Angewandte Geschichte: Ein Versuch [Reprint 2022 ed.] 9783112677322, 9783112677315

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Angewandte Geschichte: Ein Versuch [Reprint 2022 ed.]
 9783112677322, 9783112677315

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1. Die Begründung der römischen Weltherrschaft
2. Deutschland nach dem Dreißigjährigen Kriege
3. Die Politik Ludwigs XIV
4. Englands Aufstieg zur seebeherrschenden Weltmacht
5. Friedrich der Große
6. Die französische Revolution
7. Das zertrennte Polen
8. Das Erstarken der Nationen im Kampfe gegen Napoleon
9. Die Einheilsbestrebungen zerteilter Völke
10. Der nordamerikanische Sezessionskrieg 1861 bis 1865
11. Der neuzeitliche Imperialismus
12. Rückblick und Ausblick

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der Werdegang des deutschen Volkes Historische Richtlinien für gebildete Leser von

Otto

Kaemmel

Vierte, durchgesehene und verbesserte Auflage, bearbeitet von

Dr. Arnold Reimann Stadtschulrat in Berlin

). Bändchen: Urzeit und deutsch-römische Kaiserzeit. Gebunden Mk. 11.50

Preis geheftet Mk. 7.-

2. Bändchen: Ausgang des Mittelalters und Neformationszcit. ) 273—) 648.

Als eine ungewöhnlich vollständige objektive Auszeichnung geschichtlicher Tat­ sachen dürste Kaemmels Werdegang das gegebene Handbuch für Oed en sein, den die jüngsten Wendungen der deutschen Geschichte zu einer gründlicheren Beschäftigung mit der deutschen Vergangenbeit angeregt und von der Notwendigkeit historischer Bildung als Grundlage eines politischen Urteils überzeugt haben.

Band 3 und 4 (bis zum Weltkrieg) erscheinen in rascher Folge.

Deutschland Einführung in die Heimatkunde von

Zrie-rich Ratzel Mit vier Landschastsbildem und zwei Karten

Vierte

Auflage

Mit einem Geleitwort von Erich von Drngalski Preis geheftet M. 20

Gebunden Mk. 26.—

Viel härter als früher drobt beute die Gefahr, daß der Deutsche in die Fremde schauend den Blick auf die alte so veränderte Heimat verliert. Darum mag man sich jetzt von neuem an Ratzels schönem Bilde erheben und zum Vaterlande zurückleiten lassen durch tausend feste Fäden, die er dazu wob. Das sei das ßid der vierten Auslage, die somit unverändert erscheint. Sie zeigt unser Land wie es war und wie es sein kann und wie es ein großer Deutscher mit seiner tiefen Liebe zu ihm geschaut. Nicht aus den jetzigen Wirrwarr sollen wir blicken, sondern auf die stolzen höhen zu denen die Heimat sich in dem einigen Neich vor Beginn des Weltkrieges und auch in demselben zu erheben vermocht hat.

VEREINIGUNG WISSENSCHAFTLICHER VERLEGER WALTER DE GRUYTER ct CO., VORM. G. J. GÖSCHEN’SCHE VERLAGS­ HANDLUNG - J. GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG GEORG REIMER - KARL J. TRÜBNER - VEIT ct COXIP. BERLIN UND LEIPZIG

Angewandte Geschichte Ein Versuch von

Frhrn. von Ireytag-Loringhoven General der Infanterie a. O. Dr. h. c. der Universität Berlin

Berlin und Leipzig 1920 Vereinigung Wissenschaftlicher Verleger Walter de Gruyter & Co. Vormals G. I. Göschen'sche Verlagshandlung /I. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer / Karl I. Trübner / Veit & Comp.

Inhaltsverzeichnis. Seite Vorwort , ........................................................................................... 1. Die Begründung der römischen Weltherrschaft 1 Die Lage vor dem 2. Punischen Kriege 1 Der 2. Panische Krieg 5 Rom nach dem 2. Punischen Kriege 9 2. Deutschland nach dem Dreißigjährigen Kriege 22 Blick auf das Mittelalter 22 Die Folgen des großen Krieges 26 3. Die Politik Ludwigs XIV 35 Die Erstarkung Frankreichs unter der absoluten Königsmacht . 35 Beurteilung der Kriege Ludwigs XIV 38 4. Englands Aufstieg zur seebeherrschenden Weltmacht 47 Bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts 47 Der Kampf Englands gegen die französische Republik und Napoleon 58 5. Friedrich der Große 70 Bis zur Beendigung des Siebenjährigen Krieges 70 Nach dem Siebenjährigen Kriege 81 6. Die französische Revolution 89 Der Zusammenbruch des alten Regimes 89 Die Schreckensherrschaft ................................. 103 7. Das zertrennte Polen 111 Die Teilungen . . , 111 Napoleon und die Polen. — Russisch-Polen 119 Die preußische Polenpolitik der letzten hundert Jahre .... 128 8. Das Erstarken der Nationen im Kampfe gegen Napoleon ... 140 Die Gewaltpolitik des Kaisers 140 Die Befreiungskriege 148 Der Wiener Kongreß und die heilige Allianz 157 9. Die Einheilsbestrebungen zerteilter Völker 166 Die italienische Einheitsbewegung 166 Preußen in der Einigung Deutschlands 174 10. Der nordamerikanische Sezessionskrieg 1861 bis 1865 191 11. Der neuzeitliche Imperialismus 202 In den außerdeutschen Ländern . 202 In Deutschland 213 12. Rückblick und Ausblick 223

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Vorwort. Wer aufmerksam dem Laufe einer so bewegten Zeit folgt, wie wir sie durchleben, der wird die oft ausgesprochene Mei­ nung, daß die Menschheit im allgemeinen und der Deutsche im besonderen aus der Geschichte nichts lernt, bestätigt finden. Und doch zählt gerade die deutsche Geschichtschreibung eine lange Reihe glänzender Vertreter, deren Werke zahlreiche Aus­ sprüche höchster politischer Weisheit bergen. Sie bieten uns eine reiche Fülle der Erkenntnis und bemühen sich, ein so klares Bild der Tatsachen und leitenden Beweggründe der Handelnden zu geben, wie es den Nachlebenden überhaupt möglich ist. Wenn diese trotzdem namentlich in der letzten Zeit es nicht verstanden haben, daraus die geeigneten Folgen für ihr Handeln zu ziehen, so darf uns dieses noch nicht zu dem Schluffe verführen, wie es gelegentlich geschehen ist, daß die Zeit des Historismus vorüber fei und dieser von der Soziologie abgelöst werden müsse. Es hieße das nur, wieder einem modischen Schlagwort folgen, so wenig damit die Bedeutung soziologischer Studien an sich für unsere Zeit verkannt werden soll. Die Geschichte behält ihre Beweiskraft für immer, denn sie übermittelt uns die Erfahrungen der Vergangenheit und damit erst das wahre Verständnis für die Gegenwart. In der Armee, vor allem auf der Kriegsakademie, wurde bei uns die Kriegsgeschichte immer als Erfahrungswissenschaft gelehrt. Der Soldat betrachtet sie nicht nur als anregenden, geistfördernden Lesestoff; sie ist ihm ein Mittel zur Gewinnung klarer Vorstellungen von den im Kriege wirkenden Faktoren. Er schult an ihr sein Vorstellungsvermögen. Sie ist, applikatorisch gelehrt, ein vortreffliches Übungsfeld. Eine ent­ sprechende Verwertung der allgemeinen Geschichte fehlte bis­ her dem Diplomaten und Politiker. Auf den Hochschulen wurde in dieser Weise nicht gelehrt, von einigen glänzenden Aus-

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Vorwort.

nahmen abgesehen, wie sie Treitschkes Vorlesungen über Politik bilden. Auch in den oberen Klassen der höheren Schulen ent­ sprach der Geschichtsunterricht nicht einer später im Leben aus ihm zu ziehenden Nutzanwendung. Er übermittelte zu viel bloßen Gedächtniskram, wenn auch nicht übersehen werden darf, daß beim Schulunterricht das rein Gedächtnismäßige zunächst nicht entbehrt werden kann. Durch den Geschichts­ unterricht müßte vor allem Heimat- und Vaterlandsliebe ge­ weckt werden, ohne daß er sich zu bloßem patriotischen Phrasen­ schwall herabwürdigt. Hier sollte ebenso wie auf den Hoch­ schulen die Frage: Was lehrt uns dieser oder jener Vorgang in der Geschichte? mehr als bisher im Vordergründe stehen. Gedanken dieser Art hatte ich im „Tag" vom 25. Dezember 1919 unter dem Titel „Mehr angewandte Geschichte" geäußert. Dieser Artikel gab den Herren Verlegern Anlaß, mich zur Abfassung der nachfolgenden Betrachtungen anzuregen. Sie erheben nicht irgendwie den Anspruch auf selbständige For­ schung, stützen sich vielmehr durchweg auf die Werke bedeu­ tender Gelehrter, deren Aussprüche vielfach im Wortlaute wiedergegeben sind, wie es ihrer besseren Kenntnis der Dinge entspricht. Auf dieser bauen sich die für die Gegenwart ge­ zogenen Folgerungen auf. Jede Zeit will aus ihr selbst heraus verstanden werden. Es wäre daher falsch und unhistorisch, die Vergangenheit von unserm heutigen Denken und Empfinden her beurteilen, solches in sie hineinlegen zu wollen. Eigentliche Forschung wird vielmehr hiervon durchaus abzusehen haben. Was auf den nachstehenden Blättern geboten wird, ist das Umgekehrte, ist der Versuch einer Nutzanwendung der Er­ fahrungen der Geschichte auf die jüngst verflossene Zeit und die Gegenwart. Eine derartige Betrachtungsweise wird frei­ lich je nach dem Standpunkt, den der Verfasser einnimmt, ver­ schieden ausfallen. Ich weiß mich von Vorurteilen frei, kann und will aber die Denkweise eines Offiziers unseres unvergleich­ lichen alten Heeres nicht verleugnen. Hinsichtlich der Beur­ teilung der angeführten Tatsachen auf Grund geschichtlicher Erfahrungen bin ich mir durchaus bewußt, daß es leicht ist, nachträglich Kritik zu üben, schwer dagegen zu handeln. Es kam mir nur darauf an, nachzuweisen, daß bessere Würdigung dieser Erfahrungen den Handelnden vor manchen Fehlern be-

wahrt haben würde. Freilich, Rezepte für das praktische Han­ deln soll man nicht in der Geschichte suchen, um so mehr aber, auch im politischen Leben, wie Clausewitz es für kriegerische Betätigung verlangt, die „Erziehung seines Geistes" an ihr fördern. Dazu wird hier ein Versuch unternommen. Er ließe sich von allgemeiner Geschichtsbetrachtung beliebig auf die ver­ schiedenartigsten Gebiete menschlicher Betätigung ausdehllen. Mögen Berufenere sich solcher Arbeit unterziehen.

Weimar, im August 1920.

Der Verfasser.

1. Oie Begründung der römischen Weltherrschaft. Die Lage vor dem 2. Punifchen Kriege.

Von der Mitte des 4. bis zum Beginn des 3. Jahrhunderts v. Chr. hatte Rom die Herrschaft über ganz Mittel- und Unter­ italien errungen. Als es nach Sicilien hinübergriff, mußte es mit Karthago in Zwist geraten. Die mächtige phönizische Handelsstadt hatte im Laufe des 5. und 4. Jahrhunderts im Kampfe gegen Syrakus die Herrschaft im westlichen Mittelmeer und über den westlichen Teil der Insel Sicilien gewonnen. Karthago war allmählich aus einer Lyrischen Faktorei zur Hauptstadt eines ansehnlichen nordafrikanischen Reiches ge­ worden, das von Tripolis bis zum Atlantischen Ozean reichte. Hier im Westen beherrschten die Karthager im wesentlichen nur die Küsten, im heutigen Ost-Algerien und Tunis war jedoch auch das fruchtbare Binnenland von ihnen besiedelt. Karthago galt damals für die reichste Stadt der Welt. Seine Schätze gewann es vor allem durch seinen weit ausgedehnten Handel und seine Reederei, daneben aber auch durch mustergültige Boden­ bearbeitung und schonungslose Ausbeutung seiner libyschen Untertanen. Der 264 v. Chr. ausbrechende erste Punische Krieg brachte in dreiundzwanzigjährigen Kämpfen nach mannigfachen Wechselfällen Rom den Gewinn Siciliens, trotz jahrelanger heldenmütiger Verteidigung des Hamilkar Barkas im Westen der Insel. Sie wurde nunmehr römische Provinz, vermöge ihrer Fruchtbarkeit die Kornkammer des Staates. Dieser Erfolg war errungen trotz vielfacher politischer und militärischer Fehler auf römischer Seite. Mommsen*) erklärt sie dadurch, daß Rom damals erst im Begriff war, von einer begrenzten italischen Festlandspolitik zu einer Großmachtspolitik überzu*) Römische Geschichte, I., 3. Buch, 2. Kapitel. Frehtag-Loringhoven, Angewandte Geschichte

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gehen. Nunmehr aber schritt es auf dem einmal betretenen Wege rüstig weiter. Ein dreijähriger Krieg gegen seine auf­ rührerischen Söldner, den Karthago zu führen hatte, wurde von Rom benutzt, um die karthagische Insel Sardinien in Besitz zu nehmen und sich zugleich auf Corsica festzusetzen. Es ent­ stand auf diese Weise wiederum eine neue römische Provinz außerhalb des italischen Festlandes. Auch über die Adria streckte Rom den Arm aus. Indem es in den Jahren 229 und 228 v. Chr. die illyrischen Seeräuber züchtigte, nahm es die Insel Kerkyra und die Hafenplätze Dyrrhachium und Appolonia in Besitz. Die später angelegte Festung Aquileja nahe der Jsonzo-Mündung bildete ein weiteres Mittel, die römische Herrschaft über die Adria zu sichern. Man erkennt in diesen Schritten des alten Roms unschwer die gleichen Bestrebungen, die in unseren Tagen die italienische Politik beherrschen. Diese beruft sich denn auch mit Vorliebe auf die Traditionen des Altertums. Dennoch find es im Grunde nicht sowohl atavistische Regungen, sondern durchaus natürliche Instinkte, die hier vor­ herrschen und den Anstoß gegeben haben. Sie mußten einem erstarkenden Italien bei dessen geographischer Gestalt und Lage im Mittelmeer kommen, dem alten Rom nicht anders wie dem modernen Königreich Italien. Dies Ausgreifen Roms über die See widerlegt an sich schon die vielfach herrschende Anschauung, dieser Staat sei damals im Grunde doch eigentlich nur Landmacht gewesen im Gegen­ satz zu Karthago, das die See beherrscht habe. Dieser Irrtum hat u. a. dahin geführt, Deutschland im Weltkriege mit Rom, England mit Karthago zu vergleichen. Der Vergleich trifft leider auch in anderer Hinsicht nicht zu, wie noch zu erörtern sein wird. Er könnte eher umgekehrt Gültigkeit beanspruchen. Rom trieb bereits lange vor dem ersten Punischen Kriege durch seine Hafenstadt Ostia einen lebhaften Handel. Wahr ist nur, daß die Römer ihre Flotte zeitweilig vernachlässigt haben. Sie sind allerdings erst während des Krieges zum Bau von Groß­ kampfschiffen übergegangen, und der Krieg hat sie erst wieder den ganzen Wert einer starken Kriegsflotte erkennen lassen. Die geringen Entfernungen, die im Mittelmeer zu überwinden waren, boten auch der damaligen Technik zur See keine unüber­ windlichen Schranken. Dazu lieh sich eine Flotte zu jener Zeit

in verhältnismäßig kurzer Zeit auch nach dem schwereren kar­ thagischen System bauen. Noch im letzten Jahre des ersten Punischen Krieges wurde durch freiwillige Beiträge reicher Bürger eine Flotte von 200 Kampfschisfen mit einer Be­ mannung von 60 000 Matrosen geschaffen. Diese Tat zeugt in hohem Maße von der politischen Begabung und dem sicheren Machtwillen der Römer. Ihr Patriotismus hat sich überhaupt im ersten Punischen Kriege zu reinster, später nicht wieder erreichter Höhe erhoben.

In den Jahren 225 bis 222 o. Chr., als bereits ein neuer Krieg mit Karthago drohte, wurde die Gallia cisalpina unter­ worfen, nachdem schon vorher einzelne römische Militärkolonien in die Po-Ebene vorgeschoben worden waren, gegen die sich die Gallier erhoben hatten. Placentia und Cremona wurden zu festen Stützpunkten in dem gewonnenen, aber noch unsicheren Lande ausgebaut. Die Herrschaft Roms umfaßte nunmehr die ganze Halbinsel. In den Kriegen, die es hierzu und gegen außeritalische Mächte geführt hatte, setzte Rom die Kraft seines Bürgerheeres nebst den Kontingenten seiner italischen Bundes­ genossen ein. Karthagos Bürger jedoch waren längst des Kriegsdienstes entwöhnt. Sie überließen ihn ihren libyschen Untertanen, die namentlich für die leichte Reiterei ein sehr gutes Material lieferten. Hierzu kamen Truppen, die von den abhängigen Völkerschaften gestellt wurden, und angeworbene Söldner. An Kriegsgerät jeder Art fehlte es bei den vor­ handenen reichen Mitteln dem Heere nicht. Wirkliche Karthager waren in ihm nur die Stabsoffiziere. Durchaus eigenartig war in diesem Heere die Stellung des Oberfeldherrn aus dem Geschlecht der Barkiden. Treitschke vergleicht*) zutreffend mit ihr diejenige der Dränier in der Republik der vereinigten Niederlande. Hier wie dort war es „ein Verhältnis höchst persönlicher Art, zu anspruchsvoll für die Beamten einer Re­ publik, zu unsicher für ein Fürstengeschlecht. Stetig, wie in dem Geschlechte der Hamilkar und Hannibal vererbte sich die Herrscherkraft und die Familienpolitik des oranischen Ahnherrn auf die Söhne und Enkel." Der in ©teilten unbesiegte Feld*) Historische und politische Aufsätze. Republik der Vereinigten Niederlande.

Neue

Folge,

2. Teil.

Die

Herr Hamilkar Barkas stützte sich, wie später sein Sohn Hannibal, in der Heimat auf die demokratische Partei der Patrioten. Den herrschenden Oligarchengeschlechtern waren sie beide ver­ haßt und nur insofern genehm, als sie den Einfluß und die materiellen Mittel des Staats zu mehren wußten. So ließen sie denn Hamilkar gewähren, als er nach Niederwerfung seines Söldneraufftandes das reiche Spanien mit seinen Silbergruben als Ersatz für das verlorene Sicilien zu erobern sich anschickte. Ihm galt es dabei mehr als die bloße Füllung des Staats­ schatzes. Er schuf sich in Spanien eine Operationsbasis und ein Heer gegen Rom und erwarb dort eine wahrhaft königliche Stellung. Seine Entwürfe gegen die verhaßten Sieger im ersten Punischen Kriege durchzuführen, ist ihm nicht vergönnt gewesen. Sein ältester Sohn Hannibal, der, erst 29 Jahre alt, von den Offizieren des Heeres nach Hasdrubals Tode 220 v. Chr. zum Feldherrn gewählt wurde, hat die geistige Erbschaft des Vaters ausgenommen und sofort den Krieg gegen Rom beschlosien. Der Augenblick hierzu schien günstig. Roch war das Keltenland in Gärung und Rom schien vor einem Bruch mit dem König Philipp von Makedonien zu stehen. Rom hatte die karthagische Besitznahme Spaniens geschehen lasien und sich mit dem Versprechen, daß der Ebro nicht über­ schritten werden solle, begnügt. Einen Einbruch in Italien von Spanien aus über Pyrenäen und Alpen scheint man nicht für möglich gehalten und die Ausbreitung Karthagos auf der iberi­ schen Halbinsel wesentlich als zumZweck wirtschaftlicher Ausbeute unternommen, betrachtet zu haben. Obwohl der römische Senat kaum im Unklaren darüber sein konnte, daß ein nochmaliger Waffengang mit Karthago unvermeidlich war, hat seine Politik in diesen entscheidenden Jahren versagt. „Was man wollte, wußte man wohl;" schreibt Mommsen*), „es geschah auch manches, aber nichts recht, noch zur rechten Zeit. Längst hätte man Herr der Alpentore und mit den Kelten fertig fein können; noch waren diese furchtbar und jene offen. Man hätte mit Karthago entweder Freundschaft haben können, wenn man den Frieden von 241 ehrlich einhielt, oder, wenn man das nicht wollte, konnte Karthago längst unterworfen sein; jener Friede *) A. a. O. I., 3. Buch, 4. Kapitel.

war durch Wegnahme Sardiniens tatsächlich gebrochen, und Karthagos Macht ließ man zwanzig Jahre hindurch sich unge­ stört regenerieren. Mit Makedonien Frieden zu halten, war nicht schwer; um geringen Gewinn hatte man diese Freund­ schaft verscherzt. An einem leitenden, die Verhältnisse im Zusammenhang beherrschenden Staatsmann muß es gefehlt haben; überall war entweder zu wenig geschehen oder zu viel."

Der 2. Panische Krieg. Der Mangel einer zielbewußten Leitung auf römischer Seite machte sich auch weiterhin geltend, als der karthagische Feldherr auf italischem Boden erschien und, Sieg auf Sieg erfechtend, die Halbinsel durchzog. Rom wurde nicht durch seine Staatsmänner und Feldherren gerettet, sondern durch das feste Gefüge der italischen Eidgenossenschaft. Auf ihre Sprengung war die Hoffnung des großen Puniers gerichtet, und diese sollte sich nicht verwirklichen. Die Furcht, die Ab­ hängigkeit von Rom gegen eine solche von den fremdstämmigen Karthagern einzutauschen, ließ die Bundesgenossen treu zu Rom stehen. Erst der furchtbare Tag von Cannae, 216 v. Chr., wo 70 000 Römer das Schlachtfeld deckten, ließ die süditalischen Gemeinden zum Teil von Rom abfallen, doch blieben ihm die Griechenstädte im Süden und vor allem ganz Mittelitalien treu. Seinen Sieg von Cannae aber durch einen Vorstoß gegen die Stadt Rom selbst zu krönen und durch Einnahme der Stadt den Krieg zu beenden, war Hannibal nicht imstande, wie Hans Delbrück im 1. Bande seiner Geschichte der Kriegskunst nach­ gewiesen hat. Rom war gut befestigt, von sehr bedeutendem Umfang und mit den Mitteln, über die Hannibal verfügte, nicht zu nehmen. So sah er sich, von der Heimat ohne Unterstützung gelassen, allmählich in die Verteidigung gedrängt. Wohl ge­ wann er gelegentlich noch Vorteile, im Jahre 212 v. Chr. nahm er Tarent und 211 v. Chr. erschien er mit seinem Heere vor Rom, aber das Übergewicht seiner Feinde machte sich immer mehr geltend. Noch einmal schien sich ein Umschwung vorzu­ bereiten, als es im Jahre 208 v. Chr. dem Bruder Hannibals, Hasdrubal, gelang, trotz' der Anwesenheit Scipios mit einem starken römischen Heere in Spanien, das Land zu verlassen

und bis Umbrien vorzudringen. Die Niederlage Hasdrubals am Metaurus vernichtete auch diese letzte Aussicht. Der schwarze Tag von Cannae bezeichnet einen Wende­ punkt in der römischen Politik und Kriegführung. Die Art, wie sie ihn überwanden, gereicht den Römern zum höchsten Ruhme. Die Spaltung zwischen dem Senat und der Bürger­ schaft trug an dem Unheil die Hauptschuld. „Wenn noch Ret­ tung und Wiederbelebung des Staates möglich war," äußert Mommsen*), „mußte sie daheim beginnen mit Wiederherstel­ lung der Einigkeit und des Vertrauens. Dies begriffen und, was schwerer wiegt, dies getan zu haben, getan mit Unter­ drückung aller an sich gerechten Rekriminationen, ist die herrliche und unvergängliche Ehre des römischen Senats. Als Varro — allein von allen Generalen, die in der Schlacht kommandiert hatten — nach Rom zurückkehrte, und die römischen Senatoren bis an das Tor ihm entgegengingen und ihm dankten, daß er an der Rettung des Vaterlandes nicht verzweifelt habe, waren dies weder leere Reden, um mit großen Worten das Unheil zu verhüllen, noch bitterer Spott über einen Armseligen; es war der Friedensschluß zwischen dem Regiment und den Regierten. Vor dem Ernst der Zeit und dem Ernst eines solchen Aufrufs verstummte das demagogische Geklatsch; fortan gedachte man in Rom nur, wie man gemeinsam die Not zu wenden vermöge." Hält man diesen Worten unser Verhalten im November 1918 und die Selbstbezichtigung, die bei uns in der Folge um sich griff, gegenüber, so erkennt man leider, daß wir keine Römer waren. Unsere ungeschlagenen Führer haben nicht solche Worte zu hören bekommen, wie der unfähige Konsul Varro. Die höchste Not hat uns nicht zusammengeschweißt wie die Römer, sondern auseinanderfallen lassen. Das demagogische Geklatsch verstummte nicht, sondern tat sich inmitten der höchsten Gefahr erst recht auf. Der von Hannibal angebotene Loskauf der Ge­ fangenen von Cannae wurde abgelehnt. Jeder Römer sollte sich mit dem Bewußtsein durchdringen, daß von Frieden so­ lange keine Rede sein könne, ehe nicht ein voller Sieg erkämpft sei. Der deutsche Reichstag und die Regierung, die ihn hätte leiten sollen, standen zu unserm Unglück nicht auf der Höhe des *) A. a. o. I., 3. Buch, 5. Kapitel.

römischen Senats. Die Reichstagsentschließung vom 19. Juli 1917 hätte sonst nicht zustandekommen können. Rom ging damals die latinischen Gemeinden um Hilfe­ leistung an. Es rief seine ganze eigene Mannschaft bis zu den Knaben unter die Waffen, stellte Verbrecher und 8000 vom Staate angekaufte Sklaven in das Heer ein. Die 7 bis 8 Le­ gionen des ersten Kriegsjahres waren im Jahre 216 v. Chr. ungeachtet der bis dahin eingetretenen Verluste auf 18 ver­ mehrt worden, so daß Rom bei einer Stärke der Legion von 4600 Mann 83 000 Mann, 8% v. H. seiner Bevölkerung, unter den Waffen hatte. Nach der Schlacht bei Cannae wurden aus den Trümmern des aufgeriebenen Heeres 2 Legionen zu­ sammengestellt, hierzu traten 2 neugebildete, 2 weitere aus Sklaven, denen die Freiheit versprochen wurde. Auf diese Weise hatte Rom wieder 14 Legionen, die in den nächsten Jahren allmählich auf 23 anwuchsen, indem jährlich aus den herangewachsenen Jünglingen 2 neue gebildet wurden. „Der römische Staat — abgesehen von den Bundesgenossen — hatte bei Ausbruch des 2. Punischen Krieges nach Ausweis der uns überlieferten amtlichen Zensuszahlen etwa 1 Million freier Seelen und stellte bei Beginn des Krieges etwa 34000 Mann zu Lande unter Waffen. Das ist, wenn wir die SklavenBevölkerung mit der Flotte kompensieren, etwa 3% o. H., d. h. so viel wie Preußen im Jahre 1870*)." Man gewinnt von diesem Ausgang einen Maßstab für das von Rom nach Cannae Geleistete. Preußen stellte 1813 auf je 18 Einwohner einen Bewaffneten, 5 v. H. der Bevölkerung, auf. Die berühmte französische „Levee en mässe“ von 1793 blieb mit rund 600 000 Mann bei einer Bevölkerung von 26 Millionen des damaligen Frankreich, also mit nur 2,3 v. H., wesentlich hinter dem Auf­ gebot Preußens vom Jahre 1813 zurück. Erst 1870/71 über­ stieg die Zahl der ausgehobenen Mannschaften in Frankreich alles bis dahin Vorgekommene mit im ganzen 2 700 000 Mann, also 7,3 v. H. der Bevölkerung. Freilich haben diese Massen zum großen Teil nur eine kaum nennenswerte soldatische Aus­ bildung erhalten, kamen sonach als wirkliche Kampftruppen kaum in Betracht. Die Gesamtstärke des deutschen Feld- und *) Hans Delbrück, Geschichte der Kriegskunst. I. S. 300 ff.

Besatzungsheeres betrug bei Beendigung des Weltkrieges 8 Millionen, somit etwas über 6 v. H. der Bevölkerung. Im ganzen haben jedoch während des Krieges 13 Millionen, sonach 20 v. 5). der Bevölkerung, dem Heere angehört. Auf die Niederlage Hasdrubals folgten weitere für die panische Sache verderbliche Schläge. Im Jahre 206 o. Chr. wurden die Karthager aus Spanien verdrängt, das fortan als römische Provinz galt. 204 v. Chr. landete Scipio in Afrika. Hannibal sah sich genötigt, sein Heer nach der Heimat zu über­ führen. 202 v. Chr. entschied die Schlacht bei Zama den Krieg zugunsten der Römer. Im Friedensschluß mußte Karthago in die Abtretung seiner spanischen Besitzungen und aller Inseln des Mittelmeeres, sowie in die des numidifchen Reiches seines Verbündeten Syphax an den mit Rom verbündeten Herrscher von Ostnumidien, Massinissa, willigen und sich verpflichten, fünfzig Jahre hindurch eine jährliche Zahlung von 200 Talenten (über 1 Million Mark in Goldwert) zu zahlen, sowie nicht gegen Rom oder dessen Verbündeten, und außerhalb Afrikas überhaupt nicht Krieg zu führen, in Afrika aber nur innerhalb des eigenen Gebiets und mit Erlaubnis Roms. Die Kriegs­ flotte wurde ausgeliefert und ging — 500 Schiffe an der Zahl — in Flammen auf. Karthago wurde damit tribut­ pflichtig und verlor seine politische Selbständigkeit. Dennoch gingen diese von Scipio auferlegten Bedingungen zahlreichen Römern nicht weit genug. Mommsen urteilt hierüber indessen wie folgt*): „Es ist wahrscheinlich, daß die beiden großen Feld­ herren, bei denen jetzt auch die politische Entscheidung stand, den Frieden wie er war, boten und annahmen, um dort der ungestümen Rachsucht der Sieger, hier der Hartnäckigkeit und dem Unverstand der überwundenen gerechte und verständige Schranken zu setzen; der Seelenadel und die staatsmännische Begabung der hohen Gegner zeigt sich nicht minder in Hannibals großartiger Fügung in das Unvermeidliche als in Scipios weisem Zurücktreten vor dem überflüssigen und Schmählichen des Sieges. Sollte er, der hochherzige und freiblickende Mann, sich nicht gefragt haben, was es denn dem Vaterlande nütze, nachdem die politische Macht der Karthagerstadt vernichtet war. *) A. a. O., I., 3. Buch, 6. Kapitel.

diesen uralten Sitz des Handels und Ackerbaues völlig zu ver­ derben und einen Grundpfeiler der damaligen Zivilisation frevelhaft niederzuwerfen? Die Zeit war noch nicht gekommen, wo die ersten Männer Roms sich hergaben zu Henkern der Zivilisation der Nachbarn und die ewige Schande der Nation leichtfertig glaubten von sich mit einer müßigen Träne abzu­ waschen." Der Karthago aufgenötigte Friede gleicht in vielem dem Frieden von Versailles. Wie uns in Gestalt von Polen, wurde Karthago in Massinissa eine Hilfsmacht des Siegers als Pfahl ins Fleisch gesetzt. Unsere Feinde aber, vornehmlich Frank­ reich, gleichen jenen Römern, die mehr von dem Besiegten for­ derten als Scipio. Sein Weitblick und seine Begriffe von Humanität haben ihnen ferngelegen.

Rom nach dem 2. Panischen Kriege. Die andere Auffassung sollte in Rom in der Folge die Oberhand behalten. Die Ähnlichkeit der Römer mit den Fein­ den Deutschlands tritt denn auch noch deutlicher in den Worten hervor, die Mommsen ihrem Verhalten nach dem Friedens­ schlüsse widmet, indem er schreibt*): „In Afrika ging die römische Politik wesentlich auf in dem einen ebenso kurzsichtigen wie engherzigen Gedanken, das Wiederaufkommen der kartha­ gischen Macht zu verhindern und deshalb die unglückliche Stadt beständig unter dem Druck und unter dem Da­ moklesschwert einer römischen Kriegserklärung zu erhalten. Schon die Bestimmung des Friedensvertrages, daß den Kar­ thagern zwar ihr Gebiet ungeschmälert bleiben, aber ihrem Nachbarn Massinissa alle diejenigen Besitzungen garantiert sein sollten, die er oder sein Verweser innerhalb der karthagischen Grenzen besessen hätten, sieht fast so aus, als wäre sie hinein­ gesetzt, um Streitigkeiten nicht zu beseitigen, sondern zu er­ wecken. Dasselbe gilt von der durch den römischen Friedens­ traktat den Karthagern auferlegten Verpflichtung, nicht gegen römische Bundesgenossen Krieg zu führen, so daß nach dem Wortlaut des Vertrages sie nicht einmal befugt waren, aus ihrem eigenen und unbestrittenen Gebiet den numidischeN Nach*) A. a. O. I., 3. Buch, 7. Kapitel.

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Die Begründung der römischen Weltherrschaft.

barn zu vertreiben. Bei solchen Verträgen und bei der Un­ sicherheit der afrikanischen Grenzverhältnisse überhaupt konnte Karthagos Lage gegenüber einem ebenso mächtigen wie rück­ sichtslosen Nachbarn und einem Oberherrn, der zugleich Schieds­ richter und Partei war, nicht anders als peinlich fein." Auch Karthago hat damals bereits ein Gegenstück zu unserem parlamentarischen Untersuchungsausschuß geliefert, nur die Parteiverhältnisse decken sich nicht mit den deutschen. Dort war es die Rom allezeit gefügige herrschende Oligarchie, die eine Untersuchung gegen den größten Sohn der Stadt, den Sieger in zahllosen Schlachten, den Schrecken der Römer, ein­ leitete. Er wurde beschuldigt, Rom absichtlich nicht einge­ nommen und die italienische Beute unterschlagen zu haben, und doch hatte gerade die Heimat es stets an der notwendigen materiellen Beihilfe für das Heer fehlen lassen. Hannibal mit seinem demokratischen Anhang erwies sich aber als der mäch­ tigere. Die Leitung des Staats ging tatsächlich in seine Hand über und er bewährte sich in ihr nicht minder als in der Heer­ führung. Die Abzahlung des Rom schuldigen Tributs vollzog sich infolge geeigneter finanzieller Maßnahmen leicht, und schon wenige Jahre nach dem Frieden erschien Karthago den Römern abermals gefährlich, solange ihr großer Feind dort der einfluß­ reichste Mann blieb. Den Schimpf seiner ihr angesonnenen Auslieferung an Rom ersparte er seiner Vaterstadt durch recht­ zeitige Flucht nach dem Orient. Das Opfer, das Hannibal damit im Jahre 195 v. Chr. brachte, nutzte indessen Karthago wenig. Wenn es seine politische Macht auch eingebüßt hatte, so verfügte es doch über so ausgedehnte Handelsbeziehungen und einen so festgegründeten Reichtum, daß es den Argwohn Roms dauernd wach erhielt. Bereits 187 v. Chr. war Karthago im­ stande, die Zahlung sämtlicher rückständiger Kriegsschulden auf einmal anzubieten, was die Römer, denen an der weiteren Tributpflichtigkeit der Besiegten gelegen war, ablehnten. Dauernde Übergriffe Massinissas fanden in Rom stets Unter­ stützung. Den karthagischen Gesandten wurde dort bedeutet, daß sie in Afrika ja nur Fremdlinge seien, da das Land den Libyern gehöre. Der Anhang Catos, der die Zerstörung Karthagos forderte, wuchs in Rom ständig. Die Gegenpartei im Senat machte ver-

Deutschlands Schicksal kann nicht dasjenige Karthagos sein.

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gebens geltend, daß die Besorgnisse vor einer wehrlosen Handelsstadt, deren Bewohner des Krieges völlig entwöhnt waren, unbegründet seien, daß Roms Oberherrschaft durch Karthago in keiner Weise beeinträchtigt würde, daß man es nötigenfalls zu einer römischen Provinzialstadt machen könne. Dem blinden Haß Catos gesellte sich der Handelsneid der römischen Großkaufleute und Bankiers hinzu — auch diese Bereinigung gemahnt an die Erlebnisse unserer Tage —, und so verschloß man sich in Rom jeder vernünftigen Einsicht. Auch die weitestgehende Nachgiebigkeit der Karthager, die Ausliefe­ rung ihrer Schiffe, ihrer Waffen und ihres gesamten Kriegs­ materials half ihnen nichts. Man forderte von ihnen die Aus­ wanderung der gesamten Bevölkerung, der es dann freistehen sollte, sich im Binnenlande wieder anzufiedeln. Diese letzte Forderung ließ den Widerstand aufflammen. Karthago setzte sich zur Wehr. Es fiel dann im Jahre 146 v. Chr. nach drei­ jähriger Belagerung der Zerstörung anheim. Afrika wurde römische Provinz. Bietet das Schicksal Karthagos in seinem Kampf mit dem übermächtigen Rom so manche Ähnlichkeit mit unserm eigenen, so wiederholt sich doch die Geschichte niemals ganz. Wir mögen aus den Punierkriegen lernen, unsere jüngste Vergangenheit bester zu verstehen und für die Gegenwart, vor weiterer Gewalttat unserer Überwinder auf der Hut zu sein. Dem End­ schicksal Karthagos, einer Stadt, wenn auch einer mächtigen, zu verfallen, aber vermag ein großes Volk von 60 Millionen, wie das deutsche, nicht. Das eine lehrt aber die Geschichte unserer Zeit, daß die Menschheit seit 2000 Jahren sich in ihrem inneren Wesen kaum geändert hat. Es war ein schöner Traum, an den Fortschritt der Masse als solcher zu glauben, Humanitäts­ gedanken und Trachten nach Weltverbrüderung bei Feinden vorauszusetzen, die bereits vor dem Weltkriege und erst recht in diesem die Kriegspsychose bei ihren Völkern mit allen Mitteln gesteigert hatten. Diese Ideologie ist uns teuer zu stehen ge­ kommen. Mommsens Wort*): „Jenes, wenn auch durch wechsel­ seitige Befehdung unterbrochene, doch im ganzen friedliche und freundliche Zusammenleben der verschiedenen Nationen, wie es *) A. a. 0. L, 3. Buch, 6. Kapitel.

das Ziel der neueren Völkerentwicklung zu sein scheint, ist dem Altertum fremd," ist im Vordersatz leider unzutreffend. Wohl trifft zu, was Treitschke sagt*): „Die Völker des Altertums führten ein einseitig politisches Leben, erschöpften zumeist ihre Kraft durch eine unmäßig kriegerische Geschichte ... Die Regel des Altertums ist der Krieg. Seinem Staate zu leben mit ganzer Manneskraft, dessen Macht zu wahren und zu mehren im Kampfe mit den Fremden, galt dem antiken Menschen als höchster Lebenszweck, solange die Welt noch jung war. Der antike Staat in seiner größten Zeit ist das souveräne Volk in Waffen." Derselbe Treitschke aber hat später bekannt**): „Man muß sich hüten vor Fehlschlüssen wie dem, daß mit der Kultur Moral und Gesittung der Menschen im Laufe der Geschichte immer mehr fortschreiten. Dieser Fortschritt ist nur ein be­ dingter. Wohl kann man ihn erkennen in der expansiven Zivi­ lisation; der einzelne Mensch aber wird mit den Fortschritten der Kultur nicht sittlicher, die Bestie regt sich ebensogut im Kulturmenschen wie im Barbaren. Nichts ist wahrer als die biblische Lehre von der radikalen Sündhaftigkeit des Menschen­ geschlechts, die durch keine noch so hohe Kultur überwunden werden kann." Der Weltkrieg mit seinen Auswüchsen und was ihm folgte, die unmenschliche Behandlung, der unsere Gefan­ genen in Frankreich ausgesetzt waren, hat diese Worte durch­ aus bestätigt und bewiesen, daß die heutige Menschheit keinen Grund hat, sich besser zu dünken als die Alten, ungeachtet zwei Jahrtausende langer Einwirkung des Christentums. Wenn die Römer sich Karthago gegenüber von Gefühlen des Hasses und der Scheelsucht leiten ließen, so darf doch nicht verkannt werden, daß der siebzehnjährige Krieg gegen Hannibal Rom ungeheure Opfer gekostet und es dem Untergang nahe­ gebracht hatte. Daß hierfür Sühne gefordert wurde, erscheint daher begreiflich, nur die Art, wie es geschah, eine Art, der Scipio und alle billigdenkenden Männer unter seinen Lands­ leuten widerstrebten, erscheint verwerflich und auch vom römi­ schen Standpunkt aus kurzsichtig. Ähnliche Beweggründe und *) Historische und politische Aufsätze. Neue Folge, 2. Teil, Das konstitutionelle Königtum in Preußen, und 1. Teil, Frankreichs Staats­ leben und der Bonapartismus. **) Politik, Einleitung.

ähnliche Kurzsichtigkeit kennzeichnen die französische Politik von heute. Auch ihr muß man gerechterweise das schwere, mehr als vierjährige Leid des Landes, die mehrfach drohende völlige Niederlage und die Zerstörung weiter Gebietsteile des nörd­ lichen Frankreich zugute halten. Der Franzose vergißt unter dem Eindruck des schließlichen Triumphes, daß diese Zer­ störungen zum großen Teil durch seine und seiner Verbündeten Geschosse verursacht sind, stellt unwillkürlich Vergleiche an mit den behüteten deutschen Städten und Fluren und schöpft daraus neuen Antrieb zu Rachegefühlen. Uneingestanden, ihm selbst verborgen, aber im Unterbewußtsein lebend, wirkt dann wohl auch das Gefühl mit, daß der Endsieg doch nur mit fremder Hilfe und dazu nicht einmal auf dem Schlachtfelde selbst er­ rungen wurde. Die Erhöhung Frankreichs durch den Krieg ist nicht aus eigener Kraft erstritten, sie ist keiner Römertat zu danken, so hohe Achtung auch die Haltung des französischen Volkes während des Krieges verdient. Darum wird Frankreich seines Erfolges nicht froh werden. Auf die Zerstörung Karthagos folgte für Rom ein volles Jahrhundert innerer Unruhen und blutiger Bürgerkriege, bis Caesar die Alleinherrschaft an sich riß. Auch die auswärtigen Kriege nahmen ihren Fortgang. Sie führten zur vollen Unter­ werfung Spaniens und der Balkanhalbinsel, sowie zur Auf­ richtung der römischen Oberherrschaft im Orient. Vor dem Beginn des 2. Punischen Krieges hatte Rom kein anderes poli­ tisches Ziel gehabt, als die Beherrschung der italischen Halb­ insel innerhalb ihrer natürlichen Grenzen und der benachbarten Inseln des Mittelmeeres. Die Erfolge führten dann immer weiter, zunächst zur Großmachtspolitik und schließlich zur Welt­ herrschaft im Bereich der damaligen Kulturländer. Es liegt auf der Hand, daß dadurch das gesamte Staatsleben beeinflußt werden, daß Sinnesart und Denkweise der Römer starken Änderungen unterworfen werden mußten. Schon der 2. Punische Krieg hatte nachhaltige Spuren hinterlassen. Der Kampf um das Dasein des Staates hatte fast ein Viertel der hauptstädtischen Bevölkerung hinweggerafft. Die Volkswirtschaft war durch den siebzehnjährigen Krieg völlig zerrüttet. Zahllose blühende Ort­ schaften lagen in Trümmern, die Bevölkerung war verwildert. In einem einzigen Jahre wurden allein in Apulien 7000 Men-

schon wegen Straßenraubes verurteilt. Der Ackerbau lag in Italien danieder. Man sah sich genötigt, aus Ägypten Ge­ treide einzuführen. Es bildeten sich Zustände heraus, die den unfrigen von heute in mehr als einer Richtung gleichen. Der Geschäftsverkehr folgte der politischen Machtentwicklung nicht ohne die Begleiterscheinung unlauteren Gewinnes. Das Schiebertum unserer Tage war auch im damaligen Rom stark vertreten. Mehr und mehr bildete sich eine reine Kapitalisten­ wirtschaft mit ihren unvermeidlichen üblen Nebenerscheinungen heraus. Das bäuerliche Element ging infolge des Latifundien­ wesens zurück, das großstädtische Proletariat nahm zu. Ohne­ hin bildete die unzufriedene zahlreiche Sklavenbevölkerung Roms, die jetzt aus den verschiedensten Volksstämmen bestand, eine dauernde Gefahr. In ihrer und der Freigelassenen Hand lagen der Kleinhandel und das Handwerk. Sie betrieben ihre Geschäfte meist im Auftrage und für Rechnung ihrer Herren. Soziale Kämpfe und schwere Erschütterungen der Republik waren die unausbleibliche Folge dieser wirtschaftlichen Verhält­ nisse. Sklavenaufstände, unseren kommunistischen Putschen ver­ gleichbar, zerrütteten das Land. Daß bei dem Übergange Roms zur Weltmacht die alte strenge Zucht, durch die es groß ge­ worden war, zerfiel, kann im übrigen nicht wundernehmen, da der Staat als solcher und seine hohen Beamten die Provinzen und die unterworfenen Länder schonungslos ausbeuteten. „Nicht durch Arbeit und Industrie ist Rom so reich geworden, sondern lediglich durch seine Kriege. Ein schmachvoller Betrieb. Roms Geschichte ist die Ausplünderung der Welt; erst die Kaiser machten dem ein Ende."*)

Die alte römische Kriegszucht war von einer furchtbaren Strenge gewesen. Auch sie verfiel mehr und mehr. Das Bürger-. Heer Roms hatte sich trotz Cannae auf dem Schlachtfelde selbst den Scharen Hannibals vermöge seiner moralischen Eigen­ schaften meist überlegen gezeigt, und der karthagische Feldherr war sich dessen wohl bewußt. Jetzt traten an die Stelle der Bürger-Legionen mehr und mehr Soldtruppen. Schon Scipio führte nach Afrika außer den beiden Cannae-Legionen Frei­ willige, die dem Rufe des beliebten Mannes folgten. Die *) Th. Birt, Römische Charakterköpfe.

3. Stuft, Leipzig 1918, 6. "29.

römische Wehrverfassung, nach der jeder Bürger Soldat und jeder Soldat Bürger zu sein hatte, paßte nicht mehr in die ver­ änderten Verhältnisse, um so mehr, als die Bundesgenossen jetzt erhebliche Streitkräfte aufbrachten. Die höheren Klassen stellten nur noch Offiziere, sonst aber zogen sie sich vom Kriegsdienst zurück, und der Mittelstand war in Rom und ganz Italien schwach. So waren es angeworbene Proletarier, durch die sich die Legionen ergänzten. Der Cimbernsieger Marius hat diesen ohnehin bestehenden Zustand um die Wende des 1. Jahr­ hunderts o. Chr. in feste Form gebracht. Der Übergang zum Berufssoldatentum war damit gegeben. Unter den Kaisern ist es dann dahin gekommen, daß sich die Legionen aus den Pro­ vinzen ergänzten, in denen sie standen, die Italiker nur in die Prätorianergarde eintraten. Mommsen bemerkt*), es sei wahr­ scheinlich, daß die Einführung der inländischen Werbung durch Marius den Staat militärisch vor dem Untergange gerettet, wie Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. die Einführung der aus­ ländischen Werbung ihm noch eine Weile sein Dasein gefristet habe. Es lag gewiß in der Natur dieses Weltreichs mit seiner in der Hauptstadt zusammenströmenden buntscheckigen Bevöl­ kerung und seinen vielen Fremdstämmen, daß der Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht fiel, unverkennbar aber wurde damit zugleich einer der Grundbedingungen der Kraft des römischen Staates, die ihn aufwärts geführt hatten, verlassen. So bildet auch der Übergang zum Söldnerheere ein Merkmal des Verfalls der Republik. Unter den fremden Völkern, deren Einwirkung Rom aus­ gesetzt war, hat sich keines nachhaltiger zur Geltung gebracht als die Griechen. Es ist das um so bemerkenswerter, als zwischen römischem und griechischem Wesen ursprünglich eine starke Gegensätzlichkeit geherrscht hat, indem bei den Römern völliger Mangel an Individualismus bestand, bei den Hellenen dagegen eine große Mannigfaltigkeit in stammlicher, örtlicher und menschlicher Art, wie Mommsen betont**). Diese Gegensätze gemahnen in mancher Hinsicht an die Verschiedenheit zwischen englischem und deutschem Wesen. Trotz der bestehenden Unter*) A. a. o. n., 4. Buch. 6. Kapitel. **) A. a. O. L, 2. Buch. 8. Kapitel.

schiede unterwirft sich der griechische Geist dem römischen nahe­ zu völlig. Durch die Griechenstädte Süd-Italiens war Rom frühzeitig in Berührung mit griechischer Kultur getreten. Von der Mitte des dritten Jahrhunderts v. Chr. an aber dringt griechische Geistesbildung in Rom immer mehr durch. Man beginnt griechisch zu sprechen, griechisch zu denken. In Lebens­ anschauungen, Kunst, Sport setzt sich das griechische Wesen durch. Sein Einfluß auf die Persönlichkeitsbildung ist unver­ kennbar. Die politische Selbständigkeit hatte Griechenland ver­ loren, seinen erziehlichen Einfluß auf das Römertum und damit auf die Menschheit hat es gewahrt*). „So wie Roms Macht sich nicht mehr auf Italien beschränkte, sondern weithin nach Osten und Westen Übergriff, war es auch mit der alten italischen Eigenartigkeit vorbei und trat an deren Stelle die hellenisierende Zivilisation**). Der Fehlschlag unseres Versuchs, zur Weltgeltung zu ge­ langen — und nur eine solche erstrebten wir, nicht etwa die Weltherrschaft —, dessen Zeugen wir gewesen sind, hat vielfach den Gedanken aufkommen lassen, daß es das Schicksal der Deutschen sei, gleich den Griechen des Altertums, ihr Ideal nicht im Wesen des eigenen Staates zu sehen, sondern in dem des Kulturbringers der Menschheit. Man hat dafür außer manchen Charakterzügen, die uns mit den Hellenen gemeinsam sein sollen, auch angeführt, daß bis zur Einigung Deutschlands durch Preußen unser Schicksal ja bereits in vieler Hinsicht ähnlich ge­ wesen sei. Eine derartige Auffassung von der Zukunft seines Volkstums aber wird jeder vaterländisch gesinnte Deutsche ent­ schieden zurückweisen. Sie fußt auf einer gänzlich falschen geschichtlichen Parallele und ist schon deshalb haltlos, weil bei aller Höhe deutscher Geisteskultur doch deutsches Wesen als solches bei den Fremden niemals Eingang gefunden hat. Wir wollen daher lieber Geibels Vers vom deutschen Wesen, an dem die Welt genesen soll, auf sich beruhen lassen, da die anderen nicht daran denken, durch uns sich der Genesung zuführen zu lassen. Wir müssen vor allem danach trachten, selbst zu genesen. Das aber können wir nur in einem gesunden, starken deutschen *) Th. Birk, a. a. O. S. 14. **) Mommsen, a. a. O. I., 3. Buch, 13. Kapitel.

Staat. Wenn bei unserer augenblicklichen schwierigen Lage zahlreiche Deutsche zur Auswanderung genötigt sind, so heißt bas noch nicht, daß unser Volk für alle Ewigkeit dazu bestimmt ist, heimatlos über die Erde zu schweifen gleich den Griechen im römischen Weltreich. Es ist ein Unterschied zwischen einem ge­ schlossen inmitten Europas lebenden Volk von 60 Millionen und einem Kolonistenvolk, als welches die Griechen des Altertums über die Gestade des Mittelmeeres zerstreut waren. Nur müde Resignation und falsche Vorstellung vom Wesen und Zweck beutscher Geistigkeit können Gedanken der erwähnten Art als Trost in unserer jetzigen Lage aufkommen lassen.

Rom ist eine aristokratische Republik gewesen. Mommsen*) nennt den Senat, wie er im dritten Jahrhundert v. Chr. be­ schaffen war, „den edelsten Ausdruck der Nation und in Konse­ quenz und Staatsklugheit, in Einigkeit und Vaterlandsliebe, in Machtfülle und sicherem Mut die erste politische Körperschaft aller Zeiten. Eine ,Versammlung von Königen", die es verstand, mit republikanischer Hingebung despotische Energie zu ver­ binden. Nie ist ein Staat nach außen fester und würdiger ver­ treten worden, als Rom in seiner guten Zeit durch seinen Senat." Freilich sei nicht zu verkennen, setzt Mommsen hinzu, daß in der inneren Verwaltung die im Senat vorzugsweise vertretene Geld- und Grundaristokratie, wo ihre Sonderinteressen in Frage kamen, parteiisch verfahren sei, auch nicht immer das Interesse des Staates gefördert habe, und von der späteren Zeit sagt er**): „Das Regiment der Aristokratie war in vollem Zuge, sein eigenes Werk zu verderben. Nicht, als wären die Söhne und Enkel der Besiegten von Cannae und der Sieger von Zama so völlig aus der Art ihrer Väter und Großväter geschlagen; es waren weniger andere Menschen, die jetzt im Senate saßen, als eine andere Zeit. Wo eine geschlossene Zahl alter Familien festgegründeten Reichtums und ererbter staats­ männischer Bedeutung das Regiment führt, wird sie in den Zeiten der Gefahr eine ebenso unvergleichlich zähe Folgerichtig­ keit und-heldenmütige Opferfähigkeit entwickeln wie in Zeiten der Ruhe kurzsichtig, eigensüchtig und schlaff regieren — zu dem *) A. a. O. L, 2. Buch, 3. Kapitel. **) A. a. O. n., 4. Buch, 2. Kapitel. Hreytag-Loringhoven, Angewandte Geschichte

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einen wie dem andern liegen die Keime im Wesen der Erblich­ keit und der Kollegialität."

Die Geschichte aller aristokratischen Republiken bestätigt diese Sätze. Venedigs Größe verblaßte, als es nicht mehr ge­ zwungen war, dauernd um die Behauptung seiner Herrschaft zu kämpfen. Der deutsche Orden, wiewohl keine Erbaristokratie, sondern eine geistliche Ritterschaft, aber doch ein Adelsregiment im vollsten Sinne, büßte seine Kraft ein, als das Werk der gewaltsamen Bekehrung Preußens im wesentlichen getan war. Auf die besonderen Verhältnisse Englands wird noch zurückzu­ kommen sein. Der Niedergang Roms ist indessen nicht allein den senatorischen Männern zuzuschreiben, wie denn Mommsen von der Zeit, die der Zerstörung Karthagos unmittelbar vorher­ ging, sagt*): „In verhängnisvoller Weise verschlingen sich in dem Rom dieser Zeit die zwiefachen Mißstände einer ausge­ arteten Oligarchie und einer noch unentwickelten, aber schon im Keime vom Wurmfraß ergriffenen Demokratie. Ihren Partei­ namen nach, welche zuerst in dieser Periode gehört wurden, wollten die «Optimalen" den Willen der Besten, die «Popu­ lären" den der Gemeinde zur Geltung bringen; in der Tat gab es in dem damaligen Rom weder eine wahre Aristokratie noch eine wahrhaft sich selber bestimmende Gemeinde." Jedes große Gemeinwesen bedarf, wenn es sich lebenskräftig entfalten soll, einer „wahren Aristokratie" in dem Sinne einer führenden und tragfähigen Oberschicht. Auch die Monarchie kann einer solchen nicht entraten, wenn sie nicht reine Autokratie ist. Die Not­ wendigkeit, eine führende Schicht, eine neue Aristokratie im weitesten und besten Sinne, die mit Junkerherrschaft und stän­ discher Abgeschlossenheit nichts gemein hat, zu schaffen, besteht vor allem augenblicklich in Deutschland. Nur wenn sich eine solche zu bilden vermag, ist Aussicht, daß unser Volk wieder in die Höhe kommt, denn die Masse als solche kann niemals herrschen. Der Einfluß einer führenden Schicht solcher Art hat mit der aristokratischen Republik des Altertums und des Mittel­ alters nichts gemein. Man wird vielmehr Treitschke recht geben, wenn er eine reinaristokratische Republik im heutigen Europa *) A. a. O. II., 4. Buch, 2. Kapitel.

als unmöglich bezeichnet*). Nicht minder aber ist ihm darin beizustimmen, daß in jedem entwickelten Volke sich aristokratische Elemente finden. Sie sind auch bei uns in reicher Zahl vor­ handen, und es kommt nur darauf an, sie an die ihr gebührende Stelle zu bringen. Daß hierzu die richtigen Elemente gelangen, dafür bürgt in gewisser Weise die allgemeine Verarmung, die über uns gekommen ist. Eine Plutokratie wie in Frankreich und Nordamerika kann in Deutschland nicht zur Herrschaft gelangen. „Das Weltregiment, schwer zu erringen, ist schwerer noch zu bewahren," sagt Mommsen**), „jenes hatte der römische Senat vermocht, an diesem ist er gescheitert." Darum drängten die Verhältnisse, je länger je mehr, zur Alleinherrschaft, denn nur diese war imstande, die immer schwierigeren Verhältnisse im Innern zu meistern und gleichzeitig die Weltherrschaft zu sichern. Sie erscheint zuerst vorübergehend in der dreijährigen Diktatur Sullas, bis sie in Caesars Person verkörpert wird. Das Werk, das er errichtete, hat ungeachtet der tiefen Verkommenheit der Kaiserzeit Jahrhunderte überdauert. „Es leidet kaum einen Zweifel," schreibt Mommsen***), „daß, wenn das Senatoren­ regiment sein Scheinleben noch einige Menschenalter länger ge­ fristet hätte, die sogenannte Völkerwanderung vierhundert Jahre früher eingetreten sein würde zu einer Zeit, wo die italische Zivilisation sich weder in Gallien noch an der Donau, noch in Afrika und Spanien häuslich niedergelassen hatte . . . Fünf und ein halbes Jahr, nicht halb so lange wie Alexander, schaltete Caesar als König von Rom; zwischen sieben großen Feldzügen, die ihm nicht mehr als zusammen fünfzehn Monate in der Hauptstadt seines Reiches zu verweilen erlaubten, ord­ nete er die Geschicke der Welt für die Gegenwart und Zukunft." Clausewitz sagt über geschichtliche Beispieles'), sie machten alles klar und hätten nebenher in Erfahrungswissenschaften die beste Beweiskraft. Mehr als irgendwo sei dies in der Kriegs­ kunst der Fall. Er schränkt das insofern ein, als er weiterhin bemerkt : „Je weiter man zurückgeht, um so unbrauchbarer wird *) **) ***) +)

Politik, II. § A. a. 0. II., A. a. O. IE., Dom Kriege,

19. 4. Buch, 1. Kapitel. 5. Buch, 7. u. 11. Kapitel. II. Buch, 6. Kapitel.

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Die Begründung der römischen Weltherrschaft.

die Kriegsgeschichte, wie sie zugleich um so ärmer und dürftiger wird. Am unbrauchbarsten und dürftigsten muß die Geschichte der alten Völker sein." Freilich fließen die Quellen in ent­ legenen Zeiten spärlicher. Wir sind mehr auf Kombinationen und Vermutungen angewiesen. Clausewitz ist daher völlig im Recht, wenn er die Ausbeute aus den Kriegen des Altertums für die taktische Belehrung des heutigen Soldaten als gering bewertet. Für die Betrachtung des Krieges im allgemeinen und der in ihm wirkenden Kräfte trifft das jedoch nicht zu. Bei aller Verschiedenheit des staatlichen Lebens, der Triebkräfte und maßgebenden sittlichen Mächte, die das Altertum im Vergleich zur Neuzeit bestimmten, find dennoch Politik und Kriegführung und die für sie ausschlaggebenden Momente in der heutigen Zeit dem Altertum ähnlicher, nicht nur als im Mittelalter, sondern selbst als in den mehr zurückliegenden Epochen der Neuzeit. Vor allem der Weltkrieg gemahnt in mehr als einer Hinsicht an die Kämpfe Roms in ihrer Großartigkeit und in dem Einfluß, den eine alte Kultur und ein stark entwickeltes inneres Parteileben in ihnen übten. Bei aller Verschiedenheit des Wirtschafts­ betriebes von damals und heute, findet sich doch auch nach dieser Richtung mehr Gleichartigkeit mit heutigen Zuständen als es auf den ersten Blick scheinen möchte.

Die augenblickliche Wirtschaftslage Mitteleuropas, zum Teil aber auch der Länder der Entente, gemahnt, obwohl das Altertum unsere hochentwickelte Technik nicht kannte, in mancher Hinsicht an den Ausgang der alten Welt. Hans Delbrück führt aus*), daß die Bürgerkriege der Kaiserzeit und der starke Abfluß des Edelmetalls an die Barbaren den Vorrat an solchem immer mehr hätten versiegen lassen, so daß im 3. Jahrhundert v. Chr. auch das römische Heerwesen verkümmert sei. Die Benennung Legion wäre beibehalten worden, hätte sich aber auf weit schwächere Truppenteile bezogen. „Ein wesentliches Moment für alles höhere Kulturleben ist das Edelmetall, das, zu Geld ausgeprägt, die wirtschaftlichen Kräfte des sozialen Körpers in Bewegung fetzt. Die antike Kultur und der römische Staat wären nicht denkbar ohne einen großen Besitz an Gold und Silber, so wenig wie ohne einen großen Besitz an Eisen." *) A. a. O. II., 6. 210 ff.

In der Münzverschlechterung wurde damals immer weiter­ gegangen bis zur Wertlosigkeit. Die Soldaten mußten ihre Löhnung in Gestalt von Naturalien erhalten. Es wurden Legionsäcker geschaffen. Das Gold verlor schließlich ganz den Charakter als Münze und wurde nur nach Gewicht genommen. „Alle Besitz- und Rechtsverhältnisse, die auf Geld basiert waren, waren umgestürzt und in sich selbst aufgelöst, ver­ flüchtigt. Die Geldnot der wechselnden Kaiser drückte, nachdem man einmal ins Gleiten gekommen war, immer weiter. Die Steuern gemäß den alten Sätzen und Verordnungen brachten keinen Ertrag mehr." Wen gemahnten diese Worte nicht an unser jetziges Valuta-Elend!

Gleichwohl wäre es falsch, wollte man aus der Ähnlichkeit zwischen den Zuständen innerhalb der absterbenden alten Kultur und unserer heutigen ohne weiteres auf deren bevorstehenden Untergang schließen. Die Geschichte ist nicht dazu da, um mit ihrer Hilfe mystische Traumgebilde zu entwerfen, sondern um aus den ernsten Mahnungen, die sie uns erteilt — und solche sind es in diesem Falle allerdings —, einen Antrieb zur Über­ windung der uns bedrückenden Schwierigkeiten zu entnehmen. Vor allem aber zeigt sich hier wieder, daß wir aus der Geschichte Roms auch für unsere Zeit mancherlei zu lernen vermögen. Es tritt das auf einem anderen Gebiete besonders hervor. Schon die flüchtige Skizze von Roms Aufstieg zur Weltmacht, die vorstehend gegeben wurde, läßt die hohe Bedeutung der Persönlichkeiten im Altertum klar hervortreten. Theodor Birt schreibt*): „Die römische Geschichte ist ein­ heitlich wie die Biographie einer Person, wie die Geschichte eines Individuums . . . Auch solche Männer, die die unaufhalt­ same Entwicklung mit mächtigem Gegenschlag aufzuhalten ver­ sucht haben, ein Cato, ein Sulla, ein Brutus, ein Seneca, sind der biographischen Betrachtung wert. Denn oft bedeutet der sogenannte Fortschritt Verfall, und der Konservative vertritt in Wirklichkeit den wertvolleren Besitz, den Besitz der Vergangen­ heit, den er nicht preisgeben will ... Die großen Menschen waren es, und sind es noch heut, die die Geschichte machen. Schlimm, wenn sie fehlen! Die Masse fühlt wohl, was nottäte, *) A. a. O. Einleitung.

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Deutschland nach dem Dreißigjährigen Kriege.

aber sie vermag als solche nichts und wird es nie vermögen. Die Tat gehört dem einzelnen, der die Nation vertritt." Die materialistische Geschichtsschreibung, die alles Geschehene auf Massen-Jnstinkte und wirtschaftliche Ursachen zurückführen zu sollen glaubt, die im Klassenkampf den Anstoß zu jedem Fort­ schritt sieht, die Tat des großen Einzelmenschen aber als trei­ bende Kraft leugnet, konnte nur in einer Zeit wie der unsrigen, der wahrhaft geniale Menschen fehlen, auch außerhalb sozia­ listisch denkender Kreise Boden gewinnen. Diese Lehre macht in ihrer Einseitigkeit ein Zerrbild aus der Geschichte. Wahr an ihr ist nur, daß auch der größte einzelne nicht losgelöst von seiner Zeit und den in ihr treibenden Kräften zu denken ist. Das Vor­ handensein und die Einwirkung von Massenvorstellungen, die sich zeitweise ganzer Völker, ja ganzer Erdteile bemächtigen, wird zumal in der jetzigen Zeit niemand bestreiten. Sozial­ psychische und individualpsychische Kräfte standen miteinander stets in Wechselwirkung. So sagt denn auch Treitschke*): „Die Zeit bildet das Genie, aber sie schafft es nicht. Wohl arbeiten gewisse Ideen in der Geschichte, aber sie einzuprägen in den spröden Stoff ist nur dem Genius beschieden, der sich in der Persönlichkeit eines bestimmten Menschen zu einer bestimmten Zeit offenbart . . . Personen, Männer sind es, welche die Ge­ schichte machen." Dementsprechend hat sichBirt vorgesetzt, „denen Genüge zu tun, die da im Leben oder in der Geschichte nach großen Menschen sich umsehen. Rom kann sie ihnen zeigen in Fülle." Darin, daß sie uns fehlen, liegt vor allem die Not unserer Zeit.

2. Deutschland nach dem Dreißigjährigen Kriege. Blick auf das Mittelalter.

Lassen sich aus den späteren Epochen des Altertums mancherlei Lehren entnehmen, die auch heute noch gültig sind, so trifft das bei den völlig anders gearteten Verhältnissen des Mittelalters nicht zu. An sich ist es freilich durchaus verfehlt, das sogenannte „finstere Mittelalter" zu verlästern. Scheffel ') Politik, L, Einleitung.

läßt zu Anfang seines „Ekkehard" über dem Hegau einen trüben bleischweren Himmel lagern, fügt aber launig hinzu: „doch sonst war von der Finsternis, die bekanntlich über dem ganzen Mittelalter lastete, im einzelnen nichts wahrzunehmen," und Jakob Burkhardt sagt*): „Unsere Präsumption, im Zeitalter des sittlichen Fortschritts zu leben, ist höchst lächerlich, im Ver­ gleich zu riskierten Zeiten, deren freie Kraft des idealen Willens in hundert hochtürmigen Kathedralen gen Himmel steigt . . . Unser Leben ist ein Geschäft, das damalige war ein Dasein . . . Gegenwart galt eine Zeitlang gleich Fortschritt, und es knüpfte sich daran der lächerlichste Dünkel, als ginge es einer Vollendung des Geistes oder gar der Sittlichkeit entgegen . . . Ein einfaches kräftiges Dasein, noch mit dem vollen physischen Adel der Rasse, unter beständiger gemeinsamer Gegenwehr gegen Feinde und Bedrücker, ist auch eine Kultur und möglicherweise mit einer hohen inneren Herzenserziehung verbunden." Wer möchte darin nicht dem Schweizer Gelehrten nach den Erfahrungen des Weltkrieges und allem, das diesem folgte, recht geben! Für den Beginn des Mittelalters ist nach Tocqueville**) kennzeichnend, daß die germanischen Stämme, die sich während der Völkerwanderung auf dem Boden des alten römischen Reiches niedergelassen hatten, und dort lange nicht zur Ruhe kamen, ohne Verbindung miteinander blieben. Die alte Kultur war vernichtet, die europäische Menschheit in zahllose kleine Ein­ heiten zerfallen, die sich meist feindlich gegenüberstanden und jede ihr Sonderleben führten. Trotzdem finden sich fast über­ all dieselben Einrichtungen, Gesetze, Gewohnheiten. Auch in -em Deutschland, wie es 843 durch den Vertrag von Verdun bestimmt wurde, bestand noch kein einheitliches Volkstum. Ein solches hat sich nach Sprache, Recht und Kultur erst nach und nach entwickelt. „Der Eigenwille der deutschen Stämme wurde die nagende Krankheit des Deutschen Reiches. Die tie­ feren Gründe dafür lagen gewiß mit in der Besonderheit ein­ zelner Stammesaufgaben für den Grenzschutz und den Ausbau der Marken; am stärksten sicherlich in der Isolierung jedes Gutes und jeder Herrschaft in diesem Zeitalter ohne Verkehr *) Weltgeschichtliche Betrachtungen. Herausgegeben von Jakob Oeri. Berlin u. Stuttgart 1905. IP u. II. **) L’Ancien r&gime et la Revolution, 4. Kapitel.

und Straßen, — in der Selbstherrlichkeit jedes kleinen Dy­ nasten."*) Die Kaisermacht thront über einem Gewirr von Stammesherzogtümern, Bistümern und Städten und besitzt einen sicheren Rückhalt nur in ihrer eigenen Hausmacht. Trotzalledem offenbart sich unter den Ottonen und Staufern ein starker politischer Wille der deutschen Nation, der, mag er auch im einzelnen irregeführt werden, sich in der äußeren Macht­ stellung des Reiches kundtut. Später, zur Zeit des Nieder­ ganges der Kaisermacht, sind es örtliche Gewalten, in denen solcher Wille hervortritt, so in der Kolonisation der Mark durch die Askanier im 12. und 13. Jahrhundert, Schlesiens durch die einheimischen Piastenherzöge, des Südostens durch Bayern und Österreich, des Ostens durch den deutschen Orden seit dem zweiten Drittel des 13. Jahrhunderts. Vor allem aber zeigt das Bei­ spiel des Städtebundes der Hansa, der seit dem 14. Jahrhundert die Ost- und Nordsee mit einem Kranz von Niederlassungen umzog und bis weit ins Binnenland hinein Genoffen zählte, wessen deutsche Tatkraft und Unternehmersinn da­ mals fähig waren. Die überschüssige Kraft der Deutschen schasst sich hier überall Raum. Diese Leistungen aber stehen um so höher, als sie ihren Antrieb nicht von der obersten Stelle des Reiches erhielten. Der Nation als solcher fehlte jede einheit­ liche Führung.

Unter derartigen Umständen mußte die Reformation über die religiöse Spaltung hinaus auch die politische noch verschärfen. Im Augsburger Religionsfrieden von 1555 kam das zum Aus­ druck. Kaiser und Reichsstände versprachen, in Religions­ angelegenheiten Frieden zu halten. Zahlreiche Einschrän­ kungen, die der Vertrag enthielt, wie sie schon dadurch gekenn­ zeichnet waren, daß die geistlichen Fürsten von der freien Wahl der Konfession für sich und ihre Untertanen ausgenommen waren, bargen den Keim zu weiteren Zwisttgkeiten. Es war nur ein Waffenstillstand. Erst der Dreißigjährige Krieg sollte die schwebenden Streitfragen wirklich zum Austrag bringen. Die große geistige Bewegung der Reformation, die vorüber­ gehend das ganze deutsche Volk einigen zu sollen schien, ver­ ebbte zu einem traurigen Kompromiß. Die Nation hatte *) Karl Brandl, Deutsche Geschichte, Berlin 1919, S. 43.

Politischer Wille der Deutschen im Mittelalter.

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wieder umsonst, wie später noch so oft, einen großen Anlauf unternommen.

Treitschke wendet sich*) gegen die herkömmliche Auffassung, die Deutschlands trübste Zeit in dem Zeitalter Ludwigs XIV. sieht. Gerade diese Epoche, meint er, „gebe uns das Recht, an die Ewigkeit unsres Volkes zu glauben," und er fährt fort: „Wollen wir wirklich die schimpflichste Epoche unserer Ver­ gangenheit finden, die Zeit, da unser Volk durch eigene Schuld in Zwietracht und Feigheit verkam, so müssen wir um ein Jahr­ hundert weiter zurückschauen, auf die Tage des sogenannten Augsburger Religionsfriedens. Damals entstand jene deutsche Kleinfürstenpolitik des Wollens und Nichtwollens, die mit ihrer bedachtsamen Seelenangst ebenso einsam in der Geschichte steht wie die Mißbildung unserer Kleinstaaterei selber." ... Es scheine, meint Treitschke, der menschlichen Gebrechlichkeit nicht gegeben, eine ideale Anschauung, wie sie die Reformation her­ vorbrachte, auf die Länge zu ertragen. „Schon zu der Zeit, da der Reformator starb, erkennen wir das jugendliche Volk der Hutten und der Dürer kaum mehr wieder. Die Nation erweist sich als unfähig, in einem keineswegs ungleichen Kampfe die Selbständigkeit ihres Glaubens und ihres Staates zu be­ haupten. . . . Deutschland verzichtete auf die auswärtige Politik, trat zurück aus der Reihe der großen Mächte. Denn da das Reich in Religionsfragen nicht mehr einen für beide Teile bindenden Mehrheitsbeschluß fassen konnte, und alle Kriege dieser Epoche, allein die Türkenkämpfe ausgenommen, Reli­ gionskriege waren, so blieb Deutschland grundsätzlich neutral in den europäischen Händeln; nur als Dienende, als Hilfs­ völker durften die Deutschen fortan teilnehmen an den welt­ historischen Kämpfen draußen.... Die Völker ertragen leichter das Unglück als das Glück; unsere Nation verdarb in der Üppigkeit des Friedens, der die Geister nicht versöhnte. Doch aller deutschen Leiden schwerstes war die theologische Ver­ bildung. Es ist nicht anders, das Luthertum jener Tage stand nicht nur politisch, sondern auch sittlich tief unter dem ver­ jüngten Katholizismus, der soeben alle seine Bekenner wie em *) Historische und politische Aufsätze, n. einigten Niederlande.

Die Republik der ver­

Heer des Glaubens in der festen Burg seiner alten, jetzt neu geordneten Hierarchie versammelt hatte. . . . Dieser Nieder­ gang der deutschen Reformation erklärt den Aufgang der niederländischen Republik." In der Haltung der Deutschen jener Tage finden wir so manchen Zug, den wir als Erbteil von damals durch die Jahr­ hunderte mitführen. Darum schien es angezeigt, hier Treitfchke das Wort zu lassen, denn kein Historiker und Publizist hat Deutschland heißer geliebt als er. Bei so beschaffener Art der Deutschen mußte der wenig über ein halbes Jahrhundert nach dem Augsburger Religionsfrieden ausbrechende Dreißigjährige Krieg eine um so fühlbarere Wirkung auf die Volksseele ausüben. Die Folgen des großen Krieges. Das alte Deutsche Reich sah sich durch den Westfälischen Frieden in seinem Umfange wesentlich beschränkt. Der längst erfolgte Abfall der Schweizer Eidgenossenschaft und der Besitz Frankreichs an den lothringischen Bistümern wurden rechts­ gültig. Darüber hinaus wurde die fremde Oberherrlichkeit im Elsaß, in einem großen Teil Pommerns, in Bremen und Verden, anerkannt. Dis burgundischen Niederlande waren bereits vorher teils in fremde Hand geraten, teils zu einem Sonderstaat geworden, dessen Entwicklung sich auf Kosten Deutschlands vollzog. „Mit der Herrschaft über die Ostsee hatte also Deutschland zugleich den wichtigsten Zusammenhang mit der Nordsee verloren und fand sich nun ausgeschlossen von dem Anteil an Macht und Reichtum, den die Nationen auf den Meeren und in den Kolonien erwarben*)." Dieses bedrückende Verhältnis, das zweieinhalb Jahrhunderte auf uns gelastet hatte, zu sprengen, haben wir im Weltkriege unternommen. Sein Ausgang hat uns mehr oder weniger auf die Lage, wie sie zu Ausgang des Dreißigjährigen Krieges bestand, zurück­ gedrückt. Die zweite große Abtrennung deutschen Gebiets hat sich vollzogen. *) Ludwig Häusier, Deutsche Geschichte vom Tode Friedrichs des Großen bis zur Gründung des Deutschen Bundes. Berlin 1858. I., Ein­ leitung.

Durch die Verträge von Münster und Osnabrück erlangten alle Reichsstände die volle Souveränität sowie das Bündnis­ recht unter sich und mit auswärtigen Staaten. Der Reichstag von 1653/54 verlieh den Landesherren außerdem die Befugnis, eine gewisse Truppenzahl auf Landeskosten zu unterhalten, ohne an die Zustimmung ihrer Stände gebunden zu sein. Die stehenden Heere wurden damlt zu einer dauernden Einrichtung. So erhob sich „aus dem Chaos des Dreißigjährigen Krieges die vollendete Landeshoheit der deutschen Fürsten als das eigent­ lich siegreiche Prinzip. . . . Trotz des offiziellen Friedens war die politische Atmosphäre des Reichs von Keimen des Un­ friedens erfüllt. In innerlicher Kompliziertheit kreuzen sich alle verschiedenartigen Interessen und Gegnerschaften. . . . Die regulierende Gewalt einer wirklich herrschenden Reichsregierung kehlt. Jeder einzelne ist zum Schutz seiner Interessen auf sich selbst gestellt und, da die eigene Kraft dazu keinem genügt, auf die Verbindung mit anderen gleichinteressierten und gleich­ bedrohten Ständen"*).

Dreißig Kriegsjahre hatten unserem Vaterlande eine Heim­ suchung ohnegleichen gebracht, war es doch der Tummelplatz der Söldnerheere aller europäischen Mächte gewesen. Im ein­ zelnen sind die Schilderungen von den durch den Krieg hervor­ gerufenen Verwüstungen, so groß sie auch waren, vielfach über­ trieben. Vor allem wurden nicht entfernt alle Gebiete Deutsch­ lands in gleichem Maße heimgesucht. Auch darf nicht außer acht gelassen werden, daß sich zu jener Zeit der unbedingten Vorherrschaft ländlicher Produktion sich manche Gegenden von Kriegsleiden, die sie betroffen hatten, verhältnismäßig rasch erholten. Noch vom Jahre 1813 berichtet Odeleben**) von dem allerdings reichen Sachsen in seiner damaligen großen Ausdehnung, daß seine Kriegsschäden verhältnismäßig bald geheilt worden seien, obwohl eine halbe Million Soldaten, Franzosen und Verbündete, ein halbes Jahr größtenteils aus Landesvorräten verpflegt worden seien und das bei keineswegs *) Erdmannsdörffer, Deutsche Geschichte vom Westfälischen Frieden bis zum Regierungsantritt Friedrichs des Großen. Berlin 1892. L, 1. Buch,

5. Kapitel. **) Napoleons Feldzug in Sachsen.

Dresden 1816.

planmäßigem und haushälterischem Verfahren. Landstriche, die besonders mitgenommen waren, konnten von anderen, die weniger gelitten hatten, immer noch unterstützt werden. Als eine unmittelbare Folge des Dreißigjährigen Krieges ist dann freilich der starke Rückgang der Bevölkerung, vor allem auf dem flachen Lande, in Betracht zu ziehen. Die Behauptung, daß die Hälfte oder gar zwei Drittel der Bewohner Deutsch-, lands zugrunde gegangen fei, ist zwar stark übertrieben. Ge­ naue Zahlen find aus jener Zeit, wo es eine Statistik noch nicht gab, nicht überliefert, auch haben nach dem Kriege starke Verschiebungen innerhalb der Bevölkerung statt­ gefunden. Der lange Krieg hatte alles in Bewegung gebracht. Die alte Seßhaftigkeit war vielerorts geschwunden. Der Grund­ besitz, soweit er in derselben Hand geblieben war, wies eine starke Verschuldung auf. Der Landadel war durchweg ver­ armt, zum Teil verwildert. Die Bauern konnten erst durch Not und strenge Zucht allmählich zu regelmäßiger Arbeit ver­ anlaßt werden. Die obrigkeitliche Gewalt sowie der Eifer und die Tüchtigkeit der Dorfpfarrer haben hier eine überaus gedeih­ liche Tätigkeit entfaltet. Der Rückgang von Handel und Gewerbe machte sich allge­ mein fühlbar. Er hatte indessen bereits vor dem Kriege ein­ gesetzt. Die neuen Wege, die seit dem 15. Jahrhundert der Weltverkehr einschlug, waren auf die handelspolitische Stellung Deutschlands nicht ohne Einfluß geblieben. England, Skandi­ navien hatten sich von der Vorherrschaft der hanseatischen Kauf­ leute befreit, der aufblühende holländische Handel nahm nicht nur von ganz Westdeutschland Besitz, er legte im Verein mit England auch den deutschen Handel in der Ostsee lahm. Ohne­ hin waren deren Küsten zum größten Teil fremdes Eigentum. Die Einwirkung dieser Verhältnisse und der Übermacht des territorialen Fürstentums über die Städte hat sich nicht plötz­ lich fühlbar gemacht. Sie war schon vor dem Kriege zu spüren, ist freilich durch diesen stark gefördert worden. „Die deutsche politische Ohnmacht und die Konkurrenzunfähigkeit des schwer geschädigten deutschen Kapitals öffneten überall der fremden Vorherrschaft die Tore, und auf allen Wegen dringt sie bis zu den entlegensten Stellen vor." Diese Worte Erdmanns-

dörffers*) scheinen wie für das heutige Deutschland geschrieben. Auch ein Finanzelend, dem unsrigen gleich an Wirkung, trat schon damals ein. Die Münzverschlechterung hatte zu dieser Zeit der „Kipper und Wipper" ganz ähnliche Wirkungen, wie die Inflation unserer Tage. Die auf festes Gehalt angewiesenen Pfarrer und Schullehrer hatten darunter am meisten zu leiden. Der Lohn der Dienstboten reichte kaum hin, die Schuhe zu bezahlen. Der Wert der Stipendien sank derartig, daß zahl­ reiche Studenten die Universitäten verlassen mußten. Kapi­ talisten, die ehedem als reiche Leute beneidet worden waren, fristeten mit den Zinsen ihres Vermögens, die ihnen in ent­ werteter Münze zuflofsen, jetzt nur gerade ihr Leben.**) Die Teuerung nahm fortgesetzt zu. In vielen Gebieten herrschte Hungersnot. Seuchen zehrten die kraftlosen Leiber aus. Das Geschlecht, das zu Beginn des großen Krieges geboren wurde, erreichte die Mannesjahre, ohne einen gesicherten Frieden kennengelernt zu haben. Es konnte nicht ausbleiben, daß die Zeit auch in ihm tiefe Spuren hinterlassen hatte. Vor allem das Landvolk war verwildert. Vielfach gezwungen, längere Zeit in Verstecken zu hausen, wurden die Bauern oft selbst zu Räu­ bern, viele suchten Zuflucht in den Städten, -eren Bevölkerung dadurch in manchen Gegenden stark anwuchs, während das Land verödete. Noch lange nach dem Friedensschluß zogen Banden entlassenen Kriegsvolks, Dirnen und Scharen von Bettlern im Lande umher. Es erschollen überall dieselben Klagen über schlechte Manieren, Verwahrlosung der Jugend, fehlende Rücksicht gegen das Alter wie heute. Die geistige und sittliche Widerstandskraft der Nation war ebenso gesunken wie neuerdings bei uns. Durch die Deutschen von damals geht ein ausgesprochener Zug nationaler Selbstentäußerung, wenn auch, wie Erdmannsdörffer hervorhebt***), dieser fehlende Stolz nationaler Eigenart, die Sucht, fremde Kultur, Sitte, Sprache, Literatur und Tracht zu bevorzugen, von alters her eine Schwäche unseres Volkstums gewesen ist. „Dasselbe Jahr­ hundert," schreibt er, „welches mit so mächtigem Anlauf die *) A. a. O. L, 1. Buch, 4. Kapitel. **) Gustav Freytag, Bilder aus der deutschen Bergangenheit. 4. Kapitel. ***) A. a. O. III., 4. Kapitel.

III.,

nationale Emanzipation des kirchlichen Lebens unternahm, ist zugleich durch die wachsende Widerstandsunfähigkeit gegen die eindringende Fremdländerei bezeichnet." So ist es gekommen, daß beim Deutschen seit jener Zeit das politische Urteil so viel­ fach abirrte. Die Händel des Auslandes treten für ihn stark in den Vordergrund zum Schaden der Angelegenheiten der eigenen Heimat. „Im Wesen des Deutschen wurden unter dem Druck der schweren Zeit einige Eigenschaften herausgebildet, welche noch heute nicht ganz geschwunden sind. Sucht nach Rang und Titel, innere Unfreiheit gegen solche, welche als Beamte oder Betitelte in höherer Stellung leben, Scheu vor der Öffentlich­ keit und vor allem auffällige Neigung, das Wesen und Leben anderer grämlich, kleinlich, skeptisch zu beurteilen*)."

Damit stand auch die Sucht nach Adelstiteln im Zusammen­ hang. Die Kaiser hatten bereits lange vor dem Kriege das Ausstellen von Adelsbriefen als Einnahmequelle betrachtet. Dieses Unwesen nahm jetzt seinen Fortgang. Es war allgemein bekannt, daß insgemein nur um „Wucherlohn" geadelt wurde**). Die Massenhaftigkeit der Erhebungen in den Adels­ stand hat, auch dort, wo, wie in Preußen, nicht fiskalische Inter­ essen der Fürsten den Antrieb dazu gaben, manchen Schaden angerichtet. Hätte man sich darauf beschränkt, nur wirklich hohe Verdienste damit zu belohnen, so daß nur Ausnahmefälle vorlagen, wären Nachteile nicht entstanden. Besonders nach­ dem der Adel seit Erlaß der Verfassung von 1848 als Stand zu bestehen aufgehört hatte, wäre eine starke Einschränkung der Adelsverleihungen angebracht gewesen. Der Nichtadlige konnte aber, wie die Dinge lagen, schwer einen Unterschied zwischen altem und neuem Schwert-, Beamten- und Geldadel machen, er sah in dem ganzen eine abgesonderte Kaste, und so ist das Gerede vom „Junkertum" entstanden, was bei seltenerem Vor­ kommen des Adelstitels im Sinne einer bloßen geschichtlichen Erinnerung niemals in gleichem Maße hätte geschehen können. Will man die Bezeichnung „Junker" vorzugsweise für die Ab­ kömmlinge landsässiger ostelbischer Geschlechter gelten lassen, so waren diese in der preußischen Armee von 1806 allerdings sehr *) Gustav Freylag, a. a. O. **) (Sbenba, nach einer Schrift v. Loens «Der Adel', 1752.

Kleinlichkeit des deutschen Wesens.

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zahlreich vertreten, das konnte nicht anders sein nach der da­ maligen territorialen Gestaltung und dem ganzen Aufbau des Preußischen Staates, denn es waren die Söhne und Enkel der­ selben Leute, die sich im Siebenjährigen Kriege für das Dasein Preußens geopfert hatten, jener Kaste, von der König Fried­ rich sagt, daß sie „auf alle Art meritiret conserviret zu werden". Darum aber den „Junkern" allein die Schuld an der Nieder­ lage beizumessen, ist verfehlt, denn neben den Abkömmlingen des alten Grundadels dienten in der Armee schon damals viele solche des Briefadels, dazu zahlreiche Offiziere französischer und polnischer Abstammung und Offiziere aus dem Reich. Fast ein Viertel aller Regimentschefs und Kommandeure waren keine geborene Preußen. Nicht jeder Stammbaum eines adligen Offiziers von damals war einer strengen Probe gewachsen. War doch auch Gneisenaus und Ports adlige Abstammung keineswegs über jeden Zweifel erhaben. Den deutschen Fürsten ist aus den zahlreichen Erhebungen in den Adelsstand kaum ein ernstlicher Vorwurf zu machen. Die Eitelkeit ihrer Untertanen kam ihnen hierbei entgegen. Am meisten gelangte dieses zum Ausdruck in Österreich durch die Verleihung hochtrabender will­ kürlich erdachter Doppelnamen sowie in Bayern und Württem­ berg durch den mit Erlangung gewisser Ordensklassen ver­ bundenen Personaladel.

Wenn man sich die stolze Höhe ins Gedächtnis zurückruft, zu der die deutsche Arbeitsleistung vor dem Weltkriege auf­ gestiegen war, so gelten auch für uns in ermutigendem Sinne wie in einschränkendem die Worte Erdmannsdörffers über das Wirtschaftsleben nach demDreißigjährigenKriege*): „Man nahm die Arbeit wieder auf oder setzte die nie ganz abgebrochene fort; ungebeugter Mut, rüstige Freude am Schaffen sind doch nicht ganz verloren oder kehren bald wieder. Aber es ist eine Arbeit, die es verlernt hat, nach dem Größten und Höchsten zu trachten, die an ihre Leistungen den Maßstab bescheidener Ver­ hältnisse, eines in die zweite Reihe zurückgedrängten Daseins legt." In treuer Arbeit im kleinen ist es dem damaligen Ge­ schlecht gelungen, im ersten Jahrzehnt nach dem Kriege manches zu bessern, aber es bedurfte dreier Menschenalter, bis annähernd *) A. a. O. I., 1. Buch, 4. Kapitel.

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Deutschland nach dem Dreißigjährigen Kriege.

der frühere Zustand wieder erreicht war. Die Wiederaufrich­ tung der geistigen und seelischen Kräfte vollzog sich zuerst in den Familien. „Das Leben geistreich zu schmücken, dazu fehlt dem gedrückten Geschlecht der Geist und der Reichtum; aber man fühlt sich des Lebens wieder sicher und glaubt mit be­ scheidenen Ansprüchen an die Zukunft." Deutschland mußte daher auch im geistigen Leben zurückstehen gegen Holland, Frankreich und England. Erst in Pufendorf und Leibnitz ist die deutsche Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts wieder zu größtem Ansehen ge­ langt. „Ein rüstiges Streben auch nach geistigem Wieder­ aufbau ging doch zugleich bei allem Verfall durch das Zeit­ alter. Daß an Wissen und Können neue Ansprüche und daher das Lernen durchweg auf eine neue Basis gestellt werden müsse, ist weitverbreitete Überzeugung.. . . Neben augenfälligem Ver­ derben und Rückgang kann man doch vielleicht in gewissem Sinne von fördernden Anregungen sprechen, welche dem Krieg und seinen Folgen entsprungen. Die Sündflut der dreißig Jahre ist ein Ende gewesen, aber auch ein Anfang"*). In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bildete sich überall in Deutschland die absolute monarchische Regierungs­ form im Kampf mit den Landständen heraus. Bei den Zu­ ständen, wie sie der Krieg geschaffen hatte, gereichte das abso­ lute Fürstentum, mochte es auch gelegentliche Auswüchse zei­ tigen, den deutschen Staaten unbedingt zum Segen. Der Krieg hatte das deutsche Volk um hundert Jahre zurllckgeworfen. Es trat gewissermaßen neu in die Geschichte ein. Einen Beweis dafür sieht Treitschke schon darin**), daß in Preußen noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts ein Zuchtmeister nach Art Fried­ rich Wilhelms I. möglich, ja geradezu notwendig war. Den schwersten Kampf um seine unbedingte Herrschaft hatte Kur­ fürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg zu bestehen. In seinem zerstückelten, über den ganzen Norden Deutschlands aus­ gedehnten Gebiet galt es, vor allem dem Gedanken staatlicher Einheit zum Durchbruch zu verhelfen. Der junge Kurfürst fand eine Fülle von Aufgaben vor, die er mit größter Energie *) Erdmannsdörffer a. a. O. I., 1. Buch, 4. Kapitel. **) Politik, n., § 16.

Der große Kurfürst.

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angriff. Seine Regierung ist von Anbeginn gekennzeichnet durch eine nie ermüdende Tatkraft, die dem Lande zum Segen gereichte. So ist dieser Fürst auch für uns Heutige noch vor­ bildlich in der Art, wie er in schwerster Lage an der Wieder­ aufrichtung seines Landes nicht verzweifelte. Auch andere Fürsten dieser Zeit haben es an rühmlichen Bestrebungen zur Herstellung ihrer Lande nach der Kriegszeit nicht fehlen lassen, so vor anderen Karl Ludwig von der Pfalz und Ernst der Fromme von Gotha. Ihre Absichten gingen hierbei vielfach über das Gebiet innerer Reformen hinaus. Sinn für Merkantilismus und koloniales Interesse sind dem Zeitalter in hohem Maße eigen. Sie treten in den Flottenund Kolonialbestrebungen Friedrich Wilhelms von Branden­ burg am schärfsten auf. Diese griffen ihrer Zeit weit vor, aber ihr späteres Scheitern darf unser anerkennendes Urteil über sie nicht beeinträchtigen, so wenig wie wir über unsere neuzeitliche Kolonialpolitik den Stab brechen dürfen, weil unsere über­ seeischen Besitzungen uns im Weltkriege verloren gegangen sind. In den ersten zehn Jahren seiner Regierung hatte Kur­ fürst Friedrich Wilhelm sein zerrüttetes Land geordnet, seine Autorität im Innern hergestellt und Brandenburg wieder eine geachtete Stellung nach außen geschaffen. Es lag in den geo­ graphischen Verhältnissen seines Staates, daß er fortgesetzt in die Wirren sowohl im Westen wie im Osten des Reiches hinein­ gezogen wurde. Im Ersten Nordischen Kriege erkämpfte sich der Kurfürst erst an der Seite Karls X. Gustav von Schweden, dann gegen ihn die volle Souveränität seines Preußenlandes. Nach der Schlacht von Fehrbellin grüßte ihn später das deutsche Volk zuerst mit dem Namen des „Großen Kurfürsten". In seiner Armee gelangte deutsche Wehrhaftigkeit im Kampf für eine deutsche Sache zuerst wieder zur Geltung. Noch glückte es nicht, Schweden vom deutschen Boden zu ver­ treiben, wenn auch die Unnatürlichkeit seiner auf viel zu schmaler Grundlage ruhenden Großmachtstellung sich offen­ bart hatte. Die Machtstellung Frankreichs im Verein mit der Gewandtheit seiner Diplomaten reichte aus, um dem nordischen Bundesgenossen seinen deutschen Besitz zu erhalten. So blieben die deutschen Ströme auch weiter „fremder Nationen Gefangene", wie es in einer der Umgebung des Kurfürsten entstammenden Freytag-Loringhovcn, Angewandte Geschichte

Flugschrift aus der Zeit des Ersten Nordischen Krieges heißt*). „Wir haben," so sagt der Verfasser vorher, „unser Blut, wir haben unsere Ehre und Namen dahingegeben und nichts damit ausgerichtet, als daß wir uns schier zu Dienstknechten, und fremde Nationen berühmt, uns des hohen Namens fast verlustig und diejenigen, so wir vorher kaum kannten, damit herrlich gemachet." König Karl X. Gustav von Schweden hatte dem Lord Protektor von England, Cromwell, 1657 deutsche Küsten­ lande angeboten, „ein herrenloses Gut, nach dem es nur genüge, die Hand auszustrecken. Das Gefühl von der vollendeten Schutz­ losigkeit deutscher Lande in jenen Tagen drängt sich auf: diese beiden fremden Herrscher verhandeln, als ob es nur ihrer Ver­ ständigung bedürfe, um dieses oder jenes reichsfürstliche Gebiet der Botmäßigkeit Englands zu unterwerfen, d. h. es zu einem Stützpunkt englischer Handelsinteressen auf dem Festlande zu machen**)."

Als er diese Sätze niederschrieb, konnte Erdmannsdörffer nicht ahnen, daß dereinst das geeinte, waffenstarke Deutschland ohne dringende Not seinen Feinden die Gelegenheit zu denselben Übergriffen bieten würde, wie es damals in seiner Zerrissenheit geschehen ist, daß der Zustand „vollendeter Schutzlosigkeit" durch eigene Schuld über ein großes Volk kam, das mehr als vier Jahre einer Welt in ungleichem Kampfe getrotzt hatte. Und wenn der Gelehrte damals schrieb: „Man kann diese Verhand­ lungen nicht ohne tiefe Bewegung sich vergegenwärtigen," so werden unsere Enkel Mühe haben, die Schmach, die seit dem November 1918 über uns hereingebrochen ist, überhaupt zu verstehen. Wären geschichtliche Kenntnisse bei uns weiter ver­ breitet gewesen, wären wir mehr in den Kern der Dinge ein­ gedrungen, statt an den äußeren Geschehnissen zu haften, hätten wir uns bemüht, das Geschick unserer Ahnen verständnisvoll zu erfassen, wir wären besser gefeit gewesen gegen unser schweres Schicksal. Die Schmach, die jenen widerfuhr, hätte uns eine Warnung sein sollen und können. Hatten wir es doch so unendlich viel besser und konnten es weiterhin besser haben als unsere Altvorderen! *) Bei Erdmannsdörffer, a. a. O. L, 2. Buch, 4. Kapitel. **) Erdmannsdörffer, a. a. O. I-, 2. Buch, 3. Kapitel.

Schutzlosigkeit Deutschlands einst und heute.

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Seine „Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert" leitete Treitschke mit den Worten ein: „Die deutsche Nation ist trotz ihrer alten Geschichte das jüngste unter den großen Völkern Westeuropas. Zweimal ward ihr ein Zeitalter der Jugend beschicken, zweimal der Kampf um die Grundlagen staatlicher Macht und freier Gesittung. Sie schuf sich vor einem Jahr­ tausend das stolzeste Königtum der Germanen und mußte acht Jahrhunderte nachher den Bau ihres Staates auf völlig ver­ ändertem Boden von neuem beginnen, um erst in unseren Tagen als geeinte Macht wieder einzutreten in die Reihe der Völker." Was wir als geeinte Macht vermögen, haben wir im Weltkriege bewiesen. Trachten wir, daß uns die Einheit im Reiche wiederkehre und erhalten bleibe, dann wird uns der Auf­ stieg gelingen wie dem Geschlecht, das nach dem Dreißigjährigen Kriege die Arbeit wieder aufnahm, und er wird uns leichter und schneller werden als jenem, für das der Westfälische Friede der Ausgang zu neuem Bruderzwiste wurde. —

3. Oie Politik Ludwigs XIV. Die Erstarkung Frankreichs unter der absoluten Königsmacht. In vollem Gegensatz, politisch wie wirtschaftlich, zu dem Deutschland der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts stand das damalige Frankreich. Seit 1624 leitete es bis zu seinem im Jahre 1642 erfolgenden Tode der Kardinal Herzog von Richelieu. Dieser erstrebte Gebietszuwachs und eine Verstär­ kung der königlichen Macht im Innern, Ziele, an denen er unablässig und mit Erfolg unter dem schwachen Könige Lud­ wig XIII. gearbeitet hat. Die Macht der Hugenotten, soweit sie einen Staat im Staate bildeten, wurde gebrochen, diejenige des hohen Adels und der unabhängigen hohen Gerichtshöfe, der sogenannten Parlamente, bis zur Unschädlichkeit vermindert. Die Einsetzung königlicher Intendanten, die unmittelbar vom leitenden Minister abhingen, sicherte dessen Herrschaft über die Provinzen. Richelieu ist der Bismarck Frankreichs gewesen. Martin Spahn äußert über den Unterschied beider*) : „So sehr *) Die Großmächte. Wesens. Berlin 1918.

Richtlinien ihrer Geschichte.

Maßstäbe ihres

Bismarck seinem einzigen gleichwertigen Vorgänger unter den Baumeistern der innereuropäischen Großmächte, Richelieu, an organisatorischer Kraft und damit an Wirkung in die Tiefe vor­ aus gewesen war, so wenig erreichte seine Staatskunst die des Franzosen an Tragweite in die Zukunft. Er war, wie ger­ manische Helden zu leicht, ein Einsamer gewesen. Der Zug der Zeit war wider ihn. Er hatte sich zwar ihre Strömungen trotz­ dem dienstbar gemacht, wo er sie brauchte, sie aber niemals in das Strombett seiner Anschauungen und Entwürfe hinüberzu­ leiten vermocht. Den deutschen Parteien waren durch die jahr­ hundertelange Verzögerung der deutschen Staatsbildung die Überlieferungen der innerpolitischen Großmachtpolitik nicht in Fleisch und Blut übergegangen." Der Staatskunst des großen Kardinals kam außerdem zugute, daß sie zu jener Zeit rücksichts­ loser Gewalttätigkeit in ihren Mitteln weniger beschränkt war. Dazu entsprachen seine Bestrebungen insofern den Wünschen der Mehrheit der Franzosen, als diese des inneren Haders und der Anmaßung des hohen Adels offenbar satt waren. Die Begründung einheitlicher Staatsgewalt war der Zug der Zeit. Gleichwohl ist in Frankreich noch einmal eine Reaktion gegen das Werk Richelieus in den Unruhen der Fronde zutage ge­ treten, doch ist die Krone wesentlich dank dem Geschick des Kardinals Mazarin, Richelieus Nachfolger, Herrin der Lage geblieben. Nach außen fügte Frankreich den Errungenschaften des Westfälischen Friedens im Pyrenäischen Frieden mit Spanien 1659 weitere hinzu. Als Mazarin 1661 die Augen schloß, trat der junge König Ludwig XIV. sein persönliches Regiment an über ein nach außen abgerundetes, nach innen gefestigtes Reich. Während sich in Deutschland um jene Zeit soeben erst die Anfänge neuen Wirt­ schaftslebens zeigten, blühte dasjenige des geeinten Frankreichs unter Colberts genialer Leitung kräftig auf. Dieser große Minister Ludwigs XIV. wußte Handel und Industrie in bis dahin ungekannter Weise zu heben und die Finanzkraft des Königreichs zu stärken. Der holländische Zwischenhandel wurde beseitigt, überseeische Handelskompagnien entstanden und eine ansehnliche Kriegsmarine wuchs empor. Es ist, als habe man jetzt erst die beispiellos günstige Lage Frankreichs, das nach drei Seiten ans Meer grenzte, erkannt. Colberts Finanzver-

waltung stieß im Laufe der Zeit bei den großen Ausgaben, die die Armee und die Festungen verursachten, sowie infolge der zahlreichen Kriege, die sein König führte, auf stets wachsende Schwierigkeiten, doch ist es ihm, wenn auch nicht immer mit einwandfreien Mitteln, gelungen, bis zu seinem 1683 erfolgenden Tode das Gleichgewicht zwischen den Staatseinnahmen und -Ausgaben herzustellen. Erst nach ihm ist dieses verlorenge­ gangen. War die Blüte des Landes Colberts Werk, so hat die Gestaltung der Armee durch Louvois Ludwig XIV. das Macht­ mittel in die Hand gegeben, feine ehrgeizige Politik durchzu­ führen. Es entstand eine annähernd moderne Armee, die Eigentum des Königs war. Ein Mißstand in dieser blieb frei­ lich, daß viele Regimenter immer nur für einen Krieg zu­ sammengebracht und nachher aufgelöst wurden. Ihre Inhaber suchten sich daher während des Krieges durch Raub und Er­ pressung schadlos zu halten, um so mehr, als für diese Truppen der König nur einen unzulänglichen Sold zahlte. Wir finden im französischen Heere zahlreiche Fremdtruppen, Schweizer, Deutsche, Spanier, Italiener, Iren. Der Beibehalt von Ein­ richtungen, wie sie der Dreißigjährige Krieg geschaffen hatte, erklärt zum Teil die Zügellosigkeit, die sich die französischen Truppen im Kriege zuschulden kommen ließen zu Zeiten, wo in anderen Armeen sich bereits eine feste Zucht herausgebildet hatte. Die Größe des Machtfaktors, den Ludwig XIV. in seiner Armee besaß, erhellt, wenn man die Stärke seiner Armee, die 1678 nicht weniger als 280 000 Mann zählte, mit den Ziffern vergleicht, wie sie der Dreißigjährige Krieg gesehen hatte. In der großen Schlacht von Nördlingen 1634 fochten auf katho­ lischer Seite nur etwa 40 000 Mann gegen 24 000 Schweden und deutsche protestantische Hilfstruppen. Österreichs Heer betrug nach dem Spanischen Erbfolgekriege nicht mehr als 100 000 Mann. Es war daher nicht zu verwundern, daß Ludwig XIV. sich mit Hilfe einer für die damalige Zeit impo­ nierenden Machtentfaltung jedem europäischen Bündnis ge­ wachsen fühlte, um so mehr, da der König die Stimmung der Nation für sich hatte. In der Einheit von König, Volk und Armee lag die Überlegenheit Frankreichs über seine Gegner. In ihr ist der Vorsprung von 200 Jahren begründet, den unsere

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Die Politik Ludwigs XIV.

westlichen Nachbarn vor uns gehabt haben. Die einzige Macht im Deutschen Reiche, die dem Könige von Frankreich mit Erfolg hätte entgegentreten können, war Österreich. Dieses war da­ mals jedoch unter langwierigen, schweren Türkenkriegen erst im Aufstieg zur Großmacht durch Gewinnung Ungarns. Es konnte immer nur Bruchteile seiner Kriegsmacht an der West­ grenze des Reiches in Tätigkeit bringen. Diese Doppelrolle der Habsburgischen Monarchie muß stets in Betracht gezogen werden. Es ist ihr Verdienst, die Südostmarken Deutschlands für die europäische Kultur gerettet zu haben. Ihre Leistung im Westen mußte darunter naturgemäß leiden. Die Rührigkeit, die der Große Kurfürst in Brandenburg entfaltete, fehlte frei­ lich in Wien. Die reichen südostdeutschen Gebiete hätten sonst der auswärtigen Politik des Kaisers weit mehr Rückhalt geben können. Das Finanzelend aber war in Österreich chronisch. Beurteilung der Kriege Ludwigs XIV. Will man gerecht urteilen, so wird man einem selbst­ bewußten Alleinherrscher wie Ludwig XIV. es nicht verübeln können, wenn er wehrlosen Nachbarn gegenüber seine Macht brauchte, um die Ostgrenze seines Reiches, die zu Beginn seiner Regierung nur 6 bis 10 Tagemärsche von der Haupt­ stadt entfernt war, weiter hinauszuschieben. Solchem Be­ streben lag nicht bloße Willkür zugrunde. „Einsichtsvolle Zeit­ genossen sahen denn auch in Ludwig XIV. weniger einen Er­ oberer — und wer wollte ihn mit den großen Eroberern irgendeiner Epoche vergleichen —, er erschien ihnen mehr im Lichte eines Befehlshabers einer Festung, der, um diese zu behaupten und furchtbar zu machen, seine Angriffe nach allen Seiten über die Grenze derselben ausdehnt*)."

Diese Ausdehnung erfolgte zuerst unter Benutzung eines Krieges zwischen Holland und England durch einen Einbruch in die spanischen Niederlande, der Frankreich 1668 den Besitz von 12 flandrischen und Hennegauischen Städten brachte. Nach­ dem mitten im Frieden der mit Holland verbündete Herzog von Lothringen überfallen und seines Landes beraubt worden war, fiel der König 1672 in Holland ein. Durchstechung der *) Ranke, Französische Geschichte, III.

Deiche und die Einsetzung Wilhelms in. von Oranien in die Statthalterwürde retteten die Generalstaaten. Im weiteren Verlauf des Krieges sah sich Ludwig XIV. einem europäischen Bündnis gegenüber. Der Friede von Nymwegen 1678 und 1679 änderte an den französisch-niederländischen Grenzen nur wenig, doch gewann Frankreich von Spanien die Franche-Comtv, auch wurden ihm zehn elsässische Reichsstädte und Freiburg im Breisgau überlassen. Die Demütigung, die dieser Frieden dem Reich brachte, ist dann noch durch die „Reunionen" Überboten worden, die infolge willkürlicher Auslegung der Bestimmungen des Westfälischen Friedens von sogenannten Reunionskammern in Metz und Breisach formuliert und dementsprechend vorge­ nommen wurden. So wurden von 1680 ab das Elsaß mit Straßburg, Teile von Luxemburg und Casale in Oberitalien von den Franzosen besetzt. Diese unblutigen Eroberungen Frank­ reichs auf Kosten der schwachen Nachbarländer erhielten, da sich Österreich von den Türken bedroht sah, die Anerkennung von Kaiser und Reich zunächst für 20 Jahre. Allmählich erstarkte immerhin der Widerstand gegen die französische Übermacht. Ein neues europäisches Bündnis war im Entstehen. Ludwig XIV. suchte dem zuvorzukommen. Er forderte förmliche Anerkennung der Reunionen und erhob An­ sprüche auf Teile der Pfalz. Als er mit seinen Forderungen nicht durchdrang, fielen französische Armeen in die Rheinlande und in Süddeutschland ein. Die Thronumwälzung in England,' infolge deren Wilhelm III. von Oranien nunmehr die Macht Englands und Hollands in seiner Hand vereinigte, gab den Gegnern Frankreichs einen starken Rückhalt. Die Franzosen mußten die deutschen Gebiete räumen, wobei sie die Pfalz in barbarischer Weise verwüsteten. Der Friede von Ryswyk beendete 1697 diesen Krieg. Im ganzen wurde alles auf den Stand vom Nymwegener Frieden zurückgeführt. Die meisten vollzogenen Reunionen fielen wieder an Deutschland zurück, doch blieb Straßburg in französischem Besitz. Der Friede von Ryswyk bezeichnet die beginnende Abnahme der Kräfte Frankreichs.

Die Art, wie diese Eroberungspolitik Frankreichs betrieben wurde, war verwerflich; an sich freilich erscheint sie durch-

aus begreiflich. Die Gestalt des Landes kam ihr ent­ gegen. „Es ist zu Zeiten schwer zu entscheiden, wer hierbei den Anstoß gab, das französische Volk oder der König, so zur Zeit der Reunionen. Zu keiner Zeit ist der Kriegsminister Louvois populärer gewesen, sind seine Maßnahmen so sehr von der Allgemeinheit gebilligt worden wie damals*)." In diesem Sinne ist das Urteil zu ergänzen und einzuschränken, das Diet­ rich Schäfer fällt, indem er schreibt**): „Frankreichs innere wie äußere Politik ward unter Ludwig XIV. ausschließlich Politik des Königs. Er erntete allen Ruhm ihrer Erfolge; auf ihn allein fällt auch die Verantwortung für das Verderben, das aus ihr emporwuchs. Es ist bekannt, daß unter Ludwig XIV. die Verwaltung des französischen Staatswesens zu einer tech­ nischen Vollendung gelangte, die weder Richelieu noch Mazarin erreicht hatten. Auf allen Gebieten des damaligen Staats­ lebens wurde Glänzendes geleistet; es gab kaum eines, auf dem Frankreich, soweit Eingreifen des Staates in Frage kam, nicht alle anderen Länder überflügelt hätte. Frankreichs Diplo­ maten, seine Heerführer und Seehelden, seine Finanzmänner und Wirtschaftspolitiker wurden nirgends übertroffen, selten erreicht. . . . Und es ist keine Frage, daß der König selbst ihrer aller geistiges Haupt war, daß er nicht nur verstand, sie zu dulden, sondern auch, ihnen zu befehlen, ihre überlegene Sach­ kenntnis seinem Wollen unterzuordnen. Speziell die Diplo­ matie seines Staates hat er persönlich mit einer Kunst geleitet, die von nichts als von ihrer Gewissenlosigkeit übertroffen ward." Gewissenlosigkeit war es auch, daß Ludwig XIV., dessen Selbstgefühl mehr und mehr in Selbstvergötterung ausartete, die Kräfte seines Landes weiterhin stark überspannte. Zu Beginn des Streits um die spanische Erbschaft entsprachen seine Machtmittel bereits nicht mehr den Ansprüchen, die er erhob. Indem er seinem Enkel neben der spanischen Krone vertrags­ widrig auch das Erbrecht auf Frankreich vorbehielt, bekundete er, daß er die Vorherrschaft über Europa durch die Herrschaft der Bourbonen in Frankreich, Spanien und Italien erstrebte. *) Rousset, Histoire de Louvois, III. **) Weltgeschichte -er Neuzeit, I.

Auf feiten der gegen ihn verbündeten Mächte trat jetzt im Prin­ zen Eugen von Savoyen ein wahrhaft bedeutender Feldherr auf. Nächst ihm gebührt Marlboroughs Talent ein wesentlicher An­ teil an den Erfolgen der Verbündeten. Wenn trotz mehrerer verlorener Hauptschlachten und trotz steigender Erschöpfung seiner Finanzen Ludwig XIV. den Krieg noch Jahre hindurch defensiv fortführen konnte, so hat das seinen Grund in der damaligen Kriegsweise. Besitzergreifung verhältnismäßig be­ schränkter Gebietsteile, Belagerung und Entsatz von Festungen, nicht Niederwerfung des Feindes, nicht Ausnutzung des Sieges durch rücksichtslose Verfolgung ist es, was die Kriegführung jener Zeit kennzeichnet. In den Friedensschlüssen von Utrecht, Rastatt und Baden 1713 und 1714 erzielte Ludwig XIV. nach zwölfjährigem Kriege nur die Anerkennung der Herrschaft seines Enkels in Spanien, dessen Nebenlande zum größten Teil Österreich zufielen. Das Übergewicht Frankreichs auf dem europäischen Festlande war gebrochen. Neben dem Spanischen Erbsolgekriege ging der Zweite Nordische Krieg her, so daß ganz Europa in Waffen stand, ohne daß ein innerer Zusammenhang zwischen dem Streiten im Westen und dem Kampf Karls XII. gegen Rußland und PolenSachsen vorhanden gewesen wäre. Ein Zeichen für die Ver­ schiedenheit damaliger Verhältnisse und der heutigen. Im 17. und 18. Jahrhundert bestanden noch keine europäischen Inter­ essengemeinschaften, keine völlig wechselseitige Durchdringung der friedlichen und feindlichen Regungen und Bestrebungen der Völker. So ausgedehnt der Schauplatz des Spanischen Erbfolge­ krieges ist, indem er die Niederlande, Süd- und Westdeutsch­ land, Oberitalien, Spanien und die See umfaßt, so bleibt das Ganze doch gewissermaßen dem Raume und dem Ziele nach beschränkt. Erst die neuzeitlichen wirtschaftlichen und Verkehrs­ verhältnisse haben hierin einen Wandel hervorgebracht, sowohl im allgemeinen als auch hinsichtlich der Mittel der Kriegführung. Fühlbar ist dieser Wandel eigentlich zuerst im Weltkrieg ge­ worden. Noch der Krieg von 1870/71 ist auf einen Waffengang Deutschlands mit Frankreich beschränkt geblieben, freilich nur infolge der meisterhaften Politik Bismarcks, der die Neutralen fernzuhalten wußte, und der überwältigenden deutschen Siege. Das gleiche gilt für Bismarcks Politik und die preußischen

Waffenerfolge von 1866. Die sonstigen zwischen der Napo­ leonischen Epoche und dem Weltkriege liegenden Kriege zogen Mitteleuropa nicht eigentlich in ihren Bereich. Sie betrafen kein gesamteuropäisches Interesse, ließen sich daher auch leichter lokalisieren. Daß solches bei den vor dem Weltkriege bestehenden Bundesverhältniffen und Gegensätzen der Diplomatie immer schwerer werden mußte, lag auf der Hand und wurde allseitig gefühlt. Die dumpfe Stimmung, die schon lange vor 1914 über Europa lag, ist hierauf zurückzuführen. So ist es denn auch nicht gelungen, den österreichisch-serbischen Streit örtlich zu beschränken. Sieht man von diesen vom Zeitalter Ludwigs XIV. ver­ schiedenen Umständen ab, zeigt sich in den damaligen Kriegen doch auch wieder sehr viel Gleichartiges mit unserer Zeit. Die französische Revanchesucht allein hat den Weltkrieg nicht herbei­ geführt, aber sie ist eines der hauptsächlichsten Anlässe zu ihm gewesen. Die kriegerischen Triebe unserer westlichen Nachbarn haben zur Folge gehabt, daß wir niemals zu einem dauernd friedlichen Verhältnis zu ihnen gelangen konnten. Ranke hat das 1870 treffend zum Ausdruck gebracht, indem er Thiers auf dessen Frage, gegen wen die Deutschen denn eigentlich nach dem Sturze des Kaiserreichs noch Krieg führten, erwiderte: „Gegen Ludwig XIV." Man mag den Leistungen der Fran­ zosen in früheren Kriegen und im Weltkriege die höchste An­ erkennung zollen, mag mit Kjellön*) hinter den eitlen Motiven der auswärtigen Politik des heutigen Frankreich das Verlangen eines begabten Volkes sehen, der Welt seinen Stempel aufzu­ drücken, die Tatsache, daß eben durch dieses Volk, das sich so gern als Kulturvolk im eigentlichsten Sinne rühmen hört, die Welt immer wieder in Brand gesteckt worden ist, bleibt be­ stehen. Kurze Zeit nach seiner Thronbesteigung im Jahre 1515, so berichtet Martin Spahn**), habe König Franz I. von Frank­ reich von Claude de Seyssel, einem angesehenen Berater seines Vorgängers, eine Denkschrift erhalten, die den bezeichnenden Namen „Die Großmacht Frankreich" trug. Spahn fügt hinzu: „Das war schon die politische Sprache kommender Jahrhunderte. *) Die Großmächte der Gegenwart. Leipzig und Berlin 1916. **) A. o. O.

Deutsch von Koch.

2. Aufl.

Beinahe noch triebhaft stellte sich die französische Staatskunst vor der aller anderen Völker des Abendlandes auf die Bedin­ gungen der neuzeitlichen Großmachtpolitik ein. Die Bevölke­ rung kam den Bestrebungen ihrer Könige durch ihre Anlagen, das Land durch feine Gestalt entgegen." Die Kriege Lud­ wigs XIV. liefern den Beweis. Die französischen Staatsmänner von heute setzen nur die Politik des Sonnenkönigs und der ersten Republik fort, wenn sie die sogenannte natürliche Ostgrenze Frankreichs, den Rhein, erstreben. Die Betrachtung der Karte mag solches Streben auf den ersten Blick gerechtfertigt erscheinen lassen, geschichtlich läßt es sich nicht halten. Ganz abgesehen davon, daß sogenannte natürliche Grenzen überhaupt nur in den Köpfen der Menschen entstehen, haben Ströme stets mehr eine die Völker verbindende als trennende Rolle in der Geschichte gespielt. Die Völker ließen sich niemals abhalten, ihr Machtgebiet über Flüsse hin­ weg auszudehnen, wie denn auch die Kriegsgeschichte lehrt, daß Strombarrieren den Angreifer immer nur vorübergehend auf­ zuhalten vermocht haben. Soweit ferner bei den Franzosen die Erinnerung an das Frankreich Karls des Großen in ihrem Streben nach dem Rhein mitspricht, irrt bei ihnen das geschicht­ liche Urteil erst recht, denn auch das heutige Deutschland ist aus diesem Frankenreich entstanden. Vor allem aber richteten sich die Ausdehnungsbestrebungen Richelieus und Ludwigs XIV. nicht minder wie später diejenigen der Revolutionsregierung gegen kerndeutsche Lande. Daß diese den französischen Waffen zum Opfer fielen, lag an der Wehrlosigkeit des damaligen Deutschen Reiches. Diese Zeit enthält daher die denkbar ein­ dringlichste Mahnung für jedes Volk, das sich behaupten will, sich waffenstark zu machen. „Unter allen politischen Sünden," sagt Treitschke*), „ist die Schwäche die verwerflichste; sie ist die Sünde gegen den heiligen Geist der Politik. Es gibt im Privat­ leben entschuldbare Schwächen des Gemüts. Davon kann im Staate keine Rede fein; er ist Macht, und wenn er dies, sein Wesen, verleugnet, so kann man ihn gar nicht scharf genug ver­ urteilen." *) Politik, L, 8 3.

Es hat sich bitter gestraft, daß solches bei uns im Spätherbst 1918 verkannt wurde. Wir haben uns ohne Not in eine Lage versetzt, die weit übler war als diejenige des alten Deutschland gegenüber Ludwig XIV. Unsere Altvorderen litten unter staat­ licher Zersplitterung. Sie waren nur dem Namen nach, nicht wirklich in einem Reiche zusammengefaßt. Sie litten staatlich und wirtschaftlich noch schwer unter den Nachwehen des Dreißig­ jährigen Krieges. Uns hatte der Weltkrieg zwar arg zugesetzt, unseren Feinden jedoch ebenfalls. Noch besaßen wir, während zur Zeit unserer Väter der Rhein durch eine Anzahl zusammen­ hangsloser Kontingente unzureichend geschützt war, nach Ein­ tritt des Waffenstillstandes ein Heer von mehr als 3 Millionen Streitern, das zwar schwere Rückschläge erlitten, nicht aber eigentlich besiegt war, das bei dem schwierigen Rückmarsch nach dem Rhein seine Ordnung und Kampfkraft wiedergewonnen hatte. Dieses Machtmittel, das uns zwar nach Lage der Dinge nicht einen demütigenden Frieden, wohl aber einen solchen nach Art des in Versailles uns auferlegten erspart haben würde, gab die deutsche Regierung freiwillig aus der Hand. Der Waffenstillstand sah lediglich die Räumung der besetzten Ge­ biete und des linken Rheinufers vor, sowie starke Abgaben an Kriegsmaterial. Am 19. November aber wurden bereits Grundsätze für die Überführung des Heeres aus dem Kriegs­ stand in den Friedensstand ausgegeben, am 31. Dezember von der Reichsregierung die Demobilmachung des gesamten Heeres und der Marine verfügt. Diese Selbstentwaffnung gab uns der Willkür unserer Feinde völlig preis, sie hat diejenigen Stimmen bei unseren Gegnern, die vielleicht zur Mäßigkeit geneigt gemacht werden konnten, verstummen lassen. Im sicheren Besitz des neuen Reiches vermochte der Deutsche nicht anders als mit dem Gefühl aufrichtiger Dankbarkeit dafür, daß die Wiederkehr ähnlicher Vergewaltigungen wie sie von Ludwig XIV. ausgingen, für immer unmöglich schien, der alten Zeiten gedenken. Niemand konnte ahnen, daß uns am Schluß eines Krieges, den wir gegen eine Welt mehr als vier Jahre bestanden hatten, eine Schmach widerfahren wrrde, die weit größer war als die unseren Ahnen gebotene. Das Verhalten der Beauftragten des Königs von Frankreich von einst erinnert in mehr als einer Hinsicht an das der Franzosen ton heute. Die

Willkür der nach dem Nymwegener Frieden eingesetzten Reunionskammern gemahnt stark an vieles, das uns neuer­ dings nicht nur im Westen, sondern auch von den Polen im Osten geboten worden ist. In allen diesen Dingen ist das deutsche Volk das Opfer doktrinärer Anschauungen geworden, einer Ideo­ logie, die aus der Geschichte nicht gelernt hat, wie die Dinge wirk­ lich lagen, die, in pazifistischen Wahngebilden befangen, nicht sehen wollte, daß die Menschheit als solche sich im Laufe der Jahrhunderte nicht geändert hat, daß die Verbreitung der Zivilisation nicht gleichbedeutend ist mit solcher der inneren Kultur der Völker. Und doch hätte die bereits lange vor dem Kriege einsetzende und während dieses in steigendem Maße fort­ gesetzte Haßpropaganda unserer Feinde uns ein deutliches Warnungszeichen fein müssen. Es war ein durch nichts zu rechtfertigendes Unterfangen, durch einseitige Abrüstung den Versuch zu machen, haßerfüllte, waffenstarrende Gegner ver­ söhnlich stimmen zu wollen. Es war in der Tat „die Sünde gegen den heiligen Geist der Politik" in stärkstem Maße, die hier begangen wurde. Selbst wer die Hoffnung hegte, daß dieser furchtbare Krieg mit seinen Folgen die Völker lehren würde, in Zukunft Kriege zu verineiden, durfte, wie die Dinge für uns Ende 1918 lagen, nimmermehr die Hand dazu bieten, das deutsche Volk wehrlos zu machen. Die französische und englische Sozialdemokratie hat erst die deutsche daran erinnern müssen, daß jedes Volk seine eigene Kulturmission zu erfüllen hat, und daß wahrhaft Kosmopolitisches eben in wahrhaft Nationalem seinen Grund hat, daß national gefestigte Art allem voranstehen muß. Was es heißt, wenn der Staat nicht mehr Macht ist, haben wir genugsam an unserer zeitweiligen Hilf­ losigkeit, die Ordnung bei uns im Innern herzustellen, erfahren. Es ist eines jener verhängnisvollen Schlagwörter unserer Zeit, daß die Macht immer im Gegensatz zum Recht gestellt wird. Daß, wo die Macht fehlt, außen und innen stets nur Unrecht geschieht, haben wir, so scheint es, neuerdings genugsam er­ fahren. Die Macht als solche wird immer mit dem Mißbrauch der Macht verwechselt. Der Staat aber, der sie nicht besitzt, ist eine Gefahr für sich selbst, ein Spielball mächtiger Nachbarn, das war zu Ludwigs XIV. Zeiten nicht anders wie heute.

Unter Ludwig XIV. war Süddeutschland vollkommen fran­ zösische Einflußsphäre, wie später in noch weit stärkerem Maße zeitweilig der Rheinbund Napoleons. Auch hier machte die Staatskunst Clemenceaus und seiner Genossen Versuche, diesem Monarchen zu folgen. Dieser Einfluß ging für das alte könig­ liche Frankreich mit dem Spanischen Erbfolgekriege verloren. Der ausgreifenden Politik Frankreichs war ein Ziel gesetzt, bis später die Revolution und erst recht Napoleon sie wieder auf­ nahmen. Für die letzten hundert Jahre des alten französischen Königtums und die spätere Zeit gelten die Worte Spahns*): „Die französische Bevölkerung ließ sich für die Machtzwecke des Staats in Augenblicken der Erregung aufs äußerste anspannen, aber diese war nicht von großer Ausdauer. Ihrer gelegent­ lichen Entflammung bis zu unvergleichlichen Leistungen folgten tiefe und nur zögernd wieder weichende Erschöpfungszustände." So ist denn auch nach dem ungeheuren kriegerischen Aufschwung unter Napoleon eine lange Periode der Erschöpfung eingetreten. Erst nach der nationalen Demütigung von 1870/71 haben sich die Gemüter am Revanchegedanken wieder entzündet. Gleich­ wohl traten zu Anfang des Weltkrieges Zeichen der Schwäche bei der französischen Regierung hervor; auch das Heer war nicht allen Aufgaben gewachsen. Erst nach dem „Wunder der Marne" sind die Franzosen uns zu jenen zähen, opferbereiten Gegnern geworden, als die wir sie vier Jahre hindurch achten lernten. Wie in allen europäischen Ländern wird auf den Weltkrieg auch in Frankreich eine Zeit der Ermattung folgen, ja dort nach ungeheuren Menschenverlusten und bei wirtschaft­ lichen Schwierigkeiten, die den unsrigen kaum nachstehen, in er­ höhtem Maße. Die Ansprüche, die Frankreich erhebt, befinden sich jedenfalls nicht im Einklang mit seiner wirklichen Kraft. Tritt dazu die bezeichnete Wellenbewegung im französischen Emp­ finden, so ist zu erwarten, daß die Nation, wenn erst die Aus­ peitschung der Leidenschaften gegenstandslos geworden ist, in einen jener Erschlaffungszustände verfällt, die sie auf einige Generationen ungefährlich macht. Für die Deutschen aber möge in dieser Zeit ihrer Demütigung gelten, was Spahn von ihnen sagt*), daß auch in den Zeiten ihres ärgsten polittschen *) 21.’ a. O.

Niederganges ihnen das Gefühl, daß sie im Grunde die stärkste Nation Europas seien, niemals ganz abhanden gekommen sei. Auch aus dem Zeitalter Ludwigs XIV. vermögen wir Deutschen von heute, wie gezeigt wurde, viel zu lernen. Bei aller Verschiedenheit der Verhältnisse von damals konnten und durften unsere leitenden Männer, wenn sie klare Anschauungen über die Lage unseres Vaterlandes zu Ende des 17. Jahr­ hunderts und über den Charakter des französischen Volkes be­ sessen hätten, niemals auf die Wege verfallen, die sie seit dem November 1918 tatsächlich gegangen sind.

4. Englands Aufstieg zur seebeherrschenden Wellmacht. Bis zum Ausgang -es 18. Jahrhunderts.

Der im Mittelalter unternommene Versuch der englischen Herrscher, auf dem französischen Festlande Fuß zu fassen, mußte im 15. Jahrhundert aufgegeben werden. Auch Calais, das über 200 Jahre von den Engländern behauptet wurde, ging ihnen 1558 verloren. Bis dahin nahmen in der Geschichte Englands neben den Kämpfen auf französischem Boden innere Zwistig­ keiten einen breiten Raum ein. Die englische Geschichte ist mit die blutigste des mittelalterlichen Europas. Die im 12. Jahr­ hundert begonnene Unterwerfung Irlands trug dieses Kenn­ zeichen in besonderem Maße. Sie hat mehrfach von neuem, zuletzt von Wilhelm. HI. 1690, unternommen werden müssen. Erst die Entdeckung Amerikas brachte die günstige atlantische Lage Englands zur Geltung. Bis dahin war der Sinn seiner Bevölkerung für das Meer nicht rege. Seine wirtschaftliche Grundlage bildete wie in anderen Ländern Europas die Land­ wirtschaft. Bis weit in das 16. Jahrhundert hinein beherrschte die deutsche Hansa den englischen Handel durchaus. „Die Ent­ deckung Amerikas verwandelte England mit einem Schlage aueinem peripherischen, europäischen Staat in einen zentralen, planetarischen, wenn auch die Wirkungen erst allmählich zutage treten.. . ." Jetzt erwies sich, daß „die starke Küstenentwicklung mit ihrem großen Reichtum an Häfen für ein Seemannsvolk wie geschaffen war. Alle großen Ströme, des Kontinents von

der Seine bis zur Elbe zeigen hierher. England ist also mit Europa innig verbunden. Es ist des Erdteils natürlicher Bahn­ brecher auf dem Meere.. . . Rein insular in seiner Gestaltung, ist England in seiner allgemeinen Lage ein Übergang zwischen Europa und dem Atlantischen Ozean." Fast ein Jahrhundert nach der Entdeckung Amerikas „schuf der Sieg über die spanische Armada im Jahre 1588 den Willen zur Großmacht und ver­ lieh der Nation maritime Ideale*)." Unter Elisabeth wurde der Grund zur englischen Kolonisation Nordamerikas gelegt und die Ostindische Kompanie errichtet. Der frühzeitig er­ wachende wirtschaftliche Instinkt begann die Industrialisierung des Landes herbeizuführen.

Die Revolution um die Mitte des 17. Jahrhunderts hat diese einmal in Gang befindlichen Bestrebungen nicht unter­ brochen, sie kaum gehemmt. Obwohl England damals den Niederländern noch sowohl an finanzieller Leistungsfähigkeit als an Stärke der Handelsmarine nachstand, machte ihnen gegenüber doch bereits Cromwell seinen Willen geltend, wie es in der Navigationsakte von 1651 zum Ausdruck kam, derzufolge fremde Schiffe keine andern Waren als im eigenen Lande er­ zeugte nach England einführen durften. Der holländische Zwischenhandel wurde dadurch auf das schwerste getroffen. England fühlte sich bereits stark genug, es darüber auf einen Seekrieg ankommen zu lassen, den es nach anfänglichen Miß­ erfolgen und vorübergehender Gefährdung der Heimat erfolg­ reich beendete. Auch mit Spanien scheute man den Kampf nicht, in der Ostsee betätigte sich die englische Seemacht neben der holländischen gegen Karl X. Gustav von Schweden. Noch vor Ende des 17. Jahrhunderts sah sich Holland auf den Meeren von England überflügelt. Aus der zeitweiligen Vereinigung beider Länder unter Wilhelm III. von Oranien zog England den Hauptgewinn. Der Mittelpunkt des Welthandels verschob sich mehr und mehr von Amsterdam nach London. Unter der Königin Anna erfolgte 1707 die völlige Vereinigung mit Schott­ land. „Seitdem ist England in seinem Heim der natürlichste Staat der Welt. Es gibt keine bessere Grenze als das Meer, das vor allen unmittelbaren Reibungen schützt, von allen for*) Kjellen, Die Großmächte.

mellen Grenzstreitigkeiten befreit und im Kriegsfall einen wesentlichen Teil der Verteidigung übernimmt. Die Jnsellage hat daher England mit dem Kampf um die Grenze verschont, der im Laufe der Geschichte die Kontinentalmächte soviel Kraft gekostet hat. Dies bedeutet für das englische Volk eine unge­ heure Kraftersparnis, die der Machtentwicklung an anderen Punkten zugute kam. . . . Das Meer mit seiner unbegrenzten Perspektive hat wohl auch auf dem Wege der geheimnisvollen Suggestionen von vornherein den Eroberungsinstinkt in der Seele des Jnselvolks entzündet, während er gleichzeitig bequeme Wege zu dessen Befriedigung darbot*)." So ist es im Laufe dreier Jahrhundert dahin gekommen, daß ein Netz englischer Kolonien den Erdball umspann. „Die Geschichte der englischen Kolonialpolitik," schreibt Carl Peters**), „trägt in hohem Maße den Stempel des Urwüch­ sigen, unbewußt Emporgewachsenen. ,Wir scheinen in einem Anfall von Geistesabwesenheit die halbe Welt erobert und be­ völkert zu haben/ sagt Seeley in seinem Buch ,Expansion of England1. Auf der anderen Seite freilich war Ausdehnung des Kolonialbesitzes und Erwerb neuer Länder doch fortdauernd seit den Tagen Elisabeths eines der Ziele englischer Politik. Wenn der Staat auch weit davon entfernt war, bewußt eine Weltmachtpolitik im theoretischen Sinne zu treiben, so galt doch die Angliederung neuer Gebiete jenseits der Meere stets als ein wesentliches Mittel für Ausdehnung des Handels und Steige­ rung der nationalen Macht." Nimmt man hinzu, daß neben diesen kolonisatorischen Bestrebungen solche nach Beherrschung der europäischen Binnenmeere hergingen, sei es durch Verbrei­ tung britischen Einflusses wie in Dänemark, Norwegen und Schweden, sei es durch Gewinnung fester Stützpunkte wie im Mittelmeer, so bildet das Ganze das großartigste Bild des Wachstums staatlicher Macht, das die Geschichte kennt. Die Gunst der geographischen Lage und der Verhältnisse, entgegen­ kommende Eigenschaften des Volkes und Geschick seiner führen­ den Klassen haben hierbei in glücklichster Weise zusammen­ gewirkt. Gleichwohl hat sich das Zustandekommen dieses Welt*) Mjellen, a. a. O. **) England und die Engländer.

6. Auflage.

Frehtag-Loringhoven, Angewandte Geschichte

Hamburg 1919.

reichs nicht ohne heftige Gegenwirkung und Überwindung mannigfacher Schwierigkeiten vollzogen. Sie kurz zu betrachten, erfordert der Zweck dieser Studien, denn das Verständnis für die Lebensbedingungen des englischen Imperiums und seiner Bewohner ist eine wesentliche Vorbedingung für das Verständ­ nis der Gegenwart*). In der Verfolgung seiner maritimen Ziele stieß England gegen Ende des 17. Jahrhunderts auf den Widerstand der mehr und mehr erstarkenden französischen Seemacht. Colbert**) leistete auch auf diesem Gebiet Großartiges. Bei seinem Ein­ tritt in die Verwaltung hatte er nur 30 Kriegsfahrzeuge vor­ gefunden, darunter nur drei ersten Ranges. Im Jahre 1683 waren 32 Linienschiffe in See; mit Einschluß der noch im Bau begriffenen zählte Frankreich im ganzen 267 Kriegsfahrzeuge. Es wuchs unter Ludwig XIV. zur ersten Seemacht der Welt mit 100 Linienschiffen heran, denen England nur 60 gegenüber­ stellen konnte. Die französischen Werften übertrafen damals die englischen weitaus an Leistungsfähigkeit. „Der Unterschied zwischen den beiden Marinen war noch größer in der Beschaffen­ heit als in der Zahl der Schiffe. In England waren die Dinge dem Zufall überlassen, in Frankreich herrschten Ordnung, Strenge und ein alles umfassender Gedanke . . . Eben diese Verbindung von Applikation und Energie mit den vorhandenen gewaltigen Kräften der ererbten und erworbenen Weltstellung war es, was dem französischen Reiche seine Bedeutung und sein Selbstgefühl verlieh***)." Die wachsende Übermacht Frank­ reichs, insbesondere seiner Marine, ließ in England die Neben­ buhlerschaft gegen Holland zurücktreten. Unter kräftiger För­ derung durch Wilhelm von Oranien haben seit dem dritten Angriffskriege Ludwigs XIV. die Streitkräfte beider Mächte gemeinsam Frankreich bekämpft. Zu Beginn des Spanischen Erbfolgekrieges war das Übergewicht ihrer vereinigten Flotten bereits unbestritten. Der Niedergang der französischen See­ macht trat unverkennbar hervor. Nur die Kaperei wurde von *) Das folgende zum Teil in Anlehnung an meine Schriften «Krieg und Politik in der Neuzeit', Berlin 1911, und «Politik und Kriegführung', Berlin 1918. **) Bgl. S. 30. ***) Ranke, a. a. O. IV.

den Franzosen mit Geschick betrieben. England fiel in diesem Kriege reicher Gewinn zu. Es sicherte sich dauernden Einfluß in Portugal. Seine Flotte führte den habsburgischen Kron­ prätendenten mit englischen Truppen nach Spanien, es gewann Gibraltar und besetzte Menorca. Damit sicherte sich England die Vorherrschaft im Mittelmeer. Ihm fielen ferner ansehn­ liche Teile des französischen Kolonialbesitzes in Nordamerika zu. Der Utrechter Frieden beließ England seine Erwerbungen. Hol­ lands Seemacht trat gegen die englische durchaus zurück.

Dieser erste große Schritt zur Vorherrschaft auf den Meeren ist England dadurch erleichtert worden, daß der Eifer der französischen Nation für die Kriegsmarine seit Colberts Tode nachließ. Ludwig XIV. hat von seiner starken Seemacht bereits in seinem dritten Kriege keinen entsprechenden Gebrauch ge­ macht, während er im Landkriege die Nation hinter sich hatte. Die hohe Entwicklung der Industrie und des Handels Frank­ reichs war durch seine geographische Lage in hohem Maße be­ günstigt worden. Es hatte Teil am Kanal, war zugleich atlan­ tische und Mittelmeermacht. Den Vorteil dieser Weltlage zu behaupten und gleichzeitig kontinentale Eroberungspolitik zu treiben, dazu reichte die Kraft des Landes, dessen wirtschaftliche Blüte ohnehin durch die fortgesetzten Kriege und die Verschwen­ dung des Königs zurückging, nicht aus. Mahan sagt mit Recht*): „Die sorgfältig gepflegte Vereinigung des Handels und der Kriegsmarine war es, die England diese Übermacht zur See weit über alle Staaten gewinnen ließ, und dieser Ge­ winn ist untrennbar mit den Ereignissen des Spanischen Erb­ folgekrieges verbunden. Vor diesem Kriege war England eine der Seemächte, nach ihm war es die Seemacht ohne eine zweite neben sich." Diesen Vorteil errang ein Volk von 8 Millionen, das sich unmittelbar auf die See angewiesen sah, über ein solches von 19 Millionen, die das damalige Frankreich zählte, weil dieses neben seinen maritimen und kolonialen Aufgaben auch kontinentale zu lösen hatte. Ludwigs XIV. Politik ist, zumal in ihren späteren Auswüchsen, gewiß unheilvoll für Frankreich

*) Der Einfluß der Seemacht auf die Geschichte. Deutsche Ausgabe. 2. Aufl. Berlin 1898. I. »

gewesen, seinem Volke aber, sozusagen, gewaltsam den Weg auf die See zu weisen, wäre ihm nicht möglich gewesen, selbst wenn er es gewollt hätte. Darüber ist das Gleichgewicht zur See zugunsten von Englands Alleinherrschaft verlorengegangen. England aber hat nicht gesäumt, diese Lage auszunutzen.

Sein Streben, das im Spanischen Erbfolgekriege ge­ wonnene Übergewicht zur See zur Bekämpfung oder doch im Protest gegen maritime oder koloniale Pläne anderer Mächte zur Geltung zu bringen, trat deutlich hervor. Der Versuch Spaniens, seine im Kriege verlorengegangenen italienischen Nebenlande zurückzugewinnen, bot den willkommenen Anlaß, dessen Flotte 1718 am Kap Passaro zu vernichten. Eine von Kaiser Karl VI. in den neugewonnenen, früher spanischen Nieder­ landen gegründete Handelskompanie in Ostende mußte nach wenigen Jahren infolge des von England geübten Druckes auf­ gegeben werden. Auf dem Kontinent aber bestrebte sich Eng­ land, dem Gedanken des europäischen Gleichgewichts, dem Wil­ helm III. im Kampfe gegen Ludwig XIV. sein Leben gewidmet hatte, dauernd Geltung zu schaffen. Durch eine überragende kontinentale Macht sah es seine maritimen und kolonialen An­ gelegenheiten gefährdet*). So erklärte England 1739 Spanien den Krieg, weil dieses nicht gewillt war, auf die Durchsuchung englischer Schiffe, als auf eine Schutzmaßregel gegen den Schmuggel, in den Gewässern seiner Kolonien zu verzichten. Eine lange Reihe von Handelszwistigkeiten war dieser Kriegs­ erklärung voraufgegangen, die nichts als einen neuen Anspruch Englands auf die Oberherrschaft zur See darstellte. Jener Zeit entstammt das stolze Lied „Rule Britannia, rule the waves“. Es ist bezeichnend, daß der Krieg von der Nation gegen die Ansicht des friedfertigen Ministers Walpole geradezu ertrotzt wurde. Da Spanien in dem 1740 ausbrechenden österreichischen Erbfolgekriege gegen Österreich Partei ergriff, trat England auf die Seite Maria Theresias. Englische Truppen und deutsche Kontingente im englischen Solde griffen zu Lande in den Krieg ein, zur See aber sah sich England den verbündeten Flotten Frankreichs und Spaniens gegenüber. Diese blieben selbst vereint den 90 Linienschiffen der Eng*) Schäfer, Weltgeschichte der Neuzeit. I.

Willkür Englands zur See.

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länder unterlegen. Auch die englische Seemacht war jedoch unter Walpoles Regierung vernachlässigt worden. Es fehlte ihr namentlich infolge starker Anforderungen der Kauffahrtei­ fahrt an Bemannungen. Die zahlreichen englischen Seeleute waren zu Beginn des Krieges über die ganze Welt zerstreut*). Weder die Machtenfaltung noch das "Geschick der Führung standen auf englischer Seite besonders hoch. In der ersten größeren Seeschlacht vor Toulon 1744 behauptete das fran­ zösisch-spanische Geschwader die Oberhand. In Nordamerika erzielte England einigen Gewinn, den es jedoch im Aachener Frieden von 1748 gegen Eroberungen der Franzosen in Ost­ indien wieder herausgab. Die Verluste der Franzosen und Spanier an 3400 Handelsfahrzeugen übertrafen die englischen nicht wesentlich, der englische Handel litt bedeutend. Georgs II. kontinentale Politik, die von den Interessen seines Kurfürsten­ tums Hannover beeinflußt war, brachte ihn in Zwist mit seinen Ministern. Die Seekriegführung hatte unter diesen Verhält­ nissen zu leiden.

Eine Reihe strittiger Punkte auf kolonialem Gebiet waren im Aachener Friedensschluß unerledigt geblieben. In Ostindien gaben die Franzosen infolge der Schwäche ihrer Kriegsflotte nach, in Kanada aber besaßen sie eine stärkere Stellung und eine Kolonie, die. große Aussichten bot. Nach ihr begehrte nicht die englische Regierung, sondern ihre amerikanischen Kolonisten. Zwischen diesen und den französischen Ansiedlern in Kanada begann sich 1755 ein Grenzkrieg zu entwickeln, der die Mutter­ länder in seinen Bereich zog und, indem er nach Europa über­ sprang, mittelbar den Anstoß zum Siebenjährigen Kriege gab. Erfolgreiche Kreuzerfahrten der englischen Flotte an der atlan­ tischen Küste Frankreichs brachten, bevor noch der Krieg erklärt war, bereits im Laufe des einen Jahres 1755 gegen 300 Han­ delsschiffe auf. In England wurden 6000 französische Seeleute, annähernd die Bemannung von 10 Linienschiffen, festgehalten. Frankreich hatte zwar auf die ersten feindlichen Schritte Eng­ lands die diplomatischen Beziehungen abgebrochen, den Krieg jedoch nicht erklärt. Unter dem Schein einer Bedrohung Eng­ lands durch eine Landung glückte es ihm, im Mittelmeer einen *) Mahan,

g.

a. O. I.

Schlag gegen Menorca zu führen und eine englische Entsatz­ flotte zurückzuschlagen. Erst kurz vorher war von beiden Seiten der Krieg erklärt worden. In Kanada gelang es den Eng­ ländern, bis 1760 entscheidende Fortschritte zu machen. Auf den europäischen Meeren befolgten die Franzosen mit ihren nur 83 Linienschiffen gegen 133 der Engländer eine rein defensive Taktik. Auch in Westindien, an der Westküste von Afrika und in Ostindien hatte England das Übergewicht. Die Begründung seiner Herrschaft in Ostindien unter Clive fällt in diese Zeit. Der Krieg hat Frankreich schweren materiellen Schaden gebracht. Bei seiner unbestrittenen Seeherrschaft achtete Eng­ land auch die neutrale Flagge nicht. Im Jahre 1758 fielen 176 neutrale Schiffe, die Erzeugnisse französischer Kolonien oder Armeebedarf führten, in englische Hand. „Der Besitz einer unbeschränkten Macht, wie es die Seegewalt Englands damals tatsächlich war, ist selten von einer tiefen Achtung für die Rechte anderer begleitet*)." Auch dem englischen Handel haben die französischen Freibeuter großen Schaden zugefügt, nichtsdestoweniger nahm er zu. Im Jahre 1760 sollen die Engländer nicht weniger als 6000 Segel auf See gehabt haben*). Spanien, das verspätet für Frankreich Partei ergriff, wurde in den Ruin der französischen Marine mit hineingezogen. Im Pariser Frieden von 1763 gab England einige Eroberungen in Ostindien und Westindien heraus, gelangte aber in den sicheren Besitz eines Kolonialreiches, das Kanada und fast das ganze Gebiet der heutigen Vereinigten Staaten östlich des Mississippi umfaßte. Gleichwohl fand der Friede, den das Ministerium Bute mit Rücksicht auf die 122 Millionen Pfund Sterling betragende Staatsschuld abschließen zu müssen ge­ glaubt hatte, nicht die Billigung der öffentlichen Meinung. Auch Pitt, dem die kraftvolle Führung des Krieges vor allem zu danken war, hat es damals bedauert, daß Frankreich die Möglichkeit belassen wurde, sich als See- und Handelsmacht allmählich wieder zu kräftigen und aufs neue zu einem gefähr­ lichen Gegner zu werden. Alexander von Peez äußert in seiner bekannten Schrift „England und der Kontinent"**): „Die englische Politik steht *) Mahan, a. a. O. I. **) Wien und Leipzig 1909.

Englische Politik jenseits von Tut und Böse.

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seit Jahrhunderten jenseits von Gut und Böse und hat den Charakter einer im Ziele nie schwankenden, nur in den Mitteln wechselnden Naturmacht angenommen. Wer ihr entgegentritt, sei es unschuldig oder schuldig, schön oder häßlich, vornehm oder gemein, Kind oder Kämpfer, Arier oder Semit, Christ oder Muselman, er wird, wenn möglich, zermalmt. . . . Die Be­ freiung von den Schlacken der Doktrin und der Leidenschaft ist ein mächtiges Mittel, um die Staatskraft Großbritanniens von Erfolg zu Erfolg zu führen, sie zeigt aber auch uns den Weg und gestattet, ohne Trübung der persönlichen Beziehungen, beiden Teilen eine kühle Betrachtung der Verhältnisse. . . . Wir verdanken dem Gegner die Loslösung von kleinlichen Anschauungen. Wir verdanken ihm aber auch ein zweites: die Befreiung von Sentimentalitäten." Diese Zeilen, die aus An­ laß der bosnischen Krise von 1909, vorwiegend mit Bezug auf das Verhältnis Englands zu Österreich-Ungarn geschrieben wurden, kennzeichnen die englische Politik, wie sie sich im Laufe der Geschichte gezeigt hat, auf das schärfste. In ihnen drückt sich aus, in wie hohem Grade wir aus der Geschichte zu lernen vermögen. Daß wir Deutsche es in bezug auf England nicht getan haben, war unser Fehler und unser Unglück. Die den Engländern eigene „kühle Betrachtung der Verhältnisse", die „Befreiung von Sentimentalitäten und den Schlacken der Dok­ trin", „die Loslösung von kleinlichen Anschauungen" ist uns jedenfalls nicht gelungen. Die vorstehend gegebene Skizze des Aufstrebens Englands läßt das Zutreffende des von Peez hinsichtlich der englischen Politik gebrauchten Bildes von der „nie schwankenden, nur in den Mitteln wechselnden Naturmacht" vollauf erkennen. Diese Tendenzen der englischen Politik sind bei uns vor dem Welt­ kriege in ihrer Tragweite nicht richtig gewürdigt worden. In ihrem Verfolg hat England stets jede fremde Mitbewerberschaft auf dem Meere zu beseitigen und das Aufkommen einer über­ ragenden Macht auf dem Kontinent durch Festhalten an dem Grundsatz des europäischen Gleichgewichts zu hindern gesucht. Es heißt zu weit gehen, wenn man es der geflissentlichen Auf­ reizung der Festlandmächte gegeneinander beschuldigt, es hat nur die vorhandenen Gegensätze zu seinem Vorteil geschickt aus­ zunutzen verstanden. Nicht minder sind ihm die sich zur See

bietenden Möglichkeiten für seine Machterweiterung zugute gekommen. Das Bild von der „nie schwankenden Natur­ macht" bedarf insofern einer Einschränkung, als es, wenn auch für die großen Richtlinien der englischen Politik durch­ aus zutreffend, zeitweilig arg verdunkelt erscheint, denn diese Politik hat doch öfter Momente bedenklicher Schwäche gehabt. Es war der Fehler der Gegner, daß sie diese nicht zu nutzen wußten.

Das 18. Jahrhundert sollte nicht zu Ende gehen, ohne daß solche Momente der Schwäche in England hervortraten und ihm durch die Lostrennung seiner nordamerikanischen Kolonien den ersten empfindlichen überseeischen Verlust brachten. Die Zerfahrenheit der englischen inneren und äußeren Politik nach dem Frieden von Versailles kam in einem häufigen Wechsel der Ministerien zum Ausdruck. 1766 übernahm Pitt nochmals die Leitung, doch vermochte er sich nur zwei Jahre zu behaupten. „Die Stimmung während des amerikanischen Unabhängigkeits­ krieges blieb geteilt, und der Krieg wurde schwächlicher geführt als je einer seit dem Sturze der Stuarts*)." Die Losreißung der nordamerikanischen Kolonien in einem sechsjährigen Kampfe wurde England weniger durch ihren Verlust an sich gefährlich, als durch die Teilnahme Frankreichs und Englands für die Auf­ ständischen. Das englische Übergewicht zur See schien vorüber­ gehend noch einmal ernstlich gefährdet. Frankreichs Unter­ stützung der Kolonien nahm denn auch nicht die Wieder­ erwerbung von Kanada zum Ziel, sondern die Brechung der rücksichtslos von England geübten Tyrannei auf dem Meere. Die Anerkennung der Unabhängigkeit der Kolonien durch Frankreich 1778 und das Bündnis mit ihnen ist zwar wesent­ lich beeinflußt worden durch die Aufklärungsphilosophie, deren Triumph man in der nordamerikanischen Verfassung sah. Der Schritt erfolgte aber doch vor allem in der klaren Erkenntnis, daß sich hier eine Gelegenheit bot, Verlegenheiten Englands auszunutzen. Finanziell war das damalige Frankreich allerdings schlecht für einen Krieg vorbereitet, militärisch aber war seine Lage insofern günstiger, als unter Ludwig XIV. und während des *) Schäfer, a. a. O. 1L

Der amerikanische Unabhängigkeitskrieg.

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Siebenjährigen Krieges, als es nicht zugleich mit dem Kampfe zur See einen solchen auf dem Festlande zu führen hatte. Für die französische Marine hatte Choiseul viel getan, mit Spanien war ein engeres Bündnis hergestellt, in Korsika ein Stützpunkt im Mittelmeer gewonnen worden. Choiseuls Politik wurde auch nach seinem 1770 erfolgten Rücktritt fortgesetzt. Frei­ willige Gaben förderten den Wiederaufbau der Flotte, die bei Ausbruch des Krieges 1778 80 Linienschiffe zählte und über 67 000 Seeleute der „inscription maritime“ verfügte Spanien brachte einen Zuwachs von 60 Linienschiffen. Da England 220 Kriegsfahrzeuge aller Art, darunter 150 Linienschiffe, befaß, war sein Kräfteüberschuß nicht überwältigend, zumal seine Marine nicht in einer Bereitschaft gehalten worden war, die den sofortigen Einsatz der gesamten Macht ermöglichte. Solche Bereithaltung starker Flottenteile, wie sie uns geläufig ist, kannte jene Zeit überhaupt noch nicht. Sodann beanspruchte die Vereinigung größerer Geschwader aus verschiedenen Häfen und Flottenstützpunkten bei der Segelschiffahrt stets erhebliche Zeit. So haben denn auch in der ersten Seeschlacht dieses Krieges, der von Queffant vor Brest, nicht mehr als 30 eng­ lische Linienschiffe gegen die gleiche Zahl französischer gefochten, ohne den Sieg erringen zu können. Beide Parteien begingen weiterhin den Fehler, ihre Kräfte auf allen Meeren zu zer­ splittern. Frankreich versäumte darüber die Gelegenheit eines Angriffs auf die ungenügend geschützten britischen Inseln. Zwar hatte der französische Admiral Sufsren in Ostindien bedeutende Erfolge zu verzeichnen, im ganzen aber zeigte sich die englische Marine doch wiederum seetaktifch überlegen. Die Nichtachtung, die England der neutralen Flagge bezeigte, führte 1780 auf Betreiben der Kaiserin Katharina zu einem Abkommen Ruß­ lands, Dänemarks und Schwedens unter dem Namen der be­ waffneten Neutralität. Als auch Holland diesem Bunde beitrat, benutzte England die Gelegenheit, dessen Handel zu schädigen, indem es ihm den Krieg erklärte. So zeigte sich auch hier bereits die gleiche Rücksichtslosigkeit und Gewaltsamkeit den Neutralen gegenüber, die wir im Weltkriege an England wahr­ genommen haben. Im allgemeinen zeitigte der Krieg in Europa keine großen Ereignisse und der Friedensschluß von 1783 brachte nur ge-

ringe Besitzverschiebungen. Das bedeutungsvollst: Ergebnis war die Entstehung der Vereinigten Staaten von Nordamerika, „eines zweiten Europa"*). Erst jetzt wurde der Begriff der Weltpolitik Wirklichkeit. „Welthandel hatten wir schon lange," sagt Alexander von Peez**), „aber keine Weltpclitik. Auch England besaß sie nicht, trotz seiner die Welt umspannenden Siedlungen und Herrschaftsgebiete. Im Grunde war doch alles europäische Politik. Weltpolitik konnte erst aufkommen, als auch in den anderen Weltteilen, außerhalb des unsrigen, selbständige und bodenständige, den europäischen Großstaaten gewachsene Mittelpunkte staatlichen Lebens sich bildeten." Es sollte indessen noch ein Jahrhundert vergehen, bis die euro­ päischen Festlandsmächte sich auf die Notwendigkeit, Weltpolitik zu treiben, hingewiesen sahen. Vorerst entfesselten die fran­ zösische Revolution und das erste Kaiserreich eine Reihe von Kriegen, die ebenso wie ihre unmittelbaren und mittelbaren Nachwirkungen auf lange hinaus der europäischen Politik die Vorhand sicherten. Nur für England bestand vermöge seiner Doppelstellung ein steter Zusammenhang europäischer und über­ seeischer Probleme. Der Kampf Englands gegen die französische Republik und Napoleon.

England ist als letzte europäische Macht erst 1793 dem Bündnis gegen die französische Republik beigetreten, dann aber Frankreichs zähester und beharrlichster Gegner geworden. „Allerdings," sagt Dietrich Schäfer***), „war für kein großes Staatswesen Europas ein übermächtiges Frankreich so un­ erträglich wie für England. Es hätte ihm sofort wieder die See und die Fremde streitig gemacht und aus bedrohlichster Nähe, von den leistungsfähigsten Gestaden Europas aus, täg­ lich seine Existenz in Frage gestellt. - Was bedeuteten innere Reformen gegenüber diesem Daseinskämpfe? Pitt hat das richtig erkannt, und es bleibt fein ewiges Verdienst, daß er die Nation mit sich zu ziehen vermochte auf der Bahn, die allein *) Schäfer, a. a. O., n. **) Einleitung zu .Weltpolitische Neubildungen' von Paul Dehn. ***) A. a. £>., H.

zum Ziele führen konnte, sie mit sich zog trotz starker Gegen­ strömungen, obgleich weder seine Politik noch seine Krieg­ führung unausgesetzt auf Erfolge Hinweisen konnten. Mehr noch als des Vaters Name ist der seine mit Englands Ent­ scheidungskümpfen um See- und Weltstellung verknüpft, für alle Zeiten ein glänzendes Zeugnis, was ein klarer Kopf und ein fester Wille an der Spitze eines freiheitsstolzen, ehrliebenden, an Selbstregiment gewöhnten Volkes zu erreichen vermag." Zur See hatte England im ersten Revolutionskriege inso­ fern verhältnismäßig leichtes Spiel, als die französische Kriegs­ flotte durch die Revolution noch mehr desorganisiert war als die Landarmee. Die Regierung ließ sie verkommen, die Mann­ schaften versagten alle Augenblick den Dienst. Im Herbst 1795 fehlten dem Geschwader von Toulon 10 000 Matrosen. Hier gelang es, der französischen Marine gleich zu Anfang einen empfindlichen Schlag zu versetzen durch Fortnahme des Arsenals dieser Stadt, die sich gegen die Pariser Regierung empört hatte. Im Hafen von Toulon fiel zugleich ein Drittel der gesamten französischen Kriegsflotte in die Hand der Engländer. Dafür traten dann freilich die Seestreitkräfte Hollands, das mit Ge­ walt zum Anschluß an Frankreich gezwungen wurde, und Spaniens, das 1796 vom europäischen Bunde abfiel und zu Frankreich übertrat, gegen England auf. Damit wurde für dieses die Aufrechterhaltung seiner bisherigen Stellungen in allen Meeren stark erschwert, und die Stimmung für Beendi­ gung des Krieges nahm zu, um so mehr, als eine vom General Hoche auf Irland versuchte Landung, die nur durch Sturm ver­ hindert wurde, die Gefahr England recht naherückte, auch von den Festlandsmächten eine nach der anderen erschöpft vom Kampfplatz zurücktrat. Bald aber sollten glänzende Erfolge das Vertrauen des englischen Volkes in feine Seemacht wieder neu beleben. 1797 vernichtete Admiral Jervis mit nur 15 eng­ lischen bei Kap St. Vincent 27 spanische Linienschiffe und im Jahre darauf besiegelte Nelson durch den Tag von Abukir die englische Seeherrschaft im Mittelmeer. So gelang es, die ganze Kriegszeit hindurch die Seeherrschaft zu behaupten und dadurch die Mittel zur Führung des Krieges und der Bestreitung der Hilfsgelder für die Festlandsmächte zu beschaffen. Seine Erfolge zur See wurden für England ein Antrieb, alle Hebel zur Bil-

düng einer neuen festländischen Koalition in Bewegung zu setzen. Auch als das europäische Bündnis abermals zerfallen war und der Friede von Luneville 1801 die Feindseligkeiten auf dem Festlande beendet hatte, blieb England mit Napoleon im Kampfe. Der Erste Konsul regte beim Kaiser Paul von Ruß­ land den Gedanken an, die bewaffnete Neutralität Katharinas vom Jahre 1780 wieder ins Leben zu rufen. „Der Zar, der das Jahr zuvor die Seele der Koalition und der Todfeind der französischen Republik gewesen war, stand jetzt an der Spitze eines neuen, Rußland, Dänemark, Schweden und Preußen um­ fassenden, gegen Englands Seeherrschaft gerichteten Bundes*)." England war nicht gesonnen, zugunsten der neutralen Schiff­ fahrt irgendwie nachzugeben, auch nicht Frankreich die Herr­ schaft über Ägypten zu belassen. Zwar nahm die Stimmung für den Frieden immer mehr zu, doch konnte das Land keineswegs als erschöpft gelten. Die Industrie entfaltete sich weiterhin kräftig. Pitt war es gelungen, die Staatsein­ nahmen im Jahre 1800 um 18 Millionen Pfund zu erhöhen, das ist um das Doppelte der gesamten Jahreseinnahmen der französischen Republik. Diese gute Finanzlage ermöglichte es, 1801 zwei größere Expeditionskorps auszurüsten und die Fran­ zosen aus Ägypten zu vertreiben. Gleichzeitig lief eine gegen den nordischen Bund bestimmte Flotte in die Ostsee ein. 1801 schlug Nelson die dänische Flotte vor Kopenhagen. Nur die Auflösung des Bundes nach der Ermordung Kaiser Pauls be­ wahrte die russische Ostseeflotte vor dem gleichen Schicksal. Eng­ land machte zwar Kaiser Alexander gegenüber geringe Zuge­ ständnisse, Rußland ließ dafür den Grundsatz: „Frei Schiff, frei Gut" fallen und willigte sogar ein, englischen Kriegsschiffen die Durchsuchung russischer Handelsschiffe zu gestatten, selbst dann, wenn sie unter Geleit eines russischen Kriegsschiffes fuhren. Die Vormachtstellung Englands zur See tritt hier deutlich zutage. Sein Auffichtsrecht ist nahezu ein Jahrhundert unbe­ stritten geblieben. Der Anspruch auf die See als einer freien Welthandelsstraße seitens anderer Staaten ist verhältnismäßig neu. Er gelangte von selbst zur Geltung mit der Vermehrung *) Sybel, Geschichte der Revolutionszeit.

X.

ihrer Handelsbeziehungen und mit der Erweiterung der rein europäischen zur Weltpolitik. Bis in die neueste Zeit hinein aber ist es außerordentlich schwer gewesen, auf diesem Gebiet von England Zugeständnisse zu erlangen. Wie wenig es sich gescheut hat, auch die von ihm gemachten im Weltkriege über Bord zu werfen, haben wir erlebt. Seine Vergangenheit hätte allen Grund zu größtem Argwohn in dieser Hinsicht bieten sollen.

Der Friede von Amiens, der 1802 zwischen England und Frankreich abgeschlossen wurde, war im Grunde nichts als ein Waffenstillstand. Er ist auch so von beiden Parteien betrachtet worden. Sie suchten nur die nötige Kräftigung zu gewinnen zur Erneuerung des Kampfes bei sich bietender günstiger Ge­ legenheit. Nach mehr als acht Kriegsjahren war das Friedens­ bedürfnis in England groß. Es hätte sonst nicht alle während des Krieges Holland abgenommenen Kolonien zurückgegeben, wenn auch Frankreich auf seine orientalischen Pläne verzichtete. Von beiden Seiten begangene Verletzungen des Friedens haben dann nach zwei Jahren zu dessen Bruch geführt. Die an den Kanalküsten angesammelten starken Kräfte nach England über­ zusetzen, war unzweifelhaft Napoleons ernste Absicht. England suchte sich durch ein Angriffsbündnis mit Rußland und Öster­ reich von der Gefahr zu befreien. Napoleon gab dem Aus­ druck, wenn er am 13. Oktober 1805 vor Ulm zu seinen Truppen sprach*): „Ohne diese Armee, die Ihr vor Euch habt (die öster­ reichische), wären wir heute in London; sechs Jahrhunderte voll Beleidigungen wären gerächt und den Meeren die Freiheit zurückgegeben." Dennoch war es nicht eigentlich der Angriff Österreichs, der die Landung verhinderte, sondern der fehlende Schutz der Übersetzflottille durch die französische Schlachtflotte, und allerdings konnte Napoleon infolge des im Entstehen be­ griffenen festländischen Bündnisses gegen ihn den Übergang nach England nur wagen, wenn er dort schnell zum Ziele ge­ langte, denn zu dauerndem Offenhalten der Verbindung mit Frankreich über den Kanal fehlten ihm die erforderlichen See­ streitkräfte. Napoleon hat von seinem Admiral Villeneuve Dinge verlangt, die mit der Segelschiffahrt nicht zu leisten *) Korresp. Nap. I. Nr. 9381.

waren. Villeneuves Wagemut stand freilich auch nicht auf der Höhe seiner Aufgabe. Er scheute mit seinen weniger leistungs­ fähigen französischen und spanischen Geschwadern die Seeschlacht mit den see- und kampferprobten Engländern. Nicht nur die Landung in England ist damals für Napoleon unmöglich ge­ worden, sondern auch jede Aussicht, seinem Todfeinde fürderhin zur See gefährlich zu werden, da am 21. Oktober bei Trafalgar die Flotte Villeneuves von Nelson vernichtet wurde. So unumstritten wie jetzt hatte Großbritanniens Flagge noch nie­ mals auf den Meeren geboten. Die Anforderungen, die an die englische Seemacht gestellt werden mußten, wurden darum jedoch nicht geringer. Mit der Ausdehnung der napoleonischen Macht auf dem Kontinent hielt die Blockade gleichen Schritt; der Kreuzerkrieg erlahmte nicht. Immer wieder galt es, den Absichten des Gegners zu­ vorzukommen. So wurde der Versuch Napoleons, nach dem Frieden von Tilsit die Flotte Dänemarks zur Sperrung der Ostsee gegen den englischen Handel zu verwenden, dadurch ver­ eitelt, daß ein englisches Expeditionskorps im September 1807 unter dem Schutze einer starken Schlachtflotte auf Seeland landete und die Übergabe der dänischen Flotte mit allem Ma­ terial erzwang. England unternahm diese Expedition, nach­ dem seine Forderung, ihm die Flotte gegen eine Entschädigung von 100 000 Pfund behufs Verwahrung bis zum Friedensschluß auszuliefern, unter der gleichzeitigen Zusicherung, Dänemark gegen jeden Angriff von feiten Napoleons schützen zu wollen, in Kopenhagen abgelehnt worden war. Diese Aufforderung wurde nach Landung der Truppen nochmals vergeblich wiederholt. Dänemark fügte sich erst, nachdem Kopenhagen 4 Tage hindurch beschossen, die halbe Stadt niedergebrannt und 2000 Einwohner getötet worden waren. Solche Vergewaltigung einer schwächeren Macht mitten im Frieden kennzeichnet die englische Art. Dennoch wird man Mahan zustimmen müssen*), wenn er diese brutale Handlung für die damalige Zeit für gerechtfertigt hält, denn Na­ poleons Handeln war nichts anderes als eine unausgesetzte Folge von Brutalitäten. England ist nicht zu tadeln, wenn es in diesem Kampf auf Leben und Tod zu gewaltsamen Mitteln

griff. Wir dagegen haben uns vorzuwerfen, daß wir solche im Weltkriege bei viel schlimmerer Lage nicht so angewandt haben, wie es in unserer Macht stand. Aus englischem Munde ist erst nach dem Kriege offenbar geworden, wie nahe wir daran waren, einen vollen Erfolg mit dem U.-Bootkrieg zu erzielen. Dieser früher, mit größeren Mitteln und mit voller Rücksichtslosigkeit angewandt, hätte unfehlbar zum Ziele ge­ führt. Napoleon war 1807 jederzeit in der Lage, durch das an der holsteinischen Grenze bereitstehende Korps Bernadotte Dänemark durch Besetzung seiner Festlandsprovinzen zu zwin­ gen, seine Flotte in seinen Dienst zu geben. Es galt daher, ihm mit rascher Tat zuvorzukommen. Nur dadurch ist die Ostsee für England freigeblieben, nicht nur im Interesse seines Han­ dels, sondern auch in dem seiner Beziehungen zu Rußland, das alsbald von Napoleon abrückte. Das „right or wrong, my country“ kann unmöglich immer unseren Beifall finden, hier aber war es am Platze und von einem gesunden Egoismus eingegeben. Auch einem solchen braucht nicht immer der ideale Gehalt zu fehlen, sofern er den Ausdruck wahrhaft vater­ ländischer Gesinnung bildet, einer Denkweise, die Nelson be­ kundete, indem er vor Eintritt in den Kampf bei Trafalgar seinem Geschwader signalisieren ließ: „England erwartet, daß jedermann seine Schuldigkeit tut," und indem er sterbend in die Worte ausbrach: „Gott und mein Land". Napoleon war bestrebt, außer Spanien auch Portugal dem großen System der Kontinentalsperre einzuordnen. Diese Ab­ sicht ist durch die Entsendung englischer Expeditionstruppen vereitelt worden. Auch, daß Napoleon die spanischen Aufge­ bote 1808 mit starken Kräften, die er persönlich heranführte, zerstreute und das englische Korps des Generals Moore von der Halbinsel vertrieb, sicherte ihm nicht deren Besitz. Die Briten kehrten unter Wellington zurück, dessen Armee den Kern für die spanischen Milizen bildete. Das Land fesselte dauernd 200 000 Mann französischer und Rheinbundstruppen, die sich in jahrelangem ermüdendem Guerillakriege verbluteten. Die Macht des Imperators ist dadurch schwer erschüttert worden. Wellingtons zähe Beharrlichkeit, die seinen Mar­ schällen zu trotzen wußte, hat ihnen schließlich in fünstährigem Kampfe ganz Spanien abgerungen.

Auf die Kontinentalsperre wird an anderer Stelle näher einzugehen sein*). Diese Art des Handelskrieges gegen Eng­ land, die 1806 einsetzte, wurde 1810 von Napoleon mit erneuter Kraft ausgenommen, da er glaubte, daß die Briten ihrer Wir­ kung bald erliegen würden. Er sollte sich hierin in ähnlicher Weise täuschen wie wir hinsichtlich der Wirkung des U.-Bootkrieges auf England. Geschädigt hat das eine wie das andere Kampfmittel die Briten allerdings in hohem Maße. Die Finanzen Englands hatten 1810 durch die fortgesetzten Zah­ lungen von Hilfsgeldern an die Festlandsmächte und durch die Expeditonen nach Spanien schwer gelitten. Die dreiprozentigen Konsols sanken auf 65. Das Pfund Sterling galt auf dem Fest­ lande statt 25 nur noch 17 Francs. Die Lebensmittelpreise stiegen bei fallenden Löhnen, ganze Industriezweige lagen still. In der Arbeiterbevölkerung herrschte große Not. In den Jahren von 1809 bis 1815 wuchsen die Verbrechen um 91 vom Hundert an. Bankerotterklärungen waren häufig, so daß sich das Parlament bewogen fühlte, einer großen Zahl von Fabrikanten Beihilfen zu gewähren. Warenstapel, für die kein Absatz vor­ handen war, häuften sich. Die Erweiterung des Kolonial­ besitzes und die Seeherrschaft haben damals England vor dem Zusammenbruch gerettet. Die Ausfuhr, die in den Jahren von 1800 bis 1805 um 40 Millionen Pfund geschwankt hatte, stieg infolgedessen trotz des Krieges im Jahre 1810 auf 48, im Jahre 1815 sogar auf 51 Millionen. Sie sank nach dem Frieden im Jahre 1816 alsbald auf 41 und im Jahre 1819 sogar auf 35 Millionen Pfund, da jetzt die Briten nicht mehr das Mono­ pol in Schiffahrt und Handel besaßen**).

Die Zähigkeit, mit der England diesen Kampf gegen Na­ poleon durchgeführt hat, mit der es über die Sorgen des Augenblicks hinwegsah und nur das große Ziel im Auge behielt, wie es nicht zum wenigsten in den in den Befreiungskriegen geleisteten starken Geldbeihilfen an seine Verbündeten zutage tritt, hätte bei uns vor dem Weltkriege und in diesem mehr beachtet werden sollen. Wir hätten gut getan, diese Zähigkeit auf das höchste anzuschlagen, statt auf Versöhnlichkeit bei den *) Vgl. S. 141. **) Perz, a. a. O.

Briten zu rechnen, nachdem sie einmal in den Kampf mit uns eingetreten waren. Gewiß, auch die „Naturmacht" hat im Laufe der Geschichte mehrfach geschwankt, wie bereits dargelegt wurde*), auf solche Schwankungen aber war niemals mit Sicherheit zu rechnen, wohl aber mit dem ausgeprägten Natio­ nalcharakter der Briten. Für sie bedeuteten „in einem Da­ seinskämpfe innere Reformen nichts"**). Wir dagegen haben inmitten des Weltkrieges, der für uns erst recht ein Daseins­ kampf war, uns in der Heimat vorwiegend mit inneren Fragen beschäftigt und dadurch sind wir, obwohl Sieger auf allen Schlachtfeldern, zuletzt unterlegen. Das Ausharren Englands im Kampfe gegen Napoleon, so hoch es gestellt zu werden verdient, darf uns doch andererseits nicht zu einer blinden Bewunderung der Jnselmacht hinreißeN. Sie hat die Gunst der Weltlage meisterhaft zu nutzen verstanden, die große Befreierrolle aber hat sie in dem Maße, wie sie sich solche zumißt, nicht gespielt. Englands Seemacht und Eng­ lands Gold haben zum Sturze Napoleons wesentlich beige­ tragen, aber besiegt wurde er schließlich doch zu Lande, in Spanien, in Rußland und durch die Erhebung Preußens. Eng­ land hat den Krieg durch einen Bruchteil seines Volkes in Gestalt seiner geworbenen Armee und Marine geführt, wäh­ rend Österreich 1809 und Preußen 1813 die Blüte ihrer Jugend auf den Schlachtfeldern ließen. Peez bemerkt daher mit Recht**), daß das Wort Krieg in England eine ganz andere Bedeutung habe wie auf dem Kontinent. Dortige Kriege seien stets Erntezeiten für Großbritannien gewesen. Nach den Napo­ leonischen Kriegen war das europäische Festland um 4000 Kauf­ fahrer ärmer als vorher, während die Zahl der englischen währenddessen von 8000 auf 20 000 anstieg. Das Einkommen Englands wuchs gleichzeitig von 12 auf 32 Millionen Pfund. Infolgedessen verschlug es nicht allzuviel, wenn die öffentliche Schuld von 1793 bis 1815 von 228 auf 800 Millionen Pfund anlief. Wenn Mahan***) für die britische Flotte in Anspruch nimmt, daß sie das meiste zum Sturze Napoleons beigetragen, *) S. 56. **) A. a. 0. ***) A. a. O. II. Freytag-Loringhoven, Angewandte Geschichte

indem sie ihn von der See abgeschnitten habe, so übersieht er, daß die Festlandsstaaten, Frankreich nicht ausgenommen, noch Agrarstaaten waren, die in ganz anderer Weise, als es jetzt der Fall ist, imstande waren, sich selbst zu genügen. Die ungeheure Bedeutung, die sür England die Seegewalt hatte, verdient richtig gewürdigt zu werden, darf aber anderseits in ihrer Wir­ kung auch nicht überschätzt werden, wie Mahan es tut. See­ gewalt ist einer der wichtigsten Faktoren im Völkerleben, aber nicht der allein ausschlaggebende. Für England war die Seeherrschaft, wie sich dieses Welt­ reich einmal gestaltet hatte, freilich Lebensbedingung. Sein Kolonialreich nahm auch nach den Franzosenkriegen fortgesetzt zu. „Es mußte," wie Kjellen sagt*), „das Meer selbst seinen Besitzungen einreihen aus demselben Grunde, der die Festlands­ mächte dazu bewegt, die Zwischenräume zwischen ihren Be­ sitzungen zu verlangen." An anderer Stelle**) äußert der schwedische Gelehrte: „Nie hat die Welt einen kühneren geo­ politischen Griff gesehen als diese heutige englische Politik, die immer zielbewußter darauf hinarbeitet, ein ganzes Weltmeer mit geographisch zusammenhängenden Besitzungen zu umgeben. . . . Fürwahr ein Bild von schwindelnden Dimensionen, dieses Grealer Britain der heutigen Zeit ... Vor diesem Bild erscheint diktatorischer denn je naval supremacy als der kategorische Im­ perativ der englischen Politik. Das Ganze würde vollständig in der Luft schweben, wenn England nicht die Verbindungswege innerhalb des Reiches beherrschte, die alle übers Meer gehen." Und doch war der Bau des englischen Weltreichs bei aller seiner Größe gewagt, wie Martin Spahn bemerkt***). Dieser Er­ kenntnis hat man sich in England während des Weltkrieges auch nicht verschlossen, daher die Anspannung aller Kräfte zur Gegenwehr jeglicher Art. Die Neutralen aber, gewohnt, vor Englands Forderungen zurückzuweichen und den Blick nur auf die Gegenwart, nicht auf die Zukunft gerichtet, verkannten, daß ihr eigentliches Interesse sie an die Seite Deutschlands hätte *) Studien zur Weltkrise. München 1917. **) Großmächte. ***) A. a. O.

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2. Auflage.

führen müssen, denn hier bot sich zum letzten Male die Gelegen­ heit, die englische Tyrannei zur See zu brechen. Deutschland hat den Krieg nicht gewollt, und am wenigsten einen Krieg gegen England, dessen Seemacht es niemals eben­ bürtig werden konnte. Sein Streben ging nur dahin, die eigene Flotte so stark zu machen, daß auch für einen so übermächtigen Gegner wie England ein Zusammenstoß mit der deutschen Flotte immer ein Wagnis blieb und auch im günstigsten Fall der Schaden, den Englands Flotte dabei erlitt, so groß sein würde, daß seine unbedingte Seeherrschaft gefährdet wurde. Auf diesen Risiko-Gedanken war die deutsche Flotte aufgebaut. Die vorstehend gegebene Skizze der Entwicklung der englischen See- und Weltmacht mit ihren Stärken, aber auch mit ihren Schwächen, läßt es begreiflich erscheinen, daß dieser RisikoGedanke in England kein Verständnis fand. War der eigent­ liche Grund der Feindschaft Englands auch die Handelskonkur­ renz Deutschlands, die Furcht vor seiner wachsenden wirtschaft­ lichen Stärke, so hat doch der deutsche Flottenbau unzweifelhaft einen starken Anreiz zur Vertiefung dieser Feindschaft und der Agitation gegen alles Deutsche einen willkommenen Stoff dar­ geboten. Wir bedurften unzweifelhaft einer Flotte von einer Stärke, wie sie durch unsere geographische Lage und unsere Küstenentwicklung bedingt und durch den Schutz unseres Han­ dels und unserer Kolonien geboten war. Das Fehlen einer Kriegsflotte hat 1848/49 und 1864 dahin geführt, daß das kleine Dänemark unserer spotten zu dürfen glaubte. Bei Vorhanden­ sein einer deutschen Seemacht hätte es schwerlich gewagt, über­ haupt deutsche Rechte zu mißachten. Diejenigen freilich, die während des Krieges eine Angliederung Belgiens, wenn auch nur in loser Form, vor allem aber eine Beherrschung der bel­ gischen Küste durch Deutschland befürworteten, haben außer acht gelassen, daß unsere Küstengestaltung dadurch zwar breiter, aber nicht wesentlich günstiger geworden wäre. Zur nordwärts geöffneten Enge der Nordsee wäre nur die zweite westwärts geöffnete im Kanal nicht beseitigt worden. Der Besitz der belgi­ schen Küste mit der dort eingerichteten U.-Bootbasis gab uns während des Krieges eine vortreffliche Kampfstellung gegen England, die dauernde Festsetzung dort hätte jedoch eine be­ ständige Drohung gegen das Inselreich gebildet, eine unmittel-

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Englands Aufstieg zur seebeherrschenden Weltmacht.

bare Gefährdung, die von ihm seiner ganzen Weltstellung und ererbten Denkweise seiner Bewohner nach niemals geduldet werden konnte. Es ist natürlich leicht, auf Grund der Ereignisse des Welt­ krieges solche Gedanken zu entwickeln. Hier kam es auch nur darauf an, den Nachweis zu erbringen, daß Kenntnis des ge­ schichtlichen Werdens fremden Volkstums und seiner Lebens­ bedingungen im Verein mit gegebenen geographischen Verhält­ nissen bei entsprechend scharfem, über die augenblickliche Lage hinausgehendem Durchdenken die deutsche Politik auf andere Wege hätte führen können, wenn auch natürlich nicht unbe­ dingt führen mußte. Scharfes Durchdenken der politischen Gesamtlage hätte uns gleichzeitig dahin bringen sollen, daß, wenn wir, weil Weltwirtschaft zu treiben genötigt, auch Welt­ geltung erstreben mußten, unsere Aufgaben infolge der geo­ graphischen Lage Deutschlands doch vorerst noch für lange Zeit in erster Linie kontinentale waren. Wohl lag unsere Zukunft auf dem Wasser, daneben aber doch vorwiegend auf dem Lande. Das ist bei dem Ausbau unserer Kriegsrüstung nicht hinlänglich gewürdigt worden. Die Kenntnis der Denkweise anderer Völker, wie sie uns die Geschichte übermittelt, geht über den nächsten praktischen Nutzen, sei es im friedlichen, sei es im feindlichen Verkehr mit den Fremden, hinaus. Wir gewinnen dadurch einen Maßstab für unsere eigene völkische Art. Es heißt nicht, diese herab­ setzen, wenn wir an den anderen neben den häßlichen auch die guten und nachahmenswerten Seiten zu erkennen trachten. Die hohe Selbsteinschätzung, der wir beim Engländer begegnen und die uns vielfach abstößt, ist das Ergebnis einer jahrhunderte­ langen glückhaften Geschichte, die zur Welthegemonie geführt hat. Dadurch ist nach und nach, unter Einwirkung puritanischer Begriffe, die Vorstellung entstanden, daß den Engländern als dem auserwählten Volke Gottes der Rang vor allen übrigen Völ­ kern gebühre. Was nach außen hin als starke Heuchelei erscheint, kommt dem Engländer selbst gar nicht als solche zum Bewußt­ sein. „Zu den natürlichen Hilfsquellen des britischen Reiches," schreibt Kjellen*), „ist auch die imponderabile Kraft zu rechnen. *) Die Großmächte.

die in dem unbedingten Glauben des Volkes an sich selbst und an seine hohe Mission liegt. Die Engländer sind ein Herren­ volk, ausgeprägter als irgendein andres seit den Tagen der alten Römer, und für ihren Willen zur Macht existieren keine anderen Grenzen als die unseres Planeten." Auch Carl Peters*) zieht den Vergleich mit Rom, betont dabei aber, daß das englische Weltreich nur zum geringen Teil durch Waffen­ gewalt und Kriegstaten begründet worden fei, daß es vielmehr halb unbewußt und zufällig entstanden fei. In der Tat ist das britische Weltreich nicht „das Ergebnis einer den Festlands­ mächten vorauseilenden Staatskunst"**). „Einem jeden Lande sind politische Genies beschieden ge­ wesen," schreibt Ruedorffer***), „man kann nicht sagen, daß der politische Genius in England häufiger und leichter entstünde. Was die Engländer vor den anderen Völkern voraus hatten und haben, das sind nicht die großen einzelnen, die Cromwell und Pitt: es ist der politische Geist, der die Gesamtheit beherrscht, eine breite politische Oberschicht, deren eingeborene Tradition und geschlossene Denkart einen trefflichen Durchschnitt garan­ tiert, in Ermangelung des Genius dem Talent die Führung sichert, den Pfuscher nicht duldet und immer eine große Anzahl sicher und tüchtig arbeitender ausführender Organe zur Ver­ fügung stellt, ohne die auch die Leistung des Genius an der zähen Tücke der Objekte zuschanden wird." Diese unvergleich­ liche politische Erziehung, die sich von der einst allein führenden aristokratischen Schicht längst bis in die Kreise der Arbeiter Mein erstreckt hat, ist nachahmenswert. Um sie können wir die Engländer beneiden, auch wenn wir uns ihrer abstoßenden Züge vollauf bewußt bleiben, ihrer Brutalität, die im Verlaufe ihrer Geschichte oft genug hervorgetreten ist — man braucht nur an Irland und die Buren zu erinnern —, ihrer vollendeten Rücksichtslosigkeit gegen andere Völker, ihrer, wenn auch ihnen selbst nicht bewußten Heuchelei, die sie unter dem Deckmantel des Christentums aus egoistischen Gründen oft genug schreiendes Unrecht hat begehen lassen. *) A. a. O. **) Spahn, a. a. O. ***) Grundzüge der Wettpolitik in der Gegenwart. Stuttgart und Berlin 1916.

6. u. 7. Tausend.

5. Friedrich der Große. Vis zur Beendigung des Siebenjährigen Krieges. König Friedrich übernahm von seinem Vater einen Staat, der als der bestgeordnete der damaligen Zeit betrachtet werden kann. Mit einer Bevölkerung von nur 2 % Millionen stand er in Europa erst an zwölfter Stelle, hinsichtlich der Stärke seiner Armee aber war er der vierte. Hier stand Frankreich mit 160 000 Mann noch immer in erster Linie, ihm folgte Rußland mit 130 000, dann Österreich mit 100 000 Mann. Von der preußischen Armee waren außerdem jederzeit 70 000 Mann marschbereit. In ihr gab es keine Lücken, die Truppen standen nicht nur auf dem Papier, wie in den anderen Staaten. Ein von Friedrich Wilhelm I. angesammelter Staatsschatz von zehn Millionen Talern hat es Friedrich dem Großen ermöglicht, den Ersten und zum Teil auch den Zweiten Schlesischen Krieg zu führen, ohne in finanzielle Bedrängnis zu geraten. Erst 1745 hat er zu einer Zwangsanleihe bei den Landständen in Höhe von 1,35 Millionen Talern schreiten müssen. Für den Entschluß von 1740, sich in Gestalt von Schlesien eines Teils des Erbes Maria Theresias mit Waffengewalt zu bemächtigen, haben bei Friedrich, wie er selbst zugibt, weniger die Ansprüche seines Hauses auf dieses Land mitgesprochen, als der Ehrgeiz, sich einen Namen zu machen. In jener Zeit abso­ luter Fürstenmacht war die Versuchung, von einem schlag­ fertigen Heere zu seinem Vorteil Gebrauch zu machen, für einen tatkräftigen jungen Monarchen zu groß, als daß Friedrich ihr hätte widerstehen können. Und doch war es nicht vorwiegend persönlicher Ehrgeiz, der ihn trieb, sondern der brennende Wunsch, sein Volk aufwärts zu führen in die Reihe der großen Mächte, mit dem Zwitterwesen zwischen Kurfürstentum und Königreich endgültig aufzuräumen*). Er wollte sicherer stehen denn bisher als bloßer „König der Grenzen", über die Tat selbst äußerte er damals seinem Freunde, dem Grafen Algarotti gegenüber freimütig: „Der Tod des Kaisers macht aus mir einen schlechten Textverbesserer. Er ist verhängnisvoll für mein Buch (den „Antimachiavell"), vielleicht aber glorreich für mich *) Reinhold Koser, König Friedrich der Große, I.

selbst," und in seinen Denkwürdigkeiten sagt er: „Ich hoffe, die Nachwelt, für die ich schreibe, wird bei mir den Philosophen vom Fürsten und den Ehrenmann vom Politiker zu unter­ scheiden wissen. Ich muß gestehen, wer in das Getriebe der großen europäischen Politik hineingerissen wird, für den ist es schwer, seinen Charakter lauter und ehrlich zu bewahren." Es ist die Verschiedenheit privater und staatlicher Moral, der Friedrich hier Ausdruck verleiht. In diesem Sinne äußert Treitschke*): „Man muß unterscheiden zwischen öffent­ licher und privater Moral. Die Rangordnung der verschie­ denen Pflichten muß für den Staat, da er Macht ist, not­ wendig eine andere sein als für den einzelnen Menschen. Eine ganze Reihe dieser Pflichten, die dem einzelnen obliegen, ist für den Staat überhaupt nicht zu denken. Als höchstes Gebot für ihn gilt immer, sich selbst zu behaupten; das ist für ihn absolut sittlich." Zur dauernden Behauptung des preußischen Staats gegen die feindseligen Großmächte aber gehörte, daß König Friedrich die sich bietende günstige Gelegenheit zu einer Macht­ erweiterung benutzte. In meinem Buche „Politik und Kriegführung"**) habe ich mich über die Politik König Friedrichs im Ersten Schlesischen Kriege wie folgt geäußert: „Ihre leitenden Gedanken werden in ihrer Bedeutung dadurch nicht beeinträchtigt, daß sie nicht immer klar und folgerichtig hervortreten. Die zweideutige Rolle, die der König im Herbst 1741 inmitten des Krieges spielte, hat ihm selbst bei den damals herrschenden Anschauungen den Ruf der Unzuverlässigkeit eingetragen. Sein Verhalten erklärt sich einerseits aus seinem Temperament und anderer­ seits aus der Rücksicht auf seinen Staat. Voll Unmut über die Kriegsleitung des verbündeten Frankreich sah er unberechen­ bare Gefahren für den nächsten Feldzug und die weitere Zu­ kunft voraus, wenn man Österreich Zeit ließ, seine Kraft zu sammeln. Die Opfer eines langen Krieges aber seinem Staate aufzuerlegen, war er nicht gewillt, denn eine Eroberernatur war er in keiner Weise. Er übersah, daß er für einen geringfügigen augenblicklichen Vorteil in jeder Weise Nachteile *) Politik, L, § 3. “) Berlin 1918.

für die Zukunft eintauschte, denn er wäre vor Freund und Feind bloßgestellt und geopfert worden, wenn es Neipperg, dem Friedrich durch den Vertrag von Klein-Schnellendorf den ungehinderten Abzug aus Schlesien ermöglicht hatte, gelang, die Verbündeten Preußens aus Böhmen zu verdrängen, und wenn diese sich infolgedessen mit dem Hause Österreich vertrügen. Noch ist der König nicht zum Politiker und Feldherrn großen Stiles herangereift, noch fehlt ihm das klare Bewußtsein, daß die kleinen Winkelzüge politischer Intrige einem großen Staats­ wesen niemals frommen können, daß eine Politik, die zum Schwert greift, es erst nach vollem Erfolg niederlegen darf, daß jeder große Kriegszweck Opfer fordert. Es hat noch mancher schmerzlichen Erfahrung bedurft, bis sich der König endgültig lossagte von den überkommenen kleinen Mitteln der Kabinetts­ politik seiner Zeit. Die Lage, die das Abkommen von KleinSchnellendorf herbeiführte, enthält für alle Zeiten die Lehre, daß nichts verderblicher ist als Halbheit in Politik und Krieg­ führung, daß hierbei scheinbar Nebensächliches weitreichende Folgen haben kann." Treffend führt Koser aus*): „Wir stehen hier vor einem der Fälle, wo der Gang der Geschichte uns mahnen will, über den wirren Zufälligkeiten ein lenkendes Walten zu erkennen. Durch eine Verhandlung, in der, wie in keiner anderen, Augen­ blicksrücksichten und menschliche Übereilungen den Ausschlag gegeben haben, ist ein Ergebnis von großer welthistorischer Bedeutung gesichert worden. Österreichs Zukunft war gerettet. Der, welcher die stolze alte Macht an den Rand des Abgrunds gedrängt, war, indem er den Arm für einen Augenblick sinken ließ, ihr Beschirmer und Wohltäter geworden.. . . Wie oft hat Friedrich nachmals vom Schicksal es sich ersehnt, dem Todfeind die Pharsalusschlacht schlagen zu können. Eine Gelegenheit, wie er sie sich im Herbst 1741 hat entgehen lassen, sollte ihm nie wieder zulächeln. Der Knoten seiner Geschicke war jetzt ge­ schürzt. Der Fehler von Klein-Schnellendorf ließ sich in einem langen Leben nicht wettmachen, die Schuld mußte dereinst ge­ sühnt werden in unermeßlichen Leiden." ') A. a. o. i.

Bei seinem zweiten, 1744 begonnenen Waffengange, den er nicht aus freien Stücken, sondern durch die Gefamtlage ge­ zwungen antrat, sind anfänglich dem Könige bittere Erfahrungen auf dem Gebiete der Kriegführung nicht erspart geblieben. Jetzt aber offenbarte sich seine Heldennatur. Die Macht seiner Per­ sönlichkeit äußerte sich darin, wie er das zerrüttete Heer, das er aus Böhmen zurückbrachte, mit neuem Mut belebte. Die Tage von Hohenfriedeberg und Soor, der Herbstfeldzug von 1745 in Sachsem bewiesen der Welt, wessen preußische Truppen unter der Führung ihres königlichen Feldherrn fähig waren. Der Marschall von Sachsen, der keinerlei Vorliebe für Friedrich hegte, bekundete damals: „Das Geschick, das der König von Preußen an den Tag gelegt hat, ist des größten Lobes der Kenner wert. Alles, was er in diesem Feldzuge ausgeführt hat, ist schön und groß." Dieses bewiesene Feldherrntum hat König Friedrich gleichwohl nicht bewogen, von den Bahnen der Mäßigung, wie er sie im Dresdener Frieden bekundete, abzu­ weichem. Im Zweiten Schlesischen Kriege hat Friedrich, gestützt auf seiin schlagfähiges Heer, nur eine gesunde Politik der Selbsterhaltmng getrieben. Hierbei trat zuerst seine ganze Größe hervor. Die Lage des Königs nach dem Dresdener Frieden ist zutreffemd mit derjenigen Deutschlands nach dem Kriege von 1870/771 verglichen worden. Er mußte stets damit rechnen, daß Österreich, sobald ihm die Gruppierung der europäischen Mächte günstilg fchien, die Wiedergewinnung Schlesiens mit den Waffen erstretben würde. Nicht anders als wir in der Zeit vor dem Weltkriege, empfand er deutlich die Schwüle der politischen Atmosphäre und unterließ nichts, um durch eine geschickte Diplo­ matie feinem Lande den Frieden zu erhalten. Gleichzeitig spanmte er alle Kräfte seines Staates an, um dem drohenden Gewillter zu wehren. Um ein übergreifen des englisch-franzö­ sischem Konflikts*) nach Deutschland zu verhüten, schloß er im Janmar 1756 die Westminster-Konvention ab, in der sich Eng­ land lunib Preußen gegenseitig verpflichteten, sich dem Einmarsch fremtoer Truppen in Deutschland zu widersetzen. England gewanm dadurch Sicherheit gegen etwaige Versuche Frankreichs,

**) dgl. S. 53.

sich Hannovers zu bemächtigen, um so ein Faustpfand für den Verlust überseeischer Besitzungen zu gewinnen. König Friedrich aber hoffte damit einem Eingreifen Rußlands zuvor­ zukommen, das die eigentliche treibende Kraft in dem gegen ihn in der Bildung begriffenen großen Bunde bildete. Die Westminster-Konvention aber liefert den Beweis, daß auch eine so klug geführte Diplomatie wie die des Königs sich nicht immer der Folgen ihres Tuns bewußt ist. Dieser Schritt hat das Gegenteil von dem bewirkt, was Friedrich sich von ihm ver­ sprach. Der Vorwand, Hannover seinerseits gegen Preußen zu schützen, hatte Rußland dazu dienen sollen, dieses anzugreifen. Frankreich aber war nicht geneigt, in die Stärkung, die Eng­ land auf dem europäischen Festlande durch den Vertrag mit Preußen gewann, zu willigen. Es ist dadurch nur in stärkerem Maße auf die Gegenseite gedrängt worden. Lediglich die geringe Kriegsbereitschaft Frankreichs ließ den Wiener Hof wünschen, den Beginn der Feindseligkeiten bis zum Frühjahr 1757 hin­ auszuschieben. Von der ihm durch ein feindliches Bündnis drohenden Gefahr hatte König Friedrich genaue Kunde. Indem er 1756 rasch zur Tat schritt und in Sachsen und Böhmen einfiel, hegte er die Hoffnung, Frankreich, den bisherigen beständigen Gegner Österreichs, von einer Waffenhilfe für dieses abhalten zu können. Ludwig XV. aber zeigte sich als Schwiegervater einer sächsischen Prinzessin in hohem Maße durch die Vergewaltigung Sachsens verstimmt. Vergeblich wies ihn König Friedrich, bei dem dynastische Rücksichten stets vor dem Staatswohl zurücktraten, darauf hin, daß große Souveräne sich niemals durch verwandt­ schaftliche Rücksichten bestimmen lassen dürften. Ein bereits abgeschlossenes Verteidigungsbündnis zwischen Frankreich und Österreich wurde Anfang 1737 zum Angriffsbündnis von Ver­ sailles erweitert, das eine vollständige Aufteilung der preußi­ schen Monarchie vorsah. Rußland, das Ostpreußen begehrte, hatte sich bereits vorher noch fester an Österreich angeschlossen, auch Schweden und das Deutsche Reich wurden in den Bund gegen Friedrich einbezogen. Die Ähnlichkeit mit dem Londoner Vertrage unserer Feinde vom Herbst 1914 und dem Hinein­ ziehen immer weiterer Staaten in ihren Bund tritt hier deut-

lich hervor, hingegen waren wir damals nicht die Angreifer wie König Friedrich. Zu seiner Zeit herrschte die Auffassung, daß die Armee ausschließlich Eigentum des Fürsten, der Krieg sonach seine persönliche Sache sei, wenn auch in Preußen etwa die Hälfte der Mannschaften nicht aus Angeworbenen, sondern aus einheimischen Kantonisten bestand, und der Monarch in der Sache des Staates aufging, um dessen Dasein der Krieg geführt wurde, so daß der Gegensatz zu unserer heutigen Auf­ fassung dort weniger hervortrat. Immerhin war auch die preußische Armee kein Volksheer. Ihre Mobilmachung schnitt nicht in alle Erwerbsverhältnisse ein wie diejenige eines neu­ zeitlichen Kaderheeres. Regierungen von größerer Gewissen­ haftigkeit als die uns feindlichen hätten daher gezögert, ihre gesamten bewaffneten Völker zu einem Raubkriege aufzubieten, zu dem sie bereits seit Jahren geflissentlich gehetzt hatten. Deutschland dagegen ist nicht so verfahren, wie es Friedrich der Große 1756 tat. Es hat sich gescheut, sein Volksheer zu einem Präventivkriege gegen das feit dem Frankfurter Frieden nie­ mals versöhnte Frankreich aufzubieten, wiewohl sich hierzu mehrfach günstige Gelegenheiten geboten hätten, vor allem 1905, als Rußland durch den Mandschurischen Krieg und durch seine erste Revolution geschwächt war. Die westlichen russischen Armeekorps waren damals so gut wie wehrlos, so daß Frank­ reich unseren Stoß, dem es sicherlich erlegen wäre, allein aus­ zuhalten gehabt hätte. Noch 1909, zur Zeit der Bosnischen Krise, lagen die Dinge, wenigstens zu Lande, für uns ebenfalls günstig, jedenfalls weit günstiger als 1914. Auch 1909 galten die Bemühungen der deutschen Politik jedoch lediglich der Er­ haltung des Friedens, indem sie sich des Ernstes und der Trag­ weite eines Krieges zur Zeit der Volksheere vollauf bewußt war. Bismarcks Mahnung*) ist von ihr durchaus beachtet worden. Er sagt, er sei der Theorie, die es bejaht habe, daß es angezeigt sei, unter Umständen einen Krieg anticipando herbei­ zuführen, bevor der Gegner zu besserer Rüstung gelange, stets entgegengetreten „in der Überzeugung, daß auch siegreiche Kriege nur dann, wenn sie aufgezwungen sind, verantwortet *) Gedanken und Erinnerungen,

n.

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Friedrich der Große.

werden können, und daß man der Vorsehung nicht so in die Karten sehen kann, um der geschichtlichen Entwicklung nach eigener Berechnung vorzugreifen." Niemand vermag denn auch zu sagen, wie ein solches Vor­ greifen unsererseits ausgefallen wäre. Ein Vierteljahrhundert nach Bismarcks Scheiden aus dem Amt trafen angesichts unserer wirtschaftlichen Entwicklung und der unvermeidlichen Heran­ ziehung weitester Kreise zum Heeresdienst, die der Krieg mit sich bringen mußte, seine Warnungen in erhöhtem Maße zu. Der Weltkrieg mit seinen Folgen scheint ihnen nur noch größeres Gewicht zu geben, ihre Befolgung unsererseits sonach um so mehr zu rechtfertigen. Auf der andern Seite freilich spricht gerade die ungeheure Anspannung, der unser Volk im Weltkriege ausgesetzt war, dafür, daß es besser gewesen sei, ftüher im geeigneten Augenblick zum Präventivkriege zu schreiten. Bedingung hierfür war allerdings eine festere Führung der Nation, als wir sie besaßen, eine solche, die es verstand, dem ganzen Volke die Notwendigkeit eines solchen Krieges klar zum Bewußtsein zu bringen, denn anders ließ er sich nicht führen. Darin zeigt sich der große Unterschied zwischen unserer und König Friedrichs Zeit. Immerhin ist zu bedenken, daß der Schöpfer des Deutschen Reiches zu der Zeit, da er seine höchste Tatkraft entfaltete, über die Frage eines Präventiv­ krieges einigermaßen anders gedacht hat, als der Greis in Friedrichsruh. Es klingt das schon aus den Worten heraus, die er den angeführten Sätzen vorausschickt, indem er sagt, daß ihm 1866 „gegenüber der erklärlichen und berechtigten Ab­ neigung an maßgebender Stelle Moltkes Kampflust, seine Schlachtenfreudigkeit für die Durchführung der von ihm für notwendig erkannten Politik ein starker Beistand gewesen sei". Eine ähnliche Auffassung lassen auch die Worte erkennen, die er am 4. November 1871 im Reichstage sprach: „Es ist eine Pflicht der Regierung und die Nation hat das Recht, von der Regierung zu fordern, daß, wenn wirklich ein Krieg nicht ver­ mieden werden kann, dann die Regierung denjenigen Zeitpunkt wählt, ihn zu führen, wo er für das Land, die Nation, mit den geringsten Opfern, mit der geringsten Gefahr geführt werden kann." Also ist Bismarck nicht der Meinung gewesen, daß man die Dinge solange hinzögern soll, bis man überfallen wird.

Dreizehn Jahre nach König Friedrichs Tode ist Preußen in eine Lage gekommen, die der seinigen vor dem Sieben­ jährigen und derjenigen Deutschlands vor dem Weltkriege zwar nicht gleicht, aber doch mancherlei Ähnlichkeiten aufweist, inso­ fern als Preußen 1799 im Zweifel, ob das Schwert zu ziehen oder der Frieden auf alle Fälle zu bewahren sei, sich für den Frieden entschied, und das zum schweren Nachteil der Monarchie. Friedrich Wilhelm III. wurde damals durch seine Umgebung darin bestärkt, unbedingt den Frieden zu bewahren, da Öster­ reich seit Friedrich dem Großen Preußens natürlicher Feind fei. Man fühlte sich außerdem hinter der 1795 in Basel ver­ einbarten norddeutschen Demarkationslinie sicher. So wider­ stand der König den Versuchen, ihn in die zweite Koalitton gegen die französische Republik hineinzuziehen. Von dem jungen Friedrich Wilhelm III. sagt Treitschke*): „Für keine seiner königlichen Pflichten war der König von Haus aus so wenig vorbereitet, wie für die Leitung der auswärtigen Politik; langsam, bedächtig, wie er war, hat es einer sehr schweren Schule bedurft, bis sein weiches Gemüt sich an die Härte der großen politischen Machtfragen gewöhnte. Neigung und Pflicht­ gefühl stimmten ihn friedlich. Er hätte es für einen Frevel gehalten, dies emsig arbeitende Norddeutschland, dessen ruhiges Glück von jedermann gepriesen wurde, ohne dringende Not den Wechselfällen des Krieges, den verschuldeten Staatshaushalt neuen Verwirrungen preiszugeben; nur zur Abwehr eines unmittelbaren Angriffs wollte er fein Schwert ziehen."

Die Monarchie Friedrichs des Großen hatte den Willen zur Macht verloren. So blieb sie, wie Sybel urteilt**), „in­ mitten eines zwei Weltteile umfassenden Brandes untätig, nach dem persönlichen Willen des Königs. . . . Der Beschluß ent­ sprang aus völlig reinen Beweggründen. . . . und gewiß ist die Gesinnung eines Königs zu loben, der nicht Waffenruhm für sich, sondern den Segen des Friedens für sein Volk ersehnt. Aber auch das ist königlich, die Freude des Augenblicks für die Sicherheit der Zukunft dahinzugeben und nach der Einsicht des hohen Amtes das Opfer des täglichen Behagens für das blei*) Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, I. **) Geschichte der Revolutionszeit, IX.

bende Wohl des Ganzen dem Bürger aufzuerlegen." Die Wahrheit dieses Satzes ist für die dem Weltkriege vorauf­ gegangene Zeit feit der Jahrhundertwende ebenfalls unbestreit­ bar. Die inneren Verhältnisse Deutschlands, wie sie tat­ sächlich lagen, und seine Natur als Bundesstaat machten es frei­ lich sehr fraglich, ob dem deutschen Volke solches Opfer auferlegt werden konnte. Auch der Weltkrieg hat uns zwar vor der Revolution nicht bewahrt, aber doch hauptsächlich infolge seiner langen Dauer, der über uns völkerrechtswidrig verhängten Blockade und der damit verbundenen tief einschneidenden Wir­ kung in die Lebensbedingungen der Nation dahin geführt. Diese Umstände aber ließen sich vor dem Kriege nicht voraussehen. Hat doch selbst Graf Schliessen nicht an die Möglichkeit eines lang­ andauernden Krieges unter heutigen Verhältnissen geglaubt, und das an sich mit Recht, denn welche verheerenden Wirkungen der Weltkrieg auch bei den siegenden Völkern Westeuropas gehabt hat, offenbarte sich erst nachträglich. Gemahnt König Friedrichs Heldenkampf der sieben Jahre an unsere Gegenwehr im Weltkriege, so dürfen doch die völlig andersgearteten Verhältnisse jener Zeit bei einer vergleichenden Betrachtung nicht außer acht gelassen werden. Der König trat in den Feldzug von 1757 mit dem Höchstmaß seiner Kraft, d. t. 148 000 Mann Feldtruppen, ein, er warf seine später arg zu­ sammengeschmolzene Macht auf begrenztem Kriegsschauplatz hin und her, wie wir die Hunderttausende mit Hilfe der Eisenbahnen durch ganz Mitteleuropa, die Operationen auf der inneren Linie zwischen getrennten Gegnern, wie sie der König führte, derartig erweiternd. Er schlug ohne Zagen gegen Überlegenheiten, wie auch wir es taten und sah sich genötigt, gleich uns im weiteren Verlauf zum Stellungskriege zu greifen. Gleich ihm waren wir darauf angewiesen, die Kräfte sorgfältig aufzusparen, um zur gegebenen Zeit wuchtige Schläge führen zu können. Aber nicht nur die Kleinheit der Heere jener Zeit machten die Kriegsweise zu einer anderen, wie sie uns gewohnt ist, auch ihre Zusammen­ setzung aus zum großen Teil geworbenen Mannschaften, das Fehlen ständigen Nachersatzes, gaben der Kriegführung ein anderes Gepräge. Wohl war König Friedrich infolge des von seinem Vater eingerichteten Kantonsystems darin immer noch im Vorteil gegen seine Feinde, im ganzen aber blieb doch auch

er an die Mittel seiner Zeit und an das herrschende Magazin­ system gebunden. Er selbst hat in diesem Sinne einmal ge­ äußert, nicht er kommandiere die Armee, sondern Mehl und Furage. Eine Niederwerfungsstrategie, wie sie Napoleon anwandte, ließ sich mit den Armeen des 18. Jahrhunderts nicht treiben. Nur gelegentlich hat Friedrich sich in Bahnen bewegt, die den ihrigen glichen, so bei seinem konzentrischen Einfall in Böhmen 1757. Seine Gegner haben es zu seinem Glück niemals verstanden, die Methodik der Zeit abzustreifen. Die Schranken, durch die sich die Kriegführung des 18. Jahr­ hunderts eingeengt sah, waren wesentlich durch die schmale wirt­ schaftliche Grundlage der damaligen Staaten bedingt. König Friedrich war es gelungen, nach dem Zweiten Schlesischen Kriege wieder einen Staatsschatz von 13,2 Millionen Talern anzusammeln. Diese Summe war bereits Ende 1757 erschöpft. Bei den zurückgehenden eigenen Staatseinnahmen infolge von Kriegslasten und Besetzung preußischer Gebietsteile durch den Feind mußte vor allem das besetzte Sachsen, dann auch Mecklen­ burg und die durch preußische Streifzüge heimgesuchte Main­ gegend um so mehr herhalten. Wachsende Geldschwierigkeiten bewogen den König im Frühjahr 1758, von England die Zahlung von Hilfsgeldern in Höhe von 670 000 Pfund Sterling jährlich anzunehmen. Die steigende Not im eigenen Lande, wo Handel und Wandel stockten, die wachsenden Kriegskosten, ein­ getretene Verluste an Heeresgerät stellten weiterhin den König vor die Notwendigkeit, sich wiederum neue Einnahmen zu schaffen. In den Mitteln blieb ihm keine Wahl. Er griff nun­ mehr entschieden zur Münzverschlechterung, nachdem bereits nach der Schlacht von Kolin aus dem königlichen Silberschatz minderwertige Taler ausgeprägt worden waren. Die Aus­ prägung der Münzen war an Unternehmer vergeben, die dafür bestimmte Abgaben an den Staat, den sogenannten Schlagschatz, entrichten mußten. Dieser belief sich vom Februar bis No­ vember 1760 auf 9 Millionen Taler, ein Gewinn, der natürlich nur durch starke Münzverschlechterung erzielt werden konnte. Die Ausmünzung der von England gelieferten Gold- und Silber­ barren hatte bereits 1759 5 300 000 Taler ergeben, 1760 wurden 6 312 000 Taler daraus erzielt.

Friedrich der Große hat durch sein Bündnis mit England nicht alles erreicht, was er wünschte, so vor allem nicht das Ein­ laufen eines englischen Geschwaders in die Ostsee, um die Russen an Landungen an der pommerschen Küste zu verhindern. Hier standen England seine baltischen Handelsinteressen höher als dasjenige des Bundesgenossen. Gleichwohl war dem König England sicher, solange Pitt am Ruder blieb. In seiner gegen den Pariser Frieden*) gerichteten Parlamentsrede hob dieser ausdrücklich hervor, Nordamerika sei für England in Deutschland erobert worden, in erster Linie durch die Siege des Königs. Als das Ministerium Bute 1761 ans Ruder gelangte und der Subsidienvertrag mit England nicht mehr erneuert war, empfand Friedrich den Ausfall von 4 Millionen Talern jährlich bei immer stärkerem Versiegen seiner eigenen Hilfsquellen überaus hart. Er sah sich daher genötigt, auf dem einmal beschrittenen Wege der Münzverschlechterung fortzufahren. Seine Gesamtein­ nahmen aus dem Münzgewinn während des Siebenjährigen Krieges werden auf 29 Millionen Taler angenommen. Da der Wert der Münzen sehr bald bedeutend unter den Nenn­ wert sank, verminderten sich auch wieder die Staatsein­ nahmen. Seit 1761 wurde daher bei Steuern und Zöllen ein Zuschlag von 10 v. H. angeordnet, da die Zahlung in minder­ wertigem Gelde erfolgte. Die ganzen volkswirtschaftlichen Nach­ teile der Münzverschlechterung sollten erst nach dem Kriege zu­ tage treten, da der Staat nicht die Kosten zu tragen vermochte, die eine Einlösung der Münzen zu ihrem Nennwerte mit sich gebracht hätte. Die Münzverschlechterung stellte somit eine Art Kriegssteuer dar, die immerhin nicht so schwer empfunden sein dürfte, wie eine wirkliche Steuer. Die Geldbeschaffung im Kriege war im 18. Jahrhundert anders geartet als heute. Das Kreditwesen war noch wenig ausgebildet, Preußen, von wenigen durch den Krieg noch dazu völlig lahm gelegten Industriezweigen abgesehen, ein Ackerbau treibendes Land. Die Werte zerstörende, die wirtschaftlichen Grundlagen des Staates zerrüttende Einwirkung des Krieges zeigte sich gleichwohl auch damals. Die Münzverschlechterung, zu der man bereits im Dreißigjährigen Kriege gegriffen

Geldwirtschaft im Siebenjährigen Kriege.

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hatte*), vertrat gewissermaßen unsere Papiergeldfabrikation. Alle Nachteile, die ein langer Krieg auf wirtschaftlichem Ge­ biet im Gefolge hat, zeigten sich bereits damals, nur, daß sie sich in engeren Grenzen hielten. Sie sind darum aber nicht minder schwer empfunden worden.

Die Kriegswirtschaft König Friedrichs hat sich alles in allem derjenigen seiner Gegner weit überlegen gezeigt. Er hat es verstanden, stets zu Beginn eines Feldzuges den Geldbedarf für diesen bereitzustellen. Am Schluß des Krieges verfügte er noch über 29,4 Millionen Taler. Die Hoffnung seiner Gegner, ihn an der Erschöpfung seiner Mittel zugrunde gehen zu sehen, hat er zuschanden gemacht. Österreich sah sich aus Geld­ mangel genötigt, seine Armee noch während des Krieges zu vermindern; ohnehin löhnte es sie zum großen Teil nur noch in Papiergeld. Frankreich hatte die größten Schwierig­ keiten, seine starke Armee und zugleich die Flotte zu erhalten, daneben ansehnliche Hilfsgelder an seine Bundesgenossen zu entrichten und deutsche Kontingente in seinem Solde zu bezahlen. Gesunde finanzielle Verhältnisse aber bestanden schon im da­ maligen Frankreich nicht. „Das Ancien regime", sagt Schmoller**), ging recht eigentlich an seiner Staatsschuld, seinenStaatsbankerotten und Defizits zugrunde .... Partielle Staats­ bankerotte, das heißt zeitweilige Nichtzahlung der Zinsen, dauernde Herabsetzung derselben, Kassierung von Domänen und Ämterverkäufe gehören seit dem 18. Jahrhundert zu den stehenden Finanzeinrichtungen des altfranzösischen Staates."

Nach dem Siebenjährigen Kriege. Der Hubertusburger Friede hat König Friedrich keinen an­ deren Gewinn gebracht als den einer von allseitiger Achtung getragenen hohen Stellung in Europa. Daß er bei einem solchen Kampfe gegen eine übermächtige Koalition nichts einbüßte, war allein schon ein großer Erfolg, den er seiner unbeugsamen

*) Vgl. S. 29. **) Skizze einer Finanzgeschichke von Frankreich, Österreich, England und Preußen. Leipzig 1909. Freytag-Loringhoven, Angewandte Geschichte

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Festigkeit dankte. Die Hoffnung, durch die Schilderhebung von 1756 das feindliche Bündnis im Keime zu ersticken, war fehl­ geschlagen. Was er 1753 in seinen Generalprinzipien vom Kriege seinen Generalen gegenüber aussprach: „Unsere Kriege müssen kurtz und vives seyn", hatte sich nicht verwirklichen lassen. Dem entsprechend waren die Kriegsschäden ungeheuer, die der König zu heilen hatte. Für das „Retablissement" seiner Lande konnte er glücklicherweise hohe Summen verwenden in Gestalt des Überschusses von 29,4 Millionen Taler, wenn auch geringwertigen Geldes, den er am Schluß des Krieges noch zur Verfügung hatte. Erschwerend wirkte auf das mühsame Werk der Wiederaufrichtung des Landes*) die allgemeine Erschütterung der Kreditverhältnisse, die der Krieg im Gefolge hatte. Viehseuchen und Mißernten traten hinzu, Hungersnöte räumten in den Jahren 1770 bis 1774 in der ohnehin spärlichen Bevölkerung auf, wenn auch der König durch eine geschickte Kornhandelspolitik und Freigabe von Beständen der staatlichen Magazine den schlimmsten Folgen vorzubeugen suchte. Eine großzügige Kolonisation, Umfor­ mung der Verwaltung, Maßnahmen zur Schaffung einer In­ dustrie und Belebung des Handels bilden das Friedenswerk des Königs, das, wenn er im einzelnen auch gelegentlich fehlge­ griffen hat, Zeugnis ablegt von der Tatkraft, mit der Friedrich und, ihm folgend, feine Untertanen sich nach den schweren Kriegszeiten an ihr Friedenswerk begaben. Für uns ein schönes Vorbild. Wohl sind wir durch den verlorenen Krieg *) 3n Pommern lagen 1286 Häuser, Scheuern und Ställe in Trüm­ mern. Der Provinz fehlten 50 000 Kühe. Die Domänenpächter berechneten ihren Kriegsschaden auf 372 695 Taler. 3n der Neumark waren allein auf dem platten Lande 1974 Häuser eingeäschert. Küstrin lag seit der Be­ schießung von 1758 völlig in Trümmern. 3n der Provinz wurden nach dem Friedensschluß 6342 Zugpferde und 68 866 Schafe verteilt. Die Kurmark berechnete ihren Gesamtschaden auf die für die damalige Zeit sehr hohe Summe von 6 218 896 Taler. Sie hatte 25 000 Pferde, 17 000 Ochsen, 20 900 Kühe, 121000 Schafe, 35 000 Schweine verloren. 3n der am meisten umstrittenen Provinz Schlesien, die den Preis des Kampfes bildete, lagen 3323 Häuser, 2225 Scheuern, 3495 Ställe auf dem platten Lande In Trüm­ mern, in den Städten außerdem 2917 Häuser, 399 Scheuern, 1380 Ställe. Der König half mit bedeutenden Mitteln. Steuer- und Pachlerlasse wurden

von ihm verfügt.

in denkbar schwerster Weise geschädigt, wohl ist der moderne Wirtschaftskörper ganz anders empfindlich als der damalige, aber unsere Vorväter haben es bei der ehemaligen Autarkie der Wirtschaft und dem wenig entwickelten Kreditwesen darum nicht leichter gehabt. Es ist der unvergängliche Ruhm unseres Heeres, daß es den Feind — von Teilen Ostpreußens abgesehen — von unseren Grenzen ferngehalten hat. Hätten wir nicht nur den Krieg verloren, sondern auch den Feind im Lande gehabt, wir würden noch sehr viel Schwereres zu tragen haben. Hatte schon Friedrich Mühe mit seinem Aufbau, so zeigt das Beispiel Nordfrankreichs, welche Zerstörungswut dem heutigen Kriege innewohnt. Sie hat ihren Grund in der Ver­ vollkommnung der technischen Kampfmittel, von diesen sind es diejenigen der Franzosen und Engländer, die weitaus das meiste zu den Zerstörungen beigetragen haben, keineswegs die Deutschen. Man vergegenwärtige sich aber solchen Zustand in einem besiegten Kulturlande und man wird erkennen, daß in Deutschland ein kaum wieder gutzumachender Schaden ent­ standen sein würde.

Unser Nordosten, der sich hundert Jahre nach dem Dreißig­ jährigen Kriege aufs neue schwer geschädigt sah, hat ein halbes Jahrhundert später in den Napoleonischen Kriegen nochmals die Kriegsfurie über sich hinbrausen sehen und ist vom Sieger schonungslos ausgebeutet worden. Napoleon selbst hat ange­ geben, daß er Preußen im ganzen 1 Milliarde Frcs. abgepreßt habe. Hiermit stimmt eine Berechnung Max Dunckers*) an­ nähernd überein, der den Gesamtverlust des Landes auf 1,129 Milliarden Mark beziffert. Man wird kaum fehlgreifen, wenn man, unter Berücksichtigung des Unterschiedes im Geldwert zu Anfang und Ende des 19. Jahrhunderts und des Bevölkerungs­ unterschiedes diese Summe als das Zehnfache von den 5 Milli­ arden Frcs. bezeichnet, die Frankreich 1871 an Deutschland ge­ zahlt hat. Bedenkt man, daß die Last zu jener Zeit in dem verarmten Preußen noch weit härter empfunden werden mußte als 1871 in dem reichen Frankreich, wo die Anleihen zur Be­ streitung der Kriegsschuld vielfach überzeichnet wurden, so stellt sich die Preußen auferlegte Kriegslast in ihrer Wirkung noch

*) Preußen während der französischen Okkupation. 6*

viel schwerer dar, selbst wenn man berücksichtigt, daß die Ge­ samtlast Frankreichs aus dem Kriege 1870/71 auf etwa 9% Milliarden Frcs. zu beziffern ist. Das um die Hälfte ver­ kleinerte Preußen des Friedens von Tilsit hatte außer der erwähnten Last noch den vollen Betrag seiner bisherigen Staatsschuld von 44 Millionen Taler und die gesamte in seinem früheren größeren Gebiet vorhandene Scheidemünze zu über­ nehmen. Der finanziellen Bedrängnis suchte man Herr zu werden durch Erhöhung der Auflagen und Einführung pro­ gressiver Einkommensteuern, die bis zu 20 vom Hundert stiegen. Freiwillige und Zwangsanleihen halfen nach, desgleichen der Verkauf eines Teils der Domänen.

Die mühsam hergestellte Ordnung im Staatshaushalt wurde durch den Krieg von 1812 bereits wieder gestört. Beim Durchmarsch und Aufmarsch der Großen Armee mußten Lie­ ferungen im Werte von 127 Millionen Frcs. geleistet werden. Kam auch dieser Betrag auf die Rückstände der Kriegsschuld von 1806/07 in Anrechnung, so entstand Preußen 1812 doch ein neuer Kriegsaufwand von 309 Millionen Taler. Wenn Napoleon seine Absicht, den Preußischen Staat völlig lahmzu­ legen, nicht erreichte, so lag es wesentlich an der Besonnenheit, Pflichttreue und Vaterlandsliebe seiner Bewohner, denn diese haben unsägliches Elend in diesen Jahren der Erniedrigung erduldet. Die Pflicht, weitgehende soziale Fürsorge zu üben, ist für uns selbstverständlich. Niemand wird sich ihr entziehen wollen. Jene Zeit kannte sie noch nicht. Wenn unser Ge­ schlecht im Weltkriege bewiesen hat, daß es den Vergleich mit den Helden des Siebenjährigen Krieges und der Befreiungs­ kriege hinsichtlich der Haltung vor dem Feinde in keiner Weise zu scheuen braucht, ja eher noch mehr geleistet hat als jene, so hat unser durch soziale Fürsorge verwöhntes Volk in der Heimat es seinen Altvorderen in Duldermut und Vaterlands­ liebe nicht gleichgetan.

Generalleutnant von Friederich schreibt*): „Preußen war nie ein reiches Land gewesen, aber es hatte sich in ihm während der langen Friedenszeit und unter einem milden und haus­ hälterischen Regiment überall ein bescheidener Wohlstand ent*) Die Befreiungskriege, I., Der Frühjahrsfeldzug 1813. Berlin 1911.

wickelt; der Ackerbau hatte geblüht, die brandenburgische Tuch­ fabrikation, die Berliner Seidenmanufaktur, die schlesische Lein­ wandindustrie hatten ihre Erzeugnisse weithin gesandt. Ree­ derei und Seehandel hatten reichen Ertrag gegeben. Jetzt lag alles danieder. Die endlosen Naturallieferungen an die Fran­ zosen, die fortdauernde Gestellung von Gespannen, die Last der Einquartierung und der Druck der Steuern hatten die Land­ wirtschaft derart heruntergebracht, daß große Landflächen un­ bebaut blieben und drei Viertel der Güter unter Sequester standen. Der Rückschlag auf die Verwaltung und die Ein­ nahmen des Landes war von den traurigsten Folgen. Der Staat vermochte sein zahlreiches Beamtenheer, das jetzt noch um 7000 Vertriebene aus den abgetretenen polnischen Provin­ zen vermehrt worden war, nicht mehr zu bezahlen. Abzüge, Zahlungsstockungen oder gar gänzliches Ausbleiben des Ge­ halts stürzten Tausende von Staatsdienern in das größte Elend, am meisten die Witwen und Waisen. Zahlreiche Offiziere mußten entlassen oder auf Halbsold gesetzt werden, viele von ihnen wurden nur dadurch vor dem Hungertode bewahrt, daß sie, gleich den Unteroffizieren, vom Staat täglich zwei Pfund Brot geliefert erhielten." Nicht wenige von ihnen fristeten ihr Leben, indem sie bei Bauern Dienst als Knechte nahmen. Zahlungen in Höhe von 15 Millionen Taler, wie sie Berlin, damals eine Stadt von 70 000 Einwohnern, in den Jahren 1806 bis 1812 den Franzosen zu leisten hatte, mußten sich in drückendster Weise fühlbar machen. Bereits am 24. Juli 1807 meldete der französische Gouverneur der preußischen Haupt­ stadt, General Clarke, Napoleon: „Die Kontributionen, die hier einem Lande abgefordert werden, in dem nur noch Sand und schöne Häuser übrig sind, hinter deren Mauern das Elend wohnt, verursachen überall Schrecken, und jeder erwartet angst­ voll das ihm bevorstehende Schicksal. Ohne unangebrachtes Mitleid erregen zu wollen, darf ich doch nicht verschweigen, daß die Selbstmorde sich namentlich unter der arbeitenden Be­ völkerung und den bedürftigen Frauen mehren*)." Bei dem überall im Lande herrschenden Elend und unter dem Druck der *) Publikationen aus den Kgl. Preußischen Staatsarchiven, Band 88, Berichte aus der Berliner Franzosenzett 1807—1809. Leipzig 1913.

fremden Gewalthaber erlahmte die geistige und körperliche Widerstandskraft der Bewohner immer mehr. Im Frühjahr 1808 forderte eine über große Gebiete Norddeutschlands sich erstreckende Hungersnot viele Opfer. Ansteckende Krankheiten, gegen die man damals noch keine Mittel kannte, wie Ruhr, Pocken und Typhus, fanden infolgedessen weite Verbreitung. Die Sterblichkeit war namentlich unter den Kindern sehr groß. Am schlimmsten erging es der Provinz Ostpreußen. Die er­ bärmliche, diebische russische Intendantur ließ 1807 die Truppen fortgesetzt hungern. Die Folge war, daß diese zahlreichen Aus­ schreitungen begingen. Ostpreußen hat bis Ende 1807 durch den Krieg verloren: 245 312 Pferde, 137 616 Ochsen, 206109 Kühe, 878 719 Schafe. Bei den Durchmärschen 1812 sind dann aus dieser Provinz, abgesehen von den bedeutenden vertrags­ mäßigen Lieferungen, von den Franzosen gewaltsam mitge­ führt worden: 26 579 Wagen und 70161 Pferde. Zu alledem hatte das Jahr 1811 noch eine Mißernte gebracht, so daß für die Aussaat 1812 vielfach Getreide fehlte*). Und doch hat ge­ rade diese schwer geschädigte, menschenarme Provinz den An­ stoß zur Erhebung des Jahres 1813 gegeben! Unendlich Schweres ist von unseren Vorvätern im Siebenjährigen Kriege wie in der Franzosenzeit erduldet worden. Sie verzweifelten gleichwohl nicht inmitten allen Elends, rafften sich vielmehr zu rüstiger Arbeit auf, um sich oder doch ihren Kindern eine bessere Zukunft zu erringen. An ihnen sollen wir uns ein Beispiel nehmen. Auch sie hatten einst bessere Tage gekannt, nach denen sie sich zurückgesehnt haben werden. Das hat sie nicht ver­ hindert, die Pflichten des Tages zu tun in dem Bewußtsein, daß der Mensch dazu da ist, diese zu erfüllen, nicht aber nur, um ein sogenanntes glückliches Leben zu führen. Auch dürfen wir nicht den Gedanken aufkommen lassen, daß unsere Vorväter darin sehr viel vor uns voraus gehabt hätten, daß es ihnen vergönnt war, bereits nach wenigen Jahren das napoleonische Joch abzuschütteln. Die Nachwirkungen der Kriegszeit sind noch zwei Jahrzehnte hindurch sehr fühlbar gewesen. Es herrschte überall Dürftigkeit, die erst ganz allmählich einem bescheidenen Wohlstände gewichen ist. *) Dropsen, Norks Leben, II.

Das ganz der Königspflicht geweihte große Leben Frie­ drichs ist von wunderbarer Wirkung gewesen, weit über die Grenzen des Preußischen Staats hinaus. So wenig der König deutsche nationale Ziele in unserem Sinne verfolgt hat, so sehr ist doch sein Heldentum dem ganzen deutschen Volke zum Segen geworden. Nicht nur, daß preußische Art und preußische Pflichttreue, mögen sie auch, namentlich von den weicher ge­ arteten Süddeutschen, nicht immer angenehm empfunden worden sein, seitdem vorbildlich geworden sind für alle Deutschen, schon zu Lebzeiten hat der König auf diese eine große Wirkung ausgeübt, die sich nicht auf das Gebiet staat­ lichen Lebens beschränkte. Sagt doch Goethe:*) „Der erste wahre und höhere eigentliche Lebensgehalt kam durch Friedrich den Großen und die Taten des Siebenjährigen Krieges in die deutsche Poesie. Jede Nationaldichtung muß schal sein oder schal werden, die nicht auf dem Menschlich-Ersten ruht, auf den Erlebnissen der Völker und ihrer Leiter, wenn beide für einen Mann stehen. Könige sind darzustellen in Krieg und Gefahr, wo sie eben dadurch als die Ersten erscheinen, weil sie das Schicksal des Allerletzten bestimmen und teilen ...." Den Deutschen mußte der König als Schiedsrichter der Welt erscheinen, denn für die Geschicke des Reichs war er es in der Tat, obwohl, oder gerade weil er dieses gegenüber den Machtgelüsten des Hauses Habsburg vertrat. Schon vor dem Zweiten Schlesischen Kriege, in den er zum Schutze des Wittelsbachifchen Kaisers eintrat, erstrebte er 1743 inmitten der Reichsstände eine Stellung als Immerwährender Generalleut­ nant an der Spitze der Reichstruppen. Damit wäre dem Kaiser der Schein der Macht, Preußen die Reichsfeldherrnschaft zuge­ fallen, ein Gedanke, der in ähnlicher Form später wieder auf­ getaucht ist. Dem unruhigen Ehrgeiz Kaiser Josephs H. ist Friedrich im Bayerischen Erbfolge-Kriege von 1778/79 und durch den Fürstenbund von 1785 erfolgreich entgegengetreten. Die Krone Bayern dankt ihm ihre Errettung, denn ohne ihn wäre ihr Land von Österreich verschluckt, die Dynastie Wittels­ bach in die österreichischen Niederlande, das heutige Belgien, verpflanzt worden. Süddeutschland und vor allem Bayern *) Dichtung und Wahrheit.

haben allen Anlaß, Preußen dankbar zu sein für seine Leistungen. Es tut dabei nichts zur Sache, daß Friedrich selbst über das künstliche Gebilde des alten Reiches sehr gering­ schätzig dachte, daß für ihn, wie bis zum Jahre 1866 auch für Bismarck, die eigenen preußischen Interessen allein maßgebend waren. Jede geschichtliche Tat, selbst die größte, geschah in ihrer Zeit und für diese Zeit. Auch wenn ihr darüber hinaus eine weitreichende Wirkung beschieden ist, verblaßt allmählich die Erinnerung an sie. Ihre Folgen verflüchtigen sich in Neu­ schöpfungen, selbst wenn sie diesen ihren Anstoß gegeben hat. An­ ders der wahrhaft große Mensch. Er gehört uns für immer. Darum ist die sittliche Größe König Friedrichs für uns das bleibende Erbteil, das wir von ihm empfangen haben. Das ist es, was Jakob Burckhardt vorschwebt, wenn er sagt:*) „Schicksale von Völkern und Staaten, Richtungen ganzer Zivi­ lisationen können daran hangen, daß ein außerordentlicher Mensch gewisse Seelenspannungen und Anstrengungen ersten Ranges in gewissen Zeiten aushalten könne. Alle seitherige mitteleuropäische Geschichte ist davon bedingt, daß Friedrich der Große dies 1759 bis 1763 in fupremem Grade konnte." Was dieser große Einzelne konnte, das deutsche Volk hat es im Weltkriege nicht vermocht. Darum ist aller Heldenmut, den es an der Front bewiesen hat, wohl eine unschätzbare, stolze Er­ innerung, die ein bleibendes Gut, ein Mittel der Wiederauf­ richtung aus dem seelischen Leid dieser Tage bildet, in seiner praktischen Auswirkung aber vergeblich gewesen. Selten hat sich die Macht der Persönlichkeit in der Geschichte in gleichem Maße gezeigt wie in der Erscheinung Friedrichs des Großen. Die einseitigenDeutungendermaterialistischenGeschichtsauffassung**) werden durch ihn schlagend widerlegt. Wohl hat SteinmannBucher nicht Unrecht, wenn er für unsere Zeit sagt***): „Wir führen Klage darüber, daß uns kein Führer ersteht, der uns mit starker Hand aus der Not reißt. Wir sehen nirgends einen solchen Großen. Das ist nicht Mißgechick, nicht Verhängnis, vielmehr eine natürliche und notwerdige Begleiterscheinung *) A. a. O. “) Vgl. auch S. 22. ***) Sozialisierung? Berlin 1919.

unserer Zeit. Es geht über Menschenkraft, das Ganze unserer Wirtschaft, unserer politischen, geistigen und kulturellen Auf­ gaben zu erfassen; eine Einzelpersönlichkeit, die dazu befähigt wäre, gibt es nicht mehr," und zweifellos ist das moderne Leben zu vielgestaltig, als daß selbst ein Genius alle seine Ein­ zelheiten zu beherrschen vermöchte, wie es König Friedrich für die Staatsmaschine des alten Preußens noch konnte. Warum aber ein genialer Führer nicht auch heute imstande sein sollte, die gesamten Aufgaben des Staatslebens im großen zu über­ blicken und das Ganze mit machtvollem Willen zu durchdringen, ist nicht einzusehen. Ein solcher Wille gedeiht jedenfalls nicht auf dem Boden von Mehrheitsbeschlüssen.

6. Oie französische Revolution. Der Zusammenbruch des alten Regimes. Die absolute Monarchie hatte in Europa segensreich ge­ wirkt und die Länder einer gedeihlichen Entwicklung zugeführt. Nur in Frankreich war eine solche ausgeblieben. Hier waren innerhalb der monarchischen Ordnung Reste des alten Feudal­ staats stehen geblieben, deren beengende Wirkungen um so mehr verspürt wurden, je weniger berechtigt diese verrotteten Ein­ richtungen noch waren. Tocqueville*) hat nachgewiesen, daß die Zentralisation in Frankreich, die man der Revolution zu­ geschrieben hat, längst unter dem alten Regime vorhanden war, daß dieses sogar der Revolution vielfach die Form geliefert hat, in der sie auftrat, diese nur ihre Furchtbarkeit hinzuge­ stellt hat. Auf den Rückgang der Monarchie Ludwigs XIV. nach glänzendem Aufstieg ist bereits hingewiesen worden**), desgleichen auf die finanzielle Bedrängnis des alten Frank­ reich. Schlimmer als der Verfall aller öffentlichen Ein­ richtungen war der sittliche. „In der ganzen herrschenden Ge­ sellschaft war ein Geist der Meuterei und Unzufriedenheit, eine aus Unsittlichkeit und frivoler Jmpietät gemischte Verachtung der bestehenden Ordnung und ihrer Träger, der in Europa *) A. a. o. **) S. 41.

so

Die französische Revolution.

beispiellos war*)." Das Königtum war durch Ludwig XV. und feine Mätressenwirtschaft völlig entwürdigt worden. Die persönliche Ehrenhaftigkeit Ludwigs XVI. konnte die begangenen Sünden um so weniger gut machen, als seine Fähigkeiten der schwierigen Lage, die er vorfand, in keiner Weise gewachsen waren. Das Amt der Provinzial-Gouverneure war mehr und mehr zu einem hochbezahlten Ehrenamt für Personen des hohen Adels geworden. Die Verwaltung lag in der Hand von Inten­ danten, die, 3d an der Zahl, das Land regierten. Sie hingen ab vom Generalkontrolleur der Finanzen, wie die Unter­ intendanten von ihnen. Der Verwaltungsapparat war ebenso einfach, wie er sich durch Bielregiererei vsrhaßt machte. Die da­ neben stehengebliebenen Überreste der Feudalzeit hatten eine überaus merkwürdige Gestalt. Der Bauer genoß in Frankreich größere persönliche Freiheit als anderswo. Er besaß etwa ein Drittel des Grund und Bodens zu eigen, stand dabei aber, ob­ wohl nicht erbuntertänig und im Besitz der Freizügigkeit, zu den Eigentümern der anderen zwei Drittel des Grund und Bodens, dem Adel und der Geistlichkeit, in einem äußerst drückenden Verhältnis, da er an diese Abgaben der verschiedensten Art zu leisten und dazu die Last der Staatssteuern zu tragen hatte, von denen jene frei bliebeü. Der Adel übte dafür nicht wie in anderen Ländern Pflichten aus. Er teilte nicht mit den Bauern Last und Ungunst der Jahre, hatte sich vielmehr längst des Landlebens entwöhnt. Nur in der VendSe war es anders. Sonst aber erfuhr der Bauer vom Gutsherrn meist nur durch den mit Eintreibung der Gefälle beauftragten Agenten. So sam­ melte sich im Landvolke ein tiefer Haß gegen den Adel an, der sich auch auf die Geistlichkeit übertrug. Die Aristokratie Frank­ reichs war zu einer Kaste geworden, die sich von ihrem Volke geschieden hatte, auf dessen Kosten sie lebte. In den Städten herrschte ein strenger Zunftzwang. Nur innerhalb der Zünfte, die in sinnloser Weise vervielfältigt wur­ den, durste Arbeit geleistet werden. Die Verleihung von Vor­ rechten an die Zünfte bildete ebenso wie sonstige Verleihungen, die öfter willkürlich zurückgezogen wurden und nochmals erkauft *) Ludwig Häussers Geschichte der französischen Revolution. gegeben von Wilhelm Oncken. 3. Ausl. Berlin 1891.

Heraus­

werden mußten, eine ergiebige Einnahmequelle der Regierung. Die Hauptstadt zählte zu Beginn der Revolution bereits 600 000 Einwohner. Sie war längst die größte Industriestadt Frank­ reichs. Ihre Arbeiterbevölkerung hatte sich in den 60 Jahren, die der Revolution voraufgingen, mehr als verdoppelt. Noch der unglückliche Ludwig XVI. trug Sorge, in Paris eine starke Arbeiterbevölkerung anzuhäufen, um die Industrie zu beleben. Niemand dachte damals, daß hierin unter Umständen eine große Gefahr liegen könnte. Paris war nicht nur der Sitz der höchsten Verwaltung des Landes, es hatte auch allmählich alle Intelligenz der Provinzen an sich gezogen. Kunst und Wissen­ schaft, Handel und Gewerbe, alles häufte sich dort zugleich mit einem starken industriellen Proletariat an. „Paris war die Herrin Frankreichs geworden, und schon versammelte sich die Armee, die sich zur Herrin von Paris machen sollte. Die Zentralisation der Verwaltung und die Allgewalt von Paris haben sehr viel zum Sturze der Regierungen in Frankreich beigetragen*)."

„Niemals wohl war der Unterschied zwischen der Welt," schreibt Hausier**), „die in Wirklichkeit bestand, und derjenigen, welche die Stimmungen der Gemüter beherrschte, unermeß­ licher und unausgleichbarer als in dem Frankreich des 18. Jahrhunderts . ... Es gibt einen Standpunkt der Verzweif­ lung, wo die Geister, müde, an dieser oder jener Einzelheit der bestehenden Ordnung fruchtlos zu mäkeln, alles, was vor­ handen ist, hoffnungslos aufgeben und dem Unhaltbaren ein ganz neues eigenes Gebäude entgegenstellen, sei es ausführbar oder nicht. Auf diesem Standpunkt war die französische Lite­ ratur angekommen, welche der Revolution voraufgegangen ist ... . Die französische Schriftstellerwelt stand völlig außer­ halb der politischen Ordnung und beherrschte dennoch die bürger­ liche Gesellschaft.... Hatte der noch am meisten in der Praxis stehende Montesquieu seinen englischen Konstitutionalismus, so hatte Voltaire seine deistische Religion der Menschenrechte in Staat und Kirche und Rousseau seine soziale Republik. Alle drei sehen in dem Staat, wie er ist, eine ihrem Ideal feind*) Tocqueville, a. a. O. **) A. a. O.

liche Macht, sie spotten und ärgern sich über ihn und üben da­ neben auf die Gesellschaft, die in diesem Staate lebt, einen un­ ermeßlichen Einfluß." Die Revolution hat in ihren Anfängen zwischen Montesquieus Ideen von der Teilung der Gewalten und Roufseaus Lehre von der Volkssouveränität hin- und her­ geschwankt. Diese gewann die Oberhand. „Die Massen folgen dem, der ihre Gefühle zu erregen versteht, und dazu war Rousseau der Mann*)." Die Teilnahme Frankreichs am Nord­ amerikanischen Unabhängigkeitskriege**) war durchaus volks­ tümlich. Die Begeisterung für die junge Republik hat der Re­ volution wirksam vorgearbeitet. Nicht die amerikanische Ver­ fassung selbst ist es gewesen, die solchen Einfluß ausübte, aber „die Amerikaner schienen nur das auszuführen, was unsere Schriftsteller erdacht hatten, sie verhalfen Dingen zur Wirklich­ keit, die bei uns die Menschen erträumten"***). Neben den geistigen, mehr ideellen Bestrebungen tat sich die staatswirtschaftliche Lehre der Physiokraten auf. Colberts Merkantilsystem-s-), das darauf ausging, durch staatliche Be­ günstigung und Unterstützung, Handel Gewerbe und Verkehr zu beleben, forderte in seiner Übertreibung zum Widerspruch heraus. Die physiokratische Schule suchte im Gegensatz zum Merkantilismus den Wohlstand durch Belebung des Ackerbaues zu heben. Sie forderte daher eine Befreiung der ländlichen Arbeit und des ländlichen Besitzes von unbilligen Lasten und außerdem unbedingte Freiheit des Umlaufs und des Wettbe­ werbes. Hierin waren die Physiokraten, obwohl Agrarier, zu­ gleich Vorläufer der Freihändler. Dieser Richtung gehörte Tür­ got an, der 1776 zugleich mit dem ehrenwerten Malesherbes von Ludwig XVI. in das Ministerium berufen wurde. Sein Wirken stellt den letzten, vergeblich gebliebenen Versuch dar, durch um­ fassende Reformen den Staat der Genesung zuzuführen. Da­ mit betrat auch Frankreich verspätet die Bahnen des aufge­ klärten Despotismus. Diese Periode sollte jedoch nur zwei Jahre dauern, da Turgots Reformpläne nicht durchdrangen. Er plante eine gründliche Beseitigung der Steuermißbräuche, *) **) ***) t)

Häusser, a. a. O. Dgl. S. 56. Tocqueville, a. a. O. Dgl. 6. 37.

Einführung einer umfassenden Selbstverwaltung in Gemeinde, Kreis und Provinz und damit eine gesunde Dezentralisation. Die zahlreichen noch bestehenden Binnenzölle, die eine gleich­ mäßige Verteilung des Brotkorns erschwerten und daher zu Hungersnöten führten, die von hochgestellten Persönlichkeiten zu unsauberen Wuchergeschäften benutzt wurden, sollten fallen, der Zunftzwang in den Städten beseitigt werden, des­ gleichen noch vorhandene Reste der Feudalzeit. Alle gebun­ denen Kräfte wollte Turgot auf diese Weise frei machen, das Ganze durch eine Reichsversammlung von Abgeordneten der Provinzialräte krönen. „Der Reformplan gab den rechtmäßigen Inhalt der französischen Revolution; alles, was außerdem ge­ schehen ist, ist entweder bestreitbar oder verwerflich," urteilt einer von Turgots Biographen*). Der Minister ist an dem Widerstande, den ihm die privilegierten Stände, die höchsten Gerichtshöfe, die Parlamente bereiteten, und an höfischen In­ trigen gescheitert. Man hatte den schwachen König mißtrauisch gegen ihn gemacht, sogar das Volk gegen ihn aufgehetzt unter dem Vorwande, daß er das Brot verteuere. Turgot ist vorgeworfen worden, daß er zu eilig vorge­ gangen, zuviel auf einmal erstrebt habe. Möglich auch, daß bei den seit Jahrzehnten verfahrenen Verhältnissen auf dem Wege der Reform durch die absolute Monarchie nichts mehr zu erreichen war. Nach Turgots Ausscheiden aus dem Amt ist jedenfalls der Staatswagen über Recker, Calonne, Brienne und wieder Recker dem Abgrund immer weiter zugerollt. Der Ver­ such, mit Hilfe einer 1787 einberufenen Notablenversammlung den Staatsfinanzen aufzuhelfen, schlug fehl. In dieser Ver­ sammlung sprach zuerst Lafayette das zündende Wort von der Berufung der Reichsstände aus. Da es Brienne auch nicht glückte, durch Hilfe der Parlamente die unerläßlichsten Reformen durchzusetzen, die Parlamente sich vielmehr der Krone auf das heftigste widersetzten, blieb schließlich kein anderer Ausweg, als 1789 die Reichsstände einzuberufen. Die Versammlung zu leiten, wäre einer tatkräftigen Regierung durchaus möglich gewesen, allein Recker überließ sie sich selbst. Als die Krone dann den Versuch machte, ihren Willen durchzusetzen, drang sie *) Angeführt bei Häusser, a. a. O.

nicht durch und sah sich genötigt, Zugeständnisse zu machen, die, rechtzeitig gewährt, sie alles hätte gewinnen lassen können. Gleichzeitig bildeten sich in Paris radikale Klubs, die sich neben der Nationalversammlung eine nur dieser zukommende Be­ deutung anmaßten. Mehr und mehr ist dann die Führung der Bewegung in die Hände dieser Klubs gelangt. Die Armee konnte bereits zum großen Teil nicht mehr als zuverlässig be­ trachtet werden. Dennoch entschloß sich der König zu einer gewaltsamen Wiederherstellung der Ordnung und zur Ent­ lassung Neckers. Die Folge war der Aufstand in Paris, der am 14. Juli 1789 zur Erstürmung der Bastille führte. Der König zögerte, durchzugreifen. Er rief Necker zurück, suchte den Schutz der Nationalversammlung auf und begab sich nach Paris. Die Truppen waren aus der Hauptstadt zurückgezogen, wo Lafayette als Befehlshaber der Nationalgarde und der Pariser Gemeinderat tatsächlich die Gewalt in Händen hatten. Waren in Paris die Gemüter für den Augenblick beschwich­ tigt, so hatten die dortigen Ereignisse doch den Anstoß zu einer Revolutionierung auch der Provinzen gegeben, überall brachen große Bauernaufstände aus. Die Nationalversammlung riß, da die Regierung mit einem Verfassungsentwurfe zögerte, alle Initiative an sich. Der Erklärung der Menschenrechte folgte die Abschaffung aller Feudalrechte Und der Beschluß einer Ver­ fassung mit einer Kammer und nur suspensivem Veto des Königs. Als Ludwig XVI. zögerte, diese Verfassung sofort an­ zunehmen, geschah am 5. Oktober 1789 jener Zug der Pariser Bevölkerung, die den König als Gefangenen nach Paris brachte, wohin ihm die Nationalversammlung folgte. Sie und der König waren von nun an der Willkür der Pariser Klubs an­ heimgegeben. Bereits nach dem Baftillefturm hatte eine starke Auswanderung von Mitgliedern des Hochadels mit den Brü­ dern des Königs an der Spitze begonnen. Im Oktober sind Angehörige des gebildeten Bürgertums, darunter Mitglieder der Nationalversammlung, diesem Beispiel gefolgt. Mit Recht äußert Häusser hierzu*): „Es ist eine Tugend, in solchen Dingen politische Geduld zu üben und zu warten, bis eine günstigere Zeit wiederkehrt, aber den Kampfplatz feig zu

räumen, ist ein Fehler, der sich stets zum mindesten durch ein rasches Vergessen der Flüchtlinge bestraft. . . . Man darf in Zeiten der Bewegung nie durch Verschwinden eine Rolle spielen wollen." Zur „politischen Geduld" führt unmittelbar die Er­ kenntnis, daß eine Bewegung, die ein ganzes Volk ergriffen hat, Zeit braucht, um sich zu klären und sich auszulaufen, daß ihr nicht willkürlich von heute auf morgen Halt geboten werden kann. Auch diejenigen, die am Alten hängen und von der Ver­ derblichkeit einer solchen Bewegung an sich überzeugt sind, dürfen sich nicht der Einsicht verschließen, daß es nicht das eigentlich Wertvolle überkommener geistiger und sittlicher Werte retten heißt, wenn man einmal in Bewegung gekommenen revolutionären Massen frühere Zustände unverändert wieder aufzunötigen unternimmt, wie es das Bestreben der fran­ zösischen Emigranten war. Soweit auch die Anarchie in Frankreich bereits gediehen war, ein starker Wille hätte bei entsprechender Mäßigung immer noch der Lage Herr werden können. Beides fand sich in Mirabeau vereinigt. Er gewann Fühlung mit dem Hofe und hat seinen ganzen Einfluß in der Nationalversammlung für die Aufrechterhaltung der Ordnung unter der konstitutionellen Monarchie eingesetzt. Im Frühjahr 1791 konnte er sich seinem Ziele, nahe glauben, als ihn der Tod ereilte. Die National­ versammlung verlor mit ihm ihren größten politischen Kopf. Mirabeau ist nicht von dem Vorwurf freizusprechen, 1789 Leidenschaften selber mit entfesselt zu haben, die er später be­ kämpfte, aber seine staatsmännische Einsicht stand ebenso hoch über den niederen Instinkten der späteren Jakobiner wie über der Schwarmgeisterei der Girondisten. Sein weises Wort vom 18. September 1789 beweist es: „Wir sind keine Wilden, die nackt vom Ufer des Orinoko kommen, um zu einer Staatsgesell­ schaft zusammenzutreten. Wir sind eine alte Nation, und ohne Zweifel zu alt für unsere Zeit. Wir haben eine gegebene Re­ gierung, einen gegebenen König und gegebene Vorurteile. Wir müssen das alles, soviel irgend möglich, der geschehenen Um­ wälzung anzupassen suchen und die Plötzlichkeit des Übergangs verhüten." Ursprung und Verlauf der französischen Revolution von 1789 sind durchaus verschieden von der unsrigen vom Spät-

herbst 1918, und doch enthält der Sturz des alten Regimes in Frankreich mancherlei Vergleichs- und Anhaltspunkte, die, besser beachtet, uns vor dem Umsturz hätten bewahren können. Die angeführten Worte Mirabeaus haben auch für uns heute noch Gültigkeit. Sie decken sich zum Teil mit dem, was Tocqueville sagt*): „Die Franzosen haben 1789 die größten Anstrengungen gemacht, die je ein Volk unternahm, ihr Geschick zu zerschneiden und das, was war, durch einen Abgrund von dem zu trennen, das sie nunmehr erstrebten. Sie haben sich in jeder Weise Zwang auferlegt, um sich anders zu gestalten, als ihre Väter waren, und nichts unterlassen, um sich unkenntlich zu machen. Ich habe immer gedacht, daß ihnen dieses sonderbare Unter­ fangen weit weniger geglückt sei, als es den Außenstehenden schien und als es die Franzosen selbst geglaubt haben. Ich war überzeugt — und eingehendes Studium hat es mir be­ stätigt —, daß sie, ohne es zu wissen, aus der Zeit des alten Regimes Gefühlswerte, Gewohnheiten, ja die Gedankenwelt, der dieses alte Regime zum Opfer fiel, zum größten Teil mit hinübergenommen und die Trümmer des alten Staates benutzt haben, um den neuen auf ihnen zu errichten. ... Da die fran­ zösische Revolution aber bestrebt war, nicht nur die alte Re­ gierungsform zu ändern, sondern auch die Formen der alten Gesellschaft abzuschaffen, hat sie sich gleichzeitig an alle bestehen­ den Gewalten herangemacht, alle anerkannten Einflüsse und Traditionen beseitigt, Sitten und Gebräuche zu ändern unter­ nommen, den menschlichen Geist gewissermaßen von der Ge­ dankenwelt zu befreien gesucht, in der bis dahin Achtung und Gehorsam geruht hatten. So erklärt sich der eigentümlich anarchische Charakter der Revolution." Tocqueville erklärt den Gegensatz zwischen ihrem theoretischen Edelsinn und der Gewalt­ samkeit ihrer Handlungen dadurch, daß die Revolution von den geistig höchststehenden Klassen vorbereitet und von den unge­ bildetsten und rohesten durchgeführt worden ist. Auch Fürst Bülow vertrat die gleiche Ansicht wie Mirabeau, wenn er in seiner „Deutschen Politik"**) inmitten des Krieges ausführte: „Wir wissen, daß nur unhistorische und doktrinäre *) A. a. O. **) Berlin 1916.

Betrachtungsweise annehmen kann, es werde nach diesem Welt­ krieg eine Zeit anbrechen, die im ganzen wie in allen Einzel­ heiten im Gegensatz steht zu den vergangenen Jahrzehnten vor dem Kriege, eine Zeit, die Tradition und Entwicklung bricht, anstatt sie fortzuführen. Das können wir nicht einmal wün­ schen, denn nicht jäher und vollkommener Wechsel, sondern organische Weiter- und Fortentwicklung verbürgen gesundes Wachstum." Das deutsche Volk hat von solcher Weisheit nichts hören wollen und nun an den Folgen seiner Überhebung schwer zu tragen, denn nur menschliche Überhebung konnte den Glau­ ben entstehen lassen, daß es möglich sei, alles neu zu schaffen. Dieser Glaube war vor der französischen Revolution bei den herrschenden Zuständen mindestens begreiflich, bei uns aber entbehrte er durchaus der Berechtigung, denn es gab in Deutsch­ land nirgends Mißstände, wie sie in Frankreich vor der Revo­ lution herrschten. Das alte Staatswesen war durchaus leistungs­ fähig und konnte, wo ihm Mängel anhafteten, sehr wohl im Wege der Reform fortgebildet werden. Daß der „Obrigkeits­ staat" durch den „Volksstaat" ersetzt werden müßte, ist ein Schlag­ wort, wie es deren unsere Zeit so viele hervorbringt, nicht anders wie das Wort von der „Neuorientierung" und der „freien Bahn für den Tüchtigen". Wir haben früher über die Einwirkung der Phrase auf die Franzosen gespottet, sind ihr aber selbst erlegen. Die Verwaltung war bei uns von erprobter Redlichkeit und anerkannter Tüchtigkeit. Wenn sie in mehr­ facher Hinsicht an veralteten Formen hing und sich von den Gepflogenheiten des früheren Polizeiftaates noch nicht frei­ gemacht hatte, zu große Starrheit zeigte, so bedurfte es hier zur Besserung nicht eines Umsturzes. Tatsächlich zeigte sich denn auch, als dieser das Proletariat an die Spitze brachte, daß zur Führung der Amtsgeschäfte das geschulte bürgerliche Beamtentum unentbehrlich war, wie es der Offiziere des alten, vom Geiste des vielgescholtenen Militarismus beseelten Heeres und seiner sich freiwillig stellenden Mannschaft bedurft hat, um Deutschland vor der Anarchie zu bewahren. Ohne den Welt­ krieg mit seinen durch die Blockade verschärften Einwirkungen auf die Heimat, ohne die Ansteckung durch den russischen Bol­ schewismus und die geschickte Propaganda unserer Feinde, wäre es bei uns zur sozialen Revolution nach menschlichem Ermessen Frehtag-Loringhoven, Angewandte Geschichte

überhaupt nicht gekommen. Gerechte Forderungen des soge­ nannten vierten Standes hätten sich auf dem Wege natürlicher Entwicklung von selbst durchgesetzt. Ein Neutraler*) schreibt über die Deutschen, sie hätten vor dem Kriege das Bild eines sich kraftvoll und in guter Gesund­ heit entwickelnden Volkes geboten, das von einem hochgebil­ deten, fachtüchtigen und pflichttreuen Beamtentum verwaltet gewesen sei, wie es kaum ein zweiter Staat aufzuweisen gehabt habe. „Jeder Fremde beneidete Deutschland um seine muster­ gültig arbeitenden Beamten, besonders um seine in eisernem Fleiß, strenger Genügsamkeit und unbestechlicher Rechtlichkeit arbeitende untere Beamtenschaft. Deutschland war das am billigsten und besten verwaltete Staatswesen unter den Groß­ staaten. . . . Dieses Deutschland gewährte nicht den Anblick eines Landes, das den Keim der Revolution in sich trüge. In allen Einzelheiten scheint es abzustechen gegen jenes Frankreich von 1789, das dem Untergang aus natürlichen Gründen ver­ fallen war." Darum ist auch das vielfach geäußerte Erstaunen, daß die leitenden Stellen bei uns in der Weife, wie es geschah, von der Revolution überrascht werden konnten, nur zum Teil gerecht­ fertigt. Sehr bezeichnend sagt Tocqueville**): „Nichts ist ge­ eigneter, die Philosophen und Staatsmänner zur Bescheidenheit zu mahnen, als die Geschichte der französischen Revolution, denn niemals hat es Ereignisse von größerer Tragweite gegeben, die sich in gleichem Maße von weither angekündigt, besser vorbe­ reitet und weniger vorhergesehen worden sind." Ein Genius wie Friedrich der Große, der als ein Hauptvertreter des auf­ geklärten Despotismus ein Vorläufer der Ideen der Revolution gewesen sei, habe ihr Kommen nicht geahnt. Die zeitgenössi­ schen fremden Regierungen betrachteten die Revolution als ein örtliches, vorübergehendes Ereignis. Burke, bei all seinem Abscheu vor ihr, weiß zunächst nicht, was er aus ihr machen soll. „Was uns Heutigen so leicht auseinanderzuhalten und zu erkennen scheint, stellte sich auch den klarsehendsten Mitlebenden wirr und wie von einem Schleier verhüllt dar." Um so weniger ist es zu verwundern, daß die deutsche Revolution von - *) Dr. E. Jenny, Die Errungenschaften der Revolukton. **) A. a. O.

Berlin 1920.

Deutschland vor der Revolution.

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1918 nicht, oder doch nicht in ihrer ganzen Tragweite voraus­ gesehen worden ist, zumal sie im Gefolge des Krieges auftrat, währenddessen sich bereits seit längerer Zeit im Heere, auf der Flotte und in der Heimat Unruhen, Widersetzlichkeiten und Fahnenflucht bemerkbar gemacht hatten. Sie sind den höheren militärischen Stellen nicht entgangen, und wenn sie von ihnen nicht in ihrer ganzen Bedrohlichkeit erkannt wurden, so lag es zum Teil daran, daß sich in dem langen Kriege eine gewisse Abstumpfung gegen dergleichen Erscheinungen eingestellt hatte, wiewohl diese gerade bei uns infolge der sonst geübten straffen Disziplin besonders verderblich sein mußten. Hierfür fehlte außerhalb des Heeres jegliches Verständnis. Auch bei unseren Feinden sah es nicht viel besser aus. Ganze französische Truppenteile haben bereits im Frühjahr 1917 gemeutert. Man ist aber mit drakonischer Strenge gegen die Meuterer einge­ schritten, während bei uns vom Reichstage durchgesetzt wurde, daß sogar die einzige wirksame Strafe im Felde, das Anbinden, fortzufallen hatte. Kriegsmüdigkeit herrschte bei Abschluß des Krieges in den Reihen unserer Feinde genau so wie bei uns. Das wird von ihnen nicht bestritten und war bei unserer Heeres­ leitung bekannt. Die Zersetzung wäre drüben ebenfalls ein­ getreten, wenn nicht die Hetzpeitsche der Regierungen hinter den Heeren geschwungen worden wäre. Im einzelnen haben sich unsere Führer hinsichtlich der Bedeutung der geschickt bei ihren Truppen betriebenen sozialistischen Agitation und der Wirkung der feindlichen Propaganda unfehlbar getäuscht, immerhin ist zu beachten, daß Beurteilung von Stimmungen und ihres Ein­ flusses zu den unwägbaren Dingen gehört. Hat doch kein geringerer als Napoleon sich über die Tragweite der in ganz Norddeutschland schon vor 1813 herrschenden Gärung ge­ täuscht. Als Davout ihm über die bedrohliche Stimmung der Bewohner des Gebiets der Unterelbe meldete, erwiderte er ihm am 2. Dezember 1811*): „Urteilen Sie doch selbst, was von einem so verständigen, bedachtsamen, kühlen, so duldsamen Volke zu befürchten ist, das von jeder Ausschreitung so weit entfernt ist, daß nicht ein Mann unserer Armee während des Krieges ermordet worden ist." Dieser Irrtum des Franzosenkaisers *) Corresp. I. Nr. 18 300.

hat nicht wenig zu seinem Sturze beigetragen. Auch das ist eine Mahnung zur Bescheidenheit im geschichtlichen Urteil, wie sie Tocqueville aus Anlaß der französischen Revolution erhebt. Weder die Schwierigkeit, eine solche Bewegung in ihrer ganzen Bedeutung rechtzeitig zu erkennen, noch der Umstand, daß die Revolution bei uns ihren Anstoß vom Kriege mit seinen Begleiterscheinungen erhielt, erklären freilich, daß ihre Anzeichen nicht früher richtig gewürdigt wurden, noch ihren schnellen und leichten Erfolg. Tatsächlich befanden wir uns längst in einer werdenden Revolution. Das Kabinett, unter dem sie ausbrach, war schon ihr Produkt. Hier zeigt sich, bei aller grundsätzlichen Verschiedenheit unserer November­ revolution von der französischen zu Ende des 18. Jahrhunderts, in bezug auf Anlaß und Berechtigung, wie vorstehend betont wurde, doch wieder Gemeinsames, und damit offenbart sich aufs neue die Notwendigkeit für den Politiker, sich die Lehren der Vergangenheit zu eigen zu machen, sein Vorstellungsver­ mögen an ihnen zu bilden. Er wird dann den kommenden Er­ eignissen nicht so wehrlos gegenüberstehen, wie es bei uns der Fall war. Mit der Versammlung von 1789 wäre bei ent­ sprechender Leitung alles zum Heile Frankreichs zu machen ge­ wesen, wenn eine feste und zugleich weitherzige Leitung durch die Regierung erfolgt wäre. Erst durch die Schwäche der Re­ gierung ist es zur Revolution gekommen. Das gleiche gilt für uns. Nur infolge der Schwäche unserer Staatsleitung hat es zu den traurigen November-Ereignissen kommen können. Die Regierung hat sich, statt selbst zu führen, immer mehr durch die Sozialdemokratie und die mit ihr verbündeten Par­ teien führen lassen. Dabei ist nicht zu leugnen, daß manches bei uns rückständig war, so vor allem das preußische Wahlrecht. Hier ist vor dem Kriege von konservativer Seite der Fehler gemacht worden, daß die Zeichen der Zeit verkannt wurden. Es ist nicht Schwäche, rechtzeitig Unhaltbares aufzugeben. Kon­ servatismus ist nicht gleichbedeutend mit Verneinung, Biegsam­ keit ist nicht ohne weiteres Schwäche; auch der Stahl ist bieg­ sam. Es ist an sich ein Verdienst, sich gelegentlich als verderblich erkannten Richtungen entgegenzustemmen, denn oft bringt der sogenannte Fortschritt nur Unheil, während der Besitz der Ver­ gangenheit unendlich wertvoll ist. Das Verhalten der preußi-

schen Konservativen erscheint begreiflich, aber staatsklug war es nicht. Sie haben sich dadurch der werbenden Kraft im Volke beraubt. Auf der anderen Seite spricht es nicht für die Urteils­ fähigkeit unseres Bürgertums und eines großen Teils der „Intelligenz", daß sie sich dem Versuch, das allgemeine Wahl­ recht noch während des Krieges durchzusetzen, angeschlossen haben. Es ist das sogar vielfach, wenn auch nicht öffentlich eingestanden, unter dem Gesichtspunkt geschehen, daß man die Notlage des Staats während des Krieges ausnutzen müsse, um dieses Zugeständnis leicht und sicher zu erreichen. Die Mehr­ heitsparteien des Reichstags haben sich zu einer Zeit, wo alles Sinnen und Trachten dem äußeren Feinde gelten mußte, immer nur vorwiegend von inneren Parteifragen bestimmen lassen. So ist es dahin gekommen, daß unsere Außenpolitik von der Innenpolitik beherrscht wurde, statt daß es umgekehrt hätte sein müssen, vor allem in einer Zeit schwerster Bedrängnis des Vaterlandes. Die Regierung war insofern in einer schweren Lage, als sie sich längst vor dem Kriege in eine nicht gut zu heißende Abhängigkeit vom Reichstage begeben hatte, in wie hohem Grade, hat der Prozeß Helfferich bewiesen, der den großen Ein­ fluß, den der Abgeordnete Erzberger in den Reichsämtern übte, aufgedeckt hat. Daß in einem konstitutionell regierten Lande das Parlament entscheidend mitzusprechen hat, ist selbstver­ ständlich, aber die Art, wie sich bei uns die Regierung schon Jahre vor dem Kriege von diesem ins Schlepptau nehmen ließ, ist mehr oder weniger gleichbedeutend mit Nichtregieren. „Streng in der äußeren Haltung und schlaff in der Praxis," so kennzeichnet Tocqueville das alte Regime in Frankreich. Dieses Wort kann auch für unsere Verhältnisse seit Bismarcks Rücktritt vom Amt Gültigkeit beanspruchen. Den während des Krieges leitenden Männern mag immerhin zur Entlastung dienen, daß in einem Bundesstaat das Regieren sehr viel schwieriger ist als in einheitlichen Staaten, sowie ferner, daß der Reichstag nur zu bald von der geistigen und sittlichen Höhe, die er am 4. August 1914 bekundet hatte, herabgesunken ist. Man erkennt, wenn man bei Helfferich*) die Schilderung der Julikrisis von 1917 j Der Weltkrieg, UL

Berlin 1919.

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Die französische Revolution.

liest, wie wenig der Reichstag auf der Höhe seiner Auf­ gabe stand. Schon damals ist mit der Revolution gedroht worden. -Die Worte des Stellvertreters des Reichskanzlers: „Die jetzige Generation trägt in diesen Monaten und in den Monaten, die kommen werden, die Zukunft des deutschen Volkes für Jahrhunderte in der Hand, und die jetzige deutsche Gene­ ration muß sich dieser Stunde gewachsen zeigen; sonst gehen wir unter," blieben ohne Wirkung. Sie sollten sich leider als prophetisch erweisen. „Die großen Zugeständnisse auf dem Gebiet der inneren Politik," schreibt Helfferich weiter, „groß genug, um eine neue Ära heraufzuführen, genügten nicht mehr, um die erregten Gemüter zu beschwichtigen und das Reichsschiff wieder in ruhiges Fahrwasser zu steuern. . . Die im Juli 1917 gelegte Saat ist im November 1918 fürchterlich aufgegangen." Die deutsche Revolution hat demnach tatsächlich bereits im Juli 1917 ihren Anfang genommen. Seitdem sind wir auf der Bahn der Parlamentarisierung unaufhaltsam der Umwälzung zugetrieben. Schon der öftere Kanzlerwechsel ist für die innere Lage bezeichnend. Vom Grafen Hertling, der mit der Übernahme des schweren Amts in solcher Zeit ein großes persönliches Opfer brachte, sagt Helfferich, daß seine Stellung infolge des Rückhalts, den er am Zentrum besaß, stark genug gewesen sei, um die Führung bei der parlamentarischen Ausgestaltung seiner Regierung in die eigene Hand zu nehmen. „Er hatte es nicht nötig, sich und die Krone nach langem Hin und Her einfach dem Diktat der interfraktionellen Kommission zu unterwerfen. Aber zur eigenen Führung in schwierigen Lagen reichte die Kraft des alten Herrn offenbar nicht mehr aus." Bei aller Verschiedenheit im einzelnen, ist doch die Ähn­ lichkeit mit der französischen Revolution in der offenkundigen Schwäche der Regierung unverkennbar. Während bei unseren Feinden der diktatorische Wille der Clömenceau und Lloyd George sich den Parlamenten auflegte, verfiel man bei uns in immer größere Vielköpfigkeit. Dabei überließ man die Führung nach außen der Obersten Heeres­ leitung, die sich dadurch zugleich mit Dingen belastet sah, die ihr keineswegs Zuständen. Ist auch die Oberste Heeresleitung nicht von aller Schuld an unserem Unglück freizusprechen, so ist eine solche für sie doch nur dadurch hervorgerufen, daß es

Die deutsche Revolution begann schon 1917.

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an jeder festen politischen Leitung gebrach. Im Innern trat die Schlaffheit immer deutlicher zutage. Man bereitete der Revolution selbst den Boden, indem man die bolschewistische Propaganda des sogenannten russischen Botschafters Joffe trotz aller Warnungen der militärischen Stellen ruhig gewähren lleß, daß man es versäumte, durch eine großzügige Organisation der Presse auf das Volk einzuwirken. Zuletzt bildete das Kabinett des Prinzen Max von Baden den Ausdruck vollendeter Halt­ losigkeit. So war es kein Wunder, daß die sozialistische Revo­ lution leichtes Spiel hatte. —

Die Schreckensherrschaft.

Auch die französische Revolution ist nach und nach in sozia­ listische Bahnen eingelenkt. Die Konstituierende Nationalver­ sammlung löste sich Ende September 1791 auf und überließ das Feld einer neugewählten Gesetzgebenden Nationalversammlung. Da die alte Versammlung festgesetzt hatte, daß eine Wieder­ wahl nicht zulässig sein sollte, so fielen die Neuwahlen stark radikal und republikanisch aus. Die Versammlung geriet als­ bald völlig unter den Einfluß des Pariser Gemeinderats und des Jakobinerklubs. Die Girondisten trieben zum Kriege gegen das Ausland, wiewohl die Republik von diesem nicht angetastet worden wäre. Die extreme Partei, der sogenannte Berg, lenkte in kommunistische Bahnen ein. Dem Sturz des König­ tums folgten die Septembermorde von 1792. Der National­ konvent, der an die Stelle der Gesetzgebenden Versammlung trat, beschloß im Januar 1793 die Hinrichtung des Königs. Vom April desselben Jahres an übte der Wohlfahrtsausschuß von 9 Mitgliedern diktatorische Gewalt. Ein Revolutions­ tribunal wurde eingesetzt, das nur Todesurteile fällte. Damit begann die Schreckensherrschaft, die im März 1794 Robespierre an die Spitze brachte. Der Widerstand, der sich im Lande, vor allem in den großen Städten Lyon, Bordeaux, Marseille, erhob, wurde mit Gewalt gebrochen, nur die Vendee verharrte im Aufstand. Im Juli 1794 wurde Robespierre gestürzt. Die Reaktion gegen die Schreckensherrschaft begann sich zu regen, die Sehnsucht nach einer starken Staatsgewalt machte sich geltend. Dieses führte zur Direktorialversassung von 1795.

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Die französische Revolution.

Es konnte nicht ausbleiben, daß Frankreich unter solchen Verhältnissen immer tieferer wirtschaftlicher Zerrüttung verfiel. Die Assignaten hatten ursprünglich durch die verkauften Güter der Ausgewanderten und das eingezogene Kirchengut sicher­ gestellt werden sollen. Bei der wachsenden Anarchie sahen sich die Pariser Machthaber jedoch genötigt, durch immer erneut in Umlauf gesetztes ungedecktes Papiergeld den täglichen Bedürf­ nissen zu entsprechen. Die Assignaten sanken daher fortgesetzt. Daneben lebte man von Requisitionen, Konfiskationen, Zwangs­ anleihen und Revolutionstaxen, die alle mit der größten Will­ kür angewandt wurden. Diese gewaltsamen Erpressungen brachten jedoch nur verhältnismäßig geringen Gewinn, vieles blieb in den Händen der ausführenden Organe, und so mußte die Assignatenplatte weiterarbeiten. Bis zum 1. Januar 1793 waren 3600 Millionen in Umlauf gesetzt, die im Laufe des Jahres 1793 nochmals durch den gleichen Betrag vermehrt wurden. Schon die erste Hälfte dieses Jahres brachte einen Zuwachs von 1000 Millionen. Der Kurs stand Anfang 1793 noch auf 61, fiel aber nach und nach auf 34. Die Ausgaben für das Heer verschlangen immer größere Summen. Ende Mai 1795 war die Masse des ausgegebenen Papiergeldes auf 13 Milliarden gestiegen, der Kurs auf 7 v. H. gesunken. Ende August 1795 waren bereits 16 Milliarden irrt Umlauf, der Kurs auf 2% v. H. heruntergegangen. Die Druckerei war nicht mehr imstande, den Anforderungen zu genügen. Diese Verhältnisse sind letzthin mehrfach mit unserer Papiergeldwirtschaft ver­ glichen worden. Wenn sich diese auch zum Teil als eine Folge des verlorenen Krieges darstellt, wenn sich die in Deutschland durch die Revolution herbeigeführten Zustände auch an Furcht­ barkeit und Unsicherheit mit den französischen von damals nicht vergleichen lassen, so ist andererseits mit Recht hervorgehoben worden, daß der Tiefstand und die nahezu völlige Wertlosigkeit der Assignaten für Frankreich damals nicht die gleiche Bedeu­ tung gehabt hatte, wie der Tiefftand der Mark für das heutige Deutschland, weil damals die Länder, insbesondere Frankreich, ganz anders in der Lage waren, sich selbst zu genügen. Seine Industrie beschränkte sich auf Paris und wenige große Städte, es ist noch heute in weit größerem Maße als Deutschland Agrar­ staat. Immerhin darf nicht übersehen werden, daß die Re-

Assignaten und deutsche Valuta.

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gierungen der französischen Revolution diese gewaltige Schulden­ menge anhäuften, obwohl ihre Armeen zum großen Teil außer­ halb der Grenzen der Republik fochten und nicht nur selbst vom Raube in den Nachbarländern lebten, sondern diese auch schonungslos im Interesse der Republik aussaugten. Die Höhe der inneren Schuld erscheint dadurch nur noch größer und hat infolge fehlender Ordnung selbst bei der damaligen Wirtschaft verheerend gewirkt. Überall meldeten sich Forderungen, die wieder nur durch Assignaten befriedigt werden konnten. Ende April 1793 waren der Stadt Paris vom Staate bereits 110 Millionen an Vor­ schüssen gezahlt worden. In den Nationalwerkstätten von Montmartre wurden 1789: 17 000, 1790: 19 000, 1791: 31000 Arbeiter beschäftigt, die dem Staat täglich 60 000 Franken kosteten. Im Jahre 1790 verausgabte die Regierung 75 Mil­ lionen Franken, nur um in Paris den Brotpreis niedrig zu halten. Es traten zahllose Bankerotte großer Handelshäuser ein. Die Industrie ging reißend zurück. In den Jahren 1792, 1793 und 1794 lieferten günstige Ernten so viel Getreide, daß es für die Ernährung ganz Frankreichs ausgereicht hätte. Die allgemeine Verarmung, die Geldentwertung und die Arbeits­ unlust machten es aber unmöglich, den Brotpreis niedrig zu halten. Er stieg bald auf das Doppelte und Dreifache. Die Bauern weigerten sich zum Teil, ihr Getreide für Assignaten zu verkaufen. Bei der bestehenden Unsicherheit fehlte ihnen der Anreiz, bald zu verkaufen, denn sie mußten befürchten, bei der Fahrt zur Stadt von Vagabunden ausgeplündert zu werden. Die Schwierigkeiten der Lebensmittelversorgung für die großen Städte waren bei dem schlechten Zustand der Land­ straßen und infolge fehlender Transportmittel ungeheuer. Die Städte lebten aus der Hand in den Mund. Oft besaßen sie nur für wenige Tage Lebensmittel. Der natürliche, sich selbst regelnde Handel war lahmgelegt. Die Getreidegroßhändler wurden als angebliche Brotverteurer von der Menge ver­ gewaltigt. Das uns vertraute Bild des Anstehens nach Brot und son­ stigen Lebensmitteln gab es auch damals. Dieses Anstehen setzte häufig schon bei Tagesanbruch ein. Auch die Fleischnot war groß. Der Aufstand in der Vendee beraubte Paris einer

wöchentlichen Zufuhr von 600 Schlachtochsen. Die Festsetzung von Höchstpreisen führte dahin, daß die Bauern ihre Waren jetzt erst recht zurückhielten, ihr Getreide verbargen oder es auf den Feldern stehen ließen. Sie mußten gewaltsam zur Abliefe­ rung gezwungen werden. Dennoch herrschte vielfach in den Städten und selbst auf dem Lande Hungersnot. Das in Paris durch staatliche Zuschüsse künstlich billig gehaltene Brot ging hinaus in die Nachbarorte, wo es zum doppelten Preise bezahlt wurde. Mit anderen Lebensmitteln war es dasselbe. Eier und Butter wurden zur Seltenheit. Der Schleichhandel blühte überall. Der Versuch der Jakobiner, durch Gewaltmittel Besse­ rung zu erzwingen, schlug völlig fehl. Die Beschlagnahme der (Benten in großem (Stil in Gestalt von ^flidjtlieferunqen an die staatlichen Magazine zum festgesetzten Höchstpreis hatte nur zur Folge, daß die Bauern überhaupt nicht mehr das Feld bestellten oder Vieh züchteten, das ihnen doch genommen wurde. Es war der völlige Ruin der Produktion, bei der schließlich aber der Konsument infolge des fortgesetzt sinkenden Assignaten­ werts am meisten zu leiden hatte. Nach dem Sturz der Schreckensherrschaft 1795 wurde es nicht besser. Die Abschaf­ fung der Höchstpreise kam zu spät. In weiten Gebieten Frank­ reichs herrschte Hungersnot, die zahlreiche Menschenleben for­ derte. Viele erhielten sich nur noch gerade mit Mühe am Leben. Häufig sah man auf der Straße Leute umfallen. Die Jakobinerwirtschaft hatte, wie Taine schreibt*), „die völlige Lähmung aller natürlichen Organe zur Folge, die im Wirtschaftsleben tätig sind in Erzeugung, Magazinierung, Auf­ bewahrung, Austausch und Übermittlung von Vorräten in großer Menge. Infolgedessen wurden die kleinen untergeord­ neten Organe behindert und erstickten, da ihnen die großen keine Nahrung mehr zuführten." Die vorstehend wiedergege­ benen, Taine entnommenen Angaben lassen erkennen, daß die Nachteile, die mit unserer durch den Krieg veranlaßten Zwangs­ wirtschaft verbunden waren, auch im damaligen Frankreich zu­ tage getreten sind. Sie sind dort verschärft worden durch die herrschende Anarchie, hätten uns aber in mancher Hinsicht zur Lehre dienen können. Daß die Zwangswirtschaft für Getreide *) Les origines de la France contemporaine. La Revolution. III.

und Fleisch, zum Teil auch für die Kartoffeln, nicht zu umgehen war, ist einleuchtend. Sie hat sich bei uns jedoch viel zu weit erstreckt, vor allem auch auf leichtverderbliche Waren. Einmal in die Zwangswirtschaft verstrickt, aber hält es schwer, von ihr loszukommen. Die Bindung durch Höchstpreise hat bei uns den Schleich- und Wucherhandel begünstigt, nicht anders wie in der Revolutionszeit in Frankreich. Wie dort ist auch bei uns unter ungleich günstigeren und völlig geordneten Verhältnissen, wie sie in der ersten Kriegszeit noch bestanden, versäumt worden, vor allem die Produktion zu heben.

Lehrreich ist, was in dieser Hinsicht ein hervorragender Beurteiler des Wirtschaftslebens wie Arthur Dix schreibt*), indem er sagt: „Der Gesamtpolitik Bethmann Hollwegs gemäß, die sich stets darin erschöpfte, sich von Rücksichten auf die Sozial­ demokratie alten Schlages gängeln zu lassen, anstatt unter den besonderen Kriegsverhältnissen die günstige Gelegenheit zu geistiger Umstellung der Sozialdemokratie zu benutzen, beging er in der Politik der Volksernährung die gleichen Kurzsichtig­ keiten wie in der äußeren Kriegspolitik. Der Staatsmann, der da glaubte, die deutschen Massen unter keinen anderen Um­ ständen in der äußeren Gegenwehr zusammenhalten zu können, als lediglich unter dem Schlagwort des Kampfes gegen den Zarismus, und der schon aus diesem Grunde die Deutschland wirklich tödlich bedrohende Feindschaft Englands niemals klar erkennen oder deutlich betonen konnte und wollte, hat ent­ sprechend auch die innerwirtschaftlichen Notwendigkeiten nicht zu überblicken oder nicht richtig zum Ausdruck zu bringen ver­ mocht. Sobald man die englische Feindschaft richtig bewertete und die englische Hungerblockade so ernst nahm, wie sie unbe­ dingt genommen sein wollte, mußte man selbstverständlich mit der Möglichkeit einer langen Kriegsdauer und mit der ent­ sprechenden Notwendigkeit rechnen, unsere Volksernährung für geraume Zeit vom eigenen Boden sicherzustellen. Sobald diese Notwendigkeit und dieses Ziel klar erkannt waren, ließ sich natürlich nicht mehr eine Politik treiben, die für den Augenblick den Massen wohlgefällig erscheinen mochte, da sie zu billigen *) Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft. Zur Geschichte des deutschen Zusammenbruchs. Berlin 1920.

Preisen eine gleiche Ration für jedermann sicherstellte, sondern hätte es sich als notwendig erwiesen, auch der Masse der Konsu­ menten klar und deutlich vor Augen zu rücken, daß ihre eigenen Interessen nur gewahrt werden konnten bei möglichst weit­ gehender Belebung der Produktion, auch wenn zu diesem Zweck eine Erhöhung der Preise vorgenommen werden mußte. Solche Erziehung der Massen, die ihr zu keiner Zeit zugänglicher ge­ wesen wären als während der ersten Teile des Krieges, lag aber der Regierung Bethmann Hollweg vollkommen fern. So wurde denn das unwahre Schlagwort geprägt, ganz Deutsch­ land gleiche einer belagerten Festung und müsse sich mit der gleichmäßigen Verteilung der vorhandenen Vorräte behelfen. Dies Schlagwort war unwahr, weil wir ja doch nicht nur mit vorhandenen Vorräten zu rechnen hatten, sondern auch mit der fortdauernden Produktion, und weil es demgemäß galt, nicht nur die Bestände zu rationieren, sondern auch die Produktion zu beleben." Jizdie Zeit der Direktorialregierung fiel die Verschwörung Babeufs im Jahre 1796. Sie hatte, da die Teilnehmer recht­ zeitig festgenommen und beseitigt werden konnten, keine wei­ teren Folgen. Ihre Tendenz war durchaus kommunistisch. Leitender Grundsatz der Verschworenen war die Abschaffung des Privateigentums, in Frankreich keine neue Forderung, in­ sofern sie unter der Iakobinerherrschaft tatsächlich bereits für längere Zeit verwirklicht gewesen war. Frankreich sollte nach der Theorie Babeufs und der Seinen in eine Gesellschaft von Bauern und Handwerkern verwandelt werden, die unter völlig gleichen Nahrungsverhältnissen in bescheidener und auskömm­ licher Mittelmäßigkeit dahinleben würden. Jeder Bürger sollte verpflichtet sein, irgendeine nützliche Arbeit zu verrichten, wozu Landwirtschaft, Handwerk, Fuhrmannsdienst, Kriegsdienst, nicht aber wissenschaftliche und künstlerische Betätigung gerechnet wurde. Hierbei war in Aussicht genommen, daß die tägliche Arbeitszeit des einzelnen zwei Stunden nicht zu überschreiten brauchte. Der Gebrauch des Geldes im Inlands sollte bei Todesstrafe verboten sein. Den auswärtigen Handel hätte die Regierung in die Hand zu nehmen. Um ihre umfassenden Auf­ gaben bewältigen zu können, da sie den Haushalt aller Bürger zu führen haben würde, war eine ungeheure Zahl von Be-

Soziale Fragen in der französischen Revolution.

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amten vorgesehen. Bei dem System echter Gleichheit und Brüderlichkeit erschien im Grunde jeder Bürger zugleich als ein Staatsdiener. „Wenn man diese Entwürfe historisch würdigen will," schreibt Sybel*), „so muß man sie mit der Praxis der Schreckens­ zeit vergleichen, aus welcher sie in allen Einzelheiten abgeleitet sind. Die individuelle Freiheit ist völlig ausgetilgt . . . Dem Namen nach übt die Mehrheit aller Bürger, in Wahrheit das Proletariat der Hauptstadt eine völlig schrankenlose Herrschaft über das Dasein jedes einzelnen. Sie bestimmt über seine Woh­ nung und Kleidung, über seine Ernährung und Bildung. Sie reguliert den Handel und Wandel, sie erzieht die Kinder, sie ver­ waltet die Literatur und die Religion." Es ist in der Tat ein Kommunismus, wie er neuerdings in Rußland, wenn auch mit vollem Mißerfolg, durchzuführen versucht wurde, der uns hier entgegentritt. So bemerkt denn auch Sybel an anderer Stelle**), es sei kein Vorschlag der neueren sozialistischen Schulen, der nicht bereits in der französischen Revolution auf­ getaucht sei. Tocqueville geht noch weiter, indem er die sozia­ listischen Theorien des 19. Jahrhunderts bereits in der national­ ökonomischen Literatur, die der großen Revolution voranging, vertreten findet. Häusser aber spricht***) in bezug auf das Früh­ jahr 1793 von einem sich ankündigenden „Bürgerkriege der Armen gegen die Reichen, einem Aufruhr der Proletarier gegen die besitzende Klasse." Von den Schreckensmännern sagt er: „es galt für sie, die französische Gesellschaft nach einer gemachten Doktrin zurechtzuzimmern und zuzuschneiden, das Volk erst zu schaffen für die neue Ordnung, nicht umgekehrt. Der systema­ tische Schrecken sollte das blutige Mittel werden, eine neue Glückseligkeit aufzubauen; wer das Mittel in der Nähe be­ trachtete, mußte einen starren Fanatismus haben, um zu glauben, daß es zum Ziele führen werde." Diese Worte scheinen wie für den russischen Terrorismus geschrieben, wie nicht minder die weiteren Worte Häussers: „Das Ziel ist die Ver­ nichtung des Individuums, die Zerstörung des Sonderlebens zugunsten des unumschränkten Gesamtwillens der Gesellschaft." *) Geschichte der Revolutionszeit. VI. **) Geschichte der Revolutionszeit. I. ***) A. a. O.

Professor Werner Sombart betont*), daß die Bewegung von 1789 ebenso wie die Juli-Revolution von 1830 und die 1848er Bewegung in Deutschland keinen sozialen Charakter trugen, sondern vom Bürgertum ausgingen, das sich vom Proletariat nur Hilfsdienste leisten ließ. Das ist sicher zutreffend. Wenn er aber sagt, es zeuge „von geringem historischen Verständnis und einem bedauernswerten Mangel an Unterscheidungsvermögen, wenn man noch heute von einer kommunistischen Bewegung in der Zeit der großen französischen Revolution fable," so fällt einem unwillkürlich das Goethesche Wort ein: „Die Gelehrten sind meist gehässig, wenn sie widerlegen; einen (nach ihrer Meinung) Irrenden sehen sie gleich als ihren Todfeind an." Ganz abgesehen davon, .daß auch Sombart das kommunistische Programm Babeufs nicht abstreitet, wird man einem Tocque­ ville, einem Sybel und Häusser doch wohl nicht ohne weiteres geschichtliches Verständnis absprechen dürfen. Mag soziologische Gelehrsamkeit auch darüber anders urteilen, der gesunde Men­ schenverstand wird sich an die Tatsachen halten, und diese sprechen für die erwähnten Historiker. Indem Häusser das Ergebnis der Schreckensherrschaft zu­ sammenfaßt, sagt er: „Es war jetzt zwar keine Freiheit, wohl aber eine gesellschaftliche Gleichheit da, wie sonst nirgend auf der Welt. Was diese irgendwie gestört hätte, war zerschlagen Der Träger aller politischen Freiheit, der bürgerliche Mittel­ stand, war nicht bloß gezähmt, er war auf lange hinaus ge­ knickt, der Bürgerstolz, der sich seines Rechtes wehrt und jedes Recht als Pflicht betrachtet, war getötet, der selbsttätige Gemein­ finn, der die Formen aller politischen Freiheit allein zu be­ leben vermag, war erstickt." Das deutsche Bürgertum in seiner Masse war von solchen Anschauungen nicht durchdrungen; es hätte sonst nicht in dem Maße, wie es geschah, vor der Revolu­ tion von 1918 und in dieser versagt. Es hatte aus der fran­ zösischen Revolution nichts gelernt. Noch auf einem anderen Gebiet, auf dem inmitten aller Schrecken der Revolution die Franzosen unsere Bewunderung verdienen, hat das ganze deutsche Volk versagt. Zwar die Er­ zählung von den Heldentaten der ersten französischen Freir) Sozialismus und soziale Bewegung. 7. Auflage. Jena 1919.

Kraftentfallung der französischen Revolution nach außen.

Hl

willigen-Truppen sind längst als legendär erwiesen. Frank­ reich ist 1792 und 1793 durch die Uneinigkeit der Koalition und das zögernde Verhalten ihrer Generale mit ihren schwachen Armeen gerettet worden. Darum hat aber Häusser nicht minder recht, wenn er schreibt: „Es stellt sich die ganz abnorme Er­ scheinung dar, daß, während die Revolution im Innern sich selber aufgezehrt, die republikanische Gesellschaft aus tausend Wunden blutete und alle ihre Ideale zertrümmert sah, dieselbe Revolution die ganze Fülle ihrer Kraft in gewaltiger Vereini­ gung an den Grenzen hatte, bereit, ihre unwiderstehliche Pro­ paganda auf die Nachbarlande, auf ganz Europa zu werfen." Das Verdienst an den Erfolgen der Franzosen schreibt Häusser nächst der organisatorischen Begabung Carnots der alten, mili­ tärisch reich begabten Natur dieses Volkes zu, „das trotz seiner namenlosen politischen Zerrissenheit dem äußeren Feinde sich einig gegenüberstellte." Das taten auch wir 1914 bis 1916, dann aber wurde es anders. —

7. Das zertrennte polen. Die Teilungen. Weit über hundert Jahre, ehe 1772 die erste Teilung Polens erfolgte, bereits zur Zeit des Ersten Nordischen Krieges, ist solche in Erwägung gezogen worden. Schon der Große Kur­ fürst forderte von Karl X. Gustav als Bedingung für seine Hilfeleistung die Erwerbung Westpreußens. Er hat sich später im Frieden von Oliva mit dem Gewinn der vollen Souveränität über Ostpreußen begnügen müssen. Karl X. Gustav aber ge­ dachte, als er sich noch in vollem Siegesläufe befand, Polen in verschiedene Teile zu zerlegen, die jeder unmittelbar der Krone Schweden unterstehen sollten. König August der Starke hat selbst bei Karl XII. eine Teilung Polens angeregt. Er hat sich später in der polnischen Königswürde nur mit Hilfe Rußlands behaupten können. Peter der Große sicherte sich hierbei dau­ ernden Einfluß im Lande. Seitdem sah die russische Politik diesen als eine Grundbedingung für die Aufrechterhaltung der Verbindung mit dem Westen an, seitdem das Reich unter Peter

dem Großen eine europäische Macht geworden war. Im Sieben­ jährigen Kriege bildete Polen das Durchzugsland und zum Teil das Aufmarschgebiet für die russischen Armeen, gleichsam als sei es eigenes Gebiet. Friedrich der Große hat das über­ aus nachteilig empfunden. Der Wunsch nach einer Erwerbung Westpreußens, der seinen Ahnherrn bereits beseelt hatte, trat bei ihm wieder hervor. Er äußerte ihn in seinem politischen Testament von 1768, wenn auch zunächst nur als Zukunftshoff­ nung. Das Bestreben, den Zwischenraum zwischen Pommern und Ostpreußen zu überbrücken, lag in der Natur des zu Macht und Ansehen gelangten Preußischen Staats, der Westpreußens zur Herstellung seiner Geschlossenheit im Ostfeegebiet be­ durfte. Die innere Auflösung des polnischen Reiches machte nach dem Siebenjährigen Kriege rasche Fortschritte. Nach dem Tode Augusts III. hatte die Wahl Stanislaus Ponjatowskis, des Schützlings Katharinas, zum König von Polen im Jahre 1764 nur mit Hilfe russischer Truppen durchgesetzt werden können. Als 1767 vom Reichstage die Forderung der Dissidenten, dar­ unter auch der Bekenner der griechischen Kirche, nach Religions­ freiheit und Rechtsgleichheit verworfen wurde, bildete sich unter russischem Schutz die Konföderation von Radom. Eine Gegen­ konföderation trat in Bar zusammen, die von Frankreich durch Geldmittel und Entsendung von Offizieren unterstützt wurde. Damit war der Bürgerkrieg entfesselt. Der Rußland feindlichen Konföderation schienen sich vorübergehend günstige Aussichten dadurch zu bieten, daß Rußland 1768 durch einen Krieg gegen die Türkei in Anspruch genommen war, der erst 1774 beendet wurde. Inzwischen schritt Österreich 1769 zur Besetzung polnischer Gebietsteile an der Hohen Tatra, die nach Ungarn vorsprangen und vor mehr als 300 Jahren einmal Polen verpfändet worden waren. Der Schritt erfolgte auf Ersuchen des Königs Stanis­ laus, um den Ausschreitungen der Konföderierten dort zu wehren. Einmal eingerückt, zogen die Österreicher nicht wieder ab, nahmen vielmehr noch weitere Starosteien am Nordhange der Beskiden in Besitz. Rußland, das ein bewaffnetes Ein­ schreiten Österreichs zugunsten der Türkei gewärtigen mußte, war sofort bereit, sich die Blöße, die sich der Wiener Hof mit

diesem Schritt gab, auszunutzen. Dem in Petersburg weilenden Prinzen Heinrich von Preußen wurde im Januar 1771 nahe­ gelegt, Preußen möge ebenfalls Teile polnischen Gebiets, die ihm genehm seien, an sich bringen. Diese Anregung hat dann Prinz Heinrich nach seiner Rückkehr bei seinem Bruder eifrig und mit Erfolg vertreten. Rußland zeigte sich geneigt, auf seine weitgehenden orientalischen Pläne zu verzichten, da es ihm nicht möglich war, diese zugleich mit der Durchführung polnischer Erwerbungen zu verbinden, durch die es sich zu entschädigen gedachte. Österreich ließ sich durch die Aussicht auf reichlichen Landgewinn in Polen bewegen, seine Haltung Rußland gegen­ über im Orient zu ändern, so daß die Lösung des orientalischen Konflikts mit Hilfe der Teilung Polens gefunden wurde. Maria Theresia hat sich nur widerstrebend in die Teilung gefügt, die ihre Berater befürworteten, weil inzwischen im Januar 1772 Preußen und Rußland über diese einig geworden waren. Die Kaiserin empfand es besonders schmerzlich, daß die beiden anderen Teilungsmächte nicht unterließen, darauf hinzuweisen, daß gerade Österreich mit der Besetzung polnischer Grenzgebiete den Anfang gemacht habe. Friedrich der Große hat von diesem Schritt Österreichs gesagt, daß er der Teilung am meisten die Wege geöffnet habe. Durch die Teilung fiel Rußland ein Gebiet von 1700 Qua­ dratmeilen Litauens zu, das von Weißrussen großenteils griechisch-katholischen Bekenntnisses bewohnt war. Österreichs Gebietszuwachs in Galizien und Ladomirien betrug 1500 Qua­ dratmeilen, derjenige Preußens in Westpreußen und dem Netzedistrikt ohne Thorn und Danzig 660 Quadratmeilen. Der Gewinn, den Friedrich der Große davontrug, war unzweifel­ haft der wertvollste, und wenn man die Teilung als einen un­ vermeidlichen Schritt betrachtet, auch der am meisten berechtigte, denn-es war altes deutsches Land aus der Ordenszeit, das zu­ rückgenommen wurde und eine notwendige Verbindung mit Ostpreußen schuf. König Friedrich hat denn auch sein Streben von Anbeginn dahin gerichtet, das Land deutscher Kultur zu­ rückzugewinnen. Die Rücksicht auf die von Rußland bean­ spruchte Ostseeherrschaft bewog den König, auf Danzig zu ver­ zichten. Von den Westmächten erhob nur Frankreich am ver­ bündeten Wiener Hofe Vorstellungen, weiter ging es in seiner Freytag-Loringhoven, Angewandte Geschichte

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geschichtlichen Beschützerrolle Polens nicht. Überredung, Zwang und Bestechung haben den polnischen Reichstag dazu gebracht, unter Preisgebung jeder nationalen Würde, seine Zusttmmung zur Teilung zu geben. „Mit Genugtuung meldete der öster­ reichische Gesandte nach Hause, die Formen seien derart gewahrt worden, daß es ganz den Anschein habe, als ob ein ungezwun­ gener und freiwilliger Vergleich abgeschlossen worden sei; auch habe die Sache nicht viel Geld gekostet, nur 15 000 Dukaten für jeden der drei Höfe aus der gemeinsamen Kasse. Die Volks­ vertreter waren nicht allzu anspruchsvoll gewesen, ein polnischer Fürst hatte seine Stimme für 30 Dukaten verkauft, und manche hatten kein Geld genommen, sondern sich mit einigen Tonnen Salzes begnügt .... Der sächsische Gesandte, der an sich mit seinen Sympathien auf der Seite der Polen stand, gewahrte mit Beschämung, wie die Ausschußmitglieder am Pharao-Tische dieselben Friedrichsdor und Imperiale auf die Karte setzten, die sie eben von dem preußischen oder russischen Gesandten er­ halten hatten. Und der päpstliche Nuntius bestätigte ihm, datz die geistlichen Herren nicht besser seien als der Landadel Mangel an Gemeinsinn und schmutzige Habgier, Parteifanatis­ mus und Korruption, alle wüsten Auswüchse der polnischen Anarchie waren auf diesem Reichstage, der die Augen von ganz Europa auf sich lenkte, in erschreckender Weise zutage getreten*).* Es ist nicht anders, Polen war selbst an seinem Schicksal schuld und damals reif zum Untergang. König Friedrich hat 1772 erreicht, was er wollte. West­ preußen war ihm „der Balsam auf die Wunde" des Sieben­ jährigen Krieges. Mehr polnisches Gebiet, als ihm damals zufiel, und wie er es zur Festigung seines Staates brauchte, hätte er schwerlich jemals beansprucht. Anders sein Nachfolger. Dieser nahm soviel er konnte. Die preußische Politik gegen­ über Polen hat unter ihm mehrfach geschwankt und ist von Zweideutigkeiten nicht frei gewesen, wenn sie auch mehr oder weniger dem Zwange der Not gehorchte. Ein abermaliger Türkenkrieg, der dieses Mal gemeinschaftlich mit Österreich ge­ führt wurde, fesselte von 1787 bis 1792 die russischen Truppen auf dem Balkan. Dadurch sah sich König Stanislaus zu dem

Versuch ermutigt, auf ein preußisches Bündnis gestützt, Polen dem russischen Einfluß zu entziehen und dem Lande am 3. Mai 1791 eine Verfassung zu verleihen. Sie sah die Erblichkeit der Krone im sächsischen Kurhause nach dem Tode des jetzigen Königs vor. An die Stelle des bisherigen Reichstags mit seinem verderblichen liberum veto sollten zwei Kammern treten, und wenn auch dem Adel seine Vorrechte blieben, so wurde doch eine Reihe wohltätiger Reformen angestrebt. Bei ruhiger Entwicklung hätte möglicherweise eine allmähliche Gesundung des polnischen Staatswesens auf diesem Wege ersteigen können. Österreich verhielt sich der Neuerung gegenüber durchaus ent­ gegenkommend. Die Wiederkehr der Personalunion mit Sachsen war ihm ebenso willkommen wie sie Preußen bei der Nähe der sächsischen und polnischen Grenze von Berlin störend emp­ finden mußte. Es lehnte daher auch die Bürgschaft für die polnische Verfassung ungeachtet seines Bundesverhältnisses ab. Rußland widersetzte sich der Umwandlung in Polen durchaus. Katharina erkannte, daß Österreich wie Preußen jede Möglich­ keit einer energischen Ostpolitik fehlte, seit die Girondisten in Frankreich zum Kriege trieben, und sich Preußen dadurch an die Seite von Österreich gedrängt sah. Sie hatte somit in Polen freie Hand. Die Beendigung des Türkenkrieges gab ihr die Möglichkeit, Truppen einrücken zu lassen zum Schutze der sich zur Aufrechterhaltung der alten polnischen Freiheiten und des Wahlkönigreichs im Frühjahr 1792 bildenden Konföderation von Targowice. Zur Schwenkung der preußischen Politik trug nicht wenig bei, daß von der polnischen Verfassungspartei die­ selben Grundsätze vertreten zu sein schienen, die zur französischen Revolution geführt hatten, und die mit den Waffen zu be­ kämpfen, man sich soeben anschickte. Für die Opfer, die der Feldzug im Westen forderte, war es erwünscht, sich im Osten schadlos zu halten und den Besitz von Danzig und Thorn, den Preußen bisher durch Anschluß an Polen zu gewinnen hoffte, sich nunmehr durch Vereinbarung mit Rußland zu sichern. So kam es trotz teilweise ehrenvollen Widerstands der verfassungs­ treuen Polen unter Kosciuszko, nachdem König Stanislaus in­ folge russischer Drohungen zur Konföderation übergetreten war, zu einer zweiten Teilung. Rußland und Preußen erklärten sich genötigt, Polen zur besseren Bekämpfung revolutionärer Strö-

mungen in engere Grenzen einschließen zu müssen. Preußen ergriff 1793 Besitz von Danzig und Thorn und dem größten Teil von Großpolen bis zu einer 50 km westlich Warschau von Nord nach Süd zur Pilica verlaufenden Linie. Dieses etwa 1000 Quadratmeilen umfassende Gebiet erhielt die Bezeichnung Süd-Preußen. Rußland verleibte sich ganz Litauen ein, sowie Wolhynien, Podolien, die Ukraine und Teile des östlichen Polens, insgesamt 4000 Quadratmeilen. Damit war Polen auf ein Drittel seines ehemaligen Gebiets eingeschränkt.

Atlch bei der zweiten Teilung hat Bestechung der Land­ boten eine fast ebenso große Rolle gespielt wie die Gewalt. Der russische Gesandte konnte melden, daß niemals ein Reichstag wohlfeiler gekommen fei, als der von Grodno, dem das Zu­ geständnis der Teilung abgepreßt wurde. „Alle herrschenden Polen," schreibt Sybel*), „waren voll von Eifer, für die Re­ publik zu streiten, und die meisten auch bereit, für das Vater­ land zu sterben; aber sehr wenige mochten dem Gesamtwohl ihre Trägheit und Unbeständigkeit, ihre Vorteile und Genüsse opfern. Kann man sich wundern, wenn der Edelmann, zer­ rüttet an Vermögen, Gesundheit und Sitte, wie er war, für die übermächtigen Nachbarn abwechselnd nur beschränkte Ver­ achtung und eigennützige Unterwürfigkeit hatte, wenn der Bürger die deutsche Eroberung mit Freuden und der Bauer auch die russische Herrschaft mit Gleichgültigkeit beginnen sah? Oder ist es befremdlich, wenn der Gutsherr, der sein Leben lang den Bürgern seine Rechtsansprüche verkauft, und der Beamte, der von jeher im Staate nur die Quelle der Bereicherung ge­ sehen hatte, jetzt auch den russischen Agenten seine Wahlstimmen veräußerte?" An dieses vom Bürgerkriege zerrissene, von tiefster Korruption ergriffene Volk von selbstsüchtigen Magnaten, einem verkommenen niederen Adel, der Schlachta, geknechteten und stumpfen Bauern, ohne eigentlichen bürgerlichen Mittelstand, dürfen nicht die uns geläufigen Nationalitätsbegriffe gelegt werden, Die ohnehin die damalige Welt nicht kannte, wie noch zu erörtern sein wird**). Für Preußen war auch diese Neuerwerbung von großem Wert, denn erst durch sie *) A. a. O., III. **) Vgl. 6. 159.

wurde eine Verbindung zwischen den beiden vorspringenden östlichen Zweigen seines Gebiets, Schlesien und West- sowie Ost­ preußen, hergestellt, deren Fehlen im Siebenjährigen Kriege sich oftmals störend bemerkbar gemacht hatte. Polnisches Ge­ biet sprang nicht mehr keilförmig gegen Berlin vor, wie es leider jetzt wiederum der Fall ist. Preußen befand sich 1793 in einer Zwangslage. Wollte es nicht das von ihm in der zweiten Teilung gewonnene Gebiet Rußland zufallen lassen, mußte es selber von ihm Besitz ergreifen. So wird man Sybels Äußerung beistimmen müssen*): „Wenn irgend jemals eine Angriffspolitik durch die Verhältnisse geboten, ja erzwungen worden, so ist es in diesem Falle geschehen. Was jener Zeit ihren verhängnisvollen Charakter verlieh, was die Fugen des alten europäischen Systems vollständig sprengte, war nicht die Revolution allein und nicht allein die russische Welteroberung: es war das Zusammentreffen beider, wodurch mit einem Schlage alle bestehenden Rechte und Besitzoerhältnisse in Frage kamen. Man wird einräumen, daß in solchen Krisen das Recht der Selbsterhaltung für jeden einzelnen sofort an die höchste Stelle tritt."

Die Schmach, die für Polen in dieser zweiten Teilung lag, hat noch einmal zu einer Volkserhebung geführt. Die Re­ gierung in Warschau fristete nur ein Scheindasein unter rus­ sischer Oberherrschaft. Wiederum war es die Schwächung der infolge einer neuen orientalischen Verwicklung auf 20 000 Mann verminderten russischen Truppenmacht, die den national Ge­ sinnten günstig war. Die von Rußland befohlene starke Ver­ minderung der polnischen Armee gab das Signal zur Erhebung. Zahlreiche Flüchtlinge kehrten aus dem Auslande zurück, unter ihnen Kosciuszko, der die Leitung übernahm. Geheime Gesell­ schaften bildeten sich überall im Lande. Von Krakau brei­ tete die Bewegung sich schnell aus. Warschau erhob sich mit Erfolg gegen die russische Besatzung. Umgekehrt wie bei der zweiten Teilung sah Rußland sich jetzt auf die Hilfe der beiden anderen Ostmächte angewiesen. Preußische Truppen besetzten Krakau und rückten im Verein mit einer russischen Division, 38000 Mann stark, gegen Warschau vor. Zerwürfnisse mit

dem russischen Führer und Verpflegungsschwierigkeiten infolge einer im Rücken der Armee in Südpreußen ausgebrochenen Insurrektion veranlaßten die Ratgeber König Friedrich Wil­ helms, ihm von einem Sturm abzuraten. Die Belagerung War­ schaus wurde im Juli 1794 aufgehoben. Nunmehr beherrschte Rußland wieder die Lage. Suworow, der mit Verstärkungen eintraf, unterwarf in kurzer Frist das Land. Kosciuszko fiel nach einem unglücklichen Gefecht in russische Gefangenschaft. Am 4. November 1794 erstürmte Suworow Prag«, am 9. zog er in Warschau ein. Damit war das Ende Polens besiegelt. Sein König legte die Krone nieder, auch der Rest des Landes wurde Anfang 1795 aufgeteilt. Österreich, obwohl es an der Bekämp­ fung der Polen nicht teilgenommen hatte, erhielt einen ansehn­ lichen Zuwachs in Gestalt eines Gebiets von 1000 Quadrat­ meilen, auf dem linken Weichselufer rechts der Pilica einschließ­ lich Krakau und auf dem rechten Weichselufer rechts des Bug. Preußen nahm das ganze linke Weichselufer mit Warschau in Besitz, desgleichen das nunmehr als Neuostpreußen bezeichnete Gebiet zwischen der ostpreußischen Grenze und dem Bug südlich Grodno und bis zum Riemen, sowie einen als Neu-Schlesien bezeichneten Landstrich im Quellgebiet der Warthe. Alles übrige, im ganzen 2030 Quadratmeilen, fiel an Rußland, dem sich auch Kurland unterwarf. Diese dritte Teilung Polens ist zwischen Rußland und Österreich gegen wechselseitige Zugeständnisse in anderen Streit­ fragen unter Beiseiteschiebung Preußens vereinbart worden. Man überließ ihm nur notgedrungen einen Teil der Beute. Der Zuwachs brachte Preußen den Vorteil wesentlich besserer Grenzen im Osten, hierzu freilich den fragwürdigen Gewinn der polnischen Hauptstadt, obwohl bei deren damaliger be­ schränkter Ausdehnung und dem Fehlen jeglicher Industrie im Lande die Abschnürung Warschaus vom östlichen Hinterlande nicht in gleichem Maße mitsprach, wie es jetzt der Fall gewesen sein würde. Im wesentlichen läßt sich das gleiche, wie über die zweite Teilung in bezug auf Preußen, auch von der dritten sagen. Ohnehin war dieser dritte Schritt nur die notwendige Folge des zweiten. Der russische Eroberungstrieb gab zu den beiden letzten Teilungen den alleinigen Anstoß. Die haltlose Schwäche des polnischen Staatswesens mußte bei der Art seines

östlichen Nachbarn zu solchem Vorgehen einen starken Anreiz bilden.

Napoleon und die Polen. — Russisch-Polen. Daß zwischen öffentlicher und privater Moral ein Unter­ schied besteht und bestehen muß, wurde bereits dargelegt*). Dieser Unterschied gilt auch hinsichtlich der Teilung Polens. In seiner Schrift „Polens Auflösung"**) bemerkt Freiherr Ernst von der Brüggen, daß der Satz „Die Weltgeschichte ist das Welt­ gericht" hinsichtlich Polens besonders häufig angeführt worden sei, daß aber ein ungetrübtes Gefühl befriedigter Gerechtigkeit in solchem Falle nicht aufkommen könne. Denn, möge auch noch so sehr die eigene Schuld der Polen an ihrem Unglück erwiesen sein, so habe doch Urteil und Vollzug der Strafe gleich­ zeitig in den Händen derer gelegen, die nicht nur Richter, son­ dern auch Gegner des zerrissenen Volkes gewesen seien. Die Maxime des Weltgerichts sei nicht das Recht, sondern ganz eigentlich die Macht. Das haben auch wir neuerdings zu unserem Leidwesen erfahren müssen. Zur Frage der Ver­ geltung in der Weltgeschichte äußert sich Treitschke dahin***), daß man an sie mit großer Vorsicht herantreten müsse. Die Behauptung, daß es eine solche Vergeltung gebe, möge begründet sein, aber „in unendlich vielen Fällen vermögen wir mit unseren menschlichen Augen eine Vergeltung nicht zu erkennen." Eben darum ist es grundfalsch, wenn viele jetzt sich sorglich bemühen, ein Verschulden unsererseits für das Unglück zu finden, das der Weltkrieg über uns heraufbeschworen hat. Ebensowenig würde es richtig sein, in der durch Machtspruch unserer Feinde jetzt erfolgenden Lostrennung umfangreicher Teile der deutschen Ostmark die Vergeltung für das seit 1772 Polen Zugefügte zu sehen. Treffend bemerkt Fürst Bülow 1916s): „Die Aufgabe der Lösung der polnischen Frage wäre für Preußen leichter gewesen, wenn nicht die erkünstelte und unhaltbare napoleonische Schöpfung des Herzogtums Warschau den Polen trügerische Hoffnungen erweckt hätte. Die schmerzlichen Erfahrungen von *) **) ***) t)

Vgl. S. 71. Leipzig 1878. Politik, L Einleitung. A. a. 0.

1830, 1848 und 1863 wären den Polen diesseits und jenseits der preußischen Grenze vielleicht erspart geblieben, wenn in ihnen die Erinnerung an die ephemere Staatsschöpfung des ersten Napoleon nicht gelebt hätte. Der Gedanke daran, daß die Aufteilung der polnischen Republik unter die Ostmächte von 1793 bis 1807 nur ein Provisorium gewesen war, erschwerte es naturgemäß den Polen, die vollendete Tatsache nach dem Sturze Napoleons und seiner für die militärischen Zwecke Frankreichs gegründeten Staaten als ein Definitivum anzu­ sehen." Die Hoffnungen der getretenen polnischen Nation richteten sich nach dem Verlust ihrer politischen Selbständigkeit um so mehr auf ihre alte Schutzmacht Frankreich, als die Gedanken­ welt der Revolution längst in Polen Eingang gefunden hatte. Eine Folge davon war bereits die Verfassung von 1791 ge­ wesen. Daß die französische Republik für die Freiheit der Völker und für die Menschenrechte zu fechten vorgab, bestärkte nur die Anhänglichkeit der Polen an Frankreich. In großer Zahl weilten polnische Flüchtlinge in Frankreich. Polnische Legionen fochten bereits 1797 in Italien in den französischen Reihen. 1812 zählte die Armee des Herzogtums Warschau 75 000 Mann. Die Polen haben bis zuletzt treu zu Napoleon ge­ halten, obwohl er ihre nationalen Hoffnungen in dem von ihnen gewünschten Umfange in keiner Weise erfüllte. Die Begeiste­ rung, die ihm im Dezember 1806 in Warschau entgegenschlug, ließ er sich gern gefallen, feste Zusagen gab er den Polen jedoch nicht. Das Land sollte ihm nur als Rekrutierungsbezirk und zur Verwirklichung seiner politischen Pläne dienen. Er war bereit, in Tilsit den gesamten polnischen Besitz Preußens Ruß­ land zu überlassen. Erst als Alexander ablehnte, entstand auf dessen Anregung das Herzogtum Warschau unter König Fried­ rich August von Sachsen. Nach dem Kriege von 1809 ver­ größerte es Napoleon durch die von Österreich abgetrennten Erwerbungen der dritten Teilung. „Wenn so ein erster Anfang zu einem selbständigen Polen gemacht war, so war es, recht betrachtet, nur Täuschung und Schein. Schon die dem Herzog­ tum durch Statut vom 22. Juli 1807 verliehene Verfassung gab nicht wirkliche Freiheit, sondern nur ein Trugbild der Frei­ heit, das es Napoleon ermöglichte, ganz wie in seinen übrigen

Vasallenstaaten, hier nach Belieben zu schalten. Die Verfassung war napoleonische, nicht polnische Arbeit und trug seinen Be dürfnissen, nicht denen der Polen Rechnung.. . . Nicht Friedrich August, sondern Napoleon war der Herr des Landes. ... Er hat die Polen nie in geschlossenen Massen zusammenwirken lassen, und so fällt die Geschichte jener polnischen Armee mehr in das Gebiet der Familiengeschichte, ihre Rolle während des Feldzuges 1812 war eine untergeordnete und mußte es sein, da es gar nicht im Plane Napoleons lag, ihr Gelegenheit zu geben, sich besonders auszuzeichnen*)."

In den Verhandlungen des Wiener Kongreßes bildeten die polnische und sächsische Frage die schwierigsten Gegenstände. Kaiser Alexanders Absicht einer Herstellung Polens ohne die in der ersten Teilung an Preußen und Österreich gefallenen Ge­ biete, erregte in hohem Maße den Argwohn Österreichs, zumal der Zar den Polen auch eine Verfassung zu verleihen beab­ sichtigte. Die von ihm geplante Entschädigung Preußens für seine ehemaligen polnischen Landesteile durch Sachsen stieß nicht minder auf den Widerstand Österreichs, da dieses ange­ sichts der großen Leistungsfähigkeit, die Preußen im Kriege bewiesen hatte, befürchtete, die Einverleibung Sachsens könnte die Vorherrschaft Preußens in Norddeutschland und dadurch späterhin in Gesamtdeutschland begründen. Metternich und Talleyrand ahnten beide in Preußen den künftigen Feind, der zu einer wirklichen Großmachtstellung nicht gelangen durfte. Ihre Versuche, Preußen von Rußland zu trennen, mißlangen, da Friedrich Wilhelm III. erkannte, daß er an der Seite Öster­ reichs und der Westmächte wohl größeren polnischen Besitz erlangen, in der für Preußen ungleich wichtigeren sächsischen Frage jedoch im Stich gelassen werden würde. Schließlich ist es zu einer Einigung dahin gekommen, daß Preußen die Hälfte Sach­ sens zufiel sowie, daß es von seinem ehemaligen polnischen Besitz der zweiten und dritten Teilung die Provinz Posen, Thorn und Danzig erhielt, d. i. den vierten Teil seiner ehemaligen polnischen Lande, auf den Alexander für sein neues Polen Verzicht leistete.

I.

*) Th. Schiemann, Geschichte Rußlands unter Kaiser Nikolaus I. Kaiser Alexander und die Ergebnisse seiner Lebensarbeit. Berlin 1904.

Preußen gewann damit den Vorteil geringeren fremdstämmigen Volkstums, nahm aber den Nachteil einer wesentlich ungünsti­ geren Grenze in Kauf, als sie vor dem Tilsiter Frieden be­ standen hatte. Die Ungunst unserer Grenzverhältnisse im Osten hat sich während des Weltkrieges empfindlich fühlbar gemacht.

Das in dem bekannten Umfang unter russischer Herrschaft verbleibende Königreich Polen erhielt durch Kaiser Alexander, der alle Mittel anwandte, die Polen zu versöhnen, „die liberalste Verfassung, die im damaligen Europa bestand"*). Sie sollte gewissermaßen einen Versuch bilden für eine Verfassung, die Alexander später auch dem russischen Reich zu verleihen ge­ dachte. Die polnische Verfassung begründete zwar die Adels­ herrschaft aufs neue, aber diese wurde zugleich durch eine An­ zahl von Festsetzungen gemildert, die allen Bewohnern des Königreichs zugute kamen. Das Vertrauen Alexanders in die Polen kommt am deutlichsten in der Errichtung einer beson­ deren, 35 000 Mann starken polnischen Armee zum Ausdruck. Sie unterstand dem Statthalter, Großfürsten Konstantin, der zugleich den Befehl über die in den ehemals polnischen, bei Rußland verbliebenen Provinzen stehenden, sonach ebenfalls polnisch sprechenden Truppen führte. Gelang es nicht, diesen Truppen Gemeingefühl mit Rußland anzuerziehen, so lieferte man dem Nationalfeinde selbst Waffen in die Hand. Rußland übernahm noch dazu einen großen Teil der Kosten der pol­ nischen Armee. Die Polen haben das Vertrauen Alexanders und des Großfürsten Konstantin in schmählichster Weise ge­ täuscht. Dieses Volk von geborenen Verschwörern organisierte alsbald wieder geheime Gesellschaften. Bereits 1820 stieß Alexander in Warschau auf russenfeindliche Stimmungen. Die geheimen Gesellschaften schlossen sich zu einer „Nationalen patriotischen Gesellschaft" zusammen, die sich auch auf das preußische Gebiet erstreckte und zum Teil dort ihren Ursprung hatte. Ziel der Gesellschaft war die Herstellung des ganzen Polens in den Grenzen von 1772. Unreifer Patriotismus erstrebte hier Dinge, die bei der derzeitigen Gesamtlage Europas in keiner Weise Aussicht auf Verwirklichung besaßen. Das *) Schiemann, a. a. O. I.

System Alexanders erwies sich mehr und mehr als undurch­ führbar. Nicht lange vor dem Aufstand vom Dezember 1830 schrieb Großfürst Konstantin *): „Meine fünfzehnjährige Er­ fahrung in diesem Lande hat mir zu deutlich bewiesen, daß diese Herren jeglicher Kategorie, wenn sie eine Art Russomanie affektieren, nur persönlichen Interessen nachgehen, und daß hinter all den schönen Worten von ihrer Hingebung geheime Absichten stecken. Trotz meiner Warnungen haben sich hier viele dadurch täuschen lassen."

Als Nikolaus zur Regierung kam, hat er die Einrichtungen seines Bruders nicht angetastet. Er versprach den Polen, stets über ihr „wahres Glück" zu wachen. „Aber der Kaiser und die Polen verbanden mit dem Begriff »wahres Glück' Vor­ stellungen, die einander ausschlossen. Nikolaus dachte an das endliche Aufgehen der Polen in die große russische Völker­ familie, sie aber ersehnten die endgültige Trennung von ihr und glaubten an die Verwirklichung der Hoffnungen, die sie während der Prozeßverhandlungen der letzten Jahre zwar ge­ leugnet, aber niemals aufgegeben hatten*)." Die Julirevolution wurde in allen polnischen Gebieten mit Jubel begrüßt. Man fühlte sich mit dem Brudervolk an der Seine in Übereinstim­ mung. In Posen wagten sich die französischen Sympathie­ bezeigungen offen hervor. Die zahlreichen auf deutschen Uni­ versitäten studierenden Polen machten aus ihren Hoffnungen auf Wiedererstehung ihres Vaterlandes kein Hehl. Der Aus­ bruch der Warschauer Revolution im Dezember 1830 traf Ruß­ land keinesfalls gut gerüstet, zumal es sich hier nicht um die Bekämpfung einer Insurrektion, sondern um die ebenbürtiger, von nationaler Begeisterung getragener Truppen handelte. Es waren denn auch nicht mehr als rund 100 000 Mann, mit denen Diebitsch Anfayg Februar 1831 in das Königreich einrückte. Bei den weiten Räumen des russischen Reiches konnten erst ganz allmählich namhafte Verstärkungen nachgeführt werden. Da es nicht glückte, die Polen gleich anfangs vernichtend zu schlagen, hatte sich nach Aufstellung ansehnlicher polnischer Neu­ bildungen Ende März ein Gleichgewicht der Kräfte heraus­ gebildet. *) Schiemann, o. o. O. IL

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Das zertrennte Polen.

Kaiser Nikolaus hat ungeachtet des Treubruchs der Polen anfänglich eine durchaus versöhnliche Haltung bewahrt und ihnen auf alle Weise die Rückkehr zum Gehorsam zu erleichtern versucht. Er ist aber von ihnen in schmählichster Weise hinter­ gangen worden. Ihre Sendboten versicherten ihn der Ergeben­ heit der Nation, während sie im Herzen völlig anders dachten. Der Ehrbegriff der Polen in dieser Hinsicht ist stets dehnbar gewesen. Der polnische Reichstag erklärte in stürmischer Sitzung den Thron für erledigt. Der Beschluß bedeutete den Krieg. Er wurde gefaßt unter dem Einfluß der radikalen Klubs. Auch der Gefühlspatriotismus der polnischen Frauen, der in der Geschichte des Landes stets eine große Rolle gespielt hat, wirkte mit. Es ist nicht zu verwundern, daß unter solchen Umständen das Band, das Nikolaus mit den Polen verknüpfte, völlig zer­ riß. Seine autokratische Abneigung gegen konstitutionelle Staatsformen konnte dabei nur zunehmen. Das mag im Ver­ ein mit dem schleppenden Gang, den die Operationen seines Heeres infolge mangelhafter rückwärtiger Verbindungen, aber auch unverkennbarer Zögerungen des Feldmarschalls Diebitsch annahmen, dem Zaren Mitte Mai 1831 den eigentümlichen Gedanken erweckt haben, sich nach Niederwerfung des Auf­ standes mit der Narew- und Weichsel-Grenze zu begnügen und das nördlich und westlich von dieser liegende polnische Gebiet seinen Verbündeten, Preußen und Österreich, zu überlassen, da Rußland kein Interesse daran habe, ein Land von so flagranter Undankbarkeit zu besitzen*). Der Rußland verbleibende Rest des Landes sollte Einrichtungen erhalten, die den wahren Inter­ essen des Zarenreiches entsprächen, den Namen „Königreich Polen" aber behalten, damit dieser nicht einem der abgetrennten Teile verliehen würde und dadurch neue Streitigkeiten ent­ stünden**). Diese Pläne des russischen Kaisers sind bei dem

*) Schiemann, a. a. O. UI.

**) Kaiser Alexander II. ist später ans diesen Gedanken zurückge­ kommen, wenn er ihn auch bald wieder fallen gelassen hat. Bismarck sagt im 1. Bande seiner .Gedanken und Erinnerungen', der Kaiser habe ihm gegenüber Polen als eine Quelle der Beunruhigung für Rußland bezeichnet, er sei geneigt, das linke Weichselufer, wenn auch ohne Marschau, auf­ zugeben.

bald darauf einsetzenden günstigen Fortgang der Operationen, die Anfang September zur Einnahme Warschaus durch den Feldmarschall Paskiewitsch führten, bald fallen gelassen worden. Sie stießen aber von vornherein auf Abneigung bei Österreich und Preußen. Feldmarschall Graf Gneisenau, der den Ober­ befehl über die preußischen Armeekorps an der Grenze von Russisch-Polen führte, berichtete darüber am 21. Juni aus Posen, er würde über eine neue Teilung Polens erschrecken. „Die Verhältnisse der Polen zu den Deutschen haben sich sehr verbittert seit jener Zeit vor 36 Jahren. Sie sind unfähig, durch eine sanfte und gerechte Regierung, wie die unsrige, sich leiten zu lassen. In einem Kriege gegen Frankreich wären wir genötigt, einen großen Teil unserer Kriegsmacht an der Mittel­ weichsel stehen zu lassen." Der preußische Minister des Äußeren, Graf Bernstorfs, teilte diese Ansicht des Feldmarschalls durchaus. Rach Niederwerfung des Aufstandes ist die künftige Stel­ lung Polens durch ein sogenanntes „Organisches Statut" vom Februar 1832 bestimmt worden. Das Zartum Polen wurde für immer als mit Rußland verbunden und für einen untrenn­ baren Teil des Reiches erklärt, erhielt aber eine den örtlichen Verhältnissen entsprechende Verwaltung, besonderes Zivil- und Kriminalrecht sowie die Zusicherung der Bekenntnisfreiheit. Die russische Politik hat seitdem bis in die neueste Zeit hinein an dem Versuch festgehalten, die polnische Nationalität der russi­ schen zu assimilieren*). Dieser Versuch konnte bei der Art, wie Polen nunmehr von russischer Seite unter Nikolaus verwaltet wurde, nicht glücken. Vor allem erregte es die größte Miß­ stimmung, daß den Offizieren der auf österreichisches und preußisches Gebiet übergetretenen und dort entwaffneten pol­ nischen Verbände nicht gestattet wurde, russischen oder russisch­ polnischen Boden zu betreten. „Es läßt sich mit größter Be­ stimmtheit sagen, daß dies der Fehler gewesen ist, welcher die polnische Revolution zu einer latent fortdauernden Krankheit nicht nur in Kongreßpolen machte, sondern auch in den soge­ nannten wiedervereinigten Provinzen, d. h. in Litauen, Weiß­ rußland und Kleinrußland, die sich füglich als Kolonien des polnischen Adels bezeichnen ließen. Jene heimatlosen Offiziere ) Schiemann, a. a. O. III.

wurden die Zentren der Agitation, die vom Auslande her nach Rußland hinein zündend wirkte, für welche der gesamte Libe­ ralismus Europas eintrat, und die dahin führte, daß die Zeit den Kaiser Nikolaus nicht milder, sondern härter stimmte*)." Die Polen vergalten ihm das. Der nationale Gedanke und die demokratische Zeitströmung verbanden sich mehr und mehr in gemeinsamem Hasse gegen die selbstherrliche Regierung des russischen Zaren. In ihm fanden sich die aristokratische, soge­ nannte weiße, und die radikale rote Partei zusammen. Die milde Gesinnung Kaiser Alexanders II. ließ auf Er­ leichterung des auf dem Lande lastenden Druckes hoffen, und eine solche erfolgte in der Tat, wenn auch der Kaiser die Polen ermahnte, ihren Unabhängigkeitsbestrebungen zu entsagen. Sie ließen in solchen jedoch nicht nach und fühlten sich darin durch die ihnen günstige Politik Napoleons III. bestärkt. 1860 bildete sich ein Revolutionsausschuß von zwölf jungen Männern, der sich alsbald wie eine heilige Feme im ganzen Lande Geltung verschaffte. Seinen Befehlen wurde pünktlich gehorcht, seinen Steuerausschreibungen Folge geleistet. Weigerungen zogen Schädigungen an Leib und Gut nach sich. Im Einvernehmen mit der Geistlichkeit wurden Nationalfeiertage festlich begangen, ohne alle Gewisfensbedenken absichtlich Zusammenstöße mit der Polizei und der russischen Truppe herbeigeführt, um durch ver­ gossenes polnisches Blut die Volksleidenschaften zu erregen. Der Anhang des Ausschusses nahm dauernd zu. Polizei und Post arbeiteten bald in seinem Dienst. Die russischen Behörden waren dieser über das ganze Land verbreiteten Verschwörung gegen­ über machtlos. Einen anderen Herd revolutionärer Be­ wegungen bildete der 5000 Mitglieder zählende Landwirtschaft­ liche Verein, der die gleichen Wege zu gehen drohte, wie der geheime Ausschuß. Im Landwirtschaftlichen Verein vertrat seit 1861 der Marquis Wielopolski eine andere Richtung. Mit dem gesunden Blick des Staatsmannes für bestehende Möglichkeiten erklärte er, daß die Vergangenheit Polens in der Asche liege, man müsse mit den Materialien der Gegenwart bauen**). Er war daher von der Notwendigkeit durchdrungen, auf die natio*) Schiemann, a. a. O. in **) Sybel, Die Begründung des Deutschen Reiches unter Wilhelm I. DL

nale Unabhängigkeit zu verzichten, die in der Tat damals nicht zu erreichen war, die Herrschaft der Romanows unumwunden anzuerkennen und dadurch die Aussicht zu gewinnen, den be­ friedigenden Zustand von 1815 wiederzuerlangen und so beide verfeindeten slavischen Völker zu versöhnen. Diese Versöhnung lag Wielopolski vor allem deshalb am Herzen, weil ihn ein leb­ hafter Deutschenhaß beseelte. Er wollte ein Polen als russischen Schutzstaat, weil ihm dadurch am sichersten einem Vordringen der Deutschen auf slavischem Boden gewehrt und die Befreiung slavischer Lande, die sich in ihrem Besitz befanden, ermöglicht werden zu können schien. Kaiser Alexander glaubte noch nicht an die Unversöhnlich­ keit der Polen. Er genehmigte im März 1861 einen Teil der von Wielopolski gewünschten Reformen, so die Errichtung eines Staatsrats, die Bildung von gewählten Bezirks-, Kreis- und Gemeinderäten und eines Ministeriums für Kirchen- und Schul­ wesen unter Mielopolskis Leitung. Der Marquis sah sich bald genötigt, gegen die unbotmäßigen politisierenden Landgeistlichen einzuschreiten und erbitterte dadurch Bischöfe und Magnaten. Vor allem aber sahen die Roten in ihm ihren schlimmsten Feind, denn sie bedurften zur Erreichung ihrer revolutionären Ziele steigender Unzufriedenheit des Volkes, mit einsichtigen Re­ formen war ihnen nicht gedient. Die Landwirtschaftliche Gesell­ schaft mußte aufgelöst werden, die Gärung nahm zu. Auch die Partei der Weißen wandte sich von Wielopolski ab. Die Er­ nennung des liberalen Großfürsten Konstantin zum Statthalter vermochte die Lage nicht mehr zu bessern. Der Versuch Wielopolskis, sich der revolutionären Elemente zu entledigen, indem er unter ihnen eine Rekrutierung vornehmen ließ, erwies sich als ein Fehlschlag und brachte Anfang 1863 die Revolution zum Ausbruch. Da sie sich nicht wie 1830 auf eine reguläre Armee stützen konnte, führte sie zu einem Bandenkriege. Kleine russi­ sche Garnisonen wurden überfallen und niedergemetzelt. Der Verfolgung entzogen sich die Insurgenten durch Flucht in die Wälder. Sie ergänzten sich wesentlich aus städtischen Ele­ menten. Die Bauern, die in der russischen Regierung eine Be­ schützerin gegen die Willkür der adligen Grundbesitzer sahen, hielten sich von der Erhebung fern. Der geheime Ausschuß bezeichnete sich nunmehr als provisorische Regierung und fand

Nachahmung in einer gleichen Vereinigung in Litauen, die das Land für einen untrennbaren Bestandteil Polens erklärte. Den Anordnungen dieser geheimen Regierungen wurde überall Gehorsam geleistet. Der Aufstand griff auch nach Wolhynien und der Ukraine über. Die preußischen und österreichischen Polen wurden angewiesen, keinen Aufstand zu unternehmen, da es gelte, zunächst alle Anstrengungen gegen den Hauptfeind, Rußland, zu vereinigen. Die Hoffnungen der Polen richteten sich auf das Ausland. Frankreich, England und Österreich find denn auch mehrfach bei der russischen Regierung zugunsten der Polen vorstellig geworden, haben es jedoch bei diplomatischen Noten bewenden lassen. Die öffentliche Meinung Rußlands wandte sich in immer stärkerem Maße gegen die Polen. Man wurde schließlich des Aufstandes Herr, und in Litauen wie in Polen trat ein System der Unterdrückung ein, das alle bis­ herigen Freiheiten aufhob und an die Stelle des Versuchs einer Assimilierung mit gelinden Mitteln einen solchen gewaltsamer Russifizierung setzte.

Die preußische Polenpolitik der letzten hundert Jahre.

Von den Preußen auf dem Wiener Kongreß zuge­ sprochenen polnischen Gebietsteilen wurden die Thorn zu­ nächst gelegenen wieder zu ihrer alten Heimat, dem einstigen Ordenslande, geschlagen, aus den übrigen nebst einem west­ preußischen Grenzstrich wurde die neue Provinz Posen ge­ bildet. Der Name eines Großherzogtums Posen war staats­ rechtlich ohne Bedeutung, denn eine Sonderstellung innerhalb des preußischen Staates wurde der Provinz nicht eingeräumt. Ein Aufruf König Friedrich Wilhelms III. an die Bewohner enthielt die Worte: „Ihr werdet meiner Monarchie einverleibt, ohne Eure Nationalität verleugnen zu dürfen." Dem entsprach es, wenn der Provinz ein besonderes Wappen gewährt wurde, der weiße polnische Adler im Herzschilde des preußischen, und neben dem Oberpräsidenten, dem die eigentliche Verwaltung oblag, ein Statthalter polnischer Herkunft in Posen residierte. Dieser, der dem Hohenzollernhause durch Heirat verwandte Fürst Anton Radziwill, warnte bei Gelegenheit der Huldigung 1815 seine Landsleute nachdrücklich, sich nicht gefährlichen Täu-

Fürst Anton Aadziwill.

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schungen hinzugeben, wies auf die Vorteile hin, die ihnen die bürgerlichen Freiheiten, die in Preußen beständen, gewährten, verhieß Schonung der polnischen Sprache, Sitte und Gewohn­ heit, betonte aber, daß Sonderrechte für die Provinz nicht be­ ständen. über den Fürsten urteilt Treitschke*), er sei Pole ge­ blieben, habe jedoch die Treue, die ihn selbst erfüllte, arglos auch bei seinem Volke vorausgesetzt. Nach der Huldigung schrieb er an Hardenberg: „Ich stehe Ihnen dafür, daß diese Provinz mit denen, welche seit Jahrhunderten dem Zepter Sr. Majestät unterworfen sind, in Liebe wetteifern wird." Der Kanonikus Kawiecki sprach in seiner Festpredigt von dem Jagellonenblute der Hohenzollern, und der Adel versicherte, schwere Erfahrungen hätten ihn gereift. Fürst Radziwill hoffte, durch ein „System der Nationalität", indem er liebevoll auf die Wünsche der Polen einging, in der Provinz Stimmung für Preußen zu machen, mußte aber bald erkennen, wie hinterhältig seine Landsleute ihm gegenüber verfuhren. Der Oberpräsident v. Zerboni hielt sich für verpflichtet, an seiner Stelle die Teilung Polens durch Nachsicht und Milde zu sühnen. Die Regierung ließ es geschehen, daß sehr bald ganz unverhüllt die Auffassung geäußert wurde, die Provinz müsse bis zur dereinstigen Wieder­ vereinigung mit Warschau einen Staat im Staate bilden. Be­ reits 1818 wurde eine Verschwörung aufgedeckt. Die Geistlich­ keit zeigte sich dem protestantischen Staate gegenüber durchaus feindlich, der Adel ging zielbewußt auf die Verdrängung der Deutschen aus. Die Masse des Volkes stand seinen Umtrieben fern. Der Bauer empfand die Wohltat einer geordneten Herr­ schaft. In den Städten begann sich ein Bürgertum zu bilden. Die preußische Regierung aber hat in jenen Jahren über ihrer vergeblichen Liebesmüh um die Polen ihre Pflicht dem Deutsch­ tum gegenüber gröblich vernachlässigt. Die Opposition trat auf dem Posener Landtage immer deutlicher hervor, „obwohl der polnische Adel der Fürsorge des preußischen Beamtentums die Rettung seiner Güter verdankte, denn ohne den Beistand der neuen landwirtschaftlichen Kredit­ anstalt hätte er in diesen Jahren der Not seinen Grundbesitz unfehlbar verloren; doch was wogen ihm die Segnungen des *) Deutsche Geschichte. II. Frehtag-Loringhoven, Angewandte Geschichte

deutschen Regiments neben dem Traumbilde der Wiederherstel­ lung Polens"*). Die polnische Mehrheit durfte in einer preußi­ schen Provinz unter den Augen der Behörden sich herausnehmen, so zu tun, als ob das deutsche Drittel der Provinz gar nicht vorhanden wäre. Von den polnischen Gymnasien sagte selbst Zerboni, sie seien weniger Stätten des Unterrichts als solche des Preußenhasses. Bei den regen Beziehungen, wie sie zwischen Posen und Warschau bestanden und dadurch begünstigt wurden, daß ein Teil der polnischen Grundbesitzer sowohl im russischen wie im preußischen Polen besitzlich war, sind zahlreiche preußische Staatsangehörige in den Aufstand von 1830/31 verwickelt worden.' Die in Preußen gegen sie ergriffenen Maßnahmen gingen nicht weiter, als es unbedingt notwendig war. Nach dem Kriege wurde eine Amnestie für alle erlassen, die vor Ab­ lauf einer bestimmten Frist zurückkehrten. Gegen mehr als 1600 Personen mußte trotzdem gerichtlich eingeschritten werden, von denen 1400 verurteilt wurden. 1200 von diesen sind völlig begnadigt worden. 180 erließ man die Geldstrafen ganz, die Freiheitsstrafen zur Hälfte. 22 reiche Grundherren waren zu gänzlicher Vermögenseinziehung verurteilt. Sie hatten davon nur ein Fünftel zu zahlen, das der König den Unterrichts­ anstalten der Provinz überwies. Trotz solcher weitgehenden, an Schwäche grenzenden Milde erging sich die gesamte liberale Presse in Wutausbrüchen gegen Preußen. Der neuzeitliche Radikalismus fühlte sich der polnischen Adelsanarchie wahl­ verwandt. In Berlin schloß sich eine Gruppe von Polen­ freunden zusammen. Vollends in Süddeutschland schlug die Polenbegeisterung hohe Wogen. Brave süddeutsche Bürger hatten schon während des Krieges Geld für die Aufrührer bei­ gesteuert, als gelte es, deutsche Landsleute zu unterstützen. In Preußen aber besann man sich endlich auf. die Pflicht, für das Deutschtum in der Ostmark zu sorgen. Die Statthalterschaft wurde aufgehoben, der Oberpräsident v. Flottwell und der Kommandierende General v. Grolman entfalteten eine äußerst ersprießliche Wirksamkeit in deutschnationalem Sinne. „Die Aufhebung der Landratswahl," schreibt Fürst Bülow**), „ge*) Treitschke, Deutsche Geschichte, in. **) A. a. O.

Die Politik Floitwells wird verlassen.

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währte die Möglichkeit der Bestellung deutscher Beamter und es wurde, den kargen Staatsmitteln entsprechend, bescheiden mit dem Ansetzen deutscher Gutsbesitzer in den Ostmarken be­ gonnen. ' Die Flottwellsche Politik hatte so wenig wie die später aus denselben Bahnen fortgeführte Ostmarkenpolitik einen polen­ feindlichen Charakter. Sie war im Gegensatz zu der miß­ lungenen Politik zwischen 1815 und 1830 nur darauf bedacht, dem Deutschtum neben dem Polentum wieder zu seinem Recht zu verhelfen.. . . Was den Polen genommen wurde, das waren in der Tat nicht staatsbürgerliche Rechte, sondern Borrechte." Im Jahre 1840 ist die Politik Floitwells wieder ausgegeben worden. König Friedrich Wilhelm IV. berief den Oberpräsi­ denten nach Magdeburg. Er wollte es nochmals mit einer Ver­ söhnung versuchen. Sein kaiserlicher Schwager in Petersburg hat es im Interesse der Sicherheit beider Staaten an War­ nungen nicht fehlen lassen, sie wurden aber nicht befolgt. Eine Anzahl von Verordnungen machten die polnische Sprache nahe­ zu zur Amtssprache der Provinz. Die Polen jubelten, daß die Zeit des Germanisierens zu Ende sei. Auf dem Provinzial­ landtage wurde eine Reihe deutschfeindlicher Forderungen erhoben. Durch Wiedereinführung der Landratswahl suchte man einen Schutz der Provinz gegen die Krone durch ihre eigenen Beamten zu gewinnen. Die Polen mußten sich naturgemäß als Sieger fühlen, wenn dem neuen Oberpräsidenten, Grafen Arnim-Boitzenburg, die königliche Weisung zuteil wurde, „jeden Anschein einer versuchten Verdrängung oder Beeinträchtigung des polnischen Elements durch das deutsche zu vermeiden". Über die Anfänge der Verwaltung des Grafen Arnim schreibt Treitschke*): „Er lernte bald durch schmerzliche Enttäuschungen, daß er das launische, nach Weiberart bald trotzende, bald schmeichelnde Polentum minder richtig beurteilt hatte, als sein in dieser Grenzerwelt ausgewachsener Vorgänger." Er mußte bald dem König melden, daß die Scheidewand zwischen Deutschen und Polen doch weit schroffer sei, als er gedacht habe, und daß die Richtlinien des letzten Jahrzehnts nicht ungestraft verlassen werden konnten. Hierzulande sei das Beamtentum alles, denn tüchtige Männer fehlten unter den Polen fast ganz, die Auf-

*) Deutsche Geschichte. V

9*

richtung des gesunkenen Volkes lasse sich noch gar nicht absehen. „Seitdem ward er wachsamer und begann nachzudenken über die Warnung des großen Friedrich: man darf den Polen keine Komplimente machen, das verdirbt sie nur. Aber noch bevor er sich in seinem schwierigen Amte ganz zurechtgefunden hatte, schon nach Jahresfrist, berief ihn der König auf einen Minister­ posten. Durch so jähe Wechselfälle gewannen die polnischen Edelleute die tröstliche Überzeugung, daß keine starke Hand mehr das Steuer führte. An den Zwangsverkäufen ihrer Güter be-' teiligte sich der Staat nicht mehr, und freiwillig veräußerten sie nur noch selten eine Scholle an einen Deutschen . . . Von den Volksschulen fürchteten sie auch nicht mehr viel, weil der König, um die römische Kirche ganz zufriedenzustellen, die Ämter der Schulinspektoren häufig an polnische Priester übertragen ließ... Selbst ein polnischer Jugendbildungsverein, dessen eigentlicher Zweck keinem Deutschen in der Provinz zweifelhaft blieb, wurde von der Regierung freundlich begünstigt. Nach alter Gewohn­ heit dankten die sarmatischen Edelleute der deutschen Schwäche durch Untreue und Verschwörungen. Daß diese Regierung mit Hochverrätern streng umgehen würde, stand ja doch nicht zu befürchten." König Friedrich Wilhelm IV. freilich berauschte sich 1842 in Posen an den stürmischen Huldigungen, die ihm die Polen darbrachten. „Man trieb arglos dem großen Verrate der Polen entgegen. Ein genialer, seiner Macht sicherer Staats­ mann darf wohl zuweilen abweichen von der alten Regel, daß die Staatsgewalt sich auf ihre Freunde, nicht auf ihre Feinde stützen soll. Eine schwache Regierung verrät nur ihre eigene Haltlosigkeit, wenn sie in kurzsichtiger Überschlauheit unbelehr­ baren Gegnern zu schmeicheln versucht. So geschah es hier; die Polen wurden nicht gewonnen, die treuen Deutschen aber fühlten sich wie verraten und verkauft, da sie den König die Politik Flottwells beloben und doch selbst den genau entgegen­ gesetzten Weg einschlagen sahen." Der König ist bald genug bitter enttäuscht worden durch die Undankbarkeit seiner ge­ liebten Polen. „Ermutigt durch die Schlaffheit der Regierung, entwarfen die sarmatischen Edelleute des Provinziallandtags 1843 eine nach Form und Inhalt gleich ungehörige Adresse, welche dem Landesverrat, der Lossagung von Preußen sehr

nahekam . . . Der polnische Adel merkte, was er sich unter dieser Regierung erlauben durfte; seine Kasinos und Leseklubs mehr­ ten sich von Jahr zu Jahr; in den Agronomischen Vereinen suchte er sich den polnischen Bauern wieder zu nähern; sein Jagdklub veranstaltete in den weiten Wäldern Reit- und Schieß­ übungen, und jeder der Genossen wußte, daß er sich rüsten sollte für den ersehnten Tag der Deutschenjagd."

Dieser Tag schien den Verschworenen, die ihre Weisungen von dem radikalen Ausschuß der polnischen Emigranten in Frankreich erhielten, im Jahre 1846 gekommen. Der Putsch wurde in Posen leicht unterdrückt, während er in Galizien größere Ausdehnung annahm und hier den Anlaß zur Ein­ verleibung des Freistaats Krakau in die österreichische Monar­ chie durch Beschluß der Teilungsmächte gab. „Diese hatten im ganzen Verlauf dieser polnischen Un­ ruhen ihren politischen Charakter unzweideutig offenbart. Im russischen Polen regierte die Faust. In Österreich sah die Re­ gierung stumpfsinnig mit an, wie das wütende Landvolk die polnischen Rebellen totschlug. In Posen wurde der Aufstand fast ohne Blutvergießen unterdrückt, und die Masse des Volkes blieb still. Auf Besitz und Bildung gestützt, schritt das Deutsch­ tum, trotz allen polnischen Umtrieben noch immer unaufhaltsam vorwärts. Durch Preußens Schulen, Preußens Gewerbefrei­ heit, Preußens Agrargesetze erzogen, wuchs allmählich in Stadt und Land ein polnischer Mittelstand empor, der seine Wohl­ täter mit dem unvermeidlichen historischen Undank belohnen sollte." Die Polen stellten ihr Kontingent bei allen Barrikaden­ kämpfen dieses Jahres in ganz Europa. Die Bewegung nahm natürlich unter den preußischen Polen einen nationalen Cha­ rakter an, wobei das liberale Deutschland selbst in der Pauls­ kirche Partei für die Polen gegen die Grenzdeutschen nahm. Auch dieses Mal gelang es, des Aufstandes ohne großes Blutver­ gießen verhältnismäßig bald Herr zu werden. Der Gedanke einer nationalen Reorganisation der Provinz Posen unter Trennung ihres östlichen, mehr polnischen Teils vöm westlichen, vor­ wiegend deutschen, der den östlichen völliger Polonisierung preisgegeben hätte, wie er unter polenfreundlicher Strömung in Berlin gefaßt worden war, ist mit der Revolution begraben

Das zertrennte Polen.

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worden. Das Deutschtum konnte jetzt in den Ostmarken wieder Fortschritte machen. Gleichwohl ist man im Osten bis zu Bismarcks Zeit, wie Fürst Bülow ausführt*), nicht aus der Defensive herausge­ kommen. „Nach jahrzehntelanger, in den sechziger und sieb­ ziger Jahren durch die mühevolle Gründung und Konsolidierung des Reiches verursachter Gleichgültigkeit gegenüber dem Na­ tionalitätenkampf im Osten, setzte Bismarck im Jahre 1886 mit seiner groß angelegten nationalen Ostmarkenpolitik ein, nach­ dem er 1872 die staatliche Schulaufsicht für Posen und 1873 die deutsche Sprache als Unterrichtssprache eingeführt hatte. Die Ara Flottwell hatte nur erst eine nationale Korrektur der Ost­ markenpolitik sein können. Mit Bismarck setzte der bewußte Kampf um das Deutschtum in den Ostmarken ein. ... Es ist selbstverständlich, daß die Polen in leidenschaftliche Erregung gerieten, daß sie sich zur Wehr setzten und mit ihren muster­ gültigen Organisationen den Kampf aufnahmen. Der Natio­ nalitätengegensatz gewann an Schärfe." Die Frage war, ob Preußen untätig zusehen sollte, daß Posen, Westpreußen, Ober­ schlesien und Teile von Ostpreußen dem Deutschtum wieder ver­ lorengehen sollten. „Wurde dadurch der Nationalitätengegen­ satz zunächst verschärft, so war das gewiß beklagenswert, aber es war unvermeidlich. Es gibt nun einmal im politischen Leben zuweilen harte Notwendigkeiten, die schweren Herzens erfüllt werden, aber von deren Erfüllung keine Gefühlsregung be­ freien darf." Bismarck hat 1886 mit dem Ansiedlungsgesetz den Kampf um den Boden eingeleitet. Bis 1890 wurden 46 000 Hektar aus polnischer Hand erworben. Dann aber wechselte unter Caprivi aus parlamentarischen Gründen wiederum der Kurs. Es wurden Konzessionen in Schul- und Kirchenfragen gemacht, und es erfolgte eine Hilfeleistung für die polnische Landbank, „das heißt eine Rettungsaktion für eben die polnischen Grund­ besitzer, aus deren Liegenschaften die Ansiedlungskommission bestrebt sein mußte, Land zu erwerben". 1894 ist dann aber­ mals ein Umschwung erfolgt. Miquel hat die Traditionen Bismarcks in umsichtiger Weise vertreten. Es konnten aber ') A. a. O.

bis 1899 jährlich nur 2500 Hektar aus polnischer Hand ange­ kauft werden. „Die Energie, mit der die Polen die Abwehr des deutschen Angriffs auf ihren Boden in Szene gesetzt haben, verdient Bewunderung. Die deutsche Siedlungsaktion ward mit einer polnischen Gegenaktion beantwortet. Die Polen par­ zellierten ihrerseits Güter, für die sie die Siedler vielfach ge­ wannen aus der großen Zahl der polnischen Industriearbeiter im Westen. Während es dem Polen für eine Schande galt, dem Deutschen Land zu verkaufen, scheuten sich Deutsche leider oft nicht, den Polen für hohes Entgelt deutschen Grundbesitz zu überlassen." Das deutsche Ansiedlungswerk schritt zwar fort, aber der Ankauf von Gütern aus polnischem Besitz ge­ staltete sich immer schwieriger. Die Polen hielten ihr Land fest und die Güterpreise gingen stark in die Höhe. Aus diesem Grunde setzte Fürst Bülow 1908 das Enteignungsgesetz durch. Zum Austrag ist dieser Kampf um den Boden vor dem Welt­ kriege nicht mehr gekommen. Sein Ausgang hat ihn ohne jeg­ liches eigenes Verdienst der Polen zu ihren Gunsten entschieden in einem Maße, wie sie es sich selbst in ihren kühnsten Hoff­ nungen nicht träumen lassen konnten.

Mit Rücksicht auf die Bedeutung, die Polen im Weltkriege und erst recht nach diesem gewonnen hat, schien es angezeigt, näher auf die Teilungen und ihre Folgen einzugehen. Daß die Teilungen, wenn auch an sich beklagenswert, so doch ge­ schichtliche Notwendigkeiten waren, ist bereits dargelegt worden. Fürst Bülow weist darauf hin*), daß im ge­ schichtlichen Leben und Werden verschiedene nationale Kulturen, wo sie einander berühren, um den Vorrang kämpfen. Dieser Kampf ist auch jetzt noch nicht beendet, denn die Polen danken die Wiedergewinnung ihres Vaterlandes von 1772 nicht der eigenen Kraft, sondern dem Erliegen Deutschlands vor anderen Gegnern. In Erfüllung einer Kulturmission sind die Deutschen einst über Elbe und Oder vorgedrungen. Nach Polen sind sie von den polnischen Königen selbst gerufen worden. „Es ge­ schah das Seltene," schreibt Fürst Bülow, „daß die Aufrichtung staatlicher Herrschaft der kolonisatorischen und kulturellen Er-

') A. a. O.

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Das zerlrennke Polen.

Werbung nicht voraufging, sondern nachfolgte. Die staatliche Einverleibung unserer Ostlande Posen und Westpreußen wäre nicht erfolgt und hätte nicht erfolgen können, wenn die polnische Adelsrepublik ein lebensfähiges Staatswesen gewesen wäre. Als die Einfügung in die deutsche Herrschaft des preußischen Staates erfolgte, wirkte sie wie eine verspätete politische In­ anspruchnahme des Rechtes, das die deutschen Bewohner West­ preußens und Posens durch ihre kulturellen Leistungen längst geschaffen hatten. Ganz abgesehen davon, daß, wenn Preußen die Deutschen in Polen nicht unter deutsche Herrschaft gestellt hätte, sie unter russische Herrschaft gekommen wären." Nimmt man die Tatsache der Teilungen als solche hin, so läßt die weitere Entwicklung erkennen, daß die Teilungsmächte, was an ihnen war, getan haben, um der den Polen geschehenen Vergewaltigung nach Möglichkeit ihre Härten zu nehmen. Wenn sie hierin keine besseren Erfolge aufzuweisen hatten, so war dieses ausschließlich Schuld der Polen, so wenig es ihnen zu verdenken ist, daß sie nach der Wiedervereinigung ihres Vaterlandes strebten. Vom deutschen Standpunkt lag eine Versündigung nicht eigentlich in der Teilung, sondern im Ver­ sagen der Kraft zu folgerichtiger Germanisierung. Daß wir es hier haben fehlen lassen, ist in der Tat eine Sünde für ein großes Volk. Diese Unterlassung hat sich im Frieden von Ver­ sailles schwer gerächt. Wäre sie nicht begangen worden, wären Posen und Westpreußen durchgängig deutsch, was nach andert­ halb Jahrhunderten füglich hätte der Fall sein können, selbst Wilson mit seinen zweifelhaften Kenntnissen von den ethno­ graphischen Verhältnissen in Europa hätte uns diese Lande nicht absprechen können. An solchem Falle erkennen wir so recht, daß die englische Auffassung die richtige ist. Hier galt es nur deutsch zu denken, nicht über ein den Polen geschehenes Unrecht zu klagen, wie es von jeher der deutsche Liberalismus getan hat. Für eine englische Partei würde ein derartiger Standpunkt einfach unmöglich sein. Wie sehr Bismarck bei uns in der Vereinzelung geblieben ist, erkennt man auch hier, wenn man der deutschen Ideologie den gesunden Egoismus gegen­ überstellt, den er am 3. Dezember 1850 im preußischen Abge­ ordnetenhause bekundete, indem er sagte: „Die einzig gesunde Grundlage eines großen Staates — und dadurch unterscheidet

er sich wesentlich von einem kleinen Staat — ist der staatliche Egoismus und nicht die Romantik. Es ist eines großen Staates nicht würdig, für eine Sache zu streiten, die nicht seinen eigenen Interessen angehört." Das Nationalgefühl der Polen ist recht eigentlich erst durch das Unglück ihres Vaterlandes geweckt und geschärft worden. In seiner Festigkeit und Geschlossenheit verdient es die größte Anerkennung. Es wäre zu wünschen, daß jetzt, wo das Schick­ sal im Osten gegen die Deutschen entschieden hat, bei ihnen in gleichem Maße dort das Nationalgefühl lebendig bliebe. Nur den Charakter der Polen können wir unseren Landsleuten nicht wünschen. Er ist bei uns immer wieder verkannt worden, und das hat uns zu falschen Schritten den Polen gegenüber ver­ leitet. Hierbei hat der schöne deutsche Zug der Dankbarkeit für die Leistungen der polnischen Soldaten auf unseren Schlacht­ feldern sicherlich stark mitgesprochen. Von der Brüggen sagt vom Polen*): „Jäh und unvermittelt sind die Gegensätze, in denen er sich bewegt. Der der Außenwelt eigene schnelle Wechsel spiegelt sich in seiner Seele und erlaubt ihm nicht, dauernd an einem Dinge zu haften, sich zu vertiefen in der Betrachtung eines Gegenstandes, eine wohlerwogene und nachhaltige Vor­ stellung zu gewinnen. Geistige Sammlung, ruhiges Denken, philosophische Abstraktion, ein Stillestehen inmitten der Flucht der Erscheinungen und Fortarbeiten in dem Raume des indivi­ duellen und ideellen Geistes — das sind Gegensätze zu der Natur des Polen. Daher entbehrt er derjenigen Eigenschaften, welche die Früchte gerade dieser Tätigkeit sind. Ihm fehlen die festen, aus der umsichtigen Beurteilung der Dinge erwachsenden Normen. . . . Die lange Leidensgeschichte der polnischen Adels­ republik weist einen so erschreckenden Mängel aller politischen Fähigkeiten auf, wie er sonst nur bei den rohesten Völkern ge­ funden wird. Der Pole versteht weder Gesetze zu machen, noch sie zu achten und zu halten, weder das Recht zu entwickeln, noch es sich anzueignen, weder zu organisieren noch das Organisierte zu vervollkommnen, es zu verwerten; er täuscht sich selbst über seine Fähigkeiten und Absichten und entbehrt jeglichen Scharf­ blicks für die politischen Verhältnisse der Nachbarstaaten. . . .

er sieht nur das Besondere, Persönliche und hat kein Auge für das Allgemeine, Öffentliche." Diese für die Zeit des Untergangs des alten polnischen Staates unzweifelhaft zutreffende Kennzeichnung der Polen ist es heute wohl nicht mehr in jeder Beziehung. An den Polen sind die letzten anderthalb Jahrhunderte kaum spurlos vorüber­ gegangen. Ein gebildeter Mittelstand, von deutschem Einfluß wenn auch wider Willen stark berührt, ist herangewachsen. Ganz aber streift ein Nationalcharakter ihm eigentümliche Züge nicht ab. Der polnische Ehrbegriff ist auch heute noch ein anderer, als der uns geläufige. Wie einst Fürst Radziwills persönliche Ehrenhaftigkeit über diejenige seiner Landsleute hinwegtäuschte, so haben es auch während des Weltkrieges vornehm denkende, in deutschen Anschauungen ausgewachsene Polen getan und uns zu einem falschen Urteil über ihre Nation verleitet. Hierbei hat dann noch mitgewirkt, daß der Deutsche stets geneigt ist, den ihm geläufigen Maßstab über Menschen und Dinge auch bei Angehörigen anderer Nationen vorauszu­ setzen. Bessere Kenntnis der polnischen Geschichte und der unserer Ostmarken hätte uns vor mancher Enttäuschung während des Weltkrieges und nach diesem bewahren können. Die Ge­ schichte läßt bei den führenden Klassen dieses Volkes eine Reihe von Eigenschaften erkennen, die sich durch den auf ihm lastenden Druck der Fremdherrschaft allein nicht erklären lassen. Unzu­ verlässigkeit und Treulosigkeit haben die Polen andauernd, eben­ sogut Preußen wie Rußland gegenüber, gezeigt. Nicht, daß sie ihre nationale Unabhängigkeit erstrebten, ist den Polen vorzu­ werfen, sondern die Art, wie es geschah, durch fortgesetzten Treubruch und Verrat. Daß bei einer solchen Nation nicht auf Dankbarkeit für die Befreiung von Rußland zu rechnen war, daß die innere Feindschaft gegen alles Deutsche größer war, als der Haß gegen die Moskowiter, daß das Herz der Polen für Frankreich und die Entente schlug, hätten wir wissen können. Statt diesem Volke zu vertrauen, hätten wir auf das Schlimmste von ihm gefaßt sein müssen, vor allem uns bei Ausgang des Krieges ihm gegenüber nicht wehrlos machen dürfen. Deutsche Ideologie hat auch hier vollständig Schiffbruch gelitten. General v. Falkenhayn hat im Juli 1915, nach den großen Erfolgen auf dem östlichen Kriegsschauplätze, der politischen Lei-

tung vorgeschlagen, mit Rußland in Fühlung über eine Ver­ ständigung zu treten und hierbei betont, „daß vom militärischen Standpunkt aus der Gewinn aus einem Frieden im Osten so groß wäre, daß der Verzicht auf Landerwerb ihm gegenüber keine Rolle spielen könne*)." Die hierauf eingeleitete Fühlung­ nahme init Rußland führte zu keinem Ergebnis, vielmehr trat eine weitere Verschärfung der Gegensätze ein. über die Be­ freiung Polens durch die Mittelmächte schreibt General von Falkenhayn, daß er der Frage der Zusicherung der Autonomie für Polen mißtrauisch gegenübergestanden hätte. Er habe es „für unzweckmäßig gehalten, der Regierung in Petersburg jede Möglichkeit abzuschneiden, wieder Anlehnung an Deutschland zu suchen, nach den Beobachtungen der Bevölkerung polnischer Zunge in seiner Heimatprovinz Westpreußen nicht daran ge­ glaubt, daß ein einträchtiges nachbarliches Verhältnis zwischen einem aus der Asche auferstehenden Staate Polen und dem Deutschen Reiche dauernd herzustellen sein würde". Das deckt sich durchaus mit den Anschauungen Bismarcks, über diese äußert Fürst Bülow**): „Als Bismarck im Winter 1887/88, in einer Zeit hochgradiger Spannung zwischen Österreich und Rußland, mit dem damaligen Botschafter in Wien, dem Prinzen Heinrich VII. Reuß, die Möglichkeit eines Krieges zwischen den drei Kaisermächten erörterte, schloß er die Diskussion mit den Worten: ,Und was wollen wir denn machen, wenn wir Ruß­ land besiegt haben? Etwa Polen wiederherstellen? Dann könnten wir ja 20 Jahre später wieder ein Bündnis zwischen den drei Kaisermächten zum Zweck einer neuen und vierten Teilung Polens abschließen. Aber dies Vergnügen lohnt doch eigentlich nicht einen großen und schweren Krieg/ Fürst Bis­ marck hat auch wiederholt auf die Gefahr hingewiesen, daß ein in irgendeiner Form selbständiges Polen der geborene Alliierte von Frankreich, England und jedem anderen unserer Gegner werden könnte." Darum war es eine arge Selbsttäuschung, 1916 auf eine Waffenhilfe der Polen für die Mittelmächte zu rechnen, ein *) Erich v. Falkenhayn, General d. Infanterie. Die Oberste Heeres­ leitung 1914—1916 in ihren wichtigsten Entschließungen. Berlin 1920. **) A. a. O.

Fehler auch, wenn man einmal die Selbständigkeit Polens erklärte, nicht gleich zu einer endgültigen Lösung zu schreiten und damit feste Verhältnisse zu schaffen. Eine alle Teile be­ friedigende Lösung gab es überhaupt nicht, darum hätte die austro-polnische, wie General o. Cramon zutreffend bemerkt*), immer noch den Vorzug verdient, vorausgesetzt, daß Deutsch­ land an seiner Ostgrenze gesichert und Österreich-Ungarn durch Ausbau des Bündnisses, besonders in militärischer Hinsicht, fest an das Deutsche Reich angeschlossen wurde. Daß man die Dinge in Polen so lange in der Schwebe ließ, öffnete bei der erregbaren Natur seiner Bewohner der deutschfeindlichen Agi­ tation Tür und Tor. Die Frage, ob sich das Polentum seiner ihm ohne eigene Anstrengung zugefallenen großen Stellung gewachsen zeigen wird, kann nur die Zukunft beantworten. Prophezeien lehrt die Geschichte nicht, sie verhilft nur zur klaren Erkenntnis der Gegenwart. Das eine aber sagt sie uns, daß im Charakter des Polen Schwächen und Fehler liegen, die den Kampf des Deutsch­ tums um seine Existenz im Osten nicht als aussichtslos er­ scheinen lassen, wenn es dauernd seine nationalen Pflichten im Auge behält und in sich selbst einig bleibt

8. Das Erstarken der Nationen im Kampfe gegen Napoleon. Die Gewaltpolitik des Kaisers.

Im Frieden von Tilsit erscheint König Friedrich Wilhelm nicht mehr als gleichberechtigte Macht neben seinem Verbün­ deten, sondern nur noch als dessen Schützling. Kaiser Alexander vollzog eine Annäherung an Napoleon, in dessen augenblick­ liches politisches Programm eine solche hineinpaßte. Preußen sah sich nach Abtretung der Hälfte seines Gebiets zur Macht­ losigkeit verurteilt. Der Beitritt zum Rheinbünde blieb ihm *) Unser österreichisch-ungarischer Bundesgenosse im Weltkriege. Er­ innerungen. Berlin 1920.

Die Kontinentalsperre.

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zwar erspart, dafür hatte es finanzielle Opfer schwerster Art zu bringen. Napoleon übersah dabei, daß er gerade durch den harten Druck, den er ausübte, nur Haß säete und das ge­ knechtete Volk zum Widerstand anreizte, wie er denn niemals mit den in den Nationen lebendigen sittlichen Mächten rechnete, vielmehr mit der despotischen Laune des gekrönten Jakobiners den Gebilden seiner Eintagsstaaten, die er willkürlich an die Stelle des historisch Gewordenen setzte, Lebensdauer zutraute. Dem heutigen deutschen Volke wird nicht so bald wie den damaligen Norddeutschen die Befreiung vom Druck der Fremden werden, aber zu hoffen ist, daß dieser ähnliche Wirkungen er­ zielen wird, wie einst die von Napoleon geübte Vergewaltigung. Schon kündet sich Ähnliches in unseren unglücklichen Grenz­ marken an. Wächst erst die Not im Innern, dann besinnt sich der Deutsche vielleicht auch dort auf sein Volkstum und erkennt, daß nationale Bestrebungen höher stehen als die Parteidoktrin.

Von Tilsit an bildet die Kontinentalsperre das eigentlich Bestimmende in der Politik Napoleons. Seine weiteren Kriege sind mehr oder weniger dem wirtschaftlichen Kampfe gegen England, dem „großen System", untergeordnet. Er hat den Wirtschaftskrieg, der englische Waren von Frankreich ausschloß, vom Konvent und vom Direktorium übernommen. Der Kaiser ist dann nach und nach weitergegangen in dem Bestreben, den europäischen Markt für die französischen Erzeugnisse an Stelle der englischen zu erobern. Die Besetzung Hannovers im Jahre 1803 und die Gewinnung der Elbmündung gaben weitere Hand­ haben für die Durchführung des Wirtschaftskrieges. „Die Sperrung der Küste von der Elbmündung bis Tarent war der Anfang der Kontinentalsperre*)." Sie wurde durch das Ber­ liner Dekret vom 21. November 1806 verhängt, nachdem auch die preußischen Küsten bis zur Weichsel in den, wenn auch noch nicht unbestrittenen Besitz Napoleons gelangt waren. Das Dekret ging über die bisherigen Abwehrmaßnahmen noch wesentlich hinaus. Jeder Verkehr, auch der Briefwechsel, mit den in Blockadezustand erklärten (in Wirklichkeit nur anzu­ nehmenden) britischen Inseln wurde untersagt. Jeder Engj Oskar Klein-Hattingen, Napoleon I.

Berlin 1910.

II.

länder war auf dem Festlande mit Kriegsgefangenschaft bedroht, alles englische Eigentum verfiel der Beschlagnahme. Als Be­ gründung dieser verschärften Bestimmungen wurde die Tyrannei bezeichnet, die England zur See übte, sowie die von ihm erstrebte Monopolisierung der Industrie und des Handels. Kaiser Alexander trat in Tilsit der Kontinentalsperre bei und verpflichtete sich, England den Krieg zu erklären für £en Fall, daß dieses seine Friedensvermittlung, wie vorauszusehen war, nicht annehmen sollte. Auch wurde in Tilsit vereinbart, Dänemark, Schweden und Portugal nötigenfalls mit Waffen­ gewalt zu zwingen, ebenfalls den Handelskrieg gegen England aufzunehmen. Alexander erhielt dadurch freie Hand gegen die Türkei, doch war dieses nur ein Scheinzugeständnis Napoleons, der noch nicht auf die Verwirklichung seiner weitgehenden orien­ talischen Pläne verzichtet hatte und dem es nicht daran liegen konnte, Rußland zu einer Mittelmeermacht werden zu lassen, über die Errungenschaften Napoleons in Tilsit äußert KleinHattingen*): „Er hat damit in dem großen Handelskriege Frankreichs gegen England den höchsten Triumph erlangt; er hat England, das die französisch-russischen Forderungen nicht annimmt, nun auch den riesigen russischen Markt verschlossen, und er hat ihn für Frankreich erobert, er hat den Ring der Koalitionsmächte gesprengt und das ganze festländische Europa in die französische Einflußsphäre gebracht. Preußen ist ge­ knebelt, durch das Königreich Westfalen, das rheinbündische Sachsen und durch das Herzogtum Warschau flankiert. Öster­ reich ist durch die Knebelung Preußens und durch den Druck Rußlands zur Ohnmacht verurteilt. England ist also verein­ samt. In Europa hängt scheinbar alles von dem Willen des Kaisers von Frankreich ab. Freilich hat dieser durch die Ent­ zweiung Rußlands mit den anderen Großmächten und durch das Verfahren gegen Preußen (das er nicht vertragsmäßig räumte) der internationalen Politik eine unhaltbare Spannung gegeben, und daher für die auswärtige Politik Frankreichs Last und Sorge ins Ungeheure vermehrt. Sein Friedenswerk ist ein Werk des Übermutes und des Grolles, ein unnatürliches politisches Gebilde und deswegen ist es nicht dauerhaft. . . Für

Europa war das Werk von Tilsit ein Werk des Unheils, denn es bedeutete seine Vergewaltigung und war in dem Augenblick hinfällig, wo sich Rußland von der Festlandssperre abwandte und in der orientalischen Frage seinen eigenen Weg ging. Durch die Maßlosigkeit Napoleons gewann das Festland in Wirklich­ keit nur einen Waffenstillstand; neuer Zwist, neue Koalition der Unterdrückten, das war nur eine Frage der Zeit." EineFrage der Zeit wird es auch nur sein, daß die Friedensschlüsse von Versailles und St. Germain sich als unhaltbar erweisen. Auch sie sind „ein Werk des Übermutes und des Grolles", auch sie haben „unnatürliche Gebilde" geschaffen, sind „ein Werk des Unheils". Die von Napoleon mit dem Tilsiter Frieden eingeschlagene Politik ist von einsichtigen Franzosen schon bald darauf scharf verurteilt worden. Ende 1810 äußerte der Marineminister, Admiral Decres, zum Marschall Marmont*). „Sie sehen alles im rosigen Lichte. Wollen Sie, daß ich Ihnen die Wahrheit sage, und daß ich Ihnen die Zukunft enthülle: Der Kaiser ist verrückt, völlig verrückt, er wird uns alle, wie wir da sind, zugrunde richten, und das wird mit einer furchtbaren Kata­ strophe enden." Eine Zeitlang freilich blieb die Macht Na­ poleons noch im Wachsen. Sie schien ihren Ausdruck finden 311 sollen in der glänzenden Fürstenversammlung von Erfurt im Oktober 1808. Alexander erkannte hier Joseph Bonaparte als König von Spanien an. Dafür gab ihm Napoleon die DonauFürstentümer preis. Rußland sicherte Bundeshilfe gegön Öster­ reich zu, falls dieses Napoleon angreisen sollte, bewahrte aber Wien gegenüber eine durchaus wohlwollende Haltung. Na­ poleon gewann durch diese Abrede vorläufig Sicherheit für Mitteleuropa, so daß er sich persönlich mit stärkeren Truppen­ massen nach Spanien wenden konnte. Scheinbar fand in Erfurt eine Art Teilung der Herrschaft über den europäischen Kon­ tinent zwischen Napoleon und Alexander statt, tatsächlich war es nur eine Verkleisterung der Risse im Bau. Man unter­ zeichnete, wie ein Zeuge der Vorgänge von Erfurt sagt, indem man die Augen schloß, um nicht in die Zukunft zu sehen**)." *) Memoiren. **) Klein-Hattingen, a. a. 0. II.

Die spanische Erhebung bildete das Signal für die Auf­ lehnung der Völker gegen die napoleonische Zwingherrschaft. Sie gab Österreich den Anlaß, 1809 loszuschlagen. Versagte sich auch Preußen der Mitwirkung, so hoffte man in Wien doch, daß der Haß gegen die Fremdherrschaft, der in ganz Deutsch­ land herrschte, eine mächtige Hilfe in dem Kampfe gegen Na­ poleon sein würde, den man mit stärkeren Kräften in Spanien gefesselt wußte. Die Finanzlage drängte zu raschem Handeln, um so mehr, als England bei den hohen Summen, die seine eigene Kriegführung in Spanien verschlangen, sich außerstande erklärte, Hilfsgelder zu zahlen. Die Stimmung in Österreichs Volk und Heer war durchaus für den Krieg. Durch den Kaiser­ staat ging eine Begeisterung, wie sie dort weder früher noch später geherrscht hat. Die Unzulänglichkeit seiner Kriegsrüstung, die Unentschlossenheit des Erzherzogs Karl, vor allem aber das rasche Handeln und die geniale Führung seines großen Gegners haben gleichwohl auch diesen Krieg trotz der heldenmütigen Lei­ stungen der Tiroler und trotz des schönen Tages von Aspern für Österreich verlorengehen lassen. Im Wiener Frieden mußte es in größere Abtretungen an Bayern und das Herzogtum Warschau willigen, dazu in eine Kriegsentschädigung von 85 Millionen Franken und zur Annahme der Kontinentalsperre. Es sah sich völlig vom Meere abgeschnitten. Auch Österreich war nunmehr durchaus in Abhängigkeit von der napoleonischen Politik geraten. In der nächsten Zeit verfügte Napoleon die Angliederung weiterer Gebiete an Frankreich, so 1810 die des Königreichs Holland und der niederdeutschen Länder an der Nordseeküste, einschließlich der Hansastädte. Diese Einverleibungen geschahen wesentlich im Interesse der Aufrechterhaltung der Kontinental­ sperre. Bereits vorher hatten sich französische Zollbeamte in den Hansastädten, in Hamburg seit 1806 auch eine französische Besatzung, befunden. Napoleons Bestreben ging nicht dahin, die Staaten des europäischen Festlandes zu einem geschlossenen Wirtschaftsgebiet mit der Spitze gegen England zusammenzu­ fassen, ihm kam es nur darauf an, die französische Industrie zu heben, ihr den Wettbewerb sowohl der englischen als der fest­ ländischen fernzuhalten. Es ergibt sich das klar aus einem

Schreiben vom 23. August 1810, in dem er sagt*): „Mein Grundsatz ist: Frankreich vor allem. Wenn der englische Handel zur See triumphiert, so geschieht es, weil die Engländer zur See mächtiger sind. Hieraus ergibt sich, daß Frankreich, weil es zu Lande am stärksten ist, dort seinen Handel triumphieren lassen muß, sonst ist alles verloren." Die übrigen Festlands­ staaten sollten nur willige Abnehmer französischer Waren sein. Es ist daher nicht richtig, wenn Napoleon neuerdings häufig gewissermaßen als unser Vorläufer im Kampfe gegen den eng­ lischen Wettbewerb bezeichnet worden ist. Ausgangspunkt, Mittel und Ziele waren bei ihm durchaus andere als vor dem Kriege bei uns. Der Kaiser hat damals übersehen, daß sein System in kür­ zester Frist zur Aussaugung des nichtfranzösischen Festlandes führen und daß dessen verminderte Kaufkraft wiederum die französische Ausfuhr herabsetzen mußte. „Wie das Ziel des Kaisers," schreibt Klein-Hattingen**), „die Vergewaltigung des Wirtschaftslebens fremder Staaten zum Nutzen seines Reiches ein überspanntes Ziel war, waren auch seine Mittel zum Ziele überspannt oder Gewaltmittel, die auf die Dauer nicht wirksam sein konnten. Die Kontinentalsperre war nicht durchzuführen, weil der Schmuggel nicht zu unterdrücken war. Daß sie nicht so weit wie möglich durchgeführt wurde, verhinderte der Kaiser selbst; denn er hielt seine Kampfgenossen für den Kampf nicht schadlos, sondern unterdrückte ihre wirtschaftliche Entwicklung durch die französische, sogenannte interne Handelssperre, so daß sie die Kontinentalsperre zu umgehen trachteten. . . . Die Handelspolitik des Kaisers war überhaupt töricht. Mit Recht nennt Mollien die Kontinentalsperre ‘La plus desastreuse et la plus fausse des inventions fiscales1. Sie stellt in Wahrheit das wahnwitzige Unterfangen dar, die weltwirtschaftliche Entwick­ lung aufzuhalten, eine Nationalwirtschaft, durch Ausschließung des Wettbewerbs und durch Aussaugung fremder Völker über die Gesamtheit der fremden Völker triumphieren zu lassen." Mit Recht ist dieses Gewaltmittel Napoleons, als während des Krieges die Pariser Wirtschaftskonferenzen unserer Feinde die *) Corresp. Nr. 16 824. **) A. a. O. II. Freytag-Loringhyven, Angewandte Geschichte

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Das Erstarken der Nationen im Kampfe gegen Napoleon.

völlige Boykottierung Deutschlands nach dem Kriege in Aus­ sicht nahmen, als ein Beweis dafür angeführt worden, daß der­ gleichen Maßnahmen auf die Dauer unwirksam bleiben müssen. Auch mit einem siegreichen oder zum wenigsten doch achtbaren Deutschland hätte die Entente alsbald die wirtschaftlichen Be­ ziehungen wiederherstellen müssen. Napoleon hat sich ebenfalls genötigt gesehen, eine Reihe seiner Maßnahmen wieder rückgängig zu machen oder doch ihre Wirkung abzuschwächen. Ein Dekret von 1810 gegen den Handel der Neutralen, namentlich der Amerikaner, die englische Waren mit falschen Ursprungszeugnissen nach Deutschland und Rußland einführten, wurde nach kurzer Zeit aufgehoben. Die Kontinentalsperre konnte ferner durch käuflich erworbene Er­ laubnisscheine, die der französischen Staatskasse viel einbrachten, umgangen werden. Durch diese „Lizenzen" sollte vornehmlich den französischen Landwirten geholfen werden. Ihre vermehrte Kaufkraft mußte dann wieder der französischen Industrie zu­ gute kommen. Auf der anderen Seite wurde dafür im Herbst 1810 bestimmt, daß alle Kolonialwaren als englischen Ursprungs zu betrachten seien. Durch unerschwingliche Zölle sollten sie ferngehalten werden. Ihrer Beschlagnahme vermochten die Kaufleute nur durch Deklaration ihrer Warenlager vorzu­ beugen. Die französische Staatskasse zog aus solchen Beschlag­ nahmen großen Nutzen, wie sie denn eine rein fiskalische Maß­ nahme bildeten. Die öffentliche Verbrennung englischer Waren souie abschreckend wirken. Sehr häufig aber sind nur Stroh­ haufen verbrannt worden. Der Schmuggelhandel mit eng­ lischen Waren ist wohl gestört, niemals aber ganz unterbunden worden. In Preußen verstand es die Regierung, mit Hilfe geriebener Handelskommissare die Härten der Kontinentalsperre sehr geschickt zu umgehen, während sie öffentlich, um den Ver­ dacht abzulenken, strenge Untersuchung befahl. Sie bezog aus Scheinkonfiskationen nicht unbeträchtliche Einnahmen. Eine preußische Denkschrift vom Jahre 1811*) führt treffend aus: „Englands Existenz zur See kann nur zur See bekämpft und *) Geh. Staatsarchiv Berlin. 3m Auszuge rnitgeteilt von Robert Horniger in «Die Kontinentalsperre in ihrer geschichtlichen Bedeutung". Zwei Borträge, gehalten im November 1906 im Institut für Meereskunde. Berlin 1907.

durch Flotten gefährdet werden, und wenn Napoleon diese nicht zu schaffen und zu führen vermag, so sind alle feine Kriege auf dem Kontinent nur Fechterstreiche. Die Engländer durch Sperren vom Kontinent auszuschließen, ohne Flotten zu haben, ist so unmöglich, als den Vögeln zu verbieten, Nester bei uns zu bauen."

Napoleon hat sich denn auch der Einsicht nicht verschlossen, daß er durch wirtschaftliche Maßnahmen allein nicht zum Ziele gelangen würde, sondern daß gleichzeitig der Kampf zur See wieder ausgenommen werden müsse. Er hat nach Trafalgar den Wiederaufbau seiner Flotte nicht aus dem Auge verloren. Der Schiffbau wurde in den Häfen seines weiten Reiches stetig gefördert. Vor seinem großen Unternehmen gegen Rußland trug er sich mit Gedanken über Expeditionen nach Ägypten und Irland. Im August 1812 rechnete er mit 104 Linienschiffen und ordnete die Bereitstellung von Transportflotten in der Schelde, in Havre und im Mittelmeer an. Er gedachte, England gleich­ zeitig an mehreren empfindlichen Stellen zu treffen. Der sich verschärfende Gegensatz zu Rußland nötigte ihn, diese Pläne vor­ läufig zurückzuftellen. Er äußerte*): „In fünf Jahren werde ich Herr der Welt sein; nur Rußland bleibt übrig, aber ich werde es zermalmen. ... Ich baue 15 Schiffe jährlich; nicht eines werde ich auslaufen lassen, bis daß ich ihrer 150 habe; dann werde ich auf dem Meere der Herr sein, wie auf dem Lande; und dann wird wohl der Handel durch meine Hand gehen müssen." Nicht immer hat Napoleon sein Streben nach der alleinigen Weltherrschaft so offen hervorgekehrt. Im März 1811 sagte er zu einer Abordnung der Pariser Handelskammer**): „Ich be­ trachte die Flagge einer Nation als etwas, das einen wesent­ lichen Teil von ihr ausmacht. Sie muß ihre Flagge allent­ halben wehen lassen, sonst kann sie nicht für eine freie Nation gehalten werden. Ein Volk, das seiner Flagge nicht Achtung verschafft, kann in meinen Augen nicht mehr als selbständige Nation gelten." Dieses gute Wort verurteilt im Grunde sein eigenes System, denn was er durch dieses im Kampf gegen *) Angeführt nach Klein-Hattingen, a. a. O. II. **) Angeführt nach Hoeniger, a. a. O.

io*

England erstrebte, ging weit über das hinaus, was die Achtung der Flagge gebot. Auch der Krieg gegen Rußland 1812 fällt in das „große System" Napoleons. Die Überwindung Rußlands sollte die letzte Etappe vor dem Endkampfe gegen England bilden. War auch Rußland in Abhängigkeit gebracht, dann ergab sich die Möglichkeit, England zugleich auf dem Landwege über Mittel­ asien in Indien zu bedrohen. Mit schrankenloser Phantasie umspannte Napoleon den Erdkreis. Seine Politik entfernte sich dadurch mit der Zeit immer mehr vom Boden der Wirklichkeit. Auch sein Feldherrntum hat darunter gelitten. Sein einst so untrüglicher Scharfblick verlor allmählich den wahren Maßstab der Dinge. Kaiser Alexander hatte sich nicht lange durch die ausgreifende Politik Napoleons fesseln lassen. Am Kriege gegen Österreich 1809 hatte sich der Zar nur zögernd beteiligt. Die zwei­ deutige Haltung seines Bundesgenossen in den orientalischen Fragen verstimmte ihn in hohem Grade, nicht minder die Ver­ gewaltigung des ihm verwandten Hauses Oldenburg bei Ge­ legenheit der Einverleibung der deutschen Nordseeküste in das französische Kaiserreich*), sowie endlich die drohende Wieder­ aufrichtung Polens durch Napoleon. Immer deutlicher zeigte sich, daß Rußlands Interessen damals unbedingt auf ein gutes Einvernehmen mit England hinwiesen, daß die Kontinental­ sperre Rußland schwer schädigte. Weder die englische Einfuhr noch die eigene Ausfuhr nach England konnte auf die Dauer entbehrt werden. Ende 1810 bestand bereits ein offenes Zer­ würfnis zwischen Rußland und Frankreich auf wirtschaftlichem Gebiet. Im Sommer 1811 wurde der Bruch unvermeidlich. Napoleon war sich der Schwierigkeiten eines Angriffskrieges gegen Rußland durchaus bewußt und hielt die Dinge noch ein Jahr hin. Die Katastrophe der „großen Armee" in Rußland hat dann zu Beginn des Jahres 1813 den Anstoß zur Erhebung Preußens und damit zum Untergange Napoleons gegeben. Die Befreiungskriege.

Als um die Jahreswende 1812/13 die fast wehrlosen Trüm­ mer der napoleonischen Streitmacht die preußische Grenze über-

schritten, glaubte die weit überwiegende Mehrzahl der Russen den Feldzug beendet. Das erscheint durchaus begreiflich. Clause­ witz, der den Krieg im russischen Heere mitmachte, sagt*): „In den Monaten November und Dezember nach einem sehr ange­ strengten Feldzuge zwischen Schnee und Eis in Rußland, ent­ weder auf wenig gebahnten Nebenwegen oder auf der ganz verwüsteten Hauptstraße, bei einer sehr großen Schwierigkeit der Verpflegung, dem flüchtigen Feinde 120 Meilen weit inner­ halb 50 Tagen folgen, ist vielleicht beispiellos; und um das Ganze dieser großen Anstrengung mit einem Worte auszu­ drücken, dürfen wir nur sagen, daß die russische Hauptarmes 110 000 Mann stark von Tarutino abmarschiert und 40 000 Mann stark bei Wilna angekommen ist. Das übrige war tot, krank, verwundet oder erschöpft zurückgeblieben." Kaiser Alexander war gleichwohl nicht'gesonnen, sich mit der Befreiung des russischen Bodens von den Eindringlingen zufrieden gu geben. Hielt er seine Armee an der Landesgrenze an, so blieb Napoleon Rußland benachbart und für dieses eine dauernde Gefahr. Die augenblickliche schwere Erschütterung der napoleo­ nischen Macht mußte benutzt, Preußen durch das Erscheinen russischer Truppen auf seinem Gebiet zum Anschluß bewogen werden. Wohl sprachen bei diesem Entschluß Alexanders seine auf Herstellung Polens unter russischem Schutz gerichteten Pläne mit, wohl schmeichelte es seiner Eitelkeit, die Rolle eines Be­ freiers Europas zu spielen, aber er folgte dabei doch zugleich dem Gebote kluger Politik. Bei dem Zustande, in dem das russische Heer an der Landes­ grenze eintraf und der großen Entfernung, in der es sich von seinen heimatlichen Hilfsquellen befand, ist es ohne weiteres einleuchtend, welche Bedeutung die Erhebung Preußens ge­ wann. Entschloß sich König Friedrich Wilhelm, nach der Kon­ vention von Tauroggen den Anschluß an Rußland zu vollziehen, statt den Januar 1813 hindurch noch zum Schein das französische Bündnis aufrechtzuerhalten, dann hätte sich voraussichtlich so­ fort ein großes Ergebnis erzielen lassen. Setzte sich Ports Korps, durch die im Lande befindlichen Truppen verstärkt, un­ bekümmert um die von den Franzosen noch besetzten Festungen j VII.

Feldzug von 1812.

in Marsch, dann konnten die Preußen, verstärkt durch Ersatz­ mannschaften und im Verein mit der vordersten Marschstaffel der Russen unter Wittgenstein, ganz Norddeutschland zur Er­ hebung bringen und den Rheinbund sprengen. Napoleon hätte ein neues Heer erst hinter dem Rhein aufstellen können. Die preußischen Generalestimmten durchaus für ein derartiges kühnes Verfahren. Aber auch nachdem Friedrich Wilhelms Bedächtig­ keit ein solches abgelehnt hatte, fiel Preußens wiedererstehende Kriegsmacht schwer ins Gewicht. Es ist mit 55 000 Mann Feldtruppen neben den auf 70 000 Mann ergänzten Russen in den Frühjahrsfeldzug von 1813 eingetreten. Bei Ablauf des Waffenstillstandes Mitte August 1813 verfügte Preußen über 162 000 Mann Feldtruppen neben 184 000 Mann der Russen und 127 000 Mann der Österreicher. Da Rußland außerdem 112 000 Mann Reserve- und Belagerungstruppen aufge­ bracht hatte, müssen seine Leistungen in Anbetracht der langen Verbindungen als sehr bedeutend bezeichnet werden, zumal, wenn man bedenkt, daß es den Feind bereits längst vom eigenen Boden verdrängt hatte, während es für Preußen erst die Be­ freiung zu erstreiten galt. Gleichwohl ist, wenn man die Lage des verstümmelten und gänzlich verarmten Landes bedenkt*), die Leistung Preußens ungeheuer, denn zu jenen 162 000 Mann Feldtruppen waren noch über 100 000 Mann an Besatzungs­ und Ersatztruppen verfügbar; das war das Werk Scharnhorsts. Es ist aber nur ermöglicht worden mit Hilfe der Offiziere und Mannschaften der alten, bei Jena und Auerstedt über­ wundenen Armee. Die von Napoleon vorgeschriebene Stärke der preußischen Armee von 42 000 Mann war bereits 1812 um etwa 12 000 Mann überschritten worden. Sie konnte jederzeit um rund 100 000 Mann an Beurlaubten und Krümpern ver­ mehrt werden. Die Ergebnisse des sogenannten Krümper­ systems, das Scharnhorst einfllhrte, sind bisher stets viel zu hoch bewertet worden. Seine Absicht ging dahin, stets eine Anzahl von ausgebildeten Mannschaften in die Kantons der Regimenter zu beurlauben und an ihrer Stelle Rekruten einzu­ ziehen, um auf diese Weise eine dauernd bereite Kriegsreserve zu gewinnen. Es liegt jedoch auf der Hand, daß in den wenigen

Jahren von 1808 bis 1813 eine solche nicht geschaffen werden konnte, besonders da im Jahre 1812 die Mobilmachung der Hälfte der Armee in Gestalt des Porckschen Korps die Fort­ führung des Krümpersystems ohnehin vereitelte. Die starke, im Lande verfügbare Kriegsreserve, die es im Frühjahr 1813 ermöglicht hat, eine für die schwache Friedensarmee und das um die Hälfte verkleinerte Preußen überaus ansehnliche Kriegs­ macht aufzustellen, bestand gut zur Hälfte aus Soldaten, die ihre Ausbildung noch in der alten Armee genossen hatten. Die irrige Auffassung hinsichtlich der Krümper ist mit dadurch ent­ standen, daß die Regimenter in den über die in ihren Ergän­ zungsbezirken verfügbaren ausgebildeten Mannschaften ge­ führten Listen vielfach überhaupt nicht zwischen Krümpern der Jahre 1808 bis 1812 und entlassenen Soldaten aus der Zeit vor 1806 unterschieden*).

Haben infolgedessen die Soldaten der alten überwundenen preußischen Armee von 1806 in großer Zahl bei den rühmlichen Taten von 1813 mitgewirkt, so gilt das in noch weit höherem Grade vom Offizierkorps. Die Erklärung, wie es möglich war, eine kriegstüchtige Armee von 271000 Mann, wie sie bis zum August 1813 erstand, aus nur 54 000 Mann des Standes von Ende Januar 1813 zu entwickeln, liegt allein in den vorhandenen starken und vortrefflichen Kaders. Die Befreiung ist gewiß das Werk des preußischen Volkes gewesen, aber ermöglicht wurde sie nur mit Hilfe des alten, vielgeschmähten Offizierkorps von 1806, denn der geringe Nachwuchs, den die verkleinerte Armee seit dem Tilsiter Frieden erhalten hat, sprach hier kaum mit. Freilich, dies Offizierkorps war von einem anderen Geiste erfüllt als damals, und es waren die rechten Männer an die rechte Stelle gelangt. Das tritt sehr anschaulich aus den Worten hervor, die Clausewitz 1815 schrieb**): „Ich freue mich, jetzt bei der Armee realisiert zu sehen, was einst Gegenstand meiner jugendlichen Pläne und Wünsche war. Welche Tüchtigkeit und welche Freudigkeit und Jugendlichkeit ist in der jetzigen Armee, und wie kümmerlich, verdrießlich und abgelebt war die alte! *) Vgl.: Das preußische Heer der Befreiungskriege. Herausgegeben vom Großen Generalstab. Kriegsgesch. Abt. II. Berlin 1912 bis 1914. **) Schwartz, Leben des Generals v. Clausewitz. II. Berlin 1871.

Ich weiß nicht, wie weit wir in allen diesen Dingen ohne Scharn­ horst gekommen wären, aber man kann das alles nicht sehen, ohne unaufhörlich an ihn zu denken." Wenn es 1813 die alten erfahrenen Offiziere waren, die den zahlreichen Neubildungen den erforderlichen Halt gaben, so ist es 1918 unser Unglück gewesen, daß sie uns fehlten. Die Reserveoffiziere, die nach den schweren Verlusten an aktiven Offizieren an deren Stelle traten, haben im ganzen über Er­ warten Gutes vor dem Feinde geleistet, doch auch sie hatten eine tüchtige Friedensschulung erhalten. Je mehr auch von ihnen durch das feindliche Geschoß hingestreckt wurden, um so weniger fand sich geeigneter Ersatz. Mit der wachsendenZahl unserer Neu­ bildungen, wie sie die ungeheuren Aufgaben, die das Heer zu be­ wältigen hatte, erforderlich machten, ist der Mangel an wirklich brauchbaren Offizieren immer fühlbarer geworden. Gewiß ist unser Heer von der Heimat aus und durch die geschickte feind­ liche Propaganda zersetzt worden, aber unser altes aktives Offizierkorps von 1914 wäre dennoch seiner Herr geblieben. Fragt man jetzt einstige Soldaten, man wird niemals eine Klage über jene Offiziere des einstigen Friedensstammes hören, harte Worte jedoch über den jungen Nachwuchs an Offizieren des aktiven wie des Beurlaubtenstandes*). Es konnte gar nicht anders fein. Die Schöpfung Scharnhorsts war dem Riefen­ ausmaß dieses Krieges nicht mehr gewachsen.

Darum ist sie nicht minder ein köstliches Erbteil der Be­ freiungskriege. Die allgemeine Wehrpflicht ist die gegebene Grundlage für ein modernes Heerwesen. Sie knüpft an die besten Zeiten des Altertums**) und an den germanischen Heer­ bann an. Das preußische Volksheer mit seiner aristokratischen Führerschaft ist es recht eigentlich gewesen, das Napoleon den Untergang bereitet hat. Dieser echt demokratischen Einrichtung danken wiv die Einigung Deutschlands, die Siege von 1870/71, die mehr als vierjährige ruhmvolle Gegenwehr im Weltkriege. Die allgemeine Wehrpflicht ist schon aus ethischen Gründen nicht *) Die maßgebenden Führer der Mehrheilssozialisten haben mir im Jahre 1916 im Großen Hauptquartier versichert, daß ihnen Klagen über aktive Offiziere überhaupt nicht, sondern nur über Neserveoffiziere zu Ohren gekommen seien. Später klang ihr Lied freilich anders. **) Vgl. S. 14.

Notwendigkeit, die allgemeine Wehrpflicht wiedereinzuführen.

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zu entbehren. Es ist eine Ironie des Schicksals, daß in dem Augenblick, in dem Deutschland sich demokratisierte, es genötigt war, diese demokratische Einrichtung fallen zu lassen. In rich­ tiger Würdigung feMndischer Verhältnisse hat sie uns anfänglich Marschall Foch im Prinzip weiter zugestehen wollen, wenn auch mit starker Beschränkung -er Auszubildenden. Englands Ein­ fluß ist es gewesen, der uns die angeworbene schwache Armee aufgenötigt hat. Schon aber kommt man dort an manchen Stellen zur richtigen Einsicht, daß ein schwaches Deutschland inmitten Europas eine größere Gefahr für den Frieden der Welt bildet, als das starke, das man einst fürchtete. Hier gilt es einzusetzen, um eine Revision des Friedens in dem Sinne zu erzielen, daß uns gestattet wird, die allgemeine Wehrpflicht wieder einzuführen. Es handelt sich hierbei nicht um Betäti­ gung von Machtgelüsten, sondern lediglich um Erfordernisse der Selbsterhaltung im Hinblick auf unsere unruhigen Nachbarn, und unsere ausgedehnten Festlandsgrenzen, aber auch im Sinne staatlicher Zucht und Belebung der Arbeitstüchtigkeit, die unser durch Generationen an die Disziplin des Heeres gewöhntes Volk nicht zu entbehren vermag. Es kann sich bei Wiedereinführung der allgemeinen Wehr­ pflicht nicht darum handeln, unser altes Friedensheer von 1914 Wiedererstehen zu kaffen. Das ist weder finanziell zu leisten, noch notwendig. Nicht alle Dienstpflichtigen werden daher ein­ gestellt werden können. Wer dem Staate nicht mit der Waffe dient, müßte zum Arbeitsdienst für Zwecke, die dem Allgemein­ wohl nutzen, herangezogen werden, wer freiwillig sich zum Waffendienst meldet, gewisse Begünstigungen erhalten. Diese Arbeitspflicht braucht man sich noch in keiner Weise in der Form der bolschewistischen Zwangsarbeit vorzustellen, wie sie jetzt in Rußland eingeftihrt ist und den Untergang jeglicher Freiheit bedeutet. Wird die jetzt bestehende, angeworbene Reichs­ wehr in eine Lehr- und Stammtruppe umgewandelt, während der entsprechend auszugestaltenden Sicherheitspolizei die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung zuzufallen hätte, so könnten alljährlich zweimal je 200 000 Mann zu einem halb­ jährigen Dienst mit der Waffe eingestellt werden. Daß auf diese Weise nur ein Milizheer geschaffen wird, das selbst bei öfteren Wiederholungsübungen die Schlagkraft, die einer für Offensiv-

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Das Erstarken der Nationen im Kampfe gegen Napoleon.

feldzüge geeigneten Armee unbedingt innewohnen muh, nie­ mals annehmen kann, liegt auf der Hand. Eine solche Wehr­ macht kann für keinen unserer Nachbarn einen Gegenstand ernstlicher Beunruhigung bilden. Niemand vermag die zukünftige Entwicklung der Dinge vorherzusagen. Nur das eine ist gewiß, wenn überall wirt­ schaftliche Schwierigkeiten den Frieden erfordern, wenn die Menschheit vorerst des Krieges satt sein wird, in ihrem Wesen hat sie sich nicht geändert. Die jüngste Zeit hat uns das klar erkennen lassen. Darum bedarf jeder Staat zu seinem Schutz gegen äußere und innere Feinde einer bewaffneten Macht. Sie wird bei dem heutigen Stande der Technik und in der Zeit des Flugzeuges nicht ausschließlich ihre Stärke in der Zahl der Streiter zu suchen haben. Die Millionenheere haben mit dem Weltkriege das Höchstmaß ihrer Entwicklung, zugleich aber auch, so will es scheinen, ihr Ende erreicht. Spätere Kriege werden kleinere Heere sehen, die in reichem Maße die Technik auf der Erde, aber auch in der Luft zu Hilfe nehmen. Nicht um Heere von so geringer Streiterzahl, wie sie im 18. Jahrhundert auf­ treten, wird es sich handeln, dazu sind überall die Bevölkerungs­ zahlen zu sehr angewachsen, die zu schützenden Gebiete zu aus­ gedehnt und die Schußweiten heutiger Geschütze zu groß. Dar­ um bedarf es des Rückhalts an der allgemeinen Wehrpflicht, aber eigentliche Massenheere wird diese nicht mehr zu liefern haben. Tüchtigkeit des Ausbildungspersonals, gute vorbereitende Or­ ganisation aller in Betracht kommenden technischen Dienstzweige wird die Kampfkraft unseres Milizheeres der Zukunft ver­ bürgen. Soll Deutschland nicht in haltloser Schwäche ähnlich dem einstigen Polen eine Gefahr für den Frieden Europas bilden, dann kommt es darauf an, daß auch die Fesseln, die ihm die Bestimmungen von Versailles hinsichtlich seiner Kriegs­ technik auferlegt haben, bald gesprengt werden. Unsere Feinde aus dem Weltkriege könnten an Napoleons Beispiel lernen, wie weit man mit der Vergewaltigung und Beaufsichtigung eines ganzen Volkes kommt. Noch eine Seite der preußischen Erhebung von 1813 ver­ dient mit Beziehung auf die Gegenwart erwähnt zu werden, und zwar ihre Bedeutung für Gesamtdeutschland. Dessen Sache war damals nur bei den schwarz-weißen Fahnen zu finden. Es

Verdienste Preußens um Gesamtdeutschland.

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war nicht Schuld der Süddeutschen und Sachsen, daß sie, bis bei Leipzig der Umschwung erfolgte, unter Napoleon fochten, auch ist es den Rheinbundstruppen kaum zu verargen, daß sie dem großen Feldherrn seit 1805 anhingen. Ein deutsches Vater­ land gab es für sie nicht mehr, es hatte sich selbst aufgegeben. Napoleon aber wies diese Kontingente, die sich bisher in elend geführten Reichskriegen, ohne recht zu wissen, warum, ge­ schlagen hatten, auf die Bahn echten Schlachtenruhms. Die Verständnislosigkeit jedoch für die Verdienste Preußens in den Befreiungskriegen, die in Süddeutschland damals herrschte und deren Nachwirkungen sich bis auf den heutigen Tag zum Schaden Gesamtdeutschlands fühlbar machen, ging weit über das hinaus, was psychologisch erklärlich und begreiflich erscheint. Vorurteile gegen die norddeutsche Großmacht waren in Süd­ deutschland von jeher rege. Der herrschende Partikularismus läßt es bis auf den heutigen Tag nicht zu einer historisch objek­ tiven Würdigung des Preußentums kommen. Darin liegt für unser nationales Gedeihen keine geringe Gefahr. Rottecks ver­ fehlte Geschichtsauffassung hat nach dieser Richtung seinerzeit großen Schaden gestiftet. Der Beibehalt der allgemeinen Wehr­ pflicht in Preußen auch nach dem Kriege wurde nicht verstanden. Dafür ließ man die eigenen Kontingente verkommen, wie es sich im Jahre 1866 nachteilig bemerkbar machen sollte. Es ist allerdings nicht zu bestreiten, daß jenes Preußen der Reaktionszeit nichts Anziehendes hatte, auch nicht zu ver­ wundern, daß preußisches Wesen bei den weicher gearteten Süddeutschen nicht das nötige Verständnis fand. Insbesondere mag man es beklagen, daß in Preußen selbst das Offizierkorps nicht in engere Berührung mit dem höheren Bürgertum ver­ blieb, daß es sich nicht mehr den geistigen Strömungen der Zeit zuwandte; man darf aber nicht verkennen, daß sein Beruf eine gewisse Einseitigkeit bedingte, und daß Männer der Tat sich davor hüten müssen, dem Reize des Betrachtens zu erliegen. Die einheitliche, fest geschlossene Auffassung, die das preußische Offizierkorps auszeichnete, hat reichen Anteil an den Erfolgen von 1866 und 1870/71 gehabt. Das ist in Süddeutschland auch später gewürdigt worden. Die neidlose, rückhaltlose An­ erkennung der guten Seiten der Norddeutschen fehlt dort aber vielfach noch jetzt. Zeitweise konnte man die Hoffnung hegen,

daß der Weltkrieg den Deutschen vom Partikularismus und Parteifanatismus heilen würde. Das ist jedoch durch seinen ungünstigen Ausgang vereitelt worden. Dieser hat unser poli­ tisches Leben aufs neue vergiftet. Es besteht nur die Hoffnung, daß mit der Zeit eine richtig verstandene und entsprechend gepflegte Erinnerung an die gewaltige Leistung Deutschlands im Weltkriege unser Volk doch wieder mehr zusammenführen wird. Der Wert großer gemeinsamer geschichtlicher Erinne­ rungen kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sollte wirk­ lich dieser schwerste Kampf, den jemals alle Deutschen zusammen bestanden, nicht Größeres in der Erinnerung wirken als die Rheinbundstaten unter Napoleon? Mahnende und beherzigenswerte Worte richtet an uns in dieser Hinsicht ein Neutraler, Dr. Jenny, indem er schreibt*): „Noch ein schmerzlicher Verlust für das deutsche Volk ist der Revolution zuzuschreiben. Ein gewaltiges geistiges Kapital ist vertan, indem die Welle der Revolution Schätze erhebendster Erinnerungen aus den Kriegszeiten hinwegwusch. All der Heroismus eines Kampfes, der sich den herrlichsten Waffen­ taten aller Völker und Zeiten ebenbürtig zur Seite stellt, er­ scheint ausgelöscht von der trüben Flut enger Gehässigkeiten und kleinlicher Klassenfeindschaften, wie die Revolution sie ent­ fesselte. Es wäre schrecklich zu denken, daß das grandiose patriotische Aufbäumen von 1914, das in wahrhaft antiker Größe jeden neuen Gegner fast jubelnd empfing, daß das Aufwallen jenes Heldentums, das sieghaft eine unendliche Über­ macht abschlug, für immer aus dem Bewußtsein des deutschen Volkes verklungen sein sollte. Es wäre ein doppelter Verlust, wenn kein Denkmal dieser Taten in der Seele fortleben sollte, nicht allein, weil die Vergänglichkeit solcher Großtaten an sich beklagenswert ist, sondern weil die Erinnerung daran zu dem Erhebendsten gehört, was ein Volk seiner geistigen Schatz­ kammer einverleiben kann. Und zwar erhebend im wörtlichen Sinne, indem spätere Geschlechter daran zehren und ihren sin­ kenden Mut an so großen Überlieferungen wieder emporranken lassen sollen. Und dieses kostbare Kleinod droht nun von dem Speichel des sich selbst befleckenden Pazifismus und dem Geifer *) Die Errungenschaften der Nevolution.

Berlin 1920.

der sich selbst zerfleischenden Revolution aus dem Gedächtnis des Volkes weggeätzt zu werden." Dahin dürfen wir es nimmermehr kommen lasten.

Der Wiener Kongreß und die HeMge Allianz. Die Verhandlungen auf dem Wiener Kongreß waren durchzogen von einem tiefgehenden Zwiespalt der beiden Mächtegruppen. Ihrer wurde, soweit die sächsische und die polnische Frage in Betracht kamen, bereits gedacht*). Der hierbei entstehende Zwist verschärfte sich derartig, daß Öster­ reich, England und Frankreich im Januar 1815 ein geheimes Abkommen schlossen, das sie verpflichtete, sich gegenseitig mit je 150 000 Mann zu unterstützen, um Rußland und Preußen erforderlichenfalls mit Waffengewalt zu zwingen, sich in der polnischen Frage ihrem Willen zu fügen. Bayern, Hannover, Hessen-Darmstadt und die Niederlande wurden zum Beitritt aufgefordert. Frankreich, durch das 20 Jahre hindurch das schwerste Unheil über den europäischen Kontinent gekommen war, und besten Bevollmächtigter, Talleyrand, eigentlich nur zum Kongreß zugelassen war, spielte sich bereits wieder als Beschützer der Kleinstaaten auf. Es war ein Bündnis mit den bisherigen Gegnern gegen diejenigen beiden Bundesgenossen, die zur Befreiung Europas das meiste getan hatten. Tatsäch­ lich dachten freilich die Gegner Preußens und Rußlands nicht ernstlich an Krieg. Sie waren dazu augenblicklich nicht bereit, und Napoleons Rückkehr von Elba hat im März 1815 sofort wieder alle Mächte gegen die gemeinsame Gefahr zusammen­ geschlossen. Der Fall läßt aber erkennen, daß bei einer der­ artigen, das Schicksal eines ganzen Kontinents entscheidenden Versammlung Interessengegensätze leicht zu Spaltungen führen. Auch bei der gegen die Mittelmächte gerichteten Koalition sind sie bald nach dem Weltkriege zutage getreten. Hätten wir uns nicht in blindem Vertrauen auf Wilson völlig in die Hand unserer Feinde gegeben und uns nicht unnötigerweise vorzeitig entwaffnet, wir wären bei sicherer diplomatischer Führung im­ stande gewesen, aus dieser Lage erheblichen Nutzen zu ziehen, wie sie uns noch weiterhin nützlich zu sein verspricht. An

unseren Unterhändlern hat es sicherlich nicht gelegen, wenn nicht mehr in dieser Richtung geschah, sondern an dem ganzen bei uns herrschenden System, an der eitlen Hoffnung, das Böse mit Gutem überwinden zu können, einer Gewaltpolitik durch die Mittel des Pazifismus die Waffen entwinden zu können. Aber freilich, es sollten ja überall bei uns neue Wege einge­ schlagen werden, historische Bildung besaß man nicht oder sie wurde, weil sie doch nur veraltete Mittel hätte an die Hand geben können, verächtlich beiseite geschoben. Der Erfolg sollte nicht auf sich warten lassen. Die Völker Europas sahen dem Wiener Kongreß mit Ver­ trauen entgegen. Zwar hatte der erste Pariser Friede bereits manchen Deutschen enttäuscht, insofern er den Franzosen ElsaßLothringen beließ, aber die Hoffnung auf eine Erneuerung des deutschen Vaterlandes blieb bestehen. Allerdings gingen gerade hier die vielfach unklaren und reichlich phantastischen Wünsche weit auseinander, aber der Wunsch nach einer Verbindung der deutschen Länder und Stämme durch eine gemeinsame Ver­ fassung war nach den großen Opfern, die man im Kriege ge­ bracht hatte, weit verbreitet. Dieser Richtung liefen partikularistische Strömungen entgegen, die eine möglichst große Selb­ ständigkeit der Einzelstaaten als erstrebenswertes Ziel betrach­ teten. Angesichts solcher Spaltung in der Nation schrieb Gneisenau damals: „Eine gute deutsche Konstitution zu entwerfen, die auf die Dauer durchgesetzt werden könnte, halte ich für un­ möglich. Ich denke daher, daß man sich darauf beschränken muß, für Preußen, das uns zunächst angeht, zu sorgen." über die damalige Zeitströmung schreibt General v. Friederich*): „Alles in allem sehen wir zu dieser Zeit bei den gebildeten Elementen des deutschen Volkes eine nie dagewesene Beschäfti­ gung mit politischen Dingen, dabei eine tiefgehende Sehnsucht nach einem unbekannten Etwas, das bald «deutsche Einheit", bald „deutsche Freiheit", bald „deutsches Kaisertum" genannt wurde. Nirgends aber erkennen wir ein deutlich vorgezeich­ netes, scharf umrissenes Ziel; alle Forderungen und Vorschläge leiden an Unklarheit und Unbestimmtheit; sie sind mehr ge­ eignet, die Schwierigkeiten der zu lösenden Aufgabe an den *) Die Befreiungskriege. IV. Der Feldzug 1815. Berlin 1913.

Tag zu legen als den Weg zu zeigen, auf dem sie zu überwinden waren. Und das war begreiflich, denn die geistige Vorbildung des deutschen Volkes auf politischem Gebiet war noch zu gering, als daß die öffentliche Meinung betretbare Wege hätte ergeben können." Unter solchen Umständen ist es kaum zu verwundern, daß der Wiener Kongreß statt der erhofften deutschen Einheit nur das lockere Gebilde des Deutschen Bundes schuf. Unter den Staatsmännern des Kongresses gewann unter dem Einfluß Metternichs und Talleyrands sehr bald eine Rich­ tung entschieden die Oberhand, die mit der Neuordnung Euro­ pas den Gedanken der Wiederherstellung des alten verband. Der Sturm, den die französische Revolution entfesselt hatte, die neuen Ideen, die sie hervorgebracht hatte, fanden bei den lei­ tenden Männern kein Verständnis. So haben denn die Wiener Schöpfungen den berechtigten Wünschen und Bedürfnissen der Völker nur in seltenen Fällen entsprochen. Im Königreich der Niederlande wurden, obwohl seit Jahrhunderten getrennt, durch Sprache, Sitte und Religion verschieden, Belgien und Holland nfiteinander vereinigt. In Italien wurde das Haus Savoyen wieder in seinen Besitz eingesetzt und dieser erweitert. In Parma, Modena, Toscana entstanden selbständige Staaten, der Kirchenstaat erhielt seinen alten Umfang zurück, Neapel und Sizilien gelangten nach Murats verfrühter Schilderhebung zu­ gunsten Napoleons als Königreich beider Sizilien an die frühere bourbonifche Dynastie zurück, die Lombardei und Venedig ver­ blieben Österreich. In Spanien gelangten die Bourbonen, in Portugal das Haus Braganza wieder zur Herrschaft. Der rückschauenden Betrachtung erscheint es wunderbar, daß die Politiker des Wiener Kongresses, vom Legitimitäts­ prinzip geleitet, an die Haltbarkeit der von ihnen geschaffenen Zustände geglaubt haben. Insbesondere scheint dieses hinsicht­ lich Italiens eigentümlich, wenn man die bunte Musterkarte, die das Land auf Grund dieser Neuordnung bot, sich vor Augen hält und bedenkt, daß Napoleon den Norden des Landes bereits unter dem verheißungsvollen Namen eines Königreichs Italien vereinigt hatte. Uns erscheint das völlige Beiseiteschieben auch der deutschen nationalen Regungen unbe­ greiflich. Dennoch wäre es falsch, an das Verhalten des Kon­ gresses den uns Heutigen geläufigen Maßstab anzulegen. Die

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Das Erstarken der Nationen im Kampfe gegen Napoleon.

geistvollen Darlegungen Meineckes*) eröffnen uns in mehr als einer Hinsicht das Verständnis für jene Zeit. Der deutsche Geist, so sagt er, habe den Gedanken der Nation in einer noch hochuniversalen Stimmung ergriffen. „Nationale Autonomie und universale Föderation trieben einander wie zwei inein­ ander verzahnte Räder. . . . Die rein politische Aufgabe des Einzelstaates und der Einzelnation fiel zum großen Teil zu­ sammen mit der universalen Aufgabe." Stein hätte in eben den Jahren, in denen er am stärksten gestrebt und gedacht habe für die Zukunft der deutschen Nation, zugleich auch beigetragen zur Entwicklung jenes Systems der politischen Romantik, das später das der Heiligen Allianz genannt worden sei. Er be­ trachtete die politische Befreiung Deutschlands nicht als eins rein deutsche Angelegenheit, sondern zugleich auch als eine europäische. Er verglich die Lage Deutschlands von 1812 mit derjenigen zur Zeit Gustav Adolfs und ersehnte den auswär­ tigen Erretter. Die leitende Rolle dachte er hierbei England zu, da er Alexanders Pläne für eine Wiederherstellung Polens für gefährlich hielt. Stein ist für Meinecke noch nicht der Ver­ treter des spezifisch modernen Nationalgedankens. „Er hat ihn, wie nur einer, mit schaffen helfen, aber er selbst hat ihn doch nicht in seiner Reinheit erfaßt. . . . Europa erscheint ihm als eine in nationale Organismen gegliederte oder zu glie­ dernde Gemeinschaft gegenüber dem Unruhestifter Frankreich, und England ist in diesem Augenblicke die Vormacht dieser Ge­ meinschaft." Stein vertraut durchaus Englands politischer Un­ eigennützigkeit, er glaubt nicht nur an eine vorübergehende Allianz der Gegner Frankreichs, sondern an ihre dauernde europäische Solidarität. Die ausländische Diktatur sollte einem hochnationalen Zwecke dienen, der ohne sie nicht erreicht werden konnte, „daß aber Stein an diesem unvermeidlichen Übel das Übel nicht empfand, das ist das Auffallende."

Die damalige Politik war noch stark durchsetzt von Ge­ danken aus der Zeit des Absolutismus, beherrscht von einer „mechanisch-teleologischen Auffassung von der Formbarkeit des europäischen Staatensystems. Man hat so oft und durchaus *) Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis deutschen Nationalstaates. 4. Auflage. München und Berlin 1917.

des

Mechanische Auffassung über Formbarkeit deS Staatensystems.

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mit Recht den Staatsmännern des Wiener Kongresses das will­ kürliche Umspringen mit den Nationen zum Borwurf gemacht. Es ist von höchstem Werte, festzustellen, daß auch die Staats­ männer und Denker der preußischen Reformzeit, die Vorkämpfer nationaler Regenerierung und spontanen Lebens im eigenen Staate, das Herumkünsteln und Klügeln an fremden Staats­ körpern nicht lassen konnten. Die künstliche und absichtsvolle Schöpfung des neuen Königreichs der Niederlande ist gewünscht und gefordert worden von Gneisenau, von Doyen und bis zu einem gewissen Grade selbst von Niebuhr. Doyen hat die sonderbarsten Pläne über Schaffung von allerlei Zwitter- und Zwischenstaaten ersonnen." Am auffallendsten erscheint uns Heutigen, daß der Berater Blüchers im Befreiungskriege, der Stratege, mit dessen Namen die preußischen Siege von 1813 bis 1815 auf das engste ver­ knüpft sind, daß selbst Gneisenau sich damals in ähnlichen Gedankengängen bewegt hat wie Stein. Eine englische Besitz­ nahme von Teilen des deutschen Festlandes hielt er 1812 für durchaus erwünscht. Er befürwortete die Gründung eines großen nordwestdeutschen Welfenreiches. Gewiß war ihm das nur Mittel zum Zweck, denn ein Jahr später hat er von einer nationalen Vereinigung ganz Deutschlands mit Preußen ge­ träumt, aber es zeigt doch, daß sein Nationalgefühl anders be­ schaffen war als das unsrige, wie es unter den damaligen Welt­ verhältnissen und von England aus gesehen, durchaus natür­ lich ist. „In den preußischen Boden zurückverpflanzt, hat er bald seine Wurzeln wieder viel tiefer in ihn hineintreiben können, als es der sprödere Stein vermochte. . . . Daß auch Preußen eigenes neues Leben reichlich in sich habe, wußten Stein und Gneisenau damals nicht, obwohl sie es doch selbst ihm mitgegeben hatten. Beide erkannten es freudig an, als es sich dann 1813 entfaltete." Viel weiter und schärfer als Stein sah damals Wilhelm v. Humboldt das eigentlich für Deutschland Erstrebenswerte. In einer Denkschrift vom Dezember 1813 führt er aus: „Wenn man über den zukünftigen Zustand Deutschlands redet, muß man sich wohl hüten, bei dem beschränkten Gesichtspunkte stehen zu bleiben, Deutschland gegen Frankreich sichern zu wollen. Wenn auch in der Tat der Selbständigkeit Deutschlands nur Freytag-Loringhoven, Angewandte Geschichte

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Das Erstarken der Nationen im Kampfe gegen Napoleon.

von dort her Gefahr droht, so darf ein so einseitiger Gesichts­ punkt nie zur Richtschnur bei der Grundlegung zu einem dauernd wohltätigen Zustand für eine große Nation dienen. Deutschland muß frei und stark sein, nicht bloß, damit es sich gegen diesen oder jenen Nachbarn oder überhaupt gegen jeden Feind verteidigen könne, sondern deswegen, weil nur eine auch nach außen hin starke Nation den Geist in sich bewahrt, aus dem auch alle Segnungen im Innern strömen; es muß frei und stark fein, um das, auch wenn es nie einer Prüfung aus­ gesetzt würde, notwendige Selbstgefühl zu nähren, seiner Nationalentwicklung ruhig und ungestört nachzugehen und die wohltätige Stelle, die es in der Mitte der europäischen Na­ tionen für dieselben einnimmt, dauernd behaupten zu können." Mit Recht sagt Meinecke, es sei dieses eines der großartigsten politischen Worte der Zeit. Es hat noch jetzt Gültigkeit und kennzeichnet in seiner Art nicht nur die universalen Gedanken jener Zeit, sondern auch diejenigen der heutigen, die, wenn auch im Ausgangspunkt und in der Tendenz von jenen der Wende des 18. und 19. Jahrhunderts verschieden, mit ihnen doch manches Gemeinsame haben. Für die Weite der Humboldtschen Anschauung und den gesunden Wirklichkeitssinn, den sie in sich barg, konnte der Wiener Kongreß seiner ganzen Zusammensetzung nach kein Verständnis haben. So war es denn auch nicht zu verwundern, „daß die elf ersten grundlegenden Artikel der Deutschen Bundes­ akte der Wiener Kongreßakte einverleibt und damit, wenn auch keine ganz zweifellose Garantie, so doch bedenkliche Ansprüche der europäischen Signatarmächte auf eine Garantie der deut­ schen Verfassung und auf ein Einmischungsrecht geschaffen wurden". Es gilt, jede Zeit aus ihr selbst heraus zu verstehen. Den Mitlebenden ist kein Vorwurf daraus zu machen, daß sie die Wirkung des von ihnen Geschaffenen nicht in gleichem Maße erkennen wie die Nachlebenden. Nur dann trifft sie ein ver­ dienter Tadel, wenn sie Dinge zu schaffen unternehmen, die ein Verbrechen an der eigenen Zeit sind, das aber gilt von dem sogenannten Friedenswerk von Versailles des Jahres 1919. Hier ist von den siegreichen Mächten unter Hervorkehrung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker dieses selbst am deutschen Volke in gröblichster Weise verletzt worden. War es begreiflich.

Der sogenannte Friede von Versailles kann keinen Bestand haben. 163

wenn die Staatsmänner des Wiener Kongresses an „fremden Staatskörpern herumkünstelten", so sprach solche Willkür allen Gepflogenheiten unseres demokratischen Jahrhunderts, die doch zugleich als unantastbares Heiligtum hingestellt wurden, Hohn. Die Provinz Pofen besaß zwar überwiegend polnische Be­ völkerung, war aber durch deutsche Kulturarbeit eines Jahr­ hunderts erst zu einem blühenden Lande geworden. In West­ preußen war der deutsche Bevölkerungsanteil erheblich größer als in Pofen, es war alter, 1772 wiedergewonnener deutscher Besitz, die unumgängliche Landbrücke nach Ostpreußen. Danzig und Memel sind uralte deutsche Städte. Sie uns zu nehmen, war ein brutaler Gewaltakt. Wollte man Polen einen Zugang zum Meere geben — den man, nebenbei gesagt, kein Bedenken trug, Deutsch-Österreich zu nehmen —, so ließ sich dieses durch wirtschaftliche Zugeständnisse und einen Freihafen in Danzig, wie es von deutscher Seite ausdrücklich zugestanden worden ist, sicherstellen. Oberschlesien hat seit Mitte des 12. Jahrhunderts niemals zum alten Polenstaate gehört. Das Unrecht, das durch den Versailler Frieden an Deutschland verübt wurde, ist in sach­ licher und sittlicher Hinsicht unendlich viel größer, als das einst dem in Selbstzersetzung begriffenen Polenreich geschehene. Pro­ fessor Philipp Zorn sagt daher durchaus zutreffend*): „Die brutale Zersetzung des deutschen Ostens, die der Versailler Friede bewirkt hat, kann unter keinen Umständen Bestand haben; die Neuregelung der Verhältnisse des deutschen Ostens wird einer der allerersten Revisionspunkte des ungeheuerlichen Friedensvertrages sein müssen. Es handelt sich hier fast durch­ weg um deutsche Lebensfragen, die in deutschem Sinne gelöst werden müssen, wenn der deutsche Staat in Zukunft lebens­ fähig sein soll. Solange ein deutscher Staat besteht, der dieses Namens wert ist, wird er, sei er monarchisch oder republikanisch, die Lösung dieser deutschen Lebensfragen fordern müssen und nicht ruhen und rasten können, bis diese Lösung erkämpft ist." Nimmt man hinzu, daß die Versagung einer Volksabstim­ mung in Elsaß-Lothringen und die Verweigerung des An­ schlusses der Deutsch-Österreicher an das Deutsche Reich eben­ falls das proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker mit *) Nr. 68 des «Sag’, 31. HI. 1920. li*

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Das Erstarken der Nationen im Kampfe gegen Napoleon.

Füßen trat, so wird deutlich, daß die Schuld an den Völkern, die einst der Wiener Kongreß auf sich lud, federleicht wiegt gegen die Schuld der Sieger im Weltkriege. Ihr Werk wird noch weniger Bestand haben als das von 1815. Zur Tat konnte es freilich nur werden, weil der deutsche Staat seit dem Herbst 1918 nicht mehr ein solcher war, „der dieses Namens wert er­ achtet werden konnte". Dahin wieder zu gelangen, wird unser erstes Bemühen zu sein haben. Vor dem Abschluß des zweiten Pariser Friedens schlossen im September 1815 die Monarchen Rußlands, Österreichs und Preußens in Paris die Heilige Allianz ab. Dieses Bündnis beruhte auf religiöser Grundlage, entsprechend den mystischen Neigungen, wie sie damals Alexander I. beherrschten. Die Mit­ glieder sollten sich als in Brüderlichkeit verbunden betrachten, die Lehren der Religion die Richtschnur ihres Handelns bilden. Frankreich und mehrere andere Staaten sind später dem Friedensbunde beigetreten, doch hat nicht dieser es bewirkt, daß Europa in seiner Allgemeinheit einige Zeit von Kriegen ver­ schont blieb, sondern die nach der langen Kriegszeit herrschende Abspannung. Die Verquickung von Religion und Politik in solchem Bunde blieb ohnehin ein Unding in dieser Welt, wo zwischenstaatliche Vereinigungen nur auf materieller Grund­ lage und bei Interessengemeinschaft fruchtbar sein können. Hier­ über sagt Treitschke*): „Es zeigte sich bald, daß die Selbständig­ keit der modernen Staaten eine so innige Gemeinschaft, wie sie der Vierbund begründet hatte, auf die Dauer nicht ertragen konnte. Der alte Gegensatz der russischen und der österreichisch­ englischen Politik trat immer wieder zutage, und Zar Alexander tat das Seine, um den Argwohn des Wiener und Londoner Hofes zu verschärfen. Solche Gemeinschaft auf die Dauer zu erzielen, wird auch dem Völkerbünde, selbst in einer besseren und erweiterten Gestalt, als er sie zurzeit besitzt, schwerlich zu erzielen möglich sein. Kaiser Franz trat der Allianz erst bei, als ihm Metternich versichert hatte, daß die fromme Urkunde nichts weiter als „leeres Geschwätz" sei**). Castlereagh aber äußerte, das bri*) Deutsche Geschichte, II. 4. Abschnitt. **) Friederich, a. a. O., IV.

Die heilige Allianz verliert bald an Wirksamkeit.

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tische ? Parlament bestehe aus praktischen Staatsmännern, die wohl seinen Vertrag genehmigen würden, nicht aber eine Erklärunng von Grundsätzen. Dafür trat das englische Kabinett 1816 nmit einem Vorschläge zu allgemeiner, gleichzeitiger Abrüstunag hervor. Die Stärke der von den einzelnen Mächten im Fririeden zu unterhaltenden Heere sollte von besonders beauftraggten Offizieren bestimmt werden. Von einer Abrüstung zur Ssee war in diesem Vorschläge selbstverständlich nicht die Rede. Kaiser Alexander ging denn auch auf ihn nicht ein, und er geridet alsbald in Vergessenheit. Die Heilige Allianz verfiel indessenn mehr oder weniger dem gleichen Schicksal, sobald ver­ sucht wvurde, ihr eine greifbare Gestalt zu geben. Auf dem Aachenaer Kongreß von 1818 sollte, wie es Treitschke aus­ drückt*)^): „jenes Traumbild des ewigen Friedens, das die ermattetee Welt beherrschte, durch das gemeinsame Protektorat der Großmächte ins Leben eingeführt und in den regelmäßig wieder! kehrenden Zusammenkünften der fünf Monarchen eine ständigge Zentralgewalt erhalten werden; also gestaltet, hätte der Weeltteil die Form eines Bundesstaates angenommen, eine Verfafflsung, die sich mit der berechtigten Unabhängigkeit der Einzelststaaten nicht mehr vertrug. . . . überall schaltete die Dik­ tatur dder großen Mächte, schonend in der Form und für jetzt noch geerecht und friedfertig in ihren Absichten, doch immerhin eine Diiiktatur, die allen Nichtgenossen lästig ward. ... Da der Zar derr europäischen Union den Charakter einer großen christ­ lichen Wamilie bewahren wollte, so erteilte der Kongreß seine Weisunagen an die kleinen Staaten häufig durch väterliche Handschreibeen der drei Monarchen." Dem Aachener Kongreß sind dann im den Jahren 1820, 1821 und 1822 weitere in Troppau, Laibach) und Verona gefolgt. Hierbei kam es immer mehr da­ hin, daßß die Heilige Allianz unter dem Einfluß Metternichs zu einer Stütze des Bestehenden, des Legitimitätsprinzips und eines stoarren Konservatismus wurde und jeder staatlichen Fort­ bildung^, auch wenn sie berechtigt und natürlich war, entgegen­ trat, wäährend der Bund ursprünglich nur die Abwendung der Gewalt im europäischen Völkerleben bezweckt hatte. So wurde der Gruundsatz der Intervention anerkannt und in Neapel und Spaniem durchgeführt. *)lS>euffd>e Geschichte, II. 8. Abschnitt.

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Die Einheitsbestrebungen zerteilter Völker.

Ohne der Heiligen Allianz beizutreten, folgte das britische Tory-Kabinett bis zum Kongreß von Verona der Politik der vier Festlandsgroßmächte. Canning, der 1822 das Auswärtige Amt übernahm, trat jedoch der Ausdehnung des Interventions­ prinzips auf die vom Mutterlands abgefallenen spanischen Kolonien in Südamerika entgegen, und seitdem schied sich die englische Politik mehr und mehr von derjenigen der Ostmächte. Ausschließlich englische Interessen bestimmten die Haltung der Briten. Sie fanden Beifall im gesamten liberalen Europa, ob­ wohl die schönen Worte von Völkerfreiheit nur als Verbrämung für die harte englische Handelspolitik dienten. So ist die Heilige Allianz an der Unnatur des von ihr Erstrebten gescheitert. Sie hat weder den russischen Imperialismus auf dem Balkan ein­ zudämmen, noch die Völker Europas dauernd in den unnatür­ lichen Verhältnissen festzuhalten vermocht, die ihnen durch die Wiener Verträge aufgenötigt waren.

9. Oie Sinheitsbestrebungen zerteilter Völker. Die ilallenische Einheitsbewegung. Napoleon hatte Italien nicht die Einheit gebracht, wie es in seiner Macht gelegen hätte. Das von ihm begründete König­ reich Italien umfaßte nur Lombardo-Venetien; Piemont und Genua wurden ebenso wie Mittelitalien dem französischen Kaiserreich angegliedert, das Königreich Neapel Murat, dem Schwager Napoleons, übertragen. Uber dem Ganzen aber herrschte doch der einheitliche Wille des Kaisers. Eine Reihe zeitgemäßer Reformen nach französischem Muster waren durch­ geführt worden. Im Gedächtnis der Nation blieb der Name eines Königreichs Italien wie ein Sammelruf haften. Um so mehr mußte sie sich durch die Maßnahmen des Wiener Kon­ gresses verletzt fühlen. Metternich wollte in Italien nur eine Reihe voneinander unabhängiger Staaten sehen, die lediglich unter einen geographischen Begriff zusammengefaßt wurden. Er widersetzte sich daher auch einem für Italien zu schaffenden Bundesrate nach Art des für Deutschland einzuführenden. Später ist er zwar auf die Frage eines italienischen Bundes, aber unter Österreichs Führung, zurückgekommen. Österreich

hätte alsdann mit einem Teil seines Gebiets in Deutschland, mit einem anderen in Italien die Vormacht gebildet. Der Ver­ wirklichung dieses Gedankens widersetzte sich das Königreich Sardinien. Er hätte die in Italien bestehende Fremdherrschaft förmlich legalisiert, denn der österreichische Einfluß, gestützt auf den Absolutismus und die Kirche, war hier ohnehin allmächtig. Die Unzufriedenheit machte sich bald in verschiedenen Auf­ ständen bemerkbar. Die Bünde der Carbonari, die auf gewalt­ samen Umsturz ausgingen, und der Freimaurer, die liberale, antikirchliche Ziele verfolgten, fanden weite Verbreitung. Die spanische Revolution von 1820 gab den Anstoß zu einem MilitärAufstand im Königreich beider Sizilien, der von österreichischen Truppen niedergeschlagen wurde. Auch im Königreich Sar­ dinien brachen Unruhen aus, die hier von einer liberalen und vor allem national-italienischen Partei ausgingen, wie es durch Entfaltung der italienischen grün-weiß-roten Fahne zum Aus­ druck kam. Diese Bewegung wurde bald unterdrückt, aber es zeigte sich schon damals in ihr, wie zutreffend Metternich ur­ teilte, wenn er sagte: „Piemont ist für uns die ganze italienische Frage." Treitschke setzt hinzu*): „Dieser Staat allein hatte sich, umringt von erschlafften und geknechteten Nachbarn, zwei un­ schätzbare Güter bewahrt: ein tapferes Heer und ein nationales Königtum." Der Absolutismus blieb vorderhand noch Herr der Lage. Auch infolge der Julirevolution in Mittelitalien erhobene Forderungen nach Verfassungen und Einschränkung der Priesterherrschaft drangen nicht durch. Österreichische Truppen griffen überall, wo Unruhen entstanden, erfolg­ reich ein. Diese mißlungenen örtlichen Versuche, die aufgezwungenen Staatsformen zu ändern, ließen die Erkenntnis reifen, daß nur durch einheitliche Zusammenfassung der ganz Italien durch­ ziehenden Bestrebungen, zu besseren Verhältnissen zu gelangen, sich etwas erreichen lasse. Seit 1831 wirkte Mazzini durch seinen Bund des „jungen Italiens" auf die italienische Einheit hin. Die Bewegung trug durchaus republikanischen Charakter, wie denn die republikanischen Überlieferungen in diesem Lande der Städte von jeher rege gewesen waren. Nebenher ging eine *) Historische und politische Aufsätze.

Cavour.

andere Strömung, die ihren Sitz in Sardinien hatte und die Einigung und Unabhängigkeit Italiens durch den König Karl Albert bewirken zu können hoffte. Piemont gewann als gei­ stiger Mittelpunkt der Einheitsbewegung mehr und mehr an Bedeutung. Eine Reihe namhafter politischer Schriftsteller ent­ faltete dort eine fruchtbare Tätigkeit. Die vom liberalen Adel des Landes begründete Zeitung il Risorgimento diente ihnen als Sprechsaal. Unter dem Vorwand naturwissenschaftlicher Kongresse versammelten sich öfter die national und liberal ge­ sinnten Männer aller italienischen Landschaften. Diese Strö­ mung erhielt einen weiteren Antrieb, als 1846 mit Pius IX. ein zu Reformen geneigter Papst gewählt wurde. Der Boden für die Revolution von 1848 war wohl vorbereitet. Sie führte in Neapel, im Kirchenstaat und in Sardinien überall zur Ver­ leihung von Verfassungen. In der Lombardei brach der Auf­ stand auf die Nachricht von der Wiener Revolution aus. Ra­ detzky zog seine Truppen im Festungsviereck zusammen. Der König von Sardinien ließ seine Armee in die Lombardei ein­ rücken. Die Truppen Toscanas und Neapels setzten sich zur Vereinigung mit ihr in Marsch. Damit aber war die Erhebung an einem Wendepunkt an­ gelangt. Sie hatte bis dahin nach Erlangung verfassungs­ mäßiger Zustände überall mehr oder weniger einen monarchisch­ nationalen Charakter getragen. Die dreifarbige Fahne wurde gehißt, und es schien sich ein Bund der einheimischen Fürsten gegen die Fremdherrschaft anbahnen zu sollen. Nunmehr aber traten Spaltungen ein. In Neapel siegte bald die Reaktion und führte die Rückkehr zum Absolutismus herbei, in Mittel­ italien kam es unter Mazzinis Einfluß zur Bildung einer römischen Republik, der im Juni 1849 durch französische Trup­ pen ein Ende gemacht wurde, die den Papst wieder in seine Herrschaft einsetzten. Inzwischen hatten die Lombardei und Venetien ihren Anschluß an Sardinien in Gestalt eines nord­ italienischen Königreichs erklärt. Infolge der Zersplitterung Italiens sah sich Karl Albert mit seiner Armee allein Radetzky gegenüber. Er erlag ihm 1848 bei Custoza und 1849 bei Mor­ tara und Novara. Damit war den italienischen Einheitsbestre­ bungen vorerst ein Ziel gesetzt. Der vollständige Sieg der

nationalen Idee ist durch das Feldherrngeschick Radetzkys fast um ein Menschenalter verzögert worden*). Nur ein italienischer Staat behielt auch nach den Wirren der Jahre 1848 und 1849 seine konstitutionelle Staatsform bei: das Königreich Sardinien. Auch die dreifarbige National­ fahne legte es nicht wieder ab. Sardinien blieb die letzte Hoff­ nung der italienischen Patrioten. Die von Österreich vertrie­ benen Lombarden fanden hier Zuflucht. „Turin wurde die Hauptstadt der Italiener, bevor es die Hauptstadt Italiens ward. ... Dort lebte noch ein italienischer Herrscher, der sich nicht losgesagt hatte von seinem Volke**)." Der Begründer der italienischen Einheit wurde Graf Cavour. Dieser große Minister Sardiniens ist gleich nach Novara daran gegangen, die wirtschaftlichen Kräfte des Landes zu heben und die Wieder­ aufnahme des Kampfes gegen Österreich vorzubereiten. Er verstand es, die Parteien der Kammer im Hinblick auf das ihm dauernd vorschwebende große nationale Ziel zusammenzuhalten und hielt durch Vermittlung des Nationalvereins die Verbin­ dungen mit den übrigen italienischen Ländern aufrecht. Daß Turin zum Mittelpunkt der italienischen Einheitsbestrebungen werden konnte, während die ungezügelten Volksbewegungen vergeblich geblieben waren, läßt erkennen, wie sehr es bei solchen Bewegungen des Rückhalts an einer wirklichen Macht bedarf. Die bloße Idee vermag ohne einen solchen nichts. Das werden auch wir für eine bessere Zukunft im Auge behalten müssen, wenn wir der Hoffnung auf eine Wiedervereinigung mit unseren abgetrennten Brüdern im Osten nicht entsagen wollen. Mit Worten und bloßen Wünschen ist hier nichts getan, wenn nicht Taten geschehen, die man sich noch nicht not­ wendigerweise in Gestalt eines neuen großen Europäischen Krieges zu denken braucht, auch, was der Berliner Kongreß 1878 auf dem Balkan zu trennen unternahm, hat sich sieben Jahre später vereinigt. Cavour hat nicht minder auf den ge­ eigneten Augenblick gewartet. Er hat auf das stolze l’Italia farä da se verzichten und sich nach auswärtiger Hilfe umsehen müssen. Die Teilnahme Sardiniens am Krimkriege an der *) Heinrich Friedjung, Der Kampf um die Vorherrschaft in Deutsch­ land. II. Einleitung. 5. Auflage. Stuttgart und Berlin 1902. **) Treikschlre, Cavour.

Seite der Westmächte verschaffte ihm deren Geneigtheit und hob das europäische Ansehen des Staates. Bei England, das stets liberale Strömungen in anderen Ländern begünstigte, konnte Cavour zwar auf eine wohlwollende Haltung rechnen, infolge des dort bekundeten Grundsatzes der Nichtintervention jedoch auf keine unmittelbare Hilfeleistung für die Verwirklichung seiner nationalen Pläne. Napoleon III. jedoch hatte frühzeitig erkannt, daß dem einmal erwachten Gemeinschaftsgefühle der durch die Wiener Verträge auseinandergerissenen Völker auf die Dauer nicht zu wehren fei. Nachdem ihm auf dem Pariser Kongreß Cavour nähergetreten war, entschloß er sich, den unter Ludwig Philipp von Frankreich stets befolgten Grundsatz der Nichtintervention aufzugeben und Österreichs Herrschaft in Italien zu vernichten. Die Italiener sollten ihr Schicksal selber bestimmen, wenn auch unter der Leitung Frankreichs. So hat sich, wenn nicht die vollendete Einigung Italiens, so doch der erste große Schritt zu ihr 1859 unter der starken Waffenhilfe Frankreichs vollzogen. In Sardinien wurde dem Könige Viktor Emanuel diktatorische Gewalt übertragen. Seine Regierung stellte die nationale Einheit und zugleich den Hort des Liberalismus dar. Ihr ordneten sich alle italienischen Patrioten einschließlich der Republikaner unter. Garibaldis Freischaren beteiligten sich am Kampfe in Oberitalien. Der Verlauf der Ereignisse entsprach freilich nicht den hochgespannten Erwartungen. Napoleon in. blieb auf halbem Wege stehen. Er beließ Österreich Venetien, nur die Lombardei wurde mit Sardinien vereinigt. Mit Österreich traf er die Abrede, daß in Mittelitalien die kleinen Staaten bestehenbleiben und sich nur zu einem Bunde zusammenschließen sollten. Der Friede von Villafranca rief in ganz Italien eine furchtbare Enttäuschung hervor. Napoleon III. sollte bald erkennen, daß es eine un­ mögliche Politik war, auf der einen Seite das Selbstbestim­ mungsrecht der Völker zu verkünden und auf der anderen Gebilde zu schaffen, wie diesen mittelitalienischen Bund, der im Sinne altfranzösischer Politik, wie sie von jeher in Deutschland befolgt worden war, den Einfluß Frankreichs in Italien sicher­ stellen sollte. Die einmal entfesselte nationale Bewegung ließ sich nicht mehr eindämmen. Die treibende Kraft war jetzt beim Volke. Viktor Emanuel hatte alle Italiener zu den Waffen

gerufen, Mittelitalien sich ihm bereits angeschlossen. England, getreu seinem Grundsatz der Nichtintervention, stand jetzt auf seiner Seite. Acht Monate blieb Mittelitalien über sein Schick­ sal im ungewissen, bis Napoleon HI. in seine Vereinigung mit Norditalien willigte für den Preis der Abtretung der Stamm­ länder der nunmehrigen italienischen Dynastie, Savoyen und Nizza, an Frankreich. Auch das geschah unter Anrufung des Nationalitätsprinzips unter Vornahme einer Volksabstimmung, wie solche auch in Mittelitalien erfolgte. Wurde Mittelitalien dem Königreich Italien durch roya­ listisch Gesinnte zugeführt, so beschleunigten in Unteritalien die Republikaner das Einigungswerk. Garibaldi, insgeheim von Cavour unterstützt, landete in Sizilien und brachte nicht nur die Insel, sondern auch das neapolitanische Festland zum Auf­ stand. Die Republik unterlag hier Ende 1860 bei einer Ab­ stimmung, die zugunsten des Anschlusses an das Königreich Italien ausfiel. Umbrien und die Marken rissen sich vom Papste los, dem nur Rom verblieb, das französische Truppen schützten. Venetien ist 1866 Italien trotz der Niederlage bei Custozza infolge des preußischen Sieges von Königgrätz zuge­ fallen, nachdem es zuvor von Österreich an Napoleon in. abge­ treten worden war. In Rom gewann das nunmehr völlig ge­ einte Italien seine Hauptstadt durch die deutschen Siege von 1870, die den Abzug der französischen Besatzung veranlaßten. Die Auffassung Napoleons in. über das Selbstbestim­ mungsrecht der Völker und diejenigen der Feinde der Mittel­ mächte im Weltkriege haben manche Ähnlichkeit. Sie besteht vor allem darin, daß unter dem heuchlerischen Vorgeben, ge­ rechte liberale oder auch demokratische Tendenzen zu begün­ stigen, in erster Linie das eigene Interesse maßgebend ist. Gemeinsam ist ferner der Politik des damaligen Leiters Frank­ reichs und der unserer Feinde der Gedanke der Abstimmung abzutretender Gebiete. Eine solche gab schon zu jener Zeit nicht immer ein untrügliches Bild der Volksstimmung. Es kann erst recht nicht der Fall sein, wenn sie, wie uns gegenüber, von feindlicher Seite mit allen Mitteln zu beeinflussen gesucht wird und unter der Aufsicht einer feindlichen Besatzung vor sich geht. Solches Verfahren bildet vielmehr in Wahrheit einen Hohn auf das Selbstbestimmungsrecht. Auch der Schein ist nicht einmal

überall gewahrt, vielmehr sind die Deutschen Böhmens, ohne befragt zu werden, dem tschechischen Staate geopfert worden, obwohl unsere Gegner sonst vor geographisch gegebenen Grenzen keine besondere Hochachtung bewiesen haben. Dazu kommt, daß die sogenannten Böhmischen Grenzgebirge in Wahrheit solche gar nicht sind. Böhmen ist kein Kesselland, sondern ein Stufen und Terrassengebiet, das in der Richtung nach Südwest allmählich ansteigt, seine Grenzwälle können somit als natür­ liche Völkerscheiden nicht eigentlich angesprochen werden*). Das Egerland gehört ethnographisch unbedingt zu Sachsen, die von Deutschen bewohnten, Böhmen zugekehrten Sudetenhänge zur Lausitz oder zu Schlesien. Man wird in Grenzgebieten vielfach mit einem Neben- und Durcheinanderwohnen verschiedener Völkerstämme rechnen müssen, um so weniger Anlaß liegt vor, klare Verhältnisse willkürlich abzuändern. Was aber in Ver­ sailles und St. Germain Deutschland und Deutsch-Österreich ge­ boten worden ist, zeugt nicht von der Einsicht unserer Über­ winder. Sie vermögen nach dieser Richtung den Vergleich mit der staatsmännischen Klugheit Napoleons III. nicht auszuhalten, so sehr dieser auch im einzelnen geirrt hat. Völlig außer acht gelassen ist ferner bei den erwähnten beiden sogenannten Friedensschlüssen die Lehre, die sich aus der italienischen Einheitsbewegung ergibt, daß willkürliche Zer­ reißung von Zusammengehörigem, wie solche der Wiener Kon­ greß vornahm, nicht von Dauer sein kann. Die Einigung Ita­ liens ist vielfach mit derjenigen Deutschlands, der führende Staat Sardinien mit Preußen verglichen worden. Schwerlich mit Recht, denn der Verlauf war diesseits der Alpen völlig anders als jenseits. Auch die Vorbedingungen waren nicht die gleichen, denn in Italien handelte es sich doch mit in erster Linie um Beseitigung einer Fremdherrschaft. Eine solche aber hat die uns feindliche Koalition über große Gebiete des deutschen Ostens, über Teile Deutsch-Tirols und über Deutsch-Böhmen herbeigeführt. Ihre Willkür hat diejenige des Wiener Kon­ gresses noch bei weitem übertroffen, und das ist, wie schon be­ tont wurde, um so weniger zu rechtfertigen, als sie im Namen der Demokratie geübt worden ist, während es begreiflich er*) Kühen, Das deutsche Land.

3. Auflage.

Breslau 1880.

scheint, daß 1815 in Wien dynastische Interessen und Vor­ stellungen des 18. Jahrhunderts noch lebendig waren. Die Schwächen des österreichischen Staatswesens waren längst offenkundig. Dennoch hätte die Geschichte eine Warnung bilden sollen, dieses ohne weiteres zu zerstören. Es war keines­ wegs so unnatürlich, wie es immer hingestellt worden ist. Dafür spricht schon die in Anbetracht der bestehenden Verhältniffe, der voraufgegangenen Schwäche der Leitung und des Völkerhaders erstaunliche Lebensdauer, die die Monarchie im Weltkriege bewiesen hat. Die Zukunft wird erweisen, ob nicht Treiffchke im Recht war, wenn er die Bildung der Habsbur­ gischen Monarchie in ihrer Masse als keineswegs künstlich und unnatürlich und ihren Zerfall als die furchtbarste Revolution bezeichnete, die unser Weltteil je gesehen*), weil dadurch eine angesehene, blühende Großmacht, die im europäischen Staaten­ system nicht entbehrt werden könne, in eine Anzahl von Klein­ staaten zerspalten werden würde, die, wertlos für die mensch­ liche Gesittung, früher oder später einer neuen kräftigeren Staatsbildung weichen müßten. Wohl waren in diesem viel­ sprachigen Reiche die herrschende Dynastie, das gemeinsame Heer und die katholische Kirche wesentliche Mächte des Zu­ sammenhalts, aber seine Hauptmasse bildete ohnehin ein natür­ liches geographisches Ganze, eine volkswirtschaftliche Einheit. Die Völkerschaften der Monarchie waren aufeinander ange­ wiesen und trotz allen Nationalitätenhaders durch eine jahr­ hundertelange Geschichte verbunden. Darum tauchte auch sofort nach dem Auseinanderfall der Gedanke einer Donau-Föderation auf. Wien liegt nicht zufällig an seinem Platze. Es war nicht nur Reichshaupfftadt, sondern Vermittlerin zwischen Mittel­ und Südosteuropa, und diese Rolle wird es auch für die Zu­ kunft behalten. Wie diese sich sonst für Deutsch-Österreich ge­ stalten wird, läßt sich noch keineswegs voraussehen. Wien konnte nach Lage der Dinge keine rein deutsche Stadt bleiben. Schon Metternich hat gesagt, an der Schwelle seines Palais beginne der Orient. Kerndeutsch aber ist das Land, sind Oberund Rieder-Österreich, vor allem aber die Alpenländer. Sie neigen naturgemäß zum Deutschen Reich und müssen ihm in *) Historische und politische Aufsätze.

Bundesstaat und Einheitsstaat.

absehbarer Zeit zufallen. Wien hätte hierbei als unentbehr­ licher internationaler Verkehrsmittelpunkt des Südostens für sich zu bleiben. Preußen in der Einigung Deutschlands. Die gewaltige geschichtliche Leistung, die Preußen im Ver­ lauf des 19. Jahrhunderts zum Wohle Gesamtdeutschlands und für seine Einigung vollbracht hat, ist bis auf den heutigen Tag nicht entfernt in ihrer ganzen Bedeutung gewürdigt worden. Gar zu einseitig verbindet man noch jetzt das Werk der Eini­ gung mit Bismarcks Wort vom Blut und Eisen, die allein im­ stande seien, diese Einigung zu bewirken. Die stille Friedens­ arbeit, die der Tat von 1866 vorausging, wird selten richtig gewürdigt. Wäre es anders, der letzthin an den verschiedensten Stellen immer wieder auftauchende Gedanke einer Auflösung des Reichs, der Frankreich unmittelbar in die Hände arbeitet, könnte sich nicht in dem Maße hervorwagen, wie es geschieht, wenn auch sein unmittelbarer Anlaß in der Revolution mit ihren Folgen und der Schwäche der Reichsregierung zu suchen ist. Preußens innere Politik sah sich nach den Befreiungs­ kriegen vor überaus schwierige Aufgaben gestellt. Die Bevölke­ rung des Staates wuchs gegen den Bestand, den ihm der Til­ siter Frieden belassen hatte, auf mehr als das Doppelte an. Die neu hinzutretenden Gebiete hatten bisher den verschiedensten Herren gehört und erstreckten sich über ganz Norddeutschland von der Maas bis zur russischen Grenze. Das Ganze mußte nunmehr einer einheitlichen Verwaltung unterworfen werden. Hierbei verfuhr man mit größter Schonung für das historisch Gewordene, und erst ganz allmählich ist es gelungen, die zwischen den einzelnen Landschaften bestehenden Gegensätze, vor allem die in den abgetretenen sächsischen Gebieten hervor­ tretende Feindschaft zu überwinden. Was Bismarck 1866 äußerte, Preußen fei gleich einer wollenen Jacke, in der man sich anfänglich höchst unbehaglich befinde, die man aber, sobald man sich an sie gewöhnt habe, als sehr angenehm und wohl­ tätig empfinde, ist indessen schon damals zur Wahrheit ge­ worden. Die Aufgaben, vor die sich die preußische Verwaltung nach 1815 gestellt sah, wurden noch durch die schlechte Finanz-

läge des Staates erschwert. Die Staatsschuld war im Jahre 1818 auf 217 Millionen Taler angewachsen, darunter 45 Mil­ lionen der neuen Provinzen, die mit hatten übernommen werden müssen. Eine fünfprozentige Anleihe in England konnte nur zum Kurse von 72 abgeschlossen werden. Die Staatsschuld­ scheine standen auf 65. Der Grundbesitz war stark verschuldet. Der Kaufwert der Güter sank unter die Hälfte desjenigen der Zeit vor 1806. Um so mehr wurde tatkräftig in der Hebung des Landes vorgegangen, eine neue Handelspolitik auf Grund eines für die ganze Monarchie gültigen Zollgesetzes eingeleitet. „Damit wurde die volle Hälfte des nichtösterreichischen Deutsch­ lands zu einem freien Marktgebiete vereinigt, zu einer wirt­ schaftlichen Gemeinschaft, welche, wenn sie die Probe bestand, sich auch über die andere Hälfte der Nation erweitern konnte. Denn die schroffsten Gegensätze unseres vielgestaltigen sozialen Lebens lagen innerhalb der preußischen Grenzen*)." Um die deutschen Nachbarlande zum Anschluß an die preußische Han­ delspolitik zu bewegen, wurden hohe Durchgangszölle festgesetzt. Der erschöpften Staatskasse erwuchs dadurch zugleich ein großer Vorteil, da die Hälfte der in Preußen eingehenden Waren dem Durchfuhrhandel angehörten, denn in ihrer langgestreckten Ge­ stalt beherrschte die Monarchie eine Anzahl der wichtigsten Handelsstraßen Mitteleuropas. Wenn der durch die Kriegsjahre an den Rand des Ab­ grunds gebrachte und gleich darauf mit neuen schweren Auf­ gaben belastete Staat in verhältnismäßig kurzer Frist zu neuem Leben gedieh, so war es das Verdienst einer Reihe von Be­ amten, die an der Spitze der Verwaltung standen. Eichhorn, Motz und Maassen mit einer großen Zahl hochbegabter Mit­ arbeiter haben Großes in der Wiederaufrichtung Preußens ge­ leistet. Es war von jeher die Eigentümlichkeit dieses Staates, daß er eine starke Anziehungskraft auf reiche Talente auch anderer deutscher Länder übte. Die Zahl der nicht innerhalb der preußischen Grenzen geborenen Deutschen, die im Staats­ und Heeresdienst führende Stellen bekleidet haben, ist in der Hohenzollernmonarchie außerordentlich groß. So sagt Treitschke von Eichhorn**): „Auch an ihm bewährte sich, daß Preußen die *) Treikschke, Deutsche Geschichte. II. 5. Abschnitt. **) Deutsche Geschichte. II. 10. Abschnitt.

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Die Emheitsbestrebungen zerteilter Völker.

wärmste Liebe bei jenen Deutschen findet, die sich dies Gefühl erst erarbeitet haben." Es war das Ahnen von der deutschen Aufgabe Preußens, das diese Deutschen in ihm ihre Heimat suchen ließ. Unter den schlechten Finanzverhältnissen des Staates hatte vor allem das Heer zu leiden. Mehr als einmal ist die Bei­ behaltung der allgemeinen Wehrpflicht ernstlich in Frage gestellt gewesen. Boyen gebührt das Verdienst, sie als Kriegsminister gerettet und damit die künftige Großmachtstellung Preußens gewahrt zu haben, wenn auch die von ihm geplante Landwehr­ organisation sich nicht in vollem Maße hat aufrechterhalten lassen, und im Laufe der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts mancherlei Abstriche am Heeresvoranschlag die Leistungsfähig­ keit der Armee im Kriegsfälle stark herabsetzten. Das Offizier­ korps war in der ersten Zeit nach dem Kriege noch wenig ein­ heitlich. Viele seiner Mitglieder waren von anderen deutschen Kontingenten, weitere aus der Landwehr übernommen worden. Die Beförderungsverhältnisse litten darunter und mit ihnen Dienstfreudigkeit und Frische, um so mehr, als nach dem Kriege ein starker Rückfall in revuetaktische Bestrebungen eintrat, das Kriegsmäßige viel zu sehr zugunsten einseitiger Paradedressur zurücktrat. Diese Richtung hat im Verein damit, daß sich das Offizierkorps bis zum Beginn der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts immer mehr.zu einem geschlossenen Stande zu­ sammenfand, die Armee dem Bürgertum entfremdet. So sehr dieses an sich zu bedauern ist, so hat doch gerade die einheitliche hohe Standesauffassung des preußischen Offizierkorps zu den großen Erfolgen der Jahre 1864, 1866 und 1870/71 wesentlich beigetragen, und was von ihr erhalten blieb, hat sich noch im Weltkriege in höchstem Maße bewährt. Es darf auch nicht ver­ kannt werden, daß, wie nach dem Weltkriege gegen das Offizier­ korps von sozialdemokratischer und linksdemokratischer Seite gehetzt worden ist, nach den Befreiungskriegen das liberale Bürgertum sich ebenfalls nicht gescheut hat, das Offizierkorps zu verlästern. Der Ruhm der Befreiung vom napoleonischen Joch wurde ausschließlich für die Landwehr in Anspruch ge­ nommen, auf das stehende Heer, obwohl dieses nur die Söhne des Landes umfaßte, wie auf Söldner herabgesehen. Auf den Turnplätzen erschollen Spottlieder auf die unfreien Mietlinge,

PreutzenS Heer nach den Befreiungskriegen.

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und das wurde den Siegern von der Katzbach, Möckern und Belle Alliance geboten. Zu alledem gesellte sich ein unver­ hohlener Adelshaß. Die häßliche Demagogenhetze tat dann frei­ lich ein übriges, unser Volksleben zu vergiften. Das alles aber trug dann wieder dazu bei, im Offizierkorps die konservativen Tendenzen zu verstärken. Wenn es so in Preußen stand, kann es nicht wunder­ nehmen, daß man in Süddeutschland sich für berechtigt hielt, auf die preußische Armee herabzusehen. Sie galt dort als ein Hort der Reaktion in einem absolutistisch regierten Staate, dem man sich, im Besitze verfassungsmäßiger Zustände, unendlich überlegen glaubte. Solchewarendaselbst nacheinander, nicht ohne lebhaften Widerstand, sei es der Fürsten, sei es, wie im Würt­ tembergischen, der Stände, eingezogen. Die Verhältnisse lagen dort auf kleineren Gebieten, die ihren Umfang bereits in den napoleonischen Kriegen gewonnen hatten, wesentlich einfacher als in Preußen. Man mag es bedauern, daß hier das 1815 gegebene Versprechen des Königs, eine Volksvertretung einzu­ führen, nicht innegehalten, und daß Hardenbergs Verfassungs­ entwurf vom Jahre 1820 nicht zur Ausführung gelangte, wird aber zugeben müssen, daß die oben angedeutete Vielheit der Aufgaben in dem sich erst neu bildenden Staate sich ungleich schneller durch das erfahrene Beamtentum des absoluten Staates, wie es zu jener Zeit beschaffen war, lösen ließ, als mit Hilfe eines Parlaments, in dem zahlreiche verletzte Interessen sich geäußert und das mühsame Werk des Wiederaufbaus er­ schwert haben würden. Da aber Süddeutschland auf diese Weise ein Menschenalter früher als Preußen dem konstitutionellen Leben erschlossen wurde, konnte es bei den Außenstehenden fast den Anschein erwecken, als ob der Schwerpunkt staatlichen Lebens nunmehr vom Norden Deutschlands nach dem Süden verlegt worden sei. So kam es, daß, wie Treitschke ausführt*), „der Staat, dessen gutes Schwert den Deutschen soeben erst die Tore einer neuen Zeit geöffnet hatte, der liberalen Welt wie eine erstarrte Masse erschien, wie ein Bleigewicht, das die freien Glieder der Nation in ihrer Bewegung hemmte. Befangen in dem Glauben, daß alles Heil der Völker in den konstitutionellen

*) Deutsche Geschichte. II. 6. Abschnitt. Freytag-Loringhoven, Angewandte Geschichte

Formen enthalten fei, hatte man kein Auge mehr für Preußens Heerwesen und Handelspolitik, für die stille Arbeit, welche dort den Neubau des deutschen Staates vorbereitete ... Bei jedem Erfolge der konstitutionellen Bewegung im Süden ergoß sich eine Flut des Hohnes auf das zurückgebliebene Preußen, und die alten Rheinbundsgedanken tauchten in liberalem Gewände wieder auf." Die Verschiedenartigkeit in der Entwicklung der Dinge im Süden und Norden unseres Vaterlandes hat viel zur Ver­ schärfung der Gegensätze beigetragen und dahin geführt, daß sie bei jeder großen Schicksalswendung unserer Geschichte, wie auch jetzt wieder, hervortreten. Es kam hinzu, daß sich die Süddeutschen durch das kurz angebundene, scharfe preußische Wesen nicht angenehm berührt fanden, und das um so mehr, als sie die überlegene Tüchtigkeit der Preußen im praktischen Leben anerkennen mußten, auf die sie, gleich wie die DeutschÖsterreicher, mit dem Stolz einer überlegenen älteren Kultur herabsehen zu können glaubten. Treitschke bezeichnet es als ein Unglück für unsere politische Bildung, daß die Nation ihre ersten konstitutionellen Erfahrungen in kleinen Staaten machen mußte. „In dieser Enge erhielt der deutsche Parlamentarismus von Haus aus das Gepräge kleinstädtischer und kleinmeister­ licher Beschränktheit. Die schwere Schicksalsfrage des festländi­ schen konstitutionellen Staatslebens — die Frage, wie sich die parlamentarischen Formen mit der Macht eines streitbaren Heeres und dem stetigen Gange einer großen europäischen Poli­ tik vereinigen lassen — konnte in so abhängigen Gemeinwesen gar nicht aufgeworfen werden. Jeder politische Streit ward hier zum persönlichen Zank." An diesen Mängeln hat von Hause aus der deutsche Reichstag gekrankt und er hat sie im Laufe der Jahre nicht überwunden, vielmehr sind sie neuer­ dings infolge der Parlamentarisierung und des verstärkten Ein­ schlags von süddeutschen Elementen auch in der Reichsregierung noch mehr hervorgetreten. Sie können nur verschwinden bei völliger Abkehr von der jetzigen überlebten parlamentarischen Form und durch Übergang zur berufsständischen Vertretung im Reich und in den Ländern. Solche Vertretung bietet zugleich die Möglichkeit, das, was am Räte-Gedanken gesund ist, in sich auf­ zunehmen. Sie gewährleistet die wechselseitige Annäherung

179 aller schaffenden Stände des Volkes, deren wir heute im höchsten Maße bedürfen, und zugleich die Betrauung wirklicher Fach­ männer mit den wichtigsten Reichsämtern.

Wenn Treitschke es beklagt*), daß der große Augenblick, Preußen nach den Befreiungskriegen eine Verfassung zu ver­ leihen, versäumt worden sei und hinzufügt: „wir leiden noch heute unter dem Unsegen der alten Unterlassungssünde", so läßt sich die Wahrheit dieses Wortes über seine Zeit hinaus bis in den Weltkrieg hinein verfolgen. Das ungestüme Drängen nach der preußischen Wahlreform, während der Krieg unsere Aufmerksamkeit völlig nach außen hin hätte in Anspruch nehmen sollen, hat in weiten Kreisen der Gebildeten offenbar mit in der Befürchtung seinen Anlaß gehabt, daß es mit der Verheißung dieser Wahlrechtsreform nach dem Kriege ähnlich gehen würde, wie 1815 mit der Verheißung der Verfassung. Für die Zeit nach den Befreiungskriegen aber schränkt doch wiederum Treitschke das Bedauern über das geschehene Versäumnis insofern ein, als er sagt*): „Die größte Tat der deutschen Politik jener Tage, die Gründung des Zollvereins, war eine Schöpfung des monarchischen Beamtentums, das die volkswirtschaftliche Durch­ schnittsbildung der Zeitgenossen weit übersah; sie wurde un­ möglich oder doch arg erschwert, wenn zu dem partikularistischen Widerstände der süddeutschen Kammern auch noch die Oppo­ sition eines preußischen Landtags hinzutrat." Der 1828 abgeschlossene Vertrag mit Hessen-Darmstadt be­ zeichnet den Anfang des Zollvereins. Er hat den später mit den größeren deutschen Mittelstaaten getroffenen Verein­ barungen zum Muster gedient. Preußen brachte dieser erste Vertrag nur einen politischen Gewinn, indem ein kleiner deut­ scher Staat, und zwar ein südweftdeutscher, an die norddeutsche Großmacht gefesselt wurde, und diese dadurch einen festen Stand in Mainz gewann. Die finanziellen und volkswirtschaftlichen Vorteile waren allein auf hessischer Seite, Preußen aber suchte dadurch, daß es von gleich zu gleich mit einem kleineren deutschen Lande verhandelte und ihm Vorteile zugeständ, das Vertrauen der *) Historische und politische Aufsätze. Das konstitutionelle Königtum in Preutzen.

übrigen Mittel- und Kleinstaaten zu gewinnen. Vorerst freilich stieß Preußen hier noch auf lebhaftes Widerstreben. München und Stuttgart hatten bereits unter sich einen Zollbund ge­ schlossen, der sich aber bald, weil ein zu geringes Gebiet um­ fassend, als lebensunfähig erwies. Von Österreich begünstigt und vom Argwohn Englands und Frankreichs unterstützt, bil­ dete sich unter Führung Sachsens ein Mitteldeutscher Handels­ verein, der bestrebt war, einen Keil nicht nur zwischen die bereits bestehenden Bünde, sondern auch zwischen die beiden Hälften der preußischen Monarchie einzutreiben. Preußen nahm den Kampf auf. Seine deutsche Politik schritt ruhig und fest ihres Weges, der werbenden Kraft ihres Zollvereins gewiß. Sehr bald vollzog sich denn auch in München ein Umschwung, dem sich Stuttgart nicht entziehen konnte. Im Jahre 1829 be­ wirkten Bayern und Württemberg den Anschluß. Eine für König Friedrich Wilhelm III. bestimmte Denkschrift von Motz führte aus, daß die Errichtung des Deutschen Bundes zu einem Handelskrieg aller gegen alle geführt habe, „weit schlimmer als ein innerer Krieg der Waffen nur je hätte sein können". Zum Schluß heißt es hinsichtlich der neuen Vereinbarungen mit Bayern und Württemberg: „In dieser, auf gleichem Interesse und natürlicher Grundlage ruhenden und sich notwendig in der Mitte von Deutschland erweiternden Verbindung wird erst wieder ein in Wahrheit verbündetes, von innen und außen festes und freies Deutschland unter dem Schutz und Schirm von Preußen bestehen. Möge nur das noch Fehlende weiter ergänzt und das schon Erworbene mit umsichtiger Sorgfalt noch weiter ausgebildet und festgehalten werden." Diese Worte des Begründers des Zollvereins sollten durch­ aus in Erfüllung gehen. Es gelang ihm zunächst, mit den Niederlanden sich über die Rheinschiffahrt zu verständigen und dadurch den Süddeutschen die Aussicht auf freien Verkehr mit der Nordsee zu eröffnen. Damit wurde zugleich erreicht, daß England das Interesse am mitteldeutschen Handelsverein ver­ lor, da es nunmehr seine Waren zollfrei auf dem Rhein bis Frankfurt und Mannheim hinaufführen konnte. Das Werk der wirtschaftlichen Einigung Deutschlands, das Motz so glücklich begonnen hatte, ist nach seinem 1830 erfolgenden Tode von seinem Freunde Maassen zu Ende geführt worden. Der mittel-

Wirtschaftliche Einigung Deutschlands der politischen vorausgehend. 181 deutsche Sonderbund zerfiel. Nacheinander vollzogen Kurhessen, Sachsen, die Thüringischen Staaten, Baden und 1836 auch die Freie Stadt Frankfurt a. M. den Anschluß an den preußischen Zollbund, der nunmehr den Namen Deutscher Zollverein führte. Nur Mecklenburg, die Hansastädte, Hannover, Braunschweig und Oldenburg verblieben außerhalb. Damit war vorläufig ein Abschluß erreicht. Der Zollverein verbürgte einen stetigen Aufstieg des Handels, der von England und Frankreich mit scheelen Augen betrachtet wurde. Man begann schon damals die erstarkende wirtschaftliche Kraft des arbeitenden Deutsch­ lands zu fürchten. Das Verfahren Preußens, das zu solchen Erfolgen führte, aber läßt sich nicht besser kennzeichnen, als durch die Worte des badischen Ministers Blittersdorff: „Die Zollvereinigung gibt dem Bundessystem gleichsam den Gnaden­ stoß. Den gegenseitigen Schutz, welchen die kleinen Staaten bisher durch den Bund empfingen, erhalten sie jetzt durch den Zollverein; auch in anderen politischen Fragen werden sie sich auf Preußen stützen müssen. Alle mitteldeutschen Staats­ männer, die ich sprach, gestanden: „Wir konnten nicht anders. Österreich hat sich uns versagt. Preußen war ebenso willfährig als beharrlich, hat durch Zugeständnis des gleichen Stimmrechts alle Bedenken entwaffnet." . . . Der Zollverein ist ein Haupt­ nagel am Sarge des Deutschen Bundes." In der Tat war „das Bewußtsein, daß man zueinander gehöre, daß man sich nicht mehr trennen könne von dem großen Vaterlands, durch die kleinen Erfahrungen jedes Tages in alle Lebensgewohnheiten der Nation eingedrungen, und in dieser mittelbaren politischen Wirkung liegt der historische Sinn des Zollvereins. . . . Der preußische Staat erfüllte, indem er Deutschlands Handelspolitik leitete, einen Teil der Pflichten, welche dem Deutschen Bunde oblagen, wie er zugleich allein durch sein Heer die Grenzen des Vaterlandes sicherte"*). Gleichwohl sind die politischen Wirkungen des Zollvereins nicht so schnell eingetreten, als vielfach erwartet wurde. „Der Handelsbund war kein Staat, er bot keinen Ersatz für die man­ gelnde politische Einheit und konnte noch durch Jahrzehnte fort­ dauern, ohne die Lüge der Bundesverfassung zu zerstören*)."

*) Treitschke, Deutsche Geschichte. IV. 6. Abschnitt.

Die Eisenbahnen bildeten ein weiteres staatlich einigendes Ele­ ment, sie vollendeten erst, was der Zollverein begonnen hatte. Das sich mehrende Gefühl wirtschaftlicher Zusammengehörigkeit, die sich neu eröffnenden Verkehrsmöglichkeiten haben trotzdem nicht vermocht, die in den einzelnen Staaten herrschenden polithcyen Gesinnungen zu einem nationalen Gesamtgesühl zu­ sammenzufassen. Hierzu hat es anderer Mittel bedurft. Die Vorteile, die der Zollverein bot, ließ man sich im übrigen Deutschland gern gefallen, preußenfreundlicher aber wurde man dadurch nicht. Dazu war der Partikularismus den Deutschen zu sehr ins Blut übergegangen. Ihm ist es zuzuschreibsn, daß bei uns immer wieder vergessen worden ist — die Ge­ schichte der Entstehung des Zollvereins beweist es —, in welchem üblen Zustande wir uns nach Beendigung der Befreiungs­ kriege befunden haben und welcher mühsamen Arbeit es auch hier wieder bedurft hat, uns aus diesem Elend der Zersplitte­ rung herauszuführen. Nur in einem Volke wie dem deutschen hat überhaupt der Gedanke aufkommen können, mühsam er­ worbene nationale Güter immer wieder zu zerschlagen, wie wir es in der Revolution und deren Folgezeit erlebt haben. Hat somit die wirtschaftliche Einigung Deutschlands unter Preußens Führung nur mittelbar der politischen Zusammen­ fassung vorgearbeitet, so läßt andererseits die Geschichte des Zollvereins den hohen Wert und die werbende Kraft solcher Abmachungen erkennen. Sie liefert daher nach dieser Richtung auch für den zwischenstaatlichen Verkehr und damit für die Gewinnung eines vermehrten Einflusses desjenigen Staates, der die Führung an sich nimmt, manchen wertvollen Hinweis. Diese Frage aber kann bei der heutigen Lage Deutschlands von großer Wichtigkeit werden. Ein gerechtes Urteil wird nicht verkennen, daß die ver­ hältnismäßig geringe politische Wirkung, die der Zollverein aus­ geübt hat, nicht ausschließlich dem Partikularismus der Einzel­ staaten zuzuschreiben ist, sondern zum Teil mit Schuld Preußens ist, das in den letzten Jahren der Regierung Friedrich Wil­ helms in. und erst recht unter Friedrich Wilhelm IV. in der Handhabung der großen deutschen Fragen versagte. Der Staat besäst zahlreiche tüchtige Kräfte, aber keine Staatsmänner von großer Begabung. Die Schwäche und Sprunghaftigkeit

-der Politik Friedrich Wilhelms IV., dieses Romantikers auf idem Throne, während der Revolutionsjahre hat Preußen ffchließlich 1850 nach Olmütz geführt. Wenn Österreich nicht «alles erreichte, was ihm erstrebenswert schien, so trat doch Preußen vor ihm in die zweite Reihe zurück. Nur wenn es über ein stärkeres und stets schlagfähiges Heer gebot, vermochte «es die ihm gebührende Machtstellung wieder zu erlangen und zu behaupten. Die preußische Armee aber entsprach längst nicht mehr dem, was sie auf Grundlage der gesetzlich bestehenden «allgemeinen Wehrpflicht hätte sein müssen und können. Die Bevölkerung hatte sich seit dem Jahre 1814 in Preußen ver­ doppelt, da aber weiterhin nur 40 000 Rekruten alljährlich ein­ gestellt wurden, so blieben große Teile der Bevölkerung tatffächlich vom Waffendienst befreit. Bei der geringen Zahl der Linientruppen mußte bei einer Mobilmachung in unerwünsch­ tem Maße auf die Landwehr zurückgegriffen werden. Diesem Mißverhältnis half die Armeereorganisation von 1859 und 1860 ab. Sie erst hat Preußen dazu befähigt, die Einigung Deutschlands durchzuführen. Es war das eigenste Verdienst König Wilhelms I., noch als Regent mit Entschiedenheit die Reorganisation in die Hand genommen zu haben, indem er die Armee aus der Mobilmachung des Jahres 1859 heraus in ihre neue Verfassung unter Verdoppelung der Kaders der Infanterie iund starker Vermehrung der übrigen Waffen hinüberführte. Die Landwehr ersten Aufgebots blieb Kriegszwecken zweiten Ranges vorbehalten, wodurch die Kriegsbereitschaft des Heeres in hohem Maße gewann. Gegen den Widerspruch der Mehr­ heit der Abgeordneten hat der König an der Durchführung der Heeresreform, gestützt durch Bismarck und Roon, festgehalten. Sie gab Bismarck den Rückhalt für seine geniale Politik. Er «erkannte, daß „die Negation und die Phrase der damaligen Opposition im Angesicht der nationalen Aufgaben Preußens verderblich seien*)." Mit der Übernahme der preußischen Mimisterpräsidentschaft durch ihn im Herbst 1862 hob eine neue Zeit für Preußen und damit für Deutschland an. Sie äußerte sich zuerst in dem Gewinn der Nordmark. 1864 hat Preußen an Schleswig-Holstein gut gemacht, was *) Gedanken und Erinnerungen. I. 11. Kapitel.

seine schwächliche Politik in den Jahren 1848 bis 1850 ver­ sündigt hatte. 1848 hatte König Friedrich VII. von Dänemark die Trennung Schleswigs von Holstein und feine Einverleibung in Dänemark ausgesprochen. Eine provisorische Regierung der Herzogtümer, die sich von Dänemark lossagte und die sich bil­ dende schleswig-holsteinische Armee fanden Unterstützung durch deutsche Bundestruppen unter Befehl des preußischen Generals v. Wrangel, der bis Jütland vordrang. König Friedrich Wil­ helms schwankende Haltung ließ es dann aber unter dem Druck Englands und Rußlands dahin kommen, daß die preußischen Truppen aus den Herzogtümern zurückgezogen wurden, und die Schleswig-Holsteiner 1850 bei Idstedt der dänischen Über­ macht erlagen. Die Integrität der dänischen Monarchie wurde ausdrücklich durch den Londoner Vertrag von 1852 bestätigt, dem Prinzen Christian von Holstein-Glücksburg mit der Thron­ folge in Dänemark zugleich die Anwartschaft auf die Herzog­ tümer zugesprochen. Rach ihrem Erfolge verfuhren die Dänen in Schleswig überaus rücksichtslos gegen das Deutschtum. In Holstein und Lauenburg sahen sie sich, da diese Länder zum Deutschen Bunde gehörten, zu einiger Rücksicht genötigt. 1862 verfügte König Friedrich VII. von Dänemark widerrechtlich und entgegen dem Londoner Protokoll die Trennung der beiden Herzogtümer, indem er die dänische Verfassung auch für Schles­ wig bindend erklärte und für Holstein eine besondere Regierung einsetzte. Der Deutsche Bund beschloß die Bundesexekution. Der im November 1863 erfolgende Tod Friedrichs VH. brachte den Prinzen von Glücksburg als Christian IX. auf den Thron. Die demokratische Partei nötigte ihn, die letzten Maßnahmen seines Vorgängers gutzuheißen. Damit nahm der Konflikt seinen Fortgang. Er wurde noch dadurch erweitert, daß nunmehr auch die Erbfolgefrage für Schleswig-Holstein in den Vorder­ grund trat, indem der Deutsche Bund als solcher dem Londoner Protokoll nicht zugestimmt hatte und jetzt eine Anzahl von Bundesstaaten die Erbfolge des Herzogs von Augustenburg in den Herzogtümern anerkannte, obwohl dessen noch lebender Vater auf diese verzichtet hatte. In Schleswig-Holstein selbst war die Stimmung für den Herzog. Vor allem aber mußte die Lage als eine europäische, an der die Grotzmächte inter­ essiert waren, betrachtet werden.

Am 5. November 1863 hatte Napoleon III. erklärt, daß die Verträge von 1815 aufgehört hätten, zu bestehen und Ein­ ladungen an alle Souveräne Europas ergehen lassen, sich zu einem Kongreß in Paris einzufinden, um ein höchstes Schieds­ gericht über alle strittigen Fragen zu bilden. Bei dem Ver­ such, auf Rußland und Preußen zugunsten der Polen einzu­ wirken*), hatten England und Österreich den Kaiser der Fran­ zosen anfänglich unterstützt, ihn dann aber im Stich gelassen. Nunmehr wandte er sich von seinen bisherigen Genossen ab, von denen England sofort ausdrücklich betonte, daß es an der Rechtsbeständigkeit der Verträge von 1815 nach wie vor fest­ halten müsse. Diese Lage wußte Bismarck meisterhaft auszu­ nutzen. Er war Rußlands durchaus sicher, sah Preußen von Frankreich umworben, von England geachtet und Österreich in eine Lage gebracht, daß es ein Zusammengehen mit Preußen wünschen mußte. Hieraus ergab sich die Richtschnur für sein Handeln: das Festhalten am Londoner Protokoll, bis dieses durch die etwaigen kriegerischen Ereignisse von selbst hinfällig wurde, und infolgedessen das Verwerfen der Augustenburger Kandidatur. Indem er die Novemberverfassung bestätigte, hatte Christian IX. einen von der Erbfolgefrage unabhängigen Kriegs­ fall geliefert, gegen dessen Rechtmäßigkeit ein Einwand von den Großmächten nicht erhoben werden konnte. Hier setzte Bis­ marck ein, und es gelang ihm, Österreich auf dieser Bahn mit sich zu ziehen. Von den Westmächten war bei der augenblick­ lichen Stimmung Napoleons HI. eine Einmischung von seiner Seite nicht zu erwarten, um so mehr, da das Verfahren gegen Dänemark als im Sinne des stets von ihm befürworteten Na­ tionalitätsprinzips erfolgend gelten konnte. Eher war ein Ein­ spruch Englands zu befürchten, auf das Dänemark seine Hoff­ nungen setzte, die sich auf die Erfahrungen der Jahre 1848—50 gründeten, wo das Bestreben Englands, Deutschland nicht eine Flottenbasis zugleich an der Ost- und Nordsee gewinnen zu lassen, und sein Verbot einer deutschen Flotte den Dänen die wirksamste Hilfe gebracht hatte. Vorderhand aber war bei der Friedensliebe der Königin Victoria und der wenig ausge­ sprochenen Politik des Ministeriums kein ernsthafter Schritt ) Vgl. 6. 128.

von England zu besorgen, wenn es auch Preußen und Öster­ reich mit offenkundigem Mißtrauen begegnete. Die Vergewaltigungen der Deutschen in Schleswig, die das kleine Dänemark angesichts des großen Deutschlands, auf dessen Uneinigkeit und den Schutz der Großmächte bauend, sich fort­ gesetzt zuschulden kommen ließ, hatten bereits Ende 1862 Bis­ marck sagen lassen: „Die dänische Frage kann nur durch Krieg auf eine für uns günstige Weise gelöst werden; der Anlaß zum Kriege läßt sich in jedem Augenblicke finden, in welchem unsere Stellung zu den Großmächten eine günstige für die Krieg­ führung ist." Sybel setzt hinzu*): „Dank Bismarcks umsichtiger Politik war dieser günstige Augenblick endlich gekommen, und der König war wie seine Minister entschlossen, ihn auf jede Gefahr auszunützen. Auf jede Gefahr, denn gefahrlos war auch jetzt die Bahn wahrhaftig nicht." Sie wurde damit be­ schritten, daß Preußen und Österreich ohne Rücksicht auf den Deutschen Bund in ihrer Eigenschaft als europäische Großmächte am 14. Januar 1864 Dänemark den Krieg erklärten und am 1. Februar 60 000 Mann preußisch-österreichischer Truppen die Eider überschreiten ließen. Nach der Räumung der Danewerkstellung beabsichtigte Mitte Februar der Oberbefehlshaber der Verbündeten, der preußische Feldmarschall Graf Wrangel, unter Belassung eines Korps vor Düppel mit den beiden anderen nach Jütland vor­ zurücken. In Wien wurde hiergegen Einspruch erhoben, weil man dort befürchtete, daß, wenn über die ursprüngliche, zwischen Preußen und Österreich getroffene Vereinbarung, die nur eine Besitznahme Schleswigs ins Auge faßte, hinausgegangen würde, den Großmächten Gelegenheit zur Einmischung gegeben würde. Zwar stimmte man schließlich in Wien einer Überschreitung der jütischen Grenze zu, jedoch nur soweit, wie dieses militärisch unbedingt notwendig erschien. Der Hauptangriff sollte gegen Düppel gerichtet werden. Die Gefahr einer Einmischung der Mächte bestand aller­ dings, wenigstens soweit England in Betracht kam. Die öffent­ liche Meinung stand dort durchaus auf feiten Dänemarks. Man hatte kein Verständnis für die Rechte Schleswig-Holsteins *) Die Begründung des Deutschen Reiches. HI. 2. Kapitel.

oder wollte solches nicht gewinnen. Das gleiche gilt vom lei­ tenden Minister Lord Palmerston und dem Minister des Äußeren Lord Ruffel. Ihr Verfahren stand hier, wo es sich um Deutsche handelte, in vollem Gegensatz zu der wohlwollenden Haltung, die sie gegenüber der italienischen Einheitsbewegung befolgt hatten. In seiner Schrift „Bismarcks Friedensschlüsse"*) schreibt Johannes v. Haller: „Kein Geringerer als der alte Jupiter tonans von Europa, Lord Palmerston, hatte als Erster Minister im Hause der Gemeinen das verhängnisvolle Wort ge­ sprochen, wenn Dänemark von Deutschland angegriffen werde, so werde es nicht allein bleiben. Das Wort fand in England ein lautes Echo. Im Parlament und in der Presse hat man damals eine Sprache geführt, die uns heute sehr vertraut vor­ kommt. Palmerston gab dabei den Ton an. Er hat mit Drohungen und Grobheiten nicht gespart. Die Äußerung Bis­ marcks, daß Verträge zwischen zwei Staaten erlöschen, wenn die Vertragschließenden miteinander in Krieg geraten, was, juristisch betrachtet, nur ein Gemeinplatz ist, nannte er „eine höchst alberne Lehre, die keine Regierung im Ernst aufrecht­ erhalten kann, wenn sie noch etwas Selbstachtung und Rücksicht auf die Grundsätze des guten Glaubens hat. Es wäre für ein zivilisiertes Land höchst schmachvoll, auf solchem Standpunkt zu stehen." Die Überschreitung der jütischen Grenze war in seinen Augen eine unentschuldbare Vergewaltigung. . . . Als die preußischen Truppen im Gefecht die Stadt Sonderburg be­ schossen hatten, nannte Lord Shaftesbury im Oberhause das einender grausamsten, gewalttätigsten Handlungen, die jemals begangen worden, oder von denen die Geschichte nicht nur bei den zivilisierten, sondern sogar bei unzivilisierten Völkern be­ richte. Er fand, die preußische Regierung und das preußische Volk könnten nicht mehr unter die zivilisierten Menschen und Rationen gezählt werden, und sprach die Hoffnung aus, die britische Flotte werde in jenen Gewässern erscheinen und die Wiederholung „dieser höchst feigen und schrecklichen Greuel" verhindern." Auch hier haben wir wieder einen Beweis echt englischer Denkweise, von der wir uns vor dem Weltkriege und in diesem *) München.

1916.

F. Bruckmann.

besser hätten Rechenschaft geben sollen, als es geschehen ist. Was Engländern in jeder Beziehung erlaubt ist, erschien ihnen von jeher bei anderen als ein Verbrechen. Es war für die deutsche Sache ein Glück, daß damals im englischen Ministerium keine Einigkeit herrschte, und daß es infolgedessen über halbe Maß­ nahmen nicht hinauskam. Einerseits mahnte man Däne­ mark zur Vernunft, andererseits reizte man es zum Wider­ stände auf, um es schließlich doch wieder im Stich zu lassen. Bei dieser unentschiedenen Haltung hat wesentlich mitgesprochen, daß Frankreich zu einem bewaffneten Einschreiten nicht zu be­ wegen war. Napoleon III. hoffte, aus der Verwicklung Preußens in die dänischen Angelegenheiten und indem er ihm gegenüber eine wohlwollende Haltung bewahrte, Vorteile für sich herauszuschlagen. Bereits 1857 hatte er zu Bismarck ge­ äußert*), daß er keineswegs die Rheingrenze, wohl aber eine Grenzberichtigung erstrebe, und nicht unterlassen, darauf hinzu­ weisen, daß es für Preußen erwünscht sei, Hannover und die Elbherzogtümer zu erwerben, „um damit die Unterlage einer stärkeren preußischen Seemacht zu gewinnen. Es fehlte an Seemächten zweiten Ranges, die durch Vereinigung ihrer Streit­ kräfte mit der französischen das jetzt erdrückende Übergewicht Englands aufhöben." Es war dieselbe Politik, die Napoleon Hl. 1866 befolgt hat. „In der glänzenden Einsamkeit," fährt Haller fort, „in der sich England befand und die Bismarcks meisterhafte Diplomatie zu erhalten und zu steigern wußte, konnte es in der Tat nichts tun, als drohen. Es erreichte damit wohl, daß die österreichische Flotte, die schon in der Nordsee erschienen war, die Fahrt in die Ostsee unterließ, die Palmerston für eine Be­ leidigung Englands erklärt hatte, dasSchicksalDänemarks konnte es damit doch nicht wenden. Es hat mit seiner unverantwort­ lichen Hetzerei Bismarck das Spiel nur erleichtert: im Ver­ trauen auf englischen Beistand entwickelten die Dänen einen starken Trotz, der die Durchführung des Krieges vor aller Welt rechtfertigte." Unter dem Eindruck des Überganges nach Alfen erfolgte endlich der Sturz des eiderdänischen Ministeriums in Kopen­ hagen, und ein am 20. Juli abgeschlossener Waffenstillstand *) Gedanken und Erinnerungen. I. 9. Kapitel.

Die Nordschjleswlgische Frage.

189

führte nach langwierigen Verhandlungen am 30. Oktober zum Wiener Frieden, der Preußien und Österreich die gemeinsame Verwaltung der Herzogtümer übertrug. Bismarck ist auf diese Lösung eingegangen, weil er offenbar hoffte, die Einverleibung der Herzogtümer in Preußen später doch noch zu erreichen. Eine endgültige Regelung liejß sich damals nicht bewirken, wenn nicht die ganze deutsche Frage aufgerollt, das Verhältnis Preußens zu Österreich klar geregelt werden sollte. Erst das Jahr 1866 hat diese Regelumg gebracht und damit auch die Besitznahme der Herzogtümer durch Preußen und den unendlich wertvollen Gewinn des Kiieler Kriegshafens. Entsprechend seiner stets geübten Hervorkehrung des Nationalitätsprinzips hatte Napoleon HI. eine Teilung Schleswigs nach der Sprach­ grenze und Vornahme einer Volksabstimmung in Anregung gebracht. Bismarck hat sich dem an sich nicht widersetzt, an­ scheinend jedoch nur, um sich dem Kaiser der Franzosen gegen­ über gefällig zu erweisen, denn zwei Jahre später erklärte er im Abgeordnetenhaus: „Die vollständige Durchführung des Nationalitätsprinzips ist bekonntlich auf der dänischen Grenze ganz unmöglich, weil die Nationalitäten so gemischt sind, daß sich nirgends eine Grenze, die sie vollständig voneinander son­ dert, ziehen läßt." Wie reicht er darin hatte, ergab die in jüngster Zeit vorgenommene Abstimmung in Nordschleswig. Bekanntlich ist im Prager Frieden 1866, in dem Österreich sein Anrecht auf Schleswig an Preußen abtrat, der Vorbehalt ge­ macht worden, daß im Norden des Landes künftig die Bevöl­ kerung darüber entscheiden solle, ob sie preußisch oder dänisch sein wolle. Erst 1878 hat Österreich-Ungarn auf diesen Vor­ behalt verzichtet. Bis dahin also ist, wie Haller ausführt, die Nordgrenze von Schleswig eine völkerrechtlich offene Frage gewesen. Vielleicht habe Bismarck sich für den Fall ehrlicher Aussöhnung mit Dänemark die Möglichkeit der Rückgabe zu­ nächst offenhalten wollen. Erst als die Aussichten darauf mit den Jahren nicht besser geworden seien, vielmehr das dänische Königshaus sich nicht gesonnen gezeigt, das Geschehene als end­ gültig anzuerkennen, habe er den Strich unter die Rechnung gezogen und sich von Österreich von der eingegangenen Ver­ pflichtung, eine Volksabstimmung in Nordschleswig vorzu­ nehmen, entbinden lassen.

Haller bezeichnet diesen Fall als lehrreich, weil er zeige, wie wenig Bismarck sich durch das Prinzip der Nationalität gebunden gefühlt habe, wo es sich um die Bestimmung von Staatsgrenzen handelt. Lehrreich ist das Verfahren des großen Staatsmannes insbesondere für unsere Zeit des Mißbrauchs der Nationalitätenfrage durch die Feinde Deutschlands. „Wie Bismarck im gesamten Staatsleben die Nützlichkeit und Zweck­ mäßigkeit höher stand als jedes Prinzip, so hat er auch in der Frage der Grenzen sich nicht nach einem Prinzip, und sei es noch so allgemein anerkannt, sondern einzig und allein nach den Gesetzen des Nützlichen und Notwendigen gerichtet, die auf diesem Gebiet von der Geographie diktiert werden." Er selbst hat ein­ mal bekannt*): „Wenn ich zu handeln hatte, habe ich mich nie­ mals gefragt: nach welchen Grundsätzen handelst du? Sondern ich habe zugegriffen und getan, was ich für gut hielt." Bei den Friedensschlüssen von Versailles und St. Germain ist anders .verfahren worden. Hier fehlten auf beiden Seiten wirkliche Staatsmänner, um so mehr wurden Grundsätze hervorgekehrt, auf der einen Seite in heuchlerischem Sinne, auf der anderen in dem Wahn, einen Rechtsfrieden erlangen zu können. Die preußische Armee-Reorganisation ist bei der blutigen Auseinandersetzung über die Vormachtstellung in Deutschland 1866 zur vollen Geltung gelangt. Der Deutsche Bund war — die Jahre 1848/49 hatten es bewiesen — mit Hilfe einer Reform nicht fortzubilden, es bedurfte der Anwendung der Gewalt. Un­ bedingt aber ist Treitschke beizustimmen, wenn er meint**), wir Deutschen könnten es gar nicht genug als ein Glück preisen, daß unsere Revolution von 1866 nicht durch Volksbewegung und Volksabstimmung sich vollzogen habe, wie in Italien, sondern durch einen Krieg. „Hier hatte es die preußische Krone, welche die physischen Kräfte entfesselte, in der Hand, die Ordnung wiederzubringen. Dazu kommt, baft. die unvermeidliche Um­ wälzung in milderer Form, als es damals geschah, gar nicht vollzogen werden konnte." Die Schutz- und Trutzverträge zwischen dem Norddeutschen Bunde und den süddeutschen Staaten, die Berufung eines deutschen Zollparlaments nach *) Heinrich v. Porchinger, Tischgespräche. DL **) Politik. I. § 4.

Berlin im Jahre 1868 bezeichnen die Etappen auf.dem weiteren Wege zur deutschen Einheit, wie sie Bismarck 1870 in Versailles begründet hat. Sein Lebenswerk ist häufig als das Ergebnis einer reinen Machtpolitik bezeichnet worden. Ihm ist vorgeworfen worden, daß er es geradezu ausgesprochen habe: Gewalt gehe vor Recht. Er hat das in der Reichstagssitzung vom 12. Juni 1882 als eine Lüge bezeichnet. Wohin ein Staat aber gerät, der nicht Macht ist, das zu erkennen, haben die Deutschen von heute reich­ lich Gelegenheit. Sie täten daher besser, das Lebenswerk Bis­ marcks nicht zu verunglimpfen, wie es viele tun. Gewiß stellt uns die heutige Zeit vor andere Aufgaben, als sie Bismarck zu lösen hatte, und erfordert infolgedessen auch die Anwendung anderer Mittel, als er sie brauchte. Gewiß ist der Satz, daß ein Staat seine Macht durch dieselben Mittel erhält, wodurch sie gegründet ward, wie Treitschke treffend bemerkt*), „nur halb wahr, weil er, wörtlich verstanden, jede historische Ent­ wicklung abschneiden würde, aber er enthält die große Wahr­ heit, daß ein Staat mit seiner Geschichte nicht gänzlich brechen kann." Daß solches im November 1918 versucht wurde, ist dem deutschen Volke zum Verhängnis geworden.

10. Oer nordamerikanische Sezessionskrieg **) 1861 bis 1865. Auf dem Wiener Kongreß sprachen infolge der bis dahin bestehenden Autarkie der Länder wirtschaftliche Fragen kaum mit. Sie traten dann bald immer mehr in den Vordergrund und begannen mit Einführung der neuzeitlichen Verkehrsmittel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine ausschlag­ gebende Rolle zu spielen. Es ist kein Zufall, daß die wirtschaft­ liche Einigung Deutschlands durch den Zollverein***) der poli­ tischen voraufging. Entsprechend der gesteigerten Wichtigkeit der wirtschaftlichen Faktoren gewannen diese auf die Politik *) Historische und politische Aufsätze. Bundesstaat und Einheitsstaat. **) 3n diesem Abschnitt folge ich hinstchtlich der tatsächlichen Derhälknisse im wesentlichen der Darstellung in meiner Studie .Krieg und Politik in der Neuzeit". Berlin 1911. ***) Bgl. S. 181.

192

Der nordamerikanische Sezessionskrieg 1861 biS 1865.

immer stärkeren Einfluß. Die Interessengemeinschaft der ein­ zelnen Staaten wurde einerseits vermehrt, andererseits wuchsen auch die zwischen ihnen bestehenden Reibungsflächen. Der Weltkrieg hat dadurch sein Gepräge erhalten. Er ist nach Ur­ sprung und Durchführung durchaus ein Wirtschaftskrieg. Ein solcher war auch der große amerikanische Bürgerkrieg der sech­ ziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Aus diesem Grunde erscheint es angezeigt, ihn in den Kreis dieser Betrachtungen hineinzuziehen, um so mehr, als er seinerzeit in Deutschland nicht allzugroße Beachtung gefunden hat. Wir waren damals noch völlig Binnenländler, und die Aufmerksamkeit wurde durch unsere gleich nachher einsetzenden Einigungskriege überwiegend in Anspruch genommen. Der nordamerikanische Sezessionskrieg entstand aus dem sich immer mehr verschärfenden Gegensatz zwischen dem Norden und Süden der Union. Wirtschaftliche Gründe bildeten den Anlaß zum Bruch. Die Sklavenfrage blieb lange Zeit hindurch eine mehr nebensächliche. Sie ist vom Norden vor allem als Aushängeschild und als Propagandamittel in Europa benutzt worden. Hier waren es vor allem die guten Deutschen, die sich für die Negerbefreiung begeisterten. Daß diesen die Be­ freiung wesentlich genutzt habe, wird man angesichts ihrer jetzigen Lage in Nordamerika nicht behaupten können. Für den Süden war damals das Fortbestehen der Sklaverei eine Lebensfrage. Im Norden waren Handel und Industrie maß­ gebend. Dementsprechend erstrebte er hohe Schutzzölle, wäh­ rend dem Süden an erleichterter Ausfuhr seiner landwirtschaft­ lichen Erzeugnisse, vornehmlich der Baumwolle, gelegen war. Der Norden hatte ein besonderes Interesse daran, die Zoll­ erträge für Anlagen nutzbar zu machen, die in erster Linie seiner Industrie zugute kamen, den Süden aber gleichgültig ließen. Der Gegensatz zwischen den Industriestaaten und Ackerbau­ staaten trug längst den Keim des Zwiespalts in sich, der durch manche in der Verfassung der großen Republik bestehende Lücken und zweifelhafte Punkte noch befördert worden ist. Die Verfassung des Gesamtstaates konnte tatsächlich verschieden ausgelegt werden, so daß sich der Norden, der mehr die Ein­ heit, den Bundesstaat, ebensogut wie der Süden, der mehr die Freiheit der Einzelstaaten, den Staatenbund, hervorkehrte,

gleichermaßen auf die Verfassung berufen zu können glaubte. Unzweifelhaft aber waren die Südstaaten im Recht, wenn sie die Frage der Sklavenhaltung als in den Bereich der Einzel­ staaten fallend bezeichneten. Die weiße Bevölkerung des Südens umfaßte Leute, die an Bildung und Besitz sich wesentlich unterschieden, und die schon der Zahl nach nicht als eine Aristo­ kratie im eigentlichen Sinne gelten konnten. Es ist daher durch­ aus willkürlich, wenn man die sogenannten Pflanzerbarone des Südens zu den freiheitlich gesinnten Politikern des Nordens, den Emporkömmlingen, die dort die Macht in Händen hatten, in Gegensatz gebracht hat, denn tatsächlich war der Süden nicht weniger freiheitlich gesinnt als der Norden. Zutreffend ist nur, daß im Süden, namentlich in Virginien, der ältesten englischen Kolonie*) in Nordamerika, eine Anzahl durch Bildung und Besitz ausgezeichneter und um die Geschicke des Gesamtstaates hoch­ verdienter Familien mit einer festen Tradition ansässig war. Es waren vorzugsweise Angehörige dieser Geschlechter alt­ englischen Ursprungs, die bis dahin den Präsidentenstuhl der Union, mit Washington beginnend, innegehabt und die wich­ tigsten Staatsämter bekleidet hatten. Der Norden mit seinen großen Städten und seiner zahl­ reichen weißen Arbeiterbevölkerung überwog mit seinen 19 Mil­ lionen schon an sich den Süden, der nur 12 Millionen Ein­ wohner zählte. Da von diesen für den Kriegsdienst noch etwa 4 Millionen Neger abgingen, war das Mißverhältnis noch viel größer. Da ferner der Norden auf dem westlichen Kriegsschau­ platz, von einzelnen Rückschlägen abgesehen, in stetem Fort­ schreiten blieb, und nur im Osten, in Virginien, ihm der Sieg bis zuletzt streitig gemacht worden ist, so gestaltete sich das Zahlenverhältnis für den Süden sehr bald noch weit ungün­ stiger. Der eigentliche Entscheidungskampf ist von etwa 5 Mil­ lionen gegen 20 durchgefochten worden. Außer über eine stärkere und enger zusammenwohnende Bevölkerung geboten die amerikanischen Nordstaaten auch über ganz andere mate­ rielle Hilfsmittel als die Südstaaten. Diese konnten den Wett­ kampf mit den flüssigen Geldmitteln und mit der reichen Indu­ strie des Nordens nicht aufnehmen, zumal sie nicht nur ihre *) Vgl. S. 48. Freytag-Loringhoven, Angewandte Geschichte

industriellen Bedürfnisse, sondern auch das erforderliche Brot­ korn größtenteils vom Norden zu beziehen gewohnt waren. Mit großer Energie ging man zwar im Süden alsbald daran, die bisherige Bodenkultur umzuwandeln und an Stelle der Baumwolle Korn zu bauen, sowie eine eigene Industrie zur Her­ stellung von Kriegsmaterial zu schaffen, aber das alles blieb nach Lage der Dinge immer nur ein Notbehelf. Wenn trotz dieser ungünstigen Verhältnisse der Süden sich nicht nur vier Jahre hindurch mit Erfolg gewehrt hat, sondern zeitweilig sogar als Sieger aus dem Kampfe hervorgehen zu sollen schien, so lag das vor allem an seinem unzweifelhaft besseren Menschenmaterial. Die Gewohnheit des Lebens im Freien, die Beschäftigung mit der Jagd und die Indianerkriege hatten die Bevölkerung der Südstaaten gestählt. Der Krieg entsprach den natürlichen Neigungen dieser Farmerbevölkerung, so daß der Übergang zur allgemeinen Wehrpflicht sich später ohne Schwierigkeit vollzog. Dazu erleichterte das Bestehen von drei verschiedenen Bevölkerungsklassen die militärisch-hierarchi­ sche Gliederung in dem neugeschaffenen Volksheere. Die herr­ schende Klasse besetzte die Offizierstellen. Es entstanden infolge­ dessen hier nicht die gleichen Nachteile, wie sie sich im Norden aus der Wahl der Offiziere durch die Mannschaften ergaben. Die besitzlosen Weißen stellten im Süden das Soldatenmaterial, die Neger verblieben der Ackerarbeit und fanden bei Befestigungs- und anderen Kriegsarbeiten Verwendung. Verhältnis­ mäßig viele, bei Ausbruch des Bürgerkrieges noch bei der schwachen regulären Armee der Vereinigten Staaten im Dienst befindliche oder bereits verabschiedete Offiziere entstammten den Südstaaten. Diese entschieden sich größtenteils für die Sache ihres Heimatstaates. Endlich kam dem Süden zugute, daß dort in den maßgebenden Staaten die republikanische Staatsform noch eine solche im besten Sinne des Wortes war. Die im Norden übliche wüste Demagogie hatte hier noch keinen Platz ge­ funden. Das alles begünstigte eine straffe Leitung, zu der die Persönlichkeit des Präsidenten der Konföderation der Süd­ staaten, Jefferson Davis, ein weiteres beitrug. Ohne besondere staatsmännische Begabung zu besitzen, war er eine sehr energische und praktische Natur; dazu brachte er als ehemaliger Offizier für die Kriegführung hinreichendes Verständnis mit und ließ

sich in richtiger Einsicht mit weitreichenden Vollmachten betrauen.

kriegsherrlichen

Der Masse der nordstaatlichen Offiziere, zum überwiegen­ den Teil auch den höheren Führern, fehlte anfänglich nicht nur jede militärische Vorbildung, sondern vor allem die natürliche Autorität, die der besitzenden Klasse im Süden ohne weiteres inne­ wohnte. Auch mangelte diesem Lande des Geschäftslebens und der gewerbsmäßigen Politiker der Opfermut und das gute Bei­ spiel der wohlhabenden Klassen, das im Süden allgemein war, weil der Anlaß dazu im Norden nicht in gleichem Maße vor­ lag. Die nicht mehr als 14 000 Mann zählende reguläre Armee wurde nur um ein Geringes vermehrt, aber starke Aufgebote von Freiwilligen brachten die Landmacht der Union sehr bald auf mehr als eine halbe Million Köpfe. Im Anfang fehlte es überall an den organisatorischen Kräften, die imstande gewesen wären, diese Massen zusammenzufassen, da es gänzlich an ge­ eigneten Kaders gebrach, auch Betrug und Unterschleife bei der Verwaltung sich zum Schaden der Armee überall breitmachten. Der Krieg erstreckte sich alsbald über ein sehr mannigfaltig gestaltetes Gebiet von mehr als der zehnfachen Ausdehnung des Deutschen Reiches oder von mehr als der Ausdehnung des europäischen Rußlands. Dieses Gebiet besaß zu jener Zeit nur eine Bevölkerung von 31 Millionen. Auch in den älteren, öst­ lichen Staaten Nordamerikas stand die Dichtigkeit der Bevölke­ rung damals noch erheblich selbst gegen die menschenleersten Gebiete Mitteleuropas zurück. Hierdurch erklärt sich zum Teil die Schwierigkeit, die für die Union die Unterwerfung der Kon­ föderation hatte. Sie wäre bei deren innerer Überlegenheit überhaupt nicht gelungen, wenn die Union nicht in der Marine ein gewaltiges Machtmittel besessen hätte, das dem Süden fehlte. Die Bedeutung der Seemacht wurde im Norden rechtzeittg erkannt. Sie ist während des Krieges von 42 auf 671 Fahrzeuge, darunter 71 Panzerschiffe und 37 große, mit schweren Geschützen armierte Dampfer angewachsen. Die Transportmittel der Handelsflotte ermöglichten die Landung an beliebigen Stellen der feindlichen Küste und der breiten Flußmündungen; sie begünstigten die Nachfuhr von Ver­ pflegung und Munition auf dem verkehrsarmen Kriegsschau-

platz. Die Flotte hat außerdem die gewaltige Aufgabe gelöst, eine Küstenstrecke von insgesamt 3900 Kilometern abzusperren. Der maritimen Kraftentfaltung der Union entsprach ihre feste Haltung nach außen hin. So vorteilhaft auf konföderierter Seite die ungleich straffere Zentralisation und die militärische Einsicht gegen die Unsicherheit und den Dilettantismus abstachen, die sich in den Dingen der Kriegführung zu Lande in Washing­ ton offenbarte, so kraftvoll trat die auswärtige Politik der Union auf. In der Wahl seines Staatssekretärs der auswär­ tigen Angelegenheiten, Seward, hatte Präsident Lincoln eine glückliche Hand gezeigt. Seward bewahrte von Anfang an, namentlich Frankreich und England gegenüber, die alsbald die Konföderation als kriegführende Macht anerkannten, eine durch­ aus folgerichtige Haltung. Er ließ die europäischen Westmächte nicht im Zweifel darüber, daß jede Begünstigung der Konföde­ ration oder gar die Anerkennung ihrer Selbständigkeit von der Union als Kriegsfall betrachtet werden würde. Napoleon III., der damals gerade in das mexikanische Unternehmen verwickelt war, zeigte sich zur Einmischung geneigt, England aber zog es vor, aus dem Bürgerkriege in Amerika nur Handelsvorteile zu ziehen und einen Vorsprung vor der amerikanischen Handels­ flotte zu gewinnen, die vor dem Kriege fast die englische erreicht gehabt hatte. Es trat hier hervor, wie sehr ein Krieg, in den eine Welthandel treibende Nation verwickelt ist, von einer dritten, unbeteiligten ausgenutzt werden kann. England hat nebenbei nichts unterlassen, die Konföderation soweit zu unter­ stützen, wie es ohne offenen Bruch mit der Union möglich war. Es hat vor allem südstaatlichen Kaperschiffen Zuflucht in seinen Häfen gewährt. Darüber hinaus aber ist England nicht ge­ gangen. „Die weitere Entwicklung der Dinge hat gelehrt, daß England damit die letzte Gelegenheit, seine Stellung als Welt­ macht in Amerika neben den Vereinigten Staaten dauernd zu sichern, verpaßt hat. Hätte es seine Flotte eingesetzt und dem Süden die See freigehalten, so würde es dem Norden trotz seiner großen numerischen Überlegenheit schwer, ja unmöglich gewesen sein, den Süden zu erdrücken*)." Eine Weltpolitik im eigentlichen Sinne hat damals selbst den europäischen West-

möchten ferngelegen, ihre Aufmerksamkeit galt doch vorzugs­ weise europäischen Angelegenheiten, abgesehen von rein kolo­ nialen Interessen. So ist es denn dem Norden gelungen, den Abfall der Südstaaten zu vereiteln und damit der Union ihre jetzige Machtstellung zu sichern. Hätte er seine Kraft nicht voll an die Erhaltung der Union setzen können, so wäre eine Spal­ tung des nordamerikanischen Kontinents eingetreten, die von weittragenden Folgen für die Gestaltung der heutigen Welt hätte sein müssen. Die lange Dauer des Krieges ist vor allem dem Umstände zuzuschreiben, daß er von beiden Seiten durch Milizen geführt wurde, denen eine eigentliche Offensivkraft fehlte, und daß der Norden auf dem Kampfentscheidungsfelde in Virginien dem südstaatlichen Feldherrn, Lee, keinen ebenbürtigen Gegner ent­ gegenzusetzen hatte. Auch Grant, dessen Erfolge im Westen, am Mississippi, ihm einen großen Ruf verschafft hatten, ver­ sagte, als er 1864 den Oberbefehl auf dem östlichen Kriegsschau­ platz übernahm. Es gelang ihm nicht, die um die Hälfte schwächere Armee Lees zu erdrücken. Die nordstaatliche Armee verlor das Vertrauen in ihre Führer, sie begann auch an Grant irre zu werden. Die schweren Verluste des Sommers 1864 machten eine Kongreßakte notwendig, die abermals 500 000 Freiwillige zu den Waffen rief. Die Staatsschuld wuchs fort­ gesetzt, Niedergeschlagenheit und Kriegsmüdigkeit nahmen im Norden zu. Das Vordringen des Generals Sherman nach Georgien, das nach und nach die Verbindungen der konföderierten Hauptstadt Richmond mit den südlichsten Staaten unter­ band, wirkte nicht schnell genug, um die Stimmung bald wieder heben zu können. Für einen großen, länger andauernden Krieg war die Union in keiner Weise vorbereitet gewesen. Einige, gleich nach Ausbruch des Krieges aufgenommene sechsprozentige Anleihen halfen nur für den Augenblick. Eine vom Kongreß im Sommer 1861 genehmigte Anleihe von 250 Millionen Dollars war nach anfänglichen Mißerfolgen in Virginien nur schwer unterzu­ bringen. Es war noch ein Glück für den Norden, daß die Einzelstaaten und die Gemeinden, denen die Aufstellung und Ausrüstung der Freiwilligenkorps oblag, größeren Kredit ge­ nossen als der Bundesstaat, weil dessen Bestand bis gegen Ende

des Krieges dauernd gefährdet schien. Die Zentralregierung mußte sehr bald zur Papiergeldwirtschaft übergehen. Den Kurs suchte man dadurch zu halten, daß die Scheine in sechsprozentige Bonds umgetauscht werden konnten. Davon wurden für 500 Millionen Dollars, mit Rückzahlbarkeit von 5 bis zu 20 Jahren, ausgegeben. Die Zinsen dieser Bonds sollten in Metallgeld gezahlt und hierfür die Zolleinnahmen verwendet werden. Trotz dieser Maßnahmen stieg das Goldagio gegen Papiergeld Ende 1862 auf 60 vom Hundert und zu Anfang des Jahres 1863 verfchlechterten sich die Staatsfinanzen infolge einer Niederlage in Birginien abermals. Schon hatten 900 Millionen Dollars neuer Anlagen bewilligt werden müssen, und ein Ende des Krieges war immer noch nicht abzusehen. Erst die Gewinnung des ganzen Mississippi-Laufes während des Sommers 1863 brachte eine Besserung. Der Süden sah sich dadurch von seinen getreidebauenden Weststaaten abgeschnitten. Die wirtschaftliche Lage begann sich nunmehr zu heben. Der Krieg ließ neue große Industrien entstehen. Die Ausfuhr war freilich durch den erfolgreichen Kaperkrieg der Konföderierten stark beein­ trächtigt. Allein die von dem konföderierten Kreuzer Alabama aufgebrachten Prisen wurden auf 80 Millionen Franken geschätzt. Man fand sich im Norden bei den sich allmählich bessernden wirtschaftlichen Verhältnissen schließlich mit der schlechten Lage der Staatsfinanzen und dem Papiergeld ab, da man sie als einen vorübergehenden Zustand betrachten lernte. Es waren allerdings Anfang 1864 nicht weniger als 544 Millionen Dol­ lars an Papiergeld im Umlauf. Jeder Mißerfolg, den Lees überlegene Feldherrnkunst den Waffen der Union brachte, gab Anlaß zu neuen Kursrückgängen. Das Goldagio, das nach Gewinnung der Mississippi-Linie im Vorjahre auf 22 vom Hundert gefallen war, stieg 1864 bis auf 130 vom Hundert, zeitweilig sogar auf 185 vom Hundert, als ein konförderiertes Streifkorps plötzlich vor Washington erschien. Nach der Waffen­ streckung Lees im April 1865 fiel es dann auf 35 vom Hundert. Die Menge des umlaufenden Papiergeldes ist vom Dezember 1864 ab dadurch eingeschränkt worden, daß es zum Teil in eine Anleihe von 600 Millionen Dollars in 7^ prozentigen Schatz­ scheinen umgewandelt wurde. Der Reichtum dieses Landes von

damals wirklich noch „unbegrenzten Möglichkeiten" hat bewirkt, daß die finanzielle Krisis, die durch den Krieg veranlaßt wurde, überstanden wurde, ohne schwere dauernde Erschütterungen hervorzurufen. Das Anschwellen der Staatsschuld von 54 Mil­ lionen Dollars vor dem Kriege auf 2682 Millionen Dollars bei dessen Beendigung mit 721 Millionen Dollars Papiergeld im Umlauf wäre zu jener Zeit für jedes andere Land unerträg­ lich gewesen. Trotz alledem ist es begreiflich, daß im Sommer 1864 die Stimmung im Norden unter dem Druck dieser Verhältnisse und bei dem Versagen der Kriegführung auch Grants Lee gegenüber sich stark dem Frieden zuneigte, um so mehr, als weitere flüssige Mittel augenblicklich nur durch Steuererhöhun­ gen aufzubringen waren. Präsident Lincoln wies es daher nicht von der Hand, mit Vertrauensmännern des Südens in Unterhandlungen zu treten, die auf neutralem kanadischen Ge­ biet stattfanden. Lincoln erklärte sich auf eine friedliche Äuße­ rung des feindlichen Präsidenten hin zu weitgehenden Zuge­ ständnissen bereit und bestand nur auf Wiederherstellung der Union und Abschaffung der Sklaverei. Jefferson Davis be­ teuerte, daß er nicht minder friedlich gesinnt sei, und daß der Süden nicht für die Aufrechterhaltung der Sklaverei, wohl aber für seine Unabhängigkeit fechte. Auf dieser müsse er jetzt nach den gebrachten Opfern bestehen und für sie würde er bis zum letzten Mann kämpfen. Nicht mit Unrecht konnte er damals darauf Hinweisen, daß nicht Richmond, wohl aber Washington gefährdet sei, denn die konföderierte Hauptstadt sei nicht ein­ geschlossen. Er übertrieb freilich, wenn er die militärische Ge­ samtlage des Südens als günstiger bezeichnete, wie die des Nordens, ebenso, wenn er die finanziellen Schwierigkeiten des Südens nicht gelten lassen wollte. Wenn auch sein Papiergeld wertlos sei, so hafteten doch dafür gewaltige Baumwollenlager, während der Norden ein solches Pfand nicht aufzuweisen habe. Der Süden habe überhaupt keine auswärtigen Gläubiger, wäh­ rend der Norden der ganzen Welt schulde. Der sezessionistische Präsident gestand weder Mangel an Kriegsmaterial noch an Verpflegungsmitteln zu, da die Konföderation, wiewohl sie von ihren jenseits des Mississippi gelegenen Staaten getrennt sei, immer noch über ein ansehnliches, ertragreiches Gebiet verfüge.

Die von Jefferson Davis zur Schau getragene Zuversicht entsprach der tatsächlichen Wirtschaftslage des Südens nicht. Selbst wenn dieser sich als unabhängiger Staat hätte behaupten können, so wäre bei seiner uneingeschränkten Papiergeldwirt­ schaft der Staatsbankerott nach dem Friedensschlüsse unaus­ bleiblich gewesen. Einer Pariser Anleihe von 75 Millionen Dollars dienten bereits die erwähnten Baumwollvorräte als Pfand. Der Staat hatte sie sich gegen Kredit übertragen lassen, da sie augenblicklich ohnehin nicht ausgeführt werden konnten. An inneren Anleihen gelang es bis Anfang 1863 nur 145 Mil­ lionen Dollars aufzubringen. Nur durch äußerst drückende Steuern konnten die Mittel zur Kriegführung beschafft werden. Die Landwirtschaft wurde zu Naturallieferungen im Werte von 145 Millionen Dollars herangezogen. Der Handel stockte in­ folge der Blockade, wenn es auch häufig gelang, diese gewaltsam zu durchbrechen. Ähnliche Mittel zur Geldbeschaffung, wie sie der Norden verwandte, wurden auch im Süden versucht, bei dem Stillstand des Verkehrs indessen mit entsprechend geringerem Erfolge. Es zeigte sich das darin, daß im Sommer 1864 das Goldagio auf 3500 vom Hundert, im Januar 1865 auf 6000 vom Hundert stieg. Da die Union nach Niederwerfung der Kon­ föderation deren Kriegsschuld nicht anerkannte, sind im ganzen über 2% Milliarden Dollars südstaatlicher Wertpapiere voll­ kommen wertlos geworden. Bei einer Haltung, wie sie der leitende Staatsmann des Südens, ungeachtet dessen schon damals fast hoffnungsloser Finanzlage, im Sommer 1864 einnahm, war auf eine Ver­ ständigung zwischen den kriegführenden Parteien nicht zu rechnen, wiewohl Lincoln sich bereits geneigt zeigte, sogar in der Sklavenfrage nachzugeben und nur auf Wiederherstellung der Union unbedingt bestand. Es gereicht Grant zum Ruhme, daß er in dieser Krisis keinerlei Anwandlung von Schwäche gezeigt hat. Mit dem sicheren Instinkt des Soldaten erkannte er, daß der Süden am Ende seiner Leistungsfähigkeit ange­ langt, daß sein gänzlicher Fall nur eine Frage der Zeit sei, und daß seine einzige Hoffnung auf den Spaltungen des Nor­ dens beruhte. Er hat diese Auffassung mit Nachdruck in Washington vertreten, und die Ereignisse haben ihm recht gegeben. Die Konföderation ist jedoch nicht der Macht der

Waffen ihrer Gegner erlegen, sondern infolge der Unterbindung ihrer Lebensadern durch die Armee des Generals Sherman, die von Süden durch Nord-Karolina anrückte. Als Lee die Un­ möglichkeit erkannte, sich in den verschanzten Linien von Rich­ mond—Petersburg länger zu halten, machte er den Versuch, in südwestlicher Richtung abzumarschieren, um den Widerstand, wenn möglich, im freien Felde fortzusetzen. Er ist dann ge­ nötigt worden, mit den Trümmern der Armee von NordVirginien, mit der er vier Jahre hindurch mit Erfolg das Feld behauptet hatte, am 9. April zu kapitulieren. Die Waffen­ streckung der übrigen noch im Felde stehenden konföderierten Korps folgte alsbald nach. Die Opfer, die der große Bürger­ krieg vom Norden gefordert hat, werden auf mehr als eine halbe Million Menschenleben, die Kosten auf mehr als das Zehnfache der nach dem Kriege von 1870/71 von Frankreich an Deutschland gezahlten Kriegsentschädigung berechnet. Der Wohl­ stand des Südens war völlig vernichtet, er trug Wunden davon, die erst nach Generationen verheilen konnten. Es bedarf nicht des ausdrücklichen Hinweises, in wie hohem Grade dieser Krieg in mancher Hinsicht an den Weltkrieg ge­ mahnt. Seinen wirtschaftlichen Anlaß und Hintergrund, die Abschnürung der Südstaaten zur See und zu Lande, ihr vier­ jähriger heldenmütiger Widerstand gegen eine überwältigende Überzahl, das alles wissen wir jetzt weit besser an Selbst­ erlebtem zu würdigen, als die europäischen Zeitgenossen des großen Krieges in der neuen Welt. Und doch ist ein Unterschied in dem Kampfe der Südstaaten und dem unsrigen. Dem Wider­ stände bis aufs äußerste, wie ihn die Konförderierten geleistet haben, hat sich das deutsche Volk versagt. Gewiß, in den Süd­ staaten handelte zuletzt alles unter dem harten Druck der Ver­ zweiflung. Für die „Rebellen" gab es kein Paktieren mehr, auf Zugeständnisse konnten sie nicht rechnen. Aber war unsere Lage im Herbst 1918 nicht ähnlich? Drohte nicht auch uns das Schlimmste? Hat es uns nicht etwa der Friede gebracht? Die Sache der Konföderation wurde erst verloren gegeben, als tat­ sächlich alle Mittel des Widerstandes erschöpft waren, wir aber besaßen solche noch. Das große, einst so stolze deutsche Volk hat es den Bewohnern des nordamerikanischen Südens nicht gleichgetan. Es schien sich an ihm in einem vierjährigen Kampfe

das Wort von Clausewitz*) vollauf bestätigen zu sollen: „Nur wenn Volkscharakter und Kriegsgewohnheit in beständiger Wechselwirkung sich gegenseitig tragen, darf ein Volk hoffen, einen festen Stand in der politischen Welt zu haben." Der Volkscharakter aber erwies sich den Lockungen international gerichteter Parteien gegenüber nicht stark genug. Seitdem ist unser fester Stand in der politischen Welt dahin.

11. Oer neuzeitliche Imperialismus. In dm außerdeutschen Ländern.

In seinem Buche „Das Zeitalter des Imperialismus"**) führt Heinrich Friedjung aus, daß im 19. Jahrhundert sich nach­ einander das Überwiegen von drei verschiedenen Jdeenrichtungen geltend gemacht habe. Der liberalen sei die nationale, ihr die imperialistische Richtung gefolgt. Unter Imperialismus versteht Friedjung den Drang der Völker und der Machthaber nach einem wachsenden Anteil an der Weltherrschaft zunächst durch überseeischen Besitz. So sehr der Imperialismus sich nach dieser Richtung am Ausgang des letzten Jahrhunderts bemerk­ bar macht, so wenig ist er doch eine nur ihm oder auch nur vor­ waltend ihm eigene Erscheinung. Wir begegneten ihm bereits im alten Rom, woher sein Name stammt, und in der Ausbrei­ tung des englischen Kolonialreichs, er ist aber außerdem seit zwei Jahrhunderten der leitende Gedanke der russischen Politik. Der Begründer der europäischen Machtstellung Rußlands ist Peter der Große. Er faßte am Schwarzen Meere und an der Ostsee Fuß. Hier kündigte die Erbauung von Petersburg den Anbruch einer neuen, europäischen Periode Rußlands an. Im Nordischen Kriege griff der Zar bestimmend in die Geschicke Polens ein***). „Im scharfen Gegensatz zu dem zersplitterten Westeuropa bildet die gewaltige Ländermasse Rußlands ein politisches Ganzes. Die Voraussetzung hierfür ist dieselbe wie bei den Vereinigten Staaten: das Fehlen von inneren Grenzen innerhalb des großen Landkomplexes. Die Einheit und die *) Bom Kriege, HI. Buch, 6. Kapitel. **) Das Zeitalter des Imperialismus 1884—1914. I. Berlin 1919. ***) Bgl. S. 111.

Solidarität der Natur motivieren die der politischen Karte*)." überblickt man diese, so ist ohne weiteres einleuchtend, daß solcher Landkoloß dem Meere zudrängen mußte. Die deutsche Politik hätte sich während des Weltkrieges dessen bewußt sein müssen und aus der geographischen Gestalt Osteuropas sowie aus der russischen Geschichte heraus bestimmte Weisungen an die Heeres­

leitung darüber ergehen lassen müssen, was im Osten zu erstreben sei, statt die Dinge zu einer unfruchtbaren Randstaaten­ politik treiben zu lassen. Wenn es jetzt den Randstaaten ge­ lingen sollte, sich von Rußland unabhängig zu machen, so wird dieses immer nur in beschränktem Maße möglich sein. Wirt­ schaftlich bedarf das gewaltige Hinterland jedenfalls der Zu­ gänge nach der Ostsee. Die räumlichen Verhältnisse sind in solchem Falle entscheidend. Für das im Verhältnis zu Ruß­ land sehr viel beschränktere Polen bestand die Notwendigkeit des Korridors nach dem Meere durch Westpreußen nicht. Hier hätte das Zugeständnis wirtschaftlicher Freiheit von deutscher Seite durchaus genügt**). Peter der Große hatte am Schwarzen Meere sich den Türken gegenüber auf die Dauer nicht zu behaupten vermocht. Erst unter der Kaiserin Anna sicherten Münnichs Erfolge Ruß­ land den Besitz von Asow. Katharina hat alsdann die Aus­ dehnungspolitik in großem Maße wieder ausgenommen, wie es hinsichtlich Polens bereits erwähnt wurde. Neben den polnischen Erwerbungen, die Rußlands unmittelbaren Ein­ fluß auf Mittel- und Westeuropa sicherstellten, erfolgten solche auf Kosten der Türkei. Ihr wurde nacheinander das gesamte Küstengebiet des Schwarzen Meeres einschließlich der Krim von den Westhängen des Kaukasus bis zum Dnjestr abgerungen. Die ersten asiatischen Erwerbungen waren bereits 200 Jahre früher erfolgt. Ende des 16. Jahrhunderts drangen Kosaken in Si­ birien bis zum Ob vor. Ende des 17. Jahrhunderts war ganz Sibirien mit Einschluß Kamtschatkas russisch. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurde China zur Abtretung des AmurGebiets bewogen und damit ein Ausgang zum Stillen Ozean gewonnen. Der hier angelegte Kriegshafen erhielt den ver*) Kjellen, Die Großmächte der Gegenwart. **) Vgl. S. 163.

heißungsvollen Namen Wladiwostok, Beherrscherin des Ostens. Nikolaus I. hatte im Frieden von Adrianopel 1829 von der Pforte nur die Befreiung Griechenlands und die Schutzherrschaft über die Donau-Fürstentümer und Donau-Mündungen erlangt, auch diese Errungenschaften gingen im Krimkriege ebenso wie die Herrschaft über das Schwarze Meer verloren. Dafür setzte unter Alexander II. ein erfolgreiches Vordringen in Mittel-Asien ein. Nachdem bereits 1828 Teile von Nordpersien gewonnen waren, wurde bald nach Beendigung des Krimkrieges die Unterwerfung des Kaukasus vollendet, Turkestan dem Reiche einverleibt. Es folgten die Eroberungen von Samarkand und Chiwa sowie die Unterwerfung der Tekke-Turkmenen. Nach dem Orientkriege von 1877/78 wurde Rußland auf dem Berliner Kongreß Bessarabien und ein Teil Armeniens zugesprochen. Eine Aufzählung der russischen Eroberungen im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte könnte bei flüchtiger Betrachtung den Eindruck bloßer Willkürlichkeit erwecken, und doch finden diese Erwerbungen wenigstens zum Teil eine natürliche Er­ klärung. Dem Streben nach einem Ausgang zum Meere im Norden und Süden des europäischen Rußlands folgte ein solches im Osten für das ungeheure nordasiatische Ländergebiet. Dieses wiederum war durch die geringe Erhebung des Ural vom euro­ päischen Rußland nicht eigentlich geschieden, vielmehr erscheint der europäische Teil des Reiches gewissermaßen als ein nach Europa vorspringender westlicher Ausläufer des asiatischen Steppenlandes, wie das Mündungsland der Wolga als ein solcher der Steppengebiete Mittelasiens. Die Sicherung des Reiches gegen räuberische Nomaden-Horden bildete hier den äußeren Anlaß zu immer weiterer Ausbreitung des Reiches. Der mächtige Gebirgswall des Kaukasus, der zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meere eingelagert war und sich im Besitz unabhängiger Bergvölker befand, mußte in den Bereich der an beiden Meeren sich festsetzenden Zarenherrschaft mit ein­ bezogen werden. Die imperialistische Politik seiner Herrscher fand zwar unter den Altrussen, die Peters des Großen gesamte Politik verwarfen, lange Zeit keine Anerkennung, dagegen im russischen Volke mehr und mehr einen günstigen Boden. Es war seit der Tatarenherrschaft gewohnt, geknechtet zu werden. Der Despotismus ist für Rußland im Grunde die geeignetste,

wenn nicht allein mögliche Staatsform. So wenig schön seine Äußerungen unter der Zarenherrschaft gewesen sein mögen, so hat das Land ihn jetzt in einer weit schlimmeren Form in Gestalt der Diktatur seiner bolschewistischen Machthaber. Die starke Volksoermehrung, der Landhunger des russischen Bauern, die argen Mißstände der Verwaltung im Innern, die vielen die Heimat verleideten, das alles hat der Eroberungssucht stets Vorschub geleistet, wenn auch bei dem gewaltigen Flächenraum allein schon des europäischen Rußlands von einer Übervölkerung und der Notwendigkeit einer gewaltsamen Kolonisation, wie sie in Mittel- und Ostasien zum großen Teil erfolgte, nicht gesprochen werden kann. Das stete Vordringen der Russen erklärt sich zum Teil durch die bestehenden geographischen Bedingungen und weiter durch die Natur der großrussischen Bauernschaft. Man kann bei dieser wohl von einem Bolksimperialismus sprechen, wie er sich jetzt wieder in bolschewistischem Gewände zu regen scheint. Der Russe steht außerdem mit seinem starken tatarischen und finnischen Einschlag den Völkerschaften Asiens verhältnis­ mäßig nahe. Rußland verfügte sonach über das geeignete Menschenmaterial, dort eine Kulturaufgabe zu vollziehen, die unbestreitbare Erfolge aufzuweisen gehabt hat, wie sie in den gewaltigen Werken der Sibirischen und Transkaspischen Eisen­ bahnen zutage traten. Die imperialistische Politik ist freilich zeitweise weit über das gebotene Maß hinausgegangen. Schon unter Katharina hat sich eine starke Überspannung der Kraft des Landes geltend gemacht. „Die Dulderkraft der Nation," schreibt Schiemann*), „machte es möglich, ihr jedes Opfer zuzumuten, und die nicht­ russische Welt sah doch nur den Erfolg, das stetige Wachsen des russischen Kolosses. . . . Die Kaiserin arbeitete mit der realen Macht Rußlands ebenso sehr wie mit dem Schein und verstand es, ihren Einfluß in den großen politischen Fragen der Zeit überall aufrechtzuerhalten. . . . Das Fazit war aber eine unge­ heure Steigerung des russischen Einflusses." Vollends feit in Alexanders Händen nahezu die Gesamtpolitik des europäischen Kontinents lag, die zur Niederwerfung Napoleons geführt ’) A. a. O. I.

hatte, mußte die Macht Rußlands weit größer erscheinen, als sie tatsächlich war. Mit diesem Schein hat die russische Diplo­ matie unter Nikolaus I. erfolgreich weitergearbeitet. Der Kaiser selbst bezifferte seine Heeresmacht auf mehr als eine Million Streiter, davon 600 000 bis 700 000 stets bereiter Feldtruppen, und doch konnten 1828 gegen die Türkei nur wenig über 100 000 Mann verfügbar gemacht werden, nicht viel mehr 1830 gegen Polen, wie gezeigt wurde*). Die gewaltige Ausdehnug des russischen Reiches und feine mangelhaften Verkehrsverhältmsse erschwerten es stets, operationsbereite Armeen rechtzeitig zu versammeln. Man hat unseren Diplomaten der neuesten Zeit häufig den Vorwurf gemacht, daß sie die wahren Verhältnisse in fremden, uns feindlich gesinnten Ländern nicht erkannt hätten. Auch damals hat sich jedoch Europa über die wirkliche Macht Rußlands andauernd getäuscht, obwohl die geschichtliche Er­ fahrung im Verein mit auch nur oberflächlichen geographischen Kenntnissen die Wahrheit hätte offenbaren müssen. Von den 400 000 Mann, die Rußland während des Krimkrieges auf Kriegsfuß hatte, find 1855 nicht mehr als 185 000 gegen 220 000 Mann der Verbündeten zur Verwendung auf dem entlegenen Kriegsschauplätze, der Krim, den zu jener Zeit noch keine Eisen­ bahn mit dem Kern des Landes verband, zur Verwendung ge­ langt. 1877 sahen sich die Russen bald nach überschreiten der Donau überall in die Verteidigung gedrängt. Wiederum war der Feldzug mit viel zu geringen Kräften eröffnet worden. Auch in der Mandschurei waren die Russen 1904 im Anfang viel zu schwach, erst 1914 ist es ihnen gelungen, das Schwergewicht ihrer Massen rechtzeitig in die Entscheidung zu werfen. Bis dahin hatten ihre Ansprüche niemals im rechten Verhältnis zu ihrer Leistungsfähigkeit gestanden. Erschwerend wirkte hierbei, wie Spahn hervorhebt**), die Ungunst der Lage Rußlands zu den Weltmeeren und dabei die Vielheit seiner Anschlüsse an diese, die noch dazu an der Ostsee und am Schwarzen Meere nur mittelbare in Gestalt von Binnenmeeren waren. „Sein ohnehin fast überweites Gebiet wurde dadurch in alle Windrichtungen auseinandergezogem

Nicht nur litt seine Wirtschaftspolitik darunter, auch die Vor­ teile seiner strategischen Lage wurden eingeschränkt. Es fiel ihm zu schwer, seine äußere Politik mit Ausdauer auf bestimmte, klar erkannte Ziele einzustellen." Wohl übertraf das russische Volk, die europäischen und asiatischen Provinzen zusammen­ gerechnet, vor dem Weltkriege das deutsche an Zahl fast um das Dreifache, aus seiner Masse aber konnten nicht die gleichen poli­ tisch wertvollen Kräfte wie aus mittel- und westeuropäischen Völkern herausgeholt werden. Das hat Kuropatkin ge­ fühlt und als Kriegsminister vor dem Kriege gegen Japan dem Zaren gegenüber betont. Der General führt in seinen Rechenschaftsberichten aus, daß von 130 Millionen Einwohnern des europäischen Rußlands und Polens 40 Millionen, die an den Grenzen wohnten, unzufriedene Fremdvölker seien. Einer weiteren Ausdehnung des Reichs müsse er daher unbedingt widerraten. Erst wenn später einmal 400 Millionen Menschen Rußland bewohnten, solle man die Expansionspolitik wieder aufnehmen. Alsdann würde diese gewaltige Masse von selbst nach den eisfreien Ozeanen drängen, von denen Rußland zurzeit, und das ohne Schaden, noch ausgeschlossen sei. Die abmahnende Stimme des Generals blieb eine vereinzelte. Das die Jahr­ hunderte durchziehende Streben Rußlands nach der Vorherr­ schaft auf dem Balkan und nach dem Gewinn Konstantinopels entsprang dem Wunsche, durch den Besitz der Dardanellenstraße den Ausgang nach dem offenen Mittelmeer zu gewinnen. Der Widerstand Napoleons I. und später in verstärktem Maße Eng­ lands, den es auf diesem Wege fand, erklärt sich aus dem Inter­ esse der Westmächte, Rußland nicht zu einer Mittelmeermacht werden zu lassen. Von jeher haben religiöse und panslawistische Beweggründe in Rußland bei dem Streben nach dem Gewinn Konstantinopels stark mitgesprochen. Bereits Feldmarschall Münnich hatte die Kaiserin Katharina I. auf Konstantinopel als erstrebenswertes Ziel hingewiesen. Es schien unter Katharina n. nähergerückt. Schon der Name ihres zweiten Enkels Konstantin deutete dar­ auf hin. Alexander II. war 1877 persönlich einem Kriege durch­ aus abgeneigt, aber die slawophile Strömung in der Nation hatte eine solche Gewalt angenommen, daß er sich genötigt sah, ihr nachzugeben. Die revolutionäre Gärung im Innern des

Reichs bedurfte eines Auswegs. Nur wenige hochstehende Russen urteilten damals inmitten der allgemeinen Erregung zu­ gunsten der slawischen Brüder auf dem Balkan nüchterner. In der klaren Erkenntnis, daß Gefühlspolitik einem großen Reiche nur Schaden bringen könne, schrieb damals der alte Fürst Wja­ semski, ein Vertreter der geistigen Elite Rußlands*): „Re­ gierungen dürfen sich nicht von sentimentalen Regungen hin­ reißen lassen. Sie müssen nach Grundsätzen verfahren. Ich glaube nicht an eine bewußte Tiefe und Nachhaltigkeit der jetzigen Volksbewegung. . . . Sollen wir denn unsere Knochen und unser Blut für die Serben opfern? . . . Darin liegt eben das Mißverständnis, daß wir uns mehr als Slawen fühlen, denn als Russen. Die Glaubensgemeinschaft darf hier nicht mit­ sprechen. Ein Religionskrieg ist der törichtste von allen. Er ist eine Anomalie in unserer Zeit. Was können die Türken dafür, daß Gott sie als Mohammedaner zur Welt kommen ließ? Wir aber fordern von ihnen Werke christlicher Wohltätigkeit, das ist unsinnig. Man treibe sie aus Europa hinaus, wenn man es vermag, oder man taufe sie, wenn man es kann, wenn aber nicht, soll man sie und die ganze orientalische Frage in Ruhe lassen. Glauben die Leute etwa, daß Rußland sich durch die Kraft der aufständischen Balkanslawen verstärken wird? Das Gegenteil wird eintreten. Wir werden uns in den Be­ freiten nur undankbare und mißgünstige Nachbarn großziehen." Auch die Worte dieses Weisen und Sehers sind damals unge­ hört verhallt. Rußland hat sich nach dem Scheitern seiner ostasiatischen Politik wiederum dem nahen Orient zugewandt. Dieses Mal sollte der Weltkrieg ihm den Weg nach Konstantinopel öffnen. An die Stelle der traditionellen Feindschaft gegen England trat ein Hand in Hand gehen in den asiatischen Fragen. Im nahen Orient hoffte man jetzt in Petersburg seine Ziele ebenfalls mit England, nicht wie bisher gegen dieses, erreichen zu können. So erscheint Rußlands Treiben zum Weltkriege als ein letzter und größter Versuch, mit Hilfe eines Bündnisses von bisher noch nicht gesehener Stärke das Ziel zweier Jahrhunderte am Bosporus zu erreichen. *) Tatischtschew, Kaiser Alexander II., Sein Leben und seine Re­ gierung. n. Petersburg 1903 (russisch).

Auf die Ausbreitung der russischen Macht ist Deutschland ohne Einwirkung gewesen. Es hat sie weder zu befördern noch zu hemmen vermocht. Die großzügige Kolonialpolitik, die Frankreich nach seiner Niederlage von 1870/71 einleitete, ist anfänglich von Bismarck begünstigt worden, da er hoffte, die Franzosen auf diese Weise von der Revancheidee ableiten, wenn nicht gänzlich heilen zu können. 1881 unterwarf sich Frankreich Tunis und schuf sich dort in Viserta einen Kriegshafen. 1885 setzte es sich auf Madagaskar fest, das 1896 ganz französische Kolonie wurde. 1885 folgte die Abtretung von Tonkin und Annam von China. Der hinterindische Besitz ist dann 1893 durch Abtretung weiterer zu Siam gehöriger Gebiete noch erweitert worden. Allmählich ist ferner der Kolonialbesitz Frankreichs in Äquatorial-Afrika so ausgedehnt worden, daß es dort neben England die erste Macht war. Sein Gebiet umfaßte hier 1914 nicht weniger als 9 400 000 Quadratkilometer mit 26 Millionen Einwohnern. Frankreich hat schließlich auf das letzte noch nicht zur Aufteilung gelangte afrikanische Gebiet, auf Marokko, die Hand gelegt und sich trotz der Algeciras-Akte zum alleinigen Herrn des Landes gemacht. Die Kolonialpolitik Frankreichs trägt in weit höherem Maße den Stempel des Imperialismus an sich, wie das Aus­ dehnungsbestreben anderer Völker. Kjellen weist auf den Wider­ spruch hin*), der für einen Staat besteht, wenn er in großem Stil Ausdehnungspolitik betreibt und gleichzeitig an Bevölke­ rungsabnahme krankt. Er sagt: „Eine Kolonialmacht muß doch im Nationalbedürfnis eine raison d'etre haben: Platz für die überflüssige Bevölkerung oder Markt für überströmende Pro­ duktion oder Gelegenheit für den Überfluß an Kapital. Aber Frankreich hat keinen Überfluß an Bevölkerung mehr und auch nicht an Produktion, und das Kapital sucht sich direktere Wege. Materiell betrachtet, ist diese Expansionspolitik ein schlechtes Geschäft; nur durch ein straffes Zollsystem kann das Mutter­ land einen befriedigenden Teil der Ernte auf dem kolonialen Markt einheimsen. Sonst gewährt diese Politik nur braune und schwarze Söldnerheere, um die Lücken in der Revanchearmee auszufüllen, während die Reibungsflächen und die Angriffs*) Die Großmächte. Freytag-Loringhoven, Angewandte Geschichte

punkte im Reiche immer zunehmen. Auch hier zeigt sich also die Bevölkerungsfrage als die, welche alles überschattet und schließ­ lich entscheidet. Ein Mutterland, das kaum seine eigene Ein­ wohnerzahl aufrechterhalten kann, wird wohl die Kosten an Geld und Leuten nicht lange aufbringen können, welche diese hohe Politik erfordert. Nichtsdestoweniger schreitet es auf der Bahn weiter. Immer noch begehrt Frankreich den Glanz neuer, großer Zahlen um seinen Namen in den Staatskalendern, immer noch kämpft es darum, seine auch in der geistigen Kultur sinkende Führerstellung hochzuhalten, noch immer sucht es mit sehnsüchtig ausgestreckten Händen „la gloire“, die in einer Ge­ schichte sondergleichen sein Leitstern gewesen ist, während die Anzeichen der Vergänglichkeit sich an seinem eigenen Körper häufen." Diese unmittelbar vor Beginn des Weltkrieges niederge­ schriebenen Worte des schwedischen Gelehrten sind vollauf bestätigt worden. Nur mit Hilfe seiner braunen und schwarzen Söldnertruppen hat Frankreich den Krieg durchhalten können. Trotzdem wäre es ohne den gewaltigen Kräftezuschuß, den ihm seine Bundesgenossen brachten, uns sehr bald erlegen. Materiell hat Frankreich, wie richtig gesagt worden ist, den Krieg verloren. Die Ansprüche, die es als Sieger, wenn auch nicht als solcher xiuf dem Schlachtfelde, erhebt, stehen in keinem Verhältnis mit seiner tatsächlichen Kraft. „La gloire“ ist auch weiterhin sein „Leitstern". Alle seine großen Worte und bru­ talen Machenschaften aber vermögen nicht seine „sinkende geistige Kultur und die Anzeichen der Vergänglichkeit an seinem Körper" zu verschleiern. Durch seine eigene Schuld wehr- und ehrlos geworden, kann Deutschland den Folgen französischen Hasses augenblicklich nichts Wirksames entgegensetzen, für die Zu­ kunft aber mag es einen Trost darin sehen, daß Frankreich mit der Zeit an der Überspannung seiner imperialistischen Politik zugrunde gehen muß. Das dunkle Vorgefühl hiervon mag im Unterbewußtsein seiner führenden Männer leben. Es bildet Neben der Jahrzehnte hindurch getriebenen Propaganda des Hasses vielleicht eine Erklärung für ihr unstaatsmännisches, jeder vernünftigen Einsicht unzugängliches und damit in erster Linie für Frankreich schädliches Verhalten. Im Gegensatz zu Frankreich sah sich Japan zu einer Aus-

dehnungspolitik gezwungen, weil es die Lebensbedürfnisse des überoölkertenLandes nicht anders befriedigen konnte. Seinüber­ greifen nach dem asiatischen Festlande erfolgte daher nicht aus bloßem Machthunger, sondern aus einem wirklichen Bedürfnis der Nation. Das gleiche läßt sich von Amerika nicht behaupten. Seine Erwerbungen außerhalb des nordamerikanischen Fest­ landes entspringen reinem Machttriebe. Sie Widerstreiten der Monroelehre. Wirkliche Lebensbedürfnisse des Volkes liegen dieser Politik nicht zugrunde, da das Land sich durchaus selbst genügen, seine kolonisatorischen Bestrebungen im Innern ent­ falten könnte. So findet denn auch die imperialistische Politik in den Vereinigten Staaten nicht durchweg Billigung. Schon verwahrt man sich dort gegen etwaige weitere Verwicklung in europäische Angelegenheiten als Folge der Teilnahme am Welt­ kriege. Die imperialistischen Bestrebungen aber, die sich auf Mittelamerika richten, stoßen auf mannigfache Schwierigkeiten. Dem panamerikanischen Gedanken steht vollends in Südamerika die Verschiedenheit der Rassen hindernd im Wege. Der Entstehung der englischen Kolonialmacht ist bereits Erwähnung geschehen. Nach den Napoleonischen Kriegen haben sich die Briten den Welthändeln im ganzen ferngehalten. In der von ihnen gewonnenen Weltmachtstellung waren sie den Festlandsstaaten soweit voraus, daß sie in einer splendid Isolation nur auf die Vermehrung ihres Reichtums bedacht zu sein brauchten. Bevor durch die Einigung Deutschlands und die Niederlage Frankreichs 1870/71 eine Machtverschiebung auf dem europäischen Kontinent eintrat und bald darauf überall imperialistische Bestrebungen zum Durchbruch gelangten, hat es in England eine Richtung gegeben, die an dem Werte der Kolonien und vor allem daran zu zweifeln begann, ob ein Kolonialbesitz in dieser Ausdehnung nicht die Kräfte des Landes übermäßig in Anspruch nähme. Auf der einmal betretenen Bahn aber mußte fortgeschritten werden. Zu ihrer Sicherung bedurfte es neuer Erwerbungen. Die Nation sah sich wohl oder übel auf den Weg zum Größeren Britannien gewiesen. Der Orientkrieg führte dahin, daß sich England zur besseren Sicherung des östlichen Mittelmeers 1878 Cypern übertragen ließ. 1882 veranlaßten Unruhen in Ägypten die Entsendung eines starken Expeditionskorps, das im Lande verblieb, in dem u*

nunmehr im Grunde England allein gebot, für dessen indischen Besitz der Suez-Kanal von ausschlaggebender Bedeutung war. Zur Sicherung Ägyptens bedurfte es weiterhin der Unter­ werfung des Sudan, die 1898 vollendet wurde. Der Abzug der Franzosen von Faschoda bedeutete den Verzicht Frankreichs auf ein Äquatorialafrika durchquerendes französisches Kolonialreich und die unbestrittene Herrschaft Englands über das gesamte Niltal. In Ozeanien hatten bereits 1874 die Fidschi-Inseln Englands Besitz vermehrt. 1876 brachte die Annahme des Titels einer Kaiserin von Indien seitens der Königin Victoria, 1901 die Errichtung des Commonwealth von Australien die englische Herrschaft im Indischen und Großen Ozean zum schär­ feren Ausdruck. 1879 war durch Lord Roberts Afghanistan, das Glacis von Indien, gesichert worden. In Hinter-Indien traten 1874 alle Malayen-Staaten der Halbinsel Malakka unter englischen Schutz, 1885 wurde das große Gebiet von Birma indische Provinz. Eine während des Russisch-Japanischen Krieges unternommene Expedition nach Tibet bezog auch dieses Gebiet in die englische Einflußsphäre. Die größten Erfolge hatten die Briten in der Unterwerfung weiterer Teile Afrikas zu verzeichnen. Im äquatorialen Westafrika entstand 1886 die ausgedehnte Kolonie Nigeria, 1896 wurde an der Goldküste das Aschanti-Reich unterworfen. Die Besiegung der Zulukaffern in dem Jahre 1879 brachte deren Gebiet unter englische Ober­ hoheit. Den Buren-Republiken war dadurch der Zugang zum Indischen Ozean versperrt. Deutsch-Ostafrika sah sich im Norden von Britisch-Ostafrika, im Süden von Portugiesisch-Ostafrika, im Westen von dem 1885 anerkannten Kongostaate umklammert. Deutsch-Südwestafrika war zwischen Britisch-Südafrika, dem portugiesischen Angola und dem unter britischer Schutzherrschaft stehenden Betschuanalande eingeklemmt. Nachdem die BurenRepubliken 1902 endgültig niedergeworfen waren, hatte Cecil Rhodes Gedanke einer englischen Herrschaft durch ganz Afrika vom Kap der Guten Hoffnung bis Kairo einen bedeutenden Slyritt vorwärts getan. 1909 vollzog sich die Vereinigung der feit den Napoleonischen Kriegen in englischem Besitz befindlichen Kapkolonie mit Natal und den beiden Buren-Republiken zur Südafrikanischen Union. Ein neues unbestrittenes Herrschafts­ gebiet war hier an wichtiger Stelle für England gesichert.

Die imperialistische Politik dieser Jahre ist wesentlich be­ stimmt worden durch den Kolonialminister Chamberlain. Seine Denkweise ist gekennzeichnet durch die echt englischen Worte: „Dieses stolze, ausdauernde, auf seinem Recht (!) bestehende und entschlossene Volk der Angelsachsen, das kein Wechsel des Klimas und der Lebensbedingungen in seinem Wesen ver­ wandeln kann, ist bestimmt, die herrschende Rasse in der zu­ künftigen Geschichte der Zivilisation der Welt zu sein." Es ist Chamberlain nicht gelungen, mit seinen Gedanken einer engeren Verbindung der Kolonien mit dem Mutterlande durch einen Reichszollverein und gemeinsame Teilnahme an den Ausgaben für Flotte und Heer ganz durchzudringen, immerhin ist eine größere Annäherung zwischen dem Mutterlande und den Kolo­ nien erzielt worden, wie sie in deren opfervollen Teilnahme am Weltkriege zutage trat. 1903 äußerte Chamberlain: „Wir sind alt, niedergebeugt von Ehren und Lasten; unsere Zukunft kann nicht an unsere große Vergangenheit heranreichen; aber das Reich ist jung, und in diesem Reiche können wir eine größere Zukunft finden." Kjellen fügt hinzu*): „In dieser Rede lebt ein panbritisches Nationalgefühl im Gegensatz zum spezifisch englischen. Man hat seinen Glauben an England verloren, aber seine Hoffnung auf das Empire gerettet."

In Deutschland. Der hier gegebene flüchtige Überblick der imperialistischen Politik der übrigen Großmächte, vor allem Englands welt­ umspannende Bestrebungen, lassen erkennen, in wie hohem Maße Deutschland hierbei von Hause aus im Hintertreffen war. Zu den kontinentalen Schwierigkeiten seiner mittleren geo­ graphischen Lage traten weitere der überseeischen Politik, wie sie die Zeit forderte. Die Berechtigung kolonialer Bestrebungen lag allein schon in seiner wachsenden Volkszahl; und doch ver­ mochte es nur noch auf überseeische Gebiete die Hand zu legen, die von den übrigen Mächten bisher nicht begehrt worden waren. Darunter kam nur Südwestafrika als eigentliches Sied-

) Die Großmächte.

lungsgebiet in Betracht. Die zunehmende Industrialisierung ermöglichte zwar Beschäftigung einer weit stärkeren Bevölke­ rung auf verhältnismäßig engem Gebiet, als früher angängig gewesen war, so daß die Auswanderung kaum noch ins Gewicht fiel, machte Deutschland aber von der Einfuhr zahlreicher aus­ ländischer Nahrungsmittel und Rohstoffe abhängig. Unsere ganze Entwicklung erhielt dadurch etwas Künstliches, und doch war es für uns unmöglich, in den großen Weltfragen seitab zu stehen. In diesen Verhältnissen, bei gleichzeitig dauernd gefährdeter kontinentaler Stellung, lag die ungeheure Schwie­ rigkeit unserer Politik begründet. Sie darf nicht verkannt werden, wenn man zu einem gerechten Urteil gelangen will. „Die staatliche Einigung," schreibt Fürst Bülow*), „tjl nicht

der Abschluß unserer Geschichte geworden, sondern der Anfang einer neuen Zukunft. In der vordersten Reihe der europäischen Mächte gewann das Deutsche Reich wieder vollen Anteil am Leben Europas. Das Leben des alten Europa aber war schon lange nur noch ein Teil des gesamten Völkerlebens. Die aus­ wärtige Politik war mehr und mehr Weltpolitik geworden. Die weltpolitischen Wege waren auch für Deutschland geöffnet, als es eine mächtige und gleichberechtigte Stelle neben den alten Großmächten gewann. . . . Erst nach der staatlichen Einigung und der politischen Erstarkung Deutschlands war die Entwick­ lung der deutschen Volkswirtschaft zur Weltwirtschaft möglich. Erst nachdem das Reich seine alte Stellung in Europa gesichert sah, konnte es daran denken, für die Interessen einzutreten, die deutsche Unternehmungslust, deutscher Gewerbfleiß und kauf­ männischer Wagemut in aller Herren Länder geschaffen hatten. Gewiß sah Bismarck den Verlauf dieser neuen deutschen Ent­ wicklung, die Aufgabe dieser neuen Zeit nicht im einzelnen vor­ aus und konnte sie nicht voraussehen." Für uns aber, meint Fürst Bülow, habe die Frage so gelegen, ob wir die vor uns liegenden neuen Wege beschreiten, die Weltpolitik riskieren, oder ob wir in Besorgnis um die eben gewonnene Macht vor wei­ terem Wagen zurückschrecken sollten. Wenn die deutsche Nation nicht verkümmern wollte, so durfte sie vor solchem Wagnis nicht zurückschrecken. Die Zeit *) A. a. O.

war dahin, wo Worte berechtigt scheinen konnten, wie sie selbst ein Hoffender wie Treitschke 1864 vor erfolgter Einigung Deutschlands über die Zukunft des Vaterlandes äußerte*): „Eine Großmacht im stolzesten Sinne kann dies Deutsch­ land in jener Spanne Zeit, die das jetzige Geschlecht überblicken mag, nicht werden. Die Seeherrlichkeit der Hansa ist dahin, und nur die seegewaltigen Staaten, die Gebieter überseeischer Lande, sind heute die Großmächte der Erde. Wohl aber ist es möglich, jene Länder, die uns ge­ blieben, die noch in der Tat und in Wahrheit dem deutschen Volke gehören, zu vereinigen zu einer angesehenen europäischen Macht, welche geachtet, aber nicht herrschend, Anteil nimmt an dem Weltverkehre." Unmöglich konnte sich unser mächtig auf­ strebendes Volk mit so bescheidenen Zielen, mit einem Klein­ deutschland, begnügen. Fürst Bülow weist darauf hin, daß, wenn eine Kontinentalmacht den Schutz der Grenzen in ihrer gefürchteten, siegreichen und überlegenen Armee besitze, sie damit die Freiheit zu überseeischer Politik gewinne, die Eng­ land seiner geographischen Lage verdanke. Das ist sicher zu­ treffend, nur war diese kontinentale Sicherung bei Deutschland leider nicht in hinreichendem Maße vorhanden, dazu hätte es einer weit stärkeren Rüstung zu Lande bedurft, und eben hier liegt der Grundfehler der Politik des Fürsten. Er führt ein Gespräch an, das 1893 zwischen Bismarck und Heinrich v. Sybel in Friedrichsruh stattgefunden hat, bei dem der Fürst geäußert habe: „England ist der gefährlichste Gegner Deutschlands. Es hält sich für unbesiegbar und glaubt Deutschlands Hilfe nicht zu brauchen. England hält uns noch nicht für ebenbürtig und würde nur ein Bündnis schließen unter Bedingungen, die wir nicht annehmen können. Bei einem Bündnis, welches wir schließen, müssen wir den stärkeren Teil bilden." In diesem Sinne hat Fürst Bülow gehandelt, wenn er um die Jahrhundert­ wende englische Bündnisanträge zurückwies. Es ist aber wohl zu beachten, daß eine Politik, wie sie Bismarck hier England gegenüber anrät, vielleicht von ihm gemacht werden konnte, nicht aber von anderen. Eine Politik, wie die unsrige, wäre vielleicht trotzdem möglich gewesen bei strafferer Anspannung

*) Historische und politische Aufsätze. Bundesstaat und Einheitsstaat.

der Volkskraft, denn diese hat räumlich Verhältnissen und über­ seeischer Geltung gegenüber bei zwischenstaatlichen Auseinander­ setzungen schließlich die entscheidende Bedeutung, dann aber be­ durfte es neben größter Vorsicht zugleich einer ganz anderell Entwicklung unserer Wehrkraft zu Lande. Wenn uns gleichwohl im Weltkriege fast der militärische Sieg zugefallen wäre, so ist es nicht eine Folge unserer Politik gewesen, sondern es ist trotz ihrer dahin gekommen. Die Kraft unseres gut geführten Volksheeres schien zeitweilig alle Fehler der Politik gutmachen zu sollen. Sehr bezeichnend schreibt Ruedorffer*) : „In dem Zusammenhang zwischen Weltpolitik und Kontinentalpolitik liegt, wenn man so will, der Circulus vitiosus der auswärtigen Politik des Deutschen Reiches. Weltpolitische Unternehmungen haben Rückwirkungen auf die Kontinental­ politik, unter deren Einfluß das Deutsche Reich sich weltpolitisch beschränken muß. Weltpolitik indes muß getrieben werden. Die wirtschaftliche Expansion und der Lebenswille des Volkes drängen hinaus. Die deutsche Politik muß dem Circulus vitiosus entrinnen. Sie kann nicht für reine Kontinentalpolitik optieren. Die Aufgabe, die diese Situation stellt, ist das eigentliche Pro­ blem der auswärtigen Politik des Deutschen Reiches. . . . Man kann sich vielleicht eine deutsche Weltpolitik ohne eine über­ ragende Stellung zur See, aber gewiß keine ohne eine solche Stellung zu Lande denken." Um so mehr aber war es geboten, wenn man dem Volke keine größeren Opfer für Rüstungszwecke auflegen zu können glaubte, sich auch unpolitisch besser zu sichern. Es durfte nicht dahin kommen, daß wir ein Bündnis mit Eng­ land zurückwiesen, uns auf die unsichere Freundschaft Ruß­ lands verließen und dann dieses doch wieder an seiner empfind­ lichsten Stelle, in Konstantinopel, durch die Entsendung der deutschen Militärmission verletzten, dabei gleichzeitig Englands Argwohn durch die Bagdadbahn erregten, so wenig kriegerisch und für andere Mächte bedrohlich auch diese verschiedenen Be­ tätigungen gedacht waren. Das Bündnis mit der Türkei ist uns, wie die Dinge einmal lagen, im Weltkriege von großem Nutzen gewesen und die wackere Haltung der Türken verdient den Dank Deutschlands, ein anderes aber ist es, ob wir nicht *) A. o. o.

vorher besser getan hätten, auf den Versuch, in der Türkei Einfluß zu gewinnen, zu verzichten. Eine weitausschauende deutsche Politik hätte auf Grund der Kenntnis der englischen Geschichte wohl zu der Einsicht kommen können, daß sie sich noch auf längere Zeit in welt­ politischer Betätigung eine gewisse Beschränkung auferlegen unid infolgedessen unbeschadet Bismarcks Warnung mit Englanid zusammengehen müsse, bis sich später einmal die Ge­ legenheit zu selbständiger größerer überseeischer Machtentfaltunlg ergab. Der Nachfolger des Fürsten Bülow hat sich denn auch die Beseitigung der zwischen Deutschland und England herrschenden Verstimmung angelegen sein lassen. Einmal von der Hand Gewiesenes aber ließ sich nicht ohne weiteres ein­ bringen. Es ist gesagt worden, daß wir bei jedem Bündnis mit England, in dem wir nicht nach Bismarcks Wort „den stärkeren Teil bildeten", die Soldknechte Englands auf dem Festlan.de gewesen und uns gegen Rußland hätten brauchen lassen müssen. Englands traditionelle Festlandspolitik wurde zum Beweise hierfür angeführt. Ganz abgesehen davon, daß wir auch im Kriege gegen England diesem den Gefallen getan haben, Rußland zu zerschlagen, lag es doch für eine so starke Macht wie das Deutsche Reich in deren Belieben, den Soldknechtdienst für England nicht eine ungewollte Ausdehnung gewinnen zu lassen. Heute dürfte es keinem Zweifel unterliegen, daß ein Bündnis mit England und zugleich mit Japan zu Beginn des 20. Jahrhunderts unseren Interessen weitaus am besten ent­ sprochen haben würde. Das alles soll nur zeigen, daß richtige Würdigung geographischer und geschichtlicher Bedingungen tm Verein mit schärferem Durchdenken der Weltlage zu einer anderen Politik führen konnte, als zu der von Deutschland inne­ gehaltenen, ohne daß verkannt wird, daß dergleichen Aus­ stellungen nachträglich leicht zu machen sind. Der Staatsmann sieht die Dinge so, wie sie sich ihm auf Grund der augenblick­ lichen Lage darstellen, nicht anders der Führer im Kriege. Wenn wir aber aus der Geschichte lernen sollen, sind solche Betrachtungen notwendig. „Der Imperialismus der zeitgenössischen Demokratie, war meist nicht raumpolitisch," schreibt Spahn*), „sondern dank dem *) A. a. O.

Einflüsse des englischen Beispiels und unter dem Drucke des starken wirtschaftlichen Aufschwungs der Jahre nach 1878 wirt­ schaftspolitisch gerichtet. Dann tadelte ihn die Demokratie nicht nur nicht; sie glaubte damit im Gegenteil eine gemilderte, un­ blutige, mittelbare Weise der Befriedigung des den Staaten angeborenen Machttriebes gefunden, die Quadratur des Zirkels entdeckt zu haben. Sie spielte also den schönen Traum des Liberalismus, daß die Menschheit ihre kulturellen Kräfte nur von allem staatlichen und kirchlichen Zwange zu befreien brauche und ihr Widerstreit sich alsbald in lautere Harmonie auflöse, ins Bereich der äußeren Politik hinüber. Aber der Traum wurde auch in dieser Wendung nicht Wirklichkeit. Seinen Er­ wartungen ganz entgegen steigerte der wirtschaftlich politische Imperialismus wieder die Unruhe unter den Mächten.... Die Beschränkung der Machtkämpfe auf den wirtschaftlichen Wett­ bewerb blieb Schein. . . . Gleichwohl wurde ein neues Schlag­ wort der Geister mächtig. Das Recht, nicht die Macht, solle bäS Verhältnis der Staaten zueinander bestimmen." Dem Einguß dieser Gedankenrichtung unterlag zum großen Teil bei uns «uch das Auswärtige Amt. Man vergaß dort die alte Lehre der Geschichte, daß über aller auswärtigen Politik das Damokles­ schwert des Krieges hängt. Den Appell an die Waffen ließ non nur im Sinne des Bluffs noch gelten. Strebte man doch ohne­ hin nur nach Weltgeltung, nicht nach Weltherrschaft. Daß die Psyche der fremden Völker für diese Unterscheidung kein 8erständnis hatte, wurde dabei übersehen, und doch hätte die shon lange vor dem Kriege gegen uns in Frankreich, England, Ruß­ land und Amerika betriebene Preßhetze uns einiges Verständnis für diese Psyche bringen können. Der lange Friede, in den es so häufig gelungen war, über manche schwierige Lage glüklich Hinwegzugleiten, hatte den Pazifismus unmerklich in die Selen unserer Staatsmänner einziehen lassen. Es gewann die Auf­ fassung Raum, die Ruedorffer mit den Worten umschreitt*): „Die heutige Politik der Großmächte kann ganz allgemein als die Politik des Aufschubs kriegerischer Auseinandersetzunger be­ zeichnet werden." Darüber trat der Gedanke des steten Gefrßtseinmüssens auf das Nichtgelingen solchen Aufschubs mehr als billig in den Hintergrund.

So verfiel man dem Irrtum aller Pazifisten, der „nicht in dem von ihnen angetretenen Beweise der verderblichen Folgen künftiger Kriege liegt, worüber vielmehr Treffendes gesagt ist, sondern in der Annahme, daß die Menschen sich in ihren Taten jemals ausschließlich oder vorwiegend durch Verstandesgründe bestimmen lassen"*). Daß solches bei unseren Gegnern nicht der Fall sein würde nach einer fünfjährigen Propaganda des Völkerhasses, konnten eben nur Männer annehmen, die der pazifistischenZeitströmung unterlagen, weil ihre historische Bildung für zutreffendes psychologisches Verständnis der Feindesseele und für die Macht der Suggestion nicht ausreichte, um die Dinge zu sehen, wie sie wirklich lagen, und doch ist psychologisches Ver­ ständnis fremder Denkweise eine Grundbedingung erfolgreicher diplomatischer Tätigkeit. Eine größere Illusion als diejenige, die zu Ausgang des Krieges glauben machen konnte, vom Im­ perialismus getriebene, haßerfüllte Völkerschaften könnten sich auf einen bloßen Wink des Präsidenten Wilson, den man noch dazu ebenfalls völlig falsch beurteilte, uns geneigt zeigen, nach­ dem sie uns nicht mehr zu fürchten brauchten, hat es nie ge­ geben. Wie stark diese Illusion war, geht aus der Schilderung des Admirals Scheer hervor**). Am 14. Oktober hatte Wilson Schonung der Passagierdampfer gefordert, die tatsächlich eine Einstellung des U-Bootkrieges zur Folge haben mußte. Die Feindseligkeiten aber sollten ihren Fortgang nehmen, bis diese Vorbedingung von Deutschland erfüllt war. „Damit hätten wir die Hauptwaffe aus der Hand legen sollen, während die Feinde ihre Kampfhandlungen fortsetzten und den Gang der Verhand­ lungen beliebig lange hinziehen konnten. . . . Der Standpunkt, den die Marine der neuen Note gegenüber einnehmen konnte, war daher: den U-Bootkrieg als Opfer zu bringen, wenn als Gegenleistung hierfür unsere Armee den Waffenstillstand er­ hielte, sonst aber dringend von jedem Entgegenkommen abzu­ raten." Der neue Reichskanzler, Prinz Max von Baden, zeigte für diese Auffassung des Chefs der Seekriegsleitung „verständ­ nisvolles Entgegenkommen". *) Friedjung, Imperialismus. **) Deutschlands Hochseeflotte im Weltkrieg. Persönliche Erinnerungen. Berlin 1920.

Bei der am 17. Oktober stattfindenden Sitzung des Kriegskabinetts legte General Ludendorff die militärische Lage dar, die sich neuerdings erheblich gebessert hatte. „Die abzu­ sendende Antwortnote wurde in großen Zügen besprochen. Es herrschte Einmütigkeit darüber, daß die Vorwürfe der Unmensch­ lichkeit usw. zurückzuweisen seien, Verwüstung der zu räumenden Gebiete sei eine Folge des Krieges, ebenso die Tötung von solchen Nichtkombattanten, die sich auf Schissen ins Sperrgebiet begaben. Dem Präsidenten sollte vorgeschlagen werden, durch Herbeiführung sofortigen Waffenstillstandes den Greueln des Krieges zu Lande und zu Wasser Einhalt zu tun und seine Bedingungen unverhüllt zu nennen. Es wurde hervorgehoben, daß der Ton unserer Antwort auf die Stimmung in Volk und 'i)eer großen Einfluß ausüben müsse. Es müßte sich jetzt her­ ausstellen, ob der Präsident die Absicht hatte, in ehrlicher Weise auf der Grundlage seiner vierzehn Punkte zu verhandeln, oder ob er bestrebt war, durch das Hinausziehm der Verhandlungen und die weitergetriebenen Forderungen unsere militärische Lage über das zulässige Maß hinaus zu verschlechtern. Das deutsche Volk mußte dann bereit sein, den nationalen Verteidigungs­ kampf bis zum äußersten aufzunehmen. Das war die gehobene Stimmung, in welcher^die Regierungsmitglieder und die dazu herangezogenen militärischen Berater sich am Schluß der Sitzung befanden." Bei der am 19. Oktober im Kriegskabinett stattfindenden Beratung über die vom Staatssekretär des Auswärtigen Amts Dr. Solf vorgelegte Antwortnote an den Präsidenten zeigte sich, daß diese, entgegen den Abmachungen vom 17. Oktober, den Satz enthielt: „Der U-Bootkrieg wird jetzt nach den Grundsätzen des Kreuzerkrieges geführt unter Sicherstellung des Lebens der Nichtkombattanten." Admiral Scheer sagt weiter: „Der Vize­ kanzler Payer trat diesem Entwürfe auf das entschiedenste ent­ gegen, da er eine vollkommene Schamade sei und unser bis­ heriges Verfahren als rechtswidrig Hinstelle. Eine Preisgabe des U-Bootkrieges dürfe nicht stattfinden, die Marine dürfe nicht eher aufhören zu kämpfen wie die Armee. Auch entspreche der ganze Ton der Note nicht der Stimmung im Lande. Im gleichen Sinne äußerten sich die Staatssekretäre Gröber und Erzberger. ... Die Mehrzahl der Regierungsvertreter stellte

sich auf den vom Vizekanzler v. Payer und mir vertretenen Standpunkt, und Staatssekretär Solf erhielt den Auftrag, einen neuen Entwurf in diesem Sinne für die Nachmittagssitzung oorzulegen. Vor dem Eintritt in dieselbe waren die Gesandten Graf Wolff Metternich, Graf. v. Brockdorff-Rantzau und Dr. Rosen herangezogen worden, um ihre Ansicht zu äußern, wobei die Vertreter der Marine zunächst nicht beteiligt wurden. Ihre Ausführungen riefen sehr bald eine völlige Wandlung in den Anschauungen des Kriegskabinetts hervor. Es drängte jetzt darauf, den U-Bootkrieg ohne Gegenleistung zum Opfer zu bringen. Die neu entworfene Note sagte die Schonung der Passagierschiffe bedingungslos zu." Weder die Einwendungen des Admirals Scheer, noch die telegraphisch dem Reichskanzler übermittelte Erklärung der Obersten Heeresleitung, daß sie keinesfalls auf den U-Bootkrieg zur Erzielung des Waffenstill­ standes verzichten könne, vermochten an der Entschließung des Kabinetts etwas zu ändern. „Es hatte sich bei ihm die Meinung durchgesetzt, daß ein Abbruch der Verhandlungen mit Wilson vor dem deutschen Volke nicht verantwortet werden könne, und daß er die unausbleibliche Folge sei, wenn das von Wilson ver­ langte bedingungslose Zugeständnis nicht gemacht würde." Der Versuch des Admirals Scheer, den Reichskanzler durch den Kaiser zu einer anderen Ansicht zu bringen, schlug fehl, des­ gleichen ein solcher, wenigstens eine Befristung für das Zuge­ ständnis der Note zu erzielen. Unzweifelhaft hat bei dem letzten kaiserlichen Kanzler und bei den parlamentarischen Mitgliedern des Kriegskabinetts das Verlangen der Obersten Heeresleitung vom 29. September nach sofortiger Herausgabe.eines Friedensangebots bei ihrer Hal­ tung am 19. Oktober nachgewirkt. Ferner hat die Rücksicht auf die inneren Verhältnisse Deutschlands wesentlich mitgesprochen. Entscheidend ist außerdem die starke pazifistische Strömung ge­ wesen, die sich längst innerhalb der deutschen Demokratie im wei­ testen Sinne zu Geltung gebracht hatte. Die eigene Anschauung wurde ohne weiteres auch bei unseren Feinden, zum mindesten beim Präsidenten Wilson, vorausgesetzt. Man gab sich der trügerischen Hoffnung hin, eine Solidarität der Völker jetzt schon herbeiführen zu können. Nur so erklärt es sich, daß der Reichs­ kanzler und die Mehrheit des Kabinetts in einer Frage von

entscheidender Wichtigkeit binnen weniger Stunden umfielen, daß die vitalsten Interessen des deutschen Volkes einem Trug­ bilde geopfert, Millionen kämpfender Deutscher in eine ver­ zweifelte Lage gebracht wurden. Zu versuchen, den Vorgang zu erklären, heißt aber nicht, ihn entschuldigen, vielmehr wird er für alle Zeiten ein trauriges Beispiel dafür bilden, welche Macht die Suggestion im politischen Leben zu äußern vermag. Unverzeihlich aber ist bei dem ganzen Vorgang die Haltung des Staatssekretärs des Auswärtigen und seiner Gehilfen aus dem Auswärtigen Amt. Diese Behörde ist vor dem Weltkriege und in diesem mehrfach zu Unrecht angegriffen worden, für den Geist, der in ihr herrschte, und für die weit überwiegende Mehr­ zahl ihrer Mitglieder gilt aber leider das Urteil Treitschkes über das diplomatische Korps Friedrich Wilhelms IV.*), daß es „neben jenen kühnen, kriegerischen Gesandten, die einst die Be­ fehle des großen Königs handfest vollstreckt hatten", sich nicht sehen lassen könne. Und doch wiegt, was unter diesem unglück­ lichen König geschah und unterlassen wurde, federleicht gegen die trostlose Hilflosigkeit des Oktoberbeschlusses von 1918. Auch ein vierjähriger Weltkrieg hatte in die Räume des Auswärtigen Amtes die Vorstellung, daß der diplomatische Beruf der „Handfestigkeit" nicht entraten könne, keinen Zutritt gewinnen lassen. Hatte Bismarck darüber geklagt**), daß es dem spezifisch preußischen Bureaukraten in der Diplomatie nicht leicht werde, sich mit dem Firnis des europäischen zu über­ tünchen, so hat nach ihm unsere Diplomatie des Europäertums zum Schaden ihrer nationalen Festigkeit unbedingt zuviel ange­ nommen. Bismarck hat nach Art der ganz großen Männer keine Schule gemacht, in seinen Werken aber denen, die nach ihm kamen, einen unvergleichlichen Lernstoff hinterlassen, nicht zur sklavischen Nachahmung unter veränderten Zeitumständen, aber zur Durchdringung mit seinem Geist und seiner Willens­ kraft. Sybel sagt von Bismarcks Werdezeit***): „Er widmete sich vor allem, wie nach einem Vorgefühl des künftigen Wirkens, historischen Studien. Nach der eigenen weiteren Erfahrung sprach er den Grundsatz aus, für jeden Staatslenker sei ein *) Deutsche Geschichte. V. 7. Abschnitt. **) Gedanken und Erinnerungen. I. 1. Kapitel. ***) Die Begründung des Deutschen Reiches. II. 6. Buch, 1. Kap.

richtig geleitetes Studium der Geschichte die wesentliche Grund­ lage des Wissens; hier allein sei zu lernen, was bei der Ver­ handlung mit anderen Staaten in jeder Frage erreichbar sei." Die Staatslenker von 1918 aber wähnten der Geschichte als Leiterin nicht zu bedürfen, sondern das Staatsleben von sich aus auf neue Grundlagen stellen zu können, ohne Rücksicht auf unsere haßerfüllten Gegner. Wohin ihre Weisheit das deutsche Volk gebracht hat, wissen wir alle.

12. Rückblick und Ausblick. „Man sieht: die Geschichte ist eine Bildergalerie, die wenige Originale und viele Kopien birgt." Wer möchte nicht dieses Wort Tocquevilles*) bejahen? Es ist vor allem deshalb wahr, weil die Menschheit sich im Verlauf der Jahrtausende nicht von Grund aus geändert hat. Ein wesentlicher innerer Fortschritt ist bei ihr nicht zu erkennen. Zwischen dem Altertum und der heutigen Zeit sind die Verschiedenheiten im einzelnen groß, vor allem in den wirtschaftlichen Lebensformen, gleichwohl ist das Tun und Treiben der Menschen dem der jetzigen sehr ähnlich. Die christliche Lehre hat vielfach mildernd gewirkt, nicht jedoch völlig umgestaltend, wie wir zu unserer Beschämung gestehen müssen. In seinen Vorträgen, die er im Jahre 1854 dem Könige Maximilian II. von Bayern hielt**), äußert sich Ranke darüber, wie der Begriff „Fortschritt" in der Geschichte aufzufassen sei. Er stellt fest, daß von einem stetigen Fortschritt nicht gesprochen werden könne, daß es vor allem ein Irrtum sei, daß die fort­ schreitende Entwicklung der Jahrhunderte zu gleicher Zeit alle Zweige des menschlichen Wesens und Könnens umfaßt habe. Ranke erkennt nur eine fortdauernde Bewegung der Menschheit an, die darauf beruht, „daß die großen geistigen Tendenzen, welche die Menschheit beherrschen, sich bald auseinander erheben, bald aneinander reihen". In diesen Tendenzen aber sieht er immer bestimmte Sonderrichtungen, die vorwiegen und be*) A. a. O. **) über die Epochen der Alfred Dove. Leipzig 1888.

neueren Geschichte.

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wirken, daß andere zurücktreten. „In jeder Epoche der Mensch­ heit äußert sich eine bestimmte große Tendenz, und der Fort­ schritt beruht darauf, daß eine gewisse Bewegung des mensch­ lichen Geistes in jeder Periode sich darstellt, welche bald die eine, bald die andere Tendenz heroorhebt und in derselben sich eigen­ tümlich manifestiert. Sollte man aber im Widerspruch mit der hier geäußerten Ansicht annehmen, dieser Fortschritt bestehe darin, daß in jeder Epoche das Leben der Menschheit sich höher potenziert, daß also jede Generation die vorhergehende voll­ kommen übertrifft, mithin die letzte allemal die bevorzugte, die vorhergehenden aber nur die Träger der nachfolgenden wären, so würde das eine Ungerechtigkeit der Gottheit sein. Eine solche, gleichsam mediatisierte Generation würde an und für sich eine Bedeutung nicht haben; sie würde nur insofern etwas bedeuten, als sie die Stufe der nachfolgenden Generation wäre, und würde nicht in unmittelbarem Bezug zum Göttlichen stehen. Ich aber behaupte: jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem eigenen Selbst." Einen unbedingten Fortschritt, eine höchst entschiedene Steigerung läßt Ranke, soweit wir die Geschichte verfolgen können, nur im Bereiche der materiellen Interessen, somit der Technik, gelten, in welchem auch ohne eine ganz ungeheure Umwälzung ein Rückschritt kaum würde stattfinden können; in moralischer Hinsicht aber lasse sich der Fortschritt nicht verfolgen. Dem entspricht es, daß wir in der Neuzeit eine große Aus­ breitung der Zivilisation wahrnehmen, an innerer Kultur aber gegen den Anfang des 19. Jahrhunderts unbedingt zurück­ gegangen sind, ja jetzt in heißem Kampfe um die Bewahrung ihrer höchsten Güter stehen. Wie sehr auch die in der Menschheit herrschenden geistigen Tendenzen sich wiederholen, zeigt sich u. a. darin, daß Anfang und Ende der vorstehend angestellten Betrachtungen Äuße­ rungen des Imperialismus gewidmet sind, die den heutigen Großmächten nicht minder eigen sind wie einst Rom. Sein Aufstieg ist zum größten Teil das Werk des Senats. In ihm offenbart sich der hohe Wert, den führende aristokratische Schichten im staatlichen Leben besitzen. Sie sind als Pfleg­ stätten hoher Persönlichkeitskultur nicht zu entbehren. Die

Bedeutung der Persönlichkeit in der Geschichte aber trat uns immer aufs neue entgegen. Nicht umsonst mahnt Bancroft, der Geschichtschreiber der Vereinigten Staaten Amerikas*), wer sittliche Werte finden wolle, der müsse Männer in ihrem Han­ deln verfolgen. Wohl waltet ein unbewußter Trieb und Drang im Völkerleben, aber die schöpferischen Ideen, die sich aus ihm herausschälen, gehörten von jeher den großen einzelnen. Nicht minder sicher wie diese Tatsache fanden wir bestätigt, daß die ganze Geschichte der Menschheit von politischen Machtfragen durchzogen ist. Das im schwierigsten Augenblick verkannt zu haben, ist dem deutschen Volke zum Unheil geworden. Die Ideologen, die das deutsche Staatsschiff zu führen sich anmaßten, waren von dem Wahn beherrscht, daß allen Lehren der Ge­ schichte zum Trotz sich das plötzlich ändern könne. Sie ver­ gaßen, daß „die Gegenwart nie völlig Herrin der Vergangen­ heit wird, daß noch niemals eine Revolution die überlieferten Formen des Staates, der Gesellschaft völlig weggelöscht hat, daß man immer nur von einem überwiegen einer Idee sprechen kann, nie von ihrer Alleinherrschaft"**).

Dieser Irrtum ist bei den Anhängern der parlamentari­ schen Regierungsform und vollends bei der Sozialdemokratie nur aus Mangel an geschichtlicher Vertiefung zu erklären. Und doch wird die ausschlaggebende Bedeutung der Machtfragen durch nichts so sehr bestätigt, wie durch das Verhalten unserer Linksparteien. Ihr ganzes Tun und Treiben ist lediglich auf Machtgewinn und Machtäußerung gerichtet. „Jede Partei, die sich durch die Mehrheitsverhältnisse wie durch eigene Stärke in hervorragender parlamentarischer Machtstellung sieht, neigt dazu, ihre Macht zu mißbrauchen. ... Es ist eine alte und üble deutsche Angewohnheit, im innerpolitischen Meinungsstreit maßlos zu übertreiben"***). Aus lauter Machtstreben imInnern wurde die deutsche Macht nach außen, ohne die doch im Innern sich kein gesundes Leben erhalten konnte, preisgegeben. Der Parteigeist bildet bei uns das größte Hindernis für wahrhaft nationales Empfinden. „Ich weiß kein Land," äußert Bis*) History of the Constitution of the United States of America. Einleitung. **) Friedjung, Imperialismus. ***) Fürst Bülow, a. a. O. Irehtag-Loringhoven, Angewandte Geschichte

marck*), „wo das allgemeine Nationalgefühl und die Lieb« zum Gesamtvaterlande den Ausschreitungen der Parteileidenschäft so geringe Hindernisse bereitet wie bei uns." Im Aus­ lande wird denn auch die erbärmliche Kleinlichkeit unseres Parteigezänks nicht verstanden. Aus diesem Elend kann uns nur eine berufsgenossenschaftliche Vertretung retten, wie sie schon Bismarck innerhalb der monarchischen Staatsform als erwünscht bezeichnet hat**). Sein Versuch, eine solche Vertretung im Reich einzuführen, ist 1881 am Widerstände des Reichstags gescheitert und der zur Tat gewordene preußische Volkswirt­ schaftsrat ist über das Stadium des Versuchs nicht hinaus­ gelangt. Erst im Reichswirtschaftsrat haben wir jetzt den An­ fang einer solchen Kammer der Arbeit erhalten. Ihr gehört die Zukunft, nicht dem abgelebten, den westlichen Demokratien nach­ gebildeten Parlamentarismus, der für deutsche Verhältnisse nicht paßt. Die Überwindung dieser Staatsform wie nicht minder die des marxistischen Sozialismus bildet eine der Grundbedin­ gungen des wahrhaft sozialen deutschen Staatsbaues der Zu­ kunft. Soll dieser ein wohnliches Haus sein, so wird er an geschichtlich überliefertem und Bewährtem vom „fluchwürdigen alten Regime" mehr enthalten müssen, als die Anstifter und Genießer der Revolution von 1918 ahnten. Wenn zum Fehlen politischen Verständnisses der Deutschen mangelnde geschichtliche Kenntnis beigetragen hat, so ist solches zum nicht geringen Teil darin begründet, daß eben die deutsche Geschichte nicht ohne weiteres leicht zu verstehen ist. In keinem anderen Lande ist ein solches wiederholtes Auf und Nieder zu' verzeichnen gewesen, ist einem kaum begonnenen Aufftieg immer wieder ein Rückschlag gefolgt. Die unserer Entwicklung ent­ gegenstehenden Hindernisse erklären vieles im deutschen Wesen. Spahn vertritt die Ansicht***), daß alle Versuche, im Mittelalter zu einer Staatseinheit zu gelangen, an der natürlichen Scheide des deutschen Mittelgebirges ihre Grenze gefunden hätten. Mag man auch geographischen Bedingtheiten dieser Art keine Allge­ meingültigkeit zubilligen, so haben sie in diesem Falle offenbar mitgesprochen. Spahn führt als Beweis an, daß Claude de *) Gedanken und Erinnerungen. II. 19. Kapitel. **) Gedanken und Erinnerungen. I. 1. Kapit»^ ***) A. a. O.

Schwierigkeit, di« deutsche Geschichte zu verstehen.

227

Seyfsel in einer für König Franz I. bestimmten Denkschrift als Nachbarn, mit denen die französische Politik zu rechnen habe, sowohl ein „Deutschland" als ein „Niederdeutschland" wie zwei getrennte Staatswesen aufgeführt habe. Während eine wirk­ liche Reichseinheit fehlte und die staatliche Machtbetätigung in jeder Richtung immer mehr auf die Territorien überging, war Deutschland gleichzeitig vermöge seiner geographischen Lage dem Eindringen fremdländischer Einflüsse von West und Ost in hohem Maße ausgesetzt. Hierzu trat die religiöse Spaltung und in deren weiterer Folge der Dreißigjährige Krieg, der dem allen die Krone aufsetzte. Die unheilvollen Einflüsse, die er auf das deutsche Staatsempfinden und das deutsche Wesen ausübte, lernten wir kennen. Er hat zugleich die große Absplitterung einstiger Reichsgebiete im Westen zur vollendeten Tatsache ge­ macht und die Entfremdung von den Deutschen Österreichs her­ beigeführt, die fortan ihr Sonderdasein unter der Habsburgi­ schen Dynastie führten, auch wenn diese formell noch an der Spitze des Reiches stand. Das Jahr 1866 hat hierin nur offen­ sichtlich werden lassen, was bereits seit dem Westfälischen Frie­ den bestand. Erst die Aufteilung der Donau-Monarchie wird mit der Zeit diese Millionen Deutscher ihrem Volkstum wieder ganz zuführen. Die Natur des Befreiungskampfes als eines Bündnis­ krieges der europäischen Mächte gegen Napoleon ließ deutsch­ nationale Strömungen, die sich über den Krieg hinaus hätten behaupten können, nicht völlig zum Durchbruch kommen. Daran, daß unsere führenden Männer, unsere Besten, damals noch so wenig national im heutigen Sinne dachten, kann man ermessen, wie jung wir, obzwar ein altes Volk, doch als Nation sind. Daher schreibt sich zum großen Teil unsere politische Unerfahren­ heit. Fortschritte in der Richtung gesunder nationalpolitischer Betätigung konnten nach Lage der Dinge nach den Befreiungs­ kriegen nicht gemacht werden, vielmehr trug das lockere Gefüge des Deutschen Bundes im Verein mit der einsetzenden Reaktion dazu bei, den universellen Geist des 18. Jahrhunderts in anderer Form wieder aufleben zu lassen. Wie Professor Hermann Oncken hervorhebt*), war die Revolution von 1848 wesentlich *) Lassalle, eine politische Biographie. Berlin 1920.

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getragen van dem Streben des Bürgertums, wirtschaftlich und politisch mündig zu werden und den lähmenden Druck bureaukratischer Bevormundung abzuwälzen. Das Auftreten der international gerichteten Sozialdemokratie brachte eine Ver­ stärkung des im deutschen Wesen liegenden kosmopolitischen Zuges. Nebenher gingen die deutschen Einheitsbestrebungen, wie sie mit viel idealem Schwung, aber mit wenig Tatsachen­ sinn in der Paulskirche vertreten wurden und erst durch Bis­ marck verwirklicht werden konnten, als er die reale Macht des Preußischen Staates für sie einsetzte. „Daß Nationalstaat und soziale Frage," führt Oncken weiter aus, „diese beiden Probleme, zu gleicher Zeit, unlöslich ineinander verflochten, vor dem politischen Willen der Deutschen des 19. Jahrhunderts gestanden haben, darin liegt die Be­ sonderheit gerade unserer Entwicklung, mit der sich in dieser Zeit keine andere vergleichen läßt. Mitten auf dem Marsch zu unseren nationalen Zielen wurden wir wie über Nacht von dem ganzen Fragenkomplex der sozialen Sphinx überrascht. Auch das ist ein Stück unseres weltgeschichtlichen Schicksals. Die Engländer und Franzosen mochten schon viel früher und heftiger von den sozialen Problemen des kapitalistischen Zeit­ alters gepackt werden, aber sie erfreuten sich dafür der natio­ nalen Einheit und der grundlegenden Staatsformen längst als eines unangefochtenen Dütes. Die werdende Nation war in ihrem inneren Aufbau in einen Umbildungsprozeß eingetreten, wie er kaum jemals in unserer ganzen Geschichte erhört war: aus der Biedermeierzeit einer patriarchalischen Agrar- und Kleinbürgergesellschaft, die, isoliert von der Welt, in tausend engen Kreisen rückständig dahinlebte, sprangen wir gleichsam in einen modernen Industriestaat hinüber, um nun durch alle Probleme weltwirtschaftlicher Verflechtung, bourgeoiser Kapital­ konzentratton und proletarischer Nöte, durch Revolutionierung unseres äußeren Klassenaufbaues und unserer geistigen Wesen­ heit so atemlos hindurchgejagt zu werden, wie kaum England und Amerika es in gleichem Tempo erlebt hatten." So ist es denn nicht allzusehr zu verwundern, daß es uns nicht gelungen ist, in den wenig mehr als vier Jahrzehnten, die zwischen der Reichsgründung und dem Weltkriege lagen, einen wirklich trag­ fähigen Nationaltypus auszubilden.

Zu viele Probleme traten im 19. Jahrhundert an uns heran.

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Es mag richtig sein, daß die sozialen Schäden nicht auf politischem Wege Heilung finden konnten, sondern nur durch Schaffung neuer Gemeinschaften in Gestalt von Gewerkschaften, Handelskammern usw.*), und man mag es auf Grund nach­ träglicher Kenntnis der Entwicklung bedauern, daß unsere lei­ tenden Männer der nachbismarckischen Zeit diesen Weg nicht fanden, wird aber dabei gleichzeitig zu beachten haben, daß, wie Tocqueville treffend bemerkt**), es den Menschen der höheren Klassen stets sehr schwer geworden ist, klar zu erkennen, was in der Seele des Volkes vor sich geht. Das ist ihnen bei uns noch durch die Haltung der Sozialdemokratie bei ihrer internationalen Richtung und ihrem ausgeprägten Klassen­ standpunkt, die sie zu grundsätzlicher Opposition, auch in sozialen Fragen, bestimmten, noch mehr erschwert, wenn nicht geradezu unmöglich gemacht worden. Wohl haben die Mächte des Be­ harrens, wie die Geschichte zeigt, es häufig, und teilweise auch hier, an der erforderlichen Anpassungsfähigkeit fehlen lassen. Die vor dem Kriege herrschenden Klassen aber ohne weiteres kapitalistischer Verständnislosigkeit für die Erfordernisse der Zeit zu zeihen, geht nicht an. Es darf nicht übersehen werden, daß die Verhetzung, wie sie von der Sozialdemokratie betrieben wurde, ein reiches Maß von Schuld daran trifft, daß nicht eine größere Annäherung der Stände erfolgte. Die Wühlarbeit der Unabhängigen, die überall Mißtrauen zu erregen suchte, hat dann weiterhin dazu beigetragen, daß das Gemeinschaftsgefühl, das sich im Kriege in schönster Weise anzubahnen schien, wieder verlorengegangen ist. Es hat uns nicht nur an einem großen Staatsmann ge­ fehlt, der alle diese Schwierigkeiten im Innern, wie sie sich den Erschwernissen, die unsere auswärtige Politik in sich barg, hin­ zugesellten, zu meistern wußte, auch an staatsmännischen Kräf­ ten zweiten Ranges waren wir arm. Man wird Friedjung beipflichten müssen, wenn er von der Zeit nach Erringen der deutschen Einheit sagt***): „Während alle Kraft der deutschen Nation in Werken der Industrie, des Handels, der Technik angespannt war, schien ihr politischer Genius zu erlahmen. Mit *) Hans Siegfried Weber im «Tag' Nr. 93. 1. 5. 1920. **) A. a. O. ***) Imperialismus. I.

dem Rücktritt Bismarcks stand keine überwältigende Persön­ lichkeit mehr den Staatsgeschäften vor, in auffallendem Gegen­ satz zu den Bahnbrechern auf allen Gebieten der Volkswirt­ schaft." Ähnlich lag es auch in anderen Staaten, bei uns aber Hatte die Aufsaugung der fähigsten Köpfe der oberen Klaffen Lurch Industrie und Handel infolge der erwähnten Schwierig­ keiten in unserer staatlichen Entwicklung ganz besondere Nach­ teile auf politischem Gebiet. Gerade der staunenswerte wirt­ schaftliche Auffchwung beweist es. Rückschauende Betrachtungen, so könnte es scheinen, haben für die Gegenwart und Zukunft wenig Wert, da wir doch daran sind, jetzt überall neue Wege zu betreten. Dem ist indeffen nicht so. Wohl ist starres Festhalten am alten nicht angebracht. Nur wenn wir klar erkennen, daß es in der äußeren Form, die ihm eigen war, für immer dahin ist, können wir mit Nutzen Hand anlegen an die Wiedergesundung unseres Vaterlandes. Ein anderes aber ist es, die alten Formen aufgeben und den Geist chintansetzen, der in ihnen lebte und für seine Zeit Großes ge­ wirkt hat. Dieser behält seinen Wert für immer. Wenp die Geschichte ein ewiges Werden ist, so öffnet uns doch eben das Werden der Vergangenheit erst das eigentliche Verständnis für dasjenige der Gegenwart und Zukunft. Das kann schon des­ halb nicht anders sein, weil, wie gezeigt wurde, der Mensch als solcher sich im Laufe der Zeit in dieser unvollkommenen Welt nicht ändert. Aus diesem Grunde bedarf er der Zügelung durch eine starke Staatsautorität. Nur wo sie bestanden hat, zeigt die Geschichte uns erfreuliche, wenn nicht erhebende Bilder, ist ein wirkliches zeitweiliges Fortschreiten zu erkennen. Nichts falscher, als den Begriff der Autorität mit dem der s reiheit in Gegensatz zu setzen. Verhältnisse, wie sie sich in allerjüngster Zeit bei uns herausgebildet haben, zeigen vielmehr deutlich, daß Einbuße an Autorität gleichbedeutend V mit dem Aufkommen von Willkür, Parteiherrschaft und Unfreiheit des einzelnen. Ein Staat, der seine Autorität nicht im Innern zur Geltung zu Dringen vermag, wird immer machtlos nach außen dastehen, ein Sprelball kräftiger Nachbarn sein. Das ist heute nicht anders wie zur Zeit der einstigen polnischen Adelsrepublik. Ansinnig wäre es augenblicklich für uns Deutsche, wenn wir an einer äußeren Machtstellung festhalten wollten, wie wir sie vor

dem Kriege besaßen und in diesem zu äußern vermochten. Von solchem Sinnen gilt es sich loszumachen, dem Weltmachts­ gedanken zu entsagen, er ist uns für Generationen unmöglich gemacht. Ob ein späteres Geschlecht ihn dermaleinst wird auf­ nehmen können, steht dahin. Was wir allein können und müssen, das ist, uns wieder zu einer geachteten Nation empor­ zuringen in steter Arbeit mit festem Willen unter Beschränkung unserer Ziele. 1864 hat Treitschke den erwähnten Worten*),, in denen er ausspricht, daß Deutschland in absehbarer Zeit nicht zu einer wirklichen Großmachtstellung gelangen könne, die weiteren hinzugefügt: „Wohl aber ist es möglich, jene Länder, die uns geblieben, die noch in der Tat und in Wahrheit dem deutschen Volke gehören, zu vereinigen zu einer angesehenen europäischen Macht, welche geachtet, aber nicht herrschend, An­ teil nimmt an dem Weltverkehre." Nachdem der Ausgang des Krieges unseren Aufstieg zur Großmachtstellung unterbrochen hat, müssen wir uns wohl oder übel im Sinne dieser vor 56 Jahren gesprochenen Worte Treitschkes bescheiden. So hart das dem Geschlecht, das den Aufstieg und den vierjährigen Heldenkampf erlebte, auch an­ kommt, so mag dieses doch in den weiteren Worten Treitschkes Trost finden: „Mögen prahlerische Toren dieses Ziel ein nie­ deres, ein armseliges schelten; uns scheint es hehr und hoch genug, um den Ärmsten im Geist, der danach trachtet und in seinem Volke dafür wirkt, zum reichen und glücklichen Manne zu machen." Mögen wir der großen Vergangenheit ein treues Gedächtnis bewahren, es nützt nichts, ihr dauernd nachzutrauern. Trachten wir vielmehr, unser Glück in nachhaltigem Wirken für unser Volk zu finden. In dieser Weise sollen wir die Revision des sogenannten Friedens von Versailles dauernd im Auge behalten und auf sie hinarbeiten. Hierbei mag uns das Emp­ finden stärken, daß auch der Macht der Sieger Grenzen gezogen sind, daß selbst das englische Imperium keine für alle Ewigkeit gefestigte Burg darstellt. Mit Sicherheit aber dürfen wir nur das eigene Wollen, die eigenen Leistungen in Anschlag bringen. Auch wenn der Völkerbund eine andere Gestalt annimmt, als er sie zurzeit besit , wenn Deutschland Aufnahme in ihn findet,

werden wir gut tun, keine übertriebenen Hoffnungen auf ihn zu setzen. Der Völkerbund wird erst zu beweisen haben, daß er mehr vermag, als vor hundert Jahren die Heilige Allianz. Es soll hierbei gewiß nicht verkannt werden, daß der große Einfluß, den wirtschaftliche Fragen auf unsere Zeit haben, einer solchen zwischenstaatlichen Vereinigung erhöhte Bedeutung gibt. Die einzelnen Nationen sind weit mehr aufeinander angewiesen, als es ehedem der Fall war. Das Bedürfnis, einen Zustand cherzustellen, in dem sie voneinander erhöhten Nutzen ziehen, ist offenbar vorhanden. Soziologisches Denken führt zu wechsel­ seitiger Annäherung der Völker. Schon wenn es gelingt, die Atmosphäre des Hasses, die zum großen Teil sich noch immer als trennende Schicht zwischen sie legt, zu beseitigen und ihr Wiedererstehen zu verhindern, ist viel gewonnen. Wenn ein­ mal die Welt wirklich zur Ruhe gekommen sein wird und die Nachwirkungen des Weltkrieges sich erst in ihrem ganzen Um­ fange zeigen werden, ist es denkbar, daß die Völker für längere Zeit von kriegerischen Gelüsten geheilt sein werden. Auch ist es durchaus möglich, daß pazifistische Strömungen bis zu einem gewissen Grade aus Gründen der Nützlichkeit Raum gewinnen sowie daß andere Mittel als der Appell an das Schwert bei Streitfragen zur Anwendung gelangen, beispielsweise der wirt­ schaftliche Boykott. Liegt daher die Beseitigung manchen KonWktsstoffes durchaus im Bereiche der Möglichkeit, so werden dahingehende Einigungen doch immer nur Verträge sein, die nicht imstande sind, die in den Völkern gärenden Kräfte für alle Fälle einzuengen. Die Kriege mögen seltener werden, ver­ schwinden werden sie nicht, solange die Menschheit bleibt, wie sie war und wie sie ist. Satzungen, die bestimmt sind, die Schrecken des Krieges zu mildern, aber sind von zweifelhaftem Wert. Einmal gemachte Erfindungen können nicht durch zwischenstaatliche Abmachungen beseitigt werden. Der Luftkrieg läßt sich nicht aus der Welt schaffen, die Reichweite der Geschütze Nicht willkürlich festsetzen, die U-Boote werden weiterhin die See unsicher machen. Sind auch wir augenblicklich ihrer be­ raubt, so bleiben sie doch eine gewichtige Waffe in der Hand anderer schwächerer Seemächte. Englands Herrschaft auf dem Meere ist trotz seines Triumphes nicht mehr unumstritten.

Die Aussichten des Pazifismus bleiben beschränkt.

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Die künftige Entwicklung der Weltverhältnisse läßt sich nicht ooraussehen. „Das Fortwirken der Vergangenheit in der Gegenwart aber bewährt sich unerbittlich auch in den Geschicken solcher Völker, welche an dies historische Gesetz nicht glauben wollen*)." So gewiß Treitschke hierin recht hat, so nicht minder, wenn er sagt**): „Ein Tor, wer nicht beim Anschauen des wirrenreichen und dennoch stetigen Wandels einer großen Ge­ schichte die vornehme Sicherheit des Gemüts sich zu stärken vermag. Kräftigen wir daran — was der Historie edelste Seg­ nung bleibt — die Freiheit des Hellen Auges, das über den Zufällen, den Torheiten und Sünden des Augenblicks das un­ abänderliche Walten weltbauender Gesetze erkennt."

*) Treitschke, Deutsche Geschichte. IV. 1. Abschnitt. **) Historische und politische Aufsätze. Das deutsche Ordensland Preutzen.

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