Animal rationale: Ortsbestimmung einer anthropologisch fundierten Ethik 9783534404261, 9783534404285, 9783534404278

Hermann Braun ruft die ehrwürdige anthropologische Formel Animal rationale in den Zeugenstand. Das Projekt wurde angereg

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Animal rationale: Ortsbestimmung einer anthropologisch fundierten Ethik
 9783534404261, 9783534404285, 9783534404278

Table of contents :
Front Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Animal rationale
Vorwort
1 Einleitung
1.1 Heidegger und Löwith: Grundfragen
1.2 Vorspiel zur Wende mit Derrida
1.3 Rehabilitation von animal rationale?
1.4 Der Impuls aus der „Dialektik der Aufklärung“ mit Blick auf die Vorgeschichte
2 Animal rationale bei Thomas von Aquin
3 Die Aufklärung: Descartes
3.1 Die Aufklärung: Kant
3.2 Animal rationale religionskritisch: Feuerbach
3.3 Rousseau: angeregt durch Henning Ritter
4 Jeremy Bentham: die grundlegende Erkenntnis
4.1 Der Präferenzutilitarismus: Peter Singer
5 Philosophische Anthropologie: Scheler und Plessner
5.1 Der Mensch als Mängelwesen: Arnold Gehlen
6 Dekonstruktion und ein neues Paradigma: Derrida
6.1 Bobby – der letzte Kantianer
6.2 Heideggers Analysen: rezipiert und ausgewertet von Derrida
7 Tier und Mensch neokantianisch: Lothar Schäfer
8 Kant und Tierethik: Christine Korsgaard und Martha Nussbaum
8.1 Kantianismus und Kant: eine Prüfung
9 Anthropologie und Ethik: Ernst Tugendhat
10 Abschied vom Denkmuster Selbstbewusstsein: Ulrich Pothasts Lehre vom „Spüren“
11 Die Mitleidsethik: Arthur Schopenhauer neu gelesen
11.1 Albert Schweitzer über Schopenhauer: Zustimmung und Kritik
12 Schopenhauer und Kant: Harald Köhl
13 Eine an Heidegger orientierte Mitleidsethik: Werner Marx
14 Philosophische Tierethik in Deutschland: Ursula Wolf
15 Biographischer Exkurs – erste signifikante Erfahrungen
15.1 Andere Tiere halten und verzehren: Peter Bieri und Michael Hampe
16 Vorläufige Beurteilung der Problemlage und ein sachlich motivierter Rückblick auf Spinoza
17 Das neue Denken in der gesellschaftlichen Situation der Gegenwart: Grundgesetz Artikel 1
18 Hermeneutisch naheliegender Exkurs: eine signifikante Erfahrung
19 Konsequenzen für eine begriffliche Lösung des Ethikproblems auf der Basis der alten definitorischen Formel
19.1 Ein Vorschlag zur Universalisierung in der Mitleidsethik –nicht durch Vernunft vermittelt: Walter Schulz
19.2 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter: interpretiert von Ruth Eva und Walter Schulz
20 Mitleid und „Beileid“
21 Ein Innehalten: Was ist erreicht?
22 Empathie und Menschenwürde: Rüdiger Bittner und Susanne Kaub
23 Die Problemlage in abschließender Revision
23.1 Organismus und freies Menschsein in der Natur: Hans Jonas
24 Menschlichkeit – normativ: Alain Finkielkraut
25 Humanität in der natürlichen Welt
26 Anthropologie und Mystik in der Ethikbegründung: Ernst Tugendhat
26.1 Exzentrizität im Menschenwesen: Helmuth Plessner
27 Problematischer Einschluss in der Formel: animal rationale
28 Empathie kognitionswissenschaftlich: Fritz Breithaupt
29 Schopenhauer in der Ethik: redivivus
30 Argumentativer Epilog
Literaturverzeichnis
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Hermann Braun

Animal rationale

Hermann Braun

Animal rationale Ortsbestimmung einer anthropologisch fundierten Ethik

Die thematische Konzentration auf die alte anthropologische Formel hat mir eine diskursive Blickbahn eröffnet, auf der ich eine seit Jugendjahren gewachsene Lebenseinstellung begründet mitzuteilen imstande bin. Das Buch ist dem Andenken meiner Eltern Helene und Gottlob Braun gewidmet. Bielefeld, im Sommer 2020

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnd.d-nb.de abrufbar

wbg Academic ist ein Imprint der wbg © 2020 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Satz und eBook: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-40426-1 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-40428-5 eBook (epub): 978-3-534-40427-8

Inhalt Inhalt.................................................................................................................................5 Animal rationale..............................................................................................................9 Vorwort...........................................................................................................................10 1 Einleitung...................................................................................................................12 1.1 Heidegger und Löwith: Grundfragen............................................................12 1.2 Vorspiel zur Wende mit Derrida....................................................................18 1.3 Rehabilitation von animal rationale?.............................................................19 1.4 Der Impuls aus der „Dialektik der Aufklärung“ mit Blick auf die Vorgeschichte ...................................................................................................20 2 Animal rationale bei Thomas von Aquin...............................................................21 3 Die Aufklärung: Descartes.......................................................................................25 3.1 Die Aufklärung: Kant......................................................................................26 3.2 Animal rationale religionskritisch: Feuerbach.............................................28 3.3 Rousseau: angeregt durch Henning Ritter....................................................32 4 Jeremy Bentham: die grundlegende Erkenntnis...................................................35 4.1 Der Präferenzutilitarismus: Peter Singer .....................................................36 5 Philosophische Anthropologie: Scheler und Plessner..........................................38 5.1 Der Mensch als Mängelwesen: Arnold Gehlen............................................44 6 Dekonstruktion und ein neues Paradigma: Derrida............................................53 6.1 Bobby – der letzte Kantianer..........................................................................56 6.2 Heideggers Analysen: rezipiert und ausgewertet von Derrida..................57 7 Tier und Mensch neokantianisch: Lothar Schäfer.................................................62 8 Kant und Tierethik: Christine Korsgaard und Martha Nussbaum.....................64 8.1 Kantianismus und Kant: eine Prüfung..........................................................69 9 Anthropologie und Ethik: Ernst Tugendhat..........................................................75 5

10 Abschied vom Denkmuster Selbstbewusstsein: Ulrich Pothasts Lehre vom „Spüren“......................................................................................................82 11 Die Mitleidsethik: Arthur Schopenhauer neu gelesen.......................................95 11.1 Albert Schweitzer über Schopenhauer: Zustimmung und Kritik............104 12 Schopenhauer und Kant: Harald Köhl.............................................................. 106 13 Eine an Heidegger orientierte Mitleidsethik: Werner Marx........................... 110 14 Philosophische Tierethik in Deutschland: Ursula Wolf.................................. 112 15 Biographischer Exkurs – erste signifikante Erfahrungen............................... 114 15.1 Andere Tiere halten und verzehren: Peter Bieri und Michael Hampe.................................................................................................... 121 16 Vorläufige Beurteilung der Problemlage und ein sachlich motivierter Rückblick auf Spinoza .......................................................................... 123 17 Das neue Denken in der gesellschaftlichen Situation der Gegenwart: Grundgesetz Artikel 1................................................................................................ 126 18 Hermeneutisch naheliegender Exkurs: eine signifikante Erfahrung............. 127 19 Konsequenzen für eine begriffliche Lösung des Ethikproblems auf der Basis der alten definitorischen Formel....................................................... 129 19.1 Ein Vorschlag zur Universalisierung in der Mitleidsethik – nicht durch Vernunft vermittelt: Walter Schulz............................................... 131 19.2 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter: interpretiert von Ruth Eva und Walter Schulz........................................................................ 132 20 Mitleid und „Beileid“........................................................................................... 135 21 Ein Innehalten: Was ist erreicht?........................................................................ 136 22 Empathie und Menschenwürde: Rüdiger Bittner und Susanne Kaub.......... 138 23 Die Problemlage in abschließender Revision................................................... 142 23.1 Organismus und freies Menschsein in der Natur: Hans Jonas............. 144 24 Menschlichkeit – normativ: Alain Finkielkraut .............................................. 147 25 Humanität in der natürlichen Welt.................................................................... 149 6

26 Anthropologie und Mystik in der Ethikbegründung: Ernst Tugendhat...........151 26.1 Exzentrizität im Menschenwesen: Helmuth Plessner............................ 152 27 Problematischer Einschluss in der Formel: animal rationale......................... 157 28 Empathie kognitionswissenschaftlich: Fritz Breithaupt.................................. 160 29 Schopenhauer in der Ethik: redivivus............................................................... 163 30 Argumentativer Epilog........................................................................................ 171 Literaturverzeichnis................................................................................................... 177

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Animal rationale „Viele haben den Menschen definiert, zumeist im Vergleich zum Tier. Daher sind bei Definitionen des Menschen häufig Sätze im Gebrauch wie ‚Der Mensch ist ein Tier …‘ begleitet von einem Adjektiv, oder ‚Der Mensch ist ein Tier, das …‘ und man sagt uns, welches. ‚Der Mensch ist ein krankes Tier‘ sagte Rousseau, was teils stimmt. ‚Der Mensch ist ein mit Vernunft begabtes Tier‘ sagt die Kirche, was teils stimmt. ‚Der Mensch ist ein Tier, das Werkzeuge benutzt‘ sagt Carlyle, was ebenfalls zum Teil stimmt. Doch diese und ähnliche Definitionen sind immer unzulänglich und nicht ganz treffend. Aus einem einfachen Grund: es ist nicht leicht, den Menschen vom Tier zu unterscheiden; es gibt kein sicheres Kriterium. Menschliches wie tierisches Leben vollzieht sich gleichermaßen unbewusst. Die gleichen grundlegenden Gesetze, die von außen die Instinkte des Tieres steuern, steuern – ebenfalls von außen – die Intelligenz des Menschen, die nicht mehr zu sein scheinen als ein sich entwickelnder Instinkt, doch weniger vollkommen, da er noch nicht voll entwickelt ist.“1

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Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe, Zürich 2003, Nr. 149 vom März 1931, 153. Im portugiesischen Original: Muitos têm definido o homem, e em geral o têem definido em contraste com os animais. Por isso, nas definições do homem, é frequente o uso da frase ‚o homem é um animal …‘ e um adjectivo, ou ‚o homem é um animal que …‘ e diz-se o quê. ‚O homem é um animal doente‘, disse Rousseau, e em parte é verdade. ‚O homem é um animal racional‘, diz a Igreja, e em parte é verdade, ‚O homem é um animal que usa de ferramenta‘, diz Carlyle, e em parte é verdade. Mas estas definições, e outras como elas, são sempre imperfeitas e laterais. E a razão é muito simples: não é fácil distinguir o homem dos animais, não há critério seguro para distinguir o homem dos animais. As vidas humanas decorrem na mesma íntima inconsciência que as vidas dos animais. As mesmas leis profundas, que regem de fora os instintos dos animais, regem, também, de fora, a inteligência do homem, que parece não ser mais que um instinto em formação, tão inconsciente como todo instinto, menos perfeito porque ainda não formado. Die Kenntnis von Fernando Pessoa verdanke ich Maria Luísa Amorim-Braun, die mir den portugiesischen Poeten und Denker nahebrachte. 9

Vorwort Zuweilen wird einem erst im Laufe der Arbeit klar, was das eigentliche Motiv dafür war. Dies ist hier nicht der Fall. Den Anlass für mein Projekt Animal rationale konnte ich von vornherein verorten. In der Zeit meiner philosophischen Ausbildung an der Universität Heidelberg bei meinen Lehrern Karl Löwith und Hans Georg Gadamer war die althergebrachte Formel animal rationale ein eher beiläufiges Bildungsgut. Bei Löwith leuchtet mir die Grundhaltung ein, die anthropologischen Fragen aus dem unbefangenen Blick auf die natürliche Welt zu beantworten und nicht nach Maßgabe religiöser oder geschichtlicher Vorgaben. Während meiner Lehrtätigkeit an der Kirchlichen Hochschule Bethel ließ ich die alten Fragen nach der Natur des Menschen auf sich beruhen. Nach meiner Emeritierung ging mir bei der Lektüre eines Textes von Ernst Tugendhat ein Licht auf: Er sprach von „Menschen und anderen Tieren.“ In dieser unscheinbaren Wendung erkannte ich eine Art Wiedergeburt der Formel, so als werfe sie eingefleischte Entstellungen und ausgewachsene Überwucherungen auf einmal ab: Endlich sagt da einer, was wirklich mit animal rationale gemeint ist. Diese Erfahrung gab mir den Anstoß, die Deutungswege der anthropologischen Formel aufzuspüren. Die Einleitung meiner Arbeit verrät den Rückgang auf die Prägung durch meine Studienzeit in Heidelberg. Die Veröffentlichung von Heideggers „Schwarzen Heften“ brachte aufschlussreiche Belege für seine Auseinandersetzung mit dem Thema. Im Übrigen ist die Einleitung eine Orientierung über die gegenwärtige Problemlage, wobei Derridas Dekonstruktion von überkommenen Denkmustern herausragt, weil sie eine Wende in der Verhältnisbestimmung von Menschen und Tieren phänomenologisch einleitet. Den Hauptteil beginne ich mit Feldstudien. Sie stehen unter der leitenden Frage, ob sich in der logisch korrekt verstandenen Formel animal rationale das Potenzial einer grundsätzlichen Orientierung auf eine Ethik befindet, die sich anthropo10

logisch, aber nicht anthropozentriert begründen ließe. Dies könnte dann auf eine Mitleidsethik im Sinne Schopenhauers hinauslaufen. Schopenhauers Ethik wäre dann nicht nur bei Literaten wie Thomas Mann, sondern auch in der Philosophie rehabilitiert. Prominente Zeugen auf diesem Wege sind an herausragender Stelle Jeremy Bentham und Jacques Derrida, die amerikanischen Autorinnen Martha Nussbaum und Christine Korsgaard. In Deutschland rufe ich auf als Wegbereiter neben Ernst Tugendhat die Philosophen Ulrich Pothast und Rüdiger Bittner.

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1 Einleitung Fernando Pessoa geht die Definitionen des Menschen mit skeptischem Blick durch und nennt den Grund für ihre Unzulänglichkeit: Es gebe kein sicheres Kriterium, wie der Mensch vom Tier zu unterscheiden sei. Unter den Definitionen des Menschen ist die älteste und Jahrhunderte hindurch tradierte: animal rationale. Sie ist die Basisfigur. Sie hat sich seit den Zeiten Ciceros in der Philosophie durchgehalten – allerdings so, dass die ihr immanente Logik unausgeschöpft geblieben ist. Das anthropologische Leitwort ist verstellt, ungedeutet und in einen ihm fremden religiösen und ideologischen Kontext gestellt worden. Eine kritische Begriffsgeschichte böte sich als Aufgabe an. Ich untersuche Belege aus der abendländischen Geistesgeschichte, treibe aber Begriffsgeschichte nicht um ihrer selbst willen, sondern lasse mich von der Frage leiten, inwieweit die Geschichte der ehrwürdigen anthropologischen Formel zur Begründung von Ethik hinführen könnte.

1.1 Heidegger und Löwith: Grundfragen Martin Heidegger charakterisiert mit knappen Worten die Tendenz dieser Geschichte: „Der Mensch ist das animal rationale, das vernünftige Tier. Durch die Vernunft erhebt sich der Mensch über das Tier, aber so, dass er ständig auf das Tier herabblickt, es unter sich bringen, mit ihm fertig werden muss.“ Und er erläutert, warum animal rationale in die Geschichte der Metaphysik gehört, ja ihr anthropologischer Repräsentant ist: „Nennen wir das Tierische das Sinnliche und fassen wir die Vernunft als das Nicht- und Übersinnliche, dann erscheint der Mensch, das animal rationale, als das sinnlich-übersinnliche Wesen. Nennen wir das Sinnliche nach der Überlieferung das Physische, dann zeigt sich die Vernunft, das 12

Übersinnliche als das, was über das Sinnliche, über das Physische hinausgeht; hinüber heißt griechisch meta ta physika, hinüber über das Physische, Sinnliche; Das Übersinnliche in seinem Hinüber über das Physische ist das Metaphysische […] der Mensch ist das Meta-Physische selbst.“2

Nietzsches Satz: Der Mensch ist das noch nicht festgestellte Tier, spreche aus, was von jeher das abendländische Denken über den Menschen gedacht habe.3 Karl Löwith, Heidegger-Schüler und Freund, später Kritiker, ohne je die Schülerschaft zu verleugnen, beruft sich auf die anthropologische Formel als „traditionelle Bestimmung des Menschen. Sie habe, im Unterschied zur klassischen Atomistik und zur modernen geschichtlichen Individuation den Vorzug, die Problematik von Natur und Humanität nicht zu verdecken, sondern den einheitlichen Zwiespalt in der Natur des Menschen in gewissen Grenzen zur Sprache zu bringen.“4 Was diese Grenzen sind, bleibt in Löwiths Interpretation von animal rationale offen. Er lässt sich aber auf die sogenannte Sonderstellung des Menschen explizit ein. Seine These, die philosophische Anthropologie bedürfe der Kosmologie zu ihrer Begründung, verbleibt allerdings innerhalb der traditionellen Auslegung von animal rationale, obwohl er sich von der christlichen Auffassung absetzt, der Mensch sei als einziges Lebewesen mit göttlicher Ebenbildlichkeit gesegnet. Löwith vertritt eine natürliche Alternative zur Schöpfungstheologie: „Auch die eigentümliche ‚Sonderstellung‘ des Menschen im physischen Kosmos kann nur aus dem Verhältnis zu diesem bestimmt werden, weil der Mensch überhaupt nur dadurch zur Welt kommt, dass ihn die Natur hervorgebracht hat und er selbst von der Welt ist.“ 5 Die Argumentation von Löwith lässt die Sonderstellung des Menschen „absonderlich“ werden, ein Rätsel im Ganzen der Natur: Aus der Sonderstellung wird etwas Absonderliches, ein Lebewesen mit einem einheitlichen ‚Zwiespalt‘ den die traditionelle Formel ausspricht.

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5

Martin Heidegger, Was heißt Denken?, Tübingen 1954, 25. Ebd. 24. Karl Löwith, Natur und Humanität des Menschen, in: Gesammelte Abhandlungen zur Kritik der geschichtlichen Existenz, Stuttgart 1960, 187. Ebd. 13

Beide, Heidegger und Löwith, ziehen eine Art Bilanz der bisherigen Geschichte der anthropologischen Formel, jeder auf seine besondere Weise. Heidegger sieht sie als Kernthese der Metaphysik und setzt sie mit dem Humanismus gleich. So in dem Vortrag vom Anfang der Dreißigerjahre des vorigen Jahrhunderts über „Platons Lehre von der Wahrheit“. In diesem Text sieht Heidegger im Beginn der Metaphysik zugleich den Beginn des abendländischen Humanismus: „Immer gilt es, im Bereich eines festgemachten metaphysischen Grundgefüges den von hier aus bestimmten ‚Menschen‘, das animal rationale, zur Befreiung seiner Möglichkeiten und zur Gewissheit seiner Bestimmung und in die Sicherung seines ‚Lebens‘ zu bringen.“6

Da Heidegger die Metaphysik mit Nietzsche in der Endphase ihrer Geschichte sieht, scheint die Formel des Humanismus mit ihr in das Ende ihrer Wirkungsgeschichte einzumünden. Der französische Philosoph Jean Beaufret, der Heideggers Platon-Vortrag übersetzte, nahm dies zum Anlass, Heidegger die Frage zu stellen, ob und wie man dem Humanismus einen Sinn zurückgeben könne. Heideggers Antwort ist in dem „Brief über den Humanismus“ dokumentiert und wurde ursprünglich zusammen mit dem Platon-Vortrag publiziert. Die Sonderstellung des Menschen wird in diesem „Brief “ metaphysikkritisch infrage gestellt, im Ausgang von der überlieferten Logik der animalitas, die dann mit unterschiedlichen differentiae specificae ausgestattet werden. Die Formulierung in diesem Zusammen von der „abgründigen leiblichen Verwandtschaft mit dem Tier“ lässt tief blicken.7 6 7

Martin Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, Bern 1947, 49. Ebd. 69f. Heidegger schrieb am 1. Januar 1916 seiner späteren Frau Elfride, die der Wandervogelbewegung und ihrer Naturnähe verbunden war: „Dein Erleben der Natur wirst Du eines Tages ganz anders betrachten und Dich wundern, daß du darin ein Letztes finden konntest. Nein, Seelchen, es gibt noch viel tiefere Dinge – u. der Mensch ist von allem Naturhaften so ganz getrennt, dass er in sich selbst nun eigenen Wert darstellt – gerade, dass er die Kraft der Vergeistigung hat gegenüber seiner Natur, die an sich nicht schlecht ist, überhebt ihn allem Naturhaften. […] wenn es nicht unendlich viel Höher, Tiefer überhaupt überirdisch wäre, was unser Herz erbeben macht, in seligster Umarmung als die Brunst des Tiere, dann möchte ich heute lieber ins Nichts versinken. […]“. So in „Mein liebes Seelchen, Briefe Martin Heideggers an seine Frau 14

Metaphysisch zu denken, heißt: den Menschen als ein Seiendes unter anderen Seienden anzusetzen und darin sein Sosein (ratio) als Unterscheidungsmerkmal im Vergleich mit anderen Lebewesen. Man könne so den Menschen als Seiendes ansetzen und man werde dabei „[…] stets Richtiges über den Menschen aussagen können. Heidegger erweitert den thematischen Horizont zu einer weltgeschichtlichen Perspektive. In Marxens Lehre von der Entfremdung des Menschen in einem wesentlichen und bedeutenden Sinne von Hegel her erkannt, erscheine die Heimatlosigkeit des Menschen als ‚Weltschicksal‘“.

Überall kreise der Mensch, „ausgestoßen aus der Wahrheit des Seins, um sich selbst als das animal rationale.“8 Doch sei das Lebewesen am schwersten zu denken, meint Heidegger, weil es uns einerseits in gewisser Weise am nächsten verwandt und andererseits doch zugleich durch einen Abgrund von unserem existenten Wesen geschieden sei. „Dagegen möchte es scheinen, als sei das Wesen des Göttlichen uns näher als das Befremdende der Lebewesen […]“.9 Im metaphysischen Denken werde vergessen, den Unterschied von Sein und Seiend zu bedenken und das Sein für sich in seiner Wahrheit. „Noch wartet das Sein, dass Es selbst im Menschen denkwürdig werde.“10 Mit dieser Denkwürdigkeit wäre aber eine Sonderstellung des Menschen anvisiert, höher als alle bisherigen Positionen sie jemals aufgrund von animal rationale beansprucht hatten. Bei der Veröffentlichung der „Schwarzen Hefte“ in der Heidegger-Gesamtausgabe (seit 2014) wird nun erkennbar, dass Heidegger sich bereits in den Dreißigerjahren intensiv mit der Formel animal rationale auseinandergesetzt hat. Durch die Fundierung der Anthropologie im animal rationale geschehe die „Einrollung“ des Menschen in das Seiende, wobei der Gesichtskreis des wesent-

8 9 10

Elfride“, hrsg. und komm. von Gertrud Heidegger, München 2005, 28. Ich führe dieses biographische Detail an, weil es bezeichnend ist für die Konstante in der Grundhaltung zur Natur, die früh verankert, bei Heidegger sich durchhält in der Auseinandersetzung mit der animalitas in der Anthropologie. Ebd. 87ff. Ebd. 66, 69f. Ebd. 65 15

lichen über sich Hinausfragens einschrumpfe, notiert Heidegger. Diese „Einrollung“ erreiche ihre Vollendung dann, wenn der Mensch als historisches Tier die Historie in die Tierheit zurücknimmt und dieser unterstellt und den Lebensdrang als solchen zur Grundwirklichkeit erklärt11. Das sei der Tod jeder Möglichkeit, die Wahrheit des Seins auch nur als Frage jemals für den Menschen zu erringen12. Heidegger schreibt in derselben Notiz: „Bisher und jetzt konnte und kann der Mensch zufolge des Vorrangs des Seienden, als animal rationale sich nur gleichsam in einem Vorfeld des Daseins bewegen, wobei ihm ‚Wahrheit‘ und ‚Schönheit‘ zu ‚Idealen‘ und ‚Werten‘ und ‚Zwecken‘ wurden – d.  h. die nur tierische Deutung erfuhren.“13

Er prangert förmlich an, dass die Formel animal rationale das Menschsein aus der Tierheit (animalitas) auslegt und auf die Tierheit festlegt. Die anthropologische Selbstbeobachtung sei ein in das Unwesen abgekommenes Wesen – Entmenschung zum Subjekt …, Vertierung zum ‚Lebewesen‘, eingefügt in den ‚Lebensstrom‘. Heidegger notiert: Seit zwei Jahrtausenden sehe sich der Mensch als Tier.14 Animal rationale als Bestimmung des Menschen sieht Heidegger auch im Christentum verankert. Er übergeht dabei – allerdings in polemisch-korrigierender Absicht – die ontologischen Trennversuche in der christlichen Tradition und stellt fest: Die Bestimmung des Menschen als animal rationale – „auf der auch alle christliche Lehre vom Menschen beruht“ – könne ein Irrtum sein und den Menschen „seit zwei Jahrtausenden in der Irre herumtreiben.“15. Heidegger stellt nach einem längeren Absatz bei diesem Thema die bange Frage: „Bedenken wir es genug, dass der Mensch sich immer noch als Tier bestimmt?“ Der Absatz ist im düsteren Ton einer Prophetie verfasst, die Unheil und Heil in sich schließt; er lautet:

11 12 13 14 15

Heidegger, GA Band 95, 246f. Ebd. Heidegger, a.a.O. 239. Heidegger, a.a.O. 291, 320. Heidegger, a.a.O. 320. 16

„Vielleicht ist jenes Weltzeitalter gar nicht so fern, da der längst festgestellte Mensch – das vernünftige Tier – an seiner Vernünftigkeit und seiner Tierheit zugleich zugrunde geht – und das in der verfänglichsten Form, die es dabei gibt – dass er nämlich diese seine Wesensfestsetzung, das vernünftige Tier zu sein, für die ewige, unantastbare Wahrheit hält und in ihr sich endgültig ansiedelt. Denn so zerstört er jede Möglichkeit, sein eigenes Wesen in die Verwandlungsgefahr unerschlossener Wesensentfaltungen hinauszutragen. Stattdessen sichert er sich eine immer beständigere Dauerfähigkeit, die ihm vor allem das Größte versagt, was dem Großen allein beschieden ist – der Untergang; denn nur das Große besitzt die Höhe, um in eine Tiefe zu stürzen. Die Tiefe des Sturzes bekundet die Reichweite der Verehrungskraft, die das Große in sich trägt für – das Seyn. Das Kleine bleibt auf der flachen Fahrbahn der breiten Straßen.“16

In vielen Denkversuchen hat der späte Heidegger – sich von Philosophie absetzend – die „flache Fahrbahn“ zwar als richtig gekennzeichnet, aber zugleich einen anderen Weg in verständlicher Sprache mitzuteilen sich bemüht. In einleuchtender Form, zumindest im Ansatz, ist ihm das in der Vorlesung „Grundbegriffe“ von 1941 gelungen. Das Lebewesen Mensch als Naturwesen zu beschreiben, stehe uns frei, heißt es dort. Und er zitiert, gleichsam als ein Beispiel, den Anfang von Nietzsches Abhandlung Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne: „[…] in irgendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der ‚Weltgeschichte‘: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Tiere mußten sterben. Der Mensch ein in ‚der Natur‘ auftauchendes, mit Klugheit (Vernunft) ausgestattetes Tier: animal rationale.“17

16 17

Ebd. 321. Martin Heidegger, GA Band 51, Frankfurt 1981, 84f. 17

Nach dem Menschen als Naturwesen – und als Vernunftwesen (was dasselbe sei) wolle er nicht fragen, sondern nach dem Menschen in „einen vom sein selbst ausgebreiteten Aufenthalt“ – ihn gelte es zu sehen und zu erfahren. „Wir erfahren das Menschentum jetzt in solchem Aufenthalt […].“ In ihm gebe das Sein selbst sich in die Zerstörung seiner selbst preis, wenn anders das Sein zugleich durch alles Vorstellen und Denken seiner zu einem Seienden werde.18 Diese Erfahrung des Wesensaufenthalts des geschichtlichen Menschen sei eine Zumutung und befremdlich. Und zwar deshalb, weil das Wesen der Geschichte selbst uns noch verborgen sei. Karl Löwith hat sich, wie bereits beschrieben, auf die Formel animal rationale eingelassen und sie dadurch gerechtfertigt, dass in ihr die Einheit im Zwiespalt dialektisch zur Sprache gebracht werde. Sie steht für ein Rätsel in der Natur, dessen Lösung aussteht. Ob es sich jemals lösen ließe, wer kann das wissen? Das Rätsel ist Löwiths letztes Wort.19

1.2 Vorspiel zur Wende mit Derrida Das letzte Wort in der Sache ist es nicht. In jüngster Zeit sind Indizien zu beobachten, die eine Wende in der Deutungsgeschichte von animal rationale signalisieren. Sie zeigen sich in der Sprache von Philosophinnen und Philosophen, aber auch im Umgang mit Denkformen in der Philosophie. Jacques Derrida hat hierfür den methodischen Terminus Dekonstruktion eingeführt. In das Thema Mensch und Tier bringt das einen prinzipiell neuen Denkstil. Die traditionell übliche pauschale Objektivierung von Tieren in der Zuordnungsformel „Mensch und Tier“ stellt Derrida infrage und bringt sie in einer methodisch dekonstruktiven Volte ins Wanken. Er versetzt sich in die Begegnung mit einem bestimmten Tier, dem er auf diese Weise eine Subjektstellung gibt, anstatt es unter dem abstrakten Allgemeinbegriff des Tieres oder des Tierischen – von 18 19

Heidegger, a.a.O. 85 Vgl. Karl Löwith, Sämtliche Schriften, Stuttgart 1981, Band 1, Mensch und Menschenwelt, 269, 297. 18

oben – zu betrachten. Das wird im späteren Verlauf meiner Untersuchung im Einzelnen dargestellt.

1.3 Rehabilitation von animal rationale? Einen Gegenentwurf zur Vision Heideggers, die im Beharren der Anthropologie auf der Formel animal rationale ein welthistorisches Unheil heraufziehen sieht, hat Herbert Schnädelbach in seinem programmatischen Aufsatz von 1992 vorgelegt, in dem er für eine „Rehabilitierung des animal rationale“ plädiert.20 Er analysiert die zeitgenössische Problemlage: Rationalität werde im Gefolge Nietzsches in ihrem Rang als Wesensmerkmal des Menschen immer mehr abgewertet. Schnädelbach registriert die Tendenz und reagiert darauf mit der Rechtfertigung einer Rationalität, die Humanität in sich birgt. Solche Vernunft muss durchaus selbstkritisch bleiben, aber sie darf sich nicht radikal infrage stellen, indem sie sich bloß noch als Funktion vitaler Bedürfnisse aus einer anthropologisch zugrundeliegenden Animalität versteht. Für seine Position stehen bei Herbert Schnädelbach in diesem Sinn die Stichworte: „Vernünftige Vernunft“ und „Anthropologie der Vernunft“,21 für die er Helmuth Plessners Die Stufen des Organischen und der Mensch von 1928 in Anspruch nimmt. Aber das Verhältnis zu den Tieren und zur Animalität, das in der anthropologischen Formel eingeschlossen ist, interessiert Schnädelbach nicht. Die epochemachende These von Jeremy Bentham, wonach uns die Leidensfähigkeit mit den Tieren verbindet („that they suffer“) kommt nicht in Betracht; stattdessen wird der Utilitarismus mit konventionellen Floskeln aus oberflächlicher Philosophiehistorie beschrieben. Ähnliches geschieht mit seiner Zuordnung zum Funktionalismus; sein Ansatz beim Mitleid in der Ethik bleibt unerwähnt. Und seine darauf beruhende Neubestimmung der Reichweite ethischer Relevanz im Verhältnis von Menschen und Tieren ist Schnädelbach keiner Beachtung wert. 20

21

Herbert Schnädelbach, Zur Rehabilitierung des animal rationale, Frankfurt 1992, insbes. 13–37. Ebd. 34ff. 19

1.4 Der Impuls aus der „Dialektik der Aufklärung“ mit Blick auf die Vorgeschichte Horkheimer und Adorno sahen in ihrer Dialektik der Aufklärung im Verhältnis von Mensch und Tier das zentrale Motiv der abendländischen Anthropologie. „Die Idee des Menschen in der europäischen Geschichte drückt sich in der Unterscheidung vom Tier aus. Mit seiner Unvernunft beweisen sie die Menschenwürde. Mit solcher Beharrlichkeit und Einstimmigkeit ist der Gegensatz von allen Vorvorderen des bürgerlichen Denkens, den alten Juden, Stoikern und Kirchenvätern, dann durchs Mittelalter und die Neuzeit hergebetet worden, daß er wie wenige Ideen zum Grundbestand der westlichen Anthropologie gehört.“22

Anknüpfend an diese These vom Grundbestand, der ich mich anschließe, stelle ich einige wesentliche Positionen der Auslegung von animal rationale in der Philosophiegeschichte dar. Der folgende historische Abschnitt meiner Untersuchung könnte den Eindruck erwecken, als gehe es um Begriffsgeschichte der anthropologischen Definition. Das ist nicht meine leitende Absicht. Es ist eine Problemgeschichte. Ich will nachweisen, dass ihr logisches und inhaltliches Potenzial in der Geschichte des Abendlandes früh und auf lange Strecken bleibend von der biblisch-christlichen Auffassung vom Wesen des Menschen und seiner Sonderstellung unter den Lebewesen abgeschwächt und verstellt worden ist. Damit verbunden ist auch entweder die Möglichkeit oder der Verzicht auf eine anthropologische Begründung der Ethik.

22

Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt 1969, 262. 20

2 Animal rationale bei Thomas von Aquin Die erste sachlich bedeutende und logisch maßgebliche Interpretation von animal rationale wird von Thomas von Aquin unternommen. Das ist erstaunlich, weil das Denken des Kirchenvaters naturgemäß theologischen Prämissen verpflichtet ist. Aber Thomas orientiert sich auf seiner Suche nach einem intellektuellen Fundament des Glaubens an Aristoteles, für ihn bekanntlich der „philosophus“ schlechthin. Bei dem sogenannten Hylomorphismus hält er sich an Aristoteles. Er ist seine Autorität, auf die er bei der Wahrheitsfindung sich beruft. Das Verhältnis von Materie und Form ist auch für die Einschätzung der Eigenart des Menschen, auf der Basis des animalischen Wesens, maßgebend. Thomas kann die lateinische Sprache bei seinen Untersuchungen sachlich nutzen, die mit animalia die Lebewesen im Allgemeinen bezeichnet und mit bruta oder bestia Tiere im Unterschied zu Menschen. Bei der Analyse des Lebewesens Mensch orientiert sich Thomas an der Psychologie des Aristoteles und seiner Lehre von den drei Seelen: der anima nutritiva, der anima sensitiva und der anima intellectiva, die beiden dem Körper zugeordneten Seelen (nutritiva und sensitiva) teilen die Menschen mit den übrigen Lebewesen – und sind ebenfalls animalia. Allein die intellectiva lässt uns von homines reden. Thomas argumentiert in diesem Zusammenhang so: „Secundum animam intellectivam dicimur ‚homines‘, secundum sensitivam ‚animalia‘, secundum nutritivam ‚ vivantia‘. Erit igitur haec praedicatio per accidens ,homo est animal‘; vel ‚Animal est vivum‘. Est autem per se: nam homo secundum quod est homo, animal est: et animal, secundum quod est animal, vivum. Est igitur aliqua ab eodem principio homo, animal et vivum.“23 23

Thomas von Aquin, Summe gegen die Heiden, hrsg. und übersetzt von Karl Albert und Paulus Engelhardt, Darmstadt 1982, 238. 21

Offenkundig wird die körperliche Existenz des Menschen wie bei anderen Lebewesen durch Befruchtung hervorgebracht: quasi per coitum seminata. Für die anima nutritiva und die anima sensitiva gilt das problemlos. Die intellectiva aber hat besondere Eigenschaften, die keiner anderen Seele zukommen: „[…] anima intellctiva excedit totum genus corporum: cum habet operationem supra omnia corpora elevatam, quae est intelligere.“24 Das bedeutet für die Seinsart der anima humana, dass sie unzerstörbar (incorruptibilis) sein muss: „ […] intelligere, per haec enim differt a brutis et plantis et in animalis“. Thomas folgert daraus: Die Seele des Menschen kann nicht durch die natürlichen Kräfte bzw. als Teil von ihnen hervorgebracht werden. Vielmehr wird sie von Gott erschaffen. Dies wäre konform mit dem Zeugnis der Schrift in Gen 2,7: Formavit Deus hominem de lima terrae, et inspiravit in faciem eius spiraculum vitae. „Und hauchte den Lebenshauch in sein Antlitz ein.“25 Gottes schöpferische Tätigkeit, so argumentiert Thomas, knüpft in gewisser Weise an den Naturprozess der Zeugung und Entwicklung an und gibt ihm Vollendung: ultima perfectio. So ist die anima humana mit dem Körper (animalium corpus) schöpferisch vereint. Ein signifikanter Beleg dafür ist die Frage, wie es dann mit den „Ehebrechern“ stünde, den adulteres, denen offenbar Gott seine Mitwirkung bei der Entstehung der anima intellectiva nicht verweigerte: „Deum vero adulteris cooperare in actione naturae, nihil est inconveniens. Non enim naturae adulteroroum mala est, sed voluntaris. Und non est inconveniens si Deus ille operationis cooperatur ultimam perfectionem inducenta.“26 Was aber ist nun der ontologische Status der anima humana, wenn sie unzerstörbar von Gott erschaffen ist und nicht durch und im Samen und in der Befruchtung hervorgebracht wird? Thomas behandelt dieses Problem im Cap. 94. Sein Befund: Sie hat nicht den Status einer substantio separata. Die anima humana ist nämlich in der Art und 24 25 26

Ebd. 430. Ebd. 372, 434f. Ebd. 452f., vgl. 464. 22

Weise, in der sie die ihrem Wesen entsprechende Tätigkeit des intelligere ausübt, auf äußerliche Organe angewiesen, auf die „phantasmata“, die ihr Erkenntnis vermitteln. Eine substantia separata wäre jedoch eine Spezies in sich selbst, nicht Teil einer Spezies wie die anima intellectiva.27 In der Summa Theologica greift Thomas die Formel animal rationale im Rahmen der Ethik auf, bei der Auseinandersetzung um die Lehre von den Todsünden. Es geht ihm dabei um die Frage, ob der Hass (odium) zu den vitia capites zu rechnen sei. Thomas argumentiert gegen die These: quod odium debet poni vitium capitale. In der responsio beruft er sich auf die Definition: animal rationale: „Vitium autem est contra naturam hominis inquantum est animal rationale […]. Id autem quod est maxime et primo naturale homini est quod diligat bonum, et praecipue bonum divinum et bonum proximi.“28 So führt Thomas die aristotelische Grundthese über das naturgegebene Streben des nous zusammen mit dem erweiterten Liebesgebot Jesu (Lk 6, 1 Kor 13).29 Thomas hat auch das Verhältnis des Lebewesens Mensch in seinem Verhältnis zu „Tieren“ (animalia bruta) analysiert. Günther Patzig machte darauf aufmerksam. Er schätzt allerdings die Position von Thomas cartesisch ein: Eine Basis sei die Ansicht, nur der Mensch besitze eine Seele, die Tiere nicht.30 Die Zuneigung (affectus) sieht Thomas doppelt begründet: einerseits aus der ratio und andererseits aus der passio, also aus Vernunft und auch aus Leidenschaft. Die Vernunft, wenn sie sich affektiv verhält, kümmere sich nicht darum, ob der Mensch den Tieren etwas antue, denn der Herr habe ja ihn zur Herrschaft über

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Ebd. 480f. Deutsche Thomas-Ausgabe, Summa Theologica deutsch-lateinisch, kommentiert von Josef Endres CSSR, Band 17B, Heidelberg und Wien 1966, 12–16. Die sachgerechte, mit These und Gegenrede auf Wahrheit ausgehende literarische Darstellung der Sachverhalte bei Thomas von Aquin wird vorbildlich untersucht von Thomas Rentsch in: Literarische Formen der Philosophie, hrsg. von Gottfried Gabriel und Christine Schildknecht, Stuttgart 1990. 73–91, insbes. 81f. Hier findet Rentsch die prägnante Formulierung: Die Vernunft werde bei Thomas „getauft“. Der wissenschaftliche Tierversuch unter ethischen Aspekten, in: Tierversuche und medizinische Ethik, Beiträge zu einem Heidelberger Symposion, hrsg. von Wolfgang Hardegg und Gerd Preiser, Hildesheim 1986, 68–94, insbes. 72–74. 23

die Tiere bestimmt (Psalm 8,8). Aus der passio heraus entstehe jedoch misericordia für das Leiden von Tieren.31 Hier zitiert und kommentiert Thomas Prv 12,10: „[…] novit iustus animas iumentorum suorum, viscera autem impiorum crudelia.“ Er leitet daraus ab, dass ein wesentlicher Sinn und Zweck der Barmherzigkeit zu anderen Lebewesen die Stärkung des Mitgefühls zu Menschen sei; ein Argument, das Kant in seiner Metaphysik der Sitten sich auch zu eigen machen wird.32 Der Spruch eignet sich allerdings wenig als Beleg für diese Argumentation; plausibler in disem Zusammenhang ist die umnittelbar folgende, auf das Judentum zielende Erwägung: „Et ideo ut dominus populum Judaicum ad crudelitatem pronum, ad misericordiam revocaret, voluit eos exerceri a iericordiam etiam circa bruta animalia, prohibens quaedam circa animali fieri quae ad crudelitatem quandam pertinere videntur.“ Auf Deutsch: „Um also das jüdische Volk, das zur Grausamkeit neigte, zur Barmherzigkeit aufzurufen, habe der Herr gewollt, daß sie auch mit den Tieren Mitleid übten. Deswegen habe er verboten, den Tieren anzutun, was nach Grausamkeit aussah.“33 Auch das Bibelwort aus Deuteronomium 25.4, man solle dem Ochsen, der da drischt, das Maul nicht verbinden, wird hier angeführt und in seiner figurativen Bedeutung erwogen: Der Prediger könnte gemeint sein, der die Botschaft Gottes auslegt und weitergibt. Thomas ist in all seinen Untersuchungen zu animal rationale, anhand von Aristoteles, der Logik und der Wahrheitssuche treu. Er setzt sich in seiner dialogischen Denkform mit Plato, aber auch mit dem gelehrten Islam, vor allem mit Averroes, auseinander und er ist auf das biblische Zeugnis des Gottesworts verpflichtet. Dem Zwiespalt, der seinen Analysen und Argumentationen auf diese Weise innewohnt, wird er intellektuell redlich und stets transparent gerecht.

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Im lateinischen Original steht: circa alia animalia. Die Übersetzung mit „dem Tiere gegenüber“ ist ungenau und bedient den geläufigen Dualismus von Mensch und Tier. Der wissenschaftliche Tierversuch, a.a.O. 73. Kant AA VI, 442f. Summa Theologica, a.a.O. 374f. 24

3 Die Aufklärung: Descartes Was Thomas von Aquin philosophisch geleistet hat, wird augenfällig, wenn wir uns die Position zu Beginn der modernen Aufklärung im Denken von Descartes klarmachen. Die kopernikanische Revolution brachte Altvertrautes in der Lehre vom „Weltgebäude“ zum Einsturz. Descartes hat das registriert, ist aber der kosmologischen Auseinandersetzung ausgewichen. In seinem Discours de la Methode von 1637 berichtet er von seinem Werk Le Monde, das er nicht zum Druck gegeben hätte. Er wollte sich keinem Urteil von Personen unterwerfen, die eine „von einem anderen veröffentlichte physikalische Theorie“ mißbilligt hätten. Ebenso grundstürzend wie grundlegend ist die Geburt der Metaphysik aus dem Geiste des Zweifels, der philosophia, wie er sie nennt, bei Descartes. Seine Meditationes de prima philosophia sind den Dozenten der heiligen theologischen Fakultät zu Paris gewidmet.34 Er konnte das tun, weil er überzeugt war, er könne mit seiner neu verfassten Philosophie beweisen, dass die Seele nicht mit dem Körper zugrunde gehe und dass Gott existiere. Descartes nahm die aus der Tradition des Skeptizismus bekannten Argumente auf, an allem zu zweifeln, was in der Wahrnehmung unserer selbst und der Dinge in der Welt vertraut war. Und er trieb den Zweifel zum Äußersten – bis zur Annahme, ein allmächtiger Dezeptor (Betrüger), der – summe callidus – klug und durchtrieben – stets de industria – mit ganzem Eifer – uns täuschte. Dieser allmächtige Betrüger wäre auch, wenn er uns täuschte, nicht in der Lage, die Gewissheit des Satzes zu stören: ego cogito, ego existo – ich denke, ich bin. Die anthropologische Definition war in diesem Zweifelsprozess mit finalem Erfolg wie alle anderen Wahrheiten und Überzeugungen auf der Strecke geblieben. Sie taucht allerdings, nachdem das fundamentum inconcussum im cogito sum gelegt ist, als Frage nach der menschlichen Existenzform des denkenden Ichs aus 34

Œuvres de Descartes, publiés par Charles Adam & Paul Tannery, Paris 1964, Vol. VII, 1f. 25

der Menge des im Zweifel Verworfenen wieder auf: „Sed quid est homo? Dicamne animal rationale? Non, qua postea quaerendum foret quidnam animal sit, et quid rationale, arque ita ex una quaestione in plures difficilioresque delaberer […].35 Nach dem radikalen methodischen Zweifel und seinem finalen Umschlag in eine unumstößliche Gewißheit erklärt Descartes als ontologische Konsequenz das cogito sum zur res cogitans. In der Begrifflichkeit von Thomas würde das bedeuten: Die anima intellectiva etabliert sich als substantia separata.Die Körperlichkeit, die wir Menschen mit den Lebewesen (animalia) teilen, wird dann zur ebenfalls selbstständigen Substanz mit der Grundeigenschaft der Ausdehnung, genannt: res extensa. Damit ist ein ontologischer Dualismus verbunden, der für den Umgang mit der anthropologischen Definitiion des animal rationale weitreichende Folgen haben wird. Die aristotelische Psychologie ist damit zugunsten eines ontologischen Subjektivismus verabschiedet, der den Menschen von anderen Lebewesen prinzipiell abhebt und entfremdet. Thomas von Aquin war es anhand von Aristoteles noch gelungen, die besondere Seinsart des Menschen, mit seiner gottgeschaffenen Seele zu interpretieren, ohne sie zu den anderen Lebewesen in eine ontologische Rangfolge zu setzen. Signifikant für die cartesische Position ist die Hypothese eines quasi metaphysischen Zweifels, bei der ein deus malignus kraft seiner Allmacht die Gewissheit des cogito sum zunichte machen würde – ohne Erfolg. Für Thomas wäre diese methodische Hypothese eine blasphemische Unterstellung und mit dem Gottesbegriff keinesfalls vereinbar.

3.1 Die Aufklärung: Kant Es war Kant, der den ontologischen Dualismus im Verhältnis zum Tiersein, wie ihn Descartes etabliert hatte, von Grund auf verwandelte. Der realistische Metaphysik-Kritiker sah den Menschen als „tierisches Geschöpf “, in kosmischer Per-

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Ebd. 25. 26

spektive, im Ganzen der natürlichen Welt, als geringfügig und von verschwindender Bedeutung: „Der […] Anblick einer zahllosen Weltenmenge vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit als eines tierischen Geschöpfs, das die Materie, daraus es ward, dem Planeten (einem bloßen Punkt im Weltall) wieder zurückgeben muß, nachdem es eine kurze Zeit (man weiß nicht wie) mit Lebenskraft versehen gewesen.“36

Die Fähigkeit des Erkennens, der Selbstreflexion, mit einem in philosophischen Fachkreisen heutzutage beliebten Ausdruck gesagt: die propositionale Einstellung dieses Merkmals für menschliche Rationalität, macht den Unterschied zu anderen „tierischen Geschöpfen“ nicht aus. Sie sind alle der Endlichkeit verfallen, fristen ihr Leben und vergehen wie alles, das lebendig ist. Allerdings beim Menschen – in seiner Bestimmung – gibt es eine entscheidende Besonderheit. Er ist auf Bedingungen des endlicnen Lebens nicht eingeschränkt. Seine Intelligenz hat mit dem Bewusstsein des moralischen Gesetzes Anteil an einem von der Sinnenwelt unabhängigen Leben. Von ihm gibt es aber keine Anschauung und ihr Dasein ist nicht erkennbar, sondern nur, wie Kant mit einem in seiner Vernunftkritik selten gebrauchten Ausdruck formuliert: „dem Verstande spürbar“.37 Es ist auffällig, dass in solchem Zusammenhang dieses Wort auftaucht. Dem Verstand trauen wir gewöhnlich keinen Spürsinn zu – und überhaupt ist das Spüren ja dem emotionalen Gemütsbereich zugehörig. In der Kritik der praktischen Vernunft, bei der Einführung und Erläuterung des moralischen Gesetzes, gebraucht Kant den Begriff des Spürens zum ersten Mal: Das moralische Gesetz sei eine „ächte Triebfeder“ und zwar dann und insofern es uns die Erhabenheit unserer eigenen übersinnlichen Existenz spüren lasse. In den Menschen in ihrer „pathologisch affizierten Natur“ bewirke diese Triebfeder Achtung für ihre höhere Bestimmung. „Nur dem Verstande spürbar“, sagt Kant – und darin liegt offenbar eine Verwahrung dagegen, dass das Spüren, wie es dem üblichen Ver-

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AA V. 162. Ebd. 27

ständnis dieses Phänomens entspräche, dem emotionalen Bereich zugeordnet würde. Das „Spüren“ bedeutet also keineswegs Neigung zum Gesetz – und es vermittelt kein Gefühl indivdueller Erhabenheit. Beides wäre affektiv und damit moralisch nicht relevant. Das Laster zu meiden kann ein gutes Selbstgefühl geben; Kant weist auf die Epikureer hin, die so argumentierten. Auch der als bescheiden und rechtschaffen geschätzte Spruch von Politikern: „Ich habe meine Pflicht getan“, wäre im Sinne Kants nicht moralisch rein, da er auf pflichtgemäßes Handeln sich bezieht. Allein ein Handeln aus Pflicht, ohne Rücksicht auf emotionale Nebenmotive, ist achtungswert: „Die Ehrwürdigkeit der Pflicht hat nichts mit Lebensgenuß zu schaffen.“38 Anthropologische Forschungsergebnisse, ebenso wie soziologische Forschung, erhalten nach dem Typus Kant immer nur einen sekundären Systemort. Für Moralbegründung sind sie belanglos.

3.2 Animal rationale religionskritisch: Feuerbach Ludwig Feuerbach hat sich bereits in seiner Dissertation von 1828 mit der Deutung von animal rationale befasst: „Das Wort des Cardanus, der Mensch falle nicht unter den Gattungsbegriff Tier; der Mensch höre auf, Tier zu sein, weil er außer dem Empfinden auch Geist habe, […]“39 Die These von Cardanus, die der junge Feuerbach aufgreift, enthält eine radikale Kritik der traditionellen anthropologischen Definition. Er bestreitet ihren Basisbegriff animal mit dem Hinweis auf den menschlichen Geist – koppelt also den Menschen vom Tiersein ab.

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Kant, AA V. 89. Die Dissertation hat den Titel: De ratione una, universalia, infinita, Erlangen 1828, in: Theorie Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt 1975, Das Caranus-Zitat findet sich auf S. 63, Anm. 18. Es ist entnommen der Schrift von Christian Kortholt, De tribus impostoribus magnis, Hamburg 1701, Appendix De animalitate hominis, 132. 28

Ludwig Feuerbach wird später, in seinem Wesen des Christentums, diese These durch Religionskritik entfalten. Die christliche Religion ist – nach einer Argumentationsformel, die Feuerbach häufig verwendet, nichts anderes als „Beherzigung […] dessen, was ich bin“. Nicht im Sinne der individuellen Erscheinung, als die ich alltäglich existiere, sondern dem Wesen nach, der Idee der Gattung Mensch, die nach Feuerbach ein Eigenwesen hat und der Basis im Animalischen nicht bedarf. „Der geistlose Materialist sagt: Der Mensch unterscheidet sich vom Tier nur durch Bewusstsein, er ist ein Tier, aber mit Bewusstsein. Er bedenkt also nicht, dass in einem Wesen, das zum Bewusstsein erwacht, eine qualitative Veränderung vor sich geht. Übrigens soll mit dem Gesagten keineswegs das Wesen der Tiere herabgesetzt werden. Hier ist der Ort nicht, tiefer einzugehen.“40

Die radikale Kritik der Formel animal rationale, die sich bereits in der Dissertation andeutete, wird nun im Wesen des Christentums sachlich fundiert. „Das Wesen des Menschen im Unterschied vom Tiere ist nicht nur der Grund der Religion, sondern auch der Gegenstand der Religion. Aber die Religion ist das Bewusstsein des Unendlichen; sie ist und kann also nichts anderes sein als das Bewusstsein des Menschen von seinem – und zwar nicht endlichen, beschränkten, sondern unendlichen Wesen. Beim Tiere nenne man das wegen seiner Beschränktheit infallible, untrügliche Bewusstsein auch nicht Bewusstsein, sondern Instinkt“.41

Die eigentliche Gattung des Menschen liest Feuerbach von der dogmatischen Dreieinigkeit der christlichen Religion ab.42 Feuerbach interpretiert den Verstand, also die Rationalität, im vierten Kapitel seiner Analysen des Christentums. Die Christen hätten die heidnische Philosophie verspottet, weil sie statt an sich, an ihr Heil, an die Dinge außer sich gedacht 40 41 42

Das Wesen des Christentums, Berlin 1956, Bd. 1, Kap.1, 37 Anm. Wesen des Christentums, a.a.O. 36. Ebd. 37. 29

hätten. Das entspricht in den Augen von Feuerbach genau dem Verstand. Er nennt ihn ein „universales, pantheistisches Wesen“, das die „Liebe zum Universum“ kultiviere. „Der Verstand betrachtet mit demselben Enthusiasmus den Floh, die Laus, als das Ebenbild Gottes, den Menschen“. Die christliche Religion sei anthropotheistisch. Sie bejahe ausschließlich das menschliche Wesen.43 In diesem Zusammenhang kommt Feuerbach mit Kants These von der Erhabenheit des übersinnlichen Lebens in Berührung – und reagiert auch explizit darauf.44 Gott sei bei Kant gleichsam das moralische Gesetz selbst, aber personifiziert gedacht. Wenn jedoch das vollkommene Wesen im Gemüt erscheine, so sei es „kalt und leer“. Er zitiert aus Kants Vorlesungen über philosophische Religionslehre.45 Feuerbach korrigiert die abstrakte Rigorosität bei Kant durch Berufung auf Erlösung von dem qualvollen Zwiespalt – nämlich von dem, was ich soll, mit dem, was ich bin. „Indem daher Gott als ein sündenvergebendes Wesen angeschaut wird, so wird er gesetzt zwar nicht als ein unmoralisches, kurz als ein menschliches Wesen. Die Aufhebung der Sünde ist die Aufhebung der abstrakten moralischen Gerechtigkeit, – die Bejahung der Liebe, der Barmherzigkeit, der Sinnlichkeit. Aber sinnliche Wesen sind barmherzig. Die Barmherzigkeit ist das Rechtsgefühl der Sinnlichkeit.“46

Die Inkarnation ist in den Augen Feuerbachs ein Akt der Barmherzigkeit Gottes. Er nennt sie rührselig eine „Träne des göttlichen Mitleids“. Unerklärlich und wunderbar sei sie aber nicht: „Allein der menschgewordene Gott ist nur die Erscheinung des gottgewordenen Menschen.“47 Die Religionskritik Feuerbachs lässt sich auf die Grundthese bringen: Das Wesen des Christentums offenbart das Wesen des Menschen. „Der Glaube an das

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Ebd. 98f. Ebd. 99 Anm. Die Seitenangabe bei Feuerbach (S. 99 Anm.) ist nicht korrekt; es ist 134f. Wesen des Christentums, a.a.O. 102f. Ebd. 104. 30

Jenseits ist […] der Glaube an die Freiheit der Subjektivität von den Schranken der Natur“.48 Das Ergebnis ist eine Anthropologie, die das menschliche Wesen von seinen natürlichen Grundlagen emanzipiert – und zwar mithilfe der christlichen Religion. Kant und Feuerbach – beide finden einen Weg, dem Menschen in seinem Wesen, der „Menschheit“ in ihm, einen höheren Sinn zu geben, ihm eine Erhabenheit zu verleihen. Aber die Wege sind unterschiedlich – und das Ergebnis ist es auch. Kant rechtfertigt die Gattungsbasis im animal rationale in kosmischer Perspektive. Ein tierisches Geschöpf, endlich und im Ganzen der natürlichen Welt ohne jede Wichtigkeit. Dem Verstande, der ratio also, aber ist „spürbar“, im Sittengesetz der moralischen Vernunft, eine Zugehörigkeit zu einer Welt der Vernunftwesen, die Unendlichkeit besitzt – ein Leben, das nicht stirbt. Das nennt Kant „die Menschheit in der Persönlichkeit“ des Menschen. Feuerbach hingegen, wie dargelegt, bestritt schon früh die Gattungsformel animal. Gestützt auf die christliche Dogmatik arbeitet er in seiner Religionskritik die Idee des Menschen heraus – abgekoppelt vom animalischen – nicht als moralisch reine Menschheit, sondern als „Menschlichkeit“ (Humanität) mit den Wesenseigenschaften Liebe, Gemeinsinn (Ich und Du), Barmherzigkeit.49 Feuerbachs Auseinandersetzung mit der Gattung animal führt zunächst in die Nähe der reinen Moralität Kants. Sie ist abgehoben von dem „tierischen Geschöpf “, das Kant in kosmischer Perspektive ohne besondere Wichtigkeit – wie alle Lebewesen – einstuft. Feuerbach aber eröffnet aufgrund der Leitvorstellung eines barmherzigen, dem Menschen in seiner realen Situation zugewandten Gottes, eine ethische Bestimmung von Menschlichkeit auf emotionaler Basis. Sie würde die kantische Rigorosität zu einfühlsamer „Menschlichkeit“ mildern.

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Das Wesen des Christentums, a.a.O. 287. Thilo Holzmüller hat sich in einem richtungweisenden Aufsatz mit der unter Theologen üblichen Projektionsthese in Feuerbachs Religionskritik auseinandergesetzt. Er hat nachgewiesen, dass Feuerbach selbst dieses Interpretament wohlweislich nicht verwendet. Tatsächlich ist Feuerbach ja vom dogmatischen Reservoir der Theologie in seiner Anthropologie abhängig. Die Arbeit von Holzmüller ist unter dem Titel: „Projektion – ein fragwürdiger Begriff in der Feuerbach-Rezeption? Die Projektionstheorie Hans-Martin Barths als Erklärungsmodell für Ludwig Feuerbachs Religionskritik“, in der NZSTHRPH erschienen, 28. Bd. 1986, H1, 77–100, insbes. 94f. 31

Bei dieser Wendung zur Humanität und damit zu einem ethischen Prinzip, das bibelkonform – oder besser: der christlichen Dogmatik entsprechend exklusiv anthropozentriert daherkommt, mag es sinnvoll sein, einen solchen Ansatz in seiner Entwicklung zu verfolgen, beginnend mit Rousseau.

3.3 Rousseau: angeregt durch Henning Ritter Maßgeblich kann hier die Rousseau-Interpretation von Henning Ritter in Nahes und fernes Unglück. Versuch über das Mitleid Orientierung geben.50 Rousseau lässt sich in seinem Zweiten Diskurs über die Ungleichheit von der These leiten, das Mitleid (la pitié) sei die ursprüngliche im Menschen angelegte sozial wirksame natürliche Energie.51 Die These hat er unter Berufung auf Mandeville entwickelt.52 Bezeichnend für Rousseaus Grundhaltung ist der Satz, das Mitleid fungiere als „Stütze der Vernunft“ („à la appui de la raison“) – und es sei die Basis aller gesellschaftlichen Tugenden. Ohne diese Stütze, die er dem Emotionalen im Menschen zuordnet, wären die Menschen Monster gewesen und geworden. Das Emotionale ist in eins gedacht mit dem Animalischen. Das zeigt die Formulierung, die Rousseau für die Energie des Mitleids wählt: „En effet, la commiseration serat d’autant plus energique l’animal Spectateur s’identfièra plus infinemant avec l’animal souffrant.“53 Das heißt aber, dass die Basis für Sozialethik nicht die Vernunft (raison) ist, sondern der Gefühlszustand, der den amour propre einschränkt. Die Eigenliebe indessen bringt die Menschen immer auf sich selber zurück: „C’est la philosophie, qui l’isole.“54

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C. H. Beck Verlag, München 2004, insb. 178ff. J. J. Rousseau, Zweiter Diskurs über die Ungleichheit, Edition Meier, UTB Paderborn 2. Aufl. 1990. Ebd. 147ff. Ebd. 146. Dt. „In der Tat, das Mitleid wird umso nachdrücklicher sein, je inniger das Tier, das zusieht, mit dem Tier, das leidet, sich identifiziert.“ Ebd. 148. 32

Was die Vernunft (Raison) als Quelle für Ethik angeht, so nennt Rousseau eine „maxime sublime“ an erster Stelle – eine Grundregel der Gerechtigkeit. Die goldene Regel „Tu anderen, was du willst, das man dir tue.“ Aber – als nicht von Vernunfterwägungen abhängig – zeichnet er die „maxime de bonté naturelle“ aus: „Sorge für dein Wohl mit dem geringstmöglichen Schaden für andere“. Die Regel der natürlichen Güte ist nicht auf Gegenseitigkeit formiert wie die Goldene Regel – und sie kann auch Lebewesen einschließen, die der Reziprozität nicht fähig sind, aber leidensbetroffen. Im Émile wird das Mitleid als das „erste relative Gefühl“ beschrieben, welches das menschliche Herz nach der Ordnung der Natur berühre: „Um empfindsam und mitleidsvoll zu werden, muss das Kind wissen, dass es Wesen gibt, gleich ihm, die leiden, was es gelitten hat, und Schmerzen empfinden, die es empfunden hat, und andere, von denen es die Vorstellung haben muss, dass sie ebenfalls empfinden können. In der Tat, wie lassen wir uns zum Mitleid bewegen, wenn nicht dadurch, dass wir uns außerhalb unserer selbst versetzen und uns mit dem Tier identifizieren, das leidet?“ 55

Rousseau rührt damit grundsätzlich an die paradigmatische Wende, die Anfang des 19. Jahrhunderts ihren klassischen und vielzitierten Ausdruck in den wegweisenden Sätzen von Jeremy Bentham gefunden hat. Bentham fragt sich, nach einem Hinweis auf die „Gentoo and Mohametan religions“, in welchen den Interessen des Restes der „animal creation“ Aufmerksamkeit geschenkt werde, warum „sensibility“ nicht universell als Differenzbestimmung unter Lebewesen berücksichtigt worden sei. Er sieht keinen vernünftigen Grund dafür: „The day may come, when the rest of the animals may acquire those rights, which never could have been withholden from them but by the hand of tyranny. The French have already discovered that the blackness of the skin is no reason why a human being should be abandoned without redress to the caprice of a tormentor? It may come one day to be recognized, that the number of the legs, the villosity of the skin, or the termination of the os 55

Zitate aus Émile, Discourse, Première Partie, 146f., Anm. 184. 33

sacrum, are reasons equally insufficient for abandoning a sensitive being to the same fate. What else is it that should trace the insuperable line? Is it the faculty of reason, or, perhaps, the faculty of discourse? But a full-grown horse or dog is beyond comparison a more rational, as well as a more conversable animal, than the infant of a day, or a week, or a month, old. But if the case were otherwise, what would it avail? The question is not, Can they reason? Nor, Can they talk? But, Can they suffer?“56

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Jeremy Bentham, The Principles of Morals and Legislation, London 1948, 310f. 34

4 Jeremy Bentham: die grundlegende Erkenntnis Was Bentham in einer eher beiläufigen Anmerkung zu seiner Abhandlung über Moralprinzipien formuliert hat, ist zu einem klassischen Zitat über das Verhältnis des Menschen zu Tieren avanciert. Mit der alternativen Frage: Can they suffer? setzt Bentham das Unterscheidungskriterium „rationale“, dessen verschiedene Auslegungen die differentia specifica der alten Formel dominiert hatten, herab und ersetzt es durch ein alle empfindungsfähigen Lebewesen verbindendes Merkmal. Er etabliert auf diese Weise eine Solidarität derjenigen Erdbewohner, die animalia genannt werden. Er bricht die herkömmliche Logik der Formel auf, gibt ihr ein neues Gesicht und Gewicht, das den Menschen nicht von den übrigen animalia abhebt, um sich über sie zu erheben durch die Eigenschaft der Rationalität. Jeremy Bentham wird – zusammen mit John Stuart Mill – in Philosophiegeschichten mit der Formel vom Glück der Meisten zitiert und als Theoretiker einer Moral kritisiert, die das Individuum dem Wohlergehen von Kollektiven opfert. Diese konventionelle Auffassung fand sich auch bei Herbert Schnädelbach, wie oben zitiert. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Bentham stand seit dem 19. Jahrhundert im Schatten der überragenden Wirkungsgeschichte von Immanuel Kant.57

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Sie reicht bis in die Debatten im Bundestag in den Zeiten von Rainer Barzel, Helmut Schmidt und Franz Josef Strauß. Bei der Nennung von Kant stellte sich so etwas wie ein vorübergehender Spontankonsens der Demokraten ein (S. Protokolle des Dt. Bundestages, Nr. 6751). Ein seltener Vorgang im Parlament, der sich so ähnlich im Jahre 1986 bei der Abschiedsrede von Helmut Schmidt am 10. September 1986 wiederholte, als er – unter Berufung auf Kant – zur Besinnung auf das Ethos eines politischen Pragmatismus in moralischer Absicht aufrief. Das Protokoll vermerkte damals: Langanhaltender lebhafter Beifall bei der SPD – Beifall bei der CDU/​CSU, der FDP und bei Abgeordneten der Grünen – Die Abgeordneten der SPD erheben sich). Die Demokraten treffen sich in einem Moralkonsens. 35

Nicht nur in Deutschland, sondern erstaunlicherweise auch im angelsächsischen Bereich sind immer noch philosophische Positionen – sogar in der Tierethik – um eine Rechtfertigung des Kantianismus in der Moralbegründung bemüht.

4.1 Der Präferenzutilitarismus: Peter Singer Abweichend von diesem mainstream in der Philosophie hat der australische Philosoph Peter Singer, der in Princeton lehrt, mit großer Wirkung auf die Tierethik eine Variante des Utilitarismus als „Praktische Ethik“ etabliert. Allerdings lässt er dabei die alte anthropologische Formel mit der Basisbestimmung animal für den Menschen am Wege liegen. Er ignoriert sie – und so widme ich ihm gemäß meiner methodisch leitenden Blickbahn nur eine kurze Kennzeichnung seiner Position. Singer beruft sich auf das – nicht ohne ihn – zum Klassiker gewordene Bentham-Zitat und entwickelt im Verhältnis Mensch-Tier den sogenannten Präferenzutilitarismus. Und in diesem Zusammenhang prägt er für die alleinige Rücksicht auf den Menschen den Terminus „Speziezismus“. Der in seinen Texten häufig verwendete Begriff „non-human animal“ legt zwar den Rückschluss auf die Animalität des Menschen nahe, das bleibt aber in Bezug auf die Formel animal rationale folgenlos und führt nicht zu ihrer Thematisierung. Die radikale Reduzierung der Kriterien für die moralische Rücksicht auf Lebewesen lautet bekanntlich bei Bentham so: „The question is not, Can they reason? Nor, Can they talk? But, Can they suffer?“ Diese Reduzierung macht der Präferenzutilitarimus – bei aller Verehrung für den Urvater Bentham – nach meiner Einschätzung rückgängig. Ich möchte diese These anhand eines Beispiels aus Singers Practical Ethics begründen. Singer behandelt das Problem des Tötens von Tieren am Fall eines Fisches an der Angel:



Das ist keine gelehrte Beschäftigung mit Kant; es ist Kantianismus. Das bloße Schwergewicht seines Namens – und seines in den GG Artikel 1 eingegangenen Autonomieprinzips – erbringt diesen Effekt. 36

„For preference utlitarians, taking the life of a person will normally be worse than taking the life some other being which cannot see itself as an entity with a future cannot have a preference about its own future existence. That is not to deny, that such a being might struggle against a situation in which is life in danger, as a fish struggles to get free of the barbed hook in its mouth; but this is indicable no more than a preference for the cessation of a state of affairs that is perceived as painful threatening. Struggle against danger and pain does not suggest that the fish is capable of preferring its own future existence for no existence. The behaviour of a fish on a hook suggests a reason for not killing fish by that method, but does not suggest a preference utilitarian reason against killing fish by a human method.“58

An dieser Szenerie wird erkennbar, wie die Leidensfähigkeit als Hauptkriterium für moralische Relevanz eines Lebewesens durch die Präferenz abgelöst wird. An ihrer Stelle tritt die Bewusstseinsform einer Zukunftsvergewisserung, eine Befähigung, die unter Rationalität als differentia specifica subsumierbar ist.59

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59

Peter Singer, Practical Ethics, Cambridge 1990 (erstmals publ. 1979), 81. und in dt. Übers. Praktische Ethik, Stuttgart 1984, 112f. Siehe dazu auch a.a.O. S. 83 und 115 in der dt. Übers. 37

5 Philosophische Anthropologie: Scheler und Plessner Max Scheler unterscheidet in seiner anthropologischen Spätschrift zwei Möglichkeiten, einen Begriff des Menschen auszubilden: die „natursystematische“ und den „Wesensbegriff des Menschen“. Morphologisch, physiologisch und psychologisch seien Mensch und Schimpanse nah beieinander – so betrachtet sei der Mensch dem Begriff des Tieres untergeordnet – ein Lebewesen, genannt Mensch.60 Sollte die Sonderstellung des Menschen begründbar sein, dann nur aus einer „Stufenfolge der psychischen Kräfte.“ Scheler argumentiert auf dem Stand der Biologie und der Verhaltensforschung seiner Zeit, die Umwelttheorie des Barons Uexkuell ebenso wie die „Intelligenzprüfungen mit Menschenaffen“ von Wolfgang Köhler auf Teneriffa sind ihm vertraut. Damit ist klar: Das Tier ist kein „Triebmechanismus“ – und wenn ihm bereits Intelligenz zugestanden werden muss, gibt es dann noch einen Wesensunterschied oder müssen wir von einem graduellen Unterschied von Mensch und Tier ausgehen?61 Was den Wesensunterschied von Mensch und Tier nach Scheler ausmacht, der natursystematisch nur graduell ist, konzentriert sich im Begriff „Geist“ – er signalisiert einen Gegensatz zu „Leben“. Allerdings nicht so, dass der Geist nicht auf seinen Gegensatz angewiesen wäre. „Der Geist ideiert das Leben“ – aber seine Tätigkeit zu verwirklichen, das könne er allein kraft des Lebens.62 Vermöge des Geistes könne sich der Mensch des absoluten Seins innewerden. Dies nennt Scheler den „Akt der Menschwerdung selbst“. Habe sich der mensch60

61 62

Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, Darmstadt 1928, Neuauflage, 1947, aus dem Vortragsmanuskript ergänzt, 11f. Scheler, a.a.O. 31ff. Scheler, a.a.O. 74. 38

liche Geist „einmal aus der gesamten Natur herausgestellt und sie zu seinem Gegenstande gemacht“, so müsse er sich erschaudernd umwenden und fragen: „Wo stehe ich denn selbst?“ Er könne nicht mehr sagen, er sei ein Teil der Welt und von ihr umschlossen. Das aktuale Sein seines Geistes und seiner Person sei sogar den Formen des Seins dieser ‚Welt‘ in Raum und Zeit überlegen. In genau demselben Augenblicke, da sich der Mensch aus der ‚Natur‘ herausstellte und sie zum Gegenstand seiner Herrschaft und des neuen Kunst- und Zeichenprinzips machte. „In eben demselben Augenblicke musste der Mensch auch sein Zentrum irgendwie außerhalb und jenseits der Welt verankern. Konnte er sich doch nicht mehr als einfachen ‚Teil‘ oder als einfaches ‚Glied‘ der Welt erfassen, über die er sich so kühn gestellt hatte.“63 Hier konnte die Frage auftauchen, ob Scheler nicht auf der cartesischen Linie die Sonderstellung des Menschen weiterdenke. Das hat er aber in seiner Spätschrift energisch dementiert und sich von Descartes im Wesentlichen abgegrenzt. „Descartes [hat] in das abendländische Bewußtsein ein ganzes Heer von Irrtümern schwerster Art über die menschliche Natur eingeführt. Mußte er doch auf Grund dieser Einteilung [gemeint ist die Zwei-Substanzenlehre] selbst den Unsinn in Kauf nehmen, allen Pflanzen und Tieren die psychische Natur abzusprechen und den ‚Schein‘ der Beseelung von Tier und Pflanze, den die ganze Zeit vor ihm für Wirklichkeit genommen hatte, durch die anthropopathische ‚Einfühlung‘ unserer Lebensgefühle in die äußeren Bilder der organischen Natur zu erklären und alles, was nicht menschliches Bewusstsein und Denken ist, rein mechanisch zu erklären.“

Die Folgen seien nicht nur die „widersinnige Übersteigerung“ der Sonderstellung des Menschen, seine „Herausreißung aus den Mutterarmen der Natur“, gewesen, sondern es seien auch die Grundkategorien des Lebens und seiner „Urphänomene“ aus der Welt herausgeworfen worden – mit einem Federstrich.64 Bei Max Scheler (ebenso übrigens wie bei Helmuth Plessner), ist die anthropologische Untersuchung davon geleitet, die Sonderstellung des Menschen in der Natur neu zu begründen. Der methodische Ansatz zielt darauf ab, das organisch 63 64

Max Scheler, a.a.O. 80f. Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, München 1947, 66. 39

Basale im animal rationale mit der spezifisch menschlichen Bestimmung in ein neues Verhältnis zu setzen, das den cartesianischen Dualismus verabschiedet. In einer frühen Arbeit, die bereits wesentliche Motive seines späten anthropologischen Entwurfs enthält, vermeidet Scheler das Wort „animal“ und spricht, in bewusster Anlehnung an Kirchenlehren von der „anima rationalis“ des Menschen. Dies führt er auf Aristoteles zurück, Luther hingegen sehe den Menschen korrumpiert – und seine leibliche Beschaffenheit, die ihn mit den Tieren verbindet, als caro = Fleisch.65 Im Titel von Helmuth Plessner Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928) scheint das Buch und seine Konzeption vielversprechend für eine Neubesinnung auf den Gehalt von animal rationale, vor allem, was das genus in der Formel angeht. Aber das „und“ macht skeptisch. In Wirklichkeit ist „Mensch“ keine End- oder Hochstufe des Organischen; es ist überhaupt keine Stufe des Organischen. Das Organische ist „zentriert“, es lebt aus der Mitte und ist an sie gebunden, in ihr fixiert. Das Menschsein ist jedoch „exzentrisch“ – es ist eine Sonderstellung im Wortsinn. Diese Exzentrizität lebt auf der Basis des Organischen, unverkennbar im Konzept von Plessner. Wie verhalten sich dann Zentriertheit und Exzentrizität zueinander? Diese Frage zu beantworten hieße möglicherweise, die altbekannte Problemlage des Tierischen im Menschen auf ein neues, klärungsverheißendes Niveau zu heben. Aber dazu bedürfte es einer phänomengerechten, sachnahen Sprache, die Helmuth Plessner nicht zu Gebote steht. Um ein Urteil darüber zu erleichtern, bzw. zu ermöglichen, hier ein Zitat aus seinem „Stufenbuch“: „In einem Mitverhältnis, d. h. in einer der nackten Gegenüberbeziehung (die überhaupt nur ein dem Menschen, der Sinn für Gegenständlichkeit hat, vorstellbarer Grenzfall ist) nicht vergleichbarer Relation des Mitgehens, des Nebeneinanders und Miteinanders steht alles Lebendige aus Gründen seiner Lebendigkeit. Diese Einsicht ergibt sich aus den darüber angestellten Untersuchungen unserer Schrift mit zwingender Notwendigkeit. Vor allem beherrscht das Mitverhältnis die Beziehung des Lebewesens zu seiner Umwelt, einerlei, ob 65

Max Scheler, Umsturz der Werte, Leipzig 1919, 273–312, hier: 278. 40

an ihrer Bildung tote oder belebte Dinge beteiligt sind. Ein echtes Gegenverhältnis (im objektiven, nicht feindlichen Sinn) kennt nur der Mensch. Und auch seine Welt ist notwendig getragen von Umweltcharakteren, wie in der Organisation seiner eigenen Existenz, das Höhere und spezifisch Menschliche vom Tierischen getragen wird. Auch sie zeigt sich notgedrungen (und innerlich verständlich) als Milieu, als ungegliederte ‚Atmosphäre‘, als Fülle der Umstände, die den Menschen umgeben und tragen. Die tausend Dinge, mit denen wir täglich zu tun haben, vom Stückchen Seife bis zum Briefkasten, sind nur der Möglichkeit nach Objekte, als Elemente des Umgangs mit ihnen aber Komponenten des Umfeldes, Glieder des Mitverhältnisses zu ihnen. Diese vitalrelative Zone der Umgänglichkeit und Vertraulichkeit, in der echte Mitverhältnisse herrschen, wie sie (natürlich ohne Einbettung in eine Welt) für die Lebenssituation des Tieres charakteristisch sind, hat aber offensichtlich mit der Mitwelt nichts zu tun. Und wenn der Mensch von Bruder Esel und Bruder Baum reden kann, so liegt es daran, dass er die durchgehende Gemeinsamkeit alles Lebendigen erfasst und das für die Positionalität des Vitalen überhaupt kennzeichnende Mitverhältnis dabei hervorhebt, in dem auch er sich mit dem Lebendigen auf eigene Weise verbunden sieht. Die Sphäre, in der wahrhaft Du und Ich zur Einheit des Lebens verknüpft sind und einer dem andern ins aufgedeckte Antlitz blickt, ist aber dem Menschen vorbehalten, die Mitwelt, in der nicht nur Mitverhältnisse herrschen, sondern das Mitverhältnis zur Konstitutionsform einer wirklichen Welt des ausdrücklichen Ich und Du verschmelzenden Wir geworden ist.“ 66

An diesem Text ist zweierlei besonders bemerkenswert. Er verspricht etwas im Sinne der Erwartung auf Neubesinnung zum Verhältnis von Animalität und spezifisch menschlicher Natur. Dies hat sich ja schon im Titel: „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ zumindest als neu formuliertes Problem angekündigt. Aber das „und“ macht skeptisch. Offenbar ist das Menschsein keine weitere Stufe, 66

Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, 3. unver. Auflage Berlin 1975. 308 41

etwa eine Höchststufe des Organischen. Aber da ist auch der leitende Grundsatz für den Arbeitsplan des „Stufenbuchs“: „Ohne Philosophie der Natur keine Philosophie des Menschen“.67 Aufgrund des verbindenden Lebensfundaments, das alle Lebewesen verbindet, stehen die Menschen in einem Miteinander und Nebeneinander mit allem Lebendigen. Ein Mitverhältnis beherrsche die Beziehung des Lebewesens zu seiner Umwelt. Aber es gebe doch einen entscheidenden Unterschied: „[…] ein echtes Gegenverhältnis [im objektiven, nicht feindlichen Sinn]“ kenne nur der Mensch. An diesen zentralen Stellen der Analyse, wo es um Phänomenbeschreibung geht und wo in der Sache die Nähe zu Heideggers Sein und Zeit auffällig wird, lässt sich die Eigenart von Plessners Begriffssprache exemplarisch aufweisen. Nehmen wir ein paar Beispiele aus dem zitierten Text: „Die Umwelt des Menschen ist getragen von Umweltcharakteren“, „Sie zeigt sich als ungegliederte Atmosphäre“, „Eine Fülle von Umständen sind da, die den Menschen umgeben“. Tausend Dinge werden aufgeführt, von dem Stückchen Seife bis zum Briefkasten, als Elemente des Umgangs mit ihnen, als Komponenten des Umfeldes (nur der Möglichkeit nach Objekte). Es ist eine Begriffssprache der aufsammelnden Draufsicht, die Sachverhalte metaphorisch in einem speziellen Milieu registriert, in einer Art Expertise. Im Vergleich mit Heideggers Umweltanalyse in Sein und Zeit zeigt sich sofort die aufschließende Kraft von Heideggers innovativem Sich-Einlassen auf das, was faktisch geschieht. Heidegger wählt für den Umgang mit Dingen in unserer alltäglichen Umwelt das umgangssprachliche Wort „Zeug“. Zeug wird nicht primär als Objekt wahrgenommen, es wird in Gebrauch genommen, im Sinnbereich eines „Um-zu“. Wenn von Sehen hier die Rede sein kann, so ist es nicht Draufsicht, kein „Begaffen“, sondern „Umsicht“. Erst wenn ein Werkzeug nicht funktioniert, kommt seine „Vorhandenheit“ ins Spiel; es wird aufdringlich, gar aufsässig – wenn es den erwarteten Dienst verweigert. Natur taucht in diesem Zusammenhang der Analyse menschlichen Daseins in der Welt nur am Rande auf, Natur wird „mitentdeckt“. Die Vielfalt der Umwelt sind nicht tausend Dinge, sondern Verweisungen, eine „Verweisungsmannigfaltigkeit“ funktionaler Beziehungen.

67

Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a.a.O. 26. 42

Tiere erscheinen zwar in der menschlichen Umwelt, aber als Lieferanten beispielsweise von Leder, Hühner von Eiern, Kühe von Milch. In Tierhaltung und Tierzucht sind sie nichts Hergestelltes, sondern stellen sich in gewisser Weise selbst her.68 Ethische Ansatzpunkte gibt es in der „Fundamentalontologie“ von Sein und Zeit nicht: Die Frage an den Denker Heidegger: Wann schreiben Sie eine Ethik?, blieb bis zu dem späteren Brief über den Humanismus virulent. Sie hat, wie oben dargestellt, auch zur Auseinandersetzung mit der tradierten anthropologischen Formel Anlass gegeben. Auch bei Plessner, der die Naturbedingtheit des Menschen programmatisch verkündet, aber dann doch die Sonderstellung des Menschen als „originäre Mitwelt“ von der „Vitalsphäre“ abhebt, hat ein Ausgriff auf Solidarität mit anderen Lebewesen keinen konzeptionell wohlbestimmten Ort. Dies ist so zu konstatieren, weil der Autor in einem Vortrag in Biberach 1966 über „Unmenschlichkeit“ eine Haltung von Mitmenschlichkeit beschreibt, die zu einer Ethik des Mitleids einen Begründungsauftrag nahelegen würde. Die Überlegungen von Plessner lauten wie folgt: „Wenn aber Menschlichkeit eine Haltung und Aufgabe sein soll, die im Klima der industriellen Superlative des Catch-as-catch-can, weil sie kein Bild mehr hat, an dem sie sich orientiert, weder ein christliches noch ein profanes, weder ein religiös fundiertes noch ein ästhetisches, wird sie sich nur durch Weckung und Pflege jener Qualitäten des Herzens bestätigen und bestätigen lassen, die jeder Logik und Institutionalisierung widersprechen. Die außer Kraft setzende Gewalt der Ritterlichkeit gegen die Schwächeren, das Erbarmen mit der Ohnmacht, der entwaffnenden Vergebung, des Hörens auf den einzelnen bilden Formen der Versöhnung, da das (eine natürliche Mitte entbehrende) Lebewesen Mensch kraft seiner Fähigkeit auch seiner Zerrissenheit Herr zu werden, in seiner Macht hat, im Modus des Verzichts auf sie sich als menschlich zu erweisen.“69

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Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1953, 69ff. Aus: Diesseits der Utopie, Frankfurt 1974, 229. 43

5.1 Der Mensch als Mängelwesen: Arnold Gehlen Eine entschieden auf den Handlungsbegriff ausgerichtete Position vertritt Arnold Gehlen in seinem Buch Der Mensch. Der Mensch wird darin als „Mängelwesen“ beschrieben, sie sind biologisch entstanden und müssen kompensiert werden, sonst wäre das Lebewesen nicht überlebensfähig. Dies geschah durch einen Ausgleich – und zwar durch Freizügigkeit im Handeln, eine „Weltstellung“, die das Eingefügtsein in eine ökologisch bestimmte Umwelt ablöste und damit dem Menschen eine überlegene Sonderstellung einräumte. Auffällig in Gehlens Konzeption ist, dass in seinem anthropologischen Hauptwerk die alte Definition „animal rational“ überhaupt nicht erwähnt wird. ein Zufall ist das nicht. Es ist konzeptionell gewollt. In der Einführung zu seinem Buch setzt sich der Autor von geläufigen Formeln ausdrücklich ab; „Daß nämlich der Mensch nicht aus sich selbst begriffen werden könnte, dass er nur mit Kategorien des Außermenschlichen beschreibbar und deutbar sei.“70 Es müsse möglich sein, das Wesen des Menschen aus sich selbst zu begreifen. Gehlen ruft Nietzsche zum Zeugen auf, der mit seinem Satz vom Menschen als dem „noch nicht festgestellten Tier“ doppelsinnig festgestellt habe, es gäbe noch keine Definition, was eigentlich der Mensch sei – und der Mensch sei ein unfertiges Wesen. „Beide Aussagen sind zutreffend und können übernommen werden.“71 Gehlen gibt damit seiner Arbeit eine strategische Ausrichtung auf der Basis einer konzeptionellen Vorentscheidung. Sie schließt nicht aus, im Laufe der Untersuchungen sich – im Sinne der Abgrenzung – mit dem Verhältnis des Menschen zu Tieren auseinanderzusetzen. Gehlen tut das ausführlich, von der Evolutionslehre bis zu den Experimenten mit Menschenaffen von Wolfgang Köhler auf Teneriffa. Arnold Gehlen hat – im Unterschied zu Helmuth Plessner – nach seiner Anthropologie auch eine Ethik-Konzeption vorgelegt. Ihr hat er den Titel Moral und Hypermoral gegeben. Es ist der Entwurf einer pluralistischen Ethik; auch in ihm wird die alte anthropologische Definition nicht erwähnt. 70 71

Arnold Gehlen, Der Mensch, 8. Auflage, Frankfurt 1966, 10. Ebd. 44

Schopenhauers Mitleidsethik ist darin unter den „Physiologischen Tugenden“ registriert, als Sozialregulation, in der sichtbares Leiden eine drastische Appellund Auslöserwirkung erreichen könne. Sie bedürfe, da durch Aggressivität jederzeit hemmbar, institutioneller Nachhilfe. Gehlen erwähnt hier die Gründung des Roten Kreuzes durch Jean-Henri Durant. Schopenhauers Ethik erklärt er psychologisch aus der besonderen Situation eines Mannes, der „familienlos, staatenlos, als Zugereister, Frankfurter und Rentier Mühe gehabt hatte, andere Antriebe und Verpflichtungen in sich zu finden.“72 Gemeint ist: Die Mitleidsempfindung habe ihm in dieser Lage nahegelegen. Im Zusammenhang mit den „Mitleidsreligionen“ tritt dann Schopenhauer noch einmal ins Blickfeld des Autors. Unter den Philosophen sei er der letzte, der eine „Gesamtwahrnehmung des Lebens“ zu vermitteln gesucht habe. Wer das Ganze erkenne, sehe die leidende Menschheit, die leidende Tierheit und die hinschwindende Welt. So zitiert er aus dem Schlusskapitel von Welt als Wille und Vorstellung.73 Der Text führt an der zitierten Stelle fort: „Dieses Alles aber liegt ihm jetzt so nahe, wie dem Egoisten nur seine eigene Person. Wie sollte er nun, bei solcher Erkenntnis der Welt, eben dieses Leben durch stete Willensakte bejahen und eben dadurch sich ihm immer fester verknüpfen, es immer fester an sich drücken? Wie also Der, welcher noch im principium individuationis, im Egoismus befangen ist, nur einzelne Dinge und ihr Verhältnis zu seiner Person erkennt, und jene damit zu immer erneuerten Motiven seines Wollens werden, so wird hingegen jene beschriebene Erkenntnis des Ganzen, des Wesens der Dinge an sich, zum Quietiv alles und jedes Wollens. Der Wille wendet sich nunmehr vom Leben ab: ihm schaudert jetzt vor den Genüssen, in denen er die Bejahung desselben erkennt. Der Mensch gelangt zum Zustand der freiwilligen Entsagung, der Resignation, der wahren Gelassenheit und gänzlichen Willenlosigkeit.“ 74

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Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, Frankfurt 1970, 59. Das Zitat ist Schopenhauer, Werkausgabe, Erster Band, Zürich 1988, 488. Ebd. 76. Ebd. 488f. 45

Gehlen ruft Schopenhauer für eine Erkenntnis des Ganzen als Voraussetzung für eine „Umkehr des Willens“ in den Zeugenstand – und dies auf einer anthropologischen Position, die den Menschen als handelndes Wesen ansetzt. Dabei ignoriert er die herkömmliche Definition des Menschen als animal rationale oder übergeht sie als „ontologisch“. Als „Mängelwesen“, das nur handelnd, aufgrund von Instinktresiduen, die ihn freilassen, überleben kann, ist er aus der umweltangepassten Lebensform von Tieren herausgetreten – und zwar wesentlich, nicht nur spezifisch differenziert durch Rationalität. Das Lob für Schopenhauer in Moral und Hypermoral hat aber noch einen tieferen Grund. Das Buch ist eine fulminante Abrechnung mit dem Subjektivismus und seiner Überdehnung der Familienmoral. Ihrer Tugenden auf die Gesellschaft, ja auf die internationalen Beziehungen, heute würden wir sagen: auf die Weltgesellschaft. Gehlen nennt das die Erweiterung der Humanität zum Humanitarismus. Es ist hier nicht der Ort, die Problematik dieser Thesen zu diskutieren. Aber wesentlich für die Erörterung seiner Position in unserem Zusammenhang ist die Beobachtung, dass eine Anthropologie, die mit ihrer Grundbestimmung des Menschen und ihrem dezidierten Moralpluralismus, mit ihrer Kritik von aufklärerischem Anthropozentrismus, mit ihrer Kritik des Kapitalismus und seiner Heiligung der Privatinteressen keinen Anlass hat, die außerspezifische Reichweite von Ethik in den Blick zu nehmen. Eine Basis dafür fehlt. Die alte Formel vom animal rationale in adäquater Interpretation hätte ihn eröffnen können. Menschlichkeit ist das Stichwort, das Plessner in seiner Negativversion (Unmenschlichkeit) als Thema für Anthropologie und Ethik ins Spiel gebracht hatte. Es ist ein vieldeutiges Wort, es bietet für eine komplexe Problemlage semantischen Raum. Wie steht es damit bei Arnold Gehlen? Gehlen hat Gottfried Herder emphatisch als Zeugen einer bleibenden Wahrheit gewürdigt: Der Mensch ist ein „Mängelwesen“. Den Ausdruck hat Gehlen aufgegriffen. Er wurde von Herder der Sache nach beschrieben. Die Instinktungebundenheit, die Instinktreste, die im Menschen, dem „Freigelassenen der Schöpfung“, wirken. Gehlen nennt sie „Instinktresiduen“, das alles ist bereits bei Herder da. Die Betrachtung der menschlichen Natur darf nach Gehlen nicht bloß aufs Somatische gehen (das Kapitel Mensch ist nicht das letzte Kapitel der Zoologie). Die 46

Geistlehre (Scheler) und das Stufenschema von Plessner (Die Stufen des Organischen und der Mensch) lassen nach Gehlen zu viele Fragen offen: Was heißt beispielsweise bei Plessner dieses „und“, verbindet oder trennt es? Gehlens triftigster Einwand gegen die Philosophischen Anthropologien der Zwanzigerjahre ist jedoch: Sie sind allesamt „ontologisch“ orientiert. Sie denken in Gegenstandsbegriffen objektiver Art. Der Mensch wird in seinem Da-Sein in die Welt hineingedacht, als Teil oder Stück der Welt. Die Substanzontologie lässt Verbalsubstantive beiseite, die das Agieren beschreiben: Das Sich-Verhalten, das Handeln, das Denken, das Getrieben-Werden. So wird eine die weitere Untersuchung leitende ontologische Vorentscheidung getroffen, ohne dass dies bemerkt würde. Gehlens Entscheidung hält dagegen: Der Mensch ist das handelnde Wesen.75 Er ist nicht festgestellt (Nietzsche). Er nimmt Stellung – und er ist ein Wesen der Zucht (Nietzsche). Er ist vorsehend, wesentlich zur Handlungssteuerung. Morphologisch ist der Mensch unter den höheren Säugern durch seine Defizite limitiert. Seine Existenz ist eine Aufgabe, die er handelnd zu bewältigen hat. „Die biologische Betrachtung des Menschen besteht als nicht darin, seine Physis mit der des Schimpansen zu vergleichen, sondern besteht in der Beantwortung der Frage: wie ist dieses mit jedem Tier wesentlich unvergleichbare Wesen lebensfähig?“76

Der Mensch also ist nach Gehlen mit jedem Tier wesentlich unvergleichbar. So wird plausibel, warum Gehlen die traditionelle anthropologische Formel beharrlich ignoriert. Er muss sie aufgrund seines Ansatzes für irreführend halten. Der menschliche Organbau ist – im Unterschied zum tierischen, nach Gehlen unspezialisiert – auf Welt bezogen, weltoffen. Darum ist das Verhältnis zur Welt nicht vom Bewusstsein her auszulegen. Was thematisiert werden muss unter solchen einzigartigen Bedingungen, was sachgemäß anzugehen ist, das ist der Entwurf

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Der Fokus aufs Agieren klammert die Dualismen von Natur und Geist, von Leib und Seele einfach aus, befreit so die Anthropologie von konventioneller Problemlast. S. dazu Arnold Gehlen, Anthropologische Forschung, Hamburg 1971, 19. A. Gehlen, Der Mensch, a.a.O. 25 (hier zitiert nach der unveränd. Zweitauflage). 47

eines organisch mangelhaften, deswegen weltoffenen, d. h. in keinem bestimmten Ausschnittmilieu natürlich lebensfähigen Wesens.77 Nun ist der Mensch aber faktisch lebensfähig – die unvergleichliche Erfolgsgeschichte seiner Gattung, die wir überblicken, beweist das zur Genüge. Deshalb stellt sich die Fragen nach den strukturellen Bedingungen der Überlebensleistung eines von der Natur benachteiligten Lebewesens. Weltoffenheit bedeutet „Belastung“ (u.  a. durch Reizüberflutung). Welt eröffnet ein Überraschungsfeld von Unvorhersehbarem. Das ist lebensgefährlich. Also muss der Mensch Entlastung suchen. Und das bedeutet: Er muss die Mängel seiner Existenz eigentätig in Bedingungen der Lebensfristung umarbeiten. Das wird ihm nur in Gemeinschaft mit anderen gelingen. Gehlen hat die Entdeckung des Entlastungsprinzips für den Schlüssel zum Verständnis der Struktur menschlichen Handelns gehalten – und reklamiert diese Entdeckung als seine eigentliche Leistung.78 Der „Freigelassene der Schöpfung“ (Herder) bedarf der Entlastung – lebensnotwendig. Das Entlastungsprinzip wird der Schlüssel zur Strukturierung des menschlichen Handelns und so auch zur Leitfigur einer aus der Gehlen’schen Anthropologie erwachsenden Ethik. In den ersten drei Auflagen des Werkes Der Mensch sieht Gehlen in der nationalsozialistischen „Weltanschauung“ ein Führungssystem, das Entlastung bringt und Lebenshaltung und Handlungsorientierung vorgibt. Gehlen nennt dies auch mit einem Begriff von Alfred Rosenberg ein „Zuchtbild“, das sich an „germanische Charakterwerte“ anschließe. Was damit gemeint ist, kann eine einschlägige Stelle aus Rosenbergs Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts vor Augen führen: Im germanischen Abendland sei der Begriff Ehre das Zentrum des ganzen Daseins gewesen. Sich zu seinen Taten zu bekennen. Auch wenn der Krieg brutal geführt wird, sei Ehrgefühl dem nordischen Manne eigen. „Dieses von jeder einzelnen Persönlichkeit geforderte Verantwortlichkeitsgefühl war die wirksamste Abwehr sittlichen Sumpfes jener

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A. Gehlen, Der Mensch, a.a.O. 24. Ebd. 25. Am Beispiel der Bewegungsleistungen von Tieren und Menschen analysiert Gehlen die Unterschiede anhand von Wolfgang Köhlers Versuchen mit Menschenaffen. S. Der Mensch, a.a.O. 151ff. Vgl. Wolfgang Köhler, Intelligenzprüfungen an Anthropoiden, 1917, Neudruck, Berlin 1963, mit dem Titel: Intelligenzprüfungen an Menschenaffen. 48

heuchlerischen Wertezersetzung, die im Laufe der abendländischen Geschichte in den verschiedenen Formen der Humanität als feindliche Versuchung über uns gekommen ist.“79 In späteren Auflagen nach dem Kriege stellt Gehlen richtig, räumt Fehler ein bei der Untersuchung „oberster Führungssysteme.“ Sie müssten „in Bezug auf die gesellschaftlichen Institutionen“ verstanden werden. Die Berufung auf Alfred Rosenberg ist verschwunden. Gehlen entwickelt nun die Theorie einer „sekundären objektiven Zweckmäßigkeit“ gesellschaftlicher Rituale, in denen eine idée directrice institutionellen Rang erlangt, der wie eine „zweckmäßige Veranstaltung der Natur im Menschen“ sich auswirkt.80 Am Beispiel des Totemismus sucht Gehlen zu zeigen, wie er Anthropophagie überwunden, durch Stiftung von Gruppenidentität schließlich Ackerbau und Viehzucht ermöglicht und zur „Humanisierung“ des Menschen beigetragen habe.81 Wozu soll die Darstellung der Position Gehlens dienen, der jeden Hinweis auf animal rationale notorisch vermied? Seine Anthropologie ist geeignet als Folie zur Beurteilung dessen, was Derridas Dekonstruktion innovativ leistet. Es ist ein Paradigmenwechsel, der radikal das Mensch-Tier-Muster verabschiedet. Im Rahmen der Gehlen’schen Anthropologie erschiene das höchstens als Rückkehr ins Archaische, ins Urmenschentum, in eine rituell vermittelte Gemeinschaft mit Tieren, in kultische Formen der Tierverehrung.82 Gehlens Position ist bedeutsam, weil sie die Logik der alten Formel animal rationale, die er ignoriert, durch die Bestimmung des Menschen als „stellungnehmendes Wesen“ umkehrt (die diferentia specifica wird zum Ort der essentia). Es ist diese Wesensbestimmung, die es erlaubt, die „physisch-morphologische Sonderstellung des Menschen mit zu umfassen“. Nur von dem Gedanken eines handelnden, nicht festgestellten Wesens her bekomme man die Physis des Menschen überhaupt in den Blick.83

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Alfred Rosenberg, Der Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts, 10. Aufl. München 1933, 152ff. Arnold Gehlen, Der Mensch, 7. Aufl. Frankfurt 1966. 383ff. A.a.O. 401. S. dazu: Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur, 2. neu bearb. Aufl. Frankfurt 1964, 170. Gehlen, Der Mensch, a.a.O. 32f. 49

Arnold Gehlen hat – im Unterschied zu Plessner – nach seiner Anthropologie auch eine Ethik-Konzeption vorgelegt. Ihr hat er den Titel Moral und Hypermoral gegeben. Es ist der Entwurf einer pluralistischen Ethik. Eine der sogenannten Ethosformen sind die „physiologischen Tugenden“, die wie die anderen „Instinktresiduen“ der Vitalform des Mängelwesens Mensch entstammen. Es sind Sozialregulationen, in denen sichtbares Leiden eine „drastische Appell- und Auslöserwirkung“ erreichen könne.84 Das erinnert an Herders Beschreibung des familiären Ethos. In seiner sinnlichen Bildsprache hat er den Menschen als „schwächeres Tier“ – im Vergleich mit dem „struppigen Bär“ und dem „borstigen Igel“ vorgeführt. Das Kind, ein elend auf die Welt kommender Erdbewohner, ist „der Erbarmung bedürftig“. Eigentlich müssten, schreibt Herder, die Bande der Natur am ehesten reißen, wo sie am stärksten werden, wenn es nach unserer „kalten Philosophie“ ginge: „Die Mutter hat sich der Frucht, die ihr so viel Ungemach machte, endlich mit Schmerzen entledigt; kommt’s bloß auf Vergnügen und neue Wollust an, so wirft sie weg. Der Vater hat in wenigen Minuten seine Brunst gekühlt, was soll er sich weiter um Mutter und Kind […] kümmern […].“85

Aber die Ordnung der Natur sei weiser. Die Schwäche und Hinfälligkeit des Säuglings verdopple die Regungen der Eltern. Mit „wärmerer Wallung“ sähen Mutter und Vater den Sohn.86 Die Natur habe nämlich den Menschen „unter allen Lebendigen zum teilnehmensten“ geschaffen. Im Wort Humanität möchte Herder alles fassen, was zur Bildung des Menschen gehört: „Denn der Mensch hat kein edleres Wort für seine Bestimmung als er selbst ist, in dem das Bild des Schöpfers unserer Erde, wie es hier sichtbar werden konnte, abgedruckt lebt.“

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Dazu Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik. 2. Aufl. Frankfurt 1970. Insbes. 5ff. Johann Gottfried Herders Sprachphilosophische Schriften, hrsg. von Erich Heintel, Hamburg 1960, 67f. Im Stil der Zeit wäre eine Tochter literarisch nicht beispielswert. 50

Die „echte menschliche Philosophie“ habe dieser Humanität nachzuforschen.87 Nach Gehlen ist das als physiologische Tugend registrierte Familienethos nur so lange als human zu rechtfertigen, als es sich nicht über den Umkreis der Nahverhältnisse ausdehnt. Eine Erweiterung darüber hinaus, auf die Gesellschaft oder die Menschheit, macht Humanität in Gehlens Begriffsbildung zu einem „Humanitarismus“. Ein universaler Anspruch von Humanismus, der etwa im Namen von Menschenrechten das Völkerrecht übertrumpfen und durch staatliche Selbstbestimmung legitimierte Normen im Vorgriff auf eine „Weltgesellschaft“ außer Kraft setzen will, wird nach Gehlen zur Ideologie, die grauenhafte Aggressivität freisetzt. Arnold Gehlen hat Schopenhauers Ethik, die das Mitleid als „physiologische Tugend“ (und im Sinne Herders nicht als kalte rationale, sondern als menschliche Philosophie rechtfertigt) sogar transspezifisch auf alle Lebewesen ausdehnt, psychologisch zu erklären versucht, aus der besonderen Situation eines Mannes, der „familienlos, staatenlos, als Zugereister, Frankfurter und Rentier“ Mühe gehabt habe, andere Antriebe und Verpflichtungen in sich zu finden.88 Im Zusammenhang mit den „Mitleidsreligionen“ tritt Schopenhauer in Gehlens Moraltheorie noch einmal ins Blickfeld. Unter den Philosophen sei er der letzte, der eine „Gesamtwahrnehmung des Lebens“ zu vermitteln gesucht habe. Wer das Ganze erkenne, sehe die leidende Menschheit, die leidende Tierheit und die hinschwindende Welt. So zitiert er aus dem Schlusskapitel von Welt als Wille und Vorstellung.89 Der Text fährt an der zitierten Stelle fort: „Diese Alles aber liegt ihm jetzt so nahe, wie dem Egoisten nur seine eigene Person. Wie sollte er nun, bei solcher Erkenntnis der Welt, eben dieses Leben durch stete Willensakte bejahen und eben dadurch sich ihm immer fester verknüpfen, es immer fester an sich drücken? Wie also Der, welcher noch im principium individuationis, im Egoismus befangen ist, nur einzelne Dinge und ihr Verhältnis zu seiner Person erkennt, und jene damit zu immer erneuerten Motiven seines Wollens werden, so wird hingegeben 87 88 89

Herder, a.a.O. 169. Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, a.a.O. 59. Ebd. 76. 51

jene beschriebene Erkenntnis des Ganzen, des Wesens der Dinge an sich zum Quietiv alles und jedes Wollens. Der Wille wendet sich nunmehr vom Leben ab; ihm schaudert jetzt vor den Genüssen, in denen er die Bejahung desselben erkennt. Der Mensch gelangt zum Zustand der freiwilligen Entsagung, der Resignation, der wahren Gelassenheit und gänzlichen Willenlosigkeit.“90

Gehlen ruft Schopenhauer für eine Erkenntnis in den Zeugenstand, die das Ganze im Blick hat als Voraussetzung für eine Umkehr des Willens. Er tut dies auf einer anthropologischen Position, die den Menschen als handelndes Wesen ansetzt. Diese herkömmliche Definition des Menschen als animal rationale wird dabei ignorier oder als „ontologisch“ übergangen. Als „Mängelwesen“, das nur aufgrund von Instinktresiduen, die ihn zum Handeln freilassen, überleben kann, ist er aus der umweltangepassten Lebensform der Tiere herausgetreten – nicht nur durch das Merkmal der Rationalität, sondern wesentlich. Das Lob für Schopenhauer in „Moral und Hypermoral“ hat aber noch einen tieferen Grund. Das Buch ist eine fulminante Abrechnung mit dem Subjektivismus und seiner Überdehnung der Familienmoral. Gehlen nennt das die Erweiterung der Humanität zum Humanitarismus, wie dargelegt. Es ist hier nicht der Ort, die Problematik dieser Thesen zu diskutieren. Aber wesentlich für die Erörterung seiner Position ist die Beobachtung, dass eine Anthropologie mit dezidiertem Moralpluralismus, mit ihrer Kritik des aufklärerischen Anthropozentrimus, keinen Anlass sieht, die außerspezifische Reichweite von Ethik auch nur in den Blick zu nehmen. Eine Basis dafür fehlt. Die alte Formel vom animal rationale hätte eine Grundlage dafür geboten, adäquat interpretiert Ratsam ist übrigens, Gehlen genau zu lesen und ihn wörtlich ernst zu nehmen. Er sagt: Der Mensch ist ein Mängelwesen. Er sagt nicht: Der Mensch ist ein Tier mit Defiziten. Das wäre in der Tat widernatürlich. Ein solches Tier wäre lebensuntauglich per definitionem. Die Mängel begreift Gehlen nicht als spezifische Merkmale eines animalischen Wesens, sondern als Wesensbestimmung des Menschen. Auch dies ist ein Grund, warum animal rationale von Gehlen gemieden wird.

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Zitiert aus Schopenhauer, Werkausgabe, Erster Band, Zürich 1988, 488f. 52

6 Dekonstruktion und ein neues Paradigma: Derrida Anders als Peter Singer widmet sich Jacques Derrida eindringlich und mit dem ihm eigenen kritischen Spürsinn in einem weit gespannten Horizont der überkommenen anthropologischen Formel. 91 Derridas Leitgedanke, den er an mythischen, religiösen und philosophischen Texten in Geschichte und Gegenwart erprobt, ist die „Dekonstruktion“ eines zur Selbstverständlichkeit im Umgang mit der Definition animal rationale erstarrten heuristischen Rituals. Sie besteht in der Unterscheidung von Mensch und Tier – wobei „Tier“, als Kollektivsingular, grundsätzlich objektiviert ist – im Unterschied zum Menschsein. Dekonstruktion als methodische Maxime ist kein Verfahren der Destruktion. Sie beginnt mit einem Anfangsverdacht, dass ein authentischer Sinnzusammenhang sozusagen konstruktiv verbaut oder überbaut worden ist, der durch Abbau des über ihm Errichteten freigelegt werden kann. Die konstruktive Verstellung in der Interpretation von animal rationale, die von Aristoteles bis zu Heidegger und Lévinas reicht, verdankt sich dem „Logozentrismus“, wie Derrida ihn nennt. Wesentlich ist dabei der Zusatz: Dies sei „zuallererst eine These über das Tier“.92 Wie ist das zu verstehen? Derrida meint offenbar nicht das Naheliegende, dass der Mensch sich als des Logos teilhaftig auszeichnet, sondern dass das „Tier“ des Logos entbehrt. Der Logozentrismus bildet also ein Ausschlusskriterium im Verhältnis Mensch – Tier. Zu verstehen ist das, wenn wir das Diktum Benthams als Hintergrund denken: Can they suffer? Die Antwort darauf lautet: Ja. Im Unterschied zu: Can they reason, Can they talk? Darauf lautet die Antwort: Nein. Die Antwort auf die erste Frage, das Ja, verbindet, die Antwort Nein schließt aus.

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92

Die wichtigsten Texte dazu sind die postum herausgegebenen Seminar-Vorträge, in deutscher Übersetzung unter dem Titel: Das Tier, das ich also bin, im Passagen Verlag 2010 erschienen. Das französische Original wurde von Marie-Louise Mallet unter dem Titel: L’animal que donc je suis, im Galilée-Verlag in Paris ediert. A.a.O., in der deutschen Ausgabe, 52. 53

Aus diesem Contra zum Logozentrismus, das eine Brücke bildet, die von der Substanz animalitas ausgeht – und nicht von der differentia specifica wie der Logos-Komplex – leitet Derrida einen bisher unerhörten Ansatz ab, der einem Paradigmenwechsel gleichkommt. Er legt die abstrakte Rede vom Tier ad acta und lässt sich auf eine Situation ein, die einem bestimmten Tier Subjektstellung einräumt. Er setzt sich dem Blick seiner Katze aus, im Bad, sein Körper hüllenlos. Die Katze wendet sich zur Tür und gibt zu erkennen, dass sie ins Freie will. Er aber prüft sich, reflektiert auf seinen Gemütszustand: Hat er sich geschämt, als ihn die Katze anblickte – oder nicht? Woher seine Unsicherheit, sein Unbehagen in ihrer Gegenwart, unter ihren Blicken? Die Szene mit der Katze mag gekünstelt oder gar kitschig erscheinen, der Blick der Katze auf den Philosophen im Adamskostüm allzu anthropomorph ausgedeutet – entscheidend ist hierbei die Umkehr der Blickrichtung. Sie stellt die habituelle Objektivierung des Tieres vom Kopf auf die Füße, in der das Tier nur das Gesehene, nie das Sehende sein durfte. Die Konsequenzen, die Derrida aus diesem radikal neuen Ansatz zieht, sind weitreichend, auch in der historischen Kritik: „Da wären zunächst einmal die Texte, die von Leuten signiert sind, die das Tier zweifellos gesehen, beobachtet, analysiert, reflektiert haben, die sich aber nie vom Tier gesehen sahen; sie haben nie den Blick eines Tieres gekreuzt, der auf ihnen lag (von ihrer Nacktheit ganz zu schweigen); selbst wenn sie sich eines Tages flüchtig vom Tier gesehen sahen, haben sie das nicht in (thematischen, theoretischen, philosophischen) Betracht gezogen; sie konnten oder wollten aus der Tatsache, dass ein Tier, indem es ihnen gegenüberstand, sie […] anblicken konnte […] keinerlei systematische Konsequenz ziehen; sie haben überhaupt nicht in Betracht gezogen, dass das, was sie „Tier“ nennen, sie von dort aus, von einem ganz anderen Ursprung aus, anblicken und sich an sie wenden [s’adresser] konnte“.

Die Diskurse, von Descartes, Kant, Heidegger, Lacan und Lévinas stammend, nennt Derrida „stark und tief “, aber alles vollziehe sich, als ob sie nie von einem Tier erblickt worden wären. Wenn das Tier zum Theorem wurde, da war es „etwas Gesehenes und nicht etwas Sehendes.“93 93

A.a.O. 34. 54

Da ist vor allem Emmanuel Lévinas zu nennen. Er wendet sich in seinem Lebenswerk gegen die auf Selbstbezogenheit gegründeten Theorien der Subjektivität, die von Descartes ins Werk gesetzt worden waren. Lévinas lehrt: Wir sind nicht ohne den anderen, Ich ist immer im Verhältnis zum anderen. Wir sehen das „Antlitz“ des anderen, der uns immer fremd bleibt – und wir sollten uns auf es einlassen und wahrnehmend zulassen, dass es zu unserem Selbstverhältnis wesentlich dazugehört. Ein tierisches Gesicht, das Gesicht eines Tieres, ist jedoch in den Augen von Lévinas kein Antlitz, obwohl auch das Tier uns unendlich fremd sein kann, auf eine viel radikalere Weise, als wenn wir einem Menschen ins Gesicht schauen. Lévinas gibt, obgleich das naheläge, eine Erweiterung des Theoriehorizonts auf Tiere nicht frei. Ähnliches konstatiert Derrida im Blick auf das sechste Gebot: Du sollst nicht töten. Oft sage Lévinas: Du sollst keinen Mord begehen (mise à mort), als Antwort auf die Maxime der Achtung vor dem Leben. Aber: Das sechste Gebot verbiete den homiciden nicht das Töten von Tieren: Die Tötung, die Opferung der Tiere, ihre Ausbeutung bis auf den Tod, das sind in dieser Logik in Wahrheit keine Morde. „Es beweist nach Derrida, dass Lévinas zutiefst ‚heideggerianisch‘ bleibe, dass er ebenso wie Descartes und Kant denke“.94 Was nun ist von Lévinas – in kritischer Zuwendung zu ihm ebenso wie ohne ihn – zu lernen? Derrida findet dazu eine einfühlsame Formulierung mit sprachlicher Kraft: Es gehe darum, „die Frage des Menschen, des Bruders, des Nächsten, ausgehend von der Möglichkeit einer Frage und Anfrage (question et demande) des Tiers zu denken, eines hörbaren oder stummen Rufs, der in uns außerhalb von uns ruft, aus größter Ferne, vor uns nach uns, uns vorangehend und uns unausweichlich verfolgend, derart unausweichlich, dass er den Diskurs dessen, der sich dem Ruf gegenüber taub stellen möchte, die Spur so vieler Symptome und Verletzungen, Wundmale von Verleugnungen hinterlässt.“95

Nun gibt es ein ungewöhnliches Prosastück von Emmanuel Lévinas, das anscheinend nicht seiner auf Menschen konzentrierten und so auch limitierten Grund94 95

A.a.O. 164. Ebd. 167f. 55

haltung entspricht. Es ist die Geschichte von Bobby, dem letzten Kantianer bei einer Waldarbeiterkompanie französischer Kriegsgefangener – einem Hund. Aber der Meisterdenker in der Analyse von Anerkennungsphänomenen bleibt nach Derrida auch dabei in der cartesischen Tradition befangen.

6.1 Bobby – der letzte Kantianer Wo ein Tier ins Blickfeld kommt, wie bei der Geschichte vom Hund Bobby, bezeugt es die Anerkennung von Menschenwürde. Der Hund, den sie Bobby nennen, ist das einzige Lebewesen im Lager, das den Gefangenen mit Zeichen der Freude und Achtung begegnet. Lévinas, selbst unter den französisch-israelischen Kriegsgefangenen, nennt ihn, ironisch auf den Philosophen anspielend, den letzten Kantianer in Nazideutschland. Bobbys Stellung zu den Menschen wird mit Motiven aus Mythologie und Theologiegeschichte begründet (das Schweigen der Hunde beim Ausbruch der Israeliten aus dem ägyptischen Joch). Die Überschrift des Berichtes von Bobby lautet: „Nom d’un chien ou le droit naturel“.96 Der Hund, wie von Lévinas als Bobby, der letzte Kantianer in Deutschland, beschrieben, ist von Natur aus ein soziales Tier. Das ist kein Widerspruch zur Domestikation, sondern eine wesentliche Voraussetzung dafür. Dies spielt jedoch bei Lévinas keine Rolle. Er interpretiert das Verhalten des Hundes mithilfe des Alten Testaments und einer ironischen Anspielung auf Kant. Es gelingt Lévinas nicht, aus der cartesischen Tradition des Denkens auszubrechen. Das ist Derridas Kritik. Bobby ist ein stummer Zeuge für die Würde des Menschen.97 Für die Aufseher waren die israelischen Kriegsgefangenen in französischer Uniform eine „Quasi-Menschheit, eine Affenbande“ (173). Derrida kritisiert in seiner Analyse des Berichts über den menschenfreundlichen Hund seine Überhöhung und Allegorisierung anhand klassischer Litera96

97

In deutscher Übersetzung in: Après vous, Denkbuch für Emmanuel Lévinas (1906– 1995), Verlag Neue Kritik, 55–59. A.a.O. 173. 56

tur (Odysseus’ Heimkehr als zerlumpter Wanderer, den als Einziger sein Hund wiedererkennt), ebenso wie den „Kantianismus“ von Bobby, der keine Maximen bilden könnte. Dies – ebenso wie der Vergleich mit den Hunden im Buch Exodus – verstellt die Individualität des Hundes Bobby. Aber eine nur scheinbar unwesentliche Eigenschaft des Hundes übersieht Jacques Derrida. Bobby ist ein Streuner, auf sich gestellt und nicht auf den Dienst von Menschen gedrillt. Er wird, wie Lévinas berichtet, nach ein paar Wochen von den SS-Wachen verjagt. Hunde, von Menschen erzogen und zu Bestien abgerichtet, wurden planmäßig in den Konzentrationslagern eingesetzt. Die SS hatte besonders ausgebildete Hundestaffeln zur Verfügung. Bertrand Perz hat das in einem Aufsatz beschrieben.98 Der „letzte Kantianer“ war ein Vagabund, der seine natürliche, im Hundewesen angelegte soziale Neigung bewahrt hatte.

6.2 Heideggers Analysen: rezipiert und ausgewertet von Derrida Ungleich stärker war die Herausforderung für Derrida, seine kritische Analyse im Umgang mit Heideggers phänomenologischen Untersuchungen zum Wesen des Tieres zur Geltung zu bringen. Er liest sie mit großer Anerkennung: Ihre Strenge und Bandbreite hält er für unvergleichlich.99 Der Titel von Heideggers Vorlesung könnte nahelegen, dass dabei Grundbegriffe der Metaphysik historisch abgehandelt würden. Aber Heidegger versteht sich in dieser Frühphase seines Denkens noch als Metaphysiker. Das wird spätestens dann offenkundig, wenn er das Verhältnis seiner Untersuchung zu den positi-

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99

In: „müssen zu reißenden Bestien erzogen werden“. Der Einsatz von Hunden zur Bewachung in Konzentrationslagern. In: Dachauer Hefte, Bd. 12, 1996, 139–158. A.a.O. 204. Zugrunde liegt die Vorlesung von Martin Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik von 1929/​30, GA Band 29/​30, insbes. der zweite Teil, 251–435. 57

ven Wissenschaften, insbesondere der Zoologie, begründet. Heideggers Denkarbeit war Ende der Zwanzigerjahre nicht diesseits der späteren Distanzierung des „Denkens“ von Philosophie und Metaphysik, wie sie der Humanismus-Brief direkt mit Bezug auf animal rationale als metaphysische Definition in die überholte Historie verweist. Sie lässt zwar Richtiges feststellen, führt aber im Kern in die Irre. Explizit wendet sich Heidegger in den Ausgangsüberlegungen der Vorlesung bei der Analyse der „Stimmung“ im „Dasein“ der Formel animal rationale zu: „Wenn Stimmung etwas ist, das zum Menschen gehört […] und wenn dieses nicht mit Hilfe von Bewusstheit und Unbewusstem aufzuhellen ist, dann werden wir dem überhaupt nicht nahe kommen, solange wir den Menschen als etwas nehmen, was sich vom materiellen Ding dadurch unterscheidet, dass es Bewusstsein hat, dass es ein Tier, mit Vernunft begabt, ein animal rationale ist oder ein Ich mit reinen Erlebnissen, das an einen Leib gebunden ist“.100

Diese Auffassung vom Menschen als einem Lebewesen, das an einen Leib gebunden ist und Vernunft besitzt, habe zu einer völligen Verkennung des Wesens der Stimmung geführt. Es fällt auf, dass eine Leitgebundenheit der Stimmung als mögliches Problem nicht einmal erwähnt wird. Phänomenologische Analysen, wie sie Heidegger in dieser Vorlesung Ende der Zwanzigerjahre unternimmt, wenden sich kritisch auch der Begriffsbildung in den Wissenschaften zu, etwa der Verhaltensforschung. Nach den Befunden Heideggers ist es irreführend, bei Tieren von Verhalten zu oder vom Verhalten in ihrer Umwelt zu sprechen, weil dieser Begriff suggeriert, es sei etwas zumindest vergleichbar in diesem „Verhalten“, wie sich Menschen als „weltoffene Wesen“ in der Welt verhalten. Dies tangiert vor allem, neben der darin enthaltenen Wissenschaftskritik, auch die heute notwendigen Fragen, wie und ggf. mit welchen normativen Vorgaben wir unser Verhalten zu den Tieren als Lebewesen, die mit uns leben – oder theologisch gesprochen – die unsere Mitgeschöpfe sind, bestimmen sollten.

100

A.a.O. 93. 58

Auf den Punkt gebracht: Wie verhalten wir uns zu den Tieren, die sich ihrerseits zu uns, aufgrund einer phänomenologischen Wesensbestimmung, gar nicht „verhalten“ können, sondern in „Benommenheit“ sich uns gegenüber „benehmen“. Da sind tiefsitzende Probleme, offenkundig ungeklärt, gleichgültig, ob wir die Heidegger’schen Analysen übernehmen oder nicht: Zentral ist das Problem des Sich-Versetzens in den Andern. Heidegger erklärt: Wir können uns in Tiere versetzen (die „weltarm“ sind), nicht aber in Steine (die „weltlos“ sind). In Menschen sich zu versetzen wäre Unsinn – denn wir sind schon immer, als Mitmenschen, als Mit-Sein, in den anderen versetzt. Heidegger schlägt vor, das Wort „Verhalten“ für die Seinsart des Menschen zu reservieren; bei der Seinsart der Tiere jedoch von „Benehmen“ und „Sich-Benehmen“ zu sprechen. Der Sinn dieser Wendung erschließt sich aus der „Benommenheit“ des Tieres in seinem „Umring“ – Heidegger hat die Umwelttheorie Uexkülls vor Augen; wir könnten hier auch an Herder erinnern. Nach Heidegger ist in der Umwelt des Tieres niemals Seiendes als Seiendes gegenwärtig. Das „Wie“ des Gegenwärtigseins versucht er phänomengerecht zu beschreiben – gegen das geläufige ontologische Vorurteil, dass die Umwelt der Tiere gegenüber der „Weltoffenheit“ der Menschen eingeschränkt sei. Gegen den Darwinismus bringt Heidegger einen bezeichnenden Einwand vor: Es handele sich nicht um Anpassung der Tiere an eine vorhandene Umwelt, sondern um eine Einpassung der Umwelt in das tierspezifische, funktional bestimmte Lebenssystem des Tieres.101 Heidegger ringt sich eine künstliche, gelegentlich erkünstelte Sprache ab, der das intensive Bemühen um einen phänomengerechten Ausdruck anzumerken ist. So beschreibt er das „weltarme“ Verhältnis der Tiere zu ihrem Umfeld: „Die Hingenommenheit des Tieres je von dem Ganzen liegt in der Richtung der möglichen Enthemmung innerhalb seines Umrings. Die Hingenommenheit ist offen für die Enthemmungsmannigfaltigkeit, aber dieses Offensein ist gerade nicht Offenbarkeit von solchem, worauf als Seiendes sich das Benehmen beziehen kann. Jene geöffnete Hingenommenheit ist 101

A.a.O. 383ff. 59

in sich die Genommenheit der Möglichkeit des Vernehmens von Seiendem. In diesem Sich-Umringen liegt das geöffnete Eingenommensein in es – nicht in ein so genanntes ‚Inneres‘ des Tieres, sondern in den Ring der Zugetriebenheit der sich öffnenden Triebe.“102

Heidegger verlässt zwar gelegentlich das abstrakte Thema „Tierheit“ und wendet sich einer bestimmten Art von Tieren zu: „Haustiere leben mit uns“. Aber ein Hund, der bei uns ist, habe keine Mit-Existenz, sofern er nämlich nicht existiert, sondern nur lebt. „Er frißt mit uns – nein, wir fressen nicht. Er ißt mit uns – nein er isst nicht“103. Heidegger hört die Sprache ab – und richtet sich nach ihr. Die darin verwahrte Distanz zum Tierischen kommt ihm entgegen. Wo und wie setzt die Kritik Derridas an – bei aller Anerkennung der phänomenologischen Leistung Heideggers in Bezug auf die „Tierheit des Tieres? Es ist die in solcher Ausdrucksweise beschlossene abstrakt thematisierte Wesensbestimmung des Tieres“. Sie veranlasst Derrida, Heideggers Grundposition cartesianisch zu nennen – immer noch, trotz der Descartes-Kritik in Sein und Zeit. Heidegger wird in die Reihe der Vertreter des alten Paradigmas in der Auslegungsgeschichte von animal rationale eingeordnet. Das ist der erste Kritikpunkt – der zweite ist die ontologische Verhältnisbestimmung von Mensch (Dasein) und Tier – und sie mündet in eine Frage. Das alles tragende Argument Heideggers ist hier – einfach gesagt –, dass Menschen fähig sind, Seiendes sein zu lassen, d.  h. sich auf etwas als etwas (das apophantische Als – terminologisch gefasst) zu beziehen, sodass es auch ist, was es ist, wenn ich abwesend bin. Dies Argument ist auch für Derrida überzeugend. Er teilt so die Auffassung vom Abgründigen zwischen Menschen und Tieren, die sich auch in der frühen Vorlesung findet, nicht erst im Brief über den Humanismus. Aber seine Kritik kleidet sich in eine bange Frage: Können wir wirklich eine Beziehung zu den Dingen haben ohne jegliche Absicht (oder Interesse) – wobei von Nietzsche zu lernen wäre. Er hätte, so Derrida, gesagt:

102 103

GA Bd. 29/​30, 371. A.a.O. 308. 60

„Nein, alles befindet sich in einer Perspektive, die Beziehung zum Seienden selbst, die ‚wahrste‘, die ‚objektivste‘, diejenige, die das Wesen dessen, was ist, was es ist, am meisten achtet, ist in einer Bewegung gefangen, die man eine Bewegung des Lebend(ig)en, des Lebens nennen wird; und von diesem Blickpunkt aus bleibt dies, wie auch immer es um die Differenz zwischen den Tieren bestellt sein mag, eine ‚tierliche‘, ‚animalische‘ Beziehung (‚rapport animal‘)“.104

104

Derrida, Das Tier … a.a.O. 226. 61

7 Tier und Mensch neokantianisch: Lothar Schäfer In unterschiedlicher Form lässt sich ein geläuterter Kantianismus beobachten in der ethischen Beurteilung des Verhältnisses zu Tieren bzw. der Animalität des Menschen. Eine direkte Anbindung an Kant ist dabei die Position von Lothar Schäfer.105 Das Eigenrecht der Natur werde bemüht als ein Mittel zum Zweck menschlicher Daseinssicherung. Hinter den Empfehlungen einer Physiozentrik zeige sich ein „expliziter Humanegoismus“ – gegen den man antreten wolle. Schäfer verweist auf Robert Spaemann, der die Abkehr vom Anthropozentrismus fordere – aus Sorge um den Menschen, um „ihn durch die Einschränkung seiner Willkür vor sich selbst zu schützen.“ Schäfer hält Kants dualistischen Ansatz (intelligibler bzw. empirischer Charakter) für anthropologisch adäquat und für das Naturverhältnis „ergiebig“.106 Das Selbst des Menschen ist als „Adressat der Imperative der Pflicht“ in die „Leib- und Triebsphäre verstrickt“.107 Nach Kant ist der Mensch zur Selbsterhaltung seiner „animalischen Natur“ verpflichtet – als Pflicht gegen sich selbst.108 Zwar erscheint in Schäfers Position am Ende auch der Schutz der Natur – das aber nur deshalb, „weil eine intakte Natur die Grundlage unseres leiblichen Wohlergehens ist, welches zu suchen und zu erhalten wir als vernünftige Wesen verpflich-

105

106 107 108

In: Anthropologie, Ethik und Gesellschaft, FS für Helmut Fahrenbach, Frankfurt 2000, 112ff.: Grundfragen einer ökologischen Ethik. Schäfer verweist auf S. 116, Fußnote 1 auf Robert Spaemann, Technische Eingriffe in die Natur als Problem der politischen Ethik, in: Dieter Bernbacher (Hrsg.), Ökologie und Ethik, Stuttgart 1980, 197. A.a.O. 118. Ebd. AA VI, MDS II, § 5, 421. 62

tet sind. Wir sollen Natur schützen als Ausdruck unserer Fähigkeit zu vernünftigem Handeln in freier Selbstbestimmung.“109

Schäfer macht seinen Kantianismus zur Grundlage einer anthropozentrischen ökologischen Ethik. Sein Kernpunkt: Er versucht zu legitimieren, was er humanen Egoismus nennt. Dieser humane Egoismus ist Fürsorge um den „empirischen Charakter“, also unserer organisch-leiblichen Animalität. Aber Lothar Schäfer ist nur ein Beispiel für die erstaunliche Beharrungskraft der kantischen Position.

109

A.a.O. 127. 63

8 Kant und Tierethik: Christine Korsgaard und Martha Nussbaum Signifikante Beispiele in diesem Zusammenhang gibt es dafür in der angloamerikanischen Ethik-Literatur und somit in einer veränderten Problemlage. Zu nennen sind hier Martha Nussbaum und Christine Korsgaard. Christine Korsgaard unternimmt den Versuch, Kant unkonventionell im Hinblick auf Tierethik zu interpretieren. Ihren Einstiegspunkt in die Auseinandersetzung mit Kant führt sie so ein: Kein Thema der kantischen Ethik findet mehr Widerhall in unseren gewöhnlichen Ideen als das Diktum, ein menschliches Wesen sollte niemals als bloßes Mittel zum Zweck benutzt werden. Du benutzt mich ja nur – das sei eine bis heute gängige moralische Protestformel.110 Der große Rivale des Kantianismus, zumal im angelsächsischen Kulturbereich, ist der Utilitarismus. Er lässt es grundsätzlich zu, ein menschliches Wesen als Mittel zum Zweck, z. B. zur Steigerung des Glücks einer Mehrheit, zu nutzen. Kants Lehre vom Zweck an sich menschlicher Wesen legt unsere Humanität in unsere rationale Natur. Unsere praktische Rationalität schließt die Fähigkeit ein, unser Verhalten zu regieren (govern) durch autonome Wahl.111 Was aber ist mit Kindern, mit Behinderten, mit non-human animals – also mit Lebewesen, die dazu nicht in der Lage sind? Auf solche und ähnlich bedrängende Fragen lässt Christine Korsgaard sich in ihrer Auseinandersetzung mit Kant ein. Sie umgeht keine Schwierigkeiten und 110

111

Christine Marion Korsgaard, Fellow Creatures: Kantian Ethics and our Duties to Animals. The Tanner Lectures on Human Values. Delivered at University of Michigan, February 6, 2004, 79. Dazu Samuel Camenzind über Christine Korsgaard und den Status ihrer Arbeit in der Kantforschung, in seiner Sammelrezension zur Tierethik: PhR Band 66, Heft 3/​4, 2019, 317ff. Der Rezensent bezieht sich dabei auf das Buch von Korsgaard, Fellow Creatures – Our Obligation to the other Animals, Oxford 2018. Ebd. 80. 64

lässt sich auch auf die für eine Tierethik provokante These Kants vom Dingcharakter der Tiere ein. In diesem Zusammenhang macht Korsgaard darauf aufmerksam, wie Kant die Praxis im Umgang mit Tieren analysiert und moralisch bewertet. Die moralische Rücksicht auf „andere Tiere“ (wie sich Christine Korsgaard durchgängig ausdrückt), ist nicht als ausgelöst durch diese Tiere zu verstehen, sondern moralisch einzuschätzen als Pflicht gegen uns selbst. So wirkt die Rücksicht gegen eine Verrohung im Umgang mit unseresgleichen. Sie kultiviert unsere Mitmenschlichkeit. Sofern wir annehmen, es gehe dabei ums Tierwohl, verfallen wir nach Korsgaard einer „Amphibolie“: Wir verwechseln eine interne Reaktion mit einer externen – wenn es in Wahrheit um die Stärkung der mitmenschlichen Humanität geht, die intern funktioniert. Das zentrale und entscheidende Argument, um Kants Ethik mit der Tierethik kompatibel zu machen, wird von Christine Korsgaard mit charmanter Geste eingeführt: „Now it would be nice, if I could […] formulate a maxim, run Kant’s universal law test, show you that it leads to a certain duty, and that the duty in question is owed to the other animals as well as to people“.112

Allerdings werde das nicht leicht von der Hand gehen, fügt Korsgaard ahnungsvoll hinzu. Die „Formula“, wie die Autorin den kantischen Maximentest (durch den kategorischen Imperativ) nennt, beruft sich auf die Tatsache, dass wir unsere Wahl durch Wertübertragung auf Objekte treffen, in diesem Sinne nehmen wir uns selbst, unsere Interessen und Bekümmernisse (concerns) so wahr, dass sie die Quelle unserer normativen Ansprüche (claims) und anderer rationaler Wesen werden. Das normative Sollen zielt aber nicht auf etwas, das gut für ein autonomes Wesen wäre – und es schließt nicht etwas aus, das schlecht wäre. Denn – so Korsgaard: „Valueing ist not a response to reasons and values, that are already ‚out there‘.“ Es gehe nicht darum, dass wir uns gegen Schmerz, Tortur oder Unrecht wenden, weil sie schlecht für uns als animal beings wären. Was z. B. für ein Auto gut ist, liegt außerhalb von ihm – es ist ein Mittel zum Zweck der 112

Ebd. 96. 65

Fortbewegung. Anders verhält es sich bei einem Organismus, sei er Pflanze oder Tier: „For an animal has the capacity to experience and pursue what is naturally good or bad for it.“113 Obwohl ein Tier (non-human animal) nicht zu sich selbst sagen kann: Ich bin ein Selbstzweck!, macht es doch sein Wohlbefinden (his own good) zum Zweck seines Verhaltens: „In that sense an animal is an organic system to whom his own good matters.“114 Auch unser Bewusstsein vom Zweck in sich selbst unseres Seins ist nicht allein autonom, sondern auch von dem bestimmt, was von Natur aus gut für uns ist. Damit wird nicht behauptet, dass unsere „incentives“ die gleichen sind wie bei den anderen Tieren. Korsgaard legt Kants Position so aus: „Human beings, for Kant, are not distinguished from the other animals by being in connection with some sort of transcendental, rational order with which the other animals have nothing to do. Instead we are distinguished by our ability to construct a transcendental, rational order out of the essential love of live and the goods of live that we share with other animals.“115

Hier allerdings legt Christine Korsgaard Kant nicht aus, sondern sie legt ihn sich zurecht (das „it would be nice“ als Auftakt zu diesen Überlegungen der Autorin, es bekommt hier zusätzlichen Reiz). In der Sache nämlich lässt sich diese Interpretation nicht mit dem Unterscheidungsmerkmal von menschlicher Animalität und moralischer Persönlichkeit vermitteln, wie es Kant im Beschluss der Kritik der praktischen Vernunft in kosmischer Perspektive darlegt. Als tierisches und endliches Geschöpf ist der Mensch in der natürlichen Welt unwichtig. Allein die Zugehörigkeit zur unendlichen Welt der moralischen Ordnung aller Vernunftwesen – irdisch oder außerirdisch oder gottgleich – verbürgt die Würde der menschlichen Existenz. Korsgaard folgert aus ihrer Kant-Interpretation:

113 114 115

Ebd. 102. Ebd. 103. Ebd. 105. 66

„In taking ourselves to be ends-in-ourselves we legislate that the natural goods of a creature who matters in itself is the source of normative claims, Animal nature is an end-on-itself, because our own legislation makes it so. And that is why we have duties to the other animals.“116

Korsgaard endet mit dem Satz: Kant habe damit recht, dass die Idee eines Zwecks-in-sich die einzig positive Quelle von Wert in der Welt der Fakten sei.117 Dieser Satz sagt allerdings nichts darüber, ob diese Quelle auch die Frage nach den Pflichten anderen Tiere gegenüber Nahrung geben könnte. Es ist in dieser Sachlage plausibel, den ältesten Zeugen einer philosophischen Ethikbegründung in den Zeugenstand zu rufen: Aristoteles, von jeher als Alternative zu Kant eingeschätzt. Korsgaard tut das in dem als unveröffentlicht deklarierten, aber im Internet zugänglichen Essay: „Aristoteles und die Frage nach dem Guten“.118 Unter Berufung auf Aristoteles tritt Korsgaard für die Lehre ein, dass die Menschen nicht für einen Zweck leben, der ihnen gesetzt wird. Dann würde das Gute darin bestehen, diesem Zweck zu dienen. Das wäre ein Denkfehler: „Aristoteles’ idea is that the good for a being consists in the well-functioning of that being as the kind of being that is in circumstances that are conductive or favorable for its overall well-functioning.“119 Christine Korsgaard geht die verschiedenen Theorien über das finale Gut durch – und sie entscheidet sich für die aristotelische. Es ist ihre Absicht, die Funktionstheorie des Wertens von Aristoteles mit dem neuzeitlichen Ansatz zu verbinden „according to Kant, together with the value, that […] we nessecarily set upon our humanity itself.“120 Aistotelisch konzipiert wären nach Korsgaard valueing capacities: „to find something pleasant, interesting, satisfying, or stimulating. Fine food and wines are

116 117 118 119 120

Ebd. 106. Ebd. 108. The Origin of the Good and Our Animal Nature – Lecture at the Ohio State University. Aristoteles, EN, 1.6, 1097b. 29ff. Ebd. 10. 67

valuable for human beings because of our capacity to aestheticize the appetites we share with other animals.“121 Wenn sich das mit dem kantischen Ansatz verbinden soll, dann nur so – nach Christine Korsgaard –, dass diese Funktionen des Wertes alle relativ sind auf das eine Prinzip: sich als human animal als Zweck in sich selbst (end in itself) zu wissen, niemals aber als Mittel zum Zweck. Nur auf diese Weise kann sich nach Kant eine „normativity“ ergeben, kann ein funktionaler Wert sich in ein Gesetz, das Sittengesetz verwandeln. Für Martha Nussbaum, sind die Arbeiten zu Kant in versöhnlichem Vergleich mit seinem Antipoden Aristoteles, eine höchst willkommene Brücke von Kant zur Tierethik. Beide Autorinnen haben ja ursprünglich bei John Rawls studiert. Im Artikel zum einschlägigen Oxford-Handbook von Martha Nussbaum ist der Bezug auf Christine Korsgaard offenkundig. Es geschieht im Rahmen eines Versuchs, die Tradition des Umgangs mit Tieren – und damit auch mit unserer Spezies – ganz neu aufzufassen. Anthropologie und Ethik geraten in eine Konstellation, in der die Formel animal rationale aus den so beharrlich gewordenen Befangenheiten befreit wird. Martha Nussbaum spricht mit Anerkennung und verhaltener Kritik über das Wirken von Christine Korsgaard: „Korsgaard’s conception of animal nature is Aristotelian: she sees animals including the animal nature of human beings, as maintaining systems who pursue a good and who matter to themselves. She gives a fine account of the way in which we may see animals as in that sense intelligent – as having a sense of self and a picture of their own good, and thus having interests whose fulfillment matters to them. We human beings are like that too, she argues, and if we are honest we will see that our lives are in that sense not different from other animal lives.“122

121 122

Ebd. Martha Nussbaum, The Capabilities Approach and Animal Entitlements, in: The Oxford Handbook of Animal Ethics, ed. By Tom L. Beauchamp and R. G. Frey, Oxford University Press, 2011, Chapter 8, 239. 68

Nussbaum fährt in grundsätzlicher Perspektive fort: „Much of ethics has to do with the interests and pursuits characteristic of our animal nature. When we do make laws for ourselves with regard to the (legitimate) fulfillment of our needs, desires and other projects issuing from our animal nature, it is simply inconsistent, and bad faith, Korsgaard argues, to fail to include within the domain of these laws the other beings who are similar to us in these respects. Just as a maxim cannot pass Kant’s test if it singles out a group of humans similarly situated, so too it cannot truly pass Kant’s test if it cuts the animal part of human life from the animal lives of our fellow creatures.“123

Martha Nussbaum beschreibt ihre eigene Position in Bezug auf Aristoteles und Kant mit leichter, kritischer Abweichung von Korsgaard. Sie tut das, indem sie sich auf die Formel animal rationale und ihre immanente Logik stützt. Christine Korsgaard ist nach Nussbaum etwas ungenau in der Bewertung von Tieren, wenn sie diese Zuschreibung aufgrund unserer Spezies, also der differentia specifica vom genus animal vornimmt. Das führe dazu, dass andere Spezies des genus, wenn sie uns ähnlich seien, denselben (aristotelisch gedachten) funktionsbedingten Wert besitzen. Martha Nussbaum macht dazu noch einen treffenden Einwand. Rationale außermenschliche Wesen, wie Engel oder Gott, deren genus nicht animalisch ist, hätten keinen Grund, dem Leben von Tieren Wert zuzubilligen.124

8.1 Kantianismus und Kant: eine Prüfung In unterschiedlicher Form lässt sich an heutigen maßgeblichen Positionen der Erweiterung von Ethik auf den Bereich des Umgangs mit Tieren, vor allem bei Positionen, die von Menschen und anderen Tieren sprechen – und damit der Definition animal rationale ihren vollen Sinngehalt zurückgeben –, ein geläuterter 123 124

Ebd. Ebd. 241. 69

Kantianismus beobachten. Dabei ist auffällig: Der Ausgang von Kant wird beibehalten; es gibt offenbar Gründe, seine Position nicht aufzugeben oder ganz zu ignorieren und ab ovo Ethik in der Philosophie zu entwerfen. Ein erstaunliches und nachdenkliches Faktum ist das vor allem in einem philosophischen Kulturkreis, in dem traditionellerweise der Utilitarismus von Jeremy Bentham und John Stuart Mill zu Hause ist. Ja, es scheint abwegig, ausgerechnet bei dem Versuch sich auf Kant zu beziehen, wenn es gilt, dem tierischen Leben, auch dem animal im Menschen gerecht zu werden. Auf die Autorinnen biographisch gerichtet, könnte ein Hinweis auf Abhängigkeit vom Kantianismus ihres liberalen Lehrers John Rawls Licht bringen. Wichtiger ist, die Aufmerksamkeit auf Kant und seinen Umgang mit der Formel animal rationale zu lenken, angefangen mit seinen vorkritischen Schriften. Korsgaard bezieht sich gelegentlich auf Kants Arbeit von 1786: „Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“. Dabei zitiert sie die Stelle, in welcher der Mensch zu einem Schaf spricht: „[…] den Pelz, den du trägst, hat dir die Natur nicht für dich, sondern für mich gegeben, der ihn abzog und sich selbst anlegte (V,21): ward er eines Vorrechts inne, welches er vermöge seiner Natur über alle Thiere hatte, die er nun nicht mehr als Mitgenossen an der Schöpfung, sondern als seinem Willen überlassene Mittel und Werkzeuge zur Erreichung seiner beliebigen Absichten ansah.“125

Um mich zu vergewissern, wie die biblische Auskunft mit historischer Folgewirkung durch Alttestamentler in der neueren evangelischen Theologie gedeutet wird, habe ich meinen Betheler Kollegen und Freund Frank Crüsemann und meinen ehemaligen Mitstreiter im Detmolder Prüfungsamt, Rainer Albertz, befragt.

125



Immanuel Kant, AA VIII, 114. In der englischen Übersetzung hatte statt „pelt“ in diesem Zitat „fleet“ gestanden. Korsgaard korrigiert das, weil es die Herrschaftsgeste, die damit verbunden ist, verharmlost. Auf sein Wollkleid, wenn es geschoren wird, könnte ja das Schaf vorübergehend verzichten. Bezeichnend ist, wie Kant die Bibelstelle Genesis 3, 21 ausmalt. Sie lautet lapidar: Der Herr machte dem Menschen und seiner Frau Röcke aus Fell und legte es ihnen an. Wobei Gott handelt – und nicht Adam dem Schaf das Fall abspricht und abzieht! 70

Crüsemann übersetzt in der „Bibel in gerechter Sprache“ Gen. 26: „Die Fische niederzwingen“. Das Wort gebe den hebräischen Sinn von Gewalttätigkeit korrekt wieder. Es sei ein Wort, das den Kampf mit einem Gegner bezeichne, in dem nichts Legales leitend sei wie etwa in einem Kriege, sondern wo der Stärkere siegt. Es könne auch Vergewaltigung bedeuten, nicht aber Tötung. Aus dem Kontext (mit Gen. 29), der bis zur Sintflut und Noahs Kasten und dem Neuen Bund reiche, sei der Auftrag zur Kultivierung und schließlich zur Lebenserhaltung abzuleiten. Professor Albertz sieht in dem Wort „niederzwingen“ von Gen. 26 den Sklaven, der untertänig am Boden liegt, mit dem Fuß des Herrn auf dem Nacken. Wichtig ist auch ihm, dass der Unterworfene dienstbereit ist, also nicht bleibend geschädigt wird. Bei allen Vergleichen und Rezeptionskritik im neuzeitlichen Denken ist nach dem Urteil der Theologen nicht zu vergessen, dass die Oberhoheit Gottes im Wächteramt über allem steht, was hienieden geschieht. Bei allem was auf Erden kreucht und fleucht, ist ein Drittes, ist ein Höherer im Spiel. Fällt er weg, wird das menschliche Herrschaftsverhältnis grundsätzlich ein anderes. Nun ist der Mensch in einer „Sonderstellung“ – ohne den Herrn über ihm – in einer Stellung also, die er im Alten Testament niemals hatte. Der vorkritische Kant – um zu ihm zurückzukehren – hat offenbar kein Problem mit der Auslegung der Definition animal rationale. In einer anderen Frühschrift geht er nämlich ganz unbefangen mit dem logischen Gehalt von animal rationale um. Er spricht vom „wesentlichen Unterschiede der vernünftigen und vernunftlosen Thiere“.126 Und gleich darauf stellt er fest: Das Grundvermögen der geheimen Kraft des Urteilens sei bloß vernünftigen Wesen zu eigen. Dieses Vermögen zu urteilen sei ein Vermögen des inneren Sinnes, d. i. seine Vorstellungen zum Objekt seiner Gedanken zu machen. Dieses Vermögen des inneren Sinnes sei ein „Grundvermögen im eigentlichen Verstande, aus keinem anderen abzuleiten“ und komme nur den vernünftigen Thieren zu. Es ist das Vermögen, die eigenen Vorstellungen zum Objekt zu machen. So habe zwar „der Ochs“ eine Vorstellung von der Türe zum Stall, könne aber nicht urteilen, dass die Tür zum Stall gehört.127

126 127

Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren, AA II, 59f. Ebd. 71

Vernunftlose Tiere haben zwar Vorstellungen, können sie aber nicht durch inneren Sinn zum Objekt machen. Kant führt im Hinblick auf das Vermögen, Dinge zu unterscheiden, eine zweifache Art der Unterscheidung ein. Die logische: erkennen, dass ein Ding A nicht B sei – das ist ein verneinendes Urteil. Und eine physische: durch verschiedene Vorstellungen zu verschiedenen Handlungen getrieben zu werden. Der Hund unterscheide den Braten vom Brot, weil er anders vom Braten als vom Brot gerührt werde. Im Ausgang von dieser Unterscheidung könne man veranlasst sein, dem Unterschied der vernünftigen und der vernunftlosen Tiere nachzudenken.128 Im Beschluss der Kritik der praktischen Vernunft wird die durch die Sinne erschließbare und vorstellbare Unendlichkeit des Kosmos, mit „Welten über Welten“, als existenziell relevant und das Gemüt mit Bewunderung und Ehrfurcht erfüllend betrachtet – und es wird anerkannt, dass in diesen weiten Räumen der Mensch eine verschwindende Größe ist. Wert und Wichtigkeit erhält seine Existenz aus der in seinem Gemüt verankerten Moralität; nicht sinnlich erfahrbar, nur dem „Verstande spürbar“ – und als Teilhabe an einem ganz anderen Leben nicht dem Verschwinden im Weltraum ausgesetzt. Diese Abhebung von der tierischen Geschöpflichkeit hebt auch das „rationale“ als Attribut des Animalischen auf und gibt ihm eine metaphysische Eigenständigkeit, eine Substantialität im „Reich der Zwecke“. Es ist darin eine Selbstfeier der Würde des Menschen. Die Position Kants im Umgang mit der anthropologischen Formel animal rationale erlaubt ihm ein entspanntes Verhältnis zu ihrem Gehalt. Das Verhältnis des Rationalen zum Animalischen in der menschlichen Natur ist nicht aus der Relation beider „Bestandstücke“ abgeleitet. Das Animalische als Basis wird („ein tierisches Geschöpf “) vielmehr im Anblick und Aufblick zum „bestirnten Himmel“, also kosmisch ermessen. Und es ist nicht nur die individuelle Lebensfrist gemeint, sondern das Schicksal der gesamten Menschheit in ihrer physischen Existenz – endlich, geringfügig und verschwindend im All. 128

S. dazu Wolfgang Wieland, Urteil und Gefühl, Kants Theorie der Urteilskraft, Göttingen 2001, 15. Im Zitat von Wieland ist dabei vornehm die Rede von vernunftlosen und vernünftigen „Wesen“ – eine signifikante Korrektur, die das „Tierische“ verbal ausblendet. 72

Eine solche Position erlaubt es Kant, mit animal rationale unbefangen umzugehen und sie realistisch einzuschätzen. Dies ist schon in den frühen Schriften Kants zu belegen. Nie wird das Animalische als solches verächtlich gemacht (so wie bei Luther, wo das Fleisch schwach und zugleich lüstern und lasterhaft sich gebärdet). Solche Analysen finden sich bei den angelsächsischen Autorinnen nicht; sie sind aber als Hintergrund für ihre Anknüpfungsversuche in der Tierethik relevant. In meinem Fall sind sie dadurch zuallererst angeregt worden – um die Position Kants besser zu verstehen. Ihre Originalität ist mir in diesem Zusammenhang zum ersten Mal aufgegangen. Kant nimmt in der Geschichte der Formel, auch in Bezug auf Ethik, was meine leitende Absicht ist, eine Schlüsselrolle ein. Später, bei der Begründung seiner Ethik in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und der Kritik der praktischen Vernunft koppelt Kant aufgrund der Moralität in der Rationalität die „Würde“ des Menschen von der Anthropologie ab. Bei Kant ist der Abschied von der Heteronomie in der Ethik (wie in der am Dekalog und am Liebesgebot orientierten christlichen Grundauffassung) und der Rechtfertigung des Prinzips der Autonomie in der Ethik verbunden mit der Abkopplung von der Anthropologie. Allerdings ist zu bedenken, dass Kant „teilnehmende Empfindung“ als Pflicht überhaupt in seiner Tugendlehre, § 34, eingeführt hat.129 Das sind die Punkte, auf die sich Christine Korsgaard bei ihrer These von der Aristotelian-Kantian-Konzeption beruft: Mitfreude und Mitleid (sympathia moralis) = Lust oder Unlust – das ist sinnliche Empfänglichkeit, von Natur aus im Menschen. Das legt er dar in der ethischen Elementarlehre, zweiter Teil, „Von den Tugenden gegen Andere“. Die Empfänglichkeit als „Mittel“ zu tätigem und vernünftigem Wohlwollen zu gebrauchen, das ist bedingte Pflicht mit Namen Menschlichkeit (Humanitas). Humanitas deshalb, weil hier der Mensch nicht bloß als vernünftiges Wesen, sondern „als ein mit Vernunft begabtes Thier“ betrachtet wird. Humanitas practica ist die Fähigkeit und der Wille, einander seine Gefühle mitzuteilen. das ist frei (communio a sen-

129

Kant, AA VI, 465f. 73

tiendi liberalis). Humanitas aesthetica hingegen ist die Empfänglichkeit für gemeinsames Vergnügen oder Schmerz unfrei (communio sentiendi illiberalis vel servilis). Die unfreie communio ist teilnehmend, also sich mitteilend wie Wärme oder eine ansteckende Krankheit – unter nebeneinander lebenden Menschen auf natürliche Weise sich verbreitend. Kant hält offenbar die tätige Hilfe, z. B. einen Menschen zu retten, für Pflicht (erhabene Vorstellungsart des Weisen, wie ihn sich der Stoiker dachte, 457). Aber wenn man den Schmerz teilt, ohne abhelfen zu können, so vermehrt sich das Übel in der Welt (statt einem leiden jetzt zwei): „Es kann aber unmöglich Pflicht sein, die Übel in der Welt zu vermehren“ (457). Wer aus Mitleid wohltut – und wenn sich Barmherzigkeit ergibt, so ist dies eine „beleidigende Art des Wohltuns“ – das Wohlwollen beziehe sich auf Unwürdige und werde Barmherzigkeit genannt.130 Die Frage drängt sich auf: Inwiefern und wo ist Anthropologisches nun doch bei Kant ethisch relevant, obschon es aus der Basis der Ethikbegründung grundsätzlich verbannt worden ist? Antwort: Wenn es als Mittel zum Zweck einsetzbar ist. So z. B., wenn die Bibel als notwendiges „Vehikel“ für vernunftbestimmtes Verhalten in Anspruch genommen wird – bei einem Lebewesen, das als animal rationale zwar der Vernunft fähig, aber kein Vernunftwesen in Reinkultur ist. Es hat eine Anlage zur Vernunft. Dadurch ist der Mensch als Tier geadelt – und die Bibel kann als Mittel zum Zweck dienen – ähnlich wie das Mitleiden zur Beförderung von Humanität funktional von Kant interpretiert wird. Humanität in der Animalität zur Geltung zu bringen, lässt darauf schließen, dass Kant in diesem Sinne nicht behaupten würde, Menschen seien keine Tiere. Und dass er nicht als Anhänger der absoluten Sonderstellung des Menschen als imago Dei gelten kann. So kann plausibel werden, warum die angelsächsischen Autorinnen, die maßgeblich in der Philosophie der Gegenwart von Menschen und anderen Tieren reden und damit die Formel animal rationale in ihrer originären Logik gleichsam zu sich selbst befreien, in der Tierethik die Nähe zu Kant nicht aufgeben wollen.

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Kant, AA VI, 457. 74

9 Anthropologie und Ethik: Ernst Tugendhat Bezeichnend für die Problemlage in der deutschen Philosophie sind die vielen gescheiterten Versuche von Ernst Tugendhat, ein tragfähiges Fundament für eine philosophische Ethik argumentativ aufzufinden. Der Weg, auf dem er in souveräner Redlichkeit immer wieder seine Irrtümer den Lesern darlegt, führt endlich zur Anthropologie als Basis für Ethik.131 Die kritische Kant-Orientierung schloss Anthropologie auf dem Denkweg Tugendhats als Basis für Ethik von vorneherein aus. Eine anthropologische Rückbindung wäre allenfalls im Sinne des kantischen Begriffes von Humanität infrage gekommen (siehe dazu die zitierten Bemerkungen Kants in seiner Metaphysik der Sitten). Der universale Anspruch der praktischen Vernunft lässt eine anthropologische Basis für Ethik nicht zu. Die Vernunft begründet nämlich nicht nur, was gutes Handeln der Menschen ist, sondern bei Vernunftwesen überhaupt, also auch bei Gott. Sein Wille allerdings ist heilig, da er nur das Gute wollen kann; er bedarf keines Sollens in einem möglichen Imperativ. Diese Grundorientierung hat Tugendhat offenbar lange Zeit davon abgehalten, in der Anthropologie eine mögliche Basis für philosophische Ethik zu erkennen. Verbunden mit der Aufnahme anthropologischer Elemente ist bei Tugendhat nach den vielen kantianisch orientierten Versuchen die Zuwendung zu den Tieren als moralisch ernst zu nehmende Wesen (nicht mehr als Sachen). Tugendhat beginnt, die traditionelle Definition des Menschen als animal rationale wörtlich zu nehmen: „wir Menschen und andere Tiere“. Nun bedeutet dies zwar eine Wende im traditionellen Verhältnis von Mensch und Tier, aber sie ist gebunden an eine elitäre Sprache von Philosophen. Die Alltagssprache ist davon völlig unberührt. Sie lebt in einer anderen Welt. 131

S. die Vorrede zu dem Band Aufsätze – 1992–2000, Frankfurt 2001, 7–9, in der Ernst Tugendhat seinen Werdegang mit den verschiedenen Anläufen zu einer philosophischen Ethik nachzeichnet. 75

Am Haupteingang der Universität Bielefeld ist ein Schild angebracht: Mitführen von Tieren ist verboten. Niemand käme beim Anblick des Schildchens auf den Gedanken, seine (potenzielle) menschliche Begleitung außen vor zu lassen. Alle wissen: Es könnte ein Hund, vielleicht auch ein Meerschweinchen sein. Das Schild sagt: Nur für Menschen, nicht für Tiere. Die Klassifikation ist im alltäglichen Sprachgebrauch felsenfest verankert. Das Verbot an der Tür der Universität im Sinne einiger Philosophen der Gegenwart aufzufassen wäre Realsatire. Es würde als absurd empfunden und deshalb wohl nicht einmal lächerlich. Ein prägnantes Beispiel in diesem Zusammenhang bietet die erste Schaffensperiode Loriots. Er hatte in den frühen Fünfzigerjahren dem STERN eine Serie von Cartoons angeboten, in denen das Verhältnis von Hunden und Menschen satirisch auf den Kopf, besser: auf den Hund gestellt wurde. In einer langen Reihe von Zeichnungen konnte man Hunde sehen, die sich Menschen halten – und sich dabei genauso wie üblicher Weise Menschen zu ihren Hunden verhalten. Die Serie wurde nach anfänglichem Widerstreben Henri Nannens schließlich angenommen. Sie war Vicco von Bülows erster lukrativer Vertrag. Bald aber gab es wütenden Protest von Stern-Lesern (widerlich, Herabsetzung des homo sapiens, idiotischer Zeichner, dem man eine Dosis E 605 geben solle …). Das Blatt befürchtete nicht nur materielle Verluste und setzte die Cartoons ab.132 Bei einer Gleichstellung oder gar Umstellung der Rangordnung von Mensch und Tier hörte bei so manchem der Spaß damals auf. Wir können die Fragen anhand von Ernst Tugendhat in einen größeren philosophischen Zusammenhang stellen – und zwar weil er, nach seinen gescheiterten Versuchen, eine philosophische Begründung der nachmetaphysischen Ethik zustande zu bringen, jetzt dazu übergegangen ist, die Anthropologie als mögliche Grundlage zu erörtern. Bei seiner Wende zur Anthropologie in Grundlegungsfragen der Ethik trifft Tugendhat eine für alles Weitere maßgebliche Entscheidung. Er redet von Menschen „und anderen Tieren“. Aufschlussreich für diese anthropologische Position ist die

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Die Serie wurde erstmals 1954 unter dem Titel Auf den Hund gekommen – 44 lieblose Zeichnungen in Buchform veröffentlicht und später wieder aufgelegt mit einer lesenswerten Einleitung von Wolfgang Hildesheimer, Diogenes-Verlag, Zürich 1981. Zur Vorgeschichte: Spiegel-Online, vom 23. August 2011. 76

Auseinandersetzung mit Heidegger, die Tugendhat in seinem Aufsatz von 1999: „Wir sind nicht fest verdrahtet – Heideggers ‚Man‘ und die Tiefendimension der Gründe“ beschrieben hat.133 Ich zitiere daraus die für meine Fragestellung relevante Stelle: „Es ist eine Eigentümlichkeit von Heideggers anthropologischen Grundaussagen, dass sie nicht auf eine spezifische Differenz der Spezies Mensch von den anderen Tieren abzielen, so z. B. bei derjenigen anthropologischen Grundaussage, die in Sein und Zeit an erster Stelle steht, dass der Mensch ein Wesen ist, dem es um sein Sein geht (SuZ, S.12), was man schließlich auch von den anderen Tieren sagen kann (Aristoteles sagte es sogar von allen Lebewesen: De Anima 415b1), offen bleibt, wie sich das genau von der entsprechenden Charakteristik bei anderen Tieren unterscheidet; ebenso bei der Rede von ‚Erschlossenheit‘, Für unsere Problematik des Gegensatzes von Mann und Eigenständigkeit finde ich es hilfreich, von dem heute manchmal verwendeten Satz we are not hardwired (‚wir sind nicht fest verdrahtet‘) auszugehen, um die Art, wie wir Menschen gebaut sind, von der Bauweise des Verhaltens anderer Tiere abzuheben. Mit diesem Satz ist gemeint, dass menschliches Verhalten nicht durch Gesetzmäßigkeiten erklärbar ist, die es nach einem – sei es angeborenen, sei es erlernten – Reiz-Reaktionsschema verständlich machen.“134

In diesem Text geschieht etwas Signifikantes. Es ist die Rede von Menschen und anderen Tieren. Das war ja eigentlich nichts Neues. Es war eine korrekte Anwendung der alten Definitionsformel für den Menschen: animal rationale. Und die wirkt in der immer noch virulenten christlichen Lehre von der Sonderstellung des Menschen im Universum provokant. Die Sonderstellung des Menschen erfährt in Heideggers Humanismus-Brief ihre metaphysikkritische Rechtfertigung. Die Formulierung von der „abgründigen leiblichen Verwandtschaft mit dem Tier“ lässt tief blicken.135 Metaphysisch 133 134 135

Tugendhat, Aufsätze, a.a.O. 138–162. Ebd. 141. Martin Heidegger, Wegmarken, Klostermann Seminar, Frankfurt 2004, 326. 77

zu denken, heißt hier: den Menschen als ein Seiendes unter anderen Seienden anzusetzen und darin sein Sosein (ratio) als unterschiedliches Wesensmerkmal zu bestimmen. Dabei werde aber vergessen, den Unterschied von Sein und Seiend zu bedenken und das Sein für sich in seiner Wahrheit. „Noch wartet das Sein, dass es selbst im Menschen denkwürdig werde.“ Die Rede von Menschen und anderen Tieren ist signifikant und knüpft an die bei Korsgaard und Nussbaum gängige Redeform an. Leider übernimmt Ernst Tugendhat den Ausdruck „hardwired“ aus dem Englischen und übersetzt ihn mit „fest verdrahtet“ – so wird die Formel in der unbeholfenen Übersetzung zu einer vollends deplatzierten Metapher, die dazu herhalten soll, Tiere von Menschen zu unterscheiden. Sie klingt nach Drahtverhau, als wären die Tiere im Drahtverhau gefangen. Es ist eine phänomenfremde Redeweise, in der die alte Hierarchie von Mensch und Tier nachschwingt. Die Sprache ist cartesianisch getönt: als seien Tiere von Drähten durchzogene Automaten. Heidegger hat im Humanismus-Brief die Differenz zu den Tieren durch ein Kennzeichen ihrer Unfreiheit im Weltverhältnis erwogen.136 Sie seien in ihre „Umgebung verspannt“ – eine merkwürdige, etwas sensiblere Entsprechung zum „hardwired“, dem Tugendhat mit „verdrahtet“ den metallischen Beiklang aufprägt. Der Titel seines Buches Anthropologie statt Metaphysik zeigt eine Wende im Denken von Ernst Tugendhat an. Er signalisiert: Ich denke nicht mehr in dem Gefüge von Heteronomie oder Autonomie, nicht mehr stelle ich Ethik unter Metaphysikverdacht und entscheide mich darum für die Autonomie der aufgeklärten Vernunft, die ich früher im Sinne Kants „fettgedruckt“ hatte.137 Damit ist auch die langjährige Auseinandersetzung mit dem Kontraktualismus verabschiedet, der mit seinem Prinzip der Reziprozität die moralische Integration „anderer Tiere“ (non-human animals) von vornherein ausgeschlossen hatte, da sie nicht als selbstbestimmte und sprachfähige Partner auftreten und ihre Interessen vertreten können. 136 137

Ebd. 322. Vgl. dazu Ernst Tugendhat, Dialog in Laeticia, Frankfurt 1997, 10. Und zur neuen Position des Autors: Anthropologie statt Metaphysik, München 2010. 78

Der Hinweis Tugendhats auf die berühmten drei Fragen in Kants Logikvorlesung, die letztlich in Anthropologie münden (Was ist der Mensch?), wirkt in diesem Zusammenhang wie eine versöhnliche Abschiedsgeste, wobei die Frage Kants nach der Religion (Was darf ich hoffen?) konform mit den beiden ersten nachlässig zitiert wird „Was kann ich hoffen“.138 Auf die Orientierung an eigenständiger Vernunft, nicht mehr „fettgedruckt“, aber als Medium der argumentierenden Verständigung, will Tugendhat nicht verzichten. Im Kapitel 5 von Anthropologie statt Metaphysik, das überschrieben ist: „Das Problem einer autonomen Vernunft“, entwickelt der Autor einen zum Gegenüber von Heteronomie und Autonomie alternativen Autonomiebegriff. In der langen kantianisierenden Phase seines Nachdenkens über Moralbegründungen hatte er sich an Autonomie als Gegensatz zu traditioneller Heteronomie gehalten. Versteht man jedoch Autonomie als Eigenständigkeit, dann kann man sich eine autonome Haltung zu moralischen Geboten aus heteronomer Quelle vorstellen, die sich um Zustimmung nicht schert, aber mit sich selbst im Reinen ist. Es wird dann gleichgültig, ob moralische Vorschriften autonom oder heteronom begründet sind.139 Außerdem könne „etwas forciert“ Autonomie auch im Sinne von Spontaneität verstanden werden, fügt Tugendhat seiner Begriffsanalyse hinzu. Und er sieht eine Möglichkeit, Schopenhauers Mitleidsmoral in die Diskussion von philosophischer Ethik zu bringen. Nun ist aber Moral ein „Regel- oder Normensystem“. Ein Altruismus im moralischen Kontext würde nicht wegen eines anderen, sondern aufgrund von Gebotsregeln ausgeübt. Mitleid geschieht aber nicht regelgerecht, sondern gefühlgeleitet. Es ist ein Altruismus, den Tugendhat als „spontan“ zu kennzeichnen vorschlägt weil er eben nicht vermittelt ist durch Anweisung oder Vorschriften.140 „Wer die moralischen Normen nicht aus moralischen Motiven, sondern aus Mitleid oder Sympathie den Betroffenen gegenüber befolgt, erscheint als der bessere Mensch“. Das faktische Moralbewusstsein sei bereit, jemanden, der so han-

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139 140

Kant, AA IX, 25; Tugendhat, Anthropologie statt Metaphysik, München, Becksche Reihe, 2010, 36. Anthropologie statt Metaphysik, a.a.O. 130. Ebd. 131. 79

delt, einen guten Menschen zu nennen.141 Wenn man dieses faktische Bewusstsein ernst nimmt, wird eine Verallgemeinerung des Mitleids – rückwirkend – zur moralischen Tugend. „Sobald sich […] die Idee eines verallgemeinerten Mitleids ergibt, gibt es keinen Grund, diese Allgemeinheit einzuschränken. Es erstreckt sich dann auf alle Menschen und sogar auf alle leidensfähigen Wesen.“142 Eine solche Erweiterung des Mitgefühls ist aber – so die Erwägung Tugendhats zur Theorieform –, nicht mehr als moralisch (d. h. als System wechselseitiger Forderungen) anzusehen, sondern begrifflich korrekt als ethisches, als supererogatorisches Element einer humanen Grundhaltung.143 Tugendhat sieht in diesen Überlegungen eine klärende Vorbereitung dafür, dass die Moral der gemeinsamen Autonomie das Mitleidsmotiv aufnehmen könne – und vielleicht sogar müsse.144 Schopenhauers Mitleidsethik tritt damit ins Blickfeld der Gegenwartsphilosophie – bislang eine im ethischen Diskurs der Philosophen kaum beachtete Position. Hier deutet sich bei Tugendhat, der von Menschen und anderen Tieren redet, die Möglichkeit einer Ethik an, die besagte „andere“ Tiere einschließt. Der Sprachgebrauch, der in Deutschland unter den Philosophen neu, in den angelsächsischen Ländern im Fach seit Längerem üblich ist, knüpft an den authentischen Sinn von animal rationale an. Die aus der unverstellten logischen Basis sich ergebende Differenzbestimmung von Tier und Mensch ist jedoch noch unklar. Die lebensfremde, schon im Englischen fehlgreifende Metapher der Verdrahtung, die Tugendhat wenig bedacht und schief übersetzt übernommen hat, kann nichts Erhellendes beibringen. Eine Auskunft, wie Tugendhat aus eigenem Gedankenfundus über die Differenz von Tieren und Mensch denkt, lässt sich aus seinem Vortrag anlässlich der Verleihung des Meister-Eckhardt-Preises erschließen.145 Er fragt darin nach den „anthropologischen Wurzeln“ von Religion und Mystik (die er gegeneinander ab-

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Ebd. Ebd. 133. Ebd. 134. Tugendhat verweist dabei auf Mt 19, 16ff. mit der Unterscheidung eines Gebotssystems vom Reich Gottes, die Jesus lehrt. Ebd. 132. Er bildet das Kapitel 8 von Anthropologie statt Metaphysik, a.a.O. 170ff. 80

grenzt). Methodisch dient ihm dabei die Eigenheit der anderen Tiere als Folie, um den Wurzelboden bei Menschen zu klären. Menschen – auf Englisch müsste man sagen human animals – setzen sich Ziele, sogar zum Weiterleben nach dem natürlichen Ende, erleben ihre Kontingenz und streben danach, ihr Sinn zu verleihen. Darin wurzelt das Bedürfnis nach Religion. Auch bei den anthropologischen Wurzeln der Mystik verfährt der Autor nach dem gleichen Schema. Er stellt die Bewusstseinsleistungen anderer Tiere den Leistungen der Menschen gegenüber. Manche verfügen über strukturierte Sprachen, können sich auf einzelne Gegenstände beziehen, auch wenn diese nicht präsent sind, können einsam sein und wissen von der Geringfügigkeit ihrer Existenz. Ihr Ich kann am „Rande ihres Bewusstseins liegen“146, sagt Tugendhat und meint die Weltoffenheit im menschlichen Bewusstsein. Aus dieser Denkart der Differenzbestimmung lässt sich erschließen, dass die Sprachprägung „andere Tiere“ mehr verspricht, als die Position von Ernst Tugendhat hält. Im Vollzug ist es die herkömmliche, aufs Bewusstsein und Selbstbewusstsein zentrierte und von daher ausformulierte Konzeption der differentia specifica.

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Ebd. 184. 81

10 Abschied vom Denkmuster Selbstbewusstsein: Ulrich Pothasts Lehre vom „Spüren“ Einen originellen und vom philosophischen Kontext der Gegenwartsphilosophie abweichenden Denkweg hat Ulrich Pothast eingeschlagen. Seine in zwei Büchern vorliegende Lehre vom „Spüren“ als Grundbegriff lebendiger Vernünftigkeit unterläuft die in der neuzeitlichen Philosophie nahezu kanonisch gewordene Grundorientierung am Bewusstsein und Selbstbewusstsein. Ulrich Pothast hat sich bereits in seiner Heidelberger Dissertation, betreut von Dieter Henrich und Ernst Tugendhat, mit den Aporien des Selbstbewusstseins auseinandergesetzt.147 Den im Abstand von zehn Jahren entstandenen Büchern, die Pothast eigenes und eigenständiges Theoriekonzept ausarbeiten, flattern Untertitel wie Spruchbänder voran. Sie geben Auskunft darüber, was vom Autor zu erwarten ist: eine neue Art der Selbsterkundung des Menschenwesens.148 In der Einleitung zu Lebendige Vernünftigkeit deutet sich an, was an Konsequenzen aus dem neuen Denken zu ziehen wäre: die kritische Betrachtung der so genannten Ausnahmestellung des Menschen gegenüber „tierischem Leben“ und ihren traditionellen Kriterien. In dem von Konrad Cramer, Rolf Peter Horstmann, Hans Friedrich Fulda und ihm selbst herausgegebenen Aufsatzband Theorie der Subjektivität, der Dieter Henrich zum sechzigsten Geburtstag gewidmet ist, hat Ulrich Pothast in einer Abhandlung mit dem bescheidenen Titel „Etwas über Bewusstsein“ die Grundzüge 147

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Die Arbeit ist unter dem Titel: „Über einige Fragen der Selbstbeziehung“ bei Klostermann in Frankfurt 1971 erschienen. Ulrich Pothast, Philosophisches Buch. Schrift unter der aus der Entfernung leitenden Frage, was es heißt, auf menschliche Weise lebendig zu sein, Frankfurt 1988. Ulrich Pothast, Lebendige Vernünftigkeit. Zur Vorbereitung eines menschenangemessenen Konzepts, Frankfurt 1998. 82

seiner Theorie des „Spürens“ entworfen. Sie verzichtet auf „Bewusstsein“ bei der Untersuchung menschlicher kognitiver Leistungen, somit auch bei dem Attribut „rational“.149 In dieser Revision eines traditionellen Theorierituals wird auch der ontologische Dualismus von Mensch und Tier infrage gestellt, der in der abendländischen Geschichte die logisch gebotene Auslegung von animal rationale entstellt hat. Pothast ist überzeugt, dass wir „nachweisbar unser Leben vollziehen, ohne es in gegenständlicher Wahrnehmung ausweisen zu können.“150 In der Tat ist das herkömmliche philosophische wie auch das alltägliche Reden durchweg von der Metaphorik der Außenperspektive geprägt. Zu beobachten beispielsweise in den Sportreporterfragen nach dem Wettbewerb: „Was ging nach dem Sieg in Ihnen vor?“ Dabei ist unterstellt, dass der arme Sieger nun in der Lage gewesen sei, sein Inneres zu erblicken wie den rollenden Ball oder das Tornetz. Das deckt Ulrich Pothast auf und strebt eine wahrheitsnahe Sprache an, welche die Verführung zur quasi-räumlichen Innenbetrachtung meidet. Mit „spürender Steuerung“ wird eine wesentliche Gemeinsamkeit mit höher entwickelten Tieren erkennbar – und dies ergibt einen neuen Zugang zu einer mit dem Organismus aktiv verbundenen Vernünftigkeit. „Dass Tiere spüren, ist eine ständig in Anspruch genommene Voraussetzung unseres Zusammenlebens mit ihnen auf der Erde“.151 Das klingt wie ein philosophisches Bekenntnis – und es ist auch eines. Ulrich Pothast fährt fort: Diese Ansicht würden wir aus bloßem Grunde der Theorie auch niemals fallen lassen: „Sie liegt tiefer als irgendeine Theorie, die jemand aufstellen oder umstoßen mag. Sie gehört zu unserer eigenen Lebensform als Wesen, die neben anders beschaffenen und doch überraschend ähnlichen Wesen sich geschichtlich entwickelt haben, beherrschend geworden sind, weiterleben wollen.“152

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Theorie der Subjektivität, Frankfurt 1987, 41. Ebd. 43. Lebendige Vernünftigkeit, a.a.O. 34. Ebd. 34f. 83

Mit dieser Grundhaltung bin ich nicht nur einverstanden. Ich bekenne mich zu ihr, mache sie mir zu eigen. Diese Grundhaltung wirkt befreiend – auch von der oft gehörten und wohlmeinend verbreiteten Lehre von dem Mandat im Auftrag des Herrn, das den Menschen nach biblischer Lehre übertragen wurde zur „Bewahrung der Schöpfung“. Die in der „lebendigen Vernünftigkeit“ elementar erarbeitete Solidarität der Lebewesen untereinander braucht den Überbau einer göttlichen Herrschaft nicht. Das Wort „Schöpfung“ kommt in Ulrich Pothasts Buch nicht vor. Bei seinem Entwurf einer das Leitwort „Bewusstsein“ methodisch konsequent meidenden Philosophie kann er sich auf Blaise Pascal als Zeugen berufen für ein „Orientierungsmuster“. Er meint die Unterscheidung von sentiment und raisonnement. Mit dem esprit de finesse und dem dazugehörigen Wort „sentir“ ist eine Einstellung zum Leben gemeint, die sich den Regeln physikalisch-mathematischer Wissenschaft nicht fügt (dem esprit de géometrie), darum aber nicht irrational ist. Das mit „sentir“ Gemeinte versammelt Pothast unter sein Grundwort „spüren.“ Es ist das Wort „für die gemeinsame, elementare Eigenschaft aller psychischen Vorgänge und Zustände, die einer Person zu ihrer Bekanntschaft kommen können.“153 Die semantische Nähe zum „Erleben“, die sich nahelegt, erwägt der Autor selber auch, als „durch Sprache mitgeformte Eigenschaft“ der psychischen Vorgänge, die dem Menschen zugeschrieben bzw. zugesprochen werden. „Spürensleben“ haben demgegenüber auch höhere Tiere. „Erleben“ hingegen scheint sprachlich objektbezogen – wir erleben etwas –, während „spüren“ auch ungegenständlich, also nur „spürend“ sich meldet, ohne dass wir sagen könnten, wir spürten etwas, das wie ein Objekt, ein gespürter Gegenstand uns begegnet.154 Ulrich Pothast thematisiert (nicht definiert) den Menschen in seinem Philosophischen Buch als „fragliches Leben“. Es ist eine sprachliche Geste, in der das Motiv des „bewussten Lebens“ seines Lehrers Dieter Henrich nachschwingt. Sein eigenes Motiv ist die Überzeugung, dass es noch niemandem gelungen sei, „das Wesen des Menschen dingfest zu machen“.155 153 154 155

Ebd. 81. Ebd. 81. Philosophisches Buch, a.a.O. 28. Das Zitierte entspricht in der Sache dem Motto aus den Aufzeichnungen von Fernando Pessoa, das ich meiner Arbeit vorangestellt habe. 84

Dem Autor ist klar: Der Ausdruck „fragliches Leben“ drückt eine Verlegenheit aus, ähnlich der Formel vom „ungeborenen Leben“, in der die Lebensschützer die Kennzeichnung eines Fötus als Person vermeiden, aber doch als Angehörigen der Gattung Mensch benennen wollen. Pothast seinerseits möchte eine Fixierung auf Animalität umgehen, ohne sie zu leugnen. In diesem Zusammenhang zitiert er einen Philosophen, der vom animal metaphysicum rede. In ihren Fähigkeiten überträfen Menschen sogenannte weniger hoch entwickelte Lebensformen. Pothast führt diese These an und vermutet, es komme dieser definitorische Versuch aus einem Orientierungsbedürfnis, das nicht der Theorie entstammt, sondern einer „Weise von Lebendigsein. Der Philosoph denkt über das Faktum nach, dass kein Wesen außer dem Menschen sich über sein eigenes Dasein wundere. Aus der Ruhe des Blickes der Tiere spreche noch die Weisheit der Natur, Wille und Intellekt seien nicht auseinander getreten. Fest am Stamme der Natur hänge die Erscheinung der Tiere – und der unbewussten Allwissenheit der großen Mutter teilhaftig. Erst mit dem Menschen und seiner Verwunderung über sich selbst entstehe das Bedürfnis von Metaphysik; er sei darum das animal metaphysicum.“156

Eine Problematik, die sich bei der Neuartigkeit der Philosophie von Ulrich Pothast sofort meldet, ist die Sprachfindung, die alle Muster einer „sitzenden Philosophie“ hinter sich lassen will.157 Wer sich auf diese Weise aus der sitzenden Position erhebt und sich auf den Weg macht, der muss eine Sprache finden, die nicht den verlassenen Sesseln später wieder aufsitzt. Ulrich Pothast weiß das und meidet die Worte „bewusstes Leben“, mit denen sein Lehrer Dieter Henrich das Problem der Selbstverständigung angeht.158 Henrich formuliert, wie es der Formel vom animal rationale der Sache 156

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Der namentlich nicht genannte Philosoph ist Arthur Schopenhauer; das Zitat „animal metaphysicum“ ist dem zweiten Band von „Welt als Wille und Vorstellung“ entnommen, Kap. 17, Zürich 1988, 184f. „Sitzende Philosophie“. Das bedeutet die Tendenz zur Selbstbestätigung als anerkannte Wissenschaft. Es ist „gut eingesessene Schulphilosophie, mit dem Willen, es zu bleiben“. Philosophisches Buch, a.a.O. 27. Vgl. Dieter Henrich, Bewußtes Leben, Stuttgart 1999, 1–8. 85

nach entspricht: Der Mensch ist Lebewesen auch im biologischen Sinn. Davon ist nicht abgesehen, wenn ihm ein bewusstes Leben zugesprochen wird. Aber dass er als Lebewesen lebendig ist, gehöre nicht zu dem, wovon im Gebrauch dieser Rede ausgegangen wird. Dass unser Leben ein bewusstes ist, das ist Voraussetzung dafür, „dass wir unser Leben führen können. […] Ein Leben zu führen heißt anderes, als ein Leben zu haben, das sich als Geschehen vollzieht.“159 Der Fokus der Definition bleibt auf „Bewusstsein“ als leitendes Unterscheidungsmerkmal des Menschen – und bleibt insofern auf der Linie der kartesischen Tradition. Jedoch verheißt die weiter geltende fundamentale Bedeutung des Selbstbewusstseins keinesfalls einen leichten Erkenntnisweg. Henrich sagt an dieser Stelle: „Es wäre verwegen, davon auszugehen, dass wir in diesem Selbstbewusstsein von Geburt an oder gar schon im pränatalen Dasein stehen, obwohl Menschen auch in dieser Zeit sich schon spüren und Wahrnehmungen haben.“ 160

In diesem Hinweis auf pränatale Zustände taucht das Wort „spüren“ bei Dieter Henrich auf, ohne in seinem weiteren Nachdenken Spuren zu hinterlassen. Bei Ulrich Pothast steigt es hingegen zum Leitwort seiner Entdeckung des menschlichen Lebensgrundes auf. Und er tastet nach Wörtern einer neuen Terminologie, die seinem Anspruch genügen würden. Aber es ist, als würde die alteingesessene Sprache sich zur Wehr setzen: Innengrund, Konfrontation, die „fundiert“ u. ä. – diese Begriffe sind auf eigenartige Weise nicht dem Phänomen gerecht, was spürend zu Wort kommen möchte. Berichte im Stil von Erzählungen über Begegnungen im persönlichen Bereich, die Pothast in seine Bücher aufnimmt, aber auch die Seelenverwandtschaft mit dem fernen und im Arbeitszimmer ganz nahen Montaigne, sind eine notwendige Rettung aus der Not der Begriffsbildung, um die Erfahrung des Spürens in eine Mitteilungsform zu bringen.161 159 160 161

Ebd. 13. Ebd.14. Das entgeht dem Rezensenten Gustav Falke, der die „peinliche Ausführlichkeit“ von Berichten aus dem Familienleben des Autors bemängelt. S. FAZ vom 3.11.1998. 86

Unabhängig davon, wie das innovative Unternehmen einer Philosophie, die sich von eingelebten Theorieritualen lossagt, sich am Ende behaupten kann, erschließt die Position von Pothast immerhin eine theoretische Chance, das Verhältnis unserer Animalität zu den höheren Tieren im Sinne der unausgeschöpften alten Definition von animal rationale endlich adäquat anzugehen. Ulrich Pothast erklärt: „Jenseits möglicher Meinungsdifferenzen erscheint es sinnvoll, dass philosophische Arbeit, wo sie die Selbstbestimmung des Menschen als eines animal im Zusammenhang mit anderen animalia tangiert, sich nicht nur nach kulturellen oder wissenschaftlichen Auszeichnungen des Menschen fragt. Sie sollte sich zunächst auch danach fragen, ob und wie vielleicht die am höchsten eingeschätzten menschlichen Erkenntnis- und Handlungsleistungen angewiesen bleiben auf Leistungen aus dem Bereich des Organischen, Körperlichen, die wir trotz unseres großen Entwicklungsvorsprungs noch mit unseren weniger weit gekommenen Verwandten, den andere Tieren, gemeinsam haben.“162

Auch Ernst Tugendhat hat in seinem Denken und Lehren früh die Maxime ausgesprochen, die als Motto eingesetzt werden könnte für das, was fundierend bei Ulrich Pothast zutage tritt: „Das Verhältnis Mensch – Tier müsste neu geklärt werden. Wir gehören in eine umfassende Gemeinschaft der leidensfähigen Kreatur, aber auch der Natur überhaupt. Diese Zusammengehörigkeit ist nicht eine moralische, aber sie kann Folgen für unser Moralverständnis haben, die nicht befriedigend geklärt werden können, bevor die Art dieser Zusammengehörigkeit nicht befriedigend geklärt wird.“163

Die Art dieser Zusammengehörigkeit zu klären, dazu trägt der Theorieentwurf von Ulrich Pothast offenkundig bei. Ob „befriedigend“ – das mag dahingestellt bleiben, auch, ob befriedigend die passende Maßgabe dafür wäre. 162 163

Lebendige Vernünftigkeit, a.a.O. 10. Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt 1993, 191f. 87

Pothast jedoch achtet auf Tugendhats philosophische Grundhaltung und sieht sie als Widerpart zu seiner Spürenslehre. Es ist die absolute Rechtfertigung des Denkens und Handelns durch und in Vernunft, die dem Denker Ernst Tugendhat angeboren ist: Sie ist bei ihm essenziell für menschliche Lebenshaltung, die alles, was gedacht und getan wird, „ausweisen“ muss.164 In solcher Ausweisung wird sprachorientiert „überlegt“. Sie erfolgt in assertorischen Sätzen: „Die Frage nach der Möglichkeit der Vernunft findet […] ihre Antwort in der Semantik der assertorischen Sätze.“ 165 Hier setzt die Kritik von Ulrich Pothast an. Die ausschließliche Geltung von Vernunft in sprachstruktureller Überlegung sei einseitig und verarmend.166 Intentionales Bewusstsein werde immer als eine Relation zwischen einer Person und einer Proposition verstanden.167 „Spürensleben“ hingegen im Innengrund einer Person ist nicht notwendig intentional, aber „vernunftrelevant“.168 Ulrich Pothast beurteilt die Sprachorientierung als „Systemzwang“, der lebensorientiert Spürendes aus dem Thema Vernunft ausblendet. Es walte ein „postwittgensteinscher Kirchenglaube“ in solch alleiniger Sprachorientierung der Vernunft.169 Den Rechtfertigungsdruck von Tugendhat könne man aber zeitweilig aussetzen. Pothast argumentiert dabei undogmatisch: Was spürend uns bestimmen will, könne auch, Tugenhats Insistenz auf Vernunft durch Kritik geläutert in Anspruch nehmend, „abgewiesen werden durch vernünftige Überlegung“.170 Die Auseinandersetzung mit dem Autonomiebegriff lässt Ulrich Pothast schließlich auf das ethische Problemfeld geraten, im Kapitel 47: „Bemerkung über Autonomie“ gegen Ende des Buches über „Lebendige Vernünftigkeit“. Autonomie, so Pothast zunächst zur Begriffsklärung, wird üblicher und logischer Weise mit einer Kerneigenschaft der Vernunft verbunden. Wie ist das mit lebendiger Vernünftigkeit in Verbindung zu bringen?

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166 167 168 169 170

Lebendige Vernünftigkeit, a.a.O. 219f. Ernst Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, a.a.O. 122. Lebendige Vernünftigkeit, a.a.O. 221. Vgl. Tugendhat, a.a.O. 101. Lebendige Vernünftigkeit, a.a.O. 221. Ebd. 222. Ebd. 223. 88

„Lebendige Vernünftigkeit als eine Disposition zu intervallhaft wiederholter Selbsterkundung und Selbstverständigung zwecks Erkennens, Ordnens, Neubewertung eigener Ziele von einem beruhigten Zentralbereich der eigenen Person aus zielt von sich aus auf Selbstbestimmung in einem ausgezeichneten Sinn.“

Weder bloßes Denken noch bloßes Spüren könne lebendig-vernünftige Überlegung ersetzen: „Lebendige Vernünftigkeit schließt qua Vernünftigkeit die umsichtig überlegende Selbstprüfung ein und kann der ungehemmten Impulsivität nicht zugeordnet werden. Sie ist weder außerrational noch amoralisch.“171

Rationalität kann nach Pothast aber keine inhaltlichen Bedingungen herbeiführen, sondern nur Werkzeuge zur zweckmäßigen Mittelwahl und konsistenten Zielordnung bereitstellen. Die Lösung Kants, in Maximenwahl durch den kategorischen Imperativ zu einer autonomen, dem Sittengesetz entsprechenden Handlung zu kommen, sieht Pothast offenbar wie Tugendhat jetzt als metaphysische Moral. Sie setzt auf Freiheit als übernatürliches Faktum – und hat in der alltäglichen Urteilsfindung keinen Platz mehr. Mit einem Seitenblick auf Schopenhauer weist Pothast auf dessen Lehre von Selbstlosigkeit als Glücksmöglichkeit hin..172 Ein vorläufiges Fazit der Positionsbestimmung von Tugendhat und Pothast ergibt ein überraschendes und der Problematik um den Begriff des animal rationale förderliches Resultat. In seiner Wende zur Anthropologie, nach dem Scheitern seiner Versuche zur Begründung einer philosophischen Ethik im Anschluss an Kant, führt Tugendhat den Menschen als „Ich“-Sager ein. Das ist von vornherein als Differenzbestimmung zu den „anderen Tieren“ konzipiert und – wie der Ausdruck es einschreibt

171 172

Ebd. 246f. Ebd. 251 und dort Anm. 31. Zu Tugendhat über Kants Theorie der Subjektivität, a.a.O. 380. 89

– in methodischer Sprachorientierung. Er vermeidet es, von Ichbewusstsein bzw. Selbstbewusstsein zu reden. Die „Ich“-Sager sagen dabei nichts über ihre Identität aus, sondern markieren sich als Einzelne unter vielen, ja allen. Und so sehen sie sich in ihrem propositionalen Sprechen: „Für […] einen ‚Ich‘-Sager wandelt sich die rudimentäre Selbstzentrierung, die wohl zum Bewusstsein überhaupt gehört […], zu einer Egozentrizität um.“ 173 Man habe nun nicht nur Gefühle, Wünsche usw., sondern man wisse sie als seine eigenen Wünsche. Das egozentrische Wollen der „Ich“-Sager stehe jedoch fassungslos vor dem Tod als dem Ende der Zukunft ihrer Existenz. Tugendhat verweist in diesem Zusammenhang auf seinen Aufsatz „Über den Tod“ von 1996. Dieser Aufsatz, heißt es in der unscheinbaren Anmerkung, sei der Ausgangspunkt für sein Buch über Egozentrizität und Mystik gewesen.174 Was jetzt zur Todesproblematik neu ist: die biologische Begründung der Todesangst, wie bei höheren Tieren Angst vor der Lebensbedrohung, die man zu meiden versuche. Man fürchtet sich nicht vor der Eigenschaft, sterblich zu sein, sondern vor dem Ereignis, in dem man zu leben aufhört.175 Was aber in dem früheren Aufsatz über den Tod auf die spätere Mystikaffinität des Denkens von Tugendhat vorausweist, ist die These vom Sich-Zurücknehmen: „Es ist ein alter Topos, dass der Mensch angesichts des Todes sich seiner Geringfügigkeit und der Geringfügigkeit seiner Sorgen bewusst werden kann […]. Ich bin in der Welt, und diese ist das Universum, und ich bin nur das Partikel. Der Tod und schon das Altern enthalten die Chance, diesen Irrtum einzusehen und sich gewissermaßen innerhalb des Theaters auf die Seite zu stellen, aus dem Zentrum heraus. Im gewöhnlichen Leben liegt die Vorstellung nahe, dass mein Bewusstsein vielmehr das Theater ist, deswegen empfindet der Depressive dieses Leere, obwohl doch das Theater

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174 175

Ernst Tugendhat, Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie, München 2003, 29. Ebd. 99 Anm. Ebd. 100. 90

der Welt, wenn man nicht gerade in einem Konzentrationslager ist, voller Leben ist […]. Für denjenigen hingegen, der den Tod zum Anlass nehmen kann, sich aus dem Zentrum zurückzunehmen, das Napoleonische abzustreifen, verändern sich die Gewichte. Er lässt sich los, indem er sich in die Welt zurück und in dieser an den Rand stellt.“176

Hier wird das Motiv erkennbar, das im Denken von Ernst Tugendhat zur Rezeption buddhistischer Mystik in seinem späteren anthropologischen Ansatz geführt hat – und der Hinweis in der zitierten Anmerkung ist inhaltlich zu ermessen. Das Wollen der „Ich“-Sager beschreibt Tugendhat als geprägt von Ungenügen im Leben beim Handeln, bei Gesundheit und Verbundensein mit anderen. Unglück werde als möglich antizipiert, während es von Tieren einer anderen Spezies erst dann erlebt wird, wenn es hereinbricht. Den leidvollen Zustand zu mildern, sieht der Autor zwei Wege: den der Religion und den der Mystik. Religion lässt Wünsche walten und transformiert die Welt, Mystik hingegen das Selbstverständnis des Wünschenden.177 Die Unterscheidung und der Vorzug der Mystik in ihren Varianten sind bedingt durch die anthropologische Grundstruktur der „Ich“-Sager. Es ist die darin implizierte Aporie, die nach Lösung drängt. Das Maß, das offenbar leitet, ist der „Seelenfrieden“ als Gemütszustand. Nicht so, dass das Eine alles Vielfältige im Universum zum Verschwinden bringt, sondern dass das Viele in der Welt in einheitlichem Zusammenhang zu sehen ist. Dabei „stellt sich der Mystiker in die Welt zurück, statt alles aus der egozentrischen Perspektive zu sehen, sieht er sich von der Welt her.“178 Konsequent beruft sich Tugendhat bei der Wahl der Mystikvarianten auf die im „Ich“-Sagen konzentrierte anthropologische Grundlegung. So ergibt sich die taoistische Mystik mit ihrer diesseitigen Einstellung als Favoritin für die Problemlösung. Im kleinen Kreis kontrollierbarer Wirksamkeit ist die Egozentrizität im Verhalten und dem entsprechenden Handeln relativ wenig gestört, aber im Angesicht des Universums, konfrontiert mit seiner überwältigenden Größe, wird die 176 177 178

Ernst Tugendhat, Aufsätze, Frankfurt 2001, 87. Egozentrizität und Mystik, a.a.O. 122. Ebd. 125 91

Unwichtigkeit der eigenen selbstverliebten Existenz erfahrbar. Tugendhat zitiert aus dem Beschluss der Kritik der praktischen Vernunft von Kant: „Der Anblick des bestirnten Himmels vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit“. Und Kant hatte ja in diesem Lehrstück, das seine Morallehre abschließt, erklärt, wir seien nichts anderes als ein tierisches Geschöpf – wenn wir nicht Anteil hätten an dem „nur dem Verstande spürbaren unendlichen Leben der sittlichen Vernunft.“179 Die anthropologische Grundfigur des „Ich“-Sagers bereitet also den Boden für den Zugang zur Mystik. Deren Untersuchung kann notgedrungen nicht mehr sprachorientiert erfolgen, da der Philosoph Ernst Tugendhat zwar die West-Sprachen Spanisch und Englisch und natürlich Deutsch als Schriftsteller beherrscht, nicht aber die Sprachen der fernöstlichen Mystik. Da ist er auf sekundäre Literatur angewiesen. Allerdings bleibt die Anthropologie des „Ich“-Sagens als sprachanalytische Grundlage für alles Weitere, auch für die Motivation zur Annäherung an die Mystik in ihren Varianten, durchgängig wirksam. Tugendhat nimmt zunächst die leitenden Begrifflichkeit von Rudolf Otto auf.180 Das Numinose, das Fascinans und das Trermendum als Kennzeichen des Heiligen. Es ruft eine besondere, mit anderem nicht vergleichbare „Gemütsgestimmtheit“ bei Menschen hervor. Ernst Tugendhat liest diese Beschreibung bei Otto als von etwas faktisch Gegebenem sachgerecht motiviert. Er schlägt eine Erklärung vor, die von seinem anthropologischen Lehrstück des „Ich“-Sagers argumentativen Gebrauch macht. Im Gegensatz zu den Tieren anderer Spezies könnten sich die „Ich“-Sager zur Welt im Ganzen verhalten. Ihr egozentrisches Wollen geht auf Ziele aus – im Profanen; aber über den kleineren Kreis des kontrollierbaren Handelns hinaus steht ihnen die Welt im Ganzen als Macht gegenüber, was sich ihrer Fähigkeit zum propositionalen Sprechen verdankt. Der Umgang mit dem Numinosen kann sich zum Götterglauben gestalten. Götter sind durch Riten und Observanzen beeinflussbar, gemäß den eigenen Wünschen der Gläubigen. Hier nun setzt für den Autor Tugendhat eine Wahlmöglichkeit an. Sie ist durch die Grundfigur des „Ich“-Sagers und seine Aporie vor dem Unergründlichen und Übermächtigen motiviert. 179 180

S. ebd. 45. Rudolf Otto, Das Heilige. 21 und 22. Aufl. München 1932, 4ff. 92

Tugendhat ist überzeugt, dass heute niemand mehr glaubt, Gott throne über den Wolken. Wer aber sage, Gott sei außerhalb von Raum und Zeit, spreche von einer Existenz, mit der sich kein Sinn verbinden lasse. Was existieren soll, muss lokalisierbar sein. „Ich weiß, dass die Sache damit aus der Sicht des Gläubigen nicht abgetan ist, ich wollte auch nur meine Karten auf den Tisch legen“.181

Dem Argument musste ein Bekenntnis subjektiver Haltung beispringen; die Wahlvoraussetzungen selber bleiben jedoch abgestützt durch die Analyse des „Ich“-Sagens. Die mystischen Grundgedanken lassen sich in zwei Grundformen fassen. Erstens: Die mystische Einheit lässt alles Mannigfaltige in sich verschwinden, oder zweitens: Sie geht auf die Einheit der Welt, was nach Tugendhat im Ausgang vom „Ich“-Sagen ein unbezweifelbarer Tatbestand sei.182 Das sachliche Kriterium, das sich daraus ableitet, formuliert die Frage: Wie wird die Einheit der Welt gedacht? Verschwindet das Vielfältige in der Einheit – oder wird das Mannigfaltige von der Einheit durchdrungen und so geeint. Letzteres scheint dem Autor Tugendhat auch von der Sache her klar.183 Entscheidend ist dabei die Selbstrelativierung des mystischen Egos. Der Mahayana-Buddhismus wendet sich gegen die passive Einstellung des Mystikers. Er vertritt dagegen die „aktive Liebe“, besser gesagt: das „allseitige Mitleid“. Der kontemplative Mystiker bleibt in seinem Seelenfrieden befangen in Egozentrizität. Sie würde sich nur in der aktiven Haltung des Mitleids überwinden lassen.184 Für das allseitige Mitleid, vorstellbar auch als desinteressierte Liebe, findet Tugendhat das Wort „Herzensgüte“ angemessen. 181 182 183

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Ebd. 124. Vgl. ebd. 146f. Ebd. 147. Bei E. Conze, Der Buddhismus, Stuttgart 1962, 120, heißt es über die Mahayanisten: „Nach ihrer Anschauung war der Idealmensch, das Ziel aller Anstrengungen des Buddhismus, nicht der etwas egozentrische, kalte und engherzige Arhat, sondern der mitleidende alles umfassende Bodhisattva, der wohl die Welt aufgibt, aber nicht die Wesen, die in ihr leben.“ Ebd., 147. 93

„Ein primär moralischer Begriff ist das nicht, und als genetische Charakteranlage lässt sich die Herzensgüte auch nicht verstehen; wenn man also bei manchen Menschen den Eindruck hat, Herzensgüte eigne ihnen von der Natur, hängt diese Natürlichkeit eher damit zusammen, dass die Möglichkeit der Ausbildung einer mystischen Sichtweise – der Schritt zurück von sich – in der natürlichen Struktur von „Ich“-Sagern gründet.“185

Ob die nach Lage der Dinge in Tugendhats Gedankengang erwartbare Volte zum „Ich“-Sagen schlüssig ist, mag offenbleiben. Er selbst überlässt es einer individuellen Haltung zum „Seelenfrieden“ im mystischen Gemüt: Solange der eigene Seelenfrieden dominiere, sei es dem „Ich“-Sager nicht gelungen, von sich zurückzutreten, sagt er wenig später.186 Anstoß für das Weitere mag zum Abschluss dieses Kapitels ein Vergleich der Positionen von Ernst Tugendhat und Ulrich Pothast geben. Beide Autoren meiden den Topos Bewusstsein, auf unterschiedlichen Wegen. Tugendhat zeigt, wie die Egozentrizität der Menschen, aufgrund ihrer besonderen Befähigung zum propositionalen Sprechen, sich selbst aufheben kann. Und vor dem Übermächtigen des Universums, das sie sich vergegenwärtigen können und damit ihrer Geringfügigkeit gewahr werden. Diesseitige Mystik kommt da zur Geltung, im Sinne des Mahayana-Buddhismus. Er verhilft zur Zurücknahme der Eigensucht, zum allseitigen Mitleiden, zu einer Haltung der „Herzensgüte“. Ulrich Pothast sucht den verborgenen Quellgrund der Selbsterkundung und findet das „Spüren“, das in seiner gründenden Funktion den „Innengrund“ des Menschen mit den höheren Tieren verbindet.

185 186

Ebd. 148. Ebd. 149. 94

11 Die Mitleidsethik: Arthur Schopenhauer neu gelesen Schopenhauer sieht Kant als den Klassiker der Philosophie, auf dem kritisch aufzubauen ist. Die Vertreter des Deutschen Idealismus hat er mit bitterem Spott überzogen. Die nach Kant auftretenden philosophischen Methoden bestünden im „Mystifizieren, Imponieren, Täuschen, Sand in die Augen streuen“, aus „Windbeuteln“, deren Zeitraum unter dem Titel ‚Periode der Unredlichkeit‘ man einst anführen werde. „Als Heroen dieser Periode glänzen Fichte und Schelling, zuletzt aber auch der selbst ihrer unwürdige und sehr viel tiefer als diese Talent-Männer stehende, plumpe, geistlose Scharlatan Hegel.“187 Diese wütende Schimpfkanonade deutet darauf hin, dass Schopenhauer diese Philosophen als Konkurrenten in der Kant-Nachfolge empfand. In seiner theoretischen Philosophie, in Welt als Wille und Vorstellung, war ja die kantische Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich fundamental maßgebend. In der praktischen Philosophie verbündete er sich, ebenso wie Tugendhat, mit dem Autonomieprinzip, sofern es sich theologiekritisch und damit anti-heteronom auswirkt. Wie Schopenhauers Kant-Kritik in der Ethik beschaffen war, lässt sich am kürzesten und prägnant an der eher beiläufig gesetzten Bemerkung erläutern: „keine absolute Gesetzgebung für alle vernünftigen Wesen, mit dem kategorischen Imperativ und dem ‚Schiboleth der Würde des Menschen‘.“188 Die Anspielung bezieht sich auf Richter 12, 5f. in der Bibel; die Quelle lässt die Tragweite der Formulierung ermessen. Der Ausdruck muss korrekt und ohne Einschränkung oder Relativierung als Kennwort gesprochen werden, um Zutritt zur Region der reinen Gesetzesmoral zu erhalten. Wem das nicht gelingt oder wer das verweigert, wird aus der moralischen Gemeinschaft ausgestoßen. 187 188

Arthur Schopenhauer, Werke in fünf Bänden, Zürich 1988, Bd. III, 503f. Ebd. 551. 95

Eine besonders kritische Analyse des Begriffs der Menschenwürde hatte Theodor W. Adorno sich notiert: „Ad Beethoven – Was mir an der Kantischen Ethik so suspekt ist, ist die ‚Würde‘, die sie im Namen der Autonomie dem Menschen zuspricht. Die Fähigkeit der moralischen Selbstbestimmung wird dem Menschen als absoluter Vorteil – als moralischer Profit zugeschrieben und insgeheim zum Anspruch der Herrschaft gemacht – der Herrschaft über die Natur. Das ist die reale Seite des transzendentalen Anspruchs, dass der Mensch der Natur die Gesetze vorschreibt. Die ethische Würde bei Kant ist eine Differenzbestimmung. Sie richtet sich gegen die Tiere. Sie nimmt tendenziell den Menschen von der Schöpfung aus und damit droht ihre Humanität unablässig in Inhumanität umzuschlagen. Fürs Mitleid lässt sie keinen Raum. Nichts ist dem Kantianer verhasster als die Erinnerung an die Tierähnlichkeit des Menschen. Deren Tabuierung ist allemal im Spiel, wenn der Idealist auf den Materialisten schimpft. Die Tiere spielen fürs idealistische System virtuell die gleiche Rolle wie die Juden fürs faschistische. Den Menschen ein Tier schimpfen – das ist echter Idealismus. Die Möglichkeit der Rettung der Tiere unbedingt und um jeden Preis zu leugnen ist die unabdingbare Schranke ihrer Metaphysik. – Die dunklen Züge Beethovens hängen genau damit zusammen.“189

Schopenhauer ist offenkundig nicht bereit, mit dem berühmten Losungswort von der Würde des Menschen sich Zugang zu der von Ehrfurcht begleiteten Gesetzesethik der Vernunft zu verschaffen, die für alle vernünftigen Wesen, nicht nur auf Erden, gültig zu sein beansprucht. Jede deontologische Begründungsform der Ethik verwirft Schopenhauer. Tief verankert, ja verwurzelt sieht er im Tier wie im Menschen den Egoismus. Im Kern ist es das Bestreben, sich unbedingt am Leben zu erhalten. Es ist auch die animalische Treibkraft im Menschen. Mit ihr ist allerdings auch das Merkmal des Eigennutzes verbunden: Egoismus, durch Vernunft geleitet. Im Widerstreit damit steht ein ethischer Grundsatz, einfach und rein: 189

T. W. Adorno, Ad Beethoven – Fr.202. Nachgelassene Schriften, Abt. 1. Frankfurt 1993, 123f. Zu dem *: *[über der Zeile:] s. dazu „Patzig“, grünes Buch [s. Fr. 191.]. 96

„Neminem laede, immo omnes, quantum potes, iuva.“ Dieser moralische Grundsatz Schopenhauers begründet sich nicht selbst. Er ist eine Folge, zu der man den Grund suchen müsse. Deontologische Ansätze meidet Schopenhauer ja grundsätzlich; aber auch weil sie von theologischer Argumentation abhängig seien. Der Grundsatz kann kein Sollensatz einer apriorischen Pflichtenethik sein. Es bleibt nur der „empirische Weg“, um den Grund des Satzes aufzusuchen, der als Datum einleuchtet, aber eines Quaesitums bedarf. Wonach zu suchen ist: nach einer „allein ächten moralischen Triebfeder“, die den antimoralischen Triebkräften gewachsen ist. Die empirische Probe, die Schopenhauer dabei im Auge hat, geht darauf aus, was es ist, dem „man“ moralischen Wert zugesteht: „Sollte aber dennoch jemand darauf bestehen, das Vorkommen aller solchen Handlungen abzuleugnen [gemeint sind rein altruistische, wie sie der zu begründende ethische Leitsatz formuliert, d. Vf. ], dann würde ihm zufolge die Moral eine Wissenschaft ohne Objekt sein, gleich der Astrologie und Alchemie, und es wäre verlorene Zeit, über ihre Grundlage noch ferner zu disputieren.“190

Jedes eigennützige Motiv würde die Moralität einer Handlung tilgen. Auf diese Weise verlagert sich die weitere Untersuchung in die elementare Unterscheidung, wie sie Jeremy Bentham vorgeschlagen hatte: in die Alternative von Wohl und Wehe, was dem Verhältnis von pleasure and pain entspricht, Schopenhauer nimmt nun einen ausführlichen Beweisversuch anhand von Handlungsformen vor, jeweils entlang der Musteropposition von Wohl und Wehe. Dazu gehören neun Grundsätze, die er als Axiomata einführt, was bekanntlich heißt: Sie sind selber nicht begründungsfähig, für alles daraus zu Folgernde aber grundlegend.

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Schopenhauer, Werke, a.a.O. 560. Der Autor zitiert in diesem Zusammenhang aus Goethes Wahlverwandtschaften den Satz über Charlotte: „[…] sie hatte in ihrem Leben genugsam einsehen gelernt, wie hoch jede wahre Neigung zu schätzen sei, in einer Welt, wo Gleichgültigkeit und Abneigung eigentlich recht zu Hause sind“ (Ende des 3. Kapitels des Ersten Teils). 97

„1) Keine Handlung kann ohne zureichendes Motiv geschehen, so wenig, als ein Stein ohne zureichenden Stoß oder Zug sich bewegen kann. 2) Eben so wenig kann eine Handlung, zu welcher ein für den Charakter des Handelnden zureichendes Motiv vorhanden ist, unterbleiben, wenn nicht ein stärkeres Gegenmotiv ihre Unterlassung notwendig macht. 3) Was den Willen bewegt, ist allein Wohl und Wehe überhaupt und im weitesten Sinne des Worts genommen; wie auch umgekehrt Wohl und Wehe bedeutet ‚einem Willen gemäß, oder entgegen‘. Also muss jedes Motiv eine Beziehung zu Wohl und Wehe haben. 4) Folglich bezieht jede Handlung sich auf ein für Wohl und Wehe empfängliches Wesen, als ihrem letzten Zweck. 5) Dieses Wesen ist entweder der Handelnde selbst, oder ein Anderer, welcher alsdann bei der Handlung passiv beteiligt ist, indem sie zu seinem Schaden, oder zu seinem Nutzen und Frommen geschieht. 6) Jede Handlung, deren letzter Zweck das Wohl und Wehe des Handelnden selbst ist, ist eine EGOISTISCHE. 7) Alles hier von Handlungen gesagte gilt eben so wohl von Unterlassung solcher Handlungen, zu welchen Motiv und Gegenmotiv vorliegt. 8) In Folge der im vorhergehenden Paragraphen gegebenen Auseinandersetzung schließen EGOISMUS und MORALISCHER WERTH einer Handlung einander schlechthin aus. Hat eine Handlung einen egoistischen Zweck zum Motiv, so kann sie keinen moralischen Werth haben: soll eine Handlung moralischen Werth haben, so darf kein egoistischer Zweck, unmittelbar oder mittelbar, nahe oder fern, ihr Motiv sein. 9) In Folge der §5 vollzogenen Elimination der vorgeblichen Pflichten gegen uns selbst, kann die moralische Bedeutsamkeit einer Handlung nur liegen in ihrer Beziehung auf Andere: nur in Hinsicht auf diese kann sie 98

moralischen Werth, oder Verwerflichkeit haben und demnach eine Handlung der Gerechtigkeit, oder Menschenliebe, wie auch das Gegentheil beider seyn.“191

Nach der Abwägung von Wohl und Wehe als Handlungskriterien bzw. -zwecke muss Schopenhauer eine Entscheidung treffen: Was treibt einen Menschen dazu, sich selbst in seinem natürlichen Egoismus zu vergessen und einem andern selbstlos beizustehen. Seine Antwort: Es ist das Grundmotiv, das schon längst in der Umgangssprache unter dem Namen Mitleid geläufig ist. Nur wenn ich rein und ohne Nebenmotiv davon bestimmt bin, dass andere unverletzt blieben, hat meine Handlung moralischen Wert. So werde das Phänomen Mitleid korrekt beschrieben. Und Schopenhauer ist überzeugt, dass es so auch wirklich als Handlungsmotiv vorkommt. Methodisch betrachtet ist das keine beweiskräftige Erklärung, sondern eine Tatsachenbehauptung. Sein weiteres Vorgehen deutet darauf hin, dass der Philosoph sich dessen bewusst ist. So lässt er eine Reihe von Antworten Revue passieren, die er Kant, Fichte, Wollaston, Hutcheson, Adam Smith und Spinoza in den Mund legt. Adam Smith lässt Schopenhauer sagen: „Ich sah voraus, dass meine Handlung gar keine Sympathie mit mir die Zuschauer derselben erregt haben würde.“ Schopenhauers Lösung: „Dann werden wir von Entsetzen ergriffen und rufen aus: Wie ist es möglich, so ganz ohne Mitleid zu sein?“ Sein Urteil pluralisiert der Autor zum Wir und folgert: „Also ist der größte Mangel an Mitleid, der einer That den Stämpel der tiefsten moralischen Verworfenheit und Abscheulichkeit aufdrückt. Folglich ist Mitleid die eigentliche moralische Triebfeder.“192 In immer neuen Anläufen, aus unterschiedlichen Wirklichkeitsbereichen, versucht Schopenhauer das erstaunliche Phänomen dieser Triebfeder plausibel zu machen. Er führt drei Grund-Triebfedern menschlichen Handelns an, die er bisher nicht benannt hat, um die Verhältnisse nicht zu komplizieren: Egoismus – der das eigene Wohl will; Bosheit – die das fremde Wehe will; Mitleid – das fremde Wohl wollend. 191 192

Schopenhauer, Werke, a.a.O. 562. Ebd. 590. 99

Dann überprüft er die Moral aus Grundsätzen noch einmal, aber nun mit den für ihn charakteristischen Vorurteilen, die seine ansonsten redlich rationale Argumentation aus der Bahn bringen. Grundsätze zu befolgen sei „Selbstbeherrschung“. Damit verbundene Gerechtigkeit, Redlichkeit und Gewissenhaftigkeit seien nicht Sache der Weiber, wohl aber das Mitleid, für das sie leichter empfänglich seien.193 Menschenliebe hält er für die weibliche Tugend. Bei den Tieren fehle Selbstbeherrschung aus Vorsätzen und Grundsätzen; dem Affekt wehrlos hingegeben, hätten sie keine Moralität. Schopenhauer kommt beim Suchen nach Belegen für seine Grundthese stets auf das allgemeine Urteil zurück, das er der Alltagsmoral zuschreibt. Drastisch stellt er Beispiele von Grausamkeit dar und lässt die Empörung darüber klar erkennen. Darauf folgt ein Indiz für die tiefe Verankerung des Mitleids in den Gemütern der Menschen.194 Ein aufschlussreicher Begriff bei seinen Untersuchungen ist „Bewährung“. Er enthüllt, dass Schopenhauer nichts beweisen kann, sondern auf verschiedene Weise mittels praktischer Erprobung nachzuweisen sucht, wie das Mitleid, allemal die bessere, weil am meisten anerkannte entmenschlichende Verhaltensweise gegen andere Grundtriebe, die mit ihr konkurrieren, sich durchsetzt. Wie? Er sagt, in „unserem Urteil“ – und meint damit seines und das Gleichgesinnter. In diesem Sinne erklärt er: „Die von mir aufgestellte moralische Triebfeder bewährt sich als ächte ferner dadurch, dass sie auch die Thiere in ihren Schutz nimmt, für welche in den anderen Europäischen Moralsystemen so unverantwortlich schlecht gesorgt ist.“195 Er nennt es eine empörende Rohheit und Barbarei des Okzidents, deren Quelle im Judentum liege. Die kartesisch-leibnizsche-wolffische Philosophie habe eine unsterbliche anima rationalis konstruiert, als „exklusives Privilegio und Unsterblichkeits-Patent der Menschen-Species.“ Die Natur habe, wie immer, still ihren Protest eingelegt – und nun hätten die Philosophen, von ihrem intellektuellen Gewissen geängstigt, die rationale Psychologie durch eine empirische zu stützen begonnen – und „zwischen Mensch und Thier eine unge-

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Ebd. 572. Ebd. 580f. Ebd. 596 100

heure Kluft, einen unermesslichen Abstand eröffnet, um sie von Grund aus verschieden darzustellen.“196 Die Frage, wieweit die Bedeutung des Wortes „die Anderen“ reicht, die das Mitleid auslösen können, klärt sich indirekt durch die Beobachtungen Schopenhauers an Sprachen, „namentlich der deuschen“. Dass sie „für das Essen, Trinken, Schwangerseyn, Sterben und den Leichnam der Thiere ganz eigene Worte habe, um nicht die gebrauchen zu müssen, welche jene Akte beim Menschen bezeichnen, und so unter der Diversität der Worte, die vollkommene Identität der Sache zu verstecken.“

Die alten Sprachen hätten eine solche Duplizität der Ausdrücke nicht gekannt! Auch im Englischen fehle der „nichtswürdige Kunstgriff “ – ausgehend von der „Europäischen Pfaffenschaft“ – das „Verleugnen und Lästern des ewigen Wesens, welches in allen Thieren lebt“.197 Ergänzend zu Schopenhauers Beispielen aus der deutschen Umgangssprache lässt sich noch manch Einschlägiges leicht finden: –– Die Stute ist nicht lüstern, sondern „rossig.“ –– Eine Stute hat nicht Verkehr mit einem Hengst; sie wird „gedeckt“. Wenn sie ein Junges zur Welt bringt, „wirft“ sie es. –– Bringt ein Wildschein mehrere Junge zur Welt, ist das ein „Wurf “, wenn ein Hausschwein Junge kriegt, „ferkelt es ab“. –– Die Kuh „kalbt“. Ebenso der weibliche Delphin oder eine Walmutter. Umgekehrt: Für Strafgefangene in Sicherungsverwahrung, die an das Leben in Freiheit sich vorbereiten sollen, gibt es den Ausdruck „Auswilderung“.198 Schopenhauer räumt ein, dass der letzte Grund der wundervollen Anlage, die von Natur ins menschliche Herz gepflanzt sei, nur metaphysisch zu erforschen sei.

196 197 198

Ebd. A.a.O. 597.

Beleg s. „Der Spiegel“ Nr. 28 (2015), 44ff.

Schopenhauer, Werke, a.a.O. 603.

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Als historische Autorität zitiert der Autor Rousseau, der die Wahrheit getroffen und das Herz gerührt habe.199 Am Ende seiner Preisschrift zur Ethik ist das Kapitel IV überschrieben: „Zur metaphysischen Auslegung des ethischen Urphänomens“. Urphänomene erklären zwar alles unter ihnen Begriffene und das aus ihnen Folgende, bleiben aller selbst unerklärt. Das ist die Definition zum schon früher eingeführten Grundbegriff, dem das Mitleid zugeordnet wird.200 Wie aber soll ein solches Urphänomen zugänglich werden? Die räumliche Metaphorik in Gebrauch nehmend, mit der wir unsere Gemütsverfassung verbal erkunden – oder gerade sie aufs Korn nehmend –, sagt Schopenhauer treffend: „Wir sehen bloß nach außen, Innen ist es finster.“201 Was bleibt, um die „mysteriöse Handlung“, die allen Egoismus und Eigennutz abwirft, sich klarzumachen? Wäre Vielheit und Geschiedenheit ein Schein, ein Gaukelbild, ein Schleier der Maja – ja, dann würde verständlich, dass in allem, was lebt, ein Wesen sich birgt: eine Einsicht, die nur mystisch zu erlangen ist. Am Schluss seiner Preisschrift zur Ethik sagt Schopenhauer, der metaphysische Zugang zum Urphänomen sei ein „Opus supererogationis“. Und er findet eine Formulierung, die den mystischen Trost in diesem nicht jedem zumutbaren Aufschwung verbindet mit der metaphysischen Vergewisserung der Ethik: „Der, welcher in allem Anderen, ja in Allem, was Leben hat, sein eigenes Wesen, sich selbst erblickte, dessen Daseyn daher mit allem Daseyn alles Lebenden zusammenfloß, der verliert durch den Tod nur einen kleinen Theil seines Daseyns: er besteht fort in allem Andern, in welcher er ja sein Wesen und sein Selbst stets erkannt und geliebt hat, und die Täuschung verschwindet, welche sein Bewußtseyn vom dem des Übrigen trennte.“202

Schopenhauer wird schließlich bewusst, dass sein ethisches Urphänomen, das Mitleidenkönnen, soweit es empirisch ermittelt wird, mehr assertorisch als de-

199 200 201 202

Ebd. Ebd. 617. Ebd. S, das Beispiel zur Reporterfrage auf S. 93 Ebd. 630. 102

monstrativ fundiert ist; in einem Sinne wie: Niemand wird leugnen, dass eine mitleidige Tat moralisch höchst ehrenvoll ist. Die eindringlichste Darstellung der Ethik Schopenhauers, die ich kenne, ist das dem Philosophen gewidmete Kapitel in dem Buch von Henning Ritter Die Schreie der Verwundeten. Versuch über die Grausamkeit, das 2013 im Beck-Verlag erschien. Ritter wählt das Aufbegehren gegen Grausamkeit im menschlichen Verhalten als Darstellungsmotiv. Damit gelingt ihm eine auch historisch angemessene Ortsbestimmung der Mitleidsethik. Das Mitleid als ethisches Prinzip ist nämlich nichts neues im 19. Jahrhundert. Das Mitleid ist, wie Ritter durch einschlägige Belege zeigen kann, eine weitverbreitete Strömung in der damaligen Zivilgesellschaft. Schopenhauer lässt sich hingegen von seiner Selbsteinschätzung als Einzelgänger von der akademischen Philosophie seiner Zeit leiten. Zum gesellschaftlichen Kontext gehören aber die vielfachen philanthropischen Initiativen in Vereinen und in der Literatur. Sören Kierkegaard hat mit Skepsis gegen die Mildtätigkeit im Namen eines „praktischen Christentums“ darauf reagiert. Er fürchtete eine Umschaffung Christi in bloß „menschliche Mildtätigkeit“.203 Ritter weist nach, dass Schopenhauer die Grundzüge seiner Ethik schon früh formuliert hat: „Wen der Anblick fremder Leiden schmerzt, so gut als seine eigenen, wer dadurch bewegt wird, jene Leiden zu heben mit Aufopferung der Mittel, durch die er seinen eigenen Willen befriedigen, seine eigne Existenz erhalten kann, der ist selig, ist tugendhaft.“204

Ebenso früh war bei Schopenhauer die Kant-Kritik ausgeprägt – und zwar in ethischer Hinsicht. In derselben Notiz 445 aus den Jahre 1815 erklärt er: „Mitleiden ist also, wenn es sich durch die Tat als ächt bewährt, Tugend. Eine der größten Schwächen und Fehler Kants ist, daß er dies leugnet und

203 204

Ritter, Schreie der Verwundeten … 101f. Ritter, a.a.O. 121. Bei Ritter ist irrtümlich das Jahr 1817 für diesen Eintrag in Schopenhauers handschriftlichem Nachlass angegeben. Die Notiz stammt aber aus dem Jahr 1815. S. Schopenhauer, Der handschriftliche Nachlaß, Bd. 1, Frühe Manuskripte (1804–1818), dtv Klassik, München 1985. 294f. 103

nur die aus abstrakten Maximen, ja gar aus den abstrakten Regeln eines kategorischen Imperativs hervorgegangenen Handlungen für Tugend hält.“205

Schopenhauers Ethik sollte hingegen, so Ritter, „in einem neuen Sinn praktisch sein, indem sie nicht Vorschriften erließ, sondern in der Wirklichkeit eine vernachlässigte ethische Kraft mobilisierte“.206

11.1 Albert Schweitzer über Schopenhauer: Zustimmung und Kritik Albert Schweitzer hat zu Schopenhauers Ethik ausführlich Stellung bezogen. In philosophischer Ethik sei es unerhört, auf das Herz zu hören. Ängstlich hätten Kant, Hegel, Fichte und Schleiermacher eingeschärft, dass Mitleid mit den Tieren an sich nicht ethisch sei, sondern nur im Hinblick auf die Erhaltung der unter Menschen zu bewährenden gütigen Gesinnung eine Bedeutung habe: „Schopenhauer reißt diese Zäune ein und lehrt Liebe zum armseligsten Geschöpf.“207 Jedoch – und da setzt Schweitzers Kritik an, weltanschaulich motiviert und quasi von oben her: Das ethische Tun werde durch die vorausgesetzte Welt – und Lebensverneinung illusorisch. „Helfendes Mitleid kann er, wie auch die indischen Denker, eigentlich nicht kennen.“208 Was aber sollte dann der Leitsatz: „Neminem laede immo omnes, quam potes, iuva“ für einen Sinn haben? Er ist der Ausgangssatz für den gesamten Begründungsgang der Ethik Schopenhauers. Schweitzers Einwand bleibt rätselhaft. In seinem eigenen Entwurf einer Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben kommt Schweitzer Schopenhauer nahe. Aber sein Satz: „Ich bin Leben, das leben will“, 205

206 207

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Ebd. 295. Auch Mitfreude hatte Schopenhauer in dieser Notiz schon abgegrenzt, mit der Begründung: „weil die Freude, da Befriedigung und Bestärkung des Willens, immer nichtig ist und auf unterminiertem Boden tanzt.“ Ebd. 108. Albert Schweitzer, Kultur und Ethik (Sonderausgabe), München1981 (Nachdruck), 275. Ebd. 259. 104

ist eine abstrakte Selbstdefinition. Ebenso bleibt das Leben, inmitten dessen ich nach Schweitzer lebe, das um mich herum lebt, in gleicher Weise unbestimmt. Diese Redeweise von „Leben“ ist vergleichbar mit der Rede von ungeborenem Leben beim rechtlichen Status von Föten im Streit um Schwangerschaftsabbrüche. Damit soll eine Bestimmung des Personencharakters eines Kindes im Mutterleib umgangen werden. Im Übrigen ist zu beobachten, dass sich Schweitzer bei der Einführung und Begründung seiner Ethik nicht genötigt sieht, die traditionelle Unterscheidung von Mensch und Tier infrage zu stellen. Der Wiener Theologe Ulrich H. J. Körtner, Systematiker und Ethiker, hat Schweitzers Ethik in seiner Betheler Antrittsvorlesung (damals als Privatdozent) kritisch gewürdigt. Es sieht die „Ehrfurcht vor dem Leben“ als Prinzip einer universellen Verantwortung für das Leben, das Mitleid und Liebe einschließe.209 Um dieser Verantwortung gerecht zu werden, modifiziert Körtner den Satz Schweitzers: „Ich bin Leben, das sich will als gewollt, inmitten von Leben, das sich will als gewollt oder dessen Leben-Wollen gewollt ist“.210 Die zweite Hälfte des Satzes, in der das „Inmitten“ thematisiert ist, korrigiert nur notdürftig die Zumutung an nicht-menschliche Tiere, sich zu wollen. Unverkennbar ist diese Weiterentwicklung der Ethik Schweitzers von einem theologischen Überbau abhängig. Sie bedarf eines „Von Woher unseres Gewolltseins“.211 Das ist auch so von Ulrich Körtner konzipiert. Verbunden damit ist, der Sache nach, nicht ausdrücklich, die alte Sonderstellung des Menschen in der Glaubenstradition der Juden und Christen.

209 210

211

ZTHK, Jahrg. 85 (1988), 329–348, hier. 338. Ebd. 346. Die Formulierung beruft sich auf die Analogie zu Tillichs: „Mut, sich zu bejahen als bejaht“. Ebd. 347. 105

12 Schopenhauer und Kant: Harald Köhl Harald Köhl trägt eine Konfrontation von Kant und Schopenhauer vor, im Hinblick auf die ethische Erkenntnisfunktion von Mitleid: „Das Gefühl des Mitleids […], wenn es vor der Überlegung, was Pflicht sei, vorhergeht und Bestimmungsrund wird, ist wohldenkenden Personen selbst lästig, bringt ihre überlegten Maximen in Verwirrung und bewirkt den Wunsch, seiner entledigt […] zu sein.“

So zitiert Köhl zustimmend aus der Kritik der praktischen Vernunft. 212 Das Mitleid erscheint hier bei Kant als Widerpart einer wohlüberlegten Bestimmung des Handelns durch Maximen, die nach dem Testprogramm des kategorischen Imperativs moralisch gerechtfertigt sind. Formal reagierte Heinrich Himmler in diesem Sinne des Vorrangs einer rational gefassten Überzeugung auf den schweren Konflikt mit Gefühlsregungen humaner Provenienz. Allerdings hätte seine Überzeugung die Probe des Imperativs gemäß der sittlichen Theorie Kants niemals bestanden. Köhl übernimmt von Kant die Lehre, dass ein moralisches Gefühl immer „auf der Basis des vorgängigen Einnehmens eines moralischen Standpunkts“ zu stehen habe. Nur dann biete es die Gewähr, zu moralischen Handlungen zu motivieren. Bei Schopenhauer könne jedoch das Mitleidsgefühl „manchmal zu moralisch fragwürdigen Handlungen“ motivieren.213 Das Gefühl der Achtung bei Kant – auch ein Gefühl, aber durch einen Vernunftbegriff „selbstgewirkt“, sei intentional auf das moralische Gesetz gerichtet.214

212

213 214

Das Kant-Zitat ist AA V, 118. S. Harald Köhl, Die Theorie des moralischen Gefühls bei Kant und Schopenhauer, In: Zur Philosophie der Gefühle. Hrsg. on Hinrich Fink-Eitel und Georg Lohmann, Frankfurt 1994, 136–156,, insbes, 144ff. Köhl, a.a.O. 152. Ebd. 106

An dieser Stelle ist die berühmte Frage in den Diskurs zu bringen, ob es erlaubt sei, aufgrund eines vermeinten Rechts aus Menschenliebe zu lügen. Diese Frage stellt der Titel einer Abhandlung von 1797, die ursprünglich in den Berlinischen Blättern erschien.215 Kant antwortet in diesem Essay auf die Kritik eines Franzosen (Benjamin Constant), der die Unbedingtheit der Pflicht, unter allen Umständen die Wahrheit zu sagen, infrage stellt. Seiner Antwort ist anzumerken, dass ihm die Frage vertraut ist und dass sie einen kritischen Punkt seiner Ethik trifft. Er bestätigt und verteidigt den Grundsatz der Wahrhaftigkeit gegen jeden emphatisch als „heiliges unbedingt gebietendes, durch keine Convenienzen einzuschränkendes Vernunftgebot.“216 Das Fallbeispiel nimmt Kant aus der Schrift von Constant auf. Es geht darum, ob man einen Mörder anlügen darf, der einen in unser Haus geflüchteten Freund verfolgt. Constants zentrales Argument zitiert Kant: „Die Wahrheit zu sagen ist […] eine Pflicht, aber nur gegen denjenigen, welcher ein Recht auf die Wahrheit hat. Kein Mensch aber hat Recht auf eine Wahrheit, die Anderen schadet.“217 Kant bietet zur Verteidigung seines absoluten Vernunftgebots der Wahrhaftigkeit verschiedene Kausalitäten auf, die einer Notlüge zugunsten des Freundes folgen könnten. Der Verfolgte könnte z. B. fliehen und auf der Flucht dem Mörder in die Hände fallen. Jetzt wäre der Lügner verantwortlich, zumindest im juristischen Sinn, für den Tod des Freundes. Hätte er die Wahrheit gesagt, wäre er nicht zu belangen. Auch die anderen Beispiele aus dem möglichen, nicht vorhersehbaren Ablauf des Geschehens dienen allesamt dem Selbstschutz des Wahrhaftigen. Dessen Wahrheit kann zwar dem Verfolgten schaden, aber sie wahrt die Unschuld des Wahrhaftigen in einem potenziellen Gerichtsverfahren. Ein prominenter Autor aus dem deutschen Sprachraum hat in einer „mit Meisterhand verfassten Abhandlung“, wie Kant anmerkt, die Verbindlichkeit der kantischen Moral missbilligt. Schiller sah bei dem „Weltweisen“, der die „gesunde Vernunft aus der philosophierenden wiederhergestellt“ habe, eine Härte am Werk, „die alle Grazien davor zurückschreckt“. Dabei könne ein schwacher Verstand in

215 216 217

Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen. AA Viii, 423–430. AA VIII. 427. Ebd. 425. 107

Versuchung kommen, „auf dem Wege einer finstern und mönchischen Asketik die moralische Vollkommenheit zu suchen.“218 So trägt Schiller vorsichtig und rücksichtsvoll dem von ihm geschätzten Philosophen eine Moralkritik vor, orientiert am Begriff eines tugendhaften Menschen, der mit sich im Reinen ist und nicht im Konflikt von Pflicht und Neigung lebt. Er beschreibt mit der ihm eigenen Sprachkraft die Doppelnatur des Menschen, der sinnlichen und vernünftigen, wobei die vernünftige ihm das Gefühl „rationaler Freiheit“ verschaffen kann. Das hält sich im Rahmen der konventionellen Auffassung vom animal rationale. Die rationale Freiheit kann dabei eine strenge Zucht ausüben und die Sinnlichkeit unterdrücken. Umgekehrt aber könne der Naturtrieb den menschlichen Geist unterjochen: „Nur die Tierheit redet aus dem schwimmenden, ersterbenden Auge, aus dem lüstern geöffneten Munde, aus der erstickten, bebenden Stimme, aus dem kurzen, geschwinden Atem, aus dem Zittern der Glieder, aus dem ganzen erschlaffenden Bau.“219

Schiller schlägt in diesem Urstreit zwischen Tierheit und freier Vernunft im Menschen eine Lösung vor, die den Menschen wahrhaft zu sich selber bringt. Es ist ein Gemütszustand, der Vernunft und sinnliche Neigung versöhnt. Der Gehorsam der sinnlichen Natur des Menschen gegen die Vernunft müsse einen „Grund des Vergnügens“ abgeben. Tugend sei nichts anders als „eine Neigung zu der Pflicht“.220 Kant gleicht sich in seiner Antikritik respektvoll der mythologischen Bildsprache Schillers an, nicht ohne Eleganz. Er schreibt, die Grazien begleiteten eine wohltätige tugendhafte Vernunft, hielten sich aber bei der Pflichtbestimmung in ehrerbietiger Entfernung.221 „Die […] sklavische Gemüthsstimmung kann nie ohne einen verborgenen Haß des Gesetzes statt finden, und das fröhliche Herz in Befolgung seiner 218 219 220 221

Friedrich Schiller, Werke in drei Bänden, Darmstadt 1984, Band II, 405f. Schiller, a.a.O. 403f. Schiller, a.a.O. 405. AA VI, 23 Anm. 108

Pflicht (nicht die Behaglichkeit in Anerkennung derselben) ist ein Zeichen der Ächtheit tugendhafter Gesinnung.“222

Nach der Auseinandersetzung Kants mit seinen Kritikern Constant und Schiller ergibt sich formelhaft die entscheidende Kontroverse: um die unbedingte Pflicht (Kant). Und um das spontane Mitleid, das nicht vorgefasster Regung folgt. Kant konnte in dieser Kontroverse die spielerische Versöhnung von Sinnlichkeit und Vernunft (Schiller) nicht anerkennen, wohl aber eine fröhliche Anpassung der sinnlichen Impulse an die Pflicht. Wo ist die Alternative zu beiden Positionen? Gibt es in diesem Sinne einen dritten Weg, hinaus aus diesen Alternativen und vorwärts? Mit Tugendhat ist zu überlegen, wie Mitleid sich zur Regelbestimmung verhält. Mitleid ist supererogatorisch – und so nicht moralfähig. Aber seine ethische Qualität ist nicht zu bestreiten. Das öffentliche Urteil ist eindeutig. Es verachtet Hartherzigkeit. Wie verhält sich der Begriff Mitleid zu dem vielfach gebrauchten Wort „Empathie“? Mitleid kann einem Politiker schaden, wenn es ihm entgegengebracht wird. Empathie wäre in solchen Fällen ganz anders und positiv besetzt. Inwiefern könnte Schopenhauer uns den Ausweg aus dem Fliegenglas am Ende des Projektes animal rationale zeigen? Harald Köhl meint allerdings, das Phänomen des Mitleids, wie Schopenhauer es darstelle, gebe es nicht. Er argumentiert: Gefühle haben immer einen Gegenstand, der gefühlt wird. Aber der phänomenale Charakter meines Schmerzes über den Schmerz des anderen ist nicht eine Qualität des intentionalen Gegenstandes meines Schmerzes, sondern eine Qualität des Schmerzes selber: „das Schmerzen.“223 Diese phänomenale Qualität eines Schmerzes könne man nur erleben im Fall eigenen Schmerzens. Wir seien auf das Weh anderer nie in derselben Weise bezogen wie auf unser eigenes. Falsch sei Schopenhauers Prämisse, das Wohl und Wehe anderer könne nur dann mein letzter Zweck sein, wenn uns dieses Wohl und Wehe auf dieselbe Weise zugänglich sei wie im eigenen Fall, dass ich es fühlte. 222 223

Ebd. 24. Köhl, a.a.O. 148ff. 109

13 Eine an Heidegger orientierte Mitleidsethik: Werner Marx Werner Marx und sein an Heidegger orientierter Entwurf einer nicht-metaphysischen Nächsten-Ethik nimmt das Mitleid in die Grundlegung der philosophischen Ethik auf. Dabei setzt er sich von Schopenhauer ab. „Schopenhauer bewegt die Möglichkeit, Mitleid zu empfinden, zutiefst; es fand aber für ihn seinen adaequaten Ausdruck nur in einer Grundhaltung, die, das principium individuationis durchschauend, den Willen zum Leben schlechthin aufgibt. Dem gegenüber sehen wir aufgrund unserer bisher durchgeführten Analyse, dass das in einem Dasein erschlossene Mit-Leiden-Können sich als eine eigentümliche Kraft äußert, welche in den konkreten teilnehmenden Bezügen wirksam ist. Das von dieser Kraft erfüllte anteilnehmende Verhalten kann sich weiter ausbilden bis zu dem Grade, wo es sich in Charakterhaltungen gefestigt hat. Es sind dies diejenigen Gestalten, die ihrerseits als Möglichkeiten dem mitmenschlichen Zusammensein a priori vorgezeichnet sind, die das Dasein aber zumeist in der Seinsweise der Gleichgültigkeit nicht ergreift. Es sind diejenigen Gestalten, in denen ich gestimmt und intuitiv vernünftig auf den anderen bezogen bleibe, wie vor allem bei der Anerkennung, Mitleid und Nächstenliebe.“224

In seinem Buch Gibt es auf Erden ein Maß entwirft Werner Marx das Programm einer Ethik, die nicht auf religiösem Glauben beruht, sich aber auch von der Anthropologie des animal rationale verabschiedet. Marx setzt diese Definition mit der Subjekt-Orientierung in der Philosophie der Neuzeit gleich, was er nicht begründet. Das geschieht wohl im Geiste des Humanismus-Briefs von Heidegger. An der in224

Werner Marx, Ethos und Lebenswelt. Mitleidenkönnen als Maß, Hamburg 1986, 24f. 110

haltlichen und kritischen Interpretation der Formel, die Heidegger vornahm (abgründige leibliche Verwandtschaft mit dem Tier) ist Marx nicht interessiert. Sein Zugang zum „Mitleiden-Können als Maß“ ist von vornherein und im Ganzen auf den Bereich des menschlichen Daseins konzipiert und entsprechend limitiert.225 Marx ist überzeugt, dass die Aufgabe der heute Philosophierenden darin liegt, nach Grundlagen für eine Nächsten- und Sozialethik zu suchen, die „denjenigen Maße für eine Orientierung gewährt, die – aus ihrem Glauben gefallen – das Maß nicht mehr in den Religionen zu finden vermögen, und ihnen die Möglichkeit der Verwandlung bietet.“ Unter „Maß“ versteht Marx eine Erfahrung, die ein Motiv dafür gewährt, das Gute dem Bösen vorzuziehen.226 Wichtig ist die dritte Abhandlung des Marx-Buches: Sie soll zeigen, wie der Tod in die Erfahrung des Daseins hineinreicht und als ein „Drittes“ Sein und NichtSein im Dasein vermittelt. Der Tod mache den Menschen zum „Sterblichen, erwecke ihn aus der Gleichgültigkeit gegenüber den Anderen und öffne für die Tugenden der Nächstenliebe und des Mitleids“.227

225

226 227

Werner Marx, Gibt es auf Erden ein Maß. Grundbestimmungen einer nicht-metaphysischen Ethik, Hamburg 1983, XVf. Ebd. XVf. Ebd. XXI. Hans Georg Gadamer hat das Buch rezensiert (Werkausgabe Band 3, 333ff.) und er hat sich intensiv auf Marxens Überlegungen eingelassen. Der durch meine Fragestellung nach animal rationale bedingte Focus ist bei Gadamer nicht präsent; die Rezension ist aber aufschlussreich als Auseinandersetzung eines Heidegger-Schülers der ersten Marburger Generation mit einem ausgewiesenen Heidegger-Kenner. Den zentralen Punkt der Interpretation des Todes mit dem Ansatz bei alltäglicher Gleichgültigkeit den anderen gegenüber nennt Gadamer „merkwürdig“ und setzt sein Phänomenverständnis dagegen: Die erste Erfahrung sei doch menschliche Solidarität – und die Todeserfahrung im Gegenteil: vereinzelnd. Das Probleminteresse von Marx sei legitim, die Ethikbegründung mit Heidegger hingegen gescheitert. 111

14 Philosophische Tierethik in Deutschland: Ursula Wolf In der deutschsprachigen philosophischen Literatur zur Tierethik ist die Mannheimer Philosophin Ursula Wolf eine der prägenden Gestalten. Die ehemalige Tugendhat-Schülerin hat mit ihrem Buch von 1990: Das Tier in der Moral dem Thema Tierethik einen weiten Debattenraum eröffnet, aber auch die Unterscheidung von Mensch und Tier als Grund und Boden des ethischen Untersuchungsfeldes fortbestehen lassen. In ihrer Darstellung der Mensch-Tier-Beziehung von 2012 hat sie erstmals auch die amerikanischen Autorinnen Christine Korsgaard und Martha Nussbaum unter dem Obertitel „Heutige Theorien in der Nachfolge Kants“ beachtet und besprochen. Zu Christine Korsgaard erklärt sie: „Die Bejahung bezw. Wertschätzung unseres Wesens als Menschen schließt die Bejahung bezw. Wertschätzung unserer animalischen Natur ein. Dann kann, so Korsgaard, der Wert der vernünftigen Seiten des Menschseins nicht die Grundlage des Werts überhaupt sein, vielmehr haben Tiere, da sie ebenfalls Schmerz empfinden, einen moralischen Status. Indem wir die Schmerzerfahrung mit den Tieren teilen, verpflichtet der Schmerz eines Tiers uns genauso, wie es die sprachlich artikulierten Forderungen andere Menschen tun.“ 228

Wolf sieht bei Christine Korsgaard „wichtige Hinweise “, die festzuhalten seien. Das „Wir“ der relevanten Gemeinschaft, wo es um das Erleiden von Schmerzen gehe, umfasse gleichberechtigt auch die Tiere. Ursula Wolf unterschätzt in dieser lexikalisch protokollierten Beurteilung die Innovation, die Christine Korsgaard ebenso wie Martha Nussbaum in eine jahr228

Ursula Wolf, Ethik der Mensch-Tier-Beziehung, Frankfurt 1990, 46. 112

hundertelang verstellte Rezeption der Formel animal rationale eingeleitet haben. Das dokumentiert sich schon in der Art, wie sie von non-human animals sprechen – eine verbale Revolution im Mensch-Tier-Verhältnis, die Ernst Tugendhat in seine späteren Arbeiten mit „Menschen und anderen Tieren“, wie bereits berichtet, in die Sprache der Philosophie eingeführt hat. Wolfs Lehrer Ernst Tugendhat, mit dem sie sich schon während ihrer akademischen Ausbildung in Heidelberg und Berlin stets konstruktiv auseinandergesetzt hatte, hält ihr vor, sie argumentiere „extensional“. Er meint damit, sie arbeite mit der Aufzählung moralischer Inhalte und ignoriere dabei das Grundproblem einer Moral überhaupt, also einer formalen Vorstellung, was Moral ausmache.229 Bemerkenswert in dieser Kontroverse: Beide, Ursula Wolf und Ernst Tugendhat, reden ganz unbefangen von Menschen und anderen Tieren, nehmen aber keinen Bezug auf die Formel, die diese Redeweise – logisch korrekt interpretiert – bereithält.230 Ernst Tugendhats Hauptpunkt der Kritik an Wolfs Position ist das Fehlen eines formalen Begriffs von Moral. Ein solcher Begriff sei methodisch notwendig, um die Begründung verschiedener Moralvorstellungen auf eine Basis zu bringen. Tugendhat sieht nur die Möglichkeit, diesen Begriff aus dem menschlichen Eigeninteresse zu gewinnen – und insofern im humanen Sozialbereich anzusetzen. Wie dieses methodische Desiderat auf eine innovative und sich dabei auf die alte Formel vom animal rationale beziehende Denkweise einzulösen wäre, können wir von Derridas Dekonstruktion und den entsprechenden bereits dargelegten Überlegungen lernen.

229

230

Ernst Tugendhats Ethik. Einwände und Erwiderungen, hrsg. von Nico Scarano und Mauricio Suárez, München 2006, 274 und 281f. Ursula Wolf, a.a.O 140. Die Autorin weist darauf hin, dass die biologischen Wissenschaften weitgehende Ähnlichkeiten zwischen Menschen und anderen Tieren nachgewiesen hätten. „Der scharfe Einschnitt zwischen Menschen und den übrigen Tieren, der das moderne wissenschaftliche Weltbild bestimmt, wird sich gerade angesichts unserer wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht mehr aufrechterhalten lassen.“ (142) 113

15 Biographischer Exkurs – erste signifikante Erfahrungen Da ist eigene Erfahrung im Umgang mit anderen Tieren zu berichten. Angeregt bin ich dazu durch Derridas Alternative zur abstrakt vorgetragenen Objektivierung von Tieren und der geläufigen Denkfigur von Mensch und Tier. Ich verlasse deshalb vorübergehend die Diskursebene, auf der üblicherweise tierethische Fragen verhandelt werden. Aus meiner Kindheit: Wir wohnten in einem Bauernhaus, in dem die Räume für die Evangelische Schule in Oberkochen sich befanden, ein größerer Schulraum und kleiner Nebenraum im Erdgeschoß. Unter dem Dach waren große Spinnennetze von Kreuzspinnen. Ich setzte mit der Hand gefangene Fliegen in die Netze und beobachtete das Jagdverhalten der Spinnen, wenn sie die Fliegen routiniert in fein gesponnenen Säckchen aufhängten. Konzentriert auf die Überlebensstrategie der Spinnen war ich ohne jedes Mitgefühl für die Fliegen. Mäuse waren als Untermieter im Haus. Sie frequentierten die Speisekammer und waren auch im Arbeitszimmer meines Vaters zugange. Meine Mutter stellte Schnappfallen auf, in denen zuweilen zwei Jungmäuse zu gleicher Zeit ums Leben kamen. Ich nahm das gleichgültig hin – bis mir, gerade lesefähig, das Gedicht von Christian Morgenstern vor Augen und zu Ohren kam: Die Mausefalle Palmström hat nicht Speck im Haus dahingegen eine Maus. Korf, bewegt von seinem Jammer, baut ihm eine Gitterkammer. Und mit einer Geige fein setzt er seinen Freund hinein. Nacht ist’s und die Sterne funkeln. 114

Palmström musiziert im Dunkeln. Und derweil er konzertiert, kommt die Maus hereinspaziert. Hinter ihr, geheimer Weise, fällt die Pforte leicht und leise. Vor ihr sinkt in Schlaf alsbald Palmströms schweigende Gestalt. Morgens kommt v. Korf und lädt das so nützliche Gerät in den nächsten, sozusagen, mittelgroßen Möbelwagen, den ein starkes Roß beschwingt nach der fernen Waldung bringt, wo in tiefer Einsamkeit er das seltne Paar befreit. Erst spaziert die Maus heraus, und dann Palmström, nach der Maus. Froh genießt das Tier der neuen Heimat, ohne sich zu scheuen. Während Palmström, glückverklärt, mit v. Korf nach Hause fährt. Das Gedicht gab mir einen bis heute nachwirkenden Begriff vom Umgang mit – wie ich jetzt sagen würde: anderen Tieren! Es weckte ein zuvor nicht gekanntes Mitgefühl. Jetzt wiedergelesen, entdecke ich in dem Gedicht die besondere Rolle von Korfs. Er ist es, der Palmström zu dem humanen Umgang mit der Maus verhilft. Palmströms Jammer ist, dass er keinen Speck im Haus hat; das wäre ja die konventionelle und sprichwörtliche Art, Mäuse zu fangen. Von Korf erlöst ihn und vergönnt der Maus die Lebensfreude in der neuen Freiheit. Züge meiner eigenen Kindheitsentwicklung erkenne ich in dem Bericht von Rousseau in seinem Émile: Émile ist als kleines Kind nur um sich selbst besorgt.

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„Émile, der wenig über ein empfindsames Wesen weiß, wird erst spät wissen, was leiden und sterben heißt. Stöhnen und Schreien werden anfangen, sein Inneres zu bewegen […]; das Todeszucken eines Tieres wird ihm unbestimmte Beklemmung einflößen, ohne dass er weiß, woher ihm diese neuen Regungen kommen. Wäre er stumpfsinnig und barbarisch geblieben, hätte er sie nicht; wäre er gebildeter, kennte er ihren Ursprung […]. So entsteht Mitleid, das erste Beziehungsgefühl, welches das menschliche Herz nach der Ordnung der Natur anrührt. Um empfindsam und mitfühlend zu werden, muss das Kind wissen, dass es Mitmenschen gibt, die das durchleiden, was es selbst durchlitten hat […]. Wie können wir uns denn zum Mitleid bewegen lassen, wenn wir uns nicht unserer selbst entäußern und uns mit dem anderen Tier identifizieren, indem wir sozusagen uns verlassen, um das seine anzunehmen? So wird niemand empfindsam sein, wenn nicht seine Einbildungskraft lebendig wird und beginnt, ich aus sich heraustreten zu lassen.“ 231

Eigene Erfahrungen aus den letzten Jahren: Lenin, der fünfzehnjährig Kater aus der Nachbarschaft bei Silvana und Andreas Pöschel. Er ist Freigänger, tags und nachts auf seinen eigenen Pfaden durch die Gärten und auch über die Straße in den Wald unterwegs. Er kennt mich, bleibt aber immer vorsichtig und reagiert sofort auf distanziertes Verhalten, das ich manchmal zeige, wenn ich keine Zeit für ihn habe. Er richtet seinen Blick auf mich, als ein Wesen mit einer bestimmten Funktion. Gehe ich rasch an ihm vorbei, wenn er auf mich wartet oder mich abpasst, wenn er die Geräusche des einfahrenden Autos in meine Garage hört, so lässt er mich vorbei und wendet sich ab. Aber wenn ich mich ihm zuwende und zu ihm spreche, so antwortet er auf Katzenart miau und läuft vor mir her zur Haustür. Es ist ein bestimmtes Ritual. Er geht voran durch die Tür, sichert und schnuppert an den Dingen herum und wartet auf das Schälchen Milch, das ich ihm – immer vor die Haustür – hinstelle. Ich sage: Milch, Milch, Lenin – und er läuft rasch zur Milch durch die Haustür, die ich ihm aufhalte. 231

Émile oder die Erziehung, Stuttgart (Reclam) 1970, 461. 116

Artus, der Labrador in der Chemischen Reinigungsfiliale und Änderungsschneiderei von Karin Großpietsch. Meistens liegt er im Halbschlaf hinter der Theke. Wenn ich den Laden betrete und sich unsere Blicke begegnen, so sehe ich seinen direkten, Wiedererkennen signalisierenden Blick. Er steht auf und sucht sein Spielzeug, ein Plüschtier, eine Schildkröte, das er dann vor meine Hand hält und im letzten Moment wegzieht, wenn ich zugreife. Er ist kräftig und in der Regel zu schnell für mich; meistens bleibt meine Hand leer. Gelegentlich lässt er – so kommt es mir vor – doch zugreifen. Und wenn ich nachlasse, weil mir doch nichts gelingt, brummt er aufreizend und stößt mich mit der Schnauze an, ich soll endlich den nächsten Spielzug wagen – trotz allem Frust des Misslingens. Zwar ist dieses Spiel auch ein wiederkehrendes Ritual mit festen Regeln, aber es hat einen anderen Grundzug als beim Kater Lenin. So viel zu dem mich leitenden Vorverständnis, lebensgeschichtlich berichtet. An welchem Punkt ist das Projekt angekommen? Was hat die Untersuchung historischer und gegenwärtiger Positionen erbracht? Soll Schopenhauer das letzte Wort haben? Was ist mein eigenständiger Beitrag zur Sachklärung? Es geht um das mögliche Fundament der Ethik in der Anthropologie, die aus der Formal animal rationale spricht. Liegt darin nicht eine tiefe, vielleicht nur mystisch auszudeutende Gemeinschaft der Lebenden auf Erden, und möglicherweise darüber hinaus? Es wäre eine Alternative zu dem universalen Anspruch der sittlichen Vernunft, wie ihn Immanuel Kant vertrat: Er schloss ja Götter und außerirdische Lebensformen mit Vernunft ein. Derrida, Tugendhat und insbesondere Ulrich Pothast haben gezeigt, wie sich ein Paradigmenwechsel einleiten ließe im philosophischen Denken über den Menschen, der die gängige Orientierung am Bewusstsein und dem für das Menschsein maßgeblichen Selbstbewusstsein hinter sich lässt. 117

Bringt das eine neue Qualität in die Interpretation der alten Formel? Und hat das auch die Kraft zur Begründung einer ethischen Einstellung zum menschlichen Leben und zum Leben der anderen Lebewesen (bzw. Tiere)? Wenn sich die Ethikbegründung allein auf die spezifische Differenz zur Animalität stützt, dann ist die Differenz Tier – Mensch von vornherein konstitutiv für Grundlegung von Ethik. Wie wäre es, wenn das entscheidende Merkmal nicht eine wie immer ausgestaltete allgemeine Rationalität, sondern so etwas wie eine „lebendige Vernünftigkeit“ sein könnte? Zu dieser unkonventionellen These kann hinführen, was Ulrich Pothast in seinen beiden Büchern in den philosophischen Diskurs der Gegenwart eingebracht hat. Sein Grundwort „spüren“ öffnet den Zugang zu dem, was uns, wie er selbst sagt, mit den höheren Tieren verbindet. Es liegt oder kann im genus der Definition liegen, das Gemeinsamkeit stiftet. Das allerdings wäre nicht neu. Neu ist, dass aus diesem Gemeinsamen (animal), sozusagen aus dem gleichen Grund und Boden, das Leitmotiv für die Definition der Rationalität entwickelt wird – im Spüren. Anders gesagt: Was auch das Rationale, als die differentia specifica, in ihren tieferen Schichten konstituiert, könnte sich auch in eine ethisch relevante Komponente ausprägen. Hier wird der Buchtitel Lebendige Vernünftigkeit von Pothast sprechend: „Die Frage, ob Spüren immer bewusst sei, erscheint schwierig wegen der Vieldeutigkeit von ‚bewusst‘. Ich unterscheide Spüren, das der spürenden Person selbst zur Bekanntschaft kommt oder bekannt ist, bzw. war, von anderem Spüren, das ihr unbekannt bleibt (sei es zeitweilig oder dauerhaft). Dabei unterstelle ich nicht, das letztere Spüren gehöre immer schon zu einem Sonderbereich des Psychischen, z.  B. dem, was Freud das ‚Unbewusste‘ nannte, welches von der Bekanntschaft der Person durch spezielle Instanzen, z. B. genannt ‚Zensur‘, abgeschirmt ist“.232

Spüren ist nach Pothast ein „Zusammenhang“, aus dem gelebt werde, Entscheidungen getroffen würden – aber der Zusammenhang selbst sei niemals transpa232

Ulrich Pothast, Lebendige Vernünftigkeit, a.a.O. 84. 118

rent. Er steuert, stellt sich dar in „Bekanntschaft“ (ein Ersatzwort für das, was üblicherweise Bewusstsein genannt wird). Aber von dieser Bekanntschaft könne nicht zurückgeschlossen werden auf eine mögliche Tiefenschicht in unserem Innern. Das Verhältnis zum Organischen von uns, zum Vegetativen in uns, sei und bleibe „undurchdringlich“. Allerdings dürfe vermutet werden, dass andere höhere Lebewesen „ähnlich spürend“ sich in ihren komplexen Leistungen verhalten.233 Ulrich Pothast leitet daraus ab, dass Entscheidungen, die wir zum Handeln treffen, in ihren Motiven uns nicht direkt verfügbar sind. Jedoch – und das ist ein wesentlicher Punkt – kann die Lenkung unseres Handelns indirekt erfolgen. Indem wir uns nämlich fragen, ob bestimmte Entscheidungen mit dem übereinstimmen, was ich als meine Identität weiß, als meinen „Charakter“. Dabei kann ich mich als „frei“ erfahren. Es ist, wie bereits oben dargestellt, eine Grundthese von Ulrich Pothast: Wir können uns in unserem „Innern“ nicht beobachten. Die Metaphorik, die wir in diesem Sinne ständig gebrauchen, ist der äußeren Wahrnehmung entnommen und täuscht eine uns nicht mögliche Selbsterfahrung vor. Nur durch Sprache ist es uns möglich, ein relativ stabiles Feld zu formieren, in dem wir uns bewegen und mit uns selbst auseinandersetzen können. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Beobachtung des Autors, Schopenhauer sei der Denker, der am deutlichsten gegen direkte Selbstverfügbarkeit argumentiert habe: Menschliches Wollen sei so beschaffen, dass wir zwar tun könnten, was wir wollen, aber nicht wollend über unseren Willen verfügen könnten – so wie über unser körperliches Tun.234 Durch Sprache also können wir nach Pothast überlegte Formung unseres Verhaltens erreichen, etwa zu „Sympathie mit Mitlebenden“. Positive Eigenschaften der Mitlebenden zu suchen und zu finden fördere ein „Klima spürender Sympathie“.235 Das wäre eine mögliche Basis von Ethik. Es öffnet sich eine Perspektive dafür, die im genus animal Fuß fassen könnte. 233 234

235

Ebd. 94, Anm. 86. A.a.O. 100. Mit Verweis auf Schopenhauers Preisschrift über den Willen, 2. Kapitel: Der Wille vor dem Selbstbewusstsein. Ebd. 101. 119

Dies geschieht aber individuell und erscheint wie ein supererogativer Akt. Es fehlt die Basis für universelle Geltung. Wie ließe sich eine Alternative rechtfertigen zu dem sittlichen Vernunftprinzip von Kant, das sich im kategorischen Imperativ als ein transhumanes, aber auf Vernunftwesen ausgerichtetes Sollen, bzw. heiliges Wollen ausprägt? Tugendhat hat im menschlichen Altruismus zwei Formen unterschieden: den moralischen Altruismus (geboten, normativ) und den gefühlsmäßigen Altruismus (spontan, nicht durch Gebote vermittelt). Die sogenannte Mitleidsmoral ist dieser Differenz entsprechend nicht normativ verfasst und deshalb kein anderes Konzept von Moral, sondern gar keine Moral. Man sollte sie als Ethik bezeichnen, korrekterweise als Mitleidsethik.236 Ernst Tugendhat sieht das Problem und argumentiert an dieser Stelle so: Das faktische Moralbewusstsein schätzt einen Menschen, der sich mitleidig verhält, als einen guten Menschen ein – und verachtet den mitleidlosen als unbarmherzig. Wer moralische Normen aus Mitleid und Sympathie mit anderen befolgt, ist ein besserer Mensch als jemand, der sich notgedrungen oder um sich Unannehmlichkeiten zu ersparen, an moralische Regeln hält. „Das hat […] aber eine Rückwirkung auf das Mitleid selbst, indem die Moral das Mitleid zu einer moralischen Tugend macht, wird die Partikularität überwunden, die dem Mitleid als natürlichem Gefühl eignete“.237 Mit dieser Argumentation könnte man den Imperativ Schopenhauers rechtfertigen: „Neminem laede, immo omnes, quantum potes, iuva.“ Die Tugendhat’sche Argumentation trifft sicher das Mitleidsverhältnis unter human animals (anderen Tieren).238 Wenn es aber erweitert wird auf andere Lebewesen, tauchen gravierende Probleme auf. Wie sollen wir reagieren auf die natürlichen Lebensverhältnisse, in denen Raubtiere sich von der körperlichen Substanz anderer Tiere ernähren und anders gar nicht überleben könnten? Menschen können Vegetarier werden, Hunde und Löwen nicht. Warum essen wir Schweinefleisch und Rindersteaks, Hühner und Puten millionenfach, aber Kat236 237 238

Ebd. 132. Ebd. „Human animals“ ist im Deutschen nicht umstandslos wörtlich zu übersetzen, weil im Attribut „human“ sofort der normative Sinn dominiert. 120

zen nicht? Warum schlagen wir bedenkenlos Fliegen und lästige Insekten tot, mussten aber den Ekel erst zu überwinden lernen, wenn sie uns auf dem Teller serviert werden? Wie sind diese und andere eingelebte Differenzierungen ethisch zu rechtfertigen?

15.1 Andere Tiere halten und verzehren: Peter Bieri und Michael Hampe In der philosophischen Literatur der Gegenwart finden sich Vorschläge, sich dem Problem der Ernährung von anderen Tieren zu nähern. In dem Abschnitt „Schlachthöfe“ seines Buches Eine Art zu leben kritisiert Peter Bieri nicht das Töten von Tieren. Er hält es für verwerflich, Tiere nur als Mittel zu menschlicher Ernährung leben zu lassen. Von Geburt an würden sie in künstlicher Umgebung gehalten, sodass sie niemals etwas anderes sein könnten, „als Vorstufe zu essbarer Ware im Supermarkt“. Peter Bieri nennt diese Behandlung von Schlachttieren „würdelos“. Notabene: die Behandlung. Geht das nun auf menschliche oder auf tierische Würde? „Und wenn wir es so empfinden, dann deshalb, weil wir den vorhin besprochenen Maßstab anlegen, dass die Würde darin besteht, nicht nur als Mittel, sondern auch als Zweck in sich selbst behandelt zu werden“.239 Hebt hier Peter Bieri den Speziezismus Kants auf zugunsten von Tieren? Wenn er das tut, dann scheint er es nicht zu bemerken. Er zieht in seinem Buch über Würde keine Konsequenzen daraus. In dem Kapitel über „moralische Integrität“ wird die altruistische Haltung gewürdigt, aber wie selbstverständlich auf die Sphäre der Menschen eingegrenzt. „Ich habe mir seine Bedürfnisse zu Eigen gemacht und sie über die meinen gestellt. Das ist das klare Zeichen moralischen Handelns und der Kern moralischer Achtung und Rücksichtnahme: dass die Interessen anderer für mich ein Grund sein können, etwas zu tun oder zu lassen.“

239

Peter Bieri, Eine Art zu leben, München 2013, 28f. 121

Wenn ich mir die „Bedürfnisse [des anderen] zu Eigen“ mache, dann entsteht das, was Peter Bier nennt: „moralische Intimität“ (268). Ein Beispiel führt er an für Verletzung der Würde anderer Menschen und auch der eigenen: Der Besuch der alten Dame (der Umgang der Dorfbewohner mit Alfred Ill. im Drama von Friedrich Dürrenmatt).240 Bieri merkt im Anhang an, dass er zur selben Zeit, als er dies schrieb, ein Buch von Michael Hampe las und erstaunt war, wie ähnlich Hampes Gedanken, bis in die Formulierung hinein, den seinigen waren. Gesprächspartner Bordmann bei Hampe im Dialog, etwas nostalgisch: „Bestellt der Bauer noch das Feld  … Früher konnten die Menschen den Tieren, auch denen, die sie verspeisen, noch ins Auge sehen. Der Blick zwischen Mensch und Tier ist verschwunden von der Welt. Wir züchten und füttern die Tiere und schaffen ein, wenn auch schwaches Vertrauen in die Umgebung, in der sie zunächst leben. Und wir tun dies allein zu dem Zweck, sie am Ende zu töten und zu verspeisen. Schon ihre Zeugung ist ein Mittel zu unserer Ernährung. Nichts an ihnen ist noch ein Selbstzweck. […] Das gejagte Tier lebt sein Leben, bis der Jäger es aufstöbert. Dann kommt es zu einem Wettkampf von Jäger und Gejagtem. Das Mastkalb entsteht nur, weil wir Menschen das wollen. Es stirbt ohne einen Wettkampf, es stirbt ohne die geringste Chance, auch nur eine Sekunde ein Leben für sich selbst zu führen, das nicht durch unsere Interessen eingeklammert ist.“241

Was die beiden Autoren gleichsinnig einklagen, kann eine Argumentation vorbereiten, die einen ethisch gerechtfertigten Zugang zur Zuchttierhaltung öffnet.

240 241

Ebd. 265ff. Michael Hampe, Tunguska oder das Ende der Natur, München 2011, 108 ff. 122

16 Vorläufige Beurteilung der Problemlage und ein sachlich motivierter Rückblick auf Spinoza Kommt es auf Leidensfähigkeit (nach Jeremy Bentham) bei den Lebewesen an, zu denen selbstverständlich das Lebewesen Mensch gehört, so rückt in der spezifischen Differenz der human animals zu den non-human animals die Fähigkeit des Mitleidens (compassion) zentral ins Blickfeld. Das ist der Differenzpunkt, der zum Thema wird nach der prinzipiellen Umstellung von Sprachfähigkeit auf Leidensfähigkeit in der Anerkennung von Mitgliedern der moralischen Gemeinschaft. Mit der Umorientierung des Moralzugangs über das Leiden bleibt in der Fähigkeit zum Mitleiden die Sonderstellung des Menschen innerhalb des Tierreichs erhalten, aber mit anderer Begründung. Ihr Status wird prekär. Die prinzipielle Orientierung, die sich in den bisherigen Erörterungen philosophischer Positionen abzeichnete, ist die aus der Formel animal rationale ableitbare Integration des Tieres Mensch in die Lebenswelt der Natur. Die daraus sich ergebende mögliche ethische Orientierung bestünde in einer tief und substanziell gegründeten Solidarität mit allem, was lebt. Wir können in der Philosophie der Gegenwart Indizien und Anhaltspunkte für eine endlich sachgemäße Interpretation der Animalität des Menschen und eine Korrektur der spezifischen Differenz in Gestalt einer durch Mitleiden lebenskonform strukturierten Rationalität – wie sie Ulrich Pothast als „lebendige Vernünftigkeit“ analysiert und entfaltet hat –, ausmachen. Für diesen Grundgedanken eines durch Vernunft geformten Mitleids gibt es ein klassisches Vorbild: Im vierten Buch der Ethica more geometrico demonstrata von Spinoza den Lehrsatz 50.

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Dort heißt es: „Commiseratio in homine qui ex ductu rationis vivit, per se mala et inutile est.“ Spinoza geht dabei aus von seiner Definition des Mitleids als Affekt der Tristitia – und insofern schlecht, weil mit Unlust verbunden. So weit die Propositio. In der Demonstratio wird anhand eines abstrakten, aber begrifflich relevanten Beispiels erläutert: Einen Menschen aus seinem Elend (miseria) zu befreien, was eine gute Tat ist, das tun wir ex solo rationis dictamine aliquid, quod certo scimus, bonum esse. Der Gedanke Spinozas dabei ist, dass der Affekt grundsätzlich nicht wissensgeleitet vom Guten agiert. Er kann, wie Spinoza im Scholium ausführt, durch Tränen bewegt werden zu einer Tat, die wir später bereuen (was bei der rational vom Wissen des Guten geleiteten Tat nicht der Fall ist). Allerdings: Wer weder durch Vernunft (ratio) noch durch commiseratio dazu bewegt wird (movetur), anderen zu helfen, der werde zu Recht inhumanus genannt – ein unmenschlicher Mensch also.242 Es kommt darauf an, den Nebensatz „qui ex ductu rationis vivit“ so zu lesen: Nur die Vernunft erlaubt es, etwas als gut zu erkennen, dem wir handelnd folgen („quod certum bonum esse“). Denn dem Mitgefühl im Mitleiden nachzugeben, bedeutet stets auch, einer Täuschung zum Opfer zu fallen (den falschen Tränen z. B.). Das heißt aber in der Konsequenz, dass Spinoza das tätige Mitleid als zentrale Eigenschaft der Menschlichkeit eines Menschen ansieht, unter dem normativen Anspruch des Wortes Mensch.243 Wesentlich zur Interpretation dieses Scholiums ist der Lehrsatz 51: „Favor rationi non repugnat, sed cum eadem convenire, et ab eadem oriri potest.“ Die Demonstratio lautet: Denn Gunst ist Liebe gegen denjenigen, der einem andern wohlgetan hat (nach Def. 19 der Affekte), und kann sich so auf den Geist beziehen, insofern von diesem gesagt wird, dass er tätig ist. Und der andere Be-

Spinoza, Opera. Zweiter Band, Darmstadt 1967, 361 Definition des Affektes Mitleid, 454f. Propositio 50, mit Demonstratio und Scholium. 243 S. dazu Käte Hamburger, Das Mitleid, Stuttgart 1985, 47. „Ein Verächter des Mitleids ist also Spinoza nur insofern, als es bloße commiseratio, bloße Gefühlsäußerung des Jammerns ist“ – ohne Antrieb zum Handeln zu sein. Von der Vernunft geleitet, werde das Verhalten des Menschen in diesen Situationen des Elends eines anderen zu misericordia und damit zur barmherzigen Tat. 242

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weis: Wer nach der Leitung der Vernunft lebt, wünscht auch einem andern das Gute, das er für sich begehrt (nach L. 37 dieses Teils). Tierisches Leben ist dabei außerhalb des Blickfeldes von Baruch Spinoza. Aber seine Grundthese kann zum Leitfaden durch die Problematik des Mitleidens werden.

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17 Das neue Denken in der gesellschaftlichen Situation der Gegenwart: Grundgesetz Artikel 1 Es sind bisher nicht begangene Denkwege, die Derrida, Tugendhat und Pothast in der europäischen Philosophie, Christine Korsgaard und Martha Nussbaum im angelsächsischen Kulturraum, uns aufzeigen. Sie eröffnen neue Möglichkeiten für das endlich sachgerechte Verständnis der alten Formel animal rationale, sie befreien die Logik von genus und differentia specifica aus der theologischen und damit auch aus der anthropozentrischen Befangenheit. Die neuen Denkimpulse, die in der Philosophie der Gegenwart wirken, schaffen allerdings eine ungewöhnliche Problemlage. Es entsteht eine Konfrontation mit dem in der Gesellschaft verankerten und im deutschen Grundgesetz als Verfassungsnorm in Artikel 1 vorgegebenen Satz von der Würde des Menschen. Adorno hatte, wie oben zitiert, auf die Problematik dieser Auszeichnung mit scharfer Kritik aufmerksam gemacht. Die Unantastbarkeit der Würde des Menschen normiert die Aufgabe aller staatlichen Gewalt: diese Würde zu achten und zu schützen. Die ehrenwerten Bestrebungen im Tierschutz, die Sorge um das Tierwohl in der Landwirtschaft, auch die philosophische Tierethik setzt in der Regel die substanzielle Differenz von Mensch und Tier voraus. Gemessen daran sind die Ansätze, die im Umgang mit der alten Formel animal rationale neue Wege suchen, ein esoterischer Aufbruch, der sich fernab vom öffentlichen Bewusstsein ereignet.

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18 Hermeneutisch naheliegender Exkurs: eine signifikante Erfahrung Eine Erfahrung hat bei mir die Auffassung, die in der Rede von Menschen und andere Tieren prägnant ausgesprochen ist, auf die Probe gestellt. Was aber den grundsätzlichen Punkt zum Mitleid mit anderen Tieren angeht, macht sie mich befangen und unsicher. Ich unterbreche hier den wissenschaftlichen Diskurs und berichte aus persönlicher Erfahrung, um in meinem Empfinden der Relevanz des Mitfühlens nachzuspüren. Es geschah am 13. August 2014. Da lief mir auf der Friedhofstraße in Brackwede ein Eichhörnchen unter das Auto. In letzter Sekunde sah ich das Tier, konnte weder bremsen noch ausbrechen. Ich hörte einen leichten Schlag und sah im Rückspiegel, dass das Tier liegen blieb. Auf der Weiterfahrt war ich irritiert. Um ein Haar hätte ich eine rote Ampel übersehen, erfasst von Mitgefühl, einer Mischung aus Ärger und banger Frage: Warum musste das Tier just in diesem Bruchteil einer Sekunde die Straße überqueren? Auch Scham darüber, dass ich weitergefahren bin – im Bewusstsein, das Eichhörnchen sei tot. Sicher spielten auch die Kleinheit des Tiers und der Abstand zu dem Tier, das ich selber bin, eine Rolle. Es war sein Schicksal. Wenn ich mir das Geschehen notiere, etwas über das Mitleid mit anderen Tieren, werde ich vielleicht früher davon loskommen. Eine Art Selbstdistanzierung, aus unterschwelliger Beklemmung: Ich sah später ein Fußballspiel im Fernsehen, das lenkte mich ab. Es half mir auch, dass ich in dem Roman von Wilhelm Genazino weiterlas: Bei Regen im Saal.244 Es half mir, beim Nachdenken und Notieren eine Erzählhaltung einzunehmen, wie ich sie von Genazino kenne. Ein entlastender Gedanke mel-

244

Wilhelm Genazino, Bei Regen im Saal, München 2014. Es gibt bei Wilhelm Genazino eine oft wiederkehrende Erzählfigur. Sein Ich-Erzähler berichtet, wie er etwas tut oder denkt, aber im gleichen Augenblick sich zögernd eingesteht, dass er es doch nicht wollte – und von sich zurücktritt und sich quasi objektiv mustert. 127

dete sich: Es hatte mich niemand gesehen. Ich würde nicht zur Verantwortung gezogen. Es wäre auch nicht Fahrerflucht. Und ich schämte mich, dass mich eine solche Überlegung vorübergehend beruhigte. Ein anderer Gedanke traf mich unvermittelt und ließ mich an dem zuvor auf esoterischer Ebene gerechtfertigten neuen Sprachgebrauch zweifeln: Was wäre, wenn mir ein „anderes Tier“, ein human animal ins Auto gelaufen wäre? Nicht auszudenken! Aber es war ja nur ein Tier – der Satz ging mir durch den Kopf – und zu meinem Schrecken führte der Satz einen Trost mit sich. Am Ende merkte ich, wie es mir half, das Geschehene ins Literarische zu heben – in einem Reflexionsgestus distanzierter Selbstbeobachtung, den ich von Genazino übernahm.

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19 Konsequenzen für eine begriffliche Lösung des Ethikproblems auf der Basis der alten definitorischen Formel Die Erfahrung ließe sich, mit variablen Situationen und Tierbegegnungen, verallgemeinern. Wie ist sie in ethischer Hinsicht einzuschätzen und in eine mögliche Rechtfertigung der Basis-Argumentation mit animal rationale einzubringen? Es ist allerdings eine Erfahrung der Zwiespältigkeit, auch der Entzweiung mit sich selbst. Albert Schweitzer hat sie mit realistischem Blick auf die Lebensverhältnisse benannt, auf der Basis seiner christlichen Auffassung von der Sonderstellung des Menschen, aber mit Haltung des Erbarmens für Tiere. Es kommt nun darauf an, eine schlüssige Begründung für Mitleidsethik zu suchen, die das bisher Erarbeitete konzeptionell ernst – und die ungelösten Probleme aufnimmt, in der Absicht, sie weiter zu bedenken und vielleicht zu lösen. Als eine erste und elementare Ebene der Argumentation für jegliche Formierung einer Mitleidsethik hat die von Jeremy Bentham ausgerufene Verabschiedung von Sprache und Verstand zu gelten. Sie verwirft die Grundkriterien der Abgrenzung des Menschen gegen Tiere. Seine Einsicht in die Leidensgemeinschaft der Lebewesen hebt die traditionelle Grenze auf und die Animalität des Menschen wird zum substanziellen Bindeglied mit den anderen leidensfähigen Lebewesen. Die Frage nach der Goldenen Regel wird durch die Verwandtschaft in der Leidensfähigkeit angeregt. Diese Verwandtschaft im Körperlichen ist alles andere als abgründig; sie strahlt auf das Ganze des menschlichen Daseins aus – und sie kann eine Solidarität mit allen leidensfähigen Lebewesen begründen. Was aber in der Goldenen Regel notwendige Bedingung ihrer Geltung zu sein scheint, ist die 129

Kontraktfähigkeit. Sie enthält Gegenseitigkeit und sie ist auf den Binnengebrauch unter Menschen und ihre Interaktionen formuliert. Nun könnte man dagegenhalten: Die Goldene Regel als Regel der Reziprozitätsformel ja, aber sie muss sich nicht in einem realen Gegenüber erfüllen (deshalb ist sie auch nicht einfach dem Kontraktualismus zuzuordnen, sondern dem Leidensund Tun-Zusammenhang. Denn das Leiden ist, in der Relation zum Tun, antizipierbar, durch Leidensprojektion auf Lebewesen, die nicht wie die Spezies Mensch sprachfähig sind. Außer der mangelnden Reziprozität bei transspezifischer Anwendung findet sich noch ein weiteres, triftiges Gegenargument bei Rousseau: Die erhabene Maxime „Tue anderen, wie du willst, dass man dir tue“, eine durch Vernunft erschlossene Gerechtigkeit, beruhe auf der Sorge für das eigene Wohl, mit dem geringsten Schaden für andere.245 Dieses Argument bezieht sich direkt auf den Tun-Leidens-Zusammenhang. Die zweite Ebene betrifft die für Moral notwendig scheinende Regelfähigkeit. Das aus der Leiblichkeit aufsteigende Mitleid sollte eine rationale Regelform annehmen. Wie sollte das gehen? Wie verhält sich Mitleid, das aus dem Mitleben kommt, das aber auch unterdrückt oder gar ignoriert werden kann, zu den besonderen Ansprüchen und möglichen Einsprüchen der Vernunft? Ließe sich eine Begründung finden für den Vorschlag einer moralischen Grundregel, den Schopenhauer macht – einmal unabhängig von der Art, wie Schopenhauer ihn einführt, im Ausgang von neueren Philosophie-Entwürfen: „Neminem laede, immo omnes quantum potes, iuva“? Ernst Tugendhat hatte erklärt, Mitleid sei keine moralische Tugend, der Ausdruck Mitleidsmoral also irreführend. Denn Mitleid könne nicht durch eine Regelung irgendwelcher Art hervorgerufen werden. Mitleid empfinde man unvermittelt und spontan. Er argumentiert aber, wie bereits ausgeführt, für eine vermittelte Aufnahme der spontanen Empfindung als ethische Triebfeder, die hochgeschätzt wird und in die Auffassung von Moral hineinwirkt. Tugendhat macht darauf aufmerksam, dass wir jemanden, der jemandem oder auch einem anderen Tier hilft,

245

Zitiert in: „Das Mitleid“, Insel TB, Frankfurt 1999, 86. Aus Diskurs über die Ungleichheit, Paderborn 1997. 141–151. 130

dann als moralisch schätzen und ehren, wenn er mitleidig ist – und nicht, wenn er das sozusagen nach Vorschrift täte. Wie aber sollen wir das Phänomen bewerten, das uns beim Mitleid, vor allem bei Politikern, oft begegnet: Mitleid wird als ehrenrührig empfunden und empört zurückgewiesen. Vom Mitleidigen aus kann es beispielsweise heißen: Mit dem kann man nur noch Mitleid haben. In solchen Reaktionen und Redeweisen ist echt empfundenes Mitleid nicht im Spiel, sondern die Empfindung wird polemisch verwendet oder, in der Zurückweisung, mehr oder weniger als Polemik durchschaut. Diese Formeln des Umgangs mit Mitleid sind beschränkt auf die interaktive Binnensphäre der Menschen.

19.1 Ein Vorschlag zur Universalisierung in der Mitleidsethik – nicht durch Vernunft vermittelt: Walter Schulz Einen Zugang zur Mitleidsethik, der sie als „Gegensatz zur Vernunft“ vorstellt, eröffnet der Philosoph Walter Schulz in seiner groß angelegten Untersuchung über Philosophie in der veränderten Welt.246 Sein Ausgangsgedanke schließt sogleich eine mögliche Universalität des Mitleidens auf. Nicht, wie bei Tugendhat, über Integration in eine moralische Regelung. Schulz sieht die Anlage zur Universalität darin, dass Mitleid sich nicht auf eine bestimmte Person richtet, sondern auf den Leidenden als Leidenden. Und er bringt Mitleiden in einen gemeinsamen affektiven Ursprungsbereich mit Grausamkeit; auch sie ist apersonal. Als Beispiel führt Schulz die regulären Kriegshandlungen an, in denen der Feind als Angehöriger einer feindlichen Gruppierung getötet wird – nicht einer bestimmten Person gilt die Feindseligkeit. Wird ein Wehrloser nicht gefangen genommen, sondern getötet, dann ist das Grausamkeit, auch vielleicht als Rache für die Tötung von Kameraden durch ein feindliches Kommando. 246

Walter Schulz, Philosophie in der veränderten Welt, Büchergilde Gutenberg, Lizenzausgabe von Günther Neske, Pfullingen, 1972, 749–751. 131

Diese Analyse hat eine besondere Relevanz für die adäquate Begründung einer Mitleidsethik, weil sie plausibel machen kann, Mitleid als in unserer Animalität beheimatet zu verstehen. Schulz zitiert in diesem Zusammenhang Schopenhauer, der das Aufheben der Schranke zwischen Ich und Du – mit der Entkräftung des Egoismus, ja seiner Tilgung, ein Mysterium genannt habe.247 Aber in diesem Mysterium liegt ein realer Sinn, der nicht geheimnisvoll ist. Indem wir uns, in der Leidensgemeinschaft mit anderen Lebewesen, verbunden wissen, wächst eine Gegenkraft gegen den angeborenen Egoismus der Selbstbehauptung in unserer Animalität, die nun selber ethisch bedeutsam wird. Diese Gegenkraft können wir als Tugend des Mitleidens identifizieren.

19.2 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter: interpretiert von Ruth Eva und Walter Schulz Ergänzend zur großen Darstellung zur „Weltverantwortung“ von Walter Schulz ist die triftige Argumentation von Ruth Eva und Walter Schulz in ihrer Interpretation der biblischen Geschichte vom barmherzigen Samariter zu erwähnen und zu würdigen. Sie findet sich in dem Beitrag der beiden Autoren zum „barmherzigen Samariter“ in dem von Walter Jens herausgegebenen Taschenbuch.248 Ruth Eva und Walter Schulz gehen von der These aus, dass diese berühmte Geschichte ein in seinem Reichtum kaum Ausschöpfbares sei und für Ethik äußerst ergiebig. Als Erstes ersetzen sie das Wort „barmherzig“. Es impliziert Herablassung und gnädige Zuwendung: Barmherzig und gnädig ist der Herr – also ein Herrschaftsgefälle. Das ist beim Samariter nicht der Fall. Darum ist das Wort Mitleid – und mitleidig – für sein Verhalten passender.

247 248

Schulz, Philosophie. a.a.O. 751. Walter Jens (Hrsg.), Der barmherzige Samariter, Stuttgart 1973, 75–83. 132

In einem historischen Exkurs besprechen die Autoren dann die Rolle des Mitleids in der neueren Philosophiegeschichte. Meistens wird es negativ eingeschätzt. Es werden die Hauptmotive für eine solche Beurteilung benannt: Mitleid ist ein Gefühl. Es ist als solches unzuverlässig wie jeder affektive Zustand. Eine für alle gültige Vernunftnorm ist ihm als Maßstab jederzeit überlegen. Das ist Kants Argument, gemeinsames Fühlen von Schmerz ergibt keine Verbindlichkeit über die Einzelsituation hinaus. Das Mitleid ist immer vom Anlass im Einzelfall abhängig. Die Schulzens zitieren Hegels Analyse des Liebesgebots in der Phänomenologie des Geistes, im Abschnitt über gesetzgebende Vernunft: Wesentliches Wohltun ist immer das allgemeine Tun des Staates. Was hingegen Empfindung sei, das entspreche zufälliger und augenblicklicher Nothilfe. Was, wie das Liebesgebot, beim Sollen bleibe, habe keine Wirklichkeit, drücke nicht aus, was an und für sich ist, „wie es als absolutes Sittengesetz sollte“.249 Die antike Tradition mit heroischer Ethik lobt den starken Menschen, die „große Gesundheit“ (Nietzsche). Schwache und Kranke werden bemitleidet – das wäre eine abwegige Auszeichnung des Ungesunden. Demgegenüber ist, wie Schopenhauer das erklärt hat, die Paradoxie des Mitleids zu erkennen: Seine Einzelfall-Bezogenheit hat nämlich universalen Charakter, es bezieht sich auf die leidende Kreatur als solche, auf den Leidenden als Leidenden.250 Nietzsche gilt als Verächter der Mitleidsethik, aber ähnlich wie bei Spinoza ist das nicht so eindeutig.251 In der Zarathustra-Rede „Von den Mitleidigen“ im zweiten Teil von Also sprach Zarathustra beginnt die Anrede an die Zuhörer mit befremdlichen Sätzen wie diesem: „Ihr Erkennenden wandelt unter Menschen als unter Thieren“. Der Mensch heiße das Tier mit „roten Backen“ – und die roten Backen werden erklärt aus oftmaliger Scham. Aus dem Kontext ist zu erschließen: Die Menschen sind beschämt, weil sie oft Adressaten von Mitleid wurden. Die Mitleidigen sind selig in ihrer Barmherzigkeit, erklärt Zarathustra: Sie schämen sich nicht, wohl aber beschämen sie andere, denen sie sich in ihrem Leiden zuwenden.

249 250 251

G. W. F. Hegel, Theorie Werkausgabe, Bd. 3, Frankfurt 1970, 314f. Walter Jens, a.a.O. 82. Dazu Käte Hamburger, Das Mitleid, a.a.O., II. Die Mitleidsverächter, 42ff. 133

„Muss ich mitleidig sein, so will ich’s doch nicht heißen und wenn ich’s bin, dann gern aus der Ferne.“252 Zarathustra wünscht sich vom Schicksal „Leidlose“ auf seinem Weg. Das deutet an: Mit Leidenden konfrontiert, würde er Mitleid haben: „Man soll sein Herz festhalten, denn lässt man es gehen, wie bald geht Einem dann der Kopf durch“, lässt uns Zarathustra wissen. Mitleid bleibt eine Versuchung: „Das Herz festhalten“ spielt auf Herzensgüte an, die sich beim Anblick von Leiden meldet. Nietzsche beschreibt – in der Zarathustra-Rede etwas verklausuliert – einen beständigen Konflikt: Wer mitleidig hilft, vergeht sich am Stolz des Bemitleideten.253 Sogar Gott hält Zarathustra nicht gefeit gegen Mitleid: „Gott ist todt; an seinem Mitleiden ist Gott gestorben“.254

252 253 254

Friedrich Nietzsche, SW (Studienausgabe), Bd. 4, 113. Ebd. 114. Ebd. 115. Dazu vom Vf.: „Wir sahen, wie er ein liebevoller Vater wurde, ein allgemeiner Menschenfreund … Kann die Theologie als Anthropologie überleben?“ WuD 24 (1997), 51–6V. 134

20 Mitleid und „Beileid“ Nach auffälligen Positionen in der Philosophie der Gegenwart, die den alten Sinn der Formel animal rationale neu erschließen lassen – anders gesagt, die ihn unbefangen in Betracht ziehen –, stellt sich jetzt die Aufgabe der Ethikbegründung auf anthropologischer Basis ebenfalls neu. Wird so das Mitleid, wovon ich überzeugt bin, im Anschluss an Jeremy Benthams Wendung zur Grundeigenschaft, die alle leidensfähigen Lebewesen verbindet, zum zentralen ethischen Motiv erklärt, dann wird zugleich die Ethik nach dem Kriterium transspezifischer Geltung zu beurteilen sein. Zunächst noch ein Exkurs auf einen Abkömmling des Mitleids: das Beileid, das konventionelle Kondolieren. Es ist originär nicht eine Bekundung der Trauer um Verstorbene, sondern eine Bekundung des Mitgefühls mit den Trauernden. Die englische Sprache hat dafür das Wort mourning – im Unterschied zu grief, was echte Trauer um die Toten bedeutet.255 Beileid kann in routinierter Kommunikation bei Professionellen zu einer Grußformel werden, wie „Guten Tag“ oder „regnerisch heute“. In Trauanzeigen findet sich öfter der Hinweis: „Von Beileidsbezeigungen am Grabe bitten wir abzusehen“. Das zeigt, wie Beileid im Sinne von mourning als Störung der Trauernden in ihrer Trauer (grief) empfunden wird und vermieden werden soll.

255

Dazu Reiner Sörries, Herzliches Beileid. Eine Kulturgeschichte der Trauer, Darmstadt 2012. Das Buch führt das Beileid im Titel, eine Auseinandersetzung oder auch nur eine Analyse dieser Leidformel findet merkwürdigerweise im Buch nicht statt. 135

21 Ein Innehalten: Was ist erreicht? Ein historisch-kritischer Gang in Etappen der Auslegungs- und Wirkungsgeschichte der alten Definitionsformel ist durchlaufen, aber noch ist wenig erreicht. Ein Innehalten ist geboten. Um in der Sache weiterzukommen, bietet sich eine Revision des Bisherigen an, Verlässliches suchend, das eine anthropologisch fundierte Ethik tragen könnte. Die auf Basis der sachlich korrekt interpretierten anthropologischen Formel animal rationale ethisch relevant sein kann. Was können wir von Derrida erwarten? Derridas Dekonstruktion der gewohnten Rede von Mensch und Tier lässt ihn frei werden für eine persönliche Begegnung mit einem bestimmten Tier, dem er sich in sinnlicher Präsenz preisgibt und diese Situation phänomenologisch analysiert. Es fällt jedoch auf, dass Derrida sich mit dem Begriff des „Abgründigen“, wie ihn Heidegger für die „leibliche Verwandtschaft mit dem Tier“ verwendet hat, einverstanden erklärt. Er gibt ihm jedoch eine andere Funktion und Bedeutung. Um das zu klären, müssen wir etwas ausholen. Der Logozentrismus der Tradition wird dekonstruiert. Nicht aber fällt die Grenze zwischen Mensch und Tier weg. Die Formel „Mensch und Tier“, die so plausibel und wie selbstverständlich daherkommt, hat nach der persönlichen Begegnung mit einem sinnlich präsenten Tier ihre Leitfunktion eingebüßt. Hinfällig ist die Grenze zwischen beiden Lebensformen nicht. Kontinuität käme nicht in Frage, schon gar keine homogene, aber auch keine biologistische.256 Unter diesen Umständen fragt Derrida, wie die Ränder der Grenze zu bestimmen wären. Derrida verbindet die Abgründigkeit an der Grenze mit dem, was er durch die Dekonstruktion der abstrakten Rede vom „Tier“ ermittelt hat. Ich beschreibe das Ergebnis mit meinen Worten. Als Menschen sehen wir uns einer unabsehbaren Fülle von Lebensformen gegenüber, mit denen wir durch unsere animalitas verbunden sind. Die Rede von Menschen und „anderen Tieren“ ist ungewohnt und auch provokant gegenüber der traditionellen Philosophensprache, ebenso wie der 256

Derrida, Das Tier …, a.a.O. 56. 136

alltäglichen Einstellung, verschweigt aber nach Derrida die Konfrontation, die sich mit dieser Redeweise meldet – und zwar in dem Wort „andere“. Die Blickbahn auf das Grundproblem, das die Formel animal rationale stellt, ist offenbar neu – und die Art, wie Derrida sich selbst einschätzt, jungfräulich und für zukünftige Deutung verheißungsvoll.257 Eine andere, innovativ bemerkenswerte Position, die Spürenslehre von Ulrich Pothast, kann zur Klärung des Grenzbereichs zu anderen Tieren, der „Abgründigkeit“, beitragen. Und zwar so, dass sie das zugrundeliegende gemeinsame genus animal vom Gegensatz zur Rationalität als differentia specifica befreit, der durch Bewusstseinslehren und Sprachtheorie unvermeidlich schien. Das menschlichen und höheren Tieren gemeinsame „Spüren“ schafft Solidarität in unleugbarer Differenz, die im Dunkel gemeinsamer Herkunft „spürend“ aufgehoben bleibt. Spüren hat den Doppelsinn der Empfindung von etwas (passiv) und des „Erspürens und Aufspürens“ von etwas (aktiv) in sich. Dies kann sich auch reflexiv auf das passive Spüren selbst richten – unmittelbarer als das im Nachdenken rationale Erfassen von Sachverhalten. Ulrich Posthasts Leitbegriff „spüren“ erlaubt einen unmittelbaren Zugang zu unserer Animalität. Damit auch zur Gemeinsamkeit im Sein mit Tieren. Ratio bedeutet dann nicht mehr ontologisch relevante Trennung. Sie kann vielmehr als Hilfsfunktion zur Ermöglichung von Humanität verstanden werden, die supererogatorisch im ethischen Sinne sich zeigt. Das ist das Neue. Wenn Einzelne es vorleben, wird es in der Gesellschaft als Auszeichnung gewürdigt. So bliebe die Würde des Menschen erhalten, aber als verliehene, zugesprochene Eigenschaft, von den Menschen gegenüber vorbildlichen Personen ihrer Spezies, nicht als Eigenschaft der Gattung. Dem kommt entgegen, was der Philosoph Rüdiger Bittner, unabhängig vom politisch korrekten Diskurs, in einem Buch zur Menschenwürde und in einer Broschüre zusammen mit Susanne Kaub vorgetragen hat.

Ebd. 59.

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22 Empathie und Menschenwürde: Rüdiger Bittner und Susanne Kaub Empathie wird in der Regel als humane Gesinnung beschrieben. So etwa in dem Kapitel über „philanthropische Wirkung von Erzählungen“ in dem Büchlein von Rüdiger Bittner und Susanne Kaub Moralische Erzählungen.258 Im Ausgang von Schillers allgemeinen Vorbemerkungen zum Verbrecher aus verlorener Ehre folgern die Autoren, dass Erzählungen dann moralisch wirksam werden können, wenn die Geschichte der Figuren dergestalt Empathie erweckt, dass sie „[…] zur Nachahmung anregen“ – im Falle von tugendhaften Charakteren.259 Lessing habe in der Hamburgischen Dramaturgie das Mitleid als zentrales Motiv der Tragödie gesehen. In der Tat hat sich Lessing allgemein-moralisch über das Mitleid geäußert: „Der mitleidige Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmut der aufgelegteste.“260 Bezeichnend, bei allem Lob des Mitleids und dem Aufruf ehrenwerter Zeugen, wozu auch die Briefromane des 18. Jahrhunderts gehören, ist die Verwahrung der Autoren am Schluss des Kapitels gegen eine ungeprüfte moralische Rühmung des Mitleids mit Hinweis auf Kants rationale Ethik: eine Warnung vor „moralischer Schwärmerei von Romanschriftstellern“, der eine nüchterne, weise Disziplin vorzuziehen wäre.261 Aber das Buch von Bittner und Kaub ruft noch einen anderen philosophischen Zeugen auf, ebenfalls im Anschluss an einen Lessing-Text. Sie zitieren Lessings Fabel „Die Eiche und das Schwein“ – sie preisen diese Fabel als „Bild von der Welt“: „Ein gefräßiges Schwein mästete sich unter einer hohen Eiche, mit der herabgefallenen Frucht. Indem es die eine Eichel zerbiß, verschluckte es eine

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Rüdiger Bittner, Susanne Kaub, Moralische Erzählungen, Göttingen 2014, 49ff. Bittner, a.a.O. 50. Zit. in „Vom Mitleid“, hrsg. von Ulrich Kronauer, Frankfurt 1999, 89. Quelle: G. E. Lessing, Werke und Briefe. Band 11.1, Frankfurt 1987, 117–122. Bittner, a.a.O. 59. Das Kant-Zitat aus AA V, 85 und 1. 138

andere mit dem Auge. Undankbares Vieh! Rief endlich der Eichbaum herab. Du mästest dich von meinen Früchten, ohne einen einzigen dankbaren Blick auf mich in der Höhe zu richten. Das Schwein hielt einen Augenblick inne, und grunzte zur Antwort. Meine dankbaren Blicke sollten nicht außen bleiben, wenn ich nur wüßte, daß du deine Eicheln meinetwegen hättest fallen lassen.“262

Die Autoren bemerken dazu: „Unser Schwein hat bei Spinoza studiert. Bei ihm hat es gelernt, alles, was ist, ist Natur, und die Ereignisse folgen einander mit bloßer Naturnotwendigkeit, nicht gelenkt von einem Gott, der über der Natur steht und menschenfreundliche Absichten hegt.“263

Die hier dem Schwein angesonnene Denkart unbefangener Rationalität, Natur und die Dinge in ihrem natürlichen Dasein zu nehmen, wie sie sind, ist auch Rüdiger Bittner in seiner Philosophie zu eigen. In seiner „Prüfung politischer Begriffe“ führt ihn die Thematik auch zur Distanzierung von Kant. Dies insbesondere von seiner kritischen Prüfung des Begriffs der Menschenwürde in Artikel 1GG. Sie löst sich völlig von der in political correctness gebotenen Unantastbarkeit. Aber sie passt sich in die Tendenz der gegenwärtigen Philosophie ein, wie bei Derrida, Tugendhat, Pothast und bei den angelsächsischen Autorinnen Nussbaum und Korsgaard dargestellt. Seine These: Es gibt in der Natur keine Rangfolge von höher und niedriger. Eine Würde des Menschen als solchem, als Rang in der Natur, ist unbegründbar. Rüdiger Bittner nennt Cicero als erste und prominente Quelle für die traditionell und bis heute bestimmend gebliebene Sonderstellung des Menschen: „Si considerare volumus qua sit in [nostra] natura excelentia et dignitas, intellegemus quam sit turpe diffluere luxuria et delicate ac molliter vivere, quamque honestum parce continenter severe sobrie.“

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Bittner, a.a.O. 22. Dort zitiert nach Lessing, Fabeln. Werke, hrsg. von Herbert G. Göpfert, Band 5, München 1973, 273. Ebd. 23. Verweis auf Spinoza, Ethica, Teil 1, Anhang. Darmstadt 1967, Band 2, 144– 158. Ebenso auf Ethica Teil 4, Satz 50. Anmerkung S. 454. 139

Exzellenz und Würde in uns Menschen lässt uns nach Cicero Schwelgerei und weichliches Leben erkennen – und dass wir stattdessen ein sparsames, beherrschtes, strenges und nüchternes Leben führen sollten. Hier flössen römische Vornehmheit und Stoizismus zusammen, resümiert Bittner.264 „Se pertinet ad omnem officii qaestionem semper in promptu habere natura hominis pecudibus reliquisque beluis antecedat.“265 Es seien die Tiere, über denen wir stünden, merkt Bittner dazu an. Es ist der Vorrang des Menschen, der bis in Art. 1 GG nachwirkt. Rüdiger Bittners Hauptargument bei seiner Kritik der Menschenwürde im obersten Verfassungsgrundsatz in Art. 1 GG ist das folgende: Würde kann es nur innerhalb einer Spezies geben, als Eigenschaft bestimmter Individuen oder einer Gruppe von „Würdenträgern“, die eine ausgezeichnete Stellung haben, auch beispielsweise in der Anredeform „Hochwürden“. Als Eigenschaft einer ganzen Art von Lebewesen, wie das in der Formulierung „die Würde des Menschen“ ausgedrückt ist, kann es einen solch hohen Rang nicht geben. Denn – so der Autor – in der Natur gibt es keine Hierarchie, mit etwaigem Vorrang einer Spezies vor allen anderen, es gibt kein Höher und Niedriger. Es gibt nur Anders-sein, ohne Abstufung in einer Rangfolge. Der Befund, dass es Vorränge in der Natur nicht gibt, ist nach Rüdiger Bittner kein metaethischer. Er ist nicht reflektierend, keine Einstellung, in der über die Naturverhältnisse geurteilt wird, sondern er besagt: Die Rede über eine Rangfolge in der Natur ist schlicht falsch.266 Etwas zu eilfertig lässt Rüdiger Bittner den möglichen Hinweis auf die Differenz deskriptiver und normativer Begriffe abtropfen: „Was immer ein normativer Begriff ist. Er muss als Begriff etwas sein, worunter Dinge fallen oder nicht fallen, oder anders ausgedrückt, Würde muss eine Eigenschaft sein, die Dingen zukommt oder nicht zukommt.“267

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Rüdiger Bittner, Bürger sein, Berlin 2017, 54ff. Bittner, Bürger sein, a.a.O. 54f. Zit. aus Cicero, De officiis, 1 105 und 106. Ausführlicher zum Verhältnis zu Tieren in dem Aufsatz: Abschied von der Menschenwürde, in: M Brandhorst, E. Weber-Guskas (Hrsg.), Menschenwürde, Berlin 2017, 91–112. Bittner, a.a.O. 56. Ebd. 57. 140

Dabei sei die Frage zulässig, ob diese Eigenschaft wirklich allen Menschen zukommt. Das ist ein Schwachpunkt in Bittners Argumentation. Hat er die Hume’sche Mahnung zur Vorsicht nicht vernommen oder schlägt er sie in den Wind? Das zuweilen sogenannte Hume’sche Gesetz ist in Wahrheit ein Weckruf zur Aufmerksamkeit auf einen Übergang in der Kopula von Propositionen, der sich unmerklich vollziehen kann: „from is to ought“. Dieser Übergang, in dem eine neue Beziehung (relation) und eine Behauptung (affirmation) geschieht: „[…] should be observed and explained.“ Denn, so Hume, es sei unbegreiflich, wie solche Sollens-Sätze ableitbar sein könnten von anderen, die gänzlich unterschieden sind.268 Aber dieser Komplex der Bittner’schen Kritik der Menschenwürde ist für unsere Fragestellung nicht so relevant wie die Ableitung der Vorurteile seit Cicero. Dazu gehört ja auch die Imagolehre der christlichen Theologie, von der Bittner sagt, die Gottähnlichkeit und andere naturexterne Auszeichnungen könnten nicht Grundlage der Menschenwürde sein: „Denn es ist nicht wahr, dass Gott die Menschen nach seinem Bilde schuf; oder was sonst für transzendente Auszeichnungen wir uns umgehängt haben.“269 Rüdiger Bittners Analyse der politischen Begriffe ist ein wesentlicher, ganz aktueller Beitrag zu der philosophischen Revision der in die abendländische Geschichte von animal rationale aufgeprägten Bestimmung der menschlichen Natur.270 Und dies in einer Denkart, die in bester Tradition es wagt, den Verstand zu gebrauchen.

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David Hume, Treatise of Human Nature. Book III, Part I, Section 1, Oxford-Ausgabe 469. Bittner, a.a.O. 58. Treffend charakterisiert Martina Herrmann den radikalen Revisionismus Bittners in einem kritischen Aufsatz über „Reasons for Bare Respect“: „[…] he lightheartedly parts with ethical concepts that the philosophical mainstream has taken to its heart.“ In: Action, Reasons and Reason, edited by Marco Iorio and Ralf Stoecker, Berlin 2015, 109. 141

23 Die Problemlage in abschließender Revision Nach diesem aktuellen Einschub beschreibe ich die Problemlage weiter, in der ich aufgreife, was im Bisherigen anhand der Uminterpretation der Formel animal rationale Erhellendes sich ergeben hat. Das Erste und Innovative ist der Ansatz bei der Selbstbetrachtung des Menschen als animal. Dabei ist das Unerwartete – vorweg sei das schon angedeutet – die scheinbare Übereinstimmung mit Heideggers Lehre vom „Abgründigen“ in der Verwandtschaft von Mensch und Tier. Derrida macht beim intensiven Nachdenken über das „animal que donc je suis“ eine transgressive Erfahrung, für die er den Terminus „Limitrophie“ vorschlägt. Das Wort habe den Vorzug von zugleich enger und weiter Bedeutung. Eng, weil es das bezeichnet, was die Grenzen „nährt“ (trophos), was sie generiere und was dort kultiviert werde. Weit, weil es auch das erfasst, was den Grenzen benachbart ist.271 Diese limitrophische Erforschung des Angrenzenden ebenso wie des Grenzbildenden im Verhältnis von Menschen und Tieren ist subtil und verlohnt eine Wiederaufnahme im letzten Akt meines Projektes. Das Subtile ist der Ausgang von L’animal que donc je suis mit der Frage „spricht er“(parle-t-il)? Der Autor erkundet sein Wesen und spricht dabei von dem Tier (einem Singular mit allgemeiner Bedeutung). Was das Wort „animal“ im Französischen als Element enthält – das „mal“, ist im Deutschen nicht nachzuahmen. Derrida sieht darin eine Art Übel, das sich die Menschen am Ursprung der Menschheit eingebrockt haben. Eine Zweideutigkeit ist so in der Selbstbezeichnung des Menschen als animal rationale verankert: Er ordne sich mit dieser Identifikation einer Gattung zu, was unrechtmäßig sei. Man

Jacques Derrida, Das Tier …, a.a.O. 55.

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habe, sagt Derrida, nie und nimmer das Recht, die Tiere für „Arten einer Gattung zu halten, die man allgemein ‚Das Tier‘ nennen würde.“ 272 Lösen wir den begrifflichen Gehalt von dem anmutigen, ernst gemeinten Sprachspiel heraus, das auf die romanischen Sprachen beschränkt ist, dann zeichnet sich eine Einsicht ab mit wegweisendem Fingerzeig auf die in der alten Formel eingeschlossene Problemlage. Die Selbstbezeichnung „animal rationale“ führt nämlich dazu, „das Tier“, als das ich mich selbst in der Formel identifiziere – besser, es verführt a tergo dazu, auf die pauschalierende Redeform zu verfallen, wenn es um die Thematisierung der Lebewesen geht, die wir nicht sind. Das ist es, was Derrida mit dem Verbalelement „mal“ in animal rationale markiert: ein Übel, das die Geschichte der Differenzbestimmung von Mensch und Tier durchzieht, von Aristoteles bis auf Derridas Gegenwart. Vom Tier mit einer einzigen Stimme zu sprechen, vom Tier, das kein Wort hat, um zu „ant-worten“.273 Diese Verhältnisse aufzudecken, die mit der Selbstbezeichnung des Menschen als Tier begonnen haben, ist die zentrale Aufgabe der Dekonstruktion eines überkommenen und äußerst wirksamen Denkmusters in der abendländischen Philosophie. Es hat verhindert, den wahren Gegebenheiten unter den Lebewesen auf die Spur zu kommen. Die Frage ist jetzt: Wie lassen sich die begriffsgeschichtlichen Befunde und die beschriebenen gegenwärtigen philosophischen Positionen dem Ansatz Derridas zuordnen und was kann die Problemlage, die sich daraus ergeben mag, zu einer anthropologisch gegründeten Ethik beitragen? Eine tragende Voraussetzung sei schon einmal genannt: Die Natur im Ganzen und in ihr die Lebewesen, den Menschen selbstverständlich eingeschlossen, sind niemandem untertan, sie sind herrenlos – und in gewissem Sinn gottlos. Mit den Worten eines großen Kritikers der christlichen Theologie gesagt: „Deus sive Natura.“

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Derrida, a.a.O. 58f. S. a.a.O. 59. 143

23.1 Organismus und freies Menschsein in der Natur: Hans Jonas In den Neunzigerjahren des vorigen Jahrhunderts hat ein groß angelegter Entwurf einer philosophischen Ethik Aufsehen erregt: Das Prinzip Verantwortung von Hans Jonas.274 Weniger bekannt sind die Arbeiten, die im dem Band Organismus und Freiheit gesammelt vorliegen.275 Es sind Aufsätze aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren, mit zwei Ausnahmen ursprünglich auf Englisch geschrieben, nunmehr in Buchform nach Kapiteln geordnet. Jonas hat bei Martin Heidegger studiert und bei ihm mit einer Arbeit über „Gnosis und spätantiker Geist“ 1928 promoviert. In seiner mittleren Schaffensperiode hat er sich der Philosophie der Organismen zugewandt. Er skizziert in diesem thematischen Zusammenhang die Fragen nach dem Wesen des Menschen entlang der differentia specifica, ohne die alte Formel zu erwähnen, die von der logischen Basis animal ausgeht. Für unseren Fragezusammenhang ist wesentlich, was Jonas zum Übergang von der Philosophie des Organischen zur Philosophie des Menschen zu sagen hat (so ist das Kapitel „Überleitung“ im Buch von Jonas überschrieben). Da wählt er einen Weg, der in seinem Gedankengang nicht ans Ziel kommen kann. Aber es ist ein Weg, der eine Differenzbestimmung des Menschenwesens zum „tierischen Niveau“ erlaubt. Es ist eine Differenz, die zugleich eine Anbindung an die christliche Imagolehre zumindest assoziativ – in gewisser Weise auch integrativ – ermöglicht: „Es ist der homo pictor, ein Wesen, das sich selbst zum Objekt machen und das ein Bild von sich gestalten kann.“276 In dieser persönlichen Objektivikation liegt nach Jonas ein Wagnis, in dem – willig oder nicht – die Idee des Menschen lebt. Dieses Bild verlasse den Menschen nie – und dies so sehr, „dass es ihn manchmal nach dem Glück der Tierheit

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Das Buch erschien 1979 im Inselverlag in Frankfurt. Der Band ist 1973 mit dem Untertitel „Ansätze zu einer philosophischen Biologie“ in Göttingen erschienen. Hans Jonas, Organismus und Freiheit, a.a.O. 258. 144

zurückverlangt […]. Im Bilde Gottes geschaffen sein heißt mit einem Bilde des Menschen zu leben haben.“277 Die Erwägungen von Jonas zum homo pictor, mit der These von der dem menschlichen Wesen eigenen Befähigung, sich selbst zum Gegenstand zu machen und so ein Bild von seinem Wesen zu gestalten, erinnert an Ludwig Feuerbachs zentralen anthropologischen Befund: „Der Mensch ist nichts ohne Gegenstand“.278 Der Spiegelblick des Menschen löse ein „Wohlgefallen an seiner Gestalt“ aus. Das sei kein Akt der Eitelkeit des Individuums, sondern ein besonderer Akt der Bewunderung der menschlichen Gestalt in Form der Gattung, also der „Idee des Menschen“.279 Bei Hans Jonas, der von diesem Anklang an Feuerbach keine Kenntnis verrät, führt der Weg seiner Suche nach dem Wesen des Menschen „über die Begegnung des Menschen mit dem Sein“. Die etwas eilfertigen Gedankenschritte laufen von der Begegnung mit dem Sein zur Bedingung der Möglichkeit von Geschichte als ontologisch zu verstehender Freiheit: „Jedes als geschichtliche Begegnung erstehende Bild der Wirklichkeit schließt ein Bild des Ichs ein, und diesem gemäß existiert der Mensch, solange das Bild seine Wahrheit ist. Die im Menschen gelegene Bedingung der Möglichkeit von Geschichte aber – eben seine Freiheit – ist selber nicht geschichtlich, sondern ontologisch, und sie wird selber, wenn entdeckt, zum zentralen Faktum in der Evidenz, aus der jede Seinslehre schöpfen muß.“280

Jonas sucht offenbar Anschluss an Heidegger mit dem Hinweis auf Begegnung mit dem Sein. Die fahrige Argumentation des Weges über die Geschichte zur ontologischen Freiheit zeigt aber eines klar: Das Wesen des Menschen verlagert sich

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Jonas, Organismus, a.a.O. 261. Gottfried Benn hat dieses Glücksverlangen in seinem Gedicht Gesänge I poetisch verklärt: „O daß wir unsere Ururahnen wären, ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor […]“ Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, Erster Band, Berlin 1956, 39. Ebd. 42f. Jonas, Organismus, a.a.O. 263. 145

in die differentia specifica und entfernt sich somit entscheidend von der Logik des animal rationale. Im Epilog des Buches über Organismus und Freiheit versucht Jonas einen Ausblick auf Grundprobleme aller philosophischen Ethik. Er konstatiert: Die ontologische Frage des menschlichen Seins sei im Gesamtweltlichen neu aufzurollen. Dem modernen Schicksal einer Scheidung des objektiven vom subjektiven Sein sei durch Wiedervereinigung und zwar von der objektiven Seite her zu begegnen. Wenn auch der Mensch nach kosmischem Maßstab quantitativ unerheblich sei: Unsere innere Weite könne ein „Ereignis von kosmischer Bedeutung“ sein.281 Da ist ein ins Vage gedachtes kantisches Element (die innere Weite im Unterschied zur Unerheblichkeit im Universum) ebenso wie eine ins Unbestimmte gesetzte Anspielung auf den späten Heidegger (Ereignis für das Sein selbst). Obwohl der thematische Ansatz beim Organismus eine grundsätzliche Neubesinnung ankündigt, ist Hans Jonas in seinem Denkweg vom Organismus zur Freiheit im Bannkreis der konventionellen Impulse zur Wesensbestimmung des Menschen verblieben – allerdings mit der Einsicht in die Vorläufigkeit einer philosophischen Ethik, die auf dem Wege zu ihrer anthropologischen Begründbarkeit ist.

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Ebd. 341f. 146

24 Menschlichkeit – normativ: Alain Finkielkraut Eine Plattform für weitere Überlegungen bietet das Buch von Alain Finkielkraut Verlust der Menschlichkeit. Versuch über das 20. Jahrhundert, in Stuttgart 1998 in deutscher Übersetzung erschienen. Der Autor nimmt Bezug auf die Geschichte vom Hund Bobby, nach Emmanuel Lévinas, die auch von Derrida besprochen wurde. Er sieht in diesem Bericht eine „Vorstellung einer vom animal rationale vergessenen Menschlichkeit, einem Tier, dem der Verstand abgehe.“282 Der SS-Staat kämpfte, so Finkielkraut, gegen die Versuchungen des Mitleids, Ausnahmen zu machen, etwa bei Juden, die einem persönlich bekannt sind. So stelle sich Himmler als ein Mann dar, der seine Neigungen und Interessen opferte, um eine Sache, die als notwendig erkannt werde, kompromisslos durchzuführen.283 Prägnant formuliert Finkielkraut seine Position im Blick auf Arthur Koestlers Sonnenfinsternis und die dort dargestellte Kontroverse zwischen dem gefangenen Revolutionär Rubaschow und dem Untersuchungsrichter Ivanoff, der ihn vernimmt, über die Haltung von Mitleid und Vernunft: „Die Vernunft behauptet und verkörpert die Existenz eines abgetrennten menschlichen Reichs. Das Mitleid stellt diesen Anspruch insofern in Abrede, als es sich, wie Rousseau deutlich gesehen hat, nicht nur über die Abneigung definiert, seinen Mitmenschen leiden zu sehen. Vor allem definiert es sich über die Neigung, in jedem leidenden Wesen seinesgleichen zu entdecken. Im Namen der Vernunft maßt sich der Mensch das Recht an,

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Alain Finkielkraut, Verlust der Menschlichkeit. Ein Versuch über das 20. Jahrhundert, Stuttgart 1998, 11. Finkielkraut, a. a. O. 87. Zit. nach Heinrich Himmler, Geheimreden 1935 – 1945 und andere Ansprachen, Frankfurt 1974, 203. 147

die Menschlichkeit von der Tierhaftigkeit zu trennen, wogegen das Mitleid sich über diese Grenze hinwegsetzt […].“284

Finkielkraut bezieht diese Konsequenz zugunsten des Mitleids, die er aus der Konfrontation von Vernunft und Mitleid folgert, nicht auf die Definition des animal rationale zurück. Nach seinen Überlegungen wäre dies aber vollkommen sachgerecht und im Sinne der authentischen Logik der Formel vom substanziellen Vorrang der animalitas vor der Ratio. Die Konzeption der Menschlichkeit von Finkielkraut kann die Ausgangslage zu den abschließenden Überlegungen meines Projektes bilden, weil es meiner Überzeugung entspricht. Man muss ja nicht Eigenes sich abringen, wenn ein anderer die angestrebte Wahrheit schon ausgesprochen hat.

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Finkielkraut, a.a.O. 91f. 148

25 Humanität in der natürlichen Welt Humanität im Sinne von Menschlichkeit hat sich zu orientieren an der Zugehörigkeit zum Reich der Lebewesen auf Erden, zum Tierreich. Aber dabei ist nicht darüber hinwegzusehen, dass die Selbstbehauptung der Arten immer verbunden ist mit der lebenswichtigen Aneignung anderen Lebens, um die biologische Energie seines Körpers in sich aufzunehmen. Das ist Natur. Und wenn sich menschliches Leben dagegen sträubt – und gegen seinen Willen dem naturgegebenen Drängen zum Überleben nachgibt, so geschieht das innerhalb der Natur. Es ist natürlich, aber nicht notwendig naturalistisch. Die Annäherung an eine solche Grundhaltung lehren die philosophischen Positionen, die alte Denkformen aufbrechen, je auf ihre eigentümliche Weise. Es käme darauf an, nach einer langen Vorgeschichte der Entstellungen einzulösen, was in Wahrheit die Formel animal rationale enthält und in gewissem Sinne auch verspricht. Drei Wörter aus der lateinischen Sprachkultur können helfen, das zu entschlüsseln, worauf es schließlich ankommt: Animalitas – hominitas – humanitas: Ein Sinngebilde, das umschreibt, was schließlich zu interpretieren ansteht. Das Fundament, die animalitas, der ontologische Grund unseres Daseins, kann ein Quellgrund sein für ungezügelten Gebrauch, er kann in Anspruch genommen werden für einen rassistischen Naturalismus, der sich auf das Recht des Stärkeren und die Auslese der Besten beruft – und so sich auslebt. Er kann dazu dienen, innerhalb seiner eigenen Art, kraft seiner intellektuellen Fähigkeiten. Er kann aber auch als Quellgrund in Anspruch genommen werden für Solidarität mit allem, das lebt – einer Ethik des Mitleids, die transspezifisch ausgelebt wird. Es hängt davon ab, wie wir das Sinngefüge der animalitas mit hominitas und humanitas philosophisch einschätzen und ethisch ausdeuten. Wer eine Brücke baut zwischen Menschen und anderen Tieren, darf den Abgrund nicht scheuen. Das soll der Leitgedanke für die folgenden Überlegungen 149

zur Ethikbegründung sein. Das am meisten Irreführende wäre, den Abgrund zu leugnen. Eine Brücke schließt den Abgrund nicht. Er bleibt. Aber er wird im Begehen überwindbar und verliert das Verstörende seiner Abgründigkeit. Mit ihm wird die „leibliche Verwandtschaft“ mit anderen Tieren als natürliches Faktum hingenommen. Wir lassen damit die abstrakten Formeln hinter uns, mit der die Differenz von Mensch und „dem Tier“ bedacht und besprochen worden ist.

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26 Anthropologie und Mystik in der Ethikbegründung: Ernst Tugendhat Ernst Tugendhat ersetzte die gängige Deutung von Rationalität in der Begriffssphäre von Bewusstsein und Selbstbewusstsein durch die Sprachgeste des Ich-Sagens. Er definiert die Eigenart des Menschen als „Ich-Sager“. Die Ich-Sager haben von sich aus ein Verhältnis von „kleiner und größer“ zueinander, aber auch zum absolut Großen, zum Universum oder zum Schicksal. Tugendhat nennt das eine „anthropologische Konstante“ (für die sozialistischen Achtundsechziger ehemals ein begriffliches Schreckgespenst). Beim Verweis auf das übermenschlich Große bezieht sich Tugendhat auf Rudolf Ottos Lehre einer „spezifisch numinosen Gemütsgestimmtheit“ gegenüber dem tremendum und fascinosum.285 Auf der Suche nach einem Begründungsfeld, das eine anthropologisch orientierte philosophische Ethik wachsen ließe, wendet sich Ernst Tugendhat der Mystik zu. Ein auf den ersten Blick erstaunlicher Schritt. Dabei lässt er trotz seiner anthropologischen Wende die Entwürfe einer philosophischen Anthropologie von Max Scheler und Helmuth Plessner unberücksichtigt. Ein Grund dafür könnte sein, dass sie beide, auf unterschiedliche Weise, die Differenz von Mensch und Tier konventionell mit dem Akzent auf der Sonderstellung des Menschen abhandeln. Außerdem hat Tugendhat seit seiner Übersiedlung nach Deutschland sich kritisch an Heidegger orientiert. Er kam in Wahrheit eigens wegen Heidegger, nachdem er Sein und Zeit gelesen hatte, in das Land, das seine Eltern nach Südamerika vertrieben hatte. Es war das Werk, das Ende der Zwanzigerjahre die Arbeit von Scheler und Plessner in den Schatten gestellt hatte. 285

Rudolf Otto, Das Heilige, München 1932 (1. Auflage 1917), 13–30 (Tremendum), 43– 54 (Fascinosum). 151

26.1 Exzentrizität im Menschenwesen: Helmuth Plessner Plessner hatte mit seiner These von der „Exzentrizität des Menschen“ einen damals neuen Begriff in den Diskurs um das animal rationale eingeführt. Die Stufe der tierischen Natur bleibt auch in der Endstufe der exzentrischen Positionalität erhalten. Es kommt darauf an, das Tierische, die natürlichen Antriebe im Menschen, zu analysieren, um zu erkennen, was die Vernunft zu ergänzen bzw. zu beherrschen hat. Vor allem: Wie und wodurch ist der Übergang von den Stufen des Organischen, das immer selbstzentriert ist, zum Exzentrischen des menschlichen Bewusstseins zu erklären? Wie macht Plessner den Übergang vom Zentrismus des tierischen Bewusstseins zur exzentrischen Positionalität des Menschen verständlich – und wie ist im Menschen als animal rationale beides verbunden? Denn dass beides zusammen menschliches Leben ausmacht, ist ja evident. Die Schranke des tierischen Organismus: Ihm ist sein „Selber-Sein“ verborgen. Er ist auf die „positionale Mitte, das absolute Hier-Jetzt“ bezogen.286 Das Tier lebe aus seiner Mitte heraus, in seine Mitte hinein, aber es lebe nicht „als Mitte“. Das Tier, soweit als Leib es sich gegeben ist, kann es zentralen Impulsen physischen Erfolg verschaffen. „Aber der Gesamtkörper ist noch nicht vollkommen reflexiv geworden. Noch nicht, d. h. eine Steigerung ist denkbar, die dies lebendige Körperding auf eine positional höhere Stufe hebt. Über die Stufe des Tieres hinaus. Nach demselben Gesetz, das den Stufenunterschied zwischen Tier und Pflanze bestimmt.“

Jetzt fragt Plessner, welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit einem lebendigen Ding, das Zentrum seiner Positionalität, in dem es aufgehend lebt, kraft dessen es erlebt und wirkt, gegeben ist? 286

Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a.a.O. 288f. 152

Grundbedingung: Das Zentrum der Positionalität muss zu sich selbst Distanz haben, „Gegebensein heißt Einem gegeben sein“.287 Dem absoluten Hier-Jetzt ist alles gegeben – der Punkt kann sich nicht verdoppeln, er ist absolut und somit nicht relativierbar. Die Position der Mitte ist nicht statisch einfach da, sie ist im Vollzug. So ist ein Wesen zu denken, dessen Organisation „nach Maßgabe der positionalen Momente des Tieres konstituiert ist. Dieses Individuum ist in das in seine eigene Mitte Gesetztsein gesetzt, durch das Hindurch seines zur Einheit vermittelten Seins. Es steht im Zentrum seines Stehens.“ Eine Stufe ist das, über die hinaus der „geschlossene Organismus“ sich nicht weiter steigern kann. Was auf der „Tierstufe“ das Leben nur ausmacht, wird selber in Beziehung zu Lebewesen gesetzt: „[…] das lebendige Ding ist jetzt wirklich hinter sich gekommen […]. Es bleibt zwar wesentlich im Hier-Jetzt gebunden, es erlebt auch ohne den Blick auf sich, hingenommen von den Objekten des Umfeldes und den Reaktionen des eigenen Seins, aber es vermag sich von sich zu distanzieren, zwischen sich und seine Erlebnisse eine Kluft zu setzen. Dann ist es diesseits und jenseits der Kluft, gebunden im Körper, gebunden in der Seele und zugleich nirgends, ortlos, außer aller Beziehung in Raum und Zeit und so ist es Mensch […] Ist das Leben des Tieres zentrisch, so ist das Leben des Menschen, ohne die Zentrierung durchbrechen zu können, zugleich aus ihr heraus, exzentrisch. Exzentrizität ist die für den Menschen charakteristische Form seiner frontalen Gestelltheit gegen das Umfeld.“288

Exzentrizität ist keine neue Organisationsform – darum bleibt der Mensch „körperlich Tier.“289 Mit der Exzentrizität ist „Mitwelt“ eröffnet. Damit auch die Sphäre der Ethik (die aber in den „Stufen“ keine Rolle spielt). Meine Frage wäre dann: Inwiefern kann diese Sphäre ethisch relevant werden?

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Ebd. Plessner, a.a.O. 290ff. Plessner, a.a.O. 293. 153

Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist ein Essay mit dem Titel „Tier und Mensch“, der 1938 im Heft 49 der Neuen Rundschau unter dem Namen des holländischen Gelehrten F. J. J. Buytendijk erschien. Plessner hatte damals mit Buytendijk zusammengearbeitet. Unter den Nationalsozialisten war ihm Publikation verboten. Der Text ist jetzt wieder zugänglich in einem Sammelband von Arbeiten Plessners, die nicht in der Gesamtausgabe seiner Werke enthalten sind.290 Der Aufsatz setzt sich zunächst mit dem Naturalismus im Darwinismus und in der Lebensphilosophie auseinander. Die Eingliederung des homo sapiens als Spezies sei der erste Schritt zur Aufhebung des Wesensunterschieds von Mensch und Tier.291 Vergeblich sei die Hoffnung, dass die Annahme einer natürlichen Schöpfung sich mit dem metaphysischen Sinn der Gottesebenbildlichkeit versöhnen ließe.292 Die Basisform der Natur des Menschen wird allerdings mit den bekannten Elementen beschrieben: lange Jugend, Bildhaftigkeit der Dinge, die sich der möglichen Distanz zu ihnen im Bewusstsein verdankt. Wo alles zusammenkomme, fahre der Blitz in die Kreatur (die Metaphorik erinnert an Frankensteins Schöpfungsakt). „Wie der Abgrund übersprungen werden konnte, der Tier und Mensch trennt, werden wir nie wissen. Nur wo er ist und was er tatsächlich in aller Schärfe scheidet, vermögen wir zu begreifen.“293

„Weltoffenheit“ – das ist mit einem Wort gesagt – die Differenzbestimmung von Tier und Mensch „in aller Schärfe.“ Das Wort macht in der Theologie Karriere, vor allem durch Wolfhart Pannenberg.294 Die Daseinslage des Menschen, gekennzeichnet durch Sprache, Lachen und Weinen und der Liebe in der Seinsform der „Exzentrizität“ (von Plessner gezeigt)

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Helmuth Plessner, Politik – Anthropologie – Philosophie, hrsg. von Salvatore Giamusso und Hans-Ulrich Lessing, München 2001, 144–167. Plessner, a.a.O. 147. Plessner, a.a.O. 148. Plessner, a.a.O. 166. S. dazu Wolfhart Pannenberg, Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Licht der Theologie, Göttingen 1968, insbes. 5ff. und Anm. 5, 104f. 154

sei gefährdet, in der Liebe zu Seinesgleichen durch „zoologische Allgemeinheiten“. Der Mensch müsse sich deshalb der Liebeskräfte als Fundament seines „Geistigen Daseins“ erinnern, „über die Unterschiede dem Fremden als seinem Bruder in die Augen zu blicken wagend.“295 Die Autoren Buytendijk und Plessner sind in ihrer poetischen Sprache hier nahe dabei, den Abgrund zwischen Menschen und Tieren zu überspringen – und doch himmelweit entfernt davon. Es fehlt ihnen ein Wort der Zuneigung unterhalb der Nächstenliebe, ein Wort wie Mitgefühl oder Mitleid. Sie bleiben eingeschlossen in den anthropozentrischen Binnenraum. Anstatt die „zoologische Allgemeinheit“ als Gegenkraft zur Menschenliebe einzuschätzen, könnte eine zoologische Solidarität als Basis einer anthropologisch verorteten Ethik aus einer Revision der Formel animal rationale aufscheinen. Am ausführlichsten und eindringlichsten hat sich Helmut Fahrenbach der Frage nach der Ethik bei Plessner gewidmet. Er beschreibt einleuchtend die Problemlage, in der Plessners Anthropologie den Fragehorizont zur Ethikbegründung in der menschlichen Lebensform einer „exzentrischen Positionalität“ eröffnet hat. Zu einer „Differenzsituation von Sein und Sollen“. Der Autor nennt seine Studie eine „Skizze der Problemkonstellation zwischen philosophischer Anthropologie und normativer ethischer Dimension.“ Wichtig in diesem Unternehmen ist ihm eine Arbeit von Plessner aus dem Jahre 1957. Hier wird der Ort des Ethischen als „Bewältigung über das jeweils Gegebene hinaus“ bestimmt. Wobei das Vorgegebene die „staatliche und gesellschaftliche Normierung“ meint. Dazu bedürfe es der Zugänglichkeit zu einer „geistigen Welt“, die sich nicht darin erschöpft, „so genannte Bedürfnisse der Lebensbewältigung zu befriedigen“.296 Helmut Fahrenbach lässt sich auf Plessners Grundgedanken akribisch ein. Die Wesensbestimmung des Menschen (Exzentrizität) ist mit Normativität der ethischen Dimension konstelliert. Dies gilt auch dann, wenn die Moralität die gegebenen staatlichen und gesellschaftlichen Normen übersteigt. Der Verweis Plessners auf eine „geistige Welt“, 295 296

Plessner, a.a.O. 167. Helmut Fahrenbach, Philosophische Anthropologie und Ethik. Eine Grenzfrage im Werk Helmuth Plessners, in DZPhil, Berlin 52 (2004), 617–634, insbes. 626ff. und 631. 155

den Fahrenbach zitiert, ist ein ferner Nachklang der kantischen Vernunftwelt, die den Menschen über seine erbärmliche Existenz im Universum erhebt. Dass es ein Verhalten geben könnte, aus den Tiefen einer animalischen Lebenssolidarität, welches durch Normierung seine ethische Qualität einbüßen würde, ist außerhalb von Plessners Gesichtskreis – und bleibt es auch in Fahrenbachs Ausblick auf weitere Gedankenarbeit an Plessners „Leerstellen“. Mitleid mit anderen, mit außermenschlichen Lebensformen, das ist auch eine Leerstelle in Fahrenbachs Werksdeutung von Plessners Philosophischer Anthropologe.

156

27 Problematischer Einschluss in der Formel: animal rationale In der Definition „Animal rationale“ ist die Grausamkeit des Fressens und Gefressenwerdens im Leben der Natur eingeschlossen. Was bedeutet diese provokante Implikation für die Möglichkeit einer anthropologischen Ethikbegründung? Sie ist jedenfalls ein gravierender Einwand gegen eine zum Naturalismus tendierende Ethik. Der Ausgang von der spezifischen Differenz humanen Lebens, bestehend in der Befähigung zu propositionalem Sprechen, kann in Verbindung mit dem bereits eingeführten Begriff des „Spürens“ eine Brücke zu einem Kriterium für Humanität bilden. Dies wäre dann keine würdevolle Erhabenheit eines ontologischen Andersseins oder einer potentiellen Zugehörigkeit zu einem ewigen Leben im Reich der sittlichen Vernunft, wie es – nur dem Verstande spürbar – Kant vorschwebte. Sondern es lebte aus der „spürenden“ Gewissheit von der Zugehörigkeit zu anderen Lebewesen und ihrer Heimat auf Erden. Von daher lässt sich nun die Frage sinnvoll stellen, wie es um die Möglichkeit einer Ethikbegründung aus der Fähigkeit zum Mitleiden mit anderen Lebewesen stehe. Harald Köhl hat behauptet, Schopenhauer sei bei der Identifikation mit anderen nicht auf die metaphysische Erklärung angewiesen, auf die er sich berufe. Es gäbe Identifikation, die den Schleier der Maja aus unserer Einstellung auf andere verschwinden ließe: „Der Andere, den ich bemitleide, ist nicht auch ich, ich noch einmal, sondern er ist einer wie ich. Wenn wir jemanden aus einer moralischen Perspektive wahrnehmen, betrachten wir ihn als jemanden, der in den wesentlichen Hinsichten genauso dran ist wie wir selber.“297

297

Harald Köhl, a.a.O. 150. 157

Dieses Argument lässt sich ergänzen durch den Hinweis auf die fundamentale Bedeutung der Animalität in unserer Natur, die in der Formel animal rationale aufbewahrt ist. Sie verbürgt die Identifikation mit den anderen, den nicht-humanen Lebewesen. Anders und überzeugender ist die Phänomenbeschreibung des Mitfühlens bei Max Scheler. Er sieht Schopenhauer im Recht. Das Mitleiden sei ein unmittelbares Teilnehmen am fremden Leiden. Es komme nicht durch irgendwelche Arten des Hineinversetzens in den anderen zustande. Auch die Voraussetzung von der „Einheit des Lebens“ habe Schopenhauer richtig gesehen und beschrieben.298 Was Scheler allerdings nicht gutheißen kann, ist Schopenhauers grundsätzliche Stellung zum positiven Wert des Leidens. Er bringe sich damit in einen zwiefachen Gegensatz – zur Schätzung des sittlichen Werts des Mitleidens in der Philosophie und ebenso zum Urteil des gesunden Menschenverstandes: „Denn was am Mitleid die allgemeine Schätzung erfährt, ist einmal, dass es ein mitfühlendes Hinausgreifen über das eigene Ich ist, dass es weiterhin das Leiden nicht vermehrt, sondern nach dem bekannten Sprichwort halbiert […].“ Grundsätzlich gelte: Mitleiden ist erweiterte Teilnahme am fremden Erleben.299 Jeremy Rifkin leitet mit seiner Schopenhauer-Interpretation als zentralem Motiv des Mitleids den begrifflichen Übergang zur Empathie ein. Er nennt Schopenhauers ethische Einsichten und seine philosophische Position in diesem Zusammenhang eine Glanzleistung: „Schopenhauer definiert […] erstmals in der Geschichte eindeutig den emphatischen Prozess, ohne diesen Begriff zu verwenden. Er geht sogar noch weiter, beschreibt nicht nur die mentale Leistung der Empathie, sondern auch das Handeln, das daraus wie selbstverständlich erwächst, also die moralische Komponente.“300 298 299 300

Max Scheler, Wesen und Formen der Sympathie, Bonn 1928, 58. Ebd. 59. Jeremy Rifkin, Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein, Frankfurt 2010, 262 – Rifkin zitiert als Beleg aus Schopenhauers Preisschrift „Über die Grundlage der Moral“: „Es ist das alltägliche Phänomen des Mitleids, d. h. der ganz unmittelbaren, von allen anderweitigen Rücksichten unabhängigen Theilnahme zunächst am Leiden eines anderen und dadurch auch der Verhinderung oder Aufhebung dieses Leidens, als worin zuletzt als Befriedigung alles Wohlsein und Glück besteht.“ (Werke 1977, 240) 158

Im Sprachgebrauch wird der von Rifkin beschriebene Übergang dominant. Damit ist jedoch eine Bedeutungsverschiebung und -erweiterung verbunden, über die Rifkin nicht nachdenkt. Bei ihm verliert sich die Spur der Formel animal rationale. Ihre Zeit als Diskursvorlage, als ontologische Voraussetzung scheint vorbei, wenn Empathie als Grundbegriff leitend wird. Allerdings wird dadurch verdeckt, dass der gepriesene Schopenhauer angeblich Empathie zum elementaren Moralmotiv erklärend, den von animal rationale markierten Sachverhalt präsent hielt. Die jüngsten Entdeckungen der Verhaltensforschung zu Altruismus und Empathie bei „Tieren“ sind ja keine Beeinträchtigung der menschlichen Sonderstellung, sondern sie können gerade den Ursprung des Mitleidens, zu dem der Mensch fähig ist, in seiner substanziellen Anomalität stützen und dazu beitragen, dass nicht die Rationalität die Instanz für ein fundamentales ethisches Motiv sein muss.

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28 Empathie kognitionswissenschaftlich: Fritz Breithaupt Fritz Breithaupt, an der Indiana-Universität in Bloomington (USA) lehrend, hat sich intensiv mit Empathie, in seinen Büchern Kulturen der Empathie und Die dunklen Seiten der Empathie, befasst. In Kulturen der Empathie berichtet er zum Einstieg ins Thema, in einer Lesegruppe, nach einer Art Urszene der Einfühlung suchend, habe ein Teilnehmer die folgende Geschichte erzählt: „In meiner ersten eigenen Wohnung als Student gab es eine Maus. Ich konnte sie nachts bisweilen hören und ihre Spuren sehen, aber es gelang mir nicht, sie zu fangen. Als ich eines Morgens in die Küche kam, hörte ich ein sonderbares, kratzendes Geräusch aus dem Waschbecken. Ich trat näher heran und sah, dass die Maus in das Becken gefallen war. An den glatten Wänden konnte sie keinen Halt finden und war gefangen. Ich starrte die Maus an und sie blickte zurück. Dann machte ich den Wasserhahn an, sodass die Maus von dem Wasser in den garbage-disposal (einen elektrischen Müllzerkleinerer) gespült wurde. Dann drückte ich den Knopf.“301

Die Geschichte zeigt einen Moment der Empathie an, der nicht zu einer entsprechenden Handlung führt, aber offenbar über das grausame Knopfdrücken hinweg nachwirkt. Breithaupt definiert den seit einigen Jahren zu einem der Kernthemen der Kognitionswissenschaften aufgestiegenen Begriff der Empathie so:

301

Fritz Breithaupt, Kulturen der Empathie, Frankfurt 2009, 7. 160

„Einfühlung oder das In-die-Haut-der-anderen-Schlüpfen. Dies umfasst etwa das kalkulierende Gedankenlesen, das Mitgefühl, das unwillkürliche oder willkürliche Miterleben und das Einnehmen der Perspektive eines Anderen.“

Auch die Schadenfreude sei kein Randphänomen der Empathie.302 Empathie kann in der Tat auch zweckgerichtet fungieren, um einen Gegner zu „durchschauen“ – um dadurch eine strategische Überlegenheit zu gewinnen. Ähnlich, wenn auch weniger antagonistisch, tritt eine angemaßte Empathie in persönlichen Verhältnissen auf. Sie gibt vor zu wissen, was der andere empfindet, was er denkt, mit hämischem Unterton. Solche „Empathie“ stört und zerstört eine freie und sachliche Kommunikation. In solcher Funktion ist Empathie mitleidlos. Empathie ist dazu fähig. Empathie kann ohne Mitleid sein; Mitleid ist jedoch nie ohne Empathie. Die Auseinandersetzung Breithaupts mit dem berühmten Essay von Thomas Nagel über die mögliche Einfühlung in die Welt einer Fledermaus bietet Gelegenheit, die Position des Autors der Empathie-Analysen zu klären.303 Breithaupt teilt die skeptische Einschätzung von Nagel, was das Sich-Versetzen in die Haut eines anderen Wesens angeht und er verstärkt sie. Es sei kaum möglich, eine „akkurate Einfühlung“ in andere zu leisten. Aber zugleich insistiert er darauf, dass wir Empathie uns zutrauen – auch wider besseres Wissen: „Diese Zuversicht in unsere Empathie dürfte selbst einen entscheidenden Faktor der menschlichen Empathie ausmachen. Wir würden zum Glauben verleitet, wo uns die Mittel zum Wissen fehlen. Das prägnante Fazit lautet: „Der Anthropomorphismus regiert.“ 304 Sein Regiment lasse das Falsche stattfinden. Allerdings, so Breithaupt, könnten durch „große Abstraktion“ Ähnlichkeiten angesetzt werden – und er nennt als Beispiel den Satz: „Auch eine Maus ist ein Säugetier wie wir.“305

302 303

304 305

Breithaupt, Kulturen, a.a.O. 8. Thomas Nagel, What is it like to be a bat? Englisch und Deutsch, Reclam Nr. 19324, 2016. Breithaupt, Kulturen, a.a.O. 19. Ebd. 21. 161

Spätestens hier hätte sich ein Anlass ergeben, über den Gehalt der Formel animal rationale nachzudenken und ihre Relevanz für das Sachproblem zu erwägen. Es geschieht nicht. Die ontologische Frage bleibt in der Fixierung auf den kognitionswissenschaftlichen Ansatz ausgeblendet. Damit verbunden ist die Leitvorstellung von Wahrnehmungsakten, die Ähnlichkeiten zwischen Partnern entdecken und so Empathie möglich machen. Breithaupt unterscheidet Empathie nicht von Mitleid – er nennt beides im selben Atemzug als Varianten von Mitgefühl. Ähnlichkeiten an einem anderen Lebewesen wahrzunehmen ist aber für Mitleid nicht konstitutiv. Aber Mitleid kann auch herablassend oder gar diffamierend wirken. Wir kennen das „mitleidige Lächeln“. Und wenn wir die gebräuchlichen Wendungen abhören, so weisen Politiker Mitleid entrüstet ab und sagen: Das hat mir gerade noch gefehlt. Wenn ein Politiker scheitert, ist Mitleid für seine Reputation vernichtend. Mitgefühl wird in der Regel nicht als herabsetzend wahrgenommen. Es ist irreführend, wenn Mitleid und Mitgefühl unbesehen semantisch nivelliert werden. Oberflächlich mag das plausibel erscheinen. Aber wenn wir die Probe aufs Exempel im Alltagssprachgebrauch machen, kommen wir dem Unterschied der drei Begriffe auf die Spur. Mitleid kann mitfühlend sein, muss es aber nicht; Mitgefühl jedoch ist immer mitleidend. Was bringt nun die Revision der alten und im Alltag nach wie vor tief eingelebten Denkschemata über den Vorrang der Menschen zutage, die ohne neue Urteile einfach gelten. Und was folgt aus der vergleichsweise esoterischen Einsicht in die mögliche Solidarität mit anderen Lebewesen für eine anthropologisch begründete Ethik? Wie weit kann Schopenhauers Mitleidsethik die Leitfigur eines sachgerechten Nachdenkens bilden?

162

29 Schopenhauer in der Ethik: redivivus Ist das Erarbeitete einzufangen im systematisch ergiebigen Begriffsnetz der Mitleidsethik des Philosophen Schopenhauer? Das ist hier die abschließende Fragestellung. Den Gang der Dinge in der europäischen und überhaupt in der westlichen Kulturgeschichte, wie er anhand der Formel animal rationale zum Anlass einer Neubesinnung von Indizien in der Philosophie der Gegenwart genommen und in meinem Projekt ausgearbeitet wurde, haben Horkheimer und Adorno in ihrer Dialektik der Aufklärung prägnant beschrieben: „Die Idee des Menschen in der europäischen Geschichte drückt sich in der Unterscheidung vom Tier aus. Mit seiner Vernunft erweisen sie die Menschenwürde. Mit solcher Beharrlichkeit und Einstimmigkeit ist der Gegensatz von allen Vorvorderen des bürgerlichen Denkens, den alten Juden, Stoikern und Kirchenvätern, dann durch Mittelalter und Neuzeit vorgebetet worden, daß er wie wenig Ideen zum Grundbestand der westlichen Anthropologie gehört. Auch heute ist er anerkannt.“306

Das gilt nach wie vor für die Alltagssprache in den westlichen Kulturen. Das Grundgesetz der Bundesrepublik setzt auf höchster normativer Ebene ganz selbstverständlich voraus, dass Menschen keine Tiere sind. So lautet der 1994 eingefügte Artikel 20a: „Der Staat schützt auch die Verantwortung für die künftigen Generationen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung“. 306

Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt 1969, 262. 163

In der Philosophie allerdings hat sich, wie aufgezeigt, eine Bewegung der „Dekonstruktion“ überkommener Denkmuster Gehör verschafft, gewiss bei Weitem noch nicht genug. Aber Anfänge sind sichtbar und Impulse sind gesetzt. Jedoch wiegt die Last alter Vorurteile schwer. Horkheimer und Adorno beschreiben in poetischer Sprache, wie in den Märchen der Nationen die Verwandlung der Menschen in Tiere als Strafe erzählt wird. Die Erlösung davon erscheint – sogar in der Seelenwanderung des tierfreundlichen Buddhismus – als ferne Utopie. „Jedes Tier erinnert an das abgründige Unglück, das in der Urzeit sich ereignet hat.“ Der Mangel an Vernunft banne das Tier auf ewig in seine Gestalt, es sei denn, dass der Mensch, der durch Vergangenes mit ihm eins ist, den erlösenden Spruch findet und durch ihn das steinerne Herz der Unendlichkeit am Ende der Zeiten erweicht.“307 „Durch Vergangenes mit ihm eins“ – das ist in diesem Text ein eingestreutes Aperçu. Und es sagt doch Signifikantes. Dem aufmerksamen Leser geht ein Licht auf, das den Grundgehalt von animal rationale aus dem Dunkel holt. Was ein nicht Vergangenes Eins-Sein mit „dem Tier“ sein könnte, das hat Arthur Schopenhauer mit systematischer Klarheit und argumentativer Kraft in der Begründung seiner Mitleidsethik zur Geltung gebracht. Dass der von der etablierten Geschichtsschreibung der Philosophie unterschätzte Philosoph Schopenhauer diese Auszeichnung im Projekt animal rationale verdient, ist eine These, die eine ausführliche Begründung verlangt. Zumal, da mit der Berufung auf Schopenhauer das im Untertitel meines Projektes anvisierte Ziel am Ende erreicht werden soll.308 Als Einstieg bietet sich das Stichwort „supererogatorisch“ an, das den finalen Begründungsgang mit dem vorigen Kapitel verbindet. Es kennzeichnet ein Verhalten, das vom empirisch Erwartbaren abweicht, nicht nur gegenüber Artgenossen, sondern gegenüber allen Lebewesen, mit denen wir zumindest leiblich verwandt sind. Es kann – wir haben das Wort bei Ernst Tugendhat gefunden – unser Denken a tergo in der Spur halten. Selten, ja fremd empfunden wird das Wort im heutigen Sprach-

307 308

Horkheimer, Adorno, a.a.O. 264. Zur Vernachlässigung Schopenhauers in der professionellen Philosophie und seiner Würdigung bei bedeutenden Literaten s. Ulrich Pothast, Die eigentlich metaphysische Tätigkeit. Über Schopenhauers Ästhetik und ihre Anwendung durch Samuel Beckett, Frankfurt 1982, 16–23L. 164

gebrauch. Sein Ursprung ist nicht ohne Reiz, was den ersten begriffsgeschichtlichen Fundort angeht. Es tritt im Vulgata-Text der Geschichte vom barmherzigen Samariter (Lk 10, 35) auf: „[…] et altera die protulit duos denarios et dedit stabulario et ait curam illius habe et quodcumque supererogaveris ego cum rediero reddam tibi.“ Und es wird bei den Kirchenvätern zum Begriffswort für ein individuelles Handeln, das über das moralisch Gebotene weit hinausgeht.309 Die Basis für einen solchen Grundbegriff ethischer Orientierung ist die emphatisch offene Motivlage, die in der Philosophie der Gegenwart durch die im vorliegenden Projekt dargestellten Autoren Derrida, Tugendhat und Pothast im deutschen Sprachraum (im Falle Tugendhats auch im spanischen) vorbereitet worden ist – begleitet durch die amerikanischen Autorinnen Martha Nussbaum und Christine Korsgaard. Gemeinsam ist ihnen – bei unterschiedlicher Denkart – die Öffnung des traditionell anthropozentrischen Ethikbereichs zu anderen Lebewesen, nicht als Objekte des Schützens und Pflegens, zum Genuss oder – im Doppelsinn des Wortes – zum Verzehr. Aus Mitleid zu handeln ist von höchstem moralischen Wert – so hat das Arthur Schopenhauer formuliert. Aber – so füge ich hinzu – ohne moralisch zu sein. Warum nicht? Moralisch sein heißt nach einer moralischen Regel handeln, entweder nach einem heteronomen Gebot, das an den Handelnden ergeht, oder autonom, nach einer selbst gegebenen Regel der Vernunft. Wer auf diese oder eine vergleichbare Weise handelt, verdient die Achtung eines echten Mitleidsmotivs nicht. Wir können in solchen Fällen sagen: Er folgt einer moralischen Verpflichtung, aber möglicherweise ist er am Leiden eines anderen gar nicht interessiert. Er möchte nur die moralische Regel nicht verletzen. Tugendhat betrachtet aus diesem Grund die Mitleidsethik nicht als moralisches, sondern als ethisches Phänomen. In seiner moralischen Grundregel: „Neminem laede, immo omnes quantum potes, iuva“, glaubte Schopenhauer eine Formel gefunden zu haben, die seiner Mitleidsmoral den Leitspruch gibt. Bei all seinem analytischen Scharfsinn hatte er nicht erkannt, dass Mitleid nach einer Regel keine „lautere Wohltat“ sein kann, wie er das Handeln aus Mitleid selber benannt hat. 309

S. dazu HWDPH, Band 8, Art. Rat, Sp. 34. Darmstadt 1992, 48f. und die dort angeführte Arbeit von David Heyd, Supererogation. Its Status in ethical Theory, Cambridge 1982. 165

Schopenhauer sieht die menschliche Gesellschaft mit skeptisch-realistischem Blick. Er nennt sie verdorben. Die „Triebfeder“ zum Guten, durchaus im Menschen angelegt, habe wenig Macht. Ohne eine dem Zusammenleben auferlegte „gesetzliche Ordnung“ gebe es kein friedfertiges Verhalten der Menschen untereinander. Das staatlich mit behördlicher Gewalt ausgeübte Recht verhindere die „moralische Verderbnis“. Eine Beobachtung fügt der Philosoph hinzu: Es sei im faktischen Verhalten der Menschen schwer zu erkennen, wie sich die Verderbnis auswirke, weil die gesetzliche Ordnung die Verhältnisse ins Gute wende und so eine sozial wirksame Moralität der Menschen untereinander vortäusche.310 Es ist auf den ersten Blick unstimmig, dass Schopenhauer bei all der faktisch segensreichen Kraft der gesetzlich auferlegten Ordnung sich dennoch und buchstäblich im selben Atemzug gegen die imperativische Sollensmoral ausspricht. Offenbar zieht er eine Trennlinie zwischen zwei Grundformen von Gerechtigkeit: der unfreiwilligen der Gesetze – und einer freien, auch „freiwillig“ genannten, die allein mit dem Mitleidsmotiv angestrebt wird.311 Da der Philosoph mit dem Oberbegriff „imperative Moral“ sowohl die heteronome, theologisch begründete Gebotsethik als auch die universal konzipierte Vernunftethik Kants ablehnt, bleibt nur der „empirische Weg.“ Nach dem Befund der moralischen Verderbtheit in der menschlichen Gesellschaft dürfte dieser Weg beschwerlich sein. Schopenhauer sieht jedoch keine andere Möglichkeit, Moralität auf ihren „letzten Grund“ zurückzuführen. Dies soll geschehen im Nachweis von Triebfedern, die Menschen zu „Handlungen von Gerechtigkeit, Menschenliebe und Edelmut“ bewegen. Die erste Station auf dem empirischen Weg ist also: Handlungen von solcher Auszeichnung aufzufinden. Als Triebfeder dazu kommt nach dem Vorherigen eine absolute Gesetzgebung der Vernunft „für alle vernünftigen Wesen“ nicht infrage, mit dem „Schiboleth der Würde des Menschen“.312 Beides, die kantische Limitation und der entsprechende kritische Seitenblick auf das Schiboleth deuten die Erweiterung des moralisch relevanten Bereichs an, über die Spezies Mensch hinaus. 310 311 312

Schopenhauer, Werke III, Zürich 1988. 549f. Schopenhauer, a.a.O. 565, bzw. 551 („freiwillige Gerechtigkeit“). Schopenhauer, a.a.O. 551. 166

Schopenhauers empirischer Weg erreicht zunächst zwei Grundpotenzen menschlichen Verhaltens, die für moralisches Verhalten alles andere als förderlich sind. Zu untersuchen schlägt er „Grundpotenzen“ vor (die ganze Serien spezieller Laster nach sich ziehen): Egoismus: Gier, Völlerei, Wollust, Eigennutz, Geiz, Habsucht, Ungerechtigkeit; Gehässigkeit: Missgunst, Neid, Übelwollen, Hartherzigkeit, Stolz, Hoffart, Bosheit, Schadenfreude, spähende Neugier, Verleumdung, Insolenz, Petulanz, Hass, Zorn, Verrat, Tücke, Rachsucht, Grausamkeit. Schopenhauer trägt diese Untugenden suggestiv vor, als selbstverständliche Beobachtung, die ohne Weiteres einleuchten sollte. Seiner Gewohnheit als gebildeter Denker gemäß beruft er sich auch hier auf einen antiken Autor, auf Quintus Curtius (III. 574): „Nulla res efficacius multitudinem regit, quae superstitio: alioquin impotens, saeva, mutabilis; ubi vana religione capta est, melius vatibus, quam ducibus suis caret.” „Nichts regiert die Menge wirksamer als der Aberglaube! Im übrigen ist sie kraftlos, rasend, wechselhaft. Wo sie durch eitle Religionsbegriffe ergriffen ist, gehorcht sie eher den Propheten als ihren Führern.“313

Das Zitat mag die Plausibilität der gesellschaftskritischen Diagnose Schopenhauers fördern. Unbestreitbar jedoch scheint die These, die er als Grundvoraussetzung für die Entdeckung des ethischen Wurzelgrundes betrachtet. Diese „Voraussetzung“ besteht darin, dass Leute sich finden, die ohne Eigennutz so handeln, dass dem anderen sein Recht widerfährt – eine Einstellung, die „gleichsam angeboren“ ist.314 Gäbe es solche Leute nicht, hätte Ethik kein reales Objekt, wie Astrologie oder Alchemie, – und alle weitere Nachforschung wäre vergeblich. Der Autor sagt, er rede ausdrücklich nur zu denen, welche „die Realität der Sache einräumen“.315 Es ist eine eigentümlich fragile Logik, mit der Schopenhauer hier das Schlüsselargument zur Ethikbegründung vorträgt. Die theoretische Unmöglichkeit einer humanen Ethik angesichts der Potenzen von Egoismus und Gehässigkeit wird nur 313 314 315

Schopenhauer, a.a.O. 574 (das Zitat nur im lateinischen Original). Schopenhauer, a.a.O. 559. Ebd. 560. 167

dann gleichsam falsifizierbar, wenn einzelne Fälle von Edelmut und Menschenliebe nachweisbar sind. Damit aber wird nicht die Gültigkeit der gesellschaftskritischen Theorie aufgehoben; es wird aber ihre Ausschließlichkeit tangiert. Und dies gibt dem Ethiker die Chance, bei aller Übermacht der verwerflichen Potenzen eine Lehre vom Guten im Menschen zu begründen. Treffend hat Henning Ritter die ethische Denkarbeit Schopenhauers eingeschätzt. Entgegen seiner Meinung, er sei ein isolierter Mitleidsethiker, habe Schopenhauer im Trend seiner Zeit gelegen. Aber er habe die Grausamkeit bekämpfen und gedanklich durchdringen wollen. Darin liegt nach Henning Ritter seine besondere Bedeutung.316 Das erklärt auch, warum Schopenhauer den „amoralischen Triebfedern“ auf erklärtermaßen danteske Art und Weise viel Raum gibt. Bosheit und Grausamkeit fügen Leiden und Schmerz anderen als Zweck an sich bei und genießen es, wenn der Zweck erreicht wird. Non-human animals sind in diesem Sinne niemals böse oder grausam. Auch wenn manches, das in der Natur geschieht, uns grauenhaft vorkommt. Die Wespe Christopygacrassica audata, die im Amazonas lebt, legt mit ihrem langen Stachel ein lähmendes Gift in Spinnen. Dann bringt sie Eier in die Spinne. Die Larven fressen das Wirtstier bei lebendigem Leib von innen auf. Auch hier, wie in vergleichbaren Fällen, ist das uns grauenhaft Erscheinende nicht grausam oder böse, sondern ein Mittel zum Zweck des Arterhalts, bei dem die Nebenfolgen nicht Zweck sind, sondern irrelevant. Die Hypothese in Schopenhauers Begründung, die Grausamkeit in der menschlichen Gesellschaft als machtvolle Potenz darstellt, aber zugleich die Annahme von edelmütiger Menschlichkeit anmahnt, mag auf den ersten Blick schwach erscheinen, ist aber genau betrachtet eine heimliche Stärke. Denn wer wollte leugnen, dass es Einzelfälle einer zutiefst uneigennützigen Einstellung im Handeln gibt? Und dass in solchen Fällen Respekt und Anerkennung diesen Menschen entgegengebracht wird? Es wäre eine Beleidigung der wenigen moralisch seriösen Menschen, die es wirklich gibt. In der Falsifikation der schrankenlosen Gültigkeit von Amoralität öffnet sich ein schmaler Pfad für die Wahrheit – die Existenz von Güte zuzugestehen und sich an die Untersuchung ihrer Gründe zu machen. 316

Henning Ritter, Die Schreie der Verwundeten, München 2013, 105 und 107. 168

Schopenhauer will nachweisen, dass in Kants kategorischem Imperativ die Struktur der Goldenen Regel sich auf komplizierte Weise abbildet, die Verwandtschaft mit ihr aber verschleiert wird. Kernpunkte des Nachweises sind die Zitate aus Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in denen auf die Selbstzerstörung ein Willensentschluss oder besser: eine Maximenbefolgung verlangt wird, die eine vorgefasste eigene Absicht ad absurdum führt. Schopenhauer durchschaut den versteckten Egoismus, der ins Moralische gewendet wird – d. h. in Rücksicht auf andere. Nach der Kant-Kritik wendet er sich seiner eigenen Ethikbegründung zu. Sie untersucht prinzipiell nicht, was sein soll, sondern was ist – im Ansatz schon strikt gegen deontologische Begründung gefeit. Schopenhauer bezeichnet das Mitleid als moralisches Urphänomen, das unmittelbar einleuchte. Er appelliert an ein unbestimmtes Publikum in diesem Zusammenhang, wie oben schon dargestellt: Man werde ihm doch zugeben, dass es Leute gebe, die uneigennützig handeln, die helfen, ohne Eigeninteressen zu verfolgen, „dass mancher hilft und giebt, leistet und entsagt, ohne in seinem Herzen eine weitere Absicht zu haben, als daß dem Andern, dessen Noth er sieht, geholfen werde.“317 Das Phänomen des Mitleids als im Menschen tief verankerte Urform seiner Menschlichkeit ist ohne Identifikation mit anderen lebendigen Wesen nicht begreiflich. Die ethische Ausprägung einer Identifikation mit anderen Lebewesen lässt sich nicht in eine Regel fassen mit universellem moralischem Anspruch, wie es Schopenhauer unternahm mit seinem „Neminem laede  […].“ Mitleid als Urphänomen übersteigt alles, was sonst bei Tieren auftritt. Es ist aber auch, verglichen mit normaler Moralität als Vernunftgebot, supererogarorisch – und also nicht in Regelform zumutbar. Die solidarische Identifikation bestätigt die alte Definition des animal rationale, indem die spezifische Differenz in ihrer Logik zugleich modifiziert. Auf dem animalischen Fundament erfolgt Identifikation. Sie bedingt eine eigentümliche, säkulare Mystik, wie sie Ernst Tugendhat beschrieben hat. Dabei ist daran zu erinnern, wie dieser Philosoph Religion und Mystik unterscheidet: Religion lässt die Wünsche und Bedürfnisse der Ich-sagenden Tiere (gemeint sind die Men317

Schopenhauer, a.a.O. 560. 169

schen) bestehen. Religion transformiert die Welt. Die numinose Macht, die nicht beherrschbar ist, werde zu Wesen verdichtet, von denen man sich abhängig wissen könne, die aber auch als von uns beeinflussbar angesehen werden. Mystik dagegen nimmt den „Ich“-Sager in uns zurück, transformiert unser Selbstverständnis angesichts des numinosen Universums.318 „Ich“-Sager sind nach Tugendhat egozentrisch orientiert, auf Zwecke ausgerichtet, im Gebrauch ihrer instrumentellen Vernunft (Horkheimer). Die Welt im Ganzen ist ihnen fremd und unbeherrschbar. Nur durch Vermittlung einer übergeordneten Macht wird sie ihnen zugänglich – durch Religion. Sie nennen sie Schöpfung und unterstellen sie so einem Herrn, der sie geschaffen hat. Die mystische Haltung, in der die instrumentelle Rationalität sich zurücknimmt in solidarische Identifikation mit allem was lebt, ist die eigentliche Auszeichnung des animal rationale. Nicht das Ebenbild Gottes oder die Teilhabe am ewigen Vernunftleben, sondern die Fähigkeit, Verwandtschaft mit allem Lebendigen zu „spüren“. Aber dies nicht im Verstande, dem nach Kant das ewige Vernunftethos allein „spürbar“ ist, sondern dort, wo Ulrich Pothast nach dem Abschied von der Leitfigur Selbstbewusstsein das Spüren angesiedelt hat, in den Tiefen der menschlichen Existenz – damit ihrer Animalität. Eine anthropologisch fundierte Ethik bedarf der mystischen Identifikation des Lebewesens Mensch mit den anderen Lebewesen in der natürlichen Welt. Die Stärke Schopenhauers liegt in seinen Vorbehalten gegenüber einer metaphysischen Basis der Mitleidsethik. Redlichkeit reklamiert er für sich bei seiner Argumentation. Zu Recht – und unabhängig von den Invektiven, die er den Vertretern des Deutschen Idealismus bei jeder Gelegenheit entgegenschleudert. Da verlässt ihn der ansonsten kühle und klare Verstand. Ohne die mystisch vorausgesetzte Einheitsgewissheit, die dem „Schleier der Maja“ wie das den Sinnen verborgene „Ding an sich“ zugrunde- und vorausliegt, wird nicht verständlich, warum das Animalische im Menschen, das den Kern seiner natürlichen Existenzform ausmacht, sich mit dem seltenen humanen Impetus verbünden kann, in dem seine spezifische Eigenart zum Vorschein kommt.

318

Tugendhat, Egozentrizität und Mystik, a.a.O. 122. 170

30 Argumentativer Epilog Bei der kritischen Überprüfung von animal rationale im historischen Kontext wurde die anthropologische Formel in ihrer Verbalform vorgeführt und in vielfältigen Auslegungsweisen präsentiert. Die Frage aber, wie die umstrittene differentia specifica sachgerecht zu interpretieren sei, blieb unterbelichtet. Die in der Neuzeit geläufig gewordene Bedeutung von Ratio als Verstand und Vernunft konnte die Antwort nicht sein, denn mit ihr ist ja die strittige Aufwertung der spezifischen Differenz zu einem eigenen Wesensgehalt im Kontrast zur animalischen Substanz direkt verbunden. Auch in der Gegenwart treffen wir immer wieder den Rückgriff auf Aristoteles und seine Lehre vom Logos als Wesensbestimmung des Menschen im Unterschied zu den Tieren.319 Ein Blick auf die Begriffsgeschichte von Ratio zeigt uns allerdings, dass im Sprachgebrauch von Cicero, dem Urheber von animal rationale, der Sinn von ratio vielfältig war: Verhältnis, Beziehung, Grundsatz u. ä. Auch Seelenkraft, die Eigenschaften von Körpern beurteilt, so bei William von Conches.320 In Anbetracht der Verstellungen und Entstellungen, die der differentia specifica in ihrer Traditionsgeschichte widerfahren sind, ist es plausibel, in meinen Augen sogar geboten, auf das stoische Bedeutungsfeld von ratio zurückzugehen. So wird es möglich, Ratio als Fähigkeit zum Gewahrwerden einer Einheit und Zugehörigkeit zum Animalischen zu verstehen. Dann wäre die Funktion der differentia specifica das „rationale“ Unterscheidungsmerkmal vom animal, das nicht ausgrenzt, wie es traditionell geschah, sondern Verbindung, ja Bindung stiftet in einer ratio cognoscendi zur ratio essendi aller Lebewesen. Die Ortsbestimmung einer anthropologisch angelegten Ethik, die aus der Logik des animal rationale folgt, könnte als Animalismus aufgefasst werden, wie ihn Werner Sombart dem Hominismus entgegengesetzt hatte. Der Animalismus spre319

320

So auch jüngst bei Jürgen Habermas, in: Auch eine Geschichte der Philosophie, Frankfurt 2019, 141. S. dazu den Art. Ratio von W. Kilbe, HWPhB, Band 8, Sp. 37ff. 171

che dem Menschen eine eigene Daseinsart ab und halte ihn für eine Tierspezies, als Teil der Natur.321 Diese Kennzeichnung trifft hier nicht zu. Zwar spricht die recht verstandene Formel animal rationale der differentia specifica eine eigene Wesensart ab, nicht aber eine Daseinsart. Damit jedoch legt sie das Rationale als spezifische Differenz unkonventionell aus. Sie geht dabei auf das reichere Bedeutungsfeld im römischen Sprachgebrauch bei Cicero zurück. Ratio kann, wie oben schon ausgeführt, auch Beziehung und Verhältnis heißen. In diesem Sinn würde das Rationale das Animalische nicht ausgrenzen, sondern sich zu ihm in ein Verhältnis mit natürlichem Potenzial bringen können. Wie immer man die menschliche Daseinsart typisiert; als homo sapiens, als homo faber, als homo politicus; als hominid bleibt sie leiblich verwandt mit allem Lebendigen. Im Grunde läuft mein Projekt auf eine Rechtfertigung von Jeremy Benthams Vorschlag hinaus, die Leidensfähigkeit zum Kriterium für das Menschsein zu erklären – statt Sprache und Verstand.322 Aus einer Fußnote in Benthams Buch The Principles of Morals and Legislation ist ja eine weltweit verbreitete Parole der Tierethiker geworden. Meine Untersuchungen zur gegenwärtigen Problemlage und zum historischen Kontext der Formel animal rationale führen dazu, Benthams Grundthese mit der althergebrachten anthropologischen Formel zu versöhnen. Sie kann so zum fundamentalen Ort einer philosophischen Ethik werden. Ein Verhalten und ein Handeln, das mit dieser ethischen Ortsbestimmung im Animalischen in Gestalt einer innigen Einigkeit mit ihm verankert ist, versöhnt sich mit der Logik der Formel animal rationale. Dies kann allerdings nicht deontologisch formuliert werden. Weniger terminologisch gesagt: Es kann nicht zum Gebot ausgebracht werden. Es kann nur individuell frei und spontan ausgelebt werden. In dieser Form ist es überaus lobenswert, weil es das, wofür verpflichtende Moralregeln stehen, überbietet. So wird es zu einer ethischen Grundhaltung, die keinen moralischen Regeln folgt – und die gerade deshalb so schätzenswert ist. 321 322

S. dazu HWBPH, Band 1, Sp. 315. Vgl. oben Anmerkung 56. 172

In dieser Ethikkonzeption erhält der Begriff des Supererogatorischen eine zentrale Bedeutung. Er wurde von Ernst Tugendhat in die Ethikdiskurse der Gegenwart eingeführt, wie oben bereits mehrmals erörtert.323 Wenig bekannt ist allerdings die weit zurückreichende Geschichte dieses Begriffs, der nun in anthropologischer Ethikbegründung Relevanz und Würdigung erfährt. David Heyd verdanken wir eine eindringliche und lehrreiche Studie zur „Supererogation“.324 David Heyd hat in seiner Studie die christlichen Belege für Supererogation aufgewiesen und gründlich untersucht. In den frühesten Quellen und auch bei den Kirchenvätern ist das christlich geprägte Verhalten, das über das Gebotene hinausgeht, eine Erhebung des Selbst zum individuellen Heil. Es ist eine „moral perfection“, die nach Meinung der Gegner der Supererogation nur durch „obedience to duty“ erreichbar wäre.325 Der Grundauffassung einer seltenen, aber auf gute Werke ausgerichteten Auffassung, entspricht auch Luthers fundamentale Kritik: „Human works are never sufficient for attaining salvation […]. Man is justified by faith alone“.326 Das Überbieten des Gebotenen ist immer eine Steigerung des Selbst, also das Gegenteil von Selbstlosigkeit. Schon gar nicht rein selbstlos mit mystischem Hintergrund, wie es in die neuere Debatte von Ernst Tugendhat mit dem Begriff Supererogativ eingeführt wurde. Im letzten Kapitel seines Buches, bei Überlegungen zu „Supererogation and Ideals“, findet sich ein möglicher Anhaltspunkt zu der gegenwärtigen Deutung des Supererogativen. Heyd schreibt dort, dies sei mehr als „being on the safe side […]. It is good in itself.“327 Hier läge eine Entfaltungsmöglichkeit im Kern des Supererogativen, wie sie im gegenwärtigen Ethik-Diskurs zu beobachten ist. Mit den dargestellten Positionen, die eine neue und angemessene Interpretation der alten Formel animal rationale fördern, entfernt sich die Philosophie vom als selbstverständlich geltenden Common Sense im Verhältnis von Mensch und 323 324 325 326 327

S. Seiten 137, 203, 257, 302 In Anmerkung 305 bereits angeführt. Heyd, a.a.O. 31. Heyd, a.a.O. 27. Heyd, a.a.O. 182. 173

Tier. Sie emanzipiert sich von der in Moderne und Postmoderne konservierten, biblisch-christlichen Grundhaltung ebenso wie von der in Artikel 1 GG niedergelegten Verfassungsnorm, sofern sie deskriptiv als Kennzeichen einer Rangfolge in der Natur in Anspruch genommen wird. Gleichzeitig mit dem faktischen Abstand zum Alltagsverständnis genießt die aus dem anthropologischen Fundament begründbare ethische Einstellung eines selbstlosen Mitfühlens höchste soziale Anerkennung, wenn sie supererogatorisch erkennbar wird. Normativ erfasst, wäre das uneingeschränkte Mitgefühl nicht mehr als echt ausweisbar; es würde zum Handeln, das einem Gebot folgt. Supererogatorisch markiert das Mitfühlen die spezifisch humane Differenz, die nicht gegen die animalische Basis der Existenz sich bildet, sondern auf der Bindung an sie beruht. Jürgen Habermas hat die gegenwärtige Problemlage von Religion und Philosophie im welthistorischen Horizont erörtert und kritisch analysiert. Er setzt sich dabei mit der älteren Kontroverse um Säkularisierung von Karl Löwith und Hans Blumenberg auseinander und er zeigt, wie heute die Säkularisierung, verbunden mit Wohlstand, die religiösen Bindungen immer mehr lockert, gleichzeitig aber die Vitalität konservativ religiöser Gruppen wächst, in Afrika, in Ost-und Südostasien.328 Zwischen den mit prägenden Begriffen erfassten Bewegungen der Geistesgeschichte haben sich religiös inspirierte Sprachmuster durchgehalten, die Überkommenes konservieren: Bewahrung der Schöpfung, Sorge für Mitgeschöpfe, die Bekräftigung eines wohltuenden Ereignisses mit „Gott sei Dank“. Mitgeschöpfe ist ein Euphemismus, der den Wesensunterschied im Schöpfungsakt ebenso andeutet wie unterschlägt. So wird die Wesensstellung des Menschen, seine Humanität aufgrund seiner Hominität von seiner Animalität ontologisch separiert. Eine Wesensbindung gemäß der Formel animal rationale ist so nicht einlösbar. Der Zwiespalt von alltäglicher Auffassung und philosophischer Einsicht bleibt gegenwärtig und auch in Zukunft erhalten. Und er kann nur ganz selten, extraordinär und individuell geschlossen werden. 328

Jürgen Habermas, a.a.O. 75ff. Seine Darstellung von Buddhas Lehre vom Mitleiden (unter 3, S. 361ff., ist ebenso eindringlich wie in ihrem intellektuell hohen Anspruch eingängig und lehrreich. 174

Die in Gesellschaft und Verfassung fest verankerte Denkart widersteht der Transformation durch nachmetaphysische Philosophie und ihren Säkularisierungstendenzen. Sie verdankt sich der religiös gestützten Selbstbehauptung menschlicher Wesensart, die nicht als spezifische Differenz zum allgemein Animalischen verstanden werden soll. Dieser Befund am Ende unserer Untersuchung eines philosophischen Traditionsbestandes nötigt zur Skepsis. Der philosophische Diskurs bleibt – mit Habermas gesagt – im kontrafaktischen Schwebezustand über einer strukturell konservativen gesellschaftlichen Lebenswelt. Sie scheut einen Lernprozess in die Tiefenschicht der alten anthropologischen Formel animal rationale. Eine universale moralische Regelung des Mitleidens mit allem, was lebt, würde ohnehin diesen ethischen Sonderakt in seinem Wesen zunichtemachen. Die elementare Bindung an das Animalische, die zugleich ethisch leitend ihre differentia specifica prägt, bleibt den wenigen supererogativ zu mystischer Einstellung Befähigten vorbehalten. Die Verankerung des menschlichen Daseins im Animalischen, wie sie die alte Formel mit logischer Konsequenz verlangt, ist keinesfalls mit einer Verklärung der natürlichen Lebensverhältnisse verbunden. Schopenhauer hat das mit seinem nüchternen Blick gesehen. Aber aus der mystischen Identität mit allem, was lebt, erwächst auch die Solidarität mit allen Lebewesen, entspringt die Quelle einer Ethik des Mitfühlens, die humane differentia specifica. Diese Solidarität bedeutet aber, den christlichen Glauben an ein ewiges Leben aufzugeben. Mit seiner tröstlichen Verheißung käme uns allerdings auch die Furcht vor Verdammnis abhanden. Besser lässt sich diese Daseins- und Denkart nicht ausdrücken, als mit den beiden letzten Strophen von Bertolt Brechts „Gegen Verführung“ in seiner Hauspostille: Lasst euch nicht vertrösten! Ihr habt nicht zu viel Zeit Lasst Moder den Erlösten! Das Leben ist am größten Es steht nicht mehr bereit.

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Und es kommt nichts nachher. Zu Frohn und Ausgezehr! Was kann euch Angst noch rühren? Ihr sterbt mit allen Tieren Und es kommt nichts nachher.329

329

Bertolt Brechts Hauspostille, Frankfurt 1958, 141f. 176

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