichen Glaubens an, und wir achten beide, was die einzelne Kirche jeweils in ihrem liturgischen Leben und in ihrer Frömmigkeit bevorzugt ...«75

74

Ditmar W. Winkler, Die altorientalischen Kirchen im ökumenischen Dialog der Gegenwart, in: Lange/Pinggéra, Die altorientalischen Kirchen, S. 89–122, bes. S. 114. 75 Winkler, Die altorientalischen Kirchen, S. 115.

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Diese sympathische großzügige Zulassung verschiedener Ausdrucksweisen für ein- und denselben Sachverhalt erscheint vernünftig und zeugt vom Wissen um das Unvermögen, das Göttliche in menschliche Begriffe zu fassen. Sie reduziert aber auch das Problem der Verehrung der Gottesgebärerin auf eine bloß sprachliche Ebene und sagt nichts zur Frage der Berechtigung von Anrufungen und Gebeten zur menschlichen ›Mutter Christi‹, um die es den Nestorianern in ihrer Ablehnung des Theotokostitels auch ganz wesentlich ging. Auf ähnliche Weise wird in einer zweiten Arbeitsphase zu den Sakramenten auch das Problem der ›sieben Sakramente‹ gehandhabt: Von einer Siebenzahl ist hier zwar nicht die Rede, aber die römisch-katholischen ›Sakramente‹ werden im Einzelnen benannt und in Bezug auf sie eine Übereinstimmung der Gesprächspartner festgestellt, obwohl bei den Assyrern nicht alle dieser kirchlichen Handlungen unter die ›Mysterien‹ (›raze‹) gerechnet werden.76 Diesem Sachverhalt ist man nicht vertieft nachgegangen. 2002 war die Erklärung zu den Sakramenten abgeschlossen und wurde 2004 von der Römisch-Katholischen Glaubenskongregation gebilligt, nicht jedoch von Seiten der Assyrer. Vielmehr wurde der assyrische Bischof Mar Bawai Soro, der an dieser Erklärung maßgeblich beteiligt gewesen war, aufgrund seiner ›prokatholischen Ansichten‹ im August 2005 von Patriarch/Katholikos Mar Dinkla und dessen Synode seines Amtes enthoben und als Folge davon trat im Mai 2008 der Großteil von Mar Soros’ Diözese zur mit Rom unierten ›Chaldäischen Kirche‹ über.77 So brachte dieser Einigungsversuch eine erneute Kirchenspaltung. VI. Bereits 1994 hatte die römisch-katholische Wiener Stiftung ›Pro Oriente‹ Vertreter aller Kirchen syrischer Tradition aus dem Nahen Osten, Europa, den USA und Indien zu einem Glaubensgespräch eingeladen. In einer ersten Phase bis 1997 suchte man die Christologie im historischen Kontext aufzuarbeiten und kam zu einigen Klärungen. Als gemeinsame Grundlage wird im Schlussdokument das Bekenntnis von Nikäa (325) genannt. Man sah aber auch die Möglichkeit, aufgrund des Konzils von Ephesus (431/3) zu einer weitergehenden Übereinstimmung zu kommen. Dabei ergab sich allerdings die Notwendigkeit, zwischen den häretischen Lehren und den anathematisierten Personen zu unterscheiden, wobei zu berücksichtigen ist, dass die verurteilten ›Häretiker‹, wie beispielsweise Nestorius oder Theodor von Mopsuestia oder Dioskoros oder Severus, in ihrer Kirche als große Heilige und anerkannte Kirchenlehrer verehrt werden, was die Diskussion zusätzlich schwierig macht. Eine weitere Schwierigkeit, zu einer Einigung der verschiedenen syrischen Kirchen auf der Ebene der Christologie zu 76 77

Beispielsweise nicht die Eheschließung und die Krankensalbung. Winkler, Die altorientalischen Kirchen, S. 116f.

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kommen, sah man insbesondere in der bisherigen Gleichsetzung von ›qnoma‹ mit ›hypostasis‹, eine Erkenntnis, die wegweisenden Charakter hatte. Auch in Bezug auf die kirchlichen Dienste kam es zu einer Bestandsaufnahme. Hinsichtlich der von den Kirchen in ihren Gottesdiensten verwendeten Formulare ergab sich eine ungeahnte Vielfalt. Unter diesen stellt die Liturgie von ›Addai und Mari‹, die bei den Assyrern eine der am häufigsten verwendeten Liturgieformulare ist, einen Sonderfall dar, da in ihr die Einsetzungsworte fehlen. Aber auch sie wurde als eine ursprüngliche authentische Anaphora anerkannt, was für die Römisch-katholische Kirche letztlich kein geringes Problem darstellen dürfte.78 Nachdem man sich dann von 2000–2004 auch mit der Sakramentenund Ämterlehre beschäftigt hatte, ohne entscheidend weiterzukommen, entschloss man sich 2006 zu einem Paradigmenwechsel, da in Bezug auf die Christologie und die Ekklesiologie die Themen erarbeitet seien und die Ergebnisse jetzt von den Kirchen nur noch rezipiert werden müssten. Um diese Rezeption zu erleichtern, entschied man sich, fortan Themen zu behandeln, die die orientalischen Kirchen gemeinsam betreffen, wie die Begegnung mit anderen Religionen und Kulturen.79 Was ist von diesem Paradigmenwechsel zu halten? Gewiss ist es sinnvoll zu bedenken, dass die theologischen Lehren in den Kirchen nicht gleichsam im luftleeren Raum entstehen, sondern mitbedingt sind durch das, was die Kirchen als kulturelles Erbe und als prägende Begegnungen mit anderen Kulturen durch die Jahrhunderte erlebt haben. Wo dies beachtet wird, mag es helfen, die offiziellen Formulierungen der eigenen Kirche in ihrer Bedingtheit besser einzuschätzen, wie auch dem eigenen Empfinden nicht entsprechende Lehren und Lehrer besser zu verstehen und die Bedeutung ihrer Aussagen genauer zu erfassen. Aber das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass jede Kirchengemeinschaft fester Lehren bedarf, die, auch wenn sie gewisse Schwächen erkennen lassen, doch als Zaun, zusammen mit den Hirten und den Hunden, die Herde vor den Wölfen zu schützen vermögen. Man wird gut daran tun, diese Lehren einer Kirche nicht vorschnell zu Gunsten einer Übereinstimmung mit Kirchen anderer Traditionen auswechseln zu wollen. Denn die wahre Einheit der Christenheit entsteht nicht durch ein vollkommenes, einheitliches, allen Christen gemeinsames Lehrgebäude, sondern durch eine liebende und hingebungsvolle Nachfolge Christi, der Seine Jünger gelehrt hat: »Und ich habe [noch] andere Schafe, die nicht aus diesem Stalle sind, und auch 78

Zur Liturgie von ›Addai und Mari‹ vgl.: Erich Renhart, Liturgie und Spiritualität, in: Lange/Pinggéra, Die altorientalischen Kirchen, S. 129–134. 79 Winkler, Die altorientalischen Kirchen, S. 117–119.

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sie muss ich führen; und sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde sein, ein Hirte.« (Joh 10,16) Was auch immer Christus unter ›diesem Stalle‹ im Blick gehabt haben mag, eines ist sicher: Nicht unsere Bemühungen um gleichlautende Glaubenssätze werden die Einheit mit den fremden Schafen schaffen. Das heißt: Die Einheit in Christus ist nicht etwas, was wir mit unseren Glaubensgesprächen und Auseinandersetzungen zu leisten vermögen, sondern sie geschieht dadurch, dass wir mit Christus, und durch Ihn mit dem Vater, in Liebe eins werden, wie Er dies im Hohenpriesterlichen Gebet vor Seinem Tod (vgl. Joh 17,20–21) von Seinem Vater für uns erbeten hat.80 Daher denke ich, dass das Bild von der ›Familie von Kirchen‹, wie es die Orientalisch-Orthodoxen Kirchen verstehen, dem, was Christus von uns erwartet, angemessener ist als die Rede von einer ›realen, aber unvollkommenen Gemeinschaft‹ oder von ›Stufen der Gemeinschaft‹, die hochzusteigen unsere Aufgabe wäre. Mit anderen Worten: Die Haltung der Orientalisch-Orthodoxen Kirchen, die sich in einem Grundverständnis des Glaubens einig sind, aber dabei auch Differen-zen in Lehre und Praxis der einzelnen Kirchen tolerieren können, ist einem Drängen auf vollkommene Übereinstimmung in Lehre und Praxis der in Gemeinschaft tretenden Kirchen vorzuziehen, weil sie weniger in Gefahr steht, autoritär den Willen der jeweils stärkeren Glaubensrichtung durchzusetzen und damit Gewissen zu verletzen. Denn es gilt einen gewichtigen Sacherhalt in Bezug auf die ersten ökumenischen Konzile der altkirchlichen Zeit wahrzunehmen: Sie waren alle vom Kaiser einberufen und ihr Ergebnis stand von vornherein fest. Es war nicht die Mehrheit oder gar die Einmütigkeit der Konzilsteilnehmer, die das Ergebnis der jeweiligen Versammlung bestimmte, sondern die Meinung des einberufenden Kaisers und seiner Berater. Bischöfe und sogar Päpste und Patriarchen, die das Konzilsergebnis nicht zu unterschreiben bereit waren, wurden ihres Amtes enthoben und in die Verbannung geschickt. Auf diese Weise wurde die Einmütigkeit eines Konzils durch Elimination der Opposition erreicht. Das Ergebnis dieser Methode war jedoch nicht eine Befriedung und Versöhnung des Volkes, sondern – wie wir gesehen haben – Kirchenspaltungen, Entfremdungen und Hass unter den unterschiedlich beeinflussten Volksgruppen. Es dauerte sehr lange, bis sich dies änderte und man zu verstehen begann, dass die von Christus verheißene und gebotene sichtbare Einheit nicht die kirchlichen Strukturen und Kanones im Blick hatte. Wenn ich recht sehe, waren es erst die reformatorischen Kirchen im Westen, die, 80

Das soll keine Absage an ökumenische Glaubensgespräche sein; es fragt sich nur, mit welcher Intention solche geführt werden. Haben sie den Zweck, die Einheit der Christen herbeizuführen, oder sollen sie dazu dienen, sich besser kennenund schätzen zu lernen, und so der Liebe unter entfremdeten Brüdern und Schwestern mehr Raum geben?

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situationsbedingt, eine Wende brachten.81 Durch den Ausgang des Augsburger Reichstages im August 1530 und des Nürnberger Anstandes (des Religionsfriedens) 153282 wurden erstmals im Reich eines christlichen Kaisers zwei unterschiedliche religiöse Bekenntnisse formal anerkannt. Kaiser Karl V. (1519–1556), durch seine Herkunft und Stellung papsttreu,83 war angesichts der Türkengefahr auf die Hilfe und den Zusammenhalt aller seiner Reichsstände angewiesen.84 Diese aber waren gespalten in romtreue und zu Reformen neigende Herrschaften. Beide Parteien hatten ihre Befürworter im Reichsregiment in Nürnberg, das nach Jahren der Schwäche und Untätigkeit 1521 wieder errichtet worden war und die Aufgabe hatte, in Abwesenheit des Kaisers die Regierungsgeschäfte des Reiches zu fühten.85 Da sich nun die papsttreuen Fürstentümer zum Regensburger Konvent zusammengeschlossen hatten, sahen sich die Stände, die eine Reformation der Kirche als notwendig oder wünschenswert erachteten, veranlasst, ihre Position auch durch einen Zusammenschluss, den ›Schmalkaldischen Bund‹, zu stärken. Luther, auf ein solches Bündnis angesprochen, erklärte, dass es zwar Fürsten und Ständen nicht erlaubt sei, ein Bündnis gegen den Kaiser, die höchste weltliche Obrigkeit, zu schließen, dass es aber wohl angehe, sich zu einem reinen Verteidigungsbündnis zusammenzufinden, um sich und das Volk gegen Bedrohungen von außen zu schützen.86 Den Lutheranern kam zudem der Sachverhalt zu Gute, dass auf dem Reichstag zu Speyer 1526 reformatorische Maßnahmen den jeweiligen Landesherren überlassen worden waren bis zum Reichstag von Augsburg 1530, an welchem Kaiser Karl V. selbst über diese Angelegenheit entscheiden wollte,87 wobei aber die Befür81

Die Unterscheidung von Tradition und Traditionen in den Orthodoxen Kirchen des Ostens hat dieselbe Wirkung und beschränkt faktisch auch die gottgewollte sichtbare Einheit der Kirche auf die rechte Verkündigung des Evangeliums und die einsetzungsgemäße Verwaltung der Mysterien. Vgl. dazu Georgij V. Florovskij, Sobornost. Kirche, Bibel, Tradition. Werkausgabe Band 1. Aus dem Englischen übersetzt von Ilija Trojanow. Mit einem Nachwort von Georgios Metallinos, München 1989, S. 87ff.; dazu auch Jon Bria, The sense of ecumenical Tradition. The ecumenical witness and vision of the Orthodox, (WCC Publicatons) Genf 1991, S. 56f. Ob und wieweit diese Sicht auch durch Einflüsse der reformatorischen Theologie mitbedingt ist, kann ich nicht beurteilen. 82 Vgl. dazu Martin Brecht, Martin Luther, Bd. 2: Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521–1532, Stuttgart 1986, S. 387–411; 441. 83 Der spanische Kaiser war ein Zögling von Papst Hadrian VI. (1522–1523). Vgl. Heinrich Bornkamm, Martin Luther in der Mitte seines Lebens. Hg. von Karin Bornkamm, Göttingen 1979, S. 264. 84 Bornkamm, Luther in der Mitte seines Lebens, S. 586–588; Brecht, Luther, Bd. 2, S. 350–355; 406. 85 Bornkamm, Luther in der Mitte seines Lebens, S. 263. 86 Bornkamm, Luther in der Mitte seines Lebens, S. 586–588; Brecht, Luther Bd. 2, S. 340–342; 396–405. 87 Brecht, Luther Bd. 2, S. 342.

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worter von kirchlichen Reformen das Recht zugestanden bekommen hatten, durch eine ›Apologie‹ ihre Position darlegen und verteidigen zu können. Die Fertigstellung einer solchen Rechtfertigungsschrift, die auf Einladung des Kurfürsten Johann von Sachsen vor der Abreise zum Augsburger Reichstag in Torgau durch Luther, Bugenhagen, Justus Jonas, Melanchthon, Agricola und Spalatin hätte beraten werden sollen,88 blieb infolge einer Verspätung der Wittenberger an Melanchthon hängen, der auch dazu bestimmt wurde, sie vor dem Kaiser vorzutragen, da Luther infolge des gegen ihn verhängten Kirchenbannes nur bis zur Coburg mitreisen konnte und aus diesem Versteck heraus den Reichstag verfolgen und seine Freunde beraten sollte.89 Melanchthon aber war ängstlich darum bemüht, dort, wo es um die bisherige kirchliche Praxis ging, um der Wahrung des Friedens willen, die Apologie der Situation anzupassen und soweit, wie nur immer möglich, den Altgläubigen entgegen zu kommen, so als wäre diese Schrift sein eigenes Werk, für dessen laufende Verbesserung er zuständig wäre. Über seine Ängstlichkeit war Luther zwar gelegentlich ungehalten, sprach ihm aber immer wieder Mut und Trost zu und gab dem Dokument, das ihm Kurfürst Johann von Sachsen nach seiner Fertigstellung am 11. Mai zukommen ließ, seinen Segen.90 Zudem erklärte er sich bereit, an ein Konzil zu appellieren, obwohl er, angesichts der Verhältnisse in Rom, der Kurie nicht zutrauen konnte, Recht zu sprechen und wirkliche Reformen einzuleiten.91 Doch auch für ihn standen die Bemühungen um einen äußeren Frieden im Vordergrund.92 Was den endgültigen Text der Confessio Augustana (CA) betrifft, so ist insbesondere der Abschnitt über die Einheit der Kirche für unseren Zusammenhang interessant. Er ist von besonderer Klarheit und lautet in der Endfassung: »7. Von der Kirche. Es wird auch gelehrt, dass allezeit eine heilige, christliche Kirche sein und bleiben müsse, welche die Versammlung aller Gläubigen ist, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut des Evangeliums gereicht werden. Denn dies ist genug zu wahrer Einheit der christlichen Kirche, dass da einträchtig nach reinem Verstand (Verständnis) das Evangelium gepredigt und die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden. Und (es) ist nicht not (nötig) zur wahren Einheit der christli88

Bornkamm, Luther in der Mitte seines Lebens, S. 598; Brecht, Luther Bd. 2, S. 357. 89 Brecht, Luther Bd. 2, S. 359–395. 90 Bornkamm, Luther in der Mitte seines Lebens, S. 598–602; Brecht, Luther Bd. 2, S. 376 und 380–391. Als Antwort auf die Bitte des Kurfürsten, sich dazu zu äußern, antwortete Luther: »... gefällt mir fast (sehr) wohl und weiß nichts dran zu bessern«, »denn ich so sanft und leidse nicht treten kann«; ebd., S. 373. 91 Brecht, Luther Bd. 2, S. 391–394. 92 Brecht, Luther Bd. 2, S. 406–410.

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XI. Die altkirchlichen Ökumenischen Konzile chen Kirche, dass allenthalben gleichförmige Zeremonien, von den Menschen eingesetzt, gehalten werden, wie Paulus spricht zu den Ephesern (Eph 4,5): ›Ein Leib, ein Geist, wie ihr berufen seid zu einerlei Hoffnung eurer Berufung; ein Herr, ein Glaube, eine Taufe.‹«93

Vergleicht man das hier Gesagte mit der Textgestalt, die der Kurfürst am 11. Mai Martin Luther als Entwurf hatte zukommen lassen – sofern der Text dieses Entwurfs zuverlässig überliefert ist, denn er ist nicht mehr im Original, sondern nur noch in einer späteren deutschen Übersetzung vorhanden – und der dann von den Nürnberger Gesandten nach Nürnberg weitergeleitet wurde, so stellt man fest, dass der Grundgedanke derselbe ist, wenn auch sprachlich viel klarer und direkter ausgedrückt als in der Erstfassung, die Luther offenbar gebilligt hat. Diese Erstfassung scheint gelautet zu haben: »Zum 7., dass eine heilige christliche Kirche(e) ewiglich bleiben werd(e). Die Kirch(e) aber ist eine Versammlung der Heiligen, darin das Evangelium gepredigt und die Sakrament(e) gereicht werden. Und zu(r) Einigkeit der Kirchen ist genug, dass man des Evangeliums und der Sakrament halben übereinkomm(e) (sich verständige). Aber dass die Zeremonien und ander(e) menschliche Ordnung allenthalben gleich sei(e)n, ist nicht von Nöten, wie Christus sagt (Lk 17,20): ›Das Reich kommt nicht mit einem Aufsehen‹ (aufsehenerregend). Wiewohl die Kirch(e) – eigentlich zu reden – eine Versammlung der Heiligen und wahrhaften Gläubigen (ist). Jedoch, dieweil in diesem Leben viel Heuchler und Böser darunter sein (sind), mögen wir uns wohl und ohn(e) Gefahr der Sakramente gebrauchen und so (da)durch (als) die Bösen gerecht werden, wie Christus sagt: ›Auf dem Stuhl Mose sitzen Schriftgelehrte und Pharisäer‹. Und (Dennoch) sein (sind) die Sakramente und das Wort kräftig von wegen der Einsetzung und Ordnung Christi, ob sie gleich durch die Bösen werden gehandelt. Hier werden verworfen die Donatisten und andre, die da lehren, man solle keines Bösen Dienst in der Kirchen gebrauchen; das, was er handelt (tue), sei unkräftig (ungültig).«94

Der Grundgedanke, dass die Einheit der Kirche nicht von ihrer Organisation, ihrer hiearchischen und kanonischen Ordnungen und der Heiligkeit ihrer Diener abhängt, hat ihr Vorbild sowohl in den ›Schwabacher Artikeln‹ wie auch in Luthers ›Vom Abendmahl Christi, Bekenntnis‹ (Marburger Artikeln), die beide im Sommer 1528 entstanden sind, wobei die Schwabacher Artikel die Bedingungen für die Aufnahme der vom Zwinglianismus angesteckten süddeutschen Städte

93

Text übernommen aus Bekenntnisse der Kirche. Bekenntnistexte aus zwanzig Jahrhunderten, hg. von Hans Steubing in Zusammenarbeit mit J.F.G. Goeters, H. Karp und E. Mühlhaupt, Wuppertal 1970, S. 42 [Die Klammerausdrücke geben die heute nortwendige sprachliche Anpassung]. Vgl. auch: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Herausgegeben im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession, 3. Aufl. Göttingen 1956, S. 61f. 94 Vgl. Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, a.a.O., S. 61f.

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Straßburg (Martin Bucer) und Ulm (Jakob Sturm) darzulegen versuchten.95 In den Marburger Artikeln sagt Luther gegen die Zwinglianer: »... Demnach glaube ich, dass eine heilige, christliche Kirche auf Erden sei, das ist die Gemeinde und Zahl oder Versammlung aller Christen in aller Welt, die einzige Braut Christi und Sein geistlicher Leib, dessen Er auch das einzige Haupt ist ... Und dieselbe Christenheit ist nicht allein unter der römischen Kirche oder (dem) Papst, sondern in aller Welt ..., so dass die Christenheit also unter (dem) Papst, (unter) Türken, Persern, Tartaren und allenthalben leiblich zerstreuet ist, aber geistlich in einem Evangelium und Glauben unter einem Haupt versammelt, das Jesus Christus ist.«96

In den Schwabacher Artikeln formulierte Luther im 12. Artikel mit aller Deutlichkeit, dass die Einheit der Kirche nicht erst künftig und nicht von uns Menschen geschaffen ist, sondern jetzt schon bleibend präsent und erkennbar ist: »Der Zwölfte [Artikel]: Dass kein Zweifel sei, es sei und bleibe auf Erden eine heilige und christliche Kirch(e) bis an der Welt Ende, wie Christus spricht Matthäus am Letzten (Mt 28,20): ›Siehe, ich bin bei euch bis an der Welt Ende‹. Solch Kirch(e) ist nicht(s) ander(es) denn die Gläubigen an Christo, welche ob(en) genannte Artikel und Stücke halten, glauben und lehren und darum verfolgt und gemartert werden in der Welt. Denn wo das Evangelium gepredigt wird und die Sakramente recht gebraucht, da ist die heilige christliche Kirche und sie ist nicht mit Gesetzen und äußerlicher Pracht an Stätte (an Ort) und Zeit, an Person und Gebärden gebunden.«97

Ziehen wir das Fazit: – Nach Luther und seinen Glaubensgenossen ist die sichtbare Einheit der Kirche nicht eine bloß zukünftige, sondern eine gegenwärtige, wo immer das Evangelium Christi recht gepredigt und die Sakramente (Taufe, Abendmahl) dem Evangelium gemäß gereicht werden. – Diese sichtbare Einheit ging also nie verloren, so dass wir sie wiederfinden müssten. – Sie hängt nicht von synodalen Entscheidungen, kirchlichen Ordnungen und Kanones ab, auch nicht von der Würdigkeit, Rechtgläubigkeit und Fähigkeit der den Glauben vermittelnden Diener Gottes.98 95 96

Bornkamm, Luther in der Mitte seines Lebens, S. 583–585. Luther Deutsch, Der Kampf um die reine Lehre, hg. von Kurt Aland, Bd. 4, Stuttgart/Göttingen 1964, S. 314f.; vgl. auch: Bekenntnisschriften der evangelischlutherischen Kirche, a.a.O., S. 61, Anm. 1. 97 Vgl. Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, a.a.O., S. 61f. 98 Das sehen die Reformierten Bekenntnisschriften anders. Sie verpflichten die Gläubigen zu allen kirchlichen Geboten, die, von Christus angeordnet, überliefert

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– Sie muss von uns nicht mittels Glaubensgesprächen erarbeitet werden, sondern ist in Jesus Christus ein Geschenk Gottes. Das macht nun allerdings die Glaubensgespräche nicht überflüssig, sondern gibt ihnen einen neuen Sinn, der nicht Ausgrenzungen und Elimination von Andersdenkenden zum Ziel hat, sondern uns veranlasst, auf die Bekenner Christi, die ihrem Glauben auf uns ungewohnte Weise zum Ausdruck bringen, zuzugehen und die uns ermöglicht, ihnen mit Wohlwollen zuzuhören. Diese Gespräche sind damit auch eine Chance, die bereits verloren geglaubte Einheit unter den Christen neu zu entdecken und damit bestätigt zu bekommen, dass die in der Ökumenischen Bewegung unermüdlich unternommenen Versuche, fremden Kirchengemeinschaften näher zu kommen, nicht vergebens sind. Denn es war die Übernahme von Artikel 7 der CA durch die Leuenberger Konkordie (LK),99 die der Ökumenischen Bewegung einen sind. Zwei Beispiele: In der Confessio Helvetica Prior wird die Einheit der Christenheit in der ›Sammlung aller Heiligen‹, der Braut Christi, welche durch die Verkündigung des Evangeliums und durch die äußeren ›Zeichen, Bräuche und Ordnung(en)‹, ›die von Christus Selbst eingesetzt und (an)geordnet sind‹, gesehen, wobei niemand sicher weiß, wer diese wirklich hält und letztlich zu Christus gehört, Gott Selbst habe es ihm denn offenbart (S. 49). Die sichtbare Einheit der Christenheit ist daher hier auf Erden nicht eindeutig feststellbar. Auch nach Calvins Genfer Katechismus von 1542 ist die Kirche die Gemeinschaft mit Jesus Christus und den zum ewigen Leben Auserwählten, die Gott als Frucht des Todes Christi den Gläubigen schenkt. Diese Gemeinschaft ist heilig, weil Gott, was Er erwählt, auch heiligt. Doch die Heiligkeit der Kirche ist hier auf Erden immer unvollkommen, da die Kirche auf Erden eine kämpfende Kirche ist und es bei den Menschen immer Unvollkommenheiten gibt, die erst nach deren Tod durch ihre völlige Vereinigung mit Christus, dem Herrn, der sie erlöst hat, überwunden sein werden. Es gibt zwar sehr wohl jetzt schon eine ›sichtbare Kirche‹, die wir durch die Weisungen Christi erkennen können, aber die wahre Gemeinschaft der Ausewählten, können wir nicht erkennen (S. 308). Das bedeutet: Wir sind auf den Glauben an die Vergebung der Sünden [in der Kirche] angewiesen. Wer sich daher von der Kirche entfernt und sich absondert, kann, solange er sich fernhält, nicht auf das Heil hoffen. Vgl. Confessio Helvetica Prior von 1536, Artikel 14 [15], und Genfer Katechismus von 1542 Abschnitt 99–105, erarbeitet von Ernst Saxer in: Reformierte Bekenntnisschriften, hg. von Heiner Faulenbach und Eberhard Busch, Bd. 1/2 (1535–1549), Neukirchen-Vluyn 2006, S. 49–50 und S. 307–309. 99 Die Leuenberger Konkordie wurde von 1969–1973 auf dem Leuenberg bei Basel unter Vertretern der reformierten und lutherischen Kirchen diskutiert und am 16. März 1973 den reformatorischen Kirchen übergeben. Die vierte Vollversammlung der Leuenberger Kirchengemeinschaft am 9. Mai 1994 hat den endgültigen Text verabschiedet, den alsbald 94 Kirchen übernahmen, die sich zur Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKA) bekannten. Vgl. Leuenberger Kirchengemeinschaft reformatorischer Kirchen in Europa: Die Kirche Jesu Chhristi. Der reformatorische Beitrag zum ökumenischen Dialog über die kirchliche Einheit, Frankfurt a.M. (Lembeck) 3. Aufl. 2001, S. 13–16; Michael Weinrich / Ulrich Möller / Vicco von Bülow / Heike Koch (Hg.), Kirche in Gemeinschaft – Kirchen-

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neuen Aufschwung brachte, dadurch, dass die notwendige Einmütigkeit in einer Gemeinschaft unter Kirchen beschränkt wurde auf die Übereinstimmung hinsichtlich der rechten Verkündigung des Evangeliums und der evangeliumsgemäßen Verwaltung der Sakramente. So heißt es in der LK analog zu CA 7: »Die Kirche ist allein auf Jesus Christus gegründet, der sie durch die Zuwendung Seines Heils in der Verkündigung und in den Sakramenten sammelt und sendet. Nach reformatorischer Einsicht ist darum zur wahren Einheit der Kirche die Übereinstimmung in der rechten Lehre des Evangeliums und in der rechten Verwaltung der Sakramente notwendig und ausreichend.«100

Diese Beschränkung auf Evangeliumsverkündigung und Sakramentsverwaltung als Kriterium für kirchliche Einheit macht zweifellos die Dialoge zwischen den Kirchen nicht einfacher, da es nicht leicht ist, zu bestimmen, wie die rechte Verkündigung des Evangeliums und die evangeliumsgemäße Verwaltung der Sakramente aussieht. Um nur ein Beispiel zu nennen: »Für die LK gehört die gegenseitige Anerkennung der Ordination zu den zentralen Aussagen der Erklärung der Kirchengemeinschaft (LK 33). Dass Christus das Amt eingesetzt hat im Dienste der Wortverkündigung und der Sakramentsverwaltung und dass dieses Amt zum Kirchesein hinzugehört, bedarf der vollen Übereinstimmung [zwischen den Gesprächspartnern]. Aber die besondere Gestalt, sowie die Strukturen des Amtes und der Kirche gehören in den Bereich der legitimen geschichts- und ortsbedingten Vielfalt. Diese Vielfalt stellt die Kirchengemeinschaft nicht in Frage. Sie bedarf jedoch der steten theologischen Überprüfung am Ursprung und an der Bestimmung der Kirche, damit sie eine legitime Verschiedenheit bleibt.«101

Das bedeutet: Wir sind in den ökumenischen Diskussionen stets zurückgeworfen auf den Ursprung der Kirche, d.h. auf Christus Selbst und die Botschaft Seiner unmittelbaren Jünger, die ihr Zeugnis in der Nachfolge ihres Herrn je auf ihre Weise von Generation zu Generation an uns weitergereicht haben. Das eröffnet im Rahmen der Einheit eine Vielfalt, die den einzelnen Gläubigen ermöglicht, selbstverantwortlich ihren Glauben zu leben und nach Vermögen auf je eigene Weise dem einen Herrn, Jesus Christus, nachzufolgen. Denn nur wo die übergreifende Einheit der Freiheit Raum gibt, können Verschiedenheiten und Gemeinsamkeiten in ihrer Bedeutung wahrgenommen werden. Und nur so öffnet sich uns eine Interpretation des christlichen Glaubens, die auch dem Gesprächspartner gerecht zu werden vermag. gemeinschaft? Impulse der Leuenberger Konkordie für die ökumenische Zukunft, Neukirchen-Vluyn 2014, bes. S. 5f. 100 Vgl. Weinrich/Möller/Bülow/Koch, Kirchengemeinschaft, S. 5. 101 Die Kirche Jesu Christi. Der reformatorische Beitrag zum ökumenischen Dialog über die kirchliche Einheit, S. 57.