Ethik und Religion bei Immanuel Kant: Versuch einer Verhältnisbestimmung [1 ed.] 3495491147, 9783495491140

Zwischen Ethik und Religion besteht in der Philosophie Immanuel Kants ein enges Verhaltnis. In seinem fruhen Denken geht

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Ethik und Religion bei Immanuel Kant: Versuch einer Verhältnisbestimmung [1 ed.]
 3495491147, 9783495491140

Table of contents :
Inhalt
1. Einleitung
2. Kritische Position: Ethik setzt keine Religion voraus, sondern sie führt zu ihr
3. Die Problematisierung der kritischen Position
4. Ethik und Religion im Opus postumum
5. Verschiedene Gründe für das Hinführen der Ethik zur Religion
6. Schluss
Siglenverzeichnis
Literaturverzeichnis

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Jakub Sirovátka

Ethik und Religion bei Immanuel Kant Versuch einer Verhältnisbestimmung

ALBER PHILOSOPHIE

B

Jakub Sirovátka Ethik und Religion bei Immanuel Kant

ALBER PHILOSOPHIE

A

Jakub Sirovátka

Ethik und Religion bei Immanuel Kant Versuch einer Verhältnisbestimmung

Verlag Karl Alber Freiburg / München

Jakub Sirovátka Ethics and Religion with Immanuel Kant Attempt to determine a relationship There is a close relationship between ethics and religion in the philosophy of Immanuel Kant. This study focuses on the mutual relationship between ethics and metaphysics in Kant’s entire oeuvre, including texts unpublished during his lifetime. In his early thinking Kant assumed that ethics presupposed metaphysics. This position is abandoned in his critical philosophy in favor of the well-known thesis that ethics does not presuppose religion, but inevitably leads to it. At the centre of these considerations is the attempt to provide a plausible explanation of how this inevitability is to be understood and why ethics leads to metaphysics. The aim of the investigation is to show that religion or certain metaphysical assumptions are not foreign bodies in Kant’s ethical system, but that religion plays a constitutive and constructive role in critical practical philosophy.

The Author: Prof. Dr. Jakub Sirovátka, born 1971, studied theology and philosophy in Eichstätt and Rome. Doctorate and habilitation in philosophy at the Faculty of Philosophy and Education of the KU Eichstätt-Ingolstadt. Since 2013 he has been teaching philosophy at the South Bohemian University in Budweis and since 2017 he has also been researching at the Institute of Philosophy of the Czech Academy of Sciences in Prague.

Jakub Sirovátka Ethik und Religion bei Immanuel Kant Versuch einer Verhältnisbestimmung Zwischen Ethik und Religion besteht in der Philosophie Immanuel Kants ein enges Verhältnis. Die vorliegende Studie untersucht vor allem das gegenseitige Verhältnis von Ethik und Metaphysik im gesamten Werk Kants einschließlich seiner zu Lebzeiten unveröffentlichten Texte. In seinem frühen Denken geht Kant davon aus, dass Ethik Metaphysik voraussetzt. Diese Position wird in seiner kritischen Philosophie verlassen zugunsten der bekannten These, dass Ethik keine Religion voraussetzt, zu ihr jedoch »unausweichlich« führt. Im Zentrum der Überlegungen steht der Versuch einer plausiblen Erklärung, wie diese Unausweichlichkeit zu verstehen ist und warum Ethik in die Metaphysik mündet. Das Ziel der Untersuchung besteht darin zu zeigen, dass die Religion oder bestimmte metaphysische Annahmen in der ethischen Systematik Kants keinen Fremdkörper darstellen, sondern die Religion in der kritischen praktischen Philosophie eine konstitutive und konstruktive Rolle spielt.

Der Autor: Prof. Dr. Jakub Sirovátka, geb. 1971, studierte Theologie und Philosophie in Eichstätt und Rom. Promotion und Habilitation in Philosophie an der Philosophisch-Pädagogischen Fakultät der KU EichstättIngolstadt. Seit 2013 doziert er Philosophie an der Südböhmischen Universität in Budweis und forscht seit 2017 zugleich am Institut für Philosophie der tschechischen Akademie der Wissenschaften in Prag.

Die Publikation entstand im Rahmen des Forschungsprojektes GAČR 16–22881 S »Wandlungen im Verhältnis von Ethik und Religion im Werk von I. Kant«, das von der tschechischen Grant-Agentur finanziert wird. Der Druck wird ebenfalls von der tschechischen GrantAgentur GAČR finanziert.

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49114-0 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82349-1

»Konsequent zu sein, ist die größte Obliegenheit eines Philosophen …« KpV A 44 »allein man reift für die Vernunft nie anders, als durch eigene Versuche« RGV B 292

für Anna

Die vorliegende Publikation entstand im Rahmen des Forschungsprojektes »Wandlungen im Verhältnis von Ethik und Religion im Werk von I. Kant«, das von der tschechischen Forschungs- und Drittmittelagentur GAČR finanziert wurde. In den Text wurden in überarbeiteter, erweiterter oder gekürzter Form mehrere tschechische und deutsche Zeitschriftenartikel eingearbeitet, die im Zusammenhang des Projektes verfasst worden sind. An den entsprechenden Stellen wird darauf hingewiesen. Für zahlreiche Gespräche und Inspiration danke ich herzlich meinen Kollegen Jan Kuneš und Ondřej Sikora.

Inhalt

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Theoretische und praktische Vernunft . . . . . . . . . . Kritische Position: Ethik setzt keine Religion voraus, sondern sie führt zu ihr . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Moralische Bestimmung des Willens . . . . . . . 2.1.1. Die moralische Willensbestimmung durch das Moralgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2. Glückseligkeit und Religion als Triebfeder des Willens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Die Problematisierung der kritischen Position . . . . . . . 3.1. Die moralische Bestimmung des Willens im Kontext der Vorlesungen und der Reflexionen . . . . . . . . . . . . 3.2. Glückseligkeit und Religion als »notwendige Ergänzung« der Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Ethik und Religion im Opus postumum . . . . . . . . . . . 4.1. Transzendentale Anthropologie oder transzendentale Theologie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Kants »Sonnengleichnis« als hermeneutischer Schlüssel .

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5. 5.1. 5.2. 5.3. 5.4. 5.5.

Verschiedene Gründe für das Hinführen der Ethik zur Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die vernünftige Sinnhaftigkeit des Ganzen . . . . Die Forderung des Sittengesetzes . . . . . . . . . Das höchste Gut als Endzweck des Willens . . . . . Das Motiv der Hoffnung . . . . . . . . . . . . . . Die innere Reinheit der Gesinnung . . . . . . . .

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. 76 . 76 . 80 . 84 . 97 . 100 9

Inhalt

6.

Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Siglenverzeichnis

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Einleitung

Ethik und Religion stehen von Anfang an im Denken von Immanuel Kant in einem engen Verhältnis und das sowohl in seiner vorkritischen als auch in der kritischen Philosophie bis zum Opus postumum. Dieses Verhältnis wurde jedoch von Kant in unterschiedlicher Art und Weise bestimmt. In der vorliegenden Untersuchung geht es nicht um die allgemeine Sicht Immanuel Kants auf die Religion als solche. 1 Was hier untersucht wird, ist die Frage, welche Rolle die Religion in der Moralkonzeption spielt und welche Stellung sie innerhalb der praktischen Systematik Kants innehat. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht die These vom notwendigen Übergang von der Ethik zur Religion. Wenn Kant behauptet, dass Ethik zur Religion notwendigerweise führt, lässt sich fragen, wie dieser Übergang zu verstehen ist und wie er inhaltlich eingelöst wird. Die Entwicklung von Kants Philosophie verläuft bekannterweise von der metaphysischen Grundlegung der Ethik zur ethischen Grundlegung der Metaphysik. In seiner abschließenden kritischen Position geht Kant davon aus, dass Ethik »unausbleiblich« zur Religion führt, wie es in der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft aus dem Jahre 1793 steht:

Zur Rolle der Religion in Kants Denken vgl. grundsätzlich u. a. F. Ricken/F. Marty (Hg.), Kant über Religion, Stuttgart 1992, N. Fischer (Hg.), Kants Metaphysik und Religionsphilosophie, Hamburg 2004, Ch. L. Firestone/N. Jacobs (ed.), In defence of Kant’s ›Religion‹, Bloomington 2008, N. Fischer (Hg.), Kants Grundlegung einer kritischen Metaphysik, Hamburg 2010, R. Wimmer, Kants Religionsphilosophie, Berlin 2011 (Reprint von 1990), B. J. Bruxvoort Lipscomb/J. Krueger (eds.), Kant’s Moral Metaphysics, Berlin, New York 2010, O. Angeli/Th. Rentsch/N. Schneidereit/H. Vorländer (Hg.), Transzendenz, Praxis und Politik bei Kant, Berlin 2013, R. Langthaler, Geschichte, Ethik und Religion im Anschluss an Kant. Philosophische Perspektiven »zwischen skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz«, Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Sonderbände Bd. 19/1, 19/2, Berlin 2014.

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Einleitung

»Wenn nun aber die strengste Beobachtung der moralischen Gesetze als Ursache der Herbeiführung des höchsten Guts (als Zwecks) gedacht werden soll: so muß, weil das Menschenvermögen dazu nicht hinreicht, die Glückseligkeit in der Welt einstimmig mit der Würdigkeit glücklich zu sein zu bewirken, ein allvermögendes moralisches Wesen als Weltherrscher angenomen werden, unter dessen Vorsorge dieses geschieht, d. i. die Moral führt unausbleblich zur Religion.« (RGV BA XIII) 2

Unter dem Begriff der Religion ist bei Kant meistens die Vernunftreligion gemeint, wie sie zum Beispiel in der Vorrede zur zweiten Auflage der Religionsschrift charakterisiert wird, oder gewisse metaphysische Positionen, die wir aus praktisch-ethischen Gründen anzunehmen haben und die mit der Postulatenlehre zusammenhängen. Diese Art der Metaphysik bezeichnet Kant als eine praktisch-dogmatische Metaphysik. 3 Das Adjektiv »dogmatisch« ist vielleicht ein wenig missverständlich wegen Kants Distanz zu einer spekulativen theoretisch-dogmatischen Metaphysik. Auch die praktisch-dogmatische Metaphysik verbleibt im Rahmen der kritisch-praktischen Metaphysik: die Bezeichnung »praktisch-dogmatisch« soll andeuten, dass es sich um die Annahme von bestimmten theoretischen, metaphysischen Sätzen handelt (z. B. dass ein Gott existiert), die in einem Vernunftglauben angenommen werden, der die Gründe für das zu Glaubende alleine in der pratischen Vernunft findet, oder besser gesagt im moralischen Gesetz, das das Höchste Gut in der Welt zu realisieren befiehlt. Kants Begriff der Religion im Sinne eines Vernunftglaubens ist also ein anderer als in der heutigen Debatte im Rahmen einer zeitgenössischen Religionsphilosophie oder Religionssoziologie, wo zwischen der Religion als Vollziehen von bestimmten gemeinschaftlichen, meist kultischen Handlungen und dem persönlichen, inneren Glauben unterschieden wird. Zugleich muss ebenfalls beachtet 2 Vgl. auch z. B. KpV A 233: »Auf solche Weise führt das moralische Gesetz durch den Begriff des höchsten Guts, als das Objekt und den Endzweck der reinen praktischen Vernunft, zur Religion, d. i. zur Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote […]«. Oder RGV BA X f.: »Moral also führt unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert, in dessen Willen dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll.« 3 Die Bezeichnung praktisch-dogmatische Metaphysik verwendet Kant in der Preisschrift Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolffs Zeiten in Deutschland gemacht hat?, A 104 (AA XX, 294). Vgl. dazu M. Baum, Metaphysik, in: M. Willaschek/J. Stolzenberg/G. Mohr/S. Bacin (Hg.), Kant-Lexikon. Studienausgabe, Berlin/Boston 2017, S. 361–363.

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Einleitung

werden, dass Kant kein Religionswissenschaftler im heutigen Sinne ist. Kants Ausführungen zum Thema »Religion« sind als der Versuch einer philosophischen Rekonstruktion des Religionsbegriffs zu lesen. In der Vorrede zur Religionsschrift wird die Vernunft- und Offenbarungsreligion mit zwei konzentrischen Kreisen verglichen, wobei die Vernunftreligion den inneren, engeren Kreis ausmacht, der von der Offenbarungsreligion umfasst wird. Damit wird angedeutet, dass die Vernunftreligion als der Kern jeder historischen Religion zu verstehen ist, die sich auf eine göttliche Offenbarung beruft: »Da Offenbarung doch auch reine Vernunftreligion in sich wenigstens begreifen kann, aber nicht umgekehrt diese das Historische der ersteren, so werde ich jene als eine weitere Sphäre der Glaubens, welche die letztere, als eine engere, in sich beschließt […] betrachten können« (RGV B XXI f.). 4

Die Vernunftreligion steht für das »Reinmoralische« (RGV B XXIII) in den historischen, konkret existierenden Religionen. Mit der geoffenbarten Religion ist meistens unausgesprochen das Christentum gemeint, das Kant bekannterweise für die moralischste unter allen historischen Religionen hält: das christliche Prinzip ist laut Kant nicht theologisch-heteronom abgeleitet, »sondern Autonomie der reinen praktischen Vernunft für sich selbst, weil sie die Erkenntnis Gottes und seines Willens nicht zum Grunde dieser Gesetze, sondern nur der Gelangung zum höchsten Gute unter der Bedingung der Befolgung derselben macht, und selbst die eigentliche Triebfeder zur Befolgung der ersteren nicht in den gewünschten Folgen derselben, sondern in der Vorstellung der Pflicht allein setzt, als in deren treuer

Vgl. auch AA XXVIII, 1142: »Eine Moral, die eine Theologie voraussetzt, die vom Willen Gottes handelt, was der Mensch zu tun schuldig, ist theologische Moral. Sie verdirbt aber alle Moral, so herrlich sie auch ist, weil man da durch bloße Vernunft den Willen Gottes entdecken muß, wenn man ihn nicht als einen geoffenbarten Willen annimmt. […] Die Moral muß nicht auf Theologie gegründet sein, sondern sie muß in sich selbst Grund haben. Alle moralischen Handlungen sind dem Willen Gottes gemäß. Ist in der Philosophie eine theologische Moral, so verdirbt sie alles und ist zu nichts nützlich; denn sie muß sich nicht auf andere Prinzipien, sondern auf Prinzipien in ihr selbst gründen; sie muß aber hernach mit ihr verbunden werden. Gottes moralische Eigenschaften müssen unseren Begriff von Gott bestimmen. […] Eine geoffenbarte Religion hebt nicht die natürliche auf, sondern sie ergänzt sie, verdirbt sie aber nicht. […] Bei jeder geoffenbarten Theologie liegt die natürliche zum Grunde. Wenn wir Interesse nehmen an der Moral, nehmen wirs auch an dem Dasein Gottes, und darauf gründet sich der Glaube.«

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Einleitung

Beobachtung die Würdigkeit des Erwerbs der letztern allein besteht.« (KpV A 232) 5 Die These von einer notwendigen oder unausweichlichen Mündung der Ethik in die Religion ist in allen drei Kritiken (in jeweils anderem Kontext) enthalten, sodass die Religionsschrift nur das aufnimmt und fortführt, was bereits in den kritischen Hauptschriften behauptet worden ist. Die Kritik der reinen Vernunft spricht über Gott und das »künfige Leben« als von »zwei von der Verbindlichkeit, die uns reine Vernunft auferlegt, nach Prinzipien eben derselben Vernunft nicht zu trennende Voraussetzungen« (KrV B 839) in den Passagen zum Kanon der reinen Vernunft. In der Kritik der praktischen Vernunft wird die Behauptung vom Übergang der Ethik zur Religion vor allem in der Dialektik der reinen praktischen Vernunft vorgelegt, die insbesondere mit der Dialektik im Begriff des Höchsten Guts und mit der Postulatenlehre zusammenhängt (vgl. KpV A 198 ff.). In der Kritik der Urteilskraft wird der Zusammenhang zwischen Ethik und Religion in den Paragraphen § 87–89 vorgestellt, die den »moralischen Beweis« der Existenz Gottes behandeln. Selbstverständlich handelt es sich nicht um einen theoretisch objektiven Beweis more geometrico, sondern erneut um die Notwendigkeit – aus praktischmoralischen Gründen – eine theoretisch-metaphysische Position anzunehmen. So lässt sich Otfried Höffe zustimmen, wenn er sagt, dass alle drei Kritiken letztlich in einer Religionsphilosophie gipfeln: »Nicht nur befassen sich alle drei Kritiken mit einer moralischen Welt, mit dem Urheber dieser Welt und mit der besonderen Art, diesen zu ›wissen‹. Die kritische Transzendentalphilosophie erreicht in diesen Erörterungen auch einen, vielleicht sogar den Höhepunkt. Alle drei Kritiken gipfeln in einer philosophischen Religion, freilich rein natürlichen, von keinerlei heiligen Schriften inspirierten Religion.« 6 In meinen Überlegungen möchte ich mich also auf das Untersuchen der Frage konzentrieren, wie man die von Kant behauptete These zu verstehen hat, dass Ethik unausweichlich zur (Vernunft-)Religion 5 Vgl. dazu auch z. B. RGV B 61 f.: »Man kann aber alle Religionen in die der Gunstbewerbung (des bloßen Kultus) und die moralische, d. i. die Religion des guten Lebenswandels einteilen. […] Nach der moralischen Religion aber (dergleichen unter allen öffentlichen, die es je gegeben hat, allein die christliche ist) […]«. 6 Vgl. O. Höffe, Einführung in Kants Religionsschrift, in: O. Höffe (Hg.), I. Kant. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Berlin 2011, S. 7.

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Einleitung

hinführt. Wie schon bereits erwähnt, halte ich den religionsphilosophischen »Ausgang« von Kants systematischen ethischen Überlegungen für plausibel und versuche auch darzulegen, warum das so ist. In der Tat bin ich überzeugt, dass die Religion in Kants Ethik eine konsistente und konstruktive Rolle spielt. In den folgenden Darlegungen werde ich meine Aufmerksamkeit auf einige fundamentale Elemente richten, die ich für zentral halte. Das Buch erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es geht mir vielmehr darum, die Problematik des Übergangs der Ethik zur Religion aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. Führt also die Ethik »unausbleiblich« zur Religion? Die praktische Vernunft legt es dem Menschen aus Gründen, die sich aus dem unbedingten Sollen des Moralgesetzes ergeben, nahe, an einen Gott und an das Fortleben der Seele zu glauben. Dieser Glaube speist sich nicht aus den Quellen der historischen, religiösen Offenbarung, sondern gründet alleine in der praktischen Vernunft. Es handelt sich um einen Vernunftglauben. Trotzdem ist der unausbleibliche Übergang der Ethik zur Religion nicht im Sinne einer zwingenden theoretischen Einsicht wie bei einem mathematischen Beweis gemeint. So ist Bernd Dörflinger zuzustimmen, wenn er schreibt, »durch die Moral ist eben entschieden nahegelegt, den Akt des Glaubens hin zu vollziehen, ohne daß er doch dadurch letztlich nezessitiert wäre und aufhörte, ein freier Akt zu sein. Was den Akt in Richtung Glauben drängt, aber nicht zwingt, ist – wie immer wieder zu sagen bleibt – das Bedürfnis praktischer Vernunft.« 7 Eine zentrale Stelle für das Verständnis des Zusammenhangs zwischen Ethik und Religion ist eine Passage in der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten. Diese Passage bewegt sich im Rahmen der Ausführungen über das Gewissen und lautet in aller Ausführlichkeit so: »[…] so wird das Gewissen als subjektives Prinzip einer vor Gott seiner Taten wegen zu leistenden Verantwortung gedacht werden müssen; ja es wird der letztere Begriff (wenn gleich nur auf dunkle Art) in jenem moralischen Selbstbewußtsein jederzeit enthalten sein. Dieses will nun nicht so viel sagen, als: der Mensch, durch die Idee, zu welcher ihn sein Gewissen unvermeidlich leitet, sei berechtigt, noch weniger aber, er sei durch dasselbe verbunden, ein solches höchste Wesen außer sich als wirklich anzunehmen; 7 B. Dörflinger, Führt Moral unausblieblich zur Religion?, in: N. Fischer (Hg.), Kants Metaphysik und Religionsphilosophie, Hamburg 2004, S. 222.

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Einleitung

denn sie wird ihm nicht objektiv, durch theoretische, sondern bloß subjektiv, durch praktische sich selbst verpflichtende Vernunft, ihr angemessen zu handeln, gegeben […].« (MSTL A 101 f.)

Kant nennt hier subjektiv Gründe der praktischen Vernunft im Gegensatz zu einer theoretisch-objektiven Beweisführung. Davon zu unterscheiden wäre die Differenz zwischen einer objektiven und subjektiven Bestimmung des Willens, also einer objektiven und subjektiven Motivation. Bekanntlich bildet für Kant die objektive Motivation die Bestimmung des Willens durch das Sittengesetz und die subjektive Motivation die Einflussnahme des Sittengesetzes auf den Willen als einer subjektiven Triebfeder. Mit dem oben angeführten Zitat aus der Metaphysik der Sitten rückt jedoch in den Vordergrund der entscheidende Punkt im Nexus zwischen Ethik und Religion. Entscheidend ist nämlich das allerpersönlichste Engagement des Handelnden: Nur wer das Sittengesetz für sich als bestimmend erkennt und anerkennt, nur der wird auch die metaphysischen Annahmen des Daseins Gottes und der Unsterblichkeit der Seele als zwingend erachten, gleichwohl immer in praktischer Absicht, d. h. nicht als eine objektive theoretische Gewissheit. Dies scheint Kant behaupten zu wollen.

1.1. Theoretische und praktische Vernunft Um adäquat zu verstehen, wie Kant seine ethisch-praktische Systematik entwickelt und vor allem, warum er sie in der Art und Weise entfaltet, wie er es tut, wird es nötig sein, eine kurze Anmerkung zur theoretischen Philosophie voranzustellen. Kant erhebt den hohen Anspruch, seine Philosophie müsse den Anforderungen der Vernunft selbst entsprechen und nicht irgendwelchen historischen Systemen der Philosophie. Er nimmt für sich in Anspruch, als Selbstdenker aus den Quellen der Vernunft zu schöpfen. 8 Inwieweit in Kants Philo8 Vgl. dazu Kants ironische Anmerkung in Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können A 3: »Es gibt Gelehrte, denen die Geschichte der Philosophie (der alten sowohl, als neuen) selbst ihre Philosophie ist, vor diese sind gegenwärtige Prolegomena nicht geschrieben. Sie müssen warten, bis diejenigen, die aus den Quellen der Vernunft selbst zu schöpfen bemühet sind, ihre Sache werden ausgemacht haben, und alsdenn wird an ihnen die Reihe sein, von dem Geschehenen der Welt Nachricht zu geben.«

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Theoretische und praktische Vernunft

sophie Kant selber als ein konkreter Denker oder die Vernunft selbst zu finden ist, lassen wir hier unausgemacht. Für das Verständnis seiner Praktischen Philosophie ist es jedoch entscheidend, zu verstehen, wie Kant die Vernunft und ihre Natur charakterisiert und nach welchen Regeln sie nach ihm vorangeht und arbeitet. Kant geht in seiner Philosophie davon aus, dass die Vernunft »architektonisch« (vgl. KrV B 502) arbeitet und dass sie sich ausschließlich mit einer konsistenten systematischen Einheit des Ganzen zufrieden gibt: »Ich verstehe unter einer Architektonik die Kunst der Systeme. […] Unter der Regierung der Vernunft dürfen unsere Erkenntnisse überhaupt keine Rhapsodie, sondern sie müssen ein System ausmachen, in welchem sie allein die wesentliche Zwecke derselben unterstützen und befördern können. Ich verstehe aber unter einem Systeme die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee. Diese ist der Vernunftbegriff von der Form des Ganzen […].« (KrV B 860) 9

Zugleich sucht die Vernunft zu allem Bedingten das Unbedingte. Die Natur der Vernunft hindert uns, mit einer Vernunft zufrieden zu sein, die sich selbst widersprechen würde. Zur Beschaffenheit der Vernunft gehört ebenfalls die Tatsache, dass sie mit »Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.« (KrV A VII).

In diesen Fragen äußert sich die metaphysische Naturanlage der Vernunft (vgl. KrV B 20). 10 Kant vertritt die Überzeugung, dass es ver-

9 Vgl. auch KrV B 355: »Alle unsere Erkenntnis hebt von den Sinnen an, geht von da zum Verstande, und endigt bei der Vernunft, über welche nichts Höheres in uns angetroffen wird, den Stoff der Anschauung zu bearbeiten und unter die höchste Einheit des Denkens zu bringen.« Die Idee des Daseins Gottes, der Unsterblichkeit der Seele und der Freiheit des Willens haben kein empirisches Gegenüber, das diesen Begriffen entsprechen würde. 10 Vgl. auch KrV B XV: »Woher hat denn die Natur unsere Vernunft mit der rastlosen Bestrebung heimgesucht, ihm als einer ihrer wichtigsten Angelegenheiten nachzuspüren?«; KrV B 21: »Denn die menschliche Vernunft geht unaufhaltsam, ohne daß bloße Eitelkeit des Vielwissens sie dazu bewegt, durch eigenes Bedürfnis getrieben bis zu solchen Fragen fort, die durch keinen Erfahrungsgebrauch der Vernunft und daher entlehnte Prinzipien beantwortet werden können […] Wie ist Metaphysik als Naturanlage möglich? d. i. wie entspringen die Fragen, welche reine Vernunft sich aufwirft, und die sie, so gut als sie kann, zu beantworten durch ihr eigenes Bedürfnis getrieben wird, aus der Natur der allgemeinen Menschenvernunft?« Zur metaphysi-

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Einleitung

gebens sei, Gleichgültigkeit gegenüber diesen höchsten Fragen der Vernunft vorzutäuschen, »deren Gegenstand der menschlichen Natur nicht gleichgültig sein kann« (KrV A X). Kant geht also davon aus, dass die Vernunft eine bestimmte innere Verfasstheit aufweist, die er in seinem Denken (quasi phänomenologisch) beschreibt und nach der sich jedes Denken ausrichten muss. Die Welt samt dem menschlichen Leben müsse von der Vernunft systematisch und konsistent gedacht werden können und die Vernunft kann nicht ruhen, bis dieses Ziel erreicht ist. So hält es Kant für ausgemacht, dass sich die Vernunft auf drei höchste »Angelegenheiten« bezieht, die sie als die wichtigsten ansieht. »Diese höchsten Zwecke werden, nach der Natur der Vernunft, wiederum Einheit haben müssen, um dasjenige Interesse der Menschheit, welches keinem höheren untergeordnet ist, vereinigt zu befördern.« (KrV B 825 f.) Die Endabsicht der Vernunft zielt folglich auf diese drei »Kardinalgegenstände«: »die Freiheit des Willens, die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes« (KrV B 826). Die Vernunft bildet eine gedachte, systematisch geordnete Pyramide aller Erkenntnisse, auf deren Spitze die oben erwähnten drei Ideen stehen, an denen die menschliche Vernunft ihr größtes Interesse zeigt. Die drei höchsten Ideen haben bekannterweise eine regulative und heuristische Funktion, da die objektive Erkenntnis lediglich in den Grenzen der sinnlichen Erfahrung möglich ist. Sie ermöglichen uns, alle Kenntnisse zu suchen, zu vereinheitlichen und in ein Ganzes zu systematisieren, wobei der Mensch diese systematische Einheit für die eigene Orientierung in der Welt benötigt. In einer anderen Textstelle bilden den Gipfel der gedachten Pyramide der Erkenntnisse nicht drei Ideen, sondern nur eine: die Idee des Daseins Gottes. Der Mensch kann selbstverständlich Gott nicht erkennen, er kann nicht mit Sicherheit wissen, ob Gott tatsächlich existiert. In theoretischer Hinsicht ist die Gottesidee ein »focus imaginarius«, der die Einheit unseres Erkennens gewährleistet. In diesem Zusammenhang lässt sich in der Tat über eine sog. »Philosophie des als ob« sprechen (vgl. dazu KrV B 698 ff.), einer Philosophie, in deren Rahmen wir uns unser gesamtes Erkennen in der Weise vorstellen, als ob es sich in einem höchsten Punkt vereinigen würde: »Die höchste formale Einheit, welche allein auf Vernunftbegriffen beruht, ist die zweckmäßige Einheit der Dinge, und das spekulative Interesse der schen Naturanlage der Vernunft vgl. Norbert Fischer, Die philosophische Frage nach Gott, Paderborn 1995, S. 40–57.

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Theoretische und praktische Vernunft

Vernunft macht es notwendig, alle Anordnung in der Welt so anzusehen, als ob sie aus der Absicht einer allerhöchsten Vernunft entsprossen wäre.« (KrV B 714)

Hierbei handelt es sich um eine Konstruktion der Vernunft, die zwar Gott als den gedachten höchsten Punkt nicht wissen kann, sie kann ihn jedoch denken bzw. sie muss ihn aufgrund des spekulativen Interesses der Vernunft denken, wie Kant schreibt. So zeigt sich die Kritik der reinen Vernunft nicht nur als eine Schrift über die Metaphysik, sondern selbst als eine metaphysische Schrift, indem sie zeigt, wie Metaphysik überhaupt möglich ist, nämlich als metaphysische Naturanlage der Vernunft, die letztlich auf bestimmte praktische metaphysische Positionen hinausläuft im Sinne der Postulate der reinen praktischen Vernunft. 11 Wie noch zu zeigen sein wird, ist das theoretische »als ob« von dem »als ob« der praktischen Vernunft zu unterscheiden, da die praktische Vernunft stärkere Motive für die Annahme der Existenz Gottes aufweist als die theoretische und somit eine für den möglichen Glauben überzeugendere Argumentation besitzt. Das Resultat der Kritik der reinen Vernunft bezüglich der höchsten drei Ideen besteht bekannterweise in der Einsicht, dass sich auf der theoretischen Ebene ihre Realität nicht dartun lässt. Nachdem keine stichhaltigen Argumente more geometrico für die positive objektive Wirklichkeit gefunden werden konnten und lediglich die Nicht-Unmöglichkeit der drei Ideen festgestellt wird, wird der Blick des Denkens auf das Feld der praktischen Philosophie gelenkt. Die praktische Philosophie erweist sich gegenüber der theoretischen als überlegen, indem sie sich imstande zeigt, die Realität der drei höchsten Vernunftideen darzulegen. 12 Die praktische Philosophie stellt für Vgl. dazu Kants Brief an seinen Freund Marcus Herz vom 11. Mai 1781 nach dem Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft. Die erste Kritik wird als eine »Metaphysik von der Metaphysik« charakterisiert. I. Kant: Briefwechsel, Hamburg 1972, S. 195. 12 Das Projekt, das noch in der Kritik der reinen Vernunft maßgebend gewesen ist, nämlich das der kritischen Metaphysik, tritt nun in den Hintergrund zugunsten einer Ethik, die dann in die Religionsphilosophie mündet. Die Wandlungen von Kants Verhältnis zur Metaphysik lassen sich in diesem Zusammenhang gut an der Thematik der sog. Gottesbeweise beobachten. Auch wenn er in einer seiner frühen, vorkritischen Arbeiten Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes aus dem Jahre 1763 noch einen eigenen spekulativen rationalistischen Beweis des Daseins Gottes vorlegt, kritisiert er die traditionellen »Gottesbeweise« als unzureichend. Diese Kritik finden wir in einer ähnlichen Form in der Kritik der reinen Vernunft, in der Kant die Unmöglichkeit aller spekulativen Metaphysik des Übersinn11

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Einleitung

Kant den einzigen Weg dar, der den drei höchsten Gegenständen, an denen die Vernunft das stärkste Interesse hat, ihre Realität (auch wenn nur eine praktische) gewährleisten kann. Im Verlaufe des Buches soll sichtbar gemacht werden, wie Kant zu diesem Ergebnis kommt. Man kann jedoch schon an dieser Stelle festhalten, dass der abschließende Teil der Kritik der reinen Vernunft mit dem bezeichnenden Titel »Kanon der reinen Vernunft« einen Ausblick auf das Feld der praktischen Philosophie bietet, worauf die ganze Untersuchung zusteuert. Die theoretische Philosophie findet ihre Pointe in der praktischen Philosophie, 13 wobei die Kritik der praktischen Vernunft konsequenterweise über den Primat der praktischen Vernunft spricht. 14 Was ist mit diesem Primat gemeint? Die Antwort auf diese Frage lässt sich auf zwei Ebenen suchen. Auf der einen Seite steht die Ansicht, dass die größte Bestimmung und Aufgabe des Menschen nicht in der Enfaltung der theoretischen Vernunft, d. h. zum Beispiel in der Entwickung von Technik oder im Betreiben von Wissenschaft, sondern in der praktisch-moralischen Lebensführung besteht. In diesem Sinne korrigiert Kant sich selbst, wenn er am Ende der ersten Kritik schreibt, dass die oben angesprochenen drei Kardinalangelegenheiten der Vernunft ein weiterliegendes Ziel verfolgen »nämlich, was zu tun sei, wenn der Wille frei, wenn ein Gott und eine künftige Welt ist. Da dieses nun unser Verhalten in Beziehung auf den höchsten Zweck betrifft, so ist die letzte Absicht der weislich uns versor-

lichen nachweist. Nach der Ausarbeitung seiner praktischen Philosophie legt er in der Kritik der Urteilskraft (§ 87; A 414 ff., B 418 ff.) einen neuen, nun aber moralischen Beweis von der Existenz Gottes vor. 13 Vgl. z. B. J. Silber J., Die metaphysische Bedeutung des höchsten Guts als Kanon der reinen Vernunft in Kants Philosophie, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 23, 1969, S. 549; O. Höffe, Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie, München 22004, S. 23 oder R. Brandt, Die Bestimmmung des Menschen bei Kant, Hamburg 22009, S. 334. 14 Vgl. KpV A 215 ff. In der vorkritischen Periode spielt die praktische Philosophie keine dominante Rolle, auch wenn sich Kant mit den ethischen Fragen beschäftigt hat. Zum Beispiel bereits in der Dissertation Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio aus dem Jahre 1755 wird die grundsätzliche Problematik der menschlichen Freiheit aufgeworfen: In einem fiktiven Gespräch zwischen Caius und Titius wird die Frage behandelt, wodurch das menschliche Handeln bedingt wird und unter welchen Bedingungen sich über ein freies Handeln sprechen lässt (vgl. Sectio II. Propositio IX).

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Theoretische und praktische Vernunft

genden Natur, bei der Einrichtung unserer Vernunft, eigentlich nur aufs Moralische gestellet« (KrV A 829).

Die Würde des Menschen besteht in seiner Fähigkeit, als ein moralisches Wesen zu handeln. Die Einsicht, dass das Endziel und Endzweck des Menschen im Entfalten der eigenen Moralität liegt, findet sich in allen drei Kritiken. In der Kritik der praktischen Vernunft spricht Kant über eine praktische Idee der Heiligkeit des Willens, also über eine völlige Übereinstimmung des Willens mit dem Sittengesetz. Diese Heiligkeit des Willens »ist gleichwohl eine praktische Idee, welche notwendig zum Urbilde dienen muß, welchem sich ins Unendliche zu nähern das einzige ist, was allen endlichen vernünftigen Wesen zusteht« (KpV 58). Und in der Kritik der Urteilskraft lässt sich Kant sogar zu der Feststellung hinreißen, dass ohne den Menschen als einem moralischen Wesen die ganze Welt nur »bloße Wüste« ohne jeden Endzweck wäre (KU B 410). Denn nur bei diesem einzigen Seienden – dem Menschen – lässt sich nicht mehr fragen, zu welchem anderen Zweck er da ist. Der Mensch ist als moralisches Wesen ein Zweck an sich selbst, ein Endzweck (vgl. KU B 398). Auf der anderen Seite wird die praktische Vernunft zum »Kanon«, zur Richsschnur für die Vernunft in theoretischer Hinsicht in dem Sinne, dass das Moralgesetz die Realität der Freiheit »offenbart«. Die theoretisch nicht begründbare Idee der Freiheit wird dank des »Faktums« der reinen Vernunft, dank des »Faktums« des Moralgesetzes als eine wirkliche offenbar. Und das unbedingte Sollen des Moralgesetzes führt bekannterweise wiederum zu den Postulaten der Unsterblichkeit der Seele und des Daseins Gottes, die im Begriff des höchsten Guts miteinander verbunden werden. Zur menschlichen Vernunft selbst gehört also wesentlich ihr »metaphysischer Ausgriff«. »Der theoretische Gebrauch der Vernunft beschäftigt sich mit Gegenständen des bloßen Erkenntnisvermögens« (KpV A 29), zugleich ist die Vernunft aufgrund ihrer metaphysischen Naturanlage auf die höchsten drei Ideen ausgerichtet: auf die Freiheit des Willens, die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele. Der praktische Gebrauch der Vernunft beschäftigt sich mit den »Bestimmungsgründen des Willens« (KpV A 29). Und obwohl die praktische Vernunft zuerst und allem voran für die Bestimmungsgründe des Willens verantwortlich ist, wird deren Aufgabenbereich jedoch erweitert in Richtung des Endzwecks des menschlichen Willens, der sich im Rahmen des Reichs der Zwecke realisiert. Diese Be21

Einleitung

wegung der praktischen Vernunft, der es zuerst nur darum ging, den Willen moralisch zu bestimmen, führt am Ende zurück auf die drei Ideen, die für die theoretische Vernunft aus der Perspektive einer objektiven Erkenntnis unlösbar gewesen ist. Obwohl also die praktische Vernunft dies anfangs nicht beabsichtigt hat, wurde sie letztlich zu theoretischen, metaphysischen Annahmen (jedoch nicht zur Erkenntnis) geführt, die sie aus praktischen Gründen annehmen muss.

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2. Kritische Position: Ethik setzt keine Religion voraus, sondern sie führt zu ihr

Die kritische und in einem gewissen Sinne abschließende Position des reifen Kant zum Verhältnis zwischen Ethik und Religion ist in der Religionsschrift zu finden: »Die Moral, so fern sie auf dem Begriffe des Menschen, als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens, gegründet ist, bedarf weder der Idee eines andern Wesens über ihn, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten.« (RGV BA III)

Die Religionsschrift stellt einen integrativen Teil der kritischen Philosophie dar und steht in einem engen Zusammenhang mit ihr. Es lässt sich festhalten, dass von Anfang an Kant die Autonomie der Moral und zwar auch gegenüber der Religion behauptet. Die Moral muss die Gründe für das eigene moralischen Tun autonom alleine aus der Vernunft ableiten können. »Hier sehen wir nun die Philosophie in der Tat auf einen mißlichen Standpunkt gestellet, der fest sein soll, unerachtet er weder im Himmel, noch auf der Erde, an etwas gehängt, oder woran gestützt wird.« (GMS BA 60) Den Bestimmungsgrund des Willens stellt alleine das Sittengesetz dar. Die objektive Motivation des Willens ist also ausschließlich die Sache der praktischen Vernunft. In der Frage der subjektiven Motivation, der Triebfeder zeichnet sich jedoch eine Wandlung in der kantischen Philosophie ab. In den früheren Schriften bis zur Kritik der reinen Vernunft wird der Religion die Funktion der Triebfeder zugestanden. Nach der reifen Position wird jedoch das Moralgesetz sowohl als ein Bestimmungsgrund, als auch als eine Triebfeder angesehen. Trotzdem bleibt die Religion – so die These dieses Buches – eine »notwendige Ergänzung« der Moral. Worin diese Ergänzung besteht, versucht diese Untersuchung in verschiedenen Anläufen zu beleuchten. Bei einem näheren Hinsehen zeigt sich die Eindeutigkeit und Entschiedenheit der kritischen Position nicht so unproblematisch, 23

Kritische Position

wie es den Anschein hat. Ethik scheint in der Tat keine Religion oder kein höchstes Wesen vorauszusetzen – dies gilt jedoch vor allem für das principum diudicationis, für das Auffinden und Bestimmen des höchsten, allgemeinen Moralprinzips. Für das principum executionis, d. h. für die Art und Weise, wie die Menschen das Befolgen des Moralgesetzes umsetzen sollen 15 und zwar auf Dauer ihres Lebens, sieht die Lage nicht mehr ganz eindeutig aus. Aber auch die Bestimmung des obersten Moralgesetzes im Denken Kants wirft manche Fragen auf. Warum rekurriert Kant so inständig auf das Reich der Zwecke, Reich der Gnaden etc. Warum fühlt er sich gezwungen, eine unsichtbare moralische Kirche anzunehmen? Warum muss er das berühmtberüchtigte »als ob« bemühen? Handelt es sich bei diesen Metaphern lediglich um Bilder, die ausschließlich einer reinen Illustration dienen sollen für das bessere Verständnis der Zeitgenossen? Oder verbirgt sich dahinter doch ein sachlicher Grund? Und wenn ja, wie sieht dieser Grund aus? Die abschließende Position der Religionsschrift besagt, dass die Motivation zum moralischen Handeln der Moral immanent ist, d. h. dass sie ihre motivische Kraft alleine aus dem Gefühl der Achtung vor dem Moralgesetz zieht. Wenn dem jedoch nicht so ist, wenn wir vielleicht doch der Vorstellung einer Instanz bedürfen (aufgrund unserer bedürftigen Natur), die uns positive oder negative Konsequenzen verspricht oder androht, dann nähert sich die Vorstellung der Moral der Konzeption des Rechts bei Kant. Das positive Recht ist nämlich ein Zwangsrecht, es bedarf der Androhung und ggf. Anwendung äußerer Sanktionen, um die Einhaltung des Rechts zu erzwingen. Diese Position verlässt Kant in der späteren Entwicklung seines Denkens. Mit Vgl. dazu z. B. Moral Mrongovius AA XXVII, 1422 f.: »Richtschnur und Triebfeder ist hier zu unterscheiden. Richtschnur ist das Principium der Diiudication, und Triebfeder principium der Ausübung der Verbindlichkeit, indem man dieses verwechselte so war alles in der Moral falsch. Wenn die Frage ist, was sittlich gut oder nicht gut sey? So ist dieses das Principium der Diiudication nach welchem ich die Bonitaet und Pravitaet der Handlung beurtheile. Wenn aber die Frage ist: was mich diesen Gesetzen gemäß zu leben bewege? So ist dieses das Principium der Triebfeder. Die Billigung der Handlung ist der Obiective Grund, aber noch nicht der Subiective. Dasjenige was mich das zu thun, antreibt, was mein Verstand mich heißt, sind die Motiva subiective moventia. Das oberste Principium aller Moralischen Beurtheilung liegt im Verstande, und das oberste Principium alles Moralischen Antriebes liegt im Herzen. Diese Triebfeder ist das Moralische Gefühl. […] Das Principium der Beurtheilung ist die Norm, und das Principium des Antriebes die Triebfeder. Die Triebfeder vertritt nicht die Stelle der Norm.«

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Kritische Position

der Problematik der Glückseligkeit und dem notwendigen und proportionalen Zusammenhang zwischen Tugend und Glückseligkeit bekommen die metaphysischen Annahmen wieder einen festen und zwar einen konstitutiven Platz in der ethischen Systematik Kants. Entscheidend ist dabei der Übergang von der Moral im Sinne der Findung und Formulierung des obersten moralischen Prinzips zu einer Moral, die als ein System der Zwecke vorgestellt wird. Sind wir fähig, dem Moralgesetz auf die Dauer und zwar auf die Dauer des ganzen Lebens zu folgen, ohne die Vorstellung von einer endgültigen Gerechtigkeit zu haben? Und wären es zum Beispiel nur die, dass wir hoffen möchten, dass die Massenmörder, die es in der Menschheitsgeschichte genug gab und geben wird, eine »gerechte« Strafe erhalten werden? Schützt uns nicht die Vorstellung von einem postmortalen (Selbst-)Gericht vor einer völligen Verzweiflung angesichts der sich wenig durchsetzenden Moral in der Welt? Spielt die Idee Gottes als des obersten Gesetzesgebers auch diese Rolle? Gott als die letzte Hoffnung darauf, dass den Entrechteten und zu Tode gequälten Menschen doch noch Gerechtigkeit widerfährt? Hat die Religion nicht auch diese Funktion – und zwar ebenfalls in der Philosophie Kants –, dass sie einen Sinn jenseits allen irdischen Hoffens geben kann? Der Mensch steht im Spannungsfeld von seinen zwei Endzwecken. Auf der einen Seite steht der natürliche Endzweck der Glückssuche. Wir wollen glücklich sein und aufgrund unserer bedürftigen Natur sind wir auf die Erlangung der Glückseligkeit angewiesen, oder wir müssen zumindest Aussicht auf diese Erlangung haben. Auf der anderen Seite sollen wir moralisch sein. Die Vernunft fordert nach dem Prinzip der Gerechtigkeit, dass dem Tugendhaften seine entsprechende Glückseligkeit zuteil wird. 16 Kants ethische Konzeption hat beides miteinander zu versöhnen: Unsere nicht vermeidbare Suche nach Glück muss mit dem moralischen Sollensanspruch in Einklang gebracht werden.

16 Vgl. M. Forschner: Religion und Aufklärung. Oder vom Kanon des Glaubens und vom Kanon der Vernunft, in: F.-J. Borman/Ch. Schröer (Hg.): Abwägende Vernunft, Berlin/Boston 2004, S. 587.

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Kritische Position

2.1. Moralische Bestimmung des Willens17 Kants Ethik wird zuweilen für ihren übertriebenen Rigorismus, Formalismus oder ihre Abstraktion kritisiert. Vorgeworfen wird ihr zu starke Betonung der Pflicht oder das Einhalten des rein formalen Sittengesetzes, das kategorisch befiehlt und unmittelbar gilt. Kants Ethik – so die Kritiker – nimmt keine oder nicht genügend Rücksicht auf die Verfasstheit der menschlichen Natur, die sowohl zutiefst mit Emotionen und Gefühlen verbunden ist als auch mit einer nicht zu vertilgenden Sehnsucht nach Glück. 18 Kant beharrt angeblich zu sehr auf der Einhaltung von abstrakten Prinzipien und vermag so die konkrete, faktische Situation des Einzelnen nicht zu berücksichtigen, die jedoch in ethischen Fragen wichtig ist. 19 Diese und ähnlich lautende kritische Einwürfe legen den Finger auf einen der zentralsten und neuralgischsten Punkte der kantischen Moralphilosophie: auf die

Zu den folgenden Überlegungen vgl. J. Sirovatka, Morální určení vůle u I. Kanta, in: Reflexe 52/2017, 71–85. 18 Einige neuere Publikationen versuchen diesen Eindruck zu widerlegen und betonen die positive, konstruktive Rolle der Neigungen und Gefühle in Kants Denken. Vgl. z. B. D. Williamson, Kant’s Theory of Emotion. Emotional Universalism, New York 2015 oder A. Cohen (ed.), Kant on Emotion and Value, New York 2014. 19 Stellvertretend für etliche Kritiker, die Vorbehalte gegenüber Kants Ethik hegen, kann die Position der »ethics of care« genannt werden. Virginia Held zum Beispiel wirft dem kantischen Konzept (aber auch anderen ethischen Konzeptionen wie dem Utilitarismus) vor, dass sie »individual ego« und »universal principles« als Gegensätze betrachten, und dass sie »the compelling moral claim of the particular other« der Forderung nach einer Verallgemeinerbarkeit der moralischen Urteile unterordnen. Vgl. V. Held, The Ethics of Care. Personal, Political, and Global, Oxford/New York 2006, S. 92 und 11. Held meint weiterhin, dass Ethiksysteme wie das kantische im Namen der Autonomie den Einfluss der Emotionen ausschliessen, was sie ablehnt: »The ideal of rational control asks us to exclude emotional influence in achieving autonomy. But the emotions thus excluded would include the moral emotions of empathy, sensitivity, and mutual consideration, as well as the emotions that threaten morality. We may thus do well to question the ideal of autonomy as rational control.« Ebd., S. 55. Einer der stärksten Kritiker des Formalismus in Kants Ethik waren bekannterweise die Vertreter der materialen Wertethik Max Scheler und Nicolai Hartmann. Hartmann bezieht sich jedoch auf kantische Ethik vielmals auch positiv, bei Scheler kann in der Tat bezweifelt werden, ob es sich um eine echte Auseinandersetzung mit Kants Denken handelt. Vgl. dazu Inga Römer (Hg.), Affektivität und Ethik bei Kant und in der Phänomenologie, Berlin/Boston 2014. Neben diesem sehr profunden Sammelband vgl. zum Verhältnis von Kants Ethik und der Phänomenologie ebenfalls I. Römer, Das Begehren der reinen praktischen Vernunft. Kants Ethik in phänomenologischer Sicht, Hamburg 2018. 17

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Moralische Bestimmung des Willens

Problematik, wie und wodurch der menschliche Wille in moralischer Hinsicht bestimmt werden soll. Dem Beleuchten dieser Thematik möchte ich mich in den folgenden Absätzen widmen. Stellt das Sittengesetz tatsächlich den einzigen und alleinigen Faktor in der moralischen Bestimmung des menschlichen Willens dar? Zuallererst untersuche ich die »endgültige« Position Kants in seinem kritischen Werk. Zugleich werde ich mich einigen Passagen aus der Schrift Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft widmen, in denen Kant die uns hier interessierende Problematik thematisiert. Dies tue ich aus der Überzeugung heraus, dass die Religionsschrift inhaltlich das kritische »Geschäft« fortführt und in einer gewissen Sicht zu Ende führt. 20 In einem zweiten Schritt werde ich Kants kritische Position bezüglich der moralischen Bestimmung des Willens in einen breiteren Rahmen einbetten. Besondere Berücksichtigung erfahren Kants Reflexionen, seine Vorlesung über Ethik und andere Vorlesungsnachschriften zur praktischen Philosophie, die die klare und eindeutige kritische Position wieder in Zweifel ziehen. Das Rezipieren sowohl der zu Lebzeiten Kants veröffentlichten Werke als auch der Schriften aus dem Nachlass und der Vorlesungsnachschriften ermöglicht uns, einen detaillierteren Blick auf die ganze Thematik zu bekommen.

2.1.1. Die moralische Willensbestimmung durch das Moralgesetz Kants grundlegende Position bezüglich der moralischen Bestimmung des menschlichen Willens besteht in der Ansicht, dass wenn von einer rein moralischen Willensbestimmung die Rede ist, der Wille ausVgl. dazu Kants Brief vom 4. Mai 1793 an Carl Friedrich Stäudlin: »Mein schon seit geraumer Zeit gemachter Plan der mir obliegenden Bearbeitung des Feldes der reinen Philosophie ging auf die Auflösung der drei Aufgaben: 1) Was kann ich wissen? (Metaphysik) 2) Was soll ich thun? (Moral) 3) Was darf ich hoffen? (Religion); welcher zuletzt die vierte folgen sollte: Was ist der Mensch? (Anthropologie; über die ich schon seit mehr als 20 Jahren jährlich ein Collegium gelesen habe). – Mit beikommender Schrift: Religion innerhalb den Grenzen etc. habe die dritte Abtheilung meines Plans zu vollführen gesucht, in welcher Arbeit mich Gewissenhaftigkeit und wahre Hochachtung für die christliche Religion, dabei aber auch der Grundsatz einer geziemenden Freimüthigkeit geleitet hat, nichts zu verheimlichen, sondern, wie ich die mögliche Vereinigung der letzteren mit der reinsten praktischen Vernunft einzusehen glaube, offen darzulegen.« I. Kant, Briefwechsel, Hamburg 1972, S. 634.

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Kritische Position

schließlich vom objektiven und unmittelbar geltenden, formalen Sittengesetz bestimmt werden muss. In der Kritik der praktischen Vernunft schreibt Kant ganz klar: »Nur ein formales Gesetz, d. i. ein solches, welches der Vernunft nichts weiter als die Form ihrer allgemeinen Gesetzgebung zur obersten Bedingung der Maximen vorschreibt, kann a priori ein Bestimmungsgrund der praktischen Vernunft sein.« (KpV A 113)

Das Moralgesetz darf nicht nur als ein objektiver Bestimmungsgrund des Willens fungieren, sondern es muss genauso auch die subjektive Triebfeder des Willens abgeben. Denn die Pflicht zu erkennen und anzuerkennen ist nur eine Seite der Medaille, nach der erkannten Pflicht aber auch wirklich zu handeln die andere. Unter Triebfeder versteht Kant einen »subjektiven[n] Grund des Begehrens«. Die Triebfeder ist also immer mit subjektiven Zwecken verbunden. Der Bestimmungsgrund oder wie Kant auch sagt, der »Bewegungsgrund« des Willens stellt dann den »objektive[n] [Grund] des Wollens« dar, der sich wiederum auf objektive Zwecke bezieht und »für jedes vernünftige Wesen« gilt (vgl. GMS BA 63 f.). In seiner späteren Schrift Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft hebt Kant die Wichtigkeit einer strengen Abgrenzung des Ethischen hervor: »Es liegt aber der Sittenlehre überhaupt viel daran, keine moralische Mitteldinge, weder in Handlungen (adiaphora) noch in menschlichen Charakteren, so lange es möglich ist, einzuräumen: weil bei einer solchen Doppelsinnigkeit alle Maximen Gefahr laufen, ihre Bestimmtheiten und Festigkeit einzubüßen. Man nennt gemeiniglich die, welche dieser strengen Denkungsart zugetan sind (mit einem Namen, der einen Tadel in sich fassen soll, in der Tat aber Lob ist): Rigoristen; und so kann man ihre Antipoden Latitudinarier nennen.« (RGV BA 9)

Dasjenige, was »rigoristisch« beschrieben werden soll, ist die richtige Bestimmung des sittlichen Gebotes in seiner Reinheit und die Aufnahme des Gesollten in die eigene Willensmaxime. Eine rigoristische Auffassung der Ethik beinhaltet nach Kant nämlich eine wichtige Einsicht: »die Freiheit der Willkür ist von der ganz eigentümlichen Beschaffenheit, daß sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, als nur sofern der Mensch sie in seine Maxime aufgenommen hat (es sich zur allgemeinen Regel gemacht hat, nach der er sich verhalten will); so allein kann eine Triebfeder, welche sie auch sei, mit der absoluten Spontaneität der Willkür (der Freiheit) zusammen bestehen. Allein das moralische

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Moralische Bestimmung des Willens

Gesetz ist für sich selbst, im Urteile der Vernunft, Triebfeder, und, wer es zu seiner Maximen macht, ist moralisch gut.« (RGV B 11 f.) 21

Kant unterscheidet auf der einen Seite ein objektives, unmittelbar und a priori geltendes Moralgesetz, das sich die Vernunft selbst auferlegt und das den Menschen kategorisch verpflichtet. Auf der anderen Seite ist die Rede von der sog. »Triebfeder«, also einer subjektiven »Kraft«, die den Willen in der Weise motiviert, dass er im konkreten Handeln dasjenige zu realisieren vermag, was ihm das Sittengesetz befiehlt. Ein lobenswerter Rigorismus würde demnach darin bestehen, dass das Sittengesetz den Willen so stark zu bestimmen vermag, dass es zugleich auch als Triebfeder fungieren kann und der Wille somit keiner weiteren Triebfeder bedarf. Das Moralgesetz beinhaltet nach Kant also in sich sämtliche moralische Motivation und zwar sowohl objektive als auch subjektive. 22 Unmittelbar darauf betont Kant jedoch, dass das Erfüllen der ethischen Pflichten nicht »ängstlich-gebeugt und niedergeschlagen« geschehen kann. Die »sklavische Gemütsstimmung kann nie ohne einen verborgenen Haß des Gesetzes statt finden und das fröhliche Herz in Befolgung seiner Pflicht (nicht die Behaglichkeit in Anerkennung desselben) ist ein Zeichen der Echtheit tugendhafter Gesinnung«. (RGV B 11 f.) Der feste Entschluss, das Gute zu tun verbunden mit einem Fortschreiten auf dem Weg des Guten, ruft »eine fröhliche Gemütsstimmung« hervor, »ohne welche man nie gewiß ist, das Gute auch lieb gewonnen,

Ernst Tugendhat hält die Einsicht Kants, dass sich das menschliche Wollen generell letztlich auf zwei grundlegende Maximen beziehen lässt, für einen sehr tiefen Einblick: »Kant ist also durch die besondere Schwierigkeit, die sich ihm zunächst nur dadurch ergeben hat, daß der moralische Wille nicht primär durch einen Zweck bestimmt werden kann, zu einem neuen Verständnis der ›ganz eigentümlichen Beschaffenheit‹ des menschlichen Wollens vorgestoßen, daß alles menschliche Wollen, noch bevor es irgendwelche bestimmte Zwecke will, und diesem jeweiligen Wollen zugrunde liegend, sich immer schon zu der einen oder anderen Grundmaxime entschieden hat, wobei diese Grundmaximen für Kant nur zwei sein können: die der Moral und die der Selbstliebe. […] Daß alles Wollen überhaupt vor allem Wollen von dem oder jenem ein Wollen ist, wie ich mich selbst verstehen will, scheint mir eine der tiefsten Einsichten der Kantischen Moralphilosophie zu sein.« Vgl. E. Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt am Main 1993, S. 125. 22 Zur Frage der Motivation in der Philosophie Kants, aber auch zur Diskussion der kantischen Position im Rahmen anderer Denkmodelle vgl. H. Klemme/M. Kühn/ D. Schönecker (Hg.), Moralische Motivation. Kant und die Alternativen, Hamburg 2006, darin insbesondere H. Klemme, Praktische Gründe und moralische Motivation. Eine deontologische Perspektive, S. 113–153. 21

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d. i. es in seine Maxime aufgenommen zu haben«. (RGV B 12) Kant reagiert an dieser Stelle bekannterweise auf den Vorwurf Friedrich Schillers, seine Vorstellung von der moralischen Pflicht führe eher zum betrübten als zu einem fröhlichen Gemüt. In Anmut und Würde schreibt Schiller: »In der Kantischen Moralphilosophie ist die Idee der Pflicht mit einer Härte vorgetragen, die alle Grazien davon zurückschreckt und einen schwachen Verstand leicht versuchen könnte, auf dem Wege einer finstern und mönchischen Asketik die moralische Vollkommenheit zu suchen«. 23

In einem ähnlich gehaltenen Ton heißt es in Schillers Xenien: »Gerne dien ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung,/Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin./Da ist kein anderer Rat, du mußt suchen, sie zu verachten,/Und mit Abscheu alsdann tun, wie die Pflicht dir gebeut.« 24 Um diese oder andere Missverständnisse auszuräumen, betont Kant, dass das Moralgesetz gerne getan werden soll, auch wenn es uns zuweilen etwas gebieten mag, das sich gegen unsere natürlichen Neigungen richtet: »das höchste, für Menschen nie völlig erreichbare, Ziel der moralischen Vollkommenheit endlicher Geschöpfe ist aber die Liebe des Gesetzes« (RGV B 219 f.). Wenn der Mensch lange genug die Liebe zu den Mitmenschen (aber auch zu sich selbst, jedoch nicht im Sinne einer egoistischen Liebe), die ihn vom Sittengesetz geboten wird, eingeübt hat, ist die Möglichkeit denkbar, dass diese moralische Verhaltensweise zu einer »erworbenen«, habituellen Natur wird (AA XXVII, 250): »Wenn ich andere aus Verbindlichkeit liebe, so erwerbe ich mir dadurch Geschmack an der Liebe und durch Übung wird die Liebe der Verbindlichkeit zur Neigung.« Diese auf den ersten Blick erstaunliche Bemerkung von Kant weist auf das Dilemma hin, das im ethischen Konzept Kants virulent ist. Es geht um die entscheidende Frage, wie sich das objektive Moralgesetz und die subjektive Motivation (Triebfeder) zueinander verhalten. Zugleich wird damit das Problem der Festlegung der gegenseitigen Beziehung zwischen Ethik und (empirischer) Anthropologie berührt. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten betont Kant, dass die moralischen Gesetze und moralischen Begriffe nicht in den Erkenntnissen der empirischen Anthropologie F. Schiller, Über Anmut und Würde, in: Ders., Philosophische Schriften, Bd. V, München 1972, S. 262. 24 F. Schiller, Sämtliche Gedichte, in: Ders., Werke und Briefe in zwölf Bänden, Frankfurt am Main 1992, S. 627. 23

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gegründet sein dürfen, sondern ausschließlich in der Vernunft, denn das objektive Moralgesetz, das Kant sucht, muss für alle vernünftigen Personen gelten, um eben ein allgemeines oder besser gesagt universelles Moralgesetz zu sein. Die ganze Moral muss als »reine Philosophie, d. i. als Metaphysik« unabhängig von der Anthropologie charakterisiert werden. Zur »Anwendung auf Menschen« bedarf es jedoch der empirisch-anthropologischen Kenntnis (vgl. GMS BA 35). 25 Diese Position behält Kant auch in der Metaphysik der Sitten, wo es prägnant und eindeutig heißt: »eine Metaphysik der Sitten kann nicht auf Anthropologie gegründet, aber doch auf sie angewandt werden« (MSRL AB 11). Die Uneindeutigkeit der kantischen Position dokumentiert auch ein Abschnitt aus der Grundlegung, der den Eindruck erweckt, dass das Empirische nicht nur für die Festlegung des höchsten sittlichen Prinzips problematisch ist, sondern auch für die »Lauterkeit der Sitten selbst«: »Alles also, was empirisch ist, ist, als Zutat zum Prinzip der Sittlichkeit nicht allein dazu ganz untauglich, sondern der Lauterkeit der Sitten selbst höchst nachteilig, an welcher der eigentliche und über allen Preis erhabene Wert eines schlechterdings guten Willens eben darin besteht, daß das Prinzip der Handlung von allen Einflüssen zufälliger Gründe, die nur Erfahrung an die Hand geben kann, frei sei. Wider dieser Nachlässigkeit oder gar niedrige Denkungsart, in Aufsuchung des Prinzips unter empirischen Bewegursachen und Gesetzen, kann man auch nicht zu viel und zu oft Warnungen ergehen lassen.« (GMS BA 61)

Mit der »rigoristischen« Bestimmung des obersten moralischen Gesetzes hängt letztlich ebenfalls die Ansicht, dass die Begründung der Vgl. dazu noch eine andere Akzentuierung in der Ethik-Menzer, S. 2 f.: »Die Anthropologie beschäftigt sich mit den subjektiven praktischen Regeln, sie betrachtet das wirkliche Verhalten des Menschen, allein die moralische Philosophie sucht sein gutes Verhalten unter Regel zu bringen, nämlich was geschehen soll. […] Die Wissenschaft der Regel, wie der Mensch sich verhalten soll, ist die praktische Philosophie und die Wissenschaft der Regel des wirklichen Verhaltens ist die Anthropologie. Diese beiden Wissenschaften hängen sehr zusammen, und die Moral kann ohne die Anthropologie nicht bestehen, denn man muß das Subjekt erst kennen, ob es auch im Stande ist, das zu leisten, was man von ihm fordert, das es tun soll. Man kann zwar die praktische Philosophie wohl erwägen auch ohne die Anthropologie oder ohne die Kenntnis des Subjekts, allein dann ist sie nur spekulativ und eine Idee; so muß der Mensch doch wenigstens hernach studiert werden.« Obwohl diese Stelle gegenüber der Grundlegung noch stärker die Wichtigkeit der anthropologischen Kenntnisse für die Ethik hervorhebt, wird die grundsätzliche Differenz zwischen Anthropologie und Ethik bereits deutlich markiert.

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Moralität weder der Anthropologie noch der Religion bedarf. Kants »letzte« Position bezüglich der Relation der Ethik und der Religion ist in der Einleitung zur Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft ausgedrückt und – wie bereits zitiert – lautet: »Die Moral, so fern sie auf dem Begriffe des Menschen, als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens, gegründet ist, bedarf weder der Idee eines andern Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten.« (RGV B III)

Wiederum wird an dieser Stelle unterstrichen, dass das Moralgesetz als der alleinige und ausschließliche Grund zur Bestimmung des guten Willens dienen muss und zwar auch als Triebfeder, d. h. als eine subjektive Motivation zum Guten. So heißt es ebenfalls in der Kritik der praktischen Vernunft klar und deutlich: »Das moralische Gesetz also, so wie es formaler Bestimmungsgrund der Handlung ist, durch praktische reine Vernunft, so wie es zwar auch materialer, aber nur objektiver Bestimmungsgrund der Gegenstände der Handlung […] ist, so ist es auch subjektiver Bestimmungsgrund, d. i. Triebfeder, zu dieser Handlung, indem es auf die Sittlichkeit des Subjekts Einfluß hat, und ein Gefühl bewirkt […]« (KpV A 133).

Und dieses Gefühl nennt Kant bekannterweise das Gefühl der »Achtung fürs moralische Gesetz« (KpV A 139), wobei es sich somit um ein intellektuell bewirktes Gefühl handelt. Die Religion ist folglich weder als Bestimmungsgrund des Willens, noch – im Gegensatz zu Kants früherer Position – als Triebfeder anzusehen. Die Religion kommt ins Spiel bei der »Erweiterung« der Moral im System der Zwecke. Die Moral setzt also Religion nicht voraus, führt zu ihr aber letztendlich, wenn wir die Moral systematisch denken wollen. Die Religion stellt nach Kant eine notwendige Konsequenz, eine »notwendige Ergänzung« der Moral dar. Unsere Aufgabe wird es sein, zu zeigen, in welchem Sinne die Religion eine Ergänzung darstellt.

2.1.2. Glückseligkeit und Religion als Triebfeder des Willens? Die kantische, auf den ersten Blick so klare Charakterisierung des Sittengesetzes und seines Einflusses auf den Willen in der kritischen Philosophie ist auf den zweiten Blick doch nicht so eindeutig, wie es 32

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die oben zitierten Stellen nahelegen. Bereits in den kritischen Schriften selber lässt sich eine gewisse Problematisierung des Einflusses des objektiven Moralgesetzes auf den subjektiven menschlichen Willen herauslesen. Den menschlichen Willen soll auf der einen Seite alleine das Sittengesetz bestimmen, auf der anderen Seite ist aber zugleich offensichtlich, dass jeder Wille zu seiner Aktivierung ein Objekt benötigt, da ein Wollen stets ein Wollen »von etwas« bedeutet. In Kants moralischer Systematik übt diese Funktion des Willensobjekts der Begriff des höchten Gutes aus. Das Sittengesetz befiehlt dem Willen, sich für die Verwirklichung des höchsten Guts im Sinne einer Synthese von Moralität und Glückseligkeit einzusetzen. Erstaunlicherweise schreibt Kant an einer Stelle, dass das höchste Gut in Verbindung mit dem Sittengesetz nicht nur die Rolle des Objekts innehat, sondern auch als Bestimmungsgrund eine Rolle spielt: »Es versteht sich aber von selbst, daß, wenn im Begriffe des höchsten Guts das moralische Gesetz, als oberste Bedingung, schon mit eingeschlossen ist, alsdenn das höchste Gut nicht bloß Objekt, sondern auch sein Begriff, und die Vorstellung der durch unsere praktische Vernunft zugleich als Bestimmungsgrund des reinen Willens sei […]« (KpV A 197).

Handelt es sich hier um ein fremdkörperartiges Element, das sich sonst der grundsätzlichen Charakterisierung der moralischen Willensbestimmung in der Kritik der praktischen Vernunft entzieht und das vielleicht ein Residuum einer gewissen Unklarheit aus dem Kapitel Von dem Ideal des höchsten Gutes in der Kritik der reinen Vernunft darstellt? Einige Textpassagen in der Kritik der reinen Vernunft wecken nämlich den Eindruck, dass die Idee Gottes und der mit ihr verbundenen Vorstellung eines »Reichs der Gnaden« zwei Vorstellungen präsentieren, die wir als notwendige Triebfeder zum Führen eines moralischen Lebens benötigen. Kant nimmt an dieser Stelle zunächst seine spätere, ausgearbeitete Postulatenlehre vorweg, wenn er betont, dass »Gott« und »ein künftiges Leben […] zwei von der Verbindlichkeit, die uns reine Vernunft auferlegt, nach Prinzipien eben derselben Vernunft nicht zu trennende Voraussetzungen« sind. Dann fügt er hinzu: »Daher auch jedermann die moralischen Gesetze als Gebote ansieht, welches sie aber nicht sein könnten, wenn sie nicht a priori angemessene Folgen mit ihrer Regel verknüpften, und also Verheißungen und Drohungen bei sich führten.« (KrV B 839) Es ist jedoch nicht sichtbar, wie wir diese Verheißungen und Drohungen verstehen sollen: Fließen diese Drohungen und Verheissungen in die 33

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Willensbestimmung mit ein oder handelt es sich lediglich um Vorstellungen, die uns helfen dasjenige zu tun, wozu uns das Moralgesetz verpflichtet? Es scheint so zu sein, dass Kant hier zu der Auffassung neigt, dass die religiösen Vorstellungen – im Gegensatz zur Position in der Kritik der praktischen Vernunft – die Funktion einer subjektiven moralischen Triebfeder abgeben: »Ohne also einen Gott, und eine für uns jetzt nicht sichtbare, aber gehoffte Welt, sind die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung, weil sie nicht den ganzen Zweck, der einem jeden vernünftigen Wesen natürlich und durch eben dieselbe reine Vernunft a priori bestimmt und notwendig ist, erfüllen.« (KrV B 841) 26

Maximilian Forschner hebt völlig zu recht hervor, dass wir in der Religionsschrift eine enge und fundamentale Verbindung zwischen dem Sittengesetz und dem höchsten Gut vorfinden, dessen Abwesenheit die Einsicht in die Nichtrealisierbarkeit dessen zur Folge haben könnte, was das Sittengesetz befiehlt. 27 Eine eventuelle Unmöglichkeit der Verwirklichung des Gesollten, sprich der Realisierung des höchsten Guts, würde auf das Moralgesetz selbst zurückschlagen und es als eine Chimäre entlarven: »Da nun die Beförderung des höchsten Guts, welches diese Verknüpfung in seinem Begriffe enthält, ein a priori notwendiges Objekt unseres Willens ist, und mit dem moralischen Gesetze unzertrennlich zusammenhängt, so muß die Unmöglichkeit des ersteren auch die Falschheit des zweiten beweisen. Ist also das höchste Gut nach praktischen Regeln unmöglich, so muß auch das moralische Gesetz, welches gebietet, dasselbe zu befördern, phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt, mithin an sich falsch sein.« (KpV A 205)

Dies ist jedoch in Kants Augen nicht möglich, da das Moralgesetz als ein Faktum der Vernunft gegeben ist und auf diesem »Faktum« als seinem Fundament das Ganze der ethisch-praktischen Systematik aufgebaut ist. 28 Kant stellt hier erneut klar fest, dass es sich bei der Vgl. dazu J. Sirovátka, Die moralische ›Endabsicht‹ der Vernunft. Zum ›Kanon der reinen Vernunft‹ In: N. Fischer (Hg.), Kants Grundlegung einer kritischen Metaphysik. Einführung in die ›Kritik der reinen Vernunft‹, Hamburg 2010, S. 387–389. 27 Vgl. M. Forschner, Das Ideal des moralischen Glaubens. Religionsphilosophie in Kants Reflexionen, in F. Ricken/F. Marty (Hg.), Kant über Religion, Stuttgart/Berlin/Köln 1992, S. 84. 28 Zum »Faktum der Vernunft« vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 55 f. An dieser Stelle möchte ich mich nicht näher mit der Problematik des richtigen Verständ26

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Verknüpfung der Ethik und den daraus resultierenden metaphysischen Positionen nicht um eine Einbildung der praktischen Vernunft handelt, auch nicht im Sinne einer Selbstüberlistung der Vernunft. Das Fehlen des höchsten Guts als desjenigen Begriffs, der inhaltlich die Relation zwischen Moralität und Glückseligkeit bestimmt und als eines Zweckes, der aus der Moral resultiert, würde ein »Hindernis der moralischen Entschließung« darstellen. 29 Die Idee des höchsten Guts »in der Welt, zu dessen Möglichkeit wir ein höheres, moralisches, heiligstes und allvermögendes Wesen annehmen müssen«, entspricht »unserm natürlichen Bedürfnisse, zu allem unsern Tun und Lassen im ganzen genommen irgend einen Endzweck, der von der Vernunft gerechtfertigt werden kann, zu denken …« (RGV BA VII) Auch wenn Kant stets betont, dass den Willen in moralischer Hinsicht ausschließlich das objektive Moralgesetz bestimmen soll, bedarf es trotzdem sowohl einer Triebfeder als einer subjektiven Motivation als auch eines Zweckes, auf den sich der Wille beziehen kann. Auf der einen Seite steht also die individuelle Willensbestimmung, auf der anderen Seite derselben Medaille befindet sich das gemeinschaftliche Reich der Zwecke als Folge und Wirkung der moralischen Willensbestimmung. Für die wirkliche Befolgung und Realisierung des Gesollten à la longue scheint es einer Triebfeder, einer zusätzlichen Unterstützung dieser Triebfeder und eines Objektes und Zweckes im Sinne des höchsten Guts und einer moralischen Welt zu bedürfen. nisses dessen beschäftigen, in welchem Sinne das Moralgesetz als ein »Faktum der Vernunft« aufzufassen ist. Dazu vgl. z. B. L. W. Beck, Das Faktum der Vernunft: Zur Rechtfertigungsproblematik in der Ethik, in: Kant-Studien 52, 1960, S. 271–282 oder D. Schönecker, Das gefühlte Faktum der Vernunft. Skizze einer Interpretation und Verteidigung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 61, 2013, S. 91–107. Im Rahmen meiner Überlegungen gehe ich von der Ansicht aus, dass Kant in der Zeit nach der Grundlegung der Metaphysik der Sitten zu der Überzeugung von der Unhintergehbarkeit der Gegebenheit des Moralgesetzes kommt. Das unbedingt gebietende Sollen des Sittengesetzes wird zu einem fundamentum inconcussum der praktischen Philosophie Kants. In seiner Logik spricht Kant davon, dass die Realität des Moralgesetzes ein »Axiom« darstellt (Logik A 142). 29 Vgl. dazu M. Forschner, Das Ideal des moralischen Glaubens. Religionsphilosophie in Kants Reflexionen, S. 84: »Unklar bleibt, in welcher Hinsicht ›die moralische Entschließung‹ den Kerngedanken des Vernunftglaubens bedarf und in welcher nicht. Eine klare Antwort wäre wohl in der Richtung zu suchen, daß die Ausbildung und Anerkennung einer Position der Moralität, wie Kant sie versteht, keinerlei Glaubensprämissen voraussetzt, daß aber auf dem Boden und unter der Perspektive dieses Standpunktes ein vernünftiges Selbst- und Weltverhältnis die von Kant genannten Glaubenssätze notwendig einschließt.«

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3. Die Problematisierung der kritischen Position

3.1. Die moralische Bestimmung des Willens im Kontext der Vorlesungen und der Reflexionen 30 Kants nicht ganz eindeutige Position in der kritischen Philosophie zeigt sich in einem noch schärferen Licht, wenn man seine Texte aus dem Nachlass und die Nachschriften seiner Vorlesungen in Betracht zieht. An dieser Stelle werde ich mich vor allem auf Eine Vorlesung über Ethik von Menzer, auf die Moralphilosophie Collins, Metaphysik der Sitten Vigilantius und auf Kants Reflexionen zur Moralund Religionsphilosophie konzentrieren. 31 In seiner Vorlesung über Ethik, die sich wahrscheinlich auf Vorlesungen aus den Jahren 1770 bis 1780 bezieht, nimmt Kant viele von seinen grundlegenden Unterscheidungen vor und arbeitet sie dann in grundlegende Positionen aus, die auch in den kritischen Schriften in ihrer Grundsätzlichkeit beibehalten werden. In dieser Hinsicht sind diese Vorlesungen für die Forschung von großem Interesse. Auf der einen Seite soll also sichtbar gemacht werden, welchen Weg Kant zu einigen von seinen Hier beziehe ich mich zum Teil auf meinen Beitrag Religion als »notwendige Ergänzung« der Moral bei Immanuel Kant in: Theologie und Philosophie 3, 2018, S. 366–375. Bei der Auswertung der Vorlesungsnachschriften bleibt zu beachten, dass es sich um einen Text handelt, in dem sich verschiedene Textstränge miteinander vermischen: das zur Vorlesung vorgeschriebene Lehrbuch, die eigenen Einsichten Kants als Kommentierung des Lehrbuchs und die studentische Nachschrift. Die Vorlesungsnachschriften sollen also zusammen mit den veröffentlichten Texten, Reflexionen und Briefen gelesen werden. Vgl. dazu Robert Clewis, Editor’s Introduction, in: R. R. Clewis (ed.), Reading Kant’s Lectures, Berlin/Boston 2015, S. 8 f. 31 Vgl. dazu I. Kant, Eine Vorlesung über Ethik (= Ethik-Menzer), hrsg. von P. Menzer, Berlin 1924; I. Kant, Vorlesung zur Moralphilosophie, hrsg. von W. Stark, Berlin/ New York 2004; Zu den Vorlesungsnachschriften vgl. generell R. Clewis (ed.): Reading Kant’s Lectures, Berlin/Boston 2015 oder B. Dörflinger/C. La Rocca/R. B. Louden/U. Rancan de Azevedo Marques (eds.): Kant’s Lectures. Kants Vorlesungen, Berlin/Boston 2015. 30

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Die moralische Bestimmung des Willens im Kontext der Vorlesungen

Positionen zurückgelegt hat. Auf der anderen Seite wird sich zeigen, dass auch die in einem gewissen Sinne reifen, kritischen Stellungnahmen bestimmte Uneindeutigkeiten aufweisen, die unterschiedlichen Auslegungen zugänglich sind. Wie bereits gesagt worden ist, das höchste objektive moralische Prinzip muss rigoristisch festgelegt werden, d. h. dass es sich dabei um ein formales, vernünftiges und praktisches Gesetz handeln muss, das in sich nichts Materielles enthalten darf, um als ein universelles Gesetz für alle vernünftigen Personen gelten zu können. Auf der Suche nach solch einem moralischen Prinzip müssen wir nach Kant theoretisch »streng« vorgehen. Denn dieses Prinzip muss ein rein vernünftiges Prinzip sein und darf nicht von unserem natürlichen Streben nach Glück kontaminiert werden. Auch wenn eine Moraltheorie laut Kants eigenen Worten keine Theorie darstellt, wie wir uns glücklich machen können 32 – und im Moment des moralischen Handlens sollen wir auf unseren Wunsch nach eigenem Glück keine Rücksicht nehmen –, bedeutet dies trotzdem nicht, dass wir uns gar nicht um das eigene Wohl sorgen sollen und zwar auch aus moralischer Perspektive. Es gibt nämlich eine indirekte Pflicht, sich um das eigene Glück zu sorgen: die Unterscheidung zwischen einem Prinzip der Glückseligkeit und einem Prinzip der Moralität stellt diese zwei Prinzipien nicht gegeneinander, denn »die reine praktische Vernunft will nicht, man solle die Ansprüche auf Glückseligkeit aufgeben, sondern nur, so bald von Pflicht die Rede ist, darauf gar nicht Rücksicht nehmen. Es kann sogar in gewissem Betracht Pflicht sein, für seine Glückseligkeit zu sorgen; teils weil sie […] Mittel zu Erfüllung seiner Pflicht enthält, teils weil der Mangel derselben (z. B. Armut) Versuchungen enthält, seine Pflicht zu übertreten.« (KpV A 166 f.) Entscheidend dabei ist, dass das gesuchte Glück seine Berechtigung in a priorischen Gründen hat, da sie somit im Einklag mit der Moralität bleibt. 33 Auch der moralisch charakterstarke Mensch vermag jedoch als ein endliches und bedürftiges Wesen nicht, seinen Wunsch nach Glück abzulegen und die Annahme, dass er des Glückes würdig ist, macht ihn noch nicht zu einem glücklichen Menschen. Einerseits ist Vgl. I. Kant, KpV A 234: »Nun folgt hieraus: daß man die Moral an sich niemals als Glückseligkeitslehre behandeln müsse, d. i. als eine Anweisung, der Glückseligkeit teilhaftig zu werden; denn sie hat es lediglich mit der Vernunftbedingung (conditio sine qua non) der letzteren, nicht mit einem Erwerbsmittel derselben zu tun.« 33 Vgl. I. Kant, Reflexion 7202; AA XIX, 277: »sondern Glückseligkeit muß von einem Grunde a priori, den die Vernunft billigt, herkommen.« 32

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Die Problematisierung der kritischen Position

auch der moralisch gute Mensch nicht imstande, seine Moralität, die Reinheit der eigenen moralischen Motivation vollkommen zu beurteilen. In der ersten Kritik heißt es: »Die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) bleibt uns daher, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen. Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen werden. Wie viel aber davon reine Wirkung der Freiheit, wie viel der bloßen Natur und dem unverschuldeten Fehler des Temperaments, oder dessen glücklichen Beschaffenheit (merito fortunae) zuzuschreiben sei, kann niemand ergründen, und daher auch nicht nach völliger Gerechtigkeit richten.« (KrV B 579) Auf der anderen Seite benötigt auch der moralischste Mensch nach Kant wenigstens eine Hoffnung auf das Erreichen der Glückseligkeit – wenn nicht in dieser Welt, so wenigstens nach dem Tod. Diese »Aussicht« stellt nach der Vorlesung über Ethik sogar die höchste Triebfeder dar (womit sich die Vorlesung im Gegensatz zur Position der Vorrede in der Religionsschrift befindet): das »Ideal der Heiligkeit« verstanden als die Würdigkeit glücklich zu sein, verkörpert nicht nur »die größte sittliche Vollkommenheit, sondern dieses Ideal hat auch die größte Triebfeder, und das ist die Glückseligkeit, aber nicht in dieser Welt.« (Ethik-Menzer, 13) An einer anderen Stelle wird nicht über die Triebfeder gesprochen, sondern darüber, dass die Glückseligkeit keinen »Grund, kein Principium der Moralität« darstellt, sondern »ein notwendiges Corrollarium derselben« (Ethik-Menzer, 97) – dabei handelt es sich um eine Stellungnahme, die auch für die kritische Philosophie gültig ist. Die sinnlichen Antriebe, zu denen ebenfalls auch unser Streben nach Glück zählt, dürfen nicht die Rolle einer Triebfeder des Willens annehmen, sondern sollen als »subsidiaria motiva«, 34 als unterstützende Motivation wirken. Auch in der Vorlesungsnachschrift Moralphilosophie Collins, die sich wahrscheinlich auf die Vorlesungen in den Jahren 1783–85 bezieht, zeigt Kant, in welcher Weise die Religion zwar nicht als Triebfeder, so doch als eine Unterstützung der Triebfeder im Sinne der Hoffnung und im Sinne der Vemeidung der Mutlosigkeit angesichts des Ausbleibens einer völligen Übereinstimmung des eigenen Willens mit dem Sittengesetz zu verstehen ist. 35 Bei der Befolgung des Sittengesetzes lauern nach Kant zwei Gefahren auf den MenVgl. I. Kant, Ethik-Menzer, 95. Vgl. dazu auch Oliver Sensen: The Supreme Principle of Morality, in: R. Clewis (ed.), Reading Kant’s Lectures, Berlin/Boston 2015, S. 194: »However, the crucial dif-

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schen: Der Mensch muss sich sowohl vor dem Eigendünkel hüten, als auch vor dem Fall in die Mutlosigkeit. »Um dieser Muthlosigkeit abzuhelfen, merke man, daß wir hoffen können, es werde unserer Schwäche und Gebrechlichkeit durch göttliche Hülfe eine Ergänzung wiederfahren, wenn wir nur so viel gethan, als nach Bewußtseyn unsres Vermögens uns zu thun möglich ward, allein nur bloß unter dieser Bedingung können wir hoffen, denn nur erst dadurch sind wir der göttlichen Beyhülfe würdig. […] Es ist zwar dem Menschen anständig und gut, seine Schwäche einzusehn, aber nicht ihn um seine gute Gesinnungen zu bringen. Denn, soll ihm Gott Beyhülfe geben, so muß er doch wenigstens derselben würdig seyn.« (Moralphilosophie Collins AA XXVII, 350 f.)

Die Religion darf also nicht zur Begründung des moralischen Gesetzes herangezogen werden: »Ist in der Philosophie eine theologische Moral, so verdirbt sie alles und ist zu nichts nützlich; denn sie muß sich nicht auf andere Prinzipien, sondern auf Prinzipien in ihr selbst gründen; sie muß aber hernach mit ihr verbunden werden. Gottes moralische Eigenschaften müssen unseren Begriff von Gott bestimmen.« (Vorlesungen über Rationaltheologie. Natürliche Theologie Volckmann AA XXVIII, 1142) Die natürliche Religion soll nach Kant »das Siegel in der Moralität« sein (Moralphilosophie Collins AA XXVII, 305). In der Moralphilosophie Collins wird die Religion noch als eine Triebfeder der Moralität angesehen: »Die Religion giebt der Sittlichkeit ein Gewichte, sie soll die Triebfeder der Moral seyn.« (Moralphilosophie Collins AA XXVII, 307 f.). Aber auch wenn Kant später die Triebfeder-Rolle der Religion verneint, wird trotzdem bereits in der Moralphilosophie Collins angedeutet, dass auch dann die Religion eine bestimmte Rolle in der moralisch-praktischen Philosophie Kants zu spielen hat. Die folgenden Stellen aus der Moralphilosophie Collins stehen zwar im Zusammenhang mit denjenigen Stellen, in denen Kant die Religion als Triebfeder der Moral bezeichnet, dennoch scheinen hier auch die Motive der Hoffnung und des moralisch-vernünftigen Glaubens ins Spiel zu kommen, die auch in der kritischen Philosophie als gültig beibehalten werden. »Alle Religion giebt der Moral Nachdruck, Schönheit und Realität, denn die Moralität an sich ist etwas ideales. […] ich soll der Idee der Moralitaet folgen, ohne irgend eine Hoffnung glücklich zu seyn, und dies ist unmöglich; folglich wäre die Moral ein Ideal, wenn kein Wesen ist, welches die Idee ference between his early and mature views on moral motivation is that God and religion play a much larger role in his earlier ethics.«

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executirt. Daher muß ein Wesen seyn, welches den moralischen Gesetzen Nachdruck und Realität giebt. Dieses Wesen aber muß alsdenn ein heiliges, gütiges und gerechtes Wesen seyn.« (Moralphilosophie Collins AA XXVII, 307)

Das reinste Ideal der Moralität ist mit dem Begriff des höchsten Guts verbunden, aus dem die Postulate der Existenz Gottes und der Unsterblichkeit der Seele hervorgehen. Dieses Moralitätsideal in seiner größten Reinheit sieht Kant in Übereinstimmung mit der christlichen Vorstellung der Moralität, die gegenüber den »Schulen der Alten« – den Epikuräern, den Stoikern und auch Platonikern – die Moralität in ihrer Reinheit und anthropologisch richtig darstellt. In anderen Textpassagen weckt jedoch Kant den Eindruck, dass die Religion im Sinne einer Hoffnung auf das Erreichen der Glückseligkeit doch eine moralische Triebfeder darstellt: »Ohne Religion ist alle Verbindlichkeit ohne Triebfeder.« (Ethik-Menzer, 102) Auch in seinen Reflexionen schreibt Kant, dass ohne die Religion der Moral eine Triebfeder fehlen würde und diese ethischen Triebfedern vom Begriff der Glückseligkeit hergeleitet werden müssen. Kant notiert sogar: »Es ist wahr: ohne Religion würde die moral keine triebfedern haben, die alle von der Glückseligkeit müssen hergenommen seyn. Die moralischen Gebothe müssen eine Verheißung oder Drohung bey sich führen.« (Reflexion 6858; AA XIX, 181) So zeigt sich, dass Kant auch in seinen Reflexionen bezüglich der Relation der Ethik zur Glückseligkeit und der damit verbundenen Religion zu keiner abschließenden Klarheit und Eindeutigkeit gekommen ist. Eins zeichnet sich jedoch klar ab und gilt auch für die kritische Philosophie: Ohne die Hoffnung, oder die Aussicht auf die eigene Glückseligkeit lässt sich das Ideal der Moralität nicht lebenslang durchhalten und auch nicht verwirklichen. Wichtig ist allerdings Kants Hinweis, dass es sich um eine Hoffnung handeln muss, nicht um einen Anspruch auf eigene Glückseligkeit, da wir nicht imstande sind, zu beurteilen, ob wir und bis zu welchem Grad der Glückseligkeit wirklich würdig sind: »Es ist also nicht unsre eigene Gerechtigkeit, sondern fremdes Verdienst, was zu unsrer Seeligkeit erfordert wird.« (Reflexion 8085; AA XIX, 629) Auch wenn weiterhin gilt, dass die Moral keine Religion oder Metaphysik voraussetzt, trotzdem wird die Religion mit ihrer Aussicht auf Glückseligkeit zu einem integralen Teil des Kantischen ethischen Systems. Erneut muss jedoch unterstrichen werden, dass es sich nicht um einen verkappten ethischen

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Eudaimonismus handelt. Eher scheint mir Kants Argumentation in Richtung einer letzten Gerechtigkeit und Harmonie zu gehen. In diesem Sinne stünde dann bei einem moralischen Menschen im Vordergrund nicht so sehr die Sehnsucht nach dem eigenen Glück, sondern die Hoffnung auf eine im Letzten vollkommen gerechte Welt. Wenn der moralisch gute Mensch in diesem Leben und auf dieser Welt nicht zu der Glückseligkeit gelangen kann, der er würdig ist, so muss ein ethischer Systematiker laut Kant annehmen: Auch wenn der betreffende moralische Mensch nicht das eigene Glück sucht im Sinne einer ethischen Motivation, muss er doch auf eine gerechte Welt hoffen können, in der es nicht egal ist, wie sich jemand verhält. Dies setzt selbstverständlich die Annahme voraus – und Kant tut dies – dass die Welt als Ganzes nicht absurd ist und nicht absurd sein kann. Denn wäre die Welt absurd, würde die Vernunft selbst schizophren werden und in Opposition zu sich selbst geraten. Für Kant ist aber eine sich selbst widersprechende Vernunft nicht tragbar. Die Vernunft, da sie systematisch und architektonisch denkt, muss die Welt, sprich auch die Möglichkeit einer moralischen Welt systematisch konsistent denken können. Dies scheint für Kant jedoch nur unter Zuhilfenahme von bestimmten metaphysischen Positionen möglich zu sein. Auch der gläubige oder religiöse Mensch handelt jedoch auf der Grundlage der Autonomie der Vernunft, denn er tut etwas nicht aus dem Grund, weil es Gott befiehlt, sondern weil er selbst einsieht, dass das Befohlene gut ist: »Es muß also eine Handlung geschehen, nicht deswegen, weil sie Gott will, sondern weil sie an sich selbst rechtschaffen oder gut ist; und weil sie so ist, so will sie Gott und verlangt sie von uns.« (Ethik-Menzer, 28) Mit Religion gerät die Problematik der Glückseligkeit (die stets aus der Perspektive der Ethik zu betrachten ist) stärker in den Vordergrund der ethischen Systematik Kants, aber auch – obwohl Kant darüber nicht so explizit spricht –, der Gedanke einer letzten Gerechtigkeit. Oder anders und besser gesagt: die Thematisierung der Frage nach der Glückseligkeit des Tugendhaften ist im Grunde genommen eine Frage nach der ultimativen Gerechtigkeit des Lebens und der Sinnhaftigkeit des Ganzen. Ein moralischer Mensch kann es nicht aushalten, wenn die Ungerechtigkeit und das Böse in der Welt das letzte Wort hätten – eine solch beschaffene Welt wäre für Kant nicht vernünftig denkbar. 36 Vgl. auch z. B. Florian Marwede: Das höchste Gut in Kants deontologischer Ethik, Berlin/Boston 2018, S. 131: »Eine Welt, in der die Tugendhaften unglücklich (oder die

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Die Problematisierung der kritischen Position

Ich halte es für sachlich geboten, zwischen dem Motiv der Triebfeder und dem Motiv des hoffenden, vernünftigen Glaubens zu unterscheiden, die jedoch beide einen Bezug auf die subjektive moralische Motivation des Menschen aufweisen. Kant sagt letztlich, dass sich der Mensch keine absurde moralische Welt denken kann: Er muss annehmen können, dass es eine »letzte« göttliche Gerechtigkeit gibt. Sowohl aus der Perspektive eines neutralen Beobachters als auch aus der Perspektive des moralisch handelnden Menschen muss nach Kant klar sein, dass der Tugendhafte eine Hoffnung auf die Glückseligkeit haben können muss, auch wenn sie ihm in dieser Welt nicht zuteil wird. Kant scheint sagen zu wollen, dass eine prinzipielle Unmöglichkeit des Erreichens der Glückseligkeit des Tugendhaften, das Sittengesetz letzten Endes zu einer bloßen »Chimäre« machen würde, die eben keine moralische Motivationskraft hätte. Bei dem vernünftigen Motiv des hoffenden Glaubens handelt es sich jedoch nicht um einen »religiösen Eudämonismus«, 37 der noch in der Kritik der reinen Vernunft zu finden ist: »Ohne also einen Gott, und eine für uns jetzt nicht sichtbare, aber gehoffte Welt, sind die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung […]« (KrV B 840).

Die ambivalente Stellung zum Phänomen der Glückseligkeit lässt sich erneut an einem Zitat aus der Moralphilosophie Collins aufzeigen. Kant schreibt: »Die Glükseeligkeit hat nothwendige Beziehung auf Sittlichkeit, denn das moralische Gesetz führt natürliche Verheißung mit sich. Habe ich mich so verhalten, daß ich der Glükseeligkeit würdig bin, so kann ich auch dieselbe zu genießen hoffen, und das sind die Triebfedern der Sittlichkeit. […] Die Glükseeligkeit ist kein Grund, kein principium der Moralität, aber ein nothwendiges corollarium derselben.« (Moralphilosophie Collins AA XXVII, 304) In dieser Passage wird also die Glückseligkeit als moralische Triebfeder chaBösen glücklich) sind, könne niemand wollen, weil dies nicht nur aus der Sicht des Betroffenen, sondern auch aus der Sicht eines unbeteiligten Außenstehenden abzulehnen ist, da solche Umstände gegen fundamentale Gerechtigkeitsvorstellungen verstoßen würden.« 37 Vgl. dazu u. a. Heiner F. Klemme, Praktische Gründe und moralische Motivation in: H. Klemme/M. Kühn/D. Schönecker (Hg.), Moralische Motivation. Kant und die Alternativen, Hamburg 2006, S. 125 f. oder Antonino Falduto, The Faculties of the Human Mind and the Case of Moral Feeling in Kant’s Philosophy, Berlin/Boston 2014, S. 221 ff.

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Glückseligkeit und Religion als »notwendige Ergänzung« der Moral

rakterisiert, auch wenn sie in der kritischen Philosophie nicht mehr als Triebfeder in Frage kommt. Trotzdem bleibt die Glückseligkeit »ein nothwendiges corollarium« der Moralität.

3.2. Glückseligkeit und Religion als »notwendige Ergänzung« der Moral In welchem Sinne eine erhoffte Glückseligkeit und die Religion einen konstitutiven Platz in der Ethik Kants einnehmen, kann an einer weiteren Vorlesungsnachschrift gezeigt werden: an den Vorlesungen über die Moralphilosophie der Metaphysik der Sitten Vigilantius, die im Jahre 1793/94 gehalten wurden, d. h. in dem Jahr, in dem auch die Religionsschrift erschien. In Vigilantius finden sich zahlreiche Stellen, die die Rolle der Religion in der Moralsystematik darlegen und die zeigen, dass die Religion notwendigerweise zur menschlichen Moralität gehört. Die moralische Gesetzgebung geschieht auf der Grundlage der Autonomie der Vernunft, die von allen empirischen und theologischen Prinzipien unabhängig sein muss. 38 Das moralische Gesetz bleibt »die Triebfeder, welche absolute zur Handlung nach dem Princip der Freiheit nöthigt.« (Vigilantius AA XXVII, 511); die eigene Glückseligkeit darf nicht als moralische Triebfeder fungieren: »Es ist daher die Meinung einiger Philosophen falsch, wenn sie zur Bewirkung moralischer Handlungen die Glückseligkeit des Menschen zu seinem Zweck und Triebfeder nothwendig dabey dachten.« (Vigilantius AA XXVII, 487) Ebenso bleibt Glückseligkeit als Belohnung für gute Taten in moralischer Hinsicht als Triebfeder ausgeschlossen. 39 »Nach ethischen principiis könnte also eine Handlung in Hoffnung einer Belohnung unternommen werden, nie Moralität, nur wohl Legalität haben.« (Vigilantius AA XXVII, 549) Auf der einen Seite ist die Glückseligkeit als subjektive Motivationsquelle mit einer moralischen Handlung unvereinbar, auf der anderen Seite bleibt sie jedoch auch weiterhin der natürliche Endzweck des Menschen. Der Mensch soll in der moralischen Handlung nicht auf die

Vgl. Vigilantius AA XXVII, 500. Vgl. Vigilantius AA XXVII, 549: »Die Natur der Pflicht erlaubt nicht, damit die Idee der Belohnung zu verbinden. Die Belohnung kann also nie die Triebfeder einer moralischen Pflichthandlung seyn, da diese sich durch das Gesetz selbst darstellen muß.«

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eigene Glückseligkeit Rücksicht nehmen, was aber nicht bedeutet, völlig auf das Erreichen der Glückseligkeit zu verzichten, da ein völliger Verzicht auf sie den Menschen nicht möglich ist und ihn überfordern würde. Im Begriff des höchsten Guts ist zwar die Tugend mit der ihr angemessenen Glückseligkeit als notwendigerweise verbunden gedacht, der Tugendhafte hat jedoch trotzdem keinen Anspruch auf die eigene Glückseligkeit. Der Tugendhafte ist angehalten, alleine aus moralischen Zwecken zu handeln. Er muss jedoch hoffen können, dass auch ihm das ihm zustehende Glück gewährt wird. Kant zeigt sich überzeugt, dass es auch für den Tugendhaften eine gewisse Sinnhaftigkeit des moralischen Ganzen geben muss, damit er lebenslang auf dem Weg des Guten zu bleiben vermag. Auch wenn das eigene Glück keine Triebfeder in moralischer Hinsicht abgeben kann, bewirkt die Hoffnung oder die Aussicht auf das eigene Glück trotzdem eine weitere zusätzliche moralische Motivation. »Die Würdigkeit, glücklich zu sein, die durch die Erfüllung sämmtlicher Pflichten erhalten wird, hat zwar die Belohung zu erwarten, auch glücklich zu werden; nur es folgt aus dem vorigen, daß der Erfolg des glücklichen Zustandes mit der Erfüllung der Pflichten garnicht verbunden seyn darf, da es davon nicht abhängt: er kann sie daher nicht als merita debita vermöge seiner Handlung erwarten, sondern nur als gratuita merita.« (Vigilantius AA XXVII, 549) 40

Nach Kant müssen wir somit annehmen, dass es einen Schöpfer und Gesetzgeber geben muss, der eine Harmonie zwischen der Tugend und der ihr zustehenden Glückseligkeit zu bewirken im Stande ist: »er wird also im künftigen Leben eine der Moralität unserer Handlungen angemessene Glückseligkeit uns gewähren. Dies bringt uns zum Entschluß, jetzt unsere Handlungen den moralischen Gesetzen gemäß einzurichten.« (Vigilantius AA XXVII, 550) Nur Gott als der Schöpfer und »Regierer« vermag diese Harmonie herzustellen. Auch wenn sich »durch die Vernunft allein das moralische Gesetz darthun und erkennen, auch wohl befolgen« lässt, stellt trotzdem die Hypothese der Existenz Gottes eine »nothwendige Begleitung« dar. Denn Vgl. auch Vigilantius AA XXVII, 483: »Es ist indeß dem Menschen auch der Trieb zur Veränderung seines Zustandes eingeprägt, und ihm daher Bedürfniß, die Zwecke der Menschen zu befriedigen, und insofern bedarf er des Zustandes der Glückseligkeit, um durch Erfüllung der Tugend der Hoffnung theilhaftig zu sein, Glück und Wohlfahrt, die er sich verspricht, im Genuß zu haben; denn sollte es unmöglich seyn, durch Erfüllung der Tugendpflichten auch einen Genuß zu erwerben, so würde seine Bemühung ohne Zweck, und die Tugend ein leerer Wahn sein.«

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setzt man »die existenz eines höheren Wesens in der Art voraus, daß solches die Zurechnung unserer Handlungen bestimmt, so tritt diese Idee einer höheren Macht der Vernunft als ein hilfeleistender Grund bey, uns in Beobachtung der Gesetze zu bestärken und unsere Rechte gegen einander desto mehr zu sichern.« (Vigilantius AA XXVII, 530 f.) Die Voraussetzung der Existenz Gottes bildet einen »hilfeleistenden Grund«, eine Stärkung unseres moralischen Entschlusses. Kant behauptet, dass es sich um eine zwingende Annahme handelt, die sich aus rein praktischen Gründen ergibt: »wenn man sich außer und zu dem moralischen Gesetz noch ein Wesen denkt, das mit dem Gesetz die der Handlung angemessenen Folgen verknüpfen kann, autor unseres Glückes wird«, dann gewinnt der Mensch »eine der Gesinnung […] ganz zuträgliche Idee«, »die ihn in seinem moralischen Verhalten gegen alle zufälligen Hindernisse stählt« (Vigilantius AA XXVII, 545). Das Postulat des Daseins Gottes bildet kein vernachlässigbares Motiv, sondern es stellt im Gegenteil einen integrativen Teil der moralischen Systematik Kants dar. Mit dem Glauben an einen gerechten Richter erhält der menschliche Wille eine zusätzliche moralische Motivation, die eine begründete Hoffnung auf eine letzte »Gerechtigkeit« beinhaltet, die auch die eigene Glückseligkeit mit einschließt. Denn »es ist dem Menschen der Gehorsam unmöglich und auch keine Pflicht dazu da, ein Gesetz zu befolgen, das seine Glückseligkeit ganz aufheben würde.« (Vigilantius AA XXVII, 546) 41 Kant stellt sich entschieden gegen einen moralischen Titanismus: Es wäre unmenschlich, vom Menschen den völligen Verzicht auf den natürlichen Endzweck fordern zu wollen. Bestimmte metaphysische Annahmen (die »Religion«) spielt also in Kants ethischem Konzept eine unvertretbare Rolle. In der Metaphysik der Sitten ist die Rede von einer in einem gewissen Sinne anthropologisch »notwendigen« Vorstellung von Gott im Zusammenhang mit der moralischen Pflicht: »Wir können uns nämlich Verpflichtung (moralische Nötigung) nicht wohl anschaulich machen, ohne einen anderen und dessen Willen (von dem die allgemein geVgl. auch Vigilantius AA XXVII, 717: »Weil nun aber diese Glückseligkeit durch seine Gesinnung, moralische Thätigkeit allein nicht erreicht werden kann, weil er es nicht in seiner Gewalt hat, dadurch verhältnismäßig glücklich zu werden, dennoch aber annehmen muß, daß die Gesetze der Moral durch ihre Erfüllung zu dem höchsten Zwecke führen, so muß er daher ein höchstes Wesen annehmen, so die Summe aller Zwecke in seiner Gewalt hat, das mithin die höchste Vernunft und lebendigen Willen hat, vermöge dessen es sein Glück verhältnismäßig will.«

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setzgebende Vernunft nur der Sprecher ist), nämlich Gott, dabei zu denken.« (MSTL A 181) Laut dieser Behauptung Kants müssen wir uns also die Verpflichtung »anschaulich machen« zur Stärkung der moralischen Triebfeder und das ist nicht möglich, ohne dabei von der Existenz Gott auszugehen. Der Inhalt der Verpflichtung bleibt selbstverständlich auch weiterhin das höchste Gut und seine Verwirklichung – dies ist jedoch nur unter der Bedingung möglich, dass Gott existiert. Ricken weist in diesem Zusamenhang darauf hin, dass das Anschaulichmachen entweder durch Schemata, oder durch Symbole geschieht: »Weil den Ideen keine Anschauung angemessen gegeben werden kann, vermitteln sie keine theoretische Erkenntnis. Dagegen dürfen wir, wenn es um die praktische Bestimmung einer Idee geht, d. h. was die Idee für uns bedeutet und um ihren zweckmäßigen Gebrauch, die symbolische Vorstellung ›Erkenntniß nennen‹ (KU 5:353.3). Alle unsere Erkenntnis von Gott ist bloß symbolisch, und nur als symbolische Erkenntnis kann sie praktisch sein. […] Wir können die sittliche Verpflichtung, uns das höchste Gut zum letzten Zweck zu machen, nur in der Weise anschaulich machen, dass wir sie uns als Gebote des höchsten Wesens vorstellen. Das ist wiederum nur dann möglich, wenn wir in einer symbolischen Erkenntnis dem höchsten Wesen einen Willen zuschreiben. Nur dadurch, dass wir die sittliche Forderung in dieser Weise anschaulich machen, können wir sie verstehen, d. h. einsehen, dass das höchste Gut möglich ist.« 42

Die oben zitierte Stellungnahme Kants aus der Metaphysik der Sitten aus dem Jahre 1797 besitzt eine große Ähnlichkeit mit anderen Einsichten, die Kant wahrscheinlich um das Jahr 1780 und später in seinen Reflexionen gemacht hat: »Die moralische Gesetze haben wohl das principium obligandi in sich, aber obligiren nicht ohne religion, weil sie nicht durch ihre Natur Verheißung der Glückseligkeit bey sich führen.« (Reflexion 7279; AA XIX, 301) Gott und die zukünftige Glückseligkeit nehmen die Rolle der Triebfeder ein, die wir trotz aller Moralität voraussetzen müssen. 43 Eine stärkere Variante derselben

F. Ricken, Die Religionslehre als Lehre der Pflichten gegen Gott liegt außerhalb der Grenzen der reinen Moralphilosophie (TL 6:486–491), in: A. Trampota/O. Sensen/ J. Timmermann (eds.): Kant’s »Tugendlehre«. A Comprehensive Commentary, Berlin/Boston 2013, S. 419. 43 Vgl. Reflexion 7303; AA XIX, 307: »Was wir bey aller moralität voraussetzen müssen als triebfedern (Gott und künftig Leben): davon ist jeder moralisch gewiß, aber darum nicht apodictisch und dogmatisch. Ich kan nicht schwören, daß ein Gott sey, aber muß jederzeit so handeln, als ob einer sey […].« 42

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Ansicht stellt der Satz dar, in dem es heißt, dass »der Grund der Verbindlichkeit« des Moralgesetzes doch im göttlichen Willen liegt, »weil nur das verbindlich seyn kan, was mit unserer Glückseligkeit zusammenstimt, dieses aber nur Gott thun kann. Also ist die moralität als Regel aus der Natur, als Gesetz aus dem gottlichen willen.« (Reflexion 7258; AA XIX, 296) Auch wenn Kant in seinen Reflexionen unter unterschiedlichen Auffassungen hin und her schwankt, an seine kritische Position kommt am nächsten eine Reflexion heran, in der es heißt, dass das Erwarten einer Belohnung den moralischen Wert einer Handlung dann vermindert, wenn diese Erwartung den Bestimmungsgrund des Willens darstellt. Das Erwarten oder das Hoffen auf die postmortale Glückseligkeit im Sinne von »Belohnungen« ist jedoch dann berechtigt, »wenn sie nur dazu dienen, die hindernis der moralität in der furcht vor dem Verlust aller Glückseeligkeit aufzuheben.« (Reflexion 7281; AA XIX, 301) Diese Position könnte zugleich einen hermeneutischen Schlüssel für eine Interpretation der oben angesprochenen Mehrdeutigkeiten in Kants Schriften (auch der kritischen) bezüglich der subjektiven, »triebfedernen« Kraft des Sittengesetzes bilden: Die Religion mit ihrer Hoffnung auf die zukünftige Glückseligkeit für den sich moralisch verstehenden und in seinem Handeln um Moralität sich mühenden Menschen würde nicht die eigentliche Triebfeder des Willens bilden, sondern eine Art »Stärkung« der Triebfeder, die dem Menschen helfen würde, in seinem ganzen Leben moralisch zu handeln. Sicherlich stellt sich die Frage, ob eine Triebfeder, die eine Stärkung benötigt, noch als eine Triebfeder anzusehen ist. Ist das Moralgesetz eine genügend starke Triebfeder, wenn es wiederum einer Unterstützung der Triebfeder bedarf? Ist die ethische Motivation des Sittengesetzes samt dem moralischen Gefühl doch nicht so stark, wie es Kant an einigen Stellen behauptet? In der Suche nach einer Antwort stößt man an mehreren Stellen auf das Wort »Hindernis der moralischen Entschließung«. Mir scheint, dass Kant damit nicht sagen möchte, dass das Moralgesetz keine genügende motivationale Kraft hätte, den Willen so zu bestimmen, dass er die gesollte Handlung auch in die Tat umsetzt. Eine Antwort ist eher in der Richtung zu suchen, dass Kant mit dem Gedanken der Beseitigung der Hindernisse auf dem Weg des guten Lebenswandels wiederum auf die Sinnhaftigkeit des praktisch-ethischen Ganzen rekurriet. Die Welt muss unter ethischer Perspektive vernünftig und konsistent denkbar sein. Wenn sie das für den moralischen Menschen nicht wäre, könnte es nach Kant offensichtlich zur 47

Die Problematisierung der kritischen Position

Bezweiflung (oder sogar zu einer völligen Verzweiflung an) der Sinnhaftigkeit des Gesollten selbst kommen. Damit diese letzte Infragestellung der Moralität überhaupt verhindert wird, benötigen wir die Religion, die eine transethische Perspektive eröffnet. Auch in seinen Vorlesungen zu Ethik und Moralphilosophie unterscheidet Kant wie in seinem kritischen Werk zwischen einer Anthropologie, die sich auf den empirischen Menschen bezieht und einer Moralphilosophie, die sich darauf besinnt, was sein soll. In einem Atemzug sagt Kant jedoch, dass die Moralphilosophie selbstverständlich die empirische Anthropologie voraussetzt. Wir müssen nämlich das menschliche Subjekt kennen und damit auch wissen, ob es imstande ist dasjenige zu tun, was es tun soll und was seine ethische Pflicht darstellt (vgl. Ethik-Menzer, 2 f.). In seiner Vorlesung über Ethik nimmt Kant bekannterweise die Unterscheidung zwischen einem Prinzip der »Dijudikation« und einem der »Exekution« vor, die er jedoch in seine kritischen Schriften nicht aufgenommen hat. Das »Principium der Dijudikation der Verbindlichkeit« dient als »Richtschnur« zur Beurteilung des moralischen Wertes einer Handlung und betrifft die Frage »was ist sittlich gut oder nicht«. Das »Principium der Exekution« ist das Prinzip der Triebfeder, das sich mit der Frage beschäftigt: »was bewegt mich, diesen Gesetzen gemäß zu leben« (Ethik-Menzer, 44). Das Exekutionsprinzip betrifft also die Frage der Verwirklichung dessen, was das Moralgesetz gebietet und als solches ist es auf die Kenntnis des empirischen Menschen angewiesen, denn sonst wäre das Moralgesetz eine schöne, jedoch wirkungslose Vorstellung. Die Kenntnis der anthropologischen Daten über den Menschen ist notwendig für das Prinzip der Exekution, jedoch nicht für das Prinzip der Dijudikation. Vor allem für die Frage nach der subjektiven Motivation des moralisch bestimmten Willen sind anthropologische Kentnisse unverzichtbar. In diesem Zusammenhang kommt sowohl dem Begriff des »moralischen Gefühls« als Achtung für das Moralgesetz, als auch der Frage der Glückseligkeit in Kants Systematik eine entscheidende Rolle zu. Und die Thematik der Glückseligkeit ist wiederum eng mit Religion verbunden. Kant sucht in seiner praktischen Philosophie grundsätzlich Antwort auf zwei Fragen: auf die Frage nach dem höchsten moralischen Prinzip, nach dem höchsten moralischen Ideal und zugleich versucht er diejenigen Bedingungen zu benennen, die gegeben sein müssen, damit der eigene Wille das Gesollte auch zu verwirklichen vermag. In diesem Zusammenhang 48

Glückseligkeit und Religion als »notwendige Ergänzung« der Moral

grenzt sich Kant in seinen Schriften von stoischen oder auch epikuräischen moralischen Konzepten ab. Auch wenn Kant sicherlich in seiner frühen Philosophie vom Stoizismus beeinflusst gewesen ist, wirft er ihm dennoch vor, dass er die menschliche empirische Natur nicht berücksichtigt: »Die stoische Lehre ist die wahrhafteste der reinen moral, aber am wenigsten der Natur des Menschen angemessen. […] Das stoische ideal ist das richtigste reine ideal der sitten, aber in concreto auf die Menschliche Natur unrichtig; es ist richtig, daß man so verfahren soll, aber falsch, daß man iemals so verfahren wird.« (Reflexion 6607; AA XIX, 106)

Die Stoiker begehen laut Kant einen Fehler, wenn sie zuviel auf die eigene Tugendhaftigkeit vertrauen, denn das übertriebene Vertrauen auf die eigene Stärke der Tugend grenzt bei Kant an »Eigendünkel« (vgl. Reflexion 7312; AA XIX, 309). Kant vertritt die Ansicht, dass wir die Qualität und Reinheit der eigenen Moralität nicht vollkommen durchschauen können und somit ist jede Art von Stolz auf die eigene Tugendhaftigkeit unangebracht. Damit wird zugleich Kants Skepsis sichtbar, dass das Bewusstsein der eigenen Tugendhaftigkeit zum Erreichen der Glückseligkeit ausreichend ist. Kant lehnt beides ab: den Stolz auf die Tugend und die Genugsamkeit des intrinsischen Glückes mittels der Tugend. Zur echten Reinheit der Tugend gehört die Einsicht, dass uns die Reinheit der eigenen moralischen Motivation verborgen bleibt und dass somit kein »stolzes« Bewusstsein der Tugend möglich ist. Auf der einen Seite ist ein »innerer Richter« vonnöten, der eben auch die verborgenste innerliche Motivation zu beurteilen weiß und auf der anderen Seite muss eine Möglichkeit gegeben sein, einen »heiligen«, vollkommen moralischen Willen erreichen zu können. Das Sittengesetz befiehlt uns, nach einem heiligen Willen zu streben. Die »Heiligkeit des Willens« bleibt jedoch aufgrund der menschlichen Verfasstheit mit ihrem Hang zum Bösen in dieser Welt ein unerreichbares Ideal. Da es sich laut Kant aber um ein wahres Ideal handelt, das dem unbedingten Sollen entspringt, müsse sein Erreichen doch möglich und denkbar sein. Da also der Mensch seinen Willen nie vollkommen nach dem Moralgesetz ausrichten kann, muss er nach Kant darauf hoffen, dass eine höhere »Instanz« dasjenige »ergänzt«, was dem Menschen fehlt und was er nicht imstande ist zu leisten. Damit ist auch Kants Überzeugung verbunden, dass das bloße Bewusstsein einer moralisch richtigen Lebensführung doch keine vollständige Glückseligkeit garantieren kann, auch wenn der 49

Die Problematisierung der kritischen Position

betroffene Mensch ihrer würdig wäre. Mit einem unverstellten und unvoreingenommenen Blick auf die empirische menschliche Natur sieht Kant, dass auch der moralischste Mensch bei aller Tugendhaftigkeit stets ein endliches und bedürftiges Wesen bleibt und als ein solches auf das Erfüllen der eigenen Sehnsucht nach Glück angewiesen bleibt, die im Letzten die Gestalt einer Hoffnung auf eine jenseitige Glückseligkeit annimmt. In dieser Hinsicht wiederholt Kant mehrmals, dass sein Konzept der praktischen Philosophie mit der christlichen Vorstellung der Moralität übereinstimmt. 44 Kant sucht nach einer Triebfeder des Willens, die zugleich dem Anspruch gerecht werden soll, in Verbindung mit einem objektiven Bestimmungsgrund des Willens zu stehen. Die Frage lautet: Wie kann ein objektives Gesetz zu einer subjektiven Willenstriebfeder werden? In der Kritik der praktischen Vernunft findet Kant eine solch beschaffene Triebfeder im moralischen Gefühl verstanden als »Achtung fürs moralische Gesetz«: »Das moralische Gesetz also, so wie es formaler Bestimmungsgrund der Handlung ist, durch praktische reine Vernunft, so wie es zwar auch materialer, aber nur objektiver Bestimmungsgrund der Gegenstände der Handlung, unter dem Namen des Guten und Bösen, ist, so ist es auch subjektiver Bestimmungsgrund, d. i. Triebfeder, zu dieser Handlung, indem es auf die Sittlichkeit des Subjekts Einfluß hat, und ein Gefühlt bewirkt, welches dem Einflusse des Gesetzes auf den Willen beförderlich ist.« (KpV A 133)

Das moralische Gefühl wird von Kant zwar als ein Gefühl vorgestellt, das ja als Gefühl zu unserer sinnlichen Ausstattung gehört. Dieses Gefühl wird jedoch nicht »pathologisch« verursacht: Es handelt sich nicht um ein sinnliches, sondern intellektuelles, von der Vernunft bewirktes Gefühl. Die Vernunft selbst verursacht dieses moralische Gefühl, das dem Sittengesetz ermöglicht, Einfluss auf den Willen auszüben. Die »Achtung fürs Gesetz« stellt also keine weitere Zusatztriebfeder zum Moralgesetz dar, weil sie gleich dem Moralgesetz selbst auch von der reinen praktischen Vernunft als intellektuelles Gefühl bewirkt wird. Wenn Kant schreibt, die »Achtung fürs moraVgl. dazu z. B. Reflexion 7312; AA XIX, 309. Vgl. auch M. Forschner, Über das Glück des Menschen. Aristoteles, Epikur, Stoa, Thomas von Aquin, Kant, Darmstadt 1993, S. 145: »Ein wesentlicher Gesichtspunkt, der Kants Plädoyer für das christliche Ideal der Heiligkeit gegenüber den Lehren der Alten leitet, ist die Abwehr der Gefahr sowohl theoretischer Selbstüberschätzung als auch moralischen Eigendünkels oder sittlicher Selbstnachsicht, der nach seiner (gut paulinischen) Meinung durch die Philosophie der vorschristlichen Antike vom summum bonum Vorschub geleistet wird.«

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Glückseligkeit und Religion als »notwendige Ergänzung« der Moral

lische Gesetz ist also die einzige und zugleich unbezweifelte moralische Triebfeder« (KpV A 139), steht dieser Ausspruch nicht im Gegensatz zu seiner These, dass die einzige Triebfeder des Willens in moralischer Hinsicht alleine das Sittengesetz sein muss. In der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten dagegen zählt Kant das moralische Gefühl überraschenderweise zu »moralischen Beschaffenheiten«, die in uns die »Empfänglichkeit des Gemüts für Pflichtbegriffe« ermöglichen. Zu den »natürlichen Gemütsanlagen«, die im Menschen vorausgesetzt werden, um »durch Pflichtbegriffe affiziert zu werden«, rechnet Kant nebem dem moralischen Gefühl auch Gewissen, Liebe zum Nächsten und die Achtung für sich selbst (vgl. MSTL A 35). 45 Im Lichte dieser Passage in der Metaphysik der Sitten zeigt sich das moralische Gefühl als eine »subjektive Bedingung[en] der Empfänglichkeit für den Pflichtbegriff«. Diese Sichtweise steht im Gegensatz zu anderen und zahlreicheren Textstellen, in denen das moralische Gefühl als eine Wirkung des Sittengesetzes beschrieben wird. Hier wird das moralische Gefühl als eine Gemütsanlage vorgestellt, die die Funktion einer subjektiven Voraussetzung erfüllt, damit der sinnlich-empirische Mensch vom Moralgesetz angerührt werden kann. Kant schreibt: »Nun kann es keine Pflicht geben, ein moralisches Gefühl zu haben, oder sich ein solches zu erwerben; denn alles Bewußtsein der Verbindlichkeit legt dieses Gefühl zu Grunde, um sich der Nötigung, die im Pflichtbegriff liegt, bewußt zu werden: sondern ein jeder Mensch (als ein moralisches Wesen) hat es ursprünglich in sich; die Verbindlichkeit aber kann nur darauf gehen, es zu kultivieren und, selbst durch die Bewunderung seines unerforschlichen Ursprungs, zu verstärken […]« (MSTL A 36)

Und wenn Kant schreibt, dass »ohne alles moralische Gefühl« (MSTL A 37) kein Mensch ist, hängt dieses Gefühl mit der Anlage zum Guten zusammen? Um diese Widersprüche zwischen den unterschiedlichen Charakterisierungen des moralischen Gefühls aufzulösen, hat Vgl. dazu auch AA XXVII, 1428: »Das Moralische Gefühl ist eine Fähigkeit, durch ein Moralisches Urtheil afficirt zu werden. Wenn ich durch den Verstand urtheile, daß die Handlung sittlich gut sey, so fehlet noch sehr viel, daß ich diese Handlung thue, von der ich so geurtheilet habe. Bewegt mich aber dieses Urtheil, daß ich die Handlung thue, so ist es das Moralische Gefühl. Das kann und wird auch niemand einsehen, daß der Verstand eine bewegende Kraft haben sollte, urtheilen kann der Verstand zwar freylich, allein diesem Urtheile Kraft zu geben, daß es eine Triebfeder, den Willen zur Ausübung einer Handlung zu bewegen, werde, dieses einzusehen ist der Stein der Weisen.«

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Die Problematisierung der kritischen Position

Antonino Falduto einen interessanten Vorschlag unterbreitet. Das moralische Gefühl wird von Falduto im Rahmen der Theorie der (Gemüts)Vermögen analysiert, wobei er die fehlende Kontextualisierung des Gefühls der Achtung für das moralische Gesetz beklagt. Faldutos eigener interpretatorischer Vorschlag bezüglich des Gefühls der Achtung für das Moralgesetz als Triebfeder des Willens lautet folgendermaßen: Achtung für das Moralgesetz stellt keine unmittelbare Triebfeder des menschlichen Handelns dar, sondern ist als eine subjektive Darstellung (subjective presentation) des Moralgesetzes im menschlichen Gemüt zu verstehen. 46 Falduto argumentiert mit Verweis auf MSTL A 48, dass alleine das Moralgesetz die Triebfeder einer moralischen Handlung abgibt. Die Achtung für das Moralgesetz ist dagegen als die subjektiv-sinnliche Darstellung dieser Triebfeder aufzufassen. Falduto argumentiert dafür, Kants doppelte Verwendung des Begriffs der Achtung in richtiger Weise zu verstehen: die Achtung wird auf der einen Seite als ein Gefühl bezeichnet und auf der anderen Seite als eine Wirkung aufs Gefühl (KpV A 140 f.). Der Begriff des moralischen Gefühls drückt zweierlei aus: sowohl das Gefühl der Lust und Unlust als ein Vermögen als auch den moralischen Gefühlszustand der Achtung fürs Gesetz. 47 Die zweite Bedeutung des moralischen Gefühls wird in der späteren Metaphysik der Sitten als »Empfänglichkeit der freien Willkür« (MSTL A 35 f.) genannt. So wird das moralische Gefühl dem Gefühlsvermögen zugeordnet, das jeder Mensch bereits besitzt und das eben eine wichtige Mittelstellung zwischen dem Erkenntnis- und dem Begehrungsvermögen innehat. Das moralische Vermögen bezeichnet laut Falduto somit nicht nur das aktuelle Gefühl (»feeling in esse«), sondern auch das noch nicht realisierte Gefühl (»feeling in posse«). 48 Von der Triebfeder des Willens gilt es das Objekt der reinen praktischen Vernunft zu unterscheiden. Das Objekt der praktischen Vernunft oder des Willens stellt bekannterweise das höchste Gut dar. Bildet dieses höchste Gut, verbunden mit dem Begriff der Glückseligkeit und dem der Religion in der Form der Postulate des Daseins Gottes und der Unsterblichkeit der Seele, eine zusätzliche oder unterstüt-

Vgl. A. Falduto, The Faculties of the Human Mind and the Case of Moral Feeling in Kant’s Philosophy, Berlin/Boston 2014. S. 230. 47 Vgl. ebd., S. 233. 48 Ebd., S. 238. 46

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zende Triebfeder? 49 Zuallererst gilt es festzuhalten, dass obwohl jedes Wollen ein Wollen von etwas darstellt, d. h. dass sich der Wille stets auf ein Objekt beziehen muss, hat der Begriff des höchsten Guts in Kants Auffassung als Objekt des Willens trotzdem keine handlungsmotivierende Funktion im Sinne einer Triebfeder. Die Beziehung zwischen einem Objekt oder einem Zweck des Willens und seiner moralischen Bestimmung ist sehr gut in Kants Schrift Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis aus dem Jahre 1793 beleuchtet. Kant hebt in einer Entgegnung auf die Kritik von Christian Garve hervor, dass der Glaube »an einen moralischen Weltherrscher und an ein künftiges Leben« keine notwendigen Voraussetzungen dafür bilden, damit der Begriff der Pflicht »einen sicheren Grund und die erforderliche Stärke einer Triebfeder, sondern damit er nur an jenem Ideal der reinen Vernunft auch ein Objekt bekomme.« 50 Die Pflicht stellt ausschließlich eine »Einschränkung des Willens auf die Bedingung einer allgemeinen […] Gesetzgebung« dar, wobei der Zweck oder das Objekt des Willens dann verschieden sein kann, weil von ihm bei der Festlegung der Pflicht abstrahiert wird. In einer anderen Hinsicht ist das Willensobjekt jedoch sehr relevant: »Das Bedürfnis, ein höchstes auch durch unsere Mitwirkung mögliches Gut in der Welt, als den Endzweck aller Dinge, anzunehmen, ist nicht ein Bedürfnis aus Mangel an moralischen Triebfedern, sondern an äußeren Verhältnissen, in denen allein, diesen Triebfedern gemäß, ein Objekt, als Zweck an sich selbst (als moralischer Endzweck) hervorgebracht werden kann.« 51

Die Bestimmung des Willens durch das Sittengesetz bleibt also die einzige Triebfeder des Willens. Diese moralische Pflicht, die den Willen bestimmt, erweitert sich nun um die Pflicht der Verwirklichung einer realen, moralischen Welt als eines Objektes des Willens. Dass im Begriff des höchsten Guts, um dessen Beförderung sich der Mensch nach allen Kräften bemühen soll, auch die eigene Glückseligkeit mitenthalten ist oder sein kann, stellt kein Problem dar, weil auch sie keine zusätzliche Motivation des Willens im Sinne eines ethischen Eudaimonismus darstellt. Es handelt sich um keine Willenstriebfeder unter einem moralischen Mantel. Die triebfederhafte WillensbestimVgl. dazu z. B. Allen W. Wood, Kant’s Moral Religion, New York 2009, S. 38–68. I. Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis A 211. 51 Ebd. 49 50

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Die Problematisierung der kritischen Position

mung müsse auch weiterhin vom Moralgesetz alleine geleistet werden: »Beim Menschen ist daher die Triebfeder, welche in der Idee des höchsten durch seine Mitwirkung in der Welt möglichen Guts liegt, auch nicht die eigene dabei beabsichtigte Glückseligkeit, sondern nur diese Idee als Zweck an sich selbst, mithin ihre Verfolgung als Pflicht. Denn sie enthält nicht Aussicht auf Glückseligkeit schlechthin, sondern nur in einer Proportion zwischen ihr und der Würdigkeit des Subjekts, welches es auch sei.« 52 Im Lichte dieser Erläuterungen aus der Schrift Über den Gemeinspruch lässt sich diejenige Unklarheit klären, die sich in der Textpassage in der Kritik der praktischen Vernunft befindet: »Es versteht sich aber von selbst, daß, wenn im Begriffe des höchsten Guts das moralische Gesetz, als oberste Bedingung, schon mit eingeschlossen ist, alsdenn das höchste Gut nicht bloß Objekt, sondern auch sein Begriff, und die Vorstellung der durch unsere praktische Vernunft zugleich als Bestimmungsgrund des reinen Willens sei […]« (KpV A 197) Trotz einer gewissen Zweideutigkeit der Formulierung lässt sich die Stelle in der Weise interpretieren, dass Kant nicht sagen wollte, das höchste Gut könnte die Funktion einer Triebfeder abgeben. Das höchste Gut stellt eine »Triebfeder« nur in dem Maße dar, in welchem in seinem Begriff das Sittengesetz »mit eingeschlosssen« ist und zwar als die »oberste Bedingung«. Das höchste Gut an sich kann jedoch keine Triebfeder des Willens in moralischer Hinsicht abgeben, es bleibt das Objekt oder der Zweck des Willens. Der gute Wille wird alleine vom Sittengesetz bestimmt und ein solch »motivierter« Wille macht sich im Nachhinein das höchste Gut zu seinem Objekt. Die eigene Glückseligkeit (unter der Perspektive der Moralität), die im Begriff des höchsten Guts mitenthalten ist und die mit ihr verbundenen Postulate der Existenz Gottes und der Unsterblichkeit der Seele stellen zwar keine Triebfedern des Willens dar, bilden jedoch trotzdem die »notwendige Ergänzung« der moralischen Systematik. Ohne diese metaphysischen »Stützen« scheint das Ganze des Ethisch-praktischen bei Kant nicht konsistent denkbar zu sein und die moralische Motivation des Tugendhaften als eines lebenlänglichen Projekts nicht durchzuhalten. Die Problematik der moralischen Willensbestimmung in Kants Denken lässt sich von unterschiedlichen Positionen aus untersuchen. Das Ziel der oben angestellten Überlegungen war ein zweifaches: Auf I. Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis A 213.

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Glückseligkeit und Religion als »notwendige Ergänzung« der Moral

der einen Seite sollte die »endgültige« kritische Position bezüglich der moralischen Bestimmung des Willens vorgestellt werden, die das Hauptgewicht auf das Moralgesetz als der alleinigen und ausschließlichen Triebfeder des Willens legt. Zugleich sollte ebenfalls darauf aufmerksam gemacht werden, auf welchem Weg Kant zu seiner endgültigen Stellungnahme gelangt ist. Auf der anderen Seite sollte jedoch auf die Tatsache verwiesen werden, dass auch Kants kritische Position einige Unklarheiten und zweideutige Formulierungen aufweist, die Zweifel an der absoluten Konsistenz seiner Lösung wecken. Denn in dieser reifen Position spiegelt sich Kants hoher Anspruch wider, das objektive praktische Sittengesetz möglichst streng zu bestimmen, und zugleich der menschlichen empirischen Natur gerecht zu werden. Auch wenn das höchste moralische Prinzip sich nicht auf der empirischen, d. h. kontingenten Natur des menschlichen Willens gründen kann, weil es für alle vernünftigen Wesen a priori gelten muss, bleibt trotzdem die moralische Systematik Kants als solche sowohl mit der empirischen Anthropologie als auch mit der Vernunftreligion verbunden.

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4. Ethik und Religion im Opus postumum 53

Kants unvollendetes Werk aus dem Nachlass, das vermutlich in den Jahren 1795 bis 1803 entstanden ist und für das sich die Bezeichnung Opus postumum etabliert hat, ist wahrscheinlich – nach der Religionsschrift mit ihrer These über das radikal Böse in der menschlichen Natur – der am meisten kontrovers diskutierte Text aus Kants Oeuvre. 54 Die Kontroverse um das Opus postumum hängt grundsätzlich mit seiner Textgestalt zusammen: Es handelt sich um unterschiedliche, oft fragmentarische Gedankenskizzen, Überlegungen und Bemerkungen, deren Bedeutung es zu rekonstruieren gilt. Deshalb ist es auch fraglich, ob man überhaupt über ein »Werk« sprechen kann, da wir unter einem Werk unter anderem eine geschlossene thematische Darstellung verstehen, die sich durch eine gewisse Systematik auszeichnet. Vielleicht lässt sich festhalten, dass es sich um den Versuch einer nachträglichen Bewertung der kritischen Philosophie, um den Versuch einer Reflexion der Fundamente der kritischen transzendentalen Philosophie handelt. 55 Angesichts der fragmentarischen und zum Teil erratischen Anmerkungen Kants im Opus postumum kann man Wolfgang Röd zustimmen, wenn er schreibt: »Wie man Kants transzendentalphilosophische Überlegungen im OP bewertet, hängt weitgehend vom Standpunkt des Interpreten ab.« 56 Eine erste Fassung meiner Überlegungen zum Verhältnis von Ethik und Religion im Opus postumum habe ich in einem tschechischen Artikel vorgestellt, auf dem ich mich hier beziehe. Vgl. dazu Jakub Sirovátka, Est Deus in nobis? K problematice imanentizace Boha v »Opus postumum« a jejímu dopadu na Kantovu koncepci etiky in: Filosofický časopis 3, 2018, S. 349–359. 54 Zum Opus postumum vgl. grundsätzlich die hervorragende und erschöpfende Studie von Giovanni P. Basile, Kants »Opus postumum« und seine Rezeption, Berlin/ Boston 2013. Dort findet man alle relevanten Forschungsergebnisse zur Rekonstruktion der Textgenese des Opus postumum, aber auch eine sehr gute Übersicht über die zum Teil sehr verschiedenen Interpretationen des Nachlasses. 55 Vgl. Basile, Kants »Opus postumum«, S. 364. 56 Vgl. Röd, Wolfgang, Geschichte der Philosophie, Bd. IX, 1, Die Philosophie der 53

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Ethik und Religion im Opus postumum

Der grundlegende hermeneutische Standpunkt des Interpreten, ob er das Opus postumum eher in einem grundsätzlichen Zusammenhang mit der kritischen Philosophie sieht oder ob er annimmt, Kant überschreite oder verlasse gar die eigene kritische Position, wird einen entscheidenden Einfluss darauf haben, wie man die einzelnen umstrittenen Passagen auslegt. Persönlich zähle ich mich zu denjenigen Interpreten, die in diesen späten Textentwürfen eher eine Kontinuität als Diskontinuität mit Kants kritischem Programm sehen. 57 Oder anders gesagt: Die am meisten plausible Interpretation scheint mir eher vor dem Hintergrund möglich zu sein, den die kritische Philosophie entworfen hat. Damit soll jedoch nicht übersehen oder geleugnet werden, dass einige Stellen im Opus postumum eine Problematisierung von einigen kritischen Positionen darstellen und zwar auch insbesondere bezüglich des Verhältnisses zwischen Ethik und Metaphysik, wobei Kant keine befriedigende Lösung für diese Diskrepanz anbietet. Einen der umstrittenen Punkte stellt unter anderem die Frage nach dem Status der Gottesidee in der praktischen Philosophie Kants dar. Spielt die Idee Gottes in der praktischen Philosophie eine signifikante Rolle und wenn ja, welche? Die verschiedenen Interpretationen der Gewichtung der Gottesidee haben jedoch wiederum eine Auswirkung auf das generelle Verständnis der kantischen ethischen Konzeption. Von der Divergenz dieser Auslegungen bleibt die Begründung der Moralität als solche unberührt, denn Kants Werk weist in dieser Frage eine konstante Homogenität durch verschiedene Phasen seiner Entwicklung aus: Der gute Wille wird alleine durch das Moralgesetz bestimmt, das sich die autonom verfasste Vernunft selber auferlegt. Eine solche Homogenität und Eindeutigkeit kann man jedoch der Problematik der Realisierung des moralischen Imperativs nicht mehr attestieren. Die Verwirklichung des Gesollten und die damit verbun-

Neuzeit 3. Teil 1: Kritische Philosophie von Kant bis Schopenhauer, München 2006, S. 219. 57 Im Hinblick auf die drei metaphysischen Ideen Welt, Subjekt, Gott macht Basile drei interpretatorische Hauptrichtungen aus: »Die erste Interpretationslinie sieht im Opus postumum die Entwicklung oder die Fortsetzung eines bloßen Formalismus hinsichtlich der Erkenntnistheorie wie auch der Moral. Die zweite Interpretationslinie sieht im Nachlasswerk vor allem die Entfaltung eines metaphysischen Idealismus. Nach einer dritten Interpretationslinie hält Kant am kritischen Transzendentalismus fest: Der empirische Realismus zieht die Grenze der menschlichen Erkenntnisfähigkeit, während die Metaphysik ihre Grundlegung nur innerhalb der moralisch-praktischen Philosophie erlangt.« Basile, Kants »Opus postumum«, S. 401.

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Ethik und Religion im Opus postumum

denen religionsphilosophischen Implikationen lassen einen breiteren Raum der Deutung zu. Eine der prägnanten Formulierungen, die diese Problematik anschaulich darstellt und der ich mich näher widmen möchte, lautet: »Est Deus in nobis« (OP AA XXII, 130): »Das Subject des categorischen Imperativs in mir ist ein Gegenstand dem Gehorsam geleistet zu werden verdient: ein Gegenstand der Anbetung (adoration) Dieses ist ein identischer Satz Die Eigenschaft eines moralischen Wesens das über die Natur des Menschen categorisch gebieten kann ist die Gottlichkeit desselben Seine Gesetze müssen gleich als göttliche Gebote befolgt werden. – Ob Religion ohne Voraussetzung des Daseyns Gottes möglich ist. est Deust in nobis.«

Diese Formulierung Kants erweckt den Eindruck, dass Gott lediglich mit der praktischen Vernunft identifiziert werden soll. Eine solche Auslegung vertritt zum Beispiel Eckart Förster, wenn er schreibt: »What is postulated in the sentence ›God exists‹, then, is not properly the existence of a being independent of human thought and action […] Rather, what ist thus postuletad is what endows practical reason’s ideas of right with ›moving force‹ and makes possible their unity […] To this end they must be viewed as emerging from a moral sovereign of the human race, although it is practical reason itself from which moral compulsion springs. ›God exists‹ means, therefore, that he exists in practical reason; ›est Deus in nobis‹«. 58

Die fundamentale Frage, die sich angesichts der Identifikationsthese stellt, lautet: Wie soll die Anwesenheit der Idee Gottes in der praktischen Vernunft aufgefasst werden? Handelt es sich um eine bloße »Projektion« der praktischen Vernunft, die auf keine übersinnliche Wirklichkeit außer uns verweist oder handelt es sich um eine »Spur« eines transzendenten Gottes, der im Vernunftglauben aus praktischen Gründen postuliert wird? Im Folgenden versuchen wir in zwei Schritten auf diese Frage eine Antwort zu geben. Zuerst werden die zentralen Textpassagen aus Kants Opus postumum untersucht, in der die Problematik des Verhältnisses von Ethik und Religion berührt wird. Die betroffenen Passagen sind jedoch – um es gleich vorneweg zu sagen – sehr heterogen und zum Teil auch explizit widersprüchFörster, Eckart, Kant’s Final Synthesis. An Essay on the Opus postumum, Cambridge/Massachusetts/London 2000, S. 142. Gerhard Schwarz hat in seinem Buch Est Deus in nobis. Die Identität von Gott und reiner praktischer Vernunft in Immanuel Kants »Kritik der praktischen Vernunft«, Berlin 2004 zu zeigen versucht, dass die Identifizierung von Gott und der praktischen Vernunft bereits in der Kritik der praktischen Vernunft vorliegt.

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Transzendentale Anthropologie oder transzendentale Theologie?

lich. Dieser Sachverhalt erschwert gravierend eine vollkommen konsistente Auslegung. In einem zweiten Schritt wird das kantische »Sonnengleichnis« aus der Schrift Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie vorgestellt, das als hermeneutischer Schlüssel zum Verständnis der Texte Kants dienen könnte. Dieser interpretatorische Schlüssel vermag die Spannungen, die unter den verschiedenen Textpassagen im Opus postumum herrschen, abzumildern, beseitigen kann er sie jedoch nicht.

4.1. Transzendentale Anthropologie oder transzendentale Theologie? Die für uns relevanten religionsphilosophischen Überlegungen befinden sich vor allem im I. (abgedruckt im Band 21 der Akademie-Ausgabe) und VII. Konvolut (Band 22 der Akademie-Ausgabe) des Opus postumum, deren Niederschrift ungefähr zwischen die Jahre 1800 und (Februar) 1803 datiert werden können. 59 Beide Konvolute beinhalten in Bezug auf die Verhältnisbestimmung von praktischer Vernunft und der Gottesidee sich widersprechende Passagen. Auf der einen Seite erwecken einige Textabschnitte den Eindruck, dass Kant in der Tat Gott mit der praktischen Vernunft identifiziert und somit auf den Pfaden der Anthropologisierung der Idee Gottes wandelt. Auf der anderen Seite jedoch werden andere Überlegungen im Geiste des praktisch-moralischen Beweises der Existenz Gottes vorgetragen, wie wir sie aus Kants kritischen Schriften kennen. In diesem »kritischen« Rahmen bleibt die Idee Gottes selbstverständlich eine Idee der Vernunft. Nur ist in ihr nicht nur das Übersinnliche »in uns« intendiert, sondern ebenso auch das »Übersinnliche außer uns«. Zusammen mit Reiner Wimmer lässt sich festhalten, dass wir im Opus postumum grundsätzlich zwei Arten von Texten in Bezug auf Kants Religionsphilosophie vorfinden. Auf der einen Seite finden wir Passagen, die sich im Sinne der Reduktion der transzendentalen Theologie auf transzendentale Anthropologie interpretieren lassen und auf der anderen Seite stehen Sätze, die eher in Richtung einer transzendentalen Theologie als der höchsten Stufe einer transzendentalen Philosophie

Zur Chronologie der Werke aus dem Nachlass vgl. die Übersicht am Ende von Bd. 22 von AA oder Basile, Kants »Opus postumum«, S. 502.

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weisen, in der die Idee Gottes eine Bedingung der Möglichkeit der Einheit von Natur und Freiheit darstellt. 60 Schauen wir uns zuerst die erste Gruppe der Texte an, die eine Auslegung im Sinne einer transzendentalen Anthropologie nahelegen. Am prägnantesten und klarsten repräsentieren die Position der Imanentisierung Gottes diese Sätze: »Gott ist nicht ein Wesen außer Mir sondern blos ein Gedanke in Mir. Gott ist die moralisch// praktische sich selbst gesetzgebende Vernunft.« (OP AA XXI, 145) In einem ähnlich gehalteten Ton schreibt Kant einige Seiten weiter: »Gott ist also keine ausser mir befindliche Substanz sondern blos ein moralisch Verhältnis in Mir.« (OP AA XXI, 149). Wenn Gott in der Tat identisch mit der praktischen Vernunft wäre, würde es sich um ein »Ideal einer Substanz« handeln, »welches wir uns selbst schaffen« (vgl. OP AA XXII, 130). Unter dieser Bedingung würde gelten: »est Deus in nobis«. In diesem Zusammenhang wird Gott nicht als ein personales, transzendentes Wesen vorgestellt, sondern ausschließlich als ein »Produkt« der praktischen Vernunft. Demnach besitzt die Idee Gottes, verstanden als eine übersinnliche Wirklichkeit, keine Rechtfertigung, sondern sie drückt lediglich den Selbstbezug der praktischen Vernunft aus, die diese Idee zu denken genötigt ist, jedoch immer nur als ein eigenes »Konstrukt«. Ein vernünftiger Glaube an die Existenz Gottes aus praktisch-moralischen Gründen, den Kant für »unumgänglich« hält, wäre dann nur ein sollipsistisches Verhältnis der Vernunft zu sich selbst und nichts anderes. Im Gegensatz zu den oben angeführten Passagen stehen andere (und zahlreichere) Textabschnitte, die einen genau umgekehrten Eindruck vermitteln. Kant spricht hier über den »praktischen Beweis« der Existenz Gottes, wobei er von der Faktizität des kategorischen Imperativs ausgeht, dessen »Autor« Gott ist. Die Argumentation dieses praktischen Beweises wird jedoch von Kant leider nicht en detail entfaltet, sondern ist eher thesenartig geschrieben. Die Bezeichnung der Autorenschaft Gottes im Zusammenhang mit dem kategorischen Imperativ wirkt auf den ersten und auch auf den zweiten Blick überraschend.

Vgl. R. Wimmer, Die Religionsphilosophie des ›Opus postumum‹, in: F. Ricken/ F. Marty (Hg.), Kant über Religion. Stuttgart/Berlin/Köln 1992, S. 198 f. oder aktueller Ders., Kants Religionsphilosophie im Opus postumum, in: O. Angeli/Th. Rentsch/ N. Schneidereit/H. Vorländer (Hg.), Transzendenz, Praxis und Politik bei Kant, Berlin 2013, S. 169 ff.

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Transzendentale Anthropologie oder transzendentale Theologie?

Denn der Autor oder das Subjekt des kategorischen Imperativs ist in der kritischen Philosophie alleine die autonome Vernunft, die sich die ethische Pflicht selbst auferlegt. 61 Auch wenn Kant darüber spricht, dass sich der Mensch seine moralischen Pflichten »als« göttliche Gebote vorstellen kann, ja sogar muss, bleibt trotzdem unumstritten und eindeutig, dass für die Begründung der Moralität als solcher die praktische Vernunft alleine zuständig ist. Die Pflicht formuliert die Vernunft. Einige der Zitate lauten im Wortlaut folgendermaßen: »Es ist ein Gott. – Denn es ist ein categorischer Pflichtimperativ« (OP AA XXI, 64); »Es ist ein Factum der moralisch//practischen Vernunft der categorische Imperativ welches […] gebietet […] und das gebietende Subject ist Gott.« (OP AA XXI, 21). Gott wird in diesen Textpassagen als »das Subject des categorischen Imperativs der Pflichten« 62 (OP AA XXI, 22) oder als »Autor« des Sittengesetzes bezeichnet: »Der Autor (der mit Autorität spricht) des Pflichtgesetzes ist Gott […]« (OP AA XXI, 113). Die Idee Gottes wird hier nicht in einem immanenten Sinne verstanden, sondern wird aufgefasst als ein Begriff, der ein »Subjekt« außerhalb des Menschen bezeichnet: »Der Begriff von Gott ist der Begriff von einem verpflichtenden Subject außer mir.« (OP AA XXI, 15); »Gott und die Welt ausser mir und das moralische Gefühl in mir.« (OP AA XXI, 83) Kant bleibt uns leider eine detailliertere Argumentation schuldig, warum wir nun im Gegensatz zu seinen anders lautenden Thesen den Begriff Gott als ein Subjekt außer uns begreifen sollen. Kant präsentiert nahezu deklamatorisch dieses knappe und verkürzte Argument: Es existiert Gott, weil der kategorische Imperativ existiert. In dieser Form wäre diese Argumentationsstrategie eine Vorgehensweise, die sich dem bisherigen kantischen Werk entzieht. Andererseits lässt sich das Argument in einer Art und Weise lesen, die mit der kritischen praktischen Philosophie vereinbar wäre: Aus dem faktischen Gegebensein des kategorischen Imperativs in der Vernunft, aus dem unmittelbar geltenden Moralgesetz folgt das Postulat der Existenz Gottes. Ähnlich wie Kant in der Kritik der Urteilskraft im § 87 über den moralischen Beweis des Daseins Gottes spricht, ist im Opus postumum von einem praktischen Beweis die Rede: »Der categor. Imper. u. das darauf gegründete Erkenntnis aller Menschen Pflichten als Göttlicher Gebote ist der practische BeVgl. KpV A 56. Vgl. auch »Die Vernunft verfahrt nach dem categ. Imperativ, und der Gesetzgeber ist Gott. – Es ist ein Gott denn es ist ein categ. Imperativ.« (OP AA XXII, 106)

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weis vom Daseyn Gottes.« (OP AA XXI, 74). Dieser praktische »Beweis« der Existenz Gottes würde neben der Korrespondenz mit der dritten Kritik auch eine Entsprechung mit der Postulatenlehre der zweiten Kritik aufweisen. In einer wieder etwas zu verkürzten und mehrdeutigen Weise heisst es im Opus postumum: »Die bloße Idee von Gott ist zugleich ein Postulat seines Daseyns. Ihn sich denken und zu glauben ist ein identischer Satz.« (OP AA XXII, 109) Der Satz »Gott existiert« bleibt ein »Axiom« der reinen pratischen Vernunft und führt auch weiterhin nicht zu der Annahme des Daseins Gottes als einer Substanz im Sinne eines wahrnehmbaren Wesens. 63 Die Erkennbarkeit Gottes als eines übersinnlichen Phänomens bleibt unmöglich, weil alles Übersinnliche die Grenze der Erfahrung übersteigt und somit fehlt uns nach Kant der »Probierstein«, der über die Wahrheit des Gegebenen entscheiden könnte. Der Gottesbegriff ist »die Idee von einem über alle Weltwesen physisch und moralisch machthabenden Wesen […] Daß ein solches Wesen sey zeigt die moralisch//practische Vernunft im categorischen Imperativ in der Freyheit unter Gesetzen in der Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote.« (OP AA XXII, 108) Erneut arbeitet Kant an dieser Stelle nicht heraus, auf welche Art und Weise uns das Sittengesetz zeigt, dass wir die Idee Gottes als die Idee eines Wesens auffassen sollen, die in sich sowohl die Kausalität der Natur, als auch die Kausalität der Freiheit vereint. Über einen »Beweis« spricht Kant im Zusammenhang mit der bekannten Problematik des »als ob«: »Das Prinzip der Befolgung aller Pflichten als göttlicher Gebote ist Religion beweiset die Freyheit des menschlichen Willens, (das absolute Sollen) ist zugleich in Beziehung auf practische rein Vernunftprincipien ein Beweis vom Daseyn Gottes als Eines Gottes.« (OP AA XXII, 111) Wenn Kant den Begriff »Beweis« in dem hier thematisierten praktisch-religionsphilosophischen Zusammenhang verwendet, meint er damit selbstverständlich keinen theoretischen Beweis, sondern einen, der lediglich in praktischer Hinsicht gültig ist und der aus dem Sittengesetz resultiert. In diesem moralisch-praktischen Sinn handelt es sich um einen »indirekten Beweis«. 64 Die sachliche Kontinuität mit der kritischen Philosophie machen diejenigen Textstellen im Opus postumum sichtbar, in denen das Moralgesetz als ein Mittel, oder besser gesagt das Mittel dient, die inhalt63 64

Vgl. OP AA XXII, 108. Vgl. OP AA XXII, 121.

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lichen Bestimmungen dessen zu entfalten, was im Gottesbegriff theoretisch gedacht wird: »Ens summum, summa intelligentia, summum bonum – diese Ideen insgesamt gehen aus dem categorischen Imperativ hervor und das Practische ist in dem theoretisch//speculativen enthalten.« (OP AA XXII, 112) Der theoretisch unbestimmte Gottesbegriff erfährt auf dem Pfad des Praktischen seine inhaltliche Ausgestaltung: Er wird bestimmt als der Schöpfer, Regierer und Richter. 65 Das Verständnis der ethischen Pflichten als göttliche Gebote macht somit einer Anmerkung Kants nach sowohl die Position eines Polytheismus, als auch die des Atheismus unmöglich. 66 An dieser Stelle lässt sich bereits auf die Kritik der reinen Vernunft hinweisen, in der die praktische Vernunft einen »Kanon«, eine Richtschnur für die theoretische Vernunft bildet. 67 Abgesehen von den zwei sich widersprechenden Arten der Texte enthält das Opus postumum aber noch weitere Passagen, die sich der oben beschriebenen Dichotomie entziehen und eine dritte Textart bilden. Diese Texte werden – vielleicht ein wenig überraschend – in einer gewissen existenziellen Atmosphäre à la Pascal oder Kierkegaard gehalten. Sie enthalten eine klare Aufforderung zu einer eindeutigen Entscheidung in religiösen Angelegenheiten. Ein solcher Ton wird zum Beispiel im folgenden Satz angeschlagen: »Mihi est religioni heißt so viel als Gewissenssache: ja! und Nein!« (OP AA XXI, 98) An einer anderen Stelle verweisen Kants Anmerkungen eindeutig auf die Pascal’sche Wette: »Denn ist ein Gott so hab ichs getroffen ist keiner so habe ich nichts verloren nichts gewonnen ausser im Gewissen etwas wovon ich gestehen muß ich wisse es nicht doch als ob ich es wisse – Gott als Herzenskündiger.« (OP AA XXII, 64) Die sog. »Wette« von Blaise Pascal befindet sich im Fragment Nr. 418 (nach Lafuma oder Nr. 233 nach Brunschvicg) mit der Überschrift »unendlich – nichts/infini – rien« oder »Das unendliche Nichts«. 68 Vgl. u. a. KpV A 236: Gott »ist der allein Heilige, der allein Selige, der allein Weise; […] Nach der Ordnung derselben ist er denn also auch der heilige Gesetzgeber (und Schöpfer), der gütige Regierer (und Erhalter) und der gerechte Richter.« 66 Vgl. OP AA XXII, 113: »Der Inbegriff aller Pflichten als Göttlicher Gebote vertilgt die Ohngötterey (atheism) die Vielgötterey (polytheism) und die Gottesleugnung …« 67 Vgl. KrV B 823 ff. 68 Vgl. dazu Blaise Pascal, Gedanken über die Religion und einige andere Themen, Stuttgart 1997, S. 224–231; Blaise Pascal, Pensées, ed. Michel le Guern, Paris 1997, S. 247–253 (in dieser Ausgabe hat das Fragment die Nummer 397). 65

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Bei der Interpretation des Pascalschen Textes muss beachtet werden, dass es sich nicht um einen zusammenhängenden und ausgearbeiteten Text handelt, sondern um ein Fragment. 69 Zugleich ist zu betonen, dass für das richtige Verständnis des Textes der sog. Wette der Kontext des gesamten Denkens von Pascal zu berücksichtigen ist. Die Kernpassage, auf die sich Kant bezieht, lautet bei Pascal folgendermaßen: »Ja, aber man muß wetten. Das ist nicht freiweillig, Ihr seid mit hineingezogen. Wofür entscheidet Ihr Euch also? Prüfen wir nach; da man ja wählen muß, prüfen wir nach, was am wenigsten in Eurem Interesse liegt. Ihr habt zwei Dinge zu verlieren: das Wahre und das Gute, und zwei Dinge einzusetzen: Eure Vernunft und Euren Willen, Eure Erkenntnis und Eure Seligkeit, und Eure Natur hat zwei Dinge zu meiden: Irrtum und Elend. […] Wägen wir Gewinn und Verlust, wenn wir uns für Bild entscheiden, daß Gott ist. Schätzen wir diese beiden Fälle ein: Wenn Ihr gewinnt, so gewinnt Ihr alles, und wenn Ihr verliert, so verliert Ihr nichts: Wettet also, ohne zu zögern, daß er ist.« 70

Wir sind also vor eine Wahl gestellt. Pascal zielt auf eine existenzielle Situation des Menschen, der sich für eine Lebensweise zu entscheiden hat, wobei es sich darum handelt, wie der Mensch grundsätzlich sein Leben führen soll. Der Mensch kann nicht nicht wählen, d. h. eine Wahl trifft der Mensch immer, egal wie er auch lebt. Vor diesem Ausgangspunkt ist die Wette zu lesen. Pascal bietet zwei Lebensalternativen. Auf der einen Seite steht ein Leben im Glauben mit einem entsprechenden Lebenswandel: »Ihr werdet getreu, redlich, demütig, dankbar, wohltätig, ein aufrichtiger Freund sein«. Auf der anderen Seite wird ein Bild von einem Lebenswandel ohne Gott gemalt, der »vergiftete Freuden«, »Ruhm und Vergnügungen« zu implizieren scheint. 71 Der eigentlichen Wettargumentation geht aber noch eine weitere Vorstellung voraus. Pascal schränkt nämlich die theoretische Erkenntnis des Menschen auf das Endliche ein und sagt zugleich, dass das Endliche vor dem Unendlichen verschwindet und zu einem Nichts wird. 72 Diese Behauptungen beinhalten somit die Annahme, dass angesichts der Frage, ob Gott existiert oder nicht, die theoretische Vernunft nichts auszurichten vermag. Theoretisch ist die Wahl, die man Vgl. Albert Raffelt, Universalgenie Blaise Pascal. Eine Einführung in sein Denken, Würzburg 2011, S. 104. 70 B. Pascal, Gedanken über die Religion und einige andere Themen, S. 227. 71 Ebd., S. 230. 72 Vgl. ebd., S. 224. 69

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zu treffen hat, also nicht zu entscheiden. Es müssen andere Gründe sein – die Gründe des Herzens –, die bei der Entscheidung eine Rolle spielen. Auch wenn die Überlegungen der Wette bei Pascal auf den ersten Blick einen mathematischen und glückspielerischen Hintergrund (verbunden mit einem pragmatischen Nützlichkeitsdenken) haben, geht es um ein »ernsthaftes Problem, die Frage nämlich, wie Entscheidungen sinnhaft (Pascal: ›haben sie auch keine Beweise, so ermangeln sie doch nicht des Sinns …‹) gefällt werden können angesichts einer nicht völligen Durchreflektierbarkeit, angesichts einer offenen Erwartungssituation und im Blick auf die möglichen Risiken«. 73 Vergleicht man die Versionen von Pascal und Kant miteinander, sieht man eine bei beiden nicht unähnliche Intention. Sowohl für Kant als auch für Pascal ist klar, dass die theoretische Vernunft keine Möglichkeit besitzt, den Glauben objektiv zu beweisen. Zugleich scheinen beide davon auszugehen, dass die praktische Vernunft (bei Pascal »das Herz«) eigene Evidenzgründe besitzt. Die ganze praktische Philosophie befasst sich bei Kant systematisch mit der eigenen Vorgehensweise der praktischen Vernunft. Und trotzdem bleiben die Gründe der praktischen Vernunft, die den Menschen zu der metaphysischen Annahme der Existenz Gottes »drängen«, immer auf einen Glaubensakt angewiesen. Es handelt sich um eine Wahl, um eine Glaubenswahl, vor die der Mensch gestellt ist. Das Motiv der Wette taucht schon in der Kritik der reinen Vernunft auf und weist eine moralisch-existenzielle Pointe auf, die für Kant bezeichnend ist. Die Wette wird nämlich als »der gewöhnliche Probierstein« vorgestellt, »ob etwas bloße Überredung, oder wenigstens subjektive Überzeugung, d. i. festes Glauben sei, was jemand behauptet […]« (KrV B 852). Das Gedankenexperiment, ob man bereit wäre, auf etwas, was wir annehmen, ein ganzes Leben zu wetten, ist für Kant eine existenzielle Probe dafür, ob unser Glaube (vorerst gleichgültig welcher Art – ob pragmatischer oder doktrinaler Glaube) standhaft und tragfähig genug ist: »Wenn man sich in Gedanken vorstellt, man solle worauf das Glück des ganzen Lebens verwetten, so schwindet unser triumphierendes Urteil gar sehr, wir werden überaus schüchtern und entdecken so allererst, daß unser Glaube so weit nicht zulange.« (KrV B 853) Kants Argumentation zielt darauf, aufzuzeigen, dass der moralische Glaube einen Glauben darstellt, der dieser Probe des Wettens eines ganzen Lebens standhält. Kant versucht zu 73

A. Raffelt, Universalgenie Blaise Pascal, S. 111.

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zeigen, dass es sich beim moralisch-praktischen Glauben um einen festen und unerschütterlichen Glauben handelt im Unterschied zu einem »doktrinalen« Glauben, der »etwas Wankendes in sich« hat (KrV B 855). Im praktischen Vernunftglauben, der in der ersten Kritik der moralische Glaube genannt wird, stellt die gläubige Annahme des Daseins Gottes und »einer anderen Welt« eine notwendige und vernünftige Konsequenz dar, die der Mensch aus der faktischen Gegebenheit des Moralgesetzes ableiten muss: »Denn da ist es schlechterdings notwendig, daß etwas geschehen muß, nämlich, daß ich dem sittlichen Gesetze in allen Stücken Folge leiste. Der Zweck ist hier unumgänglich festgestellt, und es ist nur eine einzige Bedingung nach aller meiner Einsicht möglich, unter welcher dieser Zweck mit gesamten allen Zwecken zusammenhält, und dadurch praktische Gültigkeit habe, nämlich, daß ein Gott und eine künftige Welt sei […]« (KrV B 856). Präziser gesagt, zieht die metaphysischen Konsequenzen nicht der Mensch, sondern ich: Kant betont bereits in der Transzendentalen Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft den existenziellen Charakter des moralischen Glaubens. Die persönliche Involviertheit ist hier entscheidend, die aus dem Anerkennen und Befolgen des Sittengesetzes resultiert: »Nein, die Überzeugung ist nicht logische, sondern moralische Gewißheit, und, da sie auf subjektiven Gründen (der moralischen Gesinnung) beruht, so muß ich nicht einmal sagen: es ist moralisch gewiß, daß ein Gott sei etc., sondern, ich bin moralisch gewiß etc.« (KrV 857) 74 Die metaphysischen Vgl. auch Religionslehre Pölitz AA XXVIII, 1012: »Das Fundament, worauf er diesen Glauben bauet, ist unerschütterlich, und kann nie, selbst wenn sich alle Menschen vereinigen wollten, es zu untergraben, umgestürzet werden. Es ist eine Festung, worein er sich retten kann, ohne daß er befürchten darf, je daraus vertrieben zu werden, weil alle Angriffe durchaus daran zu nichte werden. Sein Glaube an Gott, der auf ein solches Fundament erbauet ist, ist daher so gewiß, ale eine mathematische Demonstration. Dieses Fundament ist die Moral, das ganze System seiner Pflichten, welches durch die reine Vernunft a priori apodiktisch gewiß erkannt wird. Diese schlechterdings nothwendige Moralität der Handlungen fließt aus der Idee eines freihandelnden vernünftigen Wesens, und aus der Natur der Handlungen selbst. Daher kann etwas Gewisseres und Festeres in keiner einzigen Wissenschaft gedacht werden, als unsere Verbindlichkeit zu sittllichen Handlungen. Die Vernunft müßte aufhören zu seyn, wenn sie dieselbe auf irgend eine Art verläugnen könnte. […] Aber wenn er sich ihrer Befolgung [der Vernunft] bewußt ist, dann ist er gewiß, daß auch er ein Glied in der Kette des Reichs aller Zwecke ist, und dieser Gedanke schafft ihm Trost und Beruhigung, macht ihn selbst in seinem Innersten edel, und der Glückseligkeit würdig, erhebt ihn zur Hoffnung, im Reiche der Sitten mit allen vernünftigen Wesen ein Ganzes auszumachen, so wie im Reiche der Natur Alles zu Einem verknüpfet ist.«

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Annahmen der Existenz Gottes und der Unsterblichkeit der Seele aus praktischen Gründen stellt für Kant keine Fiktion oder reine Projektion unseres Bewusstseins dar. Wenn dem tatsächlich so wäre, würde sich das Moralgesetz als illusorisch entlarven – nur dies hält Kant für unmöglich. Denn das Moralgesetz wurde als »das einzige Faktum der reinen Vernunft« charakterisiert, das »gegeben« ist und sich als »ursprünglich gesetzgebend« ankündigt und in diesem Sinne als »unleugbar« gilt. 75 Diese Gegebenheit des Sittengesetzes bildet das fundamentum inconcussum des gesamten kantischen praktischethischen Systems. Falls also dieses absoltute ethische Sollen als tatsächlich faktisch gegeben anzusehen ist, muss auch die Realisierung des Gesollten möglich sein und diese Realisierung (der moralischen Welt) ist wiederum alleine unter den Bedingungen des Daseins Gottes und der Unsterblichkeit der Seele möglich. Wie es schon in der ersten Kritik heisst: »der Glaube an einen Gott und eine andere Welt ist mit meiner moralischen Gesinnung so verwebt, daß, so wenig ich Gefahr laufe, die erstere einzubüßen, eben so wenig besorge ich, daß mir die zweite jemals entrissen werden könne.« (KrV B 857) Wohl gemerkt, bedient sich Kant wiederholt der Rede in der ersten Person singular: »ich bin moralisch gewiß«, »meine Gesinnung«, um auf die persönliche Betroffenheit vom ethischen Anspruch des Sollens deutlich hinzuweisen. Das persönliche Engagement ist und bleibt in der Frage der Moralität aber grundsätzlich das grundlegend Entscheidende. Es bleibt somit erneut zu betonen, dass für Kant die Frage der metaphysischen Postulate nicht primär eine logische oder erkenntnistheoretische Angelegenheit darstellt. Die theoretische Vernunft vermag diese Problematik nicht zu entscheiden. Erst auf der Ebene – und hier trifft sich Kant mit Pascal – des praktisch-existenziellen kommt die Metaphysik ins Spiel. Und wenn Pascal schreibt »Das Herz hat andere Gründe, die die Vernunft nicht kennt« lässt sich vielleicht auf Kants Denken angewandt paraphasieren: Die praktische Vernunft (»das Herz«) hat andere Gründe und andere Wege, die die theoretische (»die Vernunft«) nicht hat. Das bedeutet jedoch nicht, dass beide voneinander vollständig getrennt sind. Sie bilden bei Kant selbstverständlich eine Einheit, nur hat die praktische Vernunft den Vorteil (und in diesem Sinne wird sie die theoretische führen, indem sie ihr die Richtung weist), dass sie die Realität der drei höchsten Ideen plausibel machen kann. 75

Vgl. KpV A 56.

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Ethik und Religion im Opus postumum

4.2. Kants »Sonnengleichnis« als hermeneutischer Schlüssel Es wurde darauf hingewiesen, dass uns Kant keine Verständnishilfe anbietet, die die offensichtlichen Diskrepanzen in seinen Ausführungen im Opus postumum erklären könnten. Jeder Leser ist genötigt, selbst einen Ariadnefaden in diesem Labyrinth zu finden. Ich stimme mit dem Vorschlag von Rudolf Langthaler 76 überein, in einem Abschnitt aus der Schrift Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie aus dem Jahre 1796 (also aus der Zeit, in der Kant seine Arbeit an Opus postumum aufnimmt) einen hermeneutischen Schlüssel zu sehen, der am besten die sich widersprechenden Textpassagen im Bezug auf die Frage der Existenz Gottes zu erläutern weiß. Sicherlich wird auch dieser Interpretationsvorschlag nicht imstande sein, alle im Text vorhandenen Spannungen aufzulösen. Er wird sie jedoch – so die Hoffnung – wenigstens mildern können. Den hermeneutischen Schlüssel zur Problematik der Beziehung zwischen Ethik und Metaphysik bildet die kantische Variante des platonischen »Sonnengleichnisses«, die das Verhältnis des »Übersinnlichen in uns« und des »Übersinnlichen außer uns« erleuchtet. Das Sonnengleichnis Platons, das sich in der Politeia 506d–509b findet und das die Reihe der drei großen Gleichnisse eröffnet, verdeutlicht am Bild der Sonne die Relation zwischen der höchsten Idee – der Idee des Guten – zur Welt und zum menschlichen Erkenntnisvermögen. Die Idee des Guten befindet sich »jenseits der Seiendtheit«, d. h. sie übersteigt radikal alles Seiende und transzendiert es. Der Mensch kann sich dank der Seele, die in der platonischen Vorstellung das Göttliche in uns darstellt, an die Ideen erinnern, die sie in ihrer Präexistenz geschaut hat. Wie Goethe schön anmerkt, nur ein »sonnenhaftes Auge« kann die Sonne erblicken. Denn das Auge sendet ebenso wie die Sonne ein Lichtstrahl aus, der die Welt für uns sichtbar macht: Das Auge ist gleichsam eine kleine Sonne. Die Idee des Guten wird von Platon im Bild der Sonne vorgestellt, da sich die höchste Idee wie die Sonne einem direkten Zugriff des Sehens oder des Denkens entVgl. z. B. R. Langthaler, Eine »noo-theologisch« erweiterte Ethikotheologie? Perspektiven der »absoluten Transzendenz« beim späten Kant, in: O. Angeli/Th. Rentsch/N. Schneidereit/H. Vorländer (Hg.), Transzendenz, Praxis und Politik bei Kant. Berlin 2013, S. 118 f. oder Ders., Geschichte, Ethik und Religion im Anschluss an Kant. Philosophische Perspektiven »zwischen skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz«. Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Sonderbände Bd. 19/1, Berlin 2014, S. 588 f.

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zieht. Und dennoch bleibt trotz ihrer Transzendenz die Beziehung zum Menschen bestehen und sie bietet dem Menschen sogar Orientierung für sein praktisches Leben. Die Sonne und das Licht spielte in der griechischen Kultur ohnehin eine wichtige Rolle, da sie eine Kultur des Sehens war. Das Sehen ist eine Quelle des Erkennens und des Begehrens. Etymologisch sind die griechischen Wörter für ›sehen‹ und ›wissen‹ verwandt. Die Tatsache, dass man das Sonnenlicht sieht und von den Anderen gesehen wird, bedeutet, dass man am Leben ist (im Unterschied zu dem Schattenreich der Unterwelt). Für die Griechen war das Sehen nur dann möglich, wenn zwischem dem Gesehenen und dem Sehenden eine Verwandtschaft besteht. 77 Kant nimmt diese griechisch-platonische Vorstellungen wieder auf, wenn es im Text aus Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie heißt: »Zwar in die Sonne (das Übersinnliche) hinein sehen, ohne zu erblinden, ist nicht möglich, aber sie in der Reflexe (der die Seele moralisch erleuchtenden Vernunft), und selbst in praktischer Absicht hinreichend zu sehen, wie der ältere Plato tat, ist ganz tunlich.« (A 410; AA VIII, 399) 78 Diese Reflexe, diese Widerspiegelung, ist die faktisch gegebene, theoretisch unerklärliche Unbedingtheit des Sittengesetzes, die das Denken auf den ebenfalls theoretisch unbegreiflichen »Grund« dieses Sittengesetzes verweist: auf das »Übersinnliche außer uns«, auf die Idee Gottes. Sicherlich bleibt aber die Aufgabe bestehen, wie wir uns eine solche »indirekte Gegenwart« des Übersinnlichen in uns vorstellen sollen und wie sie näher beZur Wichtigkeit des Sehens für die griechische Kultur vgl. Jean-Pierre Vernant, Die Entstehung des griechischen Denkens, Frankfurt am Main 1998 und Ders., Der Mensch des antiken Griechenland in: Ders. (Hg.), Der Mensch der griechischen Antike, Frankfurt u. a. 1993, S. 7–30. 78 Sowohl Kant, als auch Platon gehen von einem Primat des Praktischen aus, was man an der Tatsache ablesen kann, dass die höchste Idee nicht die Idee der Wahrheit oder des Seins ist, sondern des Guten. Ein weiterer Philosoph, der ebenfalls den Primat des Praktischen für sein Werk in Anspruch nimmt und dazu auch Anspielungen an das platonische Sonnengleichnis verwendet, wäre Emmanuel Levinas, der allerdings einen Umweg über die cartesischen Überlegungen zur Gottesidee nimmt. Vgl. dazu Emmanuel Levinas, Totalität und Unendlichkeit, Freiburg/Münschen 21993, S. 11: Die Ideee des Unendlichen ist eine »Idee, die statt sich der Einsicht der Intuition einzufügen, dem Philosophen zur Blendung wird. Denken, das mehr oder das besser denkt, als es der (theoretischen) Wahrheit nach denkt«. Die Blendung betrifft jedoch nur das theoretische Denken. In praktischer Hinsicht blendet das Unendliche nicht (vgl. dazu Totalität und Unendlichkeit, S. 105 f.). Die Idee des Unendlichen wird von Levinas letztendlich als ein praktisches, metaphysisches Begehren interpretiert, das zur Güte gegenüber einem anderen Menschen drängt. 77

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stimmt werden kann. Unbestritten ist die Gültigkeit der grundsätzlichen und in einem gewissen Sinne endgültigen Position Kants, dass die Moral keine Religion oder Metaphysik voraussetzt oder voraussetzen darf. Wie bereits zitiert, es bleibt dabei: »Die Moral, so fern sie auf dem Begriffe des Menschen, als einen freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens, gegründet ist, bedarf weder der Idee eines anderen Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten.« (RGV BA III) Das unbedingt gebietende Moralgesetz entspringt der Autonomie der praktischen Vernunft, die das Moralgesetz dem Menschen auferlegt. Kant nimmt auch seine Kritik im Bezug auf die theoretische Erkennbarkeit Gottes keineswegs zurück: Gott ist nicht in der Weise objektiv theoretisch erkennbar wie ein Baum oder ein Tisch, da er sich als ein übersinnliches Wesen unseren Sinnen entzieht. Und trotz alledem stellt Kant die Behauptung auf, dass in moralisch-praktischer Hinsicht der Glaube an die Existenz Gottes nicht nur möglich, sondern sogar »unumgänglich« ist. 79 Das Moralgesetz »in uns« ist dasjenige, das uns dazu befähigt, das »Übersinnliche außer uns« begrifflich zu bestimmen. Die heuristische und problematische Idee Gottes in der theoretischen Philosophie wird auf dem Feld der praktischen Philosophie zu einer Idee, die begrifflich im Sinne des Sonnengleichnisses entfaltet werden kann: sowie nur das »sonnenhafte« Auge das Licht der Sonne wahrnehmen kann, vermag nur das »göttlich-übersinnliche« in uns Gott in den »Reflexen« wahrzunehmen. Die Bedingung der Möglichkeit der Bestimmung des Gottesbegriffs stellt das Sittengesetz dar, aus dem die Charakteristik Gottes als »heiligen Gesetzgeber«, einen »gütigen Regierer« und den »gerechten Richter« (KpV A 236) hervorgeht. Völlig richtig weist Langthaler darauf hin, dass es zwei Momente zu unterscheiden gilt, die zwar verschieden, jedoch miteinander verbunden sind: »Derart sind in dem erhellenden späten Rekurs auf das ›in der Reflexe (der die Seele moralisch erleuchtenden Vernunft)‹ vernehmbare ›Übersinnliche außer uns‹ zwei Momente zwar zu unterscheiden, jedoch keinesfalls zu trennen: Zunächst verweist dies auf das im ›moralischen Gesetz‹ offenbar gewordene ›Übersinnliche in uns‹, das von Kant einerseits gewissermaßen als ›Spur‹ jenes ›Übersinnliche außer uns‹ beansprucht wird und andererseits – eben als solches! – dieses ›Übersinnliche außer uns‹ doch erst ›sicht79

Vgl. dazu RGV BA IX und BA XVI.

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Kants »Sonnengleichnis« als hermeneutischer Schlüssel

bar‹ macht. Allein die solche Brechung erzeugenden ›Reflexe‹ ermöglichen also jene Bestimmtheit, in denen bzw. durch die dieses ›Übersinnliche außer uns‹ in solcher Hin-Sicht ›für uns‹ ›Sinn und Bedeutung‹ gewinnt.« 80

Dank des Sittengesetzes ist das »Übersinnliche in uns« sichtbar geworden, das als Spur, d. h. als die »Anwesenheit des bereits Abwesenden«, auf das »Übersinnliche außer uns« verweist. 81 Auf der anderen Seite wird indes das »Übersinnliche außer uns« erst und bei Kant letztlich ausschließlich durch das Sittengesetz sichtbar. Falls es berechtigt ist, die kantische Variante des Sonnengleichnisses als den hermeneutischen Schlüssel zum Verständnis der Relation zwischem dem Moralgesetz und der Gottesidee in praktischer Hinsicht zu benutzen, dann ist Kants Diktum des »als ob« nicht in einem vernunftimmanenten Sinne zu lesen: Das Verständnis der ethischen Pflichten »als« göttlicher Gebote stellt somit keine illusorische Projektion der Vernunft dar, denn die Pflichten sind als sachhaltige Spuren zu deuten, die eine gläubige Annahme der Existenz Gottes erlauben, wobei unter einem »Glauben« bei Kant immer ein Glaube aus moralischpraktischen Gründen gemeint ist. Wenn die Identifikationsthese von praktischer Vernunft und Gott gelten würde, hätte es fatale Konsequenzen für die Realisierung des Gesollten in der Welt: Bei einer Immanentisierung Gottes im Sinne der Identifikation mit der praktischen Vernunft würde sich das Sittengesetz als eine Chimäre entpuppen. Kant schreibt: »Da aber also die sittliche Vorschrift zugleich meine Maxime ist (wie denn die Vernunft gebietet, daß sie es sein soll), so werde ich unausbleiblich ein Dasein Gottes und ein künftiges Leben glauben, und bin sicher, daß diesen Glauben nichts wankend machen könne, weil dadurch meine sittliche Grundsätze selbst umgestürzt werden würden, denen ich nicht entsagen

80 Vgl. Langthaler, R., Geschichte, Ethik und Religion im Anschluss an Kant. Philosophische Perspektiven »zwischen skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz«, S. 588 f. 81 Dem Phänomen der »Spur« als der herausragenden und eigentlich der einzig möglichen Art und Weise der Gegenwart Gottes hat sich Emmanuel Levinas gewidmet. Da wir uns in unseren Überlegungen auf Kants Philosophie konzentrieren, soll es an dieser Stelle bei einem Hinweis bleiben. Vgl. dazu z. B. E. Levinas, Die Spur des Anderen, S. 226–235. Zum Verhältnis von Kant und Levinas vgl. u. a. N. Fischer/D. Hattrup, Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen. Kant und Levinas, Paderborn u. a. 1999 und Ch. Rößner, Der »Grenzgott der Moral«. Eine phänomenologische Relektüre von Immanuel Kants praktischer Metaphysik im Ausgang von Emmanuel Levinas, Freiburg/München 2018.

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Ethik und Religion im Opus postumum

kann, ohne in meinen eigenen Augen verabscheuungswürdig zu sein.« (KrV B 856)

Für Kant ist und bleibt die Annahme des Daseins Gottes und der Unsterblichkeit der Seele ein notwendiger Glaube in praktischer Hinsicht. Erneut bliebt zu betonen: Kant zeigt sich davon überzeugt, dass falls wir systematisch und konsequent die Moralität als solche mit all ihren Voraussetzungen und Folgen durchdenken wollen, müssen wir am Ende zur moralischen Sicherheit gelangen, dass Gott existiert. Der Weg zu dieser Sicherheit führt über die Einheit aller Zwecke im Begriff des höchsten Guts, d. h. im Endzweck der Realisierung der moralischen Welt. Weil das Moralgesetz wirklich im moralischen Bewusstsein gegeben ist und die moralische Welt als Endzweck in der sinnlich wahrnehmbaren Welt wirklich realisiert werden soll, muss die Vernunft davon ausgehen können, dass wenn sie im Begriff des höchsten Guts Moralität und Glückseligkeit als miteinander notwendig verbunden denkt, auch die Existenz Gottes in den Postulaten als wirklich angenommen werden muss und nicht nur als vernuftimmanent anzusehen ist. Ohne diesen moralisch-praktischen Glauben an das Dasein Gottes als eines Subjektes außer uns könnten wir nämlich nach Kant nicht auf ein reales Erreichen der Glückseligkeit (gemäß der eigenen Tugendhaftigkeit) hoffen. Wenn Gott – als derjenige gedacht, in dem die Naturkausalität und die Kausalität der Freiheit vereint sind – lediglich eine Projektion des menschlichen Bewusstseins wäre, würde sich auch das moralische Sollen in ein reines Vernunftkonstrukt verwandeln, der der Kraft entbehren würde, zur echten und wirklichen »Inkarnation« der Moralität im menschlichen Leben aufzufordern. Kants Intention besteht darin, zu zeigen: Falls wir die Moralität als solche systematisch und konsequent denken wollen, müssen wir zum praktisch-moralischen Glauben an die Existenz Gottes als eines Wesens außer uns kommen. Wir müssen laut der Kritik der reinen Vernunft die moralische Welt »als eine Folge unseres Verhaltens in der Sinnenwelt, da uns diese eine solche Verknüpfung [die notwendige Verknüpfung zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit; J. S.] nicht darbietet, als eine für uns künftige Welt annehmen […]. Gott also, und ein künftiges Leben, sind zwei von der Verbindlichkeit, die uns reine Vernunft auferlegt, nach Prinzipien eben derselben Vernunft nicht zu trennende Voraussetzungen.« (KrV B 839) Das höchste Gut ist laut Kant ein »notwendiges Objekt« unseres Willens und als solches ist es unzertrennlich mit dem Sittengesetz verbunden. Die 72

Kants »Sonnengleichnis« als hermeneutischer Schlüssel

Realisierungsunmöglichkeit des höchsten Guts bedeutet für Kant Fehlerhaftigkeit des Sittengesetzes: »Ist also das höchste Gut nach praktischen Regeln unmöglich, so muß auch das moralische Gesetz, welches gebietet, dasselbe zu befördern, phantastisch und auf leer eingebildete Zwecke gestellt, mithin an sich falsch sein.« (KpV A 205) Der Mensch kann nicht auf diesen moralisch-praktischen Glauben verzichten, weil er das eigene Selbstverständnis als rational-moralisches Wesen aufgeben müsste (in der Gestalt, wie sie Kant denkt) und weil die menschliche Vernunft ein natürliches Interesse an der Moralität nimmt und auch im Bezug auf die höchsten drei Ideen letztendlich »nur aufs Moralische gestellet« ist. 82 So spricht Kant auch bekanntlich vom Primat der praktischen Vernunft im Hinblick auf die theoretische. 83 Eine abschließende und endgültige Beurteilung der religionsphilosophischen Überlegungen in Opus postumum ist wegen ihrer Fragmenthaftigkeit und Widersprüchlichkeit nicht möglich. Trotzdem bleiben diese Texte aus dem Nachlass in unserem ethisch-metaphysischen Zusammenhang wichtig, da sie einen im Fragment verbliebenen Versuch Kants darstellen, eine abschließende Ausarbeitung des Systems der transzendentalen Philosophie als einer Metaphysik der Natur und der Freiheit vorzunehmen. 84 Die oben entworfene Interpretation halte ich für plausibel, auch wenn mir bewusst ist, dass sie nur eine von vielen sein kann, da sich der Text bei näherer Betrachtung als mehrdeutig und vielschichtig erweist. Meine Interpretation basiert auf der festen Überzeugung, dass Kant trotz der Entfaltung von einigen neuen Motiven doch auf dem Boden seiner kritischen praktischen Philosophie verbleibt: dass es keinen objektiv gültigen theoretischen Beweis der Existenz Gottes geben kann, dass aber sein moralisch-praktischer »Beweis« nach wie vor seine Gültigkeit behält. Die praktische Vernunft erlaubt es, ja sie gebietet es sogar, die Posititon eines moralischen Vernunftglaubens einzunehmen. Kant wählt bekannterweise das Wort »Glaube« als Bezeichnung für die metaphysischen Annahmen, die sich aus dem Bewusstsein des Moralgesetzes

Vgl. KrV A 829. Vgl. KpV A 215 ff. 84 Vgl. Wimmer, R., Kants Religionsphilosophie im Opus postumum, in: O. Angeli/ Th. Rentsch/N. Schneidereit/H. Vorländer (Hg.), Transzendenz, Praxis und Politik bei Kant, Berlin 2013, S. 166. 82 83

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Ethik und Religion im Opus postumum

ergeben. Wir sollen – so meine ich – diese Wortwahl ernstnehmen: Glaube bedeutet keine reine Projektion der Vernunft. Wenn es sich um eine Vernunftprojektion handeln würde, würde sich die kantische moralische Systematik in fundamentale Widersprüche verwickeln und Moralität gliche als eine Lebensaufgabe eher einer illusionären Selbstberuhigungspille. Kants System ist jedoch rational aufgebaut und erhebt unermüdlich den Anspruch, der moralische Mensch müsse ein konsistent rationales Selbstbild entwerfen. Kants praktisch-moralische Überlegungen zielen auch in Opus postumum auf die kruziale Frage der persönlichen Motivation ab: Wer sich nicht vom Sittengesetz anrühren lässt in dem Sinne, dass er es für sich nicht als ein Gesetz anerkennt, das sein praktisches Leben bestimmen soll und somit es nicht in seine Maxime übernimmt, der wird Schwierigkeiten haben, den metaphysischen Konsequenzen zuzustimmen, die Kant aus dem Bewusstsein des Moralgesetzes ableitet. 85 Vielleicht ist es erlaubt, in diesem Zusammenhang und an dieser Stelle eine Parallele zwischen dem praktisch-moralischen und dem religiösen Glauben zu ziehen. Wenn dem so ist, dann ließe sich folgendes sagen: Ein religiös-gläubiger Mensch geht in seinem Glauben davon aus, dass es sich bei der Existenz Gottes um eine reale Existenz handelt, auch wenn er das selbstverständlich nicht im theoretisch-objektiven Sinne wissen kann (denn sonst würde es sich nicht um einen Glauben handeln). Für widersprüchlich halte ich eine Position, die darin bestünde, dass sich der Gläubige eingestehen würde: Es handelt sich bei meinem Glauben lediglich um eine reine eigene Idee im Sinne der Selbstprojektion der Vernunft, aber ich weiß, dass real kein solches Wesen existieren kann … Ich sehe keinen Grund, warum jemand eine solche Position vertreten sollte. Es würde sich um reine Selbsttäuschung der Vernunft handeln. Ein praktisches und zugleich ein vernünftiges Leben im und aus dem Glauben heraus ist meiner Meinung nach nur unter der Bedingung möglich, dass dasjenige, was oder woran man glaubt, auch eine wirkliche Relevanz für die eigene Lebensführung besitzt. Dieser Befund scheint auch für den praktischen Vernunftglauben in Kants Konzept zu gelten: Wenn der – sich um ein gutes, dem Sittengesetz angemessenes Leben mühende – Mensch nicht an die Wirklichkeit dessen glauben würde, was ihm die praktische Vernunft vom Sittengesetz ausgehend zu »glauVgl. dazu z. B. das hervorragende Buch von Ondřej Sikora, Kantova praktická metafyzika, Praha 2017.

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Kants »Sonnengleichnis« als hermeneutischer Schlüssel

ben« vorlegt, bleibt die Frage, ob ein solcher Mensch im Stande wäre, sein ethisch gutes Leben in der Tat ein Leben lang als ein sinnvolles und rational gerechtfertigtes Projekt leben zu können. Meiner Meinung nach lautet Kants Antwort: nein.

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5. Verschiedene Gründe für das Hinführen der Ethik zur Religion

In diesem Kapitel sollen nochmals zusammengefasst die verschiedenen Gründe zur Sprache gebracht werden, die für das Hinführen der Ethik zur Religion sprechen. Es nimmt einige bereits angesprochenen Motive auf und führt sie weiter. Damit wir überhaupt richtigerweise verstehen, wie Kant zu seiner nicht selbstverständlichen These von dem unausweichlichen Münden der Ethik in die Religion kommt, muss zuallerst gezeigt werden, wie Kant die Natur der Vernunft sieht und nach welchen Regeln sie ihm zufolge arbeitet. Die entscheidende Einsicht liegt darin, dass bei Kant die Vorstellung einer absurden Welt schlicht unmöglich ist und dass die Welt als ein Ganzes systematisch und konsistent gedacht werden können muss. Die Sinnhaftigkeit der Welt zeigt sich wahrscheinlich am deutlichsten an Kants Überlegungen zum Begriff des höchsten Guts. Die gesollte Beförderung des Endzwecks des menschlichen Willens, nämlich die Realisierung der moralischen Welt, ist erneut ohne die Religion nicht denkbar. Die Ethik – wenn sie systematisch gedacht werden soll – steht ganz im Zeichen des Motivs der Hoffnung, die das ethische Handeln des Menschen übersteigt.

5.1. Die vernünftige Sinnhaftigkeit des Ganzen 86 Damit wir erfassen können, in welchem Sinne »das moralische Gesetz durch den Begriff des höchsten Guts, als das Objekt und den Endzweck der reinen praktischen Vernunft, zur Religion« (KpV A 233) führt, ist es zuerst notwendig, sich in Erinnerung zu rufen, in welcher Weise die Vernunft selbst arbeitet. Kant geht davon aus, dass die Vernunft in ihrer Tätigkeit bestimmte Eigenschaften und Zu den folgenden Überlegungen vgl. J. Sirovátka, Nevyhnutelné vyústění etiky do metafyziky u I. Kanta, in: Reflexe 57/2019 (im Erscheinen).

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Die vernünftige Sinnhaftigkeit des Ganzen

eine bestimmte Natur aufweist, die nicht überschritten werden kann und die bestimmte Eigenheiten besitzt, die man beschreiben kann. Diese Natur der Vernunft und die eigenen Regeln ihrer Tätigkeit müssen berücksichtigt werden, will man Kants ethisches System richtig verstehen. Die spezifische Natur der Vernunft und ihre Vorgehensweise, die für die theoretische Vernunft gilt, zeigt sich ebenso in der Tätigkeit der praktischen Vernunft. Und gerade diese spezifische Vernunftstruktur wird meiner Meinung nach bei der Untersuchung des Übergangs von der Ethik zur Religion zu wenig in Betracht gezogen. Die menschliche Vernunft geht – wie schon am Anfang des Buches erwähnt worden ist – systematisch vor und sucht die Einheit von allen ihren Erkenntnissen, die sie für die Orientierung in der Welt braucht. Die Vernunft ist nach Kant »architektonisch« (KrV B 502) und gibt sich außchließlich mit einer konsistenten und systematischen Einheit des Ganzen. Die Vernunft kann nicht in Widerspruch zu sich selbst geraten und gibt sich nicht mit einander widersprüchlichen Behauptungen zufrieden, so lange, bis sie für solche Streitigkeiten eine Lösung findet. Kant schreibt in seinem berühmten Brief an Christian Garve vom 21. September 1789, dass es die Widersprüche der Vernunft mit sich selbst gewesen sind, d. h. die sog. Antinomie, die ihn zur Ausarbeitung der kritischen Philosophie getrieben haben und zur Untersuchung der Grenzen der Vernunft: »Nicht die Untersuchung vom Dasein Gottes, der Unsterblichkeit etc. ist der Punkt gewesen, von dem ich ausgegangen bin, sondern die Antinomie der r.V.: ›Die Welt hat einen Anfang – sie hat keinen Anfang etc. bis zur vierten: Es ist Freiheit im Menschen, – gegen den: es ist keine Freiheit, sondern alles ist in ihm Naturnotwendigkeit‹ ; diese war es, welche mich aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckte und zur Kritik der Vernunft selbst hintrieb, um das Skandal des scheinbaren Widerspruchs der Vernunft mit ihr selbst zu heben.« 87

Die systematische Einheit der Erkenntnisse stellt jedoch nur einen ersten Schritt dar. Der zweite Schritt besteht in der »Beziehung aller Erkenntnisse auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft« (KrV B 867). Dieser Bezug der Erkenntnisse auf die wesentlichen, d. h. moralischen Zwecke unterscheidet einen Philosophen von einem Naturwissenschaftler: Erst der Philosoph denkt über das 87

I. Kant, Briefwechsel, Hamburg 1972, S. 779 f.

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Verschiedene Gründe für das Hinführen der Ethik zur Religion

Verhältnis des Wissens zu dem nach, wozu der Mensch bestimmt ist. Kant ist überzeugt davon, dass es Fragen gibt, zu denen die Vernunft keine gleichgültige Haltung einnehmen kann. Die Vernunft stellt Fragen, an deren Beantwortung sie ein ureigenes Interesse besitzt und dies gilt auch in dem Fall, wenn die theoretische Beantwortung alle Fähigkeiten der Vernunft übersteigt. Die Vernunft zeigt sich somit nicht nur als eine »architektonische«, sondern auch als eine »metaphysische« Vernunft: »Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.« (KrV A VII)

Die menschliche Vernunft sucht zu allem Bedingten die entsprechenden Ursachen und Bedingungen und zwar bis zum Unbedingten. Die Vernunft verlangt eine absolute Totalität der Bedingungen, die die Grenze der sinnlichen Erfahrung übersteigt und somit auch die Grenze des objektiven Erkennens. Auch wenn wir die absolute Totalität der Bedingungen nicht zu erkennen vermögen, müssen wir sie denken. So fordert es die Natur der Vernunft. Kant schreibt in der Kritik der reinen Vernunft, dass die Vernunft »zu einem gegebenen Bedingten auf der Seite der Bedingungen […] absolute Totalität fordert, und dadurch die Kategorie zur transzendentalen Idee macht, um der empirischen Synthesis, durch die Fortsetzung derselben bis zum Unbedingten (welches niemals in der Erfahrung, sondern nur in der Idee angetroffen wird), absolute Vollständigkeit zu geben. Die Vernunft fordert dieses nach dem Grundsatze: wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Summe der Bedingungen, mithin das schlechthin Unbedingte gegeben, wodurch jenes allein möglich war.« (KrV B 436)

Das menschliche Erkennen wird letztlich »geführt« von den höchsten Ideen, die der Vernunft helfen, die systematische Einheit alles Wissens in seiner Totalität zu suchen. Zugleich weisen diese Ideen der Vernunft den Weg auch dort, wo die Grenze des objektiven theoretischen Erkennens überschritten wird. Das theoretische Erkennen im sog. »Weltbegriff« der Philosophie wird immer schon auf den höchsten Zweck der Vernunft, auf die moralische Bestimmung des Menschen bezogen: Der Endzweck »ist kein anderer, als die ganze Bestimmung des Menschen, und die Philosophie über dieselbe heißt Moral.« (KrV B 868) Der »Schulbegriff« der Philosophie sucht lediglich nach 78

Die vernünftige Sinnhaftigkeit des Ganzen

»einem System der Erkenntnis, die nur als Wissenschaft gesucht wird, ohne etwas mehr als die systematische Einheit dieses Wissens« anzustreben. Das theoretischen Wissen ist für Kant jedoch kein Selbstzweck, sondern muss stets auf die höchste Bestimmung des Menschen bezogen werden, die in dem Vermögen besteht, als autonomes moralisches Wesen handeln zu können. Der Mensch ist ein Zweck an sich selbst und ist mit einem Willen ausgestattet, der den Grund des Guten in sich selbst haben kann. In dieser Hinsicht wird die praktische Vernunft zum Kanon, zur Richtschnur für die theoretische Vernunft, sodass der praktischen Vernunft das Primat vor der theoretischen zuzusprechen ist. Auch wenn die Vernunft in eine theoretische und praktische aufgeteilt wird, ist es notwendig zu betonen, dass es sich stets um eine einzige Vernunft handelt. Kants Worte aus der zweiten Kritik sind ernst zu nehmen: »Allein wenn reine Vernunft für sich praktisch sein kann und es wirklich ist, wie das Bewußtsein des moralischen Gesetzes es ausweiset, so ist es doch immer nur eine und dieselbe Vernunft, die, es sei in theoretischer oder praktischer Absicht, nach Prinzipien a priori urteilt, und da ist es klar, daß, wenn ihr Vermögen in der ersteren gleich nicht zulangt, gewisse Sätze behauptend festzusetzen, indessen daß sie ihr auch eben nicht widersprechen, eben diese Sätze, so bald sie unabtrennlich zum praktischen Interesse der einen Vernunft gehören, zwar als ein ihr fremdes Angebot, das nicht auf ihrem Boden erwachsen, aber doch hinreichend beglaubigt ist, annehmen, und sie, mit allem, was sie als spekulative Vernunft in ihrer Macht hat, zu vergleichen und zu verknüpfen suchen müsse« (KpV A 218). In Kants Versuch, die moralische Bestimmung des Menschen systematisch zu denken und auszuarbeiten, ergänzen die theoretische und praktische Vernunft einander. Die praktische Vernunft findet das Moralgesetz vor, das als ein »Faktum der Vernunft« zum unverfügbaren Fundament der Moralität wird. Die theoretische Vernunft wird benötigt, wenn die Konsequenzen gedacht werden sollen, die sich aus dem unmittelbar geltenden, moralischen Sollen des Sittengesetzes ergeben. Kant bildet somit ein systematisches praktisch-ethisches Ganzes, in dem sowohl die Naturkausalität mit der Kausalität der Freiheit verbunden, als auch das empirische Verlangen nach Glück, die Frage nach der Glückseligkeit mit dem moralischen Anspruch versöhnt werden muss. 88 Vgl. auch D. Henrich, Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft, in: D. Henrich/W. Schulz/K-H. Volkmann-Schluck (Hg.), Die

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Verschiedene Gründe für das Hinführen der Ethik zur Religion

5.2. Die Forderung des Sittengesetzes Zu den Verdiensten von Dieter Henrich gehört unter anderem, dass er auf den Unterschied zwischen dem theoretischen und praktischen Erkennen hingewiesen hat. Es gibt nämlich auch das praktische Erkennen, eine praktisch-moralische Einsicht, die eine spezifische Art des Erkennens darstellt. Diese Einsicht erschöpft sich nicht in einem uninteressierten und neutralen »Zur-Kenntnis-Nehmen« von bestimmten Erkenntnisdaten, sondern verlangt immer schon ein Engagement des Subjekts. Die Frage nach der sittlichen Einsicht führt zu den Grundfesten eines jeden ethischen Systems und verweist auf dasjenige, was jeder Ethik vorausgeht und woraus eine jede Ethik entspringt. Henrich beschreibt die grundsätzlichen Züge der sittlichen Einsicht, auf die ich mich hier beziehen werde. Zuerst ist zu betonen, dass dasjenige, was wir für gut halten, keine für uns gleichgültige oder beliebige Tatsache darstellt. Die Bezeichnung »gut« impliziert bereits einen Akt der Zustimmung: »Die sittliche Einsicht blickt auf das Gute nicht wie auf einen beliebigen Sachverhalt. Sie konstatiert nicht nur, was ›gut‹ ist. Ohne einen Akt der Zustimmung gibt es keine Erkenntnis des Guten. Wer sagt, ›dies ist gut‹, meint immer zugleich, daß das, was sich ihm als das Gute zeigt, von ihm in seinem Sein bestätigt wird. Das Richtige leuchtet ein, das Gute aber ist urpsrünglich gebilligt. Ohne diese Antwort dessen, der das Gute erkennt, ist sittliche Einsicht unmöglich.« 89

Das Gute hat seine eigene Evidenz, die keinen Verweis auf eine andere Art der Begründung braucht. Die Einsicht in das Gute bedeutet weiterhin nach Henrich eine wahre und echte Einsicht: Wir verstehen dasjenige, dem wir zustimmen. Das sittliche Erkennen ist zugleich ein Anerkennen. Das Gute tritt mit einem legitimen Anspruch, den ich verstehe, dem ich zustimme und diese Zustimmung drängt mich zum Handeln: »Am deutlichsten wird die Rolle des Selbst im sittlichen Erkennen, wenn man im sittlichen Bewußtsein den Standpunkt dessen, der urteilt, vom Standpunkt dessen unterscheidet, der zur HandGegenwart der Griechen im neueren Denken, Tübingen 1960, S. 113: »Von Aristoteles unterscheidet sich Kant dadurch, daß das Faktum, der Gegenstand der sittlichen Einsicht, eine ›Tatsache‹ der Vernunft ist, derselben Vernunft, die auch den theoretischen Begriff des Unbedingten denkt.« 89 D. Henrich, Der Begriff der sittlichen Einsicht, S. 83 f.

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Die Forderung des Sittengesetzes

lung aufgerufen wird. Für ihn ist die Einsicht in das Gute zugleich Antrieb zum Handeln und Grund der Gewißheit, dem Anspruch, dem er zustimmt, entsprechen zu können.« 90 Aus der Charakteristik der sittlichen Einsicht ist ersichtlich, dass wenn ich etwas tatsächlich als »gut« einsehe, ich gegenüber diesem Guten nicht gleichgültig bin. Ich kann gegenüber dem Guten nicht gleichgültig bleiben, weil das »Wesen« des Guten eben darin besteht, dass es mich existentiell als ganzen Menschen beansprucht. So verhält es sich auch mit dem Moralgesetz: Wenn das Moralgesetz – verstanden als ein »Faktum der Vernunft« – unmittelbar und a priori befiehlt, kann es dem Menschen nicht gleichgültig bleiben, ob dasjenige, was als Gesolltes gilt, auch verwirklicht werden kann oder wenigstens als verwirklichbar gedacht werden kann. Das Moralgesetz stellt für Kant den archimedischen Punkt dar, von dem aus die ganze etische Systematik entfaltet wird und das auch zu den Postulaten der reinen praktischen Vernunft führt. Das Sollen des Moralgesetzes beinhaltet aber auch die Aufforderung zur Realisierung einer moralischen Welt als eines Endzwecks des menschlichen Willens: »Hier ist nun das, was Archimedes bedurfte, aber nicht fand: ein fester Punkt, woran die Vernunft ihren Hebel ansetzen kann, und zwar, ohne ihn weder an die gegenwärtige, noch eine künftige Welt, sondern bloß an ihre innere Idee der Freiheit, die durch das unerschütterliche moralische Gesetz, als sichere Grundlage darliegt, anzulegen, um den menschlichen Willen, selbst beim Widerstande der gazen Natur, durch ihre Grundsätze zu bewegen.« 91

Das Sittengesetz zeigt sich im moralischen Bewusstsein als ratio cognoscendi der Willensfreiheit und die Freiheit des Willens bildet dann bekannterweise die ratio essendi des Moralgesetzes (KpV A 5). Genauso wie die sittliche Einsicht ein engagiertes, nicht-gleichgültiges Subjekt voraussetzt, so eröffnet sich das Erkennen der eigenen Freiheit »erst einem engagierten Akteur in einer moralisch relevanten Situation, im Angesicht des Anspruchs des Guten. Ein weiterer wichD. Henrich, Der Begriff der sittlichen Einsicht, S. 87. Vgl. ebd., S. 98 f.: »Die sittliche Einsicht ist ebenso wie die theoretische kein zufälliges Betroffensein, das im Grade seiner Eindringlichkeit schwanken kann. Wie die Erkenntnis der Vernunft ist sie auf das ›Wahre‹, auf ›Gültiges‹ bezogen, nämlich auf das ›Gute‹ und das ›Gerechte‹. Als sittliche Einsicht kommen ihr aber auch Momente zu, die sich in der theoretischen nicht finden. Durch den Anspruch des Guten ist sie unmittelbar auf das Handeln bezogen.« 91 Vgl. Von einem neuerdings erhobenen vornhemen Ton in der Philosophie A 419. 90

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Verschiedene Gründe für das Hinführen der Ethik zur Religion

tiger Moment besteht darin, dass der handelnde Mensch die Freiheit ausschließlich und nur ›in sich‹ erkennt, nicht als ein abstraktes Prinzip. Aus diesem Grund kann eine uninteressierte, nicht engagierte Vernunft die Wirklichkeit der Freiheit niemals erfassen.« 92 In Kants Werk sind mehrere unterschiedliche Strategien sichtbar, mit deren Hilfe Kant für seine These argumentiert, dass die Moral zur Religion führt. Diese Argumentationsstrategien sind zwar auf der einen Seite mit unterschiedlichen Akzenten besetzt, auf der anderen Seite sind sie jedoch sehr eng miteinander verwoben. Unter der Voraussetzung, dass man das Sollen des Moralgesetzes als unbedingt geltend erkennt und anerkennt, ist die These von der Unmöglichkeit einer absurden Welt in moralischer Perspektive eines von denjenigen Argumenten, die für die Mündung der Ethik in eine praktisch-dogmatische Metaphysik plädieren: »Wenn ich das Daseyn Gottes läugne, so muß ich mich entweder wie einen Narren ansehen, wenn ich ein Ehrlicher Mann seyn will (oder bin), oder wie einen Bösewicht, wenn ich ein kluger Mann seyn will. Es giebt Beweise per deductionem contrarii ad absurditatem oder turpitudinem. […] Wenn man Gott leugnet, so ist der tugendhafte ein Narr und der kluge Mann ein Schelm. Klugheit und Sittlichkeit können im practischen nur Verbunden werden, wen ich das Dasein Gottes annehme. Ohne diesen Satz würden die Moralische Gesetze des mundi intelligibilis […] falsch seyn.« (Reflexion 4256, AA XVII, 484 f.) 93 Vgl. O. Sikora, Kantova praktická metafyzika, S. 228 [Übersetzung J. S.]. Vgl. auch Religionslehre Pölitz AA XXVIII, 1072: »Es muß demnach ein Wesen da seyn, welches selbst nach Vernunft und moralischen Gesetzen die Welt regieret, und in dem Laufe der Dinge künftig einen Zustand festgesetzet hat, worin das seiner Natur treu gebliebene und durch Moralität einer fortdauernden Glückseligkeit würdige Geschöpf auch wirlich dieser Glückseligkeit theilhaftig werden soll; denn sonst verlieren alle subjektiv nothwendige Pflichten, die ich als vernünftiges Wesen zu leisten schuldig bin, ihre objektive Realität. Wozu soll ich mich durch Moralität der Glückseligkeit würdig machen, wenn kein Wesen da ist, das mir diese Glückseligkeit verschaffen kann? So müßte ich denn ohne Gott, entweder ein Phantast, oder ein Bösewicht seyn. Ich müßte meine eigene Natur und ihre ewigen moralischen Grundsätze verläugnen; ich müßte aufhören, ein vernünftiger Mensch zu seyn. – Das Daseyn Gottes ist demnach nicht etwa so, wie in der Physikotheologie, bloß eine Hypothese für zufällige Erscheinungen, sondern vielmehr hier in der Moral ein nothwendiges Postulat für unumstößliche Gesetze meiner eigenen Natur. Denn die Moral zeiget uns nicht bloß, daß wir eines Gottes bedürfen, sondern lehret uns auch, daß er schon in der Natur der Sache liege, da daß die Ordnung der Dinge uns selbst darauf leite.« 92 93

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Die Forderung des Sittengesetzes

Auch in einer Passage der Kritik der Urteilskraft beschreibt Kant einen moralisch guten Menschen, der nicht an die Existenz Gottes glaubt. Dieser Mensch befolgt das Sittengesetz und verlangt für dessen Einhaltung »für sich keinen Vorteil, weder in dieser noch in einer andern Welt; uneigennützig will er vielmehr nur das Gute stiften, wozu jenes heilige Gesetz allein seinen Kräften die Richtung gibt.« (KU B 427) Ein solcher Mensch wird laut Kant jedoch nie eine Übereinstimmung der Natur mit seiner moralischen Bestimmung, oder präziser gesagt, mit seinem moralischen Endzweck erwarten, den er als verbindlich ansieht. Ein solcher Mensch wird im Tod in »den Schlund des zwecklosen Chaos der Materie« gestürzt (KU B 428). Eine Überzeugung, die besagt, dass das ganze menschliche Leben in einem »zwecklosen Chaos der Materie« endet, lehnt Kant jedoch entschieden ab. Hier scheint Kant eine Alternative zu bilden zwischen der Vorstellung der moralischen Welt als eines Endzweckes, verbunden mit der Annahme der Existenz Gottes und der Vorstellung einer »sinn-losen« Welt, in der moralische Handlungen zwar möglich sind, aber ohne den Nexus des Ganzen im Gedanken eines Endzweckes. Es bleibt zu fragen, ob auch für die dritte Kritik gilt, was Dörflinger noch mit Verweis auf den VIII. Abschnitt der Dialektik der reinen praktischen Vernunft der Kritik der praktischen Vernunft attestiert: Der Mensch ist zwar vor eine Glaubenswahl gestellt, jedoch nicht vor »die Wahl zwischen dem Gottesglauben und der Sinnlosigkeit folgenloser Moralität«. Es ist die Wahl »zwischen einem Glauben an eine künftige Welt mit oder ohne Gott«. 94 Sicherlich gilt, dass der Mensch seine moralische Pflicht auch ohne einen Glauben im Sinne Kants erfüllen kann. Ebenso bleibt klar, dass der Glaube als nur subjektiv zureichendes Überzeugtsein keine Pflicht darstellt. Trotz alledem scheint in meinen Augen Kant sagen zu wollen, dass der Mensch bei einer bloßen Pflichterfüllung nicht stehen bleiben kann, sondern dass ihm eben das Bedürfnis der praktischen Vernunft dazu drängt, die Totalität der Moralität zu denken. Und zu dieser Totalität gehört die gläubige Annahme (aus praktischen Gründen) der Existenz Gottes und der Unsterblichkeit der Seele. Wenn auch das Befolgen der moralischen Pflicht in einer konkreten Einzelsituation zweifellos ohne einen Glaubensakt möglich ist und bleibt, scheint Kant zu der Annahme zu tendieren, dass ein moralisches Leben à la longue doch ohne eine übergeordenete Sinnhaftigkeit des Ganzen absurd wäre, 94

Vgl. Dörflinger, Führt Moral unausbleiblich zur Religion?, S. 222.

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Verschiedene Gründe für das Hinführen der Ethik zur Religion

oder wenigstens ein Hindernis auf dem Weg eines grundsätzlichen, moralischen Lebens sein könnte. Wenn das Moralgesetz – als ein Gesetz der Vernunft – unmittelbar und kategorisch die Verwirklichung des höchsten Guts befiehlt, kann der Mensch den Endzweck der »Schöpfung« nicht aufgeben (ohne selbst schizophren zu werden), der sich dann als unmöglich erweisen würde. Kant ist davon überzeugt, dass der Mensch aus praktisch-vernünftigen Gründen die Möglichkeit der Existenz Gottes als Voraussetzung annehmen muss, wenn er der Stimme »seiner sittlichen inneren Bestimmung anhänglich bleiben, und die Achtung, welche das sittliche Gesetz ihm unmittelbar zum Gehorchen einflößt, nicht durch die Nichtichkeit des einzigen ihrer hohen Forderung angemessenen idealischen Endzwecks schwächen« will (KU B 428). Es sei darauf hingewiesen, dass Kant unermüdlich wiederholt: Der moralische Vernunftglaube an das Dasein Gottes stellt keine abstrakte logisch-theoretische Überzeugung (nach Art eines zwingenden mathematischen Beweises) dar. Es handelt sich vielmehr um eine moralische Sicherheit, die nicht für »den Menschen« gilt, sondern immer nur für mich. Nur »ich« als das involvierte, nicht-gleichgültige Subjekt komme zu dieser Überzeugung. 95 Erneut wird an dieser Stelle der spezifische Charakter der moralischen Einsicht offensichtlich: »Ich« als ein empirisches und zugleich freies Wesen bejahe dasjenige, was ich als das Gute einsehe. Das Gute selbst »erzwingt« meine persönliche Bejahung – und ohne diese Bejahung lässt sich nicht über eine sittliche Einsicht sprechen.

5.3. Das höchste Gut als Endzweck des Willens Wie bereits mehrmals festgestellt worden ist, bleibt die Triebfeder des Willens weiterhin nur das Sittengesetz, die Religion zeigt sich jedoch in der moralisch verfassten Gottesidee als eine Stärkung der Triebfeder, als eine zusätzliche subjektive Motivation, die sich zur Triebfeder zugesellt, sie jedoch nicht ersetzt. Zu einem ähnlichen Ergebnis

Vgl. auch KrV B 856: »Da aber also sie sittliche Vorschrift zugleich meine Maxime ist (wie denn die Vernunft gebietet, daß sie es sein soll), so werde ich unausbleiblich ein Dasein Gottes und ein künftiges Leben glauben, und bin sicher, daß diesen Glauben nichts wankend machen könne, weil dadurch meine sittliche Grundsätze selbst umgestürzt werden würden, denen ich nicht entsagen kann, ohne in meinen eigenen Augen verabscheuungswürdig zu sein.«

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Das höchste Gut als Endzweck des Willens

kommt Friedo Ricken im Zusammenhang der Reflexion der Pflichten gegenüber Gott: »Es gibt keine Pflichten gegen Gott, sondern nur eine Pflicht in Ansehung Gottes (TL 6:487.20–22), und diese Pflicht ist eine Pflicht des Menschen gegen sich selbst und gehört zur philosophischen Moral. Diese Pflicht ist eine subjektive, d. h. es ist eine Pflicht gegenüber uns selbst (zur Stärkung der Triebfeder) und nicht gegenüber den anderen. Die Argumentation geht aus von der Definition, Religion sei ›der Inbegriff aller Pflichten als (instar) göttlicher Gebote‹ (TL 6:487.8 f.). Die Formulierung der zweiten Kritik lautet: Religion ist die ›Erkenntniß aller Pflichten als göttlicher Gebote‹ (KpV 5:129.18 f.). Das lateinische ›instar‹ (TL 6:487.9) bedeutet ›einer Sache gleich oder gleich zu achten‹. Das ›als‹ (TL 6:487.9) ist also nicht im Sinne eines ›als ob‹ zu verstehen; vielmehr sollen die Pflichten als das betrachtet werden, was sie tatsächlich sind; es geht, wie die zweite Kritik formuliert, um die Erkenntnis dessen, was die Pflichten tatsächlich sind. Die Definition gibt das ›Formale aller Religion‹ (TL 6:487.8) an, d. h. sie charakterisiert die Religion als eine neue Sicht unserer Pflichten, die darin besteht, dass die Vernunft sie auch auf die ›Idee von Gott, welche sie sich selber macht‹ (TL 6:487.11), bezieht. […] Die Sicht aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote, so lässt die Begründung sich zusammenfassen, stärkt die moralische Triebfeder in unserer eigenen gesetzgebenden Vernunft, und diese Triebfeder zu stärken ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst.« 96

Wenn Kant darüber spricht, dass wir uns die moralischen Pflichten als Gebote Gottes vorstellen sollen, dann ist dieses »als ob« nicht in einem fiktionalen Sinne gemeint. Es handelt sich nicht um eine bloße Illusion oder um eine reine Projektion der praktischen Vernunft im Sinne einer »Hermeneutik der Verdachts« Paul Ricœurs. Wenn Kant über die »objektiv-praktische Realität« und über den Vernunftglauben spricht, dann ist damit etwas Anderes und mehr gemeint als eine bloße Fiktion. Es handelt sich um eine Symbolisierung eines Ungegenständlichen durch ein Objekt. Wenn Kant schreibt, dass wir uns in »praktischer Hinsicht« »diese Gegenstände« (also die Idee Gottes und die der Unsterblichkeit der Seele) selbst »machen« (AA XX, 299), heißt das nicht, dass es sich um ein »Machwerk« des Menschen im 96 F. Ricken: Die Religionslehre als Lehre der Pflichten gegen Gott liegt außerhalb der Grenzen der reinen Moralphilosophie (TL 6:486–491) in: A. Trampota/O. Sensen/ J. Timmermann (eds.), Kant’s »Tugendlehre«. A Comprehensive Commentary, Berlin/Boston 2013, S. 417 f. Vgl. auch S. 418: »Die Sicht aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote, so lässt die Begründung sich zusammenfassen, stärkt die moralische Triebfeder in unserer eigenen gesetzgebenden Vernunft, und diese Triebfeder zu stärken ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst.«

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Verschiedene Gründe für das Hinführen der Ethik zur Religion

Sinne einer Projektion des Bewusstseins handelt. Der praktisch-vernünftige Glaube ist für die Verwirklichung des Endzwecks, des höchsten Guts, unentbehrlich. Das glaubende Überzeugtsein – auch im Sinne des praktischen »als ob« Kants – müssen wir uns eher so vorstellen, wie es Dieter Henrich beschreibt: »›Wahrheit‹ heißt hier nicht wissenschaftlich gesicherte Erkenntnis. Für wahr erkennt der Mensch an, was die umfassendste Evidenz hat und die am meisten einleuchtende Perspektive eröffnet. Und dies ist nicht eine Wahrheit ›als ob‹, also unter dem Vorbehalt, daß man nur so denken müsse, sondern im wirklichen Bewußtseinsleben die stärkste Affirmation, zu der ein Mensch überhaupt imstande ist. In diesem Sinn sind gewiß die großen Lebensdeutungen wahr gewesen.« 97 Mit dem Verständnis der moralischen Pflichten »als göttliche Gebote« ergibt sich aber nur ein schwacher Begriff einer Vernunftreligion. Ein starker Begriff ist erst in der Religionsschrift gegeben, wenn die Existenz Gottes als »Bedingung der praktischen Möglichkeit« des Reichs der Zwecke postuliert wird, das als Reich Gottes verstanden wird. 98 Hier wird nämlich der Gottesbegriff ausdifferenziert und Gott als Schöpfer, Gesetzgeber und gerechter Richter verstanden. In diesem starken Begriff wird klarer und inhaltsreicher gezeigt, warum Moral zur Religion führt. Das höchste Gut als der moralische Endzweck des Menschen darf nicht nur als denkbar, sondern als real möglich angesehen werden. So ist auch die Existenz Gottes als wirklich in einem praktischen Vernunftglauben anzunehmen. Bereits in Kants Schrift Was heisst: sich im Denken orientieren? aus dem Jahre 1786, also ein Jahr nach der Publikation der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und zwei Jahre vor der Kritik der praktischen Vernunft lässt sich eine gewisse Neujustierung der moralischen »Theologie« beobachten. 99 Nun geht es nicht mehr so sehr um das Vgl. D. Henrich, Fluchtlinien. Philosophische Essays. Frankfurt am Main 1982, S. 31. 98 Vgl. R. Wimmer: Kann Religion vernünftig sein? Zur Metakritik an Kants kritischer Religionsphilosophie in: Herta Nagl-Docekal/Rudolf Langthaler (Hg.): Recht – Geschichte – Religion. Die Bedeutung Kants für die Gegenwart, Berlin 2004, S. 178. 99 Vgl. dazu u. a. E. Förster, Kant’s Final Synthesis, Cambridge/Massachusetts/London 2000, S. 127 f.: »With this we have reached a new, or second, stage of Kant’s moral theology. The highest good is now the unconditioned corresponding to what is conditioned practically: the totality of the object of pure practical reason. Instead of the quest for the motivation or incentive for action, we face the question of the objective reality of such a concept.« 97

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Das höchste Gut als Endzweck des Willens

Auffinden und Begründen eines höchsten moralischen Prinzips, oder um die moralische Bestimmung des Willens und die mit ihr verbundene Problematik der moralischen Triebfeder. Das moralische Gesetz als die alleinige objektive und subjektive moralische Motivation führt »auf die Idee des höchsten Gutes, was in der Welt möglich ist, so fern es allein durch Freiheit möglich ist: die Sittlichkeit; von der anderen Seite auch auf das, was nicht bloß auf menschliche Freiheit, sondern auch auf die Natur ankommt, nämlich auf die größte Glückseligkeit, so fern sie in Proportion der ersten ausgeteilt ist. Nun bedarf die Vernunft, ein solches abhängiges höchstes Gut, und zum Behuf desselben eine oberste Intelligenz als höchstes unabhängiges Gut, anzunehmen: […] sondern nur, um dem Begriffe vom höchsten Gut objektive Realität zu geben, d. i. zu verhindern, daß es zusamt der ganzen Sittlichkeit nicht bloß für ein bloßes Ideal gehalten werde, wenn dasjenige nirgend existierte, dessen Idee die Moralität unzertrennlich begeleitet.« 100 Diese Passagen sind aus dem Grund interessant, weil sie die geänderte Perspektive im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Ethik und Religion gegenüber der Grundlegungsschrift dokumentieren. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt nun die Bestimmung der Totalität des unbedingten Objektes der reinen praktischen Vernunft unter dem Namen »das höchste Gut«. Das höchste Gut lässt sich verstehen als ein Versuch, alle Realisierungsbedingungen dessen zu beschreiben, was das Sittengesetz befiehlt. Darüber hinaus muss in ihm die Kausalität der Freiheit mit der Kausalität der Natur als verbunden gedacht werden. Eine solche Charakterisierung des höchsten Guts hat wiederum einen rückwirkenden Einfluss auf die Überzeugung des sich nach dem Sittengesetz richtenden und handelnden Menschen in dem Sinne, dass er nur berechtigterweise davon ausgehen kann, dass das Sittengesetz keine bloße Chimäre darstellt. Die konstitutive Stellung der Religion in der praktischen Philosophie Kants hängt wesentlich mit dem System der Zwecke zusammen, das aus dem Moralgesetz gefolgert wird. Aus dem Moralgesetz wird nämlich der Endzweck der Errichtung einer moralischen Welt abgeleitet, »denn es kann der Vernunft doch unmöglich gleichgültig sein, wie die Beantwortung der Frage ausfallen möge: was dann aus diesem unserm Rechthandeln herauskomme« (RGV BA VII). Wir können uns nach Kant die Verwirklichung des moralischen Endzwecks, das 100

I. Kant, Was heisst: sich im Denken orientieren? A 315 f.

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Erreichen des höchsten Guts alleine unter der Annahme der Existenz Gottes und der Unsterblichkeit der Seele als sinnvoll denken. Die Religion erweitert jedoch nicht die moralischen Pflichten, da sie dem Sittengesetz nichts Neues hinzufügen vermag. Wir sind laut Kant jedoch angehalten, darin eine praktisch-notwendige Belehrung zu sehen, »eine subjectiv-, und zwar praktisch-gültige, und in dieser Absicht hinreichende Belehrung, so zu handeln, als ob wir wüßten, dass diese Gegenstände wirklich wären.« (Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik. Zweiter Entwurf AA XX, 298). Die postulierte Idee Gottes stellt jedoch keine inhaltsleere Vorstellung dar, da sie mit dem Endzweck aller Dinge zusammenhängt, der die Gottesidee inhaltlich ausdifferenziert. Die Idee Gottes hilft »unserm natürlichen Bedürfnisse, zu allem unsern Tun und Lassen im ganzen genommen irgend einen Endzweck, der von der Vernunft gerechtfertigt werden kann, zu denken, […], welches sonst ein Hindernis der moralischen Entschließung sein würde.« (RGV BA VIIf.). Das Wegräumen der »Hindernisse der moralischen Entschließung« ist erneut als eine Stärkung der Triebfeder zu verstehen, worauf insbesondere Maximilian Forschner hingewiesen hat, der sogar über »eine zwiefältige Triebfeder moralischen Handelns« bei Kant spricht. 101 Die Rede von einer zwiefältigen Triebfeder halte ich für eine zu starke Interpretation. Sachgemäßer scheint mir die Unterscheidung zwischen einer Triebfeder und einer Stärkung dieser Triebfeder zu sein. Forschner betont ebenfalls zu recht, dass das menschliche Handeln stets regelgeleitet und zielorientiert ist, wobei die »Regel aller Regeln ist, was Kant das (formale) Freiheitsgesetz bzw. den kategorischen Imperativ nennt. Der Endzweck des moralischen Bewußtseins des Menschen ist, was Kant das höchste (abgeleitete) Gut nennt, die moralische Vollkommenheit des Menschen und die dieser entsprechende Glückseligkeit.« 102 Der vernünftige Glaube »entspricht einem natürlichen theoretischen Bedürfnis menschlicher Vernunft im Blick auf den Sinn eines praktischen Gesetzes, das man verstehen und befolgen möchte«. Forschner zeigt sich überzeugt, dass der Glaube eine Triebfeder-Funktion innehat, da er »auch einen handlungsmotivierenden Gefühlsaspekt hat, er ist als Glaube auch zuversichtliche Hoffnung und als solche Triebfeder; ihre kausale Funktion besteht nach Kant darin, Hindernisse der mora101 Vgl. dazu Maximilan Forschner: Immanuel Kant über Vernunftglaube und Handlungsmotivation in: Zeitschrift für philosophische Forschung 59, 2005, S. 328. 102 Ebd., S. 334.

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lischen Entschließung zu beseitigen. Sie ist in dieser Funktion unverzichtbarer Bestandteil bzw. Voraussetzung einer dem moralischen Gesetz entsprechenden subjektiven Gesinnung zur praktischen Beförderung des höchsten Guts in der Welt.« 103 Wie wir bereits gesehen haben, die Beförderung des höchsten Guts ist eine moralische Pflicht, die sich aus dem unbedingt geltenden Moralgesetz ergibt. Weder der einzelne Mensch noch die ganze Menschheit sind jedoch imstande, die vollständige Realisierung zu garantieren. Die Verwirklichung des Endzwecks kann alleine »in einem jenseits moralischen Bemühens angesiedelten religiösen Glauben an und Hoffen auf das Wirken eines allmächtigen, allwissenden und allgütigen Gottes angenommen werden«. 104 Es ist nach Wimmer logisch und praktisch-moralisch erlaubt, sich für diesen Glauben zu entscheiden – ich darf hoffen auf die Verwirklichung des Reichs der Zwecke. Für die Vernunft ist es nach Kant geboten, diesen praktisch-moralischen Vernunftglauben anzunehmen, damit sie nicht in Widerspruch zu sich selbst, zu ihrer eigenen gesetzgebenden Kraft gerät. »Nur das vernunfterzeugte Bedürfnis oder Interesse an der Wirklichkeit des Ideals der reinen praktischen Vernunft hat den Glauben an Gottes Dasein zur transzendentalpragmatischen Konsequenz; insofern wäre Glaubensenthaltung oder Unglaube inkonsistent mit der Annahme der Realität des Ideals und würde deshalb ein ›absurdum practicum‹ (vgl. AA XXVIII/1 318– 320) darstellen.« 105 Im Verlauf der Ausarbeitung von Kants ethischem System kommt es also unter anderem zu einer wichtigen Gewichtsverschiebung. Dominierte am Anfang – vereinfacht gesprochen – die Frage nach dem Auffinden und Festlegen eines höchsten, allgemeinen, unbedingt geltenden moralischen Prinzips und die Frage nach der moralischen Bestimmung des Willens, steht später die Frage nach den Zwecken des Willens im Vordergrund, oder besser gesagt, nach dem Endzweck des Willens. 106 Sicherlich behält auch weiterhin Kants funVgl. ebd., S. 338 f. Vgl. Reiner Wimmer: Kann Religion vernünftig sein? S. 179. 105 Ebd., S. 180 f. 106 In diesem Zusammenhang könnte man fragen, welche neuen Motive die Religionsschrift gegenüber der zweiten Kritik und der Metaphysik der Sitten ins Spiel bringt. Einige Autoren nennen vor allem das Einführen der Vorstellung vom »ethisch gemeinen Wesen« und das Einführen von einer moralischen »Gesinnung«, einer moralischen Ontologie als Grundlage für die einzelen Akte des Ich. Vgl. dazu Ch. L. Firestone/N. Jacobs (ed.): In defence of Kant’s ›Religion‹, Bloomington 2008, S. 119 ff. 103 104

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damentale Einsicht ihre Gültigkeit, dass die Ethik zum moralisch richtigen Verhalten keinen Zweck braucht, sondern ausschließlich das Moralgesetz. Kant ist jedoch Empiriker genug, um zu wissen: »ohne alle Zweckbeziehung kann gar keine Willensbestimmung im Menschen statt finden« (RGV BA VI), wobei der Zweck als Wirkung oder Folge des Willens verstanden wird. Aus der Perspektive der moralischen Beurteilung einer Handlung bleibt selbstverständlich maßgebend der gute Wille, der den Grund seiner Gutheit in sich selbst hat. Genauso klar bleibt ebenfalls, dass der gute Wille »nicht durch das, was er bewirkt, oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zu Erreichung irgend eines vorgesetzten Zweckes« seinen moralischen Wert erhält (vgl. GMS BA 3). Nichts desto trotz geht aus der moralischen Bestimmung des Willens ein Zweck hervor: »denn es kann der Vernunft doch unmöglich gleichgültig sein, wie die Beantwortung der Frage ausfallen möge: was dann aus diesem unserm Rechthandeln herauskomme« (RGV BA VII). Es handelt sich um zwei voneinander unterschiedene und dennoch miteinander zusammenhängende Perspektiven: Auf der einen Seite untersucht Kant die Frage nach der objektiven und subjektiven Motivation des Willens, 107 auf der anderen Seite steht die Frage, worauf sich der moralische Wille als Endzweck (als ein Objekt des Willens) bezieht und welche Konsequenzen sich daraus für den guten Willen ergeben. Der moralisch Handelnde hat gleichwohl ein Interesse daran, dass sich seine guten Handlungen in der empirischen Welt durchsetzen und die Welt dadurch moralischer wird. Dieser Endzweck, d. h. ein Zweck, »der keines andern als Bedingung seiner Möglichkeit bedarf« (KU B 396), beinhaltet keine neuen Pflichten, die nicht schon im Moralgesetz selbst beinhaltet wären. Trotz alledem behauptet Kant in der Religionschrift, dass der Begriff des höchsten Guts als eines Endzweckes des Willens über den Begriff der Pflichten hinausgeht: »Daß aber jedermann sich das höchste, in der Welt mögliche Gut zum Endzweck machen sollte, ist ein synthetischer praktischer Satz a priori, und zwar ein objektiv praktischer durch die reine Vernunft aufgegebener, weil er ein Satz ist, der über den Begriff der Pflichten in der Welt hinausgeht, 107 Zur Thematik der moralischen Motivation vgl. den sehr guten und anregenden Sammelband von H. Klemme/M. Kühn/D. Schönecker (Hg.), Moralische Motivation. Kant und die Alternativen, Hamburg 2006.

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und eine Folge derselben (einen Effekt) hinzutut, der in den moralischen Gesetzen nicht enthalten ist, und daraus also analytisch nicht entwickelt werden kann.« (RGV BA XI). 108

Wie sollen wir dieses »Hinausgehen« oder diese »Erweiterung« verstehen, die man nicht aus dem Moralgesetz herauslesen kann und die das Moralgesetz übersteigt? Kant behauptet jedenfalls, dass die Übereinstimmung meines Willens mit dem Endzweck aller Dinge die Pflichten nicht vermehrt, sondern ihnen »einen besonderen Beziehungspunkt der Vereinigung aller Zwecke verschafft« (RGV BA VIII). So gesehen zeigt sich die Idee des höchsten Guts als Endzweck zugleich als der alle anderen Zwecke einigende Beziehungspunkt. 109 Auch an dieser Stelle zeigt sich die Natur der Vernunft, über die bereits weiter oben gesprochen worden ist: Die Vernunft geht systematisch-architektonisch vor, so ist es notwendig, auch alle praktischen Zwecke unter eine einzige Idee zu einigen, die wiederum die empirische und intelligible Welt vereint. Für ein besseres Verständnis dessen, was das »Hinausgehen« über das Gesollte des Moralgesetzes bedeutet, möchte ich hier die interessante Analogie aufgreifen, die Pauline Kleingeld in diesem Zusammenhang vorschlägt und entfaltet. 110 Wir sollen uns nach Kleingeld vorstellen, dass wir in der Arbeit 108 Vgl. auch Kant, Über den Gemeinspruch A 211 f.: »Denn ohne allen Zweck kann kein Wille sein; obgleich man, wenn es bloß auf gesetzliche Nötigung der Handlungen ankömmt, von ihm abstrahieren muß und das Gesetz allein den Bestimmungsgrund desselben ausmacht. Aber nicht jeder Zweck ist moralisch (z. B. nicht der der eigenen Glückseligkeit), sondern dieser muß uneigennützig sein; und das Bedürfnis eines durch reine Vernunft aufgegebenen, das Ganze aller Zwecke unter einem Prinzip befassenden Endzwecks (eine Welt als das höchste auch durch unsere Mitwirkung mögliche Gut) ist ein Bedürfnis des sich noch über die Beobachtung der formalen Gesetze zur Hervorbringung eines Objekts (das höchste Gut) erweiternden uneigennützigen Willens.« 109 Vielleicht ist es nicht unangebracht, die Stellung der Idee des höchsten Guts als Endzweck im Verhältnis zu allen anderen Willenszwecken mit der Idee des Guten bei Platon in der Interpretation von Hans-Georg Gadamer zu vergleichen. Für Gadamer hat die platonische Idee des Guten auf der einen Seite eine praktische Orientierungsfunktion und auf der anderen Seite die Funktion einer »einigenden Einheit«. Vgl. dazu H.-G. Gadamer, Die Idee des Guten zwischen Platon und Aristoteles in: Ders., Gesammelte Werke 7. Griechische Philosophie III, Tübingen 1991, S. 128–227. 110 Vgl. P. Kleingeld, Kant on ›Good‹, the Good, and the Duty to Promote the Highest Good, in: Th. Höwing (ed.), The Highest Good in Kant’s Philosophy, Berlin/Boston 2016, S. 46. Kleinfeld gibt selber zu, dass die von ihr entwickelte Analogie nicht vollkommen ist, aber dennoch glaube ich, dass die Analogie etwas Wichtiges zu zeigen vermag.

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nur dasjenige tun, was uns unser Vorgesetzter sagt. Zuerst erhalten wir die Anweisung: Stelle ein Rad her und danach ein weiteres Rad. Danach sagt die Chefin oder der Chef, dass ich zwei Eisenstangen zusammenschweißen soll, dann eine dritte dazu usw. Vielleicht würden wir uns nach einer Weile fragen, was wir eigentlich herstellen. Erst wenn wir ein komplettes Verzeichnis der Arbeitsanweisungen sehen würden, würde uns aufgehen, dass wir ein Fahrrad herstellen und nicht etwa ein Kunstobjekt (z. B. ein sog. Readymade à la Marcel Duchamp). Kleingeld weist meiner Meinung nach sehr richtig darauf hin, dass, wenn ich weiß, was am Ende als das finale Erzeugnis stehen wird, sich dadurch mein Verständnis der einzelnen Anweisungen und Arbeitsschritte ändert, da ich nun deren Sinn verstehe. 111 Die Zielintention »ein Fahrrad herstellen« ist somit etwas, was über die einzelnen Anweisungen hinausgeht. Aus den einzelnen Arbeitsaufgaben kann nicht analytisch abgeleitet werden, welches letzte Ziel die ganze Anweisungskette verfolgt. Die Vorstellung »ein Fahrrad herstellen« stellt nach Kleingeld eine Information dar, die die einzelnen Arbeitsanweisungen übersteigt, auch wenn am Ende des Herstellungsprozesses stets ein Fahrrad sein wird (ob ich davon Kenntnis habe oder nicht): Was sich ändert, ist eben mein Verständnis dessen, was ich gerade konkret tue. Wenn wir das Beispiel mit dem Herstellen des Fahrrads auf Kants Verständnis des Begriffs des höchsten Guts – als eines einigenden Beziehungspunktes von allen unseren Zwecken – übertragen, so kommen wir nach Kleingeld zu folgender Vorstellung: Das Bewusstsein davon, dass ich helfen soll, die moralische Welt (als Endzweck) zu verwirklichen, verwandelt mein Verständis davon, was ich auf Grund des unbedingten Sollens des Moralgesetzes zu tun habe. Das Moralgesetz wird jedoch durch mein »Wissen« um den Endweck nicht um irgendeine neue Plicht erweitert. Es lässt sich vielleicht sagen, dass wenn ich mir des Endzweckes bewusst bin, besser den Sinn von meinem moralischen Handeln einsehe und dadurch zugleich auch den Sinn der höchsten Bestimmung des Menschen, der moralischen Bestimmung nämlich. Sinn bedeutet das Ganze zu verstehen. Den Endzweck der Welt zu denken, bedeutet die Sinn-haftigkeit der Welt als Ganzes zu denken, in dem sowohl meine eigene Moralität integriert ist, als auch meine eigene Glückseligkeit, jedoch nicht als Triebfeder meines Handelns.

111

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Vgl. ebd.

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Kant erweitert seine Pflichtenlehre um eine Lehre von den Zwecken, wobei diese neue Zwecklehre keine zusätzliche Pflicht beinhaltet als ob die Sollensanweisungen des Moralgsetzes nicht ausreichend wären. Es handelt sich vielmehr um eine neue Frage nach der Verwirklichung des Gesollten in der Welt und damit gerät zugleich die Frage nach der Verbindung von Moralität und ihren empirischen Bedingungen in den Vordergrund von Kants Interesse. Kant geht es nun darum, die ethische Systematik in ihrer ganzen Breite zu denken, d. h. auch als »das System der Zwecke der reinen praktischen Vernunft« (MSTL A 5). Wenn sich Kant in seiner späteren Metaphysik der Sitten auf die Untersuchung der Rolle der Zwecke in der Ethik konzentriert, ist diese neue Fokussierung keineswegs in Widerspruch zu seiner Auffassung der moralischen Pflichten. Auch wenn in der Ethik laut Kant mit dem Pflichtbegriff und dessen Ableitung aus dem Moralgesetz der Anfang gemacht werden muss, führt er trotzdem zum Begriff eines Zweckes, der sich aus dem Pflichtbegriff selbst ergibt: »Ich hatte ferner bemerkt, daß dieser Begriff von Pflicht keinen besondern Zweck zum Grunde zu legen nötig habe, vielmehr einen andern Zweck für den Willen des Menschen herbei führe, nämlich: auf das höchste in der Welt mögliche Gut […] nach allem Vermögen hinzuwirken«. 112 Kant fragt, ob man solche Zwecke des Willens finden kann, die zugleich Pflichten wären. Damit wären die Zwecke als ein materiales Element im Einklang mit der formalen Bestimmung des Willens durch das Moralgesetz. Die höchsten Zwecke, die mit dem kategorischen Imperativ korrespondieren, sind bekanntlich zwei: »eigene Vollkommenheit – fremde Glückseligkeit« (MSTL A 13). Die eigene Vollkommenheit ist sicherlich nicht in dem Sinne gemeint, dass man in dieser Welt eine absolute ethische Vollkommenheit erreichen könnte. Der Mensch soll sich ethisch möglichst gut verhalten, eine Vollkommenheit ohne jedweden Makel bleibt jedoch stets ein (unerreichbares) Ideal wie es bei jedem Ideal der Fall ist: Es weist die Richtung und besitzt eine anziehende Kraft, die das Erreichte immer transzendiert, sodass die »Sogwirkung« erhalten bleibt. Die Bemühung um ein moralisch gutes Leben bleibt ein Ideal, das die Sorge um die Reinheit der moralischen Gesinnung und die Reinheit der moralischen Triebfeder impliziert. Reine moralische Vollkommenheit wird vom »Hang zu Bösen« verhindert, der in der menschlichen Natur unwiederbringlich verwurzelt ist, obwohl er die ursprüngliche 112

I. Kant, Über den Gemeinspruch A 210 f.

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Anlage zum Guten nicht zu vertilgen vermag. 113 Der Mensch soll das Entfalten seiner Anlage zum Guten unter anderem in der Weise anstreben, dass er das Streben der fremden Menschen nach Glück (das ja einen natürlichen Zweck eines jeden Menschen darstellt) auch zu seinem eigenen Zweck macht. Die Förderung des fremden Glücks muss selbstverständlich im Einklang mit der Moralität sein. Florian Marwede betont zu Recht das Motiv der Transformation des Strebens nach dem eigenen Glück in ein Streben nach einer allgemeinen Glückseligkeit. 114 Marwede entfaltet seine Überlegungen insbesondere auf der Grundlage einer Stelle in der Kritik der praktischen Vernunft, die folgerndermaßen lautet: »So wird fremder Wesen Glückseligkeit das Objekt des Willens eines vernünftigen Wesen sein können. […] Also die bloße Form eines Gesetzes, welches die Materie einschränkt, muß zugleich ein Grund sein, diese Materie zum Willen hinzuzufügen, aber sie nicht vorauszusetzen. Die Materie sei z. B. meine eigene Glückseligkeit. Diese, wenn ich sie jedem beilege (wie ich es denn in der Tat bei endlichen Wesen tun darf), kann nur alsdenn ein objektives praktisches Gesetz werden, wenn ich anderen ihre in dieselbe einschließe.« (KpV A 60 f.) Der Wille muss selbstverständlich von der Form her vom Moralgesetz bestimmt werden, dennoch muss er sich auf einen Zweck beziehen, der die Materie des Willens darstellt. Wenn die eigene Glückseligkeit den natürlichen Endzweck meines Willens bildet, entsteht die Frage, wie diese natürliche und vorerst vormoralische Tendenz mit der Moralität zu vereinbaren ist. Denn das eigene Glücksstreben kann sich angesichts des Sollensimperativs als egoistisch erweisen. Es geht somit erneut um die Frage der Vereinbarkeit des eigenen Glückstrebens, das nicht den Bestimmungsgrund des Willens abgeben darf, mit dem Anspruch des Moralgesetzes. Diese Vereinbarkeit ist dann gegeben, wenn »die Maxime meiner Selbstliebe auch auf die Glückseligkeit anderer« erweitert wird (KpV A 61). Marwede hebt hervor, dass durch die Transformation des eigenen egoistischen Glücksstrebens zu einem Streben nach einer allgemeinen Glückseligkeit der handelnde Mensch moralisch handeln kann und trotzdem seine Glückseligkeit in der allgemeinen Glückseligkeit mit enthalten ist. Die Forderung nach der Erweiterung Vgl. dazu RGV B 20 ff. Vgl. dazu vor allem das Kapital 1. Der kategorische Imperativ und allgemeine Glückseligkeit in Florian Marwede, Das höchste Gut in Kants deontologischer Ethik, Berlin/Boston 2018, S. 13–37. 113 114

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des Strebens um die fremde Glückseligkeit ergibt sich aus dem kategorischen Imperativ. 115 Man hätte auch auf die bereits oben genannten zwei Zwecke der eigenen moralischen Volkommenheit und fremder Glückseligkeit aus der Metaphysik der Sitten hinweisen können, die eben zugleich als Pflichten angesehen werden, die uns das Moralgesetz vorgibt. Die Idee des höchsten Guts als eines Endzweckes, also als einer »Idee von einem Objekte, welches die formale Bedingung aller Zwecke, wie wir sie haben sollen (die Pflicht) […] zusammen vereinigt in sich enthält«, ist nicht leer, »weil sie unserm natürlichen Bedürfnisse, zu allem unsern Tun und Lassen im ganzen genommen irgend einen Endzweck, der von der Vernunft gerechtfertigt werden kann, zu denken, abhilft, welches sonst ein Hindernis der moralischen Entschließung sein würde« (RGV B VIIf.). Der Begriff des höchsten Guts ist ein Kristallisationspunkt der Gewichtverschiebung in Kants ethischem System. Der Endzweck des Willens zielt auf die Verwirklichung einer moralischen Welt, das heißt auf die Realisierung und die Durchsetzung des moralischen Gesollten in der empirischen Welt. Damit wird die Problematik der Verbindung zwischen der Natur- und Freiheitskausalität berührt, wobei beide Kausalitäten im Begriff des höchsten Guts verbunden sind, der in sich »notwendig« die Begriffe der Tugend und der Glückseligkeit vereint. Es zeigt sich zugleich, dass die empirische Welt nicht im Stande ist, diese Verbindung der zwei Kausalitäten zu gewährleisten. Wenn das höchste Gut nach Kant in der Verwirklichung der moralischen Welt besteht, die auch der Endzweck des menschlichen Willens ist, dann muss diese moralische Welt wenigstens als realisierbar gedacht bzw. geglaubt werden: Der Glaube »ist also der beharrliche Grundsatz des Gemüts, das, was zur Möglichkeit des höchsten moralischen Endzwecks als Bedingung vorauszusetzen notwendig ist, wegen der Verbindlichkeit zu demselben als wahr anzunehmen« (KU A 462). 116 Aus Kants Überlegungen Vgl. ebd., S. 20. Vgl. auch ebd., S. 22 f.: »Dieser Textstelle zufolge müssen wir das egoistische Streben nach eigener Glückseligkeit in ein Streben nach allgemeiner Glückseligkeit transformieren, da dies der einzige Weg ist, dass eigenes Glück die Materie einer verallgemeinerbaren Maxime werden kann. Auf diese Weise ist es möglich, moralisch gute Handlungen auszuführen, die (auch) den eigenen Bedürfnissen und Zielen dienen.« 116 Vgl. dazu auch KU B 462 Anm.: Der Glaube »ist ein Vertrauen auf die Verheißung des moralischen Gesetzes; aber nicht als eine solche, die in demselben enthalten ist, 115

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folgt, dass, wenn uns das Moralgesetz die Verwirklichung des höchsten Guts anbefiehlt, wir – in einem praktischen Vernunftglauben – die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele als Bedingungen der Realisierung des höchsten Gutes, d. h. der moralischen Welt, annehmen müssen. Damit eröffnet sich ein Horizont der Hoffnung auf Erfüllung dessen, das man zwar befördern soll, das man jedoch nicht vollständig realisieren kann. Die Idee Gottes stellt diejenige Idee dar, die in sich Natur und Freiheit »versöhnt« und zwar in einer Weise, die die Vernunft als richtig einsieht. Die Unmöglichkeit der Verwirklichung der moralischen Welt würde das Sollen des Moralgesetzes als wider- und unsinnig erweisen, was Kant jedoch für eine absurden Konsequenz hält, die sich vor dem Urteilsspruch der Vernunft als unhaltbar erweist: »Da nun die Beförderung des höchsten Guts, welches diese Verknüpfung in seinem Begriffe enthält, ein a priori notwendiges Objekt unseres Willens ist, und mit dem moralischen Gesetze unzertrennlich zusammenhängt, so muß die Unmöglichkeit des ersteren auch die Falschheit des zweiten beweisen. Ist also das höchste Gut nach praktischen Regeln unmöglich, so muß auch das moralische Gesetz, welches gebietet, dasselbe zu befördern, phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt, mithin an sich falsch sein.« (KpV A 205)

Die Religion zeigt eine »notwendige Ergänzung« der Moralität und spielt somit eine konstruktive und konstitutive Rolle. Es scheint geboten zu sein, sachlich zwischen der Frage nach der »Triebfeder«, der subjektiven Motivation des Willens und der Frage nach einem moralisch-vernünftigen Glauben zu unterscheiden und voneinander abzugrenzen. Die erste Frage ist eine ausschließliche Angelegenheit der moralischen Willensbestimmung durch das Moralgesetz, die zweite Frage betrifft jedoch eine Perspektive der Hoffnung im Sinne der dritten grundsätzlichen philosophischen Frage »was darf ich hoffen?«. Es ist Paul Ricœur zuzustimmen, dass das Phänomen der Hoffnung genau den Punkt markiert, an dem sich die Ethik in eine Religionsphilosophie umwandelt. Es muß festgehalten werden, dass ohne den erwähnten praktisch-vernünftigen Glauben nach Kant unsondern die ich hineinlege, und zwar aus moralisch hinreichendem Grunde. Denn ein Endzweck kann durch kein Gesetz der Vernunft geboten sein, ohne daß diese zugleich die Erreichbarkeit desselben, wenn gleich ungewiß, verspreche, und hiermit auch das Führwahrhalten der einzigen Bedingungen berechtige, unter denen unsere Vernunft sich diese allein denken kann.«

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sere moralische Gesinnung »keine feste Beharrlichkeit« hätte und würde »zwischen praktischen Geboten und theoretischen Zweifeln« schwanken (KU B 464).

5.4. Das Motiv der Hoffnung Religion steht für Kant also wesentlich im Horizont der Hoffnung. Es lässt sich fragen, worauf sich diese Hoffnung richtet und was man sich darunter vorzustellen hat. Auch Kant tut dies und zwar im Zusammenhnag mit seiner Ethik oder präziser gesagt, im Zusammenhang mit der Dialektik und den Postulaten der reinen praktischen Vernunft. Eines der Motive, die in der Forschung nicht immer genügend Anerkennung findet, ist eben das Motiv der Hoffnung. Es ist das Verdienst von Paul Ricœur, die Hoffnung als den entscheidenden Punkt der Wandlung von Moralphilosophie zur Religionsphilosophie bei Kant hervorgehoben zu haben: »Die Moralphilosophie leitet zur Religionsphilosophie an der Stelle über, wo sich zum Bewußtsein der Pflicht die Hoffnung auf eine Erfüllung gesellt«. 117 Ich stimme mit Ricœurs Überzeugung vollkommen überein, dass der Grund für die philosophische Bedeutung der Religion über die Ethik hinaus das Problem des Bösen darstellt. Das Phänomen des Bösen ist nämlich die schärfste und äußerste Herausforderung der menschlichen Freiheit. Die Freiheit als ein »Vermögen« zeigt sich durch das radikal Böse in der menschlichen Natur als ein Un-vermögen: »[…] das radikale Böse betrifft die Freiheit so sehr in ihrem Streben nach Totalität wie in ihrer Ausgangsbestimmung.« 118 Ricœur gehört wie Kant zu den nicht sehr zahlreichen Philosophen, die sich mit der Problematik des Bösen intensiv auseinandergesetzt haben und zwar vor allem im Rahmen seines Projektes zur »Philosophie des Willens«, insbesondere in seinen Untersuchungen zur Phänomenologie der Schuld. 119 Ricœur Vgl. Paul Ricoeur, Die Freiheit im Licht der Hoffnung, in: Ders.: Hermeneutik und Strukturalismus, München 1973, S. 222. Den Hinweis auf Paul Ricoeurs Gedanken im Zusammenhang mit dem Übergang von Ethik zur Religion bei Kant verdanke ich dem Kollegen Reinhold Esterbauer und seinem anregenden Artikel Zwischen Hoffnung und Gewalt. Schwierigkeiten von Freiheit in religiösen Bezügen in: LIMINA – Grazer theologische Perspektiven, http://limina-graz.eu, LIMINA 2:2, 107–129. 118 Ricoeur, Die Freiheit im Licht der Hoffnung, S. 224. 119 Vgl. dazu P. Ricoeur, Die Fehlbarkeit des Menschen. Phänomenologie der Schuld I und Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld II. Neben anderen kleineren 117

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untersucht den menschlichen Willen zwar aus einer anderen Perspektive und in einem anderen Zusammenhang als Kant, kommt jedoch zu einem Ergebnis, das dem kantischen nicht unähnlich ist. Kant sieht, dass jede Freiheit des Willens in sich bereits durch einen nicht vermeidbaren »Hang zum Bösen« korrumpiert ist. Ricœur wiederum kommt zum dem Schluss, dass jeder Wille in sich eine Dimension der Ohnmacht trägt, dass jeder Wille zugleich auch unfrei ist: »Der Wille selbst umfaßt eine Quasi-Natur; das Böse bildet eine Art Unwillentliches im Kern des Willentlichen selbst, nicht mehr diesem gegenüber, sondern unmittelbar in ihm, und gerade hierin erkennen wir den unfreien Willen.« 120 Die Möglichkeit zum Bösen – die »Fehlbarkeit« des Menschen – gehört konstitutiv zur Wesensverfasssung der menschlichen Natur. Wenn die Religion – verstanden hier wesentlich aus der Perspektive der Hoffnung – konstitutiv zur Ethik gehört, dann impliziert dies somit die Einsicht, dass eine reine »ethische Sicht« der Welt ungenügend ist und dass sich die ethische Sicht der religiösen öffnen muss oder soll. Ricœur zeigt sehr richtig, dass Kant diese Öffnung der Ethik zur Religion hin sehr wohl vollzieht. Ricœur arbeitet seine These mittels der Auslegung der Postulate heraus. Die Postulate »verkünden auf ihre eigene Weise die ›Auferstehung‹ Gottes, d. h. jedoch in der Weise der Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft. Sie bezeichnen die minimale existentielle Implikation einer praktischen ›Absicht‹, die keine intellektuelle Anschauung ermöglicht. Die ›Erweiterung‹, der ›Zuwachs‹, den sie darstellen, bedeutet keine Erweiterung des Wissens und der Erkenntnis, sondern eine Eröffnung; und diese Eröffnung bildet das philosophische Äquivalent der Hoffnung.« 121 Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht das Postulat der Freiheit, da sich die anderen zwei Postulate erst aus dieser postulierten Freiheit ergeben. Die Postulate der Unsterblichkeit der Seele und des Daseins Gottes explizieren laut Ricœur lediglich das Potential der Hoffnung, das bereits im Postulat der existentiellen Freiheit enthalten ist. Er schreibt: Studien ist noch auf die spätere Schrift Le mal. Un défi à la philosophie et á la teologie zu nennen. 120 Ricoeur, Die »Erbsünde« – eine Bedeutungsstudie, S. 161. Zum Verhältnis der Philosophie Ricoeurs und Kants im Zusammenhang mit der Thematik des Bösen vgl. Jakub Sirovátka, Das Sollen und das Böse, Hamburg 2015, S. 111–126. 121 Ricoeur, Die Freiheit im Licht der Hoffnung, S. 218.

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Das Motiv der Hoffnung

»In diesem Sinne bringt das Postulat der Unsterblichkeit das Moment der Hoffnung der postulierten Freiheit zum Ausdruck: Das philosophische Äquivalent der Hoffnung ist eine theoretische Aussage über die unbegrenzte Fortsetzung und Fortdauer des Daseins. Nicht von ungefähr gibt Kant dieser Glaubensvorstellung den Namen Erwartung; die Vernunft als praktische Vernunft verlangt nach Erfüllung; aber sie glaubt im Modus der Erwartung, der Hoffnung, an die Existenz einer Ordnung, in der sich diese Erfüllung realisiert. […] Und mit diesem Schritt vollzieht man zugleich den Übergang von der Ethik zur Religion.« 122

Das Moralgesetz fordert vom Mensch etwas – vollkommene Tugend und die Errichtung der moralischen Welt –, was jedoch der Mensch aus seiner Kraft heraus nicht vollständig zu vollbringen vermag. Die Unmöglichkeit der absoluten Erreichbarkeit des Gesollten ist jedoch kein Argument dafür, dass man eigentlich das Gesollte ändern müsste. Eine solche Änderung wäre für Kant absurd: Das Moralgesetz mit seinem apriorischen und unbedingt geltenden Anspruch, das mir durch die Vernunft auferlegt wird, stellt ja die Grundlage der ganzen Ethik dar. Da das unbedingte Sollen gilt, sind die Bedingungen und Konsequenzen dieses Sollens zu denken. So gesehen ist es nur folgerichtig, wenn Ricœur das Postulat der Unsterblichkeit der Seele als eine Entfaltung der »zeitlich-existentiellen Dimension der Freiheit« versteht und das Postulat der Existenz Gottes wiederum in der Weise, dass es »die existentielle Freiheit als philosophisches Äquivalent des unverdienten Geschenks ins Licht« bringt. 123 Die menschliche Freiheit steht somit unter dem Zeichen der Hoffnung, in dem Sinne, dass sie sich selber nicht vollenden kann. Die Frage »was soll ich tun« führt zu einem Hoffnungshorizont, dass dasjenige von einer anderen Seite ergänzt werden möge, was der eigene Wille nicht zu vollbringen vermag. Somit zeigt sich die menschliche Freiheit, die unter dem Sollensanspruch steht, nicht als eine in sich völlig eingekapselte Freiheit, sondern als eine, die in sich einen Überschuss enthält, der sie übersteigt und auf ein Größeres offen hält. 124 Ebd., S. 220. Vgl. ebd., S. 221. 124 Vgl. auch R. Langthaler: Geschichte, Ethik und Religion im Anschluss an Kant, S. 466: »Derart wird sich die für Kants Religionsphilosophie bestimmende ›Inversion‹ als entscheidend erwiesen, dass der grenzbegriffliche Gedanke eines ›letzten Horizonts von Sinngegebenheit, der nicht bloß »gemacht« ist‹, d. h. eines ›unbedingten Sinnes‹, die moralisch-praktische Dimension eines ›Sinnes des Unbedingten‹ (als ›ratio cognoscendi‹) zur unverzichtbaren Voraussetzung hat. Allein der freigesetzte und in moralischer Hinsicht differenzierte ›Sinn des Unbedingten‹ vermag auch den Ho122 123

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5.5. Die innere Reinheit der Gesinnung 125 Eine weitere Gewichtverschiebung, die in Kants ethisch-praktischer Systematik zu beobachten ist, stellt die neu aufgekommene Aufmerksamkeit dar, die der inneren Redlichkeit und Aufrichtigkeit gilt. Aus meiner Sicht ist diese Akzentsetzung der Frage nach dem moralischen Bösen geschuldet. Kant fragt nun verstärkt nach der inneren Aufrichtigkeit, die jeder Mensch sowohl in theoretischer als auch praktischer Hinsicht praktizieren soll. Auch wenn hier die Frage nach der Wahrhaftigkeit ausschließlich im Rahmen der praktischen Philosophie verfolgt wird, sei nur daran erinnert, dass sich im Zusammenhang mit der theoretischen Philosophie die Wahrhaftigkeit vor allem in der Gestalt der Kritik zeigt: Die Vernunft muss sich die Grenzen ihres objektiven Erkennens eingestehen und zugleich den natürlichen dialektischen Schein durchschauen. Die Vernunft tritt in der Vorstellung eines Gerichtshofes gegen sich selber an, um in einem eigenen Urteilspruch festzulegen, dass die Grenzen der Erkenntnis in die Grenzen der sinnlichen Erfahrung einzuschließen sind. Über die Erfahrung hinaus ist bekanntlich das Denken möglich (oder sogar geboten), nicht jedoch ein objektives Erkennen. Im Rahmen der praktischen Philosophie zeigt sich die Aufrichtigkeit als der Wurzelgrund des gesamten moralischen Lebens. Die aufrichtige, reine Gesinnung ist der entscheidende Faktor, der im Stande ist, den unausrottbaren Hang zum Bösen in der menschlichen Natur in Schach zu halten. Die »intellektuelle und moralische Redlichkeit« wird zum »Fundament der Moralität«, wie Reiner Wimmer richtigerweise anmerkt, wobei sich die Pflicht zur Wahrhaftigkeit aus der »Pflicht zur moralischen Selbsterkenntnis« ergibt. 126 Eine schöne Illustration dieser neuen Sicht bietet ein Zitat aus der Vorlesungsnachschrift Praktische Philosophie Herder: »Werth der Wahrheitsliebe 1) sie ist der Grund aller Tugend, das erste Gesetz der Natur Sei wahrhaft! ein Grund 1) der Tugend gegen andere […] 2) der Tugend rizont eines ›unbedingten Sinns‹ auf eine Weise zu eröffnen, die damit jedoch keinesfalls in die schlechte Metaphysik eines ›theoretisch-dogmatischen Überschritts‹ zurückfällt«. 125 In den folgenden Passagen beziehe ich mich auf meinen Artikel Die Aufrichtigkeit als die Wurzel der Moralität. Kant (und Nietzsche) in: Kant-Studien 2, Bd. 110 (2019), 256–271. 126 Vgl. Wimmer, Rainer: Kants kritische Religionsphilosophie, Berlin/New York 1990, S. 138 f.

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gegen sich […].« (V-PP/Herder AA XXVII, 60) Die Fokussierung auf die innere Wahrhaftigkeit wird in der Forschung unterschiedlich gesehen. Eine Möglichkeit besteht darin, die Thematik der Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit im Zusammenhang mit der Auslegung der Pflichten gegen sich selbst zu stellen, wie es Robert B. Louden tut. 127 Louden vertritt die Meinung, dass die Forschung die zentrale Rolle der Pflichten gegen sich selbst in Kants Moralkonzeption nicht genügend würdigt und beachtet. Louden verweist auf eine Stelle in den Vorlesungen, die lautet: »Die Pflichten gegen sich selbst sind die oberste Bedingung und das principium aller Sittlichkeit, denn der Werth der Person macht den moralischen Werth aus.« (V-Mo/Collins, AA XXVII: 344) Die Pflichten gegen sich selbst seien aus dem Grund so entscheidend, weil sie »den intrinsischen moralischen Wert der handelnden Person betreffen, indem sie deren moralische Fähigkeiten bewerten (entwickeln, unterstützen, bewahren, verbessern) lassen. Pflichten gegen sich selbst können grundsätzlich als eine direkte Anwendung des Imperativs angesehen werden, nämlich stets die Menschheit als einen Zweck an sich zu achten, ›sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern‹ (GMS, 429). Kant mahnt: wer die Pflichten gegen sich selbst verletzt, ›wirft die Menschheit weg, und ist nicht mehr im Stande Pflichten gegen andre auszuüben‹ (AA XXVII, 341). Kants radikale Behauptung hinsichtlich der Pflichten gegen sich selbst – das impliziert dieses Zitat – besteht darin, daß solche Pflichten die Begründung und Bedingung aller anderen Pflichten sind.« 128

Wenn die Pflichten gegen sich selbst zur Bedingung aller anderen Pflichten mutieren, wird ziemlich einsichtig, warum Kant die damit zusammenhängende Reinigkeit der Gesinnung fordert: »Der Mensch hat eine allgemeine Pflicht gegen sich selbst, sich so zu disponiren, daß er zur Beobachtung aller moralischen Pflichten fähig sey, daß er also moralische Reinigkeit und Grundsätze in sich fest setze, und nach denselben zu handlen trachte. Dieses ist also die erste Pflicht gegen sich selbst.« (V-Mo/Collins AA XXVII, 348) Die eigene Moralität hängt maßgeblich davon ab, ob man die Fähigkeit zur wahren Selbstprüfung und Selbstreflexion entfaltet. Diese innere Haltung wird dann folgerichtig auch im Verhalten gegenüber anderen Men-

127 Vgl. Robert B. Louden: Moralische Stärke: Tugend als eine Pflicht gegen sich selbst, in: H. F. Klemme/M. Kühn/D. Schönecker (Hg.): Moralische Motivation: Kant und die Alternativen, Hamburg 2006, S. 79–96. 128 Vgl. ebd., S. 82.

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schen sichtbar. 129 Im Zusammenhang mit der Akzentuierung der Wichtigkeit der Pflichten gegen sich selbst hebt Louden das Motiv des Selbstzwanges im Sinne der Selbstbeherrschung hervor: »Selbstbeherrschung […] ist ebenso zentral für den Tugendbegriff wie moralische Stärke (z. B. Collins AA XXVII, 456; vgl. Vigilantius AA XXVII, 571, 662 – obwohl der entsprechende Ausdruck in den Vigilantius-Passagen der näherliegende der Selbstbeherrschung ist). Tugend hat die Beherrschung desjenigen Teils von uns zur Folge, der der Pflicht entgegensteht; sie ist eine Art des ›Vermögens, über die größten Hindernisse in uns Meister werden zu können‹ (RGV, 183; vgl. AA XXIX, 603).« 130

Auch wenn willentliche Beherrschung und Selbstzwang sicherlich eine wichtige Rolle bei der Ausbildung der Tugend spielt, muss man jedoch meiner Meinung nach eine Ebene tiefer ansetzen: nämlich auf der Ebene der aufrichtigen Selbstbesinnung. Denn ohne eine echte innere Selbstreflexion würde ich gar nicht wissen, worauf ich den Selbstzwang anwenden soll. Erst die Selbstreflexion kann einen sicheren Ratgeber und Richtungsweiser für die willentliche Anstrengung spielen. Ohne die innere Aufrichtigkeit wäre die Selbstbeschränkung blind (und vice versa würde ohne die Selbstbeschränkung sicherlich die Redlichkeit wirkungslos bleiben). Die Selbstbeherrschung lässt sich aber mit der reflexiven Selbstprüfung vielleicht im Motiv »des ruhigen Gemüts« verbinden: »Die wahre Stärke der Tugend zeigt sich im ›Gemüth der Ruhe‹ (MdST, 409), eher als in einem Zustand beständiger innerer Aufruhr. Aber dieses ruhige Gemüt muß immer begleitet werden von der ›überlegten und festen Entschließung ihr Gesetz [sc. der Tugend; R. L.] in Ausübung zu bringen‹ (MdST, 409) und der Anerkennung der Tatsache, daß menschliche Tugend grundsätzlich mehr eine ›moralische Gesinnung im Kampfe‹ (KpV, 84) als eine der Heiligkeit und der vollkommenen Reinheit des Herzens ist. Sobald entweder die Entschließung oder die genannte Anerkennung schwankt, sind wir nicht länger tugendhaft im Sinne Kants.« 131 Vgl. ebd., S. 83: »Kurz gesagt, Pflichten gegen sich selbst sind in dem Sinne vorrangig und wichtiger als andere Pflichten, als wir im Streben, sie zu erfüllen, fundamentale Werte befördern und realisieren, ohne welche Moralität als solche nicht existieren könnte. An erster Stelle dieser Werte rangieren Autonomie oder Selbstgesetzgebung, Freiheit und die Achtung für Menschen als Zwecke an sich selbst.« 130 Ebd., S. 89. 131 Vgl. ebd., S. 91 f. Eine weitere Möglichkeit, Kants Betonung der Wahrhaftigkeit auszulegen, bieten Franz Knappik und Erasmus Mayr, Gewissen und Gewissenhaftig129

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Kants Betonung der Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit gegenüber sich selbst hängt wesentlich mit der Ausarbeitung der Theorie des radikalen Bösen in der menschlichen Natur zusammen, die Kant insbesondere in der Religionsschrift vorgelegt hat. Kant geht davon aus, dass der Mensch eine Anlage zum Guten und einen Hang zum Bösen besitzt. Die erste ist unvertilgbar, der zweite ist unausrottbar. In dieser bis zu einem gewissen Grad paradoxalen Doppelcharakterisierung spielt sich die menschliche Existenz ab. Den Hang zum Bösen findet der Mensch in sich vor und zwar in dem Moment, wenn er die eigene Freiheit zu verwenden beginnt. Er wird als »der formale Grund aller gesetzwidrige[n] Tat« charakterisiert und verdirbt den »subjektiven Bestimmungsgrund der Willkür« (RGV B 25). Der Hang zum Bösen wird zugleich als mit der menschlichen Natur verwebt dargestellt: So, wie wir den Menschen kennen, ist er immer bereits mit diesem Hang behaftet. Um es anders zu sagen: Der Mensch kann es nicht vermeiden, Böses nicht zu tun. Wenn der Hang zum Bösen jedoch in dieser Weise in der menschlichen Natur verwurzelt ist und mit der Tätigkeit der menschlichen Freiheit unzertrennlich zusammenhängt, gewinnt die innere Aufrichtigkeit entscheidend an Gewicht. Die innere Redlichkeit der moralischen Gesinnung hilft die Inklination zum Bösen zu überwinden oder wenigstens zu bekämpfen, da der Hang zum Bösen nicht auszurotten ist. Eben deshalb kann Kant – sicherlich etwas überraschend – in einer seiner Reflexiokeit beim späten Kant, in: S. Bacin/A. Ferrarin/C. La Rocca/M. Ruffing (Hg.), Kant und die Philosophie in weltbürgerlicher Absicht. Akten des XI. Internationalen KantKongresses, Berlin/Boston 2013, Bd. 3, S. 329–341. Vgl. ebd., S. 339 f.: »Gegenüber der Position, die Kant in den 80er Jahren vertreten hatte, wird in ihr nämlich der Begriff der Wahrhaftigkeit zum ›inoffiziellen‹ Mittelpunkt von Kants Moralphilosophie. Das Thema der Wahrhaftigkeit hatte zwar auch schon zuvor eine wichtige Rolle gespielt, man denke nur an das Lügenbeispiel, das in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten eines der Exempel unmoralischen Wollens ist. Doch erst in den Texten der 90er Jahre kristalliert sich eine Auffassung heraus, nach der Unwahrhaftigkeit, Unredlichkeit oder fehlende Aufrichtigkeit als eigentliche Wurzel moralischer Verwerflichkeit angesehen werden. So lautet die nach 1789 niedergeschriebene Reflexion 8103: ›Die Unredlichkeit der Menschen als das radicale Böse.‹ Die Lüge ist hier nicht mehr ein Exempel unter mehreren, der Hang zu ihr wird zum ›Hauptgebrechen in der menschlichen Natur‹ (MpVT, AA 08: 267.25–26), mithin zum Paradigma des Unmoralischen schlechthin.« Die Autoren beziehen sich im Zusammenheng mit der inneren Redlichkeit auf die Wandlung des Gewissensbegriffs bei Kant, die sie an der Metaphysik der Sitten Vigilantius von 1793–94 festmachen. Das Gewissen bewerte nun nicht mehr die eigenen Handlungen, sondern wird der Meinung der Autoren nach zum »selbstreflexiven Vermögen der moralischen Person«.

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nen »Die Unredlichkeit der Menschen als das radicale Böse« (Reflexion 8103; AA XIX, 646) bezeichnen. In der Religionsschrift wird doch als das radikale, im Menschen verwurzelte Böse der verdorbene »objektive oberste Grund aller Maximen« (RGV B 27) genannt, also der »Hang zum Bösen«. Aber eben darin zeigt sich die »Banalität des Bösen« bei Kant: Die innere Redlichkeit und Wahrhaftigkeit spielt deshalb eine so zentrale Rolle, weil sie den Wurzelgrund aller Tugend und allen moralischen Handels darstellt. Darüber hinaus ist seit der ersten Schriften zur praktischen Philosophie Kant vollkommen klar, dass sich der moralische Wert unserer Handlungen alleine nach der Gesinnung, nach der inneren Motivation bemisst und nicht nach den Folgen der Handlungen. Diese dem klassischen Utilitarismus entgegenstehende Ansicht gilt jedoch immer nur aus der Perspektive der moralischen Beurteilung. Der an Kant manchmal herangetragene Vorwurf, ihm seien die Folgen der Handlungen gleichgültig, ist selbstverständlich unhaltbar. Es wäre ja absurd, wenn sich ein Ethiker wie Kant keine Gedanken darüber machen würde, wie sich das ethische Verhalten in der empirischen Welt durchsetzen könnte. Jede Ethik fordert die Umsetzung des ethisch Gesollten. Die »Beförderung« der moralischen Welt bleibt ein Endzweck des menschlichen Handelns, der sich aus dem unbedingt gebietenden Moralgesetz ergibt. Der sich um die innere Redlichkeit bemühende Mensch hat sich an der personifizerten Idee des guten Prinzips in der Gestalt des Gottessohnes zu orientieren: am »Ideal der moralischen Vollkommenheit«, das zugleich ein »Urbild der sittlichen Gesinnung« darstellt (RGV B 74). 132 Auch wenn dieses Ideal kein Beispiel in der Erfahrung braucht, da es sich um ein Ideal der Vernunft selbst handelt, findet man im Werk Kants trotzdem eine Gestalt, an der sichtbar wird, wie dieses Ideal gelebt werden kann. Als dieses Paradebeispiel der Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit gilt die biblische Gestalt des Hiob. Hiob spielt zum Beispiel am Ende der Schrift Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee eine wichtige Rolle. Auch wenn Hiob primär im Rahmen der religiösen Theodizee-Frage vorgestellt wird, hat sein Verhalten Relevanz auch auf dem Gebiet der Moralität. Kant lobt an ihm Folgendes: »Also nur die Aufrichtigkeit des Herzens, nicht der Vorzug der Einsicht, die Redlichkeit, seine 132 Dieses Ideal wird auch als das »Ideal der Gott wohlgefälliger Menschheit« genannt. Vgl. dazu RGV B 75.

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Zweifel unverhohlen zu gestehen, und der Abscheu, Überzeugungen zu heucheln, wo man sie doch nicht fühlt, vornehmlich nicht vor Gott […]: diese Eigenschaften sind es, welche den Vorzug des redlichen Mannes, in der Person Hiobs, vor dem religiösen Schmeichler im göttlichen Richterausspruch entschieden haben« (MpVT A 217). Die Aufrichtigkeit besteht im Eingeständnis des »Unvermögens unserer Vernunft« und gilt als »Haupterfordernis« in Angelegenheit des Glaubens, der Moralität und des Erkennens. Die Aufrichtigkeit befindet sich nämlich im »Widerstreit mit dem Hange zur Falschheit und Unlauterkeit, als dem Hauptgebrechen in der menschlichen Natur« (vgl. MpVT A 218). Aber auch Kant selber identifiziert sich mit der Gestalt des Hiob in seinem berühmten Brief vom 28. April 1775 an Johann Kaspar Lavater. Als Antwort auf Lavaters Frage nach seiner Meinung über Lavaters Buch Abhandlung vom Glauben und dem Gebethe hebt Kant ebenfalls die Aufrichtigkeit in der Gesinnung als die Hauptforderung in Sachen der Moral und der Religion hervor. Kant schreibt: »Wissen Sie auch, an wen Sie sich deshalb wenden? An einen, der kein Mittel kennt, was in dem letzten Augenblicke des Lebens Stich hält, als die reineste Aufrichtigkeit in Ansehung der verborgensten Gesinnungen des Herzens, und der es mit Hiob vor ein Verbrechen hält, Gott zu schmeicheln und innere Bekenntnisse zu tun, welche vielleicht die Furcht erzwungen hat und womit das Gemüth nicht in freiem Glauben zusammenstimmt.« 133 Auf der einen Seite fordert Kant also die reinste Aufrichtigkeit im Bezug auf unsere innere Motivation, auf der anderen Seite ist der Mensch nicht im Stande, seine Motive vollständig zu beurteilen. In der Kritik der reinen Vernunft behauptet Kant die völlige Unmöglichkeit der Beurteilung der inneren Gesinnung: »Die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) bleibt uns daher, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen. Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen werden. Wie viel aber davon reine Wirkung der Freiheit, wie viel der bloßen Natur und dem unverschuldeten Fehler des Temperaments, oder dessen glücklicher Beschaffenheit (merito fortunae) zuzuschreiben sei, kann niemand ergründen, und daher auch nicht nach völliger Gerechtigkeit richten.« (KrV B 579) Der Mensch ist imstande, alleine seinen empirischen Charakter zu beurteilen. Falls uns jedoch die eigene Moralität völlig verborgen bleiben würde, könnten wir überhaupt nicht ab133

Kant, Briefwechsel, S. 135.

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schätzen, ob wir uns auf dem Weg des moralisch Guten befinden. Das wäre aber eine absurde Konsequenz, die Kant unmöglich wollen würde. In seinen Vorlesungsnachschriften zeigt Kant eine realistischere Sicht, die die Möglichkeit einer echten Beurteilung der eigenen Gesinnung in Betracht zieht. Dort zählt Kant die »Beobachtung seiner selbst« zu den Pflichten gegen sich selbst: »Die Bemühung uns selbst zu kennen und zu wissen, ob wir gut oder böse sind, müssen wir im Leben exerciren, und unsere Handlungen betrachten, ob sie gut oder böse sind.« (V-Mo/Collins; AA XXVII, 365) Zur »Erfüllung aller moralischen Pflicht« ist nämlich »die Kenntniß seiner selbst zum Voraus nothwendig«. Man soll »von Zeit zu Zeit seinen moralischen Zustand« (V-MS/Vigil; AA XXVII, 608) untersuchen, um zu sehen, welche Fortschritte man erreicht hat. Auch wenn der Mensch also im Stande sein muss, seine eigene Motivation zu beurteilen, ist dennoch diese Bewertung nie absolut im Sinne einer vollständigen Transparenz möglich. Der Mensch vermag sich lediglich als ein »empirisches« Subjekt anzusehen, d. h. wie er sich selbst »erscheint«. Weil dem so ist, bleibt der Mensch nach Kants Ansicht auf einen Herzenskündiger mit »seiner reinen intellectuellen Anschauung« (RGV B 85) angewiesen, nämlich auf Gott, der alleine imstande ist, die tatsächliche Motivation unserer Handlungen zu durchschauen. Denn eine abschließende Beurteilung der moralischen Qualität eines jeden Menschen muss aus Kants Sicht erfolgen, damit eine sinnvolle ethische Systematik in ihrer Totalität denkbar wird. Es muss letztlich festgestellt werden können, wer wahrhaft tugendhaft ist (und nicht nur so erscheint) und damit auch der Glückseligkeit würdig ist und wer nicht. Deshalb müssen wir uns laut Kant Gott als einen Herzenskündiger und einen »gerechten Richter« vorstellen, der auch »das Innerste der Gesinnungen eines jeden zu durchschauen« vermag, um »jedem, was seine Thaten werth sind, zukommen zu lassen« (RGV B 139). 134 Damit sind wir wieder zur Religionsschrift zurückgekehrt, in der Kant die Thematik der inneren Wahrhaftigkeit am Breitesten und Intensivsten behandelt, da sie als das Antidot gegen den Hang zum Bösen verstanden wird. In der Religionsschrift finden wir wahrscheinlich die emphatischste Anmerkung zur Aufrichtigkeit 134 Vgl. auch RGV B 95 f.: »Der Richterausspruch eines Herzenskündigers muß als ein solcher gedacht werden, der aus der allgemeinen Gesinnung des Angeklagten, nicht aus den Erscheinungen derselben, den vom Gesetz abweichenden, oder damit zusammenstimmenden Handlungen gezogen worden.«

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in Kants Werk: »O Aufrichtigkeit! du Asträa, die du von der Erde zum Himmel entflohen bist, wie zieht man dich (die Grundlage des Gewissens, mithin aller inneren Religion) von da zu uns wieder herab? […] Aber Aufrichtigkeit (daß alles, was man sagt, mit Wahrhaftigkeit gesatgt sei) muß man von jedem Menschen fordern können, und, wenn auch selbst dazu keine Anlage in unserer Natur wäre […]« (RGV B 295). Die Aufrichtigkeit ist eine Tugend, die man von jedem Menschen fordern können muss und die »aber früher als jede andere bewacht und cultivirt werden muß, weil der entgegengesetzte Hang, wenn man ihn hat einwurzeln lassen, am schwersten auszurotten ist« (RGV B 296). Ohne eine redliche Selbsteinschätzung kann der Mensch kein moralisch gutes Leben führen. Die innere Redlichkeit ist die Bedingung sine qua non der menschlichen Moralität und somit aller Tugend. In dieser Hinsicht ist sie im strengen Sinne des Wortes keine Tugend, wie Reiner Wimmer sehr richtig anmerkt: »Die Wahrhaftigkeit sich selbst und anderen gegenüber ist für Kant die Wurzel des moralischen Lebens überhaupt; ohne sie ist Moralität undenkbar: ›Sie ist nicht Tugend sondern subjective Bedingung aller Tugenden‹.« 135 Die Aufrichtigkeit muss deshalb so hoch veranschlagt werden, weil die Verderbtheit des menschlichen Herzens angeboren ist und dass sie sich wahrnehmen lässt, »so früh, als sich nur immer der Gebrauch der Freiheit im Menschen äußert« (RGV B 37). Das Böse – der »Hang zum Bösen« – ist deshalb radikal, weil »es den Grund aller Maximen verdirbt«, zugleich ist er jedoch eben als solcher »durch menschliche Kräfte nicht zu vertilgen«. (RGV B 36). Die innere Wahrhaftigkeit kann zwar den Hang zum Bösen nicht besiegen, zeigt sich jedoch als das entscheidende Mittel, ihn – und zwar immer wieder aufs Neue – zu überwinden. Aufgrund der tiefen Verwurzelung des Bösen in der menschlichen Natur muss auch die Überwindung des Bösen bereits bei der Ursache beginnen. Wenn das radikale Böse den Grund aller Maximen verdirbt, muss die Erneuerung ebenfalls bei diesem Grund aller Maximen anfangen und zwar mit der »Revolution in der Gesinnung«, die dann eine »Reform« des Verhaltens nach sich zieht. Kant verlangt also eine Revolution und eine Evolution: eine »Revolution in der Denkungsart« und eine »allmähliche Reform […] für die Sinnesart«. Der Mensch soll »den obersten Grund seiner Maximen, wodurch er ein böser Mensch« geworden war durch »eine einzige unwandelbare Entschließung« umkehren 135

Vgl. R. W. Wimmer: Kants kritische Religionsphilosophie, S. 138.

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(RGV B 54 f.) Wenn Kant »die Unredlichkeit des Menschen als das radicale Böse« bezeichnet, wird wiederum die nachdrückliche Forderung verständlich, die die Wiederherstellung der »Reinigkeit« der Triebfeder zum Guten einfordert (vgl. RGV B 52). Denn die Triebfeder zum Guten ist nie völlig verloren gegangen genauso wie die Anlage zum Guten nie vollständig verdorben werden kann. Zur Infizierung der menschlichen Natur durch das Böse gehört auch die Tendenz, sich selbst in einem besseren moralischen Licht zu sehen. Der Mensch hat offensichtlich die Neigung, die eigenen Fehler nicht sehen zu wollen oder sie anderen, äußeren Einflüssen zuzuschreiben oder wiederum sich auch mit denjenigen guten Handlungen zu rühmen, die nicht der Verdienst des eigenen Willens sind, sondern die vielleicht nur den glücklichen Umständen zu verdanken sind. Kant stellt – als ein guter Beobachter des menschlischen Verhaltens – fest, dass es »eine gewisse Tücke des menschlichen Herzens« gibt, »sich wegen seiner eigenen guten oder bösen Gesinnungen selbst zu betrügen, und, wenn nur die Handlungen das Böse nicht zur Folge haben, was sie nach ihren Maximen wohl haben könnten, sich seiner Gesinnung wegen nicht zu beunruhigen, sondern vielmehr vor dem Gesetze gerechtfertigt zu halten. Daher rührt die Gewissensruhe so vieler (ihrer Meinung nach gewissenhaften) Menschen, wenn sie mitten unter Handlungen, bei denen das Gesetz nicht zu Rathe gezogen ward, wenigstens nicht das Meiste galt, nur den bösen Folgen glücklich entwischten, und wohl gar die Einbildung von Verdienst, keiner solcher Vergehungen sich schuldig zu fühlen, mit denen sie andere behaftet sehen: ohne doch nachzuforschen, ob es nicht blos etwa Verdienst des Glücks sei, und ob nach der Denkungsart, die sie ihrem Innern wohl aufzudecken könnten, wenn sie nur wollten, nicht gleiche Laster von ihnen verübt worden wären, wenn nicht Unvermögen, Temperament, Erziehung, Umstände der Zeit und des Orts, die in Versuchung führen (lauter Dinge, die uns nicht zugerechnet werden können), davon entfernt gehalten hätten. Diese Unredlichkeit, sich selbst blauen Dunst vorzumachen, welche die Gründung ächter moralischer Gesinnung in uns abhält, erweitert sich denn auch äußerlich zur Falschheit und Täuschung anderer; welche, wenn sie nicht Bosheit genannt werden soll, doch wenigstens Nichtswürdigkeit zu heißen verdient, und liegt in dem radicalen Bösen der menschlichen Natur, welches (indem es die moralische Urtheilskraft in Ansehung dessen, wofür man einen Menschen halten solle, verstimmt, und die Zurechnung innerlich und äußerlich ganz ungewiß 108

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macht) den faulen Fleck unserer Gattung ausmacht, der, so lange wir ihn nicht herausbringen, den Keim des Guten hindert, sich, wie er sonst wohl thun würde, zu entwickeln.« (RGV B 37 f.) So bleibt das Bemühen um die Reinheit der moralischen Motivation eine Hauptforderung der Ethik Kants. Kant ist sich jedoch dessen bewusst, dass wir uns der Lauterkeit unserer eigenen Motivation nie sicher sein können. Eine vollkommene Sicherheit bezüglich der Reinheit der Gesinnung und des Handelns ist dem Menschen nicht möglich, ja sie ist sogar aus moralischer Sicht dem Menschen abträglich, denn es gilt: »man täuscht sich nirgends leichter, als in dem, was die gute Meinung von sich selbst begünstigt« (RGV B 87). 136 Wir sollen angesichts der eigenen Moralität lieber »mit Furcht und Zittern« agieren als mit einem übertriebenen Vertrauen, jedoch ganz ohne Vertrauen würde uns die Beharrlichkeit auf dem Weg des Guten fehlen. Insbesondere gegen die Stoiker betont Kant nun die Demut des moralisch guten Menschen angesichts seines Bewusstseins der eigenen Fehlerhaftigkeit. Da wir unsere eigene Motivation nicht vollständig durchschauen können, ist es auch unmöglich, auf die eigene Tugendhaftigkeit stolz zu sein. Wir wissen letztendlich nicht, ob wir tatsächlich so tugendhaft sind, wie wir vielleicht meinen.

Vgl. auch RGV B 93: Die Gewißheit in Ansehung der guten und lauteren Gesinnung »ist dem Menschen weder möglich, noch, so viel wir einsehen, moralisch zuträglich. Denn […] wir können dieses Zutrauen nicht auf ein unmittelbares Bewußtsein der Unveränderlichkeit unserer Gesinnungen gründen, weil wir diese nicht durchschaun können, sondern müssen allenfalls nur aus den Folgen derselben im Lebenswandel auf sie schließen […]«.

136

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6. Schluss

Eine andere und besondere Art des Verhältnisses zwischen Ethik und Religion in Kants Werk zeigt sich an einigen Stellen, in denen Kant in einer Art Begeisterung oder Verwunderung gerät. Diese enthusiastischen Stellen sind eigentlich durchwegs mit der Thematik des Praktisch-moralischen verbunden. Es ist der Forschung nicht entgangen, dass Kant angesichts mancher moralischen Phänomene in eine Art religiöse Verzückung gerät. 137 Kant spricht über die Unbegreiflichkeit des Sittengesetzes oder über die Unbegreiflichkeit der »ursprünglichen moralischen Anlage in uns«, die dem Menschen seine wahre Größe zeigt im Gegensatz zu der Nichtigkeit und Abhängigkeit seiner empirischen Existenz. Neben der oben zitierten Stelle mit dem Lob der Aufrichtigkeit kann auf eine andere Passage aus der Religionsschrift hingewiesen werden. Angesichts ihres exemplarischen Charakters soll sie in aller Ausführlichkeit zitiert werden: »Aber eines ist in unserer Seele, welches, wenn wir es gehörig ins Auge fassen, wir nicht aufhören können, mit der höchsten Verwunderung zu betrachten, und wo die Bewunderung rechtmäßig, zugleich auch seelenerhebend ist; und das ist: die ursprüngliche moralische Anlage in uns überhaupt. – Was ist das […] in uns, wodurch wir, von der Natur durch so viel Bedürfnisse beständig abhängige Wesen, doch zugleich über diese in der Idee einer ursprünglichen Anlage (in uns) so weit erhoben werden, daß wir sie insgesamt für nichts, und uns selbst des Daseins für unwürdig halten, wenn wir ihrem Genusse, der uns doch das Leben allein wünschenswert machen kann, einem Gesetze zuwider nachhängen sollten, durch welches unsere Vernunft mächtig gebietet, ohne doch dabei weder etwas zu verheißen noch zu drohen? Das Gewicht dieser Frage muß ein jeder Mensch […] innigst fühlen; und selbst die Unbegreiflichkeit dieser eine göttliche Abkunft verkündigenden Anlage muß auf das Gemüt bis zur Begeisterung 137 Vgl. R. Wimmer: Kann Religion vernünftig sein? Zur Metakritik an Kants kritischer Religionsphilosophie, S. 184 f. Enthusiastische Züge attestiert Kant bereits Friedrich Heer in seinem Werk Europäische Geistesgeschichte, Stuttgart 1953.

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Schluss

wirken, und es zu den Aufopferungen stärken, welche ihm die Achtung für seine Pflicht nur auferlegen mag. Dieses Gefühl der Erhabenheit seiner moralischen Bestimmung öfter rege zu machen, ist als Mittel der Erweckung sittlicher Gesinnungen vorzüglich anzupreisen, weil es dem angebornen Hange zur Verkehrung der Triebfedern in den Maximen unserer Willkür gerade entgegen wirkt, um in der unbedingten Achtung fürs Gesetz, als der höchsten Bedingung aller zu nehmenden Maximen, die ursprüngliche sittliche Ordnung unter den Triebfedern, und hiemit die Anlage zum Guten im menschlichen Herzen, in ihrer Reinigkeit wieder herzustellen.« (RGV B 57 ff.).

Wie soll man diese Stelle interpretieren? Der große Kritiker des überschwenglichen, spekulativen Schwärmertums gerät selbst ins Schwärmen. Ist die Rede von »dieser eine göttliche Abkunft verkündigenden Anlage« nur im Sinne einer rhetorischen Figur gemeint, die dem damaligen sprachlichen Usus entspricht, oder drückt sich darin doch ein echtes Staunen aus? Gerät Kant in ein Staunen im Sinne des »taumazein«, das seit der Antike als eine der Quellen des Philosophierens 138 überhaupt gilt? Wenn man sich den Ernst des philosophischen Bemühens von Kant um das Erfassen der Moralität vor Augen hält, lässt sich in seinen Aussagen doch mehr herauslesen als nur eine übliche Rhetorik. Es ist anzunehmen, dass mit der Unbegreiflichkeit doch ein Denken ins Spiel kommt, das auf das Unbedingte ausgerichtet ist. Auch wenn Kant sicherlich nichts ferner liegt als ein religiöses Schwärmertum, gerät er dennoch in die Nähe eines sokratisch-platonischen Verständnisses der Philosophie, in dem die Philosophie auch religiös aufgefasst wird. Ist es also erlaubt, Kants enthusiastische Stellen angesichts der moralischen Bestimmung des Menschen auch als eine Art »Reflexe« des »Übersinnlichen in uns« im Sinne seines Sonnengleichnisses zu lesen? Ist die Fähigkeit des Menschen zur Moralität, die den Menschen zum Zweck an sich macht, eine Anzeige des

138 Zum Unterschied zwischen »philosophieren« und der Philosophie vgl. Martin Heidegger, Was ist das – die Philosophie? in: Ders., Identität und Differenz, GA 11, Frankfurt am Main 2006, S. 7: »Wenn wir fragen: Was ist das – die Philosophie?, dann sprechen wir über die Philosophie. Indem wir auf diese Weise fragen, bleiben wir offenbar auf einem Standort oberhalb und d. h. außerhalb der Philosophie. Aber das Ziel unserer Frage ist, in die Philosophie hineinzukommen, in ihr uns aufzuhalten, nach ihrer Weise uns zu verhalten, d. h. zu ›philosophieren‹. […] Der Weg unserer Gespräche muß also von einer Art und Richtung sein, daß das, wovon die Philosophie handelt, uns selbst angeht, uns berührt (nous touche), und zwar uns in unserem Wesen.«

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Schluss

»Übersinnlichen über uns«? Kant scheint genau dies andeuten zu wollen. Der notwendige Übergang von der Ethik zur Religion in Kants praktisch-ethischer Philosophie hat mehrere Gründe, die miteinander (mehr oder weniger) verbunden sind – jeder von ihnen hebt jedoch einen anderen Aspekt hervor. Wir haben es also mit einer Pluralität der Argumente zu tun, die für die Einmündung der Ethik in die Religionsphilosophie plädieren. Zuallererst kann man die Natur der Vernunft ins Feld führen, die nach Kant notwendigerweise systematisch und architektonisch zugleich vorgeht, die also eine systematische Einheit des Denkbaren unter einer alles einigenden Idee bildet. Die Vernunft gibt sich nicht allein mit dem Auffinden von Bedingungen zum Bedingten zufrieden, sondern sucht zu jedem Bedingten das Unbedingte. Im Zusammenheng mit dem Zweck des Willens sucht sie – ihrem eigenen Bedürfnis gemäß – die Einheit von allen Zwecken, die in ein systematisches Ganzes zusammengesetzt werden. Mit Hilfe von diesem systematischen Ganzen aller Zwecke versteht der Mensch den Sinn seiner moralischen Bestimmung und zwar auch und gerade beim Bemühen um die Verwirklichung der moralischen Welt. In Kants Versuch, die Ethik und ihren Übergang zur Religion systematisch zu denken, durchdringen sich beide Dimensionen der Vernunft: die praktische und die theoretische. Dieses Durchdringen ist besonders gut in der Postulatenlehre zu sehen, wo die praktische Philosophie zu der Annahme von bestimmten theoretisch-metaphysischen Positionen führt, die selbstverständlich keine Erweiterung des Erkennens über die Grenzen der Erfahrung hinaus bedeuten, sondern die in einem Vernunftglauben angenommen werden, der sich ausschließlich auf Gründe der praktischen Vernunft stützt. Einen weiteren Aspekt beim Übergang von der Ethik zur Religion bildet der Begriff des Zweckes, mit dem Kant seine Reflexion des Phänomens des menschlichen Willen erweitert. Jeder Wille ist notwendigerweise auf irgendeinen Zweck als seines Objektes bezogen, wobei dieser Zweck nicht die Rolle der moralischen Triebfeder spielt. In moralischer Hinsicht wird der Wille alleine vom Moralgesezt bestimmt. Weil jedoch aus der Pflicht des Moralgesetzes auch die Pflicht zur Verwirklichung des höchsten Guts folgt, müssen auch die Bedingungen genannt werden, unter denen diese Realisierung des höchsten Gutes denkbar und (wenigstens zum Teil) verwirklichbar ist. Die Bedingungen für das Wirklichwerden des Endzwecks – der moralischen Welt als des höchsten Guts – sind zwei: die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der 112

Schluss

Seele. Kant ist überzeugt davon, dass man sich keine Vernunft denken kann, die ein unbedingt geltendes Sittengesetz formuliert, aus dem sich dann ein Endzweck ergibt, ohne dass auch die Bedingungen für die tatsächliche Verwirklichung dieses Endzwecks nicht denkbar wären. Eine solch absurde Welt ist aus Kants Sicht undenkbar. Der Mensch ist ein Endzweck als »Zweck an sich selbst« (GMS BA 66) und hat zugleich einen Endzweck: Er soll danach streben, eine moralische Welt als das höchste Gut durch seine Handlungen möglich zu machen. Die Vorstellung der moralischen Welt ist allerding in einer doppelten Optik zu verstehen. Auf der einen Seite hat man sich die moralische Welt als das »Reich der Zwecke« oder als eine »unsichtbare Kirche« vorzustellen. Es handelt sich um die konkrete, hier und jetzt sich ereignende Bemühung aller Menschen guten Willens, die in ihrem konkreten Handeln zugleich im Rahmen des gedachten »Reichs der Zwecke« vereint sind. Mit der Vorstellung eines gedachten Reichs der Zwecke und des »ethisch gemeinen Wesens« (verstanden als »Reich Gottes«) fügt Kant seinen Überlegungen eine gemeinschaftliche und geschichtliche Dimension hinzu. Nur auf einem gemeinsamen Weg des Guten lässt sich der natürliche Hang zum Bösen überwinden. Das Böse und damit auch dessen Überwindung ist in einer doppelten Optik zu sehen: es handelt sich um eine individuelle Angelegenheit, die jedoch zugleich eine unersetzbare gemeinschaftlich-gesellschaftliche Komponente innehat. Auf der anderen Seite stellt die moralische Welt ein unerreichbares Ideal dar, das auch trotz der Anstrengung vieler Menschen nicht vollständig realisierbar ist. Eben deshalb ist es nötig, das Postulat des Daseins Gottes 139 und des Fortlebens der Seele anzunehmen, die zwei zwingend zu denkende Bedingungen sind für die Verwirklichung einer vollkommenen moralischen Welt, die jedoch die empirische Welt übersteigt. Der Ethik eröffnet sich mit der Religion ein Horizont der berechtigten Hoffnung auf Ergänzung dessen, was auch der moralischste Mensch nicht zu leisten vermag, weil es seine Möglichkeiten und Kräfte übersteigt.

139 Vgl. dazu z. B. KU B 425: »Dieses moralische Argument soll keinen objektiv-gültigen Beweis vom Dasein Gottes an die Hand geben, nicht dem Zweifelsgläubigen beweisen, daß ein Gott sei; sondern daß, wenn er moralisch konsequent denken will, er die Annehmung dieser Satzes unter die Maximen seiner praktischen Vernunft aufnehmen müsse.«

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Siglenverzeichnis

Die Werke Kants werden meistens nach der Weischedelausgabe zitiert. Reflexionen und Vorlesungsnachschriften nach der AkademieAusgabe. AA Ethik-Menzer GMS KpV KrV KU MpVT MSTL OP RGV V-Mo/Collins V-MS/Vigil

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Akademie-Ausgabe Eine Vorlesung über Ethik Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Kritik der praktischen Vernunft Kritik der reinen Vernunft Kritik der Urteilskraft Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre Opus postumum Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft Vorlesung über Moralphilosophie, Nachschrift Collins Vorlesung über Moralphilosophie »Metaphysik der Sitten«, Nachschrift Vigilantius

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