Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung 9783518748152, 3518748157, 3518748149, 9783518748145

Die »Politik der Straße« hat Hochkonjunktur, wirft aber auch Fragen auf. Sind Versammlungen als Ausdruck der Souveränitä

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Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung
 9783518748152, 3518748157, 3518748149, 9783518748145

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SV

Occupy Wall Street. Gezi-Park, Tahrir, Majdan. Ferguson und Hongkong. Tea Party. Pegida. Die »Politik der Straße« hat Hochkonjunktur, wirft aber auch Fragen auf. Sind solche Versammlungen als Ausdruck der Souveränität des Volkes aus radikaldemokratischer Perspektive zu begrüßen oder geben sie Anlass zur Sorge vor der Herrschaft des »Mobs«? Und wer ist überhaupt »das Volk«? Judith Butler geht den Dynamiken und Taktiken öffentlicher Versammlungen unter den derzeit herrschenden ökonomischen und politischen Bedingungen auf den Grund. In Erweiterung der sprechaktzentrierten Theorie der Performativität und gegen Hannah Arendts »körperlose« Konzeption politischen Handelns unterstreicht sie die Bedeutung der physischen Präsenz kollektiver Akteure im öffentlichen Raum und arbeitet an aktuellen Beispielen die Effekte dieser Ausdrucksdimension heraus sowie die Inklusions- und Exklusionsmechanismen, die dabei am Werk sind. Der kollektive Schrei »Wir sind das Volk!« zieht eben auch eine Grenze und lässt die Frage, wer wirklich das Volk ist, umso deutlicher hervortreten. Fluchtpunkt dieses hochpolitischen Buches ist eine Ethik des gewaltlosen Widerstands in einer gefährdeten Welt, in der die Grundlagen solidarischen Handelns allmählich zerfallen oder zerstört werden. Judith Butler, geboren 1956, ist Maxine Elliot Professor für Komparatistik und kritische Theorie an der University of California, Berkeley. 2012 erhielt sie den Theodor-W.Adorno-Preis der Stadt Frankfurt am Main. Im Suhrkamp Verlag sind zuletzt erschienen: Gefährdetes Leben. Politische Essays (es 2393), Haß spricht. Zur Politik des Performativen (es 2414), Kritik der ethischen Gewalt. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2002 (stw 1792) und Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen (stw 1989).

Judith Butler

Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung Aus dem Amerikanischen von Frank Born

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016 Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016. Titel der Originalausgabe: Notes Toward a Performative Theory of Assembly Die Originalausgabe in englischer Sprache, die dieser Übersetzung zugrunde liegt, erschien erstmals 2015 bei Harvard University Press Copyright © 2015 by the President and Fellows of Harvard College Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2016 © 2015 by the President and Fellows of Harvard College Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinter­ legten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an. Umschlagfoto: picture alliance / AP Photo / Vadim Ghirda Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner eISBN 978-3-518-74815-2 www.suhrkamp.de

Inhalt

Einleitung7 1. Geschlechterpolitik und das Recht zu erscheinen 2. Körperallianzen und die Politik der Straße 3. Gefährdetes Leben und die Ethik der Kohabitation 4. Körperliche Verwundbarkeit, koalitionäre Politik 5. »We the People« – Gedanken zur Versammlungsfreiheit 6. Kann man ein gutes Leben in einem schlechten Leben führen  ?

37 91 133 163 201 249

Anmerkungen281 Danksagungen295 Nachweise297 Register299

Einleitung

Seit dem Auftauchen großer Menschenmengen auf dem Tahrir-Platz in den Wintermonaten des Jahres 2010 ist unter Wissenschaftler / ​innen und Aktivist / ​innen das Interesse an der Form und Wirkung öffentlicher Versammlungen wiedererwacht. Das Thema ist alt und zeitgemäß zugleich. Gruppen, die plötzlich in großer Zahl zusammenkommen, können ebenso eine Quelle der Hoffnung wie der Furcht sein, und so begründet es ist, sich vor den Gefahren der Handlungen des Mobs zu fürchten, gibt es auch gute Gründe dafür, in unvorhersehbaren Versammlungen ein politisches Potenzial zu erkennen. Demokratische Theorien haben »den Mob« in gewisser Weise immer gefürchtet, selbst wenn sie die Wichtigkeit der – auch unkontrollierten – Willensäußerung des Volkes betonten. Es gibt enorm viel Literatur zu diesem Thema, und sie neigt dazu, immer wieder auf so unterschiedliche Autoren wie Edmund Burke und Alexis de Tocqueville zurückzugreifen, die sich recht explizit mit der Frage beschäftigten, ob demokratische staatliche Strukturen ungezügelte Äußerungen der Volkssouveränität überstehen oder ob die Herrschaft des Volkes vielmehr sukzessive in die Tyrannei der Mehrheit übergehen würde. Das vorliegende Buch will diese wichtigen Debatten innerhalb der Demokratietheorie weder aufarbeiten noch beurteilen, sondern lediglich darauf hinweisen, dass Diskussionen über Demonstrationen des Volkes häufig von einer Furcht vor dem Chaos oder von einer radikalen Zukunftshoffnung geleitet sind, wobei Furcht und Hoffnung manchmal 7

auf komplexe Weise ineinander verschachtelt sein können. Ich nenne diese wiederkehrenden Spannungen innerhalb der demokratischen Theorie, um gleich zu Beginn auf ein gewisses Missverhältnis zwischen der politischen Form der Demokratie und dem Prinzip der Volkssouveränität hinzuweisen. Es handelt sich dabei um zwei verschiedene Dinge, und es ist wichtig, sie auseinanderzuhalten, wenn man verstehen will, wie Willensbekundungen des Volkes eine bestimmte politische Form in Frage stellen können, zumal eine, die sich als demokratisch bezeichnet, auch wenn diese Selbstcharakterisierung von ihren Kritiker / ​innen bezweifelt wird. Das Prinzip ist einfach und wohlbekannt, doch die Annahmen dahinter bleiben irritierend. Wir könnten die Hoffnung aufgeben, zu einer Entscheidung über die richtige Form der Demokratie zu kommen, und einfach deren Polysemie konzedieren. Wenn wir sagen, dass Demokratien aus all jenen Formen bestehen, die sich demokratisch nennen oder regelmäßig so genannt werden, dann nehmen wir eine gewisse nominalistische Haltung gegenüber der Angelegenheit ein. Wenn jedoch als demokratisch geltende politische Ordnungen von einem versammelten oder organisierten Kollektiv in eine Krise gestürzt werden, das von sich behauptet, den Volkswillen zu repräsentieren, für das Volk und gleichzeitig für die Aussicht auf eine echtere und substanziellere Demokratie zu stehen, dann entbrennt ein offener Streit über die Bedeutung der Demokratie, der nicht unbedingt mit Bedacht und Überlegung geführt wird. Ohne darüber zu urteilen, welche Versammlungen des Volkes »wahrhaft« demokratisch sind und welche nicht, lässt sich von vornherein feststellen, dass der Kampf um den Begriff »Demokratie« mehrere politi8

sche Situationen entscheidend prägt. Wie wir diesen Kampf bezeichnen, scheint von entscheidender Bedeutung zu sein, wenn man bedenkt, dass ein und dieselbe Bewegung mal als antidemokratisch, ja sogar terroristisch, und bei anderer Gelegenheit oder in einem anderen Zusammenhang als der Versuch des Volkes gesehen werden kann, eine offenere und substanziellere Demokratie zu verwirklichen. Das Blatt kann sich hier sehr schnell wenden, und wenn strategische Bündnisse es erforderlich machen, eine bestimmte Gruppe im einen Fall als »terroristisch« und in einem anderen als »demokratische Verbündete« zu betrachten, erkennen wir, dass »Demokratie« nicht nur als Bezeichnung verstanden werden kann, sondern sich auch mühelos als strategischer Diskursbegriff einsetzen lässt. Neben den Nominalist / ​innen, für die Demokratien jene Regierungsformen sind, die als solche bezeichnet werden, gibt es also offenbar auch Diskursstrateg / ​innen, für die es von Formen des öffentlichen Diskurses, der Vermarktung und der Propaganda abhängt, welche Staaten oder Volksbewegungen als demokratisch bezeichnet werden und welche nicht. Zu sagen, eine demokratische Bewegung sei eine, die als solche bezeichnet wird oder sich selbst so nennt, ist natürlich verlockend, doch es bedeutet, die Demokratie aufzugeben. Zwar gehört Selbstbestimmung zur Demokratie dazu, daraus folgt jedoch nicht automatisch, dass jede Gruppe, die sich selbst als repräsentativ definiert, rechtmäßig von sich behaupten kann, »das Volk« zu sein. Im Januar 2015 behaupteten die offen einwanderungsfeindlichen »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« (Pegida) »Wir sind das Volk« – eine Selbstbenennungspraxis, die genau darauf zielte, muslimische Einwanderer von der gültigen Vor9

stellung der Nation auszuschließen (und zwar indem sie sich des 1989 berühmt gewordenen Ausspruchs bedienten und damit ein dunkleres Licht auf die deutsche »Vereinigung« warfen). Angela Merkels Antwort »Der Islam gehört zu Deutschland« erfolgte ungefähr zur gleichen Zeit, als der Pegida-Vorsitzende zurücktreten musste, nachdem Fotos aufgetaucht waren, auf denen er als Hitler posierte. Eine Auseinandersetzung wie diese wirft auf drastische Weise die Frage auf  : Wer ist »das Volk« denn nun wirklich  ? Und welche Operation der diskursiven Macht definiert »das Volk« zu einem bestimmten Zeitpunkt und zu welchem Zweck  ? »Das Volk« ist keine festgelegte Bevölkerung  ; es wird vielmehr durch die von uns implizit oder explizit gezogenen Grenzlinien konstituiert. Wir können daher – so nötig es auch ist, zu überprüfen, ob eine bestimmte Setzung des »Volkes« inklusiv ist – ausgeschlossene Bevölkerungsteile nur durch eine weitere Grenzziehung kenntlich machen. Besonders problematisch wirkt unter diesen Bedingungen die Selbstkonstitution. Nicht jeder diskursive Versuch einer Festlegung, wer »das Volk« ist, gelingt. Die Behauptung ist oft eine Wette, ein Griff nach der Hegemonie. Wenn sich also eine Gruppe, eine Versammlung oder eine organisierte Kollektivität »das Volk« nennt, dann lenkt sie den Diskurs in eine bestimmte Richtung, macht Annahmen darüber, wer dazugehört und wer nicht, und bezieht sich damit nolens volens auf eine Bevölkerungsgruppe, die nicht »das Volk« ist. Der Kampf um die Entscheidung darüber, wer zum »Volk« dazugehört, kann so heftig werden, dass eine Gruppe ihre Version von »das Volk« in Opposition zu denen bringt, die außerhalb stehen und als bedrohlich für »das Volk« oder als dieser Version des »Volkes« entgegengesetzt erachtet werden. Wir ha10

ben also (a) diejenigen, die versuchen, das Volk zu definieren (eine Gruppe, die viel kleiner ist als das Volk, das sie zu definieren versucht), (b) das im Verlauf dieser diskursiven Wette definierte (und abgegrenzte) Volk, (c) die Menschen, die nicht »das Volk« sind, und (d) diejenigen, die jene letzte Gruppe als Teil des Volkes etablieren wollen. Selbst wenn man sagt, dass »alle« dazugehören und so versucht, eine allumfassende Gruppe zu postulieren, macht man noch implizite Annahmen darüber, wer einbezogen wird  ; es ist folglich fast unmöglich, dem zu entgehen, was Chantal Mouffe und Ernesto Laclau so treffend als »die konstitutive Exklusion« beschrieben haben, die den einzelnen Vorstellungen von Inklusion jeweils zugrunde liegt.1 Der Staatskörper wird als eine Einheit hingestellt, die er niemals sein kann. Dies muss allerdings nicht notwendigerweise ein zynischer Schluss sein. Denjenigen, die im Geiste der Realpolitik der Meinung sind, »das Volk« könne, egal in welcher Zusammensetzung, immer nur partiell sein und man solle diese Partialität daher einfach als eine politische Tatsache hinnehmen, stehen eindeutig diejenigen gegenüber, die versuchen, jene Formen der Exklusion aufzudecken und ihnen entgegenzutreten, und die, obwohl sie wissen, dass es eine vollständige Inklusivität nicht geben kann, den Kampf noch nicht aufgegeben haben. Dafür gibt es mindestens zwei Gründe  : Zum einen werden Exklusionen häufig unwissentlich vorgenommen, das heißt, die Exklusion wird gar nicht als explizites Problem, sondern als der natürliche »Stand der Dinge« angesehen  ; und zweitens ist Inklusivität nicht das einzige Ziel der demokratischen und insbesondere der radikaldemokratischen Politik. Natürlich sind Versionen des »Volkes«, die einen Teil der Menschen ausschließen, nicht inklusiv 11

und daher nicht repräsentativ  ; wahr ist aber auch, dass jede Festlegung von »das Volk« einen Akt der Abgrenzung beinhaltet, mit dem, meist auf Basis der Nationalität oder vor dem Hintergrund des Nationalstaats, eine Linie gezogen wird und diese Linie wird unvermittelt zu einer umstrittenen Grenze. »Das Volk« kann es, mit anderen Worten, nicht geben, ohne dass irgendwo eine diskursive Grenze gezogen wird, die entweder entlang der bestehenden Nationalstaaten, ethnischen oder sprachlichen Gemeinschaften oder politischen Zugehörigkeiten verläuft. Die diskursive Bewegung, mit der »das Volk« in irgendeiner Weise etabliert werden soll, ist eine Bemühung um die Anerkennung einer bestimmten Grenze, ob man darunter nun eine Landesgrenze versteht oder die Grenze jener Klasse von Menschen, die als ein Volk »anerkennbar« sein sollen. Ein Grund, warum Inklusivität nicht das einzige Ziel demokratischer und insbesondere radikaldemokratischer Politik ist, liegt demnach darin, dass diese sich damit auseinandersetzen muss, wer als »das Volk« gilt und wie jene Grenzziehung vorgenommen wird, die in den Vordergrund rückt, wer »das Volk« ist, und die jene Menschen, die nicht dazu zählen, in den Hintergrund drängt, an den Rand schiebt oder dem Vergessen ausliefert. Eine demokratische Politik kann sich nicht damit begnügen, die Anerkennung einfach auf alle Menschen gleichermaßen auszuweiten  ; es geht vielmehr darum zu begreifen, dass es nur durch eine Veränderung des Verhältnisses zwischen den Anerkennbaren und den Nichtanerkennbaren überhaupt möglich ist, (a) Gleichheit zu verstehen und anzustreben und (b) »das Volk« einer weitergehenden Ausarbeitung zugänglich zu machen. Selbst wenn man eine Form der Anerkennung auf alle Menschen ausdehnt, bleibt die Prämisse bestehen, 12

dass weite Teile dennoch nichtanerkennbar bleiben, und dieses Machtgefälle wird mit jeder Erweiterung jener Form von Anerkennung reproduziert. Obwohl die Anerkennung also in gewisser Weise ausgeweitet wird, bleibt das Feld der Nichtanerkennbaren paradoxerweise erhalten und weitet sich entsprechend ebenfalls aus. Die Schlussfolgerung daraus ist, dass solche expliziten und impliziten Formen der Ungleichheit, die manchmal durch fundamentale Kategorien wie Inklusion und Anerkennung reproduziert werden, als Teil eines zeitlich offenen demokratischen Kampfes behandelt werden müssen. Gleiches lässt sich über jene impliziten und expliziten Formen der kontroversen Grenzpolitik sagen, die aus ganz grundlegenden und als selbstverständlich erachteten Formen der Bezugnahme auf das Volk, die Bevölkerung und den Volkswillen erwachsen. Das Wissen um die anhaltende Exklusion zwingt uns praktisch dazu, zum Prozess des Benennens und Umbenennens zurückzukehren und zu rekapitulieren, was wir eigentlich mit »das Volk« meinen und was andere meinen, wenn sie den Begriff ins Feld führen. Das Problem der Grenzziehung schafft eine neue Dimension, denn nicht alle Diskurshandlungen im Zusammenhang mit dem Anerkennen beziehungsweise Verkennen des Volkes sind explizit. Die Funktionsweise ihrer Macht ist in gewissem Maße performativ. Das bedeutet, sie inszenieren bestimmte politische Unterscheidungen – einschließlich Ungleichheit und Exklusion –, ohne sie immer zu benennen. Wenn wir sagen, dass Ungleichheit »effektiv« wiederholt wird, wenn »das Volk« nur teilweise anerkennbar ist, ja sogar, wenn es in einem restriktiv nationalen Sinne »vollständig« anerkennbar ist, dann behaupten wir damit, dass das Postulieren des »Volkes« mehr umfasst als seine bloße Benennung. 13

Der Akt der Abgrenzung geht mit einer performativen Form der Macht einher, die ein fundamentales Problem der Demokratie darstellt, auch – oder gerade – wenn sie deren Schlüsselbegriff (»das Volk«) hervorbringt. Wir könnten durchaus noch länger bei diesem diskursiven Problem verweilen, denn es ist eine stets offene Frage, ob »das Volk« dieselben Menschen sind wie die, die den »Volkswillen« ausdrücken, und ob jene Akte der Selbstbenennung als Selbstbestimmung oder sogar als gültige Willensäußerungen des Volkes gelten können. Mit dem Begriff der Selbstbestimmung ist dann implizit auch die Idee der Volkssouveränität selbst mit im Spiel. So wichtig es auch ist, diese Begrifflichkeiten der Demokratietheorie zu klären – besonders vor dem Hintergrund der jüngsten Debatten um die öffentlichen Versammlungen und Demonstrationen, die wir im Arabischen Frühling, bei der Occupy-Bewegung oder von Gegnern der Prekarisierung gesehen haben – und zu fragen, ob solche Bewegungen als echte oder vielversprechende Beispiele für den Willen des Volkes interpretiert werden können, macht der vorliegende Text den Vorschlag, diese Szenen nicht nur im Hinblick auf die Version des Volkes zu deuten, die sie explizit vertreten, sondern auch in Bezug auf die Machtbeziehungen, durch die sie inszeniert werden.2 Solche Inszenierungen sind unweigerlich kurzlebig, solange sie außerparlamentarisch bleiben  ; und wenn sie neue parlamentarische Formen zu Wege bringen, laufen sie Gefahr, ihren Charakter als Wille des Volkes zu verlieren. Versammlungen des Volkes bilden sich plötzlich und unerwartet, sie lösen sich unter freiwilligen oder unfreiwilligen Bedingungen wieder auf und diese Flüchtigkeit ist meiner Ansicht nach eng mit ihrer »kritischen« Funktion verknüpft. Sosehr gemeinsame Äußerungen des Volks14

willens die Rechtmäßigkeit einer Regierung in Frage stellen können, die behauptet, das Volk zu vertreten, so sehr können sie sich auch in den Regierungsformen verlieren, die sie befürworten und neu einrichten. Regierungen wiederum kommen und gehen, und sie tun dies manchmal aufgrund von Handlungen seitens des Volkes, so dass diese konzertierten Aktionen also nicht nur gleichermaßen flüchtig sind, im Entzug der Unterstützung bestehen und den Legitimitätsanspruch der Regierung dekonstituieren, sondern auch neue Formen konstituieren. Da der Volkswille in den Formen fortbesteht, die er initiiert, kann er sich in diesen Formen auch nicht verlieren, wenn er das Recht behalten soll, all jenen politischen Formen seine Unterstützung zu entziehen, die ihre Legitimität nicht aufrechterhalten können. Was ist nun von diesen kurzlebigen und kritischen Versammlungen zu halten  ? Eine wichtige Folgerung lautet  : Es ist von Belang, dass die durch Demonstrationen inszenierten politischen Bedeutungen nicht nur durch den – geschriebenen oder gesprochenen – Diskurs aufgeführt werden, sondern dass sich dort Körper versammeln. Verkörperte Handlungen unterschiedlicher Art tun etwas auf eine Weise kund, die genau genommen weder diskursiv noch vordiskursiv ist. Mit anderen Worten, Versammlungen haben schon vor und unabhängig von den spezifischen Forderungen, die sie stellen, eine Bedeutung. Stille Zusammenkünfte, zu denen auch Mahnwachen und Beerdigungen gehören, haben häufig eine Bedeutung, die jeden schriftlichen oder mündlichen Bericht darüber, worum es bei ihnen geht, übersteigt. Diese Formen verkörperter und pluraler Performativität sind wichtige Bestandteile für jedes Verständnis des »Volkes«, auch wenn sie notwendiger15

weise partiell sind. Nicht jeder Mensch kann in leiblicher Form erscheinen, und viele von denen, die nicht erscheinen können, die am Erscheinen gehindert werden oder die mittels virtueller oder digitaler Netzwerke operieren, sind ebenfalls Teil des »Volkes« und gerade dadurch definiert, dass sie daran gehindert werden, im öffentlichen Raum selbst körperlich in Erscheinung zu treten. Wir sind somit gezwungen, die restriktive Art und Weise zu überdenken, in der »die Öffentlichkeit« von denjenigen unkritisch postuliert wird, die von einem ungehinderten Zugang zu einer bestimmten Plattform und einem uneingeschränkten Anwesenheitsrecht ausgehen. Im Lichte jener verkörperten Handlungs- und Mobilitätsformen, deren Bedeutung über das Gesagte hinausgeht, ergibt sich somit ein zweiter Sinn der Inszenierung. Wenn wir uns überlegen, warum Versammlungsfreiheit und Meinungsfreiheit getrennt zu betrachten sind, finden wir den Grund exakt darin, dass die Fähigkeit der Menschen, sich zu versammeln, schon an sich ein wichtiges politisches Vorrecht darstellt, das von dem Recht, zu sagen, was immer man zu sagen hat, sobald man sich versammelt hat, ganz verschieden ist. Die Versammlung bedeutet etwas, das über das Gesagte hinausgeht, und dieser Bedeutungsmodus ist eine gemeinsame körperliche Inszenierung, eine plurale Form der Performativität. Wir könnten aus alter Gewohnheit versucht sein zu denken  : »Wenn es etwas bedeutet, dann muss es wohl auch diskursiv sein«, und vielleicht stimmt das ja auch. Doch selbst wenn diese Erwiderung zutrifft, lässt sie uns nicht jene wichtige chiasmische Beziehung zwischen Formen sprachlicher und Formen leiblicher Performativität untersuchen. Sie überschneiden sich  ; sie sind nicht völlig verschieden  ; sie sind freilich auch nicht 16

identisch. Wie Shoshana Felman gezeigt hat, hängt sogar der Sprechakt von den verkörperten Bedingungen des Lebens ab.3 Zur Stimmgebung braucht man einen Kehlkopf oder eine technische Prothese. Und manchmal ist das, was man mit seinen Ausdrucksmitteln zu erkennen gibt, etwas ganz anderes als das, was als eigentliches Ziel des Sprechakts explizit zugegeben wird. Die Performativität ist häufig mit der individuellen Performanz assoziiert worden, doch eine Neubetrachtung derjenigen Formen der Performativität, die nur durch Formen koordinierten Handelns wirken, deren Bedingung und Ziel die Wiederherstellung pluraler Formen des Handelns und sozialer Widerstandspraktiken ist, könnte sich als wichtig erweisen. Diese Bewegung oder Ruhe, dieses Parken meines Körpers inmitten der Handlung eines anderen, ist weder meine noch deine Handlung, sondern etwas, das aufgrund der Beziehung zwischen uns geschieht, das aus ebendieser Beziehung hervorgeht, zwischen dem Ich und dem Wir laviert und den generativen Wert seiner Doppeldeutigkeit zugleich zu bewahren und zu verbreiten versucht, einer aktiven und willentlich aufrechterhaltenen Beziehung, einer Zusammenarbeit, die weder eine halluzinatorische Verschmelzung noch Verwirrung ist. Die spezifische These dieses Buches lautet, dass gemeinsames Handeln eine verkörperte Form des Infragestellens der inchoativen und mächtigen Dimensionen herrschender Vorstellungen des Politischen sein kann. Die Verkörpertheit dieser Infragestellung wirkt in mindestens zwei Richtungen  : Zum einen werden Kontroversen durch Versammlungen, Streiks, Mahnwachen und die Besetzung öffentlicher Räume inszeniert  ; und zum anderen sind diese Körper der Gegenstand vieler 17

Demonstrationen, die den Zustand der Prekarität zum Ausgangspunkt nehmen. Der Körper, der mit anderen Körpern in einer der medialen Berichterstattung zugänglichen Zone eintrifft, verfügt schließlich über eine indexikalische Kraft  : Es ist dieser beziehungsweise es sind diese Körper, die nach einer Beschäftigung, einer Unterkunft, medizinischer Versorgung, etwas zu essen und einer Zukunft verlangen, die nicht nur aus unbezahlbaren Schulden besteht  ; es ist dieser beziehungsweise es sind diese Körper oder Körper wie dieser oder diese, die unter den Bedingungen einer zunehmenden Prekarisierung und immer schwächer werdenden Infrastruktur leben und deren Existenzgrundlage gefährdet ist. Mein Ziel ist es in gewisser Weise, das Offensichtliche in einer Situation zu betonen, in der das Offensichtliche im Begriff ist zu verschwinden  : Es gibt Arten, die Prekarität auszudrücken und zu demonstrieren, für die verkörpertes Handeln äußerst wichtig ist, und Formen der Ausdrucksfreiheit, die eigentlich zur öffentlichen Versammlung gehören. Manche Kritiker / ​innen sehen den Erfolg der Occupy-Bewegungen einzig darin, dass sie die Menschen auf die Straße gebracht und die Besetzung von Räumen erleichtert haben, deren öffentlicher Status durch zunehmende Privatisierung gefährdet ist. Manchmal sind diese Räume deshalb umstritten, weil sie im wahrsten Sinne als Besitz an private Investoren verkauft werden (wie der Gezi-Park in Istanbul). In anderen Fällen werden sie jedoch im Namen der »Sicherheit« oder sogar der »öffentlichen Gesundheit« für öffentliche Versammlungen gesperrt. Die erklärten Ziele jener Versammlungen variieren  ; sie richten sich gegen despotische Herrscher, sekuristische Regime, Nationalismus, Militarismus, wirtschaftliche Ungerechtigkeit, 18

ungleiche Bürgerrechte, Staatenlosigkeit, Umweltschäden, die Verschärfung der wirtschaftlichen Ungleichheit oder die rasante Prekarisierung. Manchen Versammlungen geht es ausdrücklich darum, den Kapitalismus selbst oder den Neoliberalismus, der als eine neue Entwicklung oder Variante betrachtet wird, herauszufordern  ; in Europa werden Sparmaßnahmen kritisiert, in Chile und anderswo die potenzielle Zerstörung des öffentlichen Hochschulwesens.4 Natürlich handelt es sich hier um unterschiedliche Versammlungen und unterschiedliche Bündnisse, und ich glaube nicht, dass eine einzelne Erklärung ausreicht, um diese jüngsten Formen öffentlicher Demonstrationen und Okkupationen in einen breiteren Zusammenhang mit der Geschichte und dem Prinzip der öffentlichen Versammlung zu stellen. Sie sind nicht alle Permutationen der Multitude, aber sie sind auch nicht so unzusammenhängend, dass man keine Verbindungen zwischen ihnen herstellen könnte. Sozial- und Rechtshistoriker / ​innen hätten einen Teil dieser vergleichenden Arbeit zu leisten – und ich hoffe, dass sie dies im Lichte der jüngsten Formen der Versammlung bald tun werden. Von meinem eingeschränkten Standpunkt aus möchte ich lediglich darauf hinweisen, dass Körper, wenn sie sich auf Straßen, Plätzen oder in anderen öffentlichen Räumen (einschließlich virtuellen) versammeln, ein plurales und performatives Recht zu erscheinen geltend machen, eines, das den Körper in die Mitte des politischen Feldes rückt und das in seiner expressiven und bezeichnenden Funktion eine leibliche Forderung nach lebenswerteren wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Bedingungen darstellt, die nicht mehr durch von außen auferlegte Formen der Prekarität erschwert werden. 19

In einer Zeit, in der die neoliberale Ökonomie immer größere Bereiche und Institutionen des öffentlichen Dienstes strukturiert, einschließlich Schulen und Universitäten, einer Zeit, in der immer mehr Menschen ihr Zuhause, ihre Rente und ihre Aussicht auf Arbeit verlieren, werden wir auf eine neue Weise mit der Idee konfrontiert, dass Teile der Bevölkerung als frei verfügbar erachtet werden.5 Es gibt Kurzarbeit, gar keine Arbeit oder postfordistische Formen flexibler Arbeit, die auf der Austauschbarkeit und Entbehrlichkeit der arbeitenden Bevölkerung basieren. Diese Entwicklungen, die durch die aktuell vorherrschende Haltung zur Kranken- und Sozialversicherung noch verstärkt werden, deuten darauf hin, dass die Marktrationalität darüber entscheidet, ob die Gesundheit und das Leben eines Menschen geschützt werden sollen oder nicht. Es ist natürlich ein Unterschied, ob eine Politik den Tod bestimmter Teile der Bevölkerung ausdrücklich zum Ziel erklärt oder ob sie Bedingungen der systematischen Vernachlässigung schafft, die effektiv den Tod von Menschen zur Folge haben. Um diesen Unterschied zu artikulieren, können wir uns auf Foucault stützen, der die spezifischen Strategien der Biomacht aufgezeigt hat, das heißt der Regulierung des Lebens und des Todes auf eine Weise, die nicht mehr von einem Souverän abhängt, der die Macht hat zu entscheiden, wer leben darf und wer sterben soll.6 Achille Mbembe hat diese Unterscheidung weiter ausgearbeitet und dazu den Begriff der »Nekropolitik« eingeführt. Ein krasses Beispiel dafür konnte man auf einem Treffen der Tea-Party-Bewegung beobachten, bei dem der US -Kongressabgeordnete Ron Paul andeutete, dass, wer ernsthaft krank sei und keine Krankenversicherung bezahlen könne – oder, wie er sich ausdrückte  : wer es 20

»vorziehe«, nicht zu bezahlen –, eben sterben müsse. Das anwesende Publikum reagierte veröffentlichten Berichten zufolge mit Jubelrufen. Es handelte sich dabei, so vermute ich, um die Art von Jubel, die üblicherweise dann zu hören ist, wenn in den Krieg gezogen oder nationalistischer Eifer zu Schau gestellt wird. Aber wenn es hier für einige Grund zum Jubel gab, so muss dahinter die Überzeugung stecken, dass jemand, dessen Gehalt nicht reicht oder dessen Arbeitsverhältnis nicht sicher genug ist, es nicht verdient, von der Gesundheitsfürsorge abgesichert zu werden, und dass niemand von uns anderen für diese Menschen verantwortlich ist. Die Implikation war eindeutig, dass jemand, der es nicht schafft, einen Job mit Krankenversicherung zu bekommen, zu einer Bevölkerungsgruppe gehört, die den Tod verdient hat und letztlich selbst daran schuld ist. Das Schockierende für viele Menschen, die nominell noch immer in einer Sozialdemokratie leben, ist die zugrunde liegende Annahme, dass die oder der Einzelne sich ausschließlich um sich selbst und nicht um andere kümmern solle und dass die Gesundheitsfürsorge kein öffentliches Gut, sondern eine Ware sei. In derselben Rede pries Paul auch die traditionelle Funktion von Kirche und Wohlfahrt, sich um die Bedürftigen zu kümmern. Zwar haben sich in Europa und anderswo christlich-linke Alternativen zu dieser Situation entwickelt, um Menschen, die aus der Sozialfürsorge herausfallen, durch philanthropische und kommunitäre Praktiken der »Sorge« aufzufangen, doch diese Alternativen ergänzen und verfestigen oft nur den Abbau öffentlicher Leistungen wie der Gesundheitsfürsorge. Sie akzeptieren, mit anderen Worten, die neue Rolle für die christliche Ethik und Praxis (und die christliche Hegemonie), welche sich aus der Schwächung der sozialen 21

Grundversorgung ergibt. Etwas Ähnliches geschieht in Palästina, wo die infrastrukturellen Lebensbedingungen immer mehr durch Bombardierungen, Wasserrationierungen, die Rodung von Olivenhainen und die Demontage bestehender Bewässerungssysteme zerstört werden. Die Zerstörung wird durch Nichtregierungsorganisationen gemindert, die Straßen und Schutzräume wiederaufbauen, aber sie hört nicht auf  ; die NGO s gehen bei ihren Interventionen davon aus, dass die Zerstörung weitergeht, und sehen ihre Aufgabe darin, in den Pausen zwischen den Zerstörungswellen Reparaturen durchzuführen und die Bedingungen zu verbessern. So entwickelt sich zwischen den Werken der Zerstörung und den Werken der Wiederherstellung oder des Wiederaufbaus (die häufig auch ein vorübergehendes Marktpotenzial freisetzen) ein makaberer Rhythmus, der insgesamt der Normalisierung der Besetzung Vorschub leistet. Das bedeutet natürlich nicht, dass keine Anstrengungen unternommen werden sollten, Häuser und Straßen zu reparieren, für eine bessere Bewässerung und damit für mehr Wasser zu sorgen und zerstörte Olivenhaine wieder aufzuforsten oder dass die NGO s keine Rolle spielten. Ihre Rolle ist ganz entscheidend. Wenn ihre Arbeit jedoch an die Stelle eines grundsätzlicheren Widerstands gegen die Besetzung tritt, der diese beenden würde, dann droht sie zu einer Praxis zu werden, die die Besetzung funktionsfähig macht. Worum handelt es sich bei jenen sadistischen Jubelrufen auf dem Tea-Party-Treffen, hinter denen die Vorstellung steckt, wer keinen Zugang zum Gesundheitssystem habe, werde sich völlig zu Recht Krankheiten zuziehen, Unfälle erleiden und an deren Folgen sterben  ? Unter welchen wirtschaftlichen und politischen 22

Bedingungen können solche grausamen Freudenausbrüche entstehen und sich Gehör verschaffen  ? Wollen wir das als Todeswunsch bezeichnen  ? Klar ist aus meiner Sicht jedenfalls, dass etwas gründlich falsch gelaufen ist beziehungsweise schon seit langem falsch läuft, wenn der Gedanke an den Tod eines verarmten oder unversicherten Menschen einem Vertreter der Tea Party Jubelrufe entlockt  ; der Republikanismus dieser Bewegung ist eine nationalistische Variante des Wirtschaftsliberalismus, der jedes Gefühl einer gemeinsamen sozialen Verantwortung mit einer kühleren und berechnenderen Metrik überdeckt hat, die von einem recht freudvollen Verhältnis zur Grausamkeit flankiert und begünstigt zu werden scheint. Wenngleich »Verantwortung« ein Wort ist, das von Vertretern des Neoliberalismus und neuerer Formen des politischen und ökonomischen Individualismus gern in den Mund genommen wird, will ich versuchen, seine Bedeutung im Kontext der Betrachtung kollektiver Versammlungsformen umzukehren und zu erneuern. Es ist nicht leicht, die Idee der Ethik und mit ihr Schlüsselbegriffe wie Freiheit und Verantwortung gegen deren diskursive Aneignung zu verteidigen. Denn wenn wir, wie die Befürworter der Kürzung von Sozialleistungen behaupten, nur für uns selbst und keinesfalls für andere verantwortlich sind, und wenn Verantwortung in erster Linie heißt, wirtschaftlich eigenständig zu werden unter Bedingungen, die jede Aussicht auf Eigenständigkeit unterminieren, dann stehen wir vor einem Widerspruch, der einen leicht in den Wahnsinn treiben kann  : Wir werden moralisch dazu gedrängt, genau die Art von Subjekt zu werden, die von der Verwirklichung dieser Norm strukturell ausgeschlossen ist. Die neoliberale Vernunft fordert Autarkie als mora23

lisches Ideal, während gleichzeitig neoliberale Machtformen genau diese Möglichkeit auf der ökonomischen Ebene zunichtemachen, indem sie jedes Mitglied der Bevölkerung zum potenziell oder tatsächlich Gefährdeten machen und die allgegenwärtige Bedrohung der Prekarität sogar zur Rechtfertigung der verstärkten Regulierung des öffentlichen Raumes und der Deregulierung der Marktexpansion benutzen. In dem Moment, in dem man sich als unfähig erweist, der Norm der Selbstgenügsamkeit zu entsprechen (wenn man sich zum Beispiel keine medizinische Versorgung leisten oder die Vorzüge der privatisierten Fürsorge nicht nutzen kann), wird man potenziell entbehrlich. Und diese entbehrliche Kreatur wird dann mit einer politischen Moral konfrontiert, die individualistische Verantwortlichkeit fordert oder dem Muster der Privatisierung der »Fürsorge« folgt. Wir stecken mitten in einer biopolitischen Situation, in der weite Teile der Bevölkerung zunehmend der sogenannten Prekarisierung unterworfen sind.7 Dieser in der Regel von Regierungs- und Wirtschaftseinrichtungen angestoßene und in Gang gehaltene Prozess gewöhnt die Bevölkerung allmählich an Unsicherheit und Hoffnungslosigkeit  ; er gliedert sich in die Institutionen der Leiharbeit, der gestrichenen Sozialleistungen und des allgemeinen Abbaus der letzten noch wirksamen Reste der Sozialdemokratie zugunsten unternehmerischer Modalitäten, für die, gestützt auf wilde Ideologien individueller Verantwortlichkeit, das höchste Lebensziel in der Verpflichtung liegt, den eigenen Marktwert zu maximieren.8 Meiner Ansicht nach muss dieser wichtige Prozess der Prekarisierung um die Einsicht ergänzt werden, dass die Prekarität eine Veränderung der psychischen Realität bewirkt, wie Lauren Berlant in ih24

rer Affekttheorie nahelegt  ;9 dazu gehört ein gesteigertes Gefühl der Entbehrlichkeit oder Verfügbarkeit, das in der Gesellschaft unterschiedlich verteilt ist. Je mehr man der Forderung nach Eigenverantwortlichkeit nachkommt, desto stärker wächst die gesellschaftliche Isolierung und das Gefühl der Prekarität  ; und je mehr unterstützende soziale Strukturen aus »wirtschaftlichen« Gründen wegfallen, desto stärker isoliert kommt man sich in seinem Gefühl der wachsenden Angst und des »moralischen Scheiterns« vor. Prekarität bedeutet auch eine Eskalation der Angst um die eigene Zukunft und um diejenigen, die möglicherweise von einem abhängig sind  ; sie zwingt die Person, die diese Ängste hat, in einen Rahmen der Eigenverantwortlichkeit  ; und sie definiert Verantwortung neu als die Forderung, zum Unternehmer seiner selbst zu werden – unter Bedingungen, die diese dubiose Berufung unmöglich machen. Für uns stellt sich daher folgende Frage  : Welche Funktion hat die öffentliche Versammlung im Kontext dieser Form der »Responsibilisierung« und welche gegensätzliche Ethik wird von ihr verkörpert und ausgedrückt  ? Gegenüber einem zunehmend individualisierten Gefühl der Angst und des Scheiterns steht die öffentliche Versammlung für die Einsicht, dass es sich dabei um eine gemeinsame und ungerechte soziale Bedingung handelt und dass die Versammlung eine provisorische und plurale Form der Koexistenz darstellt, die eine klare ethische und soziale Alternative zur »Responsibilisierung« bietet. Ich möchte zeigen, dass diese Arten der Versammlung als aufkeimende und vorläufige Formen der Volkssouveränität verstanden werden können. Sie lassen sich auch als unverzichtbare Erinnerungen an die Funktionsweise der Legitimation in der demokratischen Theorie und Praxis betrachten. Die 25

Geltendmachung der pluralen Existenz bedeutet keineswegs den Sieg über jede Form von Prekarität, sie bringt jedoch durch ihren Vollzug eine Opposition gegen die von außen auferlegte Prekarität und ihre Beschleunigung zum Ausdruck. Die Fantasievorstellung eines Selfmade-Individuums, das sich angesichts der grassierenden Prekarität, wenn nicht sogar Armut, in unternehmerischer Eigenverantwortlichkeit selbst versorgt, geht von der verblüffenden Annahme aus, Menschen könnten und müssten unter unerträglichen Lebensbedingungen autonom handeln. Die These dieses Buches lautet dagegen, dass niemand von uns handelt, ohne dass die Bedingungen dazu gegeben sind, auch wenn wir manchmal handeln müssen, um genau diese Bedingungen zu schaffen oder zu erhalten. Die Paradoxie liegt auf der Hand, und doch ist das, was wir bei den Versammlungen der Gefährdeten beobachten können, eine Form des Handelns, welche die Bedingungen zum Handeln und zum Leben einfordert. Was bedingt solche Handlungen  ? Und inwiefern muss plurales und verkörpertes Handeln in einer solchen historischen Situation neu betrachtet werden  ? Bevor wir uns diesen zentralen Fragen zuwenden, wollen wir uns zunächst ansehen, wie jener widersprüchliche Imperativ in anderen Bereichen wirkt. Wenn wir die Begründung für die Militarisierung betrachten, die auf der Behauptung basiert, »das Volk« eines bestimmten Staates müsse verteidigt werden, stellen wir fest, dass dies nur auf einen Teil des Volkes zutrifft und dass zwischen dem zu verteidigenden und dem nicht zu verteidigenden Teil eine Unterscheidung am Werk ist, die zwischen Volk und Bevölkerung differenziert. Die Prekarität zeigt sich im Kern dieses Imperativs, »das Volk zu verteidigen«. Die militärische 26

Verteidigung verlangt und schafft Prekarität nicht nur unter denjenigen, auf die sie zielt, sondern auch unter denen, die sie rekrutiert. Wer in die US -Armee einberufen wird, dem werden immerhin Schulung, Ausbildung und Arbeit versprochen, doch häufig werden diese Soldat / ​innen in Konfliktgebiete geschickt, für die es kein eindeutiges Mandat gibt, wo ihre Körper verstümmelt, ihre Psyche traumatisiert und ihr Leben zerstört werden können. Auf der einen Seite werden sie als »unentbehrlich« für die Verteidigung der Nation betrachtet. Auf der anderen Seite werden sie zum entbehrlichen Teil der Bevölkerung erklärt. Ihr Tod wird zwar manchmal glorifiziert, entbehrlich sind sie aber dennoch  : Sie sind Angehörige des Volkes, die im Namen des Volkes geopfert werden.10 Hier liegt eindeutig ein operativer Widerspruch vor  : Der Körper, der das Land verteidigen soll, wird in und mit der Erfüllung seiner Aufgabe physisch und psychisch vernichtet. Auf diese Weise schickt die Nation im Namen der Verteidigung des Volkes Teile dieses Volkes in die Wüste. Der zum Zwecke der »Verteidigung« instrumentalisierte Körper ist während er ebendiese Verteidigung leistet dennoch entbehrlich. Ein solcher in Erfüllung seiner Aufgabe, die Nation zu schützen, schutzlos zurückgelassener Körper ist zugleich unentbehrlich und entbehrlich. Der Imperativ, für die »Verteidigung des Volkes« zu sorgen, setzt also die Entbehrlichkeit und Schutzlosigkeit derer voraus, die mit der Verteidigung betraut sind. Natürlich ist es berechtigt, verschiedene Arten des Protests zu unterscheiden und etwa zwischen antimilitaristischen Bewegungen und Bewegungen gegen die Prekarisierung oder zwischen der Black-Lives-Matter-Bewegung und Forderungen nach öffentlicher Bildung zu differenzieren. Zugleich scheint sich die Pre27

karität durch eine ganze Reihe von Bewegungen dieser Art zu ziehen, sei es die Prekarität der im Krieg Gefallenen, die Prekarität derer, denen es an der grundlegenden Infrastruktur mangelt, die auf der Straße unverhältnismäßiger Gewalt ausgesetzt sind oder die für ihre Bildung Schulden anhäufen, die sie nie werden zurückzahlen können. Manchmal findet eine Versammlung im Namen des lebendigen Körpers statt, eines Körpers, der das Recht hat zu leben, fortzubestehen, ja, zu gedeihen. Jeder Protest, egal wogegen er sich richtet, ist implizit immer auch eine Forderung, zusammenkommen und sich versammeln zu können, und zwar aus freien Stücken, ohne Angst vor Polizeigewalt oder politischer Zensur. Es geht also nicht nur um den Körper in seinem Kampf mit der Prekarität und seinem Ringen um Persistenz, der im Zentrum so vieler Demonstrationen steht, sondern auch um den bei diesen selbst anwesenden Körper, der seinen Wert und seine Freiheit aufs Spiel setzt und zur Schau stellt und durch die verkörperte Form der Versammlung eine politische Forderung aufstellt. Die Bekräftigung, dass eine Gruppe von Menschen noch existiert, dass sie Raum einnimmt und hartnäckig weiterlebt, ist bereits eine expressive Handlung, ein politisch signifikantes Ereignis, und dies kann wortlos im Verlauf einer unvorhersehbaren und flüchtigen Versammlung geschehen. Ein weiteres »effektives« Resultat solcher pluralen Inszenierungen ist, dass sie das Gemeinschaftliche einer Situation manifestieren und jene individualisierende Moral anfechten, die die wirtschaftliche Unabhängigkeit zur sittlichen Norm erklärt, und zwar ausgerechnet dann, wenn die Unabhängigkeit zunehmend unrealistischer wird. Sich zeigen, stehen, atmen, sich bewegen, stillstehen, reden und schweigen 28

sind allesamt Aspekte einer plötzlichen Versammlung, einer unvorhergesehenen Form politischer Performativität, die das lebenswerte Leben in den Vordergrund der Politik rückt. Und dies scheint schon der Fall zu sein, bevor die Gruppe damit begonnen hat, ihre Forderungen darzulegen oder sich im eigentlichen Sinne politisch zu äußern. Auch wenn sie nicht in der parlamentarischen Form schriftlicher und mündlicher Beiträge stattfindet, ist die provisorische Versammlung ein Ruf nach Gerechtigkeit. Aber um diesen »Ruf« zu verstehen, müssen wir uns fragen, ob es richtig ist, dass die Verbalisierung immer noch der Standard ist, an dem allein sich Überlegungen zum expressiven politischen Handeln abarbeiten müssen. Tatsächlich müssen wir neu über den Sprechakt nachdenken, um zu begreifen, was bestimmte Arten körperlicher Inszenierungen tun und schaffen  : Die versammelten Körper »sagen«, dass sie nicht frei verfügbar sind, auch wenn sie nur still dastehen. Diese Ausdrucksmöglichkeit ist Bestandteil der pluralen und verkörperten Performativität, die wir als von Abhängigkeit und Widerstand gekennzeichnet begreifen müssen. Auf diese Weise versammelte Wesen hängen von einer Reihe lebendiger und institutioneller Prozesse, von infrastrukturellen Bedingungen ab, um zu bestehen und um gemeinsam ein Recht auf die Bedingungen für ihr Bestehen geltend machen zu können. Dieses Recht ist Teil eines umfassenderen Rufs nach Gerechtigkeit, der sich auch in einer schweigenden gemeinsamen Haltung artikulieren kann. Worte mögen für diese Haltung zwar wichtig sein, doch die politische Wichtigkeit des pluralen und verkörperten Handelns erschöpft sich nicht in ihnen. Eine Versammlung kann eine Form des öffentlichen Willens zum Ausdruck bringen, ja sogar Anspruch auf 29

»den« Willen des Volkes erheben und für die unerlässliche Voraussetzung der staatlichen Legitimität stehen  ; auf der anderen Seite werden Versammlungen aber auch von Staaten genau zu dem Zweck organisiert, den Medien die breite öffentliche Unterstützung vor Augen zu führen, die sie angeblich genießen. Das heißt, die charakteristische Wirkung der Versammlung – ihr Legitimationseffekt – lässt sich auch mittels orchestrierter Inszenierungen und einer gesteuerten medialen Berichterstattung erreichen  ; die Verbreitung der »Volksmeinung« ist dann nichts weiter als eine Strategie zur Selbstlegitimierung des Staates. Da der öffentliche Wille seine legitimierende Wirkung nicht entfalten kann, wenn er eingegrenzt wird oder innerhalb eines Rahmens entsteht, findet der Kampf um die Legitimierung unweigerlich im Spiel zwischen öffentlicher Inszenierung und Medienbildern statt, bei dem sich die staatlich kontrollierten Schauspiele mit Smartphones und sozialen Netzwerken um die Berichterstattung über ein Ereignis und seine Bedeutung streiten. Das Filmen von Polizeiaktionen ist zu einem wichtigen Mittel geworden, um den staatlich geförderten Zwang zu entlarven, dem sich die Versammlungsfreiheit gegenwärtig ausgesetzt sieht. Man könnte nun leicht den zynischen Schluss ziehen, dass alles nur ein Spiel der Bilder sei. Möglicherweise steht jedoch eine weitaus wichtigere Erkenntnis auf dem Spiel, nämlich die, dass »das Volk« nicht nur durch seine in Worte gefassten Ansprüche hervorgebracht wird, sondern auch durch die Bedingungen der Möglichkeit seines Erscheinens (also innerhalb des visuellen Feldes) sowie durch sein Handeln (also als Teil leiblicher Performanz). Diese Bedingungen des Erscheinens umfassen infrastrukturelle Voraussetzungen der Inszenierung ebenso wie technische Mit30

tel der Erfassung und Übertragung einer Versammlung oder Zusammenkunft im visuellen und akustischen Bereich. Der Klang des Gesagten oder seine grafische Darstellung sind für die Aktivität der Selbstkonstitution im öffentlichen Raum (und die Konstitution des öffentlichen Raumes als Bedingung des Erscheinens) genauso wichtig wie jedes andere Mittel. Insofern das Volk durch ein komplexes Zusammenspiel von Performanz, Bild, Akustik und all den anderen Techniken, die bei solchen Produktionen eine Rolle spielen, konstituiert wird, berichten die »Medien« nicht nur einfach, wer das Volk zu sein behauptet, sondern sind selbst ein ganz entscheidender Teil von dessen Definition. Sie unterstützen und ermöglichen diese Definition nicht nur, sondern sie sind der Stoff der Selbstkonstitution, der Ort des hegemonialen Kampfes darum, wer »wir« sind. Wir müssen natürlich die Fälle untersuchen, in denen der offizielle Rahmen von konkurrierenden Bildern demontiert wird, in denen eine einzelne Reihe von Bildern zu einer unversöhnlichen Spaltung der Gesellschaft führt, in denen die Zahl der zum Widerstand versammelten Menschen den Rahmen sprengt, durch den ihre Größe reduziert werden soll, oder in denen sich ihre Forderung in unzivilisierten Lärm verwandelt. Solche Versammlungen sind nicht dasselbe wie die Demokratie selbst. Wir können nicht auf eine provisorische und vergängliche Versammlung deuten und sagen  : »Das ist Demokratie in Aktion«, wenn wir damit meinen, dass alles, was wir von der Demokratie erwarten, in einem solchen Moment versinnbildlicht oder vollführt wird. Versammlungen sind notwendigerweise vergänglich und diese Vergänglichkeit ist mit ihrer kritischen Funktion verknüpft. Man könnte nun beklagen, dass sie ja leider nicht von Dauer sind, und das Ganze für zweck31

los halten, aber dieses Verlustgefühl wird durch die Aussicht auf das, was kommen könnte, wettgemacht  : »Sie sind jederzeit möglich  !« Derartige Versammlungen sind einer der einleitenden oder »flüchtigen« Momente der Demokratie.11 Die Demonstrationen gegen Prekarität könnten sich hier als ein einschlägiges Beispiel erweisen. Wie ich in meinem Buch Raster des Krieges angefangen habe darzulegen, ist die Prekarität nicht nur einfach eine existenzielle Wahrheit – jeder von uns kann durch Ereignisse oder Prozesse, die wir nicht kontrollieren können, Entbehrungen, Verletzungen, Krankheiten, Schwächungen oder den Tod erleiden.12 Niemand weiß, was uns möglicherweise erwartet, und diese Unwissenheit ist ein Zeichen dafür, dass wir nicht alle Bedingungen, die unser Leben ausmachen, kontrollieren können. Doch wie unumstößlich diese allgemeine Wahrheit auch sein mag, sie wird auf unterschiedliche Weise gelebt, denn gesundheitsgefährdende Arbeitsplätze oder der zunehmende Sozialabbau betreffen Arbeiter / ​innen und Arbeitslose natürlich stärker als andere. Auf der einen Seite ist jeder Mensch von Sozialbeziehungen und einer stabilen Infrastruktur abhängig, um ein lebbares Leben führen zu können, an dieser Abhängigkeit führt also kein Weg vorbei. Auf der anderen Seite kann aus dieser Abhängigkeit sehr leicht Unterwerfung werden, auch wenn man beides nicht gleichsetzen darf. Die Abhängigkeit menschlicher Wesen vom Bestand und Erhalt des infrastrukturellen Lebens zeigt, dass die Organisation der Infrastruktur aufs Engste mit dem individuellen Lebensgefühl – damit, wie und mit welchem Maß an Leiden, Lebbarkeit oder Hoffnung das Leben ertragen wird – verknüpft ist. 32

Anders ausgedrückt  : Niemand leidet unter Obdachlosigkeit, wenn es kein gesellschaftliches Versagen gibt, ein Scheitern an der Aufgabe, Wohnungen und Unterkünfte so zu organisieren, dass sie jedem Menschen zugänglich sind. Und niemand leidet unter Arbeitslosigkeit ohne ein politisches oder ökonomisches System, das die Menschen nicht vor dieser Möglichkeit schützt. Das bedeutet, dass in einigen der schmerzhaftesten Erfahrungen sozialer und wirtschaftlicher Not nicht nur unser Gefährdetsein als Einzelpersonen offenbar wird – wenngleich dies durchaus auch der Fall sein kann –, sondern auch die Versäumnisse und Ungleichheiten sozioökonomischer und politischer Institutionen. In der individuellen Vulnerabilität gegenüber einer sozial erzeugten Prekarität kann jedes »Ich« potenziell erkennen, dass sein ganz eigenes Gefühl der Angst und des Scheiterns immer schon in eine größere soziale Welt eingebunden ist. Das schafft die Möglichkeit, jene individualisierende und unerträgliche Form der Verantwortung zu demontieren und an ihre Stelle ein Ethos der Solidarität zu setzen, das die wechselseitige Abhängigkeit und das Angewiesensein auf funktionierende Infrastrukturen und soziale Netzwerke bejaht und den Weg für eine Form der Improvisation öffnet, während es kollektive und institutionelle Möglichkeiten ersinnt, um das Problem der forcierten Prekarität anzugehen. In den einzelnen Kapiteln dieses Buches versuche ich in erster Linie, die expressive oder signifizierende Funktion improvisatorischer öffentlicher Versammlungsformen zu verstehen, aber auch zu ergründen, was als »öffentlich« gilt und wer eigentlich »das Volk« ist. »Expressivität« ist hier nicht so zu verstehen, dass durch öffentliche Versammlungen ein bereits bestehendes Gefühl des Volkes ausgedrückt wird  ; ich will damit 33

nur sagen, dass die Versammlungsfreiheit genauso zur »Ausdrucksfreiheit« gehört wie die Redefreiheit, insofern eine Angelegenheit von politischer Bedeutung inszeniert und vermittelt wird. Die Untersuchung findet zu einem historischen Zeitpunkt statt, an dem die Frage aufkommt  : Wie wird Prekarität in plötzlichen Versammlungen inszeniert und bekämpft  ? In dem Maße, in dem Formen der wechselseitigen Abhängigkeit bei solchen Versammlungen in den Vordergrund gerückt werden, bieten sie die Chance, über die Verkörpertheit sozialer Handlungs- und Ausdrucksformen nachzudenken, also über das, was wir mit verkörperter und pluraler Performativität meinen. Durch die politische Analyse zieht sich auf allen Seiten ein ethisches Verständnis menschlicher Relationalität, das am deutlichsten in dem Kapitel zum Tragen kommt, in dem ich mich mit Hannah Arendts Begriff der Kohabitation auseinandersetze sowie mit Emmanuel Lévinas’ These, dass eine ethische Forderung in gewissem Sinne der Formierung des wählenden Subjekts vorausgeht und damit auch klassisch liberalen Vertragsideen. Die ersten Kapitel stellen Formen der Versammlung in den Mittelpunkt, die Weisen der Zugehörigkeit und ortsspezifische Anlässe für politische Demonstrationen voraussetzen, während die letzten nach Formen der ethischen Verpflichtung von Menschen fragen, die kein geografisches oder sprachliches Zugehörigkeitsgefühl teilen. Am Schluss greife ich Adornos Formulierung auf, dass man kein richtiges Leben im falschen führen kann, und argumentiere, dass das »Leben«, das man führen muss, immer ein gesellschaftliches ist, wir also stets in eine umfassendere soziale, ökonomische und infrastrukturelle Welt verwickelt sind, die unsere Perspektive und die ortsgebundene Ich-Modalität ethi34

scher Fragestellungen übersteigt. Aus diesem Grund gehe ich davon aus, dass ethische Fragen unweigerlich mit gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Belangen verknüpft sind, von diesen aber nicht erstickt werden. Tatsächlich impliziert schon die Annahme der durchgängigen Bedingtheit des menschlichen Handelns, dass wir, wenn wir die grundlegende ethische und politische Frage stellen – Wie soll ich handeln  ? –, stillschweigend auf die Bedingungen der Welt Bezug nehmen, die dieses Handeln ermöglichen oder, wie es unter den Bedingungen der Prekarität zunehmend der Fall ist, die Handlungsmöglichkeiten untergraben. Was bedeutet es, gemeinsam zu handeln, wenn die Bedingungen des gemeinsamen Handelns zerstört werden oder schwinden  ? Eine derart ausweglose Situation kann zur paradoxen Bedingung einer gleichermaßen traurigen wie freudvollen Form der gesellschaftlichen Solidarität werden, einer von Körpern unter Zwang oder im Namen des Zwangs inszenierten Versammlung, bei der das Sich-Versammeln selbst für Beharrlichkeit und Widerstand steht.

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1. Geschlechterpolitik und das Recht zu erscheinen »Körperallianzen« [Bodies in Alliance] war ursprünglich der »Titel« einer Vorlesungsreihe, die ich 2011 am Bryn Mawr College in Pennsylvania gehalten habe und die diesem Text als Vorlage dient. Es war ein passender Titel, wie sich zeigt, dabei konnte ich in dem Augenblick, als er mir einfiel, noch nicht ahnen, wie sich seine Bedeutung im Laufe der Zeit entwickeln und welche neue Gestalt und Kraft er erlangen würde. Während wir in unserem akademischen Rahmen beisammensaßen, versammelten sich überall in den Vereinigten Staaten und in mehreren anderen Ländern Menschen, um verschiedene Sachverhalte in Frage zu stellen, etwa despotische Herrschaft oder wirtschaftliche Ungerechtigkeit, manchmal auch den Kapitalismus selbst oder einige seiner aktuellen Erscheinungsformen  ; dabei kamen oft große Menschenmassen in der Öffentlichkeit zusammen, um als plurale politische Präsenz und Kraft gesehen und gehört zu werden. Wir könnten in solchen Massendemonstrationen eine kollektive Ablehnung der gesellschaftlich und wirtschaftlich bedingten Prekarität sehen. Was wir aber vor allem sehen, wenn Körper auf Straßen, Plätzen oder an anderen öffentlichen Orten zusammenkommen, ist die – wenn man so will, performative – Ausübung des Rechts zu erscheinen, eine körperliche Forderung nach besseren Lebensbedingungen. Auch wenn die Idee der Verantwortlichkeit in problematischer Weise für neoliberale Zwecke vereinnahmt worden ist, spielt der Begriff eine entscheiden37

de Rolle für die Kritik der zunehmenden Ungleichheit. Nach der neoliberalen Moralvorstellung ist jeder nur für sich selbst und nicht für andere verantwortlich, und diese Verantwortung richtet sich in erster Linie darauf, unter Bedingungen, unter denen die Autarkie strukturell unterminiert wird, wirtschaftlich unabhängig zu werden. Diejenigen, die sich keine medizinische Versorgung leisten können, sind nur ein Beispiel dafür, dass Teile der Bevölkerung als frei verfügbar betrachtet werden. Und wer die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich wahrnimmt, wer das Gefühl hat, Sicherheiten und Hoffnungen verloren zu haben, sieht sich auch als jemand, der von einer Regierung und einer Volkswirtschaft im Stich gelassen worden ist, die eindeutig den Wohlstand einiger weniger auf Kosten der breiten Bevölkerung vermehrt. Eine Implikation der Tatsache, dass sich Menschenmassen auf den Straßen versammeln, scheint daher klar  : Es gibt sie noch und sie sind noch da  ; sie lassen nicht locker  ; sie versammeln sich und bekunden damit die Einsicht oder zumindest den Beginn der Einsicht, dass ihre Situation etwas Gemeinsames ist. Und auch wenn sie nicht sprechen und keine verhandelbaren Forderungen vorbringen, wird hier ein Ruf nach Gerechtigkeit laut  : Die versammelten Körper »sagen«  : »Wir sind nicht frei verfügbar«, ob sie dazu Worte benutzen oder nicht. Was sie sagen, ist gleichsam  : »Wir sind noch hier, wir harren aus, wir fordern mehr Gerechtigkeit, die Befreiung aus der Prekarität und die Aussicht auf ein lebbares Leben.« Gerechtigkeit ist natürlich ein großes Wort und sie zu fordern stellt jede Aktivistin und jeden Aktivisten vor ein philosophisches Problem  : Was ist Gerechtigkeit und mit welchen Mitteln kann die Forderung nach Gerechtigkeit aufgestellt, verstanden und angenom38

men werden  ? Dass es manchmal heißt, es gebe »keine Forderungen«, wenn sich Körper auf diese Weise und zu diesem Zweck versammeln, liegt daran, dass die Liste der Forderungen nicht die ganze Bedeutung der geforderten Gerechtigkeit ausschöpfen würde. Natürlich können wir uns alle gerechte Lösungen für das Gesundheitssystem, die öffentliche Bildung, das Wohnungswesen oder die Verteilung und Verfügbarkeit von Nahrung vorstellen – wir könnten also die Ungerechtigkeiten einzeln auflisten und als eine Reihe von spezifischen Forderungen vorbringen. Doch vielleicht ist die Forderung nach Gerechtigkeit ebenso in jeder dieser Einzelforderungen präsent, wie sie notwendigerweise über sie hinausgeht. Dies ist eindeutig ein platonisches Argument, aber wir müssen uns nicht der Ideenlehre anschließen, um zu erkennen, dass es auf andere Weise wirkt. Denn wenn Körper sich versammeln, um ihrer Empörung Ausdruck zu verleihen oder um ihre plurale Existenz im öffentlichen Raum zu inszenieren, dann stellen sie zugleich auch weiter reichende Forderungen  : Sie verlangen, anerkannt und wertgeschätzt zu werden, sie machen das Recht geltend, zu erscheinen und ihre Freiheit auszuüben, und sie fordern ein lebbares Leben. Es müssen natürlich Bedingungen herrschen, unter denen ein solcher Anspruch auch als Anspruch registriert wird. Die Demonstrationen in Ferguson, Missouri, im Sommer 2014 lassen unschwer erkennen, wie schnell Formen der öffentlichen politischen Opposition – die sich in diesem Fall gegen die Tötung des unbewaffneten Schwarzen Michael Brown durch die Polizei richtete – als »Unruhen« oder »Krawalle« tituliert werden können.1 Die konzertierten Aktionen von Gruppen mit dem Zweck, gegen staatliche Gewalt zu opponieren, werden in solchen Fällen sogar dann als gewalttätig er39

achtet, wenn sie gar keine Gewalttaten beinhalten. Wie verstehen wir die Art der Bedeutung, die solche Proteste zu vermitteln versuchen, in Relation zu ihrer Benennung durch ihre Opponenten  ? Handelt es sich hier um eine politische Form inszenierter und pluraler Performativität, deren Wirkungsweise eine eigene Betrachtung verlangt  ? Eine Frage, die mir oft gestellt wird, lautet  : Wie kommt man von einer Theorie der Performativität der Geschlechter zu einer Betrachtung von gefährdeten Leben  ? Auch wenn darauf manchmal eine biografische Antwort erwartet wird, bleibt die Frage theoretisch interessant – welche Verbindung besteht zwischen den beiden Konzepten, wenn es denn eine gibt  ? Offenbar habe ich mich zunächst mit der Queer-Theorie und den Rechten sexueller und geschlechtlicher Minderheiten beschäftigt und schreibe jetzt allgemeiner darüber, wie Kriege und andere gesellschaftliche Bedingungen bestimmte Bevölkerungsteile als unbetrauerbar ausweisen. In Gender Trouble (1990  ; dt. Das Unbehagen der Geschlechter, 1991) hat es manchmal den Anschein, dass bestimmte von einzelnen ausgeführte Handlungen eine subversive Wirkung auf Geschlechternormen haben oder haben könnten. Jetzt arbeite ich an der Frage der Allianzen zwischen verschiedenen als verfügbar erachteten Minderheiten oder Bevölkerungsgruppen  ; genauer gesagt beschäftige ich mich damit, wie Prekarität – als Mittelbegriff und in gewisser Weise auch als vermittelnder Begriff – als ein Ort der Allianz von Gruppen wirken könnte oder schon wirkt, die ansonsten nicht viel gemeinsam haben oder sich sogar mit Misstrauen oder Feindseligkeit begegnen. Ein politischer Standpunkt ist dabei wahrscheinlich ziem40

lich unverändert geblieben, auch wenn sich mein Fokus verschoben hat, nämlich dass die Identitätspolitik keine umfassendere Vorstellung davon geben kann, was es – politisch – bedeutet, über Unterschiede hinweg und manchmal in unfreiwilliger Nähe zusammenzuleben, zumal das Zusammenleben, wie schwierig es auch sein mag, ein ethisches und politisches Gebot bleibt. Außerdem wird Freiheit meistens mit anderen ausgeübt und dies nicht notwendigerweise auf eine vereinheitlichte oder konformistische Weise. Sie erfordert oder erzeugt nicht unbedingt eine kollektive Identität, aber eine Reihe von ermöglichenden und dynamischen Beziehungen, darunter Unterstützung, Streit, Bruch, Freude und Solidarität. Zum Verständnis dieser Dynamik schlage ich vor, zwei Theoriebereiche zu untersuchen, für die abgekürzt die Begriffe »Performativität« und »Prekarität« stehen  ; danach möchte ich auf das Recht zu erscheinen als koalitionären Rahmen eingehen, der geschlechtliche und sexuelle Minderheiten mit gefährdeten Bevölkerungsgruppen im Allgemeinen verbindet. Performativität bezeichnet in erster Linie die Eigenschaft sprachlicher Äußerungen, durch die im Moment des Äußerns etwas geschieht oder ins Leben gerufen wird. Der Begriff stammt ursprünglich von John Langshaw Austin, hat jedoch in der Zwischenzeit eine Vielzahl von Überarbeitungen und Veränderungen erfahren, insbesondere in den Werken von Jacques Derrida, Pierre Bourdieu und Eve Kosofsky Sedgwick, um nur einige zu nennen.2 Eine Äußerung bringt das, was sie beinhaltet, hervor (Illokution) oder sorgt dafür, dass in ihrer Folge eine Reihe von Ereignissen geschieht (Perlokution). Warum sollte sich jemand für diese relativ obskure Theorie der Sprechakte interessieren  ? Nun, zunächst eröff41

net die Performativität offenbar die Möglichkeit, eine der Sprache innewohnende Macht zu benennen  : die Macht, eine neue Situation zu erzeugen oder eine Reihe von Wirkungen in Gang zu setzen. Es ist kein Zufall, dass die erste performative Äußerung im Allgemeinen Gott zugeschrieben wird. Er sagt  : »Es werde Licht«, und schon ist Licht da. Auch Präsident / ​innen, die einen Krieg erklären, erleben in der Regel, dass der Krieg infolge ihrer Erklärung Realität wird  ; und Standesbeamt / ​ innen, die zwei Menschen für verheiratet erklären, produzieren, sofern alles rechtmäßig vonstattengeht, infolge ihrer Äußerung verheiratete Paare. Der springende Punkt ist nicht nur, dass Sprache handelt, sondern dass sie machtvoll handelt. Wie wird nun aus einer performativen Sprachtheorie eine performative Theorie der Geschlechter  ? Es beginnt damit, dass ein wimmerndes Baby nach der Geburt von medizinischen Fachleuten zum Jungen oder zum Mädchen erklärt wird  ; und auch wenn deren Äußerung in dem Lärm kaum hörbar ist, so ist das Kreuzchen, das sie später auf der amtlichen Bescheinigung machen, mit Sicherheit lesbar. Meine Wette ist nun, dass bei den meisten von uns das Geschlecht dadurch festgelegt worden ist, dass jemand etwas angekreuzt und das Formular dann weitergeleitet hat, auch wenn das Ankreuzen in manchen Fällen – besonders bei Menschen mit intersexuellen Merkmalen – ein wenig gedauert haben mag oder das Kreuz mehrmals wieder ausradiert wurde oder das Formular noch eine Weile zurückgehalten wurde, bevor es abgeschickt wurde. Auf jeden Fall gab es zweifellos ein grafisches Ereignis, das die große Mehrheit in ihr Geschlecht eingeführt hat, oder vielleicht hat auch einfach jemand ausgerufen  : »Es ist ein Junge  !« oder »Es ist ein Mädchen  !« (Wobei dieser erste Ausruf manchmal sicher eher eine Frage 42

ist  ; wer sich nichts sehnlicher wünscht als einen Sohn zu haben, mag auch nur eine Frage stellen  : »Ist es ein Junge  ?«) Wenn man adoptiert wird, müssen die potenziellen Adoptiveltern ankreuzen, welches Geschlecht sie bevorzugen, oder sich mit dem Geschlecht einverstanden erklären, das man hat, bevor sie die nächsten Schritte unternehmen können. In gewisser Hinsicht bleiben dies alles diskursive Momente am Beginn unseres geschlechtlich bestimmten Lebens. Und nur selten gab es wirklich eine einzige Person, die unser Schicksal bestimmt hat – die Idee einer souveränen Macht mit außerordentlichen sprachlichen Kräften ist größtenteils von einer diffuseren und komplizierteren Menge diskursiver und institutioneller Mächte abgelöst worden. Wenn also die Performativität eine sprachliche Eigenschaft ist, wie können dann körperliche Handlungen performativ werden  ? Diese Frage müssen wir uns stellen, wenn wir die Bildung des Geschlechts, aber auch die Performativität von Massendemonstrationen verstehen wollen. Im Falle des Geschlechts gehen jene ersten Einschreibungen und Anrufungen mit den Erwartungen und Fantasien von anderen einher, die uns in zunächst unkontrollierbarer Weise beeinflussen   ; das ist das psychosoziale Auferlegen und langsame Einimpfen von Normen. Sie erreichen uns, wenn wir noch gar nicht mit ihnen rechnen können, sie begleiten uns, sie regen unsere eigene Art der Empfänglichkeit an und strukturieren sie. Solche Normen werden uns nicht einfach aufgedrückt, sie markieren und prägen uns nicht, so als wären wir nur passive Empfänger einer Kulturmaschine. Sie »produzieren« uns auch, allerdings weder in dem Sinn, dass sie uns ins Dasein treten lassen, noch dass sie strikt festlegen, wer wir sind. Vielmehr formen sie die gelebten Arten der Verkörperung, 43

die wir uns im Laufe der Zeit aneignen, und es kann durchaus sein, dass ebendiese Verkörperungsarten die Normen in Frage stellen oder sogar mit ihnen brechen. Sehr deutlich zeigt sich dies zum Beispiel in dem Fall, dass wir die Bedingungen unserer Geschlechtszuweisung ablehnen  ; wir können diese Ablehnung durchaus verkörpern oder inszenieren, bevor wir unsere Ansichten in Worte gefasst haben. Tatsächlich kann es sein, dass wir die Ablehnung zuerst als gefühlsmäßige Weigerung, den mit der Geschlechtszuweisung zusammenhängenden Normen zu entsprechen, erfahren. Wir sind zwar in gewisser Weise verpflichtet, die Geschlechternormen zu reproduzieren, aber die Polizei, die darüber wacht, ob wir dieser Pflicht auch nachkommen, nickt manchmal im Dienst ein. Und dann ertappt man sich dabei, wie man vom vorgezeichneten Weg abschweift, teilweise im Dunkeln, und sich fragt, ob man sich bei einer bestimmten Gelegenheit wie ein Mädchen verhalten hat oder mädchenhaft genug oder jungenhaft genug oder ob der Junge, der man sein soll, ein gutes Beispiel für das Jungesein ist oder ob man irgendwie am Ziel vorbeigeschossen ist  ; und irgendwann findet man sich dann glücklich oder nicht so glücklich zwischen den etablierten Gender-Kategorien wieder. Die Möglichkeit, am Ziel vorbeizuschießen, ist bei der Inszenierung der Geschlechter immer gegeben  ; möglicherweise ist das Vorbeischießen sogar eines ihrer Definitionsmerkmale. Kulturellen Geschlechternormen haftet eine Idealität, wenn nicht eine trügerische Dimension an, und selbst wenn Menschen in ihrer Entwicklung bemüht sind, die Normen zu wiederholen und sich ihnen anzupassen, stellen sie doch auch eine anhaltende Diskrepanz zwischen jenen Idealen – die sich vielfach widersprechen – und ihren vielfältigen gelebten Ver44

suchen der Verkörperung fest, wo das eigene Verständnis dem Verständnis anderer völlig zuwiderläuft. Das soziale Geschlecht kommt zuerst als eine Norm von anderen zu uns, doch es bleibt als eine Fantasie in uns, die ebenso von anderen geformt wird, wie sie Teil unserer eigenen Formung ist. Mir geht es jedoch, zumindest an dieser Stelle, um etwas sehr Einfaches  : Das Geschlecht wird empfangen, aber es wird gewiss nicht einfach in unseren Körper gemeißelt, als wären wir nur eine passive Schiefertafel, die verpflichtet ist, eine Kennzeichnung zu tragen. Wozu wir allerdings zunächst verpflichtet sind, ist, das uns zugewiesene Geschlecht zu inszenieren, und dazu gehört, dass wir, ohne es zu wissen, von einer Reihe fremder Fantasien geformt werden, die durch Anrufungen unterschiedlicher Art vermittelt werden. Das Geschlecht wird zwar wieder und wieder inszeniert, doch die Inszenierung geschieht nicht immer ganz im Einklang – geschweige denn in exakter Übereinstimmung – mit der Norm. Möglicherweise lässt sich die Norm nicht ohne Weiteres entziffern (es können mehrere widersprüchliche Forderungen vorliegen, welche Version des Geschlechts mit welchen Mitteln erreicht werden soll), möglicherweise birgt aber auch die Inszenierung der Norm die Möglichkeit der Nichteinhaltung schon in sich. Die Geschlechternormen gehen uns zwar voraus und wirken auf uns ein (das ist ein Sinn ihrer Inszenierung), aber wir sind verpflichtet, sie zu reproduzieren, und sobald wir – immer ohne es zu wissen – mit ihrer Reproduktion beginnen, kann jederzeit etwas schiefgehen (und das ist ein zweiter Sinn der Inszenierung). Und doch offenbart sich im Verlauf dieser Reproduktion eine Schwäche der Norm, oder eine andere Reihe kultureller Konventionen dringt in das Normen45

feld ein und sorgt für Verwirrung oder Konflikte  ; oder mitten in unserer Inszenierung übernimmt ein anderes Begehren die Kontrolle und es regen sich Widerstände, es passiert etwas Neues, das nicht ganz dem entspricht, was eigentlich geplant war. Selbst in den frühesten Stadien kann aus dem offenkundigen Ziel einer geschlechtlichen Anrufung durchaus ein ganz anderes werden, das dann realisiert wird. Diese »Wende« des Ziels geschieht mitten in der Inszenierung  : Wir stellen plötzlich fest, dass wir etwas anderes machen, dass wir uns anders machen, dass wir in einer Weise handeln, die nicht gerade dem entspricht, was die anderen für uns im Sinn hatten. Es gibt autoritative Diskurse über das Geschlecht – das Rechtssystem, die Medizin, die Psychiatrie, um nur einige zu nennen –, die bestrebt sind, das menschliche Leben in klar abgegrenzten Geschlechterbegriffen zu definieren und zu erhalten, doch gelingt es ihnen nicht immer, die Wirkungen der von ihnen ins Spiel gebrachten Geschlechterdiskurse zu kontrollieren. Außerdem zeigt sich, dass geschlechtsspezifische Normen nicht reproduziert werden können, ohne dass sie körperlich inszeniert werden, und wenn ein solches Normenfeld aufbricht, und sei es nur vorübergehend, sehen wir, dass die treibenden Ziele des regulatorischen Diskurses in der körperlichen Inszenierung zu unvorhergesehenen Folgen führen können und es möglich machen, sein Geschlecht auf eine Weise zu leben, die vorherrschende Anerkennungsnormen in Frage stellt. So können wir deutlich das Aufkommen von Transgender, Genderqueer, Butch, Femme sowie hyperbolischen oder dissidenten Formen von Männlichkeit beziehungsweise Weiblichkeit beobachten, ja sogar Zonen des geschlechtlich bestimmten Lebens, die allen kategorialen Unterscheidungen dieser Art zuwiderlaufen. Vor 46

einigen Jahren habe ich versucht, in der Performativität der Geschlechter eine Art unbeabsichtigte Handlungsfähigkeit auszumachen, die ganz sicher nicht völlig außerhalb von Kultur, Macht und Diskurs existiert, aber wesentlich aus ihren eigenen Bedingungen und unvorhersehbaren Abweichungen heraus entsteht und kulturelle Möglichkeiten eröffnet, um die hoheitlichen Ziele all jener institutionellen Regime und Erziehungsstrukturen zu vereiteln, die das Geschlecht im Voraus zu erkennen und zu normalisieren trachten. Wenn man sagt, das Geschlecht sei performativ, dann sagt man damit in erster Linie, dass es eine gewisse Art der Inszenierung ist  ; die »Erscheinung« des Geschlechts wird oft als Zeichen seiner inneren oder inhärenten Wahrheit missverstanden  ; es wird von verpflichtenden Normen hervorgerufen, die von uns verlangen, das eine oder andere Geschlecht zu werden (üblicherweise innerhalb eines streng binären Rahmens)  ; die Reproduktion von Geschlecht ist somit immer ein Verhandeln mit der Macht  ; und schließlich gibt es kein Geschlecht ohne diese Reproduktion von Normen, bei deren wiederholter Inszenierung immer das Risiko besteht, dass die Normen in unerwarteter Weise zunichtegemacht oder überholt werden, wie auch die Möglichkeit, die Geschlechterwirklichkeit auf eine neue Grundlage zu stellen. Das politische Bestreben, ja vielleicht das normative Ziel dieser Analyse ist, dass die Leben geschlechtlicher und sexueller Minderheiten möglicher und lebbarer werden, dass geschlechtlich nonkonforme Körper ebenso wie solche, die sich zu sehr (und zu einem hohen Preis) anpassen, imstande sind, sich im öffentlichen wie im privaten Raum sowie in allen Zonen, die diese beiden durchkreuzen und durcheinanderbringen, freier zu bewegen und zu at47

men. Die Performativitätstheorie der Geschlechter, die ich formuliert habe, hat natürlich niemals vorgeschrieben, welche Gender Performances richtig oder subversiver und welche falsch und reaktionär sind, auch wenn klar war, dass ich den Durchbruch bestimmter Arten von Gender Performances in den öffentlichen Raum, frei von polizeilichen Übergriffen, Schikanen, Kriminalisierung und Pathologisierung, sehr schätze. Es ging gerade darum, den Zwang, den Normen auf das Geschlechterleben ausüben, zu lockern – was nicht dasselbe ist wie die Überwindung oder Abschaffung aller Normen –, um ein lebbareres Leben zu ermöglichen. Normativ ist dieser Standpunkt nicht, weil er sich auf eine Form von Normalität bezieht, sondern nur in dem Sinne, dass er für eine Sicht der Welt, wie sie sein sollte, steht. Die Welt, wie sie sein sollte, müsste Brüche mit der Normalität schützen und denen, die solche Brüche wagen, Unterstützung und Bestätigung schenken. Es ist vielleicht ersichtlich, dass die Prekarität schon immer Teil dieses Bildes war, denn die Performativität der Geschlechter war eine Theorie und eine Praxis, die, so könnte man sagen, gegen die unlebbaren Bedingungen gerichtet war, unter denen geschlechtliche und sexuelle Minderheiten leben (und manchmal auch jene geschlechtlichen Mehrheiten, die – zu einem hohen psychischen und somatischen Preis – als normal »durchgehen«). »Prekarität« bezeichnet den politisch bedingten Zustand, in dem bestimmte Teile der Bevölkerung unter dem Versagen sozialer und ökonomischer Unterstützungsnetze mehr leiden und anders von Verletzung, Gewalt und Tod betroffen sind als andere. Prekarität ist somit, wie schon erwähnt, die ungleiche Verteilung von Gefährdetheit. Bevölkerungsgruppen, die dieser stärker ausgesetzt sind, tragen ein erhöhtes Risi48

ko für Krankheiten, Armut, Hunger, Vertreibung und Verletzung durch Gewalt ohne adäquaten Schutz oder Wiedergutmachung. Prekarität charakterisiert auch den politisch bedingten Zustand der maximierten Vulnerabilität und Entblößung von Bevölkerungsteilen, die willkürlicher staatlicher Gewalt, Gewalt auf der Straße, häuslicher oder anderen Formen von Gewalt ausgesetzt sind, die nicht von Staaten begangen werden, gegen beziehungsweise für die die staatlichen Rechtsinstrumente jedoch keinen ausreichenden Schutz oder Wiedergutmachung bieten. Mit dem Begriff Prekarität können wir uns also auf Bevölkerungsgruppen beziehen, die Hunger leiden oder verhungern, deren Nahrung am einen Tag ankommt und am nächsten wieder nicht oder genau rationiert ist – wenn etwa der Staat Israel entscheidet, wie viel Nahrung die Palästinenser in Gaza zum Überleben brauchen – sowie auf die zahllosen Menschen auf der ganzen Welt, die vorübergehend oder dauerhaft ohne Unterkunft sind. Wir könnten auch über Transgender-Sexarbeiter  / ​ innen sprechen, die sich gegen Straßengewalt und Polizeischikanen wehren müssen. Manchmal handelt es sich dabei um dieselben Gruppen, manchmal unterscheiden sie sich. Wenn sie jedoch derselben Bevölkerungsgruppe angehören, sind sie durch ihr sofortiges oder verzögertes Abrutschen in die Prekarität miteinander verbunden, selbst wenn sie diese Verbindung nicht wahrhaben wollen. In diesem Sinne ist die Prekarität direkt mit Geschlechternormen verknüpft, was möglicherweise offensichtlich ist, denn wie wir wissen, sind Menschen, die ihr Gender nicht auf Weisen leben, die sich umstandslos erschließen, stärker von Schikane, Pathologisierung und Gewalt bedroht. Geschlechternormen haben entscheidend damit zu tun, wie und in welcher 49

Weise wir im öffentlichen Raum erscheinen können, wie und in welcher Weise das Öffentliche und das Private unterschieden werden und wie diese Unterscheidung im Dienste der Sexualpolitik instrumentalisiert wird. Wenn ich danach frage, welche Person aufgrund ihrer öffentlichen Erscheinung kriminalisiert wird, so meine ich, wer als Kriminelle / ​r behandelt wird und wer als Kriminelle / ​r produziert wird (was nicht immer dasselbe ist wie die Bezeichnung als kriminell durch ein Gesetzbuch, das Manifestationen bestimmter Geschlechternormen oder Sexualpraktiken diskriminiert)  ; wer wird vom Rechtssystem oder, genauer  : von der Polizei, auf der Straße, bei der Arbeit oder zuhause nicht beschützt – in Gesetzbüchern oder religiösen Einrichtungen  ? Wer wird Opfer von Polizeigewalt  ? Wessen Verletzungsbehauptungen werden zurückgewiesen und wer wird stigmatisiert und entrechtet, während er / ​ sie gleichzeitig zum Gegenstand der Faszination und des Konsumgenusses wird  ? Wer wird gesetzlichen Anspruch auf medizinische Leistungen haben  ? Wessen intime und verwandtschaftliche Beziehungen werden vor dem Gesetz anerkannt oder gesetzlich kriminalisiert  ? Wer wird 25 Kilometer weiter plötzlich zu einem neuen Rechtssubjekt oder zum / ​zur Kriminellen  ? Der Rechtsstatus vieler Beziehungen (ehelich, elterlich) unterscheidet sich radikal, je nachdem, welcher Gerichtsbarkeit man unterliegt, ob das Gericht religiös oder säkular ist und ob die Spannung zwischen konkurrierenden Gesetzeskodizes in dem Moment, in dem man erscheint, gerade aufgelöst ist oder nicht. Die Frage der Anerkennung ist eine entscheidende, denn wenn wir die Überzeugung äußern, dass alle Menschen dieselbe Anerkennung verdienen, dann unterstellen wir, dass alle Menschen gleichermaßen anerkennbar 50

sind. Doch was ist, wenn das stark regulierte Feld des Erscheinens nicht jede / ​n zulässt, sondern Zonen verlangt, in denen von vielen erwartet wird, dass sie nicht erscheinen, oder ihnen dies sogar gesetzlich verboten ist  ? Warum wird dieses Feld so reguliert, dass nur bestimmte Wesen als erkennbare Subjekte erscheinen können, andere aber nicht  ? Die obligatorische Forderung, auf eine ganz bestimmte und keine andere Weise zu erscheinen, fungiert hier als Voraussetzung dafür, überhaupt zu erscheinen. Das bedeutet, indem man die Norm oder Normen verkörpert, durch die man Anerkennbarkeit erlangt, ratifiziert und reproduziert man bestimmte Anerkennungsnormen gegenüber anderen und schränkt so das Feld des Anerkennbaren ein. Ganz entscheidend ist diese Frage für die Tierrechtsbewegung, denn warum werden nur menschliche Subjekte und keine nichtmenschlichen Lebewesen anerkannt  ? Werden mit dem Akt, durch den Menschen Anerkennung erlangen, implizit nur die Merkmale ausgewählt, die man für den Rest des Tierlebens ausschließen kann  ? Der Dünkel dieser Form der Anerkennung scheitert an sich selbst, denn wäre solch eine eindeutig menschliche Kreatur überhaupt erkennbar, wenn sie irgendwie von ihrer kreatürlichen Existenz getrennt wäre  ? Wie sähe sie aus  ? In diese Frage mischt sich ein weiteres, mit ihr verwandtes Problem  : Welche Menschen zählen überhaupt als Menschen  ? Welche Menschen kommen für eine Anerkennung in der Erscheinungssphäre in Frage und welche nicht  ? Welche rassistischen Normen stecken beispielsweise hinter der Unterscheidung zwischen denen, die als Menschen anerkannt werden können, und den anderen  ? Diese Fragen werden umso bedeutsamer, wenn historisch tief verwurzelte Formen von Rassismus auf bestialischen 51

Konstruktionen des Schwarzseins beruhen. Die bloße Tatsache, dass ich fragen kann, welche Menschen als Menschen anerkannt werden und welche nicht, zeigt, dass es ein Feld des Menschlichen gibt, welches nach den herrschenden Normen unerkennbar bleibt, aber innerhalb des von gegenhegemonialen Erkenntnisformen erschlossenen epistemischen Feldes offensichtlich erkennbar ist. Auf der einen Seite ist dies ein klarer Widerspruch  : Eine Gruppe von Menschen wird als menschlich anerkannt, eine andere Gruppe von Menschen – menschlichen Wesen – wird nicht als menschlich anerkannt. Wer einen solchen Satz schreibt, erkennt vielleicht, dass beide Gruppen gleich menschlich sind, doch andere erkennen dies möglicherweise nicht. Diese anderen halten noch an einem Kriterium dafür fest, was das Menschliche ausmacht, auch wenn dieses nicht explizit thematisiert wird. Will diese zweite Gruppe für ihre Version des Menschlichen argumentieren, gerät sie in die Zwickmühle, denn die Behauptung, eine Gruppe sei menschlich, ja sogar paradigmatisch menschlich, ist dazu gedacht, ein Kriterium einzuführen, nach dem die Menschlichkeit jedes Wesens, das menschlich zu sein scheint, beurteilt werden kann. Und das Kriterium, das die zweite Gruppe anführt, findet nicht die Zustimmung, die nötig wäre, um es wahr werden zu lassen. Es setzt einen Bereich des nichtmenschlichen Menschlichen voraus und hängt davon ab, dass dieser sich vom Paradigma des Menschlichen unterscheidet, das es verteidigen will. Diese Denkweise treibt einen natürlich in den Wahnsinn. Man muss die Sprache falsch verwenden und sogar logische Fehler begehen, um diesen Bruch zum Vorschein zu bringen, der durch Normen der Anerkennung herbeigeführt wird, die permanent zwischen denen, die anerkannt werden sollten, und de52

nen, die nicht anerkannt werden sollten, unterscheiden. Wir werden in eine schreckliche und kuriose Verlegenheit gestürzt  : Ein Mensch, der nicht als menschlich anerkannt wird, ist kein Mensch und deshalb sollen wir nicht von ihm sprechen, als wäre er einer. Wir können dies als eine Schlüsselformulierung des expliziten Rassismus betrachten, der seinen Widerspruch selbst dann offenbart, wenn er seine Norm durchsetzt. Ebenso wie wir verstehen müssen, dass Geschlechternormen über psychosoziale Fantasien weitergegeben werden, die zunächst nicht von uns selbst stammen, können wir erkennen, dass Normen des Menschlichen von Machtmodi geformt werden, die bestimmte Versionen des Menschlichen gegenüber anderen normalisieren sollen, indem sie entweder zwischen Menschen unterscheiden oder das Feld des Nichtmenschlichen willkürlich erweitern. Zu fragen, wie diese Normen eingeführt und normalisiert werden, ist der erste Schritt zu einer Herangehensweise, die die Norm nicht als selbstverständlich hinnimmt und die es nicht versäumt, zu prüfen, wie und auf wessen Kosten sie installiert und inszeniert worden ist. Für diejenigen, die durch die Norm, die sie verkörpern sollen, in den Hintergrund gedrängt oder herabgewürdigt werden, wird der Kampf zu einem verkörperten Kampf um Anerkennung, zum öffentlichen Beharren auf der eigenen Existenz und Geltung. Nur durch einen kritischen Ansatz gegenüber den Normen der Anerkennung können wir beginnen, jene bösartigeren Formen der Logik zu demontieren, die an Rassismus und Anthropozentrismus festhalten. Und nur durch ein beharrliches Erscheinen gerade dann und dort, wo wir zurückgedrängt werden, bricht die Sphäre der Erscheinung auf und öffnet sich für neue Möglichkeiten. 53

Eine kritische Theorie dieser Art hat ständig mit einer Reihe sprachlicher Probleme zu kämpfen  : Wie nennen wir diejenigen, die nicht als »Subjekte« im hegemonialen Diskurs erscheinen können  ? Eine naheliegende Antwort wäre, die Frage zurückzugeben  : Wie nennen sich die Ausgeschlossenen selbst  ? Wie erscheinen sie, durch welche Konventionen und mit welchen Auswirkungen auf herrschende Diskurse, die durch vermeintlich selbstverständliche logische Schemata wirken   ? Gender kann zwar nicht als Paradigma für alle Daseinsformen dienen, die gegen die normative Konstruktion des Menschlichen ankämpfen, wir können es aber als Ausgangspunkt nutzen, um über Macht, Handlungsfähigkeit und Widerstand nachzudenken. Wenn wir akzeptieren, dass es sexuelle und geschlechtliche Normen gibt, die festlegen, wer anerkennbar und »lesbar« ist und wer nicht, können wir beginnen zu erkennen, wie sich die »Unlesbaren« als Gruppe formieren und Möglichkeiten entwickeln könnten, füreinander lesbar zu werden, wie sie differenziellen Formen geschlechtsbezogener Gewalt ausgesetzt sind und wie dieses Ausgesetztsein zur Basis des Widerstands werden kann. Um zum Beispiel zu verstehen, dass sie verkannt werden oder, genauer, dass sie unerkennbar bleiben, ist es vielleicht notwendig zu verstehen, wie sie an den Grenzen etablierter Normen des Denkens, der Verkörperung, ja selbst des Personseins existieren – und persistieren. Gibt es Formen der Sexualität, für die nur deshalb kein passendes Vokabular existiert, weil die mächtigen Logiken, die unser Denken über Begehren, Orientierung, Geschlechtsakte und Lüste bestimmen, nicht zulassen, dass sie lesbar werden  ? Ist es nicht geboten, unser bestehendes Vokabular zu überdenken beziehungsweise abgewertete Namen und Anredeformen 54

aufzuwerten, um die Normen aufzubrechen, die nicht nur einschränken, was denkbar ist, sondern die Denkbarkeit geschlechtlich nonkonformer Leben schlechthin  ? Die Gender-Performativität setzt ein Feld des Erscheinens voraus, in dem das Geschlecht erscheint, sowie ein Schema der Anerkennbarkeit, innerhalb dessen es sich in der Weise zeigt, in der es sich zeigt  ; da nun das Feld des Erscheinens von Anerkennungsnormen reguliert wird, die selbst hierarchisch und ausschließend sind, hängt die Performativität der Geschlechter eng damit zusammen, auf welch ungleiche Weise Subjekte für eine Anerkennung in Frage kommen. Die Anerkennung von Gender hängt fundamental davon ab, ob es für das jeweilige Geschlecht einen Präsentationsmodus gibt, eine Bedingung seines Erscheinens  ; statt Präsentationsmodus können wir dies auch sein Medium nennen. Wahr ist aber auch, dass Gender manchmal in einer Weise erscheinen kann, die sich auf etablierte Bedingungen des Erscheinens stützt, sie überarbeitet oder sogar mit ihnen bricht, indem es mit bestehenden Normen bricht oder neue Normen aus unerwarteten kulturellen Beständen einführt. Normen scheinen zwar zu bestimmen, welche Geschlechter erscheinen können und welche nicht, sie können die Erscheinungssphäre aber auch nicht kontrollieren und wirken eher wie abwesende oder fehlbare Polizisten als wie effektive totalitäre Mächte. Wenn wir gründlicher über die Anerkennung nachdenken, müssen wir außerdem fragen, ob es möglich ist, zwischen vollständiger und partieller Anerkennung, ja zwischen Anerkennung und Verkennung zu unterscheiden. Letzteres erweist sich als sehr wichtig, wenn man bedenkt, dass die Anerkennung eines Geschlechts häufig mit der Anerkennung einer bestimm55

ten körperlichen Normenkonformität zusammenhängt und dass Normen zu einem gewissen Grad aus Idealen bestehen, die nie ganz erfüllbar sind. Mit der Anerkennung eines Geschlechts erkennt man also den Verlauf eines bestimmten Strebens danach an, ein reguliertes Ideal zu erfüllen, dessen vollständige Verkörperung zweifellos eine gewisse Dimension des kreatürlichen Lebens aufgeben würde. Eine Person, die ein für alle Mal zu einem normativen Ideal »wird«, hat jedes Streben, jede Inkonsistenz, jede Komplexität überwunden, das heißt, sie hat eine entscheidende Dimension dessen eingebüßt, was es heißt zu leben. Geschlechtliche Überanpassung kann Lebewesen ins Abseits bringen. Manchmal ist es aber auch das »Über«, das mit Bedacht, Hartnäckigkeit, Lust und einem tief empfundenen Gefühl der Richtigkeit mit dem und gegen den konstitutiven Fehlschlag arbeitet  ; es kann ein Weg sein, neue und unterstützenswerte Lebensweisen für Transgender zu kreieren. In anderen Fällen kann es möglich sein, die Lücke zu schließen, so dass das Geschlecht, als das man sich fühlt, zu dem wird, als das man anerkannt wird, und dass diese Richtigkeit die Voraussetzung eines lebbaren Lebens ist. Das Gender-Ideal ist keine Falle, sondern eine wünschenswerte Lebensweise, ein Weg, ein Gefühl von Richtigkeit zu verkörpern, der Anerkennung verlangt und verdient. Eine vollkommene Verkörperung und vollständige Anerkennung erscheint uns wie ein Hirngespinst, das uns in bestimmte Ideale zu zwängen droht, die unser Dasein seiner Lebendigkeit berauben – aber ist ein gutes Leben ohne irgendeine Fantasie dieser Art möglich  ? Ein lebenswertes Leben kann aus dem Verlangen hervorgehen, sein geschlechtliches Körpergefühl auszuleben und so einer Beschränkung zu entkommen, 56

die es dieser Seinsweise nicht gestattet, frei in der Welt zu existieren. Der radikale Entzug der Anerkennung droht, das Existieren und Persistieren überhaupt unmöglich zu machen.3 Um überhaupt ein Subjekt sein zu können, muss man sich zuerst mit bestimmten Normen zurechtfinden, die die Anerkennung beherrschen, Normen, die wir uns nicht aussuchen, die auf uns gekommen sind und uns mit ihrer strukturierenden und belebenden kulturellen Kraft eingehüllt haben. Wenn wir unseren Weg innerhalb der uns zugewiesenen geschlechtlichen oder sexuellen Normen nicht oder nur unter großen Schwierigkeiten finden können, werden wir gewahr, was es heißt, die Grenzen der Anerkennbarkeit zu erreichen  : Die Situation kann, je nach Umstand, sowohl entsetzlich als auch aufregend sein. An einer solchen Grenze zu existieren bedeutet, dass die eigene Lebensfähigkeit selbst – das, was man als die sozialontologischen Bedingungen des eigenen Fortbestands bezeichnen könnte – in Frage gestellt wird. Es bedeutet aber auch, dass wir an der Schwelle zur Entwicklung der Bedingungen stehen können, die es uns erlauben zu leben. In liberalen Diskursen werden Subjekte manchmal als Wesen verstanden, die vor ein existierendes Gesetz treten und um Anerkennung gemäß seinen Bedingungen bitten. Aber was macht es überhaupt möglich, vor das Gesetz zu treten (eine Frage, die natürlich an Kafka erinnert)  ? Man braucht offenbar einen Zugang oder eine Berechtigung oder muss jedenfalls in der Lage sein, in irgendeiner Form einzutreten und zu erscheinen. Bei der Vorbereitung eines Angeklagten, der sich vor Gericht verantworten muss, geht es vor allem darum, ein Subjekt zu produzieren, dessen Werben um Anerkennung eine Chance hat. Häufig bedeutet das, 57

dass man bestimmten Rassennormen entsprechen oder sich als »postrassistisch« präsentieren muss. Das »Gesetz« wirkt schon, bevor der Angeklagte den Gerichtssaal betritt, und zwar indem es das Feld des Erscheinens reguliert und strukturiert und so festlegt, wer gesehen, gehört und anerkannt werden kann. Der juristische Bereich überschneidet sich mit dem politischen. Denken wir nur an die Situation von Schwarzarbeitern, die Arbeitsvisa oder eine Staatsbürgerschaft anstreben – allein schon ihr Versuch, »legal zu werden«, wird als kriminelle Aktivität angesehen. Wer als Schwarzarbeiter einen Anwalt aufsucht, riskiert, verhaftet und ausgewiesen zu werden. Die richtigen »Bedingungen des Erscheinens« zu finden ist eine komplizierte Angelegenheit, denn es geht nicht nur darum, wie sich der Körper vor Gericht präsentiert, sondern darum, sich überhaupt in der Schlange einreihen zu dürfen, um eventuell die Möglichkeit zu bekommen, vor Gericht erscheinen zu können. Die in den letzten Jahren immer mehr zunehmenden Massendemonstrationen von Menschen ohne Papiere erfolgen möglicherweise aus ähnlichen Beweggründen, aus denen Menschen auf die Straße gehen, die von politischen und ökonomischen Prozessen abgeschnitten worden sind (was mit der stillen Übereinkunft zwischen Regierungen, die öffentliche Versorgungsbetriebe verscherbeln, und der neoliberalen Wirtschaft zu tun hat). Mit dem Eintritt solcher Bevölkerungsgruppen in die Sphäre des Erscheinens ergibt sich eine Reihe von Forderungen bezüglich des Rechts auf Anerkennung und die Gewährung eines lebbaren Lebens, er bedeutet aber auch einen Weg, den Anspruch auf die öffentliche Sphäre geltend zu machen, sei es in Form einer Rundfunkübertragung, der Versammlung auf einem 58

Platz, eines Marsches durch die Hauptstraßen städtischer Zentren oder eines Aufstandes an den Rändern der Großstadt. Es mag den Anschein haben, dass ich dazu aufrufen möchte, entrechteten Menschen ihren angemessenen Platz innerhalb einer sich erweiternden Konzeption der menschlichen Gemeinschaft zu gewähren. Das trifft zwar in mancher Hinsicht zu, aber es wäre keine gerechte Zusammenfassung dessen, worum es mir hier geht. Würde die normative Verlaufskurve dieses Projekts auf eine solche Behauptung beschränkt, könnten wir nicht verstehen, wie und auf wessen Kosten das Menschliche differenziell produziert wird. Diejenigen, die den Preis zahlen, ja, die in gewissem Sinne der Preis des Menschlichen, dessen Abfälle und Trümmer »sind«, sind genau diejenigen, die sich manchmal in unerwarteten Allianzen zusammenfinden – im Bemühen um ihren Fortbestand und darum, Formen der Freiheit ausüben zu können, die eingeengte Versionen des Individualismus überwinden, ohne sich auf obligatorische Formen des Kollektivismus verkürzen zu lassen. Ein kritisches Nachdenken darüber, wie die Norm des Menschlichen konstruiert und aufrechterhalten wird, erfordert, dass wir eine Position außerhalb ihrer Denkkategorien einnehmen, nicht nur im Namen des Nichtmenschlichen oder gar Antimenschlichen, sondern vielmehr in einer Form von Sozialität und wechselseitigen Abhängigkeit, die nicht auf menschliche Lebensformen reduzierbar ist und sich mit keiner obligatorischen Definition der menschlichen Natur oder des menschlichen Individuums adäquat erfassen lässt. Wenn wir fragen, was im Leben des Menschen Leben heißt, geben wir damit schon zu, dass menschliche Lebensweisen mit nichtmenschlichen Lebensmodi ver59

knüpft sind. Tatsächlich ist die Verbindung mit dem nichtmenschlichen Leben für das, was wir menschliches Leben nennen, unbedingt notwendig. Hegelianisch gesprochen  : Wenn der Mensch ohne das Unmenschliche nicht menschlich sein kann, dann ist das Unmenschliche nicht nur wesentlich für das Menschliche, sondern gehört zum Wesen des Menschlichen selbst. Dies ist ein Grund dafür, dass Rassisten so hoffnungslos abhängig von ihrem eigenen Hass auf jene sind, deren Menschlichkeit sie doch letztlich nicht leugnen können. Es geht nicht einfach darum, die Verhältnisse so umzukehren, dass wir uns alle unter dem Banner des Nichtmenschlichen oder des Antimenschlichen versammeln. Und ganz gewiss geht es nicht darum, den Status der Ausgeschlossenen als »nacktes Leben« ohne die Fähigkeit, sich zu versammeln oder Widerstand zu leisten, zu akzeptieren. Vielmehr sollten wir vielleicht damit beginnen, im Geist dieses nur scheinbare Paradox in einem neuen Gedanken des »menschlichen Lebens« zusammenzuhalten, dessen zwei Bestandteile, »menschlich« und »Leben«, nie vollständig übereinstimmen. Wir müssen, mit anderen Worten, an diesem Begriff festhalten, auch wenn er als Begriff gelegentlich zwei Begriffe in sich zu fassen versucht, die sich gegenseitig abstoßen oder in verschiedene Richtungen wirken. Menschliches Leben ist nie die Gesamtheit des Lebens, kann nie alle Lebensvorgänge benennen, von denen es abhängt, und Leben kann nie das einzige Definitionsmerkmal des Menschlichen sein – was immer wir als menschliches Leben bezeichnen wollen, wird daher unweigerlich aus einem Aushandeln dieser Spannung bestehen. Das Menschliche ist vielleicht der Name, den wir ebendiesem Aushandeln geben, welches seinen Grund darin hat, dass wir Lebewesen unter We60

sen und inmitten von Lebensformen sind, die über uns hinausgehen. Meine Hypothese lautet, dass ein Eingestehen und Aufzeigen bestimmter Formen der wechselseitigen Abhängigkeit die Chance bietet, das Feld des Erscheinens selbst zu verwandeln. Ethisch betrachtet muss es einen Weg geben, eine Reihe von Bindungen und Allianzen zu finden und zu schmieden, die wechselseitige Abhängigkeit mit dem Gleichwertigkeitsprinzip zu verknüpfen und dies auf eine Weise zu tun, die jenen Mächten entgegenwirkt, die Anerkennbarkeit ungleich verteilen, oder ihr selbstverständliches Vorgehen stört. Sobald man nämlich Leben als gleichwertig und interdependent begreift, ergeben sich bestimmte ethische Formulierungen. In meinem Buch Raster des Krieges habe ich dargelegt, dass selbst dann, wenn mein Leben im Krieg nicht zerstört wird, etwas von meinem Leben im Krieg zerstört wird, wenn andere Leben und Lebensprozesse im Krieg zerstört werden.4 Woraus folgt dies  ? Da andere Leben – verstanden als Teil des Lebens, der über mich hinausgeht – eine Bedingung dafür sind, wer ich bin, kann mein Leben keinen Exklusivanspruch auf das Leben erheben und mein eigenes Leben ist nicht jedes andere Leben und kann es auch nicht sein. Anders gesagt  : Lebendig zu sein heißt immer schon, mit dem, was nicht nur jenseits meiner selbst, sondern auch jenseits meines Menschseins lebt, verbunden zu sein, und kein Selbst und kein Mensch kann ohne diese Verbindung zu einem biologischen Netzwerk des Lebens leben, das den Bereich des menschlichen Tieres übersteigt. Die Zerstörung wertvoller gebauter Umwelten und stützender Infrastrukturen ist die Zerstörung dessen, was idealerweise das Leben in einer Weise organisieren und erhalten sollte, dass es lebbar ist. Fließendes 61

Wasser wäre hier ein einschlägiges und nachdrückliches Beispiel. Dies ist einer der Gründe, warum man sich mit der Ablehnung des Krieges nicht nur gegen die Zerstörung anderer Menschenleben richtet (was man natürlich auch tut), sondern auch gegen die Vergiftung der Umwelt und den allgemeineren Angriff auf eine lebendige Welt. Nicht nur kann der Mensch, der abhängig ist, auf vergifteter Erde nicht überleben, sondern der Mensch, der die Erde vergiftet, untergräbt auch die Aussichten in Bezug auf seine eigene Lebensqualität in einer gemeinsamen Welt, in der die »eigenen« Lebensaussichten unweigerlich mit denen aller anderen zusammenhängen. Nur im Kontext einer lebendigen Welt entwickelt sich der Mensch als handelndes Wesen, dessen Abhängigkeit von anderen und von lebenden Prozessen überhaupt erst die Fähigkeit zum Handeln entstehen lässt. Leben und Handeln sind so miteinander verknüpft, dass die Bedingungen, die es jedem Menschen möglich machen zu leben, zum Gegenstand politischen Denkens und Handelns gehören. Die ethische Frage – Wie soll ich leben  ? – oder auch die politische Frage – Wie sollen wir zusammenleben  ? – hängt von einer Organisation des Lebens ab, die eine sinnvolle Beschäftigung mit ihr überhaupt möglich macht. Die Frage, was ein lebbares Leben ausmacht, geht daher der, welche Art von Leben ich führen soll, voraus, was bedeutet, dass das, was von manchen das Biopolitische genannt wird, die normativen Fragen, die wir an das Leben stellen, bedingt. Ich halte das für eine wichtige kritische Erwiderung an politische Philosoph / ​innen wie Hannah Arendt, die in ihrem Werk Vita activa oder Vom tätigen Leben ausdrücklich das Private als die Sphäre der Ab62

hängigkeit und Untätigkeit vom Öffentlichen als der Sphäre eigenständigen Handelns unterscheidet.* Wie haben wir uns den Übergang vom Privaten zum Öffentlichen vorzustellen und lässt überhaupt irgendjemand die Sphäre der Abhängigkeit »hinter sich«, selbst wenn er / ​sie als eigenständig Handelnde / ​r in ausgewiesenen öffentlichen Sphären erscheint  ? Wenn das Handeln als eigenständig definiert und damit ein fundamentaler Unterschied zur Abhängigkeit impliziert wird, basiert unser Selbstverständnis als Handelnde auf einer Verleugnung jener lebendigen und interdependenten Beziehungen, von denen unser Leben abhängt. Wenn wir politisch Handelnde sind, denen es darum geht, die Wichtigkeit der Ökologie, der Haushaltspolitik, der Gesundheitsfürsorge, der Wohnungspolitik, der globalen Ernährungspolitik und der Entmilitarisierung aufzuzeigen, dann müssten unsere Bemühungen eigentlich von einer Vorstellung des menschlichen und kreatürlichen Lebens getragen sein, die die Spaltung zwischen Handeln und Interdependenz überwindet. Nur wenn wir als Geschöpfe die Bedingungen der wechselseitigen Abhängigkeit anerkennen, die unseren Fortbestand und unser Gedeihen sicherstellen, können wir – in einer Zeit, in der die gesellschaftlichen Bedingungen der Existenz selbst unter ökonomischen und politischen Beschuss geraten sind – überhaupt für die Verwirklichung eines dieser wichtigen politischen Ziele kämpfen. Die Implikationen für die politische Performativität scheinen bedeutsam zu sein. Wenn Performativität Handlungsfähigkeit impliziert, was sind dann die Lebensbedingungen und die sozialen Voraussetzungen der Handlungsfähigkeit  ? Es kann ja nicht sein, dass die Handlungsfähigkeit ein spezifisches Vermögen 63

der Sprache und der Sprechakt das Muster des politischen Handelns ist. Gemäß dieser Voraussetzung, die Arendt in Vita activa nennt, geht der Körper nicht in den Sprechakt mit ein und der Sprechakt wird als Modus des Denkens und Urteilens verstanden. Die Öffentlichkeit, in der sich der Sprechakt als die paradigmatische politische Handlung erweist, ist in ihren Augen eine, die schon von der Privatsphäre getrennt ist, dem Bereich von Frauen, Sklaven, Kindern und Menschen, die zu alt oder zu schwach zum Arbeiten sind. Alle diese Gruppen werden in gewissem Sinne mit der körperlichen Daseinsform assoziiert, die sich durch die »Vergänglichkeit« ihrer Arbeit auszeichnet, und echten Taten gegenübergestellt, zu denen die Herstellung kultureller Werke und die gesprochene Tat gehören. Die implizite Unterscheidung zwischen Körper und Geist in Vita activa hat schon seit längerem die kritische Aufmerksamkeit feministischer Theoretiker / ​innen auf sich gezogen.5 Diese Sicht des fremden, ungelernten, feminisierten Körpers, der der Privatsphäre angehört, ist bezeichnenderweise die Bedingung der Möglichkeit des sprechenden männlichen Bürgers (der ja vermutlich von jemandem genährt und behütet wird und um dessen Ernährung und Schutz sich normalerweise irgendeine entrechtete Bevölkerungsgruppe kümmert). Fairerweise muss man sagen, dass Arendt in ihrem Buch Über die Revolution darauf hinweist, dass die Revolution verkörpert ist. In Bezug auf den »Elendsstrom der Massenarmut« schreibt sie, dass sich in ihm »jenes Element der Unwiderstehlichkeit [verkörperte], das, wie wir sahen, so eng dem ursprünglichen Sinn des Wortes ›Revolution‹ assoziiert war«. Sie verknüpft dieses »Element der Unwiderstehlichkeit« freilich sogleich mit »der Notwendigkeit, die wir natürlichen Prozessen 64

zuschreiben […], weil wir selbst Notwendigkeit als das Charakteristikum unseres organischen Lebens erfahren«. Wenn die Armen durch die Straßen strömen, handeln sie aus Notwendigkeit, aus Hunger und Not, und sie versuchen, sich »die Befreiung [von dieser Lebensnotwendigkeit] mit Gewalt« zu verschaffen. Dies habe dazu geführt, so Arendt, »daß die Gewalt selbst sich der Notwendigkeit anglich und den politischen Bereich zerstörte – d. h. den einzigen Bereich, in dem Menschen wirklich frei sein können«.6 Die durch Hunger hervorgerufene politische Bewegung wird nach Arendts Verständnis nicht durch Freiheit, sondern durch Notwendigkeit motiviert, und die Form der Befreiung, die sie anstrebt, ist nicht Freiheit, sondern ein unmöglicher und gewaltsamer Versuch, sich von den Lebensnotwendigkeiten zu befreien. Folgerichtig zielten soziale Bewegungen der Armen nicht darauf ab, diese von ihrer Armut, sondern von der Notwendigkeit zu erlösen, und die Gewaltsamkeit zwischen Menschen, bei denen sich das Thema Lebensnotwendigkeiten bereits erledigt hat, sei, wie sie deutlich hervorhebt, »weniger schrecklich« als die von den Armen ausgeübte Gewalt. Sie stellt fest  : »Heute jedenfalls scheint nichts veralteter und überflüssiger, als zu versuchen, die Menschheit durch politische Mittel von Armut zu befreien.«7 Wir  sehen hier nicht nur eine operative Unterscheidung zwischen »Befreiung« und »Freiheit«, die eindeutig impliziert, dass Befreiungsbewegungen mit einem weniger »wahren« Freiheitssinn operieren, sondern der politische Bereich wird auch einmal mehr eisern vom Bereich der ökonomischen Notwendigkeit unterschieden. Für Arendt scheint, wer aus Notwendigkeit handelt, vom Körper her zu handeln, aber Notwendigkeit kann nie eine Form der Freiheit sein (sie ist ihr Gegen65

teil) und Freiheit kann nur von denjenigen erreicht werden, die, nun ja, keinen Hunger haben. Doch was ist mit der Möglichkeit, dass man hungrig, zornig, frei und vernünftig ist und dass eine politische Bewegung zur Überwindung der Ungleichverteilung von Nahrungsmitteln recht und billig ist  ? Wenn der Körper auf der Stufe der Notwendigkeit bleibt, dann kann offenbar keine politische Erklärung der Freiheit eine verkörperte sein. Linda Zerilli hat überzeugend argumentiert, dass Arendts Verweis auf den Körper als einer Sphäre der Notwendigkeit die rhythmischen Muster der Vergänglichkeit markieren soll, die Tatsache also, dass menschliche Artefakte kommen und gehen, und dieses Faktum der Sterblichkeit wirft seinen Schatten auf menschliche Formen des Machens (poiesis) ebenso wie des Handelns (praxis).8 Was wir als die unerbittliche und sich wiederholende Sterblichkeit des Körpers auffassen können, lässt sich nicht durch menschliches Handeln angehen oder beheben. Es gibt keine »Flucht aus der verkörperten Existenz« ohne den Verlust der Freiheit selbst. Freiheit verlangt diese Versöhnung mit der Notwendigkeit. Die »Flucht«-Formulierung ist sinnvoll, solange »verkörpertes Handeln« mit »Notwendigkeit« gleichgesetzt wird  ; wenn aber die Freiheit verkörpert ist, erweist sie sich als zu weit gefasst. Die Suche nach einer Form menschlichen Handelns, die den Tod überwinden könnte, ist selbst unmöglich und gefährlich und führt uns weiter von einem Gefühl für die Gefährdetheit des Lebens weg. In diesem Sinne gebietet der Körper ein Prinzip der Demut und ein Gefühl für die notwendige Grenze alles menschlichen Tuns. Betrachten wir das Problem jedoch vom Standpunkt der ungleichen demografischen Verteilung der Prekari66

tät, so müssen wir fragen  : Wessen Leben werden eher beschnitten  ? Wessen Leben werden in ein stärkeres Gefühl der Vergänglichkeit und der Frühsterblichkeit gestürzt  ? Wie wird das differenzielle Sterblichkeitsrisiko verwaltet  ? Wenn wir über Vergänglichkeit und Sterblichkeit nachdenken, befinden wir uns, mit anderen Worten, schon mitten im Politischen. Das heißt nicht, dass es in einer gerechten Welt keine Sterblichkeit gäbe  ! Keineswegs. Es bedeutet lediglich, dass das Engagement für Gleichheit und Gerechtigkeit es erforderlich macht, sich auf allen institutionellen Ebenen mit der ungleich verteilten Gefährdung durch Tod und Sterben zu beschäftigen, die gegenwärtig für das Leben unterjochter Völker und gefährdeter Menschen charakteristisch ist, häufig als Folge eines systematischen Rassismus oder von Formen einer kalkulierten Preisgabe. Ruth Gilmores mittlerweile berühmt gewordene Beschreibung des Rassismus bringt dies besonders deutlich auf den Punkt  : »Im Besonderen ist Rassismus die staatlich sanktionierte oder außergesetzliche Erzeugung und Ausnutzung von gruppendifferenzierter Vulnerabilität gegenüber einem vorzeitigen Tod.«9 Trotz dieser klaren Einschränkungen bietet uns Arendt eine Möglichkeit zu verstehen, wie Versammlungen und Zusammenkünfte den Erscheinungsraum bestimmen oder neu bestimmen können, sogar die Demonstrationen unter dem Namen »Black Lives Matter«. Denn auch wenn wir ihr nicht zustimmen können, dass die Sterblichkeit des Körpers eine rein vorpolitische Bedingung des Lebens ist, liefern ihre Schriften doch einige wichtige Ansätze zum Verständnis der Verkörpertheit pluralen menschlichen Handelns. Eine Absicht dieses Buches liegt vielleicht darin, dass wir versuchen sollten, diese Unterscheidungen bei Arendt 67

zu überdenken und zu zeigen, dass der Körper, oder vielmehr die konzertierte körperliche Aktion – SichVersammeln, Gestikulieren, Stillstehen, das heißt all jene Bestandteile der »Versammlung«, die sich nicht so schnell von der verbalen Rede assimilieren lassen – Grundsätze der Freiheit und der Gleichheit zum Ausdruck bringen kann. Auch wenn ich Arendts Körperpolitik in Teilen kritisiere,10 möchte ich auf ihren Text »Der Niedergang des Nationalstaates und das Ende der Menschenrechte« aufmerksam machen, der sich mit der Frage der Rechte der Rechtlosen beschäftigt.11 Arendts Behauptung, auch die Staatenlosen hätten »das Recht, Rechte zu haben«, ist selbst schon eine Art performative Übung, wie unter anderem schon Bonnie Honig überzeugend dargelegt hat  ; Arendt macht nur durch ihre Behauptung das Recht geltend, Rechte zu haben, und es gibt keinerlei Grundlage für diese Behauptung außerhalb ihrer selbst. Auch wenn diese Behauptung manchmal als rein linguistisch aufgefasst wird, so ist doch klar, dass sie durch Körperbewegung, Versammlung, Handeln und Widerstand inszeniert wird. Im Jahr 2006 beanspruchten mexikanische Arbeiter ohne Papiere ihre Rechte, indem sie öffentlich eine spanische Version der amerikanischen Nationalhymne sangen. Sie machten dieses Recht mit der und durch die Vokalisierung selbst geltend. Und diejenigen, die sich gegen die Ausweisung der Roma – der Zigeuner – aus Frankreich wehrten, sprachen sich damit nicht nur für die Roma aus, sondern auch gegen die willkürliche und gewaltsame Macht eines Staates, einen Teil seiner Bevölkerung in die Staatenlosigkeit zu treiben. Die Ermächtigung der Polizei durch die französische Regierung, verschleierte Frauen verhaften und abführen zu können, lässt sich 68

als ein weiteres Beispiel einer diskriminierenden Handlung anführen, die auf eine Minderheit abzielt und ihr eindeutig das Recht aberkennt, in der Öffentlichkeit zu erscheinen, wie sie will. Französische Feminist / ​innen, die sich Universalist / ​innen nennen, haben das Gesetz befürwortet, das die Polizei berechtigt, Frauen, die auf den Straßen Frankreichs einen Gesichtsschleier tragen, festzuhalten, zu verhaften und mit einem Bußgeld zu belegen. Was ist das für eine Politik, die die polizeilichen Aufgaben des Staates dazu benutzt, Frauen aus religiösen Minderheiten in der Öffentlichkeit zu überwachen und einzuschränken  ? Warum befürworten dieselben Universalist / ​innen, die offen für die Rechte von Trans-Menschen eintreten, frei und ohne Polizeischikane in der Öffentlichkeit zu erscheinen, gleichzeitig polizeiliche Maßnahmen gegen muslimische Frauen, die öffentlich religiöse Kleidung tragen  ? Die Befürworter / ​ innen des Verbots berufen sich auf einen universalistischen Feminismus und argumentieren, der Schleier verletze das Zartgefühl des Universalismus.12 Aber was ist das für ein Universalismus, der sich auf eine ganz spezifische säkulare Tradition gründet und die Rechte religiöser Minderheiten, Kleidercodes zu befolgen, nicht anerkennt  ? Selbst wenn man den problematischen Bezugsrahmen dieses Universalismus nicht verlassen würde, ließe sich schwerlich ein schlüssiges und widerspruchfreies Kriterium dafür finden, warum TransMenschen vor Polizeigewalt geschützt werden und mit vollem Recht in der Öffentlichkeit erscheinen können sollten, während muslimischen Frauen – nicht aber Christinnen und Jüdinnen – das Recht aberkannt wird, in einer Weise öffentlich zu erscheinen, die ihre Religionszugehörigkeit zum Ausdruck bringt. Wenn Rechte nur für diejenigen universalisiert werden können, die 69

sich an säkulare Regeln halten oder Religionen angehören, die als rechtlich schützenswert erachtet werden, dann ist das »Universelle« mindestens bedeutungsleer, wenn nicht gar zum Instrument der Diskriminierung, des Rassismus und der Exklusion geworden. Wenn das Recht zu erscheinen »universell« anerkannt werden soll, könnte es einen solch offensichtlichen und unerträglichen Widerspruch nicht überleben. Was wir manchmal als »Recht« zu erscheinen bezeichnen, wird stillschweigend von Ordnungsschemata gestützt, nach denen nur bestimmte Subjekte überhaupt dafür in Frage kommen, dieses Recht auch auszuüben. Wie »universell« das Recht zu erscheinen auch zu sein behauptet – sein Universalismus wird von differenziellen Machtformen untergraben, die darüber entscheiden, wer erscheinen kann und wer nicht. Für diejenigen, die als »untauglich« erachtet werden, hat das Bemühen um die Bildung von Allianzen oberste Priorität und dazu gehört auch eine plurale und performative Postulierung der Tauglichkeit, die bis dahin nicht existierte. Diese Art der pluralen Performativität strebt nicht einfach danach, den zuvor Unberücksichtigten und aktiv Gefährdeten einen Platz in einer bestehenden Erscheinungssphäre zu geben. Sie versucht vielmehr, einen Spalt in der Erscheinungssphäre zu erzeugen und den Widerspruch offenzulegen, mit dem deren Universalitätsanspruch postuliert und entkräftet wird. Es kann keinen Eintritt in die Erscheinungssphäre ohne eine Kritik an den differenziellen Machtstrukturen geben, die diese Sphäre konstituieren, und ohne eine kritische Allianz, in der sich die Unberücksichtigten, die Untauglichen – die Gefährdeten – verbünden, um neue Erscheinungsformen zu etablieren, die jene Machtstrukturen zu überwinden versuchen. Es kann durchaus sein, dass 70

jede Erscheinungsform von ihrer »Außenseite« konstituiert wird, das ist aber kein Grund, den Kampf aufzugeben. Es ist sogar ein Grund mehr, darauf zu bestehen, dass der Kampf weitergeht. Wenn man versucht, die performative Politik in ihrem Kampf gegen die Prekarität zu verstehen, geht es oft um ganz alltägliche Situationen und Handlungen. Wie wir wissen, ist es nicht für jeden Menschen selbstverständlich, ohne Belästigung auf die Straße oder in ein Lokal gehen zu können. Allein ohne Polizeischikane auf der Straße zu spazieren heißt gerade nicht, sich in der Gesellschaft anderer zu bewegen und die nichtpolizeilichen Formen des Schutzes, die dies bietet, zu nutzen. Wenn jedoch eine Trans-Person in Ankara über die Straße geht oder in Baltimore ein McDonald’s-Restaurant betritt,13 stellt sich die Frage, ob dieses Recht vom Individuum allein ausgeübt werden kann. Wenn die betreffende Person über außergewöhnliche Fähigkeiten der Selbstverteidigung verfügt, ist das vielleicht der Fall  ; wenn sie sich in einem Kulturraum befindet, in dem das akzeptiert wird, ist es ganz sicher der Fall. Doch wann immer es möglich wird, sich unbeschützt fortzubewegen und dennoch sicher zu sein, wann immer das alltägliche Leben selbst ohne Angst vor Gewalt möglich wird, liegt der Grund gewiss darin, dass es viele gibt, die hinter jenem Recht stehen, auch wenn es nur von einer einzigen Person ausgeübt wird. Wenn das Recht ausgeübt und anerkannt wird, dann deshalb, weil viele andere es ebenfalls ausüben, ob sie nun vor Ort sind oder nicht. Jedes »Ich« bringt das »Wir« mit, wenn es durch die Tür hinein oder hinaus tritt und sich schutzlos in einem geschlossenen Raum oder auf offener Straße wiederfindet. Man kann sagen, dass in die71

sen Fällen immer eine Gruppe, wenn nicht eine Allianz, mitläuft, ob diese nun zu sehen ist oder nicht. Natürlich ist es nur eine einzelne Person, die dort hingeht, die das Risiko eingeht, dort hinzugehen, und doch durchzieht auch die soziale Kategorie diesen ihren Gang und Weg, diese singuläre Bewegung in der Welt  ; und wenn es einen Angriff gibt, so zielt er gleichermaßen auf das Individuum wie auf die soziale Kategorie. Vielleicht können wir sowohl die Geltendmachung des sozialen Geschlechts als auch den verkörperten politischen Anspruch auf Gleichheit, den Schutz vor Gewalt und die Fähigkeit, sich mit und innerhalb dieser sozialen Kategorie im öffentlichen Raum zu bewegen, nach wie vor »performativ« nennen. Mit diesem Gang sagt man, dass dies ein öffentlicher Raum ist, in dem Trans-Menschen gehen, dass es ein öffentlicher Raum ist, in dem sich ganz unterschiedlich gekleidete Menschen, egal für welches Geschlecht oder welche Religion sie stehen, frei und ohne Gewaltandrohung bewegen können. Um an der Politik teilzunehmen, um ein Teil konzertierter und kollektiver Aktionen zu werden, darf man nicht nur Gleichheit fordern (gleiche Rechte, gleiche Behandlung), sondern muss auch im Sinne der Gleichheit handeln und Eingaben machen – als Akteur / ​in, der / ​die mit anderen auf einer Stufe steht. Auf diese Weise können die Gemeinschaften, die sich auf der Straße versammeln, eine andere Idee von Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit inszenieren als die, gegen die sie opponieren. Das »Ich« ist also unmittelbar ein »Wir«, ohne zu einer unmöglichen Einheit verschmolzen zu werden. Ein / ​e politische / ​r Akteur / ​in zu sein ist eine Funktion, ein Merkmal des gleichberechtigten Handelns mit anderen Menschen – diese wichtige Arendt’sche Formulierung ist für heutige demokrati­ 72

sche Kämpfe nach wie vor relevant. Gleichheit ist eine Bedingung und eine Eigenart des politischen Handelns selbst und ist zugleich dessen Ziel. Der Gebrauch der Freiheit ist etwas, das nicht aus dir oder aus mir kommt, sondern aus dem, was zwischen uns ist, aus dem Bund, den wir in dem Moment schließen, in dem wir gemeinsam Freiheit ausüben, einem Bund, ohne den es überhaupt keine Freiheit gibt. Im Jahr 2010 nahm ich an einer internationalen Konferenz gegen Homophobie und Transphobie in Ankara teil. Die Tagung war ein wichtiges Ereignis in der türkischen Hauptstadt, wo Trans-Personen mit Geldstrafen belegt werden können, weil sie in der Öffentlichkeit erscheinen, wo sie oft zusammengeschlagen werden, auch von der Polizei, und wo es in den letzten Jahren fast monatlich Morde, insbesondere an Transfrauen, gab. Wenn ich die Türkei als Beispiel nenne, dann nicht, um damit zu zeigen, wie »rückständig« sie ist – was mir sehr schnell von der dänischen Botschaft unterstellt wurde und was ich ebenso schnell zurückwies. Ich versichere Ihnen, dass es ebenso brutale Morde auch in der Umgebung von Los Angeles und Detroit, in Wyoming und Louisiana gab, dazu, wie wir wissen, Schikanen und Tätlichkeiten in Baltimore und in der Penn Station in New York City. Was mir in Ankara vielmehr exemplarisch erschien, war, dass verschiedene feministische Organisationen dort gemeinsam mit queeren, schwullesbischen und Transgender-Menschen gegen Polizeigewalt, aber auch gegen Militarismus, Nationalismus und die diesen zugrunde liegenden Formen des Maskulinismus vorgingen. So reihten sich also nach der Konferenz Feminist / ​innen neben Dragqueens, Genderqueere neben Menschenrechtsaktivist / ​ innen und Lippenstift-Lesben neben ihren bi- oder heterosexuel73

len Freunden und Freundinnen ein  ; Säkularist / ​innen marschierten gemeinsam mit Muslim / ​innen und skandierten  : »Wir werden keine Soldaten und wir werden nicht töten.« Die Ablehnung von Polizeigewalt gegen Transgender stand somit für den offenen Protest gegen militärische Gewalt und die nationalistische Eskalation des Militarismus  ; desgleichen richtete sie sich gegen die militärische Aggression gegen die Kurden und die Nichtanerkennung ihrer politischen Forderungen, aber auch gegen ein Vergessen des Völkermordes an den Armeniern und gegen andere Akte des Verleugnens durch Staaten, die ihre Gewalt auf andere Weise fortsetzen. Während also in der Türkei Feminist / ​innen gemeinsam mit Trans-Aktivist / ​innen auf die Straße gingen, herrscht in vielen feministischen Kreisen nach wie vor ein gewisser Widerstand gegen diese Art der Allianz. So hat sich in Frankreich unter einigen Feminist / ​innen, die sich selbst als links, ja als materialistisch verstehen, die Ansicht durchgesetzt, dass Transsexualität eine Art Krankheit sei. Es ist natürlich ein Unterschied, ob man queere und Transgender-Personen, die in der Öffentlichkeit erscheinen, kriminalisiert oder ob man sie pathologisiert. Die erste Position ist eine moralische, die gewöhnlich auf einer falschen Auffassung von öffentlicher Moral beruht. Wer Teile der Bevölkerung kriminalisiert, verwehrt diesen nicht nur den Schutz vor polizeilicher und anderer öffentlicher Gewalt, sondern versucht auch, die politische Bewegung zu unterminieren, die für Entkriminalisierung und die Gewährung politischer Rechte eintritt. Sich auf das Modell »Krankheit« – oder gar das Modell »Psychose« – zu verlegen heißt, eine pseudowissenschaftliche Erklärung heranzuziehen, um bestimmte verkörperte Daseinsweisen zu diskreditieren, die niemandem schaden. Tatsächlich 74

trägt das Modell der Pathologisierung zur Unterminierung der auf die Erlangung von Rechten abzielenden politischen Bewegung, denn die Erklärung impliziert, dass die fraglichen sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten eher eine »Behandlung« brauchen als Rechte. Wir sollten uns folglich vor Vorstößen in Acht nehmen, wie sie beispielsweise die spanische Regierung unternommen hat, die Transsexuellen Rechte eingeräumt und gleichzeitig Richtlinien zur psychischen Gesundheit übernommen hat, die ebenjene Bevölkerungsgruppen pathologisieren, deren Rechte sie verteidigen. In den Vereinigten Staaten und anderen Ländern, in denen psychische Erkrankungen nach dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) klassifiziert werden, sollten wir ebenso misstrauisch gegenüber den geltenden »Übergangsregelungen« sein, nach denen Trans-Menschen zuerst einen pathologischen Befund brauchen, um finanzielle Unterstützung für ihre Transition beantragen zu können und rechtlich als Transgender oder mit welchem Geschlecht auch immer anerkannt zu werden. Wenn Trans-Personen eine »Pathologisierung« durchmachen müssen, um den nichtpathologischen Charakter ihres Begehrens zu verwirklichen und eine verkörperte Lebensweise durchzusetzen, die lebbar ist, dann ist der Preis der Befreiung in diesen Fällen folglich ein Leben durch Pathologisierung. Was für eine Befreiung ist das und wie ließe sich vermeiden, dass man einen solch schrecklichen Preis zahlen muss  ? Unsere Instrumente werden wirksamer, je häufiger wir sie verwenden und je öfter sie die gewünschten Ergebnisse erzielen. Gewünschte Ergebnisse sind jedoch nicht immer dasselbe wie breitere soziale und politische Wirkungen. Wir müssen uns also anscheinend Gedanken 75

über die Art des Anspruchs machen, den Transsexualität stellt. Dieser Anspruch bezieht sich auf das Recht, in der Öffentlichkeit zu erscheinen und seine Freiheit auf diese Weise auszuüben  ; dadurch ist er implizit mit jedem anderen Kampf verknüpft, in dem es darum geht, ohne Gewaltandrohung auf der Straße zu erscheinen. In diesem Sinne ist die Freiheit zu erscheinen für jeden demokratischen Kampf wesentlich, was bedeutet, dass die Kritik der politischen Formen des Erscheinens, einschließlich derer der Beschränkung und Vermittlung, durch die jede solche Freiheit erscheinen kann, entscheidend ist, wenn man verstehen will, was d ­ iese Freiheit sein kann und welche Interventionen n ­ ötig sind. All das lässt natürlich nach wie vor die Frage unbeantwortet, was es heißt, zu erscheinen, und ob dieses Recht nicht die Idee der körperlichen Präsenz oder das, was manche als »Präsenzmetaphysik« bezeichnen würden, privilegiert. Selektiert nicht das Medium, was oder wer erscheinen kann  ? Und was ist mit denjenigen, die es vorziehen, nicht zu erscheinen und sich auf andere Weise demokratisch zu engagieren  ? Politisches Handeln kann manchmal wirkungsvoller sein, wenn es aus dem Schatten oder von den Rändern her angestoßen wird, und das ist ein wichtiger Punkt – so hat etwa die Vereinigung Palestinian Queers for Boycott, Divestment, and Sanctions (Palästinensische Queers für Boykott, Kapitalabzug und Sanktionen) Zweifel an der Idee geäußert, dass queerer Aktivismus sich immer vollständig öffentlich exponieren muss.14 Jeder Aktivist und jede Aktivistin muss aushandeln, wie viel und welche Art von Exponiertheit erforderlich ist, um die eigenen politischen Ziele zu erreichen. Es geht, so könnte man sagen, um ein Abwägen zwischen dem Bedürfnis nach 76

Schutz und der Notwendigkeit, ein öffentliches Risiko einzugehen. Manchmal kann diese öffentliche Seite eine Reihe von Wörtern sein und manchmal müssen die Körper auf der Straße nicht sprechen, um ihre Forderung zu stellen. Niemand sollte wegen seiner / ​ihrer Gender-Darstellung kriminalisiert werden und niemandem sollte aufgrund des performativen Charakters der eigenen Gender-Darstellung ein gefährdetes Leben drohen. Dieser Anspruch, dass Menschen Schutz vor Schikanierung, vor Einschüchterung, vor Kriminalisierung genießen sollten, egal als welches Geschlecht sie erscheinen, schreibt dabei jedoch in keiner Weise vor, ob oder wie sie erscheinen sollen. Es ist wirklich wichtig, dass man die aus dem US -amerikanischen Kontext stammenden Normen der Hypervisibilität nicht denen überstülpt, die andere Wege der politischen Gemeinschaftsbildung und des Befreiungskampfes gehen. Der entscheidende Punkt ist vielmehr, die Ungerechtigkeit der Kriminalisierung der Gender-Darstellung offenzulegen. Ein Strafrecht, welches eine Kriminalisierung auf der Grundlage der Darstellung oder Erscheinung des Geschlechts rechtfertigt, ist selbst kriminell und illegitim. Und wenn geschlechtliche oder sexuelle Minderheiten dafür kriminalisiert oder pathologisiert werden, wie sie erscheinen, wie sie Anspruch auf den öffentlichen Raum erheben, durch welche Sprache sie sich verständigen, mit welchen Mitteln sie Liebe oder Begehren ausdrücken, mit wem sie sich öffentlich verbünden, wem sie nahe sein oder mit wem sie geschlechtlich verkehren möchten oder wie sie ihre körperliche Freiheit ausüben, dann sind diese Akte der Kriminalisierung ihrerseits gewalttätig und in diesem Sinne auch ungerecht und kriminell. Die (polizeiliche) Überwachung und Kontrolle 77

des Geschlechts ist ein krimineller Akt, ein Akt, durch den die Polizei zum Kriminellen wird, und diejenigen, die der Gewalt ausgesetzt sind, schutzlos sind. Die Gewalt gegen Minoritätsgruppen seitens der Polizei nicht zu verhindern ist selbst eine grobe Fahrlässigkeit  ; die Polizei begeht hier ein Verbrechen und die Minderheiten bleiben auf der Straße gefährdet. Wenn wir von dem Recht Gebrauch machen, das Geschlecht zu sein, das wir sind, oder Sexualpraktiken auszuüben, die niemandem schaden, üben wir schon eine gewisse Freiheit aus. Selbst wenn man das Gefühl hat, dass man die eigene Sexualität oder das eigene Geschlecht nicht selbst gewählt hat, dass sie von der Natur oder einer anderen äußeren Autorität bestimmt worden sind, ändert das nichts an der Situation  : Will man diese Sexualität als Recht gegenüber einer Reihe von Gesetzen oder Regeln geltend machen, die sie als kriminell oder unehrenhaft erachten, dann ist diese Geltendmachung selbst performativ. Das ist eine Möglichkeit, die Ausübung des Rechts zu benennen, gerade dann, wenn es kein lokales Gesetz gibt, das diese Ausübung schützt. Es mag lokale Gemeinschaften geben und natürlich auch viele internationale Präzedenzfälle, aber wie Sie wissen, schützen diese die Person, die den Anspruch aktuell vor Ort erhebt, nicht unbedingt. Das Allerwichtigste ist jedoch in meinen Augen, dass man eine solche Position in der Öffentlichkeit geltend macht, dass man auf die Straße geht, wie man ist, dass man Arbeit und eine Wohnung findet, ohne diskriminiert zu werden, dass man vor Straßengewalt und polizeilicher Folter sicher ist. Selbst wenn man sich dafür entscheidet, zu sein, wer man ist, und wer man »ist« als nicht selbst gewählt empfunden wird, hat man die Freiheit zu einem Teil 78

ebendieses sozialen Projekts gemacht. Wir beginnen nicht als unser Geschlecht und entscheiden dann später, wie und wann wir es inszenieren. Die Inszenierung, die vor jeder Handlung des »Ich« einsetzt, gehört vielmehr zum ontologischen Modus des Geschlechts  ; es ist daher wichtig, wie, wann und mit welchen Folgen diese Inszenierung stattfindet, denn alle diese Dinge verändern das Geschlecht, das man »ist«. Es ist somit nicht möglich, die Geschlechter, die wir sind, und die Sexualitäten, die wir leben, von dem Recht jedes Menschen zu trennen, diese Realitäten öffentlich, frei und vor Gewalt geschützt zur Geltung zu bringen. Die Sexualität geht dem Recht gewissermaßen nicht voraus  ; die Ausübung der Sexualität ist eine Ausübung des Rechts, genau das zu tun. Sie ist ein gesellschaftliches Moment innerhalb unseres Intimlebens, und sie beansprucht Gleichheit  ; nicht nur Gender und Sexualität sind in gewissem Sinne performativ, sondern deren politische Artikulation und die Ansprüche, die in ihrem Namen gestellt werden. Wir können nun auf die Frage zurückkommen, was es bedeutet, Rechte zu beanspruchen, wenn man keine hat. Es bedeutet, auf genau die Fähigkeit Anspruch zu erheben, die uns verweigert wird, um ebendiese Verweigerung zu entlarven und ihr entgegenzuwirken. Wie im Falle der Hausbesetzer-Bewegungen in Buenos Aires, wo Menschen ohne Zuhause in leerstehende Gebäude einziehen, um damit die Grundlage dafür zu schaffen, ein Wohnrecht geltend machen zu können,15 geht es manchmal nicht darum, zuerst Macht zu erlangen, um dann handeln zu können  ; es geht vielmehr um das Handeln selbst und darum, mit dem Handeln die Macht zu beanspruchen, die man braucht. Das ist Performativität, wie ich sie verstehe, und es ist ebenso eine 79

Möglichkeit, aus der Prekarität heraus und gegen sie zu agieren. Prekarität ist die Rubrik, die Frauen, Queers, TransPersonen, Arme, anders Begabte, Staatenlose, aber auch religiöse und ethnische Minderheiten unter sich vereinigt  : Sie ist ein gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Zustand, aber keine Identität (tatsächlich durchschneidet sie die genannten Kategorien und schafft potenzielle Allianzen zwischen denjenigen, die nicht erkennen, dass sie zueinander gehören). Und ich glaube, wir konnten das bei den »Occupy Wall Street«-Demonstrationen erleben – niemand wird je nach einem Ausweis gefragt, um Zugang zu solchen Demonstrationen zu erhalten. Wenn man als Körper auf der Straße erscheint, hilft man dabei, den Anspruch zu erheben, der aus der pluralen Menge von Körpern erwächst, die sich ansammelt und beharrlich bleibt. Dies kann natürlich nur geschehen, wenn man auch erscheinen kann, wenn die Straßen zugänglich sind und man selbst nicht eingeschränkt ist. Wir werden im fünften Kapitel auf dieses Problem zurückkommen, wo es um die Versammlungsfreiheit geht. Die Frage nach dem Zusammenhang von Performativität und Prekarität lässt sich womöglich in den folgenden, wichtigeren Fragen zusammenfassen  : Wie spricht die unaussprechliche Bevölkerung und wie stellt sie ihre Forderungen  ? Um was für eine Art von Störung im Feld der Macht handelt es sich hier  ? Und wie können solche Bevölkerungsgruppen Anspruch auf das erheben, was sie für ihren Fortbestand brauchen  ? Wir müssen nicht nur leben, um handeln zu können, wir müssen auch handeln, politisch handeln, um unsere Existenzbedingungen zu sichern. Manchmal binden uns die Normen der Anerkennung in einer Weise, die 80

unsere Fähigkeit zu leben gefährdet  : Was ist, wenn das Geschlecht, das die für unsere Anerkennung erforderlichen Normen bestimmt, uns auch Gewalt antut, ja unser Überleben gefährdet  ? In diesem Fall nehmen uns genau die Kategorien, die uns Leben zu versprechen scheinen, das Leben weg. Es geht nicht darum, eine solche Doppelbindung zu akzeptieren, sondern Lebensweisen anzustreben, in denen performative Akte gegen die Prekarität ankämpfen, um mit diesem Kampf eine Zukunft zu eröffnen, in der wir in neuen gesellschaftlichen Daseinsweisen leben, manchmal gefährlich nah am Rande der Unerkennbarkeit und manchmal im Scheinwerferlicht der beherrschenden Medien  ; in beiden Fällen aber – oder auch in dem Spektrum dazwischen – gibt es kollektives Handeln ohne ein vorgefertigtes kollektives Subjekt  ; das »Wir« wird vielmehr von der Versammlung der Körper inszeniert – plural, fortdauernd, handelnd und eine öffentliche Sphäre beanspruchend, von der man aufgegeben worden ist. Es gibt vielleicht Modalitäten der Gewalt, über die wir nachdenken müssen, wenn wir die polizeilichen Funktionen verstehen wollen, die hier am Werk sind. Schließlich handeln alle, die darauf bestehen, dass Gender immer nur auf eine Art oder in einem Gewand und keinem anderen erscheinen darf, und die versuchen, Menschen zu kriminalisieren oder zu pathologisieren, die ihr Geschlecht oder ihre Sexualität in nichtnormativer Weise leben, ihrerseits für die Erscheinungssphäre als Polizei, ob sie nun tatsächlich zu einer Polizeieinheit gehören oder nicht. Wie wir wissen, geht der staatliche Polizeiapparat manchmal selbst mit Gewalt gegen sexuelle und geschlechtliche Minderheiten vor, manchmal versäumt er es, zu ermitteln oder Morde an Transfrauen 81

als Straftaten zu verfolgen, und manchmal verhindert er nicht, dass es zu Gewalt gegen Trans-Personen in der Gesellschaft kommt. Mit Hannah Arendt können wir sagen, dass das Ausgeschlossensein aus dem Erscheinungsraum, der Ausschluss von der Teilnahme an der Pluralität, die den Erscheinungsraum entstehen lässt, bedeutet, des Rechts beraubt zu werden, Rechte zu haben. Plurales und öffentliches Handeln ist die Ausübung des Rechts auf einen Platz und auf Zugehörigkeit, und diese Ausübung ist das Mittel, durch das der Erscheinungsraum vorausgesetzt und ins Leben gerufen wird. Lassen Sie mich auf den Geschlechterbegriff zurückkommen, mit dem ich begann, um einerseits an Arendt anzuknüpfen und anderseits klarzustellen, warum ich ihr in manchen Punkten widerspreche. Wenn wir sagen, dass Gender der Gebrauch von Freiheit ist, so ist damit nicht gemeint, dass alles, was das Geschlecht konstituiert, frei gewählt ist. Wir erklären lediglich, dass auch die Dimensionen des Geschlechts, die eigentlich »fest verdrahtet« erscheinen – entweder konstitutiv oder erworben –, auf eine freie Weise beansprucht und ausgeübt werden können sollten. Mit dieser Formulierung nehme ich eine gewisse Distanz zu Arendt ein. Diesem Gebrauch von Freiheit muss dieselbe Gleichbehandlung zugestanden werden wie jeder anderen rechtmäßigen Ausübung von Freiheit. In politischer Hinsicht müssen wir darüber hinaus eine Erweiterung unserer Vorstellungen von Gleichheit verlangen, um diese Form der verkörperten Freiheit mit einzuschließen. Was meinen wir also damit, dass Sexualität oder Gender eine Ausübung von Freiheit ist  ? Um es noch einmal zu wiederholen  : Ich behaupte nicht, dass wir unser Geschlecht oder unsere Sexualität frei wählen. Wir werden ganz sicher durch die Sprache, die 82

Kultur, die Geschichte, die gesellschaftlichen Kämpfe, an denen wir teilnehmen, durch psychologische ebenso wie durch historische Kräfte geprägt – in der Interaktion und dadurch, dass biologische Zustände ihre eigene Geschichte und Wirksamkeit besitzen. Tatsächlich können wir durchaus das Gefühl haben, was und wie wir begehren, seien feststehende, unauslöschliche oder irreversible Merkmale dessen, wer wir sind. Aber unabhängig davon, ob wir unser Geschlecht oder unsere Sexualität nun als gewählt oder gegeben betrachten, hat jeder Mensch das Recht, dieses Geschlecht und diese Sexualität zu beanspruchen. Und es macht einen Unterschied, ob wir diesen Anspruch überhaupt stellen können. Wenn wir von dem Recht Gebrauch machen, als das Geschlecht zu erscheinen, das wir bereits sind, so üben wir damit, auch wenn wir keine andere Wahl zu haben meinen, eine gewisse Freiheit aus – wir tun aber auch noch mehr. Wenn man frei von dem Recht Gebrauch macht, zu sein, wer man schon ist, und eine soziale Kategorie zur Beschreibung dieser Daseinsweise beansprucht, dann macht man de facto die Freiheit zum Bestandteil ebenjener Sozialkategorie und verändert diskursiv die jeweilige Ontologie. Man kann die Geschlechter, die wir zu sein beanspruchen, und die Sexualitäten, die wir leben, unmöglich von unserem Recht trennen, diese Realitäten öffentlich oder privat – oder in den vielen Schwellen, die dazwischen existieren – frei, das heißt, ohne dass Gewalt droht, zu behaupten. Als ich vor langer Zeit sagte, das Geschlecht sei performativ, bedeutete das, dass es eine bestimmte Art von Inszenierung ist, das heißt, man ist nicht zuerst sein Geschlecht und entscheidet dann später, wie und wann man es inszeniert. Die Inszenierung gehört vielmehr schon zu seiner Ontologie, sie ist 83

eine Art des Überdenkens des ontologischen GenderModus und deshalb ist es wichtig, wie, wann und mit welchen Folgen diese Inszenierung stattfindet, denn all das verändert das Geschlecht, das man »ist«. Wir können diese Veränderung zum Beispiel in den signifikanten Akten erkennen, mit denen anfängliche Geschlechtszuweisungen abgelehnt oder revidiert werden. Im Akt der Bezeichnung als dieses oder jenes Geschlecht übt die Sprache eine bestimmte performative Wirkung auf den Körper aus, so wie sie es auch tut, wenn uns von Anfang an, wenn die Sprache noch unausgereift ist, eine bestimmte Hautfarbe, Rasse oder Nationalität zugewiesen wird beziehungsweise wir als behindert oder arm bezeichnet werden. Man stellt irgendwann fest, dass die Art, wie man in Bezug auf all diese Kategorien betrachtet wird, in einem Namen zusammengefasst wird, den man weder kannte noch wählte und der von einem Diskurs umgeben und infiltriert ist, der auf eine Weise wirkt, die man in dem Moment, in dem er seine Wirkung zu entfalten beginnt, unmöglich verstehen kann. Wir können fragen  : »Bin ich dieser Name  ?« – und wir tun es auch.16 Und manchmal fragen wir so lange, bis wir die Entscheidung treffen, dass wir der Name sind oder nicht sind, oder wir bemühen uns, einen besseren Namen für das Leben, das wir uns wünschen, zu finden, oder wir versuchen, in den Zwischenräumen all dieser Namen zu leben. Wie denken wir über die Kraft und die Wirkung jener Namen, mit denen wir bezeichnet werden, noch bevor wir als sprechende Wesen in die Sprache eintauchen und bevor wir zu irgendeinem eigenen Sprechakt imstande sind  ? Wirkt die Sprache schon auf uns, bevor wir sprechen, und könnten wir überhaupt sprechen, wenn sie es nicht täte  ? Vielleicht geht es hier auch nicht einfach um 84

die Reihenfolge  : Wirkt die Sprache genau in dem Moment, in dem wir sprechen, noch immer auf uns, so dass wir noch glauben, zu handeln, während gleichzeitig auf uns eingewirkt wird  ? Vor einigen Jahren wies Eve Sedgwick darauf hin, dass Sprechakte von ihren Zielen abweichen, wobei sie häufig Folgen zeitigen, die vollkommen unbeabsichtigt und oft äußerst glücklich sind.17 Nehmen wir als Beispiel das Ehegelübde  ; dieser Akt kann durchaus einen Bereich des Sexuallebens auftun, der ganz getrennt von der Ehe und häufig unbemerkt stattfindet. Obwohl der Ehe also eigentlich das Ziel zugeschrieben wird, die Sexualität in monogamer und konjugaler Weise zu organisieren, kann sie eine begehrte Zone für eine Sexualität schaffen, die nicht der öffentlichen Überwachung und Anerkennung unterliegt. Sedgwick macht deutlich, wie ein Sprechakt (»Ich erkläre Sie zu Mann und Frau«) von seinen eigentlichen Zielen abkommen kann und dass diese »Abweichung« eine der wichtigsten Bedeutungen des Wortes »queer« ist, das weniger als Identität denn als Bewegung des Denkens, Sprechens und Handelns verstanden wird, die in eine ganz andere als die ausdrücklich anerkannte Richtung verläuft. Anerkennung scheint zwar eine wichtige Voraussetzung für ein lebbares Leben zu sein, sie kann aber auch den Zwecken der Überprüfung, Überwachung und Normalisierung dienen, so dass eine queere Flucht notwendig wird, um die Lebbarkeit gerade jenseits von ihr zu erreichen. In meinen früheren Werken habe ich mich dafür interessiert, wie verschiedene Gender-Diskurse bestimmte Geschlechterideale zu erschaffen und zu verbreiten scheinen, wobei sie diese Ideale zwar selbst erzeugen, aber so tun, als käme in ihnen ein natürliches Wesen 85

oder eine innere Wahrheit zum Ausdruck. Die Wirkung eines Diskurses – in diesem Fall eine Reihe von Geschlechteridealen – wird also weitgehend als die innere Ursache des eigenen Begehrens und Verhaltens missverstanden, als eine Kernrealität, die in Gesten und Handlungen zum Ausdruck kommt. Diese innere Ursache oder Kernrealität tritt nicht nur an die Stelle der gesellschaftlichen Norm, sie maskiert sie sogar und erleichtert ihre Umsetzung. Die Formulierung »Gender ist performativ« führte zu zwei völlig gegensätzlichen Interpretationen  : Die erste lautete, dass wir unser Geschlecht von Grund auf selbst wählen, und die zweite, dass wir vollkommen von Geschlechternormen determiniert sind. Diese extrem unterschiedlichen Reaktionen zeigten, dass etwas noch nicht ganz deutlich gemacht und verstanden worden war, das mit der Dualität jeder Beschreibung von Performativität zu tun hat. Denn wenn die Sprache schon auf uns wirkt, bevor wir zu handeln beginnen, und in jedem Augenblick, in dem wir handeln, weiterwirkt, müssen wir die Gender-Performativität zuallererst als »Geschlechtszuweisung« begreifen – als all die vielen Arten und Weisen, in denen wir mit einem Namen belegt und sozialgeschlechtlich markiert werden, noch bevor wir die geringste Ahnung davon haben, wie Geschlechternormen auf uns wirken und uns formen, und bevor wir imstande sind, diese Normen in irgendeiner selbstbestimmten Weise zu reproduzieren. Die eigene Wahl spielt in diesem Prozess der Performativität erst spät eine Rolle. Und dann müssen wir Sedgwick zufolge verstehen, dass es Abweichungen von diesen Normen geben kann und gibt, die darauf hindeuten, dass im Herzen der Gender-Performativität etwas »Queeres« abläuft, eine Queerness, die sich nicht allzu sehr von den Schlenkern der Iterabilität 86

in Derridas Darstellung des Sprechakts als zitathaft unterscheidet. Nehmen wir also an, dass Performativität sowohl die Vorgänge beschreibt, mit denen auf uns eingewirkt wird, als auch die Bedingungen und Möglichkeiten des Handelns und dass sich ihr Wirken nur verstehen lässt, wenn wir beide Dimensionen berücksichtigen. Dass Normen auf uns einwirken, impliziert, dass wir für ihre Wirkung empfänglich sind, dass wir von Anfang an anfällig für gewisse Benennungen und damit auch Beschimpfungen sind. Und dies schreibt sich auf einer Ebene ein, die vor jeder Möglichkeit der Willensäußerung liegt. Eine Theorie der Geschlechtszuweisung muss dieses Feld einer ungewollten Empfänglichkeit, Anfälligkeit und Verwundbarkeit mitberücksichtigen, dieses Ausgesetztsein gegenüber der Sprache vor jeder Möglichkeit, einen Sprechakt zu bilden oder zu vollziehen. Solche Normen sind nicht ohne bestimmte Formen der körperlichen Verwundbarkeit denkbar, auf die sie einerseits angewiesen sind und die sie andererseits begründen. Aus diesem Grund sind wir imstande, die zitative Macht von Geschlechternormen zu beschreiben, wie sie von medizinischen, rechtlichen und psychiatrischen Institutionen eingeführt werden, und gegen die Wirkung zu protestieren, die sie auf die Bildung und das Verständnis der Geschlechter in einem pathologischen oder kriminellen Sinne haben. Und doch ist genau dieser Bereich der Anfälligkeit, dieser Zustand des Affiziertwerdens zugleich der Punkt, an dem etwas Queeres geschehen kann, an dem die Norm zurückgewiesen oder revidiert wird oder an dem Neuformulierungen von Gender ihren Anfang nehmen. Gerade weil auf diesem Gebiet des »Affiziertwerdens« etwas Unbeabsichtigtes und Unerwartetes geschehen kann, 87

kann das Geschlecht sich in Richtungen entwickeln, die mit mechanischen Wiederholungsmustern brechen oder von ihnen abweichen, die jene zitathaften Ketten der Geschlechternormativität resignifizieren oder manchmal sogar sprengen und Platz für neue Formen des Geschlechterlebens schaffen. Gender-Performativität beschreibt nicht nur, was wir tun, sondern auch wie sich Diskurs und institutionelle Macht auf uns auswirken, wie sie uns in Bezug auf das, was wir unser »eigenes« Handeln nennen, einschränken und lenken. Um zu verstehen, dass die Namen, die man uns gibt, genauso wichtig für die Performativität sind wie die Namen, die wir uns selbst geben, müssen wir die Konventionen identifizieren, die in einem breiten Spektrum von geschlechtszuweisenden Strategien am Werk sind. Dann können wir erkennen, wie der Sprechakt uns in einer verkörperten Weise affiziert und animiert – das Feld der Anfälligkeit und des Affekts hat immer schon mit irgendeiner Art von körperlichen Einschreibung zu tun. Gender und Performanz implizieren eine Verkörperung und diese hängt grundsätzlich von institutionellen Strukturen und umfassenderen Sozialwelten ab. Wir können nicht vom Körper sprechen, ohne zu wissen, was diesen Körper unterstützt und wie seine Beziehung zu dieser Unterstützung – oder Nichtunterstützung – aussehen könnte. In diesem Sinne ist der Körper weniger eine Entität als vielmehr eine lebendige Menge von Beziehungen  ; er lässt sich nicht vollständig von den infrastrukturellen, ihn umgebenden Bedingungen seines Lebens und Handelns ablösen. Sein Handeln ist immer bedingtes Handeln, und dies ist eine Bedeutung seiner Geschichtlichkeit. Des Weiteren offenbart die Abhängigkeit menschlicher und anderer Lebewesen von infrastruktureller Unterstützung eine spezifische 88

Verwundbarkeit, die uns trifft, wenn wir nicht unterstützt werden, wenn jene infrastrukturellen Bedingungen sich aufzulösen beginnen oder wenn wir uns völlig ohne jede Unterstützung im Zustand der Prekarität wiederfinden. Ohne diese Unterstützung in ihrem Namen zu handeln ist das Paradox des pluralen performativen Handelns unter den Bedingungen der Prekarität.18

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2. Körperallianzen und die Politik der Straße

Im ersten Kapitel habe ich darauf hingewiesen, dass die Geschlechterpolitik Bündnisse mit anderen, allgemein als gefährdet charakterisierten Bevölkerungsgruppen eingehen muss. Ich verwies auf Bewegungen, die sich für die Rechte geschlechtlicher Minderheiten oder geschlechtlich nonkonformer Menschen einsetzen, sich auf der Straße frei zu bewegen, ihre Arbeit zu behalten und sich gegen Belästigung, Pathologisierung und Kriminalisierung zu wehren. Damit der Kampf für die Rechte geschlechtlicher und sexueller Minderheiten auch ein Kampf für soziale Gerechtigkeit ist, das heißt, damit er als radikaldemokratisches Projekt charakterisiert werden kann, ist es notwendig zu erkennen, dass wir nur eine Bevölkerungsgruppe sind, die Bedingungen der Prekarität und Entrechtung ausgesetzt ist oder werden kann. Außerdem sind die Rechte, für die wir kämpfen, plurale Rechte, und diese Pluralität wird nicht im Vorhinein durch die Identität eingeschränkt, das heißt, es ist kein Kampf, zu dem nur einige Identitäten gehören können, sondern ganz entschieden ein Kampf, der versucht die Bedeutung dessen, was wir mit »wir« meinen, auszudehnen. Die öffentliche Geltendmachung des Geschlechts, die Ausübung des Rechts auf das Geschlecht ist, so könnte man sagen, bereits eine soziale Bewegung, und zwar eine, die stärker von den Verbindungen zwischen Menschen abhängt als von irgendeinem Individualismus-Begriff. Ihr Ziel ist es, den militärischen, disziplinarischen und regulatorischen Kräften und Regimes entgegenzuwirken, die 91

uns der Prekarität preisgeben  ; es gibt natürlich zahlreiche Krankheiten und Naturkatastrophen, die das Leben prekär machen können, worauf es aber ankommt, ist – wie wir beim Hurrikan Katrina in New Orleans auf dramatische Weise erleben konnten –, wie die bestehenden Institutionen Krankheiten behandeln oder eben nicht behandeln oder dass Naturkatastrophen in bestimmten Gebieten für einige Bevölkerungsteile zu verhindern sind, für andere aber nicht; all das führt zu einer demografischen Verteilung der Prekarität. Dies gilt in starkem Maße für die Obdachlosen und die Armen, aber auch für alle, die einer verheerenden Unsicherheit und dem Gefühl einer zerstörten Zukunft ausgesetzt sind, da die infrastrukturellen Bedingungen immer schlechter werden und der Neoliberalismus die unterstützenden Einrichtungen der Sozialdemokratie durch eine unternehmerische Ethik ersetzt, die selbst noch die Machtlosesten dazu ermahnt, Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen, ohne von anderen Menschen oder Dingen abhängig zu sein. Es ist, als ob unter den gegenwärtigen Bedingungen ein Krieg gegen die Idee der wechselseitigen Abhängigkeit geführt würde, gegen das, was ich an anderer Stelle das soziale Netzwerk der Hände, die versuchen, die Unlebbarkeit von Leben zu minimieren, genannt habe. Bei dieser Pluralität von Rechten – von Rechten, die wir als kollektiv und verkörpert betrachten müssen – handelt es sich nicht um eine Form der Affirmation der Art von Welt, in der jede / ​r von uns leben können sollte  ; sie geht vielmehr aus der Einsicht hervor, dass die Bedingung der Prekarität differenziell verteilt wird und dass der Kampf oder Widerstand gegen die Prekarität auf dem Anspruch basieren muss, dass Leben gleich behandelt werden und gleich lebbar sein sollten. Das bedeutet 92

auch, dass die Form des Widerstands selbst, die Art und Weise, in der Gemeinschaften organisiert sind, um sich der Prekarität zu widersetzen, idealerweise beispielhaft für genau die Werte stehen sollte, für die diese Gemeinschaften kämpfen. Allianzen, die sich zur Ausübung der Rechte geschlechtlicher und sexueller Minderheiten gebildet haben, müssen in meinen Augen, wie schwierig es auch sei, Verknüpfungen innerhalb der Vielfalt ihrer eigenen Gruppe und, was sich daraus implizit ergibt, auch mit allen anderen Gruppen bilden, die heute Bedingungen der auferlegten Prekarität unterworfen sind. Dieser Verknüpfungsprozess, wie kompliziert er auch sein mag, ist notwendig, weil die Gruppe der geschlechtlichen und sexuellen Minderheiten selbst divers ist – ein Wort, das für das, was ich sagen will, eigentlich nicht präzise genug ist  ; die Gruppe speist sich bezüglich Klasse, ethnischer Herkunft und Religion aus ganz unterschiedlichen Milieus und geht über sprachliche und kulturelle Grenzen hinweg. Was ich hier Allianz nenne, ist nicht nur eine zukünftige Sozialgestalt  ; manchmal ist sie latent, manchmal ist sie auch die Struktur unserer eigenen Subjektbildung, etwa dann, wenn die Allianz innerhalb eines einzelnen Subjekts entsteht, wenn dieses sagen kann  : »Ich bin selbst eine Allianz, ich verbünde mich mit mir selbst oder meinen vielen kulturellen Wechselfällen.« Das bedeutet lediglich, dass das fragliche »Ich« sich weigert, einen Minderheitenstatus oder gelebten Ort der Prekarität zugunsten eines anderen in den Hintergrund treten zu lassen  ; es ist eine Art zu sagen  : »Ich bin die Komplexität, die ich bin, und das heißt, dass ich mit anderen in Weisen verbunden bin, die für jede Berufung auf dieses ›Ich‹ wesentlich sind.« Eine derartige Sichtweise, die im Pronomen der ersten Person soziale Relationa93

lität andeutet, fordert uns heraus, die Unzulänglichkeit identitärer Ontologien für die theoretische Erfassung des Problems der Allianz zu begreifen. Der entscheidende Punkt ist nämlich, dass ich keine Ansammlung von Identitäten, sondern bereits eine Versammlung bin, ja sogar eine Generalversammlung beziehungsweise eine Assemblage, wie Jasbir Puar in Anlehnung an Gilles Deleuze schreibt.1 Am wichtigsten sind aber vielleicht jene Formen der Mobilisierung, die von einem geschärften Bewusstsein der Überschneidungen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen angetrieben werden  ; hier geht es um Menschen, denen der Verlust ihres Arbeitsplatzes oder der Entzug ihrer Wohnung durch Banken droht, Menschen, die differenziell dem Risiko der Belästigung, Kriminalisierung, Inhaftierung oder Pathologisierung ausgesetzt sind sowie um die besonderen ethnischen und religiösen Hintergründe all der Menschen, deren Leben von den Kriegsführern für entbehrlich erklärt wird. Meiner Ansicht nach folgt aus dieser Perspektive die Notwendigkeit eines allgemeineren Kampfes gegen die Prekarität, eines Kampfes, der aus einer gefühlten Wahrnehmung des Gefährdetseins hervorgeht, gelebt als schleichender Tod, als beschädigtes Zeitgefühl oder als Gefühl, in willkürlicher Weise und unkontrollierbar Verlust, Verletzung und Not ausgesetzt zu sein – dies ist eine Wahrnehmung, die zugleich singulär und plural ist. Es geht nicht darum, für eine Gleichheit auf die Straße zu gehen, die uns alle in gleich unlebbare Bedingungen stürzen würde. Wir müssen im Gegenteil zu einem gleichermaßen lebbaren Leben aufrufen, das auch von denjenigen umgesetzt wird, die den Aufruf starten, und das die egalitäre Verteilung öffentlicher Güter verlangt. Das Gegenteil von Prekarität ist nicht Sicherheit, sondern vielmehr der Kampf für 94

eine egalitäre gesellschaftliche und politische Ordnung, in der eine lebbare Interdependenz möglich wird – das wäre zugleich die Bedingung unserer Selbstverwaltung als Demokratie und ihre Nachhaltigkeit wäre eines der obligatorischen Ziele ebendieser Verwaltung. Wenn es so aussieht, als sei ich ein wenig vom Thema Gender abgekommen, so kann ich Ihnen versichern, dass der Schein trügt  ; denn eine der Fragen, die sich jede Gruppe, die für die Rechte von Frauen sowie von sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten einsteht, stellen muss, lautet  : Wie sollen wir uns verhalten, wenn sich Staatsregierungen oder internationale Organisationen für unsere Rechte einsetzen, um damit explizit einwanderungsfeindliche Kampagnen zu legitimieren (wie wir in Frankreich und in den Niederlanden sehen konnten), oder wenn Staaten auf ihre relativ fortschrittliche Menschenrechtssituation in Bezug auf Frauen, Lesben, Schwule und Transgender verweisen, um damit von ihrer katastrophalen Menschenrechtsbilanz in Bezug auf die Teile der Bevölkerung abzulenken, deren Grundrechte auf Selbstbestimmung, Bewegung und Versammlung beschnitten werden (wie im Fall der »Pinkwashing«-Kampagne des Staates Israel, die von dessen verbrecherischer Politik der Besatzung, Landenteignung und gewaltsamen Vertreibung ablenkt)  ? Sosehr wir uns auch wünschen, dass unsere Rechte anerkannt werden, müssen wir dieser Art der öffentlichen Anerkennung unserer Rechte entgegentreten, die nur den Zweck hat, die massive Entrechtung anderer zu kaschieren, zu denen in diesem Fall auch Frauen, Queers sowie geschlechtliche und sexuelle Minderheiten gehören, die ohne elementare Bürgerrechte in Palästina leben. Ich werde im dritten Kapitel darauf zurückkommen, wo es nicht nur um die Frage gehen wird, was es 95

heißt, sich miteinander zu verbünden, sondern auch darum, was es heißt, miteinander zu leben. Eine Politik der Allianz, so werde ich versuchen zu zeigen, beruht auf und bedarf einer Ethik der Kohabitation. Für den Moment möchte ich nur sagen  : Wenn die Zuteilung von Rechten für eine Gruppe für die Aberkennung grundlegender Ansprüche einer anderen instrumentalisiert wird, hat die berechtigte Gruppe die Pflicht, die Bedingungen abzulehnen, unter denen die politische und gesetzliche Anerkennung und Berechtigung verteilt werden. Damit ist nicht gesagt, dass wir bestehende Rechte aufgeben sollen, sondern nur, dass wir erkennen müssen, dass Rechte nur im Rahmen eines allgemeinen Kampfes für soziale Gerechtigkeit einen Sinn haben  ; werden sie differenziell verteilt, so wird durch die taktische Durchsetzung und Rechtfertigung von Rechten für Schwule und Lesben Ungleichheit installiert. Wir sollten uns daher daran erinnern, dass der Begriff »queer« sich nicht auf Identitäten, sondern auf Bündnisse bezieht  ; insofern ist er gut geeignet, wenn wir im Kampf für gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Gerechtigkeit unbequeme und unvorhersehbare Bündnisse eingehen. Immer wieder finden auf Straßen und Plätzen Massendemonstrationen statt, und auch wenn häufig unterschiedliche politische Ziele dahinterstecken, haben sie doch eines gemeinsam  : Körper versammeln sich, sie bewegen sich und sprechen zusammen und sie erheben Anspruch auf einen bestimmten Raum als öffentlichen Raum. Es wäre einfacher, zu sagen, dass diese Demonstrationen oder vielmehr Bewegungen dadurch charakterisiert sind, dass Körper zusammenkommen, um im öffentlichen Raum einen Anspruch geltend zu machen  ; diese Formulierung setzt jedoch voraus, dass es 96

den öffentlichen Raum schon gibt, dass er bereits öffentlich ist und auch als solcher anerkannt wird. Wir übersehen einen wichtigen Aspekt dieser Demonstrationen, wenn wir nicht erkennen, dass es gerade der öffentliche Charakter des Raumes ist, der zur Debatte steht und manchmal sogar heiß umkämpft ist, wenn die Massen sich versammeln. Natürlich sind die Bewegungen darauf angewiesen, dass es das Pflaster, die Straße, den Platz schon gibt, und natürlich sind sie schon oft an politisch bedeutsamen und geschichtsträchtigen Orten wie dem Tahrir-Platz zusammengekommen  ; wahr ist aber auch, dass die gemeinsamen Aktionen den Raum selbst einnehmen – sie schaffen den Platz, sie beleben und organisieren die Architektur. So sehr wir darauf bestehen müssen, dass die materiellen Voraussetzungen für die öffentliche Versammlung und die öffentliche Rede vorhanden sind, so sehr müssen wir auch fragen, wie Versammlung und Rede die Materialität des öffentlichen Platzes umgestalten und den öffentlichen Charakter dieser materiellen Umgebung hervorbringen beziehungsweise wieder hervorbringen können. Und wenn Massen sich außerhalb des Platzes bewegen, wenn sie in die Seitengassen und die Viertel mit ungepflasterten Straßen gehen, dann geschieht noch etwas mehr als das. In solch einem Moment lässt sich nicht mehr sagen, dass Politik ausschließlich in der Öffentlichkeit und außerhalb der Privatsphäre stattfindet, sie überschreitet diese Grenzen vielmehr ständig und lässt so erkennen, dass sie immer schon in den Häusern, Straßen und Vierteln oder gar in jenen virtuellen Räumen ist, die nicht an die Architektur von Häusern und Plätzen gebunden sind. Wenn wir daher darüber nachdenken, was es bedeutet, sich in großer Zahl, einer wachsenden Menge, 97

zu versammeln, und was es bedeutet, sich auf eine Weise im öffentlichen Raum zu bewegen, die den Unterschied zwischen öffentlich und privat in Frage stellt, können wir einige Möglichkeiten erkennen, wie Körper in ihrer Pluralität die Öffentlichkeit beanspruchen und das Öffentliche dadurch finden und hervorbringen, dass sie die stoffliche Seite ihrer materiellen Umgebung erfassen und umgestalten  ; gleichzeitig sind diese materiellen Umgebungen auch Teil der Handlung und sie handeln selbst, wenn sie zur Stütze des Handelns werden. Entsprechend wird auch in Fällen, in denen Lastwagen oder Panzer lahmgelegt und von Redner / ​innen erklommen werden, die sich an die Menge richten, das militärische Instrument selbst zu einer Basis oder Plattform des nichtmilitärischen Widerstands, wenn nicht gar zum Widerstand gegen das Militär selbst  ; in solchen Momenten wird die materielle Umgebung aktiv umgestaltet und umfunktioniert, um es mit Brecht zu sagen. Mithin müssen wir unsere Vorstellungen des Handelns sodann überdenken. Erstens stellt niemand eine Forderung nach Bewegungs- und Versammlungsfreiheit, ohne sich gemeinsam mit anderen zu bewegen und zu versammeln. Und zweitens sind der Platz und die Straße nicht nur die materielle Stütze des Handelns, sie müssen vielmehr selbst in jede Darstellung des körperlichen öffentlichen Handelns mit hineingenommen werden. Menschliches Handeln ist auf unterschiedlichste Arten der Unterstützung angewiesen – es ist immer unterstütztes Handeln. Aus den Disability Studies wissen wir, dass die Fähigkeit sich zu bewegen von Geräten und Oberflächen abhängt, die Bewegung möglich machen, und dass körperliche Bewegung von nichtmenschlichen Gegenständen und deren besonderer Handlungsfähigkeit unterstützt 98

und erleichtert wird. Im Falle öffentlicher Versammlungen sehen wir deutlich den Kampf um die Frage nach dem öffentlichen Raum, aber auch einen ebenso fundamentalen Kampf darum, wie Körper in der Welt unterstützt werden – einen Kampf für Beschäftigung und Bildung, für die gerechte Verteilung von Lebensmitteln, bewohnbare Unterkünfte sowie Freizügigkeit und Meinungsfreiheit, um nur einige zu nennen. Das bringt uns natürlich in eine Zwickmühle  : Wir können nicht ohne Unterstützungen handeln, müssen aber um die Unterstützungen kämpfen, die unser Handeln erst ermöglichen, weil sie wesentliche Bestandteile des Handelns sind. Hannah Arendts Auffassung der Rechte der Versammlung und der freien Meinungsäußerung, der Handlung und des Rechtsgebrauchs, war geprägt von der römischen Idee des öffentlichen Platzes. Sie hatte zweifellos sowohl die klassische griechische Polis als auch das römische Forum im Sinn, als sie erklärte, politisches Handeln erfordere grundsätzlich einen »Erscheinungsraum«. Sie schreibt beispielsweise  : »So ist die Polis genau genommen nicht die Stadt im Sinne ihrer geographischen Lokalisierbarkeit, sie ist vielmehr die Organisationsstruktur ihrer Bevölkerung, wie sie sich aus dem Miteinanderhandeln und -sprechen ergibt  ; ihr wirklicher Raum liegt zwischen denen, die um dieses Miteinander willen zusammenleben, unabhängig davon, wo sie gerade sind.«2 Der »wirkliche« Raum liegt also »zwischen« den Menschen, was bedeutet, dass zwar jede Handlung an einem geografisch bestimmbaren Ort stattfindet, darüber hinaus aber auch einen Raum schafft, der eigentlich der Allianz zugehört. Für Arendt ist diese Allianz nicht an ihren Ort gebunden, vielmehr bringt sie sogar ihren eigenen, hochgradig transponiblen Ort hervor. Arendt schreibt  : »Handeln 99

und Sprechen [etablieren] ein räumliches Zwischen […], das an keinen heimatlichen Boden gebunden ist und sich überall in der bewohnten Welt neu ansiedeln kann.«3 Wie ist nun dieser hochgradig, wenn nicht gar unendlich transponible Begriff des politischen Raumes zu verstehen  ? Arendt besteht zwar darauf, dass Politik den Erscheinungsraum braucht, sagt aber auch, dass der Raum die Politik hervorbringt  : »Dies räumliche Zwischen ist der Erscheinungsraum im weitesten Sinne, der Raum, der dadurch entsteht, daß Menschen voreinander erscheinen, und in dem sie nicht nur vorhanden sind wie andere belebten oder leblosen Dinge, sondern ausdrücklich in Erscheinung treten.«4 Einiges von dem, was sie hier sagt, ist eindeutig wahr. Raum und Ort werden durch plurales Handeln erzeugt. Ihrer Ansicht nach kommt jedoch dem Handeln, in seiner Freiheit und seiner Macht, die alleinige Fähigkeit zu, einen Ort zu erzeugen. Eine solche Sicht vergisst oder verwirft, dass jedes Handeln unterstützt wird und unweigerlich körperlich ist, selbst, wie ich zu zeigen versuche, in seinen virtuellen Formen. Die materiellen Stützen des Handelns sind nicht nur dessen Bestandteile, sondern auch das, worum und wofür gekämpft wird, besonders in den Fällen, in denen sich der politische Kampf um Nahrung, Beschäftigung, Mobilität und den Zugang zu Institutionen dreht. Wenn wir den Begriff des Erscheinungsraumes fruchtbar machen wollen, um die Macht und Wirkung der öffentlichen Demonstrationen unserer Zeit zu verstehen, werden wir die leiblichen Dimensionen des Handelns genauer betrachten müssen  : was der Körper braucht und was der Körper kann.5 Dies gilt in besonderem Maße im Hinblick auf Körper, die sich zusammen in einem geschichtlichen Raum befinden, der aufgrund ihres kollektiven Handelns eine his100

torische Transformation durchmacht  : Was hält sie dort zusammen und was sind die Bedingungen ihres Fortbestands und ihrer Macht in Bezug auf ihre Prekarität und ihr Ausgesetztsein  ? Ich möchte über den Fahrplan nachdenken, mittels dessen wir vom Erscheinungsraum zur gegenwärtigen Politik der Straße gelangen. Dabei weiß ich natürlich, dass es mir nicht gelingen würde, hier sämtliche Demonstrationsformen zusammenzutragen, deren Zeuge wir werden konnten und von denen einige nur episodenhaft, andere Teil von anhaltenden und wiederkehrenden sozialen und politischen Bewegungen und wieder andere revolutionär sind. Ich möchte darüber nachdenken, was diese Versammlungen, diese öffentlichen Demonstrationen zusammenbringt. Im Winter des Jahres 2011 gab es Demonstrationen gegen tyrannische Regime in Nordafrika und im Nahen Osten, aber auch gegen die um sich greifende Prekarisierung der arbeitenden Bevölkerung in Europa und auf der Südhalbkugel  ; es gab Kämpfe für das öffentliche Bildungswesen in den Vereinigten Staaten, in Europa und zuletzt auch in Chile  ; und es gab Anstrengungen, die Straßen sicherer für Frauen und für geschlechtliche und sexuelle Minderheiten, einschließlich Trans-Personen, zu machen, deren öffentliches Erscheinen allzu oft gesetzlicher und ungesetzlicher Gewalt ausgesetzt ist. In öffentlichen Versammlungen von Transgendern und Queers wird häufig die Forderung laut, die Straßen müssten vor der Polizei sicher gemacht werden, die in die Kriminalität verstrickt sei, besonders dann, wenn sie verbrecherische Regime unterstützt oder beispielsweise selbst genau die Verbrechen gegen sexuelle und geschlechtliche Minderheiten begeht, die sie eigentlich verhindern soll. Demonstrationen bieten eine der we101

nigen Möglichkeiten, die Polizeigewalt zu überwinden, insbesondere wenn die Versammlungen plötzlich zu groß oder zu beweglich, zu verdichtet oder zu zerstreut werden, um von der Polizeigewalt in Schach gehalten werden zu können, und wenn sie über die Mittel verfügen, sich an Ort und Stelle zu regenerieren. Vielleicht handelt es sich um anarchistische Momente oder Übergänge, in denen die Rechtmäßigkeit eines Systems oder seiner Gesetze in Frage gestellt wird, aber noch keine neue Rechtsordnung da ist, um ihren Platz einzunehmen. In dieser Zwischenphase artikulieren die versammelten Körper eine neue Zeit und einen neuen Raum für den Willen des Volkes, keinen einzelnen, identischen, einheitlichen Willen, sondern einen, der sich durch die Allianz voneinander getrennter und aneinander angrenzender Körper auszeichnet, deren Handeln und deren Nichthandeln eine andere Zukunft fordert. Gemeinsam üben sie die performative Kraft aus, Anspruch auf die Öffentlichkeit in einer Weise zu erheben, die noch nicht gesetzlich festgeschrieben ist und sich nie vollständig gesetzlich festschreiben lässt. Und diese Performativität umfasst nicht nur die Sprache, sondern auch die Ansprüche körperlicher Handlungen, Gesten, Bewegungen, der Versammlung, der Persistenz und des potenziell Gefährdetseins durch Gewalt. Wie ist dieses gemeinsame Agieren zu verstehen, das Zeit und Raum außerhalb und entgegen der etablierten Architektur und Zeitlichkeit des Regimes öffnet, das Anspruch auf die Materialität erhebt, auf seine Stützen baut und aus seinen materiellen und technischen Dimensionen schöpft, um deren Funktionen umzuarbeiten  ? Derartige Aktionen sorgen für eine Neubestimmung dessen, was als Öffentlichkeit und was als politischer Raum gilt. 102

Ich wende mich gegen Hannah Arendt, auch wenn ich mich ihrer Ausführungen bediene, um meinen eigenen Standpunkt klarzumachen. Ihr Werk unterstützt mein Vorhaben, aber ich lehne es auch in manchen Punkten ab. Arendts Standpunkt wird durch ihre eigene Geschlechterpolitik entkräftet, da diese auf einer Unterscheidung zwischen dem öffentlichen und dem privaten Bereich beruht, die die Sphäre der Politik den Männern und die Reproduktionsarbeit den Frauen überlässt. Wenn es einen Körper in der Öffentlichkeit gibt, so ist er mutmaßlich männlich, ungestützt und frei, etwas zu schaffen, aber selbst nicht geschaffen  ; und der Körper in der Privatsphäre ist entsprechend weiblich, alternd, fremd oder kindlich und immer vorpolitisch. Arendt war zwar, wie wir dank der wichtigen Arbeit von Adriana Cavarero wissen, eine Philosophin der Natalität,6 doch sie verstand diese Fähigkeit, etwas ins Leben zu rufen, als eine Funktion der politischen Rede oder Tat. Wenn männliche Bürger den öffentlichen Platz betreten, um über Fragen der Gerechtigkeit, der Vergeltung, des Krieges oder der Emanzipation zu diskutieren, setzen sie den illuminierten öffentlichen Platz als architektonisch umschlossenes Theater ihrer Rede als gegeben voraus. Und ihre Rede wird zur paradigmatischen Form der Handlung, sie ist physisch vom privaten Wohnsitz abgeschnitten, der seinerseits in Dunkelheit gehüllt ist und durch Tätigkeiten reproduziert wird, die keine richtigen Handlungen im eigentlichen und öffentlichen Sinn sind. Männer vollziehen den Übergang von jener privaten Dunkelheit in das Licht der Öffentlichkeit  ; sie werden angestrahlt, beginnen zu reden und ihre Rede fragt nach den Prinzipien der Gerechtigkeit, die sie artikuliert, sie wird selbst eine Form der kritischen Befragung und der demokratischen Be103

teiligung. Arendt verlegt diese klassische Szene gedanklich in die politische Moderne und versteht die Rede als körperliche und sprachliche Ausübung von Rechten. Körperlich und sprachlich – wie lassen sich die beiden Begriffe und ihre Verflechtung nun gegen jene Annahme einer geschlechtlich bestimmten Arbeitsteilung und über sie hinaus neu fassen  ? Für Arendt findet politisches Handeln unter der Bedingung statt, dass der Körper erscheint. Ich erscheine anderen und sie erscheinen mir, das heißt, ein Raum zwischen uns erlaubt uns jeweils zu erscheinen. Man könnte erwarten, dass wir innerhalb eines Raumes erscheinen oder dass wir von einer materiellen Organisation des Raumes unterstützt werden, doch das ist nicht Arendts Argument. Die Erscheinungssphäre ist nicht trivial, denn sie scheint nur unter der Bedingung einer gewissen intersubjektiven Konfrontation zu entstehen. Wir sind nicht einfach visuelle Phänomene füreinander – unsere Stimmen müssen registriert und also müssen wir gehört werden  ; wer wir in körperlicher Hinsicht sind, ist schon eine Art von Sein »für« den anderen, ein Erscheinen auf eine Weise, die wir weder sehen noch hören können  ; das heißt, wir werden für andere erreichbar, deren Perspektive wir weder vollständig antizipieren noch kontrollieren können. In diesem Sinne bin ich als Körper nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie, für mich, sondern ich finde mich, sofern ich mich überhaupt finde, durch die Perspektive anderer konstituiert und enteignet. Was das politische Handeln angeht, muss ich also anderen in einer Weise erscheinen, die ich nicht kennen kann, und folglich wird mein Körper von Perspektiven bestimmt, die ich nicht einnehmen kann, die aber gewissermaßen mich einnehmen. Das ist ein entscheidender Punkt, denn es 104

ist nicht so, dass der Körper nur meine eigene Perspektive bestimmt  ; er ist auch das, was diese Perspektive verschiebt und aus dieser Verschiebung eine Notwendigkeit macht. Am deutlichsten zeigt sich das, wenn wir an Körper denken, die zusammen agieren. Kein einzelner Körper stellt den Erscheinungsraum her  ; sondern diese Handlung, diese performative Geltendmachung findet nur »zwischen« Körpern statt, in einem Raum, der die Lücke zwischen meinem eigenen Körper und dem eines oder einer anderen konstituiert. Somit handelt mein Körper nicht allein, wenn er politisch handelt. Die Handlung erwächst vielmehr aus dem »Zwischen«, einer räumlichen Figur für eine Beziehung, die sowohl verbindet als auch trennt. Es ist gleichermaßen problematisch wie interessant, dass der Erscheinungsraum für Arendt nicht nur eine architektonische Gegebenheit ist  : »Ein Erscheinungsraum entsteht, wo immer Menschen handelnd und sprechend miteinander umgehen  ; als solcher liegt er vor allen Staatsgründungen und Staatsformen, in die er jeweils gestaltet und organisiert wird.«7 Mit anderen Worten  : Dieser Erscheinungsraum ist kein Ort, der von dem pluralen Handeln getrennt werden kann, das ihn erzeugt  ; er liegt nicht außerhalb der Handlung, die ihn hervorruft und konstituiert. Wenn wir uns dieser Sichtweise anschließen wollen, müssen wir jedoch verstehen, wie die handelnde Pluralität selbst konstituiert wird. Wie bildet sich eine Pluralität und welche materiellen Unterstützungen sind für diese Bildung notwendig  ? Wer tritt in die Pluralität ein, wer nicht, und wie werden solche Fragen entschieden  ? Wie beschreiben wir das Handeln und den Status derer, die aus dem Plural ausgegliedert werden  ? Welche politische Sprache steht uns zur Verfügung, um diese 105

Exklusion und die Formen des Widerstands, welche die Sphäre der Erscheinung in ihrer gegenwärtigen Begrenztheit aufbrechen, zu beschreiben  ? Sind die Menschen, die außerhalb der Erscheinungssphäre leben, die deanimierten »Gegebenheiten« des politischen Lebens  ? Sind sie bloßes Leben oder nacktes Leben  ? Sollen wir sagen, dass die Ausgeschlossenen einfach unwirklich sind, verschwunden, oder dass sie gar kein Sein besitzen – sollen wir sie als gesellschaftlich tote und bloß gespensterhafte Wesen theoretisch aufgeben  ? Wenn wir das tun, übernehmen wir nicht nur die Position eines bestimmten Regimes der Erscheinung, sondern ratifizieren diese Sichtweise sogar, auch wenn wir uns wünschen, sie in Frage zu stellen. Beschreiben solche Formulierungen einen Zustand der Verelendung aufgrund bestehender politischer Regelungen oder wird dieses Elend unwissentlich durch eine Theorie bestätigt, die sich die Perspektive derer zu eigen macht, welche die Sphäre der Erscheinung selbst regulieren und kontrollieren  ? Es geht um die Frage, ob die Notleidenden außer­ halb von Politik und Macht stehen, oder ob sie nicht eigentlich in einer spezifischen Form des politischen Elends leben, die mit spezifischen Formen des politischen Handelns und des Widerstands einhergeht, welche die Überwachung der Grenzen der Erscheinungssphäre selbst offenbaren. Wenn wir sagen, dass die Notleidenden außerhalb der Sphäre der Politik leben – herabgesetzt zu entpolitisierten Daseinsformen –, dann erkennen wir damit implizit die herrschenden Arten der Festlegung der Grenzen des Politischen als richtig an. Dies folgt in gewisser Weise aus der Arendt’schen Position, die bezüglich der Frage, was Politik sein sollte, wer Zugang zum öffentlichen Platz haben sollte 106

und wer in der Privatsphäre bleiben sollte, den inneren Standpunkt der griechischen Polis übernimmt. Solch eine Sichtweise vernachlässigt und entwertet jene Formen des politischen Handelns, die gerade in den als voroder außerpolitisch erachteten Bereichen entstehen, welche in die Erscheinungssphäre wie von außen – als ihr Äußeres – einbrechen und so die Unterscheidung zwischen innen und außen durchkreuzen. Denn in Momenten der Revolution oder des Aufstands sind wir nicht mehr sicher, was als politischer Raum wirksam ist, ebenso wie wir oft nicht mehr genau sagen können, in welcher Zeit wir eigentlich leben, weil die etablierten Regime von Raum und Zeit in einer Weise auf den Kopf gestellt werden, die ihre Gewalt und ihre kontingenten Grenzen offenbart. Wir sehen dies, wie bereits erwähnt, wenn sich illegale Arbeiter / ​innen in den Straßen von Los Angeles versammeln, um ihr Recht auf Versammlungsfreiheit und ihre Bürgerrechte einzufordern, ohne dass sie Bürger/innen wären oder ein gesetzmäßig verankertes Recht dazu hätten. Ihre Arbeit soll notwendig und im Verborgenen bleiben  ; wenn diese arbeitenden Körper also auf der Straße auftauchen und sich wie Bürger / ​innen verhalten, erheben sie einen mimetischen Anspruch auf Staatsbürgerschaft, der nicht nur die Weise ihres Erscheinens, sondern auch die Wirkungsweise der Sphäre des Erscheinens verändert. Wenn eine ausgebeutete und arbeitende Klasse auf der Straße erscheint, um sich zu zeigen und deutlich zu machen, dass sie nicht damit einverstanden ist, die unsichtbare Bedingung für das zu sein, was als politisch erscheint, wird die Erscheinungssphäre sowohl aktiviert als auch deaktiviert. Den Anstoß für Giorgio Agambens Begriff des »nackten Lebens«8 bildet ebenjenes Verständnis der Polis in Arendts politischer Philosophie, was ihn in 107

meinen Augen problematisch macht. Wenn wir nämlich der Exklusion selbst als politisches Problem, als Teil der Politik selbst Rechnung tragen wollen, dann reicht es nicht, zu sagen, dass jene Wesen, sobald sie einmal ausgeschlossen sind, politisch keine Präsenz beziehungsweise keine »Realität« besitzen, dass sie keinen gesellschaftlichen oder politischen Rang haben oder verstoßen und auf das bloße Sein reduziert werden (als von der Sphäre des Handelns ausgeschlossene Gegebenheiten). Derartige metaphysische Extravaganzen sind nicht nötig, wenn wir uns darauf verständigen, dass sich die Sphäre des Politischen unter anderem deswegen nicht über die klassische Vorstellung der Polis definieren lässt, weil wir dann keine Sprache für jene Formen des Handelns und des Widerstands hätten und verwenden könnten, derer sich die Besitzlosen bedienen. Wer ständig und ohne grundlegenden politischen Schutz durch Gesetze der Gewalt ausgesetzt ist, steht deswegen nicht außerhalb des Politischen oder ist seiner Handlungsfähigkeit vollkommen beraubt. Natürlich brauchen wir eine Sprache, um den Zustand des inakzeptablen Ausgesetztseins zu beschreiben, aber wir müssen aufpassen, dass die Sprache, die wir verwenden, die betreffenden Bevölkerungsgruppen nicht noch weiter von allen Formen der Handlungsfähigkeit und des Widerstands, allen Möglichkeiten des FüreinanderSorgens oder des Aufbaus von Hilfsnetzwerken ausschließt. Agamben stützt sich zwar auf Foucault, um eine Vorstellung des Biopolitischen zu artikulieren, doch die These des »nackten Lebens« bleibt von dieser Vorstellung unberührt. Infolgedessen können wir die Handlungsmodi der Staatenlosen, der Besetzten und der Entrechteten nicht innerhalb dieses Vokabulars be108

schreiben, weil selbst das rechtlose Leben immer noch der Sphäre des Politischen zugehört und somit nicht auf das bloße Sein reduziert, sondern in den meisten Fällen wütend, empört, aufgebracht und widerständig ist. Auch wer außerhalb etablierter und gesetzmäßiger politischer Strukturen steht, ist dennoch von Machtverhältnissen durchtränkt, und diese Durchtränkung ist der Ausgangspunkt einer Theorie des Politischen, die Formen der Herrschaft und der Unterwerfung ebenso einschließt wie Modi der Inklusion, der Legitimierung, der Delegitimierung und der Auslöschung. Glücklicherweise ist Arendt ihrem Modell aus Vita activa nicht konsequent gefolgt, weshalb sie sich beispielsweise Anfang der 1960er Jahre wieder dem Schicksal der Flüchtlinge und Staatenlosen zuwandte und das Recht, Rechte zu haben, auf eine neue Weise bekräftigte.9 Das Recht, Rechte zu haben, ist eines, dessen Legitimität nicht von einer bestehenden politischen Organisation abhängt. Wie der Erscheinungsraum geht es jeder politischen Institution voraus, die dieses Recht kodifizieren oder garantieren könnte  ; gleichzeitig ist es aus keiner natürlichen Reihe von Gesetzen abgeleitet. Das Recht entsteht, wenn von ihm Gebrauch gemacht wird, wenn es von denen ausgeübt wird, die gemeinsam und im Bündnis handeln. Menschen, die aus bestehenden politischen Systemen ausgeschlossen sind, die keinem Nationalstaat oder einer anderen zeitgenössischen Staatsform angehören, kann nur für »unwirklich« halten, wer die Bedingungen der Wirklichkeit zu monopolisieren versucht. Auch diese Menschen handeln, sogar nachdem die öffentliche Sphäre durch ihren Ausschluss definiert worden ist. Ob sie der Prekarität überlassen oder durch systematische Vernachlässigung dem Tod ausgeliefert werden – aus ihrem gemeinsamen 109

Handeln entsteht dennoch die konzertierte Aktion. Und das ist es, was wir sehen, wenn sich beispielsweise illegale Arbeiter / ​innen auf der Straße versammeln, ohne gesetzlich dazu berechtigt zu sein  ; wenn Hausbesetzer / ​innen in Argentinien Anspruch auf Gebäude erheben und damit von ihrem Recht auf eine bewohnbare Unterkunft Gebrauch machen  ; wenn Teile der Bevölkerung einen öffentlichen Platz für sich beanspruchen, der dem Militär gehörte  ; wenn Flüchtlinge an kollektiven Aufständen teilnehmen, um Unterkünfte, Nahrung und ihr Recht auf Asyl einzufordern  ; wenn sich Volksmassen ohne gesetzlichen Schutz und ohne Demonstrationsgenehmigung versammeln, um ein ungerechtes oder verbrecherisches Rechtsregime zu stürzen oder gegen Sparmaßnahmen zu protestieren, die für viele die Möglichkeit auf Beschäftigung und Bildung zunichtemachen  ; oder wenn diejenigen, deren bloßes öffentliches Erscheinen schon kriminell ist – TransMenschen in der Türkei oder Frauen, die den Schleier tragen, in Frankreich –, eben doch erscheinen, um diesen Status der Kriminalität anzufechten und ihr Recht zu erscheinen geltend zu machen. Das französische Gesetz, das »ostentative« religiöse Zurschaustellungen in der Öffentlichkeit ebenso verbietet wie das Verhüllen des Gesichts, will eine öffentliche Sphäre schaffen, in der Kleidung ein Signifikant des Säkularismus bleibt und die Entblößung des Gesichts zu einer öffentlichen Norm wird. Das Verbot, sein Gesicht zu verbergen, dient einer bestimmten Version des Rechts zu erscheinen, insofern es Frauen das Recht gibt, unverschleiert zu erscheinen. Zugleich spricht es genau derselben Gruppe von Frauen das Recht zu erscheinen ab, indem es von ihnen verlangt, religiöse Normen zu missachten und staatliche zu befolgen. Der geforder110

te Akt der Absage an die Religion wird verpflichtend, wenn die öffentliche Sphäre so verstanden wird, dass sie religiöse Formen der Zugehörigkeit überwindet oder negiert. Die in der französischen Debatte vorherrschende Vorstellung, Frauen, die den Schleier tragen, könnten dies unmöglich aus freien Stücken tun, dient dazu, die eklatanten Diskriminierungen religiöser Minderheiten, die das Gesetz bewirkt, sozusagen zu verschleiern. Denn zumindest eine Wahl treffen die Schleier tragenden Frauen mit Sicherheit  : sich nicht jenen Formen der vorgeschriebenen Lossagung zu fügen, die den Zugang zur öffentlichen Sphäre bestimmen. Hier wie anderswo wird der Erscheinungsraum in hohem Maße reguliert. Dass diese Frauen auf eine bestimmte Weise gekleidet sein sollen, konstituiert eine auf Kleidung bezogene Politik der öffentlichen Sphäre, aber dasselbe gilt auch für die verbindliche »Entschleierung«, die selbst ein Zeichen dafür ist, dass man in erster Linie der staatlichen und erst in zweiter Linie beziehungsweise im Privaten der religiösen Gemeinschaft angehört. Dies wird insbesondere in Bezug auf muslimische Frauen vorgebracht, die verschiedenen aneinander angrenzenden oder sich überschneidenden Versionen öffentlicher, weltlicher und religiöser Bereiche zugehören können. Und es zeigt sehr deutlich, dass das, was als »öffentliche Sphäre« bezeichnet wird, in solchen Fällen durch konstitutive Ausschlüsse und verpflichtende Formen der Verleugnung errichtet wurde. Der Akt der Befolgung eines Gesetzes, das die Entschleierung verlangt, ist paradoxerweise das Mittel, durch das eine fraglos hochgradig kompromittierte, ja gewaltsame »Freiheit zu erscheinen« begründet wird. Manchmal folgen Demonstrationen auf öffentliche Trauerakte. Dies war etwa in Syrien häufig der Fall, be111

vor die Hälfte der Bevölkerung zu Flüchtlingen wurde  ; bei diesen Gelegenheiten konnte die trauernde Menge zum Ziel militärischer Zerstörung werden. Wir können daran sehen, wie der existierende öffentliche Raum von denjenigen erobert wird, die eigentlich kein Recht haben, sich dort zu versammeln, die aus Zonen des Verschwindens auftauchen und aus denen im Zuge ihres Sich-Versammelns und Beharrens in der Öffentlichkeit Körper werden, die von Gewalt oder Tod bedroht sind. Es ist gerade dieses Recht, sich frei von Einschüchterungen und Gewaltandrohungen zu versammeln, das systematisch von der Polizei, der Armee, bezahlten Schlägertrupps oder Söldnern angegriffen wird. Der Angriff auf die Körper kommt einem Angriff auf das Recht selbst gleich, denn wenn diese Körper erscheinen und agieren, machen sie von einem Recht außerhalb des Regimes, gegen das Regime und ihm zum Trotz Gebrauch. Auch wenn die Körper auf der Straße ihren Widerspruch gegen die Rechtmäßigkeit des Staates in Worte fassen, machen sie dadurch, dass sie jenen Raum schutzlos besetzen und dort ausharren, ihre Ablehnung auch körperlich deutlich, das heißt, wenn ein Körper im politischen Sinne »spricht«, so tut er das nicht nur mündlich oder schriftlich. Das Beharren des Körpers in seinem Ausgesetztsein stellt jene Legitimität in Frage, und zwar exakt aufgrund einer ganz bestimmten Performativität des Körpers.10 Handlung und Geste bezeichnen und sprechen und sie tun dies jeweils sowohl als Handlung als auch als Anspruch  ; das eine lässt sich nicht endgültig vom anderen trennen. Wo die Rechtmäßigkeit des Staates genau durch das öffentliche Erscheinen in Frage gestellt wird, übt der Körper selbst ein Recht aus, das kein Recht ist, oder anders gesagt  : Er übt ein 112

Recht aus, das aktiv durch Militärgewalt angefochten und zunichtegemacht wird und das im Widerstand gegen die Gewalt seine Lebensweise artikuliert, indem es sowohl sein Gefährdetsein als auch sein Recht, fortzudauern, zeigt. Dieses Recht ist nirgends kodifiziert. Es wird nicht von außerhalb oder durch geltende Gesetze gewährt, auch wenn es genau von dort manchmal Unterstützung erfährt. Es ist das Recht, Rechte zu haben, und zwar weder als Naturgesetz noch als metaphysische Festlegung, sondern als das Beharren des Körpers gegen die Kräfte, die seine Schwächung oder Auslöschung anstreben. Dieses Beharren erfordert ein Eindringen in das bestehende Regime des Raumes mit einer Reihe mobilisierter wie mobilisierender materieller Unterstützungen. Um es deutlich zu machen  : Ich rede nicht von einem Vitalismus oder einem Lebensrecht an sich. Vielmehr bin ich der Meinung, dass politische Forderungen von Körpern aufgestellt werden, während sie erscheinen und handeln, während sie sich widersetzen und unter Bedingungen fortbestehen, unter denen allein diese Tatsache den Staat schon zu delegitimieren droht. So sehr Körper politischen Mächten ausgesetzt sind, so sehr reagieren sie auch auf ihr Ausgesetztsein, außer in den Fällen, in denen die Bedingungen der Reaktionsfähigkeit selbst dezimiert wurden. Ich habe zwar keinerlei Zweifel, dass es möglich ist, die Reaktionsfähigkeit in einem anderen Menschen abzutöten, aber ich wäre vorsichtig, diese Figur der vollständigen Dezimierung zur Beschreibung des Kampfes der Besitzlosen heranzuziehen. Obwohl es immer möglich ist, sich in der anderen Richtung zu irren, wenn man behauptet, wo Macht sei, da sei auch Widerstand, wäre es ein Fehler, die Möglichkeit zurückzuweisen, dass die Macht nicht immer ge113

mäß ihren Zielen wirkt und dass tief sitzende Formen der Ablehnung in folgenreichen kollektiven Formen hervorbrechen. In diesen Fällen sind die Körper selbst Vektoren der Macht, deren Kraftrichtung sich umkehren lässt  ; sie sind verkörperte Interpretationen, die im Bündnis agieren, um Stärke mit einer anderen Art und Qualität von Stärke zu begegnen. Einerseits sind diese Körper produktiv und performativ  ; andererseits können sie nur bestehen und agieren, wenn sie unterstützt werden  : durch Umwelten, durch Nahrung, durch Arbeit, durch Formen der Sozialität und Zugehörigkeit. Und wenn diese Dinge wegfallen und die Prekarität zum Vorschein kommt, werden sie auf eine andere Art mobilisiert, greifen nach den existierenden Unterstützungen, um geltend zu machen, dass es kein verkörpertes Leben ohne soziale und institutionelle Unterstützung geben kann, ohne dauerhafte Beschäftigung, ohne Netzwerke der wechselseitigen Abhängigkeit und Fürsorge, ohne kollektive Rechte auf Obdach und Mobilität. Sie streiten nicht nur für die Idee der sozialen Unterstützung und der Gewährung von politischen Rechten, sondern ihr Kampf ist eine eigene Sozialform. So beginnt im Idealfall eine Allianz damit, die Gesellschaftsordnung zu inszenieren, die sie durchsetzen will, indem sie ihre eigenen Formen der Soziabilität etabliert. Eine solche Allianz darf man jedoch nicht auf eine Ansammlung von Individuen reduzieren und es sind auch streng genommen nicht Individuen, die hier handeln. Handeln im Bündnis ereignet sich darüber hinaus exakt zwischen denen, die teilnehmen, und dies ist kein ideeller oder leerer Raum. Dieses Zwischen ist der Raum der Sozialität und der Unterstützung, des Konstituiertseins in einer Sozialität, die nie auf den eigenen Standpunkt oder auf das Abhängigsein von Strukturen redu114

zierbar ist, ohne die es kein dauerhaftes und lebbares Leben gibt. Viele der Massendemonstrationen und Widerstandsformen, die wir in den letzten Monaten beobachten konnten, erzeugen nicht nur einen Erscheinungsraum  ; sie bemächtigen sich eines bereits etablierten und von der bestehenden Macht durchdrungenen Raumes und versuchen, die Beziehungen zwischen dem öffentlichen Raum, dem öffentlichen Platz und dem bestehenden Regime zu durchtrennen. So werden die Grenzen des Politischen offenbart und die Verknüpfung zwischen dem Theater der Legitimität und dem öffentlichen Raum wird aufgelöst  ; dieses Theater ist nicht länger unproblematisch im öffentlichen Raum zuhause, weil sich der öffentliche Raum nun inmitten einer anderen Aktion befindet, die wiederum die Macht, die ihre Legitimität beansprucht, genau dadurch verschiebt, dass sie das Feld ihrer Wirkung übernimmt. Einfach ausgedrückt, verlegen die Körper auf der Straße den Erscheinungsraum, um die bestehenden Formen politischer Legitimität anzugreifen und zu negieren – und ebenso wie sie den öffentlichen Raum manchmal füllen oder übernehmen, wirkt die materielle Geschichte jener Strukturen auch auf sie, wird selbst zu einem Teil ihrer Aktion, so dass die Geschichte inmitten ihrer konkretesten und sedimentiertesten Artefakte neu geschrieben wird. Es sind unterworfene und ermächtigte Akteure, die versuchen einem bestehenden Staatsapparat, der für seine theatralische Selbstkonstitution auf die Regulierung des öffentlichen Erscheinungsraumes angewiesen ist, die Legitimität zu entreißen. Mit dem Entreißen jener Macht wird ein neuer Raum geschaffen, ein neues »Zwischen« der Körper, wenn man so will, das durch die Aktion einer neuen Allianz Anspruch auf den 115

existierenden Raum erhebt, und im Vollzug ebenjener Handlungen, mit denen die Körper die Bedeutung der existierenden Räume zurückfordern und neu bestimmen, werden sie von diesen ergriffen und belebt. Ein solcher Kampf greift in die räumliche Organisation der Macht ein, zu der auch die Zuteilung und Beschränkung räumlicher Standorte gehört, in denen und durch die Bevölkerungsgruppen erscheinen können, und damit auch die räumliche Regulierung, wann und wie der »Wille des Volkes« erscheinen kann. Diese Sicht der räumlichen Beschränkung und Zuteilung mit Blick darauf, wer erscheinen darf – wer also effektiv ein Subjekt des Erscheinens werden darf –, geht von einer Funktionsweise der Macht aus, die sowohl durch Ausschluss als auch durch differenzielle Zuteilung wirkt. Was bedeutet es nun also, innerhalb der aktuellen Politik zu erscheinen, und können wir uns dieser Frage überhaupt ohne Rückgriff auf die Medien zuwenden  ? Wenn wir uns überlegen, was es heißt, zu erscheinen, kommen wir zu dem Schluss, dass wir jemandem erscheinen und dass unsere Erscheinung von den Sinnen registriert werden muss, nicht nur den eigenen, sondern auch von denen anderer. Wenn wir erscheinen, müssen wir gesehen werden, das heißt, unsere Körper müssen betrachtet und die von ihnen geäußerten Töne müssen gehört werden  : Der Körper muss in das visuelle und akustische Feld eintreten. Aber handelt es sich nicht notwendigerweise um einen arbeitenden und einen sexuellen ebenso wie einen in irgendeiner Weise geschlechtlich und ethnisch bestimmten Körper  ? Hier stößt Arendts Sichtweise eindeutig an ihre Grenzen, denn der Körper ist selbst geteilt in einen, der öffentlich erscheint, spricht und handelt, und einen anderen, 116

sexuellen, arbeitenden, weiblichen, fremden und stummen Körper, der im Allgemeinen in die private und vorpolitische Sphäre verwiesen wird. Genau diese Art der Arbeitsteilung wird in Frage gestellt, wenn gefährdete Leben sich auf der Straße versammeln, das heißt Allianzen bilden, die um einen Erscheinungsraum kämpfen müssen. Wenn ein Bereich des körperlichen Lebens als abgesonderte oder verleugnete Bedingung für die Sphäre der Erscheinung fungiert, wird er zur strukturierenden Abwesenheit, welche die öffentliche Sphäre beherrscht und ermöglicht. Sind wir lebende Organismen, die sprechen und handeln, so stehen wir zweifellos in Beziehung zu einem riesigen Kontinuum oder Netzwerk lebender Wesen  ; wir leben nicht nur unter ihnen, sondern unser Fortbestand als lebendige Organismen ist von dieser Matrix wechselseitiger Beziehungen abhängig. Unser Sprechen und Handeln macht uns aber auch zu etwas anderem, von den anderen Lebewesen Getrenntem. Wir müssen gar nicht wissen, was das spezifisch Menschliche am politischen Handeln ist, sondern letztlich nur erkennen, wie der Eintritt des verleugneten Körpers in die politische Sphäre zugleich die essenzielle Verbindung zwischen Menschen und anderen Lebewesen herstellt. Der private Körper bedingt den öffentlichen somit nicht nur in Theorien wie der Arendt’schen, sondern auch in politischen Organisationen des Raumes, die in vielen Formen andauern (und die in ihrer Theorie in gewissem Sinne naturalisiert werden). Und auch wenn der öffentliche und der private Körper nicht völlig verschieden voneinander sind (Körper im Privaten »zeigen« sich manchmal in der Öffentlichkeit und jeder öffentliche Körper hat seine privaten Momente), ist diese Aufspaltung entscheidend, um die 117

Unterscheidung von öffentlich und privat und ihre Modi der Verleugnung und Entrechtung aufrechtzuer­ halten. Vielleicht ist es eine Art Fantasievorstellung, dass eine Dimension des körperlichen Lebens unsichtbar bleiben kann und muss, während eine andere, vollkommen verschiedene in der Öffentlichkeit erscheint. Gibt es keine Spur des Biologischen in der Sphäre der Erscheinung  ? Könnten wir nicht mit Bruno Latour und Isabelle Stengers argumentieren, dass das Aushandeln der Erscheinungssphäre im Grunde eine biologische Aufgabe ist und zu den investigativen Fähigkeiten des Organismus gehört  ? Es gibt schließlich keine Möglichkeit, sich in einer Umwelt zurechtzufinden oder Nahrung zu beschaffen, ohne körperlich in der Welt zu erscheinen, und vor der Verwundbarkeit und der Mobilität, die das Erscheinen in der Welt mit sich bringt, gibt es kein Entrinnen, was die vielen Formen der Tarnung und des Selbstschutzes im Tierreich erklärt. Ist das Erscheinen also, anders gefragt, nicht ein notwendig morphologisches Moment, insofern der Körper das Erscheinen nicht nur riskiert, um zu sprechen und zu handeln, sondern auch um zu leiden und sich zu bewegen, um andere Körper einzubeziehen, um eine Umwelt zu meistern, von der man abhängig ist, um eine gesellschaftliche Organisation zur Befriedigung von Bedürfnissen aufzubauen  ? Tatsächlich kann der Körper in einer Art und Weise erscheinen und etwas zum Ausdruck bringen, die der Art, wie er spricht, oder sogar dem Sprechen als seinem paradigmatischen Fall zuwiderläuft. Könnten wir Handlungen, Gesten, Stille, Berührungen und gemeinsame Bewegungen noch verstehen, wenn sie sich alle auf die Äußerung von Gedanken durch Sprache reduzieren ließen  ? 118

Selbst innerhalb jener problematischen Arbeitsteilung hängt der Akt des öffentlichen Sprechens von einer Dimension des körperlichen Lebens ab, die gegeben, passiv, opak und damit von der üblichen Definition des Politischen ausgeschlossen ist. Wir können daher fragen  : Welche Regelung hält den gegebenen oder passiven Körper davon ab, in den aktiven Körper überzugehen  ? Handelt es sich um zwei verschiedene Körper und, wenn ja, welche Politik ist notwendig, um sie auseinanderzuhalten  ? Sind es zwei unterschiedliche Dimensionen desselben Körpers oder ist es die Wirkung einer bestimmten Regulierung der körperlichen Erscheinung, die von neuen sozialen Bewegungen, Kämpfen gegen sexuelle Gewalt, für Fortpflanzungsfreiheit, gegen Prekarität und für Bewegungsfreiheit aktiv angefochten wird  ? Wir sehen hier, dass eine gewisse topografische oder sogar architektonische Regulierung des Körpers auf der Ebene der Theorie stattfindet. Bezeichnenderweise ist es genau diese Wirkungsweise der Macht – der Ausschluss oder die differenzielle Bewilligung, ob und wie der Körper erscheinen darf –, die in Arendts ausführlicher Darstellung des Politischen fehlt. Im Grunde beruht diese Darstellung sogar auf ebendieser Wirkungsweise der Macht, die sie gar nicht als Bestandteil der Politik in Betracht zieht. Worin ich Arendt zustimme, ist dies  : Freiheit kommt nicht aus mir oder aus dir  ; sie entsteht als eine Beziehung zwischen oder eigentlich unter uns. Es geht also nicht darum, die menschliche Würde in einer einzelnen Person zu finden, sondern vielmehr darum, den Menschen als ein relationales und soziales Wesen zu begreifen, dessen Handeln auf Gleichheit angewiesen ist und den Gleichheitsgrundsatz artikuliert. Tatsächlich gibt es für Arendt keinen Menschen, wenn es keine Gleich119

heit gibt. Kein Mensch kann alleine menschlich sein. Und kein Mensch kann menschlich sein, ohne mit anderen gemeinsam und unter den Voraussetzungen der Gleichheit zu handeln. Ich würde dem noch Folgendes hinzufügen  : Der Gleichheitsanspruch wird nicht nur mündlich oder schriftlich geäußert, sondern genau in dem Moment gestellt, in dem Körper zusammen erscheinen oder vielmehr, wenn sie durch ihr Handeln den Erscheinungsraum ins Leben rufen. Dieser Raum ist ein Merkmal und ein Effekt des Handelns und er wirkt Arendt zufolge nur, wenn Gleichheitsverhältnisse aufrechterhalten werden. Es gibt natürlich viele Gründe, misstrauisch gegenüber idealisierten Momenten zu sein, jedoch spricht auch einiges dafür, Analysen, die sich gegen Idealisierungen vollkommen abschotten, mit Vorsicht zu begegnen. Im Zusammenhang mit den revolutionären Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz gibt es zwei Aspekte, die ich gerne hervorheben möchte. Der erste hat damit zu tun, wie auf dem Platz eine bestimmte Soziabilität hergestellt wurde, eine Arbeitsteilung, die Geschlechterdifferenzen überwand und zu der auch gehörte, dass abgewechselt wurde – nicht nur bei den Reden, sondern auch beim Aufräumen und Putzen der Bereiche, wo die Leute schliefen und aßen, indem ein allgemeiner Arbeitsplan entwickelt wurde, um die Umgebung zu schonen und die Toiletten sauber zu halten. Kurz, das, was einige als »horizontale Beziehungen« unter den Protestierenden bezeichnen würden, bildete sich mühelos und planmäßig  : Allianzen, die sich bemühten, Gleichheit zu verkörpern, was die Gleichverteilung der Arbeit zwischen den Geschlechtern einschloss – all das wurde zum wesentlichen Bestandteil des Widerstands gegen das Mubarak-Regime und des120

sen starre Hierarchien, einschließlich der außerordentlichen Vermögensunterschiede zwischen dem Militär und privatwirtschaftlichen Unterstützern des Regimes einerseits und der arbeitenden Bevölkerung andererseits. Die soziale Form des Widerstands begann somit, Gleichheitsgrundsätze zu inkorporieren, die nicht nur regelten, wie und wann jemand mit den Medien und gegen das Regime sprach und handelte, sondern auch, wie sich die Menschen um die verschiedenen Ecken und Viertel des Platzes kümmerten, um die Betten auf der Straße, die behelfsmäßigen Krankenstationen und Waschräume, die Orte, an denen Menschen aßen, und die Orte, an denen sie Gewalt von außerhalb ausgesetzt waren. Wir reden hier nicht nur über heroische Taten, die enorme physische Anstrengungen und große politische Überzeugungskraft erforderten. Manchmal bestand die eloquenteste politische Äußerung darin, einfach dort, auf dem Platz zu schlafen – und auch dies muss als Aktion gewertet werden. Alle diese Handlungen waren in dem einfachen Sinne politisch, dass sie eine konventionelle Unterscheidung zwischen öffentlich und privat überwanden, um neue Beziehungen der Gleichheit zu etablieren  ; sie nahmen damit in die Sozialform des Widerstands selbst die Grundsätze auf, für deren Verwirklichung in allgemeineren politischen Formen sie kämpften. Der zweite Aspekt ist, dass viele Menschen, die sich gewaltsamen Angriffen oder extremer Bedrohung ausgesetzt sahen, in der ersten ägyptischen Revolution von 2011 das Wort silmiyya skandierten  ; es leitet sich von dem Verb salima ab, das so viel bedeutet wie »wohlbehalten, unversehrt, heil, unbeschädigt, intakt sein«, aber auch »einwandfrei sein  ; gesichert sein, klar erwiesen sein (Tatsache)«.11 Das Nomen dazu ist silm, was 121

»Frieden« bedeutet, aber bezeichnenderweise auch »die Religion des Islam« bezeichnen kann. Eine Variante des Wortes ist hubb as-silm, der arabische Begriff für »Pazifismus«. In den meisten Fällen wirkt der Sprechchor silmiyya als sanfte Ermahnung  : »Friedlich, friedlich.« Auch wenn die Revolution größtenteils gewaltfrei verlief, wurde sie nicht unbedingt von erklärten Gewaltgegnern angeführt. Der Sprechchor sollte eher dazu ermutigen, dem mimetischen Sog der militärischen Aggression – und der Aggression der Banden – zu widerstehen, indem man sich das größere Ziel vor Augen hielt  : den radikalen demokratischen Wandel. Sich dem Gewaltaustausch des Augenblicks hinzugeben hätte bedeutet, die Geduld zu verlieren, die zur Realisierung der Revolution notwendig war. Was mich daran interessiert, ist der Sprechchor, bei dem die Sprache nicht dazu benutzt wurde, eine Handlung anzustacheln, sondern sie zurückzuhalten  ; er steht damit für eine Zurückhaltung im Namen einer entstehenden Gemeinschaft von Gleichen, deren primäre politische Strategie nicht die Gewalt ist. Es liegt auf der Hand, dass jede der Versammlungen und Demonstrationen, die den Regimewechsel in Ägypten herbeiführten, darauf angewiesen war, dass die Medien ein Gefühl des öffentlichen Platzes und des Erscheinungsraumes erzeugten. Jedes provisorische Beispiel von »öffentlicher Platz« hat seinen Ort und es ist übertragbar  ; tatsächlich scheint es von Anfang an übertragbar gewesen zu sein, wenn auch nie vollständig. Und natürlich können wir uns die Übertragbarkeit jener Körper auf dem Platz nicht ohne die Medien vorstellen. Die Medienbilder aus Tunesien ebneten gewissermaßen den Weg für die ersten Medienereignisse auf dem Tahrir-Platz sowie die darauf folgenden im Jemen, 122

in Bahrain, Syrien und Libyen, die alle unterschiedliche Verläufe nahmen und immer noch nehmen. Viele öffentliche Demonstrationen der letzten Jahre richteten sich nicht gegen Militärdiktaturen oder tyrannische Regime, und viele von ihnen brachten neue staatliche Strukturen oder kriegsähnliche Zustände hervor, die mindestens so problematisch sind wie die, die sie ersetzten. Doch bei einigen der Demonstrationen, die auf jene Aufstände folgten, insbesondere denjenigen, die sich gegen die bedingte Prekarität richteten, wandten sich die Teilnehmer ausdrücklich gegen Monopolkapitalismus, Neoliberalismus und die Unterdrückung politischer Rechte, und sie taten dies im Namen all derer, denen die neoliberalen Reformen – die darauf aus sind, Formen der Sozialdemokratie und des Sozialismus zu demontieren, Arbeitsplätze zu streichen, Teile der Bevölkerung der Armut auszusetzen und die Grundrechte auf öffentliche Bildung und Obdach zu untergraben – den Boden unter den Füßen wegziehen. Die Szenen auf den Straßen können nur dann eine politische Wirkung entfalten, wenn sie uns live oder ohne größeren Zeitabstand als Bilder oder Töne übermittelt werden  ; die Medien berichten also nicht nur über die Szenen, sondern sind selbst Teil des Geschehens  ; man kann sogar sagen, die Medien sind der Schauplatz oder Raum in seiner erweiterten und wiederholbaren visuellen und akustischen Dimension. Dies kann man zum einen einfach so erklären, dass die Medien die Szene visuell und akustisch ausdehnen und an ihrer Abgrenzung und Übertragbarkeit mitwirken. Anders gesagt  : Die Medien konstituieren die Szene in einer Zeit und an einem Ort, die über deren lokales Auftreten hinausgehen. Obwohl der Schauplatz zweifellos und ausdrücklich lokal ist, haben die Nichtanwesenden das Ge123

fühl, durch die Bilder und Töne, die sie empfangen, eine Art direkten Zugang zu haben. Doch auch wenn dies so ist, wissen sie nicht, wie die Szenen geschnitten sind, welche ausgewählt und übertragen wurden und welche Szenen beständig nicht im Bild sind. Wird die Szene übertragen, ist sie sowohl dort als auch hier, und würde sie nicht beide Orte umspannen – viele Orte, um genau zu sein –, so wäre sie nicht die Szene, die sie ist. Ihre Lokalität wird dadurch, dass sie über sich selbst hinaus kommuniziert und damit weltweit medial konstituiert wird, nicht in Abrede gestellt  ; sie hängt von dieser Vermittlung ab, um als das Ereignis stattfinden zu können, das sie ist. Folglich muss das Lokale außerhalb seiner selbst neu geschaffen werden, um als Lokales gelten zu können  ; das heißt, nur durch globalisierende Medien lässt sich das Lokale ermitteln und nur durch diese kann dort wirklich etwas geschehen. Vieles findet natürlich außerhalb dessen, was die Kamera oder andere digitale Mediengeräte einfangen, statt, und die Medien können Zensur ebenso leicht ausüben, wie sie ihr entgegenwirken können. Viele lokale Ereignisse werden nie aufgezeichnet und gesendet, wofür auch wichtige Gründe sprechen. Wenn ein Ereignis jedoch verbreitet wird und es schafft, weltweite Empörung und Druck zu erzeugen und aufrechtzuerhalten, wozu auch die Macht gehört, Märkte zum Erliegen zu bringen oder für den Abbruch diplomatischer Beziehungen zu sorgen, dann muss das Lokale in einem Kreislauf, der über es hinausgeht, immer wieder neu hergestellt werden. Etwas Ortsgebundenes bleibt jedoch, das nicht auf diese Weise verbreitet werden kann und wird  ; und die Szene wäre nicht dieselbe, wenn wir nicht verstehen würden, dass hier Menschen in Gefahr sind und dass es genau die Körper auf der Straße sind, die das Risiko tra124

gen. So wie sie einerseits entrückt werden, müssen sie natürlich andererseits vor Ort bleiben, um die Kamera oder das Handy zu halten, Auge in Auge mit denen, denen sie entgegentreten, ungeschützt, verwundbar, verwundet, beharrlich, wenn nicht aufständisch. Es ist von Bedeutung, dass diese Körper Handys dabeihaben, mit denen sie Nachrichten und Bilder versenden  ; wenn sie angegriffen werden, hat dies häufig mit der Kamera oder dem Aufzeichnungsgerät zu tun. Der Angriff kann ein Versuch sein, die Kamera und ihre / ​n Besitzer / ​in außer Gefecht zu setzen, er kann aber auch ein Schauspiel für die Medien sein, das als Warnung oder Drohung inszeniert wird  ; oder er ist ein Mittel, um jede weitere Organisationsmöglichkeit zu unterbinden. Lässt sich das Handeln des Körpers von der Technologie trennen und hilft diese nicht, neue Formen des politischen Handelns zu etablieren  ? Und wenn jene Körper zur Zielscheibe von Zensur und Gewalt werden, richtet sich diese dann nicht auch gegen den Zugang zu Medien, um so die hegemoniale Kontrolle darüber zu erlangen, welche Bilder verbreitet werden und welche nicht  ? Die vorherrschenden Medien sind natürlich im Besitz von Firmen, die ihre eigenen Arten der Zensur und der Aufstachelung praktizieren. Dennoch scheint es nach wie vor wichtig zu betonen, dass die Freiheit der Medien, von diesen Stätten zu senden, ein Gebrauch der Freiheit schlechthin und damit eine Form der Ausübung von Rechten ist, besonders wenn es sich um rogue media handelt, die von der Straße kommen, die Zensur unterlaufen und wo die Aktivierung des Geräts selbst Teil der körperlichen Aktion ist. Das ist zweifellos der Grund, warum sich sowohl Husni Mubarak als auch David Cameron im Abstand von acht Monaten für die Zensur von Social-Media-Netzwerken aus125

gesprochen haben. Wenigstens in einigen Fällen berichten die Medien nicht nur über soziale und politische Bewegungen, die auf verschiedene Weise Freiheit und Gerechtigkeit fordern, sie üben auch eine der Freiheiten aus, für die diese Bewegungen kämpfen. Ich will damit nicht etwa behaupten, alle Medien seien am Kampf um politische Freiheit und soziale Gerechtigkeit beteiligt (wir wissen natürlich, dass sie es nicht sind). Es ist fraglos wichtig, von wem die globale Berichterstattung stammt und wie sie erfolgt. Worum es mir geht, ist, dass private Mediengeräte manchmal genau in dem Moment global werden, in dem sie die Zensur von Berichten über Proteste überwinden und auf diese Weise zum Teil des Protests selbst werden. Was Körper auf der Straße tun, wenn sie demonstrieren, hängt fundamental damit zusammen, was Kommunikationsgeräte und -technologien tun, wenn sie über das Geschehen auf der Straße »berichten«. Ihre Handlungen sind verschieden, aber beide erfordern den Körper. Die eine Ausübung der Freiheit ist mit der anderen verknüpft, das heißt, es handelt sich in beiden Fällen um die Ausübung von Rechten und beide erzeugen gemeinsam einen Erscheinungsraum und sichern dessen Übertragbarkeit. Einige würden vielleicht darauf wetten, dass die Ausübung von Rechten aktuell eher auf Kosten der Körper auf der Straße geschieht, weil Twitter und andere virtuelle Technologien zu einer Entkörperlichung der öffentlichen Sphäre geführt hätten  ; ich würde dem jedoch in Teilen widersprechen. Wir müssen uns die Wichtigkeit von »tragbaren« Medien vor Augen halten, von Handys, die »hochgehalten« werden und eine Art Gegenüberwachung militärischer und polizeilicher Aktionen schaffen. Die Medien brauchen die Körper auf der Straße, um ein Ereignis zu ha126

ben, ebenso wie die Körper die Medien brauchen, um in der globalen Arena zu existieren. Wenn allerdings Bedingungen herrschen, unter denen Kamera-Besitzer / ​innen oder Internet-Aktivist / ​innen eingesperrt, gefoltert oder deportiert werden, hat die Nutzung der Technologie ganz entscheidend mit dem Körper zu tun. Es ist nicht nur eine Hand nötig, die etwas tippt und versendet, es ist auch ein Körper in Gefahr, wenn dieses Tippen und Versenden nachverfolgt wird. Mit anderen Worten  : Durch die Verwendung von Medien, die potenziell weltweit senden, wird die Lokalisation kaum überwunden. Und insofern dieses Zusammentreffen von Straße und Medien eine sehr zeitgenössische Version der öffentlichen Sphäre konstituiert, muss man sich vorstellen, dass Körper in Gefahr sowohl hier und da, jetzt und zu einem anderen Zeitpunkt, entrückt und ortsgebunden sind, und dass aus diesen beiden Modalitäten von Raum und Zeit jeweils sehr unterschiedliche politische Konsequenzen folgen. Es ist von Bedeutung, wenn öffentliche Plätze prall gefüllt mit Menschen sind, wenn Menschen dort essen und schlafen, singen und sich weigern, diesen Raum aufzugeben, wie wir es bei den ersten Versammlungen auf dem Tahrir-Platz sehen konnten und in anderen Teilen der Welt weiterhin sehen. Es ist ebenfalls von Bedeutung, dass es Gebäude von Bildungseinrichtungen waren, die in Athen, London und Berkeley okkupiert wurden. Bei der Besetzung von Gebäuden auf dem Campus von Berkeley wurden als Reaktion Bußgelder wegen Hausfriedensbruch verhängt. In einigen Fällen wurden Studierende der Zerstörung von Privateigentum beschuldigt. Doch genau diese Behauptungen warfen die Frage auf, ob die Universität öffentlich oder privat ist. Das erklärte Ziel des Protests der Stu127

dierenden – das Gebäude zu besetzen und sich dorthin zurückzuziehen – war eine Möglichkeit, sich eine Plattform zu schaffen, ja die materiellen Voraussetzungen für das Erscheinen in der Öffentlichkeit zu sichern. Derartige Aktionen finden in der Regel nicht statt, wenn bereits effektive Plattformen zur Verfügung stehen. Die Studierenden dort, aber auch in noch jüngerer Zeit in Großbritannien, besetzten Gebäude, um damit ihren Anspruch auf Einrichtungen geltend zu machen, die eigentlich – jetzt und in Zukunft – zur öffentlichen Bildung gehören sollten. Das bedeutet nicht, dass jede dieser Art von Hausbesetzungen gerechtfertigt ist, wir sollten uns aber darüber im Klaren sein, worum es hier geht  : Die symbolische Bedeutung der Besetzung dieser Gebäude ist, dass sie der Öffentlichkeit, dem öffentlichen Bildungswesen gehören, und es ist gerade der Zugang zu diesem Bildungswesen, der durch die Erhöhung von Studiengebühren und Haushaltskürzungen untergraben wird. Es sollte uns nicht überraschen, dass sich der Protest in Form von Hausbesetzungen äußerte und so der Anspruch auf Bildung performativ geltend gemacht wurde, indem man darauf bestand, buchstäblich Zugang zu den Gebäuden des öffentlichen Bildungswesens zu erlangen, und zwar genau in dem historischen Moment, da dieser Zugang versperrt wird. Mit anderen Worten, diese Aktionen gegen die Institutionalisierung ungerechter und ausschließender Machtformen werden von keinem positiven Recht legitimiert. Können wir also sagen, dass es sich bei diesen Aktionen dennoch um die Ausübung eines Rechtes handelt, eine gesetzlose Ausübung, die genau dann erfolgt, wenn das Recht falsch oder gescheitert ist  ? Der Körper auf der Straße persistiert, aber er sucht auch nach Bedingungen für seinen Erhalt. Diese Bedin128

gungen sind unweigerlich sozial und erfordern eine radikale Neuorganisation des Gesellschaftslebens für diejenigen, die ihre Existenz als gefährdet erleben. Wenn wir nach gründlicher Überlegung zu dem Schluss kommen, dass wir zum Erhalt des Lebens in irgendeiner Form verpflichtet sind, so hat dieses zu erhaltende Leben eine leibliche Gestalt. Umgekehrt heißt das, dass das Leben des Körpers – sein Hunger, sein Bedürfnis nach Obdach und Schutz vor Gewalt – zu einem zentralen Thema der Politik wird. Selbst die am stärksten vorgegebenen, nicht selbst gewählten Merkmale unseres Lebens sind nicht einfach gegeben  ; sie sind in einer Geschichte und einer Sprache gegeben, strukturiert von Machtvektoren, die sich niemand von uns ausgesucht hat. Ebenso wahr ist, dass eine gegebene Eigenschaft unseres Körpers oder eine Menge von Definitionsmerkmalen vom dauerhaften Fortbestand des Körpers abhängt. Jene sozialen Kategorien, die wir nicht selbst gewählt haben, durchziehen den gegebenen Körper auf bestimmte Weisen  ; die Kategorie Gender bezeichnet zum Beispiel dieses Durchziehen ebenso wie seine Transformationen. Insofern sind diese äußerst drängenden und größtenteils unfreiwilligen Dimensionen unseres Lebens – Hunger, das Bedürfnis nach Obdach, medizinischer Versorgung und Schutz vor natürlicher oder von Menschen verübter Gewalt – von zentraler Bedeutung für die Politik. Wir können nicht von dem eng umschlossenen und gut versorgten Raum der Polis ausgehen, in dem alle materiellen Bedürfnisse irgendwie von außerhalb von Wesen gestillt werden, denen aufgrund ihres Geschlechts, ihrer ethnischen Herkunft oder ihres Status keine öffentliche Anerkennung zuteilwerden kann. Vielmehr müssen wir die dringenden materiellen Bedürfnisse des Körpers nicht nur auf die 129

Straßen und Plätze tragen, sondern sie auch zu zentralen politischen Forderungen machen. In meinen Augen wird unser politisches Leben von einer gemeinsamen Bedingung der Prekarität bestimmt, auch wenn die Prekarität differenziell verteilt ist. Und einige von uns sind, wie Ruth Gilmore sehr deutlich gezeigt hat, in sehr viel stärkerem Maße als andere gefährdet, verletzt zu werden oder vorzeitig zu sterben.12 So lassen sich etwa an Statistiken zur Kindersterblichkeit sehr genau ethnische Unterschiede ablesen. Kurz gesagt bedeutet das, dass die Prekarität ungleich verteilt ist und dass Leben nicht in gleichem Maße als betrauerbar oder wertvoll angesehen werden. Wenn, wie Adriana Cavarero nahelegt, das Ausgesetztsein unserer Körper im öffentlichen Raum uns fundamental konstituiert und unser Denken zu einem sozialen und verkörperten, verwundbaren und leidenschaftlichen macht, dann führt unser Denken zu nichts, wenn es nicht genau diese leibliche Interdependenz und Verflechtung voraussetzt. Der Körper wird durch Perspektiven konstituiert, die er nicht einnehmen kann  ; eine andere Person sieht unser Gesicht und hört unsere Stimme in einer Weise, wie wir es nicht können. Wir sind in diesem Sinne – körperlich – immer schon dort und doch hier, und diese Enteignung kennzeichnet die Sozialität, zu der wir gehören. Wir sind ortsgebundene Wesen und doch immer woanders, konstituiert in einer Sozialität, die über uns hinausgeht. Dadurch entsteht unser Ausgesetztsein, unser Gefährdetsein, unser Angewiesensein auf politische und gesellschaftliche Institutionen, um fortbestehen zu können. Wenden wir uns noch einmal den Demonstrationen zu, bei denen die Menschen singen und reden, aber auch medizinische Versorgung und provisorische Sozial130

dienste auf die Beine stellen  : Können wir die Stimmäußerungen des Körpers von jenen anderen Ausdrücken materieller Not und Dringlichkeit unterscheiden  ? In den Fällen, in denen die Demonstrierenden schließlich auf dem öffentlichen Platz aßen und schliefen, Toiletten bauten und verschiedene Systeme zur gemeinsamen Nutzung des Raumes einrichteten, weigerten sie sich damit nicht nur, zu verschwinden, nach Hause zu gehen oder zuhause zu bleiben, und sie reklamierten nicht nur den öffentlichen Bereich für sich – indem sie gemeinsam unter egalitären Bedingungen agierten –, sondern sie behaupteten sich auch als persistierende Körper mit Bedürfnissen, Wünschen und Forderungen  ; all das lässt sich mit und gegen Arendt interpretieren, denn diese Körper, die ihre Grundbedürfnisse in der Öffentlichkeit organisierten, richteten damit ja auch die Bitte an die Welt, wahrzunehmen, was dort geschah, ihre Unterstützung zu zeigen und so zum revolutionären Handeln überzugehen. Die Körper agierten gemeinsam, aber sie schliefen auch in der Öffentlichkeit, und in beiden Modalitäten waren sie jeweils sowohl verwundbar als auch fordernd und gaben elementaren leiblichen Bedürfnissen eine politische und räumliche Organisation. Auf diese Weise formten sie sich zu Bildern, die jeder sehen konnte, forderten uns dazu auf, hinzusehen, zu reagieren und so für eine mediale Berichterstattung zu sorgen, die verhinderte, dass das Ereignis totgeschwiegen wurde oder verebbte. Auf der Straße zu schlafen war nicht nur eine Möglichkeit, Anspruch auf die Öffentlichkeit zu erheben und die staatliche Legitimität in Frage zu stellen, sondern eindeutig auch ein Weg, den Körper in seiner Beharrlichkeit, Hartnäckigkeit und Prekarität aufs Spiel zu setzen und den Unterschied zwischen öffentlich und privat für die 131

Zeit der Revolution zu überwinden. Mit anderen Worten  : Erst als diese Bedürfnisse, die eigentlich privat bleiben sollten, auf dem Platz an den Tag und in die Nacht traten und sich zum medialen Bild und Diskurs formten, war es möglich, den Raum und die Zeit des Ereignisses mit solcher Beharrlichkeit auszuweiten, dass das Regime zu Fall gebracht werden konnte. Die Kameras liefen schließlich immer weiter  ; Körper waren dort wie hier  ; sie hörten nie auf zu sprechen, nicht einmal im Schlaf, und konnten deshalb nicht zum Schweigen gebracht, isoliert oder geleugnet werden – manchmal entsteht eine Revolution, weil alle sich weigern, nach Hause zu gehen, und auf der Straße als dem Ort ihrer konvergenten und temporären Kohabitation ausharren.

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3. Gefährdetes Leben und die Ethik der Kohabitation Ich möchte im Folgenden auf ethische Verpflichtungen eingehen, die ihrem Charakter nach global sind und die sowohl in der Distanz als auch in Beziehungen der Nähe entstehen. Die beiden Fragen, die mich beschäftigen, sind auf den ersten Blick sehr verschieden. Die erste lautet, ob wir die Fähigkeit oder Neigung haben, ethisch auf fernes Leiden zu reagieren, und was diese ethische Begegnung, wenn sie denn stattfindet, möglich macht. Die zweite ist, was es für unsere ethischen Verpflichtungen bedeutet, wenn wir es mit einer anderen Person oder Gruppe zu tun haben, uns unweigerlich mit denen verbunden sehen, die wir uns nie ausgesucht haben, und auf Bitten in Sprachen, die wir nicht verstehen oder nicht einmal verstehen wollen, reagieren müssen. Dies geschieht zum Beispiel an den Grenzen einiger umkämpfter Staaten, aber dieses »Zu-tun-Haben-mit« spielt auch in verschiedenen Momenten geografischer Nähe eine Rolle, etwa wenn Menschen infolge von erzwungener Emigration oder der Neuziehung von Staatsgrenzen unter Bedingungen unfreiwilliger Nachbarschaft leben. Natürlich enthalten die meisten uns bekannten Darstellungen der Ethik bereits Annahmen über Ferne und Nähe. Es gibt Kommunitarist / ​innen, die nichts gegen den lokalen, provisorischen und manchmal nationalistischen Charakter der Gemeinschaften einzuwenden haben, mit denen sie sich ethisch verbunden fühlen und deren spezifische Gemeinschaftsnormen als ethisch verbindlich behandelt werden. Sie schätzen Nähe als Voraussetzung da133

für, anderen zu begegnen und andere kennenzulernen, und nehmen ethische Beziehungen daher tendenziell für diejenigen als bindend an, deren Gesicht wir sehen können, deren Namen wir kennen und aussprechen können, die wir bereits verstehen können und deren Gestalt und Aussehen uns vertraut sind. Häufig wird angenommen, dass Nähe bestimmte unmittelbare Forderungen danach stellt, Prinzipien der körperlichen Unversehrtheit, Gewaltlosigkeit sowie Gebiets- oder Besitzansprüche anzuerkennen. Mir scheint jedoch etwas anderes vorzugehen, wenn sich ein Teil der Welt in moralischer Empörung über Handlungen und Ereignisse in einem anderen Teil erhebt, einer Form der moralischen Empörung, die nicht von einer gemeinsamen Sprache oder einem Gemeinschaftsleben in physischer Nähe abhängt. In diesen Fällen sehen und vollführen wir Solidaritätsbeziehungen, die über Raum und Zeit hinweg entstehen. In solchen Momenten werden wir ganz unwillkürlich und ganz unabhängig von jedem intentionalen Akt von Bildern fernen Leidens in einer Weise angesprochen, die uns zur Anteilnahme zwingt und zum Handeln bewegt, dazu, unseren Einspruch und unseren Widerstand gegen solche Gewalt mittels konkreten politischen Maßnahmen zu äußern und zu zeigen. Insofern könnte man sagen, dass wir nicht nur Informationen aus den Medien empfangen, auf deren Grundlage wir dann als Individuen entscheiden, etwas zu tun oder auch nicht zu tun. Wir konsumieren diese Bilderflut nicht bloß und sind von ihr nicht nur gelähmt. Manchmal, nicht immer, wirken die Bilder, die uns aufgezwungen werden, als ethische Bitte. Ich möchte für einen kurzen Moment die Aufmerksamkeit auf diese Formulierung lenken, um zu unterstreichen, dass uns 134

hier etwas zustößt, ohne dass wir in der Lage wären, es vorherzusehen oder uns darauf vorzubereiten, das heißt, wir werden in solchen Momenten von etwas angegangen, das nicht unserem Willen unterliegt, das wir nicht selbst gemacht haben, das von außen als Zumutung, aber auch als ethische Forderung zu uns kommt. Meiner Auffassung nach handelt es sich hier um ethische Verpflichtungen, die weder unserer Zustimmung bedürfen noch das Ergebnis von bewusst geschlossenen Verträgen oder Vereinbarungen sind. Ich möchte diese Auffassung noch weiter erläutern. Zunächst einmal gehe ich davon aus, dass Bilder und Berichte, die das Elend des Krieges zeigen, eine besondere Form der ethischen Bitte darstellen, die uns dazu zwingt, uns mit Fragen von Nähe und Distanz auseinanderzusetzen. Sie formulieren implizit ethische Dilemmata  : Ist das, was geschieht, so weit weg, dass ich dafür keine Verantwortung tragen kann  ? Ist das, was geschieht, mir so nah, dass ich es nicht ertragen kann, die Verantwortung dafür zu übernehmen  ? Wenn ich jenes Leid auch nicht selbst verursacht habe, bin ich dennoch in irgendeinem anderen Sinn dafür verantwortlich  ? Wie sollen wir diese Fragen angehen  ? Was ich hier anzubieten habe, konzentriert sich zwar nicht auf Fotografien oder Bilder, ich bin aber dennoch der Ansicht, dass die ethische Bitte, die uns etwa auf einem Foto begegnet, das Kriegsleiden zeigt, weiter reichende Fragen nach unserer ethischen Verpflichtung aufwirft. Wir möchten die Bilder des Krieges, der Gewalt und des Todes schließlich nicht immer sehen, und wir können sie vehement von uns weisen. Wer hat mir dieses Bild überhaupt zu Gesicht gebracht, welches Gefühl will man damit in mir auslösen oder was will man mir damit antun  ? Wir können das als die strukturelle Para135

noia des Bildes verstehen, insofern dieses mit einer unbestimmten Form der Ansprache verknüpft ist. Doch selbst der oder die Paranoide wird in irgendeiner Weise angegangen oder gibt zu erkennen, dass er oder sie in irgendeiner Weise angesprochen worden ist. Schwingt in diesem Moment, in dem man ungewollt einer Stimme zuhören oder ein Bild betrachten muss, ein Lévinas’scher Unterton mit  ? Solche Bilder können auf unserem Bildschirm auftauchen oder wir stoßen plötzlich auf sie (oder sie auf uns), während wir auf der Straße am Zeitungskiosk vorbeispazieren. Wir können im Internet ganz bewusst auf eine Seite klicken, um die Nachrichten abzurufen, aber das heißt nicht, dass wir wirklich auf das vorbereitet sind, was wir sehen, ja nicht einmal, dass wir uns dem, was da visuell oder akustisch auf uns einwirkt, freiwillig aussetzen. Wir wissen, was es bedeutet, von Sinnesbildern überschwemmt oder überwältigt zu werden, aber sind wir in solchen Augenblicken auch ethisch überwältigt und wäre es ein Problem, wenn es nicht so wäre  ? Susan Sontag hat dargelegt, dass Kriegsfotografien uns zugleich überwältigen und paralysieren, und sich intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, ob wir noch auf das Bild vertrauen können, um eine politische Deliberation über – und Widerstand gegen – die Ungerechtigkeit staatlicher Gewalt und des Krieges zu entfachen.1 Aber können wir möglicherweise auch überwältigt und »entparalysiert« werden – und können wir das als Wirken einer ethischen Verpflichtung auf unsere Sensibilitäten verstehen  ? Ebendieses Wort, Sensibilität, reserviert Lévinas für den Bereich der Responsivität, der dem Ich vorausgeht, für eine Art von Reaktion, die somit meine und zugleich doch nicht meine ist. Wenn ich sage, es ist meine Reaktion, dann erkläre ich das Ich 136

zu ihrem Ursprung  ; was wir hier jedoch zu diskutieren versuchen, ist eine Art von Responsivität, die eine Enteignung des Egologischen impliziert. In diesem Sinne komme ich auf meine Frage zurück  : Müssen wir tatsächlich zu einem gewissen Grad überwältigt werden, um ein Motiv zum Handeln zu haben  ? Wir handeln nur, wenn wir dazu bewegt werden, und bewegt werden wir von etwas, das uns von außen, von woanders, vom Leben anderer her berührt und ein Übermaß einführt, von dem aus und dem entsprechend wir handeln. Gemäß einer solchen Auffassung der ethischen Verpflichtung ist die Rezeptivität nicht nur eine Voraussetzung des Handelns, sondern eines seiner konstituierenden Merkmale. »Medien« bezeichnen jeden Darstellungsmodus, der uns eine Version der Wirklichkeit von außen übermittelt  ; sie funktionieren über eine Reihe von Verwerfungen, die das möglich machen, was wir ihre Botschaft nennen können, was auf uns wirkt, und damit meine ich sowohl die Verwerfung – was herausgeschnitten wird, was außerhalb der Bildränder liegt – als auch das, was präsentiert wird. Wenn wir uns plötzlich für irgendetwas empfänglich zeigen, reagieren wir normalerweise auf etwas, das zu sehen wir uns nicht ausgesucht haben (das kann etwas sein, das aus unserem Gesichtsfeld ausgeschlossen, aber auch etwas, das im Bereich des visuellen Erscheinungsbildes gegeben ist). Es mag wie eine Art Sprung erscheinen, ich bin jedoch der Auffassung, dass diese sehr kurze Darstellung des Ungewählten an der Macht des Bildes etwas über ethische Verpflichtungen aussagt, die sich uns ohne unsere Zustimmung aufdrängen. Wenn wir daher für diesen Punkt offen sind – obwohl es genügend Gründe gäbe, ihn nicht vollständig zu akzeptieren –, scheint er darauf hinzudeuten, dass Zustimmung kein hinreichender Grund ist, um die glo137

balen Verpflichtungen einzugrenzen, die unsere Verantwortung ausmachen. Vielmehr kann Verantwortung sich durchaus auch aus einem ausgedehnten Bereich des Nichteinvernehmlichen ergeben. Als Zweites geht es mir jedoch darum, die Vorstellung zu hinterfragen, dass ethische Verpflichtungen nur im Kontext fester Gemeinschaften entstehen, die sich innerhalb von Grenzen versammelt haben, von einer gemeinsamen Sprache geeint werden und / ​oder ein Volk oder eine Nation bilden. Verpflichtungen gegenüber Menschen, die uns fern sind, ebenso wie gegenüber denen, die uns nah sind, gehen über Sprachund Landesgrenzen hinweg und sind nur dank visueller oder sprachlicher Übersetzungen möglich, zu denen auch zeitliche und räumliche Verschiebungen gehören. Derartige Kreisläufe bringen jede kommunitaristische Begründung für eine Begrenzung unserer globalen Verpflichtungen ins Wanken. Meine Anregung lautet daher, dass der Bereich der Verpflichtungen, um den es mir hier geht, weder durch Konsens noch durch Kommunitarismus gerechtfertigt oder eingegrenzt wird. Wahrscheinlich ist dies eine Erfahrung, die wir im Zusammenhang mit den Medien machen, wenn sie uns weit entferntes Leid sehr nahe bringen und das Nahe weit entfernt erscheinen lassen. Meine These lautet, dass die ethischen Forderungen, die sich aus den globalen Kreisläufen unserer Zeit ergeben, von dieser begrenzten, aber notwendigen Umkehrbarkeit von Nähe und Distanz abhängen. Ich bin sogar der Auffassung, dass bestimmte Bindungen gerade durch diese Umkehrbarkeit und die sie konstituierende Ausweglosigkeit geknüpft werden. Die Umkehrbarkeit endet sozusagen in der Sackgasse der körperlichen Verortetheit, denn wie medial entrückt wir auch sein mögen, so sind wir es doch auch 138

ganz entschieden nicht. Wenn wir also auf der Straße gefilmt werden, transportieren sich Körper und Straße in gewissem Maße und erlangen eine potenziell globale Dimension  ; ein solcher Befund und eine solche Verlagerung werden aber nur verständlich, wenn man davon ausgeht, dass gewisse zeitliche und räumliche Dimensionen jenes körperlichen Standorts nicht transportiert werden können, dort zurückgelassen werden oder ausharren und ein hartnäckiges Da-sein besitzen. Ich werde später noch auf dieses Problem des Körpers zurückkommen, denn ich habe keine andere Wahl, und vielleicht gilt das im Grunde für uns alle. Für den Augenblick möchte ich nur ganz grundlegend festhalten, dass in dem Fall, dass ich nur an die Menschen gebunden bin, die mir nahe und schon vertraut sind, meine Ethik zwangsläufig beschränkt, kommunitär und ausschließend ist. Wenn ich nur an die gebunden bin, die im abstrakten Sinne »menschlich« sind, wende ich jeden Versuch einer kulturellen Übersetzung zwischen meiner eigenen Lage und der anderer ab. Wenn ich nur an diejenigen gebunden bin, die in der Ferne leiden, und nie an die, die mir nahe sind, ziehe ich mich aus meiner Situation zurück, indem ich versuche, die Distanz zu halten, die es mir erlaubt, ethische Gefühle zu hegen und mich selbst für ethisch zu halten. Ethische Beziehungen sind jedoch vermittelt – ich benutze dieses Wort hier ganz bewusst, um mitten im digitalen Zeitalter auf Hegel zu verweisen. Das heißt, dass Fragen des Standorts insofern vermengt sind, als das, was »dort« geschieht, in gewissem Sinne auch »hier« geschieht, und wenn das Geschehen »dort« davon abhängt, dass das Ereignis in verschiedenen »Anderswos« registriert wird, dann findet die ethische Forderung des Ereignisses anscheinend immer in einem »Hier« und 139

einem »Dort« statt, die in gewissem Maße umkehrbar sind  ; diese Umkehrbarkeit findet jedoch ihre Grenzen in dem Umstand, dass der Körper durch sein vermitteltes Transportiertwerden nicht aus seiner Verortetheit, seinem Ausgesetztsein entlassen werden kann. In einem gewissen Sinn ist das Ereignis eindeutig lokal, denn es sind exakt die Menschen dort, deren Leben auf dem Spiel steht. Wenn aber die Körper, die dort in Gefahr sind, nicht anderswo bemerkt werden, erfolgt keine globale Reaktion und keine globale Form der ethischen Anerkennung und Verbindung, womit ein Teil der Wirklichkeit des Ereignisses verlorengeht. Es ist nicht einfach so, dass eine einzelne Bevölkerung eine andere durch gewisse mediale Momente betrachtet, eine solche Reaktion macht vielmehr eine – wenn auch provisorische – Form von globaler Verbundenheit mit denjenigen deutlich, deren Leben und Handlungen auf diese Weise registriert werden. Kurz, unvorbereitet auf das überwältigende mediale Bild zu sein muss keine Paralyse zur Folge haben, sondern kann eine Situation herbeiführen, in der man (a) bewegt wird und daher genau kraft der Einwirkung von außen handelt, und in der man (b) zugleich dort und hier ist und in jeweils verschiedener Weise die Multilokalität und zeitliche Verschränktheit ethischer Verbindungen akzeptiert und aushandelt, die wir zu Recht global nennen dürfen. Können wir uns also bestimmten philosophischen Ethiken zuwenden, um neu zu formulieren, was es heißt, in diesen Zeiten eine ethische Forderung zu registrieren, die sich weder auf den Konsens noch auf die Vereinbarung reduzieren lässt und außerhalb etablierter Gemeinschaftsbindungen stattfindet  ? Ich werde kurz einige Argumente von Emmanuel Lévinas und Hannah Arendt zu diesen schwierigen Beziehungen zwischen 140

Ethik, Nähe und Distanz erörtern. Dass meine Wahl auf einen Denker und eine Denkerin fiel, die zum Teil durch jüdische intellektuelle Traditionen (Lévinas) und historische Situationen (Arendt) geprägt wurden, ist kein Zufall. In einem anderen Projekt, das seine Schatten auf dieses wirft, versuche ich eine Version der Kohabitation zu artikulieren, die aus meiner Beschreibung der ethischen Verpflichtung folgt  ; Lévinas und Arendt bieten Ansichten, die diesbezüglich zugleich erhellend und problematisch sind. Zur Konkretisierung des Sachverhalts werde ich mich am Ende meiner Bemerkungen dem Thema Palästina / Israel zuwenden, hauptsächlich um eine Reihe jüdischer Ansichten zur Kohabitation vorzustellen, die eine Abkehr vom Kommunitarismus, sogar vom jüdischen Kommunitarismus fordern und die in einer Zeit, da der Staat Israel versucht, seinen Alleinvertretungsanspruch über das Judentum zu wahren, als kritische Alternative dienen können. Zum Glück für Sie – und vielleicht ja auch für mich – wird diese letzte Angelegenheit nicht im Mittelpunkt meiner Ausführungen stehen, obwohl ich sagen muss, dass sie das zentrale Thema meiner aktuellen Arbeit darstellt.

Lévinas

In Lévinas’ Ethik gibt es zwei nicht übereinstimmende Dimensionen. Auf der einen Seite ist die Kategorie der Nähe für seine Vorstellung von ethischen Beziehungen sehr wichtig. Tatsächlich scheint die Art, wie andere ohne unseren Willen auf uns einwirken, den Anlass eines ethischen Appells oder einer ethischen Bitte zu bilden. Das heißt, noch bevor wir das klare Empfin141

den einer Wahl haben, wird ethisch auf uns eingewirkt und etwas von uns erbeten. Den Einwirkungen und Übergriffen anderer ausgesetzt zu sein setzt körperliche Nähe voraus, und wenn es das »Antlitz« ist, das auf uns wirkt, dann werden wir von diesem »Antlitz« gewissermaßen affiziert und beansprucht zugleich. Auf der anderen Seite erstrecken sich unsere ethischen Verpflichtungen auch auf diejenigen, die nicht in irgendeinem physischen Sinne in der Nähe sind und nicht Teil einer erkennbaren Gemeinschaft sein müssen, der wir beide angehören. Diejenigen, die auf uns wirken, sind für Lévinas eindeutig anders als wir  ; es ist erklärtermaßen nicht ihre Gleichartigkeit, die uns mit ihnen verbindet. Lévinas vertrat natürlich einige widersprüchliche Ansichten über diese Frage der Andersheit des anderen, der eine ethische Forderung an mich stellt  : Er sprach sich eindeutig für Formen des Nationalismus, insbesondere den israelischen Nationalismus aus, und hielt auch an der Vorstellung fest, dass ethische Beziehungen nur innerhalb der jüdisch-christlichen Tradition möglich seien. Aber lassen Sie uns für den Moment Lévinas gegen ihn selbst lesen beziehungsweise sein Werk auf die politischen Möglichkeiten abklopfen, die es eröffnet, auch diejenigen, die er selbst gar nicht beabsichtigte. Lévinas’ Position lässt den Schluss zu, dass die Menge ethischer Werte, die eine Bevölkerungsgruppe mit einer anderen verbindet, in keiner Weise davon abhängt, dass sich die beiden Gruppen mit Blick auf ihre nationale, kulturelle, religiöse oder ethnische Zugehörigkeit ähneln. Interessanterweise betont Lévinas, dass wir an diejenigen gebunden sind, die wir nicht kennen, die wir uns nicht einmal ausgesucht haben und nie hätten aussuchen können, und dass diese Verpflichtun142

gen streng genommen vorvertraglich sind. Er war aber auch derjenige, der in einem Interview behauptete, die Palästinenser hätten kein Gesicht und er wolle die ethischen Verpflichtungen nur auf diejenigen ausweiten, die durch seine Version jüdisch-christlicher und griechisch-antiker Ursprünge miteinander verbunden seien.2 In gewisser Weise bescherte er uns das Prinzip, das er dann selbst verriet. Sein Versäumnis steht in direktem Widerspruch zu seiner Formulierung der Forderung, denen gegenüber ethisch empfänglich zu sein, die über unsere unmittelbare Zugehörigkeitssphäre hinausgehen, zu denen wir aber dennoch gehören, ungeachtet der Frage, was wir uns aussuchen, durch welche Verträge wir gebunden sind oder welche etablierten Formen kultureller Zugehörigkeit vorhanden sind. Dies wirft natürlich die Frage auf, wie eine ethische Beziehung zu Menschen möglich ist, die nicht im Horizont der Ethik erscheinen können, die keine Personen sind oder nicht als die Art von Wesen erachtet werden, mit denen man in ein ethisches Verhältnis treten kann oder muss. Ist es möglich, die hier formulierte ethische Philosophie gegen genau die ausschließenden Annahmen in Anschlag zu bringen, von denen sie in Teilen gestützt wird  ? Können wir, mit anderen Worten, Lévinas’ Werk gegen ihn selbst aufbieten, um zur Artikulierung einer globalen Ethik beizutragen, die über die religiösen und kulturellen Gemeinschaften hinausgeht, die er als deren notwendige Bedingung und Begrenzung ansah  ? Betrachten wir als Beispiel sein Argument, dass ethische Beziehungen asymmetrisch seien. Für Lévinas hat der andere mir gegenüber Vorrang. Was bedeutet das konkret  ? Hat der andere mir gegenüber nicht dieselbe Verpflichtung  ? Warum sollte ich einem anderen verpflichtet sein, für den nicht umgekehrt dasselbe gilt  ? 143

Wechselseitigkeit kann für Lévinas nicht die Grundlage der Ethik sein, weil diese kein Handel ist  : Es kann nicht sein, dass meine ethische Beziehung zu anderen von deren ethischer Beziehung zu mir abhängt, denn das würde diese Beziehung weniger als absolut und verbindlich machen und es würde meine Selbsterhaltung als distinktes und begrenztes Wesen über jede Beziehung zu anderen stellen. Für Lévinas kann keine Ethik aus Egoismus abgeleitet werden, ja, Egoismus ist nichts anderes als die Vereitelung der Ethik selbst. Ich distanziere mich hier von Lévinas, denn obwohl ich der Widerlegung des Vorrangs der Selbsterhaltung für das ethische Denken zustimme, möchte ich auf einer gewissen Verflechtung zwischen jenem anderen Leben – all den anderen Leben – und meinem eigenen bestehen, einer Verflechtung, die sich nicht auf nationale Zugehörigkeit oder kommunitäre Angliederung reduzieren lässt. Meiner Ansicht nach (und damit stehe ich gewiss nicht allein) ist das Leben der anderen, das Leben, das nicht unser eigenes ist, auch unser Leben, denn welchen Sinn »unser« Leben auch haben mag, er rührt genau von dieser Sozialität her, von der Tatsache, dass wir immer schon, von Anfang an, von einer Welt der anderen abhängig sind, dass wir in und von einer sozialen Welt konstituiert werden. So gesehen gibt es sicher andere, die von mir verschieden sind und deren ethische Forderung an mich nicht auf eine egoistische Berechnung meinerseits reduzierbar ist. Dies liegt jedoch daran, dass wir, wie verschieden wir auch sind, ebenso aneinander gebunden sind wie auch an lebendige Prozesse, die über die menschliche Form hinausgehen. Das ist nicht immer eine schöne und glückliche Erfahrung. Die Erkenntnis, dass das eigene Leben auch das Leben anderer ist, bedeutet, auch wenn dieses Leben ver144

schieden ist und sein muss, dass die eigene Grenze nicht nur eingrenzend, sondern auch angrenzend ist und mit räumlicher und zeitlicher Nähe, ja sogar mit einer Form von Eingebundenheit einhergeht. Außerdem ist die beschränkte und lebendige Erscheinung des Körpers die Bedingung dafür, dass wir dem anderen ausgesetzt sind  ; wir sind dem Flehen, der Verführung, der Leidenschaft und der Verwundung ausgesetzt und dies in einer Weise, die uns sowohl stärken als auch zerstören kann. In diesem Sinn verweist das Ausgesetztsein des Körpers auf dessen Gefährdetheit. Gleichzeitig ist für Lévinas dieses gefährdete und körperliche Wesen für das Leben des anderen verantwortlich, das heißt, ganz gleich wie sehr man um sein eigenes Leben fürchtet, das Leben des anderen hat Vorrang. Wenn nur die israelische Armee so dächte  ! Allerdings ist es nicht leicht, dieser Form der Verantwortung nachzukommen, wenn man einem tief empfundenen Gefühl der Prekarität unterliegt. Prekarität bezeichnet sowohl die Notwendigkeit als auch die Schwierigkeit der Ethik. In welcher Beziehung steht die Prekarität zur Vulnerabilität  ? Es ist gewiss schwierig, sich anfällig für die Zerstörung durch den anderen und gleichzeitig für den anderen verantwortlich zu fühlen  ; Lévinas-Leser / ​innen stoßen sich seit jeher an der Formulierung, dass wir – wir alle – in gewissem Sinn verantwortlich für das sind, was uns verfolgt. Damit meint Lévinas aber nicht, dass wir unsere Verfolgung selbst verursachen – keineswegs. »Verfolgung« ist vielmehr seine merkwürdige und irritierende Bezeichnung für eine ethische Forderung, die sich uns gegen unseren Willen aufdrängt. Ohne es zu wollen sind wir offen für dieses Drängen, und obwohl es sich über unseren Willen hinwegsetzt, zeigt es uns auch, dass die Forderungen, die andere an uns stellen, 145

Teil unserer eigenen Sensibilität, unserer Empfänglichkeit und unserer Verantwortlichkeit sind. Wir werden, mit anderen Worten, angerufen, und das ist nur möglich, weil wir in gewissem Sinne anfällig für Forderungen sind, die wir nicht vorhersehen können und für die es keine geeignete Vorbereitung gibt. Für Lévinas gibt es keine andere Möglichkeit, die ethische Realität zu begreifen  ; die ethische Verpflichtung hängt nicht nur von unserer Anfälligkeit für die Forderungen anderer ab, sie macht uns auch zu Geschöpfen, die grundlegend durch diese ethische Beziehung definiert sind. Die ethische Beziehung ist keine Tugend, die ich besitze oder irgendwie ausübe  ; sie geht jedem individuellen Selbstgefühl voraus. Wenn wir sie anerkennen, so tun wir dies nicht als eigenständige Individuen. Ich bin bereits mit dir verbunden, und das macht mich zu dem Selbst, das ich bin und das auf eine Weise für dich empfänglich ist, die ich nicht vollständig vorhersagen oder kontrollieren kann. Das ist auch eindeutig die Bedingung meiner Verletzbarkeit, und auf diese Weise sind meine Verantwortlichkeit und meine Verletzbarkeit miteinander verknüpft. Mit anderen Worten  : Du kannst mir Angst machen und mich bedrohen und doch muss meine Verpflichtung dir gegenüber bestehen bleiben. Die ethische Beziehung geht der Individuation voraus, und wenn ich ethisch handle, löse ich mich als begrenztes Wesen auf. Ich falle auseinander. Ich werde gewahr, dass ich meine Beziehung zu dem »Du« bin, dessen Leben ich zu erhalten versuche, und dass das »Ich« ohne diese Beziehung sinnlos ist und seine Verankerung in der Ethik, die der Ontologie des Ego immer vorausgeht, verloren hat. Man könnte auch sagen  : Das »Ich« wird in seiner ethischen Beziehung zum »Du« aufgelöst, das heißt, die ethische Relatio146

nalität wird erst möglich durch eine ganz spezifische Art des Enteignet-Werdens. Wenn ich zu fest oder zu starr über mich verfüge, kann ich nicht in einer ethischen Beziehung sein. Die ethische Beziehung bedeutet, eine bestimmte egologische Perspektive abzutreten und einen Standpunkt einzunehmen, der grundlegend von einem Modus der Anrede strukturiert ist  : Du rufst mich an und ich antworte. Wenn ich jedoch antworte, dann nur, weil ich schon verantwortlich war  ; das heißt, diese Empfänglichkeit und Verwundbarkeit konstituiert mich auf der fundamentalsten Ebene und besteht, so könnte man sagen, schon vor jeder bewussten Entscheidung, auf den Ruf zu antworten. Man muss also schon fähig sein, den Ruf zu empfangen, bevor man ihn wirklich beantwortet. In diesem Sinne setzt die ethische Responsibilität die ethische Responsivität voraus.

Arendt

Die meisten Gelehrten würden wohl Betrachtungen über Emmanuel Lévinas und eine Analyse Hannah Arendts getrennt behandelt wissen wollen  : Er ist ein Philosoph der Ethik, der sich auf religiöse Traditionen stützt und der die ethische Bedeutung von Passivität und Rezeptivität hervorhebt  ; sie dagegen ist eine entschieden säkulare Sozialphilosophin und Theoretikerin des Politischen, die unaufhörlich den politischen Wert des Handelns betont. Warum also sollte man eine Diskussion über Lévinas mit einer über Arendt zusammenbringen  ? Beide erheben Einwände gegen die klassisch liberale Vorstellung des Individualismus, also die Idee, dass Individuen wissentlich bestimmte Verträge schlie147

ßen und sich ihre Verpflichtung daraus ergibt, dass sie absichtlich und willentlich Vereinbarungen miteinander eingegangen sind. Diese Sicht geht davon aus, dass wir nur für die – in Abkommen kodifizierten – Beziehungen verantwortlich sind, die wir wissentlich und absichtlich eingegangen sind. Und Arendt widerspricht dieser Sichtweise. Tatsächlich bildet dies den Kern ihrer Argumentation gegen Adolf Eichmann. Dieser dachte, er könne entscheiden, welche Teile der Bevölkerung leben und welche sterben sollten  ; er dachte also in diesem Sinne, er hätte die Wahl, mit wem er die Erde bewohnt. Was er laut Arendt nicht begriff, war, dass niemand das Vorrecht hat, sich auszusuchen, mit wem er die Erde bewohnt. Wir können in gewissem Maße wählen, wie und wo wir leben und auf lokaler Ebene auch mit wem wir leben. Wenn wir aber darüber zu entscheiden hätten, mit wem wir die Erde bewohnen, käme das einer Entscheidung darüber gleich, welcher Teil der Menschheit leben und welcher sterben soll. Wenn uns diese Wahl verboten ist, dann deshalb, weil wir dazu verpflichtet sind, mit den Menschen zu leben, die bereits existieren, und jede Entscheidung darüber, wer leben darf und wer nicht, immer eine genozidale Praxis ist  ; und auch wenn wir nicht bestreiten können, dass Völkermorde stattgefunden haben und immer noch stattfinden, wäre es falsch zu glauben, dass Freiheit im ethischen Sinne jemals mit der Freiheit, einen Völkermord zu begehen, vereinbar sein könnte. Der ungewählte Charakter des irdischen Zusammenlebens ist für Arendt die Bedingung dafür, dass wir überhaupt als ethische und politische Wesen existieren. Wer sich das Recht zum Genozid herausnimmt, zerstört daher nicht nur politische Bedingungen des Personseins, sondern die Freiheit selbst, verstanden nicht als individueller Akt, son148

dern als plurales Handeln. Ohne diese Pluralität, gegen die wir uns nicht entscheiden können, haben wir keine Freiheit und somit auch keine Wahl. Dies bedeutet  : Es gibt eine ungewählte Bedingung der Freiheit, und wenn wir frei sind, bejahen wir etwas an dem, was wir nicht wählen können. Wenn die Freiheit danach trachtet, über die Unfreiheit hinauszugehen, die ihre Bedingung ist, zerstören wir die Pluralität und gefährden in Arendts Augen unseren Status als Personen im Sinne eines zoon politikon. Dies war eines der Argumente, mit denen sie begründete, warum die Todesstrafe für Eichmann gerechtfertigt war. Ihrer Ansicht nach hatte Eichmann sich bereits selbst dadurch vernichtet, dass er nicht einsah, dass sein eigenes Leben mit dem der Menschen, die er vernichtete, verbunden war  ; außerhalb des gesellschaftlichen und politischen Rahmens, in dem jedes Leben gleich viel wert ist, hat das individuelle Leben keinen Sinn und besitzt keine Realität.3 In Eichmann in Jerusalem (1963) argumentiert Arendt, Eichmann und seine Vorgesetzten hätten nicht realisiert, dass die Heterogenität der Erdbevölkerung eine irreversible Voraussetzung des gesellschaftlichen und politischen Lebens selbst ist.4 Ihre Anklage gegen Eichmann lässt die feste Überzeugung erkennen, dass sich kein Mensch anmaßen darf, so zu handeln, und dass die, mit denen wir die Erde zusammen bewohnen, uns gegeben sind – vor jeder Wahl und damit vor jeder Art von bewusst und freiwillig geschlossenem sozialem oder politischem Vertrag. In Eichmanns Fall glich der Versuch zu wählen, mit wem zusammen man die Erde bewohnt, dem ausdrücklichen Bemühen, einen Teil der Bevölkerung zu vernichten – Juden, Zigeuner, Homosexuelle, Kommunisten, Behinderte, Kranke und andere  ; der Freiheitsgebrauch, auf dem er bestand, war also 149

der Völkermord. Diese Wahl stellt für Arendt nicht nur einen Angriff auf die Kohabitation als Voraussetzung des politischen Lebens dar, sie verpflichtet uns auch zu der folgenden Aussage  : Wir müssen Institutionen und Strategien entwickeln, die die Ungewähltheit des offenen und pluralen Zusammenlebens aktiv erhalten und bekräftigen. Wir leben mit den Menschen, die wir uns nicht ausgesucht haben und zu denen wir uns nicht unbedingt unmittelbar zugehörig fühlen, nicht nur zusammen  ; wir sind auch verpflichtet, ihr Leben zu schützen und die offene Pluralität zu erhalten, die die Weltbevölkerung ist. Was Arendt in meinen Augen bietet, auch wenn sie das zweifellos anders sähe, ist eine ethische Sicht der Kohabitation, die als Richtschnur für einzelne Formen der Politik dienen kann. In diesem Sinne ergeben sich aus der Ungewähltheit jener Modi des Zusammenlebens konkrete politische Normen und Strategien. Die Notwendigkeit des gemeinsamen Lebens auf der Erde ist ein Grundsatz, der in Arendts Philosophie die Handlungen und Vorgehensweisen jeder Nachbarschaft, Gemeinschaft oder Nation leiten muss. Es ist vollkommen gerechtfertigt, darüber zu entscheiden, in welcher Gemeinschaft man leben möchte, solange dies nicht impliziert, dass diejenigen, die außerhalb der Gemeinschaft stehen, es nicht verdienen zu leben. Mit anderen Worten  : Kommunitäre Gründe der Zugehörigkeit sind nur unter der Bedingung gerechtfertigt, dass sie einer nichtkommunitären Ablehnung des Genozids untergeordnet sind. So wie ich Arendt verstehe, gehört jeder Mensch, der einer Gemeinschaft angehört, auch der Erde an – ein Gedanke, den sie eindeutig von Heidegger übernimmt – und daraus folgt nicht nur eine Verpflichtung gegenüber allen anderen Erdbewohner / ​ 150

innen, sondern, so dürfen wir wohl hinzufügen, auch zum Erhalt der Erde selbst. Und unter dieser Maßgabe möchte ich eine ökologische Ergänzung zu Arendts Anthropozentrismus vornehmen. In Eichmann in Jerusalem spricht Arendt nicht nur für die Juden, sondern für jede Minderheit, die von einer anderen Gruppe von der Erde vertrieben werden soll. Das eine impliziert das andere, und die »Fürsprache« verallgemeinert das begründende Verbot, auch wenn sie die Pluralität, deren Leben sie schützen will, nicht aufhebt. Ein Grund für Arendts Weigerung, die Juden von den anderen von den Nazis verfolgten sogenannten Nationen zu trennen, ist, dass sie im Namen einer Pluralität argumentiert, die sich mit dem menschlichen Leben in all seinen kulturellen Formen deckt. Zugleich ist ihr Urteil über Eichmann eines, das sich gerade aus der historischen Situation einer Jüdin in der Diaspora ergibt, die selbst aus Nazideutschland geflüchtet war, die sich aber auch dagegen aussprach, dass das israelische Gericht eine bestimmte Nation repräsentierte, während das Verbrechen in ihren Augen ein Verbrechen gegen die Menschheit war, und dass das Gericht nur die jüdischen Opfer des Völkermordes repräsentierte, obwohl infolge der nationalsozialistischen Pläne, die Eichmann und seine Schergen formuliert und umgesetzt hatten, auch viele andere Gruppen vernichtet und vertrieben worden waren. Die Idee der ungewählten Kohabitation impliziert nicht nur die irreversible Pluralität beziehungsweise Heterogenität der Erdbevölkerung sowie die Pflicht, diese Pluralität zu schützen, sondern auch ein Bekenntnis, dass alle Menschen das gleiche Recht haben, die Erde zu bewohnen, und mithin ein Bekenntnis zur Gleichheit. In Arendts Argumentation gegen die Idee 151

eines auf Prinzipien der jüdischen Souveränität gegründeten Staates Israel und für ein föderales Palästina in den späten 1940er Jahren nahmen diese beiden Dimensionen eine spezifische historische Gestalt an. Das politische Verständnis der Pluralität, für das sie stritt, ergab sich ihrer Ansicht nach aus der Amerikanischen Revolution und verbot es ihr, ausschließlich nationale, ethnische oder religiöse Begründungen der Staatsangehörigkeit zu akzeptieren. Darüber hinaus sprach sie sich grundsätzlich gegen die Gründung von Staaten aus, die auf der Vertreibung ihrer Bewohner / ​innen und der Schaffung einer neuen Klasse von Flüchtlingen basiert, besonders dann, wenn ein solcher Staat sich auf die Rechte von Flüchtlingen beruft, um seine Gründung zu legitimieren. Arendt vertritt die normative Ansicht, dass kein einzelner Teil der Bevölkerung die Erde für sich beanspruchen kann, weder eine Gemeinschaft noch ein Nationalstaat, eine regionale Einheit, ein Clan, eine Partei oder eine Rasse. Ungewollte Nähe und ungewählte Kohabitation sind demnach Bedingungen unserer politischen Existenz, sie bilden die Grundlage für Arendts Kritik am Nationalismus und beinhalten die Verpflichtung, auf der Erde in einem Gemeinwesen zu leben, welches Gleichheit für eine Bevölkerung schafft, die notwendig und irreversibel heterogen ist. Ungewollte Nähe und ungewählte Kohabitation bilden auch die Basis unserer Verpflichtung, keinen Teil der menschlichen Bevölkerung zu vernichten und Völkermord als Verbrechen gegen die Menschheit zu ächten, aber auch, von Institutionen zu fordern, sich darum zu bemühen, alle Leben gleichermaßen lebbar zu machen. Aus der ungewählten Kohabitation leitet Arendt also Vorstellungen von Universalität und Gleichheit ab, die 152

uns verpflichten, Institutionen zur Erhaltung von Menschenleben zu schaffen, ohne Teile der Bevölkerung als gesellschaftlich tot, überflüssig oder wesenhaft lebensunwert und somit unbetrauerbar zu behandeln. Mit ihrer Haltung zu Kohabitation, föderaler Autorität, Gleichheit und Universalität, die sie zwischen den 40er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelte, stand Arendt in krassem Gegensatz zu den Verteidiger / ​innen nationalistischer Formen jüdischer Souveränität, differenzieller Klassifikationen jüdischer und nichtjüdischer Bürger / ​innen, militärischer Strategien, um Palästinenser / ​innen zu entwurzeln, und Bestrebungen, eine demografische jüdische Mehrheit im Staat herzustellen. Es heißt oft, Israel sei während und nach dem Genozid durch die Nazis für die Juden zu einer historischen Notwendigkeit geworden, und wer die Gründungsprinzipien des jüdischen Staates in Frage stelle, zeige damit eine ungeheure Gefühllosigkeit angesichts der Notlage der Juden  ; es gab jedoch auch damals jüdische Denker / ​innen und politische Aktivist / ​innen, unter ihnen Hannah Arendt, Martin Buber, Hans Kohn oder Judah Magnes, für die eine der wichtigsten Lehren aus dem nationalsozialistischen Völkermord darin bestand, gegen unrechtmäßige staatliche Gewalt sowie gegen jede Staatenbildung zu opponieren, die Wahlund Bürgerrechte einer bestimmten Rasse oder Religion vorbehalten wollte  ; Nationalstaaten müssten des Weiteren international daran gehindert werden, ganze Bevölkerungsteile zu enteignen, die der Idee der reinen Nation nicht entsprechen. Wer aus der historischen Erfahrung von Internierung und Enteignung Gerechtigkeitsgrundsätze ableitet, muss das politische Ziel verfolgen, die Gleichheit ungeachtet des kulturellen Hintergrunds oder der kul153

turellen Formation und über Sprachen und Religionen hinweg auf diejenigen auszuweiten, die wir uns nicht ausgesucht haben (jedenfalls nicht bewusst) und denen gegenüber wir dauerhaft verpflichtet sind, eine Möglichkeit des Zusammenlebens zu finden. Denn wer »wir« auch sein mögen – auch uns hat sich niemand ausgesucht, auch wir sind ohne irgendjemandes Zustimmung auf dieser Erde aufgetaucht und gehörten von Beginn an einer breiteren Bevölkerung und einer tragfähigen Erde an. Und genau diese Bedingung macht es paradoxerweise auf radikale Art möglich, neue Formen der Sozialität und der Politik hervorzubringen, die über die durch Siedlerkolonialismus und Vertreibung entstandenen, von Gier getriebenen und kläglichen Bindungen hinausgehen. Wir alle sind in diesem Sinne die Ungewählten, aber wir sind eben auch alle gemeinsam ungewählt. Es ist nicht uninteressant, dass Arendt, selbst eine Jüdin und ein Flüchtling, ihre Pflicht nicht darin sah, zum »auserwählten Volk« zu gehören, sondern vielmehr zu den Ungewählten, und gerade für eine gemischte Gemeinschaft von denen einzutreten, deren Existenz ein Recht, zu existieren und ein lebbares Leben zu führen, impliziert.

Alternatives Judentum, gefährdetes Leben

Ich habe hier zwei Perspektiven vorgestellt, die in unterschiedlicher Weise aus dem Judentum hervorgegangen sind. Lévinas, der sich selbst als jüdischen Denker und als Zionisten bezeichnete, leitet seine Erklärung der Verantwortlichkeit aus einer Interpretation der Gebote ab und fragt danach, wie sie auf uns wirken und 154

uns ethisch fordern. Und Arendt, die zwar gewiss nicht religiös war, machte ihre Lage als jüdischer Flüchtling im Zweiten Weltkrieg dennoch zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen über Völkermord, Staatenlosigkeit und die pluralen Bedingungen des politischen Lebens. Natürlich sind sowohl Lévinas als auch Arendt nicht gerade unproblematisch, wenn es darum geht, politische Ideale für Israel / ​Palästina aufzustellen. Wie bei Lévinas gibt es auch in Arendts Position Anteile, die eindeutig rassistisch sind (so missbilligte sie beispielsweise arabische Juden, identifizierte sich selbst als Europäerin und sah das Judentum restriktiv innerhalb dieser Kategorien), und dennoch eignet sich manches von dem, was sie schreibt, nach wie vor als Quelle für die Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen globalen Verpflichtung, sich dem Genozid und der Vermehrung staatenloser Bevölkerungen zu widersetzen und die Wichtigkeit des Kampfes für eine offene Konzeption der Pluralität zu erkennen.5 Arendts euro-amerikanisches Raster war eindeutig limitiert, und wenn wir versuchen, das Verhältnis zwischen Prekarität und Praktiken des Zusammenlebens zu verstehen, wird noch eine weitere Beschränkung deutlich. Für Arendt sind die Bedürfnisse des Körpers der Privatsphäre zuzuordnen. Von Prekarität lässt sich jedoch nur sinnvoll reden, wenn wir in der Lage sind, körperliche Abhängigkeit und Bedürftigkeit, Hunger und Schutzbedürftigkeit, die Anfälligkeit für Verletzung und Zerstörung, Formen des sozialen Vertrauens, die uns leben und gedeihen lassen, sowie die mit unserem schieren Fortbestand verknüpften Leidenschaften als eindeutig politische Angelegenheiten zu begreifen. 155

Während alle diese Dinge für Arendt also zum Privatbereich gehörten, verstand Lévinas zwar die Wichtigkeit der Vulnerabilität, brachte sie jedoch nicht wirklich mit einer Politik des Körpers in Verbindung. Er scheint zwar einen Einwirkungen und Übergriffen ausgesetzten Körper vorauszusetzen, räumt ihm in seiner Ethik jedoch keinen expliziten Platz ein. Und Arendt äußert sich zwar theoretisch zum Problem des Körpers, des verorteten Körpers, des sprechenden Körpers, der als Bestandteil jeder Erklärung des politischen Handelns im »Erscheinungsraum« auftaucht, sie ist jedoch nicht bereit, einer Politik zuzustimmen, die sich gegen Ungleichheiten bei der Nahrungsverteilung und für das Recht auf Wohnen einsetzt und die gegen Ungleichheiten im Bereich der reproduktiven Arbeit vorgeht. Meiner Ansicht nach ergeben sich aus dem körperlichen Leben ethische Forderungen, und möglicherweise setzen alle ethischen Forderungen ein als verletzlich begriffenes körperliches Leben voraus, das nicht unbedingt menschlich sein muss. Das Leben, welches erhaltens- und schützenswert ist, das von Mord (Lévinas) und Genozid (Arendt) verschont bleiben soll, ist schließlich ganz wesentlich verbunden mit und abhängig von nichtmenschlichem Leben  ; dies ergibt sich aus der Idee des menschlichen Tiers, wie sie Derrida formuliert hat, die zu einem anderen Ausgangspunkt des Nachdenkens über Politik wird. Wenn wir verstehen wollen, was es konkret bedeutet, sich zum Erhalt des Lebens des anderen zu verpflichten, werden wir unweigerlich mit den leiblichen Bedingungen des Lebens konfrontiert, und das heißt, dass es uns nicht nur um den körperlichen Fortbestand des anderen, sondern auch um all die Umweltbedingungen gehen muss, die das Leben lebbar machen. 156

Im sogenannten privaten Bereich, den Arendt in Vita activa skizziert, finden wir die Frage der Bedürfnisse, die Reproduktion der materiellen Lebensbedingungen und die Probleme der Vergänglichkeit, der Fortpflanzung wie auch des Todes – all das, was mit dem gefährdeten Leben verbunden ist. Die Möglichkeit, dass ganze Bevölkerungsgruppen durch eine genozidale Politik oder durch systematische Vernachlässigung vernichtet werden, folgt nicht nur aus dem Umstand, dass es Menschen gibt, die glauben, sie könnten entscheiden, mit wem sie die Erde bewohnen, sondern auch daraus, dass ein solches Denken die Verleugnung einer irreduziblen politischen Tatsache voraussetzt  : der Anfälligkeit für die Vernichtung durch andere, die sich aus einem Zustand der Prekarität in allen Formen politischer und sozialer Interdependenz ergibt. Wir können daraus eine umfassende Existenzbehauptung machen und sagen, dass jeder Mensch gefährdet ist  ; dies folgt aus unserer gesellschaftlichen Existenz als leibliche Wesen, die zu ihrem Schutz und ihrer Versorgung aufeinander angewiesen sind und deshalb unter ungerechten und ungleichen politischen Bedingungen von Staatenlosigkeit, Obdachlosigkeit und Armut bedroht sind. Sosehr ich hinter dieser Behauptung stehe, geht es mir auch noch um eine andere, nämlich, dass unser Gefährdetsein in großen Teilen von der Organisation wirtschaftlicher und sozialer Verhältnisse abhängt, dem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein unterstützender Infrastrukturen sowie gesellschaftlicher und politischer Institutionen. Sobald also die existenzielle Behauptung spezifisch ausformuliert wird, ist sie nicht mehr existenziell. Und weil sie spezifisch ausformuliert werden muss, war sie auch nie existenziell. In diesem Sinne ist die Prekarität nicht von jener Dimension der Politik zu trennen, 157

die sich um die Organisation und den Schutz leiblicher Bedürfnisse kümmert. Prekarität bringt unsere Sozialität ans Licht, die fragilen und notwendigen Aspekte unserer wechselseitigen Abhängigkeit. Jede politische Bestrebung, Bevölkerungsgruppen zu organisieren, beinhaltet eine taktische Verteilung von Prekarität, ob diese nun explizit benannt wird oder nicht  ; meistens äußert sie sich in einer Ungleichverteilung, die von den herrschenden Normen darüber abhängt, wessen Leben betrauerbar und schützenswert und wessen Leben unbetrauerbar beziehungsweise nur am Rande oder episodisch betrauerbar und somit in diesem Sinne schon ganz oder teilweise verloren, mithin weniger des Schutzes und der Erhaltung wert ist. Mir geht es nicht um eine Rehabilitierung des Humanismus, sondern vielmehr darum, für ein Verständnis der ethischen Verpflichtung zu kämpfen, das in der Gefährdetheit begründet liegt. Kein Mensch entgeht der prekären Dimension des Soziallebens – sie ist, so könnte man sagen, das Verbindende unserer Nichtgegründetheit. Und wir können Kohabitation nur so verstehen, dass eine verallgemeinerte Prekarität uns dazu verpflichtet, den Genozid abzulehnen und für egalitäre Lebensbedingungen einzutreten. Vielleicht kann dieses Merkmal unseres Lebens als Grundlage für das Recht auf Schutz vor – bewusst oder fahrlässig herbeigeführtem – Völkermord dienen. Unsere wechselseitige Abhängigkeit macht uns zwar zu mehr als denkenden Wesen – sie macht uns sozial und verkörpert, verwundbar und leidenschaftlich –, aber schlussendlich bringt uns unser Denken ohne die Grundannahme der interdependenten und erhaltenden Bedingungen des Lebens nicht weiter. Man könnte meinen, Interdependenz sei eine gute oder vielversprechende Idee, dabei ist sie häufig die Be158

dingung territorialer Kriege und staatlicher Gewalt. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob wir überhaupt imstande sind, die Unkontrollierbarkeit der Abhängigkeit auf der Ebene der Politik zu ermessen – zu welcher Angst, Panik, Ablehnung, Gewalt und Herrschaft sie führen kann. Es ist richtig, dass ich mich mit meinen Ausführungen hier um eine Bejahung der wechselseitigen Abhängigkeit bemühe, jedoch nicht ohne zu betonen, wie schwierig es ist, für soziale und politische Formen zu kämpfen, denen es um die Förderung einer nachhaltigen Interdependenz unter egalitären Bedingungen geht. Wenn wir vom Leiden anderer berührt werden, ist es nicht nur so, dass wir uns in ihre Lage versetzen oder sie unseren Platz usurpieren  ; möglicherweise ist es der Augenblick, in dem eine gewisse chiasmische Verbindung hervortritt und ich irgendwie in Leben verwickelt werde, die eindeutig anders sind als mein eigenes. Und dies geschieht sogar dann, wenn wir die Namen derer, die ihren Appell an uns richten, nicht kennen oder Mühe haben, den Namen richtig auszusprechen oder eine Sprache zu sprechen, die wir nie gelernt haben. Im besten Fall können mediale Darstellungen von entfernten Leiden uns dazu veranlassen, unsere engen kommunitären Bindungen aufzugeben und – manchmal unwillkürlich, manchmal sogar gegen unseren Willen – auf ein erkanntes Unrecht zu reagieren. Solche Darstellungen können uns das Schicksal anderer nahebringen oder sehr weit entfernt erscheinen lassen, aber die Art der ethischen Forderungen, die in diesen Zeiten durch die Medien entstehen, hängt von dieser Umkehrbarkeit von Nähe und Distanz ab. Tatsächlich werden bestimmte Bindungen durch ebendiese Umkehrbarkeit hergestellt, wie unvollständig sie auch sei. Und vielleicht wird es ja möglich, die wechselseitige Abhängig159

keit, die das Zusammenleben charakterisiert, als genau diese Bindungen zu begreifen. Denn wenn ich hier und dort bin, bin ich auch nie vollständig dort, und selbst wenn ich hier bin, bin ich doch immer mehr als vollständig hier. Gibt es einen Weg, diese Umkehrbarkeit als so vom Raum und der Zeit des Leibes begrenzt zu verstehen, dass der andere nicht radikal anders ist und ich nicht radikal hier bin als ein Ich, sondern dass vielmehr die Beziehung, das Verbindende, chiasmisch und immer nur zu einem Teil umkehrbar ist und zu einem anderen Teil nicht  ? Es gibt, wie wir wissen, antagonistische Bindungen, klägliche Beziehungen, wütende und traurige Arten der Verbundenheit. In solchen Fällen ruft das Leben mit anderen in angrenzenden, umkämpften oder kolonisierten Gebieten Aggression und Feindschaft inmitten dieser Kohabitation hervor. Die Art des ungewählten Zusammenlebens der Kolonisierten ist natürlich etwas anderes als die Idee einer demokratischen Pluralität, die auf dem Fundament der Gleichheit beruht. Doch beide kennzeichnet ein Modus der kläglichen Bindung und Nachbarschaft.6 Auch in Situationen antagonistischer oder ungewählter Arten der Kohabitation ergeben sich gewisse ethische Verpflichtungen. Da wir nicht wählen können, mit wem wir die Erde bewohnen, müssen wir diesen Verpflichtungen erstens nachkommen, um die Leben derer zu schützen, die wir möglicherweise nicht lieben, nie lieben werden, nicht kennen und uns nicht ausgesucht haben. Zweitens ergeben sich die Verpflichtungen aus den gesellschaftlichen Bedingungen des politischen Lebens, nicht aus irgendwelchen Vereinbarungen, die wir getroffen haben, oder aus einer bewussten Entscheidung. Und doch sind es genau diese 160

gesellschaftlichen Bedingungen eines lebbaren Lebens, die erst erreicht werden müssen. Wir können uns auf sie nicht als Voraussetzungen verlassen, die unser gutes Zusammenleben garantieren. Im Gegenteil, sie liefern uns die Ideale, die wir anstreben müssen, und dazu gehört auch, dass wir uns mit dem Problem der Gewalt auseinandersetzen müssen. Weil wir verpflichtet sind, diese Bedingungen zu verwirklichen, sind wir auch einander verpflichtet, in leidenschaftlicher und angstvoller Allianz, oft unwillkürlich, aber letztlich für uns selbst, für ein »Wir«, das permanent im Werden begriffen ist. Drittens implizieren diese Bedingungen Gleichheit, wie Arendt uns lehrt, aber auch ein Ausgesetztsein gegenüber der Prekarität (wie sich mit Lévinas folgern lässt), was uns begreifen lässt, dass uns eine globale Verpflichtung auferlegt ist, politische und ökonomische Formen zu finden, welche die Prekarität minimieren und wirtschaftspolitische Gleichheit herstellen. Solche Formen der Kohabitation, die von Gleichheit und minimaler Prekarität geprägt sind, werden zum Ziel jedes Kampfes gegen Unterwerfung und Ausbeutung  ; der Weg zu diesem Ziel beginnt aber schon bei den Praktiken von Allianzen, die sich genau zu diesem Ziel über Entfernungen hinweg bilden. Wir kämpfen in der Prekarität, von ihr ausgehend und gegen sie. Es ist also keine alles durchdringende Menschenliebe oder der reine Wunsch nach Frieden, der uns danach streben lässt, zusammenzuleben. Wir leben zusammen, weil wir keine andere Wahl haben, und auch wenn wir manchmal mit dieser ungewählten Bedingung hadern, bleiben wir doch verpflichtet, uns zu bemühen, den ultimativen Wert dieser ungewählten sozialen Welt zu bejahen  ; diese Bejahung ist nicht gerade eine Wahl und das Bemühen wird genau dann erkennbar und spürbar, wenn wir Freiheit in einer 161

Weise ausüben, die der Gleichwertigkeit von Leben notwendig verpflichtet ist. Wir können für das Leiden anderer tot oder lebendig sein – sie können tot oder lebendig für uns sein. Aber nur wenn wir begreifen, dass das, was dort geschieht, auch hier geschieht, und dass »hier« immer schon und unausweichlich ein Anderswo ist, haben wir eine Chance, die schwierigen und wechselnden globalen Zusammenhänge in einer Weise zu erfassen, die uns die Beförderung und die Beschränkung dessen, was wir noch als Ethik bezeichnen können, erkennen lässt.

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4. Körperliche Verwundbarkeit, koalitionäre Politik Ich möchte zu Beginn dieses Kapitels drei Themen in den Blickpunkt rücken  : körperliche Verwundbarkeit, Koalitionen und Street Politics – allerdings nicht um sie in einer allzu offensichtlichen Weise miteinander zu verknüpfen. Anschließend möchte ich darüber nachdenken, inwieweit sich Vulnerabilität als eine Form des Aktivismus beziehungsweise als das betrachten lässt, was in gewissem Sinne in Formen des Widerstands mobilisiert wird. Wie wir alle wissen, spielt sich Politik nicht immer auf der Straße ab, Vulnerabilität steht bei ihr nicht unbedingt im Vordergrund und Koalitionen können vielerlei Dispositionen zugrunde liegen, zu denen nicht notwendigerweise eine gemeinsam empfundene Verwundbarkeit gehört. Ich würde sogar sagen, dass unsere Skepsis gegenüber der Verwundbarkeit enorm groß ist. Frauen werden schon viel zu lange mit ihr in Verbindung gebracht, und es ist alles andere als klar, wie man aus diesem Begriff eine Ethik, geschweige denn eine Politik ableiten soll. Ich mache also keinen Hehl daraus, dass eine Menge Arbeit vor mir liegt, wenn ich behaupte, dass diese drei Ideen einander durchdringen und für eine Betrachtung der Vulnerabilität fruchtbar gemacht werden können. Das Gefühl, das sich mir im Zusammenhang mit dem Reden in der Öffentlichkeit beziehungsweise dem Schreiben für eine Öffentlichkeit immer mehr aufdrängt, ist nicht, dass dieses Reden oder Schreiben uns einen direkten Weg zum Handeln aufzeigen sollte  ; es bietet vielmehr die Chance, gemeinsam innezuhalten 163

und über die Bedingungen und die Richtung unseres Handelns nachzudenken, und diese Form der Reflexion hat nicht nur einen instrumentellen, sondern einen eigenen Wert. Ob dieses Innehalten nun selbst Teil des Handelns oder des Aktivismus ist, ist eine andere Frage, doch ich neige zu der Antwort  : Ja, das ist es, aber nicht nur, nicht ausschließlich. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um einige Missverständnisse auszuräumen, die bei diesen Themen leicht aufkommen könnten. Angesichts von rassistischen Mobs und gewalttätigen Übergriffen behaupte ich gewiss nicht, dass auf der Straße versammelte Körper in jedem Fall eine gute Sache sind, dass wir Massendemonstrationen per se bejubeln sollten oder dass versammelte Körper ein gewisses Gemeinschaftsideal oder gar eine lobenswerte neue Politik darstellen. Auch wenn auf der Straße versammelte Körper manchmal durchaus einen Grund zur Freude oder gar Hoffnung geben – und wogende Massen manchmal revolutionäre Zuversicht wecken können –, sollten wir nicht vergessen, dass der Ausdruck »Körper auf der Straße« sich ebenso gut auf rechte Demonstrationen beziehen kann, auf Soldaten, die sich versammeln, um Demonstrationen niederzuschlagen oder die Macht zu übernehmen, oder auch auf Lynchmobs und einwanderungsfeindliche populistische Bewegungen, die den öffentlichen Raum einnehmen. Sie sind daher an sich weder gut noch schlecht  ; der Wert der Körper auf der Straße hängt davon ab, wofür sie sich versammeln und wie die Versammlung abläuft. Und dennoch sorgt die Vorstellung von Körpern, die gemeinsam auf die Straße gehen, auf Seiten der Linken für freudige Erregung, als ob man ein Stück Macht zurückgewänne, in sich aufnähme und auf eine irgendwie demokratischere Weise ausübte. Ich verstehe diese Erregung und habe selbst 164

aus ihr heraus geschrieben  ; an dieser Stelle möchte ich mich jedoch mit einigen meiner Zweifel beschäftigen, mit denen ich gewiss nicht allein dastehe. Wir müssen uns gleich zu Anfang die Frage stellen  : Was sind die Voraussetzungen dafür, dass wir in Körpern, die sich auf der Straße versammeln, einen Grund zum Jubeln sehen, oder  : Welche Formen der Versammlung können tatsächlich der Verwirklichung höherer Gerechtigkeits- und Gleichheitsideale, ja der Verwirklichung von Demokratie dienen  ?1 Zumindest lässt sich sagen, dass Demonstrationen, die Gleichheit und Gerechtigkeit anstreben, zu begrüßen sind. Doch wir sind natürlich gefordert, unsere Begriffe zu definieren, denn es gibt bekanntlich gegensätzliche Ansichten über Gerechtigkeit und gleichermaßen viele verschiedene Arten der Betrachtung und Bewertung von Gleichheit. Es stellt sich sogleich ein weiteres Problem  : In bestimmten Teilen der Welt zeigen sich politische Bündnisse nicht als Versammlungen auf der Straße oder können es nicht, wofür es gewichtige Gründe gibt. Denken wir nur an Zustände der intensiven polizeilichen Überwachung oder der militärischen Besatzung, die Menschen von den Straßen und Märkten fernhalten. Unter diesen Umständen können keine Massen auf die Straßen strömen, ohne Gefahr zu laufen, eingesperrt, verletzt oder getötet zu werden  ; deshalb bilden sich Allianzen hier manchmal auf andere Weisen mit dem Ziel, bei der Forderung nach Gerechtigkeit die Exponiertheit des Körpers zu minimieren. Auch Hungerstreiks in Gefängnissen, wie sie etwa im Frühjahr 2012 in Palästina stattfanden und sporadisch weitergeführt werden, stellen Widerstandsformen dar, die zwangsweise auf begrenzte Orte beschränkt bleiben, an denen in paralleler Weise isolierte Körper For165

derungen stellen nach Freiheit, ordentlichen Verfahren und dem Recht, sich in der Öffentlichkeit zu bewegen und von öffentlichen Freiheiten Gebrauch zu machen. Vergessen wir also nicht, dass das körperliche Ausgesetztsein verschiedene Formen annehmen kann  : Wenn Versammlungen ihre Körper ganz bewusst der Polizeimacht auf der Straße oder im öffentlichen Raum aussetzen, ist die körperliche Exponiertheit erhöht. Gleiches geschieht täglich unter Bedingungen der Besatzung, wenn der Gang auf die Straße oder der Versuch, einen Kontrollpunkt zu passieren, den Körper der Gefahr von Belästigung, Verletzung, Festnahme oder Tod aussetzt  ; wieder andere Formen des körperlichen Ausgesetztseins finden sich in Gefängnissen, Internierungs- und Flüchtlingslagern, wo Militär und Polizei die Macht haben, zu überwachen, Handlungen zu unterbinden, Gewalt anzuwenden, zu isolieren und zu bestimmen, wie, wann und unter welchen Bedingungen jemand isst oder schläft. Man kann also offenkundig nicht behaupten, das Exponieren des Körpers sei in jedem Fall ein politisches Gut oder sogar die erfolgreichste Strategie einer emanzipatorischen Bewegung. Manchmal geht es im politischen Kampf gerade um die Überwindung von Verhältnissen der körperlichen Exponiertheit. Und manchmal ist es genau Teil der Bedeutung politischen Widerstands, den Körper potenziellen Angriffen auszusetzen. Wir müssen natürlich auch bedenken, dass einige Formen der politischen Versammlung nicht auf Straßen und Plätzen stattfinden, weil diese einfach nicht existieren oder nicht das politische Zentrum der betreffenden politischen Aktion bilden. Es kann sich beispielsweise ganz plötzlich eine Bewegung zur Schaffung einer angemessenen Infrastruktur bilden – wir können hier 166

etwa an die nach wie vor bestehenden informellen Siedlungen und Townships in Südafrika, Kenia und Pakistan denken, an die provisorischen Unterkünfte an den Grenzen Europas oder auch an die barrios in Venezuela und die barracas in Portugal. Solche Orte werden von Gruppen bevölkert – darunter auch Immigrant / ​innen, illegale Siedler / ​innen und Roma –, die lediglich für fließendes und sauberes Wasser, funktionierende Toiletten, manchmal auch nur ein Schloss an öffentlichen Toiletten, gepflasterte Straßen, bezahlte Arbeit und notwendige Vorsorgemaßnahmen kämpfen. Die Straße als öffentlicher Schauplatz oder öffentliche Stätte für bestimmte Arten öffentlicher Versammlungen ist also keine Selbstverständlichkeit  ; als öffentlicher Raum und Verkehrsweg ist sie auch ein Gemeingut, um das gekämpft wird – eine infrastrukturelle Notwendigkeit, die zu einer der Forderungen bestimmter Volksbewegungen werden kann. Die Straße ist nicht nur die Basis oder Plattform politischer Forderungen, sondern auch ein infrastrukturelles Gut. Wenn sich daher Menschen an öffentlichen Orten versammeln, um gegen die Abschaffung infrastruktureller Güter zu protestieren, etwa gegen Sparmaßnahmen, die das Bildungswesen, Bibliotheken, den öffentlichen Nahverkehr oder Straßen treffen, dann kämpfen sie manchmal für die Plattform der Versammlung selbst. Wir können, mit anderen Worten, noch nicht einmal für infrastrukturelle Güter kämpfen, wenn wir nicht in der Lage sind, sie auch in einem gewissen Maß vorauszusetzen  ; wenn also die infrastrukturellen Voraussetzungen für Politik eingeschränkt werden, so schwächt das auch die Versammlungen, die von ihnen abhängen. Die Bedingung des Politischen ist in solchen Fällen eines der Güter, um die es der politischen Versammlung geht – darin liegt mög167

licherweise die Doppelbedeutung der Infrastruktur unter Bedingungen des fortschreitenden Abbaus öffentlicher Güter durch Privatisierung.2 Die Forderung nach Infrastruktur ist eine Forderung nach einer gewissen Art von bewohnbarem Raum, und ihre Bedeutung und Kraft ergeben sich exakt aus dessen Fehlen. Die Forderung richtet sich daher nicht auf alle Formen der Infrastruktur, da einige von ihnen eine Schwächung des lebbaren Lebens bedeuten (zum Beispiel militärische Formen des Arrests, der Inhaftierung, Besatzung und Überwachung), während andere seiner Stärkung dienen. In manchen Fällen kann man nicht selbstverständlich von der Straße als Erscheinungsraum ausgehen, der für Arendt der Raum der Politik ist, weil, wie wir wissen, ein Kampf stattfindet, um diesen Raum überhaupt zu etablieren oder ihn wieder der polizeilichen Kontrolle zu entreißen.3 Die Möglichkeit dazu hängt freilich von der performativen Wirksamkeit der Schaffung eines politischen Raumes aus den vorhandenen infrastrukturellen Bedingungen ab. Arendt hat zumindest teilweise Recht, wenn sie schreibt, der Erscheinungsraum entstehe im Augenblick der politischen Aktion. Das ist gewiss ein romantischer Gedanke, der sich in der Praxis nicht immer so leicht umsetzen lässt. Sie geht davon aus, dass die materiellen Bedingungen der Versammlung vom jeweiligen Erscheinungsraum zu trennen sind, die eigentliche Aufgabe besteht aber darin, die Infrastruktur zum Teil der neuen Aktion, ja sogar zu einem Gemeinschaftsakteur werden zu lassen. Wenn eine Politik jedoch auf die Schaffung und Bewahrung lebbarer Bedingungen ausgerichtet ist, dann scheint es, dass sich der Erscheinungsraum nie ganz von Fragen der Infrastruktur und Architektur trennen lässt und dass diese die Aktion nicht nur bedingen, sondern 168

auch an der Schaffung des politischen Raumes beteiligt sind. Die Straße ist natürlich nicht die einzige infrastrukturelle Basis der politischen Rede und des politischen Handelns. Sie ist auch ein wichtiger Aspekt und Gegenstand der politischen Mobilisierung. In gewisser Weise ist uns der Gedanke schon vertraut, dass Freiheit nur ausgeübt werden kann, wenn sie eine Grundlage hat, etwa in Form materieller Bedingungen, die den Freiheitsgebrauch erst möglich und wirkungsvoll machen. So unterstellen wir, dass der Körper, der Sprache verwendet oder sich im Raum und über Grenzen hinweg bewegt, zum Sprechen und zur Bewegung in der Lage ist. Ein Körper, der sowohl unterstützt wird als auch handlungsfähig ist, ist die notwendige Voraussetzung für andere Arten der Mobilisierung. Schon der Begriff »Mobilisierung« setzt eine operative Beweglichkeit voraus, die ihrerseits ein Recht ist, das für viele Menschen nicht selbstverständlich ist. Damit ein Körper sich bewegen kann, braucht er in der Regel einen Untergrund (außer er schwimmt oder fliegt) und muss über die zur Bewegung notwendigen technischen Hilfsmittel verfügen. Pflaster und Straße sind also von vornherein als Voraussetzungen dafür anzusehen, dass der Körper von seinem Recht auf Mobilität Gebrauch machen kann. Sie werden selbst Teil der Handlung und sind nicht nur deren Grundlage. Es ließe sich eine ganze Reihe von politischen Bewegungen auflisten, in denen die Idee eines unterstützten und handlungsfähigen, mit der bewegungsermöglichenden Infrastruktur verbundenen Körpers implizit oder explizit wirksam ist  : Kämpfe um Nahrung und Obdach, um Schutz vor Verletzung und Zerstörung, um das Recht auf Arbeit oder eine bezahlbare Gesund169

heitsfürsorge. Wir fragen also zum einen, welche Vorstellung des Körpers in bestimmten politischen Forderungen und Mobilisierungen implizit wirksam ist  ; gleichzeitig versuchen wir auf einer anderen Ebene herauszufinden, inwiefern die Mobilisierungen jene Voraussetzungen und Grundlagen, die untrennbar mit dem, was wir den menschlichen Körper nennen, verbunden sind, zum Gegenstand ihres politischen Interesses machen. Meiner Auffassung nach wird unter Bedingungen der zunehmenden Schwächung von Infrastrukturen die Plattform der Politik selbst zum Zentrum der politischen Mobilisierung. Das bedeutet, dass Forderungen im Namen des Körpers (nach Schutz, Obdach, Ernährung, Mobilität, Meinungsfreiheit) manchmal mit dem und durch den Körper und dessen technische und infrastrukturelle Dimensionen geäußert werden müssen. Wenn dies geschieht, scheint der Körper Mittel und Zweck der Politik zu sein.4 Mir ist jedoch wichtig zu unterstreichen, dass der Körper nicht isoliert von all jenen Bedingungen, Technologien und Lebensprozessen ist, die ihn erst ermöglichen. Man könnte nun den Eindruck gewinnen, dass ich Zuflucht bei einer bestimmten Vorstellung des menschlichen Körpers und vielleicht dessen essenziellen Bedürfnissen suche. Das ist jedoch nicht ganz der Fall. Ein solcher unveränderlicher Körper mitsamt seinen permanenten Bedürfnissen würde dann zum Maßstab, an dem sich beurteilen ließe, ob bestimmte Formen der wirtschaftlichen und politischen Organisation dem Menschen förderlich oder hinderlich sind. Wenn der Körper als Grund oder Maßstab gedacht wird, wird er üblicherweise als einzelner Körper aufgefasst (das »Wir« ist dann jene Gruppe von Menschen, die sich vorübergehend auf diese Auffassung einigt) oder sogar 170

als idealer oder idealtypischer Körper  ; meiner Ansicht nach muss er jedoch im Sinne der ihn stützenden Beziehungsgeflechte verstanden werden. Individualistisch betrachtet kann man sagen, dass jeder einzelne Körper ein gewisses Recht auf Nahrung und Schutz hat. Mit einer solchen Aussage verallgemeinert man zwar (»jeder« Körper hat dieses Recht), gleichzeitig partikularisiert man aber auch, indem man den Körper als von anderen getrennt und individuell begreift  ; damit ist dann dieser einzelne Körper selbst eine Norm für das, was der Körper ist und wie er gedacht werden soll. Das scheint auf den ersten Blick ganz richtig zu sein  ; wir sollten aber bedenken, dass die Vorstellung dieses individuellen körperlichen Rechtssubjekts möglicherweise nicht dazu geeignet ist, jenen Sinn der Verwundbarkeit, des Ausgesetztseins, ja der Abhängigkeit zu erfassen, den das Recht selbst impliziert und der meiner Ansicht nach einer anderen Sichtweise auf den Körper entspricht. Mit anderen Worten  : Wenn wir akzeptieren, dass zu dem, was ein Körper ist (und dies ist zunächst einmal eine ontologische Behauptung), seine Abhängigkeit von anderen Körpern und Unterstützungsnetzen gehört, dann sagen wir damit zugleich, dass die Vorstellung einzelner Körper, die vollständig von anderen getrennt existieren, nicht ganz richtig sein kann. Natürlich verschmelzen sie auch nicht zu einem amorphen Gesellschaftkörper, aber wenn wir nicht bereit sind, in unsere Konzeption der politischen Bedeutung des menschlichen Körpers auch die Beziehungen mit aufzunehmen, in denen er lebt und gedeiht, bringen wir uns damit um die bestmöglichen Argumente für die verschiedenen politischen Ziele, die wir anstreben. Meines Erachtens ist es nicht nur so, dass dieser oder jener Körper in ein Beziehungsgeflecht eingebunden ist  ; viel171

mehr ist der Körper trotz oder vielleicht gerade wegen seiner klaren Grenzen durch die Beziehungen definiert, die sein Leben und Handeln erst möglich machen. Ich hoffe zeigen zu können, dass wir die Verwundbarkeit des Körpers ohne diese Vorstellung seiner konstitutiven Beziehungen zu anderen Menschen, Lebensprozessen und anorganischen Bedingungen und Hilfsmitteln des Lebens gar nicht begreifen können. Bevor ich auf dieses Verständnis der Relationalität genauer eingehe, möchte ich den Gedanken äußern, dass auch die Vulnerabilität nicht bloß eine Spur oder episodische Disposition eines eigenständigen Körpers ist, sondern vielmehr ein Modus der Relationalität, der einzelne Aspekte dieser Eigenständigkeit immer wieder in Frage stellt. Dies wird wichtig, wenn wir über politische Versammlungen oder Koalitionen, ja sogar über Widerstand nachdenken. Körper kommen nicht als selbstbewegende Akteure auf die Welt  ; ihre Bewegungskontrolle entwickelt sich erst im Lauf der Zeit  ; der Körper wird zuallererst unter Bedingungen der Abhängigkeit in das Sozialleben eingeführt, als abhängiges Wesen, das heißt, schon seine allerersten Laute und Bewegungen sind Reaktionen auf eine sich verändernde Menge von Überlebensbedingungen. Zu diesen Bedingungen gehören Menschen, aber nicht unbedingt eine andere verkörperte Person, die im Übrigen auch nur insoweit Nahrung und Schutz bieten kann, als sie ihrerseits unterstützt wird. Betreuer / ​innen bieten daher nicht nur Unterstützung für andere, sondern sind auch selbst auf unterstützende Bedingungen angewiesen (dazu gehören erträgliche Arbeitsbedingungen, Erholung, Vergütung, eine Wohnung und medizinische Versorgung). Die Bedingungen der Unterstützung in diesen ungeschütztesten Lebensmomenten sind ihrerseits 172

schutzbedürftig  ; sie sind zum Teil infrastruktureller, zum Teil menschlicher und zum Teil technischer Natur. Dass dies bei Kindern der Fall ist, würden die meisten wohl sofort zugestehen, wären aber skeptisch, was Erwachsene angeht  ; ich halte dagegen, dass niemand, egal welchen Alters, dieser besonderen Bedingung der Abhängigkeit und Anfälligkeit jemals entwächst. Dafür spricht meines Erachtens auch die Feststellung, dass die elementare Fürsorge mit umfassenderen sozialen und politischen Arbeits- und Anspruchsformen verknüpft ist. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob es hier nur um menschliche Körper geht und ob wir schlicht eine Denktradition fortsetzen, in der die Psychoanalyse mit dem Marxismus verknüpft wird. Ich würde sagen, ja, das stimmt, aber nicht ganz, und die Gründe dafür wurden womöglich schon von Donna Haraway ausführlich genannt. Wenn man gar nicht wirklich von Körpern sprechen kann, ohne auch deren Umwelt, die Maschinen und komplexen Systeme gesellschaftlicher Abhängigkeit zu berücksichtigen, auf die sie angewiesen sind, dann sind all diese nichtmenschlichen Dimensionen des körperlichen Lebens folglich konstitutiv für das menschliche Überleben und Gedeihen. Trotz der jahrhundertelangen Behauptungen über den Homo erectus steht der Mensch nicht allein.5 Es gibt ganz offenkundig Beispiele von Menschen jeden Alters, die auf Maschinen angewiesen sind, und auch die meisten von uns haben irgendwann Maschinen oder Technologien nötig. Ähnliches ließe sich über das nichtkontingente Verhältnis von Mensch und Tier sagen. Menschliche Körper unterscheiden sich nicht grundsätzlich von tierischen, auch wenn man ohne weiteres einige Unterschiede einräumen kann. Es genügt allerdings nicht zu sagen, dass die körperliche Seite des 173

Menschen als seine tierische Dimension zu betrachten sei, wozu eine bedauerlich lange philosophische Tradition leider neigt. Die menschliche Kreatur steht schließlich immer schon in Beziehung zum Tier, und zwar nicht in dem Sinn, dass dieses das »Andere« des Menschen ist, sondern weil der Mensch ein Tier ist, wenn er auch den anderen Tieren nicht genau gleicht (wobei natürlich keine Tierart den anderen genau gleicht und die Kategorie des Tieres diese interne Variation per definitionem vorsieht). Darüber hinaus gibt es eine große Menge von Lebensprozessen, die Menschliches und Tierisches durchkreuzen und sich herzlich wenig um die Unterscheidung zwischen den beiden scheren. Haraway erklärt unter anderem, dass die Formen der Abhängigkeit zwischen Mensch und Tier nahelegen, dass sie sich teilweise gegenseitig konstituieren. Wenn wir diese Abhängigkeit als zentral betrachten, wird der Unterschied zwischen Mensch und Tier zweitrangig (beide sind abhängig, beide sind aufeinander angewiesen, um die Wesen sein zu können, die sie sind). So gesehen ergeben sich die ontologischen Unterscheidungen zwischen ihnen aus ihren Beziehungen zueinander. Die analytischen Unterscheidungen, die wir gewöhnlich zwischen Maschine, Mensch und Tier treffen, beruhen somit sämtlich auf einer gewissen Verschleierung wechselseitiger Beziehungen.6 Ich begann mit der Feststellung, dass wir das Verhältnis zwischen Körpern, Koalitionen und Street Politics neu überdenken könnten und habe die Meinung vertreten, dass einige der nichtmenschlichen und infrastrukturellen Bedingungen menschlichen Handelns zu Zielen der politischen Mobilisierung werden, was insbesondere dann der Fall zu sein scheint, wenn infrastrukturelle Güter umfassend und schnell abgebaut 174

werden. Weiter habe ich darauf hingewiesen, dass Körper auf mindestens zwei Arten in diese Kämpfe verwickelt sind, nämlich sowohl als Basis wie auch als Ziel der Politik. Zudem habe ich empfohlen, das Verhältnis zwischen dem menschlichen Körper und der Infrastruktur zu überdenken, um so die Eigenständigkeit und Selbstgenügsamkeit des als singulär imaginierten menschlichen Körpers zu hinterfragen, aber auch vorgeschlagen, diesen gewissermaßen in seiner Abhängigkeit von der Infrastruktur zu denken, wobei unter Infrastruktur das komplexe Geflecht aus Umwelt, Sozialbeziehungen, Unterstützungs- und Versorgungsnetzwerken zu verstehen ist, das sich über die Grenzen des Menschlichen, des Tierischen und des Technischen hinweg erstreckt. Selbst wenn es uns gelingt, die Bedürfnisse des Körpers zu verstehen und aufzuzählen, in deren Namen Menschen in den politischen Kampf eintreten, bleibt letztlich die Frage, ob wir das Ziel dieses Kampfes für erreicht halten, wenn jene Bedürfnisse erfüllt sind. Oder kämpfen wir auch dafür, dass Körper gedeihen und dass Leben lebbar werden  ? Ich reihe hier Wort an Wort auf der Suche nach einem Begriffszusammenhang, um mich an ein Problem heranzutasten, das sich einer technischen Terminologie widersetzt  ; kein einzelnes Wort ist in der Lage, die Art und das Ziel dieses menschlichen Strebens zu benennen, dieses gemeinsamen oder gemeinschaftlichen Strebens, in dem eine der Bedeutungen der politischen Bewegung oder Mobilisierung zu liegen scheint. Es scheint mir wichtig, all dies im Blick zu behalten, weil es zwei Argumentationsstränge gibt, die sich manchmal nur schwer in Beziehung zueinander denken lassen. Ein Argument lautet, dass Körper bekommen sollten, was sie zum Überleben brauchen, weil das 175

Überleben die Grundvoraussetzung dafür ist, höhere politische Ziele des Lebens verwirklichen zu können, die sich vom Überleben selbst deutlich unterscheiden (dies war zeitweilig die Auffassung Hannah Arendts). Das andere besagt, dass es kein politisches Ziel gibt, welches sich von der gerechten und fairen Reproduktion der Bedingungen des Lebens selbst trennen ließe, wozu auch der Gebrauch der Freiheit gehört. Können wir also sagen, dass wir überleben, um zu leben, und damit Überleben und Leben voneinander trennen  ? Oder ist es eher so, dass das Überleben immer mehr sein muss als bloßes Überleben, um lebenswert zu sein  ?7 Es gibt schließlich Menschen, die gewisse traumatische Ereignisse überleben, doch das bedeutet nicht, dass sie auch im vollen Sinne leben. Und auch wenn ich nicht weiß, wie zwischen Leben im vollen Sinne und anderem Leben zu unterscheiden ist, gehe ich davon aus, dass diese Unterscheidung wichtig ist. Können wir den Schluss ziehen, dass die Forderung nach Überleben mit der nach einem lebbaren Leben verknüpft ist  ? Wenn man uns fragt, was die Bedingungen eines lebbaren Lebens ausmacht, müssen wir die Frage beantworten können, ohne ein einzelnes oder einheitliches Ideal dieses Lebens zu postulieren. In meinen Augen geht es nicht darum herauszufinden, was »der Mensch« wirklich ist oder gar, wie ein »menschliches Leben« auszusehen hätte. Ja, es scheint mir, dass die kreatürliche Dimension des menschlichen Daseins uns hier unsere Grenzen aufzeigt. Die Behauptung, dass auch Menschen Tiere sind, bedeutet schließlich nicht, dass man ihre Bestialisierung im Sinne einer Erniedrigung oder Abwertung gutheißt, sondern dass man neu über die organischen und anorganischen Wechselbeziehungen nachdenkt, innerhalb deren etwas erkennbar Menschliches erst ent176

steht  ; das Tier namens Mensch lässt uns, mit anderen Worten, die Bedingungen der Lebbarkeit überhaupt überdenken. Wir brauchen keine idealeren Formen des Menschlichen, die immer auch niedrigere Formen desselben implizieren oder Lebensformen aus dem Blickfeld verschwinden lassen, die sich nicht in diese Norm übersetzen lassen und damit eher weniger lebbar als lebbarer gemacht werden. Aber aus ebendiesen Gründen und gerade weil »das Menschliche« nach wie vor politisch so aufgeladen ist, müssen wir neu über dessen niedrigeren Rang innerhalb einer Menge von Relationen nachdenken, um dann nach den Bedingungen der ungleichen Anerkennung des »Menschen« fragen zu können.8 Wenn ich sage, dass »wir« diese Kategorie durchdenken müssen, bemühe ich möglicherweise eine selbstgefällige humanistische Redeweise, um zu zeigen, dass die Kategorie uns noch immer im Griff hat, auch wenn wir uns diesem zu entwinden versuchen. Ich habe am Anfang gestanden, dass ich seit meiner Jugend eine gewisse freudige Erregung verspüre, wenn sich Körper auf der Straße zusammenfinden, und doch bin ich äußerst skeptisch gegenüber politischen Auffassungen, die beispielsweise besagen, Demokratie müsse als das Ereignis der wogenden Menge verstanden werden. Ich bin nicht dieser Ansicht. Ich glaube, dass wir danach fragen sollten, was solche Gruppen zusammenhält, welche Forderungen oder welchen gefühlten Sinn von Ungerechtigkeit und Unlebbarkeit sie teilen, welche Anzeichen der Möglichkeit des Wandels ihr Gemeinschaftsgefühl stärken. Damit dies alles demokratisch genannt werden kann, muss es eine Opposition gegen bestehende und zunehmende Ungleichheiten, gegen die ständig wachsende Prekarität zahlreicher Bevölkerungsgruppen auf lokaler und globaler Ebene 177

sowie gegen autoritäre und sekuristische Kontrollformen geben, die versuchen, demokratische Prozesse und Bewegungen zu unterdrücken. Wir stellen uns zwar manchmal vor, dass politisches Abwägen und Handeln in und durch Versammlungen stattfindet, es gibt aber auch andere Möglichkeiten, sich zu beraten und zu handeln, die keine Zusammenkunft am selben Ort erfordern. Körper versammeln sich auf der Straße oder online oder mittels anderer, weniger sichtbarer Solidaritätsnetzwerke  ; Letzteres gilt besonders für Gefangene, die für ihre politischen Forderungen Solidaritätsformen nutzen, die nicht unbedingt direkt an einem öffentlichen Ort erscheinen müssen, und deren Solidarität, wenn sie entsteht, auf dem gemeinsamen und gewaltsamen Ausschluss vom öffentlichen Raum und einer Zwangsisolierung in von Polizei oder Sicherheitspersonal überwachten Zellen beruht. Dies wirft die Frage auf, welche Form die Versammlungsfreiheit annimmt, wenn sie als Recht ausdrücklich verweigert wird. Wenn man sagt, dass es im Gefängnis keine oder nur eingeschränkte Versammlungsfreiheit gibt, erkennt man damit an, dass die Gefangenen dieser Freiheit gewaltsam beraubt wurden  ; man kann dann über Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit des Entzugs eines so grundlegenden Bürgerrechts diskutieren. Dem schließe ich mich voll und ganz an. Gleichzeitig möchte ich jedoch darauf hinweisen, dass es im Gefängnis immer wieder heimliche und manchmal recht effektive Wege gibt, von der Versammlungsfreiheit Gebrauch zu machen, und dass wir diese Widerstandsform nicht richtig begreifen können, ohne diesen Punkt zu berücksichtigen. Die Solidaritäts- und Aktionsformen, die in Gefängnissen entstehen, einschließlich Hungerstreiks, bilden ebenfalls eine Form der Versammlungsfreiheit oder der in einer 178

solchen Freiheit implizierten Solidarität, und auch dies muss als aktive Widerstandsform anerkannt werden. Schon hier wird deutlich, dass Straßen und Plätze nicht die einzigen Plattformen des politischen Widerstands sind und es auch dort, wo die Freiheit, Plätze zu besetzen oder auf die Straße zu gehen, nicht existiert, sehr wohl Orte des Widerstands gibt. Können die vier Wände einer Gefängniszelle möglicherweise eine ähnliche Funktion erfüllen wie die Panzer, die – wie 2011 in Kairo geschehen – zu Plattformen werden, von der aus Menschen ihre Ablehnung des Militärs öffentlich zum Ausdruck bringen  ? Der eingesperrte Körper kann sich zwar nicht frei bewegen, aber er kann seine Eingeschränktheit dennoch nutzen, um Widerstand auszuüben. Der öffentliche Platz ist in diesen Fällen keine Stütze für solche Aktionen (obwohl Menschen, die sich dort versammeln, um die Gefangenen zu unterstützen, sicher eine Hilfe sind und diese räumliche Stütze und ihre symbolische Kraft nutzen können)  ; Unterstützung bekommt hier jedoch, drinnen wie draußen, noch einen anderen Sinn  : in Formen der Solidarität, in den verschiedenen Arten der Nahrungs- und Arbeitsverweigerung, im Ersinnen von Kommunikationsmöglichkeiten, in der Weigerung, als Gefangene / ​r reibungslos zu funktionieren und in Maßnahmen, um die Reproduktion der Institution Gefängnis zu stören. Haftanstalten sind auf die erfolgreiche Regulierung menschlicher Handlungen und Bewegungen angewiesen, auf die Reproduktion des Körpers des beziehungsweise der Gefangenen, und wenn diese regulative Macht versagt, wie etwa bei einem Hungerstreik, verliert das Gefängnis seine Funktionsfähigkeit. Dieses Funktionsversagen ist darüber hinaus auch mit der Gefährdung oder Tötung der Gefangenen selbst verknüpft. Man erinnert 179

sich vielleicht, dass der Bestrafungsapparat in Kafkas Erzählung In der Strafkolonie den Offizier genau in dem Moment zerstört, in dem er außer Kontrolle gerät. Auch der Hungerstreik führt möglicherweise zu einem solchen Kontrollverlust, was er aber eigentlich entlarven will, ist die Tötungsmaschine, die das Gefängnis immer schon gewesen ist, auch wo es effizient funktioniert. Wenn nämlich die effektive Reproduktion der Gefangenen Hand in Hand mit der Verschlechterung ihrer Lebbarkeitsbedingungen geht, vollzieht sich die Bewegung zum Tode bereits vor jedem Hungerstreik. Dieser führt nur das Todbringende vor Augen, das dem Gefängnis immer schon innewohnt. In diesem Sinne ist der Hungerstreik eine körperliche Inszenierung, die ihren eigenen Performativitätsregeln folgt  ; der Hungerstreik vollführt, was er zeigen und wogegen er Widerstand leisten will. Jede dieser Situationen muss natürlich im jeweiligen Kontext betrachtet werden. Den jüngsten Versamm­ lungen auf Straßen und öffentlichen Plätzen, ob durch die Occupy-Bewegungen oder die Indignados in Spanien, ging es sowohl um die kurzfristige Unterstützung der Teilnehmer vor Ort als auch um die umfassendere Forderung nach dauerhafter Hilfe vor dem Hintergrund, dass immer mehr Menschen arbeitslos werden, Lohneinbußen hinnehmen müssen, ihre Wohnung verlieren oder von Kürzungen der Sozialleistungen betroffen sind. Die Versammlung ist mithin kein exaktes Spiegelbild der breiteren Struktur der ökonomischen Welt. Jedoch werden bei diesen kleineren Versammlungen bestimmte Grundsätze erarbeitet, die geeignet sind, Ideale von Gleichheit und Interdependenz hervorzubringen – oder zu erneuern –, die sich durchaus auch auf größere nationale und globale Zusammenhän180

ge übertragen lassen. Was die Versammlung tut und was sie sagt, hängt zusammen, auch wenn es nicht immer dasselbe ist  ; die politische Forderung wird zugleich inszeniert und gestellt, exemplifiziert und kommuniziert. Das heißt, dass den erhobenen Forderungen in jedem Fall eine performative Dimension innewohnt, wobei die Performativität als chiasmische Beziehung zwischen Körper und Sprache fungiert. Wir gehen also nicht ausschließlich oder vorrangig als Träger / ​innen abstrakter Rechte auf die Straße. Wir gehen auf die Straße, weil wir uns dort bewegen müssen  ; wir brauchen befestigte Straßen, damit wir uns zum Beispiel auch im Rollstuhl auf ihnen bewegen und diesen Raum durchqueren können, ohne behindert, belästigt oder verhaftet zu werden und ohne befürchten zu müssen, verletzt oder gar getötet zu werden. Wenn wir auf der Straße sind, dann weil wir Körper sind, die auf öffentliche Unterstützung angewiesen sind, um stehen und uns bewegen zu können und um ein Leben von Belang führen zu können. (Ich gehe davon aus, dass diese weit gefasste Behauptung aus den Disability Studies – dass alle Körper Unterstützung brauchen, um sich bewegen zu können – auch Auswirkungen darauf hat, wie wir uns vorzustellen haben, was öffentlichen Mobilisierungen hilft, insbesondere solchen, die auf die öffentliche Förderung der Infrastruktur hinwirken.) Diese Vulnerabilität zeigt sich, ob wir uns nun aktuell besonders verwundbar fühlen oder nicht. Mobilität ist an sich ein Recht des Körpers, sie ist aber auch Voraussetzung für die Ausübung anderer Rechte, wie des Versammlungsrechts. Viele Mobilisierungen kreisen um das Recht, sich frei zu bewegen, zum Beispiel die wichtigen Slutwalks, die mittlerweile an vielen Orten auf der ganzen Welt stattfinden und eine Möglichkeit bieten, einer bestimmten 181

Etikettierung und der Ablehnung gegen sie Ausdruck zu verleihen und die Straße als Ort zu beanspruchen, der frei von Belästigung und Vergewaltigung sein sollte. Es kann ein gefährlicher Akt sein, einfach nur spazieren zu gehen – zum Beispiel nachts allein als Frau oder als Transgender – oder sich zu versammeln, obwohl Polizeigewalt droht. Menschen mobilisieren sich für das Recht von Frauen, in religiöser Tracht auf die Straße zu gehen  ; für das Recht von Transfrauen, zur Arbeit zu gehen oder mit anderen Transfrauen in einem Akt der Solidarität oder im Kampf für größere gesellschaftliche Belange zu demonstrieren  ; für das Recht, als Schwarze / ​r nachts auf der Straße zu sein, ohne dass jemand annimmt, man sei kriminell  ; für das Recht von Behinderten auf barrierefreie Wege und Hilfsmittel  ; für das Recht von Palästinenser / ​innen, jede Straße in Hebron zu betreten, wo Bedingungen der Apartheid herrschen. Diese Rechte sollten selbstverständlich und nicht der Rede wert sein, und manchmal sind sie das auch. Für bestimmte Regime stellt jedoch die Ausübung einer so kleinen Freiheit wie der Gang auf die Straße eine Herausforderung dar, sie bedeutet eine geringfügige performative Störung, ausgelöst durch eine Bewegung – im körperlichen wie im politischen Sinne des Wortes. Solche Aktionen brauchen und verdienen Solidarität, sie bedürfen aber auch der Unterstützung durch infrastrukturelle Bedingungen und Gesetze und dürfen nicht durch Gewalt- oder Zwangsmaßnahmen vereitelt werden. Die angesprochenen Kämpfe gehen davon aus, dass Körper Einschränkungen unterliegen beziehungsweise Gefahr laufen, eingeschränkt zu werden, dass sie ohne Arbeit und ohne Mobilität sein und dass sie Gewalt oder Zwang erleiden können. Will ich damit sagen, dass Körper nicht aktiv, sondern verwundbar sind  ? 182

Oder dass auch verwundbare Körper agieren können  ? Tatsächlich lautet meine These, dass es ebenso falsch wäre, den Körper als primär oder definitorisch aktiv zu denken wie als primär oder definitorisch verwundbar und inaktiv. Wenn wir eine Definition des Körpers brauchen, wird diese vielmehr davon abhängen, dass wir Verwundbarkeit und Handlungsfähigkeit zusammen denken. Insbesondere bin ich mir im Klaren darüber, wie kontraproduktiv es sein kann, die Körper von Frauen als besonders verwundbar zu betrachten. Wir geraten sofort auf unsicheres Terrain, wenn wir an die lange und beklagenswerte Geschichte einer Geschlechterpolitik denken, die Frauen und Männern die Kategorien passiv und aktiv zugeordnet hat. Wenn wir dennoch sagen, dass die Verwundbarkeit ungleich verteilt ist, soll das lediglich heißen, dass gewisse Gruppen unter bestimmten Machtregimes leichter zur Zielscheibe werden, eher unter Armut leiden oder in stärkerem Maße Polizeigewalt ausgesetzt sind als andere. Wir machen eine soziologische Beobachtung, die der weiteren Absicherung bedarf. Aus dieser soziologischen Aussage kann freilich auch leicht eine neue Beschreibungsnorm werden, nach der Frauen anhand ihrer Verwundbarkeit definiert werden. In diesem Fall würde das Problem, das mit der Beschreibung angegangen werden soll, durch diese gerade reproduziert und ratifiziert. Dies ist einer der Gründe, warum wir genau darauf achten sollten, was die Mobilisierung und besonders die konzertierte Mobilisierung von Verwundbarkeit eigentlich bedeutet. Für viele Menschen ist der Moment, in dem sie aktiv auf der Straße in Erscheinung treten, mit dem bewussten Risiko des Ausgesetztseins verbunden. Das Wort »Ausgesetztsein« kann uns hier vielleicht helfen, bei der Betrachtung der Vulnerabilität 183

nicht in die Falle der Ontologie und der Letztbegründungstheorie zu tappen. Ausgesetzt sind besonders diejenigen, die ohne Genehmigung auf der Straße erscheinen, die der Polizei, dem Militär oder anderen Sicherheitskräften unbewaffnet entgegentreten. Obgleich schutzlos, ist man hier freilich nicht auf das »nackte Leben« zurückgeworfen. Keine souveräne Macht stößt hier das Subjekt aus dem politischen Feld als solchem, im Gegenteil  : Wenn Körper auf den Straßen, in Zellen oder an den Rändern von Städten und Ländern Übergriffen ausgesetzt sind, haben wir es mit einem facettenreicheren und diffuseren Einsatz von Macht und Gewalt zu tun – einer spezifisch politischen Form der Not. Feministische Theoretiker / ​innen vertreten natürlich schon lange die Auffassung, dass Frauen von sozialer Vulnerabilität überproportional betroffen sind.9 Zu behaupten, Frauen seien besonders verwundbar, ist immer mit einem gewissen Risiko verbunden – wenn man bedenkt, wie viele andere Gruppen dasselbe für sich in Anspruch nehmen können und dass sich die Kategorie der Frauen noch mit anderen überschneidet, wie der Kategorie der Klasse, der ethnischen Zugehörigkeit, des Alters sowie weiteren Machtvektoren und Orten potenzieller Diskriminierung und Verletzung. Dennoch lässt sich dieser Tradition immer noch etwas Wichtiges abgewinnen. Manchmal wird die fragliche Behauptung so aufgefasst, dass Verwundbarkeit ein unveränderliches Definitionsmerkmal von Frauen sei, woraus sich dann Gründe für paternalistische Schutzvorkehrungen ableiten lassen. Wenn Frauen als besonders verletzlich gelten und dann eben Schutz suchen, fällt dem Staat und anderen paternalistischen Mächten die Aufgabe zu, für diesen Schutz zu sorgen. Nach diesem Modell ersucht der feministische Aktivismus nicht nur paternalistische Au184

toritäten um Sonderregelungen und besonderen Schutz, sondern bekräftigt geradezu die Machtungleichheit, die Frauen die Position der Machtlosigkeit und damit Männern die der Macht zuweist. Und wo nicht einfach oder ausschließlich »Männern« die Schutzfunktion übertragen wird, wird staatlichen Strukturen die paternalistische Pflicht auferlegt, die Erreichung feministischer Ziele zu fördern. Das ist eine ganz andere Auffassung als etwa die, dass Frauen verwundbar, aber auch zum Widerstand fähig sind, und dass Verwundbarkeit und Widerstand gleichzeitig auftreten können, ja müssen, wie sich an bestimmten Formen feministischer Selbstverteidigung und Einrichtungen (etwa Frauenhäusern) erkennen lässt, die versuchen, Schutz zu bieten, ohne paternalistische Kräfte zu stärken  ; ein anderes Beispiel sind die Netzwerke zur Unterstützung von Transfrauen in der Türkei und überall dort, wo die erweiterte und erweiterbare Kategorie der Frauen aufgrund ihres Auftretens Belästigungen oder Verletzungen ausgesetzt ist. Selbstverständlich gibt es gute Gründe, von der differenziellen Vulnerabilität von Frauen auszugehen  ; sie sind übermäßig stark von Armut und Analphabetismus betroffen – zwei sehr wichtige Kategorien jeder globalen Analyse der Lage von Frauen (und zwei Gründe, warum wir nicht »postfeministisch« sein werden, solange diese Bedingungen nicht vollständig überwunden sind). Viele der Feminist / ​innen, die gleichsam die Wende zur Vulnerabilität vollzogen, taten dies, um den Schutz von Frauen durch Menschenrechtsorganisationen und internationale Gerichte zu verbessern. Diese Verrechtlichung des feministischen Projekts soll der Sprache Priorität einräumen, die zur Stärkung solcher Gesuche vor Gericht notwendig ist. So wichtig solche Appelle auch sein mögen, ihr Vokabular ist doch recht 185

eingeschränkt für ein Verständnis weit verbreiteter und nicht im juristischen Rahmen stattfindender feministischer Widerstandsformen oder um die Dynamik von Massenbewegungen sowie zivilgesellschaftliche Initiativen oder von Vulnerabilität geprägte und mobilisierte Formen des politischen Widerstands zu erfassen. Die Notwendigkeit einer Politik, die paternalistische Einschränkungen vermeidet, scheint auf der Hand zu liegen. Wenn der Widerstand gegen den Paternalismus jedoch zugleich auch alle staatlichen und wirtschaftlichen Einrichtungen der Sozialfürsorge ablehnt, dann geht die Forderung nach infrastruktureller Unterstützung darin unter oder bewirkt sogar genau das Gegenteil. Die Aufgabe wird also unter Bedingungen wachsender Prekarität, in denen immer mehr Menschen von Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, Analphabetismus und unzureichender medizinischer Versorgung bedroht sind, nur umso schwieriger. Das Problem ist in meinen Augen, den feministischen Anspruch, dass solche Institutionen lebenswichtig sind, effektiv aufrechtzuerhalten und dabei gleichzeitig Formen des Paternalismus zu widerstehen, die Ungleichheitsverhältnisse wiederherstellen und als natürlich erscheinen lassen. Obgleich die Vulnerabilität also eine große Bedeutung für die feministische Theorie und Politik hat, darf sie nicht als Definitionsmerkmal für Frauen als Gruppe dienen. Solche Versuche, eine auf die Verwundbarkeit gegründete neue Norm für die Kategorie der Frauen aufzustellen, würde ich ablehnen. Schon die Debatte darüber, wer überhaupt zur Gruppe der »Frauen« gehört, verweist ja auf eine ganz bestimmte Vulnerabilität, die diejenigen trifft, die nicht den Geschlechternormen entsprechen und aus diesem Grund in erhöhtem Maße Diskriminierungen, Belästigungen und Gewalt 186

ausgesetzt sind. Eine vorläufig unter der Bezeichnung »Frauen« zusammengefasste Gruppe ist folglich weder verwundbarer als eine vorläufig unter der Bezeichnung »Männer« zusammengefasste Gruppe, noch ist es besonders hilfreich oder richtig, wenn man zu beweisen versucht, dass Frauen Verwundbarkeit einen größeren Wert beimessen als Männer. Vielmehr ist es so, dass bestimmte geschlechtsdefinierende Attribute wie Verwundbarkeit oder Unverwundbarkeit unter bestimmten Machtregimes ungleich verteilt sind, und zwar genau zu dem Zweck, solche Machtregime zu stützen, die Frauen entrechten. Wir denken an die Ungleichverteilung von Waren im Kapitalismus oder von natürlichen Ressourcen, besonders Wasser, aber wir sollten auch daran denken, dass sich Bevölkerungsgruppen unter anderem dadurch organisieren lassen, dass Vulnerabilität ungleich verteilt wird, so dass sowohl im Diskurs als auch in der politischen Praxis »verwundbare Bevölkerungsgruppen« geschaffen werden. Neuerdings lässt sich beobachten, dass soziale Bewegungen und politische Analyst / ​innen prekäre Bevölkerungsgruppen in den Blick nehmen und dass über entsprechende Politikstrategien nachgedacht wird, um deren Lage zu verbessern.10 Dieselbe Forderung wird aber auch in den gängigen Kämpfen auf breiterer Basis erhoben, in denen die Prekarität sowohl sichtbar gemacht als auch zum Einsatz gebracht wird und die sozusagen die Möglichkeiten performativen politischen Handelns aufzeigen, die sich aus der Prekarität selbst ergeben. Es scheint offensichtlich, dass die Benennung der Verwundbarkeit oder Prekarität in dem Fall, dass sie diese Form der politischen Forderung auslöscht, genau den Zustand noch stärker zementiert, den sie doch zu lindern versucht. 187

Wir sehen also, dass es schon riskant ist, den Begriff »Vulnerabilität« überhaupt zu gebrauchen. Aber ist es auch riskant, ihn zu scheuen  ? Bekommt die Vulnerabilität eine spezifisch politische Wertigkeit, wenn wir stattdessen von Prekarität sprechen, und können wir mit einem der beiden Begriffe mehr anfangen  ? Ich bin mir nicht sicher, ob ein Austauschen der Begriffe uns hier wirklich weiterhilft, denn beide bergen bestimmte Risiken. Es gibt natürlich auch noch eine weitaus finsterere Variante, die beiden Kategorien Prekarität und Verwundbarkeit ins Feld zu führen. In der Terminologie sowohl des Militärwesens als auch der Ökonomie werden bestimmte Gruppen effektiv als (ungestraft) verwundbar beziehungsweise verfügbar herausgegriffen (sie leben unter der Bedingung der freien Verfügbarkeit weiter oder auch nicht, sind also im wahrsten Sinne des Wortes entsorgt worden – eine Unterscheidung, die ein Intervall im Zeit-Raum des sozialen Todes bildet). Diese Art der expliziten oder impliziten Markierung dient zur Rechtfertigung der Tatsache, dass man solchen Gruppen Schaden zufügen kann (wie wir es in Zeiten des Krieges oder im Fall staatlicher Gewalt gegen Bürger / ​innen ohne Papiere erleben). Der Begriff »Verwundbarkeit« kann also dazu dienen, eine Bevölkerungsgruppe ins Visier zu nehmen, um sie zu dezimieren. Das hat zu einem Paradox innerhalb des Neoliberalismus und seiner Idee der »Responsibilisierung« geführt, nach der solche Gruppen für ihre prekäre Lage oder das zunehmende Gefühl der Prekarisierung selbst verantwortlich sind. Um dieser schändlichen Moral entgegenzuwirken, verteidigen Menschenrechtsaktivist / ​innen die Idee der Vulnerabilität und bestehen auf der Notwendigkeit des rechtlichen und institutionellen 188

Schutzes solcher Gruppen. Der Begriff der Verwundbarkeit wirkt hier auf zweierlei Weise  : zum einen, um auf eine Bevölkerungsgruppe abzuzielen, und zum anderen, um sie zu schützen, das heißt, der Begriff wurde dazu benutzt, eine restriktive politische Logik zu etablieren, der zufolge es nur die Alternative gibt, Zielscheibe zu sein oder beschützt zu werden. Wenn der Begriff so angewendet wird, dann bringt er effektiv sowohl Volksbewegungen (wenn nicht gar Formen der Volkssouveränität) als auch aktive Kämpfe um Widerstand und gesellschaftlichen und politischen Wandel zum Verschwinden. Man mag diese zwei Verwendungsarten des Begriffs der Verwundbarkeit für antithetisch halten, und sie sind es auch – allerdings nur innerhalb einer problematischen Logik, welche andere Formen politischer Rationalität und Praxis verdrängt, die wohl dringlicher und vielversprechender sein dürften. Zur Zielscheibe erklären und schützen sind mithin Praktiken, die ein und derselben Machtlogik entspringen. Wenn gefährdete Bevölkerungsgruppen ihre Lage selbst herbeigeführt haben, gehören sie keinem Machtregime an, das Prekarität systemisch reproduziert. Die Ursache ihrer prekären Situation liegt dann in ihrem eigenen Handeln beziehungsweise Versagen. Wenn sie als schutzbedürftig betrachtet werden und wenn paternalistische Machtformen (zu denen auch Philanthropie und humanitäre NGO s gehören können) sich dauerhaft in die Position bringen wollen, die Machtlosen zu repräsentieren, dann werden ebendiese Gruppen damit aus demokratischen Prozessen und Mobilisierungen ausgeschlossen. Die Antwort auf dieses Dilemma liegt weder darin, gefährdete Bevölkerungsgruppen in eine moralische Position der Überverantwortlichkeit zu bringen noch sie umgekehrt als Leidende hinzustellen, 189

die der »Fürsorge« guter Christ / ​innen bedürfen (wie dies im gegenwärtigen sozialdemokratischen Diskurs in Frankreich mit seiner impliziten Verbundenheit zu christlichen Werten geschieht). Der vorliegende Ansatz betrachtet Verwundbarkeit und Unverwundbarkeit als politische Effekte, als ungleich verteilte Wirkungen eines Machtfeldes, das auf und durch Körper wirkt  ; diese schnellen Umkehrungen zeigen, dass Verwundbarkeit und Unverwundbarkeit keine Wesensmerkmale von Männern oder Frauen sind, sondern vielmehr Prozesse der Formation von Geschlecht, Wirkungen von Machtmodi, die unter anderem das Ziel haben, auf Ungleichheit beruhende Geschlechterdifferenzen zu erzeugen. Belege dieser Logik finden wir beispielsweise, wenn es heißt, dass der Feminismus die Männlichkeit »angreife« – hier ist also die Männlichkeit in der Position der »Verwundbarkeit«  ; oder es heißt, dass die Allgemeinheit von diversen sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten »angegriffen« werde  ; auch der Bundesstaat Kalifornien sieht sich neuerdings »Angriffen« ausgesetzt, weil er seine weiße Mehrheit verloren hat  ; und Arizona wird angeblich von seiner Latinobevölkerung »angegriffen« und versucht folglich, seine Grenze nach Süden noch undurchlässiger zu machen. Auch von verschiedenen europäischen Staaten heißt es, sie seien »Angriffen« durch neue Einwanderer ausgesetzt, womit so getan wird, als befänden sich die herrschenden Gruppen und ihre rassistischen Vertreter im Zustand der Verwundbarkeit. Diese strategische Verwendung des Begriffs der Verwundbarkeit steht im Widerspruch zu Analysen des psychoanalytischen Feminismus, die in etwa besagen  : Die auf diese Weise konstruierte männliche Position basiert praktisch auf der Verleugnung der eigenen kon190

stitutiven Verwundbarkeit. Wir alle kennen vermutlich die eine oder andere Version dieses Arguments.11 Die Verneinung oder Verleugnung setzt die politische Instituierung von Verneinung, Projektion und Verschiebung voraus. Sie versammelt sich um das Signum des Weiblichen. Allerdings sieht sich diese Analyse einer Umkehrung ihrer Formulierungen ausgesetzt  ; schließlich kann die Erzeugung einer Hypervulnerabilität (der Nation, der Männlichkeit) eine Begründung zur Einhegung sowohl von Frauen als auch von Minderheiten liefern. Wer jene Undurchlässigkeit erreicht, tilgt – das heißt löscht und externalisiert – sämtliche Erinnerungsspuren der Verwundbarkeit und ist bestrebt, gegenwärtige, nicht kontrollierbare Gefühle der Verwundbarkeit in den Griff zu bekommen. Eine Person, die sich erklärtermaßen für unverwundbar hält, sagt im Grunde  : »Ich war nie verwundbar, und wenn, dann nicht wirklich, und ich erinnere mich nicht an diesen Zustand, aber im Moment bin ich es auf jeden Fall nicht.« Wer so redet, beweist, was er / ​sie zu leugnen versucht. Eine immer weiter wachsende Menge von Behauptungen wird von der körperlichen Bedingung ihrer Äußerung selbst Lügen gestraft und lässt so einen Teil der politischen Syntax der Verleugnung erkennen. Wir sehen hier freilich auch, wie Geschichten erzählt werden können, um ein Ideal des Selbst zu stützen, von dem man möchte, dass es wahr ist  ; die Kohärenz solcher Geschichten hängt von der Verleugnung ab und ist außerordentlich brüchig. Psychoanalytische Sichtweisen wie diese bieten zwar wichtige Einblicke in die besondere Art der geschlechtsspezifischen Verteilung von Verwundbarkeit, sie liefern jedoch nur einen Teil der Art von Analyse, die diesbezüglich nötig wäre  ; wenn wir nämlich sa191

gen, dass eine Person oder Gruppe ihre Verwundbarkeit verleugnet, unterstellen wir damit nicht nur, dass es diese Verwundbarkeit schon gab, sondern auch, dass sie in gewissem Sinne nicht geleugnet werden kann. Verleugnung ist immer ein Versuch, von etwas abzulenken, das hartnäckig der Fall ist, und daher ist die potenzielle Widerlegung der Verleugnung eines ihrer wesentlichen Definitionsmerkmale. In diesem Sinne ist die Verleugnung der Verwundbarkeit zwar unmöglich, kommt aber ständig vor. Zwar darf man Individuen und Gruppen hier nicht einfach gleichsetzen, zu verschieden sind die Prozesse, in denen sie sich herausbilden, gewisse Formen der Verneinung und Verleugnung lassen sich jedoch bei beiden beobachten. Befürworter / ​innen militärischer Begründungen der Zerstörung von Gruppen oder Bevölkerungsteilen, die zur Zielscheibe erklärt werden, könnten wir beispielsweise sagen  : »Ihr handelt, als ob ihr selbst nicht verwundbar für die Art von Zerstörung wärt, die ihr verursacht.« Und Vertreter / ​innen bestimmter neoliberaler Wirtschaftsformen könnten wir sagen  : »Ihr handelt, als ob ihr selbst nie zu den Bevölkerungsgruppen gehören könntet, deren Arbeit und Leben gefährdet ist, die plötzlich ihrer Grundrechte oder des Zugangs zu Wohnraum und medizinischer Versorgung beraubt werden können oder die mit der Angst leben müssen, niemals eine Arbeit zu finden.« Wir nehmen somit an, dass diejenigen, die versuchen, andere der Verwundbarkeit auszusetzen – oder sie dauerhaft in eine solche Lage zu bringen –, und ebenso diejenigen, die versuchen, eine Position der Unverwundbarkeit für sich zu reklamieren und aufrechtzuerhalten, ihre eigene Verwundbarkeit leugnen wollen, kraft deren sie stur, wenn nicht sogar in kaum zu ertragender Weise an die gebunden sind, die sie zu un192

terjochen trachten. Wenn man wider Willen an andere gebunden ist, auch und gerade dann, wenn ein Vertrag ein Mittel der Unterjochung ist, kann dieses Band einen buchstäblich verrückt machen, stellt es doch eine inakzeptable Form erzwungener Abhängigkeit dar, wie bei der Sklavenarbeit oder anderen Arten von Zwangsverträgen. Das Problem ist nicht die Abhängigkeit als solche, sondern deren taktische Ausnutzung. Dies führt dann zu der Frage, was eine Trennung von Abhängigkeit und Ausbeutung bedeuten würde, so dass das eine nicht unmittelbar das andere impliziert. Politische Widerstandsformen, die für eine Autonomie ohne jede Abhängigkeit eintreten, machen möglicherweise gerade den Fehler, Abhängigkeit als Ausbeutung zu begreifen. Der Begriff der Abhängigkeit ist natürlich, wie Albert Memmi in seinem wichtigen Text Von Süchten und Sehnsüchten gezeigt hat, zur Rationalisierung kolonialer Machtformen benutzt worden, indem erklärt wurde, manche Bevölkerungsgruppen seien eben abhängiger als andere, sie benötigten die Kolonialherrschaft, denn diese sei für sie oder zumindest manche von ihnen der einzige Weg in die Moderne und die Zivilisation.12 Aber soll der Begriff nun diesen Makel behalten oder lässt er sich vielleicht auf eine andere Weise mobilisieren, die sogar einen gewissen Bruch mit seinem Erbe erzwingt  ? Wie anders wäre die allgemeine Behauptung zu verstehen, dass Körper zum Überleben und Gedeihen unabdingbar auf stabile Beziehungen und Institutionen angewiesen sind  ? Sagen wir mit einer solchen Behauptung nicht, was Körper letztlich sind, das heißt, liefern wir damit nicht eine allgemeine Ontologie des Körpers  ? Und geben wir der Vulnerabilität dadurch nicht einen generellen Vorrang  ? Ganz im Gegenteil  : Gera193

de weil Körper in Beziehung zu infrastrukturellen Unterstützungen (oder deren Fehlen) und sozialen und technologischen Netzwerken und Beziehungsgeflechten geformt und erhalten werden, lässt sich der Körper nicht aus seinen konstitutiven Beziehungen herauslösen – wobei es sich immer um ökonomisch und historisch spezifische Beziehungen handelt. Wenn wir also sagen, der Körper ist verwundbar, dann heißt das, dass er für Wirtschaft und Geschichte verwundbar ist. Die Vulnerabilität bezieht sich immer auf ein Objekt, sie wird immer in Bezug auf eine Reihe von Bedingungen geformt und gelebt, die außerhalb und doch Teil des Körpers selbst sind. Man könnte also sagen, dass der Körper in einem ekstatischen Verhältnis zu den Rahmenbedingungen steht, die er hat oder braucht  ; das heißt aber, dass er nie in einem von seiner historischen Situation getrennten Seinsmodus existiert. Vielleicht wird es deutlicher, wenn ich es so formuliere  : Der Körper ist der Geschichte, der Prekarität und der Gewalt ausgesetzt, aber auch dem, was ihm ungefragt oder glücklicherweise widerfährt, wie Leidenschaft und Liebe, plötzliche Freundschaft oder unerwarteter Verlust. Ja, man kann sagen, dass alles Unerwartete am Verlust eine Vulnerabilität berührt, die uns eigen ist und die wir nicht vorhersehen oder im Voraus steuern können. In diesem Sinne bezeichnet Vulnerabilität eine Dimension des Unvorhersehbaren, des Unvorhersagbaren und des Unkontrollierbaren  ; das kann die beiläufige Bemerkung eines Fahrgastes sein, die man zufällig im Bus aufschnappt, der plötzliche Verlust einer Freundschaft oder auch die brutale Vernichtung von Leben durch einen Bombenangriff. Das ist nicht dasselbe, aber dass wir als Geschöpfe offen für das Geschehen sind, macht uns möglicherweise auch verwundbar, wenn das, was 194

geschieht, nicht im Voraus erkennbar ist. Die Vulnerabilität verwickelt uns in etwas, das über uns hinausgeht und doch Teil von uns ist  ; sie macht damit einen zentralen Aspekt dessen aus, was wir annäherungsweise unsere Verkörperung nennen können. Ich kann nun vielleicht einige Punkte bezüglich der Vulnerabilität klarstellen, die deren politische Bedeutung weder idealisieren noch schmälern sollen. Der erste ist, dass man Vulnerabilität nicht ausschließlich mit Verletzlichkeit assoziieren darf. Unsere Empfänglichkeit für alles, was geschieht, ist eine Funktion und eine Wirkung der Vulnerabilität – des Offenseins gegenüber der Geschichte, des Registrierens eines Eindrucks oder des Beeindrucktwerdens. Vulnerabilität kann eine Funktion der Offenheit sein, das heißt des Offenseins gegenüber einer Welt, die nicht vollständig bekannt oder vorhersagbar ist. Zu den Dingen, die ein Körper kann (um eine Formulierung von Deleuze zu verwenden, die er in seiner Spinoza-Lektüre entwickelt), gehört, sich dem Körper eines anderen oder einer Menge von anderen zu öffnen, und folglich sind Körper keine in sich geschlossenen Entitäten.13 Sie sind gewissermaßen immer außer sich, erforschen oder erkunden ihre Umwelt und werden durch ihre Sinne erweitert, manchmal sogar enteignet.14 Dass wir uns in einem anderen verlieren können, dass uns unsere taktilen, motilen, visuellen, olfaktorischen oder auditiven Fähigkeiten über uns selbst hinausführen, liegt daran, dass der Körper nicht an seinem Platz bleibt und dass derlei Enteignung den Körpersinn ganz allgemein kennzeichnet. Von daher ist es auch wichtig, über die Regulierung der Sinne als eine politische Angelegenheit zu sprechen – es gibt zum Beispiel Fotos verwundeter oder 195

zerstörter Körper im Krieg, die wir oft nicht zu sehen bekommen, weil befürchtet wird, dass dieser Körper nachfühlen könnte, was jene anderen Körper durchgemacht haben, oder dass dieser Körper in seinem sinnlichen Außersichsein nicht eingeschlossen, monadisch und vereinzelt bleibt. Tatsächlich könnten wir die Frage stellen, welche Art der Regulierung der Sinne – jener Modi der ekstatischen Relationalität – erforderlich wäre, um den Individualismus als für die Wirtschaft wie für die Politik notwendige Ontologie aufrechtzuer­ halten. Wir reden häufig so, als sei Vulnerabilität ein kontingenter und passagerer Umstand, es gibt aber auch Gründe, dies nicht generell zu akzeptieren. Natürlich kann man immer sagen  : »Damals war ich verwundbar, aber jetzt bin ich es nicht mehr«  ; wir meinen damit Situationen, in denen wir uns gefährdet oder verletzlich gefühlt haben. Das können wirtschaftliche oder finanzielle Situationen sein, in denen wir uns ausgebeutet fühlen, die Arbeit verloren haben, verarmt sind und öffentliche Hilfe brauchen, die ihrerseits gnadenlos zurückgeschraubt wird. Oder es können emotionale Situationen sein, in denen wir besonders verwundbar für Zurückweisungen sind und später feststellen, dass wir diese Art der Verwundbarkeit abgelegt haben. Solche Feststellungen haben durchaus ihren Sinn, genauso sinnvoll ist es jedoch, den Versuchungen des Alltagsdiskurses an dieser Stelle mit Vorsicht zu begegnen. Und auch wenn wir zu Recht das Gefühl haben, dass wir manchmal verwundbar sind und manchmal nicht, bleibt der grundsätzliche Zustand der Verwundbarkeit selbst unveränderlich. Das heißt nicht, dass wir objektiv oder subjektiv betrachtet immer auf die selbe Weise und im selben Umfang verwundbar sind  ; es heißt 196

aber, dass die Verwundbarkeit ein mehr oder weniger implizites oder explizites Merkmal unserer Erfahrung ist. Indem wir sagen, dass wir alle verwundbare Wesen sind, unterstreichen wir unsere radikale Abhängigkeit nicht nur von anderen, sondern auch von einer Welt, die uns erhält und die zu erhalten ist. Dies hat Auswirkungen darauf, wie wir uns als emotional und sexuell leidenschaftliche Wesen begreifen, als von Anfang an mit anderen verbundene, aber auch auf den eigenen Fortbestand bedachte Wesen, deren Erhalt gefährdet oder gefördert werden kann, je nachdem, ob die sozialen, ökonomischen und politischen Strukturen ausreichende Unterstützung für ein lebbares Leben bieten. Dass Bevölkerungsgruppen ungleich von Vulnerabilität und Prekarität betroffen sind, macht sie deshalb noch nicht bewegungsunfähig. Wenn politische Kämpfe gegen diese Bedingungen ausgetragen werden, wird die Prekarität und manchmal sogar ganz bewusst die öffentliche Exponierung des Körpers mobilisiert, selbst wenn dies bedeutet, sich damit der Gefahr von Gewalt, Verhaftung oder sogar Tod auszusetzen. Es ist nicht so, dass die Vulnerabilität in Stärke umgewandelt, diese also über die Vulnerabilität triumphieren würde. Stärke ist nicht das genaue Gegenteil von Vulnerabilität, was meiner Meinung nach deutlich wird, wenn die Vulnerabilität selbst mobilisiert wird, und zwar nicht als individuelle Strategie, sondern im gemeinsamen Vorgehen. Das hatte Hannah Arendt wahrscheinlich nicht im Sinn, als sie davon sprach, die Politik hänge von der konzertierten Aktion ab – ich kann mir kaum vorstellen, dass sie großes Gefallen an den Slutwalks gefunden hätte.15 Wenn wir jedoch ihre Haltung noch einmal überdenken und den Körper und seine Bedürfnisse als Teil des Handelns und Ziel des Politischen mitberück197

sichtigen, nähern wir uns vielleicht einem Begriff der Pluralität, in den Performativität und Interdependenz mit einfließen. Ich stelle am Ende des Kapitels fest, dass ich neue Begriffe eingeführt habe, ohne deren Bedeutung hinreichend zu klären. Interdependenz ist einer von ihnen. Ich muss hier zur Vorsicht mahnen  : Wir können nicht davon ausgehen, dass Interdependenz ein wunderbarer Zustand der Koexistenz ist  ; sie ist nicht gleichbedeutend mit gesellschaftlicher Harmonie. Wir schimpfen zwangsläufig auf die, von denen wir am meisten abhängig sind (oder die am meisten von uns abhängig sind), und es gibt keine Möglichkeit, Abhängigkeit und Aggression ein für alle Mal zu trennen – dies war vielleicht die Grundeinsicht von Melanie Klein und sicher auch von Thomas Hobbes, wenn auch in einer anderen Theoriesprache. Die afroamerikanische Feministin Bernice Johnson Reagon hat dies Anfang der 1980er Jahre wie folgt ausgedrückt  : »Ich habe das Gefühl, als ob ich jeden Moment umkippen und sterben könnte. So fühlt es sich oft an, wenn man wirklich in einer Koalition arbeitet. Meistens fühlt man sich zutiefst bedroht, und wenn man das nicht fühlt, dann ist es keine echte Koalitionsarbeit. […] Man geht keine Koalition ein, nur weil es einem einfach gefällt. Der einzige Grund, eine Zusammenarbeit mit jemandem, der dich womöglich töten kann, überhaupt in Erwägung zu ziehen, ist, dass du dir keine andere Möglichkeit vorstellen kannst, am Leben zu bleiben.« Gegen Ende ihrer Ausführungen macht sie deutlich, dass zur Interdependenz auch die Drohung des Todes gehört. Zur Idee einer gemeinsamen Welt, die wir »unsere gemeinsame Welt« nennen könnten, bemerkt sie  : »Du musst begreifen, dass du kein ›unser‹ [wie in ›unsere Welt‹] haben kannst, wenn 198

es nicht auch Bernice Johnson Reagon einschließt, denn ich habe nicht vor, hier wegzugehen  ! Darum brauchen wir Koalitionen. Weil ich dich nicht leben lasse, wenn du mich nicht leben lässt. Darin liegt eine Gefahr, aber eben auch die Möglichkeit, dass wir beide leben können – wenn du das aushältst.«16 Die Leute, die man auf oder abseits der Straße trifft, im Gefängnis oder in der Peripherie, auf dem Weg, der noch keine Straße ist, oder in welchem Keller auch immer diejenigen stecken mögen, mit denen eine Koalition derzeit möglich wäre  : Es sind nicht unbedingt die, die man sich ausgesucht hätte. Ich meine, wenn wir ankommen, wissen wir meistens nicht, wer noch kommt, das heißt, wir akzeptieren bei unserer Solidarität mit anderen ein gewisses Maß an Ungewähltheit. Man könnte vielleicht sagen, dass der Körper immer Menschen und Eindrücken ausgesetzt ist, über die er nicht bestimmen, die er nicht vorhersehen und nicht ganz kontrollieren kann, und dass dies die Bedingungen der sozialen Verkörperung sind, die wir nicht vollständig selbst ausgehandelt haben. Daraus entsteht nach meiner Auffassung eher Solidarität als aus absichtlichen, wohlüberlegten Vereinbarungen. Wie lässt sich nun letztlich der Widerstand als Mobilisierung von Vulnerabilität oder Ausgesetztsein verstehen  ? Ich möchte, um zum Abschluss zu kommen, dazu Folgendes sagen  : Wenn sich die Körper der als »frei verfügbar« oder »unbetrauerbar« Erachteten öffentlich versammeln (wie dies immer wieder geschieht, wenn sich Menschen ohne gültige Papiere in den Straßen der USA öffentlichen Demonstrationen anschließen), so sagen sie damit  : »Wir sind nicht stillschweigend im Schatten der Öffentlichkeit verschwunden  ; wir sind nicht zur eklatanten Abwesenheit geworden, die euer öffentliches Leben strukturiert.« In 199

gewisser Weise ist die Versammlung von Körpern eine Ausübung des Volkswillens, das Ein- oder Übernehmen einer Straße, die einer anderen Öffentlichkeit zu gehören scheint, ein »Platz-Schaffen« zum Zweck der Aktion und der Rede, die Druck auf die Grenzen der gesellschaftlichen Anerkennbarkeit ausüben. Menschen versammeln sich jedoch nicht nur auf Straßen und Plätzen  ; wie wir wissen, können soziale Netzwerke sehr eindrucksvolle und effektive solidarische Bindungen im virtuellen Bereich hervorbringen. Der Körper bleibt eine – weder endlose noch magische – Ressource, ob er nun ohne Technologie in der Öffentlichkeit erscheint oder gemeinsam mit anderen Smartphones hochhält (wie es heute viele tun, um Polizeigewalt auf Demonstrationen zu dokumentieren) oder ob er unter Zwangsbedingungen in Isolation und Elend festgehalten wird. Eine gemeinsam agierende Gruppe braucht Unterstützung, um agieren zu können, und dies bekommt eine besondere Bedeutung, wenn die Aktion immer mehr zur Forderung nach dauerhafter Unterstützung und den Bedingungen für ein lebbares Leben wird. Es ist wenig überraschend und klingt fast wie ein Zirkelschluss, dass die Körper, die sich in sozialen Bewegungen versammeln, die soziale Modalität des Körpers geltend machen. Dies kann ein kleiner Schritt auf dem Weg zu der Welt sein, die wir uns wünschen, oder gegen die Welt, die uns kaputtmacht. Ist dies nicht eine Form des bewussten Sichaussetzens und Beharrens, die verkörperte Forderung nach einem lebbaren Leben, die uns die Gleichzeitigkeit von Gefährdetsein und Handeln vor Augen führt  ?

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5. »We the People« – Gedanken zur Versammlungsfreiheit »We the People« (»Wir, das Volk«) sind die ersten drei Worte der Präambel zur Verfassung der Vereinigten Staaten, von der man sagt, dass sie den rechtlichen Bruch mit Großbritannien eingeleitet hat  ; implizit werden diese Worte aber auch in zahllosen öffentlichen Versammlungen ins Feld geführt, die nicht den gesetzlichen Rahmen der USA teilen – die englische Übersetzung eines Buchtitels von Étienne Balibar, We, the People of Europe  ?, ist hier ein gutes Beispiel.* Tatsächlich kommt es aber nicht oft vor, dass diese Worte wirklich ausgesprochen oder geschrieben werden – wird ihre performative Kraft also mit anderen Mitteln kommuniziert  ? Als Ausgangspunkt dieses Kapitels wähle ich nicht nur die Occupy-Bewegungen, sondern auch andere Versammlungen, die genau an den Stellen erscheinen, an denen der öffentliche Raum entweder verscherbelt wurde oder verschiedenen Arten der von Sicherheitswahn getriebenen Kontrolle unterworfen wird  ; dazu zählen auch die für ein öffentliches Schulund Bildungswesen kämpfenden Bewegungen in Chile, Montreal und ganz Europa, wo Studierende gegen Haushaltskürzungen oder die Bologna-Reform protestieren. Ich will damit freilich keinesfalls behaupten, dass alle diese Versammlungen gleich sind oder dass sie vollkommen parallele Strukturen aufweisen. Mit welchen Mitteln wird der Anspruch auf den öffentlichen Raum erhoben  ? Wenn es nicht immer die Sprache ist, die die Menschen als Einheit bezeichnet und zur Einheit formt, spielen dann möglicherweise andere 201

körperliche Ressourcen eine Rolle – Schweigen, konzertierte Bewegung, Reglosigkeit oder jene beharrliche Bündelung von Körpern im öffentlichen Raum bei Tag und Nacht, die für die Occupy-Bewegung charakteristisch war  ? Vielleicht fordern diese aktuellen Versammlungen dazu auf, uns zu fragen, ob wir unsere Vorstellungen des öffentlichen Raumes revidieren müssen, um den Formen der Allianz und der Solidarität Rechnung zu tragen, die nur teilweise von der Fähigkeit abhängen, auf dem öffentlichen Platz erscheinen zu können. Dass Politik nicht nur einen Erscheinungsraum braucht, sondern auch Körper, die erscheinen, entspricht natürlich Arendts berühmter These. Für sie ist das Erscheinen eine Voraussetzung des Sprechens, und nur die öffentliche Rede zählt wirklich als Handlung. In Revolutionen, so erklärt sie uns, findet gewissermaßen ein gemeinsames oder plurales Handeln statt. Aber hätte sie sich vorstellen können, dass das »Wir«, jene Pluralität, die als so wesentlich für die Demokratie gilt, von der pluralen Bewegung von Körpern artikuliert wird  ? Wie können wir die öffentliche Versammlung als von der Sprache verschiedene politische Inszenierung begreifen  ? Es gibt viele Beispiele dafür, wie Menschen zusammenkommen, wie sie Möglichkeiten schaffen, als Kollektiv zu sprechen, einen Politikwechsel fordern oder das Fehlen staatlicher Legitimität beziehungsweise den Zerfall einer Regierung aufdecken. Der Tahrir-Platz erschien eine Zeitlang als Symbol für die demokratische Macht öffentlicher Versammlungen, wir mussten allerdings mit ansehen, wie Konterrevolutionen ihre eigenen Vorstellungen davon geltend machen, wer »das Volk« ist, auch wenn sie polizeiliche und militärische Gewalt aufbieten, um das Volk zu attackieren und einzusperren. Wenn wir von diesem sich immer noch 202

entwickelnden Beispiel ausgehen, kommen wir zu dem Schluss, dass eine einzelne Volksversammlung nie die Gesamtheit des Volkes repräsentieren kann  ; vielmehr riskiert oder schürt jede Postulierung des Volkes durch eine Versammlung eine Reihe von Konflikten, die wiederum wachsende Zweifel daran aufkommen lässt, wer das Volk wirklich ist. Wir können somit festhalten, dass eine einzelne Versammlung nicht zur rechtmäßigen Grundlage für Verallgemeinerungen hinsichtlich aller Versammlungen werden kann und dass der Versuch und die Versuchung, eine bestimmte Erhebung oder Mobilisierung mit der Demokratie selbst zu verknüpfen, ebenso verlockend wie falsch ist – er wird dem Konfliktprozess, durch den die Idee des Volkes artikuliert und ausgehandelt wird, nicht gerecht. In gewissem Maße handelt es sich hier um ein erkenntnistheoretisches Problem  : Können wir jemals wirklich wissen, wer das »Wir« ist, das sich auf den Straßen versammelt, und ob eine Versammlung tatsächlich das Volk als solches repräsentiert  ? Und ob irgendeine Versammlung für das stehen kann, was wir mit der Versammlungsfreiheit als solcher meinen  ? Jedes Einzelbeispiel versagt hier und dennoch gibt es bestimmte wiederkehrende Themen, so dass wir uns noch einmal der Frage zuwenden können, in welcher Weise die Behauptung »Wir, das Volk« aufgestellt wird. Manchmal handelt es sich ganz explizit um einen Streit um Worte, politische Signifikanten oder Bilder und Beschreibungen. Bevor jedoch eine Gruppe überhaupt über die Sprache debattieren kann, gibt es eine Zusammenkunft von Körpern, die gleichsam auf eine andere Weise spricht. Versammlungen behaupten und inszenieren sich durch Sprache oder Schweigen, durch Handeln oder beharrliches Nichthandeln, durch Gesten, durch ihr Zusammenkommen als Gruppe von 203

Körpern im öffentlichen Raum mit seinen infrastrukturellen Bedingungen – sichtbar, hörbar, fühlbar, absichtlich oder ungewollt exponiert und in organisierter oder spontaner Interdependenz. Gehen wir also von der Annahme aus, dass eine Gruppe nicht durch einen bestimmten und punktuellen Sprechakt als »Volk« zusammenkommt. Obwohl wir oft denken, dass der deklarative Sprechakt »Wir, das Volk«, der die Volkssouveränität konsolidiert, einer solchen Versammlung entspringt, ist es vielleicht treffender, wenn man sagt, dass die Versammlung bereits spricht, bevor sie ein Wort geäußert hat, dass sie durch ihr Zusammenkommen schon eine Inszenierung eines Volkswillens ist  ; die Bedeutung dieser Inszenierung ist eine ganz andere, als wenn ein einzelnes und vereintes Subjekt seinen Willen durch eine ausgesprochene Aussage erklärt. Das via Sprache geäußerte »Wir« wird bereits durch die Versammlung von Körpern, deren Gesten, Bewegungen, Stimmen und die Art ihres gemeinsamen Handelns inszeniert. Gemeinsam zu handeln heißt nicht, in Übereinstimmung zu handeln  ; es kann sein, dass Menschen sich in ganz verschiedene Richtungen bewegen, unterschiedliche Aussagen treffen oder sogar aneinander vorbeireden. Es heißt auch nicht, dass sie exakt dieselben Worte sagen, auch wenn dies manchmal vorkommt, wie bei den Sprechchören oder dem »menschlichen Mikrofon« der Occupy-Veranstaltungen. Und manchmal handelt »das Volk« kraft seines kollektiven Schweigens oder seines ironischen Sprachgebrauchs  ; sein Humor, ja auch sein Spott greift eine Sprache auf, greift auf sie über und ergreift sie, um sie ihren üblichen Zwecken zu entfremden. Schon an dieser Stelle möchte ich zwei Punkte unterstreichen  : Der erste ist, dass die Handlungen, durch die 204

Menschen sich versammeln und zu einem Volk erklären, sprachlich oder auf eine andere Weise inszeniert werden können. Der zweite ist, dass wir fähig sein müssen, solche Handlungen als plurales Handeln aufzufassen, indem wir von einer Pluralität von Körpern ausgehen, die ihre konvergenten beziehungsweise divergenten Absichten auf eine Art inszenieren, die sich nicht auf eine einzelne Handlungsweise oder auf eine einzige Forderung reduzieren lässt. Für uns wird es um die Frage gehen, wie sich die Politik verändert, wenn die Idee, dass abstrakte Rechte von Individuen lautstark eingefordert werden, der einer Pluralität verkörperter Akteure weicht, die ihre Forderungen manchmal mittels Sprache inszenieren, manchmal aber auch nicht. Überlegen wir uns also, was wir im Lichte dieser Rahmenverschiebung unter Versammlungsfreiheit verstehen könnten. In welchem Sinn ist sie ein Recht und wie wird dieses eingefordert  ? Welche Vorannahmen darüber, wer wir sind und wer wir sein könnten, wohnen diesem Recht inne  ? Das Recht auf Versammlungsfreiheit ist mittlerweile im internationalen Recht gut dokumentiert. Die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) stellt klar, dass die Rechte auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit mit dem Recht auf Tarifverhandlungen verknüpft sind.1 Das heißt, dass Menschen sich versammeln, um über ihre Arbeitsbedingungen zu verhandeln  ; dazu gehören Forderungen nach Arbeitsschutz, Arbeitsplatzsicherheit und dem Schutz vor Ausbeutung, aber auch das Recht auf Tarifverhandlungen selbst. Das Recht bringt Arbeitende zusammen – niemand hat ein Recht auf Versammlung ohne andere, die in Bezug auf die Arbeiterschaft strukturell in der gleichen Lage sind. In einigen Menschenrechtsdiskursen wird die Versammlungsfreiheit als fundamentale Form der Freiheit 205

beschrieben, die den Schutz der Regierung verdient, das heißt, der Staat ist paradoxerweise dazu verpflichtet, diese Freiheit vor staatlicher Einmischung zu schützen, was nichts anderes bedeutet, als dass die Regierungen der strikten Verpflichtung unterliegen, Angriffe auf das Versammlungsrecht durch den unrechtmäßigen Einsatz polizeilicher und richterlicher Gewalt – Festnahmen, Inhaftierungen, Schikanen, Drohungen, Zensur, Gefängnisstrafen, Verletzungen oder Tötungen – zu unterlassen. Wie wir sehen, birgt diese Formulierung ein grundsätzliches Risiko  : Beruht die Versammlungsfreiheit auf dem Schutz durch die Regierung oder vor der Regierung  ? Und ist es vernünftig, wenn sich das Volk auf die Regierung verlässt, um sich vor der Regierung zu schützen  ? Existiert das Recht nur, wenn eine Regierung es ihren Bürger / ​innen auch erteilt und gilt es nur in dem Maße, in dem sich eine Regierung einverstanden erklärt, es zu schützen  ? Falls es so ist, kann man gegen die regierungsseitige Zerstörung der Versammlungsrechte nicht dadurch vorgehen, dass man die Versammlungsrechte geltend macht. Wir können uns darauf verständigen, dass die Versammlungsfreiheit nicht im Naturrecht zu finden ist, aber ist sie dennoch in irgendeinem wesentlichen Sinne unabhängig von jeder Regierung  ? Geht das Recht auf freie Meinungsäußerung nicht über jene Maßnahmen seitens der Regierung hinaus, ja hinweg, durch die es geschützt und / ​oder verletzt wird  ? Diese Rechte sind nicht vom Schutz der Regierung abhängig, sie können es gar nicht sein, wenn die Rechtmäßigkeit der Regierung und die Macht des Staates gerade durch solche Versammlungen in Frage gestellt werden oder wenn ein bestimmter Staat das Versammlungsrecht derart verletzt, dass seine Bevölkerung nicht mehr frei zusammenkommen kann, ohne dass ihr 206

staatliche Eingriffe bis hin zu brutalen militärischen und polizeilichen Übergriffen drohen. Und wenn die Macht des Staates, Rechte zu »schützen«, die gleiche ist wie die, ebendiesen Schutz zu entziehen, und Menschen von der Versammlungsfreiheit Gebrauch machen, um diese Art der willkürlichen und unrechtmäßigen Macht anzufechten, die nach Belieben Schutz gewährt oder entzieht, dann gerät etwas in oder von der Versammlungsfreiheit aus dem Geltungsbereich der staatlichen Souveränität. Ein Aspekt der Staatssouveränität ist genau diese Fähigkeit, den Schutz der Rechte von Bevölkerungsgruppen zurückzunehmen.2 Das mag stimmen, wogegen man sich jedoch möglicherweise wenden kann, ist die Idee, dass die Versammlungsfreiheit selbst als Recht verlorengehen kann, wenn der Staat gegen die Ziele jener Versammlung vorgeht und die Versammlung zu verbieten versucht. Dies geschieht, wie wir wissen, wenn der Staat selbst die Erleichterung des Ausbaus der Märkte betreibt, wenn er seine Dienste an Finanzinstitute veräußert und so aus öffentlichen Ansprüchen Konsumgüter oder Anlagemöglichkeiten macht. Die Antiprivatisierungsbewegung versucht, das Aufgehen des Staates in den Kräften des Marktes aufzuhalten. Solche Bewegungen sind oft mit der Forderung verbunden, die Legitimität einer Regierung zu hinterfragen, die autoritative Macht erlangt hat – heute behauptet niemand mehr, freie Märkte förderten die Demokratie, wie dies Milton Friedman bekanntlich noch in Chile unter Pinochet getan hatte. In derartigen Fällen, in denen es öffentlichen Widerstand gegen Privatisierung und Autoritarismus gibt, setzt der Staat seine militärische, polizeiliche und gesetzliche Macht ein, um die Versammlungsfreiheit wie auch andere (potenziell revolutionäre) Freiheiten zu unterdrücken. 207

Die Versammlungsfreiheit ist also etwas anderes als ein spezifisches Recht, das von bestehenden Nationalstaaten erlassen und geschützt wird. Das ist der Grund dafür, dass es zwar viele hervorragende Studien zur Geschichte der Versammlungsfreiheit, beispielsweise in den USA , gibt, diese uns aber nicht unbedingt Einblicke in transnationale Bündnisformen oder globale Netzwerke geben, wie sie etwa für die Occupy-Bewegung typisch sind. Wenn wir die Analyse der Versammlungsfreiheit nur auf eine bestimmte Landesgeschichte dieses Rechts beschränken, implizieren wir damit möglicherweise unwissentlich, dass das Recht nur insofern gilt, als es vom Staat zugelassen und geschützt wird. Die Wirksamkeit des Rechts wäre dann vom Fortbestehen des betreffenden Nationalstaates abhängig. Das erweist sich freilich als falsch, wenn der Nationalstaat mit der »Versammlungsfreiheit« genau das Recht schützt, das, wenn es kollektiv ausgeübt würde, den Staat selbst zu Fall bringen könnte. Ich nehme an, dass Arendt und andere dies meinen, wenn sie in der Versammlungsfreiheit eine Wiederholung des Rechts auf Revolution sehen.3 Und dennoch  : Selbst wenn ein bestimmtes Regime ein solches Recht beinhaltet oder schützt, muss die Versammlungsfreiheit meines Erachtens jeder Regierungsform, die das Recht darauf erlässt und schützt, voraus- und über sie hinausgehen. Ich sage dies nicht, um einer permanenten Anarchie das Wort zu reden, und schon gar nicht, um irgendwelche Formen der Pöbelherrschaft zu entschuldigen  ; ich bin lediglich der Auffassung, dass die Versammlungsfreiheit durchaus eine Grundvoraussetzung von Politik selbst sein kann, einer Politik die davon ausgeht, dass Körper sich in nicht regulierter Weise bewegen und versammeln können, indem sie ihre politischen Forderungen in einem Raum 208

inszenieren, der dadurch öffentlich wird oder ein bestehendes Verständnis des Öffentlichen neu definiert. Man kann so eine Versammlung »das Volk« nennen, oder sie kann eine Version des »Volkes« sein – es spricht nicht mit einer Stimme, ja nicht einmal dieselbe Sprache. Aber es handelt sich um Wesen mit der Fähigkeit, sich mittels der dazu nötigen technischen und infrastrukturellen Hilfsmittel zu bewegen (dies ist eine wichtige Erkenntnis aus den Disability Studies, aus der sich konkrete Implikationen für das Nachdenken über die öffentliche Versammlung ergeben). Und das bedeutet, dass sie sich dazu entschließen können, stillzustehen, sich nicht zu bewegen, ja sogar in ihren Wünschen und Forderungen unbeweglich zu werden. Das Vermögen, sich zu bewegen oder reglos zu sein, zu sprechen und zu handeln, eignet der Versammlung vor allen Rechten, die eine bestimmte Regierung zu erlassen oder zu schützen beschließt, und geht über diese hinaus. Das Zusammenkommen der Menge hat, wie John Inazu erklärt, »eine expressive Funktion«, die jeder besonderen Forderung oder Äußerung, die sie möglichweise vorbringt, vorausgeht.4 Die Macht der Regierung kann durchaus zu dem werden, gegen das sich die Versammlungsfreiheit richtet, und in diesem Moment sehen wir das Wirken einer Form der Volkssouveränität, die von der staatlichen Souveränität verschieden ist und deren Aufgabe es ist, sich von dieser zu unterscheiden. Was ist nun also von der Versammlungsfreiheit und der Volkssouveränität zu halten  ? Ich weiß, dass es Leute gibt, die »Souveränität« für einen schlechten Begriff halten, weil er Politik mit einem einzelnen Subjekt und einer Form der Exekutivgewalt mit territorialen Ansprüchen assoziiert. Manchmal wird er gleichbedeutend mit Beherrschung verwendet und manchmal mit 209

Unterordnung. Möglichweise hat er aber auch noch andere Konnotationen, die wir nicht völlig aufgeben wollen. Man muss dazu nur an die Debatten über die Souveränität der Ureinwohner / ​innen in Kanada denken oder die wichtigen Arbeiten von J. Kēhaulani Kauanui über die Paradoxien der hawaiischen Souveränität lesen, um zu verstehen, wie wichtig dieser Begriff für Volksbewegungen sein kann.5 Souveränität kann eine Art der Beschreibung von Akten der politischen Selbstbestimmung sein, weshalb Bewegungen indigener Völker, die für ihre Souveränität kämpfen, zu wichtigen Möglichkeiten geworden sind, den Anspruch auf Raum geltend zu machen sowie darauf, sich frei bewegen zu können, seine Meinung zu äußern und Entschädigung und Gerechtigkeit einzufordern. Eigentlich sollen gewählte Regierungsvertreter / ​innen die Volkssouveränität (oder, genauer gesagt, den »Willen des Volkes«) repräsentieren, doch die Bedeutung der Volkssouveränität wird im Akt des Wählens nie völlig ausgeschöpft. Wahlen sind natürlich essenziell für jeden Begriff von Volkssouveränität, aber die Ausübung der Souveränität beginnt weder mit dem Wahlakt noch endet sie mit ihm. Demokratietheoretiker / ​innen erklären schon seit langem, dass Wahlen die Souveränität nicht vollständig vom Volk auf dessen gewählte Vertreter / ​innen übertragen – ein Teil der Volkssouveränität bleibt stets unübertragbar und markiert die Außenseite des Wahlverfahrens. Wäre es nicht so, dann gäbe es für das Volk keine Möglichkeit, gegen manipulierte Wahlen zu protestieren. Die Macht des Volkes bleibt in gewissem Sinne auch nach der Wahl von der Macht der Gewählten getrennt, denn nur so, in dieser Getrenntheit, kann das Volk die Bedingungen und Ergebnisse der Wahl ebenso wie die Handlungen der Gewählten weiter anfechten. 210

Würde die Souveränität des Volkes vollständig auf die von der Mehrheit gewählten Vertreter / ​innen übertragen und von diesen übernommen, so gingen die Kräfte verloren, die wir kritisch nennen, die Akte, die wir Widerstand nennen, und die gelebte Möglichkeit, die wir Revolution nennen. Die »Volkssouveränität« wird also durchaus in elektorale Macht übersetzt, wenn das Volk wählt, doch diese Übersetzung ist nie vollständig oder adäquat. Ein Teil der Volkssouveränität bleibt unübersetzbar, nicht übertragbar, ja sogar unsubstituierbar, daher kann sie Regime sowohl wählen als auch auflösen. So sehr die Volkssouveränität parlamentarische Formen der Macht legitimiert, so sehr behält sie auch die Macht, ihre Unterstützung genau diesen Formen wieder zu entziehen, wenn sie sich als illegitim erweisen. Parlamentarische Machtformen brauchen zu ihrer Legitimität die Volkssouveränität, aber sie fürchten sie auch, denn ihr eignet etwas, das jeder parlamentarischen Form, die sie ja einsetzt und begründet, entgegenläuft, das sie übersteigt oder übertrifft. Ein gewähltes Regime kann von einer öffentlichen Versammlung zum Stillstand gebracht oder bezwungen werden, die »im Namen des Volkes« spricht und damit jenes »Wir« inszeniert, das unter demokratischen Herrschaftsbedingungen die entscheidende Legitimationsinstanz ist. Mit anderen Worten  : Die Bedingungen demokratischer Herrschaft beruhen letztlich auf einer Anwendung der Volkssouveränität, die in keiner demokratischen Ordnung je vollständig enthalten ist oder zum Ausdruck kommt, die aber die Voraussetzung ihres demokratischen Charakters ist. Es handelt sich um eine außerparlamentarische Macht, ohne die kein Parlament rechtmäßig arbeiten könnte und die jedes Parlament mit Dysfunktion oder gar Auf211

lösung bedroht. Wir könnten wieder von einem »anarchistischen« Intervall oder einem permanenten Prinzip der Revolution sprechen, das demokratischen Ordnungen innewohnt und das sich mehr oder weniger sowohl in Momenten der Gründung als auch in denen der Auflösung zeigt, aber auch in der Versammlungsfreiheit selbst wirksam ist. Inszenierungen [enactments] lassen sich nach meiner Auffassung nicht vollständig auf Behauptungen [assertions] reduzieren  ; diese sind vielmehr nur eine Form der politischen Inszenierung, weshalb die Sphäre der politischen Performativität gesprochene und geschriebene Äußerungen sowohl beinhaltet als auch überschreitet. In diesem Sinne möchte ich mich auf Jason Franks wichtigen Begriff der »konstituierenden Momente« stützen, in denen die Inszenierung des Volkes über dessen Repräsentation hinausgeht  ; nach Franks Ansicht muss das Volk inszeniert werden, um repräsentiert werden zu können, gleichwohl es keiner Inszenierung gelingen kann, es zu repräsentieren.6 Die Dissonanz zwischen Inszenierung und Repräsentation erweist sich für ihn als Kernparadox demokratischer Versammlungen. Solange der Staat die Bedingungen der Versammlungsfreiheit kontrolliert, wird die Volkssouveränität zu einem Instrument der Staatssouveränität, und die Legitimationsbedingungen des Staates gehen in dem Moment verloren, in dem die Versammlungsfreiheit ihrer kritischen und demokratischen Funktionen beraubt wird. Ich möchte noch etwas hinzufügen  : Wenn wir annehmen, dass die Souveränität des Volkes von der des Staates abhängt, und meinen, dass der souveräne Staat kraft seiner Macht, eine Ausnahme zu machen, die Kontrolle darüber behält, welcher Teil der Bevölkerung durch das Recht geschützt wird und welcher 212

nicht, dann reduzieren wir, wenn auch vielleicht unbeabsichtigt, die Macht der Volkssouveränität auf das nackte Leben beziehungsweise auf eine Form des Anarchismus, die einen Bruch mit der Staatssouveränität voraussetzt. Wenn aber dieser Bruch der Volkssouveränität schon innewohnt oder die Volkssouveränität dieser Bruch ist, dann verhüllt und verschiebt die Reduktion der Volkssouveränität auf die Staatssouveränität dieses ihr wichtigstes Potenzial, das zahlreiche um Selbstbestimmung kämpfende Volksbewegungen als ihren höchsten organisatorischen Wert bestätigen. Die Berufung auf das Volk wird – notwendigerweise – in dem Moment anfechtbar, in dem es erscheint. »Erscheinen« kann die sichtbare Präsenz und das gesprochene Wort bezeichnen, aber auch vernetzte Repräsentationen oder Stille. Des Weiteren müssen wir in der Lage sein, uns solche Akte als ein plurales Handeln vorzustellen, das eine Pluralität von Körpern voraussetzt, die ihre konvergierende Absicht in einer Form inszenieren, die keine strikte Konformität mit einer einzigen Handlungsweise oder einer einzelnen Forderung verlangt, und die nicht zusammen ein einzelnes Subjekt bilden. Auch wenn diese Punkte hinreichend deutlich zu sein scheinen, steht eine schwierige Frage immer noch im Raum  : Wer ist »das Volk«  ? Haben wir uns diese Frage schon gestellt  ? Mir ist bewusst, dass das Thema von Jacques Derrida, Bonnie Honig, Étienne Balibar, Ernesto Laclau und Jacques Rancière bereits ausführlich diskutiert worden ist, und ich behaupte nicht, diesen Debatten zum gegenwärtigen Zeitpunkt etwas Neues hinzuzufügen. Allerdings wird von allen Genannten akzeptiert, dass die Bezeichnung des »Volkes« immer auf dem Wege einer Grenzziehung geschieht, die Bedingungen der Inklusion beziehungsweise der Exklu213

sion aufstellt. Das ist einer der Gründe, warum Demokratietheoretiker / ​innen sich stets bemüht haben, den zeitgebundenen und ergebnisoffenen Charakter des Begriffs »Volk« zu unterstreichen, oft verbunden mit dem Versuch, eine Überprüfung der Exklusionslogik einzubauen, die jeden Bezeichnungsprozess begleitet. Auch vom imaginären Charakter des »Volkes« haben wir schon gehört, womit gemeint ist, dass jede Verwendung dieses Begriffs mit einem gewissen Risiko des Nationalismus oder Utopismus behaftet ist oder aus dem »Volk« einen unentbehrlichen leeren Signifikanten macht.7 Für den Moment möchte ich nur hervorheben, dass wir uns nicht einfach auf einen Schnappschuss verlassen können, um die Anzahl der Körper zu bestimmen, die das Volk ausmachen. Wir können uns nicht einfach auf Luftbilder berufen, die die Polizei im Zuge ihrer Aufgabe, die Massen auf den Straßen in den Griff zu bekommen, aufgenommen hat, um herauszufinden, was das Volk will oder ob es das wirklich will. Ein solches Vorgehen würde sich in paradoxer Weise auf eine Technologie stützen, die dazu gedacht ist, Bevölkerungsgruppen zu kontrollieren, und würde »das Volk« zu einem Ergebnis demografischer Kriminalistik machen. Jedes Foto und jede Bildserie hätte zweifellos einen oder mehrere Rahmen, und diese Rahmen fungierten als potenzielle Ausschlusskennzeichnung, die das einschließt, was sie erfasst, indem sie eine Zone des Unerfassbaren schafft. Gleiches gilt für jedes Video, welches irgendwann anfängt und irgendwann aufhört und dadurch eine Sequenz erzeugt. Es wäre immer durch die Perspektive eingeschränkt, mit der sein Objekt selektiv gestaltet und übermittelt wird. Ein Grund, warum die Frage der visuellen Repräsentation wichtig ist, liegt darin, dass kein Bild der Menge 214

das Volk repräsentieren kann, wenn nicht alle Menschen die Fähigkeit haben, sich auf der Straße – oder jedenfalls auf derselben Straße – zu versammeln. Heran- und Herauszoomen nützt uns in diesem Fall nichts, weil diese Techniken gerade dazu dienen, zu redigieren und zu selektieren, was oder wer zählt, das heißt  : Wir können die Frage, wer das Volk ist, nicht von den technischen Möglichkeiten trennen, die festlegen, welche Menschen als das Volk zählen. Möglicherweise ist »das Volk« die Bezeichnung, die jeden visuellen Rahmen übersteigt, der das Volk zu erfassen sucht, und die demokratischeren Rahmen sind diejenigen, die imstande sind, ihren porösen Charakter zu inszenieren, die nicht unmittelbar die Strategie der Begrenzung reproduzieren und wo sich der Rahmen teilweise selbst zerstört. Manchmal ist das Volk oder sind Teile des Volkes eingeengt, abwesend oder außerhalb des Blickfeldes der Straße und der Kamera – sie sind die Unerfassbaren, auch wenn sie durchaus in einem anderen Sinne erfasst werden können. Es kommt praktisch nie vor, dass wirklich alle Menschen, die durch den Begriff »das Volk« repräsentiert werden, am selben Ort und zur selben Zeit auftauchen, um für sich in Anspruch zu nehmen, das Volk zu sein  ! Als ob sich alle frei bewegen könnten, als ob sie alle aus freien Stücken gemeinsam irgendwo und irgendwann eintreffen könnten und sich dieser Ort in irgendeiner allumfassenden Weise beschreiben oder fotografieren ließe  ! Es wäre ja auch seltsam, wenn nicht gar grauenvoll, sich vorzustellen, dass alle Mitglieder der »das Volk« genannten Gruppe zusammenkämen und unisono sprechen würden – das wäre eine Fantasievorstellung beziehungsweise potenzielle Verfolgungsfantasie, deren Verführungskraft mit ihrer grundsätzlichen Unreali215

sierbarkeit verknüpft ist. Normalerweise verbinden wir Ereignisse, bei denen alle das Gleiche sagen, mit dem Faschismus oder anderen Formen aufgezwungener Konformität. Tatsächlich fehlt in der Äußerung, dem Sprechchor oder der geschriebenen Zeile »Wir, das Volk« immer irgendeine Gruppe, die der Satz zu repräsentieren behauptet. Manche kommen einfach nicht oder werden am Kommen gehindert  ; viele leben an den Rändern der Metropolen  ; manche sammeln sich in Flüchtlingslagern an den Grenzen und warten auf Dokumente, Weiterleitung oder Schutz  ; wieder andere sind im Gefängnis oder werden in Lagern festgehalten. Diejenigen, die sich an anderen Orten befinden, können, wenn sie die Möglichkeit haben, etwas anderes sagen, sie können SMS oder Blogs schreiben oder durch neue Medien wirken  ; manche sprechen – ganz bewusst oder weil es ihnen gleichgültig ist – überhaupt nicht. Das bedeutet, »das Volk« tritt nie wirklich als eine kollektive Präsenz auf, die als verbaler Chor spricht  ; wer es auch sein mag – es ist nicht homogen, die Menschen, aus denen es besteht, treten differenziell, sequenziell, gar nicht oder graduell in Erscheinung, wahrscheinlich sind sie in gewissem Maße auch sowohl versammelt als auch verstreut und somit letztlich keine Einheit.8 Dem entspricht, was wir bei den Demonstrationen im Sommer 2013 in der Türkei und in Ägypten beobachten konnten  : Eine Gruppe versammelt sich an einer Stelle und macht für sich geltend, das Volk zu sein, und gegenüber versammelt sich eine andere Gruppe und behauptet dasselbe, oder die Regierung versammelt Menschen, um genau das Bild zu erzeugen, das als visueller Signifikant für »das Volk« wirkt. Jeder Zugang zu einem öffentlichen Platz setzt den Zugang zu einem Medium voraus, das die Ereignisse 216

außerhalb dieses Ortes und dieser Zeit überträgt  ; der öffentliche Platz ist mittlerweile teilweise als Medienwirkung etabliert, aber auch als Teil des Kundgebungsapparates, mittels dessen eine Gruppe von Menschen behauptet, das Volk zu sein  ; die Verbindung des öffentlichen Platzes mit den Medien, die das Ereignis verbreiten, bedeutet, dass die Menschen sich in dem Moment zerstreuen, in dem sie sich versammeln  : Das mediale Bild zeigt und zerstreut die Versammlung. Daraus folgt die Notwendigkeit, den öffentlichen Platz radikal neu als etwas zu denken, das durch die mediale Darstellung immer schon zerstreut ist, ohne die er seinen repräsentativen Anspruch verlöre. Weiter bedeutet es, dass man nicht genau weiß und wissen kann, wer das Volk eigentlich ist, und dies nicht nur, weil der mediale Rahmen die von ihm übermittelte Idee des Volkes begrenzt und verformt. Was man jedoch weiß, ist, dass die Menschen, wer sie auch sein mögen, kommen und nicht kommen, zahlreichen bewegungs- und versammlungsmäßigen Einschränkungen unterliegen und uneins darüber sind, wer sie sind. Sich zusammen zu zeigen heißt nicht, dass jeder mit allem, was im Namen der Versammlung gesagt wird, einverstanden ist, ja noch nicht einmal, dass die Versammlung einen Namen hat. Der Streit um den Namen wird zum hegemonialen Kampf, und »das Volk« scheint ein anderer Name für diesen Streit zu sein. Was folgt nun daraus  ? Ein Volk muss nicht in jeder Frage einig sein – und kann es auch gar nicht. Zudem müssen nicht alle an einem einzigen Ort versammelt sein, damit die konzertierte Aktion im Namen des Volkes stattfinden kann. Die Bezeichnung »das Volk« und sogar die Erklärung »Wir, das Volk« erfassen nicht ganz, was das Volk tut, denn es gibt immer noch etwas anderes als die Gruppe, die sich jeweils gebildet hat, er217

schienen ist und auszusprechen scheint, was das ganze Volk will, und zwar genau deshalb, weil zwischen dem, was im Namen des Volkes geschieht, und dem, was das Volk will, eine Lücke herrscht. Nicht alle Menschen wollen das Gleiche oder wollen es auf die gleiche Weise – dieses Scheitern muss nicht beklagt werden. Der Name des Volkes wird vereinnahmt, angefochten und erneuert, ständig droht er, enteignet oder verworfen zu werden, und die Brüchigkeit und Heftigkeit, die den hegemonialen Kampf um den Namen kennzeichnen, sind nichts als Anzeichen seines demokratischen Wirkens. Selbst wenn ein Redner, eine Rednerin oder eine ganze Reihe von Redner / ​innen sich auf ein »Wir« beruft, das ganz und gar alle Menschen repräsentiert, kann daher der Plural »Wir« nicht wirklich leisten, was er dennoch leistet  ; gewiss können solche Redner / ​innen weiterhin noch mehr Inklusion anstreben und den richtungsweisenden Charakter des »Wir« betonen  ; wenn es jedoch politisch wirksam sein soll, muss es auf diejenigen beschränkt werden, die versuchen, durch die Berufung auf das »Wir« hegemoniale Macht zu erlangen und auszuüben. Die Menschen, die sich als »Wir« versammeln und als »das Volk« präsentieren, repräsentieren das Volk letztlich nicht vollständig und angemessen  ; sie erfüllen vielmehr mehrere Funktionen auf einmal  : Wenn sie zum Beispiel wählen können, schaffen sie die Legitimationsgrundlage für die gewählten Vertreter / ​innen des Volkes. Ebenso wichtig ist aber vielleicht, dass der Anspruch der Repräsentativität gewählter Funktionär / ​innen die Kondensation des Volkes zu einer Menge von Stimmen verlangt, die als Mehrheit gezählt werden können. So gesehen wird das Volk in dem Moment, in dem es seine Repräsentant / ​innen wählt, verkürzt und geht beinahe verloren  ; in diesem Sinne verkürzt 218

und quantifiziert die politische Repräsentation etwas, das wir als den Willen des Volkes bezeichnen könnten. Zugleich ist aber auch etwas am Werk, das nichts mit Wahlen zu tun hat. Die Menschen, die – bei der Wahl, außerhalb von ihr oder gegen sie – »Wir« sagen, konstituieren sich im Verlauf der Inszenierung oder Vokalisierung dieses Pluralpronomens entweder wörtlich oder im übertragenen Sinne als Volk. Im Angesicht der Polizei zusammenzustehen kann genau so eine Inszenierung dieses Pronomens sein, ohne dass dabei auch nur ein Wort fällt. Als die türkische Regierung im Sommer 2013 Versammlungen auf dem Taksim-Platz verbot, stellte sich ein Mann einzeln unter den Augen der Polizei einfach dorthin, er »befolgte« also eindeutig das Versammlungsverbot. Während er so dastand, taten andere es ihm sukzessive gleich  ; viele Individuen standen »allein« in seiner Nähe, aber eben nicht als »Menge«. Sie standen dort als Einzelne, aber als solche standen alle dort, stumm und reglos  ; sie unterliefen so die gewöhnliche Vorstellung einer »Versammlung«, setzten jedoch gleichzeitig eine andere an ihre Stelle. Indem sie einzeln dastanden und nichts sagten, hielten sie sich im Prinzip streng an das Gesetz, das Versammlungen und Bewegungen von Gruppen untersagte. Das Ganze wurde zu einer ebenso deutlichen wie wortlosen Demonstration.9 Diese Akte der Selbstgestaltung oder Selbstkonstitution sind nicht dasselbe wie die Repräsentation eines Volkes, das sich bereits vollständig gebildet hat. Der Begriff »das Volk« steht nicht für eine präexistierende Ansammlung von Menschen  ; täte er es, so läge er zeitlich hinter der Herstellung der Kollektivität selbst. Der Begriff kann eine im Entstehen oder im Prozess 219

der Selbstgestaltung befindliche Kollektivität nie adäquat repräsentieren – seine Unzulänglichkeit und seine Selbstteilung sind Bestandteile seiner inszenierten Bedeutung, seines inszenierten Versprechens. Die diskursive Berufung auf das »Wir« bezieht sich folglich auf ein Volk, dessen Bedürfnisse, Begehren und Forderungen noch nicht vollständig bekannt sind, und dessen Zusammenkunft mit einer Zukunft verknüpft ist, die erst noch gelebt werden muss. Derartige Praktiken der Selbstbestimmung sind nicht ganz dasselbe wie Akte der Selbstrepräsentation, und doch sind beide bei der Ausübung der Versammlungsfreiheit aktiv, wenn »Wir, das Volk« in irgendeiner Weise ausgesprochen oder inszeniert wird. Die Inszenierung ist insofern performativ, als sie das von ihr benannte Volk ins Leben ruft oder dazu aufruft, sich im Namen der Äußerung zu versammeln. Und dies bedeutet, dass performative Handlungen wie diese Teil des Prozesses sind, den wir politische Selbstbestimmung nennen, Bezeichnungen dessen, wer wir sind, die zugleich auch damit befasst sind, ebendieses »Wir« herzustellen. Außerdem trennt die Berufung auf das »Wir« die Volkssouveränität von der staatlichen Souveränität  ; sie benennt und inauguriert diese Trennung immer und immer wieder. Die Pluralität bricht immer mit denen, die gewählt wurden oder deren Wahl uns fragwürdig erscheint  ; sie bricht auch mit einem Staat, dessen Repräsentant / ​innen wir nie wählen konnten, wie es eindeutig bei einer Besatzung der Fall ist und auch für Menschen ohne Papiere, mit eingeschränkten Bürgerrechten oder Nichtbürger / innen gilt. Etwas, das als Repräsentation scheitern muss und das wir, beinahe tautologisch, als nichtrepräsentational und nichtrepräsentativ bezeichnen können, wird also zur Grundlage demokratischer Formen politischer Selbst220

bestimmung – eine von der Staatsouveränität verschiedene oder, präziser, eine sich intermittierend von der Staatsouveränität unterscheidende Volkssouveränität. Nur in diesem fortwährenden Trennungsakt von der Staatssouveränität ergibt die Volkssouveränität einen Sinn  ; sie ist mithin ein Weg der Bildung eines Volkes durch Akte der Selbstbezeichnung und Selbstversammlung  ; dabei handelt es sich um wiederholte Inszenierungen, die verbal und nonverbal, leiblich und virtuell, über unterschiedliche Raum- und Zeitzonen hinweg, auf verschiedenen Arten von öffentlichen Bühnen, virtuellen Realitäten und Schattenregionen vorgenommen werden. Das ausgesprochene Performativ »Wir, das Volk« ist sicher ein Bestandteil der Inszenierung, die wir Selbstkonstitution nennen, man darf diese Figur aber nicht für eine buchstäbliche Darstellung der Wirkungsweise politischer Selbstbestimmung halten. Nicht jeder Akt der politischen Selbstbestimmung lässt sich in diese verbale Äußerung übersetzen – ein solcher Schritt würde das Verbale gegenüber den anderen Bereichen zu stark herausheben. Tatsächlich ist die Inszenierung politischer Selbstbestimmung notwendigerweise eine Kreuzung aus Sprachlichem und Leiblichem, auch wenn die Handlung stumm und der Körper isoliert ist. Wie sollen wir beispielsweise einen Hungerstreik verstehen, wenn nicht als praktizierte Verweigerung eines Körpers, der nicht in der Öffentlichkeit erscheinen kann  ?10 Das heißt, dass das öffentliche Erscheinen in körperlicher Form keine adäquate Figur für die politische Selbstbestimmung ist. Gleichzeitig kann ein Hungerstreik, über den im öffentlichen Raum nicht berichtet und der dort nicht repräsentiert wird, die Kraft des Aktes selbst nicht transportieren. Gefangenennetz221

werke sind genau die Formen der Solidarität, die nicht körperlich in der Öffentlichkeit erscheinen (können) und die vorwiegend von digitalen Medienberichten mit wenigen bis gar keinen Bildern abhängig sind. Solche Netzwerke aus Gefangenen, Aktivist / ​innen, Anwält / ​ innen und erweiterten Verwandtschafts- und Sozialbeziehungen, ob in der Türkei, in palästinensischen Gefängnissen und Internierungslagern oder im kalifornischen Staatsgefängnis Pelican Bay, sind ebenfalls »Versammlungen«, in denen Menschen mit ausgesetzter Staatsbürgerschaft mittels Streiks, Petitionen sowie Formen der legalen und politischen Repräsentation eine Art von Freiheit ausüben. Auch wenn sie nicht erscheinen (dürfen), nehmen sie ein gewisses Recht wahr, öffentlich zu erscheinen, entweder vor dem Gesetz oder im öffentlichen Raum, und wenden sich damit genau gegen das Verbot, öffentlich zu erscheinen, das die Bedingung ihrer Haft ist. Lassen Sie uns vor diesem Hintergrund noch einmal rekapitulieren, was dies alles für eine Neubetrachtung der Versammlungsfreiheit in Bezug auf die Volkssouveränität bedeutet und eben auch nicht bedeutet  : (1) Die Volkssouveränität ist eine Form der reflexiven Selbstgestaltung, die von dem repräsentativen Regime zu trennen ist, welches durch sie legitimiert wird  ; (2) sie entsteht im Verlauf ebendieser Trennung  ; (3) sie kann kein Regime legitimieren, ohne von diesem getrennt, das heißt teilweise außerhalb von dessen Kontrolle zu sein und nicht von ihm instrumentalisiert zu werden, und ist dennoch die Grundlage, auf der sich eine rechtmäßige Regierung durch faire und inklusive Wahlen bildet  ; (4) ihr Akt der Selbstgestaltung ist in Wahrheit eine ganze Serie räumlich verteilter Akte, die nicht immer auf dieselbe Weise und auf denselben Zweck hin 222

wirken. Zu den wichtigsten dieser räumlichen Unterscheidungen gehört die zwischen der öffentlichen Sphäre und den Sphären des Freiheitsentzugs, einschließlich des Gefängnisses, in dem politische Gefangene – Menschen, die von der Versammlungs- und Meinungsfreiheit Gebrauch gemacht haben – festgehalten und unterjocht werden. Der Weg in die öffentliche Sphäre und aus ihr heraus wird gerade durch Gesetzesmacht, Polizeigewalt und die Institution des Gefängnisses reguliert. (5) Außerdem kann die Inszenierung von »Wir, das Volk« sprachlich erfolgen oder nicht  ; Rede und Stille, Bewegung und Reglosigkeit sind allesamt politische Inszenierungen  ; der Hungerstreik ist genau das Gegenteil des gutgenährten Körpers, der frei in der Öffentlichkeit steht und redet – er markiert und wehrt sich gegen den Entzug dieses Rechts und er inszeniert und offenbart den Entzug, dem Gefängnisinsass / ​innen unterworfen sind. Die Berufung auf das Volk wird im Moment seines Erscheinens anfechtbar – und muss es auch werden. »Erscheinen« kann eine sichtbare Präsenz bedeuten, gesprochene Worte, aber auch eine vernetzte Repräsentation oder konzertierte Aktionen der Stille. Eine differenzielle Form der Macht, die sowohl räumliche als auch zeitliche Formen annimmt, legt fest, wer Teil einer solchen Inszenierung sein darf und welche Mittel und Methoden dabei eingesetzt werden. Inhaftiert zu sein heißt, von öffentlichen Versammlungen räumlich getrennt zu sein, hat aber auch eine zeitliche Dimension  : die Dauer der Strafe beziehungsweise die Ungewissheit einer unbegrenzten Haftdauer. Da die öffentliche Sphäre in Teilen durch Orte der gewaltsamen Isolierung konstituiert wird, sind die Grenzen, welche die Öffentlichkeit definieren, dieselben, die auch die Einge223

sperrten, die Isolierten, die Inhaftierten, die Vertriebenen und die Verschwundenen definieren. Ob wir über die Grenzen des Nationalstaats sprechen, wo Menschen ohne Papiere in Flüchtlingslagern eingesperrt sind, wo Bürgerrechte verwehrt oder unbegrenzt ausgesetzt werden, oder über Gefängnisse, wo die unbegrenzte Haft zur Norm geworden ist – das Verbot, in der Öffentlichkeit zu erscheinen, sich zu bewegen und zu sprechen, wird zur Vorbedingung des verkörperten Lebens. Das Gefängnis ist nicht das genaue Gegenteil der öffentlichen Sphäre, weil Netzwerke für die Rechte von Gefangenen die Gefängnismauern durchdringen. Widerstandsformen von Häftlingen sind Formen der Inszenierung, die per definitionem eigentlich nicht Teil des öffentlichen Platzes sein können  ; durch Kommunikationsnetze und die Repräsentation durch Bevollmächtigte können sie es aber dennoch werden. Doch wie virtuell wir uns den öffentlichen Platz auch vorstellen mögen (wofür es viele gute Gründe gibt)  : Das Gefängnis bleibt doch der Grenzfall der öffentlichen Sphäre, der die Macht des Staates markiert, zu kontrollieren, wer in die Öffentlichkeit treten darf und wer aus ihr heraustreten muss. Das Gefängnis ist also der Grenzfall der öffentlichen Sphäre und die Versammlungsfreiheit wird von der Möglichkeit der Inhaftierung heimgesucht. Man kann für das, was man sagt, eingesperrt werden, oder einfach dafür, dass man sich versammelt. Oder man wird eingesperrt, weil man über Versammlungen oder Freiheitskämpfe schreibt oder lehrt, oder dafür, dass man Lehren über Volkskämpfe um Souveränität verbreitet und etwa an türkischen Universitäten über die kurdische Freiheitsbewegung spricht. Dies alles sind Gründe, warum die Menschen, die mit der Freiheit, zu erscheinen, ausgestattet sind, das 224

Volk nie vollständig oder angemessen repräsentieren können, denn es gibt, wie wir wissen, immer auch Menschen, die in der Öffentlichkeit, in der hier im Gezi-Park versammelten Öffentlichkeit, fehlen  ; das sind diejenigen, die eine Repräsentanz finden müssen, auch wenn der Versuch, sie zu repräsentieren, im Gefängnis enden kann. Und es ist nicht nur so, dass einige Menschen bei der Versammlung fehlen, weil sie gerade etwas anderes zu tun haben  ; vielmehr gibt es Menschen, die nicht oder nicht mehr zur Versammlung erscheinen können oder die auf unbestimmte Zeit daran gehindert werden. Diese Macht der Einschränkung ist ein Mittel, zu definieren, zu produzieren und zu kontrollieren, was die öffentliche Sphäre ist und wer zur öffentlichen Versammlung zugelassen wird. Zusammen mit Privatisierungen wirkt sie als Prozess, der darauf ausgerichtet ist, den öffentlichen Raum in das unternehmerische Feld des marktgesteuerten Staates zu überführen. Wenn wir uns also wundern, warum Demonstrationen gegen Privatisierungen durch Polizeikräfte, Tränengas und tätliche Angriffe aufgelöst und zerstreut werden, sollten wir uns daran erinnern, dass der Staat, der den öffentlichen Raum der Privatwirtschaft überlässt oder damit beginnt, Entscheidungen nach Marktgesichtspunkten zu treffen, in mindestens zwei Hinsichten in die Kontrolle und Schwächung des öffentlichen Raumes involviert ist. Manche beklagen, dass eine Bewegung, die als Opposition gegen die Privatisierung beginnt, zwangsläufig zu einer Bewegung wird, die sich gegen Polizeigewalt richtet. Wir sollten jedoch versuchen zu verstehen, dass das Entreißen des öffentlichen Raumes aus den Händen der Volkssouveränität genau das Ziel sowohl der Privatisierung wie auch polizeilicher Angriffe auf die Versammlungsfreiheit ist. Auch auf diesem Weg 225

arbeiten Markt und Gefängnis zusammen – in einer Gefängnisindustrie, die, wie Angela Davis deutlich gezeigt hat, auf eine Regulierung von Bürgerrechten hinwirkt  ; in den Vereinigten Staaten geschieht dies zudem unter unbestreitbar rassistischen Vorzeichen, da die überwältigende Mehrheit der Gefängnisinsassen nach wie vor von schwarzen Männern gebildet wird.11 Wir können hinzufügen, dass Markt und Gefängnis überdies auch zusammenarbeiten, um den öffentlichen Raum einzuengen, zu schwächen und zu vereinnahmen, und damit Hannah Arendts Idee des »Rechts, zu erscheinen« erheblich einschränken. Damit möchte ich nun zur theoretischen Frage der Versammlungsfreiheit zurückkehren, um auf einige politische Implikationen unseres Denkens hinzuweisen. Meine Untersuchung ging von folgenden Fragen aus  : In welchem Sinn ist Versammlungsfreiheit ein punktueller Ausdruck der Volkssouveränität  ? Und ist sie als performative Übung zu verstehen beziehungsweise als das, was Jason Frank »die kleinen Dramen der Selbstermächtigung« nennt  ?12 Ich habe zunächst die Ansicht geäußert, dass die performative Kraft des Volkes nicht in erster Linie auf Worten beruht. Das Konzept der Versammlung ergibt nur einen Sinn, wenn Menschen zusammenkommen oder sich in irgendeiner Weise verbinden können und dies auch tun  ; Sprechakte, die sich daraus entwickeln, artikulieren dann etwas, das auf der Ebene des pluralen Körpers bereits stattfindet. Aber vergessen wir nicht, dass die Lautsprache, wie die Gebärdensprache, ebenfalls ein körperlicher Akt ist, das heißt, es gibt kein Sprechen, ohne dass der Körper etwas andeutet, und manchmal deutet er etwas völlig anderes an als das, was jemand gerade sagt.

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In der Demokratietheorie stellt »We the people« dennoch in erster Linie einen Sprechakt dar. Jemand sagt gemeinsam mit anderen »wir« oder eine Gruppe sagt es zusammen, vielleicht als Sprechchor, oder sie schreibt es auf und schickt es in die Welt, oder es steht jeder für sich, vielleicht steht man auch zeitweilig zusammen, reglos und wortlos, und inszeniert und vollführt die Versammlung. Mit dem »Wir« wollen sich die Teilnehmenden in dem Moment, in dem es ausgesprochen wird, als »das Volk« konstituieren. Als Sprechakt ist »We the people« also eine Äußerung in der Absicht, die soziale Pluralität herbeizuführen, die sie benennt. Sie beschreibt diese Pluralität nicht, sondern führt die Gruppe erst durch den Sprechakt zusammen. In dem Ausdruck »We the people« scheint mithin eine sprachliche Form von Autogenese am Werk zu sein  ; er scheint eine Art magische Handlung zu sein oder zumindest eine, die uns an die magische Natur des Performativs zu glauben zwingt. Natürlich bildet die Aussage »We the people« den Anfang einer längeren Deklaration von Wünschen und Begehren, Handlungsabsichten und politischen Forderungen. Sie ist eine Präambel  ; sie bereitet den Weg für eine spezifische Reihe von Behauptungen. Sie ist ein Ausdruck, der uns auf eine substanzielle politische Forderung vorbereitet – doch hier sollten wir innehalten und uns fragen, ob nicht schon eine politische Forderung gestellt worden oder im Entstehen ist, bevor irgendjemand etwas sagt oder in der Gebärdensprache ausdrückt. Es ist wohl unmöglich, dass die Formel »We the people« wirklich von allen, die sie betrifft, unisono geäußert wird. Und wenn es geschieht, dass eine Gruppe gemeinsam »We the people« ruft, wie es bei Versammlungen der Occupy-Bewegung manchmal vorkommt, so ist dies ein kur227

zer und flüchtiger Augenblick  : Eine einzelne Person spricht zur gleichen Zeit wie andere und aus der konzertierten Aktion, aus dem gemeinsam, nacheinander und mit allen für Wiederholungen typischen Variationen geäußerten Sprechakt resultiert ein unbeabsichtigter pluraler Klang. Aber wir wollen zugeben, dass ein solcher Augenblick, in dem wirklich alle gleichzeitig sprechen und sich unisono als »das Volk« bezeichnen, in dieser Form – simultan und plural – kaum vorkommt. Schließlich ist die Erklärung »We the people« in den USA auch ein Zitat und kann sich von dieser Zitathaftigkeit nie ganz frei machen. Auch die amerikanische Unabhängigkeitserklärung beginnt mit Worten, die ihre Verfasser bevollmächtigen, für das Volk im Allgemeinen zu sprechen. Es sind Worte, die politische Autorität begründen und zugleich eine Form der Volkssouveränität verkünden, die an keine politische Einzelautorität gebunden ist. Derrida hat dazu wegweisende Analysen geliefert und Gleiches gilt für Bonnie Honig. Die Volkssouveränität kann sich selbst einsetzen (Zustimmung) oder sich selbst annullieren (Ablehnung oder Revolution), das heißt, jedes Regime ist auf ihre Einsetzung angewiesen, wenn seine Legitimität nicht nur auf Zwang beruhen soll. Doch wie punktuell der Sprechakt auch sein mag, er ist immer in eine zitathafte Kette eingereiht, das heißt, seine zeitlichen Bedingungen gehen dem kurzen Augenblick seiner Äußerung voraus und über ihn hinaus. Und der Sprechakt ist, unabhängig von seinem illokutionären Gehalt, noch aus einem anderen Grund nicht ausschließlich auf den Moment seiner Äußerung beschränkt  : Die soziale Pluralität, die er bezeichnet und erzeugt, kann sich nicht vollständig am selben Ort ver228

sammeln und zur selben Zeit sprechen, sie ist also ein räumlich wie zeitlich ausgedehntes Phänomen. Wenn und wo die Volkssouveränität – die selbstgesetzgebende Macht des Volkes – »erklärt« wird oder vielmehr »sich erklärt«, geschieht dies nicht bei einer einzigen Gelegenheit, sondern vielmehr in einer Reihe von Sprechakten beziehungsweise dem, was ich als performative Inszenierungen bezeichnen würde, die nicht allein auf die Sprache beschränkt sind. Meine Frage ließe sich also in etwa folgendermaßen formulieren  : Was sind die leiblichen Bedingungen der Äußerung »We the people«, und ist es ein Fehler, die Frage der freien Meinungsäußerung von der der Versammlungsfreiheit zu trennen  ? Ich schlage vor, die Versammlung von Körpern als performative Inszenierung zu begreifen, und sage damit nicht nur, (a) dass Volkssouveränität performativ geltend gemacht wird, sondern auch (b) dass sie notwendigerweise eine performative Inszenierung von Körpern einschließt, die manchmal am selben Ort versammelt sind und manchmal nicht. Als Erstes müssen wir uns meiner Ansicht nach klarmachen, welche Vorstellung von Volkssouveränität mit dem Ausspruch »We the people« erwirkt werden soll. Wenn das in der amerikanischen Verfassung als »We the people« bezeichnete Volk »eine Reihe von Wahrheiten für selbstevident erklärt«, was es in der Unabhängigkeitserklärung ganz offensichtlich tut, dann sind wir schon in der Zwickmühle  : Diese Wahrheiten sollen durch eine performative Erklärung herbeigeführt werden, wenn sie aber »selbstevident« sind, handelt es sich um genau die Art von Wahrheiten, die nicht erst herbeigeführt werden müssen. Sie werden entweder performativ induziert oder sie sind selbstevident, aber etwas 229

Selbstevidentes herbeizuführen scheint paradox. Wir können sagen, eine Reihe von Wahrheiten werde aufgestellt, oder wir können sagen, wir hätten diese Wahrheiten gefunden und hätten sie nicht aufgestellt. Wir können auch sagen, dass die Art von Wahrheiten, um die es hier geht, für selbstevident erklärt werden müssen, um ihre Selbstevidenz bekannt zu machen. Das hieße, sie müssen evident gemacht werden, was wiederum bedeutet, dass sie nicht selbstevident sind. Diese Zirkularität scheint in einen Widerspruch oder eine Tautologie zu münden, aber vielleicht werden die fraglichen Wahrheiten ja auch erst in der Art und Weise evident, in der sie erklärt werden. Will sagen  : Die performative Inszenierung der Wahrheit ist das Mittel, mit dem ebendiese Wahrheit evident gemacht wird, da sie nicht vorgegeben oder statisch ist, sondern erst durch eine bestimmte Form pluralen Handelns inszeniert oder geltend gemacht wird. Wenn bei der Behauptung der Volkssouveränität die Fähigkeit zum pluralen Handeln selbst auf dem Spiel steht, gibt es keine Möglichkeit, diese Wahrheit außerhalb der pluralen und zwangsläufig konflikthaften Inszenierung, die wir Selbstkonstitution nennen, zu »zeigen«. Wenn das plurale Subjekt erst im Verlauf seines performativen Handelns konstituiert wird, ist es davor noch nicht konstituiert  ; welche Form es vor seiner performativen Geltendmachung auch haben mag – sie unterscheidet sich von derjenigen, die es im Handeln und nachdem es gehandelt hat, annimmt. Wie ist nun also diese Bewegung des Versammelns zu verstehen, die eine Dauer hat und gelegentliche, periodische und maßgebliche Momente der Streuung beinhaltet  ? Sie ist keine einzelne Handlung, sondern ein Zusammenfließen verschiedener Aktionen, eine Form politischer Sozialität, 230

die sich nicht auf Konformität reduzieren lässt. Auch wenn eine Menge gemeinsam spricht, müssen die Beteiligten nah genug beieinanderstehen, um einander hören zu können, um ihre Sprechgeschwindigkeit aufeinander abzustimmen, um ein ausreichendes Maß an Rhythmus und Harmonie zu erreichen, und so in eine auditive wie körperliche Beziehung zu denjenigen zu treten, mit denen eine signifikante Aktion oder ein signifikanter Sprechakt vollzogen wird. Wir fangen jetzt an zu sprechen und hören jetzt auf. Wir setzen uns jetzt oder jedenfalls zu einem mehr oder weniger festgelegten Zeitpunkt in Bewegung, aber gewiss nicht als ein einzelner Organismus. Wir versuchen, gleichzeitig anzuhalten, doch einige bewegen sich weiter und andere gehen und pausieren in ihrem eigenen Tempo. Zeitliche Serialität und Koordination, körperliche Nähe, akustische Reichweite, aufeinander abgestimmte Stimmäußerung – dies alles sind wesentliche Dimensionen jeder Versammlung und Demonstration. Und sie alle werden von dem Sprechakt »We the people« vorausgesetzt  ; sie sind die komplexen Elemente des Anlasses seiner Äußerung, die nonverbalen Formen seiner Bedeutung. Wenn wir die Stimmgebung als Vorbild des Sprechakts betrachten, so wird der Körper als Sprachwerkzeug vorausgesetzt, sowohl als organische Bedingung als auch als Vehikel der Sprache. Der Körper verwandelt sich beim Sprechen nicht in reines Denken, sondern zeigt die organischen Bedingungen der Verbalisierung an  ; nach Shoshana Felman bedeutet das  : Der Sprechakt tut immer etwas mehr und etwas anderes als das, was er gerade sagt. Ebenso wie es keinen rein linguistischen, von seinen leiblichen Handlungen getrennten Sprechakt gibt, gibt es demnach auch kein rein be231

griffliches Moment des Denkens, das seine organische Voraussetzung beseitigt. Und dies verrät uns etwas über die Bedeutung der Worte »We the people«  : Diese bezeichnen nämlich, ob sie in einem Text geschrieben stehen oder auf der Straße ausgesprochen werden, eine Versammlung im Akt ihrer Bezeichnung und Formierung. Der Akt wirkt gleichzeitig auf sich selbst und es wird eine körperliche Bedingung der Pluralität angezeigt, unabhängig davon, ob diese nun beim Anlass der Äußerung erscheint oder nicht. Diese plurale und dynamische körperliche Bedingung ist eine konstitutive Dimension jenes Anlasses. Die Verkörpertheit des Volkes erweist sich als wichtig für die Art von Forderungen, die gestellt werden, denn vielfach werden körperliche Grundbedürfnisse aufgrund zerstörter Lebensumstände nicht erfüllt. Es mag uns theoretisch widerstreben, hier von »körperlichen Grundbedürfnissen« zu sprechen, so als beriefen wir uns auf eine gewisse ahistorische Vorstellung des Körpers, um moralische und politische Forderungen nach fairer Behandlung und gerechter Verteilung öffentlicher Güter zu stellen. Aber vielleicht wäre es noch weniger akzeptabel, wenn man sich aus Angst, in eine theoretische Sackgasse zu geraten, weigern würde, überhaupt über körperliche Bedürfnisse zu reden. Es geht nicht darum, die ahistorische oder historische Version des Körpers zu akzeptieren, denn selbst die Formulierung der historischen Konstruktion trägt Merkmale der Invarianz, und jeder allgemeine Begriff des Körpers entstammt ganz spezifischen Geschichtsformationen. Keine der beiden Seiten dieser Debatte weiß also, in welcher Beziehung sie zur jeweils anderen steht. Jedes einzelne körperliche Bedürfnis kann historisch auf die eine oder andere Weise artikuliert werden, und 232

es ist durchaus möglich, dass das sogenannte »Bedürfnis« nichts anderes ist als eine historische Artikulation der Dringlichkeit, die darum kein bloßer Effekt der Artikulation ist. Es gibt, mit anderen Worten, keine Möglichkeit, die Idee eines körperlichen Bedürfnisses von dem Repräsentationsschema zu trennen, das körperliche Bedürfnisse nur selektiv und allzu oft überhaupt nicht anerkennt. Dadurch werden körperliche Bedürfnisse nicht vollkommen ahistorisch, doch ebenso wenig werden sie zu reinen Effekten eines spezifisch historischen Diskurses. Zwischen Körper und Diskurs besteht, um es noch einmal zu sagen, ein chiasmisches Verhältnis, das heißt, der Körper muss repräsentiert werden und wird durch diese Repräsentation nie ganz erschöpft. Darüber hinaus durchdringen die differenziellen Arten seiner Repräsentation oder Nichtrepräsentation die Repräsentation von Bedürfnissen in Feldern der Macht. Wir können hier auch die Produktion von Bedürfnissen berücksichtigen, wie sie von Marx diskutiert und von Ágnes Heller theoretisch verstärkt worden ist,13 ohne zu behaupten, so etwas wie ein Bedürfnis gebe es nicht. Zweifellos könnten wir auch andere Worte wählen, wir könnten auch dem produktiven Charakter der Worte nachspüren, die wir zur Verstärkung der Phänomene verwenden, und dennoch würden wir über etwas sprechen, auch wenn es unmöglich ist, ohne die Sprache, die wir benutzen, zu diesem Etwas zu gelangen, und obwohl wir dieses Etwas durch unseren Sprachgebrauch unweigerlich umformen. Der Begriff der »Bedürfnisse« hätte somit die immer schon sprachlich geformte Bedeutung der Erforderlichkeit oder Dringlichkeit und könnte weder mit diesen noch mit irgendwelchen anderen Synonymen adäquat erfasst werden. 233

Ganz ähnlich ist auch der Verweis auf das »Organische« ebenso obligatorisch wie problematisch  : Das rein Organische ist ebenso wenig wiedererlangbar wie das, als nichtorganisch verstandene, rein Begriffliche. Beide Vorstellungen erscheinen als immer schon in irgendeiner Weise organisiert  ; sie gehören nicht zu einer bestimmten metaphysischen Substanz, sondern zu einem Bündel von Beziehungen, Gesten und Bewegungen, die den sozialen Sinn des »Organischen« ausmachen und sehr häufig dessen metaphysische Interpretationen regulieren. Welche anderen Arten körperlicher Handlungen und Nichthandlungen, Gesten, Bewegungen, Koordinations- und Organisationsmodi konstituieren nun also den nicht mehr ausschließlich als Stimmäußerung verstandenen Sprechakt  ? Laute sind nur eine Möglichkeit, gemeinsam etwas kundzutun – Gesänge, Sprechchöre, Erklärungen, das Schlagen auf Trommeln und Töpfe oder das Hämmern gegen Gefängnis- und Trennungsmauern. Inwiefern »sprechen« alle diese verschiedenen Akte in einer Weise, die einen anderen Sinn des Organischen und des Politischen anzeigt, der sich als die performative Inszenierung der Versammlung selbst verstehen ließe  ? Wenn Menschen, die sich in immer stärkerem Maße der Prekarität ausgesetzt sehen, auf die Straße gehen und ihre Forderungen mit den Worten »We the people« oder »Wir, das Volk« beginnen lassen, dann beanspruchen sie damit, dass sie – diejenigen, die dort erscheinen und sprechen – als »das Volk« identifiziert werden. Sie wehren sich dagegen, in Vergessenheit zu geraten. Die Worte implizieren weder, dass Profiteure nicht »das Volk« sind, noch ein schlichtes Gefühl der Inklusion im Sinne von  : »Auch wir sind das Volk«. Sie kön234

nen bedeuten  : »Wir sind immer noch das Volk« – und daher noch da, hartnäckig, noch nicht zerstört. Oder sie können eine Form der Gleichheit angesichts der zunehmenden Ungleichheit bekunden  ; die Teilnehmenden tun dies nicht nur einfach, indem sie die Worte äußern, sondern indem sie Gleichheit in jedem nur möglichen Maße verkörpern, indem sie eine Versammlung des Volkes auf der Grundlage der Gleichheit bilden. Man könnte sagen, dass hier Gleichheit inmitten der Ungleichheit experimentell und provisorisch geltend gemacht wird. Dagegen lässt sich kritisch einwenden, dass dies insofern vergeblich und zwecklos ist, als es sich um rein symbolische Taten handelt, die nichts daran ändern, dass wirkliche wirtschaftliche Gleichheit für Menschen mit astronomischen Schulden und wenig Aussicht auf Beschäftigung in immer weitere Ferne rückt. Und doch scheint die Verkörperung von Gleichheit in den Praktiken der Versammlung, das Beharren auf Interdependenz und einer gerechten Verteilung von Arbeitsaufgaben, die Idee einer gemeinsamen Grundlage (der »commons« oder Allmende) eine Version von Gleichheit in die Welt zu bringen, die an anderen Stellen rapide verschwindet. Es geht darum, den Körper nicht bloß als Instrument zur Aufstellung einer politischen Forderung zu betrachten, sondern diesen Körper beziehungsweise die Pluralität von Körpern zur Voraussetzung aller zukünftigen Forderungen zu machen. Tatsächlich stehen die Grundbedürfnisse des Körpers im Zentrum der straßenpolitischen Mobilisierungen, die uns in den letzten Jahren begleiten – die Occupy-Bewegung, die Frühphase der Proteste auf dem Tahrir-Platz, Puerta del Sol, Gezi-Park oder die Favela-Bewegung in Brasilien – die Bedürfnisse werden hier öffentlich inszeniert, noch bevor irgendeine politische 235

Forderung gestellt wird. Gegen die Kräfte der Privatisierung, die Zerstörung öffentlicher Dienste und den Sturz der Ideale des Gemeinwohls durch die Übernahme neoliberaler Formen der Rationalität in Regierungen wie im Alltag verlangen Körper nach Nahrung und Obdach, Schutz vor Verletzung und Gewalt und der Freiheit, sich bewegen, arbeiten und medizinische Versorgung in Anspruch nehmen zu können  ; Körper brauchen andere Körper zur Unterstützung und zum Überleben.14 Es ist natürlich von Belang, wie alt und wie gesund diese Körper sind, denn in allen Formen der Abhängigkeit brauchen Körper nicht nur eine andere Person, sondern komplexe soziale Unterstützungssysteme, die sowohl menschlich als auch technisch sind. Gerade in einer Welt, in der sich die Stützen des körperlichen Lebens für eine wachsende Zahl von Menschen als hochgradig prekär erweisen, treten die Körper gemeinsam heraus auf den Bürgersteig, in den Staub oder an die Mauer, die sie von ihrem Land trennt – diese Versammlung, zu der auch virtuelle Teilnehmer / ​innen gehören können, setzt immer noch eine Reihe miteinander verflochtener Orte für eine plurale Menge von Körpern voraus. Und auf diese Weise gehören die Körper zur Straße, zum Boden, zu der Architektur und Technologie, durch die sie leben, sich bewegen, arbeiten und begehren. Der Ansicht, dass aktive, auf der Straße versammelte Körper eine machtvolle und wogende Menge bilden, die an sich schon ein radikaldemokratisches Ereignis oder eine radikaldemokratische Aktion darstellt, kann ich nur teilweise zustimmen. Wenn Menschen sich von der etablierten Macht lösen, inszenieren sie den Willen des Volkes, aber um ganz sicher zu sein, müsste man wissen, wer sich löst und wo, und wer sich wo nicht löst. Es gibt schließlich alle möglichen Arten 236

von wogenden Mengen, die ich nicht gutheißen würde (auch wenn ich ihr Versammlungsrecht nicht in Abrede stelle), wie etwa Lynchmobs, antisemitische, rassistische oder faschistische Versammlungen und gewaltsame antiparlamentarische Massenbewegungen. Mir geht es nicht so sehr um die angebliche Vitalität wogender Mengen oder um irgendeine aufkeimende und viel versprechende Lebenskraft, die ihren kollektiven Aktionen innezuwohnen scheint, sondern vielmehr darum, mich einem Kampf anzuschließen, der angesichts einer systematisch herbeigeführten Prekarität und vielgestaltigen ethnischen Armut die Schaffung tragfähiger Bedingungen für ein lebbares Leben anstrebt. Das Endziel der Politik ist nicht einfach, gemeinsam voranzupreschen (obwohl dies innerhalb eines umfassenderen Kampfes gegen Prekarität einen wesentlichen Moment affektiver Intensität darstellen kann) und einen neuen gelebten Sinn des »Volkes« zu stiften  ; es gibt freilich auch Situationen, in denen es zum Zwecke des radikaldemokratischen Wandels – den ich befürworte – wichtig ist, in einer Weise voranzupreschen, die das Interesse der Welt für eine dauerhaftere Möglichkeit eines lebenswerten Lebens für alle fordert und verändert. Sich lebendig zu fühlen oder Lebendigkeit zu bejahen ist das eine, aber es ist etwas völlig anderes, wenn man sagt, dieses flüchtige Gefühl sei alles, was wir von der Politik erwarten könnten. Sich lebendig zu fühlen ist nicht ganz dasselbe, wie für eine Welt zu kämpfen, in der das Leben für diejenigen lebbar wird, die noch nicht als Lebewesen geschätzt werden. Ich verstehe zwar, dass es etwas geben muss, das eine solche Gruppe zusammenhält – irgendeine Forderung, ein tief empfundenes Gefühl der Ungerechtigkeit und Unlebbarkeit, eine gemeinsame Ahnung der Möglich237

keit des Wandels –, es gibt aber auch den Wunsch danach, auf der Stelle eine neue Form der Sozialität zu erzeugen. Diese Mobilisierungen stellen ihre Forderungen mittels Sprache, Aktionen, Gesten und Bewegungen  ; durch gegenseitiges Unterhaken  ; durch die Weigerung, sich zu bewegen  ; durch das Bilden körperlicher Blockaden gegen polizeiliche und staatliche Kräfte. Eine Bewegung kann, je nach ihrer Strategie und den militärischen und polizeilichen Bedrohungen, die sie fürchten muss, den Raum erhöhter Exponiertheit betreten oder verlassen. In jedem Fall lässt sich allerdings sagen, dass die beteiligten Körper gemeinsam Widerstandsnetzwerke bilden, wenn man bedenkt, dass Körper, die aktiv Widerstand leisten, auch fundamental der Unterstützung bedürfen. Die Verwundbarkeit wird im Widerstand nicht exakt in Handlungsfähigkeit umgewandelt – sie bleibt die Bedingung des Widerstands, eine Bedingung des Lebens, aus dem sie hervorgeht, die Bedingung, die – als Prekarität – bekämpft werden muss und bekämpft wird. Dies ist etwas anderes als Schwäche oder Viktimisierung, denn der Widerstand verlangt von den Gefährdeten, die aufgegebenen oder nicht unterstützten Dimensionen des Lebens zu exponieren, aber auch, jene Verwundbarkeit als bewusste und aktive Form des politischen Widerstands zu mobilisieren  ; er verlangt ein Aussetzen des Körpers gegenüber der Macht in der pluralen Aktion des Widerstands. Wäre der Körper in der politischen Sphäre per definitionem aktiv – stets sich selbst konstituierend, nie konstituiert –, müssten wir nicht für die Bedingungen kämpfen, die dem Körper die freie Aktivität im Namen sozialer und ökonomischer Gerechtigkeit erlauben. Dieser Kampf setzt voraus, dass Körper eingeschränkt 238

und einschränkbar sind. Die Bedingung der körperlichen Verwundbarkeit wird in jenen öffentlichen Versammlungen und Koalitionen ans Licht gebracht, die der beschleunigten Prekarisierung entgegenzuwirken versuchen. Von daher ist es umso dringender geboten, das Verhältnis zwischen Vulnerabilität und jenen Formen der Aktivität zu verstehen, die unser Überleben, unser Gedeihen und auch unseren politischen Widerstand kennzeichnen. Auch im Moment unseres aktiven Erscheinens auf der Straße sind wir ausgesetzt, anfällig für Verletzungen der einen oder anderen Art. Das legt nahe, dass es bewusste oder gewollte Mobilisierungen der Vulnerabilität gibt, die wir treffender als politische Exponiertheit bezeichnen könnten. Schlussendlich sollten wir bedenken, dass jeder Anspruch auf den öffentlichen Raum, den wir erheben, vom Spuk des Gefängnisses begleitet wird und das Gefängnis antizipiert. Mit anderen Worten  : Wer im Gezi-Park oder auf anderen Straßen der Türkei öffentlich erscheint, riskiert, festgenommen und eingesperrt zu werden. Die Mediziner / ​innen, die den Protestierenden zur Hilfe kamen, wurden dafür verhaftet. Die Anwält / ​innen, die das Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit verteidigen wollten, wurden festgenommen und inhaftiert, und die Menschenrechtsaktivist / ​innen, die diese Verbrechen der internationalen Öffentlichkeit zugänglich machen wollten, wurden ebenfalls inhaftiert oder mit Haft bedroht. Auch die Medienvertreter / ​innen, die sich darum bemühten, die Ereignisse publik zu machen, wurden zensiert, festgenommen und inhaftiert. Wo immer Menschen den öffentlichen Raum beanspruchen wollten, liefen sie Gefahr, von der Polizei aufgehalten, verletzt oder eingesperrt zu werden. Wenn wir daher über die öffentliche 239

Versammlung nachdenken, denken wir immer auch an die Polizeigewalt, die sie entweder stattfinden lässt oder ihr Stattfinden verhindert, und wir sind auf der Hut vor dem Moment, in dem der Staat anfängt, das Volk zu attackieren, das er eigentlich repräsentieren soll, und in dem ein gewaltsamer Übergang vom öffentlichen Raum ins Gefängnis geschaffen wird. Der öffentliche Raum wird im Grunde durch diesen gewaltsamen Übergang definiert. Die Solidarität mit politischen Gefangenen – ja, mit allen Menschen, die unter unrechtmäßigen Bedingungen eingesperrt sind – muss folglich die Sphären der Öffentlichkeit und der Gefangenschaft überschreiten. Gefangene sind genau diejenigen, denen die Versammlungsfreiheit und der Zugang zum öffentlichen Raum verwehrt wird. Die Regierungsabsicht, staatliche Parks zu privatisieren und der Privatwirtschaft zu erlauben, an die Stelle schützender öffentlicher Güter und Rechte zu treten, zielt folglich darauf ab, die polizeiliche Kontrolle über den öffentlichen Raum zu etablieren. Um dieses Ziel zu erreichen, ist nichts effektiver als diejenigen, die das Recht auf den öffentlichen Raum geltend machen, zu inhaftieren und Protestierende, die den öffentlichen Raum für die Öffentlichkeit selbst beanspruchen, anzugreifen und zu vertreiben. Dies ist eine Möglichkeit, die Festnahme und Inhaftierung derer zu verstehen, die den Staat in seinem Krieg gegen das öffentliche Leben bekämpfen. Wenn die Privatisierung auf die Zerstörung des öffentlichen Raumes aus ist, dann bietet das Gefängnis die ultimative Möglichkeit, den Zugang zu ihm zu versperren. So gesehen arbeiten Privatisierung und Gefängnis zusammen, um uns von den Orten fernzuhalten, von denen wir wissen, dass wir dort hingehören. Niemand kann das Recht auf Versammlungsfreiheit alleine haben. 240

Wenn jemand dieses Recht beansprucht – und das müssen wir –, dann müssen wir dies miteinander tun, trotz aller Differenzen und Unstimmigkeiten und solidarisch mit denen, die dieses Recht bereits verloren haben oder nie als zur öffentlichen Sphäre gehörend anerkannt worden sind. Dies gilt insbesondere für Personen, die ohne Genehmigung auf der Straße erscheinen, die der Polizei, dem Militär oder anderen Sicherheitskräften unbewaffnet entgegentreten, die als Transgender in transphobischen Umgebungen leben oder die sich ohne gültige Papiere in Ländern aufhalten, in denen Menschen kriminalisiert werden, die sich um ihre Bürgerrechte bemühen. Der Mangel an Schutz macht aus dem Dasein kein »nacktes Leben«, sondern vielmehr eine konkrete Form der politischen Exponiertheit und des potenziellen Kampfes, die einerseits konkret verwundbar, ja zerbrechlich, zugleich aber auch potenziell und aktiv aufsässig, ja revolutionär ist. Die sich versammelnden Körper bezeichnen und formieren sich als »Wir, das Volk«  ; sie zielen auf Abstraktionsformen, die so tun, als ob jene sozialen und leiblichen Bedürfnisse des Lebens als Folge neoliberaler Metriken und Marktrationalitäten, die heute im Namen des Gemeinwohls agieren, zerstört werden könnten. Sich bei einer gegen dieses Elend gerichteten Versammlung zu zeigen heißt, genau die Körper aufzuführen, für die wir solche Forderungen stellen, und dies manchmal auch auf eine andere Weise als wir beabsichtigen. Wir müssen uns vorher nicht kennen oder beraten, um diese Forderung füreinander zu stellen, denn kein Körper ist wirklich ohne jene anderen möglich, mit denen wir sozusagen Arm in Arm, aber auch im Namen eines anderen Demokratiebegriffs verbunden sind, der neue Formen der Solidarität auf und außerhalb der Straße verlangt. 241

Ich bin der festen Überzeugung, dass Versammlungen dieser Art nur erfolgreich sein können, wenn sie sich zu den Grundsätzen der Gewaltlosigkeit bekennen. Von Prinzipien geleitete verkörperte Akte der Gewaltlosigkeit nehmen einen wichtigen Platz in der Begegnung mit Gewalt ein, und diese Akte müssen bestimmend für jede Bewegung sein, die für das Recht der öffentlichen Versammlung eintritt. Wenn ich so etwas behaupte, muss ich erklären, wie ein Prinzip verkörpert wird, und ich werde versuchen zu zeigen, was ich damit meine  ; ich muss aber auch zeigen, wie gewaltloser Widerstand gegen Gewalt möglich ist (dieser Frage werde ich in einem anderen Kontext noch genauer nachgehen). Worauf es mir ankommt, ist, dass es bei der Gewaltlosigkeit nicht nur darum geht, ein geistiges Prinzip zu haben, sondern sein Verhalten, ja sogar sein Begehren von einem Prinzip formen zu lassen – es geht, so könnte man sagen, um eine Abtretung an das Prinzip. Gewaltfreies Handeln ist nicht einfach eine Frage der Ausübung des Willens, seinen Drang zum Ausleben der eigenen Aggressionen zu unterdrücken  ; es ist vielmehr ein aktives Ringen mit einer kultivierten Form von Zwang, die körperliche und kollektive Gestalt annimmt. Gewaltfreier Widerstand bedarf eines Körpers, der erscheint, der handelt und der mit seinem Handeln eine Welt begründen will, die anders ist als die, der er begegnet, und das bedeutet, der Gewalt zu begegnen, ohne deren Bedingungen zu reproduzieren. Er sagt nicht einfach Nein zu einer Welt der Gewalt, sondern gestaltet das Selbst und seine Beziehung zur Welt neu, indem er sich, und wenn auch nur versuchsweise, bemüht, die Alternative zu verkörpern, für die er kämpft. Lässt sich somit sagen, dass der gewaltfreie Widerstand performativ ist  ? Ist Gewaltlosigkeit eine Tat, eine an242

dauernde Aktivität und, falls ja  : Wie ist ihre Beziehung zur Passivität  ? Passiver Widerstand ist zwar eine Form der gewaltfreien Aktion, doch nicht alle Formen lassen sich auf ihn reduzieren.15 Die Idee, sich vor einen Panzer zu legen, sich in der Konfrontation mit der Polizei »schlaff zu machen«, erfordert die kultivierte Fähigkeit, eine gewisse Haltung zu wahren. Der schlaffe Körper scheint seine Handlungsfähigkeit aufgegeben zu haben, doch indem er zum Gewicht und zum Hindernis wird, verharrt er in seiner Stellung. Die Aggression wird nicht ausgemerzt, sondern kultiviert, und ihre kultivierte Form ist am Körper abzulesen, wie er steht, fällt, sich sammelt, anhält, schweigend verharrt und die Unterstützung anderer Körper annimmt, die er seinerseits unterstützt. Durch das Unterstützen und Unterstütztwerden wird eine Idee körperlicher Interdependenz inszeniert, die zeigt, dass gewaltfreier Widerstand nicht auf heroischen Individualismus reduziert werden sollte. Selbst die Einzelperson, die allein nach vorn tritt, tut dies zum Teil, weil andere hinter ihr stehen. Können wir sagen, dass es sich hier um öffentliche Akte der Selbstkonstitution handelt, in denen das Selbst nicht nur dieses oder jenes individuelle Selbst ist, sondern eine soziale Verteilung belebter und interdependenter Selbstheit, ausgestattet mit der Kraft und der Freiheit des Ausdrucks, der Bewegung und Versammlung, die Körper ins Feld führt und gestaltet, welche ihren Grundanspruch auf Arbeit, Schutz und Nahrung manifestieren  ? Auf dem Weg zur Realisierung eines solchen Ideals liegen viele Schwierigkeiten. Zunächst einmal ist es nicht immer möglich, Gewaltlosigkeit mit Sicherheit zu definieren. Genau genommen ist jede Definition eine Interpretation dessen, was Gewaltlosigkeit ist oder sein 243

sollte. Dies führt immer wieder zu verzwickten Situationen  : Eine von Prinzipien geleitete Vorstellung von Gewaltlosigkeit kann manchmal als Gewalt interpretiert werden, und wenn dies geschieht, halten diejenigen, die diese Interpretation vornehmen, sie für richtig, während diejenigen, deren Handeln als gewalttätig interpretiert wird, sie für vollkommen falsch halten. Wenn Gewaltlosigkeit als Gewalt interpretiert wird, dann wird sie im Allgemeinen entweder als Deckmantel für gewaltsame Ziele oder Impulse und damit als List hingestellt oder als eine Form von Nichtbeteiligung, die es den Starken effektiv ermöglicht, sich durchzusetzen. Es kann passieren, dass man glaubt, gewaltfrei zu handeln, um dann feststellen zu müssen, dass die Handlung gewaltsame Aspekte oder Folgen hat oder man mit ihr eine Grauzone betritt, besonders wenn Gewalt im Dienste der Selbstverteidigung angewendet wird. Hier muss man jedoch unterscheiden  : Die Tatsache, dass man nicht alle Folgen des eigenen Handelns vollständig kennt, ist etwas anderes als der aktive Versuch, die Aktion verzerrt darzustellen, indem Gewaltlosigkeit in Gewalt umbenannt wird. Taktiken wie Streiks, Hungerstreiks im Gefängnis, Arbeitsniederlegungen, gewaltfreie Besetzungen von Regierungs- oder Amtsgebäuden und Räumen, deren privatwirtschaftlicher Status umstritten ist, Konsum-, Kultur- und andere Arten von Boykotts, Sanktionen, aber auch öffentliche Versammlungen, Petitionen, Formen der Nichtanerkennung illegitimer Autoritäten oder die Weigerung, zu Unrecht geschlossene Institutionen zu räumen, sind durchaus überlegenswert. Diese Aktionen – oder, je nach Interpretation, Formen des Nichthandelns – eint, dass sie die Rechtmäßigkeit bestimmter Vorgehensweisen oder Maß244

nahmen beziehungsweise die Legitimität einer spezifischen Herrschaftsform in Frage stellen. Dabei können sie – insofern sie zu einem Wandel bei der Polizei, der Staatsbildung oder der Herrschaft aufrufen – alle als »destruktiv« bezeichnet werden, denn sie fordern eine tiefgreifende Veränderung des Status quo. Wenn jedoch die Aufhebung einer Politik oder die Forderung nach einer rechtmäßigen Grundlage der Staatsbildung – beides eindeutige Äußerungen des Volkswillens in einer Demokratie – zur Gewalt oder gar zum »Terror« erklärt werden, so liegt eine fatale Verwirrung vor, die unsere Fähigkeit, gewaltfreie Aktionen im Kontext demokratischer Kämpfe zu benennen, blockiert. In Gandhis Worten, der sich wiederum auf Thoreau stützt, ist gewaltloser ziviler Ungehorsam ein »ziviler Bruch unmoralischer gesetzlicher Bestimmungen«.16 Seiner Ansicht nach kann ein Gesetz oder Statut als unmoralisch oder moralisch falsch betrachtet werden und dadurch zum legitimen Gegenstand einer zivilen Aktion werden. Das Gesetz wird also missachtet, da es aber unmoralisch ist, ist der Ungehorsam berechtigt. Ein unmoralisches öffentliches Statut oder Gesetz nicht zu befolgen ist ein Bürgerrecht, da der Bereich des Rechts verantwortlich gegenüber den Formen der Moral ist, die nach Gandhis Verständnis das Zivilleben strukturieren. Man kann gewiss in Frage stellen, ob die Moral die Bürgerrechte in der Weise untermauert, wie Gandhi dies annimmt, doch scheint es mir wichtig, seiner generellen These zu folgen. Es gibt Arten der Infragestellung von Legitimität, die manchmal die explizite Form von Sprechakten annehmen  ; andere stützen sich auf die expressive Dimension pluralen und verkörperten Handelns oder der Handlungsverweigerung. Wenn sie auf pluralem und verkörpertem Handeln beruhen, 245

sind sie auf verkörperte Handlungsfähigkeit angewiesen, und wenn die Polizei, Sicherheitskräfte oder das Militär eine gewaltlose Versammlung auflösen und zerstreuen will, kommt es vor, dass diese Versammlung in direkten Kontakt mit anderen Körpern kommt, die möglicherweise Objekte oder Waffen dabeihaben, welche physische Schäden anrichten können. Wer in Hungerstreik tritt, nimmt das Risiko physischer Zwangsmaßnahmen oder Schäden an, denn Gefangene, die die Nahrung verweigern, weigern sich nicht nur, eine verbindliche Bestimmung zu befolgen, sondern auch, sich als Gefangene zu reproduzieren. Das Gefängnis ist auf die physische Reproduktion der Inhaftierten angewiesen, um seine besondere Zwangsmodalität ausüben zu können. Mit anderen Worten  : Die gewaltfreie Aktion findet manchmal innerhalb eines Kraftfeldes der Gewalt statt und daher ist die Gewaltlosigkeit selten eine Position der Reinheit oder Zurückhaltung, das heißt eine, die losgelöst und distanziert vom Schauplatz der Gewalt eingenommen wird. Im Gegenteil  : Sie findet genau dort, am Schauplatz der Gewalt statt. Jemand, der freundlich und friedlich eine Straße entlangspaziert, übt weder Gewalt noch Gewaltlosigkeit aus. Gewaltlosigkeit kommt erst mit der Androhung von Gewalt ins Spiel  : Sie ist ein Weg, sich allein oder mit anderen in einem potenziell oder tatsächlich konflikthaften Raum zu halten und zu verhalten. Das soll nicht heißen, dass Gewaltlosigkeit ausschließlich reaktiv ist  : Sie kann eine Möglichkeit sein, an eine Situation heranzugehen, sogar eine Weise, in dieser Welt zu leben, eine tägliche Praxis der Achtsamkeit, die sich der Gefährdetheit lebender Wesen annimmt. Gerade weil die Gewaltlosigkeit ein bewusstes Mittel ist, um ein verkörpertes Selbst angesichts eines Kon246

flikts oder konflikthafter Bedrängnisse und Provokationen zu behaupten, muss sie sich auf eine gewaltlose Praxis stützen, die dem eigentlichen Augenblick der Entscheidung vorausgeht und ihn antizipiert. Diese Form der Selbstbehauptung, diese Haltung der Reflexivität wird durch historische Konventionen vermittelt, die als erkennbare Basis der gewaltfreien Aktion dienen. Auch wenn die Gewaltlosigkeit als eine Einzeltat erscheint, so ist sie doch sozial vermittelt und hängt von der Erhaltung und Anerkennung von Konventionen ab, die gewaltlose Verhaltensweisen steuern. Es gibt natürlich Menschen, die aufgeben oder sich gewaltsamen Methoden zuwenden, oder auch solche, die gewaltfreie Versammlungen aufsuchen, um sie in eine andere Richtung zu lenken  ; auch ihnen muss man sich widersetzen. Gewalt ist eine konstitutive Möglichkeit jeder Versammlung, nicht nur, weil hinter den Kulissen meistens schon die Polizei lauert, und nicht nur, weil gewaltbereite Gruppen versuchen, gewaltfreie Versammlungen an sich zu reißen, sondern weil politische Versammlungen ihre eigenen konstitutiven Antagonismen nie ganz überwinden können. Die Aufgabe besteht darin, einen Weg zu finden, den Antagonismus zu einer gewaltfreien Praxis zu kultivieren. Die Vorstellung, wir könnten eine friedliche Region der politischen Subjektivität finden und bewohnen, unterschätzt jedoch die drängende Daueraufgabe, Aggression und Antagonismus in die Substanz des demokratischen Wettstreits einzugliedern. Ohne die taktische und von Prinzipien geleitete Kultivierung von Aggression zu verkörperten Aktionsmodi lässt sich Gewaltlosigkeit nicht erreichen. Wir können die Gesten der Gewalt mimen, nicht um damit zu zeigen, was wir beabsichtigen, sondern um die Wut anzudeuten, die wir verspüren und die wir herun247

terbremsen auf den verkörperten politischen Ausdruck und in ihn umwandeln. Es gibt viele Möglichkeiten, den Körper einzusetzen, ohne jemandem zu schaden, und das ist zweifellos der Weg, den wir gehen sollten. Letztlich ist es wahrscheinlich nicht möglich, über Taktiken der Gewaltlosigkeit außerhalb ihres jeweiligen historischen Kontexts nachzudenken. Sie ist keine Regel mit Absolutheitsanspruch, sondern lässt sich vielleicht eher als Ethos definieren  ; tatsächlich wohnt jeder Taktik ein implizites Ethos inne. Gewaltlosigkeit ist ebenso ein Ethos wie eine Taktik, und das heißt, dass gewaltfreie Bewegungen, wie Boykotts und Streiks, nicht einfach Krieg mit anderen Mitteln sein können. Sie müssen sich als substanzielle ethische Alternativen zum Krieg erweisen, denn nur durch die Manifestation des ethischen Anspruchs lässt sich der politische Wert der Position erkennen. Eine Demonstration in diesem Sinne ist nicht leicht durchzuführen, wenn es Leute gibt, die die Taktik nur als Hass und als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln verstehen können. Das ist zweifellos einer der Gründe dafür, dass Gewaltlosigkeit nicht nur durch das etabliert wird, was wir tun, sondern auch dadurch, wie es erscheint, was wiederum bedeutet, dass wir die Medien brauchen, die Gewaltlosigkeit als solche erkennbar machen können.

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6. Kann man ein gutes Leben in einem schlechten Leben führen  ? Ich möchte in diesem Kapitel einer Frage nachgehen, die Adorno gestellt hat und die für uns heute immer noch aktuell ist. Es ist eine Frage, auf die ich immer wieder zurückkomme und die sich immer wieder neu stellt. Es gibt keine einfache Antwort auf diese Frage und wir können der Forderung, die sie an uns stellt, nicht leicht entgehen. Adorno schreibt bekanntermaßen in seinen Minima Moralia  : »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.«1 Dies lässt ihn jedoch nicht die Hoffnung auf die Möglichkeit der Moral aufgeben. Wir stehen somit vor der Frage  : Wie kann man ein gutes Leben in einem schlechten Leben führen  ?* Adorno hebt die Schwierigkeit hervor, für sich selbst und als man selbst einen Weg zu finden, um inmitten einer von Ungleichheit, Ausbeutung und Formen der Auslöschung geprägten Welt nach einem guten Leben zu streben. So sähe zumindest mein erster Versuch aus, seine Frage umzuformulieren. Bei diesem Versuch bin ich mir durchaus bewusst, dass es sich um eine Frage handelt, die sich je nach dem geschichtlichen Zeitpunkt, zu dem sie gestellt wird, wandelt. Wir stehen also von Anfang an vor zwei Problemen  : Das erste betrifft das eigene gute Leben, also die Frage, wie man in einer Welt, in der das gute Leben für so viele Menschen strukturell oder systematisch unmöglich ist, zur sinnlosen Phrase verkommt oder offenbar eine Lebensweise bezeichnet, die in vielen Punkten schlecht ist, sagen kann, man führe ein gutes Leben. Das zweite Problem ist, welche Gestalt die Frage für uns heute annimmt  : In welcher Weise bedingt oder durch249

dringt die historische Zeit, in der wir leben, die Form der Frage selbst  ? Bevor ich fortfahre, muss ich zunächst einige Begriffe klären. Der Begriff »das gute Leben« ist natürlich kontrovers, denn schließlich gibt es sehr viele unterschiedliche Auffassungen darüber, was »das gute Leben« (das richtige Leben) wäre. Für viele ist es gleichbedeutend mit wirtschaftlichem Wohlstand oder auch mit Sicherheit, doch Wohlstand und Sicherheit lassen sich, wie wir wissen, auch von denen erreichen, die kein gutes Leben führen. Dies wird besonders deutlich, wenn diejenigen, die behaupten, ein gutes oder richtiges Leben zu führen, von der Arbeit anderer oder von einem Wirtschaftssystem profitieren, das auf Ungleichheit beruht. Wir müssen »das gute Leben« also so weit fassen, dass es keine Ungleichheit voraussetzt oder impliziert, oder anders gesagt  : Wir müssen den Begriff mit anderen normativen Werten in Einklang bringen. Wenn wir uns auf die Alltagssprache verlassen, um zu erfahren, was das gute Leben ist, können wir leicht in Verwirrung geraten, denn der Ausdruck ist zu einem Vektor für konkurrierende Wertsysteme geworden. So könnten wir schnell zu dem Schluss kommen, dass »das gute Leben« entweder einer veralteten aristotelischen Begrifflichkeit angehört, die an individualistische moralische Verhaltensformen geknüpft ist, oder aber dass der kommerzielle Diskurs den Ausdruck schon so sehr kontaminiert hat, dass er für Betrachtungen über das Verhältnis der Moral beziehungsweise der Ethik im Allgemeinen zur Sozial- und Wirtschaftstheorie nicht mehr zu gebrauchen ist. Wenn Adorno bezweifelt, dass es möglich ist, ein richtiges Leben im falschen zu führen, dann fragt er damit auch nach dem Verhältnis zwischen moralischem Handeln und dessen 250

gesellschaftlichen Bedingungen oder, allgemeiner betrachtet, zwischen Moral und Gesellschaftstheorie  ; tatsächlich beschäftigt er sich auch mit der Frage, wie die umfassenderen Macht- und Herrschaftsmechanismen unsere individuellen Betrachtungen darüber, wie zu leben sei, infiltrieren oder stören. Er schreibt, dass »das ethische Verhalten oder das moralische oder unmoralische Verhalten immer ein gesellschaftliches Phänomen ist – das heißt, [dass] es überhaupt keinen Sinn hat, vom ethischen und vom moralischen Verhalten unter Absehung der Beziehungen der Menschen zueinander zu reden, und [dass] das rein für sich selbst seiende Individuum eine ganz leere Abstraktion ist«.2 An anderer Stelle heißt es, dass »die gesellschaftlichen Kategorien bis ins Innerste der moralphilosophischen sich hinein erstrecken«.3 Und der vorletzte Satz der Probleme der Moralphilosophie lautet schließlich  : »Kurz, also was Moral heute vielleicht überhaupt noch heißen darf, das geht über an die Frage nach der Einrichtung der Welt – man könnte sagen  : die Frage nach dem richtigen Leben wäre die Frage nach der richtigen Politik, wenn eine solche richtige Politik selber heute im Bereich des zu Verwirklichenden gelegen wäre.«4 Es ist also durchaus sinnvoll, danach zu fragen, welche gesellschaftliche Konfiguration des »Lebens« in der Frage, wie zu leben sei, gemeint ist. Wenn ich mich frage, wie ich am besten leben sollte oder wie ein gutes Leben zu führen sei, dann stütze ich mich ja offensichtlich nicht nur auf Vorstellungen davon, was gut und richtig ist, sondern auch auf Vorstellungen davon, was »Leben« heißt. Um mir Gedanken darüber machen zu können, welches Leben ich führen soll, muss ich meines Lebens als solchem gewahr sein und es muss für mich etwas sein, das ich führen kann, nicht etwas, von dem ich nur geführt werde. Klar 251

ist aber auch, dass ich, obwohl ich der Frage, wie ich mein Leben führen soll, nicht ausweichen kann, nicht alle Aspekte des lebendigen Organismus, der ich bin, auch wirklich »führen« kann. Wie führt man ein Leben, wenn sich nicht alle Prozesse, aus denen es besteht, führen lassen, oder wenn sich nur bestimmte Aspekte des Lebens bewusst und mit Bedacht lenken oder gestalten lassen, andere aber eindeutig nicht  ? Wenn die Frage nach dem richtigen Leben eine der grundlegenden, ja vielleicht sogar die bestimmende Frage der Moral ist, dann ist Moral von Anfang an mit Biopolitik verknüpft. Unter Biopolitik verstehe ich die Mächte, die das Leben organisieren, auch diejenigen, die Leben im Rahmen eines umfassenderen Bevölkerungsmanagements durch staatliche und nichtstaatliche Maßnahmen selektiv der Prekarität ausliefern und gleichzeitig Maßstäbe zur ungleichen Bewertung des Lebens selbst aufstellen. Indem ich mir die Frage stelle, wie ich mein Leben führen soll, bin ich schon dabei, solche Formen der Macht auszuhandeln. Die persönlichste Frage der Moral – Wie führe ich dieses Leben, das meines ist  ? – hängt bereits mit biopolitischen Fragen wie den folgenden zusammen  : Wessen Leben zählt  ? Welche Leben zählen nicht als Leben  ? Wer ist gar nicht als lebend erkennbar oder hat nur den zweifelhaften Status des Lebendigen  ? Wir können es, das legen diese Fragen nahe, nicht als gegeben voraussetzen, dass jeder lebende Mensch den Status eines Subjekts hat, welches Rechte und Schutz verdient, in Freiheit lebt und sich politisch zugehörig fühlt  ; im Gegenteil, ein solcher Status muss durch politische Maßnahmen erwirkt werden, und wo er verwehrt wird, muss diese Deprivation manifestiert werden. Ich habe bereits an früherer Stelle den Vorschlag gemacht, sich zum besseren Verständnis der 252

ungleichen Verteilung dieses Status die Frage zu stellen, welche Leben als betrauerbar gelten und welche nicht. Der biopolitische Umgang mit den Unbetrauerbaren erweist sich als entscheidend für die Beantwortung der Frage  : Wie führe ich dieses mein Leben  ? Und wie führe ich dieses Leben im Leben, unter den Lebensbedingungen, die uns heute strukturieren  ? Folgendes wäre zu prüfen  : Wessen Leben wird schon nicht mehr oder nur noch teilweise als Leben betrachtet oder gilt schon als beendet und vorbei, noch bevor es ausdrücklich zerstört oder aufgegeben wurde  ? Am drängendsten stellt sich diese Frage natürlich für jemanden, der sich bereits als entbehrliches Wesen begreift, das auf einer gefühlsmäßigen oder körperlichen Ebene registriert, dass sein Leben offenbar nicht wert ist, erhalten, geschützt oder wertgeschätzt zu werden. Ein solcher Mensch erkennt, dass man beim Verlust seines Lebens nicht um ihn trauern würde, und ist somit jemand, für den die bedingte Behauptung »Niemand würde um mich trauern« schon Lebenswirklichkeit ist. Wenn ich nicht sicher sein kann, ob ich Nahrung oder ein Dach über dem Kopf habe oder ob ein soziales Netz oder eine Institution mich auffängt, wenn ich falle, dann gehöre ich zu den Unbetrauerbaren. Das heißt nicht, dass überhaupt niemand um mich trauern würde oder dass die Unbetrauerbaren auch einander nicht betrauern. Es heißt nicht, dass nirgendwo um mich getrauert oder dass der Verlust überhaupt nicht bemerkt würde. Diese Formen der Persistenz und der Resistenz finden jedoch nur im Schatten der Öffentlichkeit statt, aus dem sie gelegentlich heraustreten und sich gegen das herabwürdigende System stellen, indem sie ihren kollektiven Wert geltend machen. Tatsächlich versammeln sich die Unbetrauerbaren also zu öffentlichen 253

Aufständen der Trauer, und deshalb lassen sich in vielen Ländern Begräbnisse nur schwer von Demonstrationen unterscheiden. Ich übertreibe also, aber ich tue das aus einem ganz bestimmten Grund  : Dass um jemanden nicht getrauert wird oder er schon als eine Person, um die nicht getrauert werden wird, feststeht, liegt daran, dass es gegenwärtig keine Unterstützungsstruktur gibt, die ihr Leben erhalten würde  ; dieses Leben wird damit implizit abgewertet, es ist nach dem herrschenden Werteschema nicht wert, als Leben erhalten und geschützt zu werden. Von dieser Unterstützung hängt die Zukunft meines Lebens selbst ab. Werde ich nicht unterstützt, ist mein Leben damit als unsicher und prekär definiert – es ist in diesem Sinne nicht wert, vor Verletzung oder Verlust geschützt zu werden und somit auch nicht betrauerbar. Wenn nur ein betrauerbares Leben wertgeschätzt werden kann, und zwar auf Dauer, dann kommt auch nur ein solches Leben für soziale und wirtschaftliche Unterstützung, eine Wohnung, Krankenversicherung, Beschäftigung, das Recht, sich politisch zu äußern, Formen der gesellschaftlichen Anerkennung und die Möglichkeit, politisch aktiv zu werden, in Betracht. Man muss sozusagen betrauerbar sein, bevor man verlorengeht, bevor überhaupt die Frage aufkommt, ob man vernachlässigt oder aufgegeben wird, und man muss in dem Wissen leben können, dass der Verlust dieses Lebens, das ich bin, betrauert würde und daher alles dafür getan wird, diesem Verlust vorzubeugen. Aber wie ist es, wenn man lebendig ist und gleichzeitig registriert, dass das Leben, das man führt, nie als verlierbar oder verloren angesehen werden wird, weil es überhaupt nie als Leben erachtet wurde oder als schon verloren erachtet wird – was ist das für ein Schatten254

dasein und wie ist diese Modalität des Nichtseins zu begreifen, in der Menschen ja dennoch leben  ? Wie lässt sich aus dem tiefen Gefühl, dass das eigene Leben nicht betrauerbar oder entbehrlich ist, die moralische Frage stellen und wie erfolgt die Forderung nach öffentlicher Trauer  ? Oder anders gefragt  : Wie soll ich ein gutes Leben anstreben, wenn ich gar kein nennenswertes Leben besitze oder wenn das Leben, um das ich mich bemühe, als entbehrlich erachtet wird oder sogar schon abgeschrieben wurde  ? Wenn das Leben, das ich führe, unlebbar ist, ergibt sich ein ziemlich quälendes Paradox, denn die Frage »Wie führe ich ein gutes Leben  ?« setzt voraus, dass es überhaupt Leben gibt, die geführt werden können, das heißt Leben, die als solche anerkannt werden, und dass das meine dazugehört. Außerdem setzt die Frage voraus, dass es ein Ich gibt, das imstande ist, sie reflexiv zu stellen, und dass ich auch mir selbst erscheine, das heißt, in dem mir zugänglichen Erscheinungsfeld erscheinen kann. Damit die Frage einen Sinn hat, muss die Person, die sie stellt, fähig sein, jeder denkbaren Antwort auch zu folgen. Und damit sie einen Weg ebnet, dem ich folgen kann, muss die Welt so strukturiert sein, dass mein Reflektieren und Handeln sich nicht nur als möglich, sondern auch als wirksam erweisen. Um darüber nachdenken zu können, wie ich am besten leben sollte, muss ich davon ausgehen, dass das Leben, das ich anstrebe, als Leben anerkannt werden kann, dass ich selbst es anerkenne, selbst wenn es im Allgemeinen nicht anerkannt wird oder auch unter der Bedingung, dass es nicht so einfach zu erkennen ist, ob eine gesellschaftliche und ökonomische Anerkennung meines Lebens stattfindet. Dieses Leben, das mir gehört, wird mir schließlich von einer Welt zurückgespiegelt, die dazu neigt, den Wert des Lebens ungleich 255

zu verteilen, einer Welt, in der mein eigenes Leben mehr oder weniger gilt als andere. Dieses mein Leben spiegelt mir, mit anderen Worten, ein Problem der Gleichheit, der Macht und, im weiteren Sinne, der Gerechtigkeit beziehungsweise Ungerechtigkeit der Wertzuteilung wider. Wenn nun diese Art von Welt – das »schlechte Leben«, wie wir vielleicht sagen müssen – mir nicht meinen Wert als lebendes Wesen zurückspiegelt, dann muss ich kritisch gegenüber den Kategorien und Strukturen werden, die diese Form der Auslöschung und Ungleichheit hervorbringen. Ich kann, mit anderen Worten, nicht mein eigenes Leben bejahen, ohne die Strukturen, die das Leben selbst ungleich bewerten, kritisch zu beurteilen. In dieser Praxis der Kritik ist mein eigenes Leben mit den Gegenständen, über die ich nachdenke, verknüpft. Mein Leben ist dieses Leben, ich führe es hier, vor dem raumzeitlichen Horizont, der von meinem Körper festgelegt wird, aber es ist auch da draußen, es ist in andere lebendige Prozesse verwickelt, von denen ich nur einer bin. Außerdem hängt es mit den Machtdifferenzialen zusammen, die darüber entscheiden, wessen Leben mehr oder weniger zählt, wessen Leben zum Paradigma alles Lebendigen und wessen Leben unter den gegenwärtig den Wert von Lebewesen bestimmenden Bedingungen ein Nichtleben wird. Adorno merkt an  : »Man muß an dem Normativen, an der Selbstkritik, an der Frage nach dem Richtigen oder Falschen und gleichzeitig an der Kritik der Fehlbarkeit der Instanz festhalten, die eine solche Art der Selbstkritik sich zutraut.«5 Das »Ich« mag nicht so viel über sich wissen, wie es behauptet, und es mag auch durchaus sein, dass die einzigen Begriffe, mit denen das Ich sich erfassen kann, einem Diskurs zugehören, der dem 256

Denken vorausgeht und es formt, ohne dass irgendjemand sein Wirken und seine Wirkung vollständig begreifen könnte. Und da Werte durch Machtformen definiert und verbreitet werden, deren Autorität bezweifelt werden muss, befinde ich mich in einer gewissen Zwickmühle  : Richte ich mich in den Bedingungen ein, die mein Leben wertvoll machen würden, oder übe ich Kritik an der herrschenden Wertordnung  ? Obwohl ich also die Frage nach dem guten Leben stellen muss und stelle und obwohl dieses ein wichtiges Ziel ist, muss ich auch sorgfältig über dieses Leben nachdenken, das mir gehört, aber auch ein soziales Leben ist, welches mit anderen Lebewesen auf eine Weise verbunden ist, die mich in ein kritisches Verhältnis zu den diskursiven Lebens- und Wertordnungen setzt, in denen ich lebe oder vielmehr zu leben versuche. Was verleiht ihnen ihre Autorität  ? Und ist diese Autorität legitim  ? Bei diesen Fragen geht es um mein eigenes Leben und deshalb ist die Kritik der biopolitischen Ordnung für mich wesentlich  ; hier steht die Möglichkeit, ein gutes Leben zu führen, ebenso auf dem Spiel wie die Anstrengung zu leben und das Bemühen, in einer gerechten Welt zu leben. Ob ich ein Leben führen kann, das einen Wert hat, oder nicht, kann ich nicht allein entscheiden, denn es zeigt sich, dass dieses Leben mir gehört und doch nicht mir gehört, und genau das macht mich zu einem sozialen und zu einem lebendigen Wesen. Die Frage, wie das gute Leben zu leben sei, ist also von vornherein bereits mit dieser Ambiguität verknüpft, ebenso wie sie mit einer lebendigen Praxis der Kritik verknüpft ist. Wenn ich nicht imstande bin, meinen Wert in der Welt in einer mehr als nur flüchtigen Weise zu beweisen, dann ist mein Sinn für das Mögliche eben257

so flüchtig. Der moralische Imperativ, ein gutes Leben zu führen, kann ebenso wie die reflexive Frage, die er hervorruft, manchmal sehr grausam und unbedacht gegenüber denjenigen wirken, die in hoffnungslosen Verhältnissen leben  ; und der Zynismus, der zuweilen die Praxis der Moral selbst umgibt, ist vielleicht verständlich  : Warum soll ich moralisch handeln oder überhaupt die Frage nach dem richtigen Leben stellen, wenn mein Leben erst gar nicht als Leben betrachtet, sondern schon als eine Form des Todes behandelt wird, oder wenn ich in einem Zustand lebe, den Orlando Patterson als »sozialen Tod« bezeichnet hat – ein Begriff, mit dem er das Leben unter den Bedingungen der Sklaverei beschreibt  ?6 Die gegenwärtigen Formen der ökonomischen Preisgabe und Enteignung, die aus der Institutionalisierung neoliberaler Denkweisen und der differenziellen Produktion von Prekarität folgen, lassen sich nicht generell mit der Sklaverei gleichsetzen und deshalb ist es wichtig, zwischen den Modalitäten des sozialen Todes zu unterscheiden. Man kann die Bedingungen, unter denen Leben unlebbar werden, wohl nicht mit einem Wort beschreiben, doch der Begriff »Prekarität« erlaubt es uns immerhin, zwischen verschiedenen Arten von »Unlebbarkeit« zu differenzieren. Diese betreffen zum Beispiel Menschen, die ohne die Chance auf ein ordentliches Gerichtsverfahren in Haft sind  ; Menschen, die in Kriegsgebieten oder unter Besatzung Gewalt und Zerstörung erleben müssen, ohne eine Zuflucht oder einen Ausweg zu haben  ; Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten und in Randzonen auf die Öffnung einer Grenze, auf Lebensmittel und auf die Chance auf ein Leben mit gültigen Papieren warten  ; Menschen, die zu einer entbehrlichen oder verzichtbaren Arbeiterschaft 258

gehören, die kaum noch Aussicht auf einen gesicherten Lebensunterhalt zu haben scheinen, deren Zeithorizont eingestürzt ist, die nur noch von Tag zu Tag leben, unter dem tiefsitzenden und durchdringenden Schmerz einer beschädigten Zukunft leiden und sich zwar bemühen, noch etwas zu empfinden, sich aber mindestens ebenso sehr vor den möglichen Empfindungen fürchten. Wie kann man sich fragen, wie man am besten leben soll, wenn man keinerlei Kraft verspürt, sein Leben zu lenken, wenn man gar nicht sicher ist, ob man überhaupt lebt, oder wenn man nach dem Gefühl sucht, am Leben zu sein, sich aber gleichzeitig vor diesem Gefühl und dem Schmerz, so leben zu müssen, fürchtet  ? Unter den gegenwärtigen Bedingungen der erzwungenen Emigration und des Neoliberalismus leben riesige Bevölkerungsgruppen ohne das Gefühl einer sicheren Zukunft oder einer dauerhaften politischen Zugehörigkeit, deren tägliche Erfahrung des Neoliberalismus das Gefühl eines beschädigten Lebens hinterlässt. Ich bin nicht der Ansicht, dass der Kampf ums Überleben Vorrang vor dem Bereich der Moral oder der moralischen Verpflichtung als solcher hat, denn es gibt, wie wir wissen, Menschen, die selbst in Situationen äußerster Bedrohung tun, was sie nur können, um anderen zu helfen. Wir wissen das dank einiger der außergewöhnlichen Berichte aus den Konzentrationslagern. Bei Robert Antelme zum Beispiel können wir lesen, wie eine Zigarette von Menschen geteilt wird, die keine gemeinsame Sprache haben, aber sich in derselben Situation des Eingesperrtseins und der Gefahr im Konzentrationslager befinden. Bei Primo Levi kann das Entgegenkommen darin bestehen, dass man dem anderen einfach zuhört und die Einzelheiten der Geschichte, die er zu erzählen hat, aufzeichnet, um sie zum Bestandteil eines 259

unleugbaren Archivs werden zu lassen, zum dauerhaften Zeichen des Verlusts, mit dem die dauerhafte Verpflichtung zur Trauer einhergeht  ; bei Charlotte Delbo wiederum ist es das unerwartete Verschenken des letzten Stücks Brot, das man eigentlich selbst dringend bräuchte. Es gibt in diesen Berichten aber immer auch diejenigen, die nicht ihre Hand reichen, die das Brot selbst essen, die Zigarette für sich behalten und manchmal die Qual erleiden, anderen im Zustand äußerster Not nicht zu helfen. Mit anderen Worten  : Auch bei extremer Gefahr und erhöhter Prekarität verschwindet das moralische Dilemma nicht  ; es hält sich genau in der Spannung zwischen dem Wunsch, zu leben, und dem Wunsch, auf eine bestimmte Weise mit anderen zusammenzuleben. In kleinem, aber ganz entscheidendem Maße »führt« man immer noch ein Leben, indem man die Geschichte erzählt oder hört, indem man jede sich bietende Gelegenheit nutzt, das Leben und das Leiden anderer anzuerkennen. Schon die Nennung eines Namens kann ein außerordentlicher Akt der Anerkennung sein, besonders dann, wenn der oder die Genannte namenlos oder zu einer bloßen Nummer geworden ist oder überhaupt nicht mehr angesprochen wird. Im Rahmen ihrer Beschäftigung mit dem jüdischen Volk macht Hannah Arendt zu einem Zeitpunkt, den man durchaus als unpassend bezeichnen kann, deutlich, dass es nicht ausreicht, wenn die Juden nur ums Überleben kämpfen, und dass das Überleben nicht Ziel und Zweck des Lebens selbst sein kann.7 Unter Berufung auf Sokrates besteht sie auf dem entscheidenden Unterschied zwischen dem Wunsch, zu leben, und dem Wunsch, gut zu leben, oder vielmehr dem Wunsch nach dem guten Leben.8 Für Arendt ist das Überleben kein Selbstzweck und soll auch keiner sein, weil das Leben 260

an sich kein intrinsisches Gut ist. Nur als gutes Leben ist ein Leben lebenswert. Sie löst das sokratische Dilemma mühelos, wenn auch, so scheint mir, etwas zu vorschnell. Ich bin mir nicht sicher, ob ihre Lösung für uns noch zu gebrauchen ist, ja nicht einmal, ob sie es je wirklich war. Für Arendt muss das Leben des Körpers größtenteils von dem des Geistes getrennt werden  ; dementsprechend unterscheidet sie in ihrem Werk Vita activa zwischen der öffentlichen und der privaten Sphäre. Zum Privaten gehören demnach der Bereich der Bedürfnisse, die Reproduktion des materiellen Lebens, Sexualität, Leben, Tod und Vergänglichkeit. Arendt erkennt deutlich, dass der Bereich des Privaten den öffentlichen Raum des Handelns und Denkens stützt, ihrer Ansicht nach definiert sich das Politische jedoch durch das Handeln und dazu gehört auch das handelnde Sprechen. Die sprachliche Tat wird damit zur Handlung des deliberativen und öffentlichen Raumes der Politik. Wer die öffentliche Sphäre betritt, kommt aus der privaten, und somit hängt der öffentliche Raum wesentlich von der Reproduktion des Privaten ab sowie von dem unversperrten Korridor, der vom Privaten zum Öffentlichen führt. Wer nicht griechisch sprechen konnte, wer von außerhalb kam und wessen Sprache man nicht verstand, wurde als Barbar betrachtet, das heißt, die Öffentlichkeit wurde nicht als ein Raum der Mehrsprachigkeit angesehen und beinhaltete folglich auch nicht die Praxis des Übersetzens als öffentliche Pflicht. Dennoch können wir erkennen, dass der wirksame sprachliche Akt (a) von einer stabilen und abgeschiedenen Privatsphäre abhängig ist, die den männlichen Sprecher und Akteur hervorbringt, und (b) einer für die Sprechhandlung, das Definitionsmerkmal der Politik, bestimmten Sprache bedarf, die gehört und 261

verstanden wird, weil sie den Ansprüchen der Einsprachigkeit entspricht. Der durch eine verständliche und wirksame Menge von Sprechakten definierte öffentliche Raum wird somit ständig von den Problemen der nicht anerkannten Arbeit (Frauen und Sklaven) und der Mehrsprachigkeit überschattet. Und der Punkt, an dem beide zusammenlaufen, war genau die Situation der Sklaven, die austauschbar waren, keinen politischen Status hatten und deren Sprache gar nicht als Sprache angesehen wurde. Arendt erkannte natürlich, dass der Körper wesentlich für jeden Handlungsbegriff ist und dass selbst diejenigen, die im Widerstand oder in Revolutionen kämpfen, körperliche Handlungen ausführen müssen, um ihre Rechte einzufordern und etwas Neues zu schaffen.9 Der Körper ist auch wesentlich für die als sprachliche Form des Handelns verstandene öffentliche Rede. Im Zusammenhang mit Arendts wichtigem Begriff der Natalität, der mit ihrer Konzeption von Ästhetik und Politik verknüpft ist, taucht der Körper als zentrale Figur wieder auf. Das »Gebären« als Handlung scheint mit der revolutionären Handlung nicht viel zu tun zu haben, allerdings verbindet sie die Tatsache, dass es sich um jeweils verschiedene Formen der Schaffung von etwas Neuem, noch nie Dagewesenem handelt. Das Leiden, das mit Akten des politischen Widerstands oder eben des Gebärens einhergeht, dient dem Zweck, etwas Neues zur Welt zu bringen. Aber was sollen wir von jenem Leiden halten, das mit Formen der Arbeit einhergeht, die den Körper der Arbeitenden mehr oder weniger schnell zerstören, oder mit anderen Formen, die überhaupt keinem instrumentellen Zweck dienen  ? Wenn wir Politik restriktiv als – sprachlich und physisch – aktive Haltung definieren, die innerhalb 262

einer klar abgegrenzten öffentlichen Sphäre stattfindet, dann scheint uns nichts anderes übrigzubleiben, als das »sinnlose Leiden« und die nicht beachtete Arbeit dem Vorpolitischen zuzuordnen, das heißt, es als Erfahrung – nicht als Handlung – anzusehen, die außerhalb des Politischen als solchem existiert. Da jedoch jede Auffassung des Politischen berücksichtigen muss, welche Machtoperation das Politische vom Vorpolitischen abgrenzt und wie die Unterscheidung zwischen öffentlich und privat verschiedene Lebensprozesse ungleich bewertet, müssen wir die Arendt’sche Definition ablehnen, auch wenn sie viel Wertvolles enthält. Oder vielleicht sollten wir besser sagen  : Wir nehmen die Arendt’sche Unterscheidung zwischen dem Leben des Körpers und dem Leben des Geistes zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen über eine andere Art von Körperpolitik. Denn schließlich unterscheidet Arendt Körper und Geist nicht einfach in einem cartesischen Sinn  ; vielmehr bejaht sie nur diejenigen Formen des verkörperten Denkens und Handelns, die etwas Neues schaffen, die mit performativer Wirksamkeit vorgehen. Performative Handlungen lassen sich nicht auf technische Anwendungen reduzieren und unterscheiden sich von passiven und vergänglichen Formen der Erfahrung. Wo also Leid und Vergänglichkeit herrschen, müssen sie in das Leben des Handelns und Denkens umgewandelt werden, und dieses Handeln und Denken muss performativ im illokutionären Sinne sein, muss einem ästhetischen Urteil folgen und etwas Neues in die Welt bringen. Das bedeutet, dass der nur mit Fragen des Überlebens, mit der Reproduktion materieller Bedingungen und der Befriedigung von Grundbedürfnissen beschäftigte Körper noch nicht der »politische« Körper ist  ; das Private ist gewiss notwendig, denn der 263

politische Körper kann nur ans Licht der Öffentlichkeit treten, um zu handeln und zu denken, wenn er gut genährt und gut geschützt ist, wenn er also von zahlreichen vorpolitischen Akteuren unterstützt wird, deren Handeln nicht politisch ist. Insofern es keinen politischen Akteur gibt, der nicht davon ausgehen kann, dass der private Bereich als Stütze fungiert, ist das als Öffentlichkeit definierte Politische wesentlich vom Privaten abhängig, das heißt, das Private ist nicht das Gegenteil des Politischen, sondern gehört zu dessen Definition dazu. Es ist jener gutgenährte Körper, der offen und öffentlich spricht  ; der Körper, der die Nacht wohlbehütet in der privaten Gesellschaft anderer verbracht hat, tritt immer erst später öffentlich in Erscheinung. Die Privatsphäre wird zum Hintergrund des öffentlichen Handelns, aber muss man sie deshalb als vorpolitisch deklarieren  ? Spielt es beispielsweise eine Rolle, ob es in diesem schattenhaften Hintergrund, in dem Frauen, Kinder, Alte und Sklaven leben, Beziehungen der Gleichheit, der Würde oder der Gewaltlosigkeit gibt  ? Wird eine Sphäre der Ungleichheit verleugnet, um eine andere Sphäre der Gleichheit zu rechtfertigen und zu fördern, so brauchen wir mit Sicherheit eine Politik, die ebendiesen Widerspruch und die ihm zugrunde liegende Verleugnung benennen und aufdecken kann. Wenn wir Arendts Definition des Öffentlichen und des Privaten akzeptieren, laufen wir Gefahr, jene Verleugnung billigend in Kauf zu nehmen. Was steht nun also auf dem Spiel, wenn wir Arendts Unterscheidung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen in der klassischen griechischen Polis neu betrachten  ? Die Verleugnung der Abhängigkeit wird zur Voraussetzung für das autonome denkende und handelnde politische Subjekt, was sogleich die Fra264

ge aufwirft, wie »autonom« dieses Denken und Handeln dann wohl sein kann. Wenn wir uns der Unterscheidung zwischen öffentlich und privat anschließen, die Arendt vorbringt, akzeptieren wir damit die Verleugnung der Abhängigkeit als Voraussetzung des Politischen, anstatt diese Mechanismen der Verleugnung selbst zum Gegenstand unserer kritischen Analyse zu machen. Tatsächlich bildet die Kritik jener nicht beachteten Abhängigkeit den Ausgangspunkt für eine neue Körperpolitik, die mit der Einsicht in die menschliche und zwischenmenschliche Abhängigkeit beginnt, oder anders gesagt  : eine Politik, die der Beziehung zwischen Prekarität und Performativität Rechnung trägt. Wie wäre es also, wenn man den Zustand der Abhängigkeit und die Normen, die dessen Verleugnung erleichtern, zum Ausgangspunkt nähme  ? Welchen Unterschied würde dies für die Idee der Politik, ja für die Rolle der Performativität innerhalb des Politischen bedeuten  ? Lässt sich die ausführende und aktive Dimension der performativen Rede von den anderen Dimensionen des körperlichen Lebens trennen, einschließlich der Abhängigkeit und Verwundbarkeit, also auch von Daseinsweisen des lebendigen Körpers, die nicht einfach oder nicht vollständig in Formen eindeutigen Handelns übersetzt werden können  ? Wir müssten uns nicht nur von der Idee verabschieden, dass die verbale Rede das menschliche vom nichtmenschlichen Tier unterscheidet, sondern auch jene Dimensionen des Sprechens anerkennen, die nicht immer bewusste und überlegte Intentionen widerspiegeln. In der Tat ist es, wie Wittgenstein bemerkt hat, manchmal so, dass wir sprechen, Worte äußern, und erst hinterher ein Gefühl für deren Leben entwickeln. Meine Rede beginnt nicht mit meiner Intention, auch wenn sich während des Spre265

chens etwas formt, was man durchaus als Intention bezeichnen kann. Darüber hinaus erfolgt die Performativität des menschlichen Tieres durch Gesten, Gang- und Bewegungsarten, Klänge, Bilder und zahlreiche weitere Ausdrucksmittel, die sich nicht auf öffentliche Formen der verbalen Rede reduzieren lassen. Jenes republikanische Ideal muss einem umfassenderen Verständnis der empfundenen Demokratie weichen. Wie wir uns auf der Straße versammeln, singen, Sprechchöre anstimmen oder auch Stille bewahren, kann ein Teil der performativen Dimension der Politik sein und ist es auch, wobei die Rede nur ein körperlicher Akt unter anderen ist. Natürlich handeln Körper, wenn sie sprechen, aber Sprechen ist nicht die einzige Art, in der sie handeln – und schon gar nicht die einzige Art, in der sie politisch handeln. Wenn sich öffentliche Demonstrationen oder politische Aktionen gegen Formen der Nichtunterstützung richten – gegen Nahrungsmangel oder fehlende Unterkünfte, gegen unsichere oder unbezahlte Arbeit –, dann wird, was zuvor als »Hintergrund« der Politik galt, zu deren erklärtem Gegenstand. Wenn Menschen zusammenkommen, um gegen prekäre Bedingungen zu demonstrieren, dann handeln sie performativ und stellen eine Verkörperung der Arendt’schen Idee der konzertierten Aktion dar. Die Performativität der Politik ergibt sich in solchen Momenten jedoch aus Bedingungen der Prekarität und in politischer Opposition zu dieser Prekarität. Wo Teile der Bevölkerung jenseits der Wirtschaft oder der Politik abgeschrieben werden, da werden Leben als nicht unterstützenswert erachtet. Gegenüber derartigen Entwicklungen besteht die aktuelle Politik der Performativität auf der wechselseitigen Abhängigkeit lebender Wesen und auf den ethischen und politischen Verpflichtungen, die sich aus 266

Strategien ergeben, die Teile der Bevölkerung eines lebbaren Lebens berauben oder zu berauben versuchen. Die Politik der Performativität ist auch eine Möglichkeit, inmitten eines biopolitischen Systems, das solche Bevölkerungsgruppen zu entwerten droht, Werte zu äußern und darzustellen. Diese Diskussion führt natürlich zu einer weiteren Frage  : Reden wir hier nur von menschlichen Körpern  ? Wir haben schon erwähnt, dass Körper nicht ohne die Umgebungen, die Maschinen und die gesellschaftliche Organisation von Abhängigkeiten verstanden werden können, auf denen sie beruhen und die zusammen die Voraussetzungen für ihr Bestehen und Gedeihen bilden. Und selbst wenn wir die Bedürfnisse des Körpers verstehen und benennen könnten – geht es uns nur darum, dass diesen Bedürfnissen entsprochen wird  ? Arendt war, wie wir gesehen haben, sicherlich nicht dieser Ansicht. Oder bemühen wir uns auch darum, dass Körper gedeihen und dass Leben lebbar werden  ? Ich hoffe gezeigt zu haben, dass man sich nicht um ein gutes, lebenswertes Leben bemühen kann, ohne die Bedingungen zu erfüllen, die es einem Körper erlauben, überhaupt zu existieren. Es ist notwendig, zu fordern, dass Körper bekommen, was sie zum Überleben brauchen, denn ihr Überleben ist die Voraussetzung für alle weiteren Forderungen, die wir stellen. Die Forderung erweist sich jedoch als unzureichend, denn wir überleben ja, um zu leben, und das Leben, sosehr es auch das Überleben voraussetzt, muss mehr sein als dieses, um lebenswert zu sein. Man kann überleben, ohne wirklich leben zu können. Und mit Sicherheit gibt es Fälle, in denen es sich nicht zu lohnen scheint, unter solchen Bedingungen zu überleben. Die übergreifende Forderung muss folglich die nach einem lebbaren Leben sein, 267

nach einem Leben also, das auch gelebt werden kann. Wie können wir nun aber über ein solches lebbares Leben nachdenken, ohne ein einzelnes oder einheitliches Ideal dieses Lebens zu zeichnen  ? Wie ich in den vorangegangenen Kapiteln dargelegt habe, geht es meiner Meinung nach nicht darum, herauszufinden, was der Mensch wirklich ist oder sein sollte  ; es sollte klar geworden sein, dass der Mensch auch ein Tier ist und dass seine körperliche Existenz auf Unterstützungssysteme angewiesen ist, die sowohl menschlich als auch nichtmenschlich sind. Ich schließe mich hier also bis zu einem gewissen Grad meiner Kollegin Donna Haraway an, die uns auffordert, über die komplexen Relationalitäten nachzudenken, die das körperliche Leben ausmachen, und der Ansicht ist, dass wir keine weiteren Idealformen des Menschlichen brauchen  ; vielmehr müssen wir das komplexe Beziehungsgeflecht verstehen und beachten, ohne das wir überhaupt nicht existieren würden.10 Es gibt natürlich Bedingungen, unter denen die Art der Abhängigkeit und Relationalität, von der ich spreche, unerträglich erscheint. Wenn Arbeiter / ​innen von Arbeitgeber / ​innen abhängig sind, von denen sie ausgebeutet werden, dann scheinen die Abhängigkeit dieser Arbeiter / ​innen und der Grad ihrer Ausbeutung äquivalent zu sein. Man könnte zu dem Schluss kommen, dass die Abhängigkeit grundsätzlich abgeschafft werden sollte, da die soziale Form, die sie annimmt, die der Ausbeutung ist. Es wäre jedoch ein Fehler, die kontingente Form, die die Abhängigkeit unter den Bedingungen ausbeuterischer Arbeitsverhältnisse annimmt, mit der endgültigen oder notwendigen Bedeutung der Abhängigkeit gleichzusetzen. Auch wenn die Abhängigkeit immer in irgendeiner gesellschaftlichen Form 268

auftritt, bleibt sie etwas, das zwischen diesen Formen wechseln kann und dies auch tut, weshalb sie nicht auf eine von ihnen reduziert werden kann. Worum es mir geht, ist schlichtweg Folgendes  : Kein menschliches Wesen kann ohne eine stützende Umwelt, gesellschaftliche Formen der Relationalität und Formen der Ökonomie überleben oder bestehen, die allesamt wechselseitige Abhängigkeiten voraussetzen und strukturieren. Es stimmt zwar, dass Abhängigkeit mit Vulnerabilität einhergeht und dass wir manchmal besonders verwundbar gerade gegenüber Machtformen sind, die unsere Existenz schwächen oder bedrohen  ; das bedeutet aber nicht, dass wir die Abhängigkeit oder den Zustand der Verwundbarkeit gegenüber sozialen Formen gesetzlich verhindern können. Tatsächlich könnten wir gar nicht verstehen, warum es so schwierig ist, ein gutes Leben in einem schlechten Leben zu führen, wenn wir nicht anfällig für jene Formen der Macht wären, die unser Lebensverlangen ausnutzen oder manipulieren. Wir begehren zu leben, ja sogar gut zu leben, und wir tun dies im Rahmen sozialer Organisationen, biopolitischer Regime, die unser Leben selbst zuweilen für entbehrlich oder unbedeutend erklären oder, schlimmer noch, es zu negieren versuchen. Wenn wir nicht ohne gesellschaftliche Lebensformen bestehen können und die einzig verfügbaren solche sind, die unseren Lebensaussichten entgegenwirken, dann sind wir in einer schwierigen, wenn nicht gar aussichtslosen Lage. Wir sind, um es noch einmal anders zu formulieren, als Körper verwundbar durch andere und durch Institutionen, und diese Vulnerabilität macht einen Aspekt der sozialen Daseinsweise von Körpern aus. Der Tatbestand meiner oder deiner Vulnerabilität verwickelt uns in eine umfassendere politische Problematik von 269

Gleichheit und Ungleichheit, denn Vulnerabilität kann projiziert oder geleugnet werden (psychologische Kategorien), sie kann aber im Verlauf der Erzeugung und Naturalisierung sozialer Formen der Ungleichheit auch ausgenutzt und manipuliert werden (soziale und ökonomische Kategorien). Das ist mit der ungleichen Verteilung von Vulnerabilität gemeint. Mein normatives Ziel besteht nun allerdings nicht einfach darin, eine Gleichverteilung der Vulnerabilität zu fordern, denn vieles hängt davon ab, ob die zugeteilte soziale Form der Vulnerabilität überhaupt erträglich ist. Man kann, mit anderen Worten, nicht wollen, dass das Leben für alle gleichermaßen unlebbar ist. So notwendig das Ziel der Gleichheit auch ist, es bleibt unzureichend, wenn wir nicht einschätzen können, ob die zu verteilende soziale Form der Vulnerabilität gerecht ist oder nicht. Zum einen bin ich der Ansicht, dass die Verleugnung der Abhängigkeit und insbesondere der daraus resultierenden sozialen Form der Vulnerabilität auf eine Unterscheidung zwischen denen, die abhängig sind, und denen, die es nicht sind, hinwirkt. Und diese Unterscheidung steht im Dienste der Ungleichheit, indem sie Formen des Paternalismus stützt oder Bedürftige in essentialistische Begriffe packt. Zum anderen glaube ich, dass sich eine soziale und politische Welt, die die Prekarität im Namen des lebbaren Lebens zu überwinden versucht, nur mit Hilfe eines Begriffs der Interdependenz denken lässt, der die körperliche Abhängigkeit, die Bedingungen der Prekarität und die Möglichkeiten der Performativität anerkennt. Nach meiner Auffassung bildet die Vulnerabilität einen Aspekt der politischen Modalität des Körpers, wobei dieser eindeutig als ein menschlicher, aber als der eines menschlichen Tieres zu verstehen ist. Die gegen270

seitige, das heißt die als wechselseitig begriffene Vulnerabilität markiert eine vorvertragliche Dimension unserer Sozialbeziehungen. Das bedeutet auch, dass sie auf einer gewissen Ebene jener instrumentellen Logik trotzt, die behauptet, dass ich deine Verwundbarkeit nur dann nicht ausnutze, wenn du meine nicht ausnutzt (wodurch Politik zu einer Sache des Aushandelns oder des Abwägens der eigenen Chancen wird). Tatsächlich stellt die Vulnerabilität eine der Bedingungen der Sozialität und des politischen Lebens dar, die sich nicht vertraglich festlegen lassen und deren Verleugnung und Manipulierbarkeit in das Bemühen münden, eine interdependente gesellschaftliche Bedingung der Politik zu zerstören oder zu verwalten. Man darf, wie Jay Bernstein deutlich gemacht hat, Vulnerabilität nicht ausschließlich mit Verletzlichkeit assoziieren. Unsere Empfänglichkeit für alles, was geschieht, ist immer eine Funktion und eine Wirkung der Vulnerabilität, sei es die Offenheit für das Registrieren einer Geschichte, die noch nicht erzählt worden ist, oder die Rezeptivität für das, was ein anderer Körper durchmacht oder durchgemacht hat, selbst wenn dieser Körper gar nicht mehr da ist. Körper sind, wie ich weiter oben ausgeführt habe, immer in gewissem Sinne außer sich, sie erforschen oder erkunden ihre Umgebung, sie werden durch die Sinne erweitert und manchmal sogar enteignet. Dass wir uns in einem anderen verlieren können, dass uns unsere taktilen, motilen, visuellen, olfaktorischen oder auditiven Fähigkeiten über uns selbst hinausführen, liegt daran, dass der Körper nicht an seinem Platz bleibt und dass derlei Enteignung den Körpersinn ganz allgemein kennzeichnet. Wenn dieses Enteignetwerden in der Sozialität als konstitutive Funktion dessen betrachtet wird, was es heißt, zu leben und am 271

Leben zu bleiben, was bedeutet das dann für die Idee der Politik selbst  ? Wenn wir zu unserer Ausgangsfrage zurückkehren – Wie kann man ein gutes Leben im schlechten führen  ? –, können wir dieses moralische Problem im Lichte sozialer und politischer Bedingungen neu betrachten, ohne dabei seine moralische Wichtigkeit zu verdrängen. Möglicherweise hängt die Frage nach dem guten Leben davon ab, ob man die Fähigkeit hat, ein Leben zu führen, und ob man das Gefühl hat, ein Leben zu besitzen, es zu leben, ja, lebendig zu sein. Es gibt immer die Möglichkeit einer zynischen Antwort, die etwa lauten könnte, es gehe gerade darum, die Moral und ihren Individualismus zu vergessen und sich ganz dem Kampf für soziale Gerechtigkeit zu widmen. Wenn wir diesem Weg folgen, kommen wir vermutlich zu dem Schluss, dass die Moral der Politik im weitesten Sinne das Feld überlassen muss, das heißt einer Politik als Gemeinschaftsprojekt zur Realisierung von Gerechtigkeits- und Gleichheitsidealen in einer Art und Weise, die verallgemeinerbar ist. Doch auch in diesem Fall bleibt natürlich ein quälendes Problem weiterhin hartnäckig bestehen, denn es gibt ja immer noch dieses »Ich«, das irgendwie in eine breitere soziale und politische Bewegung eintreten, mit ihr verhandeln und in ihr agieren muss  ; wenn aber diese Bewegung versucht, das »Ich« und das Problem seines »Lebens« zu verdrängen oder auszumerzen, vollzieht sich eine andere Form der Auslöschung  : eine Absorption in eine allgemeine Norm und damit eine Zerstörung des lebendigen Ich. Es kann ja nicht sein, dass die Frage, wie das Leben am besten zu führen sei oder wie man ein gutes Leben führt, in der Auslöschung oder Zerstörung dieses »Ich« und dessen »Leben« gipfelt. Andernfalls führt die Be272

antwortung der Frage direkt zur Zerstörung dieser Frage selbst. Ich glaube zwar nicht, dass sich die Frage der Moral außerhalb des Kontextes des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens stellen lässt, ohne schon Vorannahmen darüber zu haben, wer als Subjekt des Lebens oder als lebendiges Subjekt gilt, aber ich bin sicher, dass die richtige Antwort auf die Frage nach dem guten Leben nicht in der Zerstörung des Lebenssubjekts liegen kann. Wenn wir zu Adorno zurückkehren, der (sinngemäß) sagt, man könne kein gutes Leben in einem schlechten Leben führen, stellen wir fest, dass hier zweimal der Ausdruck »Leben« auftaucht, und das ist kein Zufall. Wenn ich mich frage, wie ein gutes Leben zu führen sei, beziehe ich mich auf ein »Leben«, das völlig unabhängig davon, ob ich diejenige bin, die es führt, gut wäre  ; dennoch bin ich es, die nach der Antwort sucht, also ist es in gewissem Sinne auch mein Leben. Anders gesagt  : Vom Standpunkt der Moral betrachtet ist das Leben immer schon ein doppeltes. Wenn ich zum zweiten Teil des Satzes gelangt bin und mich frage, wie ein gutes Leben im schlechten Leben möglich ist, werde ich mit der Idee konfrontiert, dass das Leben etwas sozial und ökonomisch Konstruiertes ist. Diese soziale und ökonomische Konstruktion des Lebens ist deshalb »schlecht«, weil sie nicht die Bedingungen für ein lebenswertes Leben schafft, weil die Lebbarkeit ungleich verteilt wird. Man könnte sich einfach wünschen, ein gutes Leben inmitten eines schlechten Lebens zu führen, so gut es geht seinen eigenen Weg zu finden und die umfassenderen sozialen und ökonomischen Ungleichheiten, die durch bestimmte Organisationen des Lebens hervorgerufen werden, außer Acht zu lassen, aber so einfach ist es nicht. Schließlich ist das Leben, 273

das ich führe, zwar eindeutig dieses und kein anderes Leben, aber es ist dennoch immer schon mit breiteren Lebensnetzwerken verknüpft, denn wenn es das nicht wäre, könnte ich gar nicht leben. Mein eigenes Leben hängt also von einem Leben ab, das nicht mir gehört, nicht nur vom Leben des / ​der anderen, sondern von einer umfassenderen sozialen und ökonomischen Organisation des Lebens. Mein Leben, mein Überleben, ist abhängig von diesem weiteren Sinn des Lebens, zu dem das organische Leben ebenso gehört wie lebendige und erhaltende Umgebungen sowie soziale Netze, die wechselseitige Abhängigkeiten anerkennen und unterstützen. Sie bestimmen, wer ich bin, das heißt, ich trete einen Teil meines eindeutig menschlichen Lebens ab, um zu leben, um überhaupt menschlich zu sein. In der Frage, wie ein gutes Leben in einem schlechten Leben zu leben sei, steckt implizit die Idee, dass wir uns zwar immer noch fragen können, wie ein gutes Leben aussehen könnte, wir es uns aber nicht mehr ausschließlich als das gute Leben des Individuums vorstellen können. Es gibt zwei solcher »Leben« – meines und das gute Leben, verstanden als eine soziale Lebensform – und das eine ist in das andere verwickelt. Wenn wir über soziale Leben sprechen, dann beziehen wir uns folglich darauf, wie das Soziale das Individuelle durchzieht oder sogar die soziale Form der Individualität hervorbringt. Zugleich bezieht sich das Individuum – unabhängig vom Grad seiner Selbstreferenzialität – immer nur vermittelt, durch ein Medium, auf sich selbst, und selbst die Sprache seiner Selbsterkenntnis kommt von anderswo her. Das Soziale bedingt und vermittelt dieses Erkennen meiner selbst, das ich betreibe. Wie wir von Hegel wissen, erkennt das sich selbst und sein eigenes Leben erkennende »Ich« sich immer auch als das Leben 274

eines anderen. Der Grund für die Ambiguität des »Ich« und des »Du« ist, dass sie beide mit anderen Systemen der wechselseitigen Abhängigkeit zusammenhängen, die Hegel Sittlichkeit* nennt. Das wiederum bedeutet, dass ich diese Erkenntnis meiner selbst zwar leiste, während ich dies tue jedoch eine Reihe von sozialen Normen entwickelt wird, deren Urheber ich definitiv nicht bin, obwohl ich ohne sie gar nicht denkbar wäre. Was in Adornos Probleme der Moralphilosophie als moralische Frage nach dem richtigen Leben in einem schlechten beginnt, kulminiert in der Behauptung, man müsse Widerstand gegen das schlechte Leben leisten, um das gute verfolgen zu können. Er schreibt, dass »das Leben selbst eben so entstellt und verzerrt ist, daß im Grunde kein Mensch in ihm richtig zu leben, seine eigene menschliche Bestimmung zu realisieren vermag – ja, ich möchte fast so weit gehen  : daß die Welt so eingerichtet ist, daß selbst noch die einfachste Forderung von Integrität und Anständigkeit eigentlich fast bei einem jeden Menschen überhaupt notwendig zu Protest führen muß«.11 Interessant ist, dass Adorno an dieser Stelle schreibt, er würde »fast« so weit gehen, zu sagen, was er dann sagt. Er ist sich seiner Formulierung nicht ganz sicher, aber er bringt sie dennoch vor. Er überwindet sein Zögern, bringt es aber zur Sprache. Kann man so einfach sagen, dass das Streben nach dem moralischen Leben unter den gegenwärtigen Umständen zum Protest führen kann und muss  ? Kann man den Widerstand auf den Protest reduzieren  ? Oder ist der Protest für Adorno die gesellschaftliche Form, die das Streben nach dem richtigen, guten Leben heute annimmt  ? Adorno fährt in demselben spekulativen Ton fort  : »Das einzige, was man vielleicht sagen kann, ist, daß das richtige Leben heute in der Gestalt des Wider275

standes gegen die von dem fortgeschrittensten Bewußtsein durchschauten, kritisch aufgelösten Formen eines falschen Lebens bestünde.«12 Adorno spricht vom »falschen« Leben, was in der englischen Übersetzung als »das schlechte Leben« [the bad life] wiedergegeben wird – der Unterschied ist natürlich sehr wichtig, denn das Streben nach dem guten Leben kann zwar moralisch durchaus ein richtiges Leben sein, das Verhältnis zwischen den beiden muss aber erst noch geklärt werden. Außerdem scheint Adorno sich zur erlesenen Gruppe derer zu zählen, die fortschrittlich und fähig genug sind, um die kritische Arbeit zu leisten, die erforderlich ist. Auffällig ist, dass die kritische Praxis in diesem Satz gleichbedeutend mit »Widerstand« verwendet wird. Und doch sind auch diese Erklärungen, wie der Satz davor, nicht frei von Zweifeln. Protest und Widerstand sind Merkmale von öffentlichen Kämpfen, von Massenaktionen, hier charakterisieren sie jedoch die kritischen Fähigkeiten einiger weniger. Adorno selbst schwankt ein wenig, auch wenn er seine spekulativen Bemerkungen nachfolgend erläutert und eine etwas andere Forderung zur Reflexion aufstellt  : »[D]ieser Widerstand gegen das, was die Welt aus uns gemacht hat, ist nun beileibe nicht bloß ein Unterschied gegen die äußere Welt […], sondern dieser Widerstand müßte sich allerdings in uns selber gegen all das erweisen, worin wir dazu tendieren, mitzuspielen.«13 Was Adorno in solchen Momenten auszuschließen scheint, ist die Idee des öffentlichen Widerstands, der Kritik, die sich dadurch formiert, dass Körper auf den Straßen zusammenkommen, um ihre Gegnerschaft gegen bestehende Machtregime zum Ausdruck zu bringen. Er versteht Widerstand freilich auch als ein »Neinsagen« zu dem Teil des Selbst, der beim Status quo 276

»mitspielen« will. Widerstand wird also zum einen als eine Form der Kritik verstanden, die nur von einigen wenigen Auserwählten geübt werden kann, zum anderen aber auch als Widerstand gegen einen Teil des Selbst, der sich dem Falschen anschließen will, als innere Barriere gegen die Komplizenschaft. Damit schränkt er die Idee des Widerstands auf eine Weise ein, die ich so nicht akzeptieren kann. In meinen Augen werfen beide seiner Äußerungen weitere Fragen auf  : Welcher Teil des Selbst wird im Widerstand zurückgewiesen und welcher gestärkt  ? Wenn ich den Teil zurückweise, der das schlechte Leben mitspielt, habe ich mich dann geläutert  ? Habe ich eingegriffen, um die Struktur der sozialen Welt zu verändern, von der ich mich fernhalte, oder habe ich mich isoliert  ? Habe ich mich mit anderen zu einer Widerstandsbewegung und zum Kampf für gesellschaftliche Veränderungen zusammengeschlossen  ? Diese Fragen in Bezug auf Adornos Haltung stehen natürlich schon lange im Raum – ich erinnere mich an eine Demonstration in Heidelberg 1979, wo er von einigen linken Gruppen angegriffen wurde, die seine Idee des Protests für zu eng hielten. Was mich und vielleicht uns alle in der heutigen Situation betrifft, so können wir uns immer noch fragen, ob Widerstand nicht mehr sein muss als nur die Ablehnung einer bestimmten Lebensweise, denn diese Position abstrahiert letztlich das Moralische vom Politischen auf Kosten der Solidarität, indem sie den gescheiten und moralisch reinen Kritiker zum Vorbild des Widerstands erklärt. Soll der Widerstand für die Grundsätze der Demokratie einstehen, für die er kämpft, dann muss er sowohl plural als auch verkörpert sein. Dazu gehört auch die Versammlung der Unbetrauerbaren im öffentlichen Raum, das Aufmerksammachen auf ihre Existenz und ihren An277

spruch auf ein lebbares Leben, einfach gesagt  : auf ein Leben vor dem Tod. Wenn der Widerstand wirklich zu einer neuen Lebensweise führen soll, zu einem lebenswerteren Leben, das der ungleichen Verteilung von Prekarität entgegensteht, dann müssen Akte des Widerstands zugleich Nein zur einen Lebensweise und Ja zur anderen sagen. Zu diesem Zweck müssen wir die performativen Folgen der konzertierten Aktion im Arendt’schen Sinne für unsere Zeit neu interpretieren. Nach meiner Auffassung lässt sich das gemeinsame Vorgehen, das den Widerstand kennzeichnet, manchmal im Sprechakt oder im heroischen Kampf finden, es findet sich aber auch in jenen körperlichen Gesten der Ablehnung, des Schweigens, der Bewegung oder der Weigerung, sich zu bewegen, die charakteristisch sind für Initiativen, die demokratische Grundsätze der Gleichheit und ökonomische Grundsätze der wechselseitigen Abhängigkeit allein schon durch ihr Handeln umsetzen, mit dem sie eine im radikaleren und substanzielleren Sinne demokratische und interdependente Lebensweise fordern. Eine gesellschaftliche Bewegung ist auch eine Sozialform, und wenn sie eine neue Lebensweise, eine lebenswertere Form des Lebens fordert, muss sie dabei selbst den Grundsätzen folgen, die sie verwirklichen will. Wenn dies gelingt, kann radikale Demokratie in solchen Bewegungen performativ auf eine Weise zum Ausdruck gebracht werden, die schon allein erkennen lässt, was ein gutes im Sinne eines lebbaren Lebens bedeuten könnte. Ich habe darauf hingewiesen, dass sich viele neue soziale Bewegungen gegen den Zustand der Prekarität richten. Diesen Bewegungen geht es bei ihrem Kampf nicht darum, die Interdependenz oder gar die Vulnerabilität zu überwinden  ; sie versuchen vielmehr, 278

Bedingungen herbeizuführen, unter denen Vulnerabilität und Interdependenz erträglich werden. Das ist eine Politik, in der performatives Handeln körperlich und plural wird und die einen kritischen Blick auf die Bedingungen des körperlichen Überlebens, Durchhaltens und Gedeihens im Rahmen der radikalen Demokratie wirft. Wenn ich ein gutes Leben führen soll, dann wird es ein Leben mit anderen sein, ein Leben, das ohne diese anderen gar kein Leben wäre. Ich verliere dabei nicht das Ich, das ich bin  ; wer ich bin, wird durch meine Verbindungen zu anderen beeinflusst und verändert, denn meine Abhängigkeit von anderen ist, ebenso wie meine Verlässlichkeit für andere, unabdingbar, um zu leben und um gut zu leben. Dass wir gleichermaßen von Prekarität bedroht sind, ist nur ein Grund für unsere potenzielle Gleichheit und unsere wechselseitige Pflicht, gemeinsam die Bedingungen für ein lebbares Leben zu schaffen. Indem wir uns eingestehen, dass wir einander brauchen, bekennen wir uns auch zu wesentlichen Grundlagen der gesellschaftlichen und demokratischen Bedingungen dessen, was wir nach wie vor als »das gute Leben« bezeichnen können. Diese Bedingungen sind für das demokratische Leben von entscheidender Bedeutung, weil sie einerseits Teil einer anhaltenden Krise sind, andererseits aber auch einer Form des Denkens und Handelns angehören, die auf die drängenden Probleme unserer Zeit eingeht.

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Anmerkungen

Einleitung 1 Vgl. Ernesto Laclau, Chantal Mouffe, Hegemonie und radi­ kale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 1991. 2 Vgl. Hamid Dabashi, The Arab Spring. The End of Postcolonialism, London 2012. 3 Vgl. Shoshana Felman, The Scandal of the Speaking Body. Don Juan with J. L. Austin, or Seduction in Two Languages, Palo Alto 2003. 4 Vgl. Wendy Brown, »Neo-liberalism and the End of Liberal Democracy«, in  : Theory & Event 7, 1 (2003), ⟨http  ://muse. jhu.edu / ​login  ?auth=0&type=summary&url=/journals / ​theory_and_event / ​v007 / ​7.1brown.html⟩, letzter Zugriff 13. 12. ​ 2015. 5 Der Begriff des frei verfügbaren Lebens [disposable life] taucht in zahlreichen aktuellen Debatten auf. Vgl. Achille Mbembe, »Nekropolitik«, in  : Marianne Pieper u. a. (Hg.), Biopolitik – in der Debatte, Wiesbaden 2011, S. 63-96, sowie Elizabeth A. Povinelli, Economies of Abandonment. Social Belonging and Endurance in Late Liberalism, Durham 2011. Siehe auch die Website der Columbia University  : ⟨http  ://historiesofviolence.com / ​specialseries / ​disposable-life/⟩, letzter Zugriff 16. 04. ​ 2016. 6 Vgl. Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France 1975 / ​1976, Frankfurt / ​M. 1999  ; ders., Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesungen am Collège de France 1977 / ​1978, Frankfurt / ​M. 2004. 7 Vgl. Isabell Lorey, State of Insecurity. Government of the Precarious, London 2015. 281

8 Vgl. Michel Feher, »Self-Appreciation  ; or, The Aspirations of Human Capital«, in  : Public Culture 21, 1 (2009), S. 21-41. 9 Vgl. Lauren Berlant, Cruel Optimism, Durham 2011. 10 Vgl. ebd. 11 Vgl. Sheldon S. Wolin, »Fugitive Democracy«, in  : Constellations. An International Journal of Critical and Democratic Theory 1, 1 (1994), S. 11-25. 12 Vgl. meine »Einleitung  : Gefährdetes Leben, betrauerbares Leben«, in  : Judith Butler, Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen, Frankfurt / ​M. 2010.

1. Geschlechterpolitik und das Recht zu erscheinen 1 Ein ernüchterndes Beispiel für diese Weigerung, dem politischen Anspruch von Versammlungen Beachtung zu schenken, liefern die Vorfälle in London 2011 oder in den Pariser Vorstädten 2005. Siehe den Beitrag »Paul Gilroy Speaks on the Riots« aus dem Blog Dream of Safety vom 16. 08. ​ 2011, ⟨http  ://dreamofsafety.blogspot.com / ​2011 / ​08 / ​paul-gilroy-speaks-on-riots-august-2011.html⟩, letzter Zugriff 17. 01. ​ 2016. Vgl. dazu auch mehrere jüngere Berichte über den Einsatz von militärischem Personal aus Israel und Bahrain in den USA, um die dortige Polizei darin zu schulen, Demonstrationen zu unterdrücken und aufzulösen  : Max Blumenthal, »How Israeli Occupation Forces, Bahraini Monarchy Guards Trained U. S. Police for Coordinated Crackdown on ›Occupy‹ Protests«, in  : The Exiled, 2. 12. ​2011, ⟨http  ://exiledonline.com / ​max-blumenthal-how-israeli-occupation-forces-bahraini-monarchy-guards-trained-u-s-police-for-coordinated-crackdown-on-occupy-protests/⟩, letzter Zugriff 17. 01. ​2016. 2 Vgl. Jacques Derrida, »Signatur Ereignis Kontext«, in  : ders., Limited Inc, Wien 2001, S. 15-45  ; Pierre Bourdieu, Was heißt sprechen  ? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, Wien 282

1990  ; Eve Kosofsky Sedgwick, Epistemology of the Closet, Berkeley 1990. 3 Im Hegel’schen Sinne überwindet der Kampf um Anerkennung nie ganz den Kampf um Leben und Tod. 4 Vgl. Judith Butler, Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen, Frankfurt / ​M. 2010. * Vgl. Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1967. A. d. Ü. 5 Vgl. Linda Zerilli, »The Arendtian Body«, in  : Bonnie Honig (Hg.), Feminist Interpretations of Hannah Arendt, University Park 1995, S.  167-194, und Joan Cocks, »On Nationalism  : Frantz Fanon, 1925-1961  ; Rosa Luxemburg, 1871-1919  ; and Hannah Arendt, 1906-1975«, in  : ebd., S. 221-246. 6 Alle Zitate in dieser Passage  : Hannah Arendt, Über die Revolution, München 1963, S. 145 f. 7 Ebd., S. 145. 8 Zerilli, »The Arendtian Body«, S. 178 f. 9 Ruth Wilson Gilmore, Golden Gulag. Prisons, Surplus, ­Crisis, and Opposition in Globalizing California, ­Berkeley 2007, S. 28. 10 Zur zentralen Bedeutung des Rechts auf körperliche Mobilität für eine demokratische Politik siehe Hagar Kotef, Movement and the Ordering of Freedom. On Liberal Governances of Mobility, Durham 2015. 11 Hannah Arendt, »Der Niedergang des Nationalstaates und das Ende der Menschenrechte«, in  : dies., Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München 1986, S. 559-625. Vgl. auch Judith Butler, Gayatri Chakravorty Spivak, Sprache, Politik, Zugehörigkeit, Zürich, Berlin 2007. 12 Vgl. Joan W. Scott, The Politics of the Veil, Princeton 2010. 13 Siehe ⟨http  ://baltimore.cbslocal.com / ​2011 / ​04 / ​22 / ​videoshows-woman-being-beaten-at-baltimore-co-mcdonalds/⟩, letzter Zugriff 30. 01. ​2016. 14 Vgl. die Website der Vereinigung ⟨www.pqbds.com⟩, letzter Zugriff 07. 02. ​2016. 15 Vgl. Jorge E. Hardoy, David Satterthwaite, Squatter Citizen. Life in the Urban Third World, London 1989. 283

16 Vgl. Denise Riley, »Am I That Name  ?« Feminism and the Category of Women in History, Minneapolis 1988. 17 Eve Kosofsky Sedgwick, »Queere Performativität. Henry James’ The Art of the Novel«, in  : Matthias Haase u. a. (Hg.), Outside. Die Politik queerer Räume, Berlin 2005, S. 13-37. 18 Dieser letzte Diskussionspunkt beruht auf meiner Vorlesung »Rethinking Vulnerability and Resistance«, die ich im Juli 2014 in Alcala in Spanien gehalten habe. Teile daraus wurden im Online-Magazin Profession der Modern Language Association veröffentlicht  : ⟨https  ://profession.commons.mla. org / ​2014 / ​03 / ​19 / ​vulnerability-and-resistance/⟩, letzter Zugriff 17. 04. ​2016.

2. Körperallianzen und die Politik der Straße 1 Jasbir K. Puar, Terrorist Assemblages. Homonationalism in Queer Times, Durham 2007. 2 Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1967, S. 192. 3 Ebd. 4 Ebd. 5 »Der Standpunkt einer Ethik ist  : Wessen bist du fähig, was kannst du  ? Daher die Rückkehr zu dieser Art Aufschrei Spinozas  : Was kann ein Körper  ? Wir wissen nie im Voraus, was ein Körper kann. Wir wissen nie, wie wir organisiert sind und wie die Daseinsweisen in jemanden eingewickelt sind.« (Gilles Deleuze, »Cours Vincennes  : Ontologie-Ethique«, 21. 12. ​1980, ⟨http  ://www.webdeleuze.com / ​php / ​texte.php  ? cle=190&groupe=Spinoza&langue=2⟩, letzter Zugriff 17. 02. ​ 2016  ; s. a. ders., Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, München 1993, S.  191-205. Meine Darstellung unterscheidet sich von Deleuzes in mehreren Hinsichten, vor allem dadurch, dass sie Körper in ihrer Pluralität begreift, aber auch dadurch, dass sie die Frage stellt, was die Bedingungen dafür sind, dass ein Körper überhaupt irgendetwas kann. 284

6 Vgl. Adriana Cavarero, For More than One Voice. Toward a Philosophy of Vocal Expression, Palo Alto 2005. 7 Arendt, Vita activa, S. 193. 8 Vgl. Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt / ​M. 2002. 9 Ihre erste Untersuchung des Rechts, Rechte zu haben, im Zusammenhang mit Flüchtlingen nahm sie 1943 in ihrem Essay »We Refugees« vor (Hannah Arendt, »We Refugees«, in  : Menorah Journal 31 [1943], S. 69-77  ; deutsch erstmals erschienen als »Wir Flüchtlinge«, in  : dies., Zur Zeit. Politische Essays, hg. v. Marie Luise Knott, B ­ erlin 1986, S. 7-21). Siehe auch Giorgio Agambens kurzen Kommentar zu diesem Essay  : »Jenseits der Menschenrechte«, in  : ders., Mittel zum Zweck. Noten zur Politik, Zürich, Berlin 2001, S. 23-35. 10  Vgl. Zeynep Gambetti, »Occupy Gezi as Politics of the Body«, in  : Umut Özkırımlı (Hg.), The Making of a Protest Movement in Turkey  : #occupygezi, Basingstoke u. a. 2014, S. 89-102. 11 Hans Wehr, Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart. Arabisch – Deutsch, Wiesbaden 51985, S. 591. 12 Vgl. Ruth Gilmore, Golden Gulag. Prisons, Surplus, Crisis, and Opposition in Globalizing California, Berkeley 2007.

3. Gefährdetes Leben und die Ethik der Kohabitation 1 Susan Sontag, Das Leiden anderer betrachten, München 2003. 2 Vgl. Judith Butler, Am Scheideweg. Judentum und die Kritik am Zionismus, Frankfurt / ​M. 2013, sowie meinen Beitrag unter ⟨http  ://laphilosophie.blog.lemonde.fr / ​2013 / ​03 / ​21 / ​levinas-trahi-la-reponse-de-judith-butler/⟩, letzter Zugriff 02. 03. ​ 2016  ; siehe auch Lévinas’ Bemerkungen über die »asiatischen Horden«, welche die ethische Grundlage der jüdisch-christlichen Kultur bedrohten  : Emmanuel Lévinas, »Das jüdische Denken heute«, in  : ders., Schwierige Freiheit. Versuch über das 285

Judentum, Frankfurt / ​M. 1992, S. 116-125. Ich diskutiere dies ausführlicher in Judith Butler, Kritik der ethischen Gewalt. Adorno-Vorlesungen 2002, Frankfurt / ​M. 2007, S. 122-130. 3 Vgl. Butler, Am Scheideweg. 4 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1964, S. 327-329. 5 Siehe Arendts berüchtigten Brief an Karl Jaspers von 1961, in dem sie ihren Abscheu vor Juden arabischer Abstammung zum Ausdruck bringt  : »Mein erster Eindruck  : Oben die Richter, bestes deutsches Judentum. Darunter die Staatsanwaltschaft, Galizianer, aber immerhin noch Europäer. Alles organisiert von einer Polizei, die mir unheimlich ist, nur Hebräisch spricht und arabisch aussieht  ; manche ausgesprochen brutale Typen darunter. Die gehorchen jedem Befehl. Und vor den Türen der orientalische Mob, als sei man in Istanbul oder einem anderen halbasiatischen Land. Dazwischen, sehr prominent in Jerusalem, die Peies- und Kaftan-Juden, die allen vernünftigen Leuten hier das Leben unmöglich machen.« (Hannah Arendt, Karl Jaspers, Briefwechsel 1926-1969, hg. v. Lotte Köhler u. Hans Saner, München 1985, S. 472 [Brief vom 13. 4. ​1961]). 6  Vgl. Meron Benvenisti, »The Binationalism Vogue«, in   : Haaretz, 30. 04. ​2009, ⟨http  ://www.haaretz.com / ​print-edition / ​opinion / ​the-binationalism-vogue-1 275 085⟩, letzter Zugriff 19. 04. ​2016.

4. Körperliche Verwundbarkeit, koalitionäre Politik 1 Es ist eine Sache, das Versammlungsrecht derer zu verteidigen, deren Meinung man nicht teilt, aber eine andere, aktuelle Demonstrationen zu begrüßen oder zu unterstützen. In diesem Text geht es zwar nicht um die Voraussetzungen und Grenzen des Versammlungsrechts, es scheint mir aber wichtig, von Anfang an zu betonen, dass ich das Recht aller möglichen Gruppen, sich auf der Straße zu versammeln, achte, auch solcher, 286

mit deren Auffassungen ich überhaupt nicht einverstanden bin. Die Versammlungsfreiheit hat gewiss Grenzen, diese lassen sich nach meinem Dafürhalten aber nur aufstellen, wenn man überzeugend nachweist, dass eine Gruppe das körperliche Wohl anderer vorsätzlich gefährdet, die denselben rechtmäßigen Anspruch auf den öffentlichen Raum haben. 2 Siehe die Arbeiten von Wendy Brown über die Privatisierung öffentlicher Güter, zum Beispiel »Neo-liberalism and the End of Liberal Democracy«, in  : Theory & Event 7, 1 (2003), ⟨http  ://muse.jhu.edu / ​login  ?auth=0&type=summary&url=/ journals / ​theory_and_event / ​v007 / ​7.1brown.html⟩, letzter Zugriff 13. 12. ​2015, oder auch ihren Vortrag unter ⟨http  :// cupe3913.on.ca / ​wendy-brown-on-the-privatization-of-universities/⟩, letzter Zugriff 26. 03. ​2016. 3 Vgl. Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1967, S. 192. 4  Vgl. Zeynep Gambetti, »Occupy Gezi as Politics of the Body«, in  : Umut Özkırımlı (Hg.), The Making of a Protest Movement in Turkey  : #occupygezi, Basingstoke u. a. 2014, S. 89-102. 5 Vgl. Stephen Jay Gould, »Die Haltung macht den Menschen aus«, in  : ders., Darwin nach Darwin. Naturgeschichtliche Reflexionen, Frankfurt / ​M. u. a. 1984, S. 174-180. 6 Auf diesen Punkt verweisen auch die jüngste Arbeit von Rosi Braidotti, Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen, Frankfurt / ​M. 2014, sowie Hélène Mialet, Hawking Incorporated. Stephen Hawking and the Anthropology of the Know­ ing Subject, Chicago 2012. 7 Vgl. meine »Einleitung  : Gefährdetes Leben, betrauerbares Leben«, in  : Judith Butler, Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen, Frankfurt / ​M. 2010, S. 9-38. 8 Zum Thema komplexe Relationalitäten siehe Donna J. Hara­ way, Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature, New York 1991, und dies., The Companion Species Manifesto. Dogs, People, and Significant Otherness, Chicago 2003. 9 Eine Vielzahl von feministischen Theoretiker / ​innen widmet sich dem Thema Vulnerabilität. Die folgenden neueren Texte vermitteln einen Einblick in die wichtigen politischen Impli287

kationen des Begriffs  : Martha A. Fineman, »The Vulnerable Subject  : Anchoring Equality in the Human Condition«, in  : Yale Journal of Law and Feminism 20, 1 (2008), S. 8-40  ; Anna Grear, »The Vulnerable Living Order  : Human Rights and the Environment in a Critical and Philosophical Perspective«, in  : Journal of Human Rights and the Environment 2, 1 (2011), S.  23-44  ; Peadar Kirby, »Vulnerability and Globalization  : Mediating Impacts on Society«, in  : Journal of Human Rights and the Environment 2, 1 (2011), S. 86-105  ; Martha A. Fineman, Anna Grear (Hg.), Vulnerability. Reflections on a New Ethical Foundation for Law and Politics, Burlington 2013  ; Katie E. Oliviero, »Sensational Nation and the Minutemen  : Gendered Citizenship and Moral Vulnerabilities«, in  : Signs  : Journal of Women and Culture in Society 32, 3 (2011), S. 679706  ; siehe auch Bryan S. Turner, Vulnerability and Human Rights, University Park 2006, sowie Shani D’Cruze, Anupama Rao (Hg.), Violence, Vulnerability and Embodiment. Gender and History, Oxford 2005. 10 Überlegungen zur gegenwärtigen Prekarität finden sich in Luc Boltanski, Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2006. 11 Der taktische Einsatz der Unterscheidung zwischen Verwundbarkeit und Unverwundbarkeit hängt auch von der differenziellen Verteilung von Durchlässigkeit ab. Besondere Bedeutung erhielt die Rede von der Durchlässigkeit in den USA nach dem 11. September 2001  ; mit dem Verweis auf die Durchlässigkeit der nationalen Grenzen wurden Ängste davor geschürt, dass ungewollt in uns eingedrungen wird, also vor einem Überschreiten körperlicher Grenzen. In einer solchen Sprache sind sexuelle Verbote ebenso wie Geschlechternormen am Werk – die Furcht vor Vergewaltigung und das Vorrecht, selbst zu vergewaltigen, sind nur zwei Beispiele von vielen, wie geschlechtsspezifische Unterschiede mit politischen Problemen zusammenhängen, die sich aus der Durchlässigkeit des Körpers ergeben, welche man lediglich kontrollieren, aber nicht beseitigen kann (da alle Körper Öffnungen haben oder mit Instrumenten durchdrungen werden können). Trotzdem setzt sich das unmögliche Projekt fort, ein 288

Geschlecht als durchlässig und das andere als undurchlässig zu betrachten. 12 Vgl. Albert Memmi, Von Süchten und Sehnsüchten, Mainz 1999. 13 Vgl. Gilles Deleuze, »Was kann ein Körper  ?«, in  : ders., Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, München 1993, S. 191-205. 14 Vgl. Isabelle Stengers, Thinking with Whitehead. A Free and Wild Creation of Concepts, Cambridge, MA 2011. 15 Die Slutwalks sind ein bemerkenswertes Beispiel für die mutige Übernahme des öffentlichen Raumes, haben aber auch die konstruktive Kritik schwarzer Frauen auf sich gezogen, die ihnen fehlendes Verständnis für die Unmöglichkeit einer Wiederaneignung des Begriffes »slut« (»Schlampe«) vorwerfen. Siehe dazu den Eintrag »An Open Letter from Black Women to the SlutWalk« aus dem Black Women’s Blueprint Blog vom 23. 09. ​2011, ⟨http  ://www.huffingtonpost.com / ​susanbrison / ​slutwalk-black-women_b_980 215.html⟩, letzter Zugriff 04. 04. ​2016. 16 Bernice Johnson Reagon, »Coalition Politics  : Turning the Century«, in  : Barbara Smith (Hg.), Home Girls. A Black Feminist Anthology, New York 1983, S. 356-368, hier S. 356 f., das letzte längere Zitat findet sich auf S. 365.

5. »We the People« – Gedanken zur Versammlungsfreiheit * Étienne Balibar, Nous, citoyens d’Europe  ? Les frontières, l’État, le peuple, Paris 2001  ; engl. We, the People of Europe  ? Reflections on Transnational Citizenship, Princeton 2004  ; dt. Sind wir Bürger Europas  ? Politische Integration, soziale Ausgrenzung und die Zukunft des Nationalen, Bonn 2005. A. d. Ü. 1 Die IAO macht deutlich, dass das Recht, sich friedlich zu versammeln und zu Vereinigungen zusammenzuschließen, ein zentraler Bestandteil von Tarifverhandlungen sowie der Be289

teiligung und Mitgliedschaft in internationalen Arbeitsorganisationen ist. Vgl. David Tajgman, Karen Curtis, Freedom of Association  : A User’s Guide. Standards, Principles, and Procedures of the International Labour Organization, Genf 2000, S. 6. In der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« der Vereinten Nationen (1948) wird das Versammlungsrecht in den Artikeln 20 und 23 spezifiziert. Am bedeutendsten aber dürfte sein, dass der Grundsatz in der Formulierung der IAO – hier unter der Bezeichnung »Vereinigungsfreiheit und Schutz des Vereinigungsrechts« – in Artikel 22 des »Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte« (1976) bestätigt wird  ; siehe ⟨http  ://www.auswaertiges-amt.de / cae / ​servlet / ​contentblob / ​360 794/ publicationFile / ​3613 / ​IntZi vilpakt.pdf⟩, letzter Zugriff 20. 04. ​2016. 2 Auf diesen Punkt legt Giorgio Agamben bei seiner Darstellung der staatlichen Souveränität tendenziell das Hauptaugenmerk  ; vgl. Giorgio Agamben, Ausnahmezustand. Homo sacer II . 1, Frankfurt / ​M. 2004. 3 Arendt geht zwar in Über die Revolution nicht direkt auf die Versammlungsfreiheit ein, sie zeichnet aber den Weg nach, wie aus den Menschen, die während der Französischen Revolution aus Wut über das Elend auf die Straße gingen, die Massen wurden, deren Hauptziel die Rache war (Hannah Arendt, Über die Revolution, München 1963, S. 140-142). Ihr Ziel, sich von ihrem Leiden zu befreien, ist in Arendts Augen nicht identisch mit dem eigentlichen Ziel der Freiheit. Zu dieser gehört das gemeinsame Handeln, um das Neue hervorzubringen und, im politischen Sinne, um das Neue auf der Basis der Gleichheit hervorzubringen. Die Aufgabe besteht für sie darin, von der Rache zu einem »Gründungsakt, der über die neue Staatsform entscheidet« (ebd., S. 287), überzugehen (ein Schritt, der an Nietzsches Versuch denken lässt, diejenigen aus der Reserve zu locken, die eine Sklavenmoral praktizieren, um Quellen der Bestätigung zu finden). In ihrem Essay »Ziviler Ungehorsam« greift sie die an Tocqueville erinnernde Idee der »freiwilligen Vereinigung« auf (Hannah Arendt, »Ziviler Ungehorsam«, in  : dies., Zur Zeit. Politische Essays, hg. v. Marie Luise Knott, Berlin 1986, S. 119-160). Es ist bezeich290

nend, dass die »Versammlung« in diesem Text nur im Zusammenhang mit der »verfassungsgebenden Versammlung« im Sinne der Nationalversammlung diskutiert wird. Jason Frank entdeckt in der Versammlungsfreiheit die »verfassungsgebende Gewalt« und stellt fest, dass diese in Arendts Analysen der Französischen beziehungsweise Amerikanischen Revolution jeweils unterschiedlich bewertet wird (Jason Frank, Constituent Moments. Enacting the People in Postrevolutionary America, Durham 2010, S. 62-66). Siehe auch Seyla Benhabib, Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne, Frankfurt / ​M. 2006. 4 John D. Inazu, Liberty’s Refuge. The Forgotten Freedom of Assembly, New Haven 2012. Inazu schreibt, man müsse die Versammlungsfreiheit von der Vereinigungsfreiheit und dem Recht auf freie Meinungsäußerung trennen  : »Es geht etwas Wichtiges verloren, wenn wir nicht den Zusammenhang zwischen der Bildung, Zusammensetzung und Existenz einer Gruppe und deren Ausdruck begreifen. Viele Gruppenäußerungen sind nur vor dem Hintergrund der gelebten Praxis verständlich, die ihnen eine Bedeutung geben« (ebd., S. 2). 5 Siehe J. Kēhaulani Kauanui, Hawaiian Blood. Colonialism and the Politics of Sovereignty and Indigeneity, Durham 2008. 6 Frank, Constituent Moments. 7  Vgl. Ernesto Laclau, On Populist Reason, London 2005, S. 65-128. 8 Zur Beziehung dieser Bemerkungen zu Deleuzes Begriff der Assemblage siehe Naomi Greyser, »Academic and Activist Assemblages. An Interview with Jasbir Puar«, in  : American Quarterly 64, 4 (2012), S. 841-843. 9  Gemeint ist der »stehende Mann« [türk.   : duran adam  ; A. d. Ü.], Erdem Gunduz, der dem Versammlungsverbot trotzte, indem er sich allein auf den Platz stellte, worauf auch andere dazukamen, bis eine veritable Ansammlung von Individuen zusammenkam, die stumm dort standen und damit gleichzeitig das Versammlungsverbot befolgten und gegen es verstießen  : ⟨https  ://www.youtube.com / ​watch  ?v=SldbnzQ3nfM⟩, letzter Zugriff 22. 03. ​2016  ; siehe auch Emma Sinclair-Webb, »The Turkish Protests – Still Standing«, Hu291

man Rights Watch, 21.  Juni 2013, ⟨http  ://www.hrw.org / ​ news / ​2013 / ​06 / ​21 / ​turkish-protests-still-standing⟩, letzter Zugriff 22. 03. ​2016. 10 Vgl. Banu Bargu, »Spectacles of Death  : Dignity, Dissent, and Sacrifice in Turkey’s Prisons«, in  : Laleh Khalili, Jillian Schwedler (Hg.), Policing and Prisons in the Middle East. Formations of Coercion, New York 2010, S. 241-261, sowie dies., »Fasting unto Death  : Necropolitical Resistance in Turkey’s Prisons« (unveröffentlichtes Manuskript). 11 Vgl. Angela Y. Davis, Eine Gesellschaft ohne Gefängnisse  ? Der gefängnisindustrielle Komplex der USA , Berlin 2004, und dies., Abolition Democracy. Beyond Empire, Prisons, and Torture, New York 2005. 12 Frank, Constituent Moments, S. 33. 13 Ágnes Heller, Theorie der Bedürfnisse bei Marx, Berlin 1976. 14 Vgl. die aufeinander folgenden Kritiken der Privatisierung von Wendy Brown  : »Sacrificial Citizenship  : Neoliberal Austerity Politics«, 14. 02. ​2012, ⟨http  ://globalization.gc.cuny.edu /  ​events / ​sacrificial-citizenship-neoliberal-austerity-politics/⟩, letzter Zugriff 11. 04. ​2016  ; »The End of Educated Democracy«, in  : Colleen Lye, James Vernon (Hg.), The Humanities and the Crisis of the Public University, Berkeley 2011, S. 1941  ; »Neoliberalized Knowledge«, in  : History of the Present 1, 1 (2011), S. 113-129  ; und Die schleichende Revolution. Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört, Berlin 2015. 15 Vgl. Mahatma Gandhi, Selected Political Writings, Indianapolis 1996. Gandhi unterscheidet zwischen passivem Widerstand und gewaltlosem zivilem Ungehorsam. Der passive Widerstand ist für ihn eine nicht von einem Prinzip geleitete Taktik, während Gewaltlosigkeit eine Aktionsform ist, die einem Prinzip folgt und unter allen Umständen um Konsistenz bemüht ist. Er betrachtet den passiven Widerstand als Waffe der Schwachen, der gewaltlose zivile Ungehorsam erfordert dagegen in seinen Augen »intensive Aktivität« und »Stärke« (vgl. ebd., S. 50-52). 16 M.  K. Gandhi, Non-Violent Resistance (Satyagraha), Mineola 2001, S. 2.

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6. Kann man ein gutes Leben in einem schlechten Leben führen  ? 1 Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Band 4  : Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt / ​M. 1997, S. 43. * Eine Schwierigkeit in diesem Text ist die Bedeutungsnuancierung zwischen »gut«/»richtig« bzw. »schlecht«/»falsch«. Während Adornos berühmtes Diktum ins Englische (von E. F. N. Jephcott) übersetzt wurde mit  : »Wrong life cannot be lived rightly«, gibt die englische Übersetzung von Probleme der Moralphilosophie (durch R.  Livingstone) das »richtige« bzw. das »falsche« Leben mit »the good life« bzw. »the bad life« wieder. (Butler gibt sowohl die Originalfassungen als auch diese Übersetzungen an.) Butler selbst beutet diese Nuance m. E. absichtlich aus, so dass hier überwiegend und auch im Titel des Kapitels vom »guten« bzw. »schlechten« Leben die Rede ist. Dass es diese Nuance gibt, und dass sie einen signifikanten Unterschied markiert, wird von der Autorin thematisiert, siehe S. 276; A. d. Ü. 2 Theodor W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie, Frankfurt / ​M. 21997, S. 34 f. 3 Ebd., S. 205. 4 Ebd., S. 262. 5 Ebd., S. 250. 6 Vgl. Orlando Patterson, Slavery and Social Death. A Comparative Study, Cambridge, MA 1985. 7 In dem Artikel »Die jüdische Armee. Der Beginn einer jüdischen Politik  ?«, der 1941 in der Zeitschrift Aufbau erschien, schreibt Arendt  : »Der jüdische Lebenswille ist berühmt und berüchtigt. Berühmt, weil er einen in der Geschichte europäischer Völker verhältnismäßig langen Zeitraum umspannt. Berüchtigt, weil er in den letzten 200 Jahren zu etwas ganz Negativem zu entarten drohte  : zu dem Willen, um jeden Preis zu überleben.« (Hannah Arendt, »Die jüdische Armee. Der Beginn einer jüdischen Politik  ?«, in  : dies., Die Krise des Zionismus. Essays und Kommentare 2, hg. v. Eike Geisel und Klaus 293

Bittermann, Berlin 1989, S. 167-170, hier S. 167 f.) Im Jahr 1946, als man noch dabei war, das ganze Ausmaß des Schreckens der nationalsozialistischen Konzentrationslager zu offenbaren, und die politischen Folgen des Zionismus noch aktiv diskutiert wurden, kommt sie in ihrem Text »›Der Judenstaat‹  : Fünfzig Jahre danach oder  : Wohin hat die Politik Herzls geführt  ?« noch einmal auf diesen Punkt zurück  : »Was die Überlebenden jetzt vor allem wollen, ist das Recht, mit Würde zu sterben – im Fall eines Angriffs mit der Waffe in der Hand. Das Überleben um jeden Preis, diese jahrhundertealte Hauptsorge des jüdi­ schen Volkes ist wahrscheinlich für immer dahin. Stattdessen trifft man auf etwas vollkommen neues bei den Juden, auf den Wunsch nach Würde um jeden Preis.« (Hannah Arendt, »›Der Judenstaat‹  : Fünfzig Jahre danach oder  : Wohin hat die Politik Herzls geführt  ?«, in  : dies., Die Krise des Zionismus, S. 61-81, hier S. 80.) Weiter schreibt sie  : »Von welch großem Vorteil diese neue Entwicklung für eine im wesentlichen gesunde jüdische politische Bewegung auch wäre, sie stellt im gegenwärtigen Rahmen zionistischer Auffassungen doch so etwas wie eine Gefahr dar. Die nun ihres ursprünglichen Vertrauens in die hilfreiche Natur des Antisemitismus beraubte Lehre Herzls kann nur zu selbstmörderischen Gesten ermutigen, für deren Zwecke sich der natürliche Heroismus von mit dem Tode vertrauten Menschen leicht ausbeuten läßt.« (Ebd., S. 80 f.) 8 Vgl. Hannah Arendt, »Die Antwort des Sokrates«, in  : dies., Vom Leben des Geistes, Band 1  : Das Denken, München 1989, S. 166-179. 9 Vgl. Hannah Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken 1, hg. v. Ursula Ludz, München 1994, S. 44 f. 10  Vgl. Donna J. Haraway, Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature, New York 1991, und dies., The Companion Species Manifesto. Dogs, People, and Significant Otherness, Chicago 2003. * Im Original deutsch. A. d. Ü. 11 Adorno, Probleme der Moralphilosophie, S. 248. 12 Ebd., S. 248  f. 13 Ebd., S. 249. 294

Danksagungen

Als Erstes möchte ich mich beim Bryn Mawr College dafür bedanken, dass ich dort 2010 die Mary Flexner Lectures halten durfte, insbesondere bei den Kolleg / ​ innen und Studierenden, die sich so intensiv mit meiner Arbeit auseinandergesetzt haben, sowie bei der früheren Präsidentin Jane McAuliffe, die so liebenswürdig war, diese Einladung zu verlängern, und deren beeindruckende Mitarbeiter / ​innen meinen Aufenthalt ebenso angenehm wie produktiv werden ließen. Ich danke allen Mitarbeiter / ​innen von Harvard University Press für ihre Geduld beim Warten auf die Endfassung dieses Texts und der Andrew Mellon Foundation, die mich in der Zeit unterstützt hat, als ich diese Vorlesungen vorbereitete, in Kapitel umwandelte und versuchte, sie in Buchform zu bringen. Das vorliegende Buch entstand aus Gesprächen und gemeinsamen Projekten mit Kolleg / ​innen und Aktivist / ​innen, die ebenfalls an Fragen der politischen Versammlung, der Prekarität und des Widerstands arbeiten. Die Kapitel 1, 2 und 4 begannen als Vorlesungen, die ich in Bryn Mawr hielt und dann in verschiedenen Formen weiterentwickelte und umarbeitete. Ich danke auch meinen Gesprächspartner / ​ innen an der Bosporus-Universität in Istanbul für ihre offenherzige Kritik des 5. Kapitels, »We the People«, im Jahr 2013, nur wenige Monate nach den Demonstrationen im Gezi-Park. Dankbar bin ich auch den Besucher / ​innen der Watson Lecture am Nobelmuseum in Stockholm 2011, deren Reaktion auf die erste Fassung von »Gefährdetes Leben und die Ethik der Kohabita295

tion« sehr hilfreich war, sowie der Biennale von Venedig, wo ich 2010 eine frühe Version von »Körperallianzen und die Politik der Straße« präsentieren durfte. »Kann man ein gutes Leben in einem schlechten Leben führen  ?« war meine Dankesrede anlässlich der Verleihung des Adorno-Preises im September 2012 in Frankfurt am Main. Ich danke Sarah Bracke und Aleksey Dubilet für ihre unschätzbare intellektuelle wie textliche Unterstützung bei der Fertigstellung des Manuskripts. Ich danke Lindsay Waters dafür, wie sie das Buch vorangetrieben und begleitet hat, und Amanda Peery für all ihre Hilfe. Wie immer bin ich all meinen Gesprächspartner / ​innen zu großem Dank verpflichtet – denen, die mir am nächsten sind, denen, die ich nur selten sehe, ebenso wie denen, die ich erst noch treffen werde. Ich danke Wendy Brown, der Person, die mir am nächsten ist und die dieses Werk mit unschätzbarer Aufmerksamkeit und genau dem richtigen Maß an Distanz unterstützt und kritisch hinterfragt hat. Ich danke auch meinen anderen Leser / ​innen, deren produktive Auseinandersetzungen und außergewöhnliche Fragen von unschätzbarem Wert waren  : Michel Feher, Leticia Sabsay, Zeynep Gambetti, Michelle Ty, Amy Huber, Alex Chasin sowie meinen anonymen Leser / ​innen, die sich alle als wertvolle Begleiter / ​innen erwiesen, als sich Zweifel zu regen begannen und es Zeit wurde, diese Spekulationen – ob zu spät oder zu früh – zu zerstreuen. Das Buch ist Isaac Butler-Brown gewidmet, der schon gelernt hat, sich zu zeigen, seine Meinung zu sagen.

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Nachweise

Kapitel 2, »Körperallianzen und die Politik der Straße«, ist die erweiterte Version eines gleichnamigen Textes, der zuerst erschien in  : Meg McLagan, Yates McKee (Hg.), Sensible Politics. The Visual Culture of Nongovernmental Activism, New York 2012, S. 117-138. Kapitel 3, »Gefährdetes Leben und die Ethik der Kohabitation«, geht zurück auf meine Watson Lecture, die ich 2011 im Nobelmuseum in Stockholm gehalten habe. Der Erstdruck in leicht abgeänderter Form erfolgte unter dem Titel »Precarious Life, Vulnerability, and the Ethics of Cohabitation« in  : Journal of Speculative Philosophy 26, 2 (2012), S. 134-151. Kapitel 4, »Körperliche Verwundbarkeit, koalitionäre Politik«, erschien zuerst unter dem Titel »Bodily ­Vulnerability, Coalitions, and Street Politics« in  : Joana Sabadell-Nieto, Marta Segarra (Hg.), Differences in Common. Gender, Vulnerability, and Community, Amsterdam, New York 2014. Kapitel 6, »Kann man ein gutes Leben in einem schlechten Leben führen  ?«, war meine Dankesrede anlässlich der Verleihung des Theodor-W.-Adorno-Preises, gehalten in Frankfurt am Main im September 2012. Erstdruck in  : Radical Philosophy 176 (2012), S. 9-18.

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Register

Abhängigkeit und Unterstützung  15, 25, 29, 3234, 41, 48, 59-63, 75, 88 f., 92, 98-100, 104 f., 113 f., 117 f., 131, 144, 155, 157, 159, 169, 171-175, 179, 180182, 185 f., 193 f., 197 f., 200, 236, 238, 243, 254, 264-270, 274 f., 278 f.; siehe auch ­Interdependenz; Relationalität; Vulnerabilität Adorno, Theodor W.  34, 249-251, 256, 273, 275277 Affekttheorie 25 Agamben, Giorgio  107 f., 290 Anm. 2 Aggression  74, 122, 160, 198, 242 f., 247; siehe auch Gewalt Allgemeinheit  70, 152 f., 190 Allianzen und Koalitionen  37, 40 f., 59, 61, 70, 72, 74, 80, 91, 93 f., 96, 99, 102, 109, 114 f., 117, 120, 161, 163, 165, 172, 174, 198 f., 202, 208, 239; siehe auch Kohabitation Allmende (the ­Commons)  235 Amerikanische Revolution  152, 291 Anm. 3

amerikanische Unabhängigkeitserklärung  228 f. amerikanische Verfassung  201, 229 Analphabetismus  185 f. Anarchie  102, 208, 212 f. Andere/r  17, 21, 43, 45 f., 51 f., 61 f., 92 f., 104 f., 116, 120, 130, 133 f., 137, 139, 141-146, 156 f., 159 f., 162, 171 f., 174, 193, 195-197, 199, 236, 243, 259 f., 271, 274 f., 279 Anerkennung, Anerkennbarkeit  12 f., 39, 46, 5058, 61, 74 f., 80 f., 85, 95-97, 129, 140, 177, 200, 241, 244, 254 f., 260, 262, 274, 283 Anm. 3 Antelme, Robert  259 antisemitische Versammlung  237 Arabischer Frühling siehe Tahrir-Platz Arbeit  20 f., 24, 27, 32 f., 58, 64, 78, 91, 94, 101, 107, 110, 114, 116 f., 120 f., 167, 169, 172, 180, 182, 186, 192, 196, 205, 236, 243 f., 258, 262, 266, 268; siehe auch ­Reproduktions­ arbeit 299

Arbeitslosigkeit siehe Arbeit Arbeitsteilung  104, 117, 119 f.; siehe auch Arbeit; öffentliche Sphäre; Privatsphäre Arendt, Hannah  34, 62, 6468, 72, 82, 99 f., 103-107, 109, 116 f., 119 f., 131, 140 f., 147-157, 161, 168, 176, 197, 202, 208, 226, 260-267, 278, 285 Anm. 9, 286 Anm. 5, 290 f. Anm. 3, 293 f. Anm. 7 Argentinien  79, 110 Aristoteles 250 Arizona 190 Athen 127 Ausbeutung  107, 161, 193, 196, 205, 249, 268 auserwähltes Volk  154 Ausgesetztsein  28, 48 f., 54, 78, 87, 91 f., 94, 101, 108, 112 f., 121, 130, 140, 142, 145, 156, 161, 166, 171, 183-187, 190, 194, 199, 234, 239; siehe auch Exponiertheit Austin, John Langshaw  41 Autarkie  23-26, 38, 63, 146, 172, 175; siehe auch Responsibilisierung Autoritarismus  46, 207 Bahrain  123, 282 Anm. 1 Balibar, Étienne  201, 213 Bedingungen des (gemeinsamen) Handelns  17, 26, 30, 35, 73, 87-89, 104, 131, 300

164, 174, 200, 238, 266, 279, 284 Anm. 5 Beerdigungen 15 Beharren, Beharrlichkeit siehe Persistenz Behinderte  84, 149, 182 Berichterstattung siehe Medien Berkeley 127 Berlant, Lauren  24 Besitzlosigkeit  108, 113 Betrauerbarkeit  130, 158, 253-255; siehe auch Unbetrauerbarkeit Beweglichkeit siehe Mobi­ lität Bildung  27 f., 39, 99, 101, 110, 123, 127 f., 167, 201 Biologische, das  61, 83, 118 Biomacht 20 Biopolitik  24, 62, 108, 252 f., 257, 267, 269 Black-Lives-MatterBewegung  27, 67 Bourdieu, Pierre  41 Boykott  76, 244, 248; siehe auch Protest Brown, Michael  39 Buber, Martin  153 Bündnis siehe Allianzen und Koalitionen Bürgerrechte  19, 95, 107, 153, 178, 220, 224, 226, 241, 245 Cameron, David  125 Cavarero, Adriana  103, 130

Chile  19, 101, 201, 207 christliche Ethik  21, 142, 285 Anm. 2 Davis, Angela  226 Delbo, Charlotte  260 Deleuze, Gilles  94, 195, 284 Anm. 5 Demokratie  7-9, 11-14, 31 f., 72 f., 76, 91, 95, 103, 122, 160, 164 f., 177 f., 189, 202 f., 207, 210-212, 214 f., 218, 220, 227, 236 f., 241, 245, 247, 266, 277-279; siehe auch Repräsentation; Volk Demonstration  7, 14 f., 18 f., 28, 32, 34, 37, 39, 43, 58, 67, 80, 96 f., 100 f., 110 f., 115, 120, 122 f., 126, 130 f., 164 f., 182, 199 f., 216, 219, 225, 231, 248, 254, 266, 277, 282 Anm. 1, 286 Anm. 1; siehe auch Protest Denken  54, 59, 64, 85, 130, 158, 226, 231 f., 256 f., 261, 263-265, 279; siehe auch Geist-KörperUnterscheidung Derrida, Jacques  41, 87, 156, 213, 228 Deutschland  9 f., 151, 277 digitale Netzwerke  16, 124, 222; siehe auch Handys Disability Studies  98, 181, 209 Diskurs  9-16, 23, 43, 46 f., 54, 57, 83-86, 88, 132, 187, 190, 196, 205, 220, 233,

250, 256 f.; siehe auch ­Sprache Durchlässigkeit  190 f., 288 f., Anm. 11; siehe auch Vulnerabilität Egoismus 144 Eichmann, Adolf  148-151 Eigenständigkeit siehe Autarkie Eigenverantwortlichkeit siehe Autarkie; Verantwortlichkeit Einwanderer  9, 95, 164, 167, 190; siehe auch Menschen ohne Papiere Erscheinung siehe ­Erscheinungsraum; Erscheinungssphäre; Feld des Erscheinens Erscheinungsraum  67, 82, 99-101, 105, 109, 111, 115, 117, 120, 122, 126, 156, 168, 202; siehe auch Erscheinungssphäre; Feld des Erscheinens Erscheinungssphäre  51, 55, 70, 81, 104, 106 f., 118; siehe auch Erscheinungsraum; Feld des ­Erscheinens Ethik  21, 23, 25, 34 f., 41, 61 f., 92, 96, 133-148, 150, 155 f., 158-160, 162 f., 248, 250 f., 266, 284 Anm. 5; siehe auch Gewaltlosigkeit; Moral Ethik der Kohabitation  96, 301

133, 141, 150; siehe auch Kohabitation ethische Beziehung  134, 139-147 ethische Verpflichtung siehe Verpflichtung Europa  9, 19, 21, 101, 155, 167, 190, 201, 286 Anm. 5, 293 f. Anm. 7 Exklusion  11, 13, 51, 55, 70, 82, 106, 108 f., 111, 116, 119, 128, 139, 143, 178, 213 f.; siehe auch Inklusion Exponiertheit  76, 165 f., 197, 204, 238 f., 241; siehe auch Ausgesetztsein falsches Leben  34, 249 f., 256, 276 f.; siehe auch schlechtes Leben Fantasie  26, 43, 45, 53, 56, 118, 215; siehe auch Ideal Faschismus  216, 237 Feld des Erscheinens  30, 51, 55, 58, 61, 114, 255; siehe auch Erscheinungsraum; Erscheinungssphäre Felman, Shoshana  17, 231 Feminismus  64, 69, 73 f., 184-186, 190, 198, 287 f. Anm. 9 Ferguson, Missouri  39 Flüchtlinge  109 f., 112, 152, 154 f., 166, 216, 224; siehe auch Einwanderer; Menschen ohne Papiere Foucault, Michel  20, 108 302

Frank, Jason  212, 226, 290 f. Anm. 3 Frankreich  68 f., 74, 95, 110 f., 190 Frauen  64, 68 f., 73, 80 f., 95, 101, 103, 110 f., 163, 182 f., 184 f., 186 f., 190 f., 262, 264, 289 Anm. 15; siehe auch Arbeitsteilung; Gender; Privatsphäre; öffentliche Sphäre frei verfügbares Leben (disposable life)  20, 25, 38, 188, 199, 281 Anm. 5; siehe auch Unbetrauerbarkeit Freiheit  23, 28, 39, 41, 59, 65 f., 68, 72 f., 76-78, 82 f., 100, 111, 119, 125 f., 148 f., 161, 166, 169, 176, 178 f., 182, 205-207, 222-224, 243, 252, 290 f. Anm. 3; siehe auch Meinungsfreiheit; Recht zu erscheinen; ­Versammlungsfreiheit Friedman, Milton  207 Gandhi, Mahatma  245, 292 Anm. 15 Gebären 262 gebaute Umwelten  61 Gefährdetsein siehe Prekarität Gefangene, Gefängnis  165 f., 178-180, 199, 216, 221-226, 234, 239 f., 244, 246 Geist-KörperUnterscheidung  64, 261, 263; siehe auch Denken gemeinsames Handeln  17,

35, 73 f., 97 f., 102, 109, 118, 120, 131, 164, 175, 197, 200, 202, 204, 236 f., 278, 290 f. Anm. 3; siehe auch konzertierte Aktion Gender  44, 46, 48 f., 54-56, 77, 79, 81 f., 84-88, 95, 129; siehe auch Gender-Performativität Gender-Performativität  47 f., 55, 77, 79, 83, 86, 88; siehe auch Performativität Genozid siehe Völkermord Gerechtigkeit  29, 38 f., 67, 72, 91, 96, 103, 126, 153, 165, 178, 210, 238, 256 f., 272 Gerichte  50, 57 f., 151, 185, 258 Geschlechterideal  44, 56, 85 f. Geschlechternormen  40, 4357, 86-88, 186, 288 f. Anm. 11 Geschlechtszuweisung  44 f., 57, 84, 86-88 Gesetze  50, 57 f., 69, 78, 96, 101 f., 107-111, 113, 182, 201, 207, 219, 222 f., 229, 245, 269 Gesundheitsfürsorge 18, 21 f., 24, 38 f., 50, 63, 129 f., 172, 186, 192, 236 Gewalt  28, 39 f., 48-50, 54, 65, 68 f., 71-74, 76-83, 95, 101 f., 107 f., 111-113, 119, 121 f., 125, 129, 134-136, 153, 159, 161, 164, 166,

178, 182-184, 186, 188, 194, 197, 200, 202, 206, 209, 223, 225, 236 f., 240, 242248, 258; siehe auch Geschlechternormen; gewaltfreier Widerstand; Gewaltlosigkeit; Polizei; Transgender; wogende Menge gewaltfreier Widerstand  242-248; siehe auch Gewaltlosigkeit; Widerstand Gewaltlosigkeit  134, 242248, 264, 292 Anm. 15; siehe auch gewaltfreier Widerstand Gezi-Park  18, 219, 225, 235, 239; siehe auch Gunduz, Erdem Gilmore, Ruth  67, 130 Gleichheit  12, 67 f., 72 f., 79, 82, 94, 119-121, 151153, 160 f., 165, 180, 235, 256, 264, 270, 272, 278 f., 290 f. Anm. 3; siehe auch Ungleichheit Greyser, Naomi  291 Anm. 8 Großbritannien  127 f., 201, 282 Anm. 1 Gunduz, Erdem  219, 291 f. Anm. 9 gutes Leben  56, 249-251, 255, 257 f., 260 f., 267, 269, 272-276, 278 f.; siehe auch richtiges Leben

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Haft siehe Gefangene Handlungsmotiv 137 Handys  30, 125 f., 200 Haraway, Donna  173 f., 268 Hausbesetzung  79, 110, 127 f., 244 Hawaii 210 Hebron 182; siehe auch Palästina Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  60, 139, 274 f., 283 Anm. 3 Hegemonie siehe Macht Heidegger, Martin  150 Heidelberg 277 Heller, Ágnes  233 historischer Kontext  19, 34, 83, 151-153, 194, 232 f., 247 f. Hobbes, Thomas  198 Homophobie 73 Honig, Bonnie  68, 213, 228 Hungerstreik  165, 178-180, 221, 223, 244, 246 Ich (Individuum)  17, 23 f., 26, 28, 32 f., 59, 61, 71 f., 79, 93, 114, 134, 144, 146149, 171, 191 f., 196 f., 205, 219, 242 f., 249, 251, 255 f., 272, 274-277; siehe auch Egoismus; Subjekt; Wir Ideal  24, 44, 56, 85 f., 120, 155, 161, 164 f., 171, 176 f., 180, 191, 236, 243, 266, 268, 272; siehe auch Fantasie Identitäten  41, 80, 85, 91, 94, 96 304

Identitätspolitik 41 Inazu, John  209 Individualismus  23-25, 33, 59, 91, 147, 171, 196, 243, 250, 272 Individuum siehe Ich Infrastruktur  18, 22, 2830, 32-34, 61, 88 f., 92, 157, 166-170, 173-175, 181 f., 186, 194, 204, 209 Inklusion  10-13, 109, 213, 218, 222, 234; siehe auch Exklusion Inszenierung  13-17, 28-30, 34 f., 39 f., 44-47, 53, 68, 72, 79, 81, 83 f., 114, 125, 180 f., 202-205, 209, 211-213, 215, 219-224, 229 f., 234236, 243; siehe auch Performativität Interdependenz  61, 63, 95, 130, 157-159, 180, 198, 204, 235, 243, 270 f., 278 f.; siehe auch Abhängigkeit und Unterstützung Internationale Arbeitsorganisation (IAO) 205, 289 f. Anm. 1 Islam  9 f., 122; siehe auch muslimische Frauen Israel  49, 95, 141 f., 145, 151155 Jemen 122 Judentum  141-143, 151-155, 260, 286 Anm. 5

Kafka, Franz  57, 180 Kairo 179; siehe auch TahrirPlatz Kauanui, J. Kēhaulani 210 Klein, Melanie  198 Kohabitation  34, 96, 132 f., 141, 150-153, 158, 160 f.; siehe auch Allianzen und Koalitionen; Ethik der Kohabitation Kohn, Hans  153 Kollektivismus 59 Kolonialismus  154, 193 konstitutive Exklusion  11 Konzentrationslager 259 konzertierte Aktion  15, 39, 68, 72, 110, 183, 197, 217, 223, 228, 266, 278; siehe auch gemeinsames Handeln Körper und Verkörperung  15-19, 25-29, 34 f., 37-39, 43-47, 53 f., 56, 58, 64-68, 72, 74-77, 80-82, 84, 87 f., 91 f., 96, 98-100, 102-107, 112-122, 124-132, 138140, 145, 155 f., 163-166, 169-184, 190-200, 202-205, 208, 213 f., 221-224, 226, 229, 231-236, 238-248, 253, 256, 261-271, 276-279, 284 Anm. 5 Krankenversicherung  20 f., 254; siehe auch Gesundheitsfürsorge Krieg  21, 28, 40, 42, 61 f., 92, 94, 103, 123, 135 f., 155, 159, 188, 196, 240, 248, 258;

siehe auch Militarismus und Militarisierung Kriminalisierung  48, 50, 74, 77, 81, 91, 94, 241 Kurden  74, 224 Laclau, Ernesto  11, 213 Latinos 190 Latour, Bruno  118 lebbares Leben, Lebbarkeit  29, 32, 38 f., 47 f., 56, 58, 61 f., 75, 85, 92, 94 f., 115, 152, 154, 156, 161, 168, 175-177, 180, 197, 200, 237, 261, 267 f., 270, 273, 278 f.; siehe auch Unlebbarkeit lebenswertes Leben siehe ­lebbares Leben Legitimität  15, 30, 77, 95, 102, 109, 112 f., 115, 128, 131, 152 f., 202, 206 f., 211 f., 218, 222, 228, 244 f., 257 Leiden  32, 48 f., 106, 133139, 159, 162, 189, 260, 262 f. Lesbarkeit 54 Lévinas, Emmanuel  34, 136, 140-147, 154-156, 161, 285 f. Anm. 2 Libyen 123 Lokalität  78, 123 f., 140 London siehe Großbritannien Lynchmob  164, 237 Macht  10, 13 f., 20, 24, 31, 42 f., 47, 52-55, 61, 68, 70, 79 f., 87 f., 100 f., 106, 109, 113-116, 119, 124 f., 128 f., 305

164, 166, 179, 183-185, 187, 189 f., 193, 202, 206 f., 209213, 217 f., 223-225, 229, 233, 236, 238, 251 f., 256 f., 263, 269, 276; siehe auch Biomacht; Paternalismus Magnes, Judah  153 Männlichkeit  46, 64, 103, 183, 185, 187, 190 f. Marktrationalität  20, 241 Marx, Karl  233 Marxismus 173 Maschinen  173 f., 267 Mbembe, Achille  20 Medien  18, 30 f., 76, 81, 116, 121-127, 131 f., 134, 137 f., 140, 159, 216 f., 222, 239, 248; siehe auch Technik medizinische Versorgung siehe Gesundheits­ fürsorge Meinungsfreiheit  16, 34, 99, 170, 223, 239 Memmi, Albert  193 Menschen ohne Papiere  58, 68, 188, 199, 220, 224, 241; siehe auch Einwanderer; Flüchtlinge; Recht, Rechte zu haben Menschenrechte  68, 95, 185, 188, 205 Menschlichkeit  51-54, 5961, 119 f., 156, 174-177, 268, 274 Merkel, Angela  10 Militarismus und Militarisierung  18, 26 f., 73 f.; siehe auch Krieg 306

Mob  7, 164; siehe auch Lynchmob; Pöbelherrschaft Mobilisierung  94, 113 f., 163, 169 f., 174 f., 181-183, 186, 189, 197, 199, 203, 235, 238 f. Mobilität  100, 114, 118, 169 f., 181 f., 283 Anm. 10 Montreal 201 Moral  23-25, 28, 38, 74, 134, 188 f., 245, 249-252, 255, 258-260, 272 f., 275-277; siehe auch Ethik Mouffe, Chantal  11 Mubarak, Husni  120, 125 Multitude 19 muslimische Frauen  69, 74, 111; siehe auch Islam; Schleier nacktes Leben  60, 106-108, 184, 213, 241 Nähe und Distanz  133-135, 138-142, 152, 159 Naher Osten  101 Namen  84, 86, 88, 217 f., 260 Natalität  103, 262 Nationalismus  21, 23, 74, 133, 153 Nekropolitik 20 Neoliberalismus  19 f., 23 f., 37 f., 58, 92, 123, 188, 192, 236, 241, 258 f. Nichtanerkennung siehe Anerkennung­ nichtmenschliches

Leben  51-53, 59 f., 156, 173 f. Nichtregierungsorganisationen (NGO s)  22, 189 Niederlande 95 Nordafrika 101 Normen  43-59, 80 f., 86 f., 110, 133, 150, 158, 183, 186, 265, 275; siehe auch Geschlechternormen Notwendigkeit  60, 64-66, 77, 94, 145, 150, 153, 158, 167, 186, 217 Occupy-Bewegungen 14, 18, 80, 180, 201 f., 204, 208, 227, 235 öffentliche Sphäre, öffentlicher Raum  1619, 24, 31, 39, 48, 50, 58, 62-64, 72, 77, 81, 9699, 103, 106, 108-111 f., 115, 117, 126 f., 130, 164, 166 f., 178, 201 f., 204, 221-226, 238-241, 261264, 277, 286 f. Anm. 1; siehe auch ­Arbeitsteilung; Erscheinungssphäre; Privat­sphäre Ökonomie  19 f., 23-25, 3335, 37 f., 48, 58, 121, 157, 161, 170, 180, 188, 194, 196 f., 225, 238, 250, 258, 269 f., 273 f., 278 Ortsgebundenheit siehe Lokalität

Pakistan 167 Palästina  22, 49, 55, 95, 141, 152 f., 155, 165, 182, 222 Parlament  14, 29, 211 passiver Widerstand siehe Widerstand Paternalismus  184-186, 189, 270 Pathologisierung  49, 74 f., 77, 81, 91, 94 Patterson, Orlando  258 Paul, Ron  20 f. Pegida  9 f. Performativität  13-17, 29, 40-43, 47 f., 63, 71 f., 7887, 102, 112, 128, 180 f., 198, 212, 220 f., 226230, 234, 242, 263, 265267, 270, 278 f.; siehe auch Gender-Performativität; Inszenierung; plurale ­Performativität Persistenz  28, 35, 38, 53 f., 57, 80, 102, 112 f., 128, 131 f., 139, 200, 202, 253 Pinochet, Augusto  207 Platon 39 plurale Performativität  15 f., 28 f., 34, 40, 70, 89, 198, 279; siehe auch Performativität; plurales Handeln plurales Handeln  17, 26, 29, 67, 89, 100, 105, 149, 202, 205, 213, 230, 238, 245, 279; siehe auch plurale Performativität 307

Pöbelherrschaft 208; siehe auch Mob politischer Raum  100, 102, 107, 168 f.; siehe auch Erscheinungsraum; öffentliche Sphäre politische Sphäre siehe öffentliche Sphäre Polizei  30, 39, 48-50, 68 f., 71, 73 f., 77 f., 81, 101 f., 112, 126, 165 f., 168, 182-184, 202, 206 f., 214, 219, 223225, 238-247; siehe auch Überwachung Portugal 167 Prekarität  18 f., 24-28, 3235, 37 f., 40 f., 48 f., 66 f., 70 f., 80 f., 89, 91-94, 101 f., 109, 113 f., 117, 119, 123, 129-131, 133, 145, 154 f., 157 f., 161, 177, 186-189, 192, 194, 197, 200, 234, 236-238, 246, 252, 254, 258, 260, 265 f., 270, 278 f., 288 Anm. 10; siehe auch Vulnerabilität Privatisierung  18, 24, 168, 207, 225, 236, 240 Privatsphäre  62-64, 97 f., 103, 107, 117 f., 155-157, 261, 263-265; siehe auch Arbeitsteilung; öffentliche Sphäre Protest  27 f., 40, 74, 110, 120, 126-128, 167, 201, 235, 240, 275-277; siehe auch Arabischer Frühling; Boykott; Demonstration; Gezi-Park; 308

Hungerstreik; Tahrir-Platz; Widerstand Psychoanalyse  173, 190 f. Puar, Jasbir K. 94 Puerta del Sol  235 Queer  40, 46, 73 f., 76, 80, 85-87, 95 f., 101 radikale Demokratie  11 f., 91, 122, 236 f., 278 f. Rancière, Jacques  213 Rassismus  51, 53, 58, 60, 67, 70, 155, 164, 190, 226, 237 Reagon, Bernice Johnson  198 f. Recht zu erscheinen  19, 37, 41, 70, 110; siehe auch Erscheinung; Freiheit Recht, Rechte zu haben  68, 109, 113 Rechtmäßigkeit siehe ­Legitimität Redefreiheit siehe Meinungsfreiheit Reflexion  164, 222, 247, 255, 276 Relationalität  34, 119, 172, 196, 268 f.; siehe auch ­Abhängigkeit und ­Unterstützung Religion  50, 69 f., 72, 80, 93 f., 110 f., 122, 142 f., 147, 152-155, 182 Repräsentation  8 f., 12, 189, 203, 210, 212-225, 233, 240; siehe auch Wahlen

Reproduktionsarbeit 103, 156 Responsibilisierung  25, 188; siehe auch ­Verantwortung Revolution  64, 101, 107, 120-122, 131 f., 202, 208, 211 f., 228, 262; siehe auch Amerikanische Revolution richtiges Leben  34, 56, 249252, 256, 258, 275 f.; siehe auch gutes Leben Roma  68, 167 Säkularismus  74, 110 schlechtes Leben  249, 256, 269, 272-277; siehe auch falsches Leben Schleier  68 f., 110 f. Schweigen  15, 28 f., 118, 202-204, 213, 223, 243, 266, 278 Sedgwick, Eve Kosofsky  41, 85 f. Selbst siehe Ich Selbstbestimmung  9, 14, 86, 95, 210, 213, 220 f.; siehe auch Volks­ souveränität Selbstgenügsamkeit siehe Autarkie Sklave, Sklavenarbeit  64, 193, 258, 262, 264 Slutwalks  181, 197, 289 Anm. 15 Smartphones siehe Handys Solidarität  33, 35, 41, 134,

178 f., 182, 199 f., 202, 222, 240 f., 277 Sontag, Susan  136 Soziabilität  114, 120 soziale Gerechtigkeit siehe Gerechtigkeit soziale Netzwerke  30, 33, 92, 125, 194, 200, 222, 224 sozialer Tod  188, 258 Sozialität  59, 114, 130, 144, 154, 158, 230, 238, 271 Sozialleistungen  23 f., 180; siehe auch Gesundheitsfürsorge Spanien  75, 180 Spinoza, Baruch de  195, 284 Anm. 5 Sprache  41-43, 64, 82, 8487, 102, 104, 108, 118, 122, 129, 138, 169, 181, 185, 201-205, 226-229, 231, 233, 261 f.; siehe auch Diskurs; Sprechakt Sprechakt  17, 29, 64, 8488, 204, 226-231, 245, 278; siehe auch Sprache Staat  7, 11 f., 26, 30, 49, 68 f., 81, 95, 105, 109115, 131, 136, 152 f., 184186, 202, 206-209, 212 f., 220-222, 224 f., 240, 245; siehe auch Biopolitik; Krieg; Militarismus und Militarisierung; Neoliberalismus; Polizei; ­Staatenlosigkeit; Staatsbürgerschaft Staatenlosigkeit  19, 68, 80, 309

108 f., 155, 157; siehe auch Staat stehender Mann (duran adam) siehe Gunduz, Erdem Stengers, Isabelle  118 Sterblichkeit  66 f., 130 Stille siehe Schweigen Straße  18 f., 37 f., 49 f., 58 f., 71 f., 76-78, 80, 91, 94, 9698, 101, 107, 112, 123-132, 163-169, 177-184, 199 f., 214 f., 234-236 Subjekt  23, 34, 51, 54-57, 81, 93, 116, 184, 204, 209, 213, 230, 252, 264, 273; siehe auch Ich Südafrika 167 Syrien  111, 123 Tahrir-Platz  7, 14, 97, 120, 122, 127, 202, 235 Taksim-Platz siehe Gezi-Park Tarifverhandlungen 205, 289 f. Anm. 1 Tea-Party-Bewegung 20-23 Technik, Technologie  30 f., 102, 125-127, 169 f., 173175, 194, 200, 209, 214 f., 236; siehe auch Handys; Medien Terrorismus  9, 245 Thoreau, Henry David  245 Tocqueville, Alexis de  7 Trans-Aktivist/innen 74 Transfrauen  73, 81, 182, 185 Transgender  46, 49, 56, 69310

75, 80, 82, 95, 101, 110, 182, 241 transnationale Allianzen  208 Transphobie  73, 241 Trauer siehe Betrauerbarkeit; Unbetrauerbarkeit Tunesien 122 Türkei  73 f., 110, 185, 216, 219, 222, 224, 239; siehe auch Gezi-Park Überleben  172-176, 193, 259 f., 263, 267, 279 Überwachung  69, 77, 85, 165 f., 168, 178; siehe auch Gegenüberwachung; ­Polizei Umwelt  62, 118, 156, 173, 175, 269 Unbetrauerbarkeit  40, 153, 158, 199, 253-255, 277; siehe auch Betrauerbarkeit; frei verfügbares Leben Ungewähltheit  137, 148-154, 160 f., 199 Ungleichheit  13, 33, 48, 66 f., 96, 130, 156-158, 177, 185-187, 190, 235, 249 f., 252 f., 256, 264, 270, 273, 278; siehe auch ­Gleichheit Universalismus  69 f. Universalität siehe Allgemeinheit Unlebbarkeit  48, 92, 177, 237, 255, 258, 270; siehe auch lebbares Leben; Neoliberalismus

Unruhen 39 Unterjochung  67, 193 Unterstützung siehe ­ Abhängigkeit und ­Unterstützung US -Armee 27 Utopismus 214 Venezuela 167 Verantwortlichkeit siehe Verantwortung Verantwortung  23-26, 33, 37 f., 92, 135, 138, 145-148, 154 f., 188 f. Vereinigte Staaten von Amerika  37, 75, 77, 101, 199, 201, 208, 226, 228 f. Vereinte Nationen  289 f. Anm. 1 Verkennung  13, 55 verkörpertes Handeln siehe Körper und Verkörperung Verkörperung siehe Körper und Verkörperung Verletzlichkeit  156, 184, 195 f., 271; siehe auch Vulnerabilität; Verwundbarkeit Verleugnung  63, 74, 111, 117 f., 157, 190-192, 264 f., 270 f. Verpflichtung  24, 34, 44 f., 47, 111, 129, 133, 135-138, 141-143, 146, 148, 150, 152156, 158, 160-162, 206, 259 f., 266 Versammlungsfreiheit, Versammlungsrecht  16, 30,

34, 80, 98, 107, 178, 203209, 212, 220, 222, 224-226, 229, 240, 286 f. Anm. 1 Verteidigungsfähigkeit 27 Vertragstheorie  34, 135, 143, 147 f., 271 Verwundbarkeit  87-89, 118, 130 f., 147, 163, 171 f., 181-197, 238-241, 265, 269, 271, 288 f. Anm. 11; siehe auch Verletzlichkeit; Vulnerabilität virtuelle Räume  19, 97 visuelles Feld siehe Feld des Erscheinens Volk  7-16, 26 f., 30-33, 201241; siehe auch Wille des Volkes Völkermord  74, 148, 150153, 155-158 Volkssouveränität  7 f., 14, 25, 189, 204, 209-213, 220230; siehe auch Selbstbestimmung; Volk; Wille des Volkes Vulnerabilität  33, 49, 67, 145, 156, 163, 172, 181-188, 193199, 239, 269-271, 278 f.; siehe auch Abhängigkeit und Unterstützung; Ausgesetztsein; Durchlässigkeit; Prekarität; Verletzlichkeit; Verwundbarkeit Wahlen siehe auch Repräsentation  210 f., 218220, 222 311

wechselseitige Abhängigkeit siehe Interdependenz Widerstand  17, 22, 29, 31, 35, 54, 60, 68, 92 f., 98, 106, 108, 113, 115, 120 f., 134, 163, 165 f., 178-180, 185 f., 193, 199, 207, 211, 224, 238 f., 242 f., 262, 275-278, 292 Anm. 15; siehe auch gewaltfreier Widerstand; Gunduz, Erdem; Protest Wille des Volkes  7 f., 13-15, 30, 102, 116, 200, 204, 210, 219, 236, 245; siehe auch Volk Wir  9, 31, 71 f., 81, 91, 154, 161, 170, 177, 201-204, 211,

216-223, 227, 234 f., 241; siehe auch Ich; Volk Wirtschaft siehe Ökonomie Wittgenstein, Ludwig  265 wogende Menge  164, 177, 236 f. Würde  119, 264 Zensur  28, 124-126, 206, 239 Zerilli, Linda  66 ziviler Ungehorsam  245, 292 Anm. 15 Zukunft  18, 25, 81, 92, 102, 220, 254, 259 Zu-tun-Haben-mit 133 Zynismus  11, 30, 258, 272