Amtsträger und Herrscher in der Romania Gothica: Vergleichende Untersuchungen zu den Institutionen der ostgermanischen Völkerwanderungsreiche 351508505X, 9783515085052

Migrationen verändern die Welt nachhaltig. Das Ende des Römischen Reiches im Westen und der Beginn des europäischen Mitt

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Amtsträger und Herrscher in der Romania Gothica: Vergleichende Untersuchungen zu den Institutionen der ostgermanischen Völkerwanderungsreiche
 351508505X, 9783515085052

Table of contents :
I. Einleitung 13
A. Ausgangspunkte und Fragestellungen 13
B. Begriffe und Kriterien 23
C. Quellen und ihre Interpretation 36
II. Voraussetzungen und Vorgeschichte der Ostgermanen 41
A. Unruhige Zeiten 42
1. Living on the edge - Die Liminalität der gentilen Existenz 42
2. Raubkultur 43
B. Verbände neuen Typs 45
1. Halbnomadismus und Großverbände 45
2. Gefolgschaftliche Organisation und Stammesbildung 48
C. Römische Prägung und Föderatenstatus 56
D. Das Verhältnis zwischen Germanen und Romanen 61
III. Das Königtum - Einige Bemerkungen zu seinen Bedingungen 69
A. Herrschaft über die Gentilen 70
1. Titel 70
2. König und Verband nach der Landnahme 70
B. Herrschaft über die Provinzialen 77
1. Das Verhältnis der Germanenkönige zur katholischen Kirche 78
2. Das Verhältnis der Germanenkönige zum oströmischen Imperium 83
3. Römischer Herrschaftsstil 88
4. Römische Herrscherleistungen 91
5. Römische Titel und Ämter 96
6. Die Rolle der Dynastien und die Auswahl der Königskandidaten 99
a. Designation 105
b. Wahl 107
c. Erbe und Teilung 110
C. Die Könige als Gesetzgeber 110
1. Die Erstellung der Gesetzessammlungen - Die Rechtstexte als Quellen 110
2. Zielrichtung und Funktion der Gesetzessammlungen 115
3. Geltungsbereich: Personalität versus Territorialität 117
4. Regelanspruch und Staatlichkeit 119
IV. Der Hof 121
A. Der Rat 124
1. Die 'consiliarii' 124
2. Die 'domestici' 128
3. Der Rat als Gremium 130
B. Die Hofkanzlei 139
C. Die Verbindung zwischen Hof und Reich 146
1. Externe Missionen oder: Der Hof als Ausbildungsstätte 146
2. Die 'maiores domus' 147
3. Die 'spatharii' 159
4. 'Comite's 'unterwegs im Auftrag des Herrschers' 161
5. Besondere Exekutivbeauftragte 169
a. 'vigor regius' - die ostgotischen 'saiones' 169
a.-l.) Die Verbindung zum Heer 170
a.-2.) Die 'tuitio' 171
a.-3.) Die Verbeamtung der 'saiones' als 'executores' 174
b. Die westgotischen 'saiones' 181
c. 'Saiones' und 'comitiaci' im Vergleich mit den 'agentes in rebus' 186
d. Vandalische 'ministri' 196
e. Königsknechte 198
e.-l.) Die westgotischen 'compulsores' 198
e.-2.) Vandalische Exekutoren 199
e.-3.) Die burgundischen 'witiscalci' 200
f. 'apparitores', 'executores' und andere Exekutivbeamte römischer Tradition 201
g. Exkurs zu Königsgefolgen, Landschenkungen und 'faramanni' 203
V. Die Regionalverwaltung 207
A. Germanische Ämter in der Regionalverwaltung 207
1. Die ostgotischen 'comites' 207
a. Zum Terminus 207
b. Der 'comes Gothorum' und die interne Organisation des Gentilverbandes 210
c. Der 'comes provinciae' 218
d. 'Comites' als feste Sonderbeauftragte an Brennpunkten des Reiches 222
2. Die innergentile Verwaltung 225
a. Die 'millenarii' 225
b. Zur Heeresstruktur 231
3. Die burgundische und westgotische Verwaltung 240
a. Die Genese 240
b. Die burgundischen 'comite's 245
c. 'Duces', 'comites' und die westgotische Regionalverwaltung 250
B. Die Reste der römischen Regionalverwaltung 262
1. Die Provinzstatthalter 263
2. Die 'vicarii' 273
3. Die 'praefecti praetorio' 274
4. Die Munizipalverwaltung 279
a. Der 'defensor civitatis' und andere städtische Magistrate 279
b. Stadt und Bischof 283
c. Zur besonderen Funktion des arianischen Klerus für die vandalische Herrschaft 287
5. Die Finanzverwaltung 289
a. Die Besteuerung und ihre Grundlagen (inkl. Exkurs zur Ansiedlung der Germanen) 289
b. Die Ausgaben für Beamtengehälter und Heer 295
c. Die Finanzbehörden 298
c.-l.) Die Verwaltung der königlichen Güter 298
c.-2.) Die traditionellen städtischen Ämter der Steuererhebung: 'susceptores' und 'exactores' 302
c.-3.) Ämter der zentralen Steuerverwaltung 303
c.-4.) Leitende Ämter der zentralen Finanzverwaltung (der 'comes patrimonii') 306
d. Zur Bedeutung des Steuer- und Finanzwesens 311
VI. Resümee 315
VII. Literaturverzeichnis 327
A. Quellen 327
B. Sekundärliteratur 330
VIII. Register 353
1. Verzeichnis aller Ämter (und einiger anderer Institutionen 353
2. Verzeichnis aller im Text aufgeführten Amtsträger und Herrscher 357

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Gideon Maier Amtsträger und Herrscher in der Romania Gothica

HISTORIA Zeitschrift für Alte Geschichte Revue d’histoire ancienne Journal o f Ancient History Rivista di storia antica

EINZELSCHRIFTEN Herausgegeben von Mortimer Chambers/Los Angeles Heinz Heinen/Trier Martin Jehne/Dresden Francois Paschoud/Geneve Hildegard Temporini/Tübingen

HEFT 181

Gideon Maier

Amtsträger und Herrscher in der Romania Gothica V ergleichende Untersuchungen zu den Institutionen der ostgerm anischen Völkerwanderungsreiche

Franz Steiner Verlag Stuttgart 2005

D 25

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über < http://dnb.ddb.de> abrufbar. ISBN 3-515-08505-X

ISO 9706

Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2005 by Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: Printservice Decker & Bokor, München. Printed in Germany

VORBEMERKUNGEN Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die überarbeitete, d.h. verbesserte und kondensierte Fassung einer Freiburger Dissertation von 1997. Diese wurde von Jochen Martin betreut, der mir in seiner methodischen und argumentativen Klarheit zum wissenschaftlichen Vorbild wurde. Danken möchte ich auch dem Zweitgutachter Karl Kroeschell. Den positiven Gutachten von Francois Paschoud und Joachim Szidat verdan­ ke ich die Aufnahme meiner Arbeit in die angesehene Reihe der HISTORIAEinzelschriften, ein sehr freundlicher Ansprechpartner in der Redaktion war mir Alexander F. Wensler. Für die Entstehung der Dissertation waren die präzisen und weiterbringenden Nachfragen von Stefan Esders sowie die freundschaftliche und geduldige Bera­ tung durch Eckhard Wirbelauer eine große Hilfe. Ein herzlicher Dank gebührt den vielen Korrekturlesem aus Familie und Freundeskreis, stellvertretend seien mein Vater sowie Nicolas Rüsch, mein „alter“ Freund, genannt. Unweigerlich gescheitert wäre das „Unternehmen Promotion“ jedoch ohne die Geduld meiner Frau Kerstin, die dafür auf manches verzichten musste - Danke! Zum Schluß gilt für mich wie von Anfang an: SOLI DEO GLORIA!

D urs G rünbein „In

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(bei Aquincum)

Wie vom Reisewagen gestreift eines fliehenden Siedlers Lag auf der Römerstraße die tote Amsel, zerfetzt. Einer, der immer dabei war, den nie was anging, der Wind Hatte aus Flügelfedem ein schwarzes Segel gesetzt. Daran erkanntest du sie, von fern, die beiseitegefegte, Beim Einfall der Horde an die Erde geschmiegte Schwester. Ob Daker und Hunnen, Mongolenpferde und Motorräder Schimpfend hatte sie abgelenkt von der Nähe der Nester. Mehr war nicht drin. Sieht aus, als sei sie gleich hin gewesen. Der miserablen Sängerin blieb nur sich querzulegen. Damals im Staub grober Quader, heute auf nassem Asphalt. Immer war Völkerwanderung, meistens Gefahr auf den Wegen.

Aquincum war die Hauptstadt der Provinz Pannonia inferior an der Stelle des heutigen Budapest.

INHALTSVERZEICHNIS I.

Einleitung: .................................................................................................... A. Ausgangspunkte und Fragestellungen................................................. B. Begriffe und Kriterien........................................................................... C. Quellen und ihre Interpretation............................................................

13 13 23 36

II. Voraussetzungen und Vorgeschichte der Ostgermanen:........................... A. Unruhige Zeiten..................................................................................... 1. Living on the edge - Die Liminalität der gentilen Existenz....... 2. Raubkultur....................................................................................... B. Verbände neuen T yps............................................................................ 1. Halbnomadismus und Großverbände............................................ 2. Gefolgschaftliche Organisation und Stammesbildung................ C. Römische Prägung und Föderatenstatus.............................................. D. Das Verhältnis zwischen Germanen und Romanen............................

41 42 42 43 45 45 48 56 61

III. Das Königtum - Einige Bemerkungen zu seinen Bedingungen:............. 69 A. Herrschaft über die Gentilen................................................................ 70 1. Titel.................................................................................................. 70 2. König und Verband nach der Landnahme.................................... 70 B. Herrschaft über die Provinzialen......................................................... 77 1. Das Verhältnis der Germanenkönige zur katholischen Kirche.... 78 2. Das Verhältnis der Germanenkönige zum oströmischen Im perium......................................................................................... 83 3. Römischer Herrschaftsstil............................................................. 88 4. Römische Herrscherleistungen...................................................... 91 5. Römische Titel und Ä m ter............................................................ 96 6. Die Rolle der Dynastien und die Auswahl der Königs­ kandidaten ....................................................................................... 99 a. Designation.................................................................................105 b. W ahl............................................................................................ 107 c. Erbe und Teilung....................................................................... 110 C. Die Könige als Gesetzgeber................................................................. 110 1. Die Erstellung der Gesetzessammlungen - Die Rechtstexte als Q uellen.............................................................................................. 110 2. Zielrichtung und Funktion der Gesetzessammlungen................. 115 3. Geltungsbereich: Personalität versus Territorialität.................... 117 4. Regelanspruch und Staatlichkeit................................................... 119

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Inhaltsverzeichnis

IV. Der H o f............................................................................................................121 A. Der R a t..................................................................................................... 124 1. Oie consiliarii................................................................................. 124 2. Die domestici................................................................................... 128 3. Der Rat als Gremium........................................................................ 130 B. Die Hofkanzlei......................................................................................... 139 C. Die Verbindung zwischen Hof und Reich............................................. 146 1. Externe Missionen oder: Der Hof als Ausbildungsstätte............ 146 2. Die maiores dom us......................................................................... 147 3. Die spatharii................................................................................... 159 4. Comites „unterwegs im Auftrag des Herrschers“ ......................... 161 5. Besondere Exekutivbeauftragte..................................................... 169 a. vigor regius - die ostgotischen saiones................................. 169 a.-l.) Die Verbindung zum H eer............................................ 170 a.-2.) Die tuitio......................................................................... 171 a.-3.) Die Verbeamtung der saiones als executores............... 174 b. Die westgotischen saiones...................................................... 181 c. Saiones und comitiaci im Vergleich mit den agentes in rebus.......................................................................................... 186 d. Vandalische ministri................................................................. 196 e. Königsknechte............................................................................198 e.-l.) Die westgotischen compulsores.................................... 198 e.-2.) Vandalische Exekutoren.................................................. 199 e.-3.) Die burgundischen witiscalci..........................................200 f. apparitores, executores und andere Exekutivbeamte römischer Tradition................................................................... 201 g. Exkurs zu Königsgefolgen, Landschenkungen und faramanni....................................................................................203 V. Die Regionalverwaltung................................................................................207 A. Germanische Ämter in der Regionalverwaltung..................................207 1. Die ostgotischen comites.................................................................207 a. Zum Term inus........................................................................... 207 b. Der comes Gothorum und die interne Organisation des Gentilverbandes.................................................................. 210 c. Oer comes provinciae................................................................ 218 d. Comites als feste Sonderbeauftragte an Brennpunkten des Reiches................................................................................ 222 2. Die innergentile Verwaltung........................................................... 225 a. Die millenarii............................................................................. 225 b. Zur Heeresstruktur...................................................................... 231 3. Die burgundische und westgotische Verwaltung.......................... 240 a. Die Genese.................................................................................. 240 b. Die burgundischen comites........................................................245 c. Duces, comites und die westgotische Regionalverwaltung... 250

Inhaltsverzeichnis

11

B. Die Reste der römischen Regionalverwaltung..................................... 262 1. Die Provinzstatthalter......................................................................263 2. Die vicarii..........................................................................................273 3. Die praefecti praetorio.................................................................... 274 4. Die Munizipalverwaltung................................................................279 a. Der defensor civitatis und andere städtische Magistrate...... 279 b. Stadt und Bischof...................................................................... 283 c. Zur besonderen Funktion des arianischen Klerus für die vandalische Herrschaft..............................................................287 5. Die Finanzverwaltung...................................................................... 289 a. Die Besteuerung und ihre Grundlagen (inkl. Exkurs zur Ansiedlung der Germanen)......................... 289 b. Die Ausgaben für Beamtengehälter und H eer........................ 295 c. Die Finanzbehörden..................................................................298 c.-l.) Die Verwaltung der königlichen G üter......................... 298 c.-2.) Die traditionellen städtischen Ämter der Steuererhebung: susceptores und exactores.......... 302 c.-3.) Ämter der zentralen Steuerverwaltung.......................... 303 c.-4.) Leitende Ämter der zentralen Finanzverwaltung (der comes patrimonii) .....................................................306 d. Zur Bedeutung des Steuer- und Finanzwesens....................... 311 VI. Resümee........................................................................................................ 315 VII.

Literaturverzeichnis................................................................................ 327 A. Q uellen..............................................................................................327 B. Sekundärliteratur.............................................................................. 330

VIII.

R egister....................................................................................................353 1. Verzeichnis aller Ämter (und einiger anderer Institutionen)........ 353 2. Verzeichnis aller im Text aufgeführten Amtsträger und Herrscher 357

Verzeichnis der wichtigsten Abkürzungen

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VERZEICHNIS DER WICHTIGSTEN ABKÜRZUNGEN

AIR CC CG CRP CSL MD MM MO PPO PSC PU QSP

Die Amtsträger Agen(te)s in rebus Com(it)es civitatis Com(it)es Gothorum Com(it)es rerum privatarum/rei privatae Com(it)es sacrarum largitionum Maior(es) domus Magister/Magistri militum (auch: utriusque militiae) Magister/Magistri Officiorum Praefectus/Praefecti praetorio Praepositus/Praepositi sacri cubiculi Praefectus/Praefecti urbi Quaestor(es) sacri palatii

RAC RE RGA TLL

Werke Anonymus de rebus bellicis Corpus Inscriptionum Latinarum Codex Justinianus Corpus Juris Civilis Codex Theodosianus Handwörterbuch für Rechtsgeschichte A.H.M. Jones, The Later Roman Empire 284-602, Oxford 1964 (3 Bde.) Monumenta Germaniae Historica Nottingham Medieval Studies J.R. Martindale, Prosopography of the Later Roman Empire II + III, Cambridge 1980/1992 Reallexikon für Antike und Christentum (Th.Klauser) Realenzyklopädie der klassischen Altertumswissenschaft (A.Pauly, G.Wissowa) Reallexikon für Germanisches Altertum (J.Hoops) Thesaurus linguae Latinae

Acta Synh. Anth.Lat. Brev.Al. C.Eur. Conc. Ed.Ath. Ed.Theod. Fragm.Gaud. L.Burg. L.Rom.Burg. LT L.Vis. Not.Dign.

Quellen Acta Synhodorum habitarum Romae Anthologia Latina Breviarum Alaricianum oder: Lex Romana Visigothorum Codex Euricianus Concilium/Concilia Edictum Athalarici (Varien IX. 18) Edictum Theodorici Fragmenta Gaudenziana Lex Burgundionum Lex Romana Burgundionum Legaltext des Brev.Al. (aus CTh) Leges Visigothorum Notitia dignitatum

ADRB CIL CJ CJC CTh HRG LRE MGH NMS PLRE

1 Nach Southern/Dixon 1996 S.57f. und Martin 1995 S.88 wurde der Titel Magister militum meist ununterschieden gebraucht, so daß er hier i.d.R. ohne genauere Differenzierung abgekürzt wird.

„ N ach A

u s l ö s c h u n g d e s r ö m is c h e n

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a m e n s h a b e er v o r a l l e m m it

GLÜHENDEM ElFER DANACH GETRACHTET, DEN GANZEN RÖMISCHEN R e ICHSBODEN ZU EINEM REICH DER GOTEN ZU MACHEN, DAMIT - VOLKSTÜMLICH GESPROCHEN - GOTHIA HEISSE, WAS EINST ROMANIA GEWESEN SEI, UND je t z t

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GEKOMMEN SEI, DASS WEDER DIE GOTEN WEGEN IHRER ZÜGELLOSEN W ILD­ HEIT AUF IRGENDEINE W EISE GESETZEN GEHORCHEN KÖNNTEN, NOCH DIE G esetze

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WERDEN KÖNNTEN, HABE ER VORGEZOGEN, SICH DURCH VÖLLIGE WIEDERHER­ STELLUNG schen

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NICHT VERÄNDERER HATTE SEIN KÖNNEN.“

(Der Westgotenkönig Athaulf nach Orosius adv.pag. VII. 43.4-7, Übersetzung A.Lippold).

I. EINLEITUNG A. AUSGANGSPUNKTE UND FRAGESTELLUNGEN Im Westen starb das stabilste Imperium der Weltgeschichte einen allmählichen Tod: Zwischen 400 und 470 n.Chr. wurde der gesamte lateinische Teil des römischen Reichs in germanische Königreiche aufgegliedert. Nordafrika, Britan­ nien und Teile Galliens waren nach 400 innerhalb kurzer Zeit an barbarische Kämpfer gefallen. Als unübersehbare Folgen hatten fast überall die Bevölkerungs­ dichte und der Wohlstand abgenommen. Plünderungen, Mord und Kämpfe hatten lange Zeit den Lebensalltag vieler Provinzialen geprägt. Das Imperium wurde dabei nicht als ganzes erobert, sondern eher zerstückelt. Gentile Verbände dran­ gen an vielen Stellen ein: Um 430 eroberten die Vandalen in Nordafrika ungefähr das Gebiet des heutigen Tunesien. Burgunder und Westgoten vereinnahmten ab 450 die Regionen um ihr Föderatenland in Gallien und Spanien und verdichteten diese Machtgebiete zu Reichen. Die Ostgoten schließlich marschierten 489 im Auftrag des oströmischen Kaisers in Italien ein und gewannen dort die Herr­ schaft. Diese Verbände erhielten ihre Schlagkraft durch Strukturen, die sie während der Wanderzeit entwickelt hatten (s. TEIL II.A+B). Bei der Gründung ihrer Reiche sahen sich die Germanen, die nirgends mehr als 10% der Bevölkerung stellten (s. SEITE 53f.), überall einer tiefen Feindseligkeit von Seiten der Roma­ nen gegenüber. Diese fühlten sich einerseits als Angehörige einer Hochkultur den „Barbaren“ weit überlegen und erschwerten so eine schnelle Integration der

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I. Einleitung

relativ kompakten Gruppen. Andererseits steigerten Ohnmacht und demütigende Niederlagen die romanische Feindseligkeit teilweise bis zum Fremdenhaß (s. TEIL II.D). Für die Reiche der Ost- und Westgoten, Vandalen und Burgunder wird der Einfachheit halber im folgenden zusammenfassend von den „ostgermanischen“ Gründungen gesprochen, ohne daß damit eine endgültige ethnographische Zuord­ nung getroffen werden soll. Während die enge Verwandtschaft von West-, Ostgoten und Vandalen sprachwissenschaftlich, archäologisch und durch die literarischen Quellen eindeutig belegt ist1, ist der Fall der Burgun­ der weniger klar2. Sprachwissenschaftlich scheint die Frage aufgrund der geringen lexikali­ schen Spuren kaum entscheidbar zu sein. Auch der archäologische Befund erweist sich als nicht eindeutig, da die Zeit der hunnischen Oberherrschaft und die intensiven Kontakte mit den westgermanischen Alamannen sozio-kulturelle Eigenarten verwischen mußten3. Bleiben die schriftlichen Quellen: In Plinius nat.hist. 4.29 u. 99 werden Burgunder, Warnen, Goten und „Harii“ (= Hasdingen?) den Vandalen, d.h. womöglich den Ostgermanen zugeordnet. Agathias 1.3.3 zählt die Burgunder zu den „gotischen“ Völkern; dies bedeutet bei ihm, der sich ausdrück­ lich in die Nachfolge Prokops stellte, eine Zuweisung zu den Ostgermanen4. Prokop, der die Ostgermanen als „Gotische Völker“ bezeichnete, rechnete dazu ausdrück­ lich Ost- und Westgoten, Gepiden und Vandalen, zögernd auch die Alanen5. Er stellte fest, daß sie sich hinsichtlich der Sitten, des Aussehens, der (gotischen) Sprache und der (arianischen) Re­ ligion ähnelten; dagegen nannte er etwa in BV 1.3 die Franken ebenso „Germanen“ wie Agathias in 1.2.1. Für diese Unterscheidung gibt die Herkunft der Ostgermanen aus dem Osten und damit ihre kulturelle Angleichung an die Steppennomaden unter Vernachlässigung des sprachlichen Kriteriums den Ausschlag6. Die unterschiedlichen Umwelten prägten verschiedene Kulturen aus: Im Osten ließen die Bedingungen der Steppe z.B. den Reiterkampf wichtig werden; Streifzüge und Wanderungen formten dort aristokratische Gefolgschaften und größere Verbände aus. Im Westen erforderten Wald und Sumpf das Festhalten am Fußkampf, wobei kleinteilige ländliche Organisationsformen vorherrschten7.

Für eine vergleichende Studie der vier ostgermanischen Völkerwande­ rungsreiche sprechen die äußerst ähnlichen Bedingungen ihrer Entstehung und ihres Bestehens. Sie unterscheiden sich sowohl vom Frankenreich einerseits als auch von Byzanz bzw. vom früheren Imperium Romanum andererseits. In­ teressanterweise bildeten eben diese vier Reiche den Kern von Theoderichs (Schutz)Bündnis gegen die aggressiven Franken und das „revanchistische“ By­ 1 Nach Maczynska 1993 S.37ff. fand die Zusammengehörigkeit von West-, Ostgoten und Gepiden in ihrer Überlieferung (s. Jordanes’ Getica) und auch im archäologischen Befund ihren Niederschlag. 2 Vgl. Wolfram 1990b S.363 m.Anm.14 S.455, der u.a. anführt, daß Sidonius ep. V.5, c.XII.1-22 die Burgunder „Germani“ nennt und damit den Westgermanen zuordnet. Doch nur bei Prokop und dessen Nachfolgern wie Agathias kann von solch gezielter Terminologie ausge­ gangen werden. 3 Zu den sprachwissenschaftlichen Schwierigkeiten s. Beck 1981, zur Archäologie Anton 1981 und M.Martin 1979, 1981, 1983. 4 Ähnlich auch in den Eddaliedern, s. U.Müller 1993 S.26. Vgl. auch Wagner 1986. 5 BV 1.2.2-5 und BG IV.5, weitere Stellen (u.a. zu Ammian) bei U.Müller 1993 S.16f. 6 Vgl. U.Müller 1993 S.26f. Prokop BV 1.2 unterstreicht diese „östliche“ Prägung u.a. durch eine Herleitung des gotischen Namens von den „Geten, Skythen und Sauromaten“. 7 U.Müller 1993 S.68-71; s. dazu TEIL II.B.

A. Ausgangspunkte und Fragestellungen

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zanz8. Insbesondere folgende vier Merkmale charakterisieren die Reiche der Ostund Westgoten, der Burgunder und der Vandalen: A. Der Reichsgründung ging jeweils eine Zeit unsteter Wanderung des Stam­ mesverbandes voraus, die ihre besonderen Spuren hinterließ: Einmal prägte sie das Verhältnis von Verband und Anführer, der sich durch die Erfüllung der hohen Erwartungen, die in ihn gesetzt wurden, zu legitimieren hatte. Zweitens bestimm­ te sie den lebhaften Vorgang der Verbands- oder Stammesbildung und damit dessen Strukturen9. Die halbnomadischen Gruppen waren stets von Untergang und Vernichtung bedroht. Dadurch mußte sich auch eine besondere Identität ausbilden. Drittens formte die extreme Mobilität eine besondere Anpassungsfähig­ keit aus: Mit dem Siedlungsgebiet wurde jedesmal auch ein Teil der Sitten und kulturellen Praktiken zurückgelassen. Alle vier Stammesverbände lebten vor der jeweiligen Reichsgründung schon längere Zeit innerhalb der Grenzen des Imperium Romanum - allerdings nicht im Gebiet ihres späteren Reiches. Dies unterscheidet sie grundsätzlich von den Franken: Bei diesen ist besser von einer Verschiebung bzw. Ausbreitung nach Süden zu sprechen, da nie der gesamte Verband wanderte oder das Ursprungsland verließ; so verloren sie auch nie die Nachschubmöglichkeiten von Seiten zurück­ gebliebener Stammesteile (s. TEIL II.B). B. Alle vier Verbände gründeten ihre Reiche auf dem Boden des weströmischen Reiches, mit dem sie zunächst in einem je unterschiedlich gestalteten vertragli­ chen Verhältnis standen (wobei die Vandalen von Anfang eine Sonderstellung einnehmen). Die Reichsbildung verlief allerdings recht unterschiedlich: Wäh­ rend Vandalen und Ostgoten sich ihre Reiche mit einem Schlag eroberten, bilde­ ten die Westgoten und die Burgunder, nachdem sie nach Niederlagen von der römischen Zentrale angesiedelt wurden, zunächst einen eigenständigen, bald nicht mehr direkt von Rom kontrollierten Machtbereich. Durch die Verdichtung der Herrschaft kristallisierte sich ein eigentliches Reich mit bestimmbarem Ge­ biet heraus. Dabei wurden auch die Amtsträger schrittweise übernommen. Ostgo­ ten und Burgunder unterscheiden sich darin markant von Westgoten und Van­ dalen, daß sie ihr Vertragsverhältnis zu Rom nie aufkündigten und daher u.a. in ihren Reichen das römische Recht bestimmend blieb; dies zeigte sich etwa in römischen Amtstiteln der Könige, der Anerkennung der katholischen Religion oder den conubium-Regelungen. Dagegen wurde die Selbständigkeit des Vanda­ len- wie auch die des Westgotenreichs vom Kaiser in eingeschränkter Form anerkannt10. 8 So behandelte schon 1963 Thompson vergleichend Burgunder und Westgoten; Boehm 1971 S.41ff. geht wie Anderson 1978 S. 133ff. und Bamwell 1993 von einem eigenen „ostgermani­ schen“ Reichstyp, der von einer intensiven römisch-germanischen Symbiose und relative Kurz­ lebigkeit geprägt war, aus. 9 Weber 1976 S.26 definiert Verband. 10Zum folgenden sehr gut Henning 1999 S.220ff. Vgl. Demougeot 1983. Wolfram 1990b S.356: Die Burgunder blieben mehr als Westgoten oder Vandalen „Föderaten herkömmlichen Stils“.

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1. Einleitung

Die Ostgoten eroberten Italien ausdrücklich im Auftrag und in Stellvertretung des Kaisers. Daher übernahmen sie die Vorgefundenen Institutionen und hielten sich an römische Traditio­ nen. Sie versuchten dadurch die Anerkennung des Kaisers und damit ihre besondere Legitimati­ on gegenüber den Provinzialen zu erhalten. Die Burgunder, die 406/407 über den Rhein ins Römische Reich eingefallen waren, schlossen 411 ein foedus ab11. Das foedus könnte eine Art “Gründungsurkunde“ des ersten Burgunderreiches am Rhein dargestellt haben, das ihre Anwe­ senheit links des Rheins zumindest für eine gewisse Zeit legitimieren konnte. Dabei scheinen die Quellen darauf hinzudeuten, daß Gundahar König eines Wanderverbandes auf Landsuche war. Die gentile memoria von L.Burg. 3 erinnert ihn als vierten König. Ein gutes Argument zu dieser Frage ist bei der Unschärfe der Quellen das Nibelungenlied: Dessen Schilderungen eines Reiches um Worms lassen sich am überzeugendsten mit einem rheinischen Burgunderreich erklären12. Dieses Reich war wohl eher ein bloßer Macht- und Einflußbereich ohne genauer fixierte Grenzen und ausgeprägte Organisation. - Die Existenz des burgundischen Verbandes in Gallien nach der Hunnenkatastrophe 435/436 wurde entscheidend von der durch Aetius angeord­ neten Ansiedlung 443 in Savoyen bestimmt. Die der Vernichtung nur knapp entronnenen letzten Reste der Burgunder waren zu einer offensiven, gegen die damals starke römische Reichsleitung gerichteten Politik nicht in der Lage. Zum Schutz gegen stärkere Mächte wie die Westgoten, Ostgoten oder später die Franken lehnten sich die Burgunder eng an die römische Großmacht an13. Für die ersten Jahre nach der Ansiedlung galt der Föderatenstatus im traditionellen Sinne. So erwiesen sich die Burgunder 451 auf den Katalaunischen Feldern ebenso als loyale Verbün­ dete14 wie 456 (erstmals wieder unter eigenen Königen) in einem gemeinsamen Feldzug mit den Westgoten gegen die Sueven in Spanien15. Noch im selben Jahr erweiterten die Burgunder ihr Siedlungs- und Machtgebiet - erstmals in eigener Initiative, jedoch nicht eigenmächtig. Die Burgunder nutzten dabei das Machtvakuum nach dem Tod des Aetius, dem Ende der theodosianischen Dynastie und dem Scheitern des gallischen Kaisers Avitus. Die Expansion in Rich­ tung Süden konnte Majorian mit Hilfe seines MM per Gallias Aegidius noch einmal stoppen. Im erneuerten foedus erkannten die Burgunder 458 n.Chr. die römische Oberhoheit und ihre Bünd­ nispflichten an, wogegen ihre bisherigen Wohnsitze bestätigt wurden. Die Zivilverwaltung unterstand wohl noch dem gallischen PPO. Doch mit dem Tod des energischen Kaisers wurde der Weg frei für die Ausweitung des Herrschaftsbereiches in die Rhone/Saone-Gegend bis Lyon. Dies geschah vermutlich in Zusammenarbeit mit den Westgoten und einheimischen Senatoren. Im Norden führte Chilperich von Genf aus erfolgreiche Feldzüge gegen die Alemannen durch; er gewann so die gesamte Lugd.I sowie den Großteil der Maxima Sequanorum, so daß der Macht­ bereich der Burgunder bis in den nordwestlichen Jura ausgriff. Nach 418 hatten die rastlosen Züge der Westgoten durch das Römische Reich mit ihrer Ansiedlung in Südgallien zwar ein Ende gefunden. Das Reich konnte ein vorteilhaftes foedus abschließen. Doch nach 455 begann die westgotische Emanzipation und Expansion, erst zöger­

11Ein foedus des Burgunderführers Gundahar mit dem gallischen Usurpator Jovinus 411/ 413 belegen: Orosius VII.38.3, 40.4, 32.12; Jordanes get.161; Sozomenos IX.13.2; Socrates VII.30, danach Cassiodors Historia tripartita XII.4.11-14; vgl. Agathias 1.3.3f. Gregor HF II.9; Olympiodor fr.l7f. (Müller), Sidonius carm. VII.234ff. Dazu Böhme 1974 S.151f., 205. 12So u.a. Stroheker 1958 (1965) und ähnlich entschieden Nesselhauf 1938 S.73-75. Das Epos zeigt sich auch über andere historische Phänomene wie die Bedeutung der Königsdynastie, den Untergang des Reiches und des Königs „Günther“ gegen die Hunnen gut unterrichtet: Zum Quellenwert vgl. Wisniewski 1979. 13Zu den besonderen burgundischen Abstammungslegenden s. Martin 1995 S.171. 14Der Sieg in der Entscheidungsschlacht hatte für das neue Reich offenbar große Bedeu­ tung, s. L.Burg. 17.1; ähnlich Richard 1983 c.1094. - Zu 451 s. Jordanes get.191. 15Jordanes get.231. Vgl. Cont.Prosp.Havn. (MGH Chr.Min.1.304) ad 455: „Ai Gippidos Burgundiones intra Galliam diffusi refelluntur“ (zu konjizieren ist wohl: repellunt).

A. Ausgangspunkte und Fragestellungen

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lieh, dann immer offensiver; unter Eurich erlangte das Westgotenreich 475 die Anerkennung seiner Eigenständigkeit durch Kaiser Julius Nepos16. Es läßt sich nicht abschließend klären, doch wahrscheinlich waren die Vandalen als einzige nie reguläre Föderaten gewesen. Zwar gibt es eine ganze Reihe von Vereinbarungen mit dem Imperium (411, 41617, 435, 442, 474). Doch von Anfang an konnten die Vandalen anscheinend nicht wirklich eingebunden werden. Über die Landnahme in Afrika berichtet Prosper zu den Jahren 435 und 442: „terram ad inhabitandum datam“ (der Friede von Hippo anerkannte die ersten Eroberungen), bzw.: „cum Geiserico ab Augusto Valentiniano pax confirmata et certis spatiis Africa inter utrumque divisa est“. Dieses “zwischenstaatliche” Abkommen (pax) legte eine Teilung Nordafrikas und zugleich den Tausch der Provinzen Proconsularis und Byzacena gegen Mauretanien fest. Der Vertrag sah nach Prokop 1.4.13 jährliche Tribute der Vandalen an Rom, das aber keine annonae foederaticiae lieferte, und die einseitige Stellung von Geiseln vor. Dafür wurde römisches Gebiet abgetreten, das Vandalenreich anerkannt und die Anknüpfung einer dynastischen Verbindung angekündigt18. Die Vandalen waren also wohl keine Föderaten, sie wurden nicht angesiedelt, waren zu keinerlei Hilfeleistung verpflichtet, und Geiserich wurde kein römisches Militäramt verliehen. So galt folgerichtig der erste Angriff von Justinians “Reconquista” diesem Reich.

Eine Reichsgründung auf dem Gebiet des römischen Reichs mußte bestimm­ te Auswirkungen auf den politischen Aufbau haben: Sie brachte neben grundsätz­ lichen Voraussetzungen wie der langen Tradition städtischer Zivilisation oder der schriftlichen Verwaltungstätigkeit auch institutionelle Kontinuitäten mit sich. Hier werden grundlegende Unterschiede der ost- zu den westgermanischen Königtümem etwa der Alemannen, Bajuwaren oder der Angelsachsen deutlich19. Die Ämterordnung wie auch der „staatsrechtliche Zusammenhang“ sicherten den Königen eine höhere Akzeptanz bei den Romanen. Bei den Franken dagegen ist eine deutlich geringere Bindung an römische Vorstellungen festzustellen. Zwar stellten alte senatorische Familien im 5. und 6.Jh. die überwiegende Mehrzahl der Bischöfe, anfangs auch der comites civitatis, es bestanden auch hier wichtige spätrömische Institutionen fort. Doch gilt dies erstens nur für den Süden; zwei­ tens kann daraus keine römische Kontinuität hinsichtlich der Institutionen der Zentralverwaltung abgeleitet werden - politisch bestimmend waren König und Frankenheer. „Ortsgebundene Zentralbehörden“ gab es nicht, damit auch keine feste Hauptstadt20. Ausgangspunkt und anfangs das Kemgebiet des fränkischen Reiches war eines der salfränkischen Königtümer in Nordgallien, wo der römi­ sche Einfluß schon seit Jahrzehnten rapide abgenommen hatte und eine Kultur 16So deutlich Heather 1998 S.181-194. Bamwell 1993 S.71ff. meint, daß sich die westgoti­ schen Könige als römische Beamte sahen! Absurder ist auch seine Vermutung, die Expansion der Westgoten sei im Rahmen der Diözese erfolgt. 17Zu411 vgl. Hydatius 41: Subversis memorata plagarum crassatione Hispaniae provinciis barbari ad pacem ineundam domino miserante conversi, sorte ad inhabitandum sibi provin­ ciarum dividunt regiones.“ Anders als Schulz 1993 S.180 (eine Art Ansiedlungsabkommen) Vismara 1987 (1972) S.396: 411 gab es kein foedus, das Land wurde vielmehr wie Beute ver­ teilt. Zu 416 s. Prokop BV 1.3, wonach Honorius einen Vertrag abschloß, daß die Vandalen das Gebiet besetzen sollten, ohne es zu plündern”. 18So Martin 1995 S.43: Mit dem Vertrag von 442 entstand ein vandalischer Staat; ähnlich Schulz 1993 S.92ff‘. 19Vgl. Kroeschell 1990. Dazu s. insbesondere TEIL III.C. 20So Kaiser 1993 S.92, ähnlich Brühl 1968.

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I. Einleitung

von Gentilen und Föderaten bestimmend war. Als unter Chlodwig, für dessen Vater Childerich das römische Föderaten Verhältnis noch Bedeutung gehabt hatte, die folgenreiche Expansionsphase einsetzte, gab es bereits keinen weströmischen Kaiser mehr. C. Mit ihrer besonderen Vorgeschichte hängt eine weitere Eigenart der Völker­ wanderungsreiche zusammen: Die germanischen Einwanderer waren Arianer. Sie trennte von den romanischen Provinzialen - die einheimische, alteingeses­ sene Bevölkerung der früheren Gebiete des römischen Reiches werden im fol­ genden „Romanen“ oder „Provinzialen“ genannt; “Römer” meint dagegen die Vertreter des Imperium Romanum - nicht nur Herkunft und Kultur, sondern auch die Religion. Dies liegt daran, daß sie zu einer Zeit christianisiert worden waren, als der römische Kaiser (Constantius II.) dem Arianismus zugeneigt war. Die noch bis um 500 weitgehend heidnischen Franken traten dagegen nicht zuletzt aus politischem Kalkül zum Katholizismus über. Sie präsentierten sich dem oströmischen Kaiser und der romanischen Bevölkerung als Alternative zu den arianischen Machtbereichen und bewiesen Sensibilität für die Bedeutung der römischen Kirche: Der Verlauf ihrer Geschichte zeigte dabei, welche Integra­ tions- und Kommunikationsmöglichkeiten die Zusammenarbeit mit der katholi­ schen Kirche bieten konnte21. D. Die vier Reiche hatten eine sehr ähnliche Dauer innerhalb desselben Zeit­ raums - dies bildet den logischen zeitlichen Rahmen der Arbeit. Sie alle fanden ihr äußeres Ende auffälligerweise durch Angriffe entweder der Franken oder der Oströmer. Innerlich zerbrachen sie an den angedeuteten religiösen und politi­ schen Antagonismen. Das Vandalenreich in Nordafrika bestand von 435 bis 534; fast identisch sind die Eckdaten des burgundischen Königreichs: 443 die Ansied­ lung in Savoyen, 533 der Untergang gegen fränkische Heere. Das Ostgotenreich (von 490 bis ca. 550) entstand nicht nur als letztes, sondern nimmt auch insofern eine Sonderstellung ein, daß Italien das Herzland des Imperium mit dem Kaiser­ hof von Ravenna und der „Ewigen Stadt“ Rom gewesen war; diese besondere Tradition mußte ebenso wie die Tatsache, daß die Ostgoten im Auftrag des Kaisers nach Italien kamen, auf dieses Reich Auswirkungen haben (TEIL III.B+C). So wurde es die reflektierteste „Version“ dieser Reiche, lange auch die erfolg­ reichste, wo weithin Wohlstand und Zufriedenheit herrschten. Die Gründungen weisen also eine auffallend ähnliche Beständigkeit und Dauer auf: Deutlich kürzer als die des Imperium Romanum oder des Franken­ reiches, doch nicht so ephemer wie die rein persönliche, auch territorial nicht beständige Herrschaft eines Attila oder eines Mundo. Das Westgotenreich bildet insofern eine Ausnahme, als es die Mitte des 6.Jh.s lange über­ dauerte. Die Zeit von ca. 460/470 bis ca. 550 bildet jedoch seine deutlich abgrenzbare erste Epoche. Mit der Katastrophe von 507, der verheerenden Niederlage gegen die Franken, setzte eine lange Krise ein. Die Übergangszeit bis zum Tode König Theudis’ 548, des früheren 21 Vgl. dazu etwa Esders 1993 und 1997.

A. Ausgangspunkte und Fragestellungen

19

Waffenträgers von Theoderich d.Gr., charakterisierte insbesondere die enge Anlehnung an die Ostgoten. Die folgenden zwei Jahrzehnte waren von heftigen inneren Unruhen, kurzlebigen Regentschaften und außenpolitischen Rückschlägen geprägt. Aus diesen Erfahrungen resul­ tierten die Reformen von Leovigild I. (568-586) und dessen Sohn Rekkared I. (586-601), die damit ein neues Reich, das Reich von Toledo, schufen22: 1. Leovigild vereinigte erstmals die ganze iberische Halbinsel. Zuvor hatten sich einige Regionen und Städte unabhängig von einer zentralen Lenkung weitgehend selbst verwaltet, beträchtliche Landstriche waren überhaupt noch nicht Teil des westgotischen Reiches gewesen. 2. Rekkared hob die Trennung von Goten und Romanen durch den geschlossenen Übertritt der Goten zum Katholizismus endgültig auf. Das Ende der religiösen Spaltung führte schließ­ lich zum Sieg des Territorialitätsprinzips; schon Leovigild hatte eine rechtliche Verein­ heitlichung des Reiches angestrebt. 3. Das Königtum erfuhr, wohl unter byzantinischem Einfluß, eine „Imperialisierung“, etwa hinsichtlich der Herrscherdarstellung und -Zeichen oder der Kanonisierung Toledos als fester Hauptstadt und Residenz (nach 507 hatten sich mehrere Städte abgewechselt, wäh­ rend die Könige unstet auf Feldzügen unterwegs und nur wenig etabliert gewesen waren). All dies trug zur Entwicklung einer neuen Reichskonzeption bei. Das westgotische „Spa­ nien“, wie es im 7.Jh. hieß, wurde zu einer Nation im mittelalterlichen Sinne mit ge­ meinsamer Sprache und Konfession, gemeinsamem Recht und geographischem Raum sowie einer transpersonalen Königsherrschaft. Maßgeblichen Anteil an dieser Entwicklung hatte neben der königlichen Gesetzgebung die Kirche u.a. über ihre Reichssynoden und die Bildung einer „Landeskirche“.

Die Mitte des 6.Jh.s bildete einen spürbaren und folgenreichen Einschnitt in Westeuropa. Die Einwanderung der Langobarden veränderte das nach dem go­ tisch-byzantinischen Krieg verunstaltete Gesicht Italiens endgültig; die neuen Eroberer nahmen wenig Rücksicht auf die politisch-rechtlichen Traditionen, die sie vorfanden. Italien verlor mit seiner Einheit auch die Provinzenverwaltung und erlebte eine zunehmende Regionalisierung23. Die jahrzehntelangen Kämpfe führ­ ten zum Niedergang der traditionellen senatorischen und kurialen Eliten, was sichtbare Auswirkungen auf die Bautätigkeit hatte: Nach 550 wurden keine Aquädukte, Unterhaltungszentren oder luxuriöse Badeanlagen mehr gebaut; die antiken Gebäude wurden vermehrt ausgebeutet statt erhalten. Die alten civitates verloren an Umfang und Bedeutung, während sich um die castra neue Zentren bildeten. Die Verwaltung wurde stärker militarisiert, die Ämter vermehrt erblich, während die Geldwirtschaft abnahm. Auch in Nordafrika erfolgte die “Deromanisierung“ erst nach dem Ende des Vandalenreiches durch die Einfälle der Mauren. Gleichzeitig erreichte die Expansion der Franken ihre Grenzen, ihr Reich formte sich um und etablierte sich24. In Byzanz brach nach Justinians 22Auch Collins 1980, Hillgarth 1966 und Garcia Moreno 1974b gliedern so die westgoti­ sche Geschichte; anders Kampers 1979 S.2-5. Zum folgenden insbesondere King 1972 S.85ff. und Eichberger 1991 S.75ff. Vgl. Hillgarth 1966 S.498 zur Übernahme byzantinischer Herfschaftsgesten und -techniken. 23Dazu T.S.Brown 1984, Ausbüttel 1988 S.226ff., Sirago 1993 S.115ff.; anders Harrison 1993; zu Munifizenz und Baukultur s. Ward-Perkins 1984 S.37, 69, S.32 Anm.51; zu den Eliten s. auch Stein 1920. 24Zu einschneidenden Veränderungen in Gallien zu dieser Zeit s. Classen 1977 und 1983, Tjäder 1954, Brühl 1989 (1973).

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I. Einleitung

(Über)Anstrengungen die Orientierung nach Westen weitgehend ab. Kriege im Westen wurden im griechischen Osten ab 550 zunehmend als anachronistisch angesehen; die Reichskonzeption wandelte sich zu einer abstrakteren „imperiumIdee“. In der Folge erlebte Westeuropa eine Zersplitterung und Partikularisierung, die den Weg zur Feudalisierung bzw. „Rearchaisierung“ des Mittelalters wies. Der staatlich-öffentliche Bereich verkümmerte, an seine Stelle trat der Einfluß von Bischof und Kirche25. Die dargestellten Verhältnisse legen die Annahme nahe - dies meine These daß die Zeit von der Mitte des 5.Jh.s bis zur Mitte des ö.Jh.s eine eigene Epoche und diese vier ostgermanischen Reiche einen eigenen Typ politischer Organisation bilden. Die vorliegende Studie zielt auf eine Charakterisierung dieser Herrschaftsordnung. Dabei konzentriert sie sich auf eine Analyse faktischer Herr­ schaft, d.h. der Institutionen und Ämter sowie des Wirkens der Amtsträger. Die Verwaltung läßt Herrschaftskonzeption und Machtstrukturen eines politi­ schen Gebildes erkennbar werden. Im Aufbau der Verwaltung zeigt sich der Alltag der Herrschaft, wie Macht ausgeübt und gestaltet wird. Zentraler Anspruch ist es, aus der Menge disparater Quellen sämtliche Informationen über die Amtsträger und ihre Funktionen zu erfassen, zu bestimmen und schließlich einzuordnen: Nicht im Sinne einer Prosopographie, wie sie mit der PLRE bereits versucht wurde, sondern um die Organisation der Herrschaft in der Übergangszeit zwischen Antike und Mittelalter beschreiben zu können. Insbesondere bei der großen Zahl noch genauer zu klärender Einzelffagen kann so nur eine erste Synthese erstellt werden, der sicher noch manche Forschungen folgen müssen, um zu einer adäquaten Einschätzung der Entwick­ lung staatlicher und politischer Organisation kommen zu können. Bereiche wie Ökonomie, soziale Schichten, Religion oder auch das Problem der Mythen und Genealogien, die indirekt auch mit Herrschaft und Macht zu tun haben, werden daher weitgehend ausgeklammert. Die Zusammenfassung zu einem Typ eröffnet die Möglichkeit, die nicht umfassend dokumentierten Verwaltungsstrukturen der einzelnen Reiche z.T. gegenseitig zu deuten und einzuordnen. Zugleich können Unterschiede zwischen den Reichen etwa aus ihrer schon angedeuteten je eige­ nen Genese und Vorgeschichte erklärt werden. Als Vergleichsfolien bieten sich das vorausgegangene weströmische bzw. das gleichzeitige oströmische Kaiserreich sowie als Vertreter der westgerma­ nischen Königtümer des frühen Mittelalters die Franken an: Ist etwa gegenüber dem Imperium Romanum eine Kontinuität bzw. Modifikation auf einem ver­ gleichbaren Niveau, etwa als Vereinnahmung durch die Vergangenheit, festzu­ stellen26? Oder ist schon für die Nachfolgereiche von einer „Dekomposition“ 25Wolfram 1970S.14f. 26So Strohekers 1965 S. 101-133 (besonders 103f.) These von der Fortdauer der Antike, der provinzialrömischen Ordnung und des Mittelmeerzusammenhanges unter germanischer Verwal­ tung; vgl. die Einschätzung Hartmanns 1913 S.13, in den „Föderatenstaaten der Völker­ wanderungszeit“ seien „die föderierten Truppen nur als Ergänzung der sonst unverändert erhal­ tenen sozialen Struktur und zivilstaatlichen Konstitution der Römer“ hinzugetreten.

A. Ausgangspunkte und Fragestellungen

21

römischer Staatlichkeit auszugehen, wie sie für das Mittelalter festgestellt wur­ de27? Doch es würde den Rahmen dieser Arbeit bei weitem übersteigen, auch diese Themen umfassend oder eigenständig zu erarbeiten und heranzuziehen. So werden solche Vergleiche eher am Rande gezogen. Nach einigen wichtigen Überlegungen zur Vorgeschichte der germanischen Verbände (TEIL II) werden die verschiedenen Bereiche der Herrschaftsordnung „von innen nach außen“ analysiert: Zunächst werden Betrachtungen über das Königtum angestellt (TEIL III), dann werden die Strukturen am Hof (TEIL IV A und B) beschrieben; dazu gehören auch die vom Hof als Beauftragte in das Reich hinaus gesandten Vertrauten des Königs (IV.C). Anschließend wird der komple­ xe Aufbau der Regionalverwaltung mit germanischen und römischen Ämtern dargestellt (TEIL V A und B). Das abschließende Resümee (TEIL VI) versucht die Ergebnisse zusammenzufassen und Schlußfolgerungen zu ziehen. Eine vergleichende Studie über die staatlichen Tätigkeiten in den Völkerwan­ derungsreichen gibt es bislang nicht. Hier soll nun erstmals der ausführliche Versuch einer Synopse der Herrschaftsordnung der vier Reiche unternommen werden. Zwar ist die Völkerwanderung weiter in den Mittelpunkt der histori­ schen Forschungen gerückt, doch finden Themen wie Stammesbildung, König­ tum, Kultur oder Ansiedlung deutlich mehr Aufmerksamkeit als die politische Organisation. Außerhalb der Handbücher ist dazu kaum etwas zu finden28. Zu­ dem sollen hier Momente des Wandels und der Veränderung endlich angemessen betont werden. Denn infolge der zumeist verfassungsgeschichtlichen Ausrich­ tung der Forschung lag bislang der Schwerpunkt auf den Kontinuitäten. Lange Zeit war die Geschichtsschreibung der Völkerwanderungszeit von diesem Ansatz geprägt, den insbesondere Th.Mommsen - mit den ausgezeichneten „Ostgothischen Studien“ (1889/1890) auch für die Völkerwanderungsreiche - einge­ schlagen hatte. Ihm folgten bedeutende Forscher wie L.Schmidt, E.Stein oder W.Ensslin29, indem sie die Frage in den Vordergrund stellten, welche Einrichtun­ gen des spätrömischen Staates übernommen wurden bzw. was sich von ihnen ableiten läßt. Erst der ethnogenetische Ansatz, der von R.Wenskus, M.WallaceHadrill und im Anschluß daran besonders von H.Wolfram entwickelt wurde, brachte einen Perspektivenwechsel. Ziel ist die „Umkehr der lateinischen Teleolo­ gie“, der interpretatio Romana, also die Aufwertung „autochthoner“ Traditionen. M.Wallace-Hadrill formuliert pointiert: „The Theoderich we know from the , Variae4 of Cassiodorus and from Ennodius is a ruler of Romans, devout in the service of Romanitas; the Theoderich his Gothic followers knew was a Germanic 27Angenendt 1990 S.149f. Dazu s. auch TEIL VI. 28Wie wenig der Bereich der Verwaltung beachtet wird, zeigt etwa die „I. Semana intemacional de Estudios Visigoticos“ im Oktober 1985 mit vielen führende Fachleuten der West­ gotenforschung, wo es keinen Beitrag zur Verwaltung und den Institutionen gab, vgl. den Bericht in QC 7 (1985) S.527-541. Auch in den neueren großen Veröffentlichungen zu den Goten (Ferreiro 1999 und Heather 1999) spielen Ämter und Verwaltung eine sehr untergeordne­ te Rolle. 29Ensslin 1959; Schmidt 1969 (1941); Stein 1949, 1925 und 1920/21.

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I. Einleitung

war-leader and a very different kind of man“30. Doch folgt H.Wolfram seinem eigenen Ansatz auf dem Gebiet der Verfassung nicht konsequent genug, sondern verharrt in konventionellen Geleisen; diese führen nahezu zwangsläufig auf die These einer weitgehenden institutionellen Kontinuität hin31. Doch auch für den staatlich-politischen Bereich sollte neben der römischen auch die germanische Perspektive im Blick bleiben. Durch die siegreich einwandemden Germanen mit ihren ganz eigenen und anderen Erfahrungen und Voraussetzungen wurden im Gebiet um das westliche Mittelmeer auch Veränderungen angestoßen. Dieser Ansatz liegt der vorliegenden Untersuchung zu Grunde. Im Folgenden soll der Stand der Forschung zu den Völkerwanderungsreichen zusammengefaßt werden. Neben den genannten großen Darstellungen zur Epoche, zu denen noch A.H.M.Jones’ „Later Roman Empire“ von 1964 und F.Dahns „Könige der Germanen“ 186Iff. zu zählen sind, kann eine Studie der Herrschaftsordnung der Völkerwanderungsreiche nur auf wenige umfas­ sende Monographien zu den einzelnen Reichen zurückgreifen. An erster Stelle sind H.Wolframs bedeutendes Werk zu den Ost- und Westgoten (1979/ 1990) und Peter Heathers souveräner Überblick zur Geschichte der Goten (1998) zu nennen. Zu den Ostgoten, für welche die Quellenlage am besten ist, machten dazuhin T.S.Bums und J.Moorhead hilfreiche Beobachtungen (1978-1984 bzw. 1978-1993). Eine wichtige Studie zum Aufbau der ostgotischen Gesellschaft vor der Eroberung Italiens führte P.Heather 1989 durch. Über die ostgotischen Ämter oder Verwaltungsstrukturen gibt es jedoch keine Monographie. Die neueren der genannten weitergespannten Abhandlungen zum Ostgotenreich gehen (groß)zügig über diesen Sektor hinweg. Dabei werden nicht selten Thesen der vorliegenden Literatur fraglos weiter tradiert32. - Zu den Westgoten sind noch die Arbeiten D.Claudes (1970; 1971), die wichtigen Studien von C.Sanchez-Albomoz 1971 und 1974 sowie P.D.Kings Monographie zu Königsherrschaft und Gesetz von 1972 anzuführen. Wertvolle Beiträge zur Verwaltung leistete L.Garcia Moreno (besonders 1974a). 1999 kamen noch zwei Sammelbände hinzu, die von P.Heather bzw. A.Ferreiro herausgegeben wurden. Zum nordafrikanischen Vandalenreich gibt es fast nur C.Courtois’ ausführliche Analyse von 1955 sowie H.-J.Diesners Forschungen der 50er/60er Jahre. Seither sind lediglich F.Clovers Einzeluntersuchungen erschienen (gesammelt 1993), die insbesondere der Herrscherdarstellung und -Verehrung gelten. Diese Arbeiten bestimmen den gesamten aktuellen Forschungsstand. Der

30Wallace-Hadrill 1971 S.9, ähnlich über Chlodwig S.19f. oder ders. 1962 S.48 zu den Merowingerkönigen; prägend sei die „war-leadership“ des Stammesverbandes. Vgl. Wolfram 1990a S.15ff. Für einen solchen Ansatz plädiert auch Moorhead 1986b. Ähnlich zur Methode Ulrich 1995, S.l lf., 40-42. Schon Höfler 1952 forderte die Ergänzung des rationalen Bildes der antiken Historiker von Theoderich durch die Sage als Auffassung des Volkes. 31 Ein deutliches Beispiel für eine solche Interpretation ist Murray 1988. Dabei befragt er zum einen ausschließlich römisch geprägte Rechtsquellen, zudem untersucht er die termini technici nie auf ihre Kohärenz hin, schließlich berücksichtigt er die ereignisgeschichtlichen Entwicklungen nicht (als Sekundärliteratur zieht er zumeist Grosse 1922 und Jones 1964 heran), so daß die Kontinuität römischer Institutionen fast als notwendiges Ergebnis aus seinen Studien resultiert. Die konservative Sprache der Quellen wird dabei nicht reflektiert, so daß fränkische Quellen spätantike Phänomene beleuchten, diese aber im Zirkelschluß vollständig zur Erklärung der fränkischen Institutionen genügen. 32Wolfram 1990a widmet dem gesamten Erfüllungsstab nur wenige Seiten (S.290-294, 299); ähnlich Burns 1984 (S. 102-110) bzw. 1980 (S. 168-183), Jones LRE (S.253-257), Schmidt 1969 (S.376-380). Anders die wichtigsten Werke des 19.Jh.s, Mommsen 1910 (1889/90) und Dahn 1866 III+IV, die zum Teil bis heute die Vorgaben liefern.

B. Begriffe und Kriterien

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entsprechend dünne Erkenntnisstand wird z.B. in H.Wolframs Gesamtdarstellung zu den Rei­ chen der Völkerwanderung33 unübersehbar, wo die Seiten über das Reich in Nordafrika nicht nur zahlenmäßig, sondern auch hinsichtlich der „Erklärungsdichte“ den schwächsten Teil abgeben. So gilt noch immer H.-J.Diesners Bilanz, nach der insbesondere die „politischen Organe des vandalischen Staates ... bis heute noch nicht bis in alle Details und die Besonderheiten ihrer exekutiven Möglichkeiten hinein bekannt“ sind34. Die erstaunlich geringe Aufmerksamkeit der Forschung hierfür erklärt sich zum einen damit, daß sich offenbar keine heutige Gesellschaft mit der Tradition der nordafrikanischen Vandalen identifiziert, zum anderen aus der spärlichen Überlieferung: Es gibt keine rechtsgeschichtliche Quelle; fast die gesamten Kenntnisse gründen sich auf zwei Schriften, Victor von Vitas „Historia Persecutionum“ von 488/489 und den „Vandalenkrieg“ Prokops. Nicht viel besser ist die Forschungslage bei den Burgundern, zu denen die letzten größeren, allerdings nicht immer befriedigenden Darstellungen von 1968 bzw. 1971 stammen: Während O.Perrins ausführliche Monographie „Les Burgondes“ an kaum belegten Hypothesen krankt, verzichtet L.Boehm, deren angeblich überarbeitete zweite Auflage von 1979 für unseren Bereich keinerlei Veränderung aufweist, gänzlich auf Nachweise. Zur Ereignisgeschichte sind noch anzuführen H.Wolfram 1990b S.354-361,1.Wood 1994 S.5-54 sowie die entsprechenden Seiten in den Analysen zur Föderatenansiedlungen von R.Krieger 1993 (S.76-118) und W.Goffart 1980/1988. Ähnlich wie O.Perrin bietet R.Guichard 1965 viel zur Vorgeschichte und zur Entwicklung (einschließlich statistischer Berechnungen), aber nahezu nichts zu politisch-insti­ tutionellen Fragen. Nicht vergessen werden sollte A.Covilles präzise Studie zur Geschichte Lyons von 1928 sowie die Arbeiten I.Woods (1977-1993). Keine der angeführten Arbeiten, auch kein Einzelaufsatz analysiert die Herrschaftsordnung ausführlicher, keine vergleicht den politischen Aufbau der verschiedenen Reiche miteinander bzw. mit dem des Imperium Romanum. Auch archäologische Beiträge vermögen zur Klärung dieser Fragestellung fast nichts beizutragen. Das Verdikt H.Steuers von 1982, daß die Archäolo­ gie nichts über Rechts-, damit auch nichts zur Herrschaftsordnung aussagen kann, bleibt gültig. Dies veranschaulicht der letzte wichtige, ausführlich bilanzierende Beitrag zu „Archäologie und Geschichte der Goten vom l.-7.Jh.“ von V.Bierbrauer 1994 (mit vielen bibliographischen Angaben in den Anmerkungen 284-288 S.141f.).

B. BEGRIFFE UND KRITERIEN Zur Beschreibung politischer Organisation sind Begriffe wie Amt, Staat, Verwal­ tung oder Öffentlichkeit Kategorien, auf die wir nur schwer verzichten können. Sie bilden den konzeptionellen Rahmen, in dem wir unsere soziale Umwelt erfassen, organisieren und strukturieren35. Sie helfen, zu differenzieren, Entspre­ chungen zu finden und den Maßstab zu verfeinern. Um falsche Übertragungen zu vermeiden, sollte für die weitere Untersuchung jedoch stets im Bewußtsein bleiben, daß diese Begriffe erst im Zusammenhang mit modernen Phänomenen wie Aufklärung, Rationalismus, Säkularisierung, industrieller Marktwirtschaft, bürgerlicher und sozialer Revolution, Massenmedien und Bürokratie ihre Bedeu­ tung für uns erhielten36.

33Wolfram 1990b. Ähnlich Jones LRE S.259ff. 34Diesner 1968 S.2. 35Vgl. Benn/Gaus 1983 S.6 zum Konzept der Öffentlichkeit. 36Dies belegen die ausführlichen Begriffsgeschichten zu „Staat“ (Weinacht 1968; Ge-

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I. Einleitung

Daher soll nun kurz definiert werden, was hier mit diesen Begriffen bezeichnet werden soll. Unter Verfassung soll nicht eine Konstitution nach modernem Muster, ein schriftlich fixiertes „Grundgesetz“, verstanden werden; der Begriff soll vielmehr allgemein “Institutionen, mit denen sich soziale Handlungsgemeinschaften poli­ tisch organisieren“ meinen. Diese Institutionen sind rechtlich eingebunden (etwa durch Gewohnheit oder durch Satzung) und verfügen über eine zumindest mini­ male Öffentlichkeit bzw. eine Abgrenzung von Innen und Außen37. Das Politi­ sche wird dabei mit Max Weber als der Bereich verstanden, in dem es um Macht, Herrschaft, Konflikte bzw. potentielle Gewaltsamkeit geht38. Staat bedeutet hier die allgemein anerkannte („offizielle“) höchste politische Ordnung39. A.Demandt wies zurecht daraufhin, daß auch in der Antike zwischen staatlichem und nicht-staatlichem Bereich unterschieden wurde; das Fehlen einer exakten terminologischen Entsprechung im Lateinischen widerlegt die Existenz dieser Vorstellung nicht40. Diese zentrale Gewalt, neben der auch andere politi­ sche Kräfte wie Adel, Stamm, Sippe oder Klerus bestehen können, weist im politischen Bereich die höchste Legitimation auf. Staatlichkeit bezeichnet dem­ entsprechend den Bereich staatlicher Organisation sowie auch den Grad, die Intensität oder (funktionale) Differenzierung der politischen Organisation einer Gesellschaft. Zu S.N.Eisenstadts Hauptkriterien für Staatlichkeit gehört die Fra­ ge, ob das politische System in besonderen Einheiten und Institutionen oder aber in allgemein-gesellschaftlichen Kollektiven (etwa als Priesterstaat oder in ande­ ren Formen von Personalunion) organisiert wird41.

schichtliche Grundbegriffe 6 (1990), S.1-154) oder „Öffentlichkeit“ (Hölscher 1978 und 1979, Lipp 1989, Hausen 1989, Habermas 1995; zur „Souveränität“ vgl. Quaritsch 1970 und 1986). Schon O.Brunner kämpfte gegen die Anwendung des modernen „Trennungsdenkens“, die funktionalistische Differenzierung in ökonomischen, sozialen, rechtlichen und politischen Bereich, auf das Mittelalter. Auch S.Esders 1993 wies darauf hin, daß im frühen Mittelalter z.B. kein eigenes abgegrenztes Rechtssystem existierte. So auch Koselleck 1983. Vgl. Rouche 1987 zu „privat“ und „öffentlich“ im Mittelalter. 37Kosellecks 1983 S.8. Eine ähnlich offene Definition findet sich bei Kaiser 1993 S.82 („Bauform der politischen Ordnung überhaupt“) und Schneider 1990 S.40. Schon O.Brunner 1956 (1939) lehnte den Verfassungsbegriff des 19.Jh.s für die Mediävistik ab. Interessant Flaig 1991 S.372. 38Weber 1976 S.29f. 39Vgl. Demandt 1995 S.20; sehr allgemein Martin 1990 S.229. Einer funktionalen Definiti­ on folgen etwa Stahl 1987 S.140ff., Eisenstadt 1963 S.2ff., Gukenbiehl 1995b. '“’Demandt 1995 S.21, nur so könne die Wirkung antiker Kategorien auf die Moderne erklärt werden. W.Suerbaum 1977 listet lediglich die Verwendung der Begriffe res publica, regnum, imperium und status auf, ohne auf etwaige Veränderungen rückzuschließen oder die Verwaltung zu reflektieren. 41 Eisenstadt 1963 S.4. - Im Mittelalter war zweifellos der König der Träger der Staatlich­ keit (s. Becher 1996 S.9), er war die allgemein anerkannte höchste und besonders legitimierte politische Kraft, ohne daß der politische Bereich von anderen Sektoren des Lebens geschieden gewesen wäre.

B. Begriffe und Kriterien

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In vielen Abhandlungen wird undifferenziert der engere moderne Staats­ begriff verwendet42. Als Staaten im modernen, technischen Sinn können jedoch nur solche politische Systeme bezeichnet werden, die bestimmte Kriterien erfül­ len: Ein bestimmbarer Gemeinschaftsverband, ein bestimmtes, geschlossenes Herrschaftsgebiet (was etwa einen wandernden Verband ausschließt) sowie das Monopol legitimer Gewaltanwendung43. Dieses Verständnis von Staat liegt hier nicht zugrunde. Für Antike und Mittelalter ist das Kriterium des Gewaltmono­ pols unzutreffend: „Der Staat beansprucht überall die höchste, nirgends aber die alleinige Gewalt“44. Die Existenz einer besonderen, der Lenkung politischer Anliegen nach­ gehenden Organisation in einer Gesellschaft bringt oft die Herausbildung eines Forums der Referenz (u.a. zur Ableitung von Autorität), des öffentlichen Berei­ ches, mit sich. Das Begriffspaar „öffentlich-privat“ hat seine spezifische Bedeu­ tung in engem Zusammenhang mit dem modernen Liberalismus bekommen. Daher wird es wie der Terminus „Verfassung“ hier nur selten verwendet und bezeichnet das, was alle betrifft und allen zugänglich ist bzw. den staatlichen Bereich bzw. sein Gegenstück45. ..Verwaltung“ wird hier nicht im modernen Verständnis einer geordneten, nach Kompetenzen und Zuständigkeiten aufgeteilten, rationalen Bürokratie ge­ braucht. (Staatliche) Verwaltung soll allgemeiner die reguläre, meist kontinuier­ liche ausführende Tätigkeit der staatlichen Amtsträger und Institutionen bzw. auch diese selbst - neben dem Tätigkeitsbereich auch die behördliche Organisati­ on also - bezeichnen46. Damit unterscheidet sich die Verwaltung von der weniger konkreten Herrschaft oder der Entscheidungen treffenden Regierungstätigkeit. Eine Institution bezeichnet ein konstantes, vielschichtig strukturiertes Hand­ lungsmuster mit hohem Geltungsgrad. Dieses ordnet die sozialen und politischen Beziehungen und Machtpositionen und strukturiert die Entscheidungen. Dement­ sprechend ist Institutionalisierung ein „Prozeß der Verfestigung von regelmäßig 42Zu den verschiedenen Staatsbegriffen s. Spruyt 1994 S.195 Anm. 2-5. 43Letzteres gilt seit Max Weber allgemein als das Distinktivum für „Staat“, s. Weber 1976 etwa S.821f. Daher basieren auch politologische Staatskonzepte oft auf dem Prinzip des Gewaltmo­ nopols: So North 1981 (der Staat als Dienstleister des bezahlten Schutzes), Breuer 1982, P.Evans u.a. 1985, Kräder 1968. 44 So Demandt 1995 S.20f. (der allerdings den modernen Staatsbegriff nicht ausreichend reflektiert). 45 „Öffentlich-Privat“ bildet ein grundlegendes Begriffspaar u.a. bei Angenendt 1990, Matt­ hews 1975, wo es trotz Anführungszeichen ohne nähere Ausführung bleibt, oder Veyne 1987, der zwar mehrfach betont, daß die Römer diese Bereiche nicht unterschieden, dennoch diese Begriffe ohne eine eigene Definition oder Erklärung weiter beschreibend benutzt; ähnlich bei Drew 1987 oder Lenman/Parker 1980. 46Vgl. Moraw 1980, der u.a. „Verwaltung“ stets in Anführungszeichen setzt. Andere Definitionen etwa bei Bachof 1966 und Galsterer 1976 S.3: „Kontinuierliche Ausübung staatlicher Funktionen aufgrund eines hierarchischen Unterordnungsverhältnisses und nach Regeln, die eine sachliche, räumliche und personelle Kompetenz festsetzen“ (zit. auch bei Schulz 1993 S.64); allgemeiner Fuchs-Heinritz 1994 S.722: „überwachende, disponierende Tätigkeit im Umgang mit Gütern, Tätigkeiten und Leistungen, die nach vorgefaßten Regeln geplant und stetig abläuft“.

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I. Einleitung

praktizierten Verhaltensmustern, so daß diese generalisiert und typisiert werden können und ... allgemein handlungsweisend werden“47. Die Bindung eines Ak­ teurs an ein bestimmtes Gebiet und die Ständigkeit seiner Tätigkeit sind wichtige Hinweise auf eine Institutionalisierung48. Formalisierung sichert die Identität des „Systems“ gegenüber wechselnden Personen über Verhaltenserwartungen und Rollen49. Letzten Endes können diese Regeln wie in der modernen Bürokratie verrechtlichten und rational-versachlichten, funktionalen Charakter annehmen50. Zu den politischen Institutionen zählen Ämter, Organe wie der herrscherliche Rat, die Position des Herrschers selbst oder auch Strukturen (wie die tuitio). Eine notwendige Bedingung für eine staatliche Organisation ist der Verwaltungsstab. Die Mitglieder des Verwaltungsstabs können offizielle Ämter einnehmen; dane­ ben gibt es jedoch auch andere Möglichkeiten, Befehle und Anordnungen umzu­ setzen; Etwa über die persönliche Dienerschaft oder über lediglich durch ihren sozialen Rang ausgezeichnete Getreue, die keine feste Aufgabe ausüben. Amt soll definiert sein als eine Rolle zur verantwortlichen Wahrnehmung bestimmter Aufgaben: a. Eine „Rolle“ ist die Summe „normativer Verhaltenserwartungen, die von einer Bezugsgruppe ... an Inhaber bestimmter sozialer Positionen herangetragen werden“. Soziale Positionen sind dabei „dauerhafte, von einzelnen Personen ablösbare Schnittpunkte sozialer Beziehungen“, die bestimmte Funktionen erfül­ len sollen; soziale Rollen „sorgen für regelmäßiges, vorhersagbares Verhalten als Voraussetzung für kontinuierlich planbare Interaktionen“, geben der administra­ tiven Aktivität durch Regelhaftigkeit und gesteigerte Reglementierung höhere Akzeptanz und Kontinuität51. b. „Verantwortlich“ meint, daß der Amtsinhaber stellvertretend agiert. Seine Zuständigkeit ist als Kompetenzbereich abgesteckt. Sein Handeln ist durch die Delegation begrenzt und zugleich legitimiert; Autorität erhält er „positional“ durch die Ableitung von der Spitze der jeweiligen Organisation (Gott, Kaiser, Volk, Adelsrat oder auch Herr)52. Zum Amt gehören in der Regel auch Sanktions­ möglichkeiten. Der Amtsantritt kann von besonderen, feierlichen Formen (Ur47Lamnek 1992; so auch Bühl 1994. Definitionen zu Institution bei Siemers c.622; Pieper 1992 S.265ff. 48So Becher 1996 S .ll; s. Stein-Hölkeskamp 1989 S.94ff. Gizewski 1997 S.119 m.Anm. 10.

49Vgl. Luhmann 1976 etwa S.29. 50Fögen 1993 S.56f. definiert im Anschluß an Max Weber eine rationale Bürokratie idealtypisch als nach sachlichen Gesichtspunkten geordnet, mit strikter Kompetenzenabgren­ zung, hierarchischer Befehlsgewalt und Professionalismus, dazu mit Prinzipien wie unper­ sönliche Amtsführung, Ableitung der Gewalt vom Souverän, Gliederung nach Sachressorts. 51 So Peuckert 1995. 52Autorität definiert Gukenbiehl 1995a S. 18-20 im Anschluß an Weber als „Einflußmög­ lichkeit einer Person, aber auch einer Gruppe oder Institution und ihrer Repräsentanten auf andere Personen und Sozialbeziehungen aufgrund beanspruchter und anerkannter Kompetenz und Überlegenheit“; personal, funktional oder positional (d.h. an Amt, Rang, Institution oder Organisation) gebunden. - Zur Definition von Amt vgl. auch Wolff 1966 c.33-35; FuchsHeinritz 1994 S.35.

B. Begriffe und Kriterien

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künde, Eid oder Rang, Titel) begleitet werden. Ämter gibt es nur in Gesellschaf­ ten mit bestimmter sozialer Differenzierung (mit Ansätzen zu einer zentrali­ sierten, hierarchischen und differenzierten Verwaltung)53. Mit der Schaffung von Ämtern wird politisches Handeln in bestimmten, gesonderten Rollen organisiert, „politische Aufgaben werden als Funktionen einer politischen Rolle auf Dauer institutionalisiert“54. Germanische Mitglieder des Verwaltungsstabes der Könige werden im fol­ genden in der Regel als Amtsträger bezeichnet. Denn der Begriff Beamter impli­ ziert eine eher regelmäßige und kontinuierliche Verwaltungstätigkeit nach funktio­ naler Gliederung; dies trifft bei einem Beauftragten, Bevollmächtigten oder einem bloßen Erfüllungsgehilfen der Herrscher nicht zu. Zur Analyse und Beschreibung von Ämtern und Verwaltung in den Germanenrei­ chen können folgende Kriterien55 Anhaltspunkte liefern: I. Staatlicher Regelanspruch: Zunächst muß festgestellt werden, welche gesellschaftlichen Funktionen über­ haupt von der zentralen Verwaltung wahrgenommen werden, welche dagegen anderen sozialen Systemen überlassen bleiben bzw. welche Funktionen dabei unterschieden werden: Sorgt der Staat allein für die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung im Inneren sowie für die Vertretung nach außen (wie z.B. in den mittelalterlichen Königreichen) oder auch für Wohlfahrt oder den Warenaus­ tausch? In der vorliegenden Arbeit wird für den über den primären Bereich der bloßen Lebenssicherung hinausgehenden Anspruch, das Zusammenleben bzw. Austauschprozesse in der Gesellschaft zu regeln, auch der Begriff „infrastruktu­ relle“ Regelung verwendet. Typische Sektoren sind dabei die Wohlfahrtspflege, das öffentliche Bauwesen, der Ausbau des Verkehrsnetzes (Straßen, Brücken), Nachrichtenübermittlung, Ver- und Entsorgung, Eingriffe in das Wirtschafts we­ sen und schließlich ein Engagement im Kultur- und Freizeitbereich56. Dabei kann die Ausbildung des Steuerwesens ein Indikator für gesellschaftliche Umver­ teilung und Arbeitsteiligkeit bzw. die Übertragung von Funktionen an die Obrig­ keit sein. Weiter ist zu prüfen, ob es eine abgetrennte und ständige Regionalverwaltung gibt oder ob das Territorium kursorisch vom Zentrum aus geordnet wird. Im letzteren Fall ist es möglich, daß das Herrschaftsgebiet gar nicht fixiert, sondern eher personal definiert ist (wie im Falle des Hunnen Attila). Im ersteren Fall gehört zur territorialen Fixierung eine reguläre Beamtenschaft57. 53 So Breuer 1982 und Peuckert 1995. 54Stahl 1987 S.158; ähnlich Stein-Hölkeskamp 1989 S.141. 55 Selbstverständlich kann nicht jeder Punkt des Kataloges in jedem Fall Anwendung finden. Dieser wurde u.a. anhand Max Weber 1976, besonders S. 122-147 entwickelt; vgl. auch Hintze 1962, Fischer/Lundgren 1975. Gegen Webers Standpunkt sprach sich O.Brunner 1968 (1962) S.64-79 aus. 56So C.Thoroe im Evangelischen Soziallexikon (7.Aufl. Stuttgart 1980, hg. Th.Schober) c.612f. 57 Vgl. Hintze 1962 S.266.

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I. Einleitung

II. Amtsbezeichnung und Amtsgeschichte: Zunächst muß klar sein, ob überhaupt eine eigene technische Amtsbezeichnung vorliegt oder eher ein allgemeiner Begriff. Begriffs- und wortgeschichtliche Studien können bisweilen recht präzise Analysen über die Ämter selbst oder für die Rekonstruktion der Funktion liefern; etwa durch die Untersuchung, welche Traditionen die Quellen fortsetzen, welche Vorstellungen sie mit den einzelnen Termini verbinden und in welchen Zusammenhängen sie diese jeweils benutzen. Damit sind Vorarbeiten geleistet für die Frage nach der Genese und Entwicklung des Amtes. Der Vergleich mit entsprechenden Institutionen im späten weströmi­ schen Reich, in Byzanz oder bei den Franken kann bei der dürftigen Quellenlage weitere Rekonstruktionsmöglichkeiten bieten. Dabei müssen diachrone Be­ trachtungen berücksichtigt werden, damit Konditionen und Modi der Veränderung Profil gewinnen. III. Rekrutierung und Auswahl der Amtsträger: 1. Aus welchen ethnischen und sozialen Gruppen kommen die Amtsträger? Welche Rolle spielt ihre Herkunft? Es muß untersucht werden, wo Angehörige des gentilen Verbandes und wo Romanen als Herrschaftsträger eingesetzt wur­ den. Kann dabei eine funktionale Differenzierung zwischen beiden Gruppen ausgemacht werden? Welche Verwaltungsbereiche fanden die neuen Herrscher noch intakt vor? Wie gelang es dem König, seinen gefolgschaftlich, also auf der Basis von persönlichen Beziehungen, organisierten Verband in die Vorgefundene formali­ sierte Verwaltung einzufügen58? 2. Es gibt verschiedene Voraussetzungen, Amtsträger zu werden: Aufgrund des sozialen Ranges, über Empfehlungsschreiben oder über technische Ausbildung und Qualifikation (oft wenn öffentlich-rechtliche Kriterien eine Bedeutung ha­ ben); mittels Ämterkauf bzw. -Vererbung; oder aufgrund der Nähe zum Herrscher (Verwandte, Diener, Gefolgsleute): In eher patrimonialen Systemen spielen die bewährte Treue eines Gefolgsmannes und ähnliche Erprobungsnormen die ent­ scheidende Rolle; eine informelle Ausbildung im Dienst für den Herrn kann wichtig sein, doch funktionelle Tauglichkeit geben für eine Ernennung nicht den Ausschlag. Beförderungen können auch durch ein festes Avancement nach curricu­ lum geregelt sein (= Prinzip der Anziennität). IV. Die Loyalität des Helferstabs59: Die Art der Delegation der Macht gibt Aufschluß ebenso über die Herrschafts­ ordnung wie über die soziale Differenzierung einer Gesellschaft. Die zentrale 58Zu den unterschiedlichen „Wertelandschaften“ (die differenziertere romanische Gesell­ schaft mit rechtlich-normativen Richtlinien und spezielleren Rollen einerseits, die einfacheren, stärker sozial-normativen Kriegergesellschaften der Germanen andererseits) s. Luhmann 1987 S. 132-139, 145, 149; Esders 1993. S. TEIL Il.A+B. 59Weber 1976 S.122 definiert die Tätigkeit des Helfer- oder Verwaltungsstabes als „die verläßliche Chance eines eigens auf Durchführung ihrer generellen Anordnungen und konkreten Befehle eingestellten Handelns angebbarer zuverlässig gehorchender Menschen“.

B. Begriffe und Kriterien

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Frage lautet dabei, wie Macht wirksam, d.h. möglichst ohne Autoritätsverlust und Loyalitätskonflikt übertragen werden kann. Die Autorität des Amtsträgers gegenüber den „Verwalteten“ kann abgeleitet werden u.a.: A. Von der transpersonalen Institution des Amtes („positional“) oder der Erfül­ lung der Funktion selbst, sozusagen in Akzeptanz einer allgemeinen sachli­ chen Notwendigkeit („funktional“). B. Durch die Stellvertretung des Königs, die je nach Weite der Vollmacht Ge­ horsam und Respekt zu erzwingen vermag (Herrscherbezug). C. Wie in der römischen Republik kann sich ein adeliger Magistrat über seine persönliche soziale Autorität, sein eigenes Sozialprestige und seine eigenen Mittel durchsetzen. Damit hängt der Modus der Entlohnung zusammen: Amtsträger können, wie im Mittelalter, mit Land und Abgaben versorgt werden60 oder sie werden besol­ det; auch die Vermittlung sozialer Ehre etwa durch Verleihung eines bestimmten Ranges kann diese Funktion übernehmen. Dabei stellt sich das Problem, daß Amt und Gut verschmelzen können: Wenn die „Belehnung“ nicht mehr an die Funkti­ on bzw. den Dienst gebunden ist, führt dies schnell dazu, daß die Zentrale ihre Hoheitsrechte verliert, die Macht privatisiert und die Untertanen mediatisiert werden. Liegt die Kontrolle der Ressourcen beim Herrn oder in der Verfügung des Amtsträgers? Diese Frage hat insbesondere für die Verfügbarkeit der Amts­ träger nicht unerhebliche Folgen. Sie können also über nicht unbeträchtliche (militärische, wirtschaftliche, soziale) Eigenmacht verfügen. Die Amtsträger können durch die persönliche Beziehung zum Souverän, in dessen „Haus“ sie sich womöglich aufhalten, verbunden oder korporativ-institu­ tionell organisiert sein. Im letzteren Fall kann sich ein Korpsgeist entwickeln, d.h. eine interne Gruppenidentität sowie ein Bewußtsein für die eigenen Inter­ essen61. Ein neuralgischer Punkt jeder Verwaltung ist also der Erhalt der Loyalität der Amtsträger. Wie wird die Bindung an den Herrscher je neu aktualisiert? Dazu können verschiedene Mechanismen und Rückbindungen installiert werden: a. Etwa die Konkurrenz der in strukturell gleichartige Subsysteme segmen­ tierten Behörden; oder die prinzipielle zeitliche Begrenzung der Amtsauf­ träge (Annuität) oder weitere Prinzipien des römischen Amtsrechtes wie Kollegialität und Kumulationsverbot62. Eine entsolidarisierende Wirkung hat auch die Hierarchisierung der Beamten: Die römische Verwaltung zeichnete sich durch eine ungewöhnlich ausgeprägte Abstufung der Beamten aus; die Befehlsgewalt des höheren Beamten gegenüber dem niederen wurde stark betont63. Hierarchien können nach Dienstalter oder Gehaltsklasse, Stand oder Rang, Titel oder Aufgabe oder der Nähe zum Herrscher gestaffelt sein. 60Interessant Fischer/Lundgren 1975 zum Modell von „Teilzeitbeamten“ im frühneuzeitli­ chen England. 61 In der Spätantike definierten sich die mittleren und unteren Beamten beruflich als militia; ein eindrucksvolles Beispiel dieser Haltung gibt Johannes Lydus’ Schrift de magistratibus. 62Dazu s. Bleicken 1989 S.74-83; vgl. auch Stein-Hölkeskamp 1989 S.94ff.

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I. Einleitung

Darüber hinaus gibt sie auch der Differenzierung Ausdruck: Sind die Kompe­ tenzen abgegrenzt oder stehen sie diffus und unbezogen nebeneinander? b. Positiv kann der Erhalt der Treue etwa durch Donative, Verleihung sozialer Ehre oder die Vergabe von Privilegien oder Benefizien gesichert werden. Auskunft über die Differenzierung des politischen Systems gibt die Klärung der Fragen, ob die Verwaltungsabteilungen vom königlichen Haushalt sowie ob der königliche Eigenbesitz vom staatlichen Besitz geschieden ist; sowie, ob zwischen „öffentlich“ und „privat“ Beauftragten unterschieden wird. V. „Office“ und „Commission“ - Zwei Archetypen63664: Das Verwaltungshandeln kann durch zwei gegensätzliche Typen kategorisiert werden, deren Unterschiede sich am besten in einer Tabelle darstellen läßt: Aufgabe („office44) „präventiv44

Auftrag („commission44) „korrektiv44

Zeitlich

Auf bestimmte Dauer delegiert, Kontinuität; regelmäßig

Örtlich

Bindung an bestimmtes Gebiet; territorial Rechtlich geregelt, rational

Ad hoc, singulär, sporadisch, stoßweise, kurzfristig, proviso­ risch Kein fester Bereich festgelegt

Legitimation

Auftreten

Regelgeleitet, formalisiert, berechenbar, nach Routine

Personal

Versachlicht, transpersonal; reglementierter Zugang (Erbe,Kauf, Ansehen in der Region); Qualifikation Interne Organisation Arbeitsteilung; hierarchische Gliederung Zuständigkeit

Feste Kompetenzregelungen; abgegrenzte, spezifische, differenzierte Tätigkeiten

Sondervollmacht direkt vom Herrscher einziger Rechtstitel; davon abhängig Unmittelbarer, demonstrativer Eingriff; aktuelle Reaktion auf Störungen; „Gewaltboten“ Macht wird ad personam delegiert65, persönliche Beziehung zum Machthaber ausschlaggebend für Berufung ohne ausgeprägte Hierarchien und Zwischeninstanzen; unbezogen nebeneinander Vermischte Funktionen; allgemeine Möglichkeit; oft militärisehe und exekutive Aktivitäten oder Kontrolle

63Vgl. E.Meyer 1947: Römische Ämter mit Zuständigkeitsmonopol (anders in Griechen­ land, vgl. Stein-Hölkeskamp 1989) und Zwangsmitteln. Die besondere Autorität der Ämter in Rom wird vielfach deutlich (z.B. in den Grabinschriften, wo Ämter und Rang zum Namen gehören). 64Der Gegensatz von „commission“ und „office“ wurde schon 1910 von Otto Hintze ausgezeichnet herausgearbeitet, 1962 (1910) S.242ff. 65Ein mittelalterliches Beispiel dafür nennt K.Brunner 1973 S.210: Der Rang eines marchio wurde „zunächst ad personam und ad hoc vergeben“, die Macht „unmittelbar im Sinne eines , Amts‘-Auftrages delegiert“, daher war eine Titulatur von außen häufiger als die Selbstbezeich­ nung. - Bevollmächtigt wurden zumeist Verwandte oder Hausgenossen, Hörige oder Vasallen, Günstlinge oder Gefolgsmänner. Besonders honoriert werden Treue und ständige Verfügbarkeit.

B. Begriffe und Kriterien

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Die „Kommissare“, denen die Autorität als „Stellvertreter“ übertragen wird, werden „vom Hof aus in die Provinz gesandt..., um dort die königliche Autorität zur Geltung zu bringen”66. Im Lauf der Zeit können jedoch auch diese außer­ ordentlichen Vertrauensmänner einem „Verbeamtungsprozeß“ unterliegen. Zur Beschreibung der beiden Typen wurde von L.M.Hartmann in Anlehnung an staatswissenschaftliche Untersuchungen das Begriffspaar “präventiv - repres­ siv” in die Spätantikeforschung eingeführt67. Allerdings ist der zweite Begriff mit seiner abwertenden Nebenbedeutung untauglich. Statt dessen kann diese Form der Herrschaftsordnung als „korrektiv“ bezeichnet werden: Während sich die regelgeleitete Verwaltung durch kontinuierlichen Routinebetrieb und formalisierte Verfahren auszeichnet, die sich an einem staatlichen Regelungsanspruch orien­ tieren („präventiv“), arbeitet das „korrektive“ System eher sporadisch und stoßweise in Reaktion auf Störungen68; darüber hinaus aber wird die Interaktion der Bevölkerung vom König und seinen Leuten nicht weiter geregelt. Zur Veranschaulichung der Kriterien und zugleich als Vergleichsmöglichkeit folgen einige Bemerkungen zu Kaiser und Beamten in der Spätantike69: Prinzipiell konnte und sollte der Kaiser nach der Erwartung der Reichsbevöl­ kerung immer und überall eingreifen, sei es bei der Entscheidung eines Rechts­ streits, der Vergabe eines Amtes oder auch dem Erlaß eines Gesetzes. Er war der Patron aller Reichsangehörigen, betonte aber das besondere Verhältnis zu seinen Beamten, insbesondere zu den Soldaten. Jedes Amt galt als von ihm verliehen: „Die entscheidende Eigenschaft im Selbstverständnis eines Beamten war der tatsächliche oder postulierte Kaiserbezug“70. Dieses Verhältnis wurde in Einzel­ fällen immer wieder aktualisiert. So konnte die „auktoriale“ Allmacht des Kai­ sers in beispielhaften Einzelaktionen immer wieder konkret in einen Vorgang eingreifen71: Beauftragte, die „von außen“ (vom Hof) kamen, konnten durch ihre besonders aktuelle Legitimation und ihr besonderes Verhältnis zum Kaiser die ordentlichen Beamten „überbieten“; dies konnten etwa comites, notarii, AIR und scholares oder auch PPO und vermehrt Bischöfe sein. Insgesamt erfolgte die Übertragung von Aufgaben durch den Kaiser nicht bürokratisch als von einer 66Ibid. S.261f. 67Hartmann 1913 S.22f. Wichtig etwa bei Schneider 1990 (z.B. S.54, 109); Schlesinger 1965 S.796, S.826 zur Geschichte des Begriffspaares. 68Dabei kann auch ein Bewußtsein für Öffentlichkeit vorhanden sein: Weber 1976 S.133ff. stellte fest, daß bei patrimonialer Herrschaft nicht prinzipiell alles als Persönliches des Herrn angesehen wird. 69Das Folgende insbesondere nach Migl 1994, Martin 1995 S.89-91 sowie Jones 1949 S.49ff. und Bleicken 1981 S.245ff. (er spricht u.a. von neuen „Verwaltungsprinzipien“ oder ,,-grundsätzen“ und angestrebter „Effektivität“, S.245f.; anders Migl 1994 S.237f.). 70Migl 1994 S.203. 71 Dazu Migl 1994 S.207ff. Er definiert „auktorial“ als Weiterentwicklung des patrimonialen Systems unter Ausbau objektivierter und transpersonaler Züge (z.B. die Gesetze zu AIR, die Eingriffe des Kaisers in die Anziennität zu „verrechnen“ versuchen); tatsächlich lassen sich die Verhältnisse durch Max Webers Begriffe „rational“ und „patrimonial“ nicht adäquat be­ schreiben.

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I. Einleitung

Verwaltungsspitze oder obersten Dienstbehörde aus. Nicht Kompetenzen, viel­ mehr Rang oder Würde wurden vom obersten patronus verliehen; dadurch ent­ standen die Hierarchien. Alles Amtshandeln war so nur im Rückbezug auf den Kaiser gültig. Dies brachte Delegationsprobleme mit sich. Denn die spätrömische Gesell­ schaft war fundamental von patrimonialen Normen geprägt72. Die Erwartungen der Bevölkerung an die Allzuständigkeit des Kaisers statteten dessen riesigen Verwaltungsstab mit geringer Glaubwürdigkeit und Autorität aus. Die hohen Beamten traten als „Superpatrone“ auf. Gesellschaftliches Ansehen, Rang, Sozial­ prestige oder traditionale Autorität übertrafen jede Amtsgewalt und übertragene Macht. Ein (verbindungs)reicher Senator hatte meist mehr Ansehen, d.h. etwa Anfragen und Bittsteller, als der örtliche Verwaltungschef73. Eine persönliche Beziehung konnte der Kaiser bei der großen Anzahl der Beamten in der Praxis unmöglich aufrechterhalten: Die Ämter wurden meist nach formalisierten Regeln übertragen, die eher selten durch die Allmacht des Kaisers „gestört“ wurden. Die Amtsträger waren nicht mehr patrimonial rekrutierbar - auf Kosten der Loyalitäts­ sicherung. So wurde die Reglementierung durch die formale Routine zur Kon­ kurrenz dieser Allmacht. Dauerhafte, kontinuierliche Verwaltungsleistungen waren etwa für die Steuererhebung wichtig. Z entralisiert wurden die Steuerhöhe sowie die munera für die Bürger festgelegt74. Hier entstand eine Art Instanzenzug, d.h. Kontrollund Beschwerdeweg, vom Statthalter über den vicarius an den PPO bzw. Kaiser. Allerdings fehlten rationale Richtlinien und Legitimation oder eine richtige Ver­ fahrensorientierung: Auch hier setzte sich jeweils das Sozialprestige oder das autoritativere Urteil durch. Eine weitere Folge der Systematisierung mußte eine gewisse Aufgabenteilung sein, wenn auch keine feste Hierarchie und Verteilung der Kompetenzen eingerichtet wurden; dazu kamen funktional schwer abzugren­ zende, konkurrierende Gruppen wie notarii, scriniarii oder chartarii. J.Migl zeigt am Beispiel der Regionalverwaltung, daß bei ihrer Ausbildung wie ähnlich wohl bei der gesamten Organisation der Administration kein technisch-rationaler Planungswille oder bestimmte Ordnungsprinzipien zugrunde lagen. Vielmehr wurden von Fall zu Fall ergangene ad-hoc-Regelungen ex post koordiniert und geregelt75. Doch eben diese Systematisierungen und Formalisierungen prägten die Aktivitäten insbesondere der officiales. 72Nach Martin 1995 S.91 kannte sie z.B. keine Trennung in „öffentliche und private Bereiche“. 73Die Patrone wurden vermehrt in Rechtsfällen oder als Organisatoren mit Know-how gebraucht, so Brown 1971b passim. Die spätantike Patrozinienbewegung stärkte „inofficial power structures“ (MacMullen 1988 S.77-82, 103-107). In Gallien lassen sich regionale Machtzentren der Grundherren mit Privatarmee und Forts nachweisen, vgl. Stroheker 1965 S.128ff. 74Dazu Martin 1995 S.26-28, 100-102. 75Migl 1994 passim, besonders S.153ff.; ähnlich Murray 1988 zur spätantiken Strafver­ folgung. Markus 1988 S.83 beschreibt die Reformen treffend als „emergency measures, which gradually turned into a system, created a novel kind of reality: a centralised, bureaucratic state“.

B. Begriffe und Kriterien

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Diese machten die mittleren und unteren Segmente der scharf zweigeteilten spätantiken Beamtenschaft aus. Ihre Arbeit wurde als militia oder labor bezeich­ net, sie erhielten eine (nicht sehr hohe) Besoldung: Anders als im Prinzipat erfolgte die Bezahlung nun über das salarium sowie das gesetzlich geregelte Sportelnwesen76. Weitere Vorteile brachte der Ämterverkauf über das Recht der Nachfolgerbestimmung sowie eine Entlassungsprämie; das Corps kassierte bei allen Einstellungen und Beförderungen mit. Der Verwaltungsstab gehörte deutlicher als zur Zeit des Prinzipats zur „offi­ ziellen“ Sphäre77. Die subalternen Funktionäre des Apparates wie Johannes Lydus verließen selten ihr Ressort und stiegen über eine „Ochsentour“ auf78. Sie arbeiteten in den officia der sich sozial deutlich abhebenden Spitzenbeamten (dignitates oder honores). Die „politischen“ Amts- und Entscheidungsträger, von den Statthaltern aufwärts bis zu den PPO, die dem Adel und/oder der kaiserlichen Umgebung angehörten, waren „aristokratische Amateure“. Sie wechselten je nach kaiserlicher Gunst ihre honores häufig; die durchschnittliche Amtsdauer ist schwer zu schätzen, sie betrug vielleicht ca. zwei Jahre79. Sie verfügten über ein officium mit einer der Würde entsprechenden Zahl von officiales: Für den kaiser­ lichen Hof werden 3000 zivile Beamte und 3000 palatini (schola) geschätzt; der PPO verfügte über max. 2000 Mann (s. SEITE 267); ein Vikar verfügte über max. ca. 300, ein Provinzstatthalter über ca. 100 Beamte (in CJ 1.27.1 nur noch 50). Daraus wurde auf insgesamt ca. 30.000 Zivilbeamte geschlossen80. Folgende Formalisierungen sind in der spätrömischen Verwaltung festzustellen: A) Die H ierarchisierung der Beamtenschaft war bei der Ausweitung der Administration fast unumgänglich. Gehaltszahlungen nach ausgebildetem Rang­ klassensystem lieferten eine interne Gliederungsmöglichkeit. Die Rangordnung prägte oft auch die Amtsbezeichnungen (z.B. princeps, cornicularius, primice­ rius, proximus, melloproximus). In diesen Hierarchien, die vom Heer auf die Zivilverwaltung übertragen wurden, spiegelten sich die gesellschaftlichen Werte. Allerdings betont J.Migl, daß die Hierarchien weniger nach Kompetenzen als

76Dieses kann als eine Art Gebührenordnung verstanden werden, doch waren diese Gebüh­ ren direkt an den Amtsträger zu zahlen, unterlagen also keiner Kontrolle. Martin 1995 S.194f. wertet diese Korruption als Signal dafür, daß „Staatsdiener“ mit traditionaler Autorität ohne „Prozeß der Zivilisation“ die rhetorische Abstrahierung nicht ausfüllen konnten. 77Militärisch organisiert nach dem einzigen bekannten Modell, s. Bleicken 1981 S.213ff. 78In der Präfektur rückte man nach einem Jahr um einen Posten nach oben; es gab eine geregelte Dienstzeit (meist ca. 20 Jahre), dazu Southem/Dixon 1996 S.86-88; Bleicken 1981 S.250. 79Vgl. Webers Alternative (1976 S.578) von spezialisiertem Experten und kultiviertem Allrounder. Zur Amtsdauer s. Liebeschuetz 1987 S.461; vgl. Cassiodor Varien VI.13: Je ein Jahr oder Verlängerung. *°S. Morosi 1977 S.137ff. nach Jones LRE S.590ff. Wegen des großen Andrangs gab es dazu supernumerarii sowie eine Probezeit für „Assessoren”.

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I. Einleitung

nach Rängen gebildet wurden; daher trugen sie weniger zur Organisation der Verwaltung bei als zur Strukturierung der Führungsschicht81. B) Die Delegation der Macht bezog sich auf einen bestimmten, limitierten Bereich, die Kompetenzen waren verhältnismäßig fest geregelt und geschie­ den82. Aufgaben wurden für einen bestimmten Zeitraum delegiert, eine Amtsge­ walt institutionalisiert und teilweise objektiviert. Die Amtsträger erschienen den Beherrschten oft genug als anonyme Chargen, wie Libanios in seinen Briefen reflektiert. Das Eigengewicht stereotypisierter Regelmäßigkeit, die Verdichtung der Organisation stellen nicht unwesentliche Elemente der formalisierten Herr­ schaft im spätrömischen Reich dar. So entstanden zum Teil spezifische Zuständig­ keiten, etwa feste Amtssprengel oder bestimmte Aufgabenbereiche. Dies hatte eine Differenzierung zur Folge83: Auch aufgrund der seltenen Wechsel der offi­ ciales entwickelten sich Beamtentypen wie die praefectiani, vicariani, cohorta­ les, largitionales oder palatini. Hierzu gehört auch die Trennung in militärische und zivile Funktionäre sowie die Unterteilung in Zentral- und Regionalverwaltung. C) Es wurden Kontrollmechanismen für die segmentierten Subsysteme installiert: Überwachung durch Kollegen, Instanzenzug, intern die Solidarhaf­ tung84, Gegenzeichnung, Überwachung z.B. durch AIR, curatores für Finanzen oder scholae, Entsolidarisierung über Standes- und Rangunterschiede, konkurrie­ rende Behörden oder die traditionellen Rechtsprinzipien für Ämter sollten den Mißbrauch eindämmen. D) Das Avancement wurde vielfach durch die Anziennität bestimmt. Eine Promotion richtete sich also nach dem Prinzip der Seniorität oder series matricu­ lae. Dies trug neben anderen internen Regelungen dazu bei, daß eigene Interessen und ein eigenes Selbstverständnis des Apparates entstanden, ein Esprit du Corps85. Von einer rationalen Verwaltung kann jedoch nicht die Rede sein. Effi­ zienz war selten das wesentliche Kriterium. Eine sachbezogene, funktionale Arbeitsteiligkeit ist kaum zu erkennen. Die Differenzierung erfolgte nicht nach administrativen Prinzipien, dies z.T. sogar mit Absicht: So sollten sich die 81 Migl 1994 S.237ff.; er hält die Veränderungen vor allem für quantitativ, die Organisation wurde demnach lediglich komplexer und dichter. 82Bleicken 1981 S.259f. Dazu gehört auch eine ausgeprägte Schriftlichkeit mit aktenkundi­ gen Vorgänge, Archivierung in den scrinia, Gegenzeichnung und doppelter Ausfertigung sowie z.T. sachlicher Gliederung, wie es Joh.Lydus in de magistratibus nicht müde wird zu beschrei­ ben. 83Vgl. etwa Martin 1995 S.91. Die Differenzierung in verschiedenen Beamtentypen reflek­ tiert Sidonius ep. V.7 (ca. 474 n.Chr.). 84Dazu Rosen 1990: Die Kontrolle von unten nach oben war neu, ermöglicht durch die Verringerung des sozialen Abstandes von den Amtsträgern zu den officiales·, doch hatte sie wenig Erfolg, daher findet sie sich später nur noch vereinzelt (etwa in Ed.Theod. 55, Varien 11.26, im Hunerich-Edikt). 85Migl 1994 S.176ff. bestreitet wegen des kaiserlichen Allbezugs ein bürokratisches Eigenge­ wicht oder Dienstethos. Ein Nachteil des Corpsgeist war, daß selten nach Leistung (merita bzw. labor. CTh VI.27 zu AIR) befördert wurde, so daß Leistungsdenken und (Reform)Initiativen der unteren Chargen gehemmt wurden; dazu kamen Überalterung und die Überfüllung etwa durch supernumerarii.

B. Begriffe und Kriterien

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Finanzminister ebenso gegenseitig kontrollieren wie MO und PPO. Ähnlich ist das wohl bewußte Fehlen eines „Regierungschefs“, eines „Außenministers“ oder auch eines „Kirchenreferats“ zu bewerten. Dadurch eröffneten sich dem Kaiser ständige Chancen für einen Eingriff. - Auch die Personalauswahl richtete sich selten nach der Fähigkeit, meist nach der Loyalität der Bewerber. Daneben spielten bei den officiales auch Ämterkauf, -Vererbung, Privilegien (s. die funk­ tionslosen supernumerarii oder Titularbeamten) eine große Rolle. Für die spätan­ tiken Beamten ist mit einer formalen fachspezifischen, technischen Ausbildung oder Qualifikation also kaum zu rechnen86, wenn auch gewisse ministeria litte­ rata von einem Offizialen erwartet wurden. Von Einstellungstests oder Ab­ schlußzeugnissen der ojficiales hören wir fast nie, ebensowenig von Entlas­ sungen bei Inkompetenz. Einzig bei jahrelanger Abwesenheit und Verbrechen wurden Beamte vom Dienst suspendiert. Die Kompetenzfrage wurde kaum ge­ stellt87. Man sollte allerdings nicht übersehen, daß dieses System auch Vertreter mit einem betonten Professionalismus wie Lydus hervorbringen konnte88. Effi­ zienz wird für wenige Spezialisten wie einige technische Schreibstellen bei Quästur oder Finanzverwaltung, dazu bei AIR und Militärs (CTh VII.3.1) gefor­ dert. Dieses Kriterium wird nur selten in offiziösen Quellen genannt und dann meist für ojficiales89. Bei den hohen Amtsträgern waren Bildung und „Kultiviertheit“ ohnehin vorhanden, nicht selten wurden sie hervorgehoben90. Dadurch waren rhetorisch­ juristische Grundkenntnisse garantiert. Für die Einstellung waren Beziehungen und Empfehlungsschreiben von Einflußreichen sehr vorteilhaft: Vom ausgepräg­ ten patronalen Kommendationswesen zeugen aristokratische Briefsammlungen von Symmachus über Sidonius bis Ennodius: Leute mit hohem Sozialprestige warben um einen meist gar nicht spezifizierten Posten; dabei betonten sie ledig­ lich die allgemeine soziale und literarische Qualifikation ihres Kandidaten. J.Martin resümiert, daß die Regelungsbereiche im spätrömischen Reich mas­ siv ausgebaut wurden und der Handlungsrahmen „Reich“ an die Stelle der „Stadt“ trat91. In den Kaisergesetzen fanden sich für ihn auch Vorstellungen von 86Vgl. Löhken 1982 S.39; Martin 1995 S.89-91; MacMullen 1962 S.366 zu Ämterkauf, Ansätzen zur Amtsvererbung und Sportelnwesen. Zum folgenden insbesondere Pedersen 1976. 87Die meisten Gesetzesbestimmungen zu den ojficiales sollten entweder genügend Amts­ träger für ungeliebte Dienste garantieren (Zwangsrekrutierung, -erbschaft z.B. bei Soldaten, Dekurionen oder cohortales) oder die Kandidatenzahl für umworbene Posten beschränken (etwa Verbot des Wechsels in Zentrale), Stellen bei Pedersen 1976 S.25. 88Z.B. De mag. III.50 fordert er von Neueinstellungen hinreichende Ausbildung und (Büro)Erfahrung; ähnlich II. 18; III. 14 wird der Niedergang des PPO u.a. an den neuen unprofes­ sionellen Beamten festgemacht; III.33.3: literarische und militärische Ausbildung als Voraus­ setzung für Kaisertum! Weitere Stellen bei Jones LRE S.383ff.; s. auch Jones 1949 S.51-53. 89Petersen 1975 S.29ff„ S.33 mit vielen Stellen aus den normativen Texten. 90S. dazu Nellen 1981: Durch Bildung gewannen im 4.Jh. etwa Libanios, Ausonius, Themistios, Synesios oder Symmachus Sozialprestige und Aufstiegsmöglichkeiten über Ver­ waltungstätigkeit bis zum Einstieg in oberste Nobilität; allerdings nicht als „erfahrene Ver­ waltungsfachleute“ (S.218). 91 Martin 1995 S.80, 91, 194f.; zu extrem Wes 1987 S.184. Migl 1994 S.227-230, 237ff.

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I. Einleitung

„Verhaltensformen eines allein der Allgemeinheit verpflichteten Beamtentums“, die auf die Moderne wirkten. Doch das Reich wurde zunehmend „abstrakt“ und forderte „Surrogate geradezu heraus“, wie die Patrozinien, Korruption oder die Kirche92.

C. QUELLEN UND IHRE INTERPRETATION Der Großteil der literarischen Quellen erschließt sich einer Studie, die auch Veränderungen und Verschiebungen erkennen will, erst durch sorgfältige Analy­ se. Für viele Bereiche, wie für das gesamte Vandalen- oder das Burgunderreich, erweisen sich die Quellen entweder als äußerst unergiebig; dann kann die Synop­ se der einschlägigen Zeugnisse Gewinn bringen93. Oder sie sind uneinheitlich, ja widersprüchlich; in diesem Fall gilt es, Informationen, die der eigenen Tendenz des Textes zuwiderlaufen, herauszufiltem und dementsprechend zu deuten. Bei den so gewonnenen Aussagen handelt es sich also nicht um bewußte Reflexionen der Quelle, sondern um indirekte und implizite Inhalte, z.T. geradezu gegen die „R hetorik der K ontinuität“ der Texte selbst. Diese betonen, etwa durch Über­ tragungen und Identifikationen von Völker- oder Amtsnamen oder die verrechtlichende Tendenz der lateinischen Terminologie, die Fortdauer der Romanitas94. Einige Bemerkungen zu Cassiodors Varien sollen diese Vorgehensweise illustrieren. Mit den Varien legte Cassiodor eine Auswahl der in Inhalt und Form bedeutendsten Schriftstücke aus den Jahren vor, in denen er als Quästor und MO die königliche Kanzlei leitete bzw. später PPO war. Als die Herrschaft der Ostgoten durch den Krieg mit Justinian gefährdet wurde, veröffentlichte Cassio­ dor um 537-540 diese Sammlung verschiedenster Briefe. Damit wollte er die Vorteilhaftigkeit und Rechtlichkeit der ostgotischen Herrschaft für Italien nachweisen. Er schob mit den Büchern VI und VII eine ausführliche Sammlung von Bestallungsformularen ein, die es ihm erlaubte, seine traditionalistische Sicht der Verfassung des regnum Italiae vorzubringen. In diesem Katalog werden nur zwei Ämter als gotisch gekennzeichnet, bei wenigen anderen (ausnahmslos weit hin­ ten rangierenden) sind gotische Amtsträger lediglich zu vermuten. Die antiqua­ rische, die Romanitas der Zustände betonende Tendenz ist unübersehbar95. So bestätigt die Differenzierung sowie „Ansätze“ zu Spezialisierung, Kompetenzenregelung, Ab­ straktion und Objektivierung. 92Vgl. die zweifelhafte These Gizewskis 1997 S.144-149: Der Großteil des spätantiken Verwaltungshandeln sei von Rechtlichkeit und regulärer „Amtspflicht“ bestimmt worden (wo­ bei er dies überhaupt nicht definiert). 93Ein solches Verfahren schildert schon Hauck 1955 S.204, wenn er unter der christlichen Decke mittelalterlicher Schriften verborgene frühere Kulte herausschälen will. 94Vgl. Amory 1994 S.439f. 95Cassiodor ordnet die Würden streng traditionell und rational, wenn er mit consul, patri­ cius und PPO beginnt und darauf nach den drei spätantiken Rängen ordnet (Illustrat, Spektabili­ tät und Clarissimat), als Goten, meist ohne Rangprädikat, das Sagen hatten. Die Ähnlichkeiten mit der Notitia Dignitatum sind unübersehbar. Die Formalisierung sollte als Modell, Propaganda und Direktive für Beamte dienen. Ähnlich schematisierte Cassiodor auch den Aufbau der

C. Quellen und ihre Interpretation

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werden z.B. viele „technische“ Ämter aufgezählt, welche die herrscherliche Fürsorge für Allgemeinwohl und Wohlfahrt unterstreichen96; zudem werden Institutionen angeführt, die zwar einst bedeutend waren, jedoch nicht einmal in den anderen Büchern der Varien selbst noch einmal Vorkommen. Ein schönes Beispiel dafür bietet die Formel VI. 13, durch die ausscheidenden officiales die titulare Würde eines magister scrinii verliehen wurde. Mehrfach wird dabei das Alter und die lange Tradition dieser papierenen Pensionärswürde betont97 - der magister scrinii ist aber für die Ostgotenzeit gar nicht belegt! Dem Zwang der konkreten Zustände enthoben, zeichnete Cassiodor in diesen Abschnitten Ver­ hältnisse, die starke Kontinuitäten zum Imperium Romanum aufweisen, so aber sicher nicht mehr (oder überhaupt nie) Bestand hatten. Dies kann gerade aus den Varien selbst erschlossen werden98. Aus solchen oder ähnlichen „ideologischen“ Gründen kann mit nur un­ deutlichen und sparsamen Hinweisen auf Veränderungen und Neuerungen gerech­ net werden. Dadurch kommt aber solchen Hinweisen gleichzeitig ein hoher Stellenwert zu. Gerade dann gewinnen Veränderungen notwendigerweise an Bedeutung. Ein weiterer methodischer Grundsatz dieser Arbeit richtet sich dage­ gen, Anleihen m it Abhängigkeiten zu verwechseln: Es genügt nicht, zur Be­ stimmung eines Phänomens nur nach einer Entsprechung im römischen Reich zu suchen und, im positiven Fall, zufrieden die Einordnung in die Tradition zu konstatieren99. Vielmehr muß dann erst geklärt werden, welche Funktion oder Motivation eine Übernahme bzw. ein Wiederaufgreifen in der konkreten Situa­ tion haben konnte! - Bei dieser für Untersuchungen zur Verwaltung der Germa­ nenreiche schwierigen Quellenlage ist es sinnvoll, immer auch philologischhermeneutische Studien bzw. terminologische Einzelanalysen vorzunehmen. Als weiteres folgenschweres Hindernis baut sich die S prachbarriere auf. Kein einziger Bericht schildert die Ereignisse unvermittelt aus der Sicht der Germanen. Alle Texte wurden in Latein oder Griechisch geschrieben und weisen damit in ihren Informationen über die germanische Herrschaftsauffassung minde­ stens eine Brechung auf. Diese wird fast immer durch eine zweite ergänzt: Fast alle Autoren waren Romanen. Neben das Problem der rein lexikalischen Über­ setzung tritt damit der jeder Gesellschaft immanente Antrieb, den Diskurs, und

Präfektur in den Briefen XI. 18-35, vgl. Stein 1920/21 S.231f. Hinweise auf eine spätere Überarbeitung nennt O’Donnell 1979 S.66ff. 96Etwa VII.6-9; 15 usw. Diese Funktionen waren für die Herrscherdarstellung im noch stark von römisch-imperialen Strukturen geprägten Italien wichtig (s. TEIL III.B). 97VI. 13.6: „Comitivam quoque tibi primi ordinis, qum tali militia perfunctis cana deputavit antiquitas, secundum statuta divalia vindicabis. Haec quidem priscorum beneficio consequeris, ...“. Ähnlich verhält es sich mit dem consistorium (VI.6 und VI.12; V.41) oder der Stufung in comites primi und secundi ordinis (VI.12; VII.26). 98Es ist mehr diese Tendenz der von Sprandel 1957 S.54f. monierten Rhetorik („Die Verbindung mit der antiken rhetorischen Tradition ist bei dem Cassiodorstil zu deutlich, als daß wir in den „Varien“ eine sachgemäße und technisch genaue Darstellung der Ämterverfassung erwarten dürften“), die der Interpretation die meisten Schwierigkeiten bereitet. " S o jedoch z.B. Kohlhas-Müller 1995 S.61ff.

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I. Einleitung

im besonderen den von außen aufgezwungenen, zu be- und überwältigen100. M.Foucault beschreibt, wie Prozeduren der Ausschließung und Kanalisation den Diskurs organisier- und kontrollierbar zu machen suchen; auch die interne, je eigene Klassifikation und Anordnung prägt die Sprache. Jede Sprache verfügt über unverwechselbare und ureigene Axiome, Definitionen, Logiken und Metho­ den, nach denen die Sätze und Begriffe gebildet werden101. So kommt es, daß es z.B. im Mittelalter keine befriedigende lateinische Bezeichnung gab für Gefolg­ schaft, Königsnähe, bestimmte Typen von Königen oder die Großen des Hofes, den germanischen Adel. Diese Phänomene ließen sich in der römischen Rechts­ und Verwaltungssprache offenbar nur umständlich ausdrücken. Statt dessen wur­ de jeweils ein „Sammelsurium“ farbloser Ausdrücke aufgeboten102. Die spätantiken Quellen vermitteln deshalb das Bild einer politischen Ord­ nung, das „staatlicher“ wirkt als es in Wirklichkeit war. An die vorgegebene antike Begrifflichkeit suchten die völkerwanderungszeitlichen Autoren ihre Lebenswirklichkeit anzugleichen103. Cassiodors Latein etwa, so bemerkte Conti, „ammanta di panni Romani vincoli e rapporti germanici sin quasi a celare la loro vera natura, che non doveva essere invece sostanzialmente intaccata siccome troppo forte era la tradizione ehe la presidiava e siccome qualsiasi altra forma di fedeltä sarebbe riuscita in un certo senso aberrante dell’ ancora non molto evoluto mondo giuridico dei Goti“104. Die verrechtlichte lateinische Verwaltungssprache weckt häufig den Eindruck von Kontinuität und regelhafter Steuerbarkeit des Verwaltungshandelns. Doch ex factis ist ein solches Handeln oft nicht zu fassen. Dazu kommt, daß Gesetzescodices einen Großteil der Quellen zur Herr­ schaftsordnung bilden. Ein prinzipielles Problem zur historischen Aussagekraft juristischer Texte beschreibt A.Demandts Diktum, die Gesetze belegten „immer nur zweierlei: Den Zustand, der geändert werden soll, und den Wunsch des Gesetzgebers. Daß dieser erfüllt worden wäre, ergibt sich aus dem Gesetz nicht“105. Die germanischen Könige verfaßten die Codices u.a. mit dem Vorhaben, einen 100 So Schwarcz 1993 S. 18-20 zum methodischen Problem, daß alles nur in griechischrömischer Fassung und Sicht überliefert ist; auch Wolfram 1970 S.2 notiert die erhebliche römische Prägung über das lateinische Vokabular. Vgl. jetzt auch Heather 1999 S.357f. 101 Foucault 1974 S.22ff. Was Foucault für die Abgrenzung der Wissenschaftsdisziplinen herausarbeitete, kann auch zum Muster für die Abgrenzung zwischen Sprachen ausgeweitet werden. Vgl. dazu auch die kluge Studie von Todorov 1985. 102 Z.B. proceres und obtimates für den Adel bei den Franken, Burgundern oder Goten. Beides sind denkbar unspezifische Benennungen (dazu s. TEIL IV.A.3). Vgl. Sprandel 1957 S.65ff., Schlesinger 1963c S.371, Dahn 1894 S.185. Vgl. auch Hannig 1982 S.44ff. zur formel­ haft-protokollartigen Sprache der lateinischen Quellen des Mittelalters; interessant Wolfram 1968 S.489. 103 Z.B. die Lex Salica, deren Autor einen spezifisch römischen Zugriff auf das Recht vorführt, s. Esders 1993. Zum Mittelalter Keller 1989 S.206. 104 Conti 1971 S.118f.; s. auch S.94. l05Demandt 1980 S.628. Ähnlich Moraw 1980 S.152: Das Bild sei „stark Uberrationalisiert und harmonisiert“, da durch die rechtlichen Quellen das „Sollen“ gegenüber dem „Sein“ überrepräsentiert würde. Zu den Grenzen der Rechtsquellen auch Schlinkert 1996 S.462 mit Anm.22; MacMullen 1964 zur Diskrepanz zwischen Realität und CTh.

C. Quellen und ihre Interpretation

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imperialen, von der romanischen Bevölkerung erwarteten Gestus einzunehmen. Das hatte zur Folge, daß sie auch Bestimmungen in die Gesetzessammlungen aufnahmen, die keine Aktualität mehr besaßen. Dieses Problem wird deutlich etwa beim Brev.Al. oder den für das Vandalenreich allgemein als zentrale Quelle herangezogenen Hunerichedikten106. Deren Quellenwert für die realen Verhält­ nisse muß insoweit bezweifelt werden, als hier weitgehend römische Anliegen ohne speziellere Anpassung an die veränderten Strukturen des westgotischen bzw. vandalischen Machtbereichs zitiert werden. Verläßliche Schlüsse lassen sich jedoch, wie ich denke, letztlich nur aus Erlassen ziehen, die eigens zu einem bestimmten Amtsträger der aktuellen Zeit erlassen wurden, oder aus Berichten, die einen konkreten Amtsträger in Aktion zeigen. H. Cancik und J.Rüpke stellten für eine ähnliche Problemlage drei methodi­ sche Grundsätze für die Untersuchung von Funktionären auf107: I. ) Historisierung („Temporalisierung“), 2. ) Regionalisierung, 3. ) Personalisierung der Quelleninformationen. Dies meint die Bevor­ zugung tatsächlich praktizierter Handlungen gegenüber den allzu oft studierten programmatischen Entwürfen, z.B. Gesetze. Die vorliegende Arbeit setzt sich eine strikte Historisierung zum Ziel. Demzufolge müssen beispielsweise einige Ergebnisse zum westgotischen Hof revidiert werden108. Fast alle Studien zur Verwaltung der Westgoten konzentrieren sich bisher auf das spanische Reich seit Leovigild. Wird dagegen das Tolosanische Reich beschrieben, zu dem erheblich weniger Quellen vorliegen, werden vorschnell Quellen herangezogen, die eigent­ lich zunächst sorgfältig auf ihren Aussagegehalt für das 5. und 6.Jh. hin überprüft werden müßten. Eine Analyse der Herrschaftsordnung im Westgotenreich zwi­ schen 450 und 550 muß also strikt historisch arbeiten und diachron differen­ zieren. Das bedeutet im konkreten Fall: Um unkorrekte Übertragungen zu ver­ meiden, werden in der vorliegenden Arbeit fast ausschließlich die Antiquae der westgotischen Gesetze herangezogen, d.h. die Gesetze, die im 7.Jh. aus dem sog. Codex revisus Leovigilds übernommen wurden. Dort wurde nach allgemeiner Auffassung gegenüber dem C.Eur. nicht viel verändert109.

106 Auf die Problematik des Brev.Al. verweist Stroheker 1937 S.90ff.; zur Diskussion der Quellen bzw. ihrer Anpassung s. Rugullis 1992 S.29f. Zu den Rechtssammlungen und ihrer Problematik ausführlicher s. TEIL III.C. 107 Cancik/Rüpke 1994, besonders S.289L 108 S. TEIL IV.A. So fordert Ulrich 1995 S.l lf„ 40-42 methodisch „diachrones“ Vorgehen (obwohl er dann selbst von Tacitus* „Germania“ auf die Völkerwanderungszeit schließt). Dage­ gen leidet etwa Sellerts Studie 1992 an mangelnder Historisierung (er faßt die Zeit vom 5. bis 9.Jh. zusammen und für die Westgoten vor allem Bezug auf das 7.Jh.) und einer fehlenden Differenzierung der verschiedenen Rechtstexte, etwa nach der Intensität des römischen Einflus­ ses der jeweiligen Region. 109 So Stüven 1995 S.33. Vgl. dazu Zeumer im Vorwort der L.Vis.-Ausgabe sowie 1898 S.426-433; King 1972 S.l3f. u.ö.; dezidiert D’Ors 1960 Einleitung. Collins 1986 S.27ff. ordnet den größten Teil der Antiquae dem C.Eur. zu. Beispielhaft für die zeitliche Ausrichtung Thomp­ son 1969.

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I. Einleitung

Wie zweifelhaft für den Zeitraum unserer Untersuchung andererseits eine strikte Trennung zwischen Hagio- und Historiographie ist, lehren nicht zuletzt Heiligenviten von so eminentem historischen Wert wie die Vita Severini des Eugippius (ca. 511), die Vita Epiphanii des Ennodius (ca. 504), die Vita Augusti­ ni des Possidius (um 435) oder die Vita Fulgentii des Ferrandus (zwischen 527 und 546). Ähnlich verhält es sich mit der Historia Persecutionum (488/489, vgl. Victor HP 1.2), die trotz (oder gerade wegen?) radikaler Einseitigkeit viele wertvolle authentische Informationen enthält110.

110 Zu Victor vgl. Martin 1995 S.248; Diesner 1965 c.987 und Courtois 1954: Victor verwendet z.B. „staatsrechtliche“ Termini präzise (so nennt er Erlasse der Vandalenkönige ausschließlich decretum, praeceptum oder iussio; der Begriff lex bleibt dem Kaiser Vorbehal­ ten). Zur Vita Fulgentii s. Mordek 1989 („Panegyricus mit durchaus wahrheitsgetreuen Zügen“), zu den Viten des 5. und 6.Jh.s allgemein Klingshim 1994 S.8ff., zu Possidius’ Augustinusvita vgl. Hamack 1930 („die reinste und zuverlässigste Biographie des kirchlichen Altertums“).

II. VORAUSSETZUNGEN UND VORGESCHICHTE DER OSTGERMANEN

In Studien zur Völkerwanderungszeit wird eine Frage weithin vernachlässigt, die sich doch aufdrängt: Wie waren die Germanen1 vor der Gründung ihrer Reiche organisiert, wovon waren sie geprägt? Welche Ideale, Ziele und Erfahrungen brachten sie mit? Zusammenhalt, Lebensweise und Geschichte dieser Verbände sollen nun durchleuchtet werden. Die Germanen waren in römischen Kategorien nicht zu fassen. „Die vollkom­ men andere Beschaffenheit barbarischer, gefolgschaftlich organisierter „Stäm­ me“ mit all ihren Fluktuationsmöglichkeiten läßt eine einfache Übernahme von aus der Betrachtung mediterraner, städtisch organisierter und hinsichtlich Perso­ nen- und Bodenrecht als „Staaten“ vollkommen anders faßbaren Gemeinwesen früherer Zeit gewonnenen Maßstäben zum Teil als unangebracht erscheinen“2. Dies zeigt sich etwa schon daran, daß die Römer Mühe hatten, an ihrer nördlichen Grenze verläßliche politische oder strategische Informationen zu sammeln. Denn dort gab es keine städtische Zivilisation, Residenzen oder ähnliche Institutionen. Anders als die ebenfalls institutionell und zentral organisierten Perser waren die Germanen Feinde mit unbekannter, geringerer Organisation - zugleich „seducti­ ve in their disorganization“3. Die mediterranen Kategorien werden im Blick des Agathias auf die Franken deutlich (1.2.1-8): Seßhaftigkeit? Verwaltung mit Ge­ setzen und Beamten, „Bewußtsein für die Öffentlichkeit“? Städte und Feste? Ehen und Verträge? Kirche? Jordanes berichtet in Getica 301 von einem geradezu idealtypischen Fall barbarischen Lebens: ,Mundo4 ... in incultis locis sine ullis terrae cultoribus divagatus et plerisque ab actoribus scamarisque et latronibus undecumque col­ lectis ... agresti ritu praedasque innectens vicinis regem se suis grassatoribus 1 Der Germanenbegriff (dazu s. Rübekeil 1992 und Schwarcz 1993 S.17) der Völkerwan­ derung besaß nach Wagner 1986 nur wenig Trennschärfe. Sprachliche Verständigung war unter den Germanen wohl gut möglich, nach Prokop definierten sich die ostgermanischen Völker insbesondere über die gemeinsame Sprache (s. SEITE 14; zur Verbreitung s. Markey 1989, Lee 1993 S.66ff.). Vgl. King 1988 S.147f.: Geringe Einheitlichkeit der Germanen. Demandt 1995 S.477ff. verweist auf ein Zugehörigkeitsgefühl etwa in Abstammungssagen. 2 Ulrich 1995 S.140. Schön Pelz 1993 S.5: „Im Gegensatz zu der Welt der Nomaden, die die Oberfläche ihrer Territorien über die Wege, auf denen sie sie durchwandern, ordnen, ist die Welt der Seßhaften in Kreisen konstruiert, in Bildern eines Universums, das konzentrisch um die Wohnstätte angeordnet ist.“ 3 Lee 1993 S.34. Zum Vorausgehenden Ders. S.170ff., S.87, S.147ff. S.104f. Zur Lebens­ weise der Perser s. Libanios ep.331.1, Lee 1993 S.32ff. Prokop BP 1.3.5: Nur die Perser kannten auch zentralisierte politische Strukturen und Gesetzlichkeit. 4 Croke 1982 gelang es, diesen als einen gepidischen Prinz zu identifizieren (vgl. Joh.Malalas XVI.450f.).

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II. Voraussetzungen und Vorgeschichte der Ostgermanen

fecerat„. „Mundo schweifte in unbewohnten Orten ohne Bauern umher; er sam­ melte seine Anhänger zum größten Teil aus Verbrechern, Strauchdieben und Räubern, führte ein rohes Leben von der Beraubung der Umgegend und hatte sich seinen Anhängern zum König gemacht.“ Dieser Mundo, ein gepidischer Prinz und ferner Nachkomme Attilas, hatte sich einer Festung jenseits der Donau bemächtigt; doch stand er kurz vor seiner Vernichtung durch oströmische Heere. Folgende Prinzipien lassen sich daraus ableiten: A. In den Grenzgebieten zwischen mediterraner Hochkultur und dem Barbari­ cum der (halb)nomadischen Steppenvölker („in incultis locis sine ullis terrae cultoribus“) entstanden unter hohem Druck stark destabile Strukturen: Einer­ seits waren die dort lebenden Gruppen ständig von Vernichtung bedroht andererseits suchten sie von der Nähe zu den reichen Ländern zu profitieren und richteten sich gezielt auf Raub aus („Raubkultur“). B. Die schweifende Lebensweise („divagatus“) brachte völlig neue Verbände hervor: Die Mentalität solcher in ständigen Kämpfen stehender Gruppen war von kriegerischen Idealen und heroischem Pathos geprägt. Bei der hohen Mobilität spielten soziale oder ethnische Herkunft eine geringe Rolle. Die Organisation erfolgte vielmehr gefolgschaftlich. Als Kohäsionskräfte wirk­ ten die gemeinsamen Ziele und der erfolgreiche Anführer. Dessen Position wurde zunehmend wichtig, bei großem Erfolg konnte er den Status eines Königs erlangen. C. Die vielfältige, ständige Berührung mit der römischen Zivilisation konnte auf die Verbandsstrukturen nicht ohne Wirkung bleiben (z.B. der Status als Föderaten). D. Im Erfolgsfall, speziell nach erfolgreicher Landnahme, konnte sich so aus dem Verband ein neuer Stamm entwickeln. Diese vier Prinzipien werden im Folgenden näher erläutert.

A. UNRUHIGE ZEITEN 1. Living on the edge - Die Liminalität der gentilen Existenz Friedlosigkeit kennzeichnete seit dem Ende des 4.Jh.s die Situation insbesondere am Nordrand des römischen Imperiums. Die massiven Bewegungen und Ver­ schiebungen im Steppenraum hatten die römische Grenzsicherung kollabieren lassen. Verwüstungen und Kriege, zunehmender Steuerdruck und die nachlassen­ de Schutzkraft der Reichszentrale hatten in diesen Regionen die Bindungen der Provinzialen an das Reich empfindlich gelockert. Dem Leben dort war jede Sicherheit genommen. Orientierungslosigkeit herrschte auf beiden Seiten. Durch die Vorstöße starker Nomaden verbände aus dem Osten war das Kräftegleich­ gewicht von Grund auf zerstört worden. Nach dem jähen Zusammenbruch des Attilareiches 453/454 standen viele germanische, sarmatische und hunnische Verbände vor dem Kampf urn’s nackte Überleben. Die Positionen im Spiel der Kräfte mußten vollständig neu definiert werden; ganze Gruppen und Stämme

A. Unruhige Zeiten

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waren zerschlagen worden oder blieben ohne Einbindung in ein politisches oder ökonomisches System. In blutigen Verteilungskämpfen wurde um die besten Plätze am Rande des römischen Imperiums gestritten. In der unerhört labilen Situation war die Kohäsion der alten Stämme deutlich geschwunden, die Verbän­ de zerfielen in kleinere Einheiten unter adliger Führung. Dauernder Menschen­ mangel lastete auf den gentes. Im Vordergrund des barbarischen Lebens stand die Unstetheit, der ständige Kampf, die unablässige Bedrohung der physischen und sozialen Existenz - die Liminalität des Daseins. Dies veranschaulicht das Schicksal der Ostgoten nach der Schlacht am Nedao 4545. Theoderichs Vater Thiudimir und dessen Brüder beherrschten als Verlierer, die auf der Seite der Hunnen gekämpft hatten, nur noch den geringeren Teil der Ostgoten; als Föderaten bekamen sie inmitten feindlicher Stämme Siedlungsplätze im Nordwesten des Ostreiches zugewiesen. Byzanz wollte nach den Erfahrungen mit Attila keine Hegemonialmacht mehr an seiner Nordflanke dulden. In der darauf besonders unter Zeno bis zur Perfektion entwickelten Schaukelpolitik6 - etwa ver­ schiedene Fürsten über Jahresgelder zu festigen, „wofür sie gelegentlich das Plündern unterlie­ ßen“ -, fungierten die Ostgoten dieser Gruppe als Gegengewicht zur starken, konkurrierenden gotischen Partei um Aspar und Theoderich Triariussohn. Ihre Lage war in dieser feindlichen Umgebung extrem bedroht. Der nördliche Balkan blieb sich selbst überlassen und wurde schnell „barbarisiert“. Die folgenden Jahre wurden für sie zu einem einzigen Kampf um die Selbst­ behauptung mit endlosen Märschen; noch 479-481 stand Theoderich, von byzantinischen Strate­ gen in eine Falle gelockt, wenige Schritte vor dem Abgrund der völligen Vernichtung. Deutlich wird dies auch am Los der Burgunder: Als sie - wahrscheinlich unter dem Druck Attilas (worauf auch die Berichte der Kirchenhistoriker reflektieren, wenn sie die Bekehrung der Burgunder auf eine massive Bedrohung durch die Hunnen zurückführen) - einen Vorstoß in die Belgica I wagten, wurden sie von Aetius und dessen hunnischen Söldnern fast vollständig vernichtet, auch ihr König Gundahar fiel7. Nur knapp entgingen die Burgunder der endgültigen Auslöschung als eigenständige „politische“ Einheit; vermutlich konnten sie für einige Jahre keinen König, das Symbol der gentilen Existenz, mehr erheben. Das „Burgunderreich am Rhein“ war mit einem Schlag zerstört worden - eine Erschütterung, die noch im Nibelungenlied nachklingt. Auch im weiteren Verlauf der Geschichte traten die Burgunder militärisch nie mehr besonders machtvoll auf (s. SEITE 24Iff.).

2. Raubkultur Einerseits wurden die Verbände zu ihrer kriegerisch-räuberischen Lebensweise getrieben, weil sie durch fremde Invasoren und durch die Bedrohung am Rande der unruhig gewordenen Steppe entwurzelt worden waren. Andererseits war es eine eigene Entscheidung, die Grenzlage zu den reichen Ländern des Südens für die eigene Bereicherung zu nutzen - „der Krieg als Möglichkeit des Lebens­ unterhaltes“8. Attilas Beispiel hatte Schule gemacht. Das Römische Reich erwies 5 Zum Folgenden Heather 1991; Wolfram 1990a S. 17-20 und 259-278; ähnlich Martin 1995 S.46-48; Miller 1996. 6 Dazu vgl. Pohl 1988 S.19ff.; die Zitate ibid. S.19 bzw. Ders. 1980 S.260. 7 Dazu besonders Prosper 1322 ad 435; Chr. Gail, ad 436; Hydatius 108 ad 436 und 110 ad 437. 8 So eine Überschrift bei Bodmer 1957 S.68; S.78-102 wird die zentrale Bedeutung der Beute sowohl für die Versorgung als auch für die Bindung des Kriegers an den Herrn herausge­ arbeitet.

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II. Voraussetzungen und Vorgeschichte der Ostgermanen

sich als regelrechte Goldgrube, wenn den immer neuen Forderungen mit Gewaltund Machtdemonstrationen Nachdruck verliehen wurde9. Offensichtlich reichten die militärischen Kräfte des Weltreiches nicht mehr aus, die endlosen Grenzen wirksam zu sichern. Im Gegenzug waren die nichtseßhaften gentilen Gruppen kaum empfindlich zu treffen. Hier zeigt sich der Nachteil einer seßhaften Kultur bzw. eines Territorialstaates: Während die eingefallenen Räuber, Grenzgänger zwischen urbaner Hochkultur und archaischer Lebensweise, bei einem Gegen­ schlag kaum gefaßt werden können, treffen sie bei jedem Überfall empfindlich. So wird der „raid“ zum „Muster ethnosoziologischer Bewegung“ bei Kulturge­ fälle10. Ihre Taktik, so in enger Übereinstimmung Sidonius und Priscus11, machten die Vandalen unter Geiserich zu einer Gefahr, welche die Römer nicht in den Griff zu bringen vermochten. Ihre jährlichen „raids“ im Frühjahr richteten sich nicht gegen Städte, sondern nach einer schnellen, punktuellen Landung überfielen die Flottenkommandos, die für die Landexkursionen Pferde mitführten, reiche Landstriche; zu einer regelrechten Schlacht ließen es die Vandalen nicht kommen. Von der reinen Kampfkraft her offenbar nicht besonders stark12, nutzten sie ihr nautisches Geschick und die von Sidonius betonte strategisch günstige Lage so geschickt aus, daß sie nach Attilas Tod zum gefährlichsten Feind Westroms avancierten.

An den Rändern zwischen Hochkultur und den archaischen Gesellschaften des Barbaricum entstand damit eine Art Raubkultur. „Freibeuter der Umbruchs­ zeiten“ konnten, wenn sie über genügend Schlagkraft verfügten, Beute und Tribute erkämpfen. Anders ausgedrückt: Die nach innen gerichtete Hochkultur übte eine starke Sogwirkung auf die umwohnenden Ethnien, insbesondere auf die unterentwickelten Nordländer auf. Das Imperium war in der Spätantike erstmals bis an die Grenzen romanisiert: Damit sahen die Barbaren die Beute direkt hinter den limites. Diese Anziehungskraft versetzte ganze Völkerschaften in einen 9 Dazu sehr gut Pohl 1992; Stellen zur Gewalt bei Graus 1961 S.70f. m. Anm.42f. Weitere Beispiele für die Taktik des „raid-and-postulate“: Valamir 461 nach Priscus fr.37; Malchus fr.2, s. SEITE 54f. Priscus fr.48.1: Attilas Sohn forderte drohend Land und Jahrgeld für sich und sein Heer, wie Theoderich Strabo, der für sich ein hoch dotiertes und prestigeträchtiges römisches Amt wollte; Geschenke, Jahrgelder und Siedlungsgebiete forderten 558 die halbnomadischen Awaren (Menander fr.5 (vgl. 6, 8, 12): dafür bekriegen sie im Auftrag Justinians die Hunnen, vgl. Pohl 1988 S.18). Vgl. weiter Malchus fr.20 und 18.3. Maenchen-Helfen 1978 beschreibt die Hunnen als „parasitic community of marauders“. 10So Rübekeil 1992 S.l 18 (ähnlich S.80f. Anm.345). - Es ist auch das Schicksal der Hoch­ kultur, daß Grenzgänger oder Schwellenländer stets nur nachzuvollziehen haben, was in einem langen Lernprozess erarbeitet wurde: So entstammen die ersten lateinischen Fremdworte im Germanischen fast ausnahmslos dem militärischen Bereich; römische Kriegstechnik und Orga­ nisation wurden zum Schlüssel ihres Erfolges; vgl. Demandt 1989 S.488ff. Mann 1991 S.65f. 11Sidonius carm. VII.441ff.; carm. II.354-357, 367ff.; carm. V.89ff., 387ff.; vgl. auch carm. V. 17+354 „Pirata vagus“ für Geiserich; vgl. auch carm. II: Krieg gegen Barbaren mit Pferden, Pfeil und Bogen, „per Dacica rura vagantem“\ ep. VIII.6: „unfaßbare“ Kampfesweise der sächsischen Piraten. - Priscus fr.49. Auch Lee 1993 S.29-31: Die germanischen Gefolg­ schaften waren viel schneller, nicht vorhersehbar und daher militärisch kaum zu fassen. - Die Vandalengefahr verdeutlichen auch Valentinians III. Novellen 5, 6 und 9. 12Vgl. Salvian VII.26-28, 70ff. Sie wurden u.a. bei Agrigent von Ricimer und bei einem „raid“ in Campanien geschlagen. So auch die Einschätzung bei Diesner 1965 c.982.

B. Verbände neuen Typs

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„wahren Goldrausch“13. Raubzüge galten den Barbaren keineswegs als ehren­ rührig. Dabei konnte aber eine als Aggressor auftretende Gruppe im nächsten Moment durch eine Koalition verfeindeter Verbände oder eine stärkere Macht vernichtet werden oder durch die überlegene Diplomatie der Römer ins Abseits laviert werden14. Die Raubkultur war im Grunde eine reine Mängelwirtschaft. Gentile Gesellschaften wie die der Ostgoten auf dem Balkan blieben stets auf die Leistungen der Hochkultur angewiesen. Blieben die Jahresgelder aus oder war die zugewiesene Provinz „abgegrast“, so waren die Barbaren derart vom Hunger bedroht, daß sich ihre Führer trotz drohender Verluste an Material und Anhän­ gern zur nächsten Kampagne aufmachen mußten, um vom Kaiser neue Lebens­ räume zu erzwingen15. Nach A.D.Lee zeigte sich die schwache Logistik dieser Verbände in der Unfähigkeit, Belagerungen durchzuführen, sowie in ihrer Ab­ hängigkeit von der römischen Versorgungsleistung16.

B. VERBÄNDE NEUEN TYPS 1. Halbnomadismus und Großverbände Seit dem 4.Jh. paßten sich die Ostgermanen in ihrer Lebensweise den schwieri­ gen klimatisch-geographischen Bedingungen des Steppenraumes an17. Die Ostgo­ ten etwa, die 75 Jahre lang unter hunnischer Herrschaft gestanden hatten, hatten sich die im Schwarzmeergebiet dominierende Kultur angeeignet, wie am deut­ lichsten der Prozeß der „Verreiterung“18 beweist. Sie lebten als Halbnomaden mit und von ihren Pferden, auf Wagen und ohne feste Wohnstatt. Man kann sich diese 13Mann 1991 S.67; Brown 1967 S.331-333. Zur ausgeprägten Raub und Kampflust der Franken s. Gregor von Tours IV.2; V.28; VII.15; IX.30; X.7; Johannes Biel, ad 589 oder Passio S.Sigismundi c.2. 14Pohl 1988 S.21: Mitte des 6.Jh.s vernichteten sich Utiguren und Kutiguren gegenseitig (Menander fr. 12); Prokop BV 1.22 berichtet von den daheimgebliebenen Vandalen, daß „sie entweder von anderen Barbaren erdrückt oder sich freiwillig unter sie gemischt“ hatten. 15Nach Wolfram 1990a 262f. scheiterte nach 454 die Ansiedlung der Ostgoten in Pannoni­ en am Fehlen einer ökonomischen Basis. Vgl. Malchus fr. 18.2: Theoderich der Amaler fordert von Byzanz die Versorgung seiner Leute durch Lieferungen und die Anweisung eines Gebietes, „wo sie sich aufhalten könnten“, andernfalls drohen sie aus schlichtem Mangel zu marodieren. Die gefährdete Versorgung wird auch in der Geschichte der Westgoten deutlich (z.B. i.d.J. 410, 416). Zur Versorgungsabhängigkeit der kriegführenden Barbaren s. Ammian 31.4; Orosius VII.43.1. 16Lee 1993 S.30L 17Vgl. Wenskus 1961 S.441ff. 18Dazu Wolfram 1990a S.173-175, Wenskus 1961 S.442-444; U.Müller 1993 S.68ff. zur Entwicklung der Quaden vom 1. bis zum 4.Jh. Den Akkulturationsprozeß belegen neben der Verwendung iranischer Herrschersymbole wie der Kappe (vgl. Schramm 1954 S.53, 128ff., 389; U.Müller 1993 S.41ff.) auch die in Italien gefundenen Erzeugnisse gotischen Kunsthandwerks: Dazu Aberg 1923; Bierbrauer 1975; Kazanski 1991; Rolle 1991; Maczynska 1993; zurückhal­ tend U.Müller 1993 S.l 15ff. Vgl. Thompson 1960 zur schnellen Christianisierung der Germanen und Wagner 1979 zu Namensvermischungen bei Ostgermanen, Alanen und Hunnen.

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II. Voraussetzungen und Vorgeschichte der Ostgermanen

Verbände, Ansammlungen von Menschen aller Altersgruppen, Geschlechter und Schichten, vorstellen wie die Wagentrecks des Wilden Westens. Die Krieger führten „auf Wagen Weiber, Kinder und all ihre bewegliche Habe mit“19. Für eine Typologie wandernder Verbände sind u.a. folgende Kriterien von Bedeutung: I. Das Motiv der Wanderung: Reizten Beute (etwa Tribute oder Gefangene), Ruhm, Eroberungswille oder drängten etwa Bevölkerungswachstum, Hun­ ger, halbnomadische Lebensweise oder die machtpolitische Konstellation? Die Politikwissenschaft spricht hier von „Pull- und Pushfaktoren“. II. Wurden neue Wohnsitze gewonnen? Durch Vertrag, durch zentrale Ansied­ lung, durch Eroberung oder über eine Einsickerung? III. Dementsprechend unterscheidet sich die Sozialstruktur der Verbände: Ob Familien bzw. Sippen (wie das Volk Israel auf dem Weg in‘s gelobten Land), fahrende Söldnertrupps (so die Gäsaten bei Polybios) oder junge Krieger bzw. Gefolgschaften (wie für die Heruler oder die Wikinger vermutet wird)20. IV. An der Spitze stand zumeist ein charismatischer Heerführer, seltener auch eine Gruppe von Clanchefs. Als Einnahmequelle kannten die Ostgermanen neben der Erpressung von Beute und Tributen die nomadische Viehwirtschaft. Diese erforderte stets neue Weiden (Transhumanz), bildete also einen weiteren Grund sowohl für die immer neuen Wanderungen als auch für die Bedeutung von Pferden und Wagen21. Den Unterschied zwischen halbnomadischer und bäuerlicher Lebensweise verdeutlicht ein Pas­ sus aus Tacitus’ Germania 46. Dort legt der Römer die auch noch im 5.Jh. geltenden Kriterien (sermo, cultus, sedes, domicilia, habitum) für die Zuordnung eines Stammes zu den Nomaden bzw. zu den bäuerlich Seßhaften (hier: zu Sarmaten bzw. Germanen) fest: „quicquid... silvarum ac montium erigitur latrociniis pererrant, hi (sc. Venedi) tamen inter Germanos potius referun­ tur, quia et domos figunt et scuta gestant et pedum usu et pernicitate gaudent: quae omnia diversa Sarmatis sunt in plaustro equoque viventibus.“ Dabei fällt auf, daß die städtische Zivilisation des Mittelmeerraumes noch 1000 Jahre nach Herodot für die verschiedensten

19Prokop BG1.1 Übers. D.Coste; nach Malchus fr. 18.2 befanden sich im Treck Theoderichs d.Gr. Frauen wie Männer. Vgl. zu den Burgundern Passio S.Sig. 1: „cum mulieribus cum prolis“ (Fredegar 11.46: „cum uxores et liberis“)\ zu den Alanen s. Paulinus Pell. Eucharistikos V.353ff. 20 Dazu interessant Rübekeil 1992 S. 109-118; er zieht den Vergleich mit den ebenfalls seefahrenden und wenig verortbaren Wikingern, S.l 17f., die er zurecht für ein soziologisches und nicht ethnographisches Phänomen hält. - Alarichs Westgoten waren für Liebeschuetz 1992 keine patres familiae eines Wandervolkes, sondern „soldiers in a peripatetic mercenary army, which, though it probably had a Gothic core, included warriors of widely different origins from both inside and outside the Empire.“ Ziel war anfangs die gute römische Versorgung der regulären Truppe sowie Ruhm; erst die altgewordenen Kämpen waren bereit, sich niederzu­ lassen. Für Wolfram 1990b S.212f. waren sie nach dem Scheitern ihrer Eingliederung stark romanisierte „Rebellen, die durch die Römische Welt zogen und sie verwüsteten,,. 21 Zu den Nomaden s. das Standardwerk von Khazanov 1984. Vgl. Ammian 31.2 zu den Hunnen; Ennodius Pan.20-22 bietet einen ethnologischen Exkurs zu den Bulgaren (sie „leben vom Pferd“, vergeben Ehre nach der Kampfleistung usw.); ibid. 35: „Sarmatas cum statione (i.e. Wohnstatt oder Wohnwagen!) migrantes“.

B. Verbände neuen Typs

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Steppenvölker und -reiche keinen anderen Namen als „Skythen“ kannten22. Diese Wahrneh­ mung deutet B.D.Shaw als Teil einer mediterranen städtischen Ideologie, nach der Nomaden die unterste Stufe der Entwicklung einnahmen23.

So bezeugt die Sachkultur (wie Waffen oder auch Broschen, Gewandfibeln und Schnallen) eine stark kriegerisch geprägte Kultur24. Die „skythische Welt“ beherrschten Ideale einer eher einfachen Kriegergesellschaft: Etwa die Bedeu­ tung von Haus- und Tafelgemeinschaft, von Geschenken und Gold (s. Fürsten­ gräber, Horte) und des „Schwertadels“; dazu die emphatische Betonung der „Freiheit um jeden Preis“ sowie der Verachtung von Stadt und Bildung25. Die unterschiedliche kulturelle Ausrichtung wird im Streit um die Erziehung Athalarichs exemplarisch deutlich (Prokop BG 1.2.15): Zunächst unterwiesen und unterrichteten ihn unter romanisierendem Einfluß weise Greise; doch nach einer Empörung gotischer Adeliger wuchs er unter gotischen Jugendlichen in Spiel, Trank und „Lastern“ heran - bis er sich regelrecht zu Tode soff! Das „heroische Pathos“ konnte den unausweichlichen Überlebenskampf er­ träglich erscheinen lassen. Die eigentlich aristokratische Kriegerethik wurde allgemein: Allein der Krieger zählt - wer nicht kämpft, hat keinen Stellenwert. Noch im ostgotischen Italien wurde ein junger Gote mit der Kampffähigkeit volljährig (Varien 1.38); die Waffenfähigkeit war auch das wichtigste Kriterium bei den Westgoten des 4.Jh.s, die zwischen Kindern und Personen, die sich und ein „Haus“ selbst ökonomisch und militärisch sichern konnten, unterschieden26. In diesem Kontext ist wohl auch die Bedeutung der Waffensohnschaft für die Ostgermanen zu verstehen: Diese Verbindung ist überliefert für Theoderich bei Zeno (Jordanes get.289, Malchus fr. 18.4), für den Herulerkönig Rodulf bei Theoderich (Varien IV.2: „adoptio per arma“\ vgl. Jordanes get.24, 274; aber wohl nicht zwischen Theoderich II. und Agriwulf in get.233) sowie für Eutharich bei Justinus (Varien VIII. 1.3); eventuell deutet Prokop BG III.21.23f. ein solches Angebot Totilas an Justinian an (vgl. auch Prokop BP 1.1 l.lOff.: Die Barbaren adoptieren nicht durch Dokumente („grammasin"'), sondern durch Waffen). 22 Pohl 1988 S.22; noch bei Sidonius können alle nördlichen Barbaren auch Skythen heißen (z.B. carm. VII.230f. über Aetius‘ Geiselaufenthalt bei den Hunnen: „Scythico quia saepe duello est edoctus“); Synesius or.21 bezeichnet die Westgoten als „Skythen“ und hin und her geworfe­ ne „Nomaden“; in Menander fr.8 werden „Nomaden“ als unverläßlich, zerstreut, räuberisch beschrieben; vgl. fr. 10. 23 Shaw 1982; vgl. auch Dobesch 1995; Amory 1994 S.439f. stellt fest, daß derartige Identifikationen den „ewigen“ Kampf der Zivilisation gegen die immer gleichen Bedrohungen belegen sollten. 24U.Müller 1993 S.68ff., 150ff. betont das Überwiegen gerade militärischer Anleihen der Ostgermanen bei den Steppenvölkem (wie Kompositreflexbogen, Stoßlanze, Spangenhelm oder gepanzerte Reiter, die Strategie der verstellten Flucht und die Bevorzugung des kavalleristischen Femkampfes). 25Demandt 1989 S.487. So entrüstete sich Theoderich Strabo als MM heftig darüber, daß ihm mit Harmatius ein Jüngling, „der sich allein auf Frisur und Körperpflege konzentriere,,, in der Gunst des Volkes von Byzanz vorgezogen würde (Blockley S.477). 26 Dazu Ulrich 1995 S. 189; vgl. auch Wolfram 1990aS.19und Böhme 1974 S.189f., der die Waffengräber ab dem Ende des 4.Jh.s den Germanen zuordnet und in ihrer nun massiven, prunkvollen Waffenpräsenz eine besondere Identität, einen Stolz als Krieger ausmacht. S. auch U.Müller 1993 S.143ff.

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Daraus ergibt sich als Konsequenz die ausdrückliche Absage an das bäuer­ liche Leben und dessen Gebundenheit: Wer arbeitet, ist der Untergebene27. Die Ostgermanen folgten dem Vorbild der Steppenvölker auch hinsichtlich der Organisation großer Verbände28. Die beweglichen Reiter waren in der Steppe jedem Fußheer weit überlegen. Die Weite der Umwelt lud zu Streifzügen ein. Soziale wie ethnische Grenzen waren in diesen barbarischen Gruppen ungemein durchlässig29: Männer schlossen sich den Verbänden an und ordneten sich nach ihren Leistungen in Kampf und Organisation ein. Die Abstammung verlor stark an Bedeutung. Hatte schon die äußere Mobilität einer Reiter- und Wanderge­ sellschaft für offenere Gruppen gesorgt, so mußte der notorische Menschen­ mangel die Bereitschaft zur Aufnahme neuer Elemente (auch die von einer solchen geringen Regulierung angezogenen, verarmten Provinzialen) zur selbst­ verständlichen Überlebensübung machen.

2. Gefolgschaftliche Organisation und Stammesbildung Es gibt verschiedene Typen von Stämmen, z.B. Großstämme, Stammesverbände, Kultgemeinschaften oder strikter organisierte Kleingruppen (wie die Rugier und Langobarden); neben autochthonen Gruppen können Stämme durch Wanderung oder Vermischung entstanden sein. Insbesondere folgende drei Faktoren waren für die ostgermanischen Stämme konstitutiv: 1.) Wichtig für die Identität der Stämme war neben den folgenden dynami­ schen Faktoren das statische Element eines Stammesbewußtseins. Dieses äußerte sich etwa im Stammesnamen (der Untergang eines Stammes machte sich neben der Aufgabe des Königtums im Verlust des Namens bemerkbar30) oder einer eigenen Stammesüberlieferung. Letzteres gilt übrigens - von der Forschung bisher übersehen - wohl auch für die Vandalen: Von einer origo gentis Vandalo­ rum oder prämigrativen Abstammungsmythen wissen wir zwar nichts. Es gibt aber bei Prokop einige Andeutungen zu vandalischen Überlieferungen; so eine 27 Dies verdeutlichen Jordanes get. 283 und 301 sowie Priscus fr. 49: Dort werden gotische Verbände mit der Erinnerung an die schimpfliche Unterwerfung durch die Hunnen, die von den gotischen Ernten lebten, gegen ihre ehemaligen Unterdrücker gehetzt; s. auch das Zitat SEITE 41f. 28 So Wenskus 1961 S.443. 29Wenskus 1961 S.442f. Wolfram 1990a S.17ff. Ders. 1985 studiert die Prozesse der Ethnogenese an Einzelbeispielen (etwa die Bajuwaren als colluvies gentium)·, Sasel 1979 zum großen Schmelztiegel Pannonien. Schulz 1993 S.l lOff. fuhrt die wiederkehrende Forderung der Hunnen nach Auslieferung aller Überläufer auf die schwache interne Kohäsion der Verbände zurück. 30 S. Graus 1980 S.l Iff. Schwarcz 1993 S.21. Vgl. Orosius VII. 32.1 lf.; Mitte des 6.Jh.s „verlieren“ hunnische Stämme „ihren Namen“ und „müssen anderen anhängen“, Menander fr. 12, dazu Pohl 1988 S.21; Prokop BV 1.22 berichtet von den zurückgebliebenen Vandalen, daß „sie entweder von anderen Barbaren erdrückt oder sich freiwillig unter sie gemischt“ hatten, in jedem Fall „nun ihr Name verschwunden“ sei. Zu den Stammesnamen gut Demandt 1995 S.28ff. und 488.

B. Verbände neuen Typs

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Beratung über die Aufgabe der alten Heimat (BV 1.22) oder eine manipulierte Version vom Tod Gunderichs, Geiserichs Stiefbruder, bei dem der große Grün­ derkönig keine edle Figur gemacht hatte. Auf eine offizielle hasdingische Über­ lieferung deutet auch das fast vollständige Ausblenden der Silingen oder der alten Institution des vandalischen Doppelkönigtums hin31. 2. ) Prägend waren der gemeinsame Zug, gemeinsame Ziele, Erfahrungen und Erfolge. Auf diese Weise formte sich eine starke „Corporate Identity“. Eine erfolgreiche Landnahme bzw. Reichsgründung erhöhten vollends die Chancen einer Stammesbildung: „Warbands are tribes in the making“32. Hier wird ein Unterschied zu den Westgermanen deutlich. Alle Stämme, die im 5. und 6.Jh. von Bedeutung waren, traten nicht vor dem 3.Jh. auf. Doch wäh­ rend sich die ostgermanischen Stämme auf der Wanderung formierten („Wander­ lawinen“), bildeten sich Franken, Alemannen und Sachsen aus Zusammenschlüssen älterer (Kult)Gruppen zu Kampfverbänden. Dies sowie die erkennbar geringere Romanisierung führten etwa dazu, daß die Westgermanen keine bzw. nur späte Stammessagen bzw. gelehrte Schöpfungsmythen kannten33. Dies läßt auf ein geringeres Zusammengehörigkeitsgefühl schließen. Noch wichtiger: Die west­ germanischen Stammeskonföderationen kannten entweder nie (Alemannen, Sach­ sen) oder erst spät (Merowinger, s. Gregor HF II. Iff.) ein zentrales Königtum. 3. ) Der Stamm gruppierte sich um einen erfolgreichen dux. Die gefolgschaftlichen (und wenig ausgeprägten) Strukturen erleichterten die Aufnahme verschie­ denster Elemente. Die Verbände der Völkerwanderungszeit waren, wie R.Wenskus34 zeigte, Heerverbände, die sich um einen Anführer sammelten. Sie waren in geringerem Maße ethnisch, d.h. als Verwandtschaftsgemeinschaften oder als Zusammenschlüsse von Heimatgenossen, definiert. Damit soll nicht gesagt sein, daß ethnische Zugehörigkeiten und Traditionen keine Rolle gespielt hätten. Die­ se stellten bei der Bildung neuer Verbände gerade aus den elementaren Gründen der Verständigung und Bekanntschaft wichtige Faktoren dar35 - nicht aber die entscheidenden. Gemeinsame Sprache, Religion, Sitten und Geschichte(n) mach­ ten die Wurzeln einer gentilen Identität aus. Durch die Veränderungen der 31 Vgl. Hydatius’ Bericht zu den Silingen in Spanien c.41, 52, 59. Zum Doppelkönigtum s. Stammtafel in Wolfram 1990b S.362; Cassius Dio 71.12.1, Tacitus germ.43, Paulus Diaconus 1.7; Demandt 1995 S.551. - Wenn der bei Gregor v.Tours konservierte Bericht des Frigeridus stimmt, starb König Godegisel schon bei der Rheinüberquerung; er führte den Verband also nicht nach Spanien. In reiner Spekulation könnte man zwischen 406 und 410 eine „hasdingische Lücke“ annehmen, bevor Gunderich die Führung der Hasdingen übernahm. 32Wallace-Hadrill 1971 S.l 1. Zur Ethnogenese s. den guten Grundsatzessay Pohl 1994; zu den Westgoten s. Claude 1972 S.2ff. Das folgende nach Graus 1980 S.14-16 (ein Stamm wird zum Volk in erster Linie durch die Aneignung eines eigenen Gebietes); vgl. Liebeschuetz 1992, Wolfram 1990a besonders S.47ff. und Schwarcz 1993 S.21ff.; Demandt 1995 S.35ff. mit Definition. 33 Hierzu und zum folgenden Demandt 1993, ders. 1995 S.35ff. und 477ff. Schwarcz 1993 S.21-29. 34Wenskus 1961 passim, z.B. S.471ff. 35 Vgl. das Zusammengehörigkeitsgefühl der Ostgoten nach Malchus fr. 18.2; Menander fr.2 zum Verwandtschaftsgefühl der Hunnenstämme.

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Wanderzeit entstanden neue politische Ordnungen, nicht jedoch zwangsläufig neue ethnische Identitäten36. In derartig unruhigen Kriegs- und Wanderzeiten mit hoher Mobilität in jeder Hinsicht verloren aber Faktoren wie Abstammung und Tradition stark an Bedeutung: Die meisten Züge waren heterogene Stammes­ schwärme37. Die Leistung des Anführers war maßgeblich. Er mußte sich bewäh­ ren, um Anerkennung zu finden. „Entwurzelte“ wie „Entwurzler“ mußten sich entscheiden, welchem der sich immer wieder erhebenden Führer sie sich an­ schließen wollten. Charismatische Herrschaft bildet sich in außeralltäglichen Situationen wie in Krisen- und Katastrophenzeiten, wenn die Menschen ihre Hoffnung auf konkrete Personen statt auf Rollenträger setzen: Unstrukturierte Interaktionsbeziehungen bilden eine Voraussetzung dieses Herrschaftstyps38. Zunächst ist allerdings das so häufig undifferenziert, ja falsch gebrauchte Kon­ zept „Gefolgschaft“ zu klären und präzise zu definieren. v.Olberg 1989 c.ll71f. weist darauf hin, daß das Wort eine Neuschöpfung des 19.Jh.s zur Übersetzung von „comitatus “ ist. Wenskus 1961 gebraucht den Begriff - ohne nähere Definition - intensiv für die Verbände der Völkerwanderungszeit; ähnlich Claude 1975, etwa S.2, 6f. Die Darstellung bei Schwarcz 1993 S.32ff. zur Gefolgschaft ist bezeichnenderweise schwächer als etwa die zu den origines oder zum Königtum: Nahezu alle Ausführungen sind übernommen, er gibt nur wenige Quellennachweise, unterscheidet nicht zwischen den verschiedenen Typen von Gefolgschaft oder zwischen Kriegs- und Wanderverband usw.; wenig überzeugend auch Geary 1996 S.64-71. „Gefolgschaft“ ist ein zentrales Konzept auch bei Ulrich 1995 für die Westgoten des 4.Jh.; s. Wallace-Hadrill 1971 S.l 1. Schlesinger 1963b S.312 definierte Gefolgschaft als ein „Verhältnis zwischen Herr und Mann, das freiwillig eingegangen wird, auf Treue gegründet ist und den Mann zu Rat und kriegerischer Hilfe, den Herrn zu Schutz und Milde verpflichtet“; ähnlich Kienast 1978 S.316. Kuhn 1956 faßte dagegen den Begriff erheblich enger; doch greifen diese Definitionen nicht, wie auch Wenskus 1961 S.346f. feststellt. Allgemeiner sieht Lee 1993 S.29f. Gefolgschaft als „personal ties of loyalty between warriors and individual leaders“.

Gefolgschaften sind kein ethnographisches, damit kein „germanisches“, son­ dern vielmehr ein soziologisches Phänomen. Sie sind bei Gesellschaften ver­ schiedenster Herkunft oder Zeit anzutreffen39, die ein bestimmtes, vergleichbares Organisationsniveau aufweisen.

36 Heather 1989 S.325. 37 So auch Harrison 1993 S.40ff. oder Ulrich 1995 S. 190: Gefolgschaftlich organisiert ohne sakrale Legitimation wie Kult- oder Familiengemeinschaft, nur eigene Leistung hält zusammen. 38 Zu Webers Charismabegriff 1976 S.124 und 140ff.: „außeralltägliche Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie ... ge­ schaffenen Ordnungen“. Vgl. Breuer 1991 S.35L, 45. Eine gute Veranschaulichung einer dem Erfolg verpflichteten Herrschaft bei Gehrke 1982. - Die Person, um die herum sich die Gruppe scharte, soll im folgenden trotz der fatalen Geschichte des Wortes „Führer“ oder „Anführer“ heißen. Es fehlt an Alternativen, bezeichnet doch kein anderes Wort so genau die Funktion, die der Leiter der Expeditionen zu erfüllen hatte. Zudem kann es auch eine Art späten Sieg der faschistischen Menschenverachtung darstellen, wenn ihretwegen ganze Teile des Wortschatzes ausfallen. 39 Vgl. Wenskus 1974, vor allem S.37-40. Für Schwarzafrika: S. Gluckman 1965 sowie Sigrist 1979, besonders S.96-98, 232-238.

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Die Gefolgschaft der großen Völkerwanderungszüge war eine kaum formale, wenig bindende40 Institution. Darin wie auch in der sozialen Bedeutung unter­ scheidet sie sich deutlich von der mittelalterlichen Gefolgschaft (vgl. etwa die gemeinsame Versorgung in der Männerhalle, später die Vergabe von Lehen). Sie stellt eine weite Interessens- und Schicksalsgemeinschaft dar, kein Rechtsinstitut etwa mit Selbstverpflichtung durch Handgang oder Treueschwur. Den Mörtel für die Bildung neuer Gruppen bildeten das gemeinsame Ziel und die gemeinsamen Erfahrungen in Kampf und Wanderung sowie besonders der Anführer. Um die­ sen entstand so ein Verband anderer, freierer Art als etwa der Patrimonialismus in archaisch-bäuerlichen Gesellschaften. Dort fördern die Statik des Grundbesitzes und die kleinen, meist naturalwirtschaftlich geprägten Gebilde eher patronale Herrschaftsverhältnisse41. Neben den Beutezielen waren insbesondere die Fähigkeiten des dux zu prüfen. Dessen Wahl war von lebenswichtiger Bedeutung. Die Anführer ihrerseits waren abhängig von ihrem Erfolg und Image, womit sich die Bereitschaft zu Macht- und Gewaltdemonstrationen (und deren Akzeptanz) verstehen läßt. Die Gefolgschafts­ führer standen unter dem ständigen Zwang, sich durch Leistung zu legitimie­ ren42. Zumeist waren es Adelige, die sich, auf eine engere Hausmacht und Ge­ folgschaft gestützt, um Anhänger bewarben, indem sie unter Verweis auf ihre Erfolge bestimmte Ziele ausriefen43. Im Falle etwa von Versorgungsschwierigkeiten, die wie SEITE 42f. gesehen nicht selten vorkamen, hatte der Anführer für neue Siedlungsgebiete zu sorgen andernfalls gingen seine Leute zu den Rivalen über44! Denn immer wieder versuchten andere Abenteurer ihr Glück. Ein anschauliches Beispiel dafür bietet Odovaker: Der Skirenprinz war als einer der vielen um Erfolg kämpfenden Führer aufgebrochen, die nach dem Ende des Hunnenreiches ihren Platz zu 40 Eine eingegangene Bindung an einen der „warlords“ war ohne Folgen lösbar - wie in den Rivalitäten zwischen den beiden Theoderichs (s.u. SEITE 54f.) oder der konfliktfreien Aufnah­ me großer Kontingente aus den Lagern ehemaliger Gegner wie Strabo oder Odovaker deutlich wird. Aus dem 5. und 6.Jh. sind negative Folgen eines Wechsels nicht bekannt. 41 So Tacitus germ.13; vgl. Kuhn 1956, Frank 1991. Picard 1991 S.l 12 bemerkt zum dux in Tacitus germ. 7, daß diesem das imperium, also die Koerzitionsgewalt fehlte; an Stelle der römischen Disziplin stand das exemplum ducis. 42 S. dazu auch Ulrich 1995 S.189-193. 43 Treffend die Schilderung solcher Vorgänge im allerdings viel früheren und daher nicht problemlos übertragbaren Germanenexkurs Caesars (Bellum Gallicum VI.23.6-8), der in Galli­ en erste größere Bewegungen nördlicher Stämme erlebte: „ubi quis ex principibus in concilio dicit se ducem fore, qui sequi velint, profiteantur, consurgunt ii, qui et causam et hominem probant, suumque auxilium pollicentur atque a multitudine collaudantur, qui ex his secuti non sunt, in desertorum ac proditorum numero ducuntur, omniumque his rerum postea fides deroga­ tur.“ 44 Unter diesem Druck stand auch der junge Theoderich d.Gr.: „minuentibus ... vicinarum gentium spoliis coepit et Gothis victus vestitusque deesse et hominibus, quibus dudum bella alimonia praestitissent, pax coepit esse contraria, omnes cum magno clamore ad regem Theodericum accedentes Gothi orant, quacumque parte vellit, tantum ductaret exercitum“ (Jord.get. 283).

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Π. Voraussetzungen und Vorgeschichte der Ostgermanen

behaupten suchten. Zunächst versuchte er sein Glück als Anführer einer sächsischen „See­ räuberschar“ in Gallien, als er sich 463 bei Angers festsetzen wollte. Er wurde aber vom römi­ schen comes Paulus und dessen Verbündeten Childerich vertrieben. Später verdingte er sich (über Raetien nach Italien kommend, wie die Vita Severini belegt) bei den letzten weströmischen Kaisern. Zunächst diente er als domesticus, 476 dann als comes domesticorum. Als die Landfor­ derungen der germanischen Söldner nicht erfüllt wurden, setzte er sich als der entschlossenste Akteur durch, der auch keine Skrupel hatte, den Kaiser in Rente zu schicken und als König der Föderatentruppen selbst zu regieren. Odovaker führte dabei keinen wandernden Landnahmever­ band, sondern wohl hauptsächlich Söldner ohne Familien. Ob sich diese Gruppe schon in einem Prozeß der Ethnogenese befand, vermag man kaum zu sagen. Odovaker führte jedenfalls einen nichtgentilen Titel („rex Italiae“). Dazu berichtet Prokop BG I.1.2f. (nach D.Coste): „Einige Jahre vorher (d.h. vor Orestes und Romulus) hatten die Römer Skiren, Alanen und andere gotische Stämme als Bundes­ genossen aufgenommen, nach den Niederlagen, die sie durch Alarich und Attila erlitten hatten ... Längst war der Ruhm der römischen Soldaten geschwunden, und die Barbaren breiteten sich immer mehr in Italien aus; diese Eindringlinge herrschten unbeschränkt unter dem beschöni­ genden Namen von Bundesgenossen; ohne Scheu griffen sie immer weiter um sich und verlang­ ten schließlich, das ganze Ackerland Italiens solle unter sie verteilt werden. Zunächst heischten sie von Orestes den dritten Teil, und als er sich nicht willfährig zeigte, töteten sie ihn sofort. Zu diesen Barbaren gehörte auch ein kaiserlicher „Doryphoros“ Odovaker, der ihnen die Erfüllung ihrer Wünsche versprach, wenn sie ihn als Herrscher aufstellten.... Den Barbaren überließ er das geforderte Drittel aller Ländereien, kettete sie dadurch um so fester an sich und regierte unangefochten 10 Jahre hindurch.“

Die Orientierungs- und Organisationsleistung auf den Zügen begründete die Macht der Führer: Die logistischen Anforderungen auf den oft. mehrmonatigen Märschen waren hoch; unterwegs gab es genügend Gelegenheiten und Gründe, zu desertieren, zu rebellieren oder neue Abhängigkeitsverhältnisse zu bilden und damit die Einheit des Verbandes zu gefährden: „The migration, like other long marches in more recent history, tested leadership, endurance and cohesive­ ness“45. Denn der Ausnahmezustand eines Wanderherzogtums oder Heerkö­ nigtums wurde hier besonders auf- und anfällig. Theoderich sammelte auf dem Weg „iomnem gentem Gothorum, qui tamen ei praebuerunt consensum", wie Jordanes betont46. Er bestand die Probe und hielt seinen Verband zusammen, dem sich zusätzlich noch rugische und schließlich gepidische Gruppen anschlossen. „Wanderlawinen“ nennt R.Wenskus diese aus Ansaugungs- und Akkumulations­ prozessen hervorgegangenen Verbände47. Dabei erscheint der Häuptling in erster Linie als Organisator: „... leadership is a group function... . The leadership process consists in the contribution by individuals towards the solution of the organisational problems of the group“48. Vor allem P.Heather betont diesen Druck von unten auf die Adeligen: „... a Darwinian process of competition had eliminated numerous potential rivals“49. Er hält, gegen H.Wolfram, mit Recht 45 Bums 1984 S.74. Zur Führungsleistung gut auch Gukenbiehl 1995b. 46 Getica 292: Nicht alle waren bereit, das hohe Risiko des Marsches einzugehen. 47 Wenskus 1961 S.471ff. 48 Cohen 1974 S.80. „It is the structural situation of the group, that determines what type of symbols are more effective than others and hence what type of leader is needed. Charisma is largely a group function, not an individual trait.“ 49 Heather 1989 S i l l ; Ders. 1991, besonders S.312-317; siehe auch Wolfram 1990a

B. Verbände neuen Typs

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diese Konkurrenz der Führer für den folgenreichsten Faktor der Transformation und Ethnogenese. Dieser übertrifft auch das dynastische Element. Tatsächlich nahm der Druck im Laufe des 5.Jh.s mehr und mehr zu, da tribale Verbände von Vernichtung, Vertreibung oder Zersplitterung immer stärker bedroht waren. Dies erhöhte die Bereitschaft zu Stammeskonzentrationen, in denen wiederum ein Grund für das Ende des Weströmischen Reiches zu sehen ist50. Denn die Schlag­ kraft, d.h. die soziale Kohäsion und militärische Stärke dieser neuen Verbände waren außergewöhnlich hoch. Nach der Ethnogenese hatten sie ungeahnte neue ideologische, militärische und politische Möglichkeiten. So geht Theoderichs Sieg über Odovaker nicht zuletzt auf die andere Struktur seines Verbandes zurück. Dies scheinen die Verse in Ennodius4 Panegyricus c.36 zu reflektieren: Während die hungergeschwächten Goten ihre Einheitlichkeit („indiscretum con­ s i l i u m „unum velle pro viribus“) kennzeichnete, erscheinen die Soldaten Odovakers als zusammengewürfelter Haufen („varias esse mentes coacervatas“). Das verschiedentlich als Grund für die erfolgreiche Invasion der Ostgoten ange­ führte Akakianische Schisma erleichterte Theoderichs Anerkennung durch die Römer, keinesfalls aber den Sieg über Odovaker, der seine Stärke in Siegen über Orestes, die Rugier und der Eroberung Dalmatiens und Pannoniens unter Beweis gestellt hatte. Zur Größe dieser Verbände können nur Schätzungen abgegeben werden. Ge­ meinhin geht man von ungefähr folgenden Zahlen aus: Mit ca. 25.000 Menschen waren die Burgunder der kleinste Stamm51. Größer war die Gruppe der Vandalen, die ca. 80.000 umfaßte. Für die gotischen Völker werden jeweils zwischen 100.000 und 200.000 Menschen angenommen52. Einen Anhaltspunkt für die Schätzungen bietet die Größe der Heereskontingente. So geht E.A.Thompson von 20.000 Ostgoten vor Rom aus, denen Beiisar mit 5000-7000 Mann gegen­ überstand53. Zum vandalischen Heer läßt sich folgendes berechnen: Bei der S.262f. zum Aufbruch der amalischen Goten i.J. 473 („die amalischen Könige wirken wie Getriebene“). 50 Heather 1991 S.319; Wolfram 1990a S.19ff. So auch Demandt 1989 S.481ff. 51 Die Zahlen Covißes 1928 S.153f. sind völlig überzogen (250-300.000 Burgunder), Dahn 1908 S.56 ging von max. 80.000 Burgundern aus. In ausdrücklicher Spekulation rechnet M.Martin 1981 im Kerngebiet der Sapaudia mit einem Anteil von ca. einem Drittel Burgunder, im Rest des Reiches jedoch mit nur ca. 5%; Boehm 1971 S.55f. geht für die Zeit um 450 n.Chr. von höch­ stens 25.000 Burgundern, davon ca. 5000 Krieger aus, ähnlich M.Martin 1983 c.1096: 10.00025.000 Burgunder; Ders. 1979 S.428 schließt aus der sehr geringen Zahl burgundischer Funde auf eine geringe Zahl von Zuwanderem. 52 Wolfram 1990a S.229: 100-200.000 Westgoten. Moorhead 1986b: Ca. 100-150.000 Ostgoten; Steuer 1982 S.61 ff. schätzt die Westgoten auf 150.000 Menschen, Nixon 1992 auf ca. 100.000, ähnlich de Palol/Ripoll 1990 S.89. 53 Thompson 1982 S.80f. Teall 1965 S.301f. hat für Beiisars Truppen ähnliche Zahlen (später auf 21.000 verstärkt) und rechnet mit insgesamt 25-30.000 ostgotischen Kriegern; Totilas Erfolge beruhten oft auf Überraschungsangriffen, Ders. S.309ff.: 12.000 Byzantiner un­ terlagen gegen 5000 Männer Totilas; unter Narses 552 standen ca. 20.000 oströmische Soldaten in Italien. Zur Größe des römischen Heeres: Hendy 1985 S. 176f. mit Anm.l 19; Southem/Dixon 1996 S.56; Bachrach 1994 setzt die Zahlen vielfach unbegründet hoch an; MacMullen 1980.

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II. Voraussetzungen und Vorgeschichte der Ostgermanen

Schlacht von Decimum fehlten 5000 Mann, die mit Zazo auf 120 Schiffen gegen das aufständische Sardinien gefahren waren. Dennoch führte Gibamund mit 2000 Mann den kleinsten von vier Heerhaufen an, so daß mit 15-20.000 vandalischen Soldaten zu rechnen ist54. Dies paßt zum Umfang des gesamten Verbandes: Aus Victor HP 1.2 sowie Prokop BV 1.5.14 geht hervor, daß die Vandalen zur Zeit des Einmarsches bei ca. 50.000 Menschen 80 (unvollständige) Tausendschaften bilde­ ten55. M.Gluckman und C.Sigrist nennen übereinstimmend als einen wesentlichen Grund­ zug der Gefolgschaft den „code of reciprocity“ bzw. ein „symmetrisches Rezi­ prozitätsverhältnis, das auf beiden Seiten auf individuellen Interessen beruht“56. Exemplarisch zeigen die in Malchus fr. 18.2 geschilderten Vorgänge den Kampf um die Gunst der Krieger: Theoderich Strabo und der in oströmischem Auftrag gegen seinen Rivalen ge­ schickte Theoderich Thiudimirsohn, die in den 470em um die Vormacht bei den ostgotischen Elementen kämpften, standen einander im thrakischen Haemusgebirge direkt gegenüber. Der erfahrene Strabo zwang den Jüngeren zum Ausgleich, indem er das Vertrauen der Anhänger in ihren Anführer erschütterte: Einerseits disqualifizierte er ihn als zu jung, unerfahren und eidbrü­ chig - Kriterien, die deutlich zeigen, welche Tugenden bei einem Gefolgsherm geschätzt wurden; dann erinnerte er an die Verluste an Pferden und Menschen (in dieser Reihenfolge), die sie auf dem Marsch erlitten hätten, wo sie doch nur aufgebrochen seien, „damit sie Geld in Mengen bekämen“; er appellierte an Freiheitsstolz und Standesgefühl: Sie zögen unter ihrem Führer ja wie Sklaven umher, obwohl sie freien Standes seien. Zuletzt führte er tribale und antirömische Ressentiments an, wenn er die Treulosigkeit der Römer betonte und an die ver­ wandtschaftliche Bindung der Ostgoten untereinander erinnerte. Das Ergebnis war, daß Theode­ rich d.Gr. gezwungen wurde, mit seinem Konkurrenten Frieden zu schließen, um den Abfall seiner Leute zu verhindern. Überhaupt wird die Verknüpfung der Interessen der Gefolgsleute mit denen des Anführers in den Fragmenten des Malchus sehr deutlich57. Diese bieten eine detaillierte Schilderung derartiger Abläufe, die auch deswegen von hohem Wert ist, weil sie nicht primär auf eine Darstellung der Barbaren zielt und die Ereignisse eher beiläufig, also nicht „interessiert“ berichtet. Die Goten Strabos forderten nach fr.2, daß dieser das finanzielle und institutionelle Erbe seines Onkels Aspar antreten dürfe; gleichzeitig wollten sie selbst aber vom Kaiser Siedlungsplätze in Thrakien zugewiesen bekommen. In fr. 18.1 formuliert Strabo die Konflikte eines „warlord“, der im Erfolgsfall von so vielen „umlagert“ wird, daß er nicht mehr zurück kann, um, wie vom Kaiser gefordert, ein Leben als Privatmann zu führen: „Jetzt aber, da er ja in diese Notlage versetzt worden war, Krieger zu sammeln, wäre es auch nötig, daß er alle die, die zu ihm kämen, ernähre oder zusammen mit ihnen Krieg führe, bis er besiegt wäre oder als Sieger 54 Ähnlich Diesner 1965 c.982: „nie mehr als ca. 15.000 Mann“; vgl. Teall 1965 S.301L: 16.000 byzantinische Soldaten besiegten die Vandalen (nach Prokop BV 1.11.2). Zur Sardinien­ expedition s. Prokop BV 1.9; Thompson 1982 S.79f. 55 Anders Prokop HA 18.6ff.: Bei insgesamt 5 Mio. Einwohnern im römischen Afrika 80.000 Vandalen, ausdrücklich nur Krieger ohne Frauen, Kinder und Sklaven - die Stelle ist aber stark rhetorisch gefärbt. Steuer 1982 S.61ff. hält diese Zahl dennoch für eine der wenigen authentischen. Garcia Moreno 1986 S.251 setzt die Zahl der 409 nach Spanien eingefallenen Vandalen, Sueben, Alanen mit ca. 200.000 wohl zu hoch an; er geht von einem Anteil von ca. 5% der Bevölkerung Iberiens aus. 56 Gluckman 1965 S.71. Sigrist 1979 S.238 und 232ff. Vgl. auch Breuer 1991 S.45. 57 Malchus’ Fragmente (Blockley) Nr.2 (S.406ff.), 6.2, 8, 15 (S.420ff.), 18-22 (S.426453); zu Reihenfolge und Chronologie der Fragmente s. Errington 1983.

B. Verbände neuen Typs

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der Angelegenheit ein sicheres Ende setze,,. Theoderich Thiudimirsohn verteidigt sich in fr. 20 (Blockley S.444f.)) gegenüber einem byzantinischen Diplomaten mit dem Hinweis, daß er früher fern an der Grenze „in Ruhe“ saß, bevor ihn die Römer in die gefährliche Nähe des Machtzentrums gelockt hätten; Theoderich beteuert dabei zweimal, daß er seine Leute nicht voll kontrollieren kann. Auch in fr. 18.2 betont er seine Ohnmacht gegenüber der eigenen Truppe: Falls die byzantinischen Behörden seine Truppen nicht versorgten, „stünde es nicht in seiner Macht, einen so großen Haufen zu zügeln, so daß sie nicht plünderten und Beute machten, wodurch sie ihren Mangel beheben könnten“. In Menander fr. 12 schildert später der Awaren­ fürst Baian vor Sirmium ein ähnliches Dilemma: Bei Mißerfolg drohe ihm Schande vor den gentilesl

Der Aufstieg Theoderichs kann als Modellfall für das Emporkommen eines dux gelten. Gerade volljährig geworden bildete er sogleich eine eigene Schar Getreuer, teils aus den engsten Anhängern seines Vaters Thiudimir (ascitis certis ex satellitibus patris"), teils aus persönlichen Klienten („et ex populo amatores sibi clientesque consocians paene sex milia viros"). Darauf brach er, um der Gruppe eine gemeinsame Identität und festen Zusammenhalt unter seiner Ägide zu geben, unverzüglich zur ersten Waffentat auf58. Einige Jahre später bestimmte ihn sein sterbender Vater zum Nachfolger, worauf er dessen gesamten Anhang unter seine Leitung brachte. Spätestens dann beanspruchte Theoderich den Königstitel: „War-band-leaders had appropriated forms of royalty,,59. Diese Entwicklung ist u.a. darauf zurückzuführen, daß der „warlord“ Beute und Tribute verwaltete. Die Königsstellung konnte den Zusammenhalt der Anhängerschaft ebenso stärken wie die Macht des Führers innerhalb der Gruppe60. Unter dem Druck harter Konkurrenz wie auch dem des überlegenen römischen Vorbildes bildeten sich bei den gentes offenbar neue Regeln einer dynastischen Politik aus: Thiudimirs Zeremoniell der Nachfolgebestimmung und die ungeteilte Primoge­ nitur sind Zeugnisse einer noch nie da gewesenen „aggressive dynastic policy“61. ZUSAMMENFASSUNG: Unter einem gefolgschaftlich organisierten Ver­ band wird hier also eine Gruppe in einer eher einfachen, zugleich sehr mobilen Kultur verstanden, die sich - meist unter erheblichem äußeren Druck - um einen charismatischen Führer schart; das Verhältnis zwischen Anführer und Anhänger ist beidseitig, ohne irgendwie näher formalisiert zu sein. Ziel ist es, die eigenen Daseinsbedingungen unter der Leitung dieser als besonders fähig angesehenen Person zu ändern. Der Anführer und das Ziel sind die entscheidenden Bindemit­ tel. So gleicht die Gefolgschaft der Völkerwanderung dem von C.Sigrist für ähnlich strukturierte afrikanische Gesellschaften entwickelten Modell: Am An­ fang steht die vom Führer „proklamierte Vision“; auf der Wanderung muß jener 58Jordanes Get. 282. Claude 1975 S3. 59 Heather 1991 S.312. 60 Diesen Umstand erkennt auch Wolfram 1990a S.269, der sonst die Bedeutung römischmilitärischer Organisationsformen für die Entwicklung der gotischen Gesellschaft betont (s.u.): Die Königsstellung „stärkte zwar nicht unbedingt die Verhandlungsposition mit der Reichs­ regierung, die einen solchen König als Usurpator und Tyrannen einstufte, erhöhte jedoch seine Verantwortlichkeit für die Gruppe, die ihn erhoben hatte.“ 61 Heather 1991 S.312. Ähnlich gingen etwa auch Geiserich (s. SEITE 102) oder Chlodwig vor.

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II. Voraussetzungen und Vorgeschichte der Ostgermanen

„Orientierungsleistungen“ erbringen; dafür kann er Einfluß auf die sozialen Verhältnisse des Verbandes nehmen. „Gelingt es ihm, innerhalb der Gefolgschaft einen besonderen Erzwingungsstab zu gewinnen, so haben wir eine aus Wanderge­ folgschaft entstandene Zentralinstanz vor uns“62. Es gab auch zur Zeit des Völkerwanderung einen engeren Typ von Gefolgschaft, als direkte persönliche Umgebung des Anführers63. Diese stützten sieb auf Krieger, die sich durch beson­ dere Kampfkraft und Verläßlichkeit auszeichneten, die Schlachten entscheiden, ihn aus gefährli­ chen Situationen retten oder auch die Verbindung zum Heer sichern konnten. Sie bildeten auch als „Erzwingungsstab“ des dux den unverzichtbaren Grundstock für die Organisation des ganzen Verbandes auf der Wanderung oder im Kampf. Über Hierarchisierungen innerhalb dieser enge­ ren Gefolgschaft oder andere Formalisierungen läßt sich hier keine Aussage treffen64.

C. RÖMISCHE PRÄGUNG UND FÖDERATENSTATUS Nachdem sich Theoderich in den heftigen Auseinandersetzungen mit Strabo hatte behaupten und nach dessen Tod aufgrund überzeugender Erfolge auch dessen Anhängerschaft auf seine Seite ziehen können, führte er in den 80er Jahren des 5.Jh.s den größten Teil der ostgotischen Elemente und der mit ihnen verbundenen Gruppen an. Auf römischer Seite gab es nun verschiedene Möglichkeiten, eine solche Macht institutionell einzubinden. Einmal durch die Verleihung wichtiger römischer Titel und Insignien an die gentilen Führer, um diese in die Ämterhier­ archie einzuordnen. So erhielt Theoderich Ehrungen als Waffensohn des Kaisers, consul ordinarius d.J. 484 und MVM sowie durch ein Reiterstandbild und Tri­ umphzug65. Besonders begehrt war die Anerkennung als König, wodurch die Außenbeziehungen sozusagen monopolisiert werden konnten66. Eine zweite, wich­ tigere Möglichkeit waren verschiedene Formen der Ansiedlung von Verbänden (etwa als Laeten), die so eine sichere Versorgung erhielten; die bedeutendste dieser Formen stellt zweifellos der Status von Föderaten dar, der im 5. und 6.Jh. 62 Sigrist 1979 S.98. Unter einer „Zentralinstanz“ versteht Sigrist ein Organ mit physischer Sanktionsbefugnis und eigenem Erzwingungsstab. 63 So verfügte Sarus, der Gegenspieler Alarichs, über eine absolut loyale, kampfstarke Truppe, die seinen letzten Halt bildete; vgl. die Getreuen des Fulkaris in Agathias 1.16 und des Langobarden Authari, bei Odovaker („solus cum paucis satellitibus“, Jordanes Get.293) oder dem jugendlichen Theoderich (Jordanes get.282). Engere Gefolgschaften konnten bis zu 6000 Mann zählen (so Johannes Ant. 207 für Ricimer, Jordanes get.282, Prokop BV 1.8.12, 9.4 bei Amalafrida). 64 Vielleicht spielte dort etwa die Vergabe von Geschenken und Ausrüstung durch den Herrn, der Eid des Gefolgsmannes oder ein eigenes „group feeling“ der im besonderen Nah­ verhältnis zum Herrn Stehenden eine Rolle; vgl. dazu Schwarcz 1993 S.32f. (allerdings mit Verweis auf Stellen bei Caesar und Tacitus!); Ulrich 1995 S.87. 65 S. TEIL III.B.3; Jordanes Getica 289, Romana 348. Schon zuvor hatte er versucht, seine Führung auch durch römische Auszeichnungen (z.B. die Titel dux und amicus populi Romani) zu festigen. 66 Vgl. Schulz 1993 S.79f. zur Einsetzung von Königen; auch Strabo hatte von Rom neben Jahrgeldem die Ernennung zum MM und die Anerkennung als König der Goten gefordert (Malchus fr.2).

C. Römische Prägung und Föderatenstatus

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zahlreichen Gruppen verliehen wurde. Darüber ist viel geschrieben worden; vier Punkte erscheinen mir hierbei von Bedeutung: 1. Unter den veränderten Vorzeichen des niedergehenden Imperiums hatte dieser Status im Untersuchungszeitraum seine ursprüngliche Bedeutung verlo­ ren. Insbesondere die Leistungen der Barbaren beschränkten sich zunehmend auf eine allgemeine Militärhilfe - und auch diese verlor sich immer mehr. So wandel­ te sich das Föderatenverhältnis von freiwilliger Zusammenarbeit oder Militärhilfe zu einer Abfindung aus Schwäche67. Seit Alarich wurde mancher Gentilkönig per Vertrag auch zum MM: „Im militärischen Bereich entstand so ein eigentümliches Gefüge von völkerrechtlichen Allianzverhältnissen gleichrangiger Bündner und staatsrechtlicher Kommandoverhältnisse des Kaisers zu seinem obersten Mili­ tär“68. Das lange so konsequent beanspruchte Kriegsmonopol wurde damit fak­ tisch verloren gegeben. Im vorprogrammierten Konflikt zwischen gentilem Kö­ nigtum und römischem Amt entschieden sich die duces im Ernstfall für das erstere. Kämpfe dieser Einheiten gegen das Reich waren an der Tagesordnung. So erscheint die gesamte Situation der römischen Heere dieser Zeit als äußerst unübersichtlich69. Barbaren konnten, durch die guten Soldzahlungen angelockt, freiwillig ins römische Heer eintreten, z.T. wurden besiegte Kontingente als laeti bzw. gentiles eingegliedert, z.T. kämpften vertragliche Einheiten bei römischem Oberbefehl und Unterhalt, seit dem Ende des 4.Jh.s jedoch oft unter eigenen Anführern70. Diese Entwicklung reflektiert nicht nur Prokop BV I . l l 71: „Zu diesen (d.h. den Bundesgenossen im römischen Heer) wurden früher nur solche Barbaren gerechnet, die von den Römern nicht unterjocht und geknechtet, sondern zu gleichberechtigter Gemeinschaft in den Staatsverband aufgenommen waren; denn foedus nennen die Römer einen mit einem Feind geschlossenen Vertrag. Jetzt aber hindert niemanden etwas, sich diese Benennung anzumaßen, da die Zeit die ursprüngliche Bedeutung der Namen nicht festhält, sondern die Menschen im ewigen Wandel der Dinge den Anlaß zu solchen Bezeichnungen nicht mehr beachten.“ 67 Deutlich Krieger 1991 S.92: Föderaten ohne stete Föderatenpflicht sind keine Föderaten mehr; S. 110; ähnlich Boehm 1971 S.43f.: Landnahme unter Formeln wie „se tradiderunt,,, „sedes acceperunt“ oder „terra data ad habitandum“. S. Bleicken 1981 S.330L Diese „Appease­ ment-Politik war besonders ausgeprägt unter Theodosius II. und am Ende der Regierungszeit Justinians, vgl. Blockley 1986. 68 Schulz 1993 S.83 (zu dessen nicht immer angemessenen Terminologie wie „Staats-“, „Völkerrecht“ oder „Zweiseitigkeit“ s. Ulrich 1995 S.137ff.; Schulz nennt S.84 selbst die Frage nach „Souveränität“ oder „Reichsangehörigkeit“ unpräzise und anachronistisch); zu Alarich S.79f. Dazu ähnlich Wolfram 1979. 69Zur Rekrutierung der römischen Heere im 5. und 6. Jh. s. Southem/Dixon 1996 S.64-73; Teall 1965. Vgl. Lee 1993 S.78 m. Anm.147. Zum „Modellfall“ der westgotischen Ansiedlung i.J. 382 wichtig Schulz 1993 S.178L und 69ff. (außenpolitischer Vertrag mit einem autonomen Stamm auf Reichsboden). Vgl. weiter Schneider 1990 S.102L 70 Schulz 1993 S.80; vgl. Faussner 1986. Zu Sold bzw. Föderatengeld s. Jordanes get.145, Prokop IV.5.13, Zosimos IV.40.2.8. Die Föderaten forderten wohl den Sold der comitatenses (4000 Pf. Gold oder 2000 Pf. (so Theoderich Strabo), was ca. 10.000 Soldaten entspricht; zu den 2100 Pf. an Attila s. Schulz 1993 S.l 10ff.).

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II. Voraussetzungen und Vorgeschichte der Ostgermanen

2. Di e foedera des 5. und 6. Jh.s sind höchst uneinheitlich und unterscheiden sich teilweise erheblich. Unter dem Föderatentum des 5./6.Jh.s hat man sich keineswegs ein striktes juristisches Konzept vorzustellen. Es gab viele verschie­ dene Formen des Föderatenstatus: „Soweit der in der Literatur schematisierte foedus-Begriff nicht durch die Quellen spezifiziert werden kann, muß er nach den jeweiligen politischen Umständen modifiziert werden“7172. D.h. jedes foedus muß nach seinen jeweiligen Bestimmungen analysiert und bewertet werden. 3. Diese Einbindungen konnten beiden Seiten Vorteile bieten: Die germani­ schen Anführer erhielten zum einen durch eine solche Aufwertung als offizielle Partner des Kaiser nicht unerheblichen Prestigegewinn vor ihren eigenen und potentiellen Gefolgsleuten und nicht zuletzt gegenüber dem konkurrierenden Adel. Zum zweiten boten sie gerade auch gegenüber dem nur auf Zeit „ange­ schlagenen“ Imperium, das für alle gentilen Reichsgründungen letztlich die gefährlichste Bedrohung darstellte, eine gewisse Sicherheit. Zum dritten bedeu­ tete die imperiale Anerkennung gerade für Verbände, die eine dauerhafte Ansied­ lung bzw. Reichsgründung planten, eine äußerst wertvolle Hilfe, die Akzeptanz der provinzialen Bevölkerung zu gewinnen. Beispielsweise suchten die Burgun­ der lange die Fiktion des foedus aufrechtzuerhalten, die den Königen u.a. durch die römischen Generalsstellen eine höhere Legitimität gegenüber der romani­ schen Bevölkerung sowie einen gewissen Schutz etwa gegen die Westgoten bot; noch unter Sigismund suchten sie politischen Gewinn aus ihrer Beziehung zum Imperium zu ziehen. Auch für die Römer erschienen derartige Verbindungen vorteilhaft. So halfen sie, die verschiedenen gentilen Gruppen zu strukturieren, auch gegeneinander auszuspielen oder sie zu beeindrucken73; mit der Eingliederung der Barbarenfür­ sten in die römische Militärhierarchie verband sich auch die Hoffnung, deren Macht auf römischem Boden kontrollieren zu können; dit foedera waren u.a. ein taktisches Instrument, um Zeit zu gewinnen, bis das Imperium in der Lage war, auch wieder militärisch zu reagieren; sie ließen immer auch Optionen für die Zukunft offen74. Schließlich halfen diese Institutionen auch psychologisch, in­ dem sie wie „Deckmäntelchen“ die augenblicklichen Schwächen und Probleme verschleierten und gestatteten, sich ein gefälligeres Bild der Verhältnisse zu­ rechtzumachen. Beinhaltete der Föderatenbegriff immer doch auch einen theore­ 71 Übers. D. Coste. Weitere Belege dafür, daß die Zeitgenossen diese Entwicklung bemerk­ ten: Prokop BG I.1.2f. Sidonius ep. V.12, III.8, VI.6; VII.6.10 (474 n.Chr., ähnlich VII.5 und 7): „per vos mala foederum currunt, per vos regni utriusque pacta condicionesque portantur, agite, quatenus haec sit amicitiae concordia principalis, ut episcopali ordinatione permissa populos Galliarum, quos limes Gothicae sortis incluserit, teneamus ex fide, etsi non tenemus ex foedere“. Orosius VII.40.4ff.; 41.4ff. 72Demandt 1970 c.692. Vgl. Schulz 1993 S.72-74, 127 und 171: Oft wurden Herrschafts­ ideologie, juristische Betrachtung und faktische Machtstellung vermischt. Ähnlich Bums 1992 und Boehm 1971 S.43. 73 Ein eindrucksvolles Beispiel für die „römische Legitimationsmacht“ gegenüber den Gentilen findet sich bei Prokop BV 1.25, wo vom großen Interesse maurischer Häuptlinge an römischen Insignien, die ihre Anerkennung durch Rom ausdrückten, berichtet wird. 74 Wolfram 1979. Vgl. Schulz 1993 S.84; S.95f. zu den offenen Optionen.

C. Römische Prägung und Föderatenstatus

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tischen römischen Suprematieanspruch. Die daraus resultierende ideologisch­ politische Abhängigkeit wird im je unterschiedlichen Verhältnis zum Imperium von Ostgoten und Burgunder einerseits, andererseits Westgoten und Vandalen deutlich (s.TEIL I.A und TEIL III.B.2). Dennoch scheiterten im Westen die foedera aus römischer Sicht. Während im Osten längerfristige Ansätze, überlegene diplomatische Instrumentarien und stär­ kere Institutionalisierungen dafür sorgten, daß die fremden Fürsten zumeist als Amtsträger eingebunden werden konnten, gelang es der westlichen Führung nicht, sich der Barbarenkönige zur Erhaltung des Reichs zu bedienen. Vielmehr nutzten jene ihr Verhältnis zum Kaiser, „um ihre Reichsgründungen in einem möglichst großen Gebiet des Imperiums abzusichem“. Zu groß waren die Mög­ lichkeiten eines Verbandes, der geschlossen und unbesiegt auf Reichsgebiet angesiedelt wurde. Er ließ sich nicht mehr integrieren oder assimilieren. Antike Quellen wie Vegetius, der ADRB oder Synesios de regno 14f. prangerten eine falsche Föderatenpolitik an und forderten, man solle das Heer mit einheimischen Kräften verstärken. Wie groß der Spielraum jedoch tatsächlich war, läßt sich nur schwer sagen75. 4. Die Stellung innerhalb des Gefüges des Römischen Reiches war für die Gentilen zweifellos ein wichtiger Aspekt im Kampf um Macht und Ansehen. Entscheidend jedoch war der Erfolg des Anführers. Das jämmerliche Ende von Theoderich Strabos Sohn zeigt, daß der persönliche Erfolg bzw. Mißerfolg eines Führers den Ausschlag gab: Dieser war unter denkbar günstigen Verhältnissen in den Kampf der rivalisierenden Adelsgruppen eingetreten, wurde aber schließlich, von allen Anhängern verlassen, in den Straßen Konstantinopels durch Häscher Theoderichs d.Gr. ermordet76. Theoderich hingegen beging bei allem Interesse an den Beziehungen zum Imperium nie den Fehler, sich von der Grundlage seiner Macht, der Herrschaft über die gentilen Verbände, isolieren und „hinweg­ komplimentieren“ zu lassen, um im Abseits byzantinischen Honoratiorentums zu enden. Er wußte, daß er sich vor seinen Leuten immer wieder als erfolgreicher Führer beweisen mußte, um sich ihre Treue zu erhalten. Zu den Gründen für den Aufbruch nach Italien schreibt Jordanes in Getica 291: „... elegit potius solito more gentis suae labore quaerere victum quam, ipse otiose frui regni Romani bona et gentem suam mediocriter victitare“ („Er zog es, eher nach der üblichen Art seines Stammes seinen Lebensunterhalt durch Einsatz zu erwerben als selbst in träger Ruhe die Güter des Römischen Reichs zu genießen, während sein Volk ein dürftiges Leben führe“). Die Profilierung vor den Goten sowie die Über­ legung, daß dem Überlebenskampf auf dem Balkan nur durch das Ausweichen auf feste und sichere Siedlungsplätze fern von Konstantinopel zu entkommen war77, bewogen den Gotenkönig zur Entscheidung nach Italien zu ziehen. 75 Vgl. Southem/Dixon 1996 S.46ff., 65-72 zu den Vorteilen der Föderaten-Politik, der Wehrmüdigkeit im Reich (darauf scheinen Stellen wie CTh VII.13.4f., Petros Patrikios fr. 169 oder Ammian 15.13.3, 31.4.4, 19.11.7 hinzudeuten), der Duldung der Privatarmeen. Teilweise wurden reguläre Truppen durch Föderateneinheiten ersetzt, wie Orosius VII.41 und Paulinus Pell. Eucharistikos 38Iff. belegen. 76 Vgl. Wolfram 1990a S.276f. Claude 1975 S.3. 77 Heather 1991 S.308. Ähnlich Wolfram 1990a S.279.

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II. Voraussetzungen und Vorgeschichte der Ostgermanen

Damit soll der von L.Schmidt und besonders von H.Wolfram vertretenen „Föderaten-These“78 widersprochen werden, die eine vorrangig römische Prä­ gung des gotischen Königtums erkennen will. Die gotischen Krieger waren demnach „römische Militärpersonen“. Sie bildeten „auch römische Föderatenarmeen, die in der Nachfolge der römischen Hofheere ein, obgleich abgewandel­ tes, Recht auf Herrschaftsübertragung“ besaßen. Diese Betrachtungsweise beruht auf einer verdrehten Perspektive. Wohl mag eine Königserhebung eines Generals „nach der römischen Verfassungswirklichkeit“ - was auch immer diese gewesen sein mag - möglich gewesen sein. Wohl mag der König gegenüber den Provin­ zialen „an die höchsten Magistrate der spätantiken Heeresorganisation und an die damit verbundene vizekaiserliche Position“ angeknüpft haben79. Daß cives Ro­ mani, wie H.Wolfram unter Hinweis auf Theoderich, Eutharich bzw. Odovaker behauptet, als König leichter Anerkennung fanden, gilt aber bestenfalls für Italien. Dies konnte zur Legitimation vor Romanen dienen - doch auf die Sicht der gens werden solche Konzeptionen nicht den Ausschlag gegeben haben. Zudem ist von dem, wie oben gezeigt, uneinheitlichen Status als Föderaten keine verbindliche Prägung des germanischen Königtums zu erwarten. Gegen H.Wolframs Ansatz spricht schließlich auch, daß Königserhebungen bei nichtgentilen Föderaten überhaupt nicht, bei gentilen Heerhaufen aber schon für frühe Zeiten bekannt sind80. Ein anschauliches Bild des ambivalenten Verhältnisses zwischen Romanen und Föderaten um 470/475 n.Chr. zeichnen die Sidoniusbriefe. Epistel IV.22 und VII. 11 schildern die Schwierigkeiten der Arvemer zwischen dem ,periculum“ angreifender Westgoten und der „invidia“ der stets Verrat argwöhnenden burgundischen „patroni“ {„nunc periculum de vicinis timet, nunc invidiam de patronis“, IV.22). Patronus bezeichnet bei Sidonius durchgängig Machthaber in den neuen Föderaten-Reichen, wie etwa den westgotischen Amtsträger Victorius (in VII. 17 und wohl IV. 10, ähnlich IV.8) oder den Burgunderkönig Chilperich in ep. V.7, der über die „Germania Lugdunensis“ herrscht. Derselbe Brief nennt ihn jetrarchum nostrum“, worin die Geringschätzung für die neuen Herrscher in Gallien, die im Vergleich mit dem Kaiser nicht mehr als „Duodezfürsten“ darstellen, ironisch zum Ausdruck kommt. In Brief V.6, ebenfalls aus den Jahren 474/475, schreibt Sidonius an seinen Verwandten Apollinaris, daß in Vienne die Furcht kursiere, „ne turbo barbaricus aut militaris improbitas calumniam concinneret daß nämlich dem „magistro militum Chilperico victoriosissimo viro“ der Ver­ dacht gegen Apollinaris eingeredet werde, er wolle die südliche Grenzstadt Vaison für die „partes“ des neuen Kaisers Nepos gewinnen, der zu den Burgun­ dern zeitweise auf Konfrontationskurs ging. Die Partei des Kaisers steht hier in deutlichem politischen Gegensatz zu den Burgundern. A.Demandt hält es für 78 Schmidt 1969 S.371ff. Wolfram 1990a passim z.B. S.284ff.; ders. 1979. 79 Wolfram 1990a S.25; ders. 1979 passim; S.18: „Den König macht das Föderatenheer“. 80 Vgl. Schlesinger 1956 S. 107-114 mit Stellen. Bei den von Demandt 1995 S.553, 577f. genannten Beispielen für barbarische Könige im römischen Heer handelt es sich sämtlich nicht um amtierende Könige, sondern um Prinzen oder Fürsten, teils auch lediglich um Söldnerführer.

D. Das Verhältnis zwischen Germanen und Romanen

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möglich, daß Chilperich in Vaison Autorität nur als MM, nicht als Burgunder­ könig hatte. Diese an sich wichtige Unterscheidung trifft hier jedoch nicht zu, da Chilperich als Fürst angesprochen scheint. Das hier genannte Amt soll vielleicht die strukturelle Schizophrenie verdeutlichen, daß die Anhänger des Kaisers den MM zu fürchten haben81.

D. DAS VERHÄLTNIS ZWISCHEN GERMANEN UND ROMANEN Die soziale Differenzierung der Germanen wurde mit der Ansiedlung und durch den Kontakt mit der stark hierarchisierten römischen Gesellschaft spürbar ver­ stärkt. Aus dem relativ homogenen Wanderverband wurde eine stärker geglieder­ te Gesellschaft. Die vornehmen Germanen imitierten römisch-aristokratisches Verhalten82. Die Ostgotenherrscher Amalasuntha, die den Thronfolger Athalarich nach römischen Vorstellungen erziehen lassen wollte, und Theodahad wei­ sen mit ihrer Wertschätzung von Bildung und Grundbesitz eine deutlich „romani­ sche“ Tendenz auf; auch andere Germanenkönige wie die Vandalen Thrasamund und Hilderich oder der Franke Chilperich zeigten sich als Freunde römischer Kultur. Dadurch mußten sich die normalen Krieger von ihrer Führungsschicht entfremdet fühlen. Tatsächlich war im Ernstfall gerade die Elite viel eher zu einem Arrangement mit dem Imperium bereit; so handelte Theodahad einen für ihn persönlich günstigen Frieden mit Byzanz aus; die gewöhnlichen Ostgoten jedoch kämpften bis zum Schluß für ihr Verbleiben in Italien. Dies zeigt die Verwundbarkeit der Verbände, deren Führungsschicht die Bindung an ihre Leute verlor83. Diese Spaltung der gentilen Gruppen nach der Landnahme in den romanisierten Adel und die „Gemeinen“ ist insbesondere bei den Ostgoten und den Vandalen auszumachen. Totila präsentierte sich dem ostgotischen Volk als heldenhafter Freiheits- und Widerstandskämpfer gegen eine überlegene, aggres­ sive Kultur und motivierte dadurch die gotischen Siedler zu zähem Aushalten. Die Italier dagegen hielten im Ernstfall des Krieges eher zu Byzanz, da der Abstand zu den „Barbaren“ bis zum Schluß groß blieb84. Theoderichs Ziel war nicht etwa eine Fusion von Romanen und Goten gewe­ sen, sondern ihre organische, komplementäre Verbindung - eine einträchtige Arbeitsteilung. Die Goten brachten, wie die Varien betonen, neben der Landes81 Demandt 1970 c.698f. und Henning 1999 S.232f. zu den politischen Hintergründen. 82 Zu den Ostgoten s. Bums 1978 S. 153-158, Moorhead 1986b. Zur Imitation römischer Sitten vgl. Prokop BG 11.30, III. 1; Prokop BV 1.8.12 kennt zwei deutlich geschiedene ostgoti­ sche Kriegerklassen. 83 Brown 1971a S.123. Thompson 1982 S.94ff. 84 So Thompson 1982 S.92ff., 100-109, der u.a. Totilas Pferdetanz mit Justinians Thron kontrastierte. Vgl. Theoderichs Diktum in An.Val. 12.61, das gotisches Unterlegenheitsgefühl in kultureller Hinsicht ausdrückt. Sichtbar wird dieses Gefälle auch an den Namenssitten: Die Romanen in Italien nahmen keine germanische Namen an, umgekehrt aber führten vereinzelt Goten römische Namen, Kampers 1981. Moorhead 1983a zu den Loyalitäten während des Krieges; vgl. auch Heather 1997 S.250f.

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II. Voraussetzungen und Vorgeschichte der Ostgermanen

Verteidigung auch eine Stärkung der Bevölkerung85. In Fortführung der spätanti­ ken Trennung von zivilem und militärischem Sektor wurden Wirtschaft sowie zivile Ämter den Römern (cives) zugewiesen, die Verteidigung den Goten (mili­ tes). Theoderich beließ seine Goten in der von den Römern vorgesehenen Rechts­ stellung. Eine rechtliche Möglichkeit für den Aufenthalt fremder Gruppen bot das römische Quartierrecht, das reichsangehörigen peregrini bleibendes Dienst­ recht garantierte. Peregrini waren geschäftsfähig und lebten nach eigenem Recht. Damit war aber der Verzicht auf das conubium, römisches Bürgerrecht (Reichs­ zugehörigkeit) und die Mitgliedschaft im Gemeindeverband ausgesprochen. So­ lange sich die Nachfolgereiche in Abhängigkeit von (Ost)Rom sahen und die religiöse Spaltung fortbestand, blieb auch die Trennung bestehen. Die Ostgoten blieben dadurch in ihrem Reich, zumindest nach römischem Recht, „Reichsaus­ länder“ ohne Bürgerstatus - also konnten sie auch keine Zivilämter bekleiden! Das Bürgerrecht konnten sie nur über höchste Heeresämter erlangen (vgl. Synesios regn.25B)86. Für beide Bevölkerungsgruppen galt dieselbe Gerechtigkeit, nicht aber dassel­ be Recht87. Die Zweiteilung der Gerichte erfolgte in Tradition römischer Militär­ gerichtsbarkeit bei genauer Regelung gemischter Verfahren (s. SEITEN 21 lf.). Es war die römische Fremdwahmehmung, der die Ostgoten als foederati galten. Sie selbst verstanden sich wohl nicht so. Ein wesentlicher Grund für die Beibe­ haltung der Trennung ist in der ausgeprägten Intoleranz und dem dumpfen Haß großer Teile der poströmischen Gesellschaft gegenüber den Barbaren auszuma­ chen. Die Romanen und besonders ihre adelige Führungsschicht fühlten sich den Barbaren kulturell weit überlegen. Den „Barbaren“ definierte insbesondere sein doppelter Mangel an Vernunft und Bildung sowie an Recht und Gesetzen. Etiket­ tiert wurde dies als ferocitas. Umgekehrt definierte sich „der Römer“ in der Spätantike über Bildung und Rechtlichkeit88. Die Barbaren waren Fremde, Ein­ dringlinge und Häretiker, Menschen zweiter Klasse - gleichzeitig aber die Macht85 Die Forderung nach Eintracht in Varien VIII.7, 26. Die Goten kämpfen für die Freiheit Italiens: Varien V.39; VII.4; III. 17+38. Auch in der Kunst wurde die Verbindung von Germani­ schem und Römischem angestrebt (s. Bildprogramme, Theoderichs Grabmal, Goldmünzen). Zum Bevölkerungszuwachs s. Varien 11.16; VII.3; VIII.11. Bewußtsein für geringe Gesamt­ bevölkerungszahl u.a. in Varien VIII.2+3; IX.9+10; XI. 13; XI.39 bezogen auf die Stadt Rom, 14. 86 Dazu Schulz 1993 S.75. Das Conubiumverbot aus CTh III.14.1 von 370 bezog sich auf Ehen zwischen Provinzialen und gentiles/dediticii/laeti, nicht auf Ehen mit foederati, so auch Böhme 1974 S.200. Die dediticii hatten militärischen Status, aber kein römisches Bürgerrecht, ein conubium hätte Kinder zu römischen Bürgern gemacht. Ulrich 1995 S.154ff. - Anders King 1988 S.131. 87 So kann Varien VII.3 als Beleg für das Fortbestehen gotischen Rechtes in Italien („ut unicuique sua iura serventur“) herangezogen werden, Dahn 1866 IV S.151 (trotz III.31). Unterschiedliche Freiheitsregelungen in V.39 und VIII.33. Auf älteres gotisches Eherecht be­ zieht sich wohl Varien V.32f. an comes Wilitanc: „iura nostra“. Dahn ibid. S.146ff. führt daneben auch die Volljährigkeitsregelung von 1.38 an, s. SEITE 47; vgl. weiter VIII.3, III.16. 88 Vgl. Wes 1967. Zum Recht Esders 1993. Bleicken 1981 S.318f.; Die Römer unterschie­ den kaum zwischen fremden Siedlern, Kriegsgefangenen oder Söldnern.

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haber. Die Wechselwirkung von nachlassender Integrationsleistung des spätanti­ ken Imperiums und den Folgen der Niederlagen gegen die Barbaren mündeten in Antibarbarismus und Fremdenhaß89. Einzelne Führer wie der Vandale Stilicho konnten sich im Dienst für das Reich und in enger kultureller Assimilation mit dem Reich identifizieren und feste Verbindungen zur Aristokratie des Reiches knüpfen, ohne daß sich die Lage insgesamt entspannt hätte. Dazu trug auch ein Gefühl der Überfremdung bei, das schon im Laufe der Germanisierung des Heeres spürbar wurde. Trotz aller Möglichkeiten zur Kooperation wurden die Barbaren nie wirklich akzeptiert oder integriert. Tatsächlich mußte es für die Römer irritierend sein, daß Leute die Reichsverteidigung leiteten, die eigentlich von den Reichsfeinden abstammten; zudem wurden immer wieder besiegte Bar­ baren zum Unverständnis der Reichsbewohner nicht vernichtet oder endgültig vertrieben, sondern im Reich belassen, weil sie im militärischen und diploma­ tischen Kräftespiel weiter von Nutzen sein sollten. Die Ablehnung mußte noch viel stärker werden, als große geschlossene Verbände siegreich einmarschierten und sich festsetzten. Die Hilflosigkeit der Sieger angesichts der ihnen ent­ gegenschlagenden Welle der Verachtung hat P.Brown eindrucksvoll beschrie­ ben: „The barbarian settlers in the West found themselves both powerful and unabsorbable. They were encapsulated by a wall of dumb hatred. They could not have been „detribalized“ even if they had wanted to be, because as „barbarians“ and heretics they were marked men. The intolerance that greeted the barbarian immigration, therefore, led directly to the formation of the barbarian kingdoms. To be tacitly disliked by 98 per cent of one’s fellow men, is no mean stimulus to preserving one’s identity as a ruling d ass.“ Die Germanen konnten also Schlach­ ten gewinnen, nicht aber einen echten Frieden90. Der A ntibarbarism us war im Osten gründlicher, nach einer ersten Welle um 400 folgte gegen 470 eine zweite (mit der Ermordung Aspars)91. Im Westen wurden die Barbaren isoliert statt integriert. Überholte Problemlösungsstrategien wie die Aufnahme und der Transfer von Bevölkerungsteilen wurden unverändert weiterbetrieben. Zugleich verloren im 5.Jh. die staatliche Verwaltung und ihre Beamten gegenüber den alten Adelsgruppen zunehmend an Gewicht: „Wenn sich im Westen viele Senatoren seit dem Ende des 4.Jh.s dem Reichsdienst entzogen, dann profitierten sie zwar durch ihren Rang von diesem System, trugen aber nichts zu dessen Erhaltung bei und sprengten außerdem den Handlungsrahmen der lokalen Führungsschichten“92. Als Beispiel nun ein Blick auf das Vandalenreich: Dessen Bevölkerung bestand prinzipiell aus drei „ethnisch“ definierten Gruppen: Den Vandalen, wozu 89 So feiert Sidonius ep.1.6 die römische Ökumene unter Ausschluß der Fremden, Rom als „patria libertatis, in qua unica civitate totius orbis soli barbari et servi peregrinantur („... Fremde sind“)“; voll Barbarenfeindlichkeit sind der ADRB oder Synesios' De regno; vgl. CTh 3.14.1, 14.10.2-4. 90 Brown 1971 a S. 122-130, Zitat auf S. 124f. 91 Zu den Ausschreitungen um 400 s. Randers-Pehrson 1983 S.84-93; vgl. Gluschanins These von 1989. 92 Martin 1995 S.188; ähnlich S.74-76. - Dazu auch Brown 1967; Demandt 1995 S.595ff.

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II. Voraussetzungen und Vorgeschichte der Ostgermanen

auch andere gentile Gruppierungen wie die Alanen oder gotische Sippen zu zählen sind93, den Provinzialen oder Romanen sowie den maurischen Berbern94. Diese Gruppen unterschieden sich auch nach Religion bzw. Konfession; es gab Arianer, Katholiken, donatistische und manichäische Reste sowie heidnische Berber95. So konnte das Vandalenreich keine Stabilität gewinnen, zu heterogen war seine Bevölkerung. Das Verhältnis zu den Provinzialen stellte das Kern­ problem für die Vandalenherrscher dar. Das römische in-group-Gefühl wurde durch die in vieler Hinsicht starke katholische Kirche getragen. D.Claude inter­ pretierte aus dieser Perspektive heraus Hunerichs Plan, die Thronfolgeordnung seines Vaters umzustoßen, als Versuch, die Romanen als Reichsvolk miteinzubeziehen. 484 suchte Hunerich die katholischen Bischöfe auf seine Seite zu ziehen, indem er ihnen gegen die Anerkennung seiner neuen Thronfolgeordnung und das Versprechen, die Kontakte mit Ostrom einzustellen, Religionsfreiheit versprach96. Vor diesem Hintergrund könnte vielleicht auch Hunerichs Betonung seiner „impe­ rialen“ Herrschaft eher als Annäherung an römische Erwartungen und Vorstel­ lungen denn als „Tyrannis“ verstanden werden. Die neue Thronfolgeordnung sollte wohl zur höheren Eindeutigkeit der Nachfolge beitragen. Doch er schei­ terte, da die kampferprobte nordafrikanische Kirche aus existentiellen Gründen traditionell enge Beziehungen zur Gesamtkirche pflegte97. Römischer Reichsge­ danke und kirchlicher Universalismus verbunden mit bedingungslosem Einsatz gegen Häretiker kennzeichneten den afrikanischen Klerus. Ein Übertritt der Vandalen zu dieser Kirche hätte an deren Verhältnis zum Vandalenreich wohl wenig ändern können - eine nordafrikanische Landeskirche schien unmöglich. Daher suchte Hunerich, der im übrigen wenig konsequent agierte und damit selbst zum Scheitern seiner Pläne beitrug, später den Übertritt der Romanen zum Arianismus zu erzwingen. Hunerichs völliges Scheitern führte nicht nur zur Dezimierung der Herrscherfamilie, sondern vor allem dazu, daß der Riß zwi­ schen Romanen und Vandalen fast unüberbrückbar wurde. War schon vorher die äußerliche Scheidung in Vandalen, denen allein Regierung und Verteidigung Vorbehalten war, und die wirtschaftenden Provinzialen strikt gewesen, so war 93 Vgl. Possidius V.Aug. 28: Die in Nordafrika einfallenden Vandalen und Alanen wurden begleitet von Goten sowie von suevischen und hispanischen Splittern. 94Victor v.Vita beschreibt die Mauren mehrfach als Gehilfen der Vandalen, vielleicht um letztere den unzivilisierten Völkern zuzuordnen (so in HP 1.8; 35-38: Geiserich und der Mauren­ könig Capsur; II.9; 12; Passio mon. 3, wo den „gentiles“ ein katholisches Kloster geschenkt wird). Auch Prokop stellt die Mauren mehrfach an die Seite der Vandalen (BV 1.1: Justinians Leistungen „gegen die Vandalen und Mauren“; 1.25; II.3; Gelimers letzte Zuflucht boten maurische Freunde, II.4ff.). 95 S. SEITEN 244f. In Victor HP II.3f. findet sich das Verbot, daß keiner „barbarico habitu“ in eine katholische Kirche gehen dürfe, was Victor mit dem Dementi kommentiert, dies seien nur romanische Palastangestellte, die offenbar in ihrer Anpassung an ihre Herren soweit gingen, deren Kleidung zu übernehmen! 96 Claude 1974a S.338-342 zu Victor HP III. 19. 97 Man vergleiche den Briefkontakt des Fulgentius mit Italien oder dem Osten mit der Korrespondenz der gallischen Bischöfe, die ausschließlich an gallische Kollegen, Freunde und Verwandte schrieben.

D. Das Verhältnis zwischen Germanen und Romanen

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nun ihre Einbeziehung ins Reichsinteresse vollkommen gescheitert. Die Provinzia­ len hofften vielmehr fast ausnahmslos auf eine oströmische Intervention98. Diese Intervention kam schließlich durch den neuerwachten, von Justinian verkörper­ ten Reunionswillen Ostroms zustande. Fassen wir zusammen: I. H.Wolframs These einer maßgeblichen römischen Prägung des germanischen Königtums über die erfolgsentscheidende Anerken­ nung durch das Reich muß eingeschränkt werden. Die Könige konnten zwar tatsächlich akzeptiert werden „as a special kind of Roman magistrate with aspira­ tions to Latin culture“99; die Romanen sahen in ihnen anfangs Delegatare von Kaiser und Reich und erst später Herrscher eigenen Rechts, als diese für inneren und äußeren Schutz sorgten; sie übernahmen bald nicht nur die Aufgaben eines MM, sondern auch die des PPO. Grundlage des Königtums war jedoch die siegreiche Führung eines gefolgschaftlichen Heerhaufens, die in einer erfolgrei­ chen Landnahme und Reichsgründung gipfelte. II. Der Heerführer der Völkerwanderungszeit hatte verschiedene Aufgaben zu bewältigen: 1. ) Er hatte die maßgeblichen Orientierungsleistungen zu erbringen, entschied über Aufbruch und Marschrichtung und übernahm während der Wanderung die Führung und Versorgung. Geiserich etwa traf die Entscheidung zum Aufbruch nach Afrika und übernahm die Organisation und Durchführung des komplizierten Übersetzens (woran nicht nur die Westgoten zweimal scheiter­ ten, sondern auch der letzte starke weströmische Kaiser Majorian) sowie des langwierigen Marsches nach Karthago. 2. ) Der König war zuständig für die Außenbeziehungen mit anderen politischen Einheiten. Im vandalischen Beispiel: Die Verhandlungen mit dem comes Africae Bonifatius, den afrikanischen Städten bzw. der römischen Reichs­ leitung; im Konfliktfall die Entscheidung über Krieg und Frieden sowie im Ernstfall als wichtigste Leistung das Oberkommando im Kampf. 3. ) Nach erfolgreicher Wanderung und dem Sieg in der Schlacht war es schließ­ lich die delikate Aufgabe des Königs, die Beute zu verteilen; im Falle einer siegreichen Landnahme war er es, der die Ansiedlung durchführte100.

98 Vgl. den harschen Ton in Victors HP, insbesondere ab III.42ff., wo sich Wendungen wie rex impius, nefarius, impiissimus, sceleratissimus häufen (vgl. Passio c.2). Victor sah in den Vandalen, die zumeist als namenlose Gestalten erscheinen, ausnahmslos Barbaren (III.38; II. 1; besonders III.62ff.) voller ferocitas, furor, terror, crudelitas, von Neid auf Rom erfüllt und vor allem Häretiker; vgl. auch Prokops BV, wo sich allerdings auch Justinianische Propaganda niederschlägt, und die V.Fulg. "H arries 1994 S.88. 100 Zur Bedeutung der Beute für die Krieger s. das westgotische Beuterecht in L.Vis. IV.2.15f., Isidor HG fin.; Eugippius V.Sev. 19 zum Alemannenkönig Gibuld; Ennodius V.Epiph. 168ff.: .At paucos quos quasi ardori proeliandi tunc ab adversariorum suorum dominatione rapuerunt...“, „ne detestabiles apud illos certaminum casus, quorum cum discrimina sustinue­ rint, lucra non sentiant“ (an die burgundischen Besitzer); öfter bei Gregor v.Tours zu den Franken.

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II. Voraussetzungen und Vorgeschichte der Ostgermanen

Es waren derartige Aufgaben, welche in der Wanderzeit die Herrschaft der Heerkönige grundlegend festigten und zunehmend institutionalisierten. Die Kö­ nige wurden so für die gentilen Verbände geradezu zum Symbol ihrer politischen Existenz und Autonomie. Der König repräsentierte, verkörperte die politische Eigenständigkeit des Stammesverbandes101. So zeigte ein neu entstandener Ver­ band durch die Erhebung eines Königs den Anspruch an, eine eigenständige politische Macht zu sein. Die Auslöschung der Eigenständigkeit dagegen wurde darin deutlich, daß kein eigener König mehr erhoben wurde. Dies geschah bei den 416 von den Westgoten in Spanien schwer geschlagenen Alanen und Silingen, die sich an die von den Hasdingen geführte gens anschlossen. Zeitweise liefen auch die Westgoten nach 507 Gefahr, ihre politische Existenz zu verlieren. Alleine der relativ hohe Grad der Institutionalisierung ihres Reiches schützte sie davor, von den Ostgoten „geschluckt“ zu werden. Dagegen erhoben die Ostgoten 552 nach dem Tod Tejas keinen neuen König mehr. Stehen Menschen vor der existentiellen Frage eines „Do-or-die“, zählt der An­ führer, der dem Verband die Hoffnung gibt, sich behaupten, darüber hinaus auch Sieg, Beute oder gar festes Siedelland und ein eigenes Reich erkämpfen zu können. In erster Linie folgten die Leute Anführern wie Theoderich, Alarich, Geiserich oder Attila mit dem Ziel, in den Wirren der gentilen Beute- und Überlebenskämpfe sichere Wohn- und Versorgungsplätze zu gewinnen. Diese Bedingungen formten besondere konstituierende Erwartungen an den Herrscher, die sich als charismatische Herrschaftskomponenten bestimmen lassen. Bei die­ sen Herrschern war nicht etwa eine kultische Repräsentation des Gottes im Opfer oder die Personifizierung von Legitimität und Kontinuität gefragt; die Situation der Wanderung oder der ständigen Kriegszüge mußte derartige Vorstellungen zurückdrängen. Wichtig war der unmittelbare Erfolg. Bei derart ausgeprägter Bindungslosigkeit und Mobilität gilt das Prinzip: Wer Heil bringt, ist König. Der unmittelbare Erfolg in existentiellen Auseinandersetzungen sichert und legiti­ miert die Herrschaft. Ernstliche Bedrohung erhöht die Bereitschaft, dem erfolg­ reichen Anführer weitergehende Herrschaftsrechte einzuräumen. Bewährung ver­ größert den Anhang nach einer Art „Börsengesetz“; darauf weist Totila in Prokop III.4.2ff. eigens hin: „Denn die Sieger nehmen immer an Macht und Zahl zu“102. In Untersuchungen zum germanischen Königtum des Frühmittelalters stößt man in diesem Zusammenhang bald auf den Begriff „Königsheil“, mit dem allerdings recht unterschiedliche Vorstellungen oder Definitionen, die sich oft auf verschiedene Epochen beziehen und aus unterschiedlichsten Quellen speisen, verbunden werden103. Der König bringt jedoch nicht als König das Heil104. Die 101 S. ebenso das Beispiel der Burgunder SEITE 43 oder Paulus Diaconus HL 1.27 zu den Gepiden; auch Isidor betont am Anfang der Historia Gothorum die besondere Bedeutung des Königtums; vgl. Wolfram 1970. Demandt 1995 S.605ff zur politischen Selbständigkeit. 102 Vgl. Wolfram 1967 S.43. 103 Bomscheuer 1968 S.13 spricht von einem ganzen „vorrationalen Ideenkomplex“ beim frühmittelalterlichen Königtum. Dazu u.a. Wallace-Hadrill 1971 S.20ff., Kaiser 1993 S.83-86. Unzufrieden über das allgemeine definitorische Defizit beim germanischen Königtum Picard

D. Das Verhältnis zwischen Germanen und Romanen

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Quellen des 5. und 6 Jh.s kennen religiös-magische Ideen kaum. Sie zeichnen die Könige vielmehr als erfolgsverpflichtete Führer, die letztlich allein durch die Erfüllung der in sie gesetzten Erwartungen, wie die Sicherung der Existenz oder den Gewinn besserer Lebensgrundlagen, ihren Herrschaftsanspruch aufrechter­ halten konnten. „Königsheil“ bedeutet insofern: Wer Heil bringt, ist König nicht: Wer König ist, bringt Heil. Das Königsheil sollte weder mit magischen noch mit rechtlichen Ansprüchen in Verbindung gebracht werden. Könige dieses Typs werden daher auch als „Heerkönige“ bezeichnet, im Gegensatz zu den mehr von traditionalen Vorstellungen bestimmten „Volkskönigen“. Typologisch läßt sich folgendes Bild zeichnen: Bei eher geschlossenen, kleineren Stämmen in einer bäuerlich-statischen Kultur besteht das Thing- oder Kleinkönigtum105; der König sorgt dort für die Verteidigung der Freiheit und leitet als adeliger primus inter pares den Kult („reges ex nobilitate ...“). Am Rande einer solchen Gesellschaft steht der Gefolgschaftsverband eines „warbandleaders“ („... duces ex virtute sumunt“), der in „sink-or-swim-times“ jedoch in den Vordergrund rückt106. Ein Heerkönig, der mit seinem anfangs kleinen Gefolge auf seinen Expeditionen erfolgreich war, erweiterte seinen Verband nahezu automatisch, bezog neben den Kriegern auch deren Familien mit ein und begann sein Herrschaftsgebiet zu ordnen. Dabei konnte er auch auf mehr traditionale Funktionen zurückgreifen. Die Bedeutung sakraler Vorstellungen für das völkerwanderungszeitliche Königtum ist jedoch gering107. Äußerstenfalls post eventum - fast ausschließlich in Jahrhunderte nach der Völkerwanderung über­ lieferten volkstümlichen Umdeutungen108 - konnten diese als Erklärung für 1991 S.31ff. (Zweifel am Königsheil S.22ff.); skeptisch Lintzel 1961. Hauck 1950 S.206 spricht von einer Trias aus germanisch-hochadeligem Geblütsanspruch, römisch-antiker Herrscherver­ götterung und christlich-kirchlicher Heiligkeit. Grundlegend zum Königsheil Schlesinger 1956, 1963 a und b; vgl. Wenskus 1961; Tellenbach 1979; Wolfram 1968. Die Bedeutung des Kriegsheils des Königs betonen Demandt 1995 S.492, 496 und King 1988 S.149. 104 Wenig überzeugend hierzu Höfler 1952 sowie Hauck 1950 und 1955, die von der allgemeinen „sakralen Fundamentierung der germanischen Lebensordnung“ ausgingen: Das Königsheil als „die Summe aller zauberischer Kräfte, die man dem Inhaber des Königsamtes zuschrieb“ oder „der germanische Glaube an das Königsheil machte den König zum Glied einer sakralen Ordnung“ (Höfler 1952 S.XI bzw. Hauck 1955 S.219) - dieses Bild findet in den Quellen der Völkerwanderungszeit keinen Beleg. 105 Kaiser 1993 S.84f. 106Tacitus germ.7. Auch lange vor der Völkerwanderung gab es Versuche, durch Expeditio­ nen mehr Macht zu erlangen oder ein regnum zu bilden; Z.B. Julius Civilis, Arminius, Ariovist und Marbod (Velleius II. 108f.: „certum imperium vimque regiam“). 107 Ulrich 1995 S.l 11, S.98ff.; 108ff. eine skeptische Auseinandersetzung mit Schlesingers Unterscheidung von sakralem Volkskrieg, bei dem im Verteidigungsfall der gesamte Verband unter einem erblichen Königtum kämpft, und gefolgschaftlichem, freiwilligem Beutezug unter einem gewählten Anführer. - Vgl. Wolfram 1968, bes. S.474 mit einer sehr weiten Definition des Sakralkönigtums. Dagegen geht Demandt 1995 S.605f. von einem sakralen Volkskönigtum als Wurzel für das Königtum der Nachfolgereiche aus. 108 Zur Heldenverehrung von Königen in der Sage s. Höfler 1952 mit Stellen. - Ammian. 28.5.14 nennt bei den Burgundern neben dem regierenden, erfolgsabhängigen König einen königlichen Kultträger als eine sehr seltene frühe Spur eines Sakralkönigtums; dazu s. Wolfram 1967 S.40 und Wenskus 1961 S.579f.

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II. Voraussetzungen und Vorgeschichte der Ostgermanen

Erfolge aktiviert werden. Es gibt m.W. für diese Zeit kein Beispiel weder für einen geopferten noch für einen opfernden König. Vielleicht wurde eine „Transzendierung in der Erwartungshaltung der Gefolgsleute“ durch die Könige instru­ mentalisiert. Dies hatte aber keine erkennbaren Folgen für die Legitimierung der Königsposition oder für die Anerkennung eines Königskandidaten. Für die Völkerwanderungszeit ist nirgends festzustellen, daß das Königshandeln aus dem sakralen Bereich motiviert oder seine Kompetenzen auf diese Weise festgelegt wurden. Von einem germanischen Sakralkönigtum kann für das 5. und 6.Jh. daher nicht die Rede sein.

III. DAS KÖNIGTUM EINIGE BEMERKUNGEN ZU SEINEN BEDINGUNGEN

Hauptthema der vorliegenden Arbeit sind die staatlichen Amtsträger bzw. Insti­ tutionen. Daher sollen einige prinzipielle Bemerkungen zur Stellung der Könige genügen, die für die gesamte Organisation der Verwaltung und Herrschaftsord­ nung aufschlußreich sein können. Eine umfassende Darstellung des Königtums der Nachfolgereiche soll hier nicht gegeben werden. Eine erste Frage betrifft das Selbstverständnis der Germanenkönige und ihren Bezug zum Kaisertum. Jeder Herrscher muß bestimmte Erwartungen erfül­ len, um die Akzeptanz seiner Herrschaft zu sichern. Herrschaft basiert auf einer geregelten, in irgendeiner Weise legitimierten, d.h. als rechtmäßig anerkannten Macht. Je nach Art der Legitimation, nach der Einordnung in anerkannte Zusam­ menhänge, kann man mit Max Weber verschiedene Typen von Herrschaft diffe­ renzieren1. Die germanischen Wanderverbände (TEIL II.A+B) und die Provinzi­ albevölkerung, und besonders ihre Eliten des senatorischen Adels stellten gemäß ihren je verschiedenen Interessen und Identitäten ganz andere Anforderungen an die politische Organisation. Die Könige mußten ihre Herrschaft also jeweils unterschiedlich begründen und legitimieren, um ihre Akzeptanz zu sichern. Dazu kam das stets prekäre Verhältnis zu Ostrom, das auf Rückeroberung sann. Wel­ chen Erwartungen welcher Gruppen suchten die germanischen Könige in welcher Weise nachzukommen? Welche Probleme bereiteten welche Bevölkerungsteile und welche Lösungen suchten die Könige? Deutlich werden die Unterschiede in der Ausrichtung nach den verschiedenen Gruppen in den Thronadressen Athalarichs vom Jahr 526 (Varien VIII.3-7). Man könnte geradezu tabellarisch auswerten, welche Begründungen gegenüber welchen Adressaten angeführt werden. Hier genü­ gen einige Bemerkungen. Das Schreiben VIII.5 „diversis Gothis per Italiam constitutis“ weist im Vergleich mit den anderen Antrittsschreiben eine besondere Herrschaftsbegründung auf. Wie zwar gegenüber dem Senat, nicht aber gegenüber den übrigen Romanen, wird vor den Goten als Legitimation die Abstammung vom Geschlecht der Amaler angeführt; unter diesem Geschlecht hatten, so wird erinnert, die Ostgoten bisher immer Erfolg. Vorangestellt werden zwei weitere Argumente für die Anerkennung des neuen Königs: Die Nachfolgeordnung Theoderichs, die für Kontinuität bürge, sowie die einmütige Huldigung der Hauptstadt. Schließlich wird zweimal der Begriff devotio, der im 6. Jh. geradezu konzeptionelle Bedeutung für gefolgschaftsähnliche Be­ ziehungen gewonnen hatte, für das Verhältnis der Goten zu ihrem König gebraucht. Ein weiteres Beispiel für die unterschiedliche Ausrichtung am Adressaten bilden Varien VIII.9 und 10 über die Beförderung Tuluins. So wird dem Brief an Tuluin ein Beispiel aus der gotischen (Amaler)Geschichte beigefügt, das im Schreiben an den Senat fehlt.

1 Weber 1976 S.28 definiert Herrschaft als „die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhaltes bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“ (ähnlich S.122). Ähnlich Gukenbiehl 1995a S.l 13; Demandt 1995 S.20.

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III. Das Königtum

A. HERRSCHAFT ÜBER DIE GENTILEN 1. Der Titel Versucht man die Titel, die sich die Germanenkönige selbst gaben, in eine Formel zu fassen, lautet diese ,fl. rex gentis X“2. Der Titel Hunerichs ist aus zwei der bei Victor v.Vita überlieferten Edikte von 483/484 bekannt als „Hunerix rex Wandalorum et Alariorum“', genau entsprechend lautet Gelimers Titel auf einer Silberschale (CIL VIII 17.412): „Geilamir rex Wandalorum et Alanorum“. In beiden Fällen erscheint der Königsname in der germanischen Form; vgl. weiter Prokop BV 1.24.3 bzw. den Laterculus regum Wandalorum et Alanorum. Analoge Titel führten die Könige der Franken („rex Francorum“), der Burgunder („rex Burgundionum“) und der Westgoten („rex (Visi)Gothorum“).

Daraus geht dreierlei hervor: 1. Das Reich, als regnum und nicht etwa als res publica oder imperium bezeichnet, wurde in erster Linie vom Verband seiner Träger her und nicht als territoriale Einheit verstanden3. Andernfalls hätte der Titel etwa rex Africae, rex Galliae oder rex Italiae lauten können. Territoriale Bezeichnungen des Herrschaftsbereichs wurden erst später verwendet; im Zeit­ raum unserer Betrachtung herrschte eindeutig die Bezeichnung der maßgeblichen ethnischen Gruppierung, der Herrschaftsgrundlage also, vor4. - 2. Dieser Ver­ band umfaßte nur die Eroberer, nicht die Provinzialen. Das Reich wurde von einer siegreichen Kriegerschicht beherrscht. Damit signalisierten die Könige die Quelle ihrer Macht. Aus dem gleichen Grund werden die Goten in den Varien den Römern stets vorangestellt. - 3. Den Kern des Titels machte der Funktionstitel rex aus, der sowohl eindeutiger als auch allgemeiner war als alle Titel der römischen Kaiser5. 2. König und Verband nach der Landnahme Die Ansprüche der gentilen Gefolgsleute änderten sich nach einer erfolgreichen Landnahme nicht unbeträchtlich, so daß die Zeit vor bzw. während und die nach der Ansiedlung zu unterscheiden sind. Nach der Reichsgründung auf dem Boden des Römischen Reichs waren die gentes einem Prozeß zunehmender Institutionalisierung und „Imperialisierung“6 2 Dazu Wolfram 1967 S.55. Einen anderen Titel wählte Theoderich d.Gr., s. SEITE 90. 3 Dagegen sieht Martin 1995 S.138 darin, daß von Hunerich „das Homöertum zur Staats­ religion gemacht“ wurde, eine Bestätigung der „These Courtois’, daß Geiserich seine Herrschaft als eine auf ein Territorium bezogene über Vandalen und Römer verstand.“ Selbstverständlich wurde die Herrschaft auch als eine territoriale verstanden ab dem Moment, in dem die Germanen sich in einem bestimmten Gebiet niederließen. Doch impliziert dies nicht unbedingt ein Herrschaftsverständnis, das einen bestimmten Raum verwaltungsmäßig einheitlich erfassen will: Eben in dieser Hinsicht weist das Vandalenreich eine starke Ungleichmäßigkeit auf, s. SEITEN 266ff. 4 Wolfram 1967 S.27. 5 Wolfram 1967 S.26. 6 Wolfram 1990a S.25. Vgl. Schulz 1993 S.213.

A. Herrschaft über die Gentilen

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ausgesetzt. Dahinter ist u.a. das Interesse des Herrschers an der Sicherung seiner Macht zu erkennen. „Theoderich saw his task as essentially the establishment of an adequate system of government over the Goths to refocus their personal loyality from him onto his agents and officers“7. Auf der Wanderung waren die gentiles ihrem König gefolgschaftlich verbunden. Doch der mußte nach der erfolgreichen Landnahme neue Formen der herrschaftlichen Organisation seines Verbandes finden. Denn er sah sich nun vor das Problem gestellt, daß die „Raubkultur“ und mit ihr die ständige Möglichkeit der Profilierung über direkte Leistungen endete. Nach der Landnahme waren die Interessen der Gefolgsleute zunächst saturiert. Der König lief somit Gefahr, seine Autorität zu verlieren „peace was the problem of kings“. Womit konnte er nun die Bindungen zu seinen Gefolgsleuten aktualisieren? Welche Leistungen konnte er erbringen, wenn er keine neuen Gebiete eroberte? „The functions of peace tend to obtrude“; oder anders ausgedrückt: „Im letzten war das gotische Heerkönigtum nur dann erfolg­ reich, wenn es sich selbst „aufhob“ ..., wenn es den Königen gelang, ihre Völker größeren Einheiten des Reichsterritoriums unterzuordnen und einzuordnen“8. Diesen Prozeß der „Veralltäglichung des Charismas“ beschreibt Max Weber als „Anpassung des Charismas an fiskalische Finanzformen der Bedarfsdeckung und damit an Steuer- und abgabefähige Wirtschaftsbedingungen“9. Dies war das Problem auch der mittelalterlichen Reiche: Bei der personalen Ausrichtung der Herrschaft über die Angehörigen ihres Verbandes konnten die Könige ihre Posi­ tion nur dann stärken, wenn sie die Mächtigen (nach einer Expansion des Rei­ ches) über die Vergabe von Beute, Land und Posten an sich banden. Wenn dagegen die Eroberungen an ein Ende gekommen waren, wurde es schwieriger, die Bindung an den König immer neu durch Leistungen, in erster Linie durch (Land)Schenkungen, zu aktualisieren. - Feldzüge mußten aber dem zunehmenden Verlangen der Erfolgreichen nach Ruhe und Genuß des Erworbenen diametral entgegenlaufen. So scheint sich insbesondere unter der vandalischen Elite nach Geiserich Kriegsmüdigkeit breit gemacht zu haben, das Luxusbedürfnis verstärk­ te sich dagegen erheblich. Für die etablierten Germanen mußten so zunehmend auch andere Leistungen des Königs an Bedeutung gewinnen. Sie waren nach der Niederlassung in erster Linie an der Sicherung des status quo interessiert. Siche­ rung der Grenzen, Erhaltung des Friedens und innere Ruhe und Rechtssicherheit wurden nun wichtig. Dabei entfernte sich der König aus dem Gesichtskreis seiner Leute, er verlor den direkten Kontakt zum Verband. Zwangsläufig mußten andere Abhängig­ keitsverhältnisse entstehen, die lokalen Eliten traten in Konkurrenz zum König­ tum10. Die Zentralmacht war „benachteiligt“ gegenüber den lokalen, adeligen Kräften: Diese konnten den zumeist von der Landwirtschaft abhängigen Goten in 7 Bums 1984 S.168. 8 Zitate bei Wallace-Hadrill 1971 S.12 bzw. S.16 und Wolfram 1990a S.21. 9 Weber 1976 S.146. 10Dazu und zum folgenden Burns 1980 S.163ff., 1982 S .166-168 und 1984 passim. Eine ähnliche Rolle spielte der fränkische Adel bei der Ausdehnung des Merowingerreiches, s. Irsigler 1969.

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III. Das Königtum

Krisenzeiten (etwa bei Mißernten, Unfällen, Streit unter Nachbarn oder Über­ griffen aggressiver Großgrundbesitzer) schneller und effektiver helfen als die Zentrale. Diese Mediatisierung konnte durch regionale Strukturen etwa im Heer­ wesen noch verstärkt werden. Für diese „Großen“ wird hier der Einfachheit halber auch der Begriff „Adel“ benutzt, auch wenn damit Implikationen verbunden sind, die für die germanischen Großen nicht unbedingt alle zutreffen11. Der germanische Adel der Völkerwanderungsreiche setzte sich vermutlich weniger aus Vornehmen alten Geblütes zusammen, da solche Gruppen die Zeit der Hunnenherrschaft und der Wanderungen nicht ohne große Verluste überlebt haben konnten. Es ist vorstellbar, daß die auf den Zügen in Wanderung und Kampf bewährten Offiziere aus den Reihen der millenarii oder comites die neue Führungsschicht bildeten. Diese konnten mit besonderen Anteilen aus der Beute- und Landverteilung rechnen; nachdem sie einmal ein Kommando ausgeübt hatten, lag eine Fortsetzung der Strukturen auch nach der Ansiedlung nahe12. Dies barg die Gefahr, daß sich wichtige Helfer des Königs tendenziell vom Hof entfernten.

Der Gefahr eines zu eigenmächtigen Adels konnte die Zentrale mit dem Versuch begegnen, den Adel am Hof zu konzentrieren und eine Art Dienstadel zu bilden. Die Mächtigen wurden durch die Aussicht auf ruhmvolle Aufgaben wie Heereskommandos, die Führung “außenpolitischer“ Missionen oder einflußrei­ che Stellungen an den Hof geladen. Ziel der Zentrale mußte es sein, daß sich die mächtigsten Adeligen mehr als Spitzen des Reiches denn als „Provinzhäuptlin­ ge“ definierten. „Ämter, die als persönlicher Dienst beim König galten und von Goten besetzt wurden, konnten so bei der Zentrale den Volksgenossen des Herrschers Einfluß und Ansehen gewähren und einen Ansatz zur Ausbildung eines Dienstadels bilden“13. Zugleich lief die Krone aber Gefahr, „Amtsgewalt an bestimmte Herrengewalt zu binden“14. Der Adel verfügte über eine eigene Basis und eigene Herrschaftskreise wie Familien, Häuser und Ländereien. Die massi­ ven Probleme, die Athalarich mit einem comes Gothorum wie Gildila hatte, hängen nicht zuletzt damit zusammen, daß sich eine transpersonale Herrschafts­ vorstellung nicht vollständig durchzusetzen vermochte15. - Später fand der umgekehrte Prozeß statt: Durch die Kriegssituation sah sich die zentrale Ver­ waltung immer weniger im Stande, das ganze Land zu kontrollieren, bis sich die gesamte Staatlichkeit regelrecht in der Logistik der Kriegsführung erschöpfte. 11Vgl. Zotz 1977, der für das Frankenreich im 6.Jh. eine klare Trennung zwischen Adel und Freien annimmt: „Adel verwirklichte sich ... in den Gemeinschaften adeliger Familien und war Kriterium des Selbstverständnisses und der sozialen Geltung“. Zu dieser Diskussion s. auch Schneider 1990 S.75. 12Die Ostgoten siedelten fast ausschließlich in einigen wenigen Gebieten vor allem im Nordosten (im Süden nur in Samnium), s. Bierbrauer 1975, etwa S.29, 40f., 214, 244; er führt dies in erster Linie auf strategische Gründe wie die Abwehr byzantinischer Angriffe zurück. 13Ensslin 1959S.176. l4Irsigler 1969 S.254. l5Burns 1980 S.180ff. erscheint Athalarichs Edikt in Varien IX.18 als „outline of dis­ integration“. Er führt als Belege für den Autoritätsverlust des Königs die Einführung eines vizeköniglichen Patriziats (VIII.9/10), das Schwanken zwischen römerfreundlicher und -feindli­ cher Politik (dazu auch Krautschick 1983 S. 161 ff.) oder das veränderte Auftreten der saiones an, dazu SEITEN 174ff.

A. Herrschaft Uber die Gentilen

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Prokops Bericht vom Gotenkrieg belegt eindrücklich, wie der König zunehmend dem Druck des Adels ausgesetzt war und nur noch als oberster Kriegsherr benötigt wurde16. Im Jahre 493 wurde Theoderich nach seinem Sieg in Italien zum dritten Mal zum König ausgerufen. Dies drückte seine Anerkennung auch durch die neu zu seinem Verband gestoßenen Krieger (Rugier, Gepiden oder auch die Reste der Söldnerscharen Odovakers) aus17. Zudem wurde damit der veränderte Charakter der nunmehr territorial gewordenen Herrschaft auch über die römische Bevölke­ rung dokumentiert. Die Ausrufung durch das Heer macht deutlich, daß Theode­ rich seine Herrschaft in erster Linie auf seinen gentilen Verband stützte18. Von dessen Stärke hing seine Macht ab. Als Gentilkönig betonte er gegenüber seinen Anhängern die Amalertradition und seine erfolgreiche Führung. Die Dynastien der Völkerwanderungszeit legitimierten sich gegenüber ihrem Verband in erster Linie im Rückbezug auf den erfolgreichen Reichsgründer (s.u. TEIL III.B.6). Dennoch suchten die Könige auch nach der Ansiedlung eine gefolgschaftliche Verbindung zu ihren Leuten aufrechtzuerhalten - auf verschie­ dene Weise: 1. Dazu konnten weitere äußere Siege, Erfolge oder Beutezüge beitragen; so konnten Theoderichs Siege 504/505 in Pannonien und ab 508 in Gallien sein Ansehen bei seinen Anhängern nicht unerheblich steigern. Vielleicht sind die Beutezüge und „raids“ der Vandalen an die Küsten des Mittelmeers auch unter diesem Gesichtspunkt der Loyalitätssicherung zu sehen; Geiserichs Nachfolger Hunerich dagegen stellte die militärischen Aktivitäten weitge­ hend ein und arbeitete dafür massiv an der Veränderung der inneren Struktu­ ren - dies erinnert an andere Nachfolger großer Erobererkönige wie Ludwig d.Fr. und Alarich, in geringerem Maß auch Amalaswintha19. 2. In den Äußerungen des Hofs wird außerdem die enge Verbindung des Königs zu den Goten stark betont. Dies geschah etwa in den Varien nicht allein dadurch, daß die Goten bei Aufzählungen stets vorangestellt wurden, son­ dern auch durch die Bezeichnung als nostri Gothi20. 16Bums 1980 S.182f. mit Belegen aus Prokop. 17Wolfram 1979 sieht darin eine Königserhebung durch das einzige vom Kaiser legiti­ mierte Heer des Westens. Dem An. Val. gilt Theoderich bis 493 als „patricius“, danach als „re*“ ! Demandt 1995 S.492f. sieht Ähnlichkeiten mit der Kaiserakklamation. l8So sieht Claude 1975 S.4 in dieser letzten Königserhebung insbesondere eine „Demonst­ ration ostgotischer Autonomie“; nach An.Val. 57 machten die Goten Theoderich selbst zum König in freien Konditionen: „Gothi sibi confirmaverunt Theodoricum regem non exspectantes iussionem novi principis“. In jedem Fall wurde dadurch Druck auf Byzanz ausgeübt, als die Beziehungen in eine Krise geraten waren. Wenn Löwe 1950 betont, daß Theoderich nicht als Volkskönig aufgebrochen war, verkennt er die Bedeutung der Verbindung des Königs zu seinem Gefolgschaftsverband. 19Daß der König an erster Stelle als siegreicher Feld- und Gefolgsherr für große Beute oder Landgewinn sorgen sollte, wird deutlich auch bei Gregor von Tours HF III. 1If.; IV.9; 14; VI.45; zur Beute besonders IV.2; V.28; VII.15; IX.30; X.7. 20So in Varien III.24, 42; V.27; noster exercitus in II.8, 15; III.38, 43; IV.46; V.29; VII.4. Vgl. auch nostri Burgundiones in der L.Burg. - Goten vor Romanen z.B. in Varien 1.17, 28, 11.19, III.24, IV.47, V.35, VII.39.

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III. Das Königtum

3. Die Könige inszenierten eine besondere Kommunikation mit ihrem Verband. Zur Übergabe des vom römischen Heer übernommenen Donativs ließ bei­ spielsweise Theoderich die Goten in militärischen Kontingenten nach Raven­ na an den Königshof ziehen. Dadurch sollte die gefolgschaftsähnliche „per­ sönliche Beziehung“ zu den Anhängern stets aufgefrischt und zugleich die Einsatzbereitschaft der Krieger erhöht werden21. Schließlich wurde damit auch die gotische Identität gestärkt, deren kriegerischer Charakter oft betont wird22. Auf der anderen Seite stilisierte Theoderich die Ostgoten auch als „Römer unter den Barbaren“: Sie hätten den zivilisatorischen Vorsprung vor den anderen Ethnien, daß sie allein gentile Tapferkeit mit römischer Klugheit verbänden; nur sie könnten nach Gesetzen leben, Selbstbeherrschung üben und reflektieren - d.h. sie allein unter den Germanen seien zu staatlicher Organisation fähig23. Dies zielte sowohl auf eine Disziplinierung der Goten als auch auf eine Werbung gegenüber den Romanen. H.Stüven betont die Ausrichtung des civilitas- Konzeptes auf eine Domesti­ zierung der Germanen und ihre Bedeutung für die Formung eines „Staatsverban­ des“ bzw. eines Bewußtseins für Gesetze und „Staatlichkeit“ bei den tribalen Verbänden. Das Prinzip einer „Rechtsverfolgung nur über staatliche Institu­ tionen“ sollte durchgesetzt werden24. Denn einige prinzipielle Defizite gentiler Strukturen gegenüber einer zentralen Staatlichkeit waren offenkundig. Die Schwie­ rigkeiten, Goten dazu zu bringen, sich an Gesetze zu halten, Steuern zu zahlen oder vor Gericht zu erscheinen, dürften römisches „Normalmaß“ überschritten haben. So enthält Ed.Theod. 145 eine ausdrückliche Sonderregelung für Barba­ ren: Nach der dritten Ladung vor Gericht verliert der „capillatus“ wegen „Trotzigkeit“ den Prozeß, falls eine bewußte Verweigerung offenkundig ist. Die Steuerunwilligkeit der Goten dokumentieren Varien IV. 14, 1.19, VIII.27; wenn es bei der Steuererhebung auch ähnliche Probleme mit den Provinzialen gab, so 21 So auch Meyer-Flügel 1992 S.77, S.188f. Zum Donativ: Varien V.26f. V.36 (vir sublimis Starcedius verlor wegen Ausscheidens aus dem aktiven Dienst sein Donativ); VII.42 (auch die saiones erhielten eine Art Donativ); Varien VIII.26; IV. 14; vgl. Donativ unter Theoderich an Truppen in Spanien und Italien, s. Prokop BG 1.12.47-49. 22Varien XII.28, VIII. 10; 1.24 (Goten als „bellicosa stirps“). Bedeutung des Kriegsruhmes: Jordanes get.28, 43 zu archaischen Ruhmesliedem, Varien IX.25.4, IV. 17; V.10, 23, 36, 32; 1.38. Gentile Werte in Varien X.31, VIII.5 (S. SEITE 69); V.26; 39 (je nur an Goten gerichtet, vgl. die andere Sprache in diesen Schreiben des Königs!); 1.28,11.19,11.48, IX.9: Bewährung im Kampf, Kriegergeist; vgl. auch den Streit um Athalarichs Erziehung (Prokop BG 1.2.3, 3.6, 19). Dementsprechend erfolgte die Mündigkeit noch in Italien nicht ab einem bestimmten Alter, sondern nach germanischem Recht mit der Wehrfähigkeit (Varien 1.24, 38, vgl. VIII. 10; dazu Tacitus germ. 13.1 bzw. Gregor v.Tours HF VII.33). 23Varien VII.25, III.23, XI.3; Bildung und Gesetzlichkeit finden sich nur bei Herrschern über Römer, d.h. Ostgoten und Byzantinern (vgl. 111.17, 43, IX. 19, V III.7,1.31, IV.33,111.24). Kulturelle Überlegenheit der Ostgoten vor den anderen Barbaren hinsichtlich Bildung, Technik, Lebenskultur in Varien I.45f., V.2, IX.21. 24S. Varien XI.8; IV.33: custodia legum, civilitatis iudicium, agrestis vita - humanae conversationis regula, feritas - ratio; vgl. IX. 18, V.39, III. 17 („gentilitas vivit ad libitum“); vgl. Stüven 1995 S.37 u.ö. und SEITEN 9 If.

A. Herrschaft über die Gentilen

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wurden in den hier genannten Schreiben stets besondere Gewaltboten aufgeboten (s. TEIL IV.C.5), die auf hartnäckigen gentilen Widerstand deuten könnten. Wenn Theoderich 500 seine Tricennalien in Rom feierte, erwies er damit der römischen Tradition seine Reverenz. Doch zugleich rechnete er als Anfang seiner Herrschaft das Heerkönigtum, das er um 470 übernommen hatte, und nicht die Eroberung Italiens 49025. Die Heerführung übertrugen die Könige zunehmend an Vertraute. Die meisten zogen schon bald nicht mehr selbst ins Feld. In diesem zentralen Bereich der Herrschaftsordnung fällt bei den Vandalen die führende, geradezu exklusive Rolle der hasdingischen Königsfamilie auf. Sowohl unter Hilderich als auch unter Gelimer stellten nachweislich die nächsten Verwandten, Brüder und Vet­ tern, des Königs die Heerführer. Der wichtigste General im Krieg gegen Beiisar und zugleich zweiter Mann des Reichs war Tata/Zazon, der Bruder Gelimers; Ammata, ein anderer Bruder Gelimers, war der zweite, Gelimers Neffe Gibamund der dritter Feldherr der Vandalen; unter Hilderich nahmen dessen Vettern Hoageis und Hoamer ähnliche Positionen ein26. Schon unter Geiserich leiteten Verwandte des Königs die militärischen Aktionen27. Die Hasdingen stellten sämtliche uns bekannten vandalischen Heerführer! - Doch dieser Umstand offen­ bart nicht nur die Macht der Dynastie, sondern auch Schwächen ihrer Herrschaft. Denn man kann darin auch einen Hinweis auf Probleme mit der Übertragung von Macht erkennen. Seit seinem primordialen Sieg in Italien führte etwa Theoderich d.Gr. keine militärische Aktion mehr persönlich durch. Fortan beauftragte er damit stets seine Feldherren - und folgte so dem Vorbild der spätrömischen Kaiser. Diese (z.T. Kinderkaiser) zogen, im Unterschied zu den Heerkönigen, seit Theodosius I. nicht mehr persönlich ins Feld (dies bemerkte auch Joh.Lydus de mag. II. 11 und III.41)28. Die Hasdingen konnten die militärische Gewalt offenbar nicht einfach übertragen, Ämterstrukturen hatten sich bei den Vandalen 25 Mommsen 1910, Stein 1949 und Ensslin 1959 sahen Theoderich als König der Germanen, aber MM der Romanen an. Jones 1962 sah nur den Germanenkönig in ihm und Italien nicht mehr als Teil des imperium. Prokop und Jordanes kennen die Bezeichnung „König von Römern und Goten“ (βασιλεύς των Γοθών καί Ίταλιώτων). 26Zu Tata s. Prokop BV 1.9,24, II.3. Ein anderer Name Tatas war vermutlich Gunthimir, der sich bei Victor Tunnunensis ad 534.1 findet: „Quos (sc. Wandalos) idem Belisarius proelio superans Gunthimir et Gebamundum Asdingos regis fratres perimit“', vgl. Courtois 1955 S.403. - Zu Ammata s. Prokop BV 1.17.11; 18; 19.14; 20.6; 21.; 25.15; 29. - Zu Gibamund: Victor Tunn. s.o.; Prokop BV I.18f.; 25.15; CIL VIII.25362 („Gebam[undus] regalis origo“). - Zu Hoageis s. Anth.Lat. 342 (345) und 364 (369): „domnus Oageis“', „Libyum dum protegit armis“. - Zu Hoamer s. Prokop BV 1.9: Hoamer war Hilderichs erster Feldherr und die Stütze seiner Herrschaft, der „vandalische Achill“; er wurde mit Hilderich verhaftet, geblendet und getötet (Prokop BV 1.17.11; Victor Tunn. ad 531: „Oamer Asdingum“). 27Prokop BV 1.6: 470 kämpfte Gentos Sohn, der Enkel Geiserichs, im Flottenkampf gegen die Expedition des Basiliskos. Sidonius carm. V.435-437 nennt einen Schwager Geiserichs als Anführer eines Überfalls in Campanien. 28Anders allerdings gegen Ende des Weströmischen Reichs Majorian oder Anthemius, die wegen veränderter Loyalitätsstrukturen wie Heermeister zu agieren suchten, vgl. Demandt 1970 c.699.

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III. Das Königtum

offenbar nicht durchgesetzt. Theoderich dagegen konnte die Befehlsgewalt über noch so große Heere, wie z.B. das starke gallische Expeditionsheer unter Ibbas (508-511), ohne Schwierigkeiten übertragen. Seine Heere kämpften teilweise jahrelang fern vom Hof unter nichtamalischen Generalen, ohne daß dem König daraus Schwierigkeiten erwachsen wären29. Dies reflektiert Ennodius in Panegy­ ricus c.62 sehr hellsichtig: „Diu vicisti in universis congressibus tuis, nunc incipiens in obsequio habere victores“. - Auch bei den frühen tolosanischen Westgoten übernahmen Brüder des amtierenden Königs die Heeresführung. Theoderich II. führte nach seinem Sieg über die Sueven (455/456), anders als seine Vorgänger, nicht mehr selbst das Heer an. Erster Feldherr war sein aus­ schließlich in Gallien agierender Bruder Fridirich30; in Sidonius carm. VII.435 wird der „germanus regis“ markant als zweiter Mann des Reichs beschrieben31. Formulierung und Position erinnern stark an den Bericht von Ennodius’ Vita Epiphanii zum Burgunderprinz Godegisel unter Gundobad. Während das Rangprädikat „vir magnificus“ und der kirchenpolitische Bezug in einem Brief des Papstes Hilarus über Fridirich zu einem Heermeisteramt passen könnten, spricht dagegen aber die Beobachtung, daß Hilarus in einem Brief an Gundioch den terminus technicus MM durchaus zu gebrauchen wußte. Fridirichs Rang und Funktion im westgotischen Machtbereich sind einem römischen Heermeister aber dennoch gut vergleichbar32. Zugleich erhöhte sich der König über den Rest der Germanen, wenn er Instru­ mente der römischen Herrschaftsordnung nutzte wie die Fixierung und Überhö­ hung des Herrscheramtes33. Mit Landnahme und Reichsgründung schoben sich formalisierende Institutionen, bestimmte Verwaltungsprinzipien oder das Be­ steuerungsrecht in den Vordergrund, welche die Herrschafts Verhältnisse stabili­ sieren und koordinieren sollten. Dies gelang jedoch nur deswegen, weil die Ostgermanen vorher in einem langen Akkulturationsprozeß die römischen Ver­ hältnisse kennengelemt hatten. Darin besteht ein deutlicher Unterschied zu den Völkern einer „zweiten Welle“ germanischer Invasionen (s. TEIL VI). 29Wir wissen von keiner einzigen Usurpation oder Insubordination in diesem Zusammen­ hang! Die einzige Empörung gegen Theoderich überhaupt ist die ungeklärte des comes Odoin, der in Rom hingerichtet wurde (s. Marius von Avenches ad 500.3; An.Val. 68). 30Vgl. u.a Chr.Gall.511 c.638: „Fredericus frater Theuderici regis pugnans cum Francis occiditur iuxta L ig e r im Marius Avent, ad 455 und ad 463; „pugna facta est inter Egidio et Gothos ... ibique interfectus est Frediricus rex Gothorum (sic!)." Hydatius 150, 214. 31 „Post hinc germano regis (sc. Fridirich), hinc rege retento (sc. Theoderich II.),/ Palladi­ am implicitis manibus subiere Tolosam." 32Epist.Arelatens.l5 (Brief des Papstes Hilarus von 462) zu Ernennung eines Diakon, „qui a magnifico viro, filio nostro Fritherico litteris suis nobis insinuatus est." Vgl. auch Demandt 1970 c.690f. 33Vgl. Demandt 1995 S.609; King 1988 S.150f., vgl. Schwarcz 1993 S.35f.: Unter römi­ schem Einfluß wurde die Macht der Volksversammlung zurückgedrängt, diese ist nur noch bei den weit vom Imperium entfernten Sachsen zu fassen; die vandalische Nachfolgeordnung steht einer solchen Versammlung diametral entgegen; ähnlich geht Wolfram 1970 S.107f. von einer geringen Macht der frühen reges aus; s. Prokop BG II. 14.3: Volksversammlung der Heruler zwingt den König zum Krieg; Entscheidung über Krieg und Frieden in Diskussion mit dem Heer, s. Ammian 31.15.15; Hydatius 243, Jordanes get.292, Fredegar III.51; dazu TEIL IV.A.3.

B. Herrschaft über die Provinzialen

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B. HERRSCHAFT ÜBER DIE PROVINZIALEN Mit der Reichsgründung mußten die germanischen Könige auch auf die Erwartun­ gen der romanischen Bevölkerungsmehrheit antworten. Diese hatten sie bereits durch vielfältige Kontakte kennengelernt. Gegen eine überwältigende Mehrheit kann keine Herrschaft auf Dauer stabil bleiben. Die germanischen Könige be­ mühten sich also darum, nicht nur die kompetente Mitarbeit erfahrener Verwal­ tungsfachleute, sondern auch die Zustimmung der breiten Bevölkerung zu gewin­ nen. So nutzten sie die Möglichkeiten der Vorgefundenen politischen Ordnung. Dabei rückten sie weitgehend in die Rechtspositionen der römischen Kaiser ein. Dafür mußten sie ihre Herrschaft legitimieren und die römischen Erwartungen an den Herrscher erfüllen34. Wie stark etwa im ostgotischen Italien auf römische Erwartungen eingegan­ gen wurde, veranschaulicht die Anordnung der Adressen, in denen Athalarich seinen Herrschaftsantritt bekannt gibt (Varien VIII. 1-7). Die Reihenfolge, die Cassiodor den Schreiben Athalarichs gibt, offenbart seine Vorstellungen von den Grundlagen und Verfaßtheiten des Reichs: An der Spitze steht das Schreiben an den Kaiser, dann folgen die an Senat und Volk von Rom sowie an die romanische Bevölkerung der italischen Präfektur; erst dann folgt der Brief „an alle Goten“, bevor zuletzt die Benachrichtigung der gallischen Präfektur aufgelistet wird35. Die Romanen sahen als einen wesentlichen Maßstab für die Qualität und Rechtmäßigkeit der Herrschaft deren Übereinstimmung mit der Vergangenheit an. Ziel war die Restauration bzw. Erhaltung des status quo. Jede Veränderung galt als Entfernung vom besten Zustand. Das in den Dokumenten immer wieder feststellbare Bemühen der Germanenkönige, die eigene Herrschaft als bruchlose Fortsetzung der bisherigen Ordnung darzustellen, antwortete auf diese Fixierung auf die imperiale Vergangenheit. Die Betonung der Kontinuität des Römischen erweist sich in dieser Sicht nicht als funktionslose Topik, sondern als notwendige Reaktion auf die Ansprüche der römischen Bevölkerung. Nicht zuletzt aus diesen Bedingungen resultierte schließlich der für die ostgermanischen Nachfolgereiche des Imperium Romanum so typische Doppelcharakter in Verwaltung und Gesell­ schaft. Die Könige entschieden sich dafür, verschiedene Elemente der Vor­ gefundenen Ordnung unverändert beizubehalten. Dabei muß eines noch angemerkt werden: Die germanischen Könige wurden nur von zwei Seiten prinzipiell herausgefordert - von gentilen Konkurrenten und vom (ost)römischen Imperium. Von einem aktiven Widerstand der provinzialrö­ mischen Bevölkerung, von Erhebungen oder Freiheitskämpfen findet sich keine Spur. Im Westen wurde nie versucht, das Imperium wieder zu errichten (viel­ leicht auch wegen der Idee von der Einheit der christlichen Ökumene unter dem oströmischen Kaiser).

34Dazu insbesondere Esders 1993 und 1997. 35Dabei stellt sich die Frage, inwieweit auch die gotischen Könige diese Sicht der Dinge teilten; nach dem hier gesagten war ihnen eine solche Darstellung wichtig zur Betonung der Kontinuität.

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III. Das Königtum

1. Das Verhältnis der Germanenkönige zur katholischen Kirche Einen neuralgischen Punkt im Verhältnis der ostgermanischen Eroberer zu den Romanen und damit für die Nachfolgereiche überhaupt bildete der religiöse Gegensatz. Im römischen Afrika z.B. stand die Kirche in ständiger Opposition zu den Vandalen. Dementsprechend energisch unterstützte sie byzantinische Pläne einer Reconquista. Die drei Edikte, der Liber fidei catholicae und der Brief des Eugenius (II.41f.) sind als authentische Einschübe in Victors HP zu sehen, die sowohl die amtliche Verfolgung als auch die Orthodoxie der afrikanischen Kir­ che erweisen sollten, um die kaiserlichen Juristen und die Bischöfe von der Notwendigkeit einer Intervention zu überzeugen36. Die ethnische bzw. kulturelle Kluft zwischen Romanen und Germanen war zwar groß (s. TEIL II.D), letztlich jedoch viel leichter zu überwinden als der religiöse Abgrund zwischen Arianern und Katholiken. So wurden in die katholische Kirche eingetretene Westgoten von den Romanen schnell als ihresgleichen angesehen, wie dies die Biographien eines Bischofs Masona von Merida, eines Johannes von Biclaro oder eines Renovatus belegen. Auch die schnelle Verschmelzung beider Gruppen nach dem Übertritt der Westgoten zum Katholizismus weist in diese Richtung. Der religiö­ se Gegensatz jedoch bildete einen stets virulenten Sprengstoff, der leicht zur Explosion gebracht werden konnte, wie im Krieg der Byzantiner gegen die Vandalen oder auch gegen die Ostgoten. Unablässig hatten die Ostgotenherrscher diese Spannung zu entschärfen versucht. Theoderich war jeder Arianisierung entgegengetreten. Seine vielgerühmte Toleranz gründete nicht zuletzt in dem politischen Willen, diese delikaten Fragen weitgehend auszuschalten und jede Provokation der römischen Kirche zu vermeiden37. Die Gründung des Ostgoten­ reichs war durch die Sondersituation des Akakianischen Schisma entscheidend erleichtert worden38. - Auch die Niederlage der Westgoten gegen die Franken kann auf die „konfessionelle Frage“ zurückgeführt werden. Neben verschiedenen anderen Gründen39 war es wohl nicht zuletzt der von Chlodwig geschickt insze­ 36 Vismara 1987 (1972) S.405f. In der offiziellen Sprache der vandalischen Edikte heißen dagegen die Katholiken konsequent „homoousiani“ (Victor HP 11.13; III.2). Vgl. Justinians Versuche, die katholischen Franken gegen die arianischen Ostgoten zu mobilisieren. Vgl. auch Hillgarth 1966 S.494. - Avitus von Viennes oberstes Ziel galt der Erhaltung von Ökumene und Orthodoxie, damit auch dem Sieg über die Arianer, so auch King 1988 S.133. Die christliche Ökumene hatte auch etwa für Cassiodor oder Hydatius eine hohe Bedeutung. 37Zur ostgotischen Religionspolitik vgl. Saitta 1993a S.63-99. S.51f. mit Anm.l 17 hält er eine bewußte Stoßrichtung der antiarianischen Edikte Justins gegen die Ostgoten sowie einen Zusammenhang mit den Briefen des Albinus für möglich. - Vgl. den Schutz von Minderheiten wie Samaritaner (Varien III.45) oder Juden (11.27, vgl. An.Val. 94, Varien V.37 wie Ed.Theod. über eigenes Recht und eigene Richter); Theoderichs Verbot einer Arianisierung: S. Prokop BG II.6.18f., Varien X.26, Excerpta ex Ecc.Hist. Theodoris Lectoris, Migne PG 86.1 11.18, 193; vgl. dazu Bums 1982 passim. 38Martin 1995 S.135f., explizit S.177 und Bums 1982 S.107f. mit Anm.48 halten das Schisma wohl zu Unrecht für eine notwendige Bedingung des Bestehens des Ostgotenreichs. 39Collins 1983 S.34 hält die Abwanderung nach Spanien seit 494 für eine maßgebliche Schwächung (s. Chr.Caes. zu 494 und 497); Varien III. 1-4 gehen für die Westgoten wegen langer Friedenszeit und mangelnder Übung von militärischer Schwäche aus, die der fränkischen

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nierte katholische „Kreuzzug“, wie ihn besonders Gregor HF III.37 schildert, der den Franken den Sieg brachte. Chlodwig wollte die ignorante Haltung der Kirche gegenüber den Goten, die deren Assimilation erschwerte, ausnutzen. Gregor von Tours berichtet auch in vit.patr. IV. 1, daß ein Bischof kurz vor der Schlacht bei Vouille verdächtigt wurde, für die Franken zu agitieren; nach HF 11.23 veranlaßte um 470 die zunehmende Bedrohung durch die Franken auch die Burgunder zu schärferer Beobachtung der Bischöfe, woraufhin ein Bischof nach Clermont floh. Derselbe Argwohn gegenüber katholischen Bischöfen ist der Hintergrund zu Vita Eptadii 8, dem Streit zwischen Gundobad und Chlodwig um eine Bistums­ besetzung40. Insgesamt erfuhren die Katholiken in den ostgermanischen Reiche, außer unter den Vandalen, eine relativ tolerante bzw. zurückhaltende Behandlung. Auch im Westgotenreich kann von einer Katholikenverfolgung nicht die Rede sein41. Exilierung, Vertreibung, Haft oder Absetzung von Bischöfen kamen ver­ einzelt vor (dazu s. besonders Sidonius epp. VII.9 und 6: „ut ambigas ampliusne suae gentis an suae sectae teneat (sc. Eurich) principatum“), doch kam dabei niemand zu körperlichem Schaden. Eurichs zeitweiliges Vorgehen gegen einige Bischöfe richtete sich gegen Widerstand in der gallorömischen Führungsschicht sowie gegen die Verbindungen mit der Reichskirche. Alarich II. förderte die katholische Kirche seines Gebietes mit dem Ziel, eine Landeskirche aufzubauen. Im Gegensatz dazu galten in Byzanz Nichtkatholiken prinzipiell als Bürger zweiter Klasse (s. etwa CJ 1.5.12). Grundsätzlich wurden folgende Modelle zur Überbrückung der kulturellen und konfessionellen Diskrepanz versucht: a) Übertritt der Germanen zum Katholizismus und Vereinigung der Bevöl­ kerung in Rechtsgleichheit: Diesen Weg schlugen die Westgoten seit 589 ein, wo die Bildung einer spanischen Reichskirche auch dadurch erleichtert wur­ de, daß bei den Ibero-Romanen das Gefühl einer Zugehörigkeit zum Imperi­ um nachließ42. Das Vorbild dafür dürfte das Frankenreich abgegeben haben. Die Vorteile einer Zusammenarbeit mit den wichtigen Bischöfen lag trotz aller Antagonismen auf der Hand. b) (Zwangs)Übertritt der Romanen zum Arianertum, das zur Staatsreligion wer­ den sollte: Dies versuchte Hunerich 48443 ebenso vergeblich wie später Leovigild um 580. Schlagkraft nichts entgegen zu setzen hatte; Avitus ep.87 wird als Hinweis auf die ökonomische Schwäche des Westgotenreichs gewertet. Wolfram 1990b S.366f. rekonstruiert dagegen u.a. aus Prokop BG 1.12.39 lange schwelende Konflikte zwischen Adel und Krone, die sich im Ernstfall entluden, als der Adel Alarich zwang, ohne die Hilfe ostgotischer Kontingente loszuschlagen; ähnlich Collins 1983 S.35. Auf solche interne Schwierigkeiten könnten die Nachrichten über die Usurpatoren (tyranni) Burdunelus und Petrus hindeuten (Chr.Caes. ad 496, ad 497, ad 506). 40S. auch Gregor v.Tours glor.mart. 47, 24, 78; c.45 (zum Jahr 548/549): ,„Ingenium est Romanorum ‘ - Romanos enim vocitant (= die Westgoten) nostrae homines religionis“; ebenso mirac.1.78, dazu Amory 1994 S.440-443. Skeptisch zur Darstellung Gregors Nehlsen 1982 S.164ff. 41 Trotz Schäferdiek 1967 S.18ff. 42Claude 1974a S.343-345. 43 Zunächst sollten unter Geiserich nur die Funktionäre konvertieren, unter Hunerich wurde

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Hinter beiden Ansätzen steht ein tendenziell territoriales Herrschaftsver­ ständnis. c) Strikte Scheidung der beiden konfessionellen und ethnischen Gruppen durch Verbot des conubium, unterschiedliches Recht und Gericht, Aufteilung der Kompetenzen (Zivilverwaltung bzw. Kriegsführung) bei Vorrangstellung der Germanen: Dieser Ansatz war für Theoderich, der auf seine kaiserliche Beauftragung so großen Wert legte, konstitutiv44. Er betonte die Wahrung der römischen Rechte. Dies bedeutete, daß die Katholiken im Ostgotenreich weiterhin zur Ökumene zählten. Ähnlich, wenn auch weniger konsequent, gingen auch die Burgunder und die Westgoten bis Leovigild das Problem an. d) Aufbau einer katholischen Landeskirche für die Provinzialen: Der Westgote Alarich II 45 und vielleicht auch der Vandale Hilderich strebten diese Lösung an, in deren Zuge sie beispielsweise Romanen ins Heer aufnahmen. Beide Gruppen sollten gleichberechtigt nebeneinander gestellt werden (Alarich II. veröffentlichte 506 das Brev.Al., wodurch den Romanen die Gleichstellung und eine gesicherte Rechtsstellung garantiert wurde). Die Schaffung einer Landeskirche (Alarich II. berief im selben Jahr für die Synode von Agde die gallischen Bischöfe ein, für das kommende Jahr plante er dasselbe auch für die spanischen Bischöfe, s. Ruriciusbrief ad Rur. 7; Schäferdiek 1967 S.55ff.) zielte ebenfalls auf die Herauslösung der Romanen des Reichs aus der Öku­ mene und auf die Zusammenfassung der Bevölkerung. Im Erfolgsfall hätte sich vielleicht eine eigene gens entwickelt. Das Burgunderreich kannte eine weitgehende rechtliche und soziale Gleich­ stellung von Romanen und Burgundern. So galten einige Bestimmungen der L.Burg. für Burgundiones/Barbari und Romani gleichermaßen46. Von einem Eheverbot ist nichts bekannt; H.Stüven will, allerdings keinesfalls zwingend, aus L.Burg. 12.5 und 100 herauslesen, daß im Burgunderreich Mischehen erlaubt waren47. Dazu betrieben die Burgunderkönige eine besonders weiche Konfes­ sionspolitik. Zwar hatten Römer und Burgunder, die als Gruppen immer unter­ schieden wurden, vermutlich ihr jeweils prinzipiell eigenes Recht. Ob dabei für den politischen Entscheidungsprozeß oft in erster Linie Burgunder maßgeblich der Kirchenbesitz den Arianern übereignet; vgl. Martin 1995 S.138 nach Courtois 1955 S.228, der darauf aufmerksam machte, daß die vandalischen Könige ebenso wie ihre Gegner auf die religiöse Einheit hinarbeiteten. Dies war aber nicht in allen Germanenreichen so, Martin 1995 S.222. 44Daher werden, wie Ward-Perkins 1984 S.72-76 beobachtet, in den Varien große Ausga­ ben für arianische Kirchen wie für S.Apollinare Nuovo verschwiegen; die Varien konzentrieren sich auf säkulare öffentliche, damit neutrale Gebäude; dies fällt beim hohen Prestige kirchlicher Stiftungen, wie es etwa in Prokops Aedificia deutlich wird (an erster Stelle rangieren H.Sophia und H.Irene, Kirchen nehmen den größten Raum ein), auf. 45Eine Aufwertung seiner Ausgleichspolitik bei Nehlsen 1982, zum Kirchenrecht des Brev.Al. S.178. 46In L.Burg. 4 etwa „tarn Burgundio quam Romanus“; ähnlich L.Burg. Vorrede Nr.12; 4; 15; 47; vgl. 6-9; 10+50; 13; 21; 26; 28; 31; 38; 39; 44; 96; 100; Extrav.B. und C; zu Bestimmun­ gen für Romanen vgl. auch Beyerle 1954 S.35 Anm.30-32. Getrennte Regelungen für Römer und Burgunder finden sich dagegen lediglich in L.Burg. 12; 22; 55; 84. 47Stüven 1995 S.43, vgl. auch L.Rom.Burg. 9.2.

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waren, läßt sich nicht eindeutig entscheiden. Insgesamt aber gab es einzigartig paritätische Verwaltungsstrukturen, wie sie sich etwa im doppelten Comitat ausdrücken. Wegen ihrer geringen Zahl versuchten die Burgunder offenbar, „als Alternative zu den gallischen regna eine uneingeschränkt offene Gesellschaft zu bilden“48. Das Bemühen um Ausgleich und Konfliktvermeidung herrschte vor. Dieser Kurs mußte beim geringen Bevölkerungsanteil und dem ausgeprägten Kulturgefälle zu einer schnellen Romanisierung der Burgunder führen. Letztere läßt sich archäologisch schon für die Zeit nach 500 belegen, und nach 530 sind weder besondere Gräber noch eine eigene Sprache mehr auszumachen; in den Quellen ist bis zur Mitte des 6.Jh.s das Bewußtsein für eine besondere ethnische Herkunft festzustellen, in der Lebensweise lassen sich die Gruppen schon früher nicht mehr unterscheiden49. Die rasche Assimilation wurde noch durch die all­ gemein für die ostgermanischen Verbände feststellbare ausgeprägte Anpassungs­ fähigkeit gefördert50. So unterlagen auch die Westgoten seit der Mitte des 6.Jh.s einer starken Romanisierung; das Gotische verschwand bald, die germanischen Funde in Spanien enden um 60051. Andererseits bildete die gute Stellung der Romanen und die wenig beeinträchtigte Stärke der katholischen Kirche vielleicht einen Grund für die starke Kontinuität rechtlich-administrativer Strukturen noch im fränkischen Burgund52. Schließlich haftet dieser Region bis heute der Name der Burgunder an: Diese zähe historische Nachwirkung im Raum findet nur in der Lombardei, in (V)Andalusien und „Gotalanien“/Katalonien annähernd Vergleich­ bares. S.Esders erklärt diese erstaunliche Ortstradition damit, daß es den Königen u. a. über die Gesetzescodices gelang, einen neuen Bezugsrahmen für Gentile und Provinzialen zu schaffen. Nicht zuletzt auch im Nibelungenlied äußert sich die „außerordentliche burgundische Traditionskraft“53. Die Toleranz der Burgunder gegenüber der katholischen Kirche gründete auch darin, daß viele Burgunder, darunter auch Glieder der Königsfamilie, der katholischen Kirche zugehörten bzw. interessiert gegenüberstanden54. Gundobads Söhne und Nachfolger Sigis48Wolfram 1990b S.363. 49M.Martin 1981 S.247ff. Ähnlich schnell verschwand das Burgundische, einzig Personen­ namen waren länger nachweisbar, s. auch Heidrich 1968 S. 180: Fast keine der von ihr untersuch­ ten südgallischen Grabinschriften wies Runen, germanische Worte oder Namen auf (letztere besonders im oberen Rhonetal ab 480, was sie S.181 als „Einwanderungsweg“ deutet). Ähnlich Werner 1979 S.465. 50M.Martin 1983 c.1096 stellt überhaupt nur sehr wenige eindeutig burgundische Funde fest, diese stammen fast ausschließlich aus Gräbern. 51 So Wolfram 1990a S.234 und 310 (Die Romanisierung war nur durch die Anwesenheit der Ostgoten verlangsamt; wohl schon bald wurde das conubium-Verbot durchbrochen (vgl. L.Vis. III.1.1)) und Bierbrauer 1994 besonders S.166; nach Kampers 1980 S.706ff. war die Verschmelzung um 620 abgeschlossen. 52Hierzu Esders 1997 S.239; er verweist auf den rector Provinciae (so auch Kaiser 1993 S.106; Klingshim 1994 S.257 und Buchner 1933 S.15-19 leiten ihn von der ostgotischen Präfektur her), die Trennung von militärischer und ziviler Kompetenz und die Bedeutung städtischer Institutionen. 53Das Zitat bei Boehm 1971 S.52. Vgl. Esders 1997 S.242ff. 54So die Frau Chilperichs I., der selbst Patron der Juraklöster (Vita Lupicini 10f., Gregor v. Tours, vit.patr. 1.5 (S.216f.) und Freund des Bischofs Patiens von Lyon war (Sidonius ep.VI.12

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mund und Godomar vollzogen schon vor ihrem Regierungsantritt den Übertritt zum Katholizismus55. Ihnen folgte der Rest der Burgunder, von denen einige schon vorher katholisch gewesen sein dürften: Orosius berichtet um 418, daß die Burgunder „jüngst“ katholisch geworden seien und „unseren Priestern“, die sie aufgenommen hatten, gehorchten; daher seien sie nun mild und höflich zu den Römern, „nicht wie mit unterworfenen Galliern, sondern wie mit christlichen Brüdern“56. Dagegen charakterisieren Gregor57, Avitus oder auch die Passio S.Sigismundi die Burgunder als Arianer. Dies trifft sicher für die Könige Gundobad, Gundioch und Godegisel zu, deren gutes Verhältnis zu den Goten und zu Ricimer Indiz (oder Grund?) für ihr Arianertum ist. Ihnen werden sich einige Große des Reiches angeschlossen haben, wie dies Passio S.Sigismundi 4 zufolge umgekehrt auch 516 nach der Thronbesteigung des katholischen Sigismund geschah. Dagegen könnte die Mehrheit der Burgunder die ganze Zeit über katholisch geblieben sein58. Die Frage der Konfession war nahezu immer auch eine Frage der außenpolitischen Ausrichtung: So läßt sich die Konversion Sigismunds u.a. durch den Einfluß der Franken und die Annäherung an Ostrom bzw. die Abkehr von den Ostgoten erklären. Der Übertritt der Führung zum Aria­ nismus wäre nach dieser Hypothese nach 450 erfolgt, als sich durch diesen Schritt außenpoliti­ sche Möglichkeiten im Verhältnis zu den Westgoten und zu Ricimer eröffneten. Daneben bot der Arianismus für die Könige eine größere Freiheit insofern, als sie sich dem Einfluß der mächti­ gen, dichten Organisation der katholischen Kirche entzogen. Denn die Aufsicht des Königs über eine arianische „Reichskirche“ kannte keine Konkurrenz, wogegen die katholischen Bischöfe oft in die Regierungs- und Verwaltungsgeschäfte eines katholischen Königs eingreifen wollten. Tatsächlich läßt sich der Einfluß der Bischöfe unter Sigismund nachweisen59. Insgesamt zeigten sich die Burgunder - allen Versuchen Gregors von Tours zum Trotz, eine antikatho-lische Atmosphäre zu zeichnen - also gerade auch in der heiklen religiösen Frage als ausgesprochen tolerant. Ihre Zurückhaltung war vielmehr so groß, daß bis in die moderne Forschung hinein die Bestimmung ihrer religiösen Zugehörigkeit enorm schwerfällt. - Diese Zurückhaltung bedeutete nicht zuletzt den Verzicht auf ein wichtiges identitätsstiftendes Distinktivum. Die religiöse Scheidung in Arianer und Katholiken mußte für die germanischen Verbände neben den großen politischen Schwierigkeiten nämlich auch eine vorteilhafte Wirkung haben: Die Stärkung ihrer besonderen Identität und ihres Zusammenhalts60. und V.7). - Unter Gundobad nahmen führende Katholiken wie Avitus von Vienne oder der illustre Heraclius einflußreiche Stellungen ein und führten mit dem König theologische Diskus­ sionen. Katholisch waren Gundobads Frau und Nichten, Chrotechilde und ihre Schwester. 55Vgl. Avitus ep.8 an den Papst: Heidnische und arianische Barbaren sollen nach dem Vorbild Sigismunds katholisiert werden (Übertritt zwischen 501 und 507); vgl. ep.29. Vgl. Staubach 1983 S.22 zu Avitus ep.45 an Sigismund von 507 zum Sieg über Westgoten. 56Orosius VII.32.13. Ähnlich Socrates Hist.eccl. VII.30 (i.J. 430) und Cassiodor Hist.trip. XII.4.11ff. Coville 1928 S.152 hält daher die Burgunder für das erste katholische Germanen­ volk. Als Hinweis auf katholische Burgunder könnte auch Sidonius ep. VI. 12 an Bischof Patiens von Lyon gewertet werden: „a tuo barbaros iam sequaces. quotiens convincuntur verbo, non exire vestigio, donec eos a profundo gurgite erroris felicissimus animarum piscator extraxeris“. 57Gregor HF II.9; 11.28; 11.32 sowie 11.34: Gundobad hält trotz Avitus’ Überzeugungskraft die Furcht vor dem Widerstand seines Volkes vom Übertritt zum Katholizismus ab. 58So auch Amory 1994 S.440; Wood 1994 S.45; weniger überzeugend dazu Boyson 1988. 59Erinnert sei an die Bedeutung der Reichssynode 517 in Epao. Ein religiöser Kurswechsel läßt sich nach Beyerle 1954 S.30-32 auch in der L.Burg. nachweisen, etwa in den Differenzen von L.Burg. 34.1+2 (von Gundobad) und 34.3+4 (von Sigismund), in L.Burg. 102.2 über die Juden, Extrav. D 13 über den Schutz der Kleriker oder L.Burg. 70 zum Asyl. - Burckhardt 1938 S.25 Anm.l hält einen doppelten Wechsel zwischen Arianismus und Katholizismus für unmög­ lich. 60Vgl. dazu TEIL V.B.4.C. S. auch Hillgarth 1966 S.493; Martin 1995 S.137 und 221 mit weiteren Angaben. Ähnlich war die Rolle des Islams für die Araber des 7.Jh.s.

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Die Wirkung christlicher Postulate auf die reges ist nicht zu übersehen, etwa in der Aufnahme christlicher Wendungen in das Herrscherformular. Doch spielt die religiöse Legitimierung keine große Rolle. Bei einigen kirchlichen Schrift­ stellern der Zeit finden sich stark christlich geformte Idealbilder eines Herr­ schers, die das mittelalterliche Königtum entscheidend prägen sollten61. Der Herrscher fungierte dort als defensor ecclesiae und Schützer von Frieden und Gerechtigkeit. Bischöfe und Kleriker suchten die germanischen Könige in ihrem Sinn festzulegen. Doch eine wirkliche Prägung ist kaum festzustellen, weder für die Herrschaftspraxis noch für die Legitimationsstrategien. An der göttlichen Sendung und Einsetzung des Herrschers wurden Erfolg und Recht weniger festge­ macht. Die römischen Kaiser waren seit Diokletian vermehrt in Rückbeziehung auf die göttliche Sphäre her verstanden worden; so wurde sacer („göttliches Eigen­ tum“) zum Synonym für „kaiserlich“. Nach dem Ende des städtischen Bezugs­ rahmens war nun zunehmend die Religion zum Deutungsschema der Wirklich­ keit geworden. Der Kaiser übte Macht weniger aus, als daß er sie darstellte und durch seine Beziehung zu Gott begründete. Bei dieser Liturgisierung wurden die Kaiser als „lebende Bilder“ in Szenen und Zeremonien eingeordnet62. Die geringere christliche Legitimierung der Germanenkönige könnte dadurch vorbereitet gewesen sein, daß im Westen schon im 5.Jh. wegen der stärkeren Organisationsstrukturen der dortigen Kirche “die religiöse Begründung des Kai­ sertums weit weniger wirksam” als im Osten war. Die Bischöfe und insbesondere der Papst stellten eine ernsthafte Konkurrenz für den geistlichen Anspruch des Kaisers dar63.

2. Das Verhältnis der Germanenkönige zum römischen Imperium Die Herrschaft der Germanenkönige konnte gegenüber den Romanen durch ein vom Kaiser anerkanntes Königtum eine erhebliche Steigerung der Legitimation erfahren. Umgekehrt bedeutete die Verweigerung der Anerkennung durch Ost­ rom eine schwere Gefährdung. Wenn das Imperium seine Duldung aufkündigte, war der Bestand des Königreichs ernsthaft bedroht. Das „verfassungsrechtliche“ Verhältnis etwa zwischen dem Ostgotenkönig in Italien und Ostrom scheint schon von Anfang an nicht völlig klar gewesen zu 61 Dazu besonders Schulze 1982; Bornscheuer; Schützeichel 1972. - Fürstenspiegel bei Fulgentius de rer.praed. 11.22, 38; Ennodius im Panegyricus (s. Rohr 1995 S.16ff. über die Entstehung um 507) und V.Epiph.; vgl. Dracontius sat.; Remigius ep.2 (Ep.Austr.2, MGH Epp.III S.l 13) an Chlodwig; Aurelian an Theudebert I. in Ep.Austr.10; im Osten nach Synesios (um 399) Agapetos 527 (PG 86, 1163-1186). Vgl. Straub 1939 zum Konventionellen seit Konstantin und Eusebius; King 1988 S.135f. Staubach 1983 S.48 findet in Avitus ep.46 die später so typische Mischung von Parainese und Panegyrik im Dialog von Klerikern und Köni­ gen. Demandt 1995 S.609 zu Theoderichs „Gottesgnadentum“. 62So Martin 1984 und 1995 S.lOOf., 200f. 63Martin 1997 S.435f.

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sein und wurde später vollends zu einem zentralen Streitpunkt64. Diese Un­ klarheit, welche die bis heute andauernde Diskussion in der Forschung verur­ sacht, hat ihren eigentlichen Grund wohl in der Vermischung nackter Machtfra­ gen mit Legitimierungs- bzw. Systematisierungsversuchen. Aus dem Fall Theoderichs läßt sich auch manches auf die Stellung der burgundischen wie auch der westgotischen Könige übertragen. Daher folgen nun einige detailliertere Ausführungen: a) Bei Theoderichs Italienzug hatten sich seine Interessen mit denen Zenos teilweise gedeckt. Der Kaiser wollte den gefährlichen Amaler loswerden und zugleich einen „Tyrannen“ im Westen eliminieren. Theoderich versprach sich eine Chance, nach mehreren vergeblichen Versuchen einer Reichsgrün­ dung auf dem Balkan seinen Verband endlich erfolgreich anzusiedeln und die Unabhängigkeit von der kaiserlichen Versorgung zu erlangen. Andernfalls wäre der Zug nicht zustande gekommen. Für ein beidseitiges Einvernehmen über das Unternehmen spricht gerade auch der Umstand, daß die Meinung der Quellen über die Initiative durchgängig geteilt ist: Offenbar konnte beides mit Fug und Recht behauptet werden65. b) Theoderich muß in irgendeiner Form beauftragt worden sein. In jedem Fall gab es eine Rechtsgrundlage der Gotenherrschaft in Italien. Anders sind z.B. die folgenden Quellen nicht zu verstehen. - Prokop berichtet in dem ungemein interessanten Abschnitt BG Π.6.14-28 davon, wie die Goten nach dem Scheitern der Belagerung Roms mit dem byzantinischen General Beiisar verhandelten. Dabei erzählten sie die Geschichte der Eroberung Italiens aus ihrer, auf eine kaiserliche Legitimation abzielenden Sicht: Italien sei nicht mit Gewalt den Römern entrissen worden, sondern von Theoderichs Goten in römischem Auftrag vom Usurpator Odovaker zurückgeholt worden, um dann „nach Ordnung und Recht das Land für alle Zeit in Besitz zu nehmen. So haben wir die Herrschaft in Italien übernommen und Gesetze wie auch Verfassung getreulich bewahrt, so redlich, wie es nur je ein römischer Kaiser getan. Weder unter Theoderich noch unter irgendeinem Nachfolger auf dem gotischen Königsthron ist auch nur ein einziges geschriebenes oder ungeschriebenes Gesetz erlassen worden. Was Gottesdienst und Glauben betrifft, haben wir so gewissenhaft Rücksicht auf das Empfinden der Römer genommen, daß bis auf den heutigen Tag kein Italiker weder freiwillig noch unfreiwillig seinen Glauben wechselte. Ebenso blieben Goten, die zum anderen Glauben übertraten, deswegen unbehelligt. Auch die heiligen Stätten der Römer haben wir in höchsten Ehren gehalten. Niemals wurde einem, der dorthin seine Zuflucht genommen hatte, irgendwie Gewalt angetan. Nicht genug damit, auch sämtliche Staatsämter haben dauernd in der Hand von Römern gelegen und nie wurde ein solches von Goten bekleidet. Wenn jemand meint, wir hätten nicht die Wahrheit gesprochen, soll er vortreten und uns Lügen strafen! Man könnte auch noch darauf hinweisen, daß die Goten den Römern erlaubten, Jahr für Jahr, sich ihre Konsuln durch den oströmischen Kaiser bestellen zu lassen.“ (Übers. O.Veh 1966)

64So auch Moorhead 1984b. 65Während der eine Teil betont, daß Theoderich von Zeno geschickt wurde (u.a. Jordanes Rom.348, An.Val., Prokop, Chr.Gall.511 c.670), stellt der andere fest, daß die Initiative bei Theoderich lag (Jordanes Get.290-292; Ennodius passim; Malchus; Malalas XV.384: Furcht vor Zeno). Darauf weist Wolfram 1979 S.22 hin; zwei Versionen bei Eusthatius fr.4 (Müller FHG IV): Theoderich wich vor der Hinterhältigkeit Zenos nach Rom aus, während andere sagen, dies sei auf Anraten Zenos geschehen.

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Noch am Ende ihrer Herrschaft also konnten die Goten auf die Einhaltung der „staatsrecht­ lichen“ Garantie, keine neuen Gesetze zu erlassen und die alten zu wahren, verweisen. Diese Ausrichtung ist in den Varien allgegenwärtig; stellvertretend sei Varien VIII. 13.4+5 (526) zitiert: „bonus princeps ille est, cui licet pro iustitia loqui, et contra tyrannicae feritatis indi­ cium, audire nolle constituta veterum sanctionum. Renovamus certe dictum illud celeberrimum Traiani: sume dictationem, si bonus fuero, pro re publica et me, si malus, pro re publica in me.“ Die Orientierung an der Vergangenheit bleibt Maßstab zur Unterscheidung des guten Herrschers vom barbarischen Machthaber; „tyrannicus“ und ,feritas“ weisen unmißverständlich auf den Barbaren: Wer die alten Verordnungen ignoriert und willkürlich herrscht, ist ein unzivilisierter Tyrann66. - In Agathias 1.5 appellieren die Goten beim Frankenkönig Theudebald an sein Eigen­ interesse: Die Römer finden, wie bei den Goten, immer einen Grund für einen „gerechten“ Krieg wegen ihrer alten Rechte und Ansprüche; Theoderich habe das italische Königreich auf aus­ drückliche Genehmigung Zenos gegründet (die Römer hätten zudem die Herrschaft in Italien verloren, die Goten besäßen daher auch das Recht der Eroberung). - Dazu kommen weitere Hinweise. In Varien 1.1 leitet Theoderich seine Legitimation ausdrücklich vom Kaiser ab, ähnlich Athalarich in VIII. 1+2 („wf amicitiam illis pactis illis conditionibus concedatis“). Diese Situation änderte sich erst 540 nach Witigis’ Kapitulation fortan handelte es sich in der legitimistischen Interpretation um eine Rebellion, welche die Anerkennung des Kaisers und die Herrschaft über Italien zu gewinnen suchte. Dies spiegelt die gesamte Tendenz von Jordanes’ Getica wieder, ähnlich auch der An.Val. So quittierten auch die „Vorzeigerömer“ Liberius und Cassiodor 536 bzw. 540 die ostgotischen Dienste. Besonders deutlich wurde diese Trennlinie in der Sanctio Pragmatica gezogen: Während alle von Theode­ rich, Amalasuntha und Athalarich getroffenen Bestimmungen anerkannt wurden (c.l und 8), wurden alle Handlungen (insbesondere Schenkungen) Totilas für ungültig erklärt - er war ein tyrannus67.

Nach byzantinischer Auffassung war Theoderich also vermutlich zunächst als bevollmächtigter oströmischer Feldherr im Range eines patricius byzantini­ scher Prägung68 nach Italien aufgebrochen. Nach der Eroberung sollte er als kaiserlicher Stellvertreter auf Zeit agieren, so An.Val. 49: „cm/ Theodoricus pactuatus est, ut, si victus fuisset Odoachar, pro merito laborum suorum loco eius, dum adveniret, tantum praeregnaret“\ dies bezeichnet eine Art Eintritts­ recht, Theoderich wurde Reichsverweser des Westens „bis zur Ankunft des Kaisers“. Vertretbar wurde die Beauftragung durch Theoderichs Stellung als MM, Ex-Consul (damit auch als römischer Bürger) sowie die persönliche Bezie­ hung zu Zeno als Waffensohn. c) Der Kaiser billigte aber offenbar die dann von Theoderich - nach dem schleppenden Verlauf der Verhandlungen um die Fixierung seines Status gewählte Form seiner Königserhebung nicht69: Zu unabhängig war dessen 66Vgl. CTh VII. 16.2 „Tyrannici furoris et barbaricae feritatis occasio“; vgl. Varien 1.6, III.9, X.7 und XI.8 zur Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart bzw. der Beibehaltung der gesetzlichen Regelungen. 67Sanctio präg, c.2; vgl. c.5 „tyrannidis tempore“ zu Totila; nach c.24 hatten Käufe Gültigkeit „usque ad adventum sceleratae memoriae Totilae“, ähnlich c.8 Eigentumsrege­ lungen: „Theodorici regis temporibus usque ad nefandissimi Totilae superventum“. 68D.h. anders als der Machthaber im Westen, so Kohlhas-Müller 1995 S.25. 69Vgl. An.Val.53 (Theoderich „sperans vestem se induere regiam“) und 64. S. dazu auch SEITE 73.

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Stellung, die Macht wurde aus eigenem Recht abgeleitet. Die Beauftragung trat hinter der Person des eigentlichen Herrschers zurück70, d) Schließlich übersandte Anastasius 497 die von Odovaker abgegebenen orna­ menta palatii (An.Val. 6 4 :,facta pace cumAnastasio Imperatore per Festum de praesumptione regni, et omnia ornamenta palatii, quae Odoacer Constantinopolim transmiserat, remittit“). Darin kann eine kaiserliche Anerkennung gesehen werden71. Odovaker dagegen war bestenfalls interimsmäßig geduldet worden. Der Anführer des Föderatenheeres, der den exercitus Romanus unter Orestes besiegt hatte72, hatte lange um seine An­ erkennung durch Ostrom gerungen. Er erhoffte sich ein kaiserliches Mandat, etwa in der Nach­ folge eines Aetius oder Ricimer als MM et patricius mit der Leitung der italischen Diözese, als eine Art Reichsverweser. In einer Rückadresse wurde er schließlich patricius genannt, doch jede weitere Legitimierung blieb ihm verwehrt. Trotzdem er also die Wiedervereinigung der res publica unter dem östlichen Kaiser propagierte73, galt er nur als barbarischer König oder gar als Usurpator (tyrannus).

Auf die kaiserliche Anerkennung legte Theoderich großen Wert, da sie zur Legitimierung seiner Herrschaft gegenüber den Italiem entscheidend beitragen mußte. Er war bereit, dafür auch manche Nachteile in Kauf zu nehmen. Neben dem peregrini-Status seiner Goten (s. SEITE 62) und der Rücksicht auf kaiserli­ che Reservatrechte blieb damit nicht zuletzt die „verfassungsrechtliche“ Lage des Reichs immer prekär. Denn damit machte er sich abhängig von der Zustimmung des Kaisers, stets drohte die Gefahr eines Bruches mit Byzanz. Dies war, wie oben die Stelle Agathias 1.5 eindrucksvoll reflektiert, überhaupt ein neuralgischer Punkt der Völkerwanderungsreiche. Die Könige blieben von einer stets neu zu erteilenden Anerkennung durch Byzanz abhängig, ihre Position vererbte sich nicht automatisch. Der modus regendi mußte nach Regierungswechseln je neu verhandelt werden74. Jordanes macht deutlich, daß Ostrom das Gotenreich als eine Art Klientelkönigtum sehen wollte, mit eingeschränkten Befugnissen gegen­ über dem Senat, der Kirche bzw. den Romanen allgemein. Die Kaiser versuchten 70So Wolfram 1979 S.22f; ähnlich Chrysos 1981; Krieger 1991 S.133ff. -Z u Theoderichs Status s. SEITEN 56ff.; Malalas XV.383f., wo auch an Theoderichs Jugend in Konstantinopel erinnert wird (dazu Löwe 1950 S.567, Jones 1962 S.130; vgl. Ennodius Pan.l 1: „Educavit te in gremio civilitatis Graecia praesaga venturi“). 71 Schmidt 1969 S.338. Vgl. Faußner 1986: Theoderichs regnum Italiae wurde nur unter Druck anerkannt; Ostrom wollte keinen westlichen Reichsverweser, daher schuf es einen Aus­ gleich durch Gundobad bzw. später Chlodwig, der nach Gregor HF III.38 durch Anathasius’ codicillum Consul wurde. 72 So Wolfram 1979 S.3. 73 Vgl. MacCormick 1977: Odovaker sandte nach seinem Sieg über die Rugier in der Tradition spätantiker Siegespraktik eine Delegation mit Beute in den Osten, um seine Anerken­ nung Zenos auszudrücken; Faußner 1986; ähnlich Varady 1984: Der Westen sollte Teil des oströmischen Reichs werden, seine Eigenständigkeit endgültig aufgeben; Varien 1.1, II.l, X.32 (je an den Kaiser gerichtet) sprechen dagegen wieder von „utra(e)que res publica(e)“\ Vgl. dazu auch Bums 1982 S. 103-105. 74 Zum ganzen Chrysos 1981; zu Theodahads Kampf gegen die Einschränkung der kö­ niglichen Vorrechte mangels Anerkennung durch Byzanz und der daraus resultierenden Eskala­ tion vgl. Antonopoulos 1990.

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ihre Anerkennung für neue Herrscher indispensabel erscheinen zu lassen, so auch bei den Vandalen i J . 533. Diese Problematik veranschaulicht eine Passage aus Prokop BG III.33: Die Franken dringen darauf, daß der Besitz des Teiles Gal­ liens, der ihnen von den Ostgoten überlassen worden war, durch Justinian „mit Brief und Siegel“ bestätigt wird; nur so scheint er ihnen sicher. Aus den A v i s ­ briefen 93 und 94 wird deutlich, daß der byzantinische Kaiser die Benach­ richtigung und Huldigung des neuen Burgunderkönigs erwartete. Vermutlich machte er davon die Anerkennung als patricius abhängig. Als ein entscheidendes Motiv dafür, daß die Germanenkönige Romanitas und Kontinuität so betonten, ist also das Streben nach Absicherung auszumachen. Wie wichtig diese war, zeigt die Destabilisierung Gelimers durch afrikanische Exilanten, die in Konstantino­ pel für einen Krieg gegen den „Tyrannen“ Gelimer warben. Die Ostgoten- oder auch die Burgunderkönige waren damit weder Beamte noch Kollegen des Kaisers. Ihre Position paßte kaum in das übliche „verfassungs­ gemäße“ Raster75. Sie war räumlich begrenzt. Die Oberhoheit des Kaisers wurde von fast allen Germanenkönigen formal stets anerkannt. Dazu gehörte die Wah­ rung kaiserlicher Reservatrechte wie Kaisertitel, Goldmünzregal, Bürgerrechtsver­ leihung oder ordentliche Gesetzgebung: Statt dessen erließen die Könige edicta in Anknüpfung an höchste römische Beamten wie insbesondere den PPO76. Münzprägung, Urkunden und Datierung können so regelrecht als Gradmesser für die Rücksichtnahme auf die kaiserlichen Oberhoheit gelten. Am stärksten läßt sich dieses Bemühen bei den Ostgoten spüren. Die ostgotischen Urkunden und Münzprägungen (die Könige erschienen nur auf dem Kupfergeld, auf Gold- und Silbermünzen dagegen Kaiserbüste und -titel) folgen fast ganz römischen Standards; datiert wurde aus­ schließlich nach Consulen. Kaum weniger spürbar war die Ausrichtung an den römischen „Regeln“ im Burgunderreich, wo sich Inschriften aus Lyon um 470 mit dominus noster auf den oströmischen Kaiser bezogen und auch sonst der Reichsbezug der Bevölkerung unübersehbar war77. Die Westgoten prägten eigene Münzen spätestens seit Alarich II. Die Urkunden wurden zumindest seitdem nach Herrscherjahren datiert (so das Brev.Al. und Theudis’ Gesetz von

75 Die Ambivalenz zeigt sich nach Ensslin 1944 schon bei Theoderichs Herrschaftsantritt: Trotz des Majestätsverbrechens exilierte er nur engsten Vertrauten Odovakers; Theoderich übte somit kaiserliches Begnadigungsrecht aus, machte sich zur Letztinstanz (auch der PPO hatte kein Begnadigungsrecht). So paßte Theoderichs Handeln noch in den Rahmen des römischen Rechts, ging jedoch über jede Beamtenkompetenz hinaus - er war „magistrate-emperor“ (King 1988 S.131), „junior-Augustus“ (Demandt 1995 S.608). 76 So läßt sich sancire, das kaiserliche verbum dispositivum schlechthin, für die Germanen­ reiche nicht nachweisen. Dazu s. Chrysos 1981, zur Datierung Fichtenau 1973, zu Edikten Kipp 1905 c.l940ff. 77 Zu den Lyoner Inschriften Anton 1981 S.245. Der auch später starke Bezug Südgalliens auf Kaiser und Imperium wird insbesondere im Datierungsstil deutlich: Im südlichen Rhonege­ biet wurde bis ins 7.Jh. nach Consulen datiert, in der Gegend um Lyon und Vienne ab 540 auch nach Indiktionen; hier gibt es auf Inschriften keine Datierung nach Königsjahren wie in der Auvergne (allerdings nur 16 Beispielen, davon 6 zu den Westgoten); vgl. dazu Fichtenau 1973 S.460L und Heidrich 1968, die auf das Vorkommen byzantinischer Münzen bis Herakleios in Südgallien hinweist. Ein „Zugehörigkeitsgefühl“ äußerte sich auch in dem Fehlen eigener Münzbilder (statt dessen Kaiserbildnis sowie Königsmonogramm); vgl. Hendy 1988 S.45ff.

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546)78. Im Vandalenreich dagegen wurde erstmals nicht mehr nach den Consulen datiert, sondern ohne Ausnahme zunächst unter Geiserich nach Jahren seit der Einnahme Karthagos 439; später dann nach Herrscherjahren: Diesem Beispiel sollten viele frühmittelalterliche Herr­ scher folgen79. Zwar ließen auch die Vandalenkönige keine eigenen Goldmünzen prägen. Doch auf ihren Münzen fehlt das Kaiserbild, während Prägung und bildliche Darstellung ganz den kaiserlichen Standards folgen. Gunthamund ließ als erster Barbarenkönig Silbermünzen mit dem eigenen Namen schlagen, ihm taten es seine Nachfolger gleich. In diesem eigenmächtigen Vorgehen kommt zum Ausdruck, daß die Vandalen Eroberer und keine Föderaten waren80. Erst das Erscheinen des Königsbildes auf den Goldmünzen kennzeichnete ein „souveränes“ Reich. Darauf weist der Bericht Prokops in BG III.33 hin: „Jetzt haben die Franken schon den Vorsitz der Zirkusspiele in Arles, prägen aus gallischem Gold eine Münze, die nicht, wie es sich gehört das Bildnis des Kaisers, sondern ihr eigenes zeigt“; selbst der Perserkönig, so merkt Prokop an, prägt lediglich eigene Silbermünzen, kein Herrscher außer dem Kaiser aber Goldmünzen. Erst der Frankenkönig Theudebert I. tastete die kaiserliche Prärogative mit seinem Versuch einer rigoros römischen Herrschaftsdarstellung: Titel „rex magnus Francorum“ auf modernsten Mün­ zen; Italieninvasion i.J. 539; Hofhaltung mit einem MO (Parthenius), der eine „römische“ Finanzpolitik betreibt81.

In diesem Zusammenhang sollte jedoch nicht vergessen werden, daß die faktische Entscheidungsgewalt bei den Germanenkönigen lag82.

3. Römischer Herrschaftsstil Für die Romanen in den Germanenstaaten entstand wegen des „Wegfalls wichti­ ger staatlicher Garantien ... die Erfordernis, aus dem zu eng gewordenen Legiti­ mationsrahmen der römischen kulturellen Tradition heraustreten zu müssen“83. Dennoch bemühten sie sich, die neuen Strukturen den überkommenen anzupas­ sen und den König in ihre gesellschaftlich-politische Ordnung einzubeziehen. Der König wurde als nötige legitime Spitze anerkannt, der etwa die Kirche schützen, als oberster Streitschlichter fungieren sollte oder Ämter vergab. So brachte im Laurentianischen Schisma nach langem Zögern erst das iudicium 78 Zu den Münzen Hendy 1988 S.52ff. (besonders viele Münzen ab Leovigild gefunden); zur Datierung s. Heidrich 1968 (Beispiele allerdings fast alle spät), präziser Fichtenau 1973 S.464-466, der hier auf den fiktiven Charakter des foedus verweist. 79 Vgl. den Laterculus regum Vandalorum et Alanorum; s. Fichtenau 1973 S.459^459, der wegen des allgemeinen Brauchs eine Verfügung Geiserichs vermutet; später datierte auch der Langobarde Alboin von der Einnahme Mailands an. 80 Vgl. dazu Müller 1993 S.48f.; Morrison 1988; Clover 1993 (XI; 1990); auch Hendy 1988 S.47f. 81 So auch King 1988 S.134 eng nach Collins 1983; vgl. auch Durliat 1994 S. 110—113. 82 Vgl. Wolfram 1990b S.216. Nach der bekannten Stelle Prokop BG I.1.25f. war Theoderich nur dem Titel nach rejc, doch in der Regierungspraxis wie ein Kaiser. Saitta 1993b: Bemessung der Steuerhöhe Prärogative des Königs; vgl. Ausbüttel 1988 S.224 (mit Stellen in Anm.15 S.320). Theoderich ernannte je einen Consul: s.Varien II.2f.; VI. 1; IX.22f.; das Vor­ schlagsrecht für Beamte hatte er nach Malalas XV.384 schon seit Zeno, Theoderichs PPO- und Consulskandidaten wurden anerkannt. Vismara 1987 (1980) S.534f. geht für die Vandalen von der vollständigen Verfügungsgewalt des Herrschers über Militär und Verwaltungsapparat aus. 83 Esders 1993 S. 125.

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Theoderichs die Entscheidung. Aus dem Bericht der Symmachusvita im Liber Pontificalis wird deutlich, daß Theoderichs Urteil als Schiedsrichter akzeptiert, ja gesucht wurde84. Damit befand sich der König in Kontinuität zum Kaisertum. Als Bedingung für ihre Akzeptanz forderten die Romanen bzw. ihre senatorischaristokratische Führungsschicht eine Kommunikation nach traditionellen Mu­ stern sowie die Kontinuität zur kaiserlichen Verwaltung. Hierzu kommt noch ein weiterer, bedeutsamer Grund85. Ein entscheidender Vorteil Roms war seine „elaborate legal structure“, die eine Nachahmung für andere Herrscher fast unumgänglich machte. Sogar der Widerstand gegen den römischen Staat etwa durch die Vandalen fand keine anderen als die römischen Formen86. Staatliche Aktivität war anders nicht vorstellbar. Die Friedensverträge hatten dabei „formative character for the new states“. Staatliche Strukturen bildeten gewissermaßen die Voraussetzung für eine Anerkennung durch Ostrom. Den Germanenkönigen wurden „kaisergleiche“ Ehren entgegengebracht. Die traditionelle römische Herrscherdarstellung wurde übernommen, am stärksten sicherlich von Theoderich. Er feierte i.J. 500 in Rom sein Herrschaftsjubiläum, wofür er eigens Festmünzen prägen ließ87. Allein seine Statuen wurden in Italien aufgestellt. Bezeichnenderweise verlangte Justinian von Theodahad als Gegen­ leistung für seine Anerkennung, daß die kaiserliche Bronzestatuen jeweils auf der rechten Seite aufgestellt wurden (Prokop BG 1.6.5). Die Könige empfingen kaiserliche Epitheta wie triumphator, serenissimus, piissimus, princeps', in den Gedichten der Anth.Lat. ist auch für die Vandalenkönige die Rede von regia vota und Thronjubiläen88. Gerade die Hasdingen bedienten sich der kaiserlichen Herr­ schergesten und Insignien wie Diadem, Purpur oder Königsmantel; sie gründeten mit Hunericopolis erstmals in kaiserlichem Stil eine nach einem Herrscher be­ nannte Stadt89. Offenbar zielte die Imperialisierung des Herrschaftsstils auf eine Bindung der Romanen an den germanischen König, der den Kaiser ersetzte. Die 84 Ähnliches auch zum Akakianischen Schisma in der Vita des Hormisdas; zur Rolle Theoderichs als Schiedsrichter s. die Acta Synh. S.419ff., dazu Wirbelauer 1993 S.27-33. Dabei zeigte sich Theoderich durchaus sensibel für seine durch die Tradition fixierten Möglichkeiten, Acta Synh. S.425 Z.23-26: Der Herrscher darf nicht über die Papstkür entscheiden, nur vermit­ teln; anders Wirbelauer 1993 S.32 mit Anm.103-105. 85 Das Folgende nach Chrysos 1992 S.33f. 86 S. SEITEN 143f., vgl. auch das Orosiuszitat auf SEITE 13 oder Malalas c.413 zu Attila. 87 Dazu Bums 1982, besonders S.106. Zum folgenden für Italien s. Ward-Perkins 1984 mit allen Stellen. Rohr 1995 S.44-49 zur Betonung römischer Herrscherideale unter Theoderich. 88 Vgl. Anth.Lat. 210-214 zu Thrasamund, zu Hunerich Anth.Lat. 203, 215, 387; besonders 371 (376) verwendet kaiserliche Anreden wie „dominus (noster)“, „pietas", „regia maiestas“, „regia virtus“, „imperiale decus“ oder „triumphalis maiestas“. Zur Anth.Lat. s. Happ 1986 (insbesondere über Luxurius), Stevens 1988 und Clover 1993 (XVI; 1991/ VI; 1982). - Vgl. auch Demandt 1995 S.608ff. Bei den Amalerkönigen z.B. „pietas nostra“ in Varien IX.18 und 11.25, „clementia principis“ in IX. 19, „nostra clementia“ in 11.24. 89 Vgl. später das ostgotische Theodoricopolis, nach Geographus ravennaticus IV.26. Zu Leovigilds Stadtgründung Reccopolis vgl. Joh.Bic. ad 578; Keay 1988. - King 1988 S.127 spricht nicht sehr präzise von einem hasdingischen „Absolutismus“ hinsichtlich Nachfolgere­ gelung, Kirchenherrschaft, Terminologie, „Gottesgnadentum“ oder imitatio imperil·, ähnlich Diesner 1965 c.976.

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Gedichte der Anth.Lat. über Thrasamund oder Hilderich lassen mit zunehmender Dauer des Vandalenreiches und der Entspannung des Verhältnisses zu Ostrom eine steigende Bereitschaft unter den römischen Adeligen erkennen, sich mit den Barbarenkönigen zu arrangieren. Diese übernahmen gleichzeitig den römischen Herrschaftsstil. Die Germanenkönige der Nachfolgereiche wurden von Seiten der Romanen zumeist als dom(i)nus noster/rex angeredet (so Avitus ep.9, 46a u.ö. gegenüber den Burgunderkönigen, Odovaker etwa in der Pieriusurkunde (,dominus no­ ster“), auch auf den Münzen z.B. der Vandalen (,F>.N. rex Gunthamundus“))9091. Ursprünglich wurden so die Kaiser, seltener auch höchste Reichsbeamte wie PPO, MM oder patricius angesprochen. Mit dieser Anrede konnte der Herrscher bezeichnet werden, ohne eine genauere Wertung seiner Position abzugeben. Selten findet der Titel princeps, nirgends jedoch die Titel imperator, Caesar oder Augustus. Die Germanenkönige selbst fügten ihrem Gentiltitel oft noch ein Rangat­ tribut hinzu. Bei den Burgunden etwa lautete der vollständige Titel N.N. rex Burgundionum vir gloriosissimus', auch die Westgotenkönige beanspruchten spä­ testens seit Alarich II. das Attribut glorios(issim)us9x. Später nannten sich die Langobardenkönige vir excellentissimus, die Frankenkönige vir illustris. Odova­ ker, der bezeichnenderweise keinen gentilen Titel führte, galt als rex praecellentissimus (so 483 auf einer Synode, 489 in der Pieriusurkunde). Alle genannten Attribute waren höchste magistratische oder kaiserliche Rangstufenprädikate des Imperiums92. Der Rangtitel hatte in der Völkerwanderungszeit also noch eine große Bedeutung. Doch danach verlor er sich93. Theoderich d. Gr. wählte mit Flavius Theodoricus rex einen Titel anderen Typs. Flavius ist ein Namenstitel wie Caesar oder später im slawischen Bereich Konstantin bzw. Karl (Krol). Flavius, schon von Konstantin aufgegriffen, signa­ lisierte die Anerkennung durch den Kaiser. Damit verzichtete Theoderich in Rücksicht auf die Italier auf einen gentilen Titel. Er wurde zum König schlecht­ hin. Theudis, der auch sonst in manchem auf ostgotische Vorbilder zurückgriff, führte Flavius als Zusatz zum westgotischen Königstitel ein94; und noch der 90 So Chevrier/Pieri 1969 S.14 mit Verweis auf L.Rom.Burg. 30. Im Brev.Al. wird oft rerum dominus für den Herrscher gebraucht, z.B. IX.30.2 (anders als der LT), XI.6.1, XI.3.1; so auch in Vita Caesarii 1.13 und in Varien XII.3 und 5. 91 Je in den Vorreden des Gundobad und des Sigismund (s. SEITE 110) zur L.Burg.; vgl. Avitus ep.9 und 93: „gloriosissimus princeps“ für den Kaiser; Avitus ep.34 von 501 (an römische Senatoren) „vir gloriosissimus Theodoricus r e x dazu Fichtenau 1973 S.466 Anm.74, besonders Wolfram 1967 S.63f. zu den Westgoten, S.87-89, 127 zu den Burgundern. Nach Brunner 1973 S.198L findet sich das Rangprädikat glorios(issim)us erst seit dem 5.Jh. Zu den Westgoten: „anno XV. regni domni nostri gloriosissimi Theudi regis“ im Prozeßkostengesetz (s. in Brev.Al.; Conc.Tol.III 589); ähnlich der Titel des PPO etwa in CJ Nov. 128.1. 92 Dazu Wolfram 1967 S.63, besonders Anm.46. 93 Wolfram 1967 S.26. 94 Zur Geschichte des Flaviustitels s. Wolfram. - Belege zu Theoderichs Titel bei KohlhasMüller 1995 S.74ff. Zum ostgotischen Einfluß auf die westgotische Verwaltung s. z.B. SEITE 224.

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Langobardenkönig Authari wählte diesen Königsnamen. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Kritik an den leeren Titeln der Kaiser bei Ennodius pan.81, wo er Theoderich als wahren „Alamannicus“ beschreibt; und in ebd. c. 14 behaup­ tet er, Zeno verdanke Theoderich seine Kaiserkrone, da dieser den Usurpator Basiliskos besiegt hatte: ,J*ar tey inclyte domine, laus respicit donati diadematis et defensi“. - Für den Ostgotenherrscher wurde in nichtoffiziellen römischen Quellen, quasi als „Titulatur“ (s. SEITE 251), oft auch die Bezeichnung rex/ rector Italiae gebraucht95. In den Varien ist einmal vom Italiae regnum (11.41) die Rede; dies erklärt sich aber vielleicht mit dem Adressaten Chlodwig, dessen Vorstellungswelt man sich angleichen wollte96.

4. Römische Herrscherleistungen Das positive Bild Theoderichs in Sage und Überlieferung97 zeigt, daß er auch die römischen Erwartungen an einen Herrscher zu erfüllen vermochte. Die „civilitas custodita“ macht in den Varien ein ganzes Herrschaftsprogramm aus. Dieses beinhaltet insbesondere die Wahrung der Gesetze und die Bindung an den römi­ schen Rechtsrahmen, ja an die römische Kultur: Da über die civilitas viel geschrieben worden ist, genügt hier eine Auswahl einiger wichtiger Definitionen und Erklärungen: Wolfram 1990a S.361 mit Anm.34 erklärte sie als „ungeteilte Staatlichkeit des öffentlichen Lebens“, „das auf Gesetzen beruhende soziale, rechtliche und wirtschaftliche Zusammenleben von Römern und Fremden“. Stüven 1995 definiert S.16f. civilitas als Verbindung von Rechtlichkeit und Staatlichkeit (der Begriff sei von Cassiodor und Ennodius persönlich geprägt worden und daher nicht im Ed.Theod. zu finden; anders Staubach 1983 S.12: Civilitas als politisches Programm der Kaiser, „Prinzipatsterminologie“); dabei interpretiert er die civilitas einseitig als Domestizierung der Germanen und zu wenig als Garantie für die Römer (deutlich S.18L, 5-8); anders Esders 1997. Goffart 1971 definiert civilitas als „Roman way of live“ bzw. eingeschränkter als „quality of law-abidingness“. Nach Fuhrmann 1994 S.548 zielte sie auf die Wahrung des Rechts sowie die Sorge für den Zustand der Gebäude, Prosperität und Frieden. - Dies kann nicht als „Renaissance“ oder „Klassizismus“ bezeichnet werden (so Meyer-Flügel 1992), da solche Begriffe eher auf ästhetisch-kulturelle Phänomene als auf die politische Praktiken verweisen. Die civilitas-Idee war nach Stüven 1995 S.30ff. auch handlungsbestimmend z.B. bei Theo­ derich II. (Sidonius ep.1.2; dazu Reydellet 1981 S.70ff., 74ff.); zu den Burgundern s. Avitus ep.35, 29 (Sigismund erinnert u.a. an seinen Aufenthalt in Italien mit „civilitas regalis“), 32, L.Burg. 52.5. Die Stärke römischer Erwartungen wird deutlich, wenn der gallizische Bischof

95 Victor v. Vita 1.14 (Odovaker „rex Italiae“), An.Val.45, Theoderich bei Ennodius, Pan.60, 72 und 92 (c.36 für Odovaker) oder Avitus ep.94 „rector Italiae“, in den Acta Synh. von 501 (S.430 Z.l). Ennodius spricht in V.Epiph. 88 vom „regimen Italiae“ des Nepos (der nur „rex“ genannt wird; vgl. MacCormick 1977). - Zu dieser Wendung s. King 1988 S.132 und Reydellet 1981 S.170-172. ' 96Italia erscheint in den Varien häufig s. Index S.505, Italiae imperium in 1.18 und XII.22 (iimperium überhaupt mehrfach für das Ostgotenreich, Index S.548). 97 Vgl. Fuhrmann 1994 S.332; vgl. auch das positive Theoderichbild bei Prokop, An.Val, V.Fulg. 9f., Malalas XV.383f., Euagrius Eccl.Hist. III.27, IV. 19; spürbar sogar in Boethius’ cons.phil.

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III. Das Königtum

Hydatius um 470, also 25 Jahre nach dem letzten römischen Interventionsversuch in Spanien, an römisch-imperialen Konzepten festhielt; er erklärt im Proöm: Das Imperium hatte Schutz und Sicherheiten für Kirche und Orthodoxie geboten; unter „Römisch“ verstand er legitime Herr­ schaft, in erster Linie rechtliche Regierung und fürsorgliches Eintreten für die Allgemeinheit98.

So bedeutete die civilitas-Idee eine betonte Wiederanknüpfung an die Rom­ anitas, an die römische „Rechtsstaatlichkeit“, Legitimität und Verwaltung. Theoderich erklärte im Jahr 500 offiziell vor dem populus Romanus, kein Gesetz, keine Bestimmung der Kaiser zu brechen: ,f>einde veniens ingressus urbem, venit ad senatum et ad Palmam populo adlocutus se omnia, deo iuvante, quod retro principes Romani ordinaverunt, inviolabiliter servaturum promittit“ (An.Val.66; vgl. V.Fulg. 9f. („Fuit autem tunc in urbe maximum gaudium, Theodorici regis praesentia Romani senatus et populi laetificante conventum ... loco, qui Palma Aurea dicitur, memorato Theodorico rege concisionem faciente, Romanae curae nobilitatem, decus ordinemque distinctis decoratam gradibus aspectaret, et favores liberi populi castis auribus audiens, qualis esset huius saeculi gloriosa pompa cognosceret. Neque tamen in hoc spectaculo aliquid libentior intuetur“. Die feierliche Erklärung war also mit einer Inszenierung eines regelrechten adventus verbunden!)99. Diese Garantie stellte einen hervor­ ragenden Pfeiler ostgotischer Legitimität dar. Es gab eine nicht nur formale, sondern auch stark materiale Kontinuität. Dieses Programm war zweifellos auch stark durch die beschriebenen „staatsrechtlichen“ Festlegungen bedingt. Es darf auch nicht außer acht gelassen werden, daß Theoderich manches von Odovaker übernommen hatte, der wichtige Vorentscheidungen getroffen hatte. Wie wichtig Theoderich die Ausrichtung an römischen Rechtsvorstellungen war, zeigte sich deutlich, als er das den Franken entrissene, ehemals westgotische Gallien neu ordnete: Er verkündete den Bewohnern ihre Befreiung von den Bar­ baren und ihre Rückkehr ins Römische Reich und in römische Rechtlichkeit; und er baute eng an alten Vorbildern ausgerichtete Verwaltungsstrukturen auf100. Was boten die Germanenkönige den Romanen? Sie garantierten Schutz vor auswärtigen Barbaren, Frieden und Ruhe. Sie sicherten die Grenzen oder stellten sie teilweise wieder in altem Umfang her. Eindrucksvoll belegen dies die Argu­ mente der italischen Gesandtschaft in Konstantinopel, die die schwere Aufgabe hatte, für die Anerkennung Odovakers als patricius zu werben: Sie betonten insbesondere, daß er Italien schützen könne und Kriegs- und Staatswesen glei­ chermaßen verstehe (Malchus fr. 10). W.Suerbaum stellt fest, daß ab dem 5.Jh. oft cura und custodia für res publica verwendet, also die Schutzpflicht betont wurde. In diesen Zusammenhang ist wohl auch die Beobachtung einzuordnen, daß 98 Varien IX.14, s. auch VII.2; IV.33; V.4-6; VI.5; X.14; IX.18. Zur civilitas vgl. Ensslin 1959 S.217ff., besonders S.231, O’Donnell 1979, Saitta 1993a passim, Kohlhas-Müller 1995 S.l 18ff. 99 Vgl. An.Val. 60 („militiam Romanis sicut sub principes esse praecepit“) und die SEITE 84 zitierte Stelle Prokop BG II.6.17f. 100S. Varien III. 17, 43: Rechtsstaatliche Gerechtigkeit und Freiheit gegen Willkür; zur gallischen Präfektur s. TEIL V.B.3.

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Trajan zu dem Leitbild und exemplum im ostgotischen Italien erhoben wurde101. Beim Vergangenheitsbezug stand damit die hohe Kaiserzeit im Vordergrund, in Trajan wurde der starke Eroberer erinnert. Zweifellos vermißte die poströmische Welt besonders Macht und Sicherheit102. Der erfolgreiche (heidnische!) Eroberer Trajan bot den Ostgotenkönigen offenbar eine günstige Identifikationsmöglichkeit. „Gothorum laus est civilitas custodita. Tota ad vos fama confluit, si vobis rarus litigator observet. Vos armis iura defendite, Romanos sinite legum pace litigare“. Varien IX. 14 definiert schön die offiziellen Aufgaben der Goten: Sie waren dafür zuständig, daß die Römer in Ruhe ihre Rechtsangelegenheiten aus­ fechten konnten, sie garantierten im Reich Rechtssicherheit und Frieden. Dieses Konzept bzw. Ideal begegnet in den Varien immer wieder103: Die Anstrengungen galten der Erhaltung der inneren Ruhe und Sicherheit, die durch bewaffnete Verteidigung gewährleistet werden104. Vielleicht resultiert diese Haltung aus einem Bewußtsein dafür, daß der Wohlstand der Bevölkerung zugleich die Kraft des Reichs stärken konnte. Die Politik der Toleranz zielte auch auf die Förderung von Prosperität und Wohlstand. Insbesondere die ostgotischen Könige nahmen den Gestus des Bauherrn und Restaurators als wichtiges Element des Herrscherbildes auf. So werden in der Formelsammlung der Varien viele „technische“ Beamte auf gezählt, die des Herr­ schers Fürsorge für Allgemeinwohl und Alltagskomfort unterstreichen. Die Auf­ zählung dort weist eine fast identische Anordnung der Ämter auf wie die Not.Dign., in der die hier genannten Ämter sämtlich dem PU zugeordnet waren. Der König erscheint so als ,^amator fabricarum et restaurator civitatum“ 101 Varien VIII. 13 nennt zweimal Trajan als Leitbild der Amaler; An.Val. 66: Theoderich schont die Katholiken, „Mi etiam a Romanis Traianus vel Valentinianus, quorum tempora sectatus est, a p p e lla r e tu r An.Val. 70; Varien VIII.3 Antrittsadresse Athalarichs von 526: ,JEcce Traiani vestri clarum saeculis reparamus exemplum: iurat vobis, per quem iuratis“. Trajan galt schon seit der Zeit des Theodosius I. als besonderes Vorbild: Vgl. die Epitome De Caesaribus 48, 13.3f. (dazu Schlumberger S.80ff., 158f.), Claudian IV.Hon. 310-319, Sidonius carm.7.112-118, carm.VII (Trajan als erfolgreicher Soldatenkaiser nach Krisenzeit), ep.IV.22; als das Vorbild des starken Herrschers in Lydus de mag. 11.28 an der Spitze der guten Kaiser; Prokop BV II.9.1ff. - S. Suerbaum 1976. 102 Deutlich werden diese Sehnsüchte im Proöm des Hydatius und beim Gallischen Chronist von 452. Dazu Muhlberger 1992. 103 Z.B. Varien VII.3; VII.25; III.24; 11.16; VII.4: „Clipeus ille exercitus nostri quietem debet praestare Romanis“. 104 Im Vor- und Nachwort des Ed.Theod. werden „generalitatis quies“ bzw. „Jprovincialium securitas“ als Ziel formuliert; auch das Ed.Ath. zielte nach Varien IX. 19 auf „Romana quies'\ viele Unternehmungen des gotischen Heeres hatten die Intention „ut universitatem compositam vivere legibus sentiamus. ” So auch in Varien 1.1, in III.34, V.39,11.29.1, III.25, IV.33, V.4, V.5, VI.5, VI.23, VII.3, IX. 14, IX. 18, X.14, XII.3.1. Diese ostgotische Herrschaftsidee kommt auch in der Praeceptio der Acta Synh. S.422 Z.2-7 zum Ausdruck: Theoderichs Liebe zu Rom kann nicht ertragen „ut rebus omnibus deo auctore pacatis sola tranquilitatem Roma non habeat, qua ab externis propugnante caelesti favore utamur, est quidem pudenda cum stupore diversitas Romanum statum in confinio gentium sub tranquilitate regi et in media urbe confundi, ut desideretur civilitas in arce Latii, quae est sub hostium vicinitate secura. “

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(An.Val.70)105. Doch während in den Formeln viele besondere Beamte des Bauwesens aufgezählt wurden, wurden die konkreten Bauaufträge in den aktuel­ len Schreiben ausnahmslos an Bischöfe, comites oder Senatoren vergeben. Der König ließ viele der wichtigsten öffentlichen Bauten nach langer Vernachlässi­ gung renovieren oder erneuern, besonders in Rom106. Ob das seit Ende des 4Jh.s zunehmende touristisch-kulturelle Interesse an den Bauten Roms einen Reflex auf die niedergehende politische Macht, einen Rückzug auf kulturelle Bereiche andeutet, kann hier nicht geklärt werden. Die herrscherliche Bautätigkeit konzen­ trierte sich vor allem auf die königlichen Zentren, neben Rom und Ravenna besonders Verona und Pavia107. - Auch die Vandalenkönige nahmen den impe­ rialen Herrschergestus des Bauherrn ein und ließen sich dafür von führenden Dichtern ihrer Zeit rühmen. In Anth.Lat. 371 (376) wird Thrasamund als Bauherr und Wohltäter des Volkes gefeiert. Er baute sich in Alianae, einem Vorort von Karthago, sein „Versailles“108. Die Bautätigkeit gehörte als herrscherlicher Auf­ gabenbereich zu den erwarteten Aufgaben eines Herrschers. Unter diesem Aspekt muß ihr hoher Stellenwert innerhalb der Panegyrik verstanden werden. Beson­ ders deutlich signalisieren das Prokops Aedificia. Wenn sich die nordafrikani­ schen Dichter anstrengten, die Bauten der vandalischen Könige zu preisen, oder die italischen Quellen einhellig Theoderichs d.Gr. Großzügigkeit rühmten, dann sollte damit zum Ausdruck gebracht werden, daß in dieser Hinsicht kaiserliche Standards erfüllt wurden. Insbesondere Theoderich gelang es, die Römer, die von einem barbarischen Volkskönig bestenfalls Schutz erwarteten, positiv zu überra­ schen. Er erkannte die Bedeutung infrastruktureller Kompetenz (zugleich er­ kannte er den vorangegangenen Niedergang in diesem Bereich, wie die in NOTE 106 genannten Briefen zeigen). Nach der Ostgotenzeit kam es in Italien zu einem massiven Rückgang öffent­ licher Bautätigkeit. Mit dem romanischen Adel pflegten die Germanenkönige die konventionelle Kommunikation. Sie luden Aristokraten an ihre Höfe und ehrten sie durch die Verleihung von honores. Dies bot kooperationsbereiten Römern die Möglichkeit, hohe Ämter und Würden zu erlangen. Einige Adelige wie Cassiodor oder Liberi­ us im Ostgotenreich, Syagrius am Hof des Burgunderkönigs oder bei den West105 Vgl. Ennodius Pan.56. S. die zahlreichen Beamten zur Instandhaltung der öffentlichen Gebäude in den Varien VII.5-9, 15 und 17. 106Etwa Varien III.31; 1.6; 21; 28; 29; 11.34; 35; VII.6; X.30; CIL XI. 1663-1675. Ein­ drucksvoll die Darstellung bei An. Val.70f. Dazu Ward-Perkins 1984 S.46f. mit Stellen; Anm.39 konstatiert er einen Aufschwung in der Ostgotenzeit (vgl. S.128), S.38ff. zum Sonderfall Rom. 107 Vgl. Saitta 1993a S.101-138, de Palol/Ripoll 1990 S.31-67, besonders Ward-Perkins 1984 S.30ff. mit Stellen. Varien V.38 und An.Val.71 zu Verona; Fiebiger I nr.179, II nr.7, CIL XI. 10, CIL V.6418 zu Pavia. 108Dazu Anth.Lat. 210-214. Unter Hunerich wurde das königliche Empfangszimmer pracht­ voll ausgebaut und besungen (Prokop BV II.7; Anth.Lat. 203 und 215: „Hilderich rex“). Vgl. Dracontius sat. V.22. „Rex Hunerich“ ließ in kaiserlicher Manier von Cato in Anth.Lat. 382 (387) den Ruhm eines „meerbesiegenden“ Bauwerks besingen. - Auch der Westgotenkönig läßt das herrliche Brunnenbassin seines Palastes in Tolosa von Sidonius feiern (ep.IV.8).

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goten Leo von Narbonne, der wohl größte Intellektuelle im Gallien seiner Zeit, waren zum Arrangement mit den Invasoren bereit. Dies konnte von rivalisieren­ den Aristokraten als Opportunismus oder gar Kollaboration diffamiert werden. Dadurch entstand der Zwang, sich gegenüber denen zu rechtfertigen, die nicht mit den Barbaren Zusammenarbeiten wollten109. Die Anschuldigungen trafen aber insofern nicht zu, als diese Männer zur Zusammenarbeit nur unter be­ stimmten Bedingungen, insbesondere der Garantie der römischen Rechtlichkeit und Gesellschaftsordnung, bereit waren. Dies zeigt die Haltung Cassiodors oder des Liberius, die in dem Moment die Seite wechselten, als der Gotische Krieg zu einem reinen Existenzkampf der Ostgoten geriet, in dem alle Kompromisse gegenüber der römischen Seite aufgekündigt wurden. In Gallien ging es stärker darum, Ordnung und Frieden sowie die gallische Einheit und Identität zu sichern. J.O’Donnell spricht von einer „Reorganization of loyalties“, nachdem der Osten den Westen sich selbst überlassen hatte: An erster Stelle standen nun die prakti­ schen Anforderungen der eigenen Region; das imperium hatte nur noch zweit­ rangige Bedeutung110. Wo sich die Möglichkeit bot, versuchten die Germanenkönige, die Traditio­ nen bedeutender alter Städte wiederzubeleben111. Denn diese Rückbesinnung bot eine weitere auch für die romanischen Eliten akzeptable Identifikationsmög­ lichkeit112, die dem Kaiser in Byzanz nicht so in die Hände spielen mußte wie die Verehrung etwa der imperial-römischen Vergangenheit. Folgerichtig entstand im regnum Italiae um die Stadt Rom ebenso wie um das vandalische Karthago ein reger „Kult“: Karthago und Rom konnten wieder aus dem Schatten der Kaiserre­ sidenzen hervortreten, als das Kaisertum endgültig nach Osten „abgewandert“ war113.

109Wes 1967 passim z.T. überspitzt. Anders Näf 1990. 1,0 O’Donnell 1979. 111 Tolosa war bis 507 Hauptstadt und Königssitz der Westgoten: Vgl. Sidonius epp. IV.8, IV.22,1.2, VIII.9; carm. VII.435f.; das Brev.Al. wurde in Tolosa aufgesetzt; s. auch Marius ad 467. Ab 475 erstand in Arles eine gewisse Konkurrenz, wie Chronica Gallica 511 suggeriert (MGH AAIX, s. c.621,633,635,649,657, deutlich c.666: Eurich stirbt in Arles, Alarich wird in Tolosa zum Nachfolger erhoben). n2Anth.Lat. 371 (376) zum Geburtstag Thrasamunds widmet sich dem Ruhm Carthagos viel ausführlicher und wärmer als dem delikaten Lob des Barbarenkönigs: Die Stadt beherberge König und Universität, sei „Asdingis genetrix“ und Metropole. Clover 1993 (IX; 1986) nennt weitere Bausteine eines Karthagokults (etwa Münzen mit der Aufschrift „Felix Carthago“ oder auch in der erwähnten Datierung nach der Einnahme Karthagos). 113 Dazu Schäfer 1991 und Schlinkert 1994; schon die mächtigen Generale wie Ricimer und dann besonders Odovaker hatten wegen der Legitimationsmöglichkeiten ausgezeichnete Beziehun­ gen zum römischen Senat unterhalten. Dieser spielte zwischenzeitlich auch bei der Papstwahl eine maßgebliche Rolle, s. Varien VIII. 15 oder das letzte senatus consultum von 530 n.Chr. Es paßt umgekehrt in dieses Bild, daß der Senat nach 550 fast jedes Gewicht verlor. Ihm wird in der Pragm.sanctio keine Funktion zugewiesen; er erließ kein senatus consultum mehr.

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5. Römische Titel und Ämter Theoderich eroberte Italien als patricius und MM. Mit seinem Titel Flavius signalisierte er später die Beauftragung durch den Kaiser. Ähnlich figurierten die Westgotenkönige von Alarich bis Theoderich II. als föderierte Generale; auch Chlodwig war seit 508 consul et v.i. Eine der wichtigsten Auffälligkeiten des burgundischen Königtums bestand in der festen Verbindung von Königtum und römischem Heermeisteramt: - Gundioch ist belegt als MM (per Gallias?) für 463 in kirchenpolitischem Zusammenhang, was zu den vorzüglichen Betätigungsfeldern der späten Heermeister gehörte; nach Hilarus ep.9 (Epp.Arel.19) griff er in den Besetzungsstreit eines Bistums ein: „Quantum enim filii nostri, viri inlustris magistri militum Gunduici sermone est indicatum“. Vielleicht wurde er von seinem Schwager, dem allmächtigen patricius Ricimer gegen Aegidius ins Amt gerufen, der wie Ostrom den neuen Kaiser Severus (461-465) nicht anerkannte114. Nach J.Richard starb er um 469/470; er ist jedoch nach 463 nicht mehr bezeugt, so daß er früher gestorben und sein Bruder Chilperich schon eher Oberkönig geworden sein könnte115. - Chilperich ist wie Gundioch ab 456 als Burgunderkönig bezeugt. Er folgte Gundioch auf dem Burgunderthron bis ca. 480. Bei Sidonius ep. V.6.1 und 7.7 („tetrarchus noster“, „patro­ nus“, ,MM“) wie auch in Vita Lupicini lOf. (über einen Prozeß „coram v.i. Galliae quondam patricio Helperico, sub quo ditionis regiae ius publicum tempore illo redactum est“; je zweimal wird Chilperich hier als „patricius“, d.h. wohl als MM, und als König bezeichnet) findet sich explizit das Nebeneinander von MM-Amt und Königtum11617. - Gundobad, Gundiochs Neffe, wurde als MM Galliarumu l von Ricimer im Kampf gegen Anthemius nach Italien gerufen; 472 wurde er Ricimers Nachfolger als MM praesentalis et patricius und Kaisermacher. 474 zog er sich nach Gallien zurück; der Grund dafür dürfte weniger Gundiochs Tod - diesem folgte Chilperich als leitender burgundischer König nach - als die Stärke des Nepos gewesen sein. Der neue Kaiser konnte als unumstrittener Herrscher Dalmatiens und Beauftragter Ostroms in Italien mit breiter Akzeptanz rechnen. Unklar bleibt auch der Zeitpunkt, wann Gundobad König der Burgunder wurde, mit Sicherheit war er 494 König und 474 n.Chr. noch nicht Oberkönig118. 114Demandt 1970 c.694. Gundioch könnte auch mit dem foedus von 458 MM geworden sein, Schulz 1993 S.128. Weitere Stellen: Malalas XIV.374f., Joh.Ant.fr.209 (als Ricimers Schwager), Gregor HF II. 11 und Auct.Havn. ad 457 (über das Ausgreifen nach Süden). 115 Richard 1989 c.1792. 116 Den Patriziat wertet Demandt 1970 c.698 (weitere Beispiele c.662) überzeugend als Typisierung, die auf das magisterium hindeutet. Den Bericht der Lupicinusvita - nach Amory 1994 S.450 i.J.517 verfaßt - datieren der Herausgeber Krusch und Coville 1928 S.125f., 162 auf ca. 465: Die angegebenen 10 Jahre, seit der ein mächtiger Höfling die Provinzialen drangsa­ lierte, beziehen sich wohl auf die Ausweitung der burgundischen Machtsphäre ab 456 („unge­ rechte Enteignungen“ Übers. Frank). Bei dieser Interpretation und Datierung ließe sich aber Demandts Hypothese 1970 c.697-699 nicht halten, daß Chilperich 472 als MM per Gallias auf Gundobad folgte. - Falsch liegt PLREII S.286f., die im MM den jüngeren Chilperich, den Sohn Gundiochs, sieht. 117 Wie Demandt 1970 c.676f., 694f. aus der direkt anschließenden Rückkehr nach Gallien schließt. 118 Zur Datierung s. Ennodius V.Epiph. 140ff. (i.J. 494 sagt Epiphanius zu Gundobad): „omnes retro imperatores te pietate superasse commemorem“; c.l57f.: Gundobads Eintreten für Italien (Erinnerung an das MM-Amt?), c.160. Weitere Quellen Malalas XIV.374f., Joh.Ant. fr. 209.2, Cass.Chr.1295, Fasti Vindob.pr. 306 zu 472 (in MGH AA IX S.274ff.); vgl. PLRE II S.524f. und Heinzeimann 1982 S.620.

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- Sigismund gilt Avitus in Brief 9 von 515 an den Patriarch von Konstantinopel schon zu Lebzeiten des Vaters als „domnus meus, filius vester patricius“. Die Nachfolge war offenbar gut vorbereitet. Bei Sigismund sollte man allerdings besser von einer Würde oder bloßen Ehrung als von einem Amt ausgehen119.

Es war geradezu eine Doppelfunktion von eigenmächtiger Führungsgewalt des Heerbanns und abgeleiteter Amtsgewalt als MM. Dies meint Avitus in ep. 46a an den oströmischen Kaiser, wenn er Gundobad als ,4omnum meum, suae quidem gentis regem, sed militem vestrum“ beschreibt. Die „Personalunion“ ist dabei aber wohl weniger als Hinweis darauf zu verstehen, daß die Könige die Burgunder in eigener Person ins Feld führten (s. TEIL V.A.2.b). Vielmehr zeigt sie die legitimatorische Kraft eines römischen Reichsamtes. Da die Bindung des foedus seit 458 stark nachließ, mußten der vom Imperium verliehene Heermei­ stertitel und die Patriziuswürde konstitutive Bedeutung für die Legitimation der Burgunderkönige bekommen; dabei warnt A.Demandt davor, aus den Amts­ handlungen als MM, dessen Befehlsgewalt die gesamte Präfektur umfaßte, auf das Herrschaftsgebiet des Königreiches schließen zu wollen120. Die Burgunder­ könige präsentierten sich ähnlich wie die ostgotischen Könige gegenüber den Provinzialen als „Amtswalter für das Imperium“121, als Inhaber rechtmäßiger Herrschaftsbefugnisse, die vom oströmischen Kaiser, der anerkannten Quelle von Autorität (s. TEIL III.B.2), verliehen wurden. Diese Verbindung von gentilem Königtum und römischem Generalsamt steht am Ende einer einschneidenden Entwicklung des spätrömischen Reiches, die insbesondere von drei Faktoren geprägt wurde: 1. Das Ansehen bei den gentilen Verbänden wurde für die Machthaber ausschlaggebend. Das römische Heer bestand seit dem 4.Jh. zu großen Teilen aus Barbaren. Deshalb besetzten nun viele Germanen oft fürstlicher Abkunft die höchsten Posten im Heer. Auch die Verbindung zu der vom Imperium unabhängi­ gen barbarischen Welt war wichtig, da von dort neue Einheiten angeworben wurden. Dabei verpflichteten sich die Barbaren nach gefolgschaftlichen Mustern nicht abstrakt etwa der römischen Sache, sondern persönlich dem einzelnen Führer, der sie anwarb und dem sie vertrauten122 (große Kaiser wie Theodosius, 119Zu Sigismund vgl. weiter Avitus ep.93+94, Vita Abb.Agaun. 5. —Demandt 1970 c.699, 701 zur bloßen Würde des späteren burgundischen Patriziats. 120 Demandt 1970 c.701f. Vgl. Faussner 1986 S.61: Aus der Verbindung von rex gentis und MM mit dem „Purpurpatriziat“ wurde ein dominus terrae mit (modifizierter) gesetzgeberischer Gewalt. Burckhardt 1938 S.95 beschreibt das Verhältnis zu Ostrom als „lockere, zum großen Teil mehr gesinnungsmäßige Einfügung in das spätantike Imperium“, die seit dem Bruch mit den Ostgoten auch außenpolitisch besonders wichtig wurde; Heidrich 1968 (etwa S.171f. oder 182f.) spricht zurecht von einem „Zugehörigkeitsgefühl“, aber unzutreffend von „Respekt vor römischer Oberhoheit“. 121 Boehm 1971 S.59. 122 Aetius bewahrte als ehemalige Geisel besonders zu den Hunnen stets ein enges Verhält­ nis; nach dem Mord an Aetius sah sich Kaiser Valentinian dazu gezwungen, besondere Gesandt­ schaften zur Beruhigung der Barbaren schicken (s. Hydatius 153). So auch Wolfram 1970 S.8; Schulz 1993 S.158ff. S.168 zu personalen, verwandtschaftlichen Beziehungen; vgl. Ulrich 1995 S.97; Demandt 1970 c.783f.: Die politisch undifferenzierte, stark barbarisierte Armee entschied sich für den je fähigsten General.

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Valentinian oder Feldherrn wie Stilicho, Aetius, Beiisar, Narses). Als es sich dann seit Mitte des 5Jh.s nicht mehr lohnte, für Westrom zu kämpfen, wurde der Dienst für die germanischen reges/duces als Kriegsführer zunehmend attraktiv. 2. Sämtliche Heerführer wie Stilicho, Constantius, Aetius oder Ricimer stütz­ ten sich auf große persönliche Leibwachen. Die Tendenz zu Privatarmeen bildet auch einen Grund für die wachsende Bedeutung verwandtschaftlicher Beziehun­ gen bei der Besetzung der MM-Posten seit 400. Aetius war der Sohn des Heermeisters Gaudentius; wegen der Bindung der Loyalitäten an die Familie heiratete er die Witwe seines Erzfeindes Bonifatius, die Gotenprinzessin Pelagia; der spanische Feldherr Nepotianus war Vater des späteren Kaisers Iulius Nepos und Schwager des Marcellinus comes\ Aspars Vater war der MM Ardaburius, seine Söhne wie später auch sein Neffe Theoderich Strabo, der sich ausdrücklich auf Aspars Erbe berief, erreichten höchste Generalstellen (vgl. Malchus fr.2).

Mit ihren Privatarmeen besiegten Aetius oder Ricimer reguläre römische Feldheere123! - Neben dem Besitz vererbten sich auch Gefolgschaften und Loya­ litäten. Gundobad und Gundioch waren Verwandte des patricius Ricimer, von dem sie ins Amt berufen wurden. Später scheint das Magisteramt, wie gesehen, im burgundischen Königshaus erblich geworden zu sein. A.Demandt weist zwar mit Recht darauf hin, daß es kein durch Erbschaft reklamier- und einforderbarer Anspruch war. Doch die ununterbrochene Weitergabe der Heermeisterwürde wurde bei den Burgunderkönigen zunehmend selbstverständlich, Amt und Kö­ nigtum wuchsen immer mehr zusammen124. Gleichzeitig gerann das Amt immer mehr zu einem Diplom guter Beziehungen zu Byzanz. Trotzdem wollte noch Sigismund miles und patricius des Imperiums sein. Er betonte damit die Ab­ hängigkeit von Byzanz und die Beauftragung durch den Kaiser. Zugleich reflek­ tierte er aber in fast stereotypen Wendungen immer wieder auf die große räumli­ che Distanz und andere Umstände, die ihn den Kaiser nicht von Angesicht sehen ließen125. 3. Die Macht der Heermeister wurde im Westen durch die Verbindung des Amtes des MM ped.praes, mit dem Patriziat seit 415 festgeschrieben (s. CTh XV. 14.14). Im Osten hatte u.a. ein antigermanischer Umschwung um 400 zur Folge, daß die zivile Seite das Übergewicht bekam. Befugnisse der Heermeister wurden an MO oder QSP abgezweigt: Fortan waren die meisten Generale Römer, kaum mehr Germanen oder Hunnen; dazu wurde der militärische Oberbefehl in fünf gleichwertige Teile zerlegt, eigene kaiserliche Truppen abgestellt und selte­ ner Föderaten aus dem Reich rekrutiert. Im Westen gab es seit Arbogast zwar erkennbare Versuche der Kaiser, die Macht der Generale zu brechen. Doch diese 123 Dazu Demandt 1970, besonders c.786. Vgl. Ders. 1980 zur Ausbildung eines Militär­ adels. 124 Demandts Gegenbeleg 1970 c.696 überzeugt nicht, wenn er zwischen die Burgunderkö­ nige einen MM per Gallias Bilimer schaltet, der einzig 300 Jahre später bei Paulus Diaconus nur angedeutet wird. 125 Avitus ep.9 und die Briefe an den oströmischen Kaiser 78, 93+94 (die wie Varien 1.1 zum Typus der Huldigungsschreiben gehören) betonen die „Romana devotio“ und die „militiae tituli". Der Kaiser war als „Erbe“ Roms in Burgund unbestritten.

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Bemühungen scheiterten, da sie ohne institutioneile Verankerung blieben: Die einzige erkennbare Folge von Stilichos Sturz war, daß bis 436 kein Germane mehr MM wurde. Stilichos sogen. Kanzleireform hatte dagegen bestimmt, daß die Führungsbeamten aller wichtigen Militärkanzleien vom obersten MM besetzt wurden; und seit 463 gab es nach Sidonius ep.I.ll die praerogativa partis armatae: Ricimer führte ein, daß die höchsten Militärbeamten einen höheren Rang einnahmen als die obersten Zivilbeamten. Gegen das Prinzip einer Tren­ nung von zivilem und militärischem Bereich hatte der westliche Patriziat seit der Mitte des 5.Jh.s neben dem höchsten Kommando der Feldheere auch den größten Einfluß in Außen- und Kirchenpolitik: Bezeichnenderweise erging zur Kir­ chenpolitik das letzte an einen Heermeister gerichtete Gesetz (Mai.Nov.XI an Ricimer)126. Es zählten nicht mehr so sehr der Einfluß nach oben, beim Kaiser, als der nach „unten“, zum Heer. Die Machtgrundlage der MM verlagerte sich vom Amt auf die persönliche Hausmacht: Stellung und Besitz (wie bei den schwerreichen Senatoren Aegidius oder Avitus), Verbindungen und persönliche Leibgarden waren nun wichtiger als das Beamtenrecht, die Legitimierung von oben durch die kaiserliche Bestallungsurkunde. Der „Beamtencharakter des Heermeisters“ ver­ lor sich. Dies brachte den Zerfall der Militärhoheit des Reiches mit sich127. Die „Personalunion“ schlug sich daher auch nicht in der Titulatur nieder. Dies sind übrigens nicht die einzigen Fälle einer Kombination von magi­ stratischer und gentiler Macht. So war der gallische MM Aegidius zeitweise auch fränkischer König, sein Sohn Syagrius galt schließlich als „rex Romanorum“·, und die Ostgoten sahen kein Problem darin, dem byzantinischen MM Beiisar ihr Königtum anzubieten; das gentile Königtum war ja ethnisch weitgehend indiffe­ rent: So konnte der Ostgote Theudis ebenso bei den Westgoten König werden wie der Warne Agriwulf bei den Sueven (SEITE 254)128. Dies könnte u.a. mit dem nach 455 - dem Ende der theodosianischen Dynastie - zerbrochenen Konsens über die Legitimitätskriterien Zusammenhängen. Regionale Machtbereiche mit „mediatisierten“ Untertanen kontrollierten als patroni schon z.B. Aegidius um Soissons und der comes Marcellinus in Dalmatien. Damit können diese spätan­ tiken Militärmachthaber und die Germanenkönige als parallele Symptome dersel­ ben Tendenz gelten. 6. Die Rolle der Dynastien und die Auswahl der Königskandidaten Der dynastische Gedanke verlieh der Herrschaft der Germanenkönige auch ge­ genüber den Provinzialen Autorität129. Der Gehorsam gegenüber einer berühm126 Vgl. dazu Martin 1997 S.435f. und Demandt 1970. I27Demandt 1970 c.693. Ähnlich Wood 1994 S.14f. und Schulz 1993 S.128 zur geringen Bindung der burgundischen Heermeister. 128 Andere Beispiele Demandts 1970 c.693 treffen aber nicht zu: Weder Gundioch als Westgote bei den Burgundern (er hatte lediglich eine westgotische Frau) noch Erarich bei den Ostgoten (die Rugier gehörten zum gentilen Verband). Zum Angebot an Beiisar s. Schwarcz 1994. 129 Zu den Vandalen Diesner 1965 c.977, 980f.

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ten Königsfamilie unterschied sich nicht wesentlich von der traditionellen Ver­ ehrung des Kaiserhauses. Die Huldigung des Königs bot stets zugleich die Möglichkeit, den Herrscher auf bestimmte Regierungstraditionen oder -praktiken zu verpflichten. So wurden die Dynastien etwa der Hasdingen oder der Amaler zum hervorgehobenen Gegenstand öffentlicher Aufmerksamkeit. In den Varien und in Jordanes’ Getica, die auf Cassiodors verlorenes Geschichtswerk zurückzu­ gehen scheinen, werden Versuche deutlich, die Dynastie der Amaler zu stilisie­ ren130; die hasdingische stirps regia versuchte, die Genealogie des Stammes zu monopolisieren. Die Königssippen können als Träger gentiler Tradition angese­ hen werden; Amaler und Hasdingen scheinen die Stammes- durch ihre Familien­ geschichte ersetzt zu haben. Vermutlich verlieh die vandalische Königsfamilie ihren Namen dem Stammesteil, der sich dann als „die, die den Hasdingen folg­ ten“, definierte131. Während in der Völkerwanderung sakrale Ideen nur geringe Bedeutung hatten (s.o. SEITEN 66-68)132, spielte die „übernatürliche“ Legitimierung der Familie eine Rolle. Darauf deuten nicht nur die göttlich begründeten Stamm­ tafeln. Diese Abstammungsmythen sind zeitlich und inhaltlich gut einzuord­ nen133. Von den Vandalen könnte eine prämigrative Genealogie in Rudimenten überliefert sein (s.o. SEITE 48f.); die der gotischen Stämme überliefert Jordanes Get.78f., zu den Burgundern gibt es Spuren in L.Burg. 3. Viele Genealogien beginnen mit einem göttlichen Stammvater und Namengeber, wie die amalischen Anses bei Jordanes oder die origo der Langobarden bei Paulus Diaconus. Die Abstammungsansprüche hatten dabei vielfältige Funktionen. Die Stamm­ tafeln sind mehrfach in der Nähe von Gesetzeswerken zu finden (wie bei der lex Rothari, der L.Burg.): Damit sollten sie vermutlich die Autorität der Verord­ nungen erhöhen. Mit dem Stammbaum stellte sich ein Herrscher zudem in eine Linie mit den großen Vorgängern, behauptete seine „Ebenbürtigkeit“134. Wichti­ ger noch ist die Betonung der Legitimität und Kontinuität der Herrschaft. Durch den bedeutenden Stammbaum konnte schließlich auch ein wichtiger Beitrag für die Ausbildung der Identität des Verbandes geleistet werden135. Vielleicht sollte damit auch ein Wesenszusammenhang mit der göttlichen Macht gesucht werden. Interpretiert man den Namen der vandalischen Hasdingi als „die Haarigen“ (es könnte auch „die Edlen“ bedeuten, doch auch das weist auf 130Vgl. auch Ennodius Pan. 16-17; Varien IX. 1 zu Amalem und Hasdingen; zu letzteren Jordanes get. 112-116, Lydus de mag. III.55 oder die oben SEITEN 94f. mit NOTEN 108 u. 112 angeführten Gedichte der Anth.Lat.; zu den westgotischen Balthen s. etwa Jordanes get. 112, 142, 146f. und 245. 131 Vgl. Wolfram 1968S.481. 132 Schlesinger 1963c lehnt ein „Geblütsrecht“ gegen Mitteis 1933 ab; vorsichtiger Tellen­ bach 1979: Für ihn lagen weniger rechtliche als religiöse Ansprüche vor, die auch nur in Erwartung einer Art „Erbcharisma“ Gültigkeit beanspruchen konnten. 133Zu deren teilweise fiktiv-konstruiertem Charakter vgl. Heather 1989, Wolfram 1990, Tönnies 1989. 134 So Ulrich 1995 S.190, der es mit Vorbehalten für möglich hält, daß ein Anschluß an Heil und Charisma der Früheren erhofft wurde. 135 Vgl. dazu Demandt 1995 S.491f. und King 1988 S.149-152.

B. Herrschaft über die Provinzialen

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hervorgehobene Personen), so könnte er wie die fränkischen reges criniti oder der nach Sidonius ep.1.2 ebenfalls langhaarige Westgotenkönig auf ein besonde­ res Gottgeweihtsein der Könige verweisen. Lange Haare als Ausdruck einer besonderen „Ausgesondertheit“ (infolge eines Gelübdes, auf Heer- oder Pilger­ fahrt) finden sich in den Religionen aller Zeiten, vom alttestamentarischen Rich­ ter Simson über den Bataver Julius Civilis bis zum muslimischen Hadschi. Nach H.Wolfram geht Jordanes in get.78f. von einem „Sippenheil“ aus, wenn er betont, daß alle Siege immer unter den amalischen p ro c eres“ errungen wurden. H.Wolfram weist auch darauf hin, daß die verkürzte Ahnenreihe in Varien XI. 1, bei der je eine Tugend einem Herrscher zugeordnet wird, mit der ,felicitas Hamali“ beginnt und damit an die Formulierung „quasi fortuna“ in get.78 erin­ nert136. Deutlicher zeigt sich die Vorstellung, daß das Glück in der Familie vererbt wird, in Prokop BG 11.30.12: Urajas, Witigis’ Neffe und erster Mann in dessen Reich, lehnte die gotische Königskrone mit dem Hinweis auf das Unglück seiner Familie ab; Glück und Unglück des Königs seien „nach Ansicht der Leute“ erblich (so spielte bei der Erhebung Totilas seine Verwandtschaft mit dem siegreichen Hildebad eine positive Rolle, Prokop BG III.2). Daraus geht zugleich hervor, daß es nicht nur Sache der Anhänger war, über die Nachfolge eines Herrschers zu entscheiden: Der betroffene Kandidat konnte die Thronfolge ab­ lehnen. Vorstellungen von einem „Geblütsheil“ führten also keinesfalls zu einem Automatismus bei der Königsbestellung. Tatsächlich sind die Vorteile einer dynastischen Nachfolgeregelung hoch einzuschätzen. Denn auf diese Weise wurde eine praktikable Herrschaftsüber­ tragung geschaffen, die Loyalität der Anhängerschaft ließ sich leicht übertragen. Erwartungen an Kontinuität oder Legitimität konnten zufriedengestellt werden. Bei der kontraktualistischen, personengebundenen Ausrichtung einer gefolgschaftlich geprägten Gesellschaft mußte sonst jeder Herrscherwechsel eine Reichs­ krise hervomifen. Die Herrschaft der Königsdynastien war in allen Völkerwanderungsreichen dementsprechend stark ausgeprägt. Überall stellten sie für fast die gesamte Dauer der Reiche die Herrscher: Die Hasdingen standen von vor 406 bis 534 (von Godegisel bis Gelimer, s. den Laterculus regum Vandalorum et Alanorum) an der Spitze ihres Verbandes, die westgotischen Balthen von 418137 bis 507 bzw. 531 und die Amaler von ca. 450 (seit 489 in Italien) bis 536. Die Gibikungen herrschten über das Burgunderreich zumindest von Gundioch an, der erstmals für 456 n.Chr. erwähnt wird138, und stellten bis zum endgültigen Untergang des 136 Wolfram 1968; der Begriff proceres weist für ihn auf eine alte Überlieferung, eventuell aus der Zeit der königslosen Teilstämme; fortuna hat verschiedenste antike Vorbilder. 137 Die .jüngeren“ Balthen waren wohl nicht verwandt mit den „älteren“, vgl. Wolfram 1990a S.44. 138 Vgl. Wolfram 1990a S.44. Gundioch hatte eine Westgotin, die Schwester des mächtigen römischen Heermeisters Ricimer geheiratet und verfügte damit über gute Beziehungen zu den Westgoten wie auch zur Reichsleitung. Dabei ist nicht klar, ob er der alten Dynastie der Gibi­ kungen angehörte, wie es L.Burg. 3 suggeriert, oder eine neue Dynastie gründete. Gregor HF 11.28 behauptet eine Abstammung Gundiochs vom Westgoten Athanarich, was Wagner 1979 über Gundiochs Frau, die möglicherweise eine Enkelin Wallias war, zu erklären versucht.

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ΠΙ. Das Königtum

Reichs alle Herrscher. Alle Dynastien hatten sich, wie in TEIL II.B geschildert, unter dem Druck von Wanderung, Landnahme und römischem Einfluß gebildet, wodurch sich das Königtum nachhaltig veränderte. In allen Fällen gelang es den durch ihre Erfolge hinlänglich legitimierten Eroberer- und Gründerkönigen, die Herrschaft stabil auf ihre Nachkommen zu übertragen. Außerordentlich hoch ist die Zahl der zumeist namentlich bekannten Mit­ glieder des vandalischen Königshauses139. Dies deutet darauf hin, daß die Hasdingen - besonders nach der blutig unterdrückten Adelsrevolte von 442, als fast der gesamte Adel umgebracht wurde - eine übermächtige Position einnahmen. Dies läßt sich auch an der Stellung der Prinzen ablesen, die einen eigenen Hof führten und die führenden militärischen Kommandos bekleideten140. Die überra­ gende Vormachtstellung der Dynastie zeigt sich auch in der von Geiserich durchgesetzten Nachfolgeordnung, die in herrschaftlicher Weise jede Form von Wahlrecht ausschloß. Damit war das Vandalenreich das einzige Ostgermanen­ reich mit einer fest regulierten Thronfolgeordnung. Die anderen Germanenreiche des 5. und 6.Jh.s kannten, wie das Römische Imperium, keine Thronfolgeord­ nung. Verschieden war die dynastische Auswahl, wenn keine bestimmte Nach­ folgeordnung feststand141. Das vandalische System funktionierte nach dem Prin­ zip der „tanistry“, d.h. der Senioratserbfolge142. Sie ordnete die Nachfolge objek­ tiv, eindeutig und garantierte, daß stets ein handlungsfähiges Glied der Dynastie an der Spitze stand. Damit wurden Zustände wie die unter den theodosianischen Kinderkaisem ausgeschlossen, als eine „Kamarilla“ von Höflingen, Prinzessin­ nen und Günstlingen eine in den Augen vieler Zeitgenossen zu nachgiebige Außenpolitik verschuldete (doch auch das System der Tanistry funktionierte nicht immer, wie der Fall Gelimers zeigt, der als nächster Thronanwärter seine Macht in die Waagschale warf). Als Hunerich seine Söhne als Nachfolger durch­ setzen und so Geiserichs Ordnung Umstürzen wollte, scheiterte er trotz terroristi­ scher Mittel: Offenbar genügte es nicht, ein Gesetz oder eine Verordnung zu ändern. Die Hasdingen konnten auf eine weitere ausgesprochene Besonderheit ver­ weisen: Die verwandtschaftliche Verbindung mit dem theodosianischen Haus. Es scheint eines der römischen arcana imperii gewesen zu sein, unter keinen Um­ ständen ein Glied des Kaiserhauses mit einem auswärtigen Herrscher zu verheira­ ten. Doch die Vandalen hatten bei der Plünderung Roms mehrere Frauen des theodosianischen Hauses in ihre Gewalt bekommen. Eine von ihnen, Eudokia, 139 52 bekannte Angehörige der Herrscherfamilie führt Courtois 1955 im Appendix III (S.391-404) auf. Auch viele Amaler und Gibikungen sind namentlich überliefert. 140 Vgl. Victor HP 1.43-46 zum Hof des Prinzen Theoderich, 1.48 zur eigenen Hofhaltung der Prinzen. - Zu den Kommandos vgl. SEITEN 75f. 141 Vgl. auch v.Pflugk-Harttung 1890. 142 Von welchen Vorbildern Geiserich das Prinzip bezog, ist ebenso unklar wie die Form, in der er die Nachfolgeordnung (Erlaß, Gesetz oder Testament) festsetzte, vgl. Diesner 1965 c.976f. Claude 1974a schloß sowohl ein berberisches Vorbild (dies hatten u.a. Diesner 1965 und Vismara 1987 (1972) S.398f. erwogen) als auch das der Römer oder der Germanen aus. Bezeugt ist die Regelung bei Prokop BV 1.7.20, Victor 11.13 (vgl. III. 19ff.) und Jordanes get. 169. Zum folgenden neben Claude ausführlich auch Dahn 1861 S. 199-201, 233ff.

B. Herrschaft über die Provinzialen

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wurde mit Hunerich verheiratet. Aus dieser Verbindung ging der spätere König Hilderich hervor. Davon versprachen sich die Hasdingen nicht nur erhöhte Autorität gegenüber den Provinzialen (Anth.Lat. 215, ein Gedicht eines romanischen Kar­ thagers, spricht Hilderich mehrfach als Erbe seines Großvaters Valentinian III. an), sondern sogar eine Mitsprache bei innerrömischen Angelegenheiten143. Da­ gegen wurde die byzantinische Diplomatie bald aktiv und erreichte schließlich die Auslieferung der Angehörigen des Kaiserhauses. Auch unter den burgundischen Königen scheint zunächst nach dem Senioratsprinzip der jeweils älteste Vertreter der Familie Oberkönig gewesen zu sein. Nach H.Faussners ansprechender Hypothese wurde diese Regelung um 500 von Gundobad geändert, der statt dessen ebenfalls die Nachfolge des ältesten Sohnes durchsetzte. Dies dürfte die Rebellion von Gundobads jüngerem Bruder und Unterkönig Godegisel ausgelöst haben, der durch die Erbfolge Sigismunds seine Thronrechte verlieren mußte144. Godegisel strebte ein unabhängiges Teilkönigtum oder gar die Oberherrschaft an. Dafür war er - letztlich erfolglos - bereit, ein Bündnis mit Chlodwig einzugehen und den Franken sogar Gebiete abzutreten (Gregor HF II.32f.). Mit dem Sieg Gundobads war die Überordnung des Lyoner Königs endgültig geworden und die Primogenitur durchgesetzt. In Genf saß fortan der designierte Nachfolger als Unterkönig. Entfernt erinnern die Krisen unter Hunerich bzw. Gundobad auch an die Versuche Ludwigs d.Fr. (814-846), den fränkischen Teilungen durch die Installierung eines einzigen Nachfolgers ein Ende zu setzen. Die Krise im Burgunderreich wurde noch dadurch vertieft, daß sich im Nebeneinander von Oberkönig und Nebenkönig keine genaue Abgren­ zung der Kompetenzen erkennen läßt. Eine Besonderheit des burgundischen Königtums bestand nämlich in dieser Aufteilung der Herrschaft. Die jüngeren Brüder des jeweils übergeordneten Königs residierten als Unterkönige in Genf und präsidierten eigenen Höfen. Dies veranschaulicht Ennodius in seiner V.Epiph. für 494: Epiphanius ging auch nach Genf „ubi Godigisclus germanus regis locum s ta tu e r a tdieser ließ daraufhin wie sein Bruder seine Gefangenen frei; Gundobads Entscheidung gab also den Ausschlag. Der Oberkönig, der wohl ab 461 in Lyon residierte145, verfügte zweifellos über die Prärogative in Außenbeziehungen und Kriegführung. Die Hilfe der Unterkönige im militärischen Ernstfall geht aus den Quellen eindeutig hervor (Gregor HF 11.32 (Godegisel fingiert dies), III.6 (Godomar hilft Sigismund), Avitus ep.40 (Sigismunds Hilfe für Gundobad)). Es be143 Nach Priskos fr.39 erhoben die Vandalen Anspruch auf das Erbe Valentinians unter Hinweis auf die Verbindung Hunerichs mit Eudokia; s. Clover 1993 (II; 1973/ III; 1978) zu Geiserichs Kaiserplänen. 144 Faussner 1986. Er sieht den Anlaß dieser Änderung im Bestreben Ostroms, die Burgun­ der als gallisches Gegengewicht zu Theoderich aufzubauen; demnach bildete die Ernennung Gundobads zum patricius den Grund zu Chlodwigs Aggression: Dieser erreichte, daß ihm 508 der Patriziat als neuem starken Mann Galliens und Gegenpol zu Theoderich verliehen wurde. Martin 1995 S.52, 176 scheint die Bedeutung der Auszeichnung von 508 zu überschätzen, zitiert dafür bezeichnenderweise einzig Hauck 1967. 145 In Lyon residierten die Könige Chilperich (Sidonius ep. VI. 12 um 474), Gundobad (V.Epiph. 494) und Sigismund (Gregor v.Tours HF III.5). In Lyon wurden auch die meisten der in der L.Burg. lokalisierten Gesetze gegeben; s. Coville 1928 S.217, 207ff.

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ΙΠ. Das Königtum

stand also keine Realteilung wie bei den Franken: „Gundobad teilte das König­ tum, nicht das Königreich, mit seinen Brüdern“146. Die Zwei-Reiche-These O.Perrins wurde in der Forschung zurecht weitgehend abgelehnt147. O.Perrin war der Meinung, es habe zunächst zwei unterschiedliche Reiche gegeben, bevor sie durch Gundobad vereinigt wurden. Zuvor sei Genf das Zentrum der Landteilungsgebiete von 443 und 456 gewesen, Lyon dagegen der Einflußbereich des gallischen Heermeisters. In Wirk­ lichkeit dürfte sich das Brüderpaar Gundioch und Chilperich, die das burgundische Königtum wieder errichteten, eher in die zunehmenden und unterschiedlichen Aufgaben geteilt haben: Der ältere Bruder Gundioch übernahm die größer werdenden Gebiete im Süden mit den bedeutenden Städten wie Lyon oder Vienne, die gegen Rom und die Westgoten behauptet werden mußten. Im Norden führte der jüngere Bruder Chilperich von Genf aus das Kommando u.a. gegen die Alamannen. Diese Aufteilung formalisierte sich dann mit der Zeit zur Institution eines nachgeordneten Teilkönigtums. Godegisel, einer der vier Söhne Gundiochs, saß in Genf als Unterkönig des älteren Bruders Gundobad (Gregor HF 11.28, 32f., Marius ad 500). Inwieweit die Unterkönige dabei für die innere Verwaltung ihres Gebiets zuständig waren, bleibt Gegenstand reiner Spekulation; nach der Passio S.Sigismundi verwaltete Godegisel ein Drittel des Reichs, zwei Drittel Gundobad. Demnach erhielten die jüngeren Brüder Godomar und Chilperich kein Herrschaftsgebiet. Sie werden nur bei Gregor HF 11.28 und davon abhängigen Quellen erwähnt, und auch hier ist überhaupt keine Rede von deren Herrschaft; dies hatte schon A.Coville 1928 S.165f. gesehen, der im wenig eindeutigen Avitusbrief 5 an Gundobad von 501 (,Jiebatis quondam ... funera germanorum“, minuebat regni felicitas numerum regalium personarum et hoc solum servaba­ tur mundo, quod sufficiebat imperio“) eine Anspielung auf das Ende Godegisels sehen wollte. O.Perrin war also zu Unrecht davon ausgegangen, daß das Burgunderreich zeitweise in vier Teile gegliedert war, wofür er eben auf die vier Brüder und, mit PLRE II s.v. Chilperich, auf dessen Attribut tetrarchus in Sidonius ep.V.7 verwies. Doch auch dieses zweite Argument ist gegenstandslos, da tetrarchus lange schon einen Kleinkönig statt einen Herrscher über eines von vier Gebieten bezeichnete (D.Vollmer 1991). Die hier skizzierte Aufteilung belegt neben Fredegar III.33 (Sigismund in Genf unter seinem Vater) auch Vita Lupicini c.lOf. zu Chilperich in Genf um 465 (ganz ähnlich A.Coville 1928 S.160ff. und K.S.Frank 1975 S.297 Anm.33; anders P.-E.Martin 1910 S.26). Schon Chilperich war vom Nebenkönig in Genf zum Oberkönig in Lyon aufgestiegen: L.Burg. 3 weist wohl auf sein schließliches Oberkönigtum hin, wenn Gundobad die Autorität seiner Vorgänger bis zu „patrem quoque nostrum et patruum“ anführt; vgl. Gregor v.Tours, vit.patr.1.5 (S.216f.: „ad Chilpericum regem, qui tunc Burgundiae praeerat“). Vielleicht residierte nach 516 auch Sigismunds Bruder und Nachfolger Godomar in Genf als Unterkönig, wie auch Gundobad unter seinem Onkel Chilperich als Unterkönig residiert haben könnte.

Im Folgenden sollen nun die anderen Faktoren analysiert werden, die entschei­ dend für die Auswahl eines Thronkandidaten waren.

146Wolfram 1990b S.357. Nach Rosenfeld 1981 kann ein Niederschlag davon vielleicht im Nibelungenlied gesehen werden. - Woher diese Art der Herrschaftsaufteilung stammt, bleibt ungeklärt, denkbar wäre hunnischer Einfluß (zu steppennomadischen Kontakten s. M.Martin 1981 und 1983 c.1096, anders Richard 1983 c.1092); die Ostgoten kannten diese Herrschafts­ aufteilung unter Führung des Ältesten allein in der Vatergeneration Theoderichs. 147 Perrin 1968 S. 347ff. Dagegen u.a. Wolfram 1990b 362f., Wood 1994 S.15 und Anton 1983 S.242.

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a.) Designation D.Kohlhas-Müller beschreibt die Designation treffend als Kombination von Erb­ prinzip und Willensakt des amtierenden Herrschers148. Am deutlichsten wird dies bei den Ostgoten. Theoderich baute den aus einer spanischen Seitenlinie der Amaler stammenden Eutharich systematisch als Nachfolger auf. Er vermählte seine Tochter Amalaswintha mit ihm und erlangte für ihn sogar den Konsulat und die Anerkennung durch den Kaiser. Das Scheitern dieser aufwendig inszenierten Nachfolgebestimmung durch den Tod des nach allen Seiten abgesicherten Kandi­ daten hatte fatale Folgen für das Ostgotenreich. Auch Gundobad hatte seinen Sohn und designierten Nachfolger Sigismund von Ostrom als patricius anerken­ nen lassen (s.o. SEITE 97). Dies kommt der römischen Herrschaftsübertragung am nächsten: Die Kaiser hatten ihre Nachfolger oft über ein Amt, etwa als Mitconsuln oder Caesares, eingeführt149. Das spätantike römische Reich war ähnlich wie im Prinzipat von Dynastien bestimmt gewesen. Sämtliche Kaiser von Diokletian bis zur Mitte des 5.Jh.s wurden von lediglich drei Familien gestellt150. In der gesamten Spätantike blieb es unbestrittenes Recht des Herrschers, Mitregenten und Nachfolger zu bestimmen. Anders ausgedrückt: Die Einsetzung durch den Vorgänger war das wichtigste Legitimationsmittel eines Kaiserkandidaten. In Byzanz war auch die Akklamation durch Senat und hauptstädtische Bevölkerung von Bedeutung; im Westen, wo die Kaiser nicht mehr dort residierten, wo der Senat tagte und es eine plebs gab, spielten die Heermeister die führende Rolle. Als wichtigste Faktoren müssen insgesamt aber die dynastische Legitimierung und die Nachfolgedesigna­ tion gelten, meist über ein Mitkaisertum; dabei hatte der Kandidat auch seine Fähigkeit zu beweisen, nicht immer folgte der erstgeborene Sohn nach151. Die Stärke dynastischer Vorstellungen zeigte sich daneben auch in der starke Rolle von Familienmitgliedern, meist Frauen (z.B. Pulcheria oder Ariadne) oder in der „Kaiserfähigkeit“ von Kindern. Vergleichbares kennen wir nur aus dem Ostgoten­ reich: Amalaswintha, die nach Eutharichs Tod nicht wieder heiratete, konnte die Vormundschaft für ihren unmündigen Sohn Athalarich übernehmen. Erst nach dessen Tod wurde der Widerstand der ausdrücklich als Goten identifizierten Großen so groß, daß sie ihren Vetter Theodahad zum Mitregenten ernennen mußte. Auch bei dessen Königtum zeigte sich die Stärke dynastischer Vorstellun­ gen im Amalerreich. Denn Theodahad charakterisierte das völlige Fehlen militäri­ scher und politischer Leistungen; ihn bestimmten offenbar eher römisch-aristokrati­ sche Interessen, da er sich allein der Philosophie und der Vergrößerung seiner Besitzungen widmete152. 148 Kohlhas-Müller 1995 S.61. 149 Vgl. den Versuch der Könige im deutschen Hochmittelalter, die Nachfolge ihrer Söhne über ihre Wahl und das Versprechen der Herzoge abzusichem. 150 Vgl. Demandt 1995 S.565ff. So auch und zum folgenden Martin 1995 S.98f., 199f. bzw. 1997 S.434. 151 S. Fögen 1993 S.53ff.; Martin 1995 S. 102-104. Bedingungen für die Kaiserbestellung waren Orthodoxie und „Rhomäertum“. 152 Prokop BG 1.2-4. So erinnert die Rolle weiblicher Mitglieder des Herrscherhauses wie

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III. Das Königtum

Die Bedeutung des amalischen Königshauses in Italien erklärt sich einerseits mit der überragenden Figur Theoderichs, zum anderen auch mit der Orientierung an den römisch-imperialen Verhältnissen. 2.) Nach dem frühen Tod seines Hoffnungsträgers Eutharich übertrug Theoderich die Herrschaft also schließlich auf seinen Enkel Athalarich, der unter der Vor­ mundschaft seiner Mutter stand. Zuvor verpflichtete Theoderich alle Großen des Reiches zur Anerkennung der Herrschaftsübertragung. So spielte auch hier die Designation die maßgebliche Rolle. Nicht umsonst benutzten die Quellen in diesem Zusammenhang erbrechtliche Termini153. Schon Theoderich selbst war von seinem Vater als Nachfolger sorgfältig aufgebaut worden (s. SEITE 55). Während in diesem Fall, wenn auch nur unter aufwendigen Inszenierungen, die Übertragung von Loyalitäten funktionierte, schildert Victor v.Vita HP II. 14 einen anderen Verlauf: Geiserich hatte seinem Sohn Hunerich auf dem Sterbebett die engsten Gefolgsleute anvertraut, die nun selber alt und schutzbedürftig geworden waren. Vermutlich verpflichtete er auch umgekehrt die Gefolgsleute zur Treue gegenüber seinem Sohn. Doch im Zuge seiner Säuberungen unter „unsicheren Größen“ des Reiches ging Hunerich besonders heftig gegen die alten Kampf­ genossen des Vaters vor: Treue- und Schutzverhältnisse ließen sich offenbar nicht einfach übertragen154. Im Gegensatz dazu betont Sidonius die Vorteile einer transpersonalen Herr­ schaftsordnung in Epistel V.16.2: Die Institutionen garantierten z.B. Kontinuität und Erwartbarkeit der politischen Verhältnisse. Dort teilt er seiner Frau mit, daß ihr Bruder Ecdicius endlich die lange versprochene Patriziuswürde empfangen hat: „Hoc (sc. den patriciatus) tamen sancte Iulius Nepos, armis pariter summus Augustus ac moribus, quod decessoris Anthemii fidem fratris tui sudoribus obliga­ tam, quo citior hoc laudabilior absolvit; siquidem iste complevit, quod ille saepissime pollicebatur, quo fit, ut deinceps pro republica optimus quisque possit ac debeat, si quid cuipiam virium est, quia securus, hinc avidus impendere, quandoquidem mortuo quoque imperatore laborantum devotioni quicquid spoponderit princeps, semper redhibet p r i n c i p a t u s Im Gegensatz zur rein persönlichen Bindung an den Herrscher, mit dessen Tod auch die Chance auf Belohnung oder Erfüllung eines alten Versprechens erlischt, ermöglicht eine transpersonale Herrschaft die Übertragung von Verpflichtungen155. Der NachfolAmalaswintha oder Theodahads Frau Gudelieva durchaus an byzantinische Verhältnisse. KohlhasMüller 1995 S.67-69. Die Herrschaft eines Kindes gab es in den Germanenreichen ansonsten erst bei Rekkareds unmündigem Sohn. Auch sonst brachte die „Imperialisierung“ des Westgo­ tenreichs (s. SEITE 19) auch in dieser Hinsicht Veränderungen: Leovigild machte seine Söhne zu Unterkönigen. 153 Zu Theoderichs Nachfolgeregelungen s. Cassiodor Varien VIII.2ff., Jordanes get.304, Marius ad 526; Kohlhas-Müller 1995 S.61ff. - Zur Diskussion um eine Nachfolgeordnung und Designation beim Papsttum um 500 s. Wirbelauer 1993. 154 Vgl. dazu auch Thrasamunds vergeblichen Versuch, Hilderich durch einen Eid bindend auf eine Kontinuität der Reichspolitik festzulegen. 155 Vergleichbar vielleicht die Tendenz, daß die westgotischen Gefolgsleute des Königs bezeichnenderweise auf Betreiben der Kirche, die römische Strukturen transportierte - seit dem

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ger sieht sich durch die Übernahme der Stellung auch zur Einlösung aller daran geknüpften Bedingungen und Ansprüche verpflichtet. Damit kann auch die Bereit­ schaft steigen, sich für diese Herrschaftsordnung einzusetzen. Vielleicht wurde Sidonius für diese Beobachtung sensibilisiert durch die ganz anderen Strukturen in seinem germanischen Umfeld. Ein Problem der germanischen (Heer)Könige bestand also zweifellos darin, politische Loyalitäten zu übertragen. In diesem Zusammenhang wurde erwogen, ob das Rechtsinstitut der Mitherr­ schaft als Mittel der Machtsicherung bzw. -Übertragung in den Germanenreichen eingesetzt wurde156. Dies trifft für Eutharich wohl nicht zu, da er noch keine Herrschaftsrechte besaß; doch Theodahad wurde 534 bei Amalaswintha consors regni minderen Rechts157. b.) Wahl Die Wahl des Königs durch den Adel begegnet insbesondere dann, wenn sich das Königtum in einer Krise befindet. In den Völkerwanderungsreichen ist sie nur für das spätere Westgotenreich nach 548 bekannt. Dies erklärt sich aus dem Zusam­ menbruch des balthischen Königtums infolge der vernichtenden Niederlage ge­ gen die Franken158. In der Folgezeit war das Ansehen des Königtums prinzipiell geschwächt, was sich drastisch in den zahlreichen Königsmorden seit der Mitte des ö.Jh.s, dem ,jnorbus Gothorum“, äußerte159. Bis Leovigild vermochte sich keine Dynastie mehr zu etablieren, ja es gelang keinem einzigen König, die Macht auf seinen Sohn zu übertragen. Seit dem ostgotischen Interim scheint sich die Wahl des Königs durchgesetzt zu haben, ohne daß sich bis Chindaswinth eine Thronfolgeordnung entwickelte. Die Mitte des 6.Jhs. markiert, wie SEITEN 18f. gesehen, einen entscheidenden Einschnitt in der Geschichte des Westgoten­ reichs; „die lange Krise“ seit 507160 erreichte mit dem Angriff Ostroms 552 ihren Höhepunkt. In den verhängnisvollen internen Kämpfen nach Theudis herrschte Fraktionierung vor, bevor mit Leovigild ein völliger Neuanfang einsetzte161. 7.Jh. von dessen Nachfolger nicht enteignet werden durften, dies weist auf einen Prozeß der Institutionalisierung hin, Kienast 1984 S.60f. 156 Vgl. dazu Wolf 1988. 157 Kohlhas-Müller 1995 S.66f. sucht, ohne Erfolg, nach Parallelen in Byzanz (die Rolle Theodoras ab 527?) oder im Verhältnis Theoderichs zum Ostkaiser. iss Vigil/Barbero 1974 S.379ff. bringen die veränderten Praktiken der Königsbestellung in Verbindung mit gesellschaftlichen Entwicklungen und erklären die Veränderungen nach 507 vor allem mit den massiven Verlusten der Königsfamilie an Gütern und Grundstücken, so daß nun andere adelige Grundbesitzer konkurrieren konnten. 159 Das Wendung stammt aus Fredegar IV.82, die Beschreibung der Symptome findet sich in Gregor HF III.30; vgl. Wolfram 1990a S.247 m.Anm.28. 160 So die Überschrift bei Wolfram 1990b S.366; ders. 1990a S.302ff. Dieses Ereignis wurde schon bald als Einschnitt aufgefaßt, vgl.Chr.Caes. zu 507 „His diebus pugna Gotthorum et Francorum Boglada facta. Alaricus rex in proelio a Francis interfectus est: Regnum Tolosa­ num destructum est.“ Chr. Gall.511 c.688-691: „Occisus Alaricus rex Gothorum a Francis. Tolosa a Francis et Burgundionibus incensa et Barcinona a Gundefade rege Burgundionum capta et Geseleicus rex cum maxima suorum clade ad Hispaniam regressus est.“ 161 Zur Krise des Königtums vgl. auch die langobardischen Verhältnisse nach der Ermor­ dung Alboins.

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III. Das Königtum

Im 5. und 6.Jh. häufen sich in Krisenzeiten die Nachrichten davon, daß Herrscher aus persönlichen Motiven von Leuten ihrer unmittelbaren Umgebung ermordet wurden (so Valentinian III. durch Gefolgsleute des Aetius, die Goten­ könige Theodahad und Hildebad wie auch Urajas wegen Ehrverletzungen). Darin könnte ein Hinweis auf ein abnehmendes Amtsverständnis, eine Destabilisierung der zentralen Herrschaft gesehen werden; dazu gehört die zunehmende Bedeu­ tung der persönlichen „Ehre“162. Eine andere Art von Wahl als eine Abmachung unter den Adelshäuptem ist die Ausrufung durch das Heer. Auf diese Weise wurde Witigis 536 n.Chr. von den bedrängten Ostgoten zum König gekürt. Dabei spielte die Idoneität, d.h. die Bewährung, das erhoffte Durchsetzungsvermögen des Kandidaten die maßgebli­ che Rolle. Denn die Abstammung war für die Herrschaftsübertragung keines­ wegs alleine entscheidend. Bei krassem Mißerfolg bzw. existentieller Bedrohung griff der Stammesverband, in Anknüpfung an die Zeit der Wanderungen, auf starke Heerführer zurück. Der dynastische Gedanke trat dann hinter dem elemen­ taren Interesse der Überlebenssicherung zurück: Von bewährten Heerführern versprach man sich größere Erfolgsmöglichkeiten bzw. Überlebenschancen (vgl. TEIL II.A und III.B.6.b). Dies belegt die Königswahl des nicht hochadeligen Witigis: Witigis zeichnete sich als erfahrener General aus, der schon im Gepidenkrieg 505 gedient hatte. Er selbst hebt in Varien X .31 hervor, daß er im Gegensatz zu Theodahad den Krieg kenne. ,More maiorum“ kam es auf dem Feld zu Wahl und Schilderhebung163. Er meldete seinen Herrschaftsantritt nur den Goten und dem Kaiser, nicht mehr, wie es Athalarich ausführlich getan hatte, den Provin­ zialen, dem Volk von Rom oder dem Senat. Dies belegt eine bewußte Abkehr von Kompromissen mit römischen Ansprüchen, nach Witigis wurden kaum mehr Legitimationsversuche gegenüber der römischen Seite unternommen164. Im lan­ gen, harten Überlebenskampf mit Ostrom löste sich die „ostgotische Staatlich­ keit“ wieder zugunsten eines Heerkönigtums auf. Die Designation als Verbin­ dung von Königs willen und Erbprinzip trat gegenüber der Wahl der Krieger und dem Kriterium der Idoneität wieder in den Hintergrund. Der Verband bewies zugleich wieder große soziale Mobilität, das Heer stand allen Überläufern of­ fen165. Die Könige zogen seit Witigis wieder ausnahmslos selbst in den Kampf: 162Zu Athaulf und Sigerich s. Wolfram 1990a S.172 m.Anm., zu Theudis und Theudigisclus s. Isidor HG 43f. Marius ad 574: „Clebus rex L. a puero suo interfectus est". 163 S. Cassiodors Rede S.473ff., Prokop BG 1.3.If., 11.5, Varien X.31+32; Jordanes get.309 = rom.371; Marcellinus Comes zu 534 und 536. Demandt 1995 S.491ff. geht, wie auch Schwarcz 1993 S.36, von der überragenden Bedeutung des Heerkönigtums für die Völkerwanderungszeit aus und verweist dafür u.a. auf die nichtadeligen Könige Witigis und Wallia. - Zur Schilderhe­ bung s. Tacitus Hist. IV. 15.2; diese Geste fand wohl Eingang in das byzantinische Kaiserzeremo­ niell (vgl. bei Leo 457; Julian hatte sich nach germanischer Weise auf den Schild heben lassen). Kohlhas-Müller 1995 S.71 hält die Schilderhebung für ein Zeremoniell außerordentlicher Herrschafts Wechsel. 164 Vgl. Conti 1971 S.90ff. 165 So Wolfram 1990a S.352ff. Zu den zahlreichen Überläufern (bezeichnenderweise nur wenige Italier) aus dem byzantinischen Heer zu Totila z.B. Prokop BG III. 11.10, 12.8.

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Gerühmt wurde der heroisch-melancholische Todeskampf des Teja. Am Ende der Reiche werden diese Veränderungen offensichtlich. Der nordafrikanische Rebell Stotzas stützte sich insbesondere auf byzantinische Soldaten, die mit vandalischen Frauen liiert und mit so vandalischen Ansprüchen „aufgeladen“ waren; dazu kamen ca. 1000 Arianer aus dem byzantinischen Heer sowie 400 geflohene Vandalen. Der bunte Haufen umfaßte insgesamt ca. 8000 Kämpfer sowie 1000 entlaufene Sklaven und übrigge­ bliebene Vandalen. In der numidischen Ebene von Bula wurde Stotzas unter der ausdrücklichen Bedingung, das ganze Gebiet zu erobern, zum König gewählt. Für ihn sprach sein Ruf als guter Kämpfer voller „Mut und Tatkraft“166.

Zugleich blieb der dynastische Gedanke erstaunlich wichtig: Auch der „alte Kämpe“ Witigis erachtete es als vorteilhaft, seine Stellung durch die Verbindung mit Theoderichs Enkelin Mataswintha zu festigen. Mit ihr vermählte noch Justi­ nian seinen Neffen Germanus, um von dieser Ansippung zu profitieren. Aus Prokop BG III. Iff. wird deutlich, daß Hildebads Wahl durch die Verwandtschaft mit dem Westgotenkönig Theudis und die damit verbundenen außenpolitischen Überlegungen erleichtert wurde. Bei der Erhebung Totilas, Hildebads Neffen, spielten ähnliche Gedanken eine Rolle (s.o. SEITE 101). Die Erhebung des Theudis erinnert an Witigis’ Wahl: 531 wurde er an die Stelle des dynastisch legitimierten, jedoch gänzlich unfähigen Amalarich gesetzt. Auch Gelimer ersetzte 530 den legitimen, aber militärisch defizitären König. Zwar war auch Gelimer Hasdinge (und als solcher zum Zeitpunkt des Umsturzes ranghöher Heerführer), doch, da er jünger war als Hilderich, nach der vandali­ schen Senioratserbfolge nicht „thronberechtigt“. Da aber Hilderich insbesondere im Kampf gegen die Mauren militärisch vollständig versagte und eine Serie von Niederlagen erlitt, unterlag die dynastische Legitimation gegenüber dem „Kö­ nigsheil“. Für diese Interpretation spricht, daß Gelimer nach Prokop BV 1.9 mit Hilfe der „Ersten des Volkes“ an die Macht gekommen war und sich - ähnlich wie Witigis gegenüber Theodahad - gegen Hilderich auf den Willen des Volkes berief: Hilderich wolle das Reich an die Byzantiner verraten167. Konsequenterweise wurden diese durch den Willen des Heeres gekürten Könige von legitimistischen römischen Quellen als tyranni, d.h. Usurpatoren, bezeichnet (so der Laterculus regum Vandalorum et Alanorum, Victor Tunn. ad 531, 533 zu „Geilamir“, Jordanes zu Totila und Teja); dagegen läßt Prokop eine andere Sicht der Verhältnisse erkennen.

166 Prokop BV II. 15ff. Ähnlich waren die Verhältnisse bei den Ostgoten unter Teja und nach dessen Tod: Der Hunne Ragnaris, der letzte Anführer der Goten, war kein König mehr, verfügte aber über ein königliches Gefolge, Agathias 11.14. 167 Malalas XVI.459f.: Gelimers Rebellion erfolgte nach einem großen Maureneinfall, als diese Leptis, Tripolis, Byzacium genommen hatten; nach seinem Sieg über die Mauren verbün­ dete sich Gelimer mit diesen gegen Hilderich; der nahm daraufhin Kontakt mit Byzanz auf, wurde aber gefangengesetzt und mit seiner Familie und „Senatoren“ getötet; als Gelimer Ge­ schenke nach Konstantinopel sandte, wurden diese nicht angenommen; Justinian setzte vielmehr durch, daß die Ostgoten Gelimer nicht anerkannten und trotz ihres alten Bündnisses auch keine Hilfe gegen Byzanz leisteten (vgl. Prokop BV 1.9).

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III. Das Königtum

c.) Erbe und Teilung Chlodwig teilte 511, in einem Kompromiß zwischen Erben, Adel und Bischöfen, das Frankenreich erstmals zu gleichen Teilen unter seinen Söhnen auf168. Solche Teilungen sollten im fränkischen Reich noch häufig folgen. Dabei wurden die Merowinger - als stirps regia mindestens ebenso wichtig wie die ostgerma­ nischen Königshäuser, sie hatten geradezu „Geblütsrecht“, wie die komplizierte Ablösung durch die Karolinger beweist - nicht gewählt. Spricht dies für die Stärke des dynastischen Prinzips im Frankenreich? Von Mediävisten wurde die Hypothese diskutiert, daß einerseits Wahlrecht und Unteilbarkeit sowie anderer­ seits Erbrecht und Reichsteilung zusammengingen. Gültigkeit hat dieses Prinzip etwa für das (merowingische wie auch das karolingische) Franken- und das spätere Westgotenreich, wohl aber nicht für das Burgunderreich. Die Frage ist, wer wen warum wie wählte169.

C. DIE KÖNIGE ALS GESETZGEBER In diesem Abschnitt sollen zunächst die verschiedenen Rechtstexte vorgestellt werden, um ihren Quellenwert einschätzen zu können. Es soll auch untersucht werden, was diese Texte darüber auszusagen vermögen, wie die Könige regier­ ten. Es soll, trotz der SEITEN 38f. geäußerten Bedenken gegenüber diesem Quellentyp, vorsichtig erkundet werden, welche Bereiche sie zu regeln versuch­ ten.

1. Die Erstellung der Gesetzessammlungen - Die Rechtstexte als Quellen Gundobad verfaßte zwischen 490 und 500 eine erste Version des Liber Con­ stitutionum (L.Burg.l170. Sigismund erstellte die nun vorliegende Fassung 517/ 518 in Lyon171, bevor in den 520er Jahren der letzte Burgunderkönig Godomar noch einige Zusätze anbrachte. Diese Gesetzeskodifikation gilt allgemein als 168 Verstand Chlodwig dabei das Reich als allod, das nach der stärkeren Tendenz des germanischen Erbrechts der Realteilung unterlag? Vgl. dazu und zum Folgenden Ewig 1993 S.31ff., Tellenbach 1979. 169 Dazu Esders 1997; er vermutet einen Zusammenhang des aufkommenden Wahlprinzips mit einem Versachlichungsprozeß. Allerdings stellt sich dann die Frage, warum bei den Römern mit ihrer relativ weit versachlichten Herrschaft keine Wahl stattfand. 170Nehlsen 1978a und 1982 S.184; die praefatio zu L.Burg. 42 kennzeichnet dieses Gesetz von 501 als Novelle. Gundobads Vorrede; „vir gloriosissimus Gundobadus rex Burgundionum cum de parentum nostrisque constitutionibus pro quiete et utilitate populi nostri impensius cogitemus ...e t coram positis obtimatibus nostris universa pensavimus, et tam nostram quam eorum sententiam mansuris in evum legibus sumpsimus statuta perscribi.“ 171 Sigismunds Vorrede: „In dei nomine anno II regni domini gloriosissimi Sigismundi regis, liber constitutionum de praeteritis et praesentibus atque in perpetuum conservandis legibus editus... Lugd.“

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hervorragendes juristisches und sprachliches Werk, das die reichlich eingeflosse­ ne römische Jurisprudenz souverän verarbeitete. Seine Bedeutung läßt sich auch an ihrem hartnäckigen Fortleben weit über das Ende des Burgunderreiches hinaus bis ins 9.Jh. messen172. H.Nehlsen verneint sowohl eine Priorität als auch eine Abhängigkeit der L.Burg. gegenüber den westgotischen Codices. Die L.Burg. stellt eine Synthese von manchem germanischem (z.B. Hausgebundenheit der gesamten Eigentumsordnung, Eherecht, Gottesurteil) und viel römischem (z.B. peinliche Strafe statt Ächtung) und wenigem gemischtem (z.B. Eid) Rechtsgut dar173. Gundobad griff auf frühere burgundische Gesetze zurück. Doch O.Perrin betont, daß Gundobad der erste wirklich unabhängige burgundische Gesetzgeber war; zuvor waren lediglich Edikte veröffentlicht worden. Ähnlich verhält es sich hierbei mit der westgotischen Gesetzgebung174. Die L.Vis. zeigen sich, bei eini­ gen wenigen germanischen Ausprägungen, u.a. in ihrer Praktikabilität, Flexibili­ tät sowie ihrem systematischen Aufbau als grundsätzlich „römisch“175. Bei der L.Rom.Burg. ist nicht völlig klar, ob ein offizieller Text vorliegt oder eine auf private Initiative hin entstandene Sammlung. Die Anordnung des Mate­ rials lehnt sich eng an die L.Burg. (und nicht an römische Vorbilder) an, demnach wird sie auf die Zeit zwischen 500 und 520 datiert176. Während der Verfasser nicht immer sehr sorgfältig gearbeitet zu haben scheint und sprachlich bisweilen unpräzise bleibt, werden seine Kenntnisse des römischen Rechts wie auch seine Fähigkeit zu Systematik und Reflexion hoch eingeschätzt177. Vermutlich handelt es sich um eine offizielle Ergänzung für den romanischen Bevölkerungsteil, was u.a. am ausgeprägten Bedürfnis, durch Verweis auf altes römisches Recht zu legitimieren, deutlich wird178: H.Nehlsen beschreibt die L.Rom.Burg. als handli­ chen Leitfaden, als „eine kleine, auf amtliche Initiative hin - für den Gebrauch 172 Wolfram 1990b S.334; Nehlsen 1978a und b. - Bischof Agobard von Lyon, einflußrei­ cher Berater Ludwigs d.Fr., der zentralistische Herrschaftsprinzipien favorisierte, schrieb an den Kaiser (MGH EE V (Epp. Mer et Kar.aevi 3), ep.3) über die Einheit unter einem Gesetz und wandte sich entschieden gegen die Geltung der L.Burg 173 Hierzu Nehlsen 1978a und 1978b; vgl. auch Anton 1981. 174 Perrin 1968 S.467ff. Claude 1970 S.39f. Frühere Gesetze erwähnen L.Burg. pr.const.8f., L.Burg. 89 („edictum patri nostri gloriosae memoriae“), Extrav. D (21) 11. Zu früheren westgo­ tische Gesetzen vgl. C.Eur. 277, 305, Sidonius ep.II.1.3 („leges Theodosianas calcans Theodoricianasque proponens“), ep. VII.9, carm.VII.495f. und Beyerle 1950, der mit der Hilfe hoher römischer Beamter rechnet. Zum C.Eur. schlägt Nehlsen 1984 wie Beyerle wegen des hohen Niveaus Leo von Narbonne (s. SEITE 126) als möglichen Autor vor. 175 So resümiert King 1972 S.121. 176 So Chevrier/Pieri 1969 (S.18-23: 517 als terminus ante quem); zuletzt Bauer-Gerland 1995 S.172ff. (datiert S.22f. auf ab 517). Vgl. auch Vismara 1987 (1980) S.532L; Lambertini 1991 S.22-27 (datiert zwischen 500 und 506). Nehlsen 1978b c.1929 betont die enge Anlehnung der L.Rom.Burg. an die L.Burg. und datiert sie zwischen 515 und 518, u.a. da neben dem CTh auch das Brev.Al. Vorgelegen habe. 177 Chevrier/Pieri 1969; Bauer-Gerland 1995 S.190ff.; zur Kenntnis der römischen Quellen S.176-189. 178 So Bauer-Gerland 1995 S. 172-176 (gegen Chevrier/Pieri, die davon ausgehen, daß sie wie das Ed.Theod. für die gesamte Bevölkerung galt); sie veranschlagt den germanischen Einfluß in der L.Rom.Burg. als gering. Dazu SEITE 119.

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III. Das Königtum

durch die iudices im Burgunderreich - verfaßte Zusammenstellung von Bestim­ mungen des römischen Rechts zu Materien, die in der Alltagspraxis von besonde­ rer Aktualität waren“179. Der C.Eur. steht zwar in der Tradition der spätrömischen Ediktpraxis etwa des PPO. Doch erhob er einen eigenen Regelanspruch und hat einen einzigartigen Status: Er ist das einzige spätantike Gesetzbuch, das als eine systematische Kodfikation angelegt ist - alle anderen bekannten Werke wie Brev.Al. oder CJC wurden nach kompilatorischem Verfahren erstellt! Zentrale Rechtsfragen wur­ den eigenständig gelöst; der Gesetzesstil (praecipimus, iubemus) weist auf einen unabhängigen Herrscher hin. Dazu enthält er auch „germanische“ Themen (saiones, comites civitatis). Schließlich ist zu betonen, daß der C.Eur. die erste Veröffentlichung einer Gesetzessammlung durch einen Germanenkönig war.

EXKURS über die Zuordnung des Edictum Theodorici: G.Vismaras eindrucksvolle Untersuchung von 1968 warf die Frage nach der Herkunft des Ed.Theod. radikal neu auf180: Ist die Gesetzessammlung wirklich dem ostgotischen Italien oder eher dem gallischen, westgotischen Bereich zuzuord­ nen? Die vorliegende Untersuchung geht davon aus, daß das Ed.Theod. aus dem ostgotischen Italien stammt - aus folgenden Gründen: 1. Die im Ed.Theod. mehrfach wiederkehrende Formulierung ,Jiomani et Barbari“ deutet mit Sicherheit auf eines der Nachfolgereiche als Entstehungsort. Auf den ersten Blick mutet diese Wendung für das ostgotische Italien ungewöhn­ lich an: In den Varien werden Theoderichs Leute stets Gothi, nie aber Barbari genannt. Barbari wird dort vor allem für (nichtgotische) gentiles, gentes (VII.4; II.5: Burgunder; XI. 1: Franken; VIII.21: Bulgaren; vgl. Jordanes get.233: War­ nen) verwendet; die Ostgoten fühlten sich den übrigen,gentes barbarae“ (Varien X.29.4) überlegen. Dies bildet G.Vismaras wohl wichtigstes Argument. Denn dagegen werden etwa die Burgunder in der L.Burg. oft in ehrenvoller Voranstel­ lung barbari genannt (ähnlich die Franken bei Gregor v.Tours) vereinzelt auch die Westgoten in den L.Vis. Die Vermeidung dieses Begriffs in Italien könnte damit Zusammenhängen, daß barbari nicht nur für die Ostgoten, sondern für alle Nichtrömer stand. Darauf deutet die Adresse von Varien III.24: „Universis bar­ baris et Romanis per Pannonniam constitutis“. Vermutlich kann dieser Unter­ schied damit erklärt werden, daß das Ed.Theod. als allgemein-offizieller Rechts­ text (s.u. PUNKT 4) die Goten in der traditionellen Rechtsterminologie als barbari anführt. In Prolog und Epilog des Ed.Theod. werden die Barbaren bei 179 Nehlsen 1982 S.177 und 1978b; ähnlich Lambertini 1991 S.22ff., der den Text ebenfalls für offiziell hält (u.a. wegen der Ankündigung in L.Burg. pr.const). Bauer-Gerland scheint NOTE 210 SEITE 119 dagegen eher von einer privaten Initiative auszugehen. 180Vismara 1968, zusammengefaßt 1986. Zustimmung u.a. bei Kunkel 1983 und Saitta 1993a S.9 m.Anm.6. Zu den verschiedenen Zuordnungen nach Südgallien s. Lambertini 1991 Anm.21 S. 18-20; Vismara plädiert für den Westgotenkönig Theoderich II. als Auftraggeber unter Federführung des PPO Magnus.

C. Die Könige als Gesetzgeber

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allen vier Nennungen vorangestellt, in den Bestimmungen selbst jedoch die Romani (c.34, 43, 44). Dies könnte daran liegen, daß der eigentliche Rechtstext nach der Rechtstradition abgefaßt wurde, Vor- und Nachwort dagegen der neuen politischen Situation angepaßt wurden. Barbarus bezeichnete im Ed.Theod. eine Rechtskategorie, einen besonderen Status181. Für die Zuordnung des Ed.Theod. zu den Ostgoten spricht, daß in c.145 capillati erwähnt werden. Dieser Ausdruck ist im 5./6. Jh. ausschließlich für Ostgoten belegt (Varien IV.49; Jordanes get.72). 2. Ein kaum zu widerlegendes Argument für die Zuordnung des Ed.Theod. zu Italien besteht in zwei Nennungen der urbs Roma182. 3. Nach H.Nehlsen widerspricht das Ed.Theod. dem Modell einer klaren Scheidung von Römern und Goten nicht. Theoderichs Gesetze galten prinzipiell für Goten und Römer183. Theoderich sprach sich nach einer beim An.Val. überlieferten Sentenz für eine Orientierung der Goten an den Römern aus. Zudem enthält das Ed.Theod. nur Straf- und allgemeines Verkehrsrecht, läßt damit viel Raum. Damit blieben etwa personen- oder familienrechtliche Rege­ lungen den Goten noch offen. Es sollen lediglich „einige besonders dringliche Anliegen der Zeit behandelt werden, ... das übrige römische Recht bleibt unbe­ rührt und unverändert in Geltung“184. Schließlich durchzieht das Ed.Theod. derselbe Grundtenor einer betonten Rechtskontinuität und -Sicherheit wie die Varien185. Dabei handelt es sich beim Ed.Theod. wohl um das am meisten römische Recht, das von einem Germanenherrscher erlassen wurde; es hält sich sehr eng an die kaiserlichen Konstitutionen und enthält nur einige wenige für eine Vulgarisierung typische Verschärfungen; in dieser Hinsicht übertrifft es auch die westgotischen Rechte oder die L.Burg.

181 So auch Rugullis 1992 S.130: Barbarus bezeichnete in den Konstitutionen der römi­ schen Codices einen besonderen Status bzw. eine Rechtskategorie; auch Varady 1986 S.1015L mit Anm.33 erklärt dies mit der „folgerichtigen Eindeutigkeit der juristischen Terminologie“. Vielleicht wurden die barbari auch als milites (bei Sidonius wurde foederati ein Synonym für milites) aufgefaßt, dann wäre auch Romanus eine Rechtskategorie, vgl. etwa Ed.Theod. 32: .ßarbaris, quos certum est reipublicae militare, ... faciendi damus licentiam testamenti, sive domi sive in castris constituti“. 182Ed.Theod. 10: „omnes per provincias iudices et urbe venerabili constitutos vel eorum officia“, vgl. c.l 10: „intra urbem Romam“·, darauf verweisen Nehlsen 1969 und Varady 1986. 183 ganzen Nehlsen 1969 passim. Ihm folgen etwa Moorhead 1992a, Liebs 1987 S.191-194 und Varady 1986; Brassloff 1905 ging davon aus, daß das Ed.Theod. für Goten und Römer galt. Unzutreffend Stüven 1995 S.165f., der Theoderich eine „bewußt angestrebte Romanisierung“ der Ostgoten unterstellt. 184 Das Zitat bei Nehlsen 1982 S.177; ähnlich Lambertini 1991 S.17-22. Vgl. Liebs 1987 S.194; Stüven 1995 S.165L Dazu s. auch SEITEN 119f. 185 Allgegenwärtig in den Varien, wo es beinahe in jeder Einleitung propagiert wird, z.B. Ed.Ath. (Varien IX. 18: „Provide decrevit antiquitas universitatem edictis generalibus admone­ ri...“·, c.5 und 8), IX. 19; vgl. 11.24. Zur civilitas s. SEITEN 91f. In Ed.Theod. 17, 24, 29, 53, 54, 69, 72, 105; in Vor- und Nachwort „salva iuris reverentia“, „custodito legum tramite“, „quae ex novellis legibus ac veteris iuris sanctimonia pro aliqua parte collegimus. “

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ΠΙ. Das Königtum

4. Die Sprache des Ed.Theod. erinnert stark an die der Varien, insbesondere in den Edikten wie IX. 18186. H.Stüven führt eben dieses Edikt Athalarichs als Argument an, dessen „planvolles, lückenfüllendes Abweichen vom Ed.Theod. auf dessen ostgotische Herkunft schließen läßt“187. Die Differenzen dagegen resultieren aus der unterschiedlichen Natur der Texte: Ed.Theod., Ed.Ath. oder C.Eur. sind Texte rechtlich-ediktaler Natur, die Varien entsprechen dagegen mehr einem administrativ-bürokratischen Typus188: Dies läßt sich u.a. daran ablesen, daß Termini, die in Rechtstexten häufig Vorkommen, in den Varien fast gänzlich fehlen: So universitas, reliquator, discussor, pittacium, susceptor, delega­ tio, scrinia oder herrscherliche Wendungen wie censemus, iussimus, praecipimus, statuimus·, ähnlich die Staffelung procurator - vicedominus - conductor, iudex competens erscheint in den Varien lediglich in zwei Edikten (IX.18 und 15), dafür wieder in Sanctio Pragm. c. 12!

5. G.Vismara argumentierte ex silentio, das Ed.Theod. werde in den Quellen zu den Ostgoten nirgends erwähnt. Dagegen geht H.Nehlsen davon aus, daß es vermutlich zunächst viele Einzeledikte gab, die später - eventuell stufenweise, wie das mittelgroße Edictum Athalarici in Varien IX.18 nahelegt - zusammen­ gefaßt wurden. Er schließt aus der mehrfachen Erwähnung von Edikten, daß diese im Nachhinein gesammelt wurden und es sich beim Ed.Theod. daher vielleicht um eine nicht einheitliche amtliche Ausgabe handeln könnte189. Theoderich hatte als „Reichsverweser“ zwar nur das ius edicendi für sich in Anspruch genommen und erließ keine eigentlichen Gesetze (so wird der Begriff lex konsequent gemieden). Doch konkret unterschieden sich seine Edikte kaum von der kaiserlichen Gesetzgebung. Auch die Vandalenkönige erließen keine eigentlichen leges. Wir kennen lediglich Erlasse: Den Hasdingen scheint die Fortsetzung der spätantiken Edikts­ praxis gegenüber den Provinzialen genügt zu haben190. Sie sahen offenbar auch keine Veranlassung, ein eigenes Gesetzbuch herauszugeben. G.Vismara sieht den 186 pur Liebs 1987 S. 191 stellt die Ähnlichkeit des Stils von Epilog und Prolog insbesondere mit Varien IX.18 das maßgebliche Argument dar, das Ed.Theod. Theoderich d.Gr. zuzuordnen. 187 Stüven 1995 S.l Anm.5 mit Verweis auf S.17f. mit Anm. und S.96f. 188 So auch Varady 1986 S.1015f. mit Anm.33. 189Tatsächlich ist zum Ed.Theod. in der Pragmatica Sanctio nichts zu finden; dort ist aber überhaupt nirgends von ostgotischen Gesetzen die Rede. Edikte werden in den Varien oft erwähnt: VII.3; IX.14f.; 1.31; 11.36; 11.24+25; VII.42; IX.2, 18; auch in An.Val. 60 („edictum suum") und Malalas XV.384, wobei nicht klar ist, ob sich diese Stellen auf irgendein Edikt oder das Ed.Theod. beziehen. Beyerle 1954 S.39 mit Anm. hält es für eine „Art von Magistratsedikt, ... wohl zu Anfang seines (sc. Theoderichs) italienischen Statthalteramtes erlassen“; ähnlich Liebs 1987 S. 191 ff.; Lambertini 1991 S.17f. hält das Ed.Theod. ebenfalls für einen offiziellen Text. 190 Vandalische Gesetze bei Victor HP II.3+4; 11.38+39; III.3-14 (sämtlich Religionsgeset­ ze, 480-484). Vgl. Vismara 1987 (1980) S.534f. Victor erinnert auch an frühere Herrschergebote (HP II. 1, 39, III.3: „praeceptionem inclitae recordationis patris nostri“)·, s. die Liste bei Courtois 1954 S.78 Anm.83; weiter HP 1.14: Geiserich ordnet Landerwerb, Enteignung, Ansied­ lung u.ä., vgl. 1.48-50; Salvian gub.dei VII.89-100, VIII.9: Geiserichs (Polizei-)Edikte gegen Unruhen im Rahmen von Spielen, gegen Prostitution, Päderastie u.ä. Einzelerlasse, s. Vismara 1987 (1972) S.423ff. Für die Vandalen ist nur das Thronfolgegesetz bekannt.

C. Die Könige als Gesetzgeber

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Grund für das Fehlen umfassender vandalischer Rechtstexte darin, daß das Van­ dalenreich auf Trennung auf gebaut war. Das Zusammenleben zwischen Vanda­ len und Provinzialen mußte nicht weiter geregelt werden, zu klar getrennt waren die Lebensbereiche der beiden Gruppen191.

2. Zielrichtung und Funktion der Gesetzessammlungen Was waren die Motive für die Sammlung und Veröffentlichung von Gesetzen? Wozu dienten sie? Der pactum-Begriff im Vorspann der L.Burg. und die Unterschriften am Ende der Vorrede kennzeichnen das Gesetzbuch als Vertrag zwischen dem König und den Großen, die das Volk repräsentierten. Dadurch sollte die Einhaltung des Rechts garantiert, seine Akzeptanz erhöht werden. Der König, der in der Vorrede als oberster Richter bezeichnet wird, beschloß unter Beratung und Zustimmung der Großen192. Für alle hier besprochenen Codices spielte, mit unterschiedlicher Ausprägung, die königliche Initiative die entscheidende Rolle. Die Rolle der Großen bestand in Zustimmung und Bekräftigung. Prinzipiell lassen sich in der L.Burg. zwei Texttypen feststellen, die sich mehrfach abwechseln: a) in der knappen Sprache des Gesetzbuches, formal den Edikten des CTh sehr ähnlich, allgemeine Rechtsentscheide (z.T. ohne Rücksicht auf imperiale Privilegien, s. „leges“)·, b) in herrscherlichem Gestus zu Gesetzen erhobene kasuistische Einzel­ urteile des Königs, königliche Erlasse oder auch Hinzufügungen (z.B. L.Burg. 45, 42, 76, 79, die Extravaganten)193. Innerhalb der Gruppierungen herrscht in der L.Burg. eine „regellose Titelfolge“. Damit unterscheidet sie sich vom nach Sachkapiteln angeordneten C.Eur. (oder auch von Edictum Rothari und Lex Baiuvarorum; anders die Lex Salica). Das Ed.Theod. ist „assoziativ“ gruppiert, nicht systematisch194. Zusammengefaßt läßt sich sagen, daß hinter den Codices königliche Interessen zu vermuten sind: a) Die Gesetzessammlungen selbst, wie L.Burg. oder Ed.Theod., geben als Ziel immer wieder die geregelte unbestechliche Rechtspflege und die „Sicherung der öffentlichen Ordnung“ an195. b) Sie sollten zudem praktischere, zusammenfassende Versionen des Rechts für die Richter liefern196. In der Forschung herrscht Einigkeit darüber, daß bei 191 Vismara 1987 (1980) S.534f. Dagegen spricht nicht, daß es auf der Ebene des Adels einen regen Austausch gab, wie es die Anth.Lat. vermuten läßt. 192Beyerle 1936 S.149. Vgl. auch L.Burg. 42ff. „in colloquio“ (501). Gesetze wurden zunehmend auch auf Appell eines Bischofs hin erlassen (extrav.20; 77.3; 89.1; extrav.19.1). 193 Dazu Nehlsen 1978a und besonders Beyerle 1954, wo Genaueres zur Zählung und Anordnung der einzelnen Gesetze zu finden ist. 194 So Beyerle 1954 S.39 und Liebs 1987 S.192L 195 So Liebs 1987 S.193 mit Verweis auf Einleitung und Schluß des Ed.Theod. 196 Varady 1986 S.1015L mit Anm.33 hält das Ed.Theod. für eine erklärende „Epitome für die Gerichtspraxis“: so schon Brassloff 1905. Ähnlich Collins 1983a S.29f. zu Brev.Al. und C.Eur.

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III. Das Königtum

West- und Ostgoten sowie den Burgundern die Gesetzestexte, in deutlichem Unterschied zu denen der Westgermanen des Frühmittelalters, konkrete Gel­ tung hatten. Die Bestimmungen wurden praktiziert. Sie sind teils präzise datiert, somit wohl authentisch, und sinnvoll anwendbar197. Für die materiale Bedeutung der Rechtskodifikationen spricht im Falle der Westgoten auch, daß dort das jeweils neue Rechtsbuch das ältere vollständig außer Kraft setzte. Die Rechtstexte der Alamannen, der Bajuwaren und auch der Franken hatten dagegen eher symbolische Bedeutung. Dies zeigt sich u.a. am teilwei­ se chaotischen, fehlerhaften Latein, an bisweilen konfusen, unverständlichen Bestimmungen. Schließlich ist zu bedenken, daß es im nördlichen Gallien sowie rechts des Rheins wohl kaum beamtete Richter gegeben hat, die geschriebenes Recht anzuwenden wußten, wie dies für Spanien, Italien und Südgallien im Untersuchungszeitraum mit Sicherheit noch der Fall war198. c) Gregor v.Tours weist in HF 11.33 im Bezug auf Gundobads Gesetzeswerk auf einen vielleicht noch wichtigeren Grund hin: Burgundionibus leges mitiores instituit, ne Romanos obpremerent.“ Ein Hauptanliegen der Gesetzessamm­ lungen war mit Sicherheit die Regelung des Verhältnisses zwischen Roma­ nen und Germanen199. d) Die Orientierung an kaiserlichen Standards kann als ein weiteres wichtiges Motiv hinter den Gesetzessammlungen angesehen werden. Die Könige nah­ men den römischen Herrschergestus des Gesetzgebers ein200. Die demonstra­ tive Ausrichtung zeigt sich auch in der Betonung der königlichen Initiative, so bei C.Eur., L.Burg., Brev.Al. oder auch beim Codex Rothari und Leovigilds Gesetzen. Die Könige befanden sich z.T. in besonderen außenpoliti­ schen Situationen. So sollten die leges oft bei Neugründungen oder nach Eroberungen die Herrschaft stabilisieren und den Provinzialen Rechtssicher­ heit garantieren. Auch der Umstand, daß sich die Gesetzestexte in den Hand­ schriften oft neben historischen Werken über die jeweiligen Stämme finden, verdeutlicht den legitimierenden Aspekt der Aufzeichnungen. Durch Gesetz­ gebung oder Rechtskodifikation präsentierte sich der König als Friedens­ regent und antwortete damit auf römisch-christliche Erwartungen von Gerech­ 197 So Sellert 1992 S.79; ähnlich Kroeschell 1990, auch zum Folgenden; vgl. Nehlsen 1977 und 1983 zu Lex Salica: Unbrauchbar für die Rechtspraxis, wenn auch ein Zeugnis für das frühe fränkische Recht, da oft abgeschrieben und überarbeitet; ähnlich C.Schott 1979 für die Lex Alem.; weiter s. Wormald 1977. Sellert 1992 S.69ff. gegen die These einer „mechanischen“ Übernahme der Gesetze. 198 Zu den Unterschieden zwischen römisch-spätantikem und frühmittelalterlichem Rechts­ system sehr gut Kroeschell 1986 S.457-460 mit Beispielen. '"D ies vermutet Collins 1983a S.29f. auch für den C.Eur. Liebs 1987 S.191 gibt als Ziel des Ed.Theod. eine „bescheidene Rechtseinheit für Goten und Romanen“ auf römischer Grund­ lage an bzw. als „das von Theoderich seinen Goten verordnete Minimum römischer Rechtskul­ tur“, ähnlich Sellert 1992 S.87. Zu weit geht Demandt 1995 S.611: Theoderich habe im Ed.Theod. „die Zweiteilung des Rechtes“ aufzuheben versucht. 2°° wormald 1977 passim. Vgl. etwa An.Val.14.59f. zu Theoderich als Gesetzgeber. King 1988 S.135ff. meint, daß die Erscheinung der Gesetzestexte bisweilen wichtiger war als ihr Inhalt.

C. Die Könige als Gesetzgeber

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tigkeit, Kontinuität und Ordnung. Dabei beeinflußten sich die konkurrierenden Germanenkönige auch untereinander; so ahmte Chlodwig in einer hastigen Manifestation des merowingischen Großkönigtums mit der Herausgabe der Lex Salica i.J. 511 wohl weniger die Kaiser als die westgotischen und burgundischen Könige nach201. Kein Bereich war so charakteristisch römisch wie der von Recht und Gesetzge­ bung. Darin bestand der fundamentale Unterschied zu barbarischen und gentilen Gemeinschaften. So betonten die Könige immer wieder, wie sehr sich ihre Herrschaft in den Rahmen der römischen Staatlichkeit einordnete. Das Recht war ein Motor der Romanisierung. Anschaulich wird die Bedeutung der Gesetze für die römische Gesellschaft etwa, wenn Sidonius Apollinaris den Niedergang des römischen Reichs mehrfach mit Blick auf iura et litterae kommentiert: Während letztere Aussichten auf Fortbestand haben, ständen erstere vor dem Untergang. Die iura waren zum Synonym für die römische Herrschaft geworden202.

3. Geltungsbereich: Personalität versus Territorialität Die Frage nach dem Geltungsbereich von L.Burg., C.Eur. oder Ed.Theod. wird viel diskutiert: Waren die Konstitutionen allein an die Germanen adressiert oder zielten sie auf alle Reichsangehörigen? Oder besaßen einzelne Gesetze Gültigkeit für verschiedene Gruppen? H.Faussner etwa spricht im Blick auf die Burgunder von „Landrecht“ und „Staatsvolk“, während der C.Eur. eher westgotisches Stam­ mesrecht enthalte; dabei faßt er, wenig differenziert, L.Burg. und L.Rom.Burg zusammen. Als Argument zieht er neben der Stellung des Königs über allen Reichsbewohnem den „ausgeprägt römisch-rechtlichen Einfluß“ in der L.Burg. heran203. Dagegen plädiert u.a. H.Nehlsen überzeugend dafür, daß L.Burg. und C.Eur. (trotz des römischen Problemhorizontes und der anspruchsvollen Syste­ matik) prinzipiell nur für die jeweiligen germanischen Reichsbewohner galten. Vereinzelte Bestimmungen hatten insbesondere in gemischten Fällen auch für die Provinzialen Gültigkeit. Das wichtigste Argument dafür verweist darauf, daß mit L.Rom.Burg. und Brev.Al. die entsprechenden Gegenstücke für die Provin­ zialen Vorlagen204. Zudem nennen C.Eur. und L.Burg. die Nichtgentilen Romani, während diese in Brev.Al. und Ed.Theod. Provinciales heißen. Und zu den 201 So Ewig 1993 S.28-30, der davon ausgeht, daß die Lex Salica für alle Barbaren Nordgalliens galt. 202 Vgl. etwa Varien IV.33, Orosius VII.43 oder Agathias 1.2. Vgl. dazu auch Collins 1983b und Esders 1997. bezeichnenderweise betont Isidor in seiner Gotengeschichte das Interesse der westgotischen Könige an Gesetzen. 203Faussner 1986 unter Verweis auf L.Burg. 2.1: „populus noster cuiuslibet nationis“; ähnlich ist nach Esders 1997 S.210, wenig überzeugend, L.Burg. 1.3 („quis de populo“) „eindeu­ tig territorial zu verstehen. 204 Nehlsen 1984 (und 1982 S. 182ff.; er sieht nicht Eurich, sondern Alarich II. als Autor des C.Eur. Für die Lehrmeinung s. D’Ors 1960 S.4, der die Veröffentlichung auf ca. 476 datiert. Für unsere Fragestellung ist dieses Problem letztlich folgenlos, da die westgotische Herrschaftsord-

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III. Das Königtum

Landteilungen ist im Brev.Al. nichts zu finden, wohl aber in C.Eur., Leovigilds sog. Codex Revisus sowie in der L.Burg. Diese Publikationen enthalten wieder­ um nichts zu römischen „patterns“ wie curia, colonatus oder der dos ex mulie­ re205. Denn sie wollten das gotisch-römische Zusammenleben regeln. Das Brev.Al., manchmal auch als Lex Romana Visigothorum bezeichnet, ist ein Kompendium römischer Quellen, insbesondere der Konstitutionen des CTh vor 468 mit Anpassungen und Interpretationen für die Provinzialen des Westgoten­ reichs. Dabei fehlen fast alle Bestimmungen aus dem 6. und 7. Buch des CTh (zu Kaiserhof bzw. Heer) sowie nahezu das gesamte Kirchenrecht. H.Nehlsen betont den unerhörten Akt, den die Erstellung des Brev.Al. bedeutete: Das gesamte bekannte römische Recht sollte überprüft werden; das Brauchbare sollte zu­ sammengestellt und mit Interpretationen versehen werden - und das gesamte übrige römische Recht keine Geltung mehr haben: Alarich setzte ca. 3000 bis dahin geltende Konstitutionen außer Kraft und übernahm nur ca. 400 in seinen Codex. Damit ist das Brev.Al. völlig einmalig und unterscheidet sich fundamen­ tal etwa auch von Ed.Theod. oder L.Rom.Burg.206: „Wie bisher kein Germanen­ herrscher vor ihm, demonstriert der König, daß er ein allumfassendes Gesetz­ gebungsrecht zu seinen Herrschaftsrechten zählt“. Allerdings ist es doch fraglich, inwieweit tatsächlich eine Aktualisierung vorgenommen wurde, wie H.Nehlsen will. Denn auch er vermochte nicht zu klären, inwieweit die Bestimmungen wirklich die Verhältnisse im Westgotenreich wiedergeben (s. die prinzipiellen Zweifel SEITE 39). Insgesamt läßt sich, darauf deutet insbesondere die Existenz zweier Rechte, eine Tendenz zum Personalitätsprinzip, d.h. zur Anerkennung gleichberechtigter Stammesrechte ausmachen. So wurde die Staatlichkeit der Reiche nicht nur durch die „Parallelstrukturen“ der Kirche, die sich zunehmend als ein alternatives System mit einer eigenen Organisation unter den Bischöfen etablierte (S. TEIL V.B.4.b), in Frage gestellt. Auch die Vorstellung einer rechtlich-kulturell einheit­ lichen Reichsbevölkerung war somit durch die Unterscheidung von Barbaren und Romanen durchbrochen: Die verschiedenen Gruppen lebten nach teilweise eige­ nem Recht und mit teilweise getrennter Verwaltung, die u.a. eben aus dem unterschiedlichen Recht resultierte. Allerdings wurde die Trennlinie nach Ab­ stammung keineswegs stets konsequent oder eindeutig gezogen207.

nung dargestellt werden soll). So auch Klingshim 1994 S.95 mit Anm.42; King 1972 passim (besonders S.6 Anm.4); Stüven 1995 S.79; Sellert 1992 S.85f. Anders dagegen D’Ors 1960 Einleitung. 205 King 1972, 1980a und 1980b konnte überzeugend nachweisen, daß sich das Prinzip der territorialen Geltung der Gesetze im westgotischen Reich endgültig erst mit Chindaswinth durchsetzte, Ansätze dazu gab es seit Leovigild; der „Codex Revisus“ Leovigilds setzte jedoch vor allem den C.Eur. fort, auch nach Isidor galt er nur für Goten; keine Koexistenz, wie D’Ors 1960 es will. In Theudis’ Prozeßkostengesetz von 546 nehmen die Goten aber keine Sonder­ stellung mehr ein. 206 Dies betont Nehlsen 1982 S.176f. ebenso sehr wie Lambertini 1991 S.13-17 („esclusivita“). Das folgende Zitat s. Nehlsen 1982 S.179. 207 Besonders ausgeprägt zeigte sich das Personalitätsprinzip später im Merowingerreich,

C. Die Könige als Gesetzgeber

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Seit den Föderatenverträgen vom Ende des 4.Jh.s an war die territoriale Einheit des römischen Reichs als geschlossenes Staatsgebiet immer mehr erodiert. Die römischen Gesetze galten nicht mehr überall. Die Föderatenverträge regelten den Status der Verbände, deren Beziehungen zu Rom außenpolitischen Charakter angenommen hatten. Nicht mehr überall hatten der Kaiser und seine Verwaltung unmittelbaren Zugriff. Nach J.Martin war die Grenze zum Barbaricum juristisch klar, in funktionaler und kultureller Hinsicht jedoch verwischt; Sidonius schreibt in ep. II. 1.3, daß der vicarius septem provinciarum Seronatus statt der römischen die Gesetze Theoderichs II., des westgotischen Königs und Generals föderierter Truppen, anwandte. So bildete sich neben dem territorialen Reichsbegriff der res publica für Gebiete unter direkter kaiserlicher Verwaltung das Konzept des imperium als einer „Ordnung, die alle mit dem Kaiser verbundenen Einheiten umfaßt“208.

4. Regelanspruch und Staatlichkeit Die Gesetzbücher sollten, mit der bemerkenswerten Ausnahme des Brev.Al., keine vollständigen Sammlungen darstellen, sondern insbesondere umstrittene und neu anfallende Rechtsfälle regeln209. Auch die L.Rom.Burg. war keine abschließende Sammlung. Das Ziel bestand eher darin, den Provinzialen (bzw. ihren Richtern) „für die Materien der L.Burg. das ohnehin geltende römische Recht besonders ins Gedächtnis zu rufen“210. Die Ausschnitthaftigkeit der L.Burg. zeigt sich deutlich auch im Fehlen jeder Systematik. Für das Ed.Theod. war dasselbe bereits oben festgestellt worden. Epilog und Prolog erklären dort aus­ drücklich, daß die Regelungen aufgrund ,/iostrae occupationes“, „publicae cu­ rae“ sowie „edicti brevitas“ eher kursorisch ausfallen mußten. Einige Bereiche waren bei den Gentilen wohl noch durch das Gewohnheits­ recht der tribalen Gesellschaft, z.T. auch durch modifiziertes römisches Vulgar­ recht geregelt - manche Probleme und Fälle jedoch nicht mehr. So versuchten die Gesetzeswerke, auf diese neuen Anforderungen an die gentilen Verbände zu reagieren. Zunehmend wurden allgemeine, von der Zentrale geregelte Bestim­ mungen nötig211. An die Stelle der Sitte suchten die Herrscher vermehrt zenwo es viele verschiedene Rechtsgruppen gab. Von der Vorherrschaft des Personalitätsprinzips gehen u.a. Wolfram 1970, King 1988 und Demandt 1995 S.611 aus. Vorsichtig skeptisch dagegen Vismara 1987 (1980) S.532f. 208 Martin 1995 S.59f. und 178. Trotz oder gerade aufgrund der Restaurationsversuche Justinians setzte sich zunehmend eine abstraktere universale Reichskonzeption auch in Byzanz durch. 209 S. King 1988 S.135ff: So L.Burg. pr.const.3, 8, 10 bzw. L.Vis. II. 1.13, VII.4.1; C.Eur. 277. Nicht alle burgundischen Gesetze wurden in der L.Burg. aufgeführt (vgl. 1.1, 4.7, 50.1, 51.1,52, 54.1,79). 210Bauer-Gerland 1995 S.192; ähnlich dazu Nehlsen 1982 S.177 und Lambertini 1991 S.22-27, der auf den gezielten, bloß verweisenden Bezug auf den CTh hinweist. Vgl. Collins 1983 S.27ff. 211 Vgl. die treffenden Bemerkungen dazu bei Vismara 1987 (1980) S.530f.

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ΠΙ. Das Königtum

tralistisches Recht zu setzen. Dabei nutzten sie die vielfältigen Möglichkeiten des römischen Rechts212. In der Einschränkung der Macht vorstaatlicher Regelungen ist eine Stoßrichtung für den Ausbau der zentralen Staatlichkeit auszumachen: Gegen Sippenhaft und (Blut)Rache wandten sich L.Burg.2 oder L. Vis. VI. 1.7, VIII. 1.3; nach Varien III.23f. soll Colosseus gegen Fehde, Selbstjustiz und Duel­ le in Pannonien (!) Vorgehen (vgl. VII.3 und Ed.Theod. 75-77, 8f., 99). Das Prinzip der „Rechtsverfolgung über staatliche Institutionen“ sollte durchgesetzt werden (s. L.Burg. Extrav. 21.11). Damit traten der König und seine Funktionäre zwischen Täter und Verfolger. Doch im Westgoten- wie auch im Burgunderreich konnte sich die staatliche Macht nicht als „alleiniger Träger der Strafgewalt“ durchsetzen: Wergeid und z.T. Selbstjustiz hatten weiter Bestand (dagegen ken­ nen wir bei den Ostgoten keine Bußgeldkataloge); die Todesstrafe, Ausdruck einer starken Zentralmacht, war nur selten vorgesehen. Die Schwierigkeiten, z.B. den Schutz festen Besitzes durchzusetzen, werden erkennbar im massiven Ein­ schreiten gegen Pferdediebe, auf deren Spur eigens Spezialisten (veiatores) ange­ setzt wurden und die wegen der geringen Aufklärungsrate für ihr Vergehen statt mit den sonst üblichen Kompensationsstrafen mit dem Tod büßten. Andererseits gab es in der burgundischen Gesellschaft offenbar anders als etwa in der von der Lex Salica beschriebenen fränkischen nur geringe Probleme, die Streitparteien vor Gericht zu bringen oder Urteile durchzusetzen. Ein Grundkonsens war gege­ ben. Terminologisch gab es im westgotischen wie im burgundischen Recht keine Trennung von öffentlichen und privaten Vergehen, wohl aber formal, etwa im Klagerecht: Bei Mord, Ehebruch und Prostitution trat eine Strafverfolgung de officio in Kraft213. Gleichzeitig war das Strafmonopol der Königsbeamten ange­ strebt214. H.Stüven betont, daß es in C.Eur. und L.Vis. keine strikte Trennung von Straf- und Zivilprozeß gegeben hat. Als einziger Germanenkönig wohl traf Theoderich im Ed.Theod. diese Unterscheidung215. Im frühen Mittelalter dagegen gab es kein gesondertes Rechtssystem mehr216. „Die Annahme des römischen Rechts durch die Westgoten, seine Respektierung durch die Ostgoten, die ihren eigenen Gewohnheiten treu blieben, sowie die Berufung darauf durch die Vandalen, die es ihren politischen Zwecken anpaßten, bezeugen, daß in diesen Königreichen das römische Recht als Instrument öffentlichen Lebens allgemeine Anerkennung fand”217. 212 Thompson 1963 S.20 sieht im Herrscherinteresse die treibende Kraft; das Königtum formte in dieser Sicht aus „armed warriors, organized for their own defence, ... a public force, based on territorial units at the disposal of the State authorities“. - Vieles wurde erst durch den Übergang vom Kompositionssystem zur peinlichen Strafe, von „privaten“ Geldbußen zu (auch) öffentlichen Strafen bzw. der Abschaffung der „alten umfassenden Herrenhaftung“ neu regelbedürftig, so Nehlsen 1978a c.1909, ähnlich Vismara 1987 (1972) S.396. 213 So King 1972 S.88 zu den Westgoten; Strafverfolgung de officio etwa in den späten L.Vis. IV.5.6 (Wamba), III.5.2 (Rekkared) sowie der Antiqua L.Vis. III.4.17 (CC gegen Prosti­ tuierte). 214 Strafen publice ante iudice“ etwa in L.Vis. III.2.2, IV.3, V.7.6-11, VI.4.8-10, VI.5.2+19, VII.4.7, VIII.2-4, III.4.17 usw. L.Vis. V.7.3. 215 Stüven 1995 S.33-35 zu den Westgoten (auch King 1972 S.85ff.), S. 10-12 zu Theoderich; zu den Burgundern ibid. S.40-42 sowie Dahn 1908 S.151 und Wood 1993; zur Lex Salica vgl. Nehlsen 1983. 216Esders 1993 passim. 217 Vismara 1986 c. 1574.

IV. DER HOF Auf regelmäßig stattfmdenden Reichstagen versammelten sich im hohen Mittelalter die führenden regionalen Amtsträger um den König. Zentrale Fragen wur­ den besprochen, das Reichsgericht wurde abgehalten. Außerdem reiste der König mit seinem Gefolge durch sein Reich, zeigte Präsenz, hielt Kontakt zu den Untertanen und suchte nach Problemlösungen. Das Reisekönigtum war so ausge­ prägt, daß einen Spiegel für die Macht des jeweiligen Königs (neben der Anzahl der Großen am Hof oder der Streuweite der Privilegien) die Präsenzen im Itinerar abgeben. Noch im hochmittelalterlichen Kaiserreich gab es keine feste Haupt­ stadt. Dies kann als Zeichen für eingeschränkte Kommunikationsmöglichkeiten, eine geringe Schriftlichkeit und eine tendenziell polyzentrische Ordnung gewer­ tet werden1. - Die Verhältnisse in den germanischen Reichen der Völkerwande­ rung waren anders: Dort versammelten die Könige die Großen des Reichs an ständigen Höfen in festen Hauptstädten2. H.Wolfram betont, daß die Herrschaft dort als „erweiterte königliche Hofverwaltung“ ausgeübt wurde3. Die Bedeutung des Hofes und sein Einfluß auf die Reichsverwaltung sowie die Art der höfischen Organisation können also als Ausdruck und Gradmesser für die Staatlichkeit und die Ausbildung zentralistischer Strukturen angesehen werden. Der spätantike Kaiserhof wurde als sacer comitatus bezeichnet: Sacer drückt die religiöse Legitimierung aus, comitatus die Mobilität des Hofs4. „Politische Führungskompetenzen und Leitungsaufgaben, staatliche Hoheitsrechte* modern gesprochen, wurden auf die Personengruppe im sacer comitatus übertragen, die sich im „heiligen Palast“ des Monarchen befand“. Anders als zuvor etablierte sich die Institution „Hof ‘ im Dominat systematisch als ein zentrales Herrschafts­ instrument. Die Höflinge bildeten eine relativ homogene soziale Gruppe, „in sich nach Funktionen in der Verwaltung differenziert und in ein hierarchisches Sy­ stem von Ehren und Rangstufen (comitiva) eingefaßt“5. Die komplexe Organisa­ tion kannte eine Aufgabenverteilung nach relativ „rationalen“ Regeln und nach Konkurrenzgefügen, die eine Kontrolle ermöglichen konnten. Die am Hof zu erlangenden hohen Ehren wurden auch für den senatorischen Adel attraktiv. So rekrutierte sich das höfische Personal auch aus den höheren und höchsten Schich1 Vgl. dazu etwa Wunder 1980; Brühl 1968; Keller 1986 und 1989. - Zum soziologischen Phänomen Hof allgemein Winterling 1997. 2 Der Hoftag in Amberieux, wo der Burgunderkönig Godomar 524 in kritischer Lage die Großen für einen Neubeginn sammelte, kann als die Regel bestätigender Sonderfall gelten. 3 Wolfram 1990a S.218 („von innen heraus“). 4 Das folgende nach Schlinkert 1996b. S.456f. bezeichnet er eine herrschaftssoziologische Monographie zum Kaiserhof der Dominatszeit, die begriffs- und sozialgeschichtliche Fragestel­ lungen mit Institutionengeschichte verbindet, als Desiderat der Forschung; bislang wurden nur „private“ und zeremonielle oder nur staatliche Funktionen erfaßt. 5 Die Zitate ibid. S.464. bzw. S.480.

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IV. Der Hof

ten. Dabei verlief die höfische Kommunikation nach einem strengen Zeremo­ niell; Reglements wie die Proskynese sorgten für eine stärkere „Domestizierung“ der höfischen Eliten als im consilium principis6. Schließlich stellt D.Schlinkert für die Spätantike die Trennung von Haus und Hof oder von öffentlicher und privater Sphäre in Frage. Er plädiert für eine integrierte Sicht des Hofes als einer Gesamtfiguration mit dem Kaiser als Angel­ punkt, auf den in strenger Formalisierung sämtliche Beziehungen ausgerichtet waren. In Anlehnung an die Arbeiten M.Webers und N.Elias’ kann man von einer außerordentlich erweiterten Haushaltung sprechen. Es ist allerdings zu fragen, ob nicht der Bereich der domus bei den Germanenkönigen bzw. in der Kaiserzeit der des sacrum cubiculum als ein, und zwar als innerster, Teil des Hofes auszuma­ chen ist: Dieser Bereich hatte zweifellos auch politische Bedeutung, war zugleich die persönlichste Sphäre um den Herrscher. Das „Personal“ setzte sich dort aus in besonderem Maße Abhängigen oder Vertrauten zusammen. Anders im „äußeren“ Bereich, wo sich Leute mit größerer eigener Macht, eigener Ehre und höherem Sozialprestige von einer Tätigkeit beim König größere Wirkungsmöglichkeiten versprachen; sie wahrten ihre Eigenständigkeit. In der vorliegenden Arbeit wird demnach von einer Aufgliederung verschiedener Bereiche des Hofes von innen nach außen ausgegangen. Weiter läßt die Betrachtung von Ehre und Rangstufe des jeweiligen Höf­ lings Hinweise auf seine Abhängigkeit vom Herrscher bzw. auf sein politisches Gewicht erwarten. Der Herrscherhof in Spätantike und Frühmittelalter hatte vor allem drei Verwaltungsfunktionen zu erfüllen: Er bildete ein Forum zur Entscheidungs­ findung; damit eng verbunden war die Funktion als gerichtliche Letztinstanz in schwierigen Rechtsfällen (A. Rat und Hofgericht). Der Hof garantierte zudem die Verbindung von Herrscher und Reich über die schriftliche Kommunikation (B. Kanzlei) sowie über außerordentliche, punktuelle exekutive Zugriffe (C. exekutive Sondermissionen). Wenn hier dieser funktionalen Gliederung gefolgt wird, so darf nicht außer acht gelassen werden, daß eine solche Differenzierung der nicht selten anzutreffenden Verquickung von Aufgaben nicht immer gerecht wird: Die Quellen unterscheiden nicht immer nach Funktionen, sondern betonen oft stärker die sozialen oder hierarchischen Stufungen. Die hier gewählte Gliede­ rung soll aber als Ordnungsprinzip dienen. Dagegen ist bei den Höflingen die Scheidung nach germanischen und romanischen Funktionären nicht ergiebig; denn die Höflinge wurden aus beiden Gruppierungen rekrutiert7. Zunächst ist festzustellen, daß auch die Höfe der Germanenreiche machtpolitisch eine wichtige Funktion hatten. Über den Hof versuchten die Könige die Mächti­ 6 Ibid. S.470; Schlinkert gebraucht dabei Elias’ Begriff der „höfischen Figuration“. Schlinkert verweist darauf, daß etwa auch auch ein Mahl am Tisch des Kaisers als Ehre galt (S.477f. und 481, wo er Max Weber zitiert). 7 Dagegen geht Dahn 1861 S.218f. zu den Vandalen trotz der Vermischung von „Privatund Staatsrecht“ von einer Scheidung zwischen (germanischen) „Hofdienem“ und (römischen) „Staatsbeamten“ aus.

IV. Der Hof

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gen zu binden. Am Hof fand die wichtige Kommunikation zwischen den Großen, dem König und dem Reich ihren Platz. Eine Hauptfunktion des Herrscherhofs ist diese „politische Repräsentation des Reiches“8. Der Hof bereitete in dieser Re­ präsentativität die Annahme der königlichen Beschlüsse vor. Dieser Bereich ist jedoch für unsere Ausrichtung auf Amtsträger und -Strukturen nicht von primärer Bedeutung9. Die Königshöfe der Völkerwanderungszeit konnten als domus regia, aula oder palatium bezeichnet werden10. Dort diente ein umfangreicher Apparat von Bediensteten, Beamten, Beratern und Wächtern11. Dort gab es Ehre, Reichtum, Ämter durch die Gegenwart und Freundschaft des Königs zu gewinnen12. Wie mancher römische Kaiser pflegte auch Gelimer in seinem Palast auf der kartha­ gischen Burg seine Großen zu bewirten. Prokop verwendet für sie in BV 1.21.1 ff. dasselbe Wort (ήγούμενοι) wie für den kaiserlichen comitatus. Germanische convivae regis kennen wir aus dem Frühmittelalter. Die Bedeutung der gemein­ samen Tafel ist bei gefolgschaftlichen Verbänden allgemein hoch anzusetzen: So speisten bei den Franken im 6.Jh. die convivae regis, hohe gallorömische Würden­ träger, am Hof mit dem König und bildeten den Thronrat (s. Lex Salica 41.8 und Venantius Fortunatus VII. 16.) Auch bei den Burgundern gab es nach L.Burg. 38 convivae regis, auch germanische Gefolgsmänner des Königs, für die wir sonst kaum Hinweise haben13. Die Prägung am Hof konnte so stark sein, daß zu Victor Vitensis’ Empörung viele der am vandalischen Hof tätigen Romanen barbari­ schen Habitus angenommen hatten (HP II.8: „ingens fuerat multitudo nostrorum catholicorum in habitu illorum incedentium, ob hoc quod domui regiae servie­ bant‘“). Victor berichtet zudem, daß, wie unter den römischen Kaisern, die am Hof Beschäftigten bei der Katholikenverfolgung zuerst und besonders scharf bedrängt wurden. 8 SoGizewski 1997 S. 147. 9 Mehr dazu etwa bei Bums 1980 und 1984 sowie bei Reydellet 1981. 10Zu den Vandalen: domus regia bei Victor HP II.8; III. 11; 13; vgl. Prokop BV II.4.33; aula bei Victor HP 1.43; II. 10; palatium in HP 1.22; 11.23; Passio sept.mon.12. Bezeichnungen für den Hofdienst: „qui suis palatiis militarent“, „domus nostrae occupati militia“ (z.B. Victor HP III.13, 23), „in aula eius constituti“', ministeria (Victor HP 1.43; III.19; Passio sept.mon.14). In den Varien werden die Inhaber von Hofämtem oft mit einem zur Wortfamilie aula gehörenden Begriff belegt. Der westgotische Hof heißt später meist aula oder palatium (z.B. L.Vis. III. 1.5; Isidor etym. XV.3.3). Zum Burgunderhof s. die späte Vita Sanctorum Abbatum Agaunensium c.l; Gregor glor.mart.74; Vita Lupicini 11 s.u. SEITE 125. 11Höflinge bei den Vandalen waren nach Victor HP III.33 etwa der vandalische cellarita regis Dagila, nach HP 1.47 ein Archimimus Mascula, der in Folge von Geiserichs Beamtenpräzept den Märtyrertod starb. 12Vgl. das Angebot Hunerichs an Bischöfe und Bekenner (Victor HP II.9, III.27; Passio sept.mon.4f.): Für den Fall ihrer Zusammenarbeit mit dem König können sie „in conspectu regis honorabiles“ sein bzw. honores, divitias und regis amicitia erlangen. In Prokop BV 1.8 lockt Thrasamund Katholiken mit „Ämtern, Ehrenstellen und Geschenken“ (Übers. Coste). 13S. den Erfolg des Avitus bei Verhandlungen mit Westgoten beim gemeinsamen Mahl, Sidonius carm. VII; Ennodius V.Epiph. 91 ff. zu den wichtigen „regis epulae“; vgl. auch Vita Lupicini bzw. Gregor v.Tours Vit.patr. 1.5 (S.216f.: Lupicinus geht zu Chilperich, nimmt an einem convivium teil und erreicht reiche Zuschüsse für sein Kloster). Prokop BV 1.24: Der Westgotenkönig Theudis empfing die vandalischen Gesandten; während des fürstlichen Essens wurde verhandelt.

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IV. Der Hof

Geiserich verfügte: „intra aulam suam filiorumque suorum nonnisi Arriani per diversa mini­ steria ponerentur“ (HP 1.43); herausragende Höflinge und Königsleute gerieten unter Druck wie der comes Sebastianus (vgl. auch 1.25, 33, 39). Unter Hunerich begannen die Repressionen damit, daß katholische Beamte keinen Lohn mehr erhielten (II. 10), später wurden sie entlassen. Nach HP III. 11-13 wurden gegen Hof und Verwaltung „pro gradibus suis“ die in der kaiserli­ chen Häresiegesetzgebung bestimmten Strafen verhängt.

A.

DER RAT

1. Die consiliarii Consiliarii hießen in spätrömischer Zeit die hohen informellen, vertrauten (Rechts)Berater der Präfekten oder der Provinzstatthalter, die diese persönlich auswählen konnten14. Sie sollten insbesondere über rhetorische und juristische Fähigkeiten verfügen. Nach dem Wegfall der Präfekturen und großenteils auch der Provinzgouvemeure übernahmen die Germanenkönige dieses Berateramt von dort an ihre Höfe15. Einzig bei den Ostgoten bestanden die Präfektur und ihre Behörden fort. Wahrscheinlich deshalb gab es dort keinen königlichen consiliarius. Die Stilisie­ rung in der antikisierenden Formel Varien VI. 12 zeigt, daß die consiliarii aus­ schließlich unter dem PPO dienten und von dort als Statthalter in die Provinzen berufen werden konnten. Tatsächlich ist der Aufstieg vom consiliarius des PPO zum Provinzstatthalter mehrfach belegt16. Die in den burgundischen Gesetzen aufgeführten königlichen consiliarii erfüllten Routineaufgaben der Zentralverwaltung. In einer der beiden Konstitu­ tionen der L.Burg., die als einzige Quelle über diese Beamten berichtet, werden in aufschlußreicher Reihenfolge „omnes administrantes ac iudices“ aufgelistet17. In einer zweiten Reihung der in der Regionalverwaltung aktiven Beamten folgen auf die comites die iudices deputati (s. TEIL V. A.3.d). Davor aber werden die am Hof tätigen Amtsträger in Rangfolge genannt, den Anfang machen die Königs­ 14S. Nesselhauf 1938 S.84 und 91 zum gallischen PPO; Morosi 1977 S.l 12. Nach TLL s.v. wurde consiliarius als technischer Begriff für Rechtsberater seit dem 2.Jh., bei fremden Königen seit dem 4.Jh. gebraucht. Nach CJ 1.27.1 hatte der neue afrikanische PPO als bestbezahlte und ranghöchste Mitarbeiter consiliarii. 15Remigius‘ (Epp.Austr.2, MGH Epp.Ill S.l 13) Fürstenspiegel für Chlodwig (vor 490 n.Chr.) nennt neben allgemeinen Ermahnungen zu gutem Regierungshandeln in Kontinuität zur römischen Verwaltung an konkreten „Institutionen“ einzig „sacerdotes“ und „consiliarios“ {“Rumor ad nos magnum pervenit, administrationem vos Secundum Belgicae suscepisse“). 16Varien VIII.31: Severus, corrector in Bruttium, zuvor u.a,praefectorum consiliis laudabili­ ter inhaerentem“', nach Anecdoton Holderi (Mommsens Varienausgabe S.Vf.) Z.17 war Cassiodor in jungen Jahren consiliarius des PPO; vgl. Varien XI praef. c.4. 17„Omnes administrantes ac iudices secundum leges nostras ... iudicare debebunt; ... Sciant itaque obtimates, consiliarii, domestici et maiores domus nostrae, cancellarii etiam, Burgundiones quoque et Romani civitatum aut pagorum comites vel iudices deputati omnes etiam et militantes ...“ (L.Burg. pr. const. 1+3, nach Haar 1968 S.32 von 517 n.Chr.).

A. Der Rat

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räte. Hier rangieren hinter den optimates die consiliarii an zweiter Stelle, es folgen domestici et maiores domus. - Die Konstitution Extrav. D (21) 14 von 524 über königliche Landschenkungen informiert über die Tätigkeit dieser consilia­ rii: „Si quicumque aliquid loco munificentiae petire voluerit, cum litteris comitis sui veniat, et consiliarii aut maiores domus, qui praesentes fuerint, ipsas litteras comitis ipsius accipiant, et suas litteras ex nostra ordinatione ad illius iudicis faciant, cuius territorio res illa, quae petitur, tenetur, et hoc eis conce­ dat, ut diligenter et fideliter requirant, si sine peccatum dari p o t e s t Daraus geht folgendes hervor: Sie hielten sich erstens wie auch die MD am Hof auf; mit der oben besprochenen Stelle L.Burg. pr.const. 1 u. 3 versteht man den Relativsatz besser analytisch als synthetisch. Sie waren zweitens mit der Ausstellung von Urkunden zur Eigentumsübertragung beauftragt; verbunden mit diesen schriftli­ chen Vorgängen könnten auch Buchführung, Archivierung und Rechtsprüfung gewesen sein; damit stellten sie die Verbindung zwischen dem König bzw. seinem Hof und den Spitzen der lokalen Exekutive, den comites, her. Die consi­ liarii sollten wohl „Verwaltungsroutine“ garantieren. Schließlich waren sie drit­ tens. wie L.Burg. pr.const. 1 und 3 zeigen, in irgendeiner Form richterlich tätig. Die consiliarii waren neben und vielleicht noch vor den maiores domus nostrae und den domestici, denen sie vorangestellt werden, wohl die wichtigsten burgundischen Hofbeamten18. Ihr exakter sozialer Rang läßt sich zwar nicht präzise bestimmen, doch scheint er hoch gewesen zu sein. Deshalb und aufgrund der Ähnlichkeit von Bedeutung und Art der Aufgaben ist es wahrscheinlich, daß eine Reihe wichtigster römischer königlicher Ratgeber, die SEITEN 126f. aufgelistet werden, das Amt eines consiliarius bekleideten bzw. als consiliarii tituliert wurden. Vielleicht kann die oben angeführte Reihung der richterlichen Amtsträger im Burgunderreich auch so verstanden werden, daß die consiliarii inklusiv als Teil der optimates aufgeführt wurden. Es besteht allerdings auch die Möglich­ keit, daß mit dem Begriff sowohl allgemein informelle, einflußreiche Berater als auch - im technischen Sinne - Hofbeamte bezeichnet werden konnten. Am häufigsten wurde für Berater des burgundischen Königshofes der Begriff obtimates gebraucht, der die ganze Gruppe zusammenfassen konnte. Denn zum Rat gehörten auch Männer aus der königlichen Entourage, die kein Amt ver­ walteten, nichtcomitale Amtsträger, vielleicht auch „eigenmächtige“ Große und nicht zuletzt „höfische“ comites. Dazu kamen bei den Gesamtversammlungen des Reichs etwa zur Beratung über neue gesetzliche Regelungen die comites, die Leiter der regionalen Verwaltung, hinzu19. 18Haar 1968 S.32f. hält den MD, nicht zwingend, für den „obersten Hausbeamten“. 19Praefatio des Gundobad: „et corampositis obtimatibus nostris ... tam nostram quam eorum sententiam m a n s u r is L.Burg. 53 pr. „sedpostmodum cum optimatibus populi nostri imprensius de causa tractantes...“; 74 pr.: Neues Gesetz, „cum obtimatibus populi nostri adtentius universa tr a c ta n te s 105 „nobis vero cum obtimatibus nostris hoc c o n v e n itExtravag. B (18) „cum optimatibus nostris de re impensius pertractantes ...“. Zu den comites s. TEIL V.A.3.b. Gleichzeitig bildeten die optimates die höchste soziale Gruppe der Wergeldliste L.Burg. 101, unter die neben den höchsten germanischen Edlen römische Großgrundbesitzer, Bischöfe und die comites zusammengefaßt wurden. Noch die späte Passio S.Sigismundi bezeichnete c.4 die Großen des Burgunderreiches als optimates.

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IV. Der Hof

Als „consiliaris“ (sic!) fungierte Laconius 494 unter Gundobad in Vienne. Ob der Terminus hier technisch gebraucht wurde, läßt sich nicht mit letzter Sicherheit entscheiden. Von Laconius, der die Mission des italienischen Bischofs Epiphanius zur Befreiung von Kriegsgefangenen unterstützte, heißt es in Ennodius’ V.Epiph. 168-170: „vocato Laconio, cui et rerum et verborum fides ab illo (sc. Gundobad) semper tute mandata est, quem et praerogativa natalium et avorum curules per magistrae probitatis insignia sublimarunt, cum quo confert quotiens et pia et religiosa meditatur“. Laconius war also stets am Hof zugegen. Später wurde er damit beauftragt, die Freilassung der Gefangenen als se n te n ­ tiae■ “ zu fassen und „chartae“ aufzusetzen; er war zu dieser Zeit der wichtigste Ratgeber Gundobads20. - Die vergleichbare Stellung eines führenden Beraters und Verwaltungschefs nahm Leo von Narbonne bei den Westgoten unter Eurich und Alarich II. ein. Die zahlreichen Referenzen auf Leo allein bei Sidonius lassen auf seine enorme Bedeutung schließen (Carm.14, carm.9.311, carm.23.446—454 sowie die an Leo gerichteten Epistel IV.22 und VIII.321; Ennodius V.Epiph.85ff.: Leo verkündet Epiphanius’ Ankunft). Die genaue Bestimmung seiner Position ist umstritten: Sie wurde als Mischung aus Quästor und MO beschrieben oder galt als „ein Beispiel für die Vereinfachung der Verwaltung“22. H.Wolfram stellte fest, daß Leos Agenda nicht in den römischen Rechtsschematismus paßten, so daß Zeitgenossen seine Funktionen „nicht nach der herkömmlichen Dienstpragma­ tik definieren“ konnten23. Genaueren Aufschluß verspricht eine Analyse der wichtigsten Quellen. Immer wieder wird er für seine Eloquenz gerühmt, er verfaßte conclamatissimas declamationes... oris regii vice: Leo verfaßte also wie Laconius die königlichen Anordnungen. Seine Aufgaben werden in Sidonius ep.IV.22 mit der Formulierung „cotidie namque per potentissimi consilia regis“ als königlicher Ratgeber angedeutet. Da er auch in V.Epiph. 85f. als „consiliorum principis et moderator et arbiter·“ bezeichnet wird, scheint die von Gregor in glor. mart. 9 lf. (für die Zeit Alarichs II.) gegebene Amtsbezeichnung „rudens Romanus

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V. Die Regional Verwaltung

Kompetenz bedeutete für ihn somit „kein ,aliud*“22. - Aufgrund der Intention des Dokumentes wird dies aber eher am Rande abgehandelt: Wie gesehen war es primär an die Römer gerichtet und diente der Bekanntmachung und Erklärung der neuen Institution23. Daher werden diejenigen Kompetenzen länger ausgeführt, die Auswirkungen auf das Leben der Römer hatten. Die übrigen werden nur beiläufig gestreift oder gar nicht erst erwähnt. Wichtig dürfte das Interesse der Ostgoten gewesen sein, in gemischten Prozessen einen Vertreter ihres Verbandes als einen der Richter vor sich zu haben. Als CG sind einige der nicht näher spezifizierten comites in den aktuellen Einsetzungsschreiben der Varien zu deuten. In III. 13 wird Sunhivad vir spectabi­ lis, ein seit langem in freiwilligem Dienst erprobter Helfer des Königs, in das unruhige Samnium entsandt: ,Jntra provinciam itaque Samnii si quod negotium Romano cum Gothis est aut Gotho emersit aliquod cum Romanis, legum considera­ tione definies, nec permittimus discreto iure vivere quos uno voto volumus vindicare.“ Sunhivad soll die Rechtsfälle zwischen Goten und Romanen leiten, wo es aufgrund des verschiedenen rechtlichen Hintergrundes offenbar zu Unstimmigkeiten gekommen war. Für ein Amt als CG spricht die Aufgabe sowie der Umstand, daß Sunhivad seinem Namen nach Gote war. Daß die Ernennung über Cassiodors Schreibtisch ging, könnte damit erklärt werden, daß die Ernen­ nung außerhalb der Routine erfolgte oder daß Sunhivad nicht comes einer Stadt und ihrer Region, sondern einer ganzen Provinz wurde. Das muß nicht bedeuten, daß es einen comes Gothorum provinciae gegeben hätte. Vielmehr hatte es in Samnium, wo nur kleinere gotische Gruppen siedelten, bislang noch keinen gotischen comes gegeben. Um die Mißstände, die, wie der Brief suggeriert, besonders von den Goten herrührten, zu lindem, wurde also ein Vertrauter des Königs gesandt. „... in comitis Annae iudicio Mazenis fundi controversia statutis legitimis est decisa“ (1.5): Das iudicium, der Gerichtshof24 des comes Anna, entschied rechts­ gültig den Streit über einen fundus zwischen dessen ursprünglichem Eigentümer Maza, dem Namen nach ebenfalls ein Gote25, und einer mutmaßlich römischen Person. Darauf läßt der Umstand schließen, daß diese Sache dem vir spectabilis Florianus, der vom Rang her Provinzvorsteher (oder Sonderkommissar des Ho­ fes) gewesen sein dürfte26, zur endgültigen Klärung überwiesen wurde. Das ordentliche, zuständige Gericht leitete der für Rechtsfälle zwischen Goten und Römern zuständige comes Anna. Auch in zwei weiteren Fällen erfahren wir von der comitalen Gerichtsbarkeit, die im Normalfall selbständig, ohne Anweisung durch den Hof arbeitete, nur dadurch, daß aufgrund ihres Scheitems der Hof zum Handeln gezwungen wurde: Mit Varien V.29 wird der v.i. Neudis vom Hof 22Stüven 1995 S.47f., der dafür Varien VII. 1 und III.23 aufführt. 23Darauf wies schon Hegel 1847 S.l 16f. hin. 24S. den Index von Mommsens Varienausgabe. 25Schönfeld 1911 S.166; nach Reichert 1987 „möglich“. Mit Sicherheit Gote war Anna (vgl. auch Varien IV.18 an Anna comes v.i.). 26Anders, aber unbegründet PLRE II S.480: Funktion und Rang würden auf einen referen­ darius passen.

A. Germanische Ämter in der Regionalverwaltung

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beauftragt, den Fall eines blinden Veteranen, der von zwei Adeligen in die Knechtschaft hinabgedrückt wurde, nochmals aufzunehmen, nachdem das Ver­ fahren vor dem ordentlichen Gericht des comes (Gothorum) Pitza ergebnislos geblieben ist27. Auch in III. 15 wird ein außergewöhnlich hartnäckiger „Rechts­ flüchtling“ einem Sonderbeauftragten des Hofs überstellt, der sich seit längerem der Anklage vor dem iudicium des v.i. comes Sona entzogen hatte. Auf Sonas Comitat deutet II.7, wo er von Theoderich angewiesen wird, seine Stadt durch die Wiederverwendung alter Marmorblöcke zu verschönern. CG war vermutlich auch der v.i. Cunigast, bekannt als Boethius’ Gegenspieler aus de cons.phil. 1.4. Er wird in Varien VIII.28 aufgerufen, den Goten Tanca, der zwei Römern Unrecht getan zu haben verdächtigt wird, vor sein iudicium zu zitieren und den Fall zu klären: Für ein Amt als CG spricht die Erwähnung des Gerichtshofes (iudicium) sowie der Prozeß zwischen Gote und Römern28. Von den wichtigen neuen Amtsträgem erfahren wir auch aus anderen Quellen; so erwähnt Ennodius in Ep.II.3 einen „obersten Richter“ Erduic v.i., der auch in Ennodius Pan. 12 genannt wird. Wie manch anderer Amtsträger wurde auch Marabad vom Hof als erprobt ausgewählt und als comes vir illustris nach Massilia entsandt, „ut quicquid ad securitatem vel civilitatem ... pertinet, deo iuvante perficiat', wie den Ein­ wohnern der Stadt in HI.34 verkündet wird. Dieser Text belegt militärische neben ziviler, d.h. insbesondere richterlicher Kompetenz29. In IV. 12 begegnet uns Ma­ rabad an der Seite des „vicarius praefecti Galliarum“ Gemellus (s. SEITE 276) als (erfolgloser) Schlichter eines Erbschaftstreits in illustrer Familie; später geht die beim Hof eingelegte Revision an Marabad zurück (IV.46). Daß er später alleine genannt wird, legt nahe, daß es sich um einen Fall der massilischen Aristokratie handelte, für den Marabad als oberster Richter der Stadt zuständig war, dem aber wegen der Bedeutung der Beteiligten der für ganz Gallien zustän­ dige romanische Vikar beigeordnet wurde. Tatsächlich läßt sich nachweisen, daß die Beteiligten in Marseille ansässig waren30. Allerdings ist nicht ganz verständ­ lich, warum der gotische comes in einem innerrömischen Streitfall richtete. Nicht so leicht zu bestimmen ist auch der Umfang von Marabads Amtsbereich. Wahr­ scheinlich griff Ravenna für die nicht nur strategisch wichtige Hafenstadt31 27 „Calumnias (t.t. für unrechtmäßige Übergriffe) Pitziae comitis celebratae opinionis viri sibi examinatione sum m otas„ in iudicio supra memorati quondam Pitziae“. 28Saitta 1993a S.59 Anm.150 hält ihn fälschlicherweise für einen saio\ dies kann gerade wegen des Auftrags nicht sein, da ein saio nicht Recht sprechen konnte, s.o. SEITE 180. 29Varien III.34 redet von fortitudo, defensio, securitas sowie dazu jeweils parallel von moderatio, ordinatio und civilitas; die Richterfunktion belegen Worte wie iustitia, iustum oder districtio. 30Vgl. PLRE II S.135 s.v. Archotamia: Die illustris femina wird noch erwähnt in Ennodius ep.VI.24 und VII.14 von 508 (vgl. den Brief VIII.35 vom Jahreswechsel 510/511, in dem Ennodius ihre Schwiegertochter Aetheria tadelt) und der Vita Apollinaris (MGH SS rer.Mer.III S.201), wo es von der mit dem Bischof von Valence verwandten „senatrix“ heißt, sie lebe in Marseille. 31 Die strategische Bedeutung der Großtadt zeigt sich in Varien III.41: Die Versorgung für die gotischen Truppen in Gallien erfolgte „de Massiliensia horrea“, wo der Nachschub aus Italien eingeschifft wurde.

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V. Die Regional Verwaltung

Ansätze der südgallischen Tradition des comes civitatis auf, der aus Sidonius ep.VII.2.5 gerade für Marseille belegt ist. Vielleicht übte der comes, ähnlich wie bei der comitiva Syracusana bzw. Neapolitana, eine Aufsicht auch über die umliegende Region bzw. Provinz aus. Marabad war also, so läßt sich zusammen­ fassen, vermutlich comes Massiliae32. Im ostgotischen Südgallien gab es keine iudices provinciarum; diese waren vor bzw. anfangs der westgotischen Zeit verschwunden33. 2. Die Stellung des CG gründete sich in erster Linie auf den Vorsitz über ein militärisches Kontingent bzw. die gotische Gemeinde, die ja stets eine potentielle militärische Einheit darstellte; so wird „Gothi“ in den Varien, wie Traubes Index zeigt, oft synonym mit „exercitus“ verwendet. Diese Position als örtlicher Mili­ tärchef bot die Grundlage für die Aufsicht über die Gotengemeinde und die sich daraus ergebenden Aufgaben in der italischen Regionalverwaltung. Zumindest den Befehl über die örtliche Garnison, vielleicht auch die Aufsicht über Mobili­ sierung und Überführung der gotischen Krieger wird der CG ausgeübt haben34. Formaljuristisch könnte die Gerichtsgewalt des CG von der römischen Dienstund Rechtsaufsicht des militärischen Vorgesetzten abgeleitet worden sein35. Vielleicht ist in diesem Zusammenhang caput 23 der pragmatica sanctio für Ita­ lien zu verstehen: Demnach sollten sich iudices militares nicht in Zivilprozesse einmischen, womit dann Bezug auf die gotischen Richter genommen würde36. 3. F. Ausbüttel wies zurecht darauf hin, daß der CG zwar über den Magistra­ ten stand, aber keineswegs das Stadtoberhaupt war (wie später bei den West­ goten). Als Hinweis darauf kann auch die Beobachtung gewertet werden, daß auf VII.3 kein Formular folgt, durch das etwa der Stadtrat in Kenntnis von der Wahl des neuen comes gesetzt werden sollte. Schon C.Hegel hatte diese Stellung neben und zugleich tendenziell über der ordentlichen Zivilverwaltung erkannt37. Der CG stand in Rang und Kompetenz über den städtischen Magistraten, war aber nicht ihr ordentlicher Vorgesetzter. Er war in erster Linie für die Gotengemeinde im Amtsbezirk zuständig. Vor allem die stark verfassungs- und rechtsgeschichtlich orientierte Geschichts­ schreibung suchte intensiv nach dem U rsprung dieses Amtes. Aufgrund ihrer prinzipiellen Ausrichtung kamen allein römische Institutionen in Frage. Ver­ schiedenste römische Institutionen wurden als Vorbild bzw. Ursprung des CG vorgeschlagen: 32So auch PLRE II s.v. Marabad. 33Vgl. Buchner 1933 S.21. 34So auch Ausbüttel 1988 S.208, für den der CG in erster Linie der Militärkommandant gewesen war (VI.22, VII.3, IX. 14; vgl. die Stadtkommandanten im Krieg?). Vgl. Varien 1.40: Die Waffen wurden durch den CG verteilt. 35S. den Fall Brandilas in Varien V.32+33. Diese These u.a. bei Stüven 1995 S.47f. mit weiteren Verweisen. Auch die westgotischen comites könnten in der Tradition der iudices mili­ tares des CTh gestanden haben, wie Brev.Al. II. 1.2 und 9 nahezulegen scheinen. 36So etwa Stüven 1995 S.55. 37Hegel 1847 S.l 18f. Ähnlich Ausbüttel 1988 S.205ff.

A. Germanische Ämter in der Regionalverwaltung

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Schmidt 1969 S.371 hielt den „römischen, nicht germanischen Ursprung“ für gesichert, schloß die Heeresverfassung als Ausgangspunkt aus; ähnlich Seeck 1900a c.628; dagegen Stein 1925 S.381ff. Nur der von Mommsen ins Gespräch gebrachte praefectus gentilium konnte weitere Resonanz finden, so bei Wolfram (1990a S.362f. m. Anm.6; s. auch Ensslin 1959 S.192-194), in dessen Konzept des gotischen „Föderatenheeres“ dieser Vorschlag paßt. Was jedoch, abgesehen davon, daß es sich in beiden Fällen um Ämter für nichtrömische Gruppen han­ delt, die Verbindung der Ämter ausmacht, wird nicht deutlich; zudem ist dieser Präfekt nur aus Not.Dign. occ.45-70 bekannt (praefecti Sarmatarum gentilium italischer und gallischer Provinzen, praefecti laetorum in Gallien). Ausbüttel 1988 S.205f. erinnerte an die schon in Codex Euricianus 322 genannten west­ gotischen comites civitatis. Diese knüpften eventuell an eine in Südgallien Vor­ gefundene Tradition an und traten als Stadtkommandanten oder zivile Provinzgouvemeure auf. Er bleibt aber die Erklärung dafür schuldig, woher wiederum diese ihren Anfang nahmen; S.207ff. sieht er in den CG dagegen Sonderbeauf­ tragte im Stile der spätrömischen comites. S.u. SEITEN 222ff. Es stellt sich die Frage, ob überhaupt nach einem Vorbild gesucht werden muß oder ob man nicht einen neuen gotischen Ansatz ausmachen kann. Dabei könnten zwei Faktoren eine Rolle gespielt haben: Zunächst ist an die Elastizität des comes-Titels zu erinnern, der den Goten aus den Berührungen mit dem römischen Militär schon länger bekannt war. Vor allem ergab sich nach der Ansiedlung des Wanderverbandes die neue Situation, daß ein unterhalb des Königs dauerhaft arbeitender Funktionär benötigt wurde, der die einzelnen Gemeinden und Siedlun­ gen der eingewanderten Goten organisierte. Das Zusammenspiel dieser Faktoren könnte das Amt des comes Gothorum per singulas civitates geformt haben. H.Wolfram bemerkte im Sinne seiner These vom Fortbestehen römischer Verwaltungsstrukturen, daß dieses neue Amt die Kontrollmechanismen der Zen­ trale um eine ethnische Komponente erweitern mußte38. Dies war aber wohl nicht das primäre Anliegen hinter dieser Institution. Einmal sind in der Formel solche Überlegungen nicht erkennbar. Zudem gab es keine Behörde, zu der der CG in direkte Konkurrenz trat, bei der eine gegenseitige Kontrolle also möglich gewe­ sen wäre. Der CG spielte wohl vielmehr beim schwierigen Prozeß des „settle­ ment“ eine zentrale Rolle. Dafür sprechen neben seiner Ausnahmestellung in der Formelsammlung als einziges ausdrücklich gotisches Amt auch inhaltliche Über­ legungen: Die Kompetenzen des CG kennzeichnen ihn als regionales Amt und als eine Institution, die die Zentrale einsetzte, um die Verbindung der Goten unter­ einander bzw. mit König und Hof nach der Ansiedlung zu festigen39. Damit sollte der Bildung von königsunabhängigen Herrschaftsverhältnissen entgegengewirkt und zugleich das Zusammenleben der Goten, die ja nicht in die römischen Stadtund Landgemeinden aufgenommen wurden, geregelt werden. So wurde eine „parallele Verwaltung“ in Italien aufgebaut40. 38Wolfram 1990a S.290f. 39So Bums 1980 S.179f. 40Vgl. das Resümee Wirths 1986 zu den ostgotischen comites.

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V. Die Regionalverwaltung

Für den CG gelten die von J.Martin geäußerten allgemeinen Bedenken, „ob eine solche Aufteilung von Hoheiten der germanischen Situation entspricht oder ob nicht vielmehr für die Könige seit dem 5Jh. von einer ungeteilten Gewalt ausgegangen werden muß“41. Nach römischem Rechts- bzw. Amtsverständnis war der CG Offizier. Für seine Stammesgenossen jedoch war er Anführer und Appellationsinstanz in jedem Bereich, in erster Linie in Rechtsfällen, aber auch in Siedlungs- und Wirtschaftsfragen. F.Dahn nahm an, daß die gotischen comites der Wanderzeit als bloße Heerführer mit „Gerichtsbann“ in Italien unter dem Eindruck der römischen comites auch administrative und fiskalische Funktionen übernommen hätten42. Doch diese These krankt daran, daß nicht einmal eine nur titulare Kontinuität von den Hauptleuten des Wanderverbandes zu den Spitzen in Verwaltung und Heer der Goten gesichert ist. Doch kann man von einer Entwick­ lung in dieser Richtung ausgehen: Unter dem Einfluß der spätrömischen comitiva und den Anforderungen der Verwaltung vollzog sich die Wandlung einer stark kriegerisch, gefolgschaftlich geprägten Position zu einer in der Verwaltung einsetzbaren Institution43. Weitere gotische comites: Von der Formel der comitiva Gothorum hebt sich die der comitiva diversarum civitatum in Varien VII.26-28 deutlich ab: Die Amts­ bezeichnung enthält, wie die der „klassischen“ comites, ein Genitivattribut, das den Aufgabenbereich näher bestimmt. Dennoch handelt es sich auch hier nicht um einen italischen comes civitatis - in den Varien ist ein solcher Amtsträger nirgends belegt. Darauf, daß der Beamte nicht in jeder Stadt zu finden war, könnte der Plural ebenso hindeuten wie das Adjektiv diversarum, das Jew eilig“ bedeutet und damit, so der Varienindex, singuli oder plures entspricht; es findet sich daneben noch in VII.33, VIII.4/5 (,JDiversis Romanis per Italiam et Dalmatias constitutis“/“Diversis Gothis per Italiam constitutis“), XII. 1 und 10, XI.3 (,JDiversis episcopis“) und unterscheidet sich vom allgemeineren universi. Für die Annahme, daß es sich nicht um eine flächendeckende Institution handelte, spricht auch, daß bei den durchgängigen (traditionellen) Ämtern wie defensor, curator oder consularis nie diversus oder singuli beigestellt wird44. Den „ethni­ schen Dualismus“ des Ostgotenreiches, dessen Nennung in VII.3 als Hinweis auf einen gotischen comes gewertet wurde, erwähnt VII.26 nicht. Dafür fehlt die Platzhalterformel für die Amtsdauer genauso wenig wie die Anrede der Amts­ träger. Diese werden als „iudices“ bezeichnet, worin ihre primäre Aufgabe zu sehen ist. Im Unterschied zum CG bleibt ihre Kompetenz aber wohl auf die Stadt beschränkt, wie die Benachrichtigung der Stadteliten in VII.27 zeigt45. Diese 41 Martin 1995 S.197. 42Dahn 1866 (IV) S.159. - Frühe gotische comites etwa in Jordanes get. 190, 285f. oder An.Val. 52. 43Ähnlich King 1972 S.55f. zu den Westgoten: Er sieht im comes den besonderen Vertrau­ ten des Königs, der früher bloßer Gefolgsmann gewesen war. 44Für die Zeit vor den Ostgoten ist kein überzeugendes Beispiel für einen CC anzuführen, auch nicht in den großen Corpora oder der Not.Dign. 45 Nach Ausbüttel 1988 S.209 ergeht ein gleichzeitiges Schreiben an honorati, possessores

A. Germanische Ämter in der Regionalverwaltung

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deutet auf eine enge Zusammenarbeit mit den römischen Munizipalbehörden. Zum anderen muß die Bedeutung dieser comitiva geringer veranschlagt werden, sofern man aus der Reihenfolge der Urkunden Schlüsse ziehen darf. Tatsächlich sind, wie schon in SEITEN 36f. bemerkt, die ersten Formeln eindeutig nach ihrem (nominellen) Rang geordnet, vom Illustrat über Spektabilität zum Clarissimat. Auch in der Gesamtordnung ist eine gewisse Systematik zu entdecken: Die Instanzen werden von der zentralen Hofverwaltung über die Provinzial- und Regionalverwaltung zur Kommunalverwaltung abgehandelt. Daraus wäre übri­ gens ein weiterer Hinweis dafür zu gewinnen, daß der CG eher der Provinzialver­ waltung zugeordnet wurde, denn ihm wurde ein Platz zwischen comes provin­ ciae, praeses und dux Raetiarum eingeräumt. Alle diese Beobachtungen sprechen auch dafür, daß der comes von VII.26ff. Römer war. Er verfügte über ein eigenes officium, das zumindest so groß und selbständig gewesen sein muß, daß dessen principes eigens von der Neube­ setzung verständigt wurden (VII.28). Die Rangstufe secundi ordinis, welche die eher „zweitklassige“ Bedeutung des Amtes unterstreicht, signalisiert zugleich, daß wir es mit einem älteren Amt zu tun haben (s. SEITEN 36f.). Ähnlich verhält es sich vermutlich mit dem comes Neapolitanae civitatis (Varien VI.23). Dessen Einsetzungsurkunde betont die lange Tradition des Am­ tes, die wieder aufgegriffen wird. Seine Aufgaben werden wie folgt definiert: ,Jdeo enim tot emolumentorum commoda serimus, ut securitatem provincialium colligamus.“ Vielleicht erklärt sich die besondere Stellung in der Formelsamm­ lung mit der Bedeutung der Stadt: Sie übertraf fast alle anderen hinsichtlich der Menge ihrer Bürger, der Bedeutung ihres Hafens und der Erträge ihres fruchtba­ ren Hinterlandes46. Ausdrücklich wird die Aufsicht über die „litora usque ad praefinitum locum“ dem Amtsbereich zugerechnet. Aufhorchen läßt der Anfang: Es sei eine der besten Entscheidungen „der Alten“, daß „... diversarum civitatum decora f acies aptis amministrationibus videtur ornari, ut et conventus nobilium occursione celebri colligatur et causarum nodi iuris disceptione solvantur.“ Diese comitiva ist, trotz der Einbeziehung des Umlands wegen der Sonderstellung als Hafenstadt, aufgrund der engen Verbindung mit den städtischen Behörden also dem in VII.26 beschriebenen comes diversarum civitatum beizuordnen. Denn auch die folgenden Schreiben VI.24/25 sind, in enger Analogie zu VII.27/ 28, an die Stadteliten bzw. die principes officii gerichtet. Dadurch wird das Amt als ein kommunales gekennzeichnet. Comitiva diversarum civitatum und comiti­ va civitatis Neapolitanae werden als zivil charakterisiert, beide wurden somit vermutlich von Römern verwaltet. Außerhalb der Formelsammlung findet sich, wie wohl auch bei der comitiva diversarum civitatum, keine weitere Erwähnung eines comes von Neapel47. und curiales (wie Varien VII.25, VIII.26, III.34) wegen der Vollmachten, auch in Kompetenzen von römischen Stadtmagistraten und Provinzstatthalter einzugreifen. 46Der Hafen nahm eine Schlüsselstellung für die Versorgung Italiens ein: Nach Prokop BG 1.8-11 gab die Eroberung Neapels den Byzantinern den Schlüssel Roms in die Hand. 47Prokop BG 1.3.15 berichtet vom Kommandanten Neapels Uliaris 533/534 n.Chr. (vgl. BG III.5), der nach PLRE III S.1388f. comes von Neapel gewesen sein könnte; doch wahrscheinli-

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V. Die Regionalverwaltung

Es muß offen bleiben, wann die römische comitiva diversarum civitatum entstand. Daß das Alter der comitiva von Neapel so hervorgehoben wird, könnte darauf hindeuten, daß wir es mit einer spätrömischen Einrichtung zu tun haben. Die viel diskutierte Frage, ob gotischer und römischer Stadtcomes nebeneinander existierten, ist also vermutlich negativ zu beantworten. Anders etwa Seeck 1900, Schmidt 1921 und Claude 1984; dagegen suchte Stein 1925 S.382ff. den Plural „comitibus“ in Varien 1V.45 durch den Hinweis auf „defensoribus“ zu entkräften (überhaupt scheint der Plural bei Cassiodor nicht immer zwingend auf eine Mehrzahl des Bezeichneten schließen zu lassen; dies gilt es auch hinsichtlich Steins These zu den principes der comitiva diversarum civitatum zu beachten, zumal die Formel selbst von civitates spricht). Ähnlich argumentiert Ausbüttel 1988 S.206 gegen einen römischen comes neben dem CG in IV.45; zudem hält er ein officium mit princeps wie in VII.24-28 für mit einer „römischen Stadtverwaltung unvereinbar“; doch könnte die comitiva neue Standards gesetzt haben.

Bei der relativ guten Quellenlage für Italien fällt das völlige Fehlen eines Beleges für konkrete römische CC auf, so daß zumindest seine Bedeutung nicht sehr groß gewesen zu sein scheint. Denn die überkommene Provinzenverwaltung unter correctores und praesides funktionierte in Italien noch uneingeschränkt. Die Existenz dieses comes ganz zu leugnen, würde dem Umstand nicht gerecht, daß dem aus der imperialen Tradition nicht bekannten Amt in der Formelsammlung so viel Platz eingeräumt wurde. Doch eine flächendeckende Institution ist für Italien nicht anzunehmen.

c.) Der comes provinciae Varien VII. 1 beschreibt den comes provinciae. Ihm werden „amministrationes provinciarum“ anvertraut. Dabei fällt die Betonung seiner „Blutgerichtsbarkeit“ in den ersten drei Paragraphen des Ernennungsschreibens auf, wo sich Wendun­ gen wie „gladius (bellicus)“, „manus armata“ und ,ferrum cruentum“ häufen. Bedenkt man, daß die Varien den militärischen Bereich weitgehend ausklam­ mem, so wird der Charakter des comes provinciae deutlich: Er verwaltete eine Grenzprovinz, die noch nicht lange zum Reich gehörte (namentlich die von Odovaker eingenommenen Savia, Dalmatiae und Pannonia) und daher nicht der regulären Provinzverwaltung eingegliedert war. Er kam auch zivilen, meist rich­ terlichen Aufgaben nach, war aber prinzipiell Militärkommandeur48. Damit ka­ men - infolge der Monopolisierung aller Heeresämter bei den Goten - eigentlich nur Goten für das Amt in Frage. In alter Tradition und als Milderung einer rein gotischen Militärstatthalter­ schaft wurde jedoch zumindest in Dalmatien ein römisches officium unter princi­ pes beigeordnet, „ut secundum priscum consuetudinem qui tuis iussionibus obsecher war er, neben Bleda und Ruderich der wichtigste General Totilas, ein reiner Kriegskommandant (s.u. SEITE 237). 48So Mommsen 1910 S.443.

A. Germanische Ämter in der Regionalverwaltung

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cundant eos rationabili debeant antiquitate moderari“ (VII.25). In VII.24, der „Formula principis Dalmatiarum'“, wird diese die Gesetze bewahrende Aufgabe des princeps neben dem comes provinciae genauer ausgeführt: „Comiti quidem provinciarum potestas data est, sed tibi iudex ipse commissus esC. Der römische Bürochef sollte dafür sorgen, daß sich der Statthalter in einem vom römischen Recht abgesteckten Rahmen bewegte. Bei dieser wichtigen Kontrollfunktion nimmt es nicht wunder, wenn die principes vom Herrscher selbst ernannt wurden. Damit wird eine gegenläufige Tendenz erkennbar: Theoderich suchte die nach ihrer Eroberung noch unter dem Kommando eines Militärs befindlichen Regio­ nen zu „zivilisieren“, d.h. ihre Verwaltung den übrigen Provinzen anzugleichen und zunehmend einer Zivilverwaltung zu unterstellen49. Theoderich wollte die „römische Seite“ aufwerten und schuf zugleich eine weitere Kontrollinstanz der Zentrale. Der princeps officii brachte wohl auch die zur Verwaltung einer Provinz nötige Sachkenntnis mit. Von einer Konkurrenz zwischen princeps und comes ist dabei kaum auszugehen, da der Vorrang des letzteren zu deutlich gewesen sein dürfte. Der comes provinciae steht so in der Tradition der (in den Varien nicht genannten) comites rei militaris provinciarum50. Aus den Varien kennen wir mehrere solcher comites, die in den Grenzregionen des Reiches für Ruhe und Sicherheit zu sorgen hatten. Sie standen im Rang eines illustris und damit vor dem praeses in der Formelsammlung. Wie die CG übernahmen sie wohl auch fiskalische und jurisdiktionelle Aufgaben, waren jedoch keine zivilen Beamten51. Die comites provinciae verfügten neben dem officium auch über domestici, worunter nicht eigene Gefolgsleute zu verstehen sind, sondern staatlich bezahlte Subalterne (dazu SEITEN 128ff.). Ein derartiges Amt dürfte etwa der wohl gotische v.i. comes Pannoniae Sirmiensis Colosseus bekleidet haben; ähnlich der v.i. Oswin in Dalmatien5253 Das Amt war nach Cassiodors Darstellung römischer Herkunft und dürfte in ähnlicher Form seit dem Beginn des 5.Jh.s im Westen bekannt gewesen sein. Zu

49Die Funktion der principes betont, allerdings mit problematischer Verallgemeinerung für das gesamte Reich, Stüven 1995 S.50-53. Ähnlich schon Hodgkin 1886 S.334f. 50Wolfram 1990a S.363: „Der Provinzcomes war das, was unter der Kaiserherrschaft der Comes rei militaris gewesen war, nämlich General in einem Sondersprengel.“ Ähnliche Ämter sind aus der Spätantike bekannt: Die Not.Dign. kennt etwa comites Isauriae bzw. Arabiae·, kurzfristig wurden ab 330 aus militärischen Gründen Diözesen wie Africa, Britannia, Asia oder Macedonia von comites statt von vicarii verwaltet; einzig die comitiva Orientis bestand auf­ grund ihrer besonderen Situation lange Zeit, nahm zivilen Charakter an und später die Spitzen­ position der östlichen Diözesanverwaltung ein, vgl. Kuhoff 1983 S. 114f. und Migl 1994. 51 So auch Ausbüttel 1988 mit Stellen; vgl. Wirth 1986 c.70f.: „regionale Kommandanten“. 52Zu Colosseus identisch PLRE II S.305; s. Varien III.23 („ut Gothorum possis demonstra­ re iustitiam“; „armis protege, iure compone“) und 24: Die Kombination von gubernatio und defensio markiert eindeutig den Militärstatthalter, IV. 13; er hatte sich zuvor in einem anderen Amt bewährt. Zu Oswin s. 1.40, III.25/26, IV.9, IX.8/9, zweimalige Amtstätigkeit („iterum“); vgl. V.14, VII.24+25; IV.49 (Fridibad in Savia und Siscia 507/511, eventuell als comes)·, V.14, IX.13. 53 VII. 16, die „Formula de comite insulae Curitanae et Celsinae", begründet das besondere Amt ebenfalls mit der besonderen Abgeschiedenheit der Inseln.

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V. Die Regionalverwaltung

diesem Zeitpunkt machte die zunehmende Bedrohung des Reiches die reguläre Verwaltung der Grenzregionen unmöglich und legte die Leitung in die Hände des kommandierenden Generals. Aus dieser Machtanhäufung konnten ab der Mitte des 5.Jh.s quasi-unabhängige Herrschaften wie die des comes Marcellinus in Dalmatien oder des comes Paulus in Nordgallien entstehen. Unmittelbar nach den höherrangigen Provinzstatthaltern der römisch-zivilen Administration (consularis und rector provinciae) und noch vor dem comes provinciae rangieren in Cassiodors Formelsammlung zwei städtische comites. Die comitiva Syracusana in Varien VI.22 wird dabei gleich zweimal in Bezie­ hung zu ganz Sizilien gesetzt („... quod Siculi itineris tantas pati possit expen­ s a s „ n o n enim querela de Sicilia volumus venire...“). Die Bestallung eines möglichst selbständigen Richters wird mit der Ferne des Hofes in Norditalien begründet53. Dies trifft für die gesamte Provinz zu. Den comes charakterisiert sein Handeln „inter arma“ bzw. die „processio procinctualis,JLxercitu uteris pacato, nec pericula belli subis et armorum pompa decoraris“. Diese Beobach­ tungen legen die Vermutung nahe, daß wir es mit einem comes provinciae zu tun haben, dessen Funktionsbereich auf einen bestimmten Ort festgelegt und nach einer gewissen Zeitspanne zu einer eigenen Amtsgewalt geworden war. Glücklicherweise liegen mit Varien IX. 11 und 14 zwei Schreiben vor, die mit dem vir sublimis Gildila einen aktuellen comes Syracusanae civitatis zeigen. Während IX. 11 seine Vollmachten über ganz Sizilien belegt54, kennzeichnet ihn IX. 14, wo die Grenzen dieser Vollmachten wieder in Erinnerung gerufen werden, als comes provinciae: Gildila hat für die Befestigungen zu sorgen - eine militäri­ sche Aufgabe -, zugleich auch für stabile Preise und einen sicheren Schiffshan­ del; er hat die Gerichtshoheit und verfügt über einen Stab von saiones und exsecutores. In den bemerkenswerten Abschnitten 7 und 8 wird Gildila getadelt, weil er einen Prozeß zweier Römer gegen deren Willen vor seinem Gericht verhandelte, anstatt ihn den römischen „iudices ordinarii“ zu überlassen. Dies erinnert an die oben zitierten Anordnungen zur comitiva Gothorum. Tatsächlich folgt nun die schon bekannte Betrachtung über die Rollenverteilung von Römern und Goten. Man kann davon ausgehen, daß der comes civitatis Syracusanae, wie vielleicht die comites provinciae überhaupt, zugleich auch als CG für die in ihrem Gebiet siedelnden Goten fungierten. Dies bestätigt ausdrücklich Varien V.14.8, wo der comes provinciae Saviae als „comes Gothorum“ bezeichnet wird! Der comes von Syrakus war in Sizilien gleichzeitig Chef der Goten und ihrer Garni­ son, also CG und comes provinciae, der neben und über den iudices ordinarii die Regionalverwaltung leitete. Bei letzteren kann es sich kaum um Provinzstatthal­ ter handeln, die in der spätrömischen Gesetzgebung oft diesen Namen erhielten55: Dagegen spricht der Plural, zum anderen auch das Fehlen jedes Hinweises darauf, daß es auch in der Zeit der Ostgotenherrschaft noch einen sizilischen Statthalter gegeben hat. 54Ähnlich in IX. 14.1: „Provincialium Siculorum nobis est suggestione declaratum ...“. 55So wohl in Varien IX. 18, sicher in den Legaltexten von Brev.Al. II. 1.2, 8, 9, XI.6.1 und III. 11.1. Vgl. auch die burgundischen iudices ordinarii in L.Burg. pr.const. 6 s. SEITE 262.

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1847 stellte C.Hegel56 seine wirkungsvolle These auf, daß aufgrund dieser Parallelen von der Identität von Provinzcomes, CG und comes Syracusanae civitatis auszugehen sei; die comites in den Grenzprovinzen seien infolgedessen Gotengrafen. Seither wurden verschiedenste Identifizierungsversuche dieser Art unternommen. H.Wolfram versuchte die verschiedenen comites zu systematisie­ ren, indem er die comites von Neapel und Syrakus zu einer Variante des CG machte: „In denjenigen Civitates, in denen gotische Possessores kaum oder gar nicht siedelten und an deren Stelle mobile Einheiten lagen, konnte die Zuständig­ keit des comes Gothorum civitatis auf eine ganze Provinz ausgedehnt werden.“ Richtig daran ist, daß, wie gesehen, die comites provinciae in ihrem Sprengel Funktionen der CG, die dort infolge der geringen Zahl gotischer Siedler unnötig waren, übernahmen57. Aus dem bisher Dargelegten scheint aber hervorzugehen, daß solche Harmonisierungsversuche zwei Faktoren nicht genügend Rechnung tragen. Zum einen haben die Ämter ihre je eigene Geschichte, sie stammen aus verschiedenen Zeiten und waren te.'ls militärischer, teils ziviler Natur58. Zum anderen sollte die Darstellung Cassiodors nicht ganz unbeachtet bleiben. Es wür­ de bedeuten, zwei Formeln schlichtweg zu identifizieren, die auf unterschiedli­ chen Ebenen angesiedelt sind. In VI.22 oder bei den comites provinciae sind Anklänge an VII.3 zu finden, und tatsächlich dürften beide auch Teilkompeten­ zen eines CG besessen haben. Im vom Untergang bedrohten römischen Reich war die comitiva provinciae als eine Einrichtung entstanden, durch die in den be­ drohten Gebieten die Generäle auch zivile Aufgaben übernehmen konnten. Ein solches Amt konnten die Goten in der Nachfolge des römischen Militärs nahezu unverändert übernehmen. Auch Sizilien, einst im Herzen der Mittelmeerökume­ ne gelegen, war zum exponierten Grenzgebiet geworden, nachdem es von Odovaker erst nach zähen Verhandlungen und einigen Scharmützeln Jributario iure“ (Victor v.Vita 1.3) von den Vandalen zurückgewonnen werden konnte. So lag es nahe, mit einem comes in Sizilien einen Mann mit besonderem Vertrauens­ verhältnis zum König zu stationieren59. Bezüglich der Rechtsprechung galten für diese comites die allgemeinen, von Theoderich erlassenen Bestimmungen: Jedem gotischen comes - und nicht allein dem CG - war es verboten, einem Prozeß zweier Römer gegen deren Willen vorzusitzen. Nur der rechtmäßige, gewaltfreie Verlauf sowie die Ausführung des Urteils waren von ihm zu gewährleisten. 56Hegel 1847 S.l 12ff. S.l 14ff. identifizierte er VII.3 und IX.14 bzw. VII. 1 und VI.22. 57Wolfram 1990a S.291; ihm folgt Stüven 1995 S.8 und 47f. ohne Vorbehalt. Jones LRE S.256f. m.Anm.46 (III S.49) will die CG zu Provinzcomites machen; Stein 1925 S.383f. identi­ fizierte Varien VII.3 und VII.26, da er aus dem Plural der principes auf militärische und zivile Kompetenzen schloß. 58Die Formeln VII. 1 und VII.3 stellen Amtsträger des militärischen Bereichs vor, VI.23 und VII.26 solche des zivilen Sektors. Den comes von Syrakus kann es frühestens ab ca. 480 gegeben haben (s.u. diese SEITE). 59Vielleicht um nicht den Eindruck zu vermitteln, Sizilien sei Militär- oder Grenzgebiet das Programm der civilitas beinhaltete ja gerade die Verbindung von Frieden und Rechtssicher­ heit - bezog sich der Name auf die Hauptstadt und nicht, wie bei den anderen Grenzregionen, auf die ganze Provinz. Syrakus war unumstrittene Metropole der Insel, wie der Einzug Belisars zeigt: Prokop, BG 1.5; „dux“ Sinderith aus Jordanes get.60 könnte ein solcher comes gewesen sein.

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V. Die Regionalverwaltung

Die Schaffung comitaler Statthalterschaften läßt sich in statu nascendi anläß­ lich der Neuordnung Galliens nach 507 beobachten. Theoderich hatte zunächst seine Generäle (duces) ausgesandt. Nach den siegreichen Schlachten galt es, die neu gewonnenen Gebiete in die Reichsverwaltung zu integrieren. Zunächst soll­ ten duces wie Tuluin (VIII.9/10), Wandil (III.38) oder Ibbas (IV. 17) die Wie­ derherstellung der Verwaltungsstrukturen in den betroffenen Regionen gewähr­ leisten. Wie die militärische Verwaltung im ostgotischen Gallien genau aussah, wissen wir nicht, denn die Varien unterstreichen insbesondere die massiven Bemühungen um den Aufbau einer regulären römischen Zivilverwaltung. Die wenigen Schreiben an Militärkommandeure fordern lediglich dazu auf, das Heer zu disziplinieren und zu kontrollieren. So muß ungeklärt bleiben, wo der höchste gotische militärische Vertreter in Gallien seinen Sitz hatte (Arles?), ob er einen dem comes provinciae vergleichbaren Status hatte oder ob er zusammen mit einer Zivilbürokratie die zentralen Angelegenheiten leitete. Später erschienen aus ih­ ren Routineaufgaben abkommandierte „Verwaltungsspezialisten“ der Zentrale wie Unigis (SEITEN 160f.) oder Arigem (s.u. diese SEITE), bevor dann die traditionelle römische Verwaltung unter dem PPO Liberius und seinem vicarius Gemellus wieder hergestellt werden konnte. Ähnlich gestalteten sich die Verhält­ nisse in Spanien, wo zunächst der kommandierende General Ibbas die Verwal­ tung regelte, bevor auch hier wohl zumindest zeitweise die gallische Präfektur die Verantwortung übernahm. Ein Grundgedanke theodericianischer Politik wird deutlich - der an Prinzipi­ en kaiserlicher Politik erinnert: Soweit möglich wurden vorliegende Institutionen beibehalten, ihre impliziten Möglichkeiten genutzt und den eigenen Bedürfnissen angepaßt. Dabei wurde unbedenklich mit neuen Vorstellungen gefüllt, was ursprünglich an anderen Zielen ausgerichtet war. Diese Spannung prägt auch die Divergenz zwischen der Formelsammlung und den übrigen Büchern der Varien.

d.) Comites als feste Sonderbeauftragte an Brennpunkten des Reiches Laut Varien IV. 16 hatte der besonders im Umgang mit Romanen erfahrene Spitzenbeamte comes Arigern („maturitate eius consilii“, prudens rector“) sei­ nen Dienst in Rom unterbrochen, um im eben eroberten Gallien die neue Admini­ stration in Gallien zu stabilisieren. Arigem erscheint sowohl in den Acta Synhodorum60 als auch in den Varien als comes vir illustris. Letztere zeigen ihn als Sonderbeauftragten des Königs in Rom, dessen Macht sogar die des Senats und des praefectus urbi (PU) übertraf61: Aus IV. 16 von 511, wo dem Senat die Wiedereinsetzung Arigerns als comes in Rom mitgeteilt wird, wird ersichtlich,

60Mit der SEITE 153 genannten Ausnahme, die sich als Beschreibung seiner aktuellen Qualität erklären ließe; gut dazu Mommsen 1910 S.455: Gegenüber Romanen wurde das comesAmt bevorzugt, doch Arigem war auch MD. Zu ihm vgl. auch Wirbelauer 1993 S.30-33. 61 Ausbüttel 1988 S.208 spricht von einer „Ausnahme“. Der PU ist mit Varien XII.19, VI.15, IX.7, IV. 41+42,1.37,11.24 gut belegt, vgl. die Fasten Schäfer 1991 S.304.

A. Germanische Ämter in der Regionalverwaltung

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daß er schon zuvor längere Zeit in Rom weilte und mit dem Senat zu tun hatte62. Daher dürfte er schon 502 Sonderbeauftragter Theoderichs in Rom gewesen und den eigens aus Ravenna hergesandten MD als Unterstützung zugeordnet worden sein. Dies würde auch den Umstand erklären, daß er in den Acta Synh. stets gesondert von Gudila und Bedeulf aufgeführt wird. In Rom hatte er für Ruhe und Ordnung gerade in heiklen Angelegenheiten zu sorgen63. Varien IV.23 beschrei­ ben die Stellung Arigems: „... quae nostra tibi auctoritate delegata cognoscis, ut circa te augeat gratiam et augmenta sumas nostri iudicii...“. Arigem war dem König direkt unterstellt, d.h. er erhielt seine Vorschriften nur von ihm und war von dessen Gunst abhängig64. Die Bedeutung der Stadt, u.a. als Sitz des Senats und mancher Teile der Verwaltung, war noch immer hoch. Daher empfahl es sich für den Hof, einen dauernden Vertreter vor Ort zu haben, der die Vorgänge beobachten und notfalls auch ausgleichend steuern konnte. Der comes verfügte über höhere Kompetenzen als der PU. Vor Arigem hielt sich schon der comes Teja vermutlich mit einem ähnlichen Auftrag in Rom auf65. Arigems Karriere begann, vielleicht im Unterschied zu den comites provinciarum oder auch den Statthaltern in Spanien oder Südgallien, wohl nicht im Heer, sondern am Hof. Er war ja, wie gesehen, auch MD gewesen. Seine Mission gleicht mehr einer ständigen Vertretung des Königshofes als einer Kommandantur - obgleich er auch die gotischen Truppen um Rom befehligt haben könnte. Schon bei den spätrömischen comites aus dem Kaisergefolge zeigte sich die Tendenz, daß sich über die Fixierung kommissarischer Beauftragungen oder Ressortüberwachungen regelrechte Ämter bildeten. Comes Liwerit, vir sublimis, erscheint neben dem v.i. Ampelius als Adressat der beiden Schreiben Varien V.35 und 39 (zwischen 523 und 526 n.Chr.)66. Diese enthalten Anweisungen zur Ordnung Spaniens, das Theoderich seit 511 für seinen Enkel Amalarich verwaltete - und das nur in diesen Schreiben in den 62Z.B. „Cives paene vester", „vobis longa aetate placuit", „quod inter vos didicit“ Vielleicht war er damals, so scheinen die Formulierungen des Schreibens anzudeuten, sogar römischer Bürger und Mitglied des Senats (wie Tuluin, NOTE 36 SEITE 132). Datierung nach Krautschick 1983 S.68. 63Vgl. die Häufung von Worten wie „disciplina", „ordo", „quies"·, in IV.23 heißt es: „commissa tibi disciplina Romanae civitatis". Er muß u.a. den Streit zwischen der Römischen Kirche und der „super stitio Samarea" um alte Besitztitel schlichten (III.45, von 510) sowie die rechtmäßige Durchführung des Prozesses gegen zwei der Magie angeklagte Adelige gewähr­ leisten (IV.22/23). 64Seine Berichte gehen direkt an den König: „Viri illustris itaque comitis Arigerni sugge­ stione comperimus ..." (IV.43). Vgl. auch Varien III.36 und IV.22. 65Epistula Theodoriciana 2, S.389 in Mommsens Varienausgabe (zwischen 492 und 496 n.Chr.). 66Ampelius erscheint nach Mommsens Index S.488 auch in einem Brief des Papstes Johannes II. von 534 gegen Häretiker, der an viri illustres ac magnifici gerichtet ist, die fast ausnahmslos als wichtige Funktionäre des Ostgotenreichs bekannt sind; vgl. den Ampelius v.sp. in Varien 11.23. - Liwerit war aufgrund seines come.v-Titels und der Anrede „vestra sublimitas", die für viri illustres und sublimes gelten konnte, vir sublimis und nicht, wie im Varien-Index vermutet, spectabilis.

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V. Die Regionalverwaltung

Varien thematisiert wird. Die Verwaltung wurde anfangs vermutlich kommissa­ risch durch den General und Statthalter Ibbas, später von Theudis geleitet. Wie Unigis war auch Theudis zuvor Theoderichs Schwertträger gewesen (SEITEN 160f.). Dabei ist nicht klar, ob Theudis vor bzw. nach Liwerit im Amt war, oder ob Theoderich mit Liwerit und Ampelius neben Theudis, der zum eigenständigen Machtfaktor geworden war, zwei loyale Männer nach Spanien schickte. Im letzteren Fall wäre Liwerit ein Sonderkommissar mit zeitlich eng begrenztem Mandat und umfassenden Möglichkeiten gewesen. Dies würde auch erklären, warum es keinen Hinweis auf eine Verbindung Liwerits zum Heer gab. Zur Erklärung der Situation in Spanien folgt hier ein knapper Exkurs: Theoderichs Stellung im Westgotenreich war offiziell die eines Vormundes des Königs, doch de facto agierte er unum­ stritten und galt in späteren Königslisten auch als König der Westgoten67. Nach Prokop 1.12.47 hatte Theoderich den westgotischen Königshort nach Ravenna gebracht, dort aber besonders aufbewahrt (s. Varien V.39); 526 wurde er wieder zurückgesandt. Spanien gehörte wohl zur gallischen Präfektur unter Liberius (SEITEN 275ff.). Theoderichs Nachfolgepläne mit dem westgotischen Amaler Eutharich können als Versuch interpretiert werden, die Reiche zu ver­ einigen. Zu einer zeitweiligen Verflechtung kam es nicht nur durch die gemeinsamen Truppen68. Und nach dem Scheitern der von Amalarich auf Emanzipation von den Ostgoten gerichteten Frankenpolitik69 setzte sich im Westgotenreich eine „ostgotische“ Fraktion durch, an deren Spitze Theoderichs ehemaliger Schwertträger und Statthalter Theudis stand. Dieser war mit einer reichen Romanin verheiratet, was ihm ein eigenes Gefolge von 2000 Mann und wichtige Verbindungen zum senatorischen Adel70 sicherte. Theudis orientierte sich an Theoderich, nicht nur außenpolitisch im Kampf gegen Franken (allerdings leistete er den Ostgoten erst ab 547 geringe Hilfe, den Vandalen überhaupt nicht), sondern insbesondere im Hinblick auf die Ver­ waltung: Das Wiederaufleben der konziliaren Aktivitäten unter Theoderich setzte sich unter Theudis fort; Theudis setzte sich also wohl wie der große Amaler für den Ausgleich mit den katholischen Romanen ein71; Theoderich reorganisierte in größerem Umfang die zentrale Fiskal­ administration mit patrimonium u.ä. (wie gerade in Varien V.39 deutlich wird); und als Flavius rex führte Theudis einen imperialen, nichtgentilen, eben den ostgotischen Titel; er erließ zudem ein Prozeßkostengesetz mit territorialer Geltung72. 67 So in Chr.Caes. „Post Alaricum Theodoricus Italiae rex Gotthos regit in Hispania“ für 15 Jahre (ab 511), ,Amalarici parvuli tutelam gerens“, ähnlich der Laterculus regum Vis.: Theudericus 15 J., „iste ab Italia veniens non tam suo ordine regnum in Spania tenuit, quam tutelam agens Amalarici nepotis per consortium“. S. auch in den Konzilsakten bei Vives 1963. 68Prokop BG 1.12: „Seit seiner (sc. Theoderichs) Zeit gewöhnten sich Goten und Westgo­ ten, die ja von demselben Mann beherrscht wurden und dasselbe Land bewohnten, daran, sich durch Heiraten ihrer Kinder zu verschwägern.“ Die Völker entwickelten sich dann aber wieder auseinander, Prokop BG I. 13.7: Einigung zwischen Amalarich und Athalarich über die Rhone­ grenze und das Ende der Tribute, der westgotische Reichsschatz wurde zurückgegeben, dazu Entflechtung: Jede(r) soll sich für das Reich der Wahl entscheiden. 69Dazu Garcia Moreno 1986 S.290f.: Theudis’ Erfolge gegenüber Theoderich offenbaren Schwierigkeiten der Ostgoten in Spanien; Amalarich forcierte, wohl gegen Theudis, die Aus­ richtung nach Gallien und residierte zumindest zeitweise in Narbonne; sein Tod wurde offen­ sichtlich vom westgotischen Heer gebilligt. 70Dazu vgl. Stroheker 1965 S.79; Garcia Moreno 1986 S.296; Wolfram 1990a S.467 Anm.28. 71 Nach Agde 506 sind bis 548 sechs Provinzialsynoden überliefert (nach einer die schwere Reichskrise offenbarenden Unterbrechung gab es ab 589 wieder 14 datierte Konzilien). Vgl. Schäferdiek 1967 S.87ff.; Schwöbei 1982; Orlandis/Ramos Lisson 1981 S.52ff. 72Zum Titel Garcia Moreno 1986 S.294 und SEITEN 90f.; zur Fiskaladministration ders. 1986 S.289.

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Goten wie Ibbas oder Theudis sicherten die Verbindung zum Heer und beaufsichtigten vielleicht auch die königlichen Domänen73. Prokop BG 1.12 berichtet dazu: „Indem er (Theoderich) stets Befehlshaber und Truppen in Gallien und Spanien hielt, sorgte er dafür, seine Macht auch für die Zukunft zu sichern. Die Obersten, die er dort hatte, mußten den Tribut an ihn abführen. Er ließ ihn sich jedes Jahr zahlen; um aber auch den Schein des Geizes abzuwenden, machte er damit dem Heer der Goten und Westgoten ein Jahresgeschenk.“

Liwerit und Ampelius werden in Varien V.35 angehalten, die viri strenui Catellus und Servandus bei der Eintreibung einer Geldstrafe für iberische Schiffs­ herren, die in die eigene Tasche gewirtschaftet hatten, zu unterstützen. Catellus und Servandus, die durch ihre Namen als Romanen identifiziert und wohl als comitiaci eingeordnet werden können, sollten wenigstens den Gewinn für den Fiskus einfordem. Varien V.39 enthält ein umfassendes Programm insbesondere zur Reorganisation der Finanzverwaltung Spaniens, woraus die allgemeine Zustän­ digkeit von Liwerit und Ampelius hervorgeht74. In diesem Zusammenhang ist zu bemerken, daß die Kombination von römi­ schen und germanischen Amts trägem gerade bei außerordentlichen Aufträgen (die dann auch zu festen Posten „gefrieren“ konnten) in den Nachfolgereichen nicht selten zu beobachten ist. Sie begegnet mehrfach bei saiones und comitiaci, die in komplizierten Fällen vom ravennatischen Hof gemeinsam abgeordnet wurden (s. TEIL IV.C.5.C); ähnlich auch im burgundischen Reich (s. SEITEN 245ff.; L.Burg. pr.const. 5; 9; 11; 13). Neben den direkten praktischen Vorteilen hinsichtlich Verständigung und Zugehörigkeit können dabei auch rechtlichnormative Vorstellungen eine Rolle gespielt haben: Es war nicht ohne Belang, zu wissen, wie der Vertreter des Reiches reagierte oder argumentierte bzw. welcher ethnischen Herkunft der betreffende Amtsträger war. So stellte die Koppelung von romanischen und germanischen Funktionären wohl auch ein wichtiges In­ strument dar, bei allen Teilen der Bevölkerung Anerkennung zu finden.

2. Die innergentile Verwaltung a. Die millenarii Unterhalb der Ebene der comites gab es in der Verwaltung der germanischen Verbände der Völkerwanderungsreiche weitere Beauftragte der Könige. Der wichtigste dürfte der millenarius, der Tausendschaftsführer, gewesen sein. Der millenarius scheint, zumindest solange die militärische Struktur als Krie­ gerverband von Bedeutung blieb, die entscheidende Rolle in der innervandalischen Organisation eingenommen zu haben. Als vermutlich vermehrt Mauren für die kampfesmüden Vandalen in den Krieg zogen, dürfte die Bedeutung des 73So Garcia Moreno 1988 S.288. 74Häufige Beschwerden, so der zweite Artikel, beklagten Unsicherheit und Morde sowie auch Übergriffe im Steuerwesen (s. TEIL V.B.5) „in provincia Hispaniae“ . Dagegen sollten die beiden sublimes „per universam Hispaniam“ die neue Ordnung durchsetzen: Mord etwa soll eine gesetzliche Strafe finden.

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V. Die Regionalverwaltung

millenarius abgenommen haben. Doch in der letzten großen Schlacht der Vanda­ len standen, neben den maurischen Truppen, an der Spitze der maßgeblichen Einheiten noch immer χιλίαρχοι. Andere Strukturen der innervandalischen Ver­ waltung sind kaum erkennbar. Vermutlich war diese auch nicht besonders inten­ siv, da die Vandalen steuerfrei und nur dienstpflichtig waren75. Wohl aus diesem Grund ist auch kein Rechtscodex, keine lex Vandalorum o.ä. überliefert; es kann nur vermutet werden, daß die Vandalen teils nach altem germanischem Gewohn­ heitsrecht (z.B. Familienrecht), teils nach römischem Recht (z.B. Eigentums­ recht) lebten (SEITE 113). Der millenarius ist der einzige aus diesem Bereich bekannte Amtsträger. Die Dürftigkeit der Quellen ist hier besonders bedauerlich, wo man anders als bei den römischen Strukturen nicht einmal versuchen kann, aus früheren Verhältnissen vorsichtig auf die Gegenwart zu schließen. Prokop BV 1.5.18 berichtet zum Einmarsch der Vandalen, daß Geiserich die „Vandalen und Alanen“ in Tausendschaften eingeteilt und an ihre Spitze 80 Oberste, genannt χιλίαρχοι, gesetzt habe. Als Anführer einer Marscheinheit hatten sie organisatorisch-logistische Aufgaben zu bewältigen76. - Und als Offiziere fungierten sie noch in der Schlacht von Trikamarum i.J. 533, ganz am Ende des Vandalenreiches: „Bei den Vandalen standen auf jedem Flügel die Chiliarchen, jeder von seiner Tausendschaft umge­ ben“, während in der Mitte Zazon und hinten die Mauren standen, so berichtet Prokop BV II.3.8 (Übers. D.Coste). Die Chiliarchen können wir mit den millena­ rii identifizieren, da erstens die Bedeutung des Titels identisch ist, zweitens eine Identifikation nach beiden Seiten sinnvolle Erklärungen liefern kann; auch Isidor etym. IX.3.30 identifiziert χιλίαρχος und millenarius (NOTE 87 SEITE 229). Victor HP I.30ff. handelt von einem ,/nillenarius W a n d a lu s Einer „de illis quos millenarios vocant“ besaß mindestens 5 Sklaven, darunter einen armifactor und eine Haushälterin; er verfügte über persönliche Beziehungen zu Geiserich, der ihm im Konfliktfall die volle Strafgewalt über seine Sklaven zusprach; später vererbte der millenarius seinen Besitz an den „cognatus regis (sc. Geiserici)“ Sersaon77. Geht man davon aus, daß es im Vandalenreich vermutlich nie mehr als 100 millenarii gab (s.o. und SEITE 54 mit NOTE 55), so ist es leicht vorstellbar, daß solche Anführer in einer direkten Beziehung zu König und Hof standen. Sie waren Königsmänner. Dazu paßt auch der ansehnliche Besitz mit großem Haus und etlichen Sklaven. Die endgültige Einordnung und Beurteilung des millenari75So Courtois 1955 S.256. Zur Steuerfreiheit s. Prokop BV 1.5; vgl. Victor HP 1.22 über Tribute bestimmter Regionen an den Königshof. 76Vgl. dazu Courtois 1955 S.215-217, der davon ausgeht, daß Victors geringere Zahlen (50.000) richtig sind, Prokop dagegen die millenarii fälschlicherweise als Anführer von ca. 1000 Kriegern verstanden hatte, s. SEITE 54 NOTE 55. 77PLRE II s.v. Sersaon hält rein hypothetisch eine Identifizierung mit dem in Sidonius carm. V.435-439 („clamant hoc vulnera primi/ praedonum tum forte ducis, cui regis avari/ narratur sumpsisse soror“) erwähnten, namentlich nicht genannten Schwager Geiserichs für möglich. Dieser wurde i.J. 458 bei einem hauptsächlich von maurischen Soldaten getragenen Überfall auf Campanien geschlagen. Der Name ist nach Schönfeld 1911 s.v. vermutlich nicht germanisch; die Analogie zum Berberfürsten Kebaon von Tripolitanien könnte eine maurische Herkunft zumindest des Namens nahelegen.

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us für das Vandalenreich bleibt in der Forschung zwar umstritten. Doch die Zuordnung zur Regionalverwaltung der Vandalen fand eine breite Zustimmung. Der millenarius war nach vorsichtiger Einschätzung mehr als ein bloßer Kom­ mandant, wenn er bereits auf der Wanderung für die Organisation von ungefähr 1000 Menschen zuständig war78. Schwer- und Ausgangspunkt der Funktionen des millenarius war die militärische Befehlsgewalt über eine (offenbar nach numerischen Gesichtspunkten gegliederte) Einheit des Heeres. Darüber hinaus und davon abgeleitet erwuchsen ihm organisatorische Aufgaben während des Marsches des gentilen Verbandes; so möglicherweise die administrative und judikative Aufsicht über die Leute seines Verbandes nach der Ansiedlung79. In jedem Fall bildeten die millenarii den einzigen bekannten Offiziersrang des vandalischen Heeres, als Unteranführer unter den hasdingischen Heerführern. Und die Vandalen blieben zumindest im Mobilisierungsfall in Tausendschaften ge­ gliedert. Mit einer solchen Deutung des millenarius stimmen auch die ost- und west­ gotischen Zeugnisse überein. Für die Ostgoten findet sich als einziger, dazu nicht unumstrittener80 Beleg Varien V.27: Ein königlicher saio sollte mit Hilfe eines millenarius eine Einheit gotischer Soldaten zum Hof geleiten, wo sie ihr Donativ entgegennehmen durften. Der millenarius erscheint als der örtliche Verantwortli­ che der gotischen Einheit, sei diese nun eine Garnison oder, wahrscheinlicher, ein Teil des schon angesiedelten Verbandes. Für die ostgotischen Verhältnisse kön­ nen vielleicht noch zwei Übersetzungen aus Cassiodors „Historia Tripartita“ herangezogen werden: VI.35.1 und VII. 1.2 übersetzen χιλίαρχος der Vorlage mit ,/nillenarius“. W.Goffart leitet die Amtsbezeichnung von millena ab, was ein Stück Land im Wert von 1000 Denaren oder aber eine entsprechende Steuerein­ heit (so in Nov.Val.5.4; Nov.Mai.7.16; Cass.Var.2.37; Nov.Just.7.26) bezeich­ net. Er sieht also im millenarius den Inhaber einer auf einer bestimmten landwirtschaftlichen Fläche beruhenden Steuereinheit und sucht seine Deutung mit einigen Detailproblemen des Varienbriefes zu stützen. Diese Ableitung ist aber weder zwingend noch verträgt sie sich mit dem Kontext. So weist D.Claude auf Cassiodors Sprachgebrauch81 und vor allem auf die vandalischen und westgo­ tischen Parallelen hin. Es handelt sich dabei um einen, nicht um zwei verschiede­ ne Amtsträger mit demselben Namen. 78Claude 1988a S.19 deutet ihn als militärischen Befehlshaber mit zivilen Kompetenzen; ähnlich Courtois 1955 S.216f.; wenn Schmidt 1942 S.169, 178 auch von administrativen oder fiskalischen Kompetenzen im Bezirk ausgeht, fehlt dafür „die quellenmäßige Grundlage“ (Clau­ de ibid.). 79Daß auf diesem Wege der König seine Befehle an seine Vandalen vermittelte, läßt sich allenfalls vermuten, vgl. Victor HP III.31: „ex iussu regis sui etiam Wandali ipsi in suos homines poenas exercerent“. Sind unter sui homines Sklaven oder untergebene Vandalen zu verstehen? 80Zuletzt insbesondere Goffart (im Anschluß an Mommsen) 1980 S.79-88 und 1988 S.7981, Claude 1988a und 1988b. 81 Vgl. auch Anecdota Helvetica, Commentum Einsidlense in Donati artem minorem (aus dem lO.Jh.), S.215 Zeile 9f.: ,Modo millenarius dicitur tribunus, qui mille viris praeest.“ So geht auch der TLL s.v. millenarius für die germanischen Reiche von einem Tausendschaftsführer aus, zumal es sich um Amtsträger zu handeln scheint.

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V. Die Regionalverwaltung

Alle westgotischen Belege weisen auf primär militärische, daneben auch judikative Kompetenzen hin. Bei den Westgoten hatte sich das dezimale Gliede­ rungsprinzip des Kriegerverbandes, das bei den Ostgoten nur einmal zu erkennen ist, deutlicher bewahrt. Die dezimale Einteilung des Heeresverbandes hatte sich wohl in der Wanderzeit entwickelt. U.Müller suchte wahrscheinlich zu machen, daß sie bei Ost- und Westgoten sowie den Vandalen über den Kontakt mit Steppe und Reitemomaden heimisch wurde82. Dafür spricht auch, daß sie bei den West­ germanen oder auch den Burgundern, die alle keine längeren Wanderungen absolviert und nur geringe Kontakte mit den Steppenvölkem gehabt hatten, fehlte83. Dieses System gliedert numerisch, also nicht tribal, nach Sippen oder regional. Mit seinen Vorteilen insbesondere in logistisch-militärischer Hinsicht ist es typisch für mobile Verbände. Vielleicht wirkte auch das Vorbild der zunehmend dezimal strukturierten spätrömischen Heeresorganisation ein84. Das westgotische Heer wurde über die dezimalen Ordnungseinheiten von 1000, 500, 100 sowie 10 Mann mobilisiert; IX.2.1 kennt die Staffelung thiuphadus - quingentenarius - centenarius - decanus. Die Basiseinheit scheint dabei die Hundertschaft gewesen zu sein. Später verschwand die dezimale Gliederung allmählich. Zunächst verlor sich, weil die Einheiten immer kleiner wurden, der quingentenarius, der lediglich in den Antiquae IX.2.1 und 4 sowie dem Richter­ katalog in Rekkeswinths II. 1.27 erwähnt wird; später der decanus, schließlich der centenarius85. Die späten Gesetze L.Vis. IX.2.8+9 kennen nur noch den thiuphadus\ der scheint zu einem Unteroffizier herabgesunken zu sein, der sogar Prügel beziehen konnte. Vielleicht steht dieser Abstieg in Korrelation mit der zuneh­ menden Bedeutung von Kontingenten, die durch mächtige Große gestellt wur­ den: Trat aristokratische Eigenkraft an die Stelle des „Amtsrechts“? E.Oldenburg wollte jedenfalls thiuphadus bzw. millenarius als die Offiziere des ursprüngli­ chen „Volksaufgebots“ interpretieren. An die Stelle der zahlenmäßigen Eintei­ lung trat seiner Ansicht nach nun eine regionale Gliederung unter dux und comes. Ob der „Erfolg des territorialen Prinzips“ diesen Verlauf nahm, ist ungewiß. 82U.Müller 1993 S.54ff.; ebenso Wenskus 1961 S.442-444. Sie verweisen u.a. darauf, daß eventuell die gotischen Worte für 100 und 1000 dem Iranischen entstammten; ihnen folgt etwa Claude 1971b S.182. - Hier sei an die Diskussion um die „germanische Tausendschaft“ erinnert, etwa Rietschel 1906 und Schwerin 1927; Schmidt 1969 S.55f. ging vom Dezimalsystem als neuer Grundeinteilung nach dem Zerfall der Sippe aus. Zur Diskussion U.Müller ibid. 83Jahn 1874 S.94f. ging ohne jeden Beleg von einer burgundischen centena aus. Die Bezeichnungen für Gefolgsleute und Freie bei Franken, Alemannen und Bajuwaren lassen eine eher agrarische Prägung erkennen, v.Olberg 1983 S.266ff. 84Garcia Moreno 1974a: Das Dezimalsystem stammte eher von spätrömischer Heeres­ organisation (ähnlich schon Oldenburg 1909 S.17), die Stärke der spätantiken Legion hatte sich auf ca. 1000 Mann reduziert, vgl. MacMullen 1980. Die Legionen standen unter tribuni, die in griechischen Quellen auch als „χιλίαρχοι “ übersetzt werden konnten, vgl. Garcia Moreno 1977 S.70f. mit Stellen. 85Oldenburg 1909 S.37ff. Wichtig hierzu King 1972 S.72ff. Noch Isidor etym. IX.3.30ff. kennt millenarius, quinquagenarius, centenarius und decanus, doch ist die antiquarische Ausrich­ tung nicht zu übersehen; vgl. auch etym. IX.3.32 (miles von millel), c.48, c.52. Zum centenarius vgl. Southem/Dixon 1996 S.62 mit Stellen und Murray 1988 insbesondere zum fränkischen centenarius.

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Denn von Anfang des Westgotenreichs an hatten comites und duces die selb­ ständigen Kommandos angeführt, die „Fähnlein“führer befehligten lediglich Untereinheiten. Umstritten ist das Verhältnis von millenarius und thiuphadus. Während D.Claude 1971b für zwei verschiedene Amtsträger plädiert, gehen H.-J.Diesner 1977 und H.Wolfram 1990a S.222f. m. Anm.82-93 S.455f. davon aus, daß die gotische Benennung den lateinischen Terminus ablöste. Liegen hier nur verschiedene Bezeichnungen für ein Amt vor, oder wurden zwei unterschiedliche Ämter später identifiziert, oder handelt es sich um stets unterschiedene Ämter? Etymologisch ist das Problem kaum zu lösen, wenn auch eine Identifizierung nicht unmöglich scheint86. Nebeneinander werden millenarius und thiuphadus nur im Sonderfall L.Vis. II. 1.27, Rekkeswinths später Richterliste, angeführt, und zwar der millenarius unmittelbar hinter dem thiupha­ dus. Gerade das direkte Nebeneinander deutet auf die Nähe der Ämter. Garcia Moreno 1974a S.151 erklärt diese Beamtenliste überzeugend als einen Interpretationsschlüssel für die Gesetze vor Chindaswinth (ähnlich schon für Oldenburg 1909 S.25 und Claude 1971b S.183). Neben der einzigen späteren Erwähnung des quingentenarius (s.o.) enthält sie zugleich die einzige Nen­ nung des millenarius in den L.Vis. Ihn gab es vermutlich um die Mitte des 7.Jh.s nicht mehr: So führt L.Vis. IV.2.14, Leovigilds Nachfolgegesetz zu C.Eur. 322, nur noch „CC vel iudex“ auf. Hinsichtlich der Funktionen ist kein grundlegender Unterschied auszumachen. Der millenari­ us tritt in C.Eur. 322 als Richter neben oder eher unter dem CC auf: Wenn eine Witwe den Nießbrauchanteil verpraßte, konnten ihre Söhne „ad millenarium vel ad comitem aut iudicem“ klagen. Vielleicht handelte es sich um einen Richter speziell für Soldaten. Denn eine militäri­ sche Wurzel machen sowohl die Amtsbezeichnung als auch die späteren Zeugnisse wahrschein­ lich87. Der thiuphadus wird erstmals genannt in den Antiquae IX.2.1-5, die teilweise wahr­ scheinlich noch aus der Zeit Eurichs bzw. Alarichs II. datieren. Dies stellt allerdings noch nicht sicher, ob auch der Begriff thiuphadus ursprünglich ist, er könnte auch erst durch Leovigild in die Gesetze hineinkorrigiert worden sein. In diesem Fall wäre der „gotische Chic“ sekundär: Der Wandel von römischen zu germanischen Bezeichnungen könnte sich wie bei der späten Amtsbe­ zeichnung gardingus aus einer zunehmenden Attraktivität archaisierender germanischer Titel erklären. Womöglich galten diese, als das Westgotische verschwand, als prestigereicher, vor­ nehmer, eventuell auch präziser für technische Bezeichnungen (Wolfram 1990a S.223 m.Anm.93 S.456 und S.244). Der thiuphadus erscheint als Offizier, der insbesondere für die Mobilisierung und Versorgung seiner Tausendschaft verantwortlich war. D.Claude betont, daß der thiuphadus bis Chindaswinth (Mitte des 7.Jh.s) nur als Offizier erwähnt wird, erst dann auch als Richter88. So scheint es insgesamt sinnvoll, die Identität von millenarius und thiuphadus anzunehmen. Die von D.Claude betonten Differenzen können historisiert werden; so könnte der thiuphadus des 86 Zumeist wird thiuphadus als „Herr der Knechte“ gedeutet (wobei ein Rückschluß auf die Sozialsituation als unzulässig gilt); die alternative etymologische Ableitung von thusundifadus, „Anführer der Tausend“, gilt aus sprachwissenschaftlichen Gründen als schwächer, so (aller­ dings nicht vollständig überzeugend) Claude 1971b, Wolfram 1990 S.222 m.Anm.90 S.455. 87So argumentiert auch Garcia Moreno 1974a S.77f. Vgl. Isidor etym. IX.3.30ff.: „Chi­ liarchae suntt qui mille praesunt, quos nos millenarios nuncupamus; et est Graecum nomen. Centuriones dicti, eo quod centum praesint militibus; sicut quinquagenarii^ quia in capite sunt quinquaginta militum; sicut decanit ab eo quod decem militibus praeferuntur.“ - Ep. Sisebuti, de libro rotarum v.4f.: „millenus miles“ für Tausendschaftssoldat. Beide Quellen datieren um 630/620. Differenziertere Bestimmungen, etwa als „mittlerer Würdenträger mit richterlichen und administrativen Kompetenzen“ (Diesner 1977 S.55), bleiben spekulativ. 88Claude 1971b. Vgl. L.Vis. II.1.16, 24, 27, 6; IV.5.6: Gerichtsbarkeit bei ducest comitest thiuphadus, vicarii usw., auch Polizeiaufsicht; IX. 1.21 (Egika): thiuphadi als Richter vor den vicarii, unter dem comes. Doch weiterhin fungierten sie auch als militärische Beamte, s. IX.2.8L

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7.Jh.s einen Abstieg hinter sich haben, der etwa im Zusammenhang mit der Aufhebung der religiös-ethnischen Differenz durch Rekkared bzw. der Neuordnung Chindaswinths gestanden haben könnte.

Sicher ist, daß seit Leovigild der rein gotische Militärrichter verschwand. Die Gleichstellung von Römern und Goten machte ihn überflüssig89. Im Westgotenreich wurden Nachschub und Versorgung des Heeres vom CC und einem annonarius organisiert. L.Vis. IX.2.6 spricht von ,jjuicumque per singu­ las civitates vel castella erogator annonae constitutus f u e r i t diese werden als „CC vel annonae dispensator“ definiert, später wird zweimal ein ,annonarius“ genannt, was wohl als terminus technicus anzusehen ist; „erogator annonae“ meint allgemein den Verwalter der Versorgung. Bei Problemen hatte man sich an den „comes exercitus sui“, der auch „praepositus hostis“ genannt wird90, zu wenden, der Meldung beim König machen konnte. Dadurch wurde Druck auf den CC bzw. den annonarius ausgeübt, die bei Unterschlagungen vierfachen Ersatz aus eigener Tasche an die Truppe zu leisten hatten. Ähnliche Regelungen galten auch für die thiufa, d.h. die Feldtruppe. Dabei verfügte der comes exercitus wohl nicht über zivile Kompetenzen, da er sich an den König wenden mußte. P.D.King fragte, ob daraus die Trennung von militärischem und zivilem Bereich zu schlie­ ßen sei91. Doch erstens griffen die CC auch in militärische Bereiche ein (s.o.). Zum anderen liegt in IX.2.6 die einzige Erwähnung eines speziellen „Heerescomes“ vor, so daß allein daraus nicht auf allgemeine Strukturen geschlossen werden kann; zumal die Bestimmung wohl aus der Zeit Leovigilds stammt. Aus diesem Zeitraum liegt drittens das Gegenbeispiel des dux Claudius vor, der offensichtlich militärische und zivile Kompetenzen vereinte. Ebenso sorgfältig wie die Versorgung des Heeres wurden Mobilisierung und Rekrutierung geregelt. Zur Bestrafung von Deserteuren hatte der thiuphadus eine Meldung an den CC aufzugeben. Wenn der thiuphadus, „ab aliquo de thiufa“ bestochen, Krieger für eine expeditio nicht einzog, mußte er eine neunfache Buße an den „CC, in cuius est territorio constitutus“ zahlen. Ähnliches widerfuhr, abgestuft, auch quingentenarius, centenarius usw. L.Vis. IX.2.3 berichtet von 89Vielleicht hatte der millenarius die Zivilgerichtsbarkeit, solange das Heer noch aus Goten bestand (s. C.Eur. 322), später verlor er sie dann wohl (s. L.Vis. IV.2.14). Garcia Moreno 1974a S.77f. vermutet, daß der Soldatenrichter auch deswegen überflüssig wurde, weil nun der CC mit starken militärischen Kompetenzen versehen wurde, dazu unten. Zu Zeugnissen des 7.Jh.s s.o. SEITE 229. 90King 1972 S.54, 73f. (ähnlich Jones LRE) rechnet neben den Hofcomites und den CC mit besonderen comites exercitus als „divisional commanders of the provincial armies“. Dieser comes exercitus könnte seine Wurzeln im comes rei militaris gehabt haben. - Zum Begriff Praepositus hostis: Während hostis nachweisbar die Bedeutung „Heer“ annahm (vergleicht man L.Vis. IX.2.1 und IX.2.3, so fällt auf, daß in der zweiten Bestimmung stets dort, wo in der ersteren das Heer oder eine seiner Einheiten genannt wird, „hostis“ zu finden ist), meint praepositus allgemein den „Vorgesetzten“; vgl. Southem/Dixon 1996 S.60. So meint L.Vis. V.6.3 unter dem „iudici vel praeposito civitatis“ wohl untechnisch und allgemein den „Vor­ gesetzten“, also den CC. 91 King 1972 S.54.

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einer anderen Konstellation: Wenn ein centenarius in ein Asyl flüchtete, so mußte er eine hohe Geldbuße an den CC zahlen, von dem diese an die betroffene centena weitergeleitet wurde; zudem erging eine Nachricht an den König, damit nach dessen Anordnung das Geld verteilt würde. Nach IX.2.5 sollte vom thiuphadus abwärts jeweils der Vorgesetzte bei seinem direkten Untergebenen nachfor­ schen, ob einer der zum Dienst verpflichteten Männer femgeblieben war. In diesem Fall hatte eine Meldung an den ,,praepositus comitis“ bzw. „comes“ und ein Schreiben an den CC „in cuius territorio constitutus est'' zu ergehen, worauf das Verfahren gegen den Säumigen eingeleitet wurde. - All dies läßt den Versuch einer straffen hierarchischen Gliederung der dezimalen militärischen Ränge er­ kennen, mit Kontrolle von oben nach unten. Dieser Versuch mußte in der Praxis allerdings chancenlos bleiben.

b. Zur Heeresstruktur Eine Untersuchung der Heeresstruktur in den germanischen Königreichen ver­ spricht neben Auskünften über ihre Schlagkraft wie gesehen insbesondere Informationen zur „Binnenverwaltung“ der germanischen Verbände: Die Heeres­ organisation bietet gewissermaßen einen Schlüssel für das Verständnis der innergentilen Verwaltung. Denn der gentile Verband wurde auch nach der Ansiedlung in erster Linie als Heer aufgefaßt92. Und die militärisch-gefolgschaftliche Organi­ sation mußte bestimmte „Auswirkungen auf die Verfassungsstruktur“ der neuge­ gründeten Reiche haben93. So wurde die Übergabe des militärischen Donativs an die ostgotischen Militärsiedler in einer aufwendigen Zeremonie gestaltet, bei der der König seinen eigens in die Hauptstadt anmarschierten Leuten persönlich begegnete. Eine zentrale Frage zur Heeresorganisation der Völkerwanderungsreiche lautet: Waren jeweils alle Germanen wehrpflichtig? P.D.King geht wie fast die gesamte Forschung für das Westgotenreich davon aus, daß zumindest im Ernstfall alle freien Germanen militärdienstpflichtig waren94. Doch im Grunde gibt es dafür kaum sichere Belege; so ist es etwa denkbar, daß sich die germanischen Großen freikaufen konnten (“Gestellung”). Auch ob man die Vandalen mit H.-J.Diesner als „Kriegerkaste“ bezeichnen kann95, scheint schon dann fraglich, wenn man die von ihm selbst analysierte starke Differenzierung unter den Vandalen bedenkt. E.Oldenburg machte zum westgotischen Heer darauf aufmerksam, daß Speziali­ sten wie die buccellarii oder auch Sklaven den Hauptteil der Kriegslast trugen96. C.Eur. 323 (= Antiqua L.Vis. IV.2.15) und die Eurich zugewiesene Antiqua VIII. 1.9 belegen, daß Sklaven an expeditiones teilnahmen. Auch für das Bur92Z.B. Garcia Moreno 1977 S.65ff. 93So Wenskus 1961 S.347; vgl. auch Conti 1971 S.102f. 94King 1972 S.72. 95Diesner 1965 c.979. 96Oldenburg 1909; ähnlich Garcia Moreno 1986 S.286.

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gunderreich kann man davon ausgehen, daß Sklaven mitkämpften97. Doch ver­ mutlich wurden diese Heere noch nicht wie im Westgotenreich des 7Jh.s oder im späteren Merowingerreich hauptsächlich von adligen Großen und ihrem starken Anhang von Gefolgsleuten, Dienstmannen und Knechten gebildet. Dies zeigt L.Vis. IX.2.8f.: Die Großen waren verpflichtet, mit ihrem Gefolge in den Krieg zu ziehen, wobei sie nicht der regulären Armee zugeordnet werden. Der Anteil der Sklaven im Heer erhöhte sich erheblich, da jeder ein Zehntel seiner Sklaven mitzubringen hatte. Dadurch sollte der zunehmenden Wehrmüdigkeit begegnet werden. Das Ergebnis dieser Entwicklung war, daß die Könige immer mehr auf den Adel angewiesen waren98. Im frühen Mittelalter wurden die Heere vor allem von Gefolgsleuten gebildet. Eine zweite Frage lautet: Dienten Römer in den Heeren der Barbarenreiche? Durften, konnten oder mußten die Romanen im Heer dienen? In der Spätantike hatten die Kaiser versucht, eine Art „Bewaffnungsmonopol“ durchzusetzen. Auf dieses Bewaffnungsverbot lassen insbesondere die Stellen Priscus fr.8, An.Val.83, Just. Nov.85 von 539 sowie die Lehrschrift De scientia politica schlie­ ßen. Schon die Lex Julia de vi publica (in Digesten 48.6.1 zitiert) bestimmte ähnliches: ,J.ege Iulia de vi publica (et privata) tenetur, qui arma, tela domi suae agrove inve villa praeter usum venationis vel itineris vel navigationis coegerit'99. Die Entsprechung dieser Maßnahme war die Stärkung der Berufsarmee. Privater Waffenbesitz ließ sich jedoch schwerlich ganz unterbinden. Wegen der Germa­ nengefahr wurde von den Behörden, als sie die Sicherheit nicht mehr garantieren konnten, das strikte staatliche Waffenmonopol wohl gelockert100. Diese Maßnah­ men blieben aufgrund mangelnder Widerstandsbereitschaft allerdings ohne gro­ ße Folgen: 97L.Burg. 10: servus lectus ministerialis aut expeditionalis mit doppeltem Wergeid. Zu den Westgoten Garcia Moreno 1974a S.79ff. mit den Stellen, dazu L.Vis. II.5.13 (Chind.). Expeditio (publica) bedeutet in der Spätantike den offiziellen Kriegszug, s. die Antiqua Eurichs L.Vis. VIII. 1.9, L.Vis. IX.2.1ff. oder Varien-Index (etwa V.33, 33, 36). 98Vgl. schon Theudis’ Gefolgschaft oder Gregor HF III.37 (507). - Zur neuen Heeresstruk­ tur der Franken seit Karl Marteil s. Bachrach 1972. "D azu Brunt 1975 S.262f., der in erster Linie gegen die These einer allgemeinen Entwaff­ nung der Provinzialen, nicht gegen ein Waffenmonopol der „öffentlichen“ Verwaltung argu­ mentiert; er bezieht sich zudem auf den Prinzipat, nicht auf die Spätantike - so gab es, wie er S.262 Anm.10 selbst einräumt, seit Diokletian staatliche Waffenarsenale (fabricae), die den privaten Waffenhandel weitgehend überflüssig machten. - S. auch Valentinians I. Versuch CTh XV. 15.1 (364); Nov. Val.III 13 (445); vgl. Varien XII.5: conductores und possessores sollen nicht in den Krieg eingreifen; Nov.Just. 85.1 zum Verbot privater Waffenproduktion; dazu Wolfram 1990a S.60f. m.Anm.27 S.393 (Stellen) S.221 m.Anm.80 S.454, S.300 m.Anm.55f. S.491f. - Schon bei Cassius Dio 52.27.3ff. wird die Bedeutung eines (allerdings teuren) stehen­ den Heeres und der gesellschaftlichen Arbeitsteilung hervorgehoben, wodurch ein Bürgerkrieg erschwert würde. 100 So wohl Maiorian. Nov.8, von der allerdings nur noch der Titel „De redditu armorum“ erhalten ist; vgl. Nov. Val. 13 (445): Verbot von Privatarmeen außer gegen Reichsfeinde; Nov.Val. 9 (440). Selbsthilfe gegen Marodeure erlaubt CTh IX.14.2 (391), vgl. Ammian XXIX.5.25, Sidonius ep. II.2.9, carm. 18.22, Nov.Val. III 9 (440); vgl. u.a. CJ VIII. 10.1 zu befestigten Gutshöfen, die sich nach Krause 1987 S.138ff. jedoch nur vereinzelt archäologisch nachweisen lassen.

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Für den Westen können nur die Fälle von Didymus und Verinianus, jungen spanischen Verwandten des Kaisers Honorius, die sich nach Orosius VII.40.5 mit privaten Mitteln Barbaren und Tyrannen widersetzten, und der Widerstand des tarraconensischen Adels (Chr. Gail. 65lf.) als Beispiele nichtstaatlichen Wider­ stands gelten; von Ecdicius bezeugt Sidonius ep.III.3.7: „taceo deinceps te colle­ gisse privatis viribus publici exercitus s p e c i e m er sammelte also auf eigene Kosten ein Heer, mit dem er gotische Plünderzüge bekämpfte. Doch er handelte im Auftrag der Reichsregierung, ähnlich wie Aegidius oder Hilarius von Arles (vgl. dazu auch Krause 1987 S. 136-138). - Im Osten gab es zweifellos mehr nichtstaatliche Gegenwehr, dafür sprechen auch die erwähnte Stelle CJ IX. 12.10 (468) zu den buccellarii (SEITE 181) oder Nov.Theod. 15. Vor diesem Hintergrund stellt sich nun die Frage, ob in den Heeren der germanischen Königreiche auf dem Boden des Reichs auch Römer dienen konn­ ten. Prinzipiell bestand, wie gesehen, das Heer aus den gentilen „Föderaten“. L.Garcia Moreno behauptet, daß es auch römische Soldaten gab101. Eindeutig ist für H.Wolfram, daß Angehörige der römischen Oberschicht stets das „Waffen­ recht“ besaßen und so wie die dienstpflichtigen Personengruppen der Gentilen auch in den Germanenreichen unter Waffen standen (s.o.). Die senatorische Oberschicht stellte einige Generäle und Admirale etwa im Westgotenreich. Offiziere wie Victorius, Vincentius oder Arborius wurden im Zuge der westgoti­ schen Machtausdehnung kurzerhand „übernommen“. Auch später noch kennen wir romanische Offiziere im Westgotenheer: Sidonius’ Sohn Apollinaris hatte 479 in unbekannter Funktion Victorius’ obskures Romuntemehmen begleitet (Gregor v.Tours glor.mart.c.44), bevor er unter Alarich II. als vir illustris bzw. sublimis wohl ebenfalls militärische Aufgaben übernahm (dies belegt insbeson­ dere Avitus ep.51: „vobis ... militari actu magis ...“; bei Vouille führte er das arvemische Kontingent an, Gregor von Tours HF III.37)102. Der adelige Namatius kommandierte die Flotte der Westgoten im Küstenschutz gegen die sächsi­ schen Piraten, wobei vermutlich das technische Know-how der Römer eine wichtige Rolle spielte103. Am Ende des 6.Jh.s nahm der dux Claudius eine führende Stellung in der (Militär)Hierarchie des Westgotenreichs ein. - Auch bei den Ostgoten finden sich, jedoch seltener, römische Generäle wie Liberius, Cyprianus oder Servatus.

101 Garcia Moreno 1977 S.83ff. - dies trotz der Antiqua IX.2.2, die er wegen des Wortes dominicus in die Zeit des Brev.Al. datiert (vgl. ähnlich IX.2.5, C.Eur. 323, L.Vis. VII.4.2). 102 Apollinaris wurde i.J. 515 kurz vor seinem Tod noch Bischof von Clermont (Gregor HF III.2, glor.mart.65, vit.patr.4.1); s. weiter Avitus ep. 24, 36 von 507, ep.43 bzw. Ruricius ep.II.26 und 41. 103 Aufschlußreich dazu Sidonius ep.VIII.6: „... nuper vos (sc. Namatius in Saintes) classi­ cum in classe cecinisse atque inter officia nunc nautae, modo militis litoribus Oceani curvis inerrare contra Saxonum pandos myoparones, quorum quot remiges videris, totidem te cernere putes archipiratas: ita simul omnes imperant parent, docent discunt latrocinari. ... hostis est omni hoste truculentior, improvisus aggreditur praevisus elabitur ...“. Zum Sachsenüberfall s. auch Vita Bibiani c.7. Nach Ruricius ep.II.1-5, 52 war Namatius ein enger Verwandter dieses hochadeligen Bischofs.

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E.Oldenburg ordnete L.Vis. IX.2.1-4 Eurich zu, wofür er neben ihrem Auf­ bau die Nennung von „Gotos“ anführt; damals seien noch ausschließlich (besser: hauptsächlich) Goten wehrdienstpflichtig gewesen. L.Vis. IX.2.5 sei von Leovigild überarbeitet worden, da seit Alarich II. auch Romanen Wehrdienst taten. Hierzu verweist er auf die Teilnahme des Arvemerkontingentes 507 an der Schlacht von Vouille und auf das Brev.Al. Dafür könnte auch der Fall des Calminius in der Sidoniusepistel V.12 sprechen: Der vir clarissimus kämpfte Ende 474 für die Westgoten gegen das unbeugsame Clermont. Dazu wurde er wohl kaum gezwungen, Sidonius’ Formulierungen sind eher als Klage über das elende Schicksal Galliens zu verstehen denn als persönliche Anklage. Auch E.Ewig nimmt an, daß die Römer seit Alarich II. Wehrdienst leisteten104. - Vom vandalischen Heer ist bekannt, daß es von zahlreichen maurischen Kontingenten verstärkt wurde. Über die Rolle der Romanen ist kaum etwas zu sagen105. Über die militärische Verfassung der B urgunder wissen wir so gut wie nichts, hierzu schweigt auch die L.Burg. fast vollständig106. Es scheint jedoch klar, daß auch die Romanen im Heer dienen konnten; diese Regelung findet ihren Grund vielleicht in der besonders geringen Zahl der burgundischen Krieger. So geht L.Rom.Burg. 45.3 von romanischen Soldaten aus107. Anders als in Ed.Theod. 32 wird das burgundische Militärtestament nicht auf die Barbaren beschränkt; im Ostgotenreich gab es eine striktere Scheidung zwischen Romanen und Gentilen; und „auch das westgotische Breviar kennt das Soldatentestament nicht“108. Dabei ist wohl nicht von einer Heerpflicht auszugehen, vielmehr von der Möglichkeit des Wehrdienstes. Andernfalls hätte das Heer zu größten Teilen aus Romanen bestanden, doch es gibt nur spärliche Hinweise auf Römer im Burgunderheer. Allein die aus dem 7.Jh. stammende Vita Eptadii nennt in c.12 ,JiomanV\ die auf Befehl des Burgunderkönigs ein Fort zerstörten und mehrere Tausende Gefange­ ne machten109. Eine vergleichende Beobachtung zu den Burgunderrechten scheint die Seltenheit romanischer Soldaten zu bestätigen: Während L.Burg. 10 den 104 Ewig 1976 (1969) S.452f. Er erklärt auch das Fehlen eines Doppelcomitats bei den Franken mit dem Wehrdienst für Romanen, den er aus der Selbstverteidigung der civitates im 5.Jh. herleitet. 105 In Prokop BV 1.17.11 ist nicht deutlich, ob Provinzialen oder Mauren gemeint sind. - Zu den maurischen Kontingenten etwa Sidonius carm. V.387ff., Courtois 1955 S.340f. und Dahn 1861 S.212 mit Anm. Courtois 1955 S.232 Anm. 15, S.230-233 zum Heer allgemein. 106 Gregor zeigt - vielleicht anachronistisch - die Könige als Heerführer: HF II.3, III.6, 11.32. 107So auch Stüven 1995 S.76. Hendy 1988 S.46f. und 58 geht davon aus, daß im Burgunder­ heer mehr Römer dienten als bei den Westgoten. Vgl. Dahn 1908 S.134. 108 Auf diese Besonderheit machte Bauer-Gerland 1995 S.102f. aufmerksam. Auch Liebs 1987 S.194 sieht ebenso wie Stüven 1995 S.165f. in Ed.Theod. 32 eine der ganz wenigen deutlich gotischen Bestimmungen des Edikts. 109 Vgl. Dahn 1908 S.134. Dagegen kann die öfter in diesem Zusammenhang genannte Stelle Gregor HF 11.32 nicht als Beleg gelten; Aredius agiert erst in Fredegars Version als Mili­ tär; ebensowenig überzeugen die von Bauer-Gerland 1995 S.102f. angeführten Stellen Sidonius ep.V.6.1 und III.3.9 (bei der ebendort genannten Konzilienquelle handelt es sich gar um eine Fälschung). - Nach Amory 1994 S.448 Anm.91 enthält die Vita Eptadii Material aus dem 6.Jh.

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servus expeditionalis aufführt, erwähnt ihre Entsprechung L.Rom.Burg. 2 da­ gegen allein den servus ministerialis. Gab es in den Germanenreichen ein stehendes Heer? Wie hat man sich die Heere der Völkerwanderungsreiche vorzustellen: Als Wehrsiedler auf Abruf oder nach Garnisonen in verschiedenen Kastellen aufgestellt? Gab es lokale Aushe­ bungen oder Wehrdienst nach Alter? Inwieweit die Ansiedlung der Verbände das Ende stehender Heere bedeutete, bleibt unklar110. Garnisonen in Städten und Festungen gab es in allen Völkerwanderungsrei­ chen. Für die Westgoten unterstreicht das eindeutig L.Vis. IX.2.6: ,guicumque per singulas civitates vel castella...“. Auch die Ostgoten unterhielten mit Sicher­ heit Garnisonen. Nach Varien V.39.3 waren Ostgoten auch in den spanischen Städten als Garnisonen stationiert11 Im Burgunderreich wurden befestigte Städte wie Autun, Avignon oder Vienne besonders gesichert, die Alpenpässe waren be­ setzt112. Vandalische Garnisonen gab es auf Sardinien und wohl in den wichtig­ sten Städten. Ebenso sind Expeditionsheere eindeutig belegt, wie etwa die ostgotischen Truppen unter duces in Südgallien von 508 bis 511. Die Heerführer: Im Ostgotenreich fungierte der dux, im Anschluß an das römi­ sche Vorbild, als „chief of the expeditionary forces“ und führte das weitgehend selbständige Kommando eines Bewegungsheeres113. In den Varien wird der Titel des dux, mit Ausnahme des dux Raetiae, einheitlich in diesem Sinne benutzt114. Damit verfügte das Ostgotenreich als einziges über einen ausschließlich militäri­ schen Amtsträger. Nur dort war der militärische Bereich an manchen Punkten deutlich getrennt von der zivilen Verwaltung. Hierin besteht auch der maßgebli­ che Unterschied zum ostgotischen comes115: Während der dux ausschließlich militärische Missionen erfüllte, übernahm der comes in größerem Umfang auch administrative Aufgaben; diese Amtsgewalt für einen bestimmten Zeitraum schloß 110Wenig überzeugend Hendy 1988 S.41ff. zu den Ostgoten, S.45ff. zum Burgunderreich. 111 „Servitia igitur quae Gothis in civitate positis superflue praestabantur, decernimus amo­ veri. Non enim decet ab ingenuis famulatum quaerere, quos misimus pro libertate pugnare.“ Vgl. Ed.Theod. 32; Prokop BG III. 16.14-22; Bierbrauer 1975 S.25ff. interpretiert die Sied­ lungskonzentration im Norden als Verteidigung gegen Osten, südlich der Linie Rom-Pescara gab es lediglich nur Garnisonen, daher auch kaum ostgotische Spuren. - Zu den Westgoten King 1972 S.73; Hendy 1988 S.58 (S.41ff. zu den Ostgoten); Oldenburg 1909 S.42f. 112 Militärische Einheiten in Städten bei Gregor HF II.32f., III. 11; Wachen auf den Alpen­ pässen belegtEnnodius V.Epiph. 177. 113 Jones LRE S.660. Vgl. Bums 1980 S.l 16; Sprandel 1957 S.56ff. Nicht richtig dagegen Mommsen 1910, der davon ausging, daß die duces unter den comites kleinere Bezirke verwalte­ ten. 114 Dazu Sprandel 1957 S.57; vgl. Varien III.42 an alle Gallier von 510; „Ducibus etiam ac praepositis sufficientem transmisimus pecuniae quantitatem ...“; vgl. nächste SEITE. 115 Es gab vermutlich auch rein militärische comites, dies belegt wohl comes v.i. Wiliarius (Varien V.23), zwischen 523 und 526 General in Gallien, wie die Anweisung an den PPO zeigt, Schiffe zu stellen, um die frisch ausgebildeten Rekruten an die fränkische Front zu befördern. Wiliarius könnte mit dem gotischen Stadtkommandanten Uliaris aus Prokop BG 1.3, III.5 identisch sein.

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im Kriegsfall militärische Kompetenzen ein. Die duces in den Varien übten zwar auch Gerichtsbarkeit über Goten aus (so in III.42; IV. 17; V.30; 33). Doch leitete sich diese vermutlich ausschließlich aus ihrer militärischen Befehlsgewalt ab, die mit Beendigung des Feldzuges erlosch. Im folgenden seien einige der ostgoti­ schen Heerführer aufgeführt: Ibbas116. v.sp., ist zwischen 508 und 513 in Gallien und Spanien bezeugt: Jordanes get.302 wie häufig untechnisch z.J. 508: Theoderich besiegt die Franken „per comitem suum“ Ibbas; nach Varien IV. 17 von 511 soll Ibbas in der Narbonner Kirche für Ordnung sorgen: Er hatte also als Anführer der siegreichen Feldarmee im eroberten Südgallien vorübergehend auch admini­ strative Aufgaben wahrzunehmen. Narbonne nahm eine Schlüsselposition für die Kontrolle Spaniens ein; dies erklärt Ibbas’ Rolle bei der Ausschaltung Gesalechs (vgl. Varien V.43f.), den er in Spanien und Gallien schlug (Chr.Caes. zu 5 10ff.: „Theodorici Italiae regis dux'"). Auch Ara war Militärstatthalter in Gallien, Gregor v.Tours glor.mart. c.77 (S.63): „Ara vero Theodorici regis Italiae dux, dum in Arelatensi urbe resideret ...“; im Streit mit einem Archipresbyter schickte er gegen diesen npueros“ mit Gewaltauftrag, Vollmacht und Pferden in dem Anspruch: „dominus regionis huius sim“. Ein dritter wichtiger dux war Tuluin: Nach Varien VIII. 10 zählte er bei der Expedition gegen die Franken i.J. 508 „inter duces“\ 523 befand er sich wieder in Gallien, wo er sich Grundbesitz eroberte, bevor er 526 zum patricius praesentalis erhoben wurde; Tuluin war mit einer Amalerin verheiratet. Leitender Feldherr im Krieg um Sirmium 504/505 gegen Gepiden, Bulgaren und den byzantinischen Heermeister Sabinianus war Pitzas. Davon berichten Jordanes get.300f. („Pitzamus ... inter primos electus“, „Gothorum nobilissimus“) und Ennodius Pan. 12: „Gothorum nobilissimos Pitzia, Herduic et pubem nullis adhuc dedicatum proeliis“ (eben zu dieser Gruppe gehörte Tuluin nach Varien VIII. 10.4). Dabei läßt sich die auch für Gallien festgestellte verwaltungsmäßige Erfassung der eroberten Gebiete erkennen: „Non adquisitam esse terram, sed refusam, nec rapinis ut lucrativa populatus est, sed dispensationibus servavit ut propriam“. Pitzas wird im Panegyricus insgesamt viermal erwähnt, dazu als Sieger über die Bulgaren gerühmt. Dies sticht aus diesem Text so deutlich hervor, daß sich damit vielleicht das bislang vergeblich gesuchte Motiv für den Panegyricus in einer engen Verbindung zu dem General vermuten läßt117. Es sind noch weitere Heerführer überliefert, mehrfach auch ihre (teils mißbrauchte) diszi­ plinarische Aufsicht über ihre Truppe bzw. die eroberten Gebiete: Guduin (Varien V.30: wohl im Feldzug von 523); Wilitanc (V.33 vir sublimis dux auf „expeditio Gallica“, Rechtsaufsicht über Goten); Hunila (Jordanes rom.374, get.311; Prokop BG 1.16); vgl. Marius Avent, ad 509: ,Mammo dux Gothorum partem Galliae depraedavit.“ Sinderith (Jordanes rom.368, get.308); Witigis: Jordanes get.308, rom.371; Varien X.31 („illi ducem me sibi esse nam passi sunt“)\ Wandil (Varien III.38), dux oder praepositus (s. Varien III.42 in NOTE 114 SEITE 235) in Avignon (PLRE II S.1149 nimmt fälschlicherweise an, daß er nicht Teil der Invasionsarmee, sondern dort bereits ansässig gewesen war; abgesehen davon, daß es sich hier nur um einen 116 Nach Wolfram 1990b S.367 wohl Kurzform für Hildebrand; zu Ibbas vgl. PLRE II S.585. 117 Zu Pitzas Krautschick 1983 S.69f. Anm.3; eine Identifizierung mit Pitzas/Pissas aus Prokop BG 1.15.lf, 16.5, der 537 zu Beiisar überlief, ist unmöglich; letzterer könnte jedoch identisch sein mit dem comes Pizia in Varien V.29 von 523. Nichts damit zu tun hat Patza von Varien V.32L: Der Name ist nach Schönfeld 1911 s.v. sprachlich nicht identisch, zudem ist seine Stellung deutlich niederer. - Auch diese Stelle läßt eine Datierung des Panegyricus in die Zeit unmittelbar nach 506 am wahrscheinlichsten erscheinen, da nichts zu den gallischen Ereignissen berichtet wird; jedenfalls ist der Text vor der Hinrichtung des Pitzas geschrieben, die bei Auct.Havn. ad 514 berichtet wird.

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Heerführer und nicht um einen CG handeln kann, meint „resides“ in den Varien zumeist den Aufenthaltsort eines Amtsträgers, selten dessen Wohnort).

Ein Curriculum ist schwer zu erstellen. Einzig bei Witigis und Tuluin ist etwas von ihrer Laufbahn bekannt: Bei beiden standen am Anfang aktive militä­ rische Erfahrungen auf Feldzügen in untergeordneter Position; während Tuluin vor und auch nach seiner Tätigkeit als Heerführer königlicher Berater und wohl auch MD war, ging bei Witigis die Stellung als spatharius voraus. Somit verlau­ fen diese beiden Ämter-Karrieren relativ ähnlich118. Die zitierten Stellen zeigten, daß ein Heerführer entweder spektablen oder illustren bzw. sublimen Rang haben konnte. Die spätrömischen duces waren dagegen nur viri spectabiles gewesen (SEITE 238). Die Kommandanten im Gotenkrieg wie Urajas, Hildebad, Markjas oder später Ragnaris, Uliaris, Ruderich und Bleda, meist im Rang eines comes oder dux119, sind eher mit den comites rei militaris oder duces zu vergleichen als mit den Stadtcomites. Die ostgotischen duces verfügten als Militärstatthalter über die Rechtsauf­ sicht insbesondere über die Goten. Sie hatten jedoch, anders als vielleicht bei den Westgoten, nur ein vorübergehendes Kommando. Damit unterschieden sie sich vom römischen Grenzgeneral, der noch im dux Raetiae fortbestand. Dieser Titel kann als die einzige (römisch)technische Verwendung von dux in den Varien gelten. Das erklärt sich damit, daß Raetien der einzige in der Not.Dign. auf­ geführte dukale Sprengel war, der zum Reich der Ostgoten gehörte. Andere Friedensdukate mit festem Amtssprengel gab es im Ostgotenreich nicht120. Die ersten dauerhaften Aufträge bei den W estgoten bildeten die militärischen Kommandos von comites. Ab 450 leiteten Generäle mit festen Kommandos als duces oder comites die Feldzüge gegen die Sueven in Spanien. Unter Theoderich II. agierten wenig spezifizierte Generäle wie Cyrila oder dessen Nachfolger Sunericus, 45SM-61 Kommandeur in Spanien. Sie hatten ausschließlich militä­ rische Kommandos über die gotischen Truppen in Spanien. Goten besiedelten Spanien erst ab ca. 495 in größeren Zahlen (s. NOTE 39 SEITE 78) - das Land war militärisch dauerhaft besetzt, organisatorisch aber noch wenig durchdrungen. Der König hatte dabei keine Probleme mit der Abberufung der Generäle. Cyrila fungierte wenig später als Gesandter bei den Sueven, bei seinem zweiten Auftrag blieb er 463 in Galicien121. Sunerich verkündigte 459 gemeinsam mit Majorians MM Nepotianus in Galicien den Frieden zwischen dem Reich und den West118 Vgl. dazu PLRE III S.1382f. (Witigis) bzw. PLRE II S.l 131-1133 (Tuluin). 119 So zu den letzteren drei Gregor dial.II. 14: „tres, qui sibi (sc. Totilae) prae ceteris ad­ haerere consueverant, comites“, Prokop BG III.5.1, Marcell.com.Add. ad 542 (Mugello) „du­ ces“. 120 So Sprandel 1957 S.57; ebenso Claude 1986. Varien 1.11 (Servatus), VII.4. 121 Hydatius 185 zu 458: „Gothicus exercitus duce suo Cyrila a Theudorico rege ad Hispanias missus mense Iulio succedit ad Beticam“\ c.188 zu 459: „Theudoricus cum duce suo Sonerico exercitus sui aliquantum ad Beticam dirigit manum. Cyrila revocatur ad Gallias. “ Zu Cyrilas suevischer Gesandtschaft s. Hydatius 215f.

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goten; im folgenden Jahr besiegten beide gemeinsam die Sueven bei Lugo. Sunerich kehrte 461 nach der Einnahme einer lusitanischen Stadt und dem Tod des Kaisers nach Gallien zurück122. Hydatius’ wechselnde Terminologie zwi­ schen dux und comes bei ein und demselben Mandatsträger entsprach dabei dem herkömmlichen Usus, da der Dukat vornehmlich eine Funktion und der Comitat nicht zuletzt einen Ehrenrang bildeten. Interessant ist die Nachricht bei Hydatius c.208 für 462: ,JVepotianus Theudorico ordinante Arborium accipit successorem“. Unwillkürlich stellt sich die Frage, in welcher Position und Funktion denn Arborius dem Nepotianus nachfolgte. Vermutlich ersetzte Theoderich II. den loyalen Feldherm Majorians durch einen Mann seines Vertrauens als Kommandant der Spanienarmee. Nepotianus, ausge­ zogen als Amtsträger Roms, trat ab auf einen Befehl des Gotenkönigs123! Arbori­ us, auch er offensichtlich Romane, ist allein dem Spanier Hydatius bekannt. So bleibt unklar, ob er von Rom anerkannt wurde124. 465 wurde er nach Hydatius c.226 in einer suevischen Angelegenheit an den Hof Theoderichs berufen, für den er also tätig war. Die Goten vereinnahmten auf diese Weise vermutlich die Reste der römischen Spanienarmee bzw. die letzten römischen Machthaber. Arborius’ Nachfolger könnte der „illustris dux Vincentius provinciae nostrae (sc. Tarraco­ nensis)“ gewesen sein125. Erwähnt wird dieser erstmals für 464/465: Vincentius hatte, wohl kurz nach seinem Antritt, die Bischöfe der Tarraconensis gedrängt, einen Brief an den Papst zu schreiben126. Hier wird vielleicht eine gewisse zivile Verfügungsgewalt erkennbar. Duces waren auch noch nach Justinians CJ 1.27.2 spectabiles; die ostgotischen duces bekleideten den Illustrat (s. SEITE 208). L.Garcia Moreno konstatierte für die Militärverfassung Spaniens im 5.Jh. einen weitgehenden Zusammenbruch der alten Ordnung, an deren Stelle punktuelle Verteidigungszonen bzw. eigeninitiativer Widerstand traten. Die Tarraconensis könnte durch Majorian als Dukat organisiert worden sein127. Im 5.Jh. entstanden um und auch im Reich immer mehr gefährdete Grenzen, wo Grenzgeneräle zunehmend die Verwaltung übernahmen. Solche Reststrukturen wurden mehr und mehr von den Westgoten übernommen. Nach 460 dürfte die römische Mili­ tärpräsenz in Spanien geendet haben. 122 Hydatius 192, 197, 201; Sunerichs Rückkehr „ad Gallias“ in 207. 123 Noch Nepotianus’ Tod ist Hydatius einen Eintrag wert (c.218). Die Absetzung eines MM durch den Westgotenkönig war nach Demandt 1970 c.683f. zu­ mindest amtsrechtlich unmöglich; befugt war dazu einzig der Kaiser, nicht etwa der MM praes, et patricius. Theoderich II. war aber nicht einmal „kaiserlicher Oberbefehlshaber in Spanien“. 124 Dies vermutet aber Demandt 1970 c.684. 125 So vermutet PLRE II S.129. 126 Ep. 14 des Papstes Hilarus. Die Tarraconensis gehörte damals noch zum Imperium (so wird in CIL 11.4109 Anthemius als Kaiser geführt). Vielleicht war der Adressat des Sidonius­ briefes 1.7, wo es um den „casus Arvandi“ und den Verdacht der Zusammenarbeit mit den unter Eurich zum Reichsfeind gewordenen Westgoten geht, mit diesem dux identisch. 127Garcia Moreno 1977; ähnlich Thompson 1982 (1977) S.175ff. - Auch der zivile vicarius Hispaniarum ist nach den Fasten der PLRE durchgehend überliefert bis 400; in der Not.Dign. regiert er über sieben Provinzen. Doch letztmals genannt wird ein Maurocellus 420 im Kampf gegen die Vandalen, d.h. in militärischer Aktion!

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473 belagerte Vincentius als ,4ux Hispaniarum“128 mit dem gotischen Heer­ führer Heldefredus die Stadt Tarraco, darauf nahmen sie einige Küstenstädte für Eurich ein. Heldefredus wurde von Vincentius begleitet: Der ursprünglich kaiser­ liche Gouverneur stand damit nunmehr in gotischen Diensten. Vincentius ist wie auch Victorius für H.Wolfram ein Beispiel für die „Modifikation der institutio­ nellen Kontinuität“129; „römische Dukate, d.h. militarisierte Provinzeinheiten, wurden samt ihren römischen Inhabern“ übernommen. Noch im selben Jahr wurde Vincentius als „quasi magister militum“ von Eurich nach Italien gesandt, wo er von Generälen der Reichsleitung geschlagen und getötet wurde130. Diese Vorgänge einer „schleichenden Machtübernahme“ weisen untereinan­ der manche Parallele auf: Ein römischer MM/dta und ein gotischer comes/dux teilten sich in ein „Doppelkommando“, wobei letzterer vielleicht über mehr Schlagkraft verfügte, jedenfalls mehrfach als der aktivere gezeichnet wird. Diesel­ ben römischen Amtsträger sahen sich wechselnden Befehlsgebem bzw. Autoritä­ ten gegenüber. Das Amt bestand fort und wurde weiter von einem Romanen verwaltet; dieser empfing nun aber seine Befehle statt vom Kaiser von einem germanischen Föderatenkönig. Auf diese Weise rückten die germanischen Köni­ ge in römisch-imperiale Rechtspositionen ein. Eurich übertrug, im Unterschied zu vielen anderen Germanenkönigen, ober­ ste Kommandos an Männer, die nicht mit ihm verwandt waren, und an Romanen wie Vincentius und Victorius. Alarich II. zog allerdings selbst in die Entschei­ dungsschlacht von Vouille, ähnlich wie Gelimer oder Witigis (anders aber Theodahad). Vermutlich ist in der exklusiven Stellung der Königsdynastie bei der Heerführung auch ein Grund dafür zu sehen, daß bei Vandalen - zumindest nach den vorliegenden Quellen - und Burgundern, anders als bei West- und Ostgoten, duces fehlten131132.Vielleicht nahmen dort comites die Stellung als nachgeordnete Heerführer ein. Der Westgote Theudegisel war nach Isidor HG 41 und 44 vor seinem kurzen Königtum duxn2 und wichtigster General unter Theudis gewesen; er hatte die Pyrenäen erfolgreich gegen die Franken gesichert. Auch im 7.Jh. erlangten wichtige Heerführer die westgotische Königswürde (Sisenand, Swinthila, der Usurpator Paulus; Witterich war zuvor CC gewesen).

128 Dieser Titel könnte einen Vorläufer im comes Hispaniarum haben, der im 5.Jh. geschaf­ fen wurde, so Wolfram 1990a S.219: Er wurde spätestens in den frühen 60er Jahren durch den dux Tarraconensis ersetzt. Vgl. Hydatius 66 (zu 420): Ein „comes Hispaniarum!''' Astirius bekämpft die Vandalen. Vielleicht hängt dieses Amt (auch in Not.Dign. occ.VII.l 18ff., noch nichts davon im Honoriusbrief von 416) von der Vakanz des MM per Gallias 408-429 ab; ein comes Hispaniarum Mansuetus 453 in Hydatius 155. 129 Wolfram 1990a S.219. 130 Chr.Gall. 511 c.651f.; c.653 (Vincentius, dies beweist das „quasi“, war kein MM); Wolfram 1990a S.441 Anm.64. Das Ziel der Unternehmung bleibt unklar. 131 Unbegründet, zumindest unbelegt die Annahme von burgundischen und vandalischen duces bei Wolfram 1990a S.220. 132 Ob der von den Franken 498 bei Bordeaux gefangengenommene dux Suatrius (Auct. Prosp. Havn. s.a.498, MGH AA IX) nur militärische oder auch zivile Kompetenzen hatte, ist nicht klar; Claude 1986 und Garcia Moreno 1974a sehen ihn als Heerführer ohne Amtssprengel.

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Wer das Feldkommando bei den Burgundern einnahm, bleibt letztlich unklar. Es liegt nicht eine eingehende Beschreibung eines burgundischen Feldzugs vor133. So muß die Frage offenbleiben, inwieweit sich das römische Heermeisteramt der Burgunderkönige auf die tatsächliche Heerführung auswirkte. Aus den Quellen ist uns kein Fall bekannt, in dem ein burgundischer König als MM nach 470 ein Heer in eigener Person angeführt hätte134. Ob die comites im Burgunderreich auch als militärische Befehlshaber fungierten, ist ungewiß. Duces gab es im Burgunderreich, wie erwähnt, offenbar überhaupt nicht135. Alle Germanenkönige, dies ist eine wichtige Veränderung, verzichteten im Gegensatz zu den Kaisern darauf, MM oder andere feste Oberkommandierende wie noch die Kaiser zu ernennen. Zu gefährlich war dieses Amt eines obersten Heerführers für die Könige136. Vielmehr rückten die Könige in die Stellung der römischen Heermeister ein: Fast alle Burgunderkönige waren römisch legiti­ mierte MM; Theoderich nutzte nachweislich den Apparat des Heermeisters (SEI­ TEN 192f.).

3. Die burgundische und westgotische Regional Verwaltung a. Die Genese Anders als die Ostgoten, die Italien schlagartig eroberten, übernahmen die West­ goten keine funktionierende Verwaltung im eroberten Gebiet. Sie wuchsen all­ mählich, von Stadtbezirk zu Stadtbezirk, in die imitatio imperii hinein137. Der Aufbau einer eigenen westgotischen Verwaltung erfolgte, nach Anfängen in den 50er Jahren des 5.Jh.s, erst unter Eurich138. Dieser vertrat einen ganz neuen 133 Darauf wies schon Dahn 1908 S.133 hin. 134 I.J. 456 Gundioch und Chilperich gegen die Sueven; Gundobad agierte als römischer General (V.Epiph., Malalas), als er noch nicht (leitender) König war. Sidonius nennt Chilperich ep.V.6 „vir victoriosissimus“, was sich aber leicht als rhetorisches Epitheton zum Heermei­ stertitel erklären läßt. Pure Rhetorik ist die verschiedentlich aufgeführte Stelle Gregor HF 11.34. 135 So auch Dahn 1908 S.127 (ähnlich Jahn 1874 S.104ff.), der das Fehlen burgundischer duces damit erklärt, daß dafür das Reich zu klein gewesen sei. 136 So auch Demandt 1995 S.612 und Claude 1986 gegen King 1972 S.75 für das Westgo­ tenreich. Auch in den zwei ostgotischen patricii praesentales ist nur der Sonderfall einer Inter­ imslösung zu sehen. Beim,filius noster vir magnificus Aemilianus MM“ (Gelasius ep.fr. 3 (Thiel) von 492/496) dürfte der Titel noch aus der Zeit Odovakers herrühren, der MM einsetzte: Zu Tufa 489-493, Libila (starb 491 bei einem Ausfall aus Ravenna) und Pierius (s. die Urkunde an „MM v.i. Pierius magnificus f r a t e r sonst stets als comes domesticorum geführt, 488-490) s. PLRE II s.v. 137 So Wolfram 1990a S.290, im Anschluß daran etwa auch Stüven 1995 S.45. 138 So übereinstimmend King 1988 S.140ff., Drinkwater/Elton 1992, Harries 1994, Mathisen 1993, Klingshirn 1994 S.69f., Stüven 1995 S.29f., 36, Schäferdiek 1967 S.8ff. - Zur äußeren Entwicklung des Westgotenreichs vgl. Rouche 1977, Wolfram 1990a, insbesondere zu Alarich II. auch Nehlsen 1982. Demandt 1970 c.690 spricht von einer „zwielichtigen Stellung der Westgoten im Rahmen der römischen Militärverwaltung Galliens“; sie wurden oft geschlagen, aber stets geschont.

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Anspruch auf Eigenständigkeit. Er beachtete das FöderatenVerhältnis nicht mehr und strebte offen die Emanzipation auch im direkten Kampf gegen Rom an. Er verabschiedete damit universalistische Romideen, wie sie noch Orosius Athaulf zuwies (Eingangszitat SEITE 13). Widerstand fand seine Expansionspolitik nur beim lokalen romanischen Adel; die Reichsgewalt hatte sich aus Gallien schon weitgehend verabschiedet. Eurich konnte das Machtgebiet der Westgoten auf die sechsfache Größe des Umfangs i.J. 418 ausdehnen. Von 469 ab eroberte er in offener Konfrontation mit der (uneinigen) Reichsleitung Arles, Marseille u.a. feste Orte, bevor er seinem Herrschaftsgebiet bis 476 ganz Südgallien einverleib­ te. Eurich nahm 473 auch die Tarraconensis gegen den erbitterten Widerstand des lokalen Adels ein139. Das Westgotenreich wurde schließlich durch den Vertrag mit Nepos 475 zwar nicht als gleichrangig mit dem Imperium Romanum, aber als unabhängig anerkannt, wenngleich es nicht de iure endgültig aus dem Reichsver­ band ausschied140. Die westgotische Macht wurde somit territorialisiert, „Gothi­ cae sortes“ wurde zum Synonym für das Gotenreich141. Ähnlich sukzessiv verlief die Genese des Burgunderreiches. Diese Entste­ hung ist neben dem geringen Umfang des Herrschaftsgebiets für die vergleichs­ weise einfache Verwaltung verantwortlich. Die Burgunder gewannen die Herr­ schaft über die Gebiete ihres Reiches weniger durch Eroberung als über die stückweise Vereinnahmung einzelner Gebiete und Städte142. Die römische Ver­ waltung wurde wohl nur graduell ersetzt. A.Demandt rechnet damit, daß manche Bereiche der Zivilverwaltung des Burgunderreiches bis 476 dem römischen PPO unterstanden. Demnach war das Burgunderreich über lange Zeit kein wirklicher Flächenstaat mit klaren Grenzen. H.Nesselhauf zeigte, daß die Römer zwar die militärische Kontrolle ab-, die Zivilverwaltung jedoch nicht aufgegeben hatten: In der Not.Dign. fehlen bereits nördliche Dukate wie die von Belgica II, Germa­ nia II und I. Das signalisiert das Ende der militärischen Grenzwehrorganisation; diese war den Föderaten übertragen worden, das Feldheer stand in engeren Linien. Für die Zivilverwaltung dagegen führt die Not.Dign. noch consulares von Belgica II und Germania II auf143. Dabei deckten sich die Siedlungs- nicht mit den politischen Grenzen, vielmehr fielen die Herrschaftszentren des Südens und der burgundische Siedlungsschwerpunkt im Norden auseinander144. Die Ausdeh139Zu diesen Eroberungen und Veränderungen vgl. die Sidoniusbriefe (vor allem VII. 1, 5, 6, III. 1), zu den Kämpfen in Spanien s. Hydatius. Vgl. auch Prokop BG 1.12; Chr.Caes. ad 473; Chr.Gall. 511 c.657 und c.643; Jordanes Get.237: „Euricus ergo Vesegothorum rex, crebram mutationem principum Romanorum cernens, Gallias suo iure nisus est occupare.“ 140Vgl. dazu Ennodius V.Epiph. 88f.: Nepos, eigentlich „dominus“, genügt es nun „ami­ cus“ genannt zu werden. 141 Etwa Sidonius ep. VII.6, 10, 12, VII.3, IX.3, 5. Dazu Wolfram 1990a S.213. 142 Vgl. Jones LRE I S.260ff, Mathisen 1993, Harries 1994. 143Nesselhauf 1938 S.60ff.; so auch Böhme 1974 S.201, 204f. Wolfram 1990a S.217f. zu den Westgoten. Demandt 1970 c.698, 702. So auch Klingshirn 1994 S.17; ähnlich Hendy 1988 S.45ff. 144 Anton 1987 S.58 zur „Differenzierung zwischen siedlungsmäßiger und politischer Er­ fassung“ eines Gebietes durch die Germanen. Außer durch Inschriften aus den Städten des Rhone-Saone-Gebietes läßt sich die politische Verschiebung nach Süden archäologisch nicht

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nung des burgundischen Herrschaftsraumes um 517 kann durch die Unterschrif­ ten der Synode von Epao erschlossen werden: Im Süden bildete die Durance, im Westen die Linie Rhone-Saone-Chalon-Langres die Grenze, im Norden der Ab­ schnitt von Langres über Besancon nach Solothurn, im Osten die Alpen von Solothurn bis zu den Provenzalischen Alpen145. „Burgundia“ bezeichnete also eher keinen Flächenstaat, „sondern den Herrschaftsraum mit seinen elastischen Grenzen“146. Den Burgundern genügte es offensichtlich, die politischen Zentren, die civitates, zu besetzen und durch Garnisonen zu sichern. Die Ausdehnung des Machtbereichs muß bei der geringen Volkszahl als erstaunliche Leistung angese­ hen werden, die für L.Boehm nur durch die den ostgermanischen Reichen eigene „Struktur der Reichsbildung“ möglich wurde147. Der Übergang von der römischen zur westgotischen bzw. burgundischen Herrschaft war eine Mischung aus Bruch und Kontinuität. E.A.Thompson resü­ mierte überpointiert: „We cannot speak of a „fall“: Roman power simply faded away or was gently transformed into Gothic power. It was an administrative alteration, an organizational change. There was no sharp break. There was an adjustment at the top, nothing more“; oder wie M.Burckhardt schön formulierte: Von der imperialen Ordnung bestanden nur noch „Restteile einer ungeheuren Apparatur, die weiterspielte, bis sie einmal von selber stillestand“148. Es gab verschiedene Möglichkeiten, die Verwaltung der neuen Reiche zu etablieren. Von der Siedlung auf römischem Boden über die Kontrolle eines bestimmten Gebietes bis hin zur Gründung eines eigenständigen Reiches führte ein weiter Weg. Teils waren die germanischen Könige als Föderatengenerale in die römische Militärhierarchie eingegliedert; ihre Stammesaufgebote ersetzten dann die comitatenses. Teils wurden sie aufgrund ihrer Machtposition als Anfüh­ rer eines Volkes und großen Heeres immer einflußreichere patroni. Es ist äußerst interessant zu sehen, daß Sidonius diesen Begriff ausschließlich den neuen Her­ ren vorbehielt (ep.IV.10, V.6f., VII. 17.)! Sie traten als Autoritäten etwa in Rechtsstreitigkeiten oder bei der Vergabe von Ämtern auf. Informelle Helfer, Vermittler und Berater unter den römischen Großen wie Avitus bei den Westgonachweisen, s. Martin 1981; ähnlich Boehm 1971 S.56. Nach Gregor HF II.9 saßen die Burgun­ der aus der Sicht der Franken „jenseits“ der Rhone um Lyon (Gregor projiziert diese Sicht anachronistisch in eine frühere Zeit); vgl. HF 11.32: „Tunc Gundobadus et Godegisilus fratres regnum circa Rhodanum et Ararem (i.e. Saone) cum Massiliensem provinciam retinebant“. 145 So Anton 1981. Klingshim 1994 S.17: Auf dem Höhepunkt umfaßte das Burgunderreich die Lugdunensis I, den Großteil der Maxima Sequanorum sowie Teile von Viennensis, Narbo­ nensis II., Alpes Graiae und Alpes Maritimae. 146 Boehm 1971 S.60. Zur Burgundia vgl. Gregor HF 11.33; als fester Landschaftsname mehrfach auch in Gregors Vit.Patr. (MGH SS rer Mer 1.2: S.56.12; 95; 155.16; 214.5); vgl. Varien 1.46. 147 Boehm 1971 S.56. Allerdings ist mit dem Zuzug weiterer Burgunder zu rechnen: 407 n.Chr. hatten sich die Burgunder aufgeteilt, die Daheimgebliebenen zogen erst nach dem Fiasko der Hunnen 453 nach, vgl. L.Burg. Extrav. D (21).12. - Coville 1928 S.153 begründet inter­ essanterweise seine völlig überzogenen Zahlen (NOTE 51 SEITE 53) u.a. damit, daß anders ein so umfangreiches Territorium gar nicht hätte kontrolliert werden können. 148Thompson 1982 (1977) S.178; Burckhardt 1938 S.23. Zum folgenden Mathisen 1993 S.27ff., passim.

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ten149 (s. Sidonius carm.VII.218-229,30Iff.) konnten später zu Amtsträgern und Höflingen werden. In Gallien, wo es kaiserliche Zentral- und Hofämter nicht gab, knüpften die Barbaren an „mittlere und kleinere römische Verwaltungseinheiten an“150. Dabei bestreitet auch H.Wolfram die Gestaltung der Provinzialverwal­ tung direkt nach römischem Vorbild und denkt vielmehr an eine Anpassung an den kleinen Raum; Stadtbezirke wurden ausgedehnt. So begannen sich in Gallien auch Reichsbeamte insbesondere seit der Expansion nach 455 zunehmend auf die Westgotenkönige zu beziehen: „As arbitrators in local disputes, as the nearest military leaders, and as increasingly attractive sources of patronage and promoti­ on, the kings ... effectively compensated for relative military weakness with adroit diplomacy, conciliating friends and exploiting the divisions among their opponents“151. H.Wolfram wies auf die Motive dieser veränderten Ausrichtung hin: Seit Ende des 4.Jh.s verloren die römischen Kaiser und ihre Generale Glaub­ würdigkeit und Erfolgsaussichten. Dadurch mußten zunehmend die germani­ schen reges als Anführer attraktiv erscheinen, so daß sie bald, oft mit hohen Ämtern versehen, zur einzigen Autorität ihrer Region wurden152. Diese Entwicklung veranschaulicht die Geschichte des Agrippinus, der ab 452 MM per Gallias gewesen war. Ihm wurde Verrat bzw. Kollaboration mit den Westgoten vorgeworfen: Hydatius 212:,Agrippinus Gallus et comes et civis Egidio comiti viro insigni inimicus, ut Gothorum mereretur auxilia, Narbonam tradidit Theudorico“. Es fällt auf, daß Sidonius über Agrippinus vollständig schweigt. Interessant der Bericht der Vita Lupicini 11 ff.: „Vir quondam inlustris Agrippinus, sagacitate praeditus singulari atque ob dignitatem militiae saecularis comes Galliae a principe constitutus, per Aegidio (!) tum magistrum militum callida malitiosaque apud imperatorem arte fuerat offuscatus, eo quod Romanis fascibus livens, barbaris procul dubio favere et subreptione clandestina provincias a publica niteretur ditione desciscere. Mox praecepta imperatoria inflammata praecipiunt, uti rei publicae inimicum Romae regia severitate plectendum magister militum, qui accusaverat, d e s tin a r e tAgrippinus wird schließlich unter Bewachung nach Rom geführt (Details dazu bei Demandt 1970 c.692). Sein Nachfolger wurde Aegidius, der einen rigideren Kurs gegenüber Föde­ ralen und Barbaren einschlug. Die Grundlage der Anklage bildete offensichtlich der unbestreitbar enge Kontakt des Agrippinus zum Westgotenkönig. Nach dem Scheitern Majorians ersetzte Ricimer den Aegidius wieder eben durch Agrippi­ nus153. Ein ähnliches Verhalten läßt sich beim vicarius septem provinciarum 149 S. Sidonius carni. VII.218-220, 301ff.; zum wechselvollen Schicksal römischer Berater an den Germanenhöfen vgl. auch Paulinus Pell. Euch V.513ff. über seinen Sohn als Berater Theoderichs I.: „inter amicitias versatus regis et iras/ destituit prope cuncta pari mea commoda sorte'’’”, Avitus ep.51f. über Sidonius* Sohn Apollinaris, der unter Gundobad diente. 150Wolfram 1979 S.16. 151 Harries 1994 S.251. 152 Wolfram 1970 S.8. 153 Aus Vita Lupicini 1Iff. ist auf Agrippinus’ ehrenvolle Entlassung zu schließen, späte­ stens 463 muß er durch Gundobad abgelöst worden sein.

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Seronatus, der offenbar den Westgoten Gebiete zuzuspielen suchte154, oder auch dem PPO Arvandus beobachten: Der höchste Beamte des „reströmischen“ Galli­ en schlug Eurich 468/469 vor, Gallien mit den Burgundern, d.h. unter die beiden stärksten und am weitesten romanisierten Stämme, aufzuteilen. Arvandus vertrat damit vielleicht gallische Interessen, die sich sowohl gegen einen römischen Zentralismus und den Graeculus Anthemius als auch gegen die Zersplitterung seines Landes gerichtet haben dürften155. Arvandus und Seronatus sind als unter­ schiedliche Vertreter einer rom- und imperiumsfeindlichen Haltung in Gallien anzusehen. In starkem Kontrast dazu verlief die vandalische Gründungsgeschichte: König Gunderich hatte gegen Römer und rivalisierende Barbaren eine vandalische Vormachtstellung in Spanien behauptet und mit dem Aufbau der später so wich­ tigen Flotte begonnen. Sein Halbbruder Geiserich, der 428 als König nachfolgte, faßte den Entschluß nach Afrika überzusetzen. Dabei bestimmte ihn wohl der Wunsch, die dauernden Behauptungskämpfe auf der iberischen Halbinsel gegen den strategisch leichter zu sichernden Wohlstand Afrikas einzutauschen. Dort war eben die Rebellion des Bonifatius zu Ende gegangen, der seinen persönlichen Feinden in Ravenna gegrollt hatte156. Im Mai 429 landeten die Vandalen nach perfekt organisierter Einschiffung in Nordafrika. Sicherlich mitentscheidend für den schließlichen Erfolg der Vandalen war einmal der Umstand, daß Bonifatius, der bis dahin dem Vormarsch der Vandalen Widerstand geleistet hatte157, bei seinem Weggang nach Rom 432, wo er zum ersten Reichsfeldherm aufrückte, 154Sidonius mit andeutungsreichen Wendungen in ep.II.l: Seronatus „ructat inter cives pugnas, inter barbaros litteras“, „implet cottidie silvas fugientibus villas hospitibus“, „exsul· tans Gothis insultansque Romanis, inludens praefectis conludensque numerariis, leges Theo­ dosianas calcans Theudoricianasque proponens, veteres culpas nova tributa perquirit ... si nullae a republica vires, nulla praesidia, si nullae - quantum rumor est - Anthemii principis opes, statuit te auctore nobilitas seu patriam dimittere seu capillas. V. 13. VII.7: „illi (sc.Arvemi) amore rei publicae Seronatum barbaris provincias propinantem non timuerunt legibus tradere, quem convictum deinceps res publica vix praesumpsit occidere 155 Sidonius ep.1.7 zum „casus A r v a n d iWegen seiner zweiten Präfektur wurde er nach Rom gebracht; die Provinzialen verklagten ihn dort „publico nomine... cum decretalibus gestis“. Entscheidender Anklagepunkt wurde ein abgefangener Brief an den Westgotenkönig „... haec ad regem Gothorum charta ... pacem cum Graeco im-peratore dissuadens, Brittanos supra Ligerim sitos impugnaturi opportere demonstrans, cum Burgundionibus iure gentium Gallias dividi debere confirmans“. Dies galt als „laesae maiestatis c r im e n daher Cassiodor Chr. 1287 ad 469: yyArabandus imperium temptans“. Vgl. schon Paulinus von Pella Euch.302ff. 156 Prosper Tiro 1294 zu 427: Im Verlauf des Kampfes zwischen Bonifatius und den Reichs­ generalen wurde den gentes die Überfahrt ermöglicht; zu Bonifatius vgl. Demandt 1970 c.655657. Es ist umstritten, ob Bonifatius zuvor den Vandalen Schiffe und Know-how für das Über­ setzen zur Verfügung gestellt hatte, um sich gegen die verfeindete Reichszentrale Unterstützung zu sichern; zur Diskussion Martin 1995 S.170f. 157 Vgl. insbesondere Possidius V.Aug. 28ff. Bonifatius hielt Städte wie Cirta, Hippo oder Carthago z.T. auch gegen monatelange Belagerung. Doch letztlich setzten sich die Vandalen ohne größere Schlachten durch, da sich die römische Hoheit unter dem Dauerdruck nicht auf­ recht erhalten ließ.

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einen guten Teil des Heeres mitnahm. Zum andern hatte Nordafrika in den drei Jahrzehnten vor der Ankunft der Vandalen schwere innere Zerwürfnisse erlebt: Neben den letzten, schweren Schlägen gegen die Donatisten um 409/410 hatte die Region auch insgesamt drei Erhebungen eines comes Africae158 erlebt! 435 kam es im Frieden von Hippo zu einer ersten Anerkennung der Vandalenherr­ schaft durch Ravenna. 442, also über 30 Jahre vor dem Abkommen mit Eurich, wurde endgültig Frieden zwischen dem Reich und den Vandalen geschlossen, der 474 mit Ostrom nach der gescheiterten großen Expedition Leos erneuert wurde. So gründeten die Vandalen das erste Reich, das vom Römischen Reich als un­ abhängige und eigenständige Einheit anerkannt wurde. Vermutlich hängt es also mit der vergleichbaren Genese zusammen, daß bei Westgoten und Burgundern die comites in der Regionalverwaltung eine ähnliche Rolle spielten. In beiden Reichen fungierten sie als maßgebliche Amtsträger der Stadtbezirke. In beiden Reichen war zwar die Trennung in Provinziale und Gentile nicht aufgehoben und hinterließ auch gewisse Spuren in der Administra­ tion; doch führte diese Trennung nicht zu grundsätzlich verschiedenen Appara­ ten. Vielmehr waren für beide Bevölkerungsgruppen comites zuständig. Mit einem Unterschied allerdings: Während in Burgund je ein comes für die Roma­ nen bzw. die Germanen verantwortlich zeichnete, stand an der Spitze der Regio­ nalverwaltung des Westgotenreichs nur je ein (meist germanischer) comes. Dazu nun Genaueres:

b. Die burgundischen comites Die Burgunder fanden, als sie die Macht nach und nach über ein zunächst nur bruchstückhaftes Gebiet gewannen, keine Institutionen der Zentralverwaltung vor. So bestand die Verwaltung ihres Reichs, ähnlich wie bei den Merowingern, in erster Linie aus dem König und seinem Hof einerseits sowie den Städten als einziger Untergliederung andererseits. Die civitas, immer schon Schwerpunkt der römischen Verwaltung, bildete auch im Westgotenreich neben dem Hof die administrative Grundstruktur. Die römische Provinzialverwaltung hatte sich auf­ gelöst158159, mit ihr waren auch die Vikariate ganz weggefallen, provinciae“ bezeichnete in der L.Burg. wie auch in anderen Reichen nun zumeist das Reichs­ gebiet (SEITE 262). Die Regionen gliederten sich nach civitates bzw., wenn es keine zentrale Stadt gab, nach pagi. Die Bezeichnungen entsprachen einander weitgehend160. Die Gliederung in „städtische Provinzen“ dürfte auch eine Stelle 158 Gildo 398, Heraclianus 413 und Bonifatius 427-429. Auch die Bewegung der circumcel­ liones deutet auf soziale Unruhen in Nordafrika hin (s. SEITE 324 mit NOTE 24). Dazu auch Vismara 1987 (1980) S.534f. 159 So auch Stüven 1995 S.75f.; schon für Coville 1928 S.219 war im Burgunderreich „nichts weniger klar als das Verwaltungsleben“. Auch Perrin 1968 hat zur Verwaltung S.480-486 sehr wenige Belege. 160 So Stüven 1995 S.75f. Jahn 1974 S.86 Anm.3 unter Hinweis auf den tautologischen

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in der Vita Epiphanii (c.171) belegen: Demnach wurde Ennodius Zeuge, wie auf königliche Anordnung 400 Kriegsgefangene aus Italien in Lyon freigelassen wurden, ähnliches geschah „per singulas urbes Sapaudiae vel aliarum provin­ ciarum“ (insgesamt wurden mehr als 6000). Diese Freilassung wurde offensicht­ lich über die Städte organisiert, die Provinzen erscheinen lediglich als Bezeich­ nung der Regionen. Allerdings gilt hier wie insgesamt, daß der Aufbau der burgundischen Verwaltung aufgrund der oft zweideutigen und widersprüchlichen Quellenlage weitgehend undeutlich bleibt. Civitates bzw. pagi ersetzten also die Provinzen als Einheiten der Regional­ verwaltung. Diese wurden durch comites verwaltet. Dabei agierten pro Gebiet vermutlich zwei comites, je ein Römer und ein Burgunder. Damit wollte man wohl beiden Bevölkerungsgruppen gerecht werden; vielleicht war auch die Tren­ nung in zivilen und militärischen Sektor noch spürbar161. Für diese Annahme sprechen folgende Belege: L.Burg. pr.const. 5 (,ßurgundiones quoque et Romani civitatum aut pagorum comites“) und 13 (,Jtomanus comes vel Burgundio“), Extrav. 21 D 11 („omnes comites, tam Burgundiones quam Romani“) sowie pr.const. 6 und 13 (,JStullam causam absente altro iudice vel Romanus vel Burgundio iudicare praesumat, quatenus studeat, ut saepius expetentes se de legum ordine incerti esse non possint“) 162. Daß hier auch Römer als comites agierten, ist als bemerkenswerte Ausnahme zu verbuchen, zu der paßt, daß im Burgunderreich auch Romanen zum Heerdienst zugelassen waren163. Von diesen comites sind zunächst Generale wie die oben SEITE 220 genann­ ten Paulus, Marcellinus oder Syagrius zu unterscheiden. Dieser Typ, der seinen Ausgangspunkt wohl vom comes r.m. nahm, entwickelte sich aus regionalen Machthabern zwischen dem untergehenden römischen Imperium und germani­ schen Anführern164. Dort ist comes Arbogast von Trier einzuordnen, der also nicht zu den burgundischen comites civitatis gehörte. Arbogast wird in zwei ausführlichen Quellen beschrieben165: Er wird als „comes designatus“, zukünfti-

Gebrauch von vel (das er nicht von aut absetzt): Der burgundische comes pagi war für das territorium civitatis zuständig, daher seien CC und comes pagi identisch gewesen. Vgl. auch Huschner 1993 c.1625. Anders unterteilt Esders 1997 S.245 in burgundische comites pagi und romanische comites civitatis, allerdings ohne Grundlage in den Quellen. 161 So u.a. Jones LRE I S.261; Wolfram 1990b S.362; Richard 1983 c.1093; Hendy 1988 S.45ff.; vorsichtig zustimmend Ebling 1986 c.73. Coville 1928 S.216f. Ewig 1976 (1969) S.452. 162Stüven 1995 S.76 geht wegen der 31 Unterschriften in der L.Burg. von nur je einem comes aus; er will die angeführten Stellen als Ausdruck dafür interpretieren, daß prinzipiell auch Romanen für die comitiva zugelassen waren; die Formulierungen dieser Stellen passen jedoch nicht recht in ein solches Modell, und er kann auch nicht erklären, warum den Pactus dann (fast) ausschließlich Germanen unterschrieben. S.u. nächste SEITE. 163 So Stüven 1995 S.76; anders Ewig 1976 (1969) S.452f. Zum Heerdienst s.o. SEITEN 23 Iff. 164 Ewig 1976 (1955) S.410L sieht in den CC von Trier, Marseille, Autun „lokale Machtha­ ber, die in der Zeit des Zusammenbruchs die Leitung römisch verbliebener Teilgebiete übernah­ men“, die teils vom Kaiser durch den comes-Rang legitimiert wurden. 165 Sidonius ep.lV.17. Auspicius von Toul ep.V.17 (MGH Epp. III, S.135ff.), ein Panegyri­ cus bzw. eine Art „christlicher Adelsspiegel“ (Heinzeimann 1976 S.166; vgl. auch Wightman

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ger Inhaber einer „illustris potestas“ und „comes Treverorum“ bezeichnet und dabei eindeutig als Militär charakterisiert. Er war der Sohn eines ,/iobilis pater“ Arigius166 und Nachfahre des berühmten MM Arbogast. Die Familie war mithin längst romanisiert und wohl Teil der Senatsaristokratie; Arbogast selbst war, laut Sidonius, katholisch und hoch gebildet. Zum Burgunderreich gehörte er nicht, da Trier kaum dem burgundischen Machtgebiet zugerechnet werden kann. Auch die panegyrische Tendenz beider Texte spricht dagegen, daß Arbogast Vasall eines Germanenkönigs oder des Aegidius war. Er scheint eigenständiger Militär- und Zivilchef dieser Region gewesen zu sein. Die Rangattribute deuten auf einen „spezifischen spätantiken Comitat“ hin: Arbogast „regierte selbständig im Na­ men Roms“, nicht in untergeordneter Stellung, wenn auch vermutlich mit fränki­ scher Duldung. Das Gebiet umfaßte zwar nicht mehr die ganze Belgica I, jedoch das Umfeld der civitas Trier, so auch Toul167. Mit Sicherheit kämpfte er für die römische, katholische Sache. Seine Stellung ist somit der des comes Paulus oder des Syagrius vergleichbar, da auch er eine römische „Insel“ im fränkischen Umfeld längere Zeit verteidigte168. Wenn Arbogast in den 480er Jahren tatsäch­ lich als Bischof von Chartres nachzuweisen ist, bedeutet das, daß auch er letztlich dem Druck der Rhein-Franken weichen mußte169. Nun zu den burgundischen comites. Sie spielten als Bezirksvorsteher eine führen­ de Rolle im Reich. 1.) Den Pactus der L.Burg. unterschrieben um 500 n.Chr. 31 Würdenträger, die sämtlich den Rang eines comes einnahmen. Hier wurde in erster Linie das Recht der Burgunder festgesetzt. Die Unterschriften sind „weniger als Hinweis auf eine wie auch immer geartete Mitwirkung am Gesetzgebungsprozeß, sondern doch eher ,im Sinne einer Verpflichtung auf das Gesetzbuch' aufzufassen“, als eine „Zustimmungserklärung der ausführenden Beamten“170. Das Burgunder­ reich soll ca. 25-28 Städte umfaßt haben, wie sie für die Region unter römischer Herrschaft in der Not.Dign. verzeichnet waren. Diese Verpflichtung leisteten vorzüglich die germanischen Regionalkommandanten: Außer Silvanus erschei-

1970 S.70, 250f. bzw. 1985 S.304). Heinen 1996 S.267-269 folgt zurecht der vorzüglichen Rekonstruktion Antons 1987 S.50-58 bzw. 1984 S.22ff., besonders 36f. Anton datiert Auspicius‘ Schrift auf 475-477 als Reaktion auf den Brief des Sidonius von 475 oder 476 n.Chr. 166 Anton 1987 S.53.vermutet, ohne hier überzeugen zu können, daß schon Arigius eine solche Position eingenommen habe. 167 Anton 1987 S.54f. spricht von einem „Novum der ... verfassungsrechtlichen Situation“. 168 So auch Anton 1987 S.54. Die Widerstandskraft basierte einmal auf der energischen Politik von Aetius und Aegidius, die in der Gegend um Trier die römische Ordnung stabilisiert hatten (vielleicht auch auf dem Status Triers als früherer Kaiserresidenz); zum anderen war womöglich der Organisationsgrad der rheinischen Franken noch nicht so hoch, daß sie das gesamte Umfeld hätten kontrollieren können. 169 Vgl. dazu insbesondere Anton 1987 S.55-58. Wahrscheinlich floh damals auch der Trierer Bischof Iamblychus, dessen Grab sich in Chalon-sur-Saone befindet, s. auch Wightman 1985 S.304. ,70Esders 1997 S.245, der Nehlsen 1978a c.1908 zitiert.

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nen dort nur germanische Namen171. „Populus noster“ spricht dabei wie im Ostgotenreich zuerst die Angehörigen des Einwandererverbandes an172. Bei der Schenkungsurkunde für das Kloster St.Mauritius von Agaunum handelt es sich zwar wohl um eine Fälschung, u.a. weil mit 60 comites und 60 Bischöfen zu hohe Zahlen genannt werden. Dennoch könnte sie authentische Informationen benutzt haben, da manches an den Pactus der L.Burg. erinnert: Einmal die Zusammensetzung des Kreises aus den städtischen comites, deren Zahl genau jener der Bischöfe entspricht; zum zweiten erscheinen (zweimal) in den Unterschriften neben den drei Bischöfen von Genf, Grenoble und Lyon acht comites; von diesen sind zwei als Romanen und sechs als Germanen auszuma­ chen173. Wieder wird deutlich, daß im Burgunderreich, anders als bei den Ostgo­ ten, auch Romanen als regionale comites amtieren konnten. Diese Beobachtung deckt sich damit, daß „comites “ als pars pro toto zur Bezeichnung für die Großen des Reiches wurde, die am conventus Burgundio­ num teilnahmen. Die burgundischen comites veröffentlichten gemeinsam mit dem König die neuen Gesetze174. 2.) Die comites standen gewöhnlich an der Spitze der lokalen Exekutive, bildeten die oberste judikative und militärische Instanz. Sie waren die obersten Richter, direkt unter dem König, von dem sie eingesetzt wurden und an den sie sich bei Problemfällen direkt wandten (L.Burg. 76). Sie hatten Strafgewalt, wie aus L.Burg. Extrav. A (19). 1,3 und D (21). 11 hervorgeht. Sie kontrollierten die Reste der römischen Administration, deren Umfang sich allerdings kaum bestimmen läßt. Jedenfalls verfügten sie mit den notarii über Kanzleischreiber175, dazu über subalterne Exekutivbeamte, die witiscalci (s.o. SEITEN 200f.). Das Grafenamt „setzte faktisch den römischen Provinzstatthalter, allerdings in kleineren Bezir­ ken (civitates oder pagi), mit der für alle Germanenreiche typischen Befugniser­ weiterung durch die Verbindung von Zivil- und Militärgewalt fort“176. In welche Bereiche sie sonst noch eingriffen, entzieht sich unserer Kenntnis. 171 Ebling 1986 c.73 hält alle Unterzeichner für Germanen; anders Coville 1928 (eventuell ist „Avenarii“ und „Valerii“ statt „Avenaharii“ und „Wallaerii“ zu lesen); s. auch Perrin 1968 S.482f. m.Anm.505; S.568. 172 L.Burg. 53 und 74 bezeichnen die burgundischen Räte als „obtimates populi nostri“. So kann sich das Gottesurteil „inter homines nostros“ in L.Burg. 45 allein auf die Burgunder beziehen. Weitere Stellen, wo noster eindeutig für die Gentilen verwendet wird: L.Burg. 1.3; 43; 51; 53; 54; 74; 76. Auch Esders 1997 S.245 sieht in den Subskribenten den germanischen Teil der regionalen Amtsträger. 173Pardessus Nr.l03f. Die Namen der comites: Videmar, Fredemund, Gundeulf, Benedic­ tus, Agano, Bonifatius, Theudemodus, Fredeboldus. 174 L.Burg. Extravag. A (19); pr.const. „Habito consilio comitum et procerum nostrorum“; pr.const. 1 und 5, vgl. SEITE 136, es folgen die Unterschriften der 31 comites·. Extravag. D (21) Vorrede „domnus noster gloriosissimus Ambariciaco in conventu Burgundionum instituit: Ha­ bito nunc cum comitibus nostris tractatu praesenti constitutione decrevimus“; ähnlich L.Burg. 76; 49.1; 79.4. Keine comites in L.Rom.Burg., dafür werden mehrfach iudices genannt (vgl. L.Burg. 71). Vgl. auch L.Burg. pr.const. lpr.; 3; 14; 49pr.; 76. 175 Die notarii deputatorum iudicum erfüllten wohl dokumentierende Funktionen in der Verwaltung, pr.const. 7. 176 Boehm 1971 S.63. Vgl. Ebling 1986 c.73 zur Funktion der comites: Sicher sei „aus-

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Außer der L.Burg. überliefert noch die Vita Eptadii177 einen unzweifelhaft burgundischen comes: Sigifunsus erscheint hier als ein arianischer Gegner des Heiligen, der sich schließlich bekehrt; da er in der Gegend um Autun agiert, könnte er comes dieser Stadt gewesen sein. Einer dieser comites könnte auch der v.i. Ansemundus gewesen sein, den wir aus den Avitusbriefen 49, 71 und 72 kennen. Das Rangprädikat beweist ein hohes Amt; für das comes-Amt Anse­ munds könnte sprechen, daß unter den unterzeichnenden comites der L.Burg. der Name Ansemundus gleich mehrfach vorkommt, so daß unser Ansemund leicht mit einem dieser comites identifiziert werden könnte. Eine Generation später gab es in Burgund wieder einen einflußreichen Ansemund: Die späte Chronik Ados von Vienne178 berichtet s.a.575 von einer ,JRemila Ansemundi ducis filia“; nach der Passio S.Sigismundi 10 wandte sich der Abt von Agaune ,