Am Rand der Autobiographie: Ghostwriting - Signatur - Geschlecht [1. Aufl.] 9783839403754

Jeder Autobiograph agiert als sein eigener Ghostwriter. Indem er seine Lebensgeschichte schreibt, spaltet er sich auf in

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Am Rand der Autobiographie: Ghostwriting - Signatur - Geschlecht [1. Aufl.]
 9783839403754

Table of contents :
INHALT
Vorwort
I. Autobiographie
1. Das Ende der Autobiographie
2. Das Subjekt der Autobiographie
3. Das Geschlecht der Autobiographie
II. Ghostwriting
1. Ghostwriter, Autor und Autorin
2. Geist, Ghost und Urheberrecht
3. Der autobiographische Spuk
III. Wessen Autobiographie? Alice B. Toklas / Gertrude Stein
1. Erzählen schreiben:Wer schreibt? Wer spricht?
2. Erzählen erzählen:Toklas als Augen- und Ohrenzeugin
3. The UnMaking of Authorship: Ghostwriting Autobiography
IV. »›Welche Geschichte!‹« Rahel Varnhagen / Hannah Arendt
1. Nicht »über die Rahel«: Grenzfall der Biographie?
2. Dämon hinter dem Rücken: Die Autobiographie der Anderen
3. Ghostwriting als Lektüre: Zitieren und Erzählen
V. Schlußbemerkungen
Anmerkungen zur Zitierweise
Literatur

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Heide Volkening Am Rand der Autobiographie

Heide Volkening (Dr. phil.) ist Assistentin am Institut für deutsche Philologie der LMU München. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Literaturtheorie, Gender und Cultural Studies. Sie ist Mitherausgeberin von »Grenzüberschreibungen. ›Feminismus‹ und ›Cultural Studies‹« (2001) und »Working Girls. Zur Ökonomie von Liebe und Arbeit in der Moderne« (erscheint 2006).

Heide Volkening Am Rand der Autobiographie. Ghostwriting – Signatur – Geschlecht

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2006 transcript Verlag, Bielefeld Zugl. München, Univ., Diss. 2003 Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Heide Volkening Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-375-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT Vorwort 7

I. Autobiographie 11

1. Das Ende der Autobiographie 13

2. Das Subjekt der Autobiographie 26

3. Das Geschlecht der Autobiographie 35

II. Ghostwriting 53

1. Ghostwriter, Autor und Autorin 55

2. Geist, Ghost und Urheberrecht 72

3. Der autobiographische Spuk 84

III. Wessen Autobiographie? Alice B. Toklas / Gertrude Stein 103

1. Erzählen schreiben: Wer schreibt? Wer spricht? 107

2. Erzählen erzählen: Toklas als Augen- und Ohrenzeugin 124

3. The UnMaking of Authorship: Ghostwriting Autobiography 150

IV. »›Welche Geschichte!‹« Rahel Varnhagen / Hannah Arendt 173

1. Nicht »über die Rahel«: Grenzfall der Biographie? 175

2. Dämon hinter dem Rücken: Die Autobiographie der Anderen 196

3. Ghostwriting als Lektüre: Zitieren und Erzählen 219

V. Schlußbemerkungen 233

Anmerkungen zur Zitierweise 240

Literatur 241

VORWORT Die Autobiographie gilt als Ort des Zusammentreffens von Leben, Subjekt und Schrift. So heißt es in einer frühen Definition der Gattung, die Autobiographie sei wörtlich zu nehmen, sei »die Beschreibung (graphia) des Lebens (bios) eines Einzelnen durch diesen selbst (auto)«.1 Allerdings kommt es bereits in dieser Definition zu einer Verdopplung, insofern das auto der Autobiographie in den ›Einzelnen‹ und das schreibende ›Selbst‹ aufgespalten wird. Philippe Lejeune hat diese Aufspaltung in seinem Konzept des autobiographischen Pakts differenziert, indem er zwischen Autor, Erzähler und Protagonist unterscheidet. Auch für ihn gilt jedoch deren Identität als unhintergehbare Voraussetzung der Autobiographie.2 Obwohl die gattungstheoretischen Überlegungen zur Autobiographie das Selbst als Identität ins Zentrum rücken, sind sie gezwungen, seine Aufspaltung oder Vervielfältigung zu beschreiben. Das Selbst spaltet und doppelt sich in ein Selbst, das der Seite des bios, und in ein Selbst, das der Seite der graphie zugeordnet werden kann. Dieses Grundproblem jeder Autobiograpie-Definition wird in der vorliegenden Studie mit der Figur des Ghostwriters in den Blick genommen. Längst ist Ghostwriting in vielen Bereichen eine eingestandene Praxis, auf den Covern von Autobiographien prominenter Schauspieler oder Sportler werden Ghostwriter häufig namentlich genannt. Ist der oder die Porträtierte durch Bild-Medien bekannt, ist die Erwähnung des Ghostwriters inzwischen fast der Regelfall. Anders sieht es in Bereichen aus, die auf die eine oder andere Weise an ›Originalität‹ orientiert sind. Redenschreiber von Politikern sind namentlich nicht bekannt, auch wenn ihr Vorhandensein allgemein gewußt wird. Ghostwriting in den Bereichen Literatur und Wissenschaft ist von Fälschung und Betrug kaum zu unter-

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Georg Misch: Begriff und Ursprung der Autobiographie. In: Günter Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt 1997, 33-54, hier 38. Vgl. Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt. Übers. v. Wolfram Bayer u. Dieter Hornig. Frankfurt/M. 1994, 13f.

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AM RAND DER AUTOBIOGRAPHIE

scheiden. Der Ghostwriter ist dann eine problematische Figur, wenn er in Kontexten auftaucht, die durch die »Funktion ›Autor‹«3 bestimmt sind. Autobiographien populärer Zeitgenossen stehen daher nicht im Mittelpunkt des Buches. Vielmehr wird Ghostwriting als ein theoretisches Modell konzipiert, das zur Beschreibung des irritierenden und prekären Verhältnisses von Autorschaft und Text, wie es sich in Autobiographien artikuliert, herangezogen wird. Den ›Autor‹ der Autobiographie durch den Ghostwriter zu ersetzen, trägt der Aufspaltung des autobiographischen Subjekts Rechnung, denn mit ihm läßt sich zwischen Schreibendem und Beschriebenem, aber auch zwischen Verfasser und Signatur unterscheiden. Diese Differenz wird zum Ausgangspunkt einer Analyse der Gattungsdiskussion gemacht, die nicht auf eine neue Definition abzielt, sondern die Unabschließbarkeit einer solchen Definition, ihre strukturelle Unmöglichkeit zu demonstrieren versucht. Die Unheimlichkeit des Selbst, die in den bisherigen Auseinandersetzungen mit der Autobiographie immer wieder artikuliert wurde, ist der Effekt einer gespenstischen Struktur der Autobiographie, die nicht in eine Anwesenheit des Selbst überführt werden kann. Im folgenden werden theoretische und urheberrechtliche Implikationen des Ghostwriting für ein Konzept von Autorschaft erläutert, das für die Autobiographie als Gattung zentral ist. Im Ghostwriting trennt sich der Verfasser eines Textes von seiner Signatur und läßt das Geschriebene unter einem anderen Namen erscheinen. Diese Dissoziation von Schreiber und Signatur trifft ins Zentrum von Autorschaftsmodellen, wie sie in der Gattungsdiskussion relevant geworden sind. In Lejeunes Konzept des autobiographischen Pakts sichert der Eigenname des Autors die Identität von Autor, Protagonist und Erzähler, indem er sie in der Signatur verbürgt. Dies kann aber nur dann gelten, wenn die Signatur selbst eine unproblematische Größe ist. Was passiert mit der Gattungsdefinition, wenn durch die Brille des Ghostwriting Autorschaft als Zusammenspiel von Eigenname und Signatur problematisiert wird? Inwiefern trägt bereits die Signatur als sich in der Wiederholung konstituierende Singularität gespenstische Züge?4 Als Garantin von Identität und Kontinuität wird die Autorsignatur zusätzlich fragwürdig, wenn es sich um den Namen einer Frau handelt, mit dem signiert wird – die Signatur einer Frau, der Name der Autorin, ist strukturell ein ›falscher‹ Name.5 Die Frage des Zusammenhangs von 3 4 5

Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: Ders.: Schriften zur Literatur. Übers. v. Karin von Hofer. Frankfurt/M. 1988, 7-31, hier 18. Jacques Derrida: Signatur Ereignis Kontext. In: Ders.: Limited Inc. Übers. v. Werner Rappl u. Dagmar Travner. Wien 2001, 15-45. Vgl. Barbara Hahn: Unter falschem Namen. Von der schwierigen Autorschaft der Frauen. Frankfurt/M. 1991.

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VORWORT

Geschlecht und Autobiographie wird von dieser Konstellation aus analysiert. Damit sieht die Studie von Versuchen ab, eine Tradition der Frauen-Autobiographie von einer vorgängigen Geschlechtsidentität oder einer spezifisch weiblichen Schreibweise her zu denken. Name und Signatur der Autorin werden sowohl als historisch-soziale Institutionen als auch als textuelle Phänomene konturiert. Das Buch bearbeitet die aufgeworfenen Fragen in der Lektüre gattungstheoretischer Positionen, in der Lektüre der Autobiography of Alice B. Toklas und der Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. Die Gattungsdiskussion wird nicht nur in ihren Kernaussagen und -thesen referiert, sondern auch im Hinblick auf ihre Aussageweisen und die Wahl ihrer Metaphern beobachtet. Daß sich das Thema der Identität in der Forschung immer wieder als ›unheimliches‹ oder ›gespenstisches‹ Szenario formuliert hat, macht den inneren Zusammenhang von Forschungsgegenstand und Forschungsdiskurs deutlich. Die Lektüre der Autobiography und der Lebensgeschichte setzt mit der Frage ein, wie die ausgewählten Texte das Verhältnis von Autorsignatur, Stimme, Schrift und Genre-Konventionen der Autobiographie konstellieren. Die ausgewählten Texte haben den Vorzug, daß sie die Implikationen des Ghostwriting, von denen jeder autobiographische Text betroffen ist, besonders deutlich hervortreten lassen. Beide Texte passen nicht nahtlos in eine streng gefaßte Kategorie der Autobiographie, vielmehr handelt es sich im doppelten Sinn um Arbeiten an ihrem Rand: Sofern von einer bestimmbaren Gattung ausgegangen wird, befinden sie sich einerseits an deren äußerem Rand, an der Grenze zur Biographie. Andererseits bearbeiten sie genau diesen Rand, diese Grenzlinie der Gattung, indem sie die angesprochenen theoretischen Fragen und Probleme adressieren und von ihnen adressiert werden, indem sie die Autobiographie zum Thema machen. Die Texte werden lesbar als Beiträge zur Gattungsdiskussion, sie entwickeln auf unterschiedliche Weise ein analytisches Potential, das in jeweils anderer Sprache und Schreibweise die Diskussionen um die Autobiographie im Hinblick auf den Zusammenhang von Ghostwriting, Signatur und Geschlecht reformuliert und verschiebt.

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I. AUTOBIOGRAPHIE

Es gehört zum common sense der Autobiographie-Gattungsdiskussion, daß von einer einfachen Identität eines autobiographischen Subjekts nicht die Rede sein kann. Die Identität, die in einer Autobiographie in den Blick genommen und zur Darstellung gebracht werden soll, verflüchtigt sich in dem Maße, in dem sie sich ausspricht: »[A]utobiography reveals the impossibility of its own dream: what begins on the presumption of self-knowledge ends in the creation of a fiction that covers over the premises of its construction.«1 Die Vorstellung einer erreichbaren ›Wahrheit‹ des autobiographischen Subjekts erweist sich als Effekt der Darstellungsabsicht der Autobiographie: »Aiming at himself as if he were another, the subject ›shoots for‹ an objective self, even though that object is only an illusion coextensive with the act of shooting.«2 Der Akt der Identifizierung, der ein einheitliches Selbst ermöglichen können soll, setzt zunächst eine Selbst-Distanzierung voraus, deren Überführung in eine Identität schließlich zum Problem wird. Die Identifizierung des eigenen Selbst »operates as a mark of self-difference, opening up a space for the self to relate itself to itself as a self, a self that is perpetually other«.3 In der Autobiographie konstituiert sich dieser Raum als ein textueller, narrativer Zusammenhang, in dem sich das gespaltene SelbstVerhältnis einer potentiellen Selbst-Erkenntnis als Differenz von erzähltem und erzählendem Subjekt bzw. als Differenz von geschriebenem und schreibendem Subjekt zeigt.4 1

2 3 4

Shari Benstock: Authorizing the Autobiographical. Theory and Practice of Women’s autobiographical Writings. In: Dies.: The Private Self. Chapel Hill, London 1988,10-33, hier 11. Marc Eli Blanchard: The Critique of Autobiography. In: Comparative Literature 34.2 (1982), 97-115, hier 98. Diana Fuss: Identification Papers. Readings on Psychoanalysis, Sexuality, and Culture. New York, London 1995, 2. »I who is writing is not the I who is written about« (Felicity A. Nussbaum: The Politics of Subjectivity and the Ideology of Genre. In: Sidonie Smith, Julia Watson (Hg.): Women, Autobiography, Theory. A Reader. Madison, London 1998, 160-167, hier 161). »The split between subject narrating and object narrated constitutes the distance needed to see oneself (as another).« (Leah D. Hewitt: Autobiographical Tightropes, Lincoln, London 1990, 194.)

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AM RAND DER AUTOBIOGRAPHIE

Ziel des vorliegenden Kapitels ist es, unterschiedliche Beschreibungen dieser Dualität, unterschiedliche konzeptuelle Fassungen der Aufspaltung des autobiographischen Subjekts vorzustellen und zu zeigen, inwiefern eine Definition der Autobiographie als Gattung die Wiederherstellung von Identität zur Voraussetzung hat. Angesichts der Ausführlichkeit und Qualität der aktuellen Forschungsüberblicke wird sich die Diskussion darauf konzentrieren, die eigene Fragestellung anhand ausgewählter Forschungsansätze zu entwickeln.5 Aufgesucht werden die Stellen, an denen die Problematik der Herstellung von Identität auf eine besondere Weise verhandelt wird; aufgesucht werden Stellen, an denen in der Autobiographie-Forschung Gespenster oder Figuren des Totlebendigen auftauchen – sei es implizit, metaphorisch, in der Beschwörung einer Gefahr für die Autobiographie oder explizit, als entwickeltes Konzept ihrer Verfahrensweisen. Der erste Teil dieses Kapitels, Das Ende der Autobiographie, konzentriert sich auf die mit der Renaissance der Autobiographie-Forschung zu Beginn der 1980er Jahre gleichzeitig einsetzende und bis heute anhaltende Rede vom ›Ende‹ oder ›Tod der Autobiographie‹ und dessen möglicher Datierung. Wann stirbt die Autobiographie? Gibt es eine Hochzeit dieser Gattung, in der sie lebendig war? Ist der Tod der Autobiographie auf poststrukturalistische Thesen vom ›Tod des Autors‹ oder ›Tod des Subjekts‹ zurückzuführen? Oder ist die Autobiographie selber durch ein gespenstisches Moment des Totlebendigen gekennzeichnet? Im zweiten Teil, Das Subjekt der Autobiographie, wird in einem Durchgang durch historische und aktuelle Positionen der Gattungsdiskussion gezeigt, wie die Aufspaltung des autobiographischen Subjekts als ein jeweils anders akzentuiertes, aber wiederkehrendes Strukturmoment auch und gerade in den theoretischen Positionen auftaucht, die an einer abschließenden Gattungsdefinition arbeiten. Mit Lejeune läßt sich dieses Moment als ein Problem von Referentialität reformulieren, das jeden autobiographischen Text betrifft. Was folgt daraus für die Frage der Identität des autobiographischen Subjekts? 5

Michaela Holdenried: Autobiographie und autobiographischer Roman in der Forschung. In: Dies.: Im Spiegel ein anderer. Erfahrungskrise und Subjektdiskurs im modernen europäischen Roman. Heidelberg 1991, 43-99; Michaela Holdenried: Autobiographie. Stuttgart 2000; Alfred Hornung: American Autobiographies and Autobiography Criticism: Review Essay. In: Amerikastudien 35.3 (1990), 371-407; Antje Kley: Ein kritischer Blick auf die Geschichte der Autobiographieforschung. In: Dies.: »Das erlesene Selbst« in der autobiographischen Schrift. Tübingen 2001, 39-103; Günter Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt ²1998; Gabriele Schabacher: Autobiographie. In: Nicolas Pethes, Jenz Ruchatz (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Reinbek bei Hamburg 2001, 64-67; Robert Smith: Worstward Ho: Some Recent Theories. In: Ders.: Derrida and Autobiography. Cambridge, New York, Melbourne 1995, 51-74; Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. Stuttgart, Weimar 2000.

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AUTOBIOGRAPHIE

Der dritte Abschnitt, Das Geschlecht der Autobiographie, untersucht die Bedeutung der geschlechtlichen Markierung des autobiographischen Subjekts, von dem in den ersten beiden Teilen scheinbar nur in allgemeiner Form die Rede war. Auf welcher Ebene kommt die Geschlechterdifferenz ins Spiel? Wie äußert sich das Verhältnis zwischen der Singularität des Indviduums und der Allgemeinheit des Geschlechts? Wie sich der Autobiographie einer Frau nähern?

1. Das Ende der Autobiographie Es ist zu einem festen Topos der Autobiographie-Forschung geworden, in Einleitungen zu Sammelbänden oder theoretischen wie literaturhistorischen Überblicksdarstellungen zunächst festzuhalten, daß eine genaue Beschreibung dessen, was Autobiographie sei, schwierig, wenn nicht unmöglich ist. So beginnt auch James Olney seinen 1980 erschienenen Sammelband Autobiography. Essays Theoretical and Critical6 mit einem Hinweis auf den prekären Status seines Gegenstandsbereichs: »In talking about autobiography, one always feels that there is a great and present danger that the subject will slip away altogether, that it will vanish into thinnest air, leaving behind the perception that there is no such creature as autobiography and that there never has been – that there is no way to bring autobiography to heel as a literary genre with its own proper form, terminology, and observances.«7 Die Autobiographie – ist sie oder ist sie nicht? Für Olney als jemand, der über Autobiographie spricht, impliziert diese Frage »a great and present danger«. Zwar weiß er noch nichts über die Präsenz des Gegenstandes Autobiographie, doch weiß er zumindest, daß aus dieser Unsicherheit eine sehr präsente8 Gefahr entsteht. Was, wenn das Reden über Autobiographie gar keinen konturierten Gegenstand hätte? 6

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James Olney (Hg.): Autobiography: Essays Theoretical and Critical. Princeton 1980. Dieser Sammelband gilt als »the most influential volume of theoretical essays, which determined the course of autobiography criticism in the United States during the last decade« (Hornung: American Autobiographies (Anm. 5), 395). Daß er »bis heute zu den einflußreichsten der Autobiographieforschung« gehört, stellt Antje Kley gut zehn Jahre später erneut fest (Kley: »Das erlesene Selbst« (Anm. 5), 74). Von »Olney’s groundbreaking critical and editorial work« sprechen Bella Brodzki und Celeste Schenck (Bella Brodzki, Celeste Schenck: Introduction. In: Dies. (Hg.): Life/Lines. Theorizing Women’s Autobiography. Ithaca, London 1988, 1-15, hier 1). James Olney: Autobiography and the Cultural Moment: A Thematic, Historical and Bibliographical Introduction. In: Ders. (Hg.): Autobiography (Anm. 6), 327, hier 4. »Present« bezeichnet eine räumliche und eine zeitliche Gegenwärtigkeit, die beide von Olney angesprochen sind. Die Gefahr steht im Raum, steht vor Augen, und sie zeigt sich gerade jetzt, in diesem Moment.

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AM RAND DER AUTOBIOGRAPHIE

Die von Olney konstatierte Gefahr besteht darin, »that the subject will slip away altogether«, daß das Thema aus den Fingern gleitet, daß es nicht mehr greifbar ist, daß es sich auflöst wie eine Erscheinung: »that it will vanish into thinnest air«. Was sich auf diese Weise verflüchtigen könnte, birgt die Möglichkeit, niemals wirklich da gewesen zu sein. Vielleicht, so Olney, gibt es »no such creature as autobiography« und vielleicht hat es eine solche Kreatur nie gegeben. Mit der Bezeichnung »creature« wird aus der Autobiographie – in der konjunktivischen Verneinung – ein lebendiger Organismus. Als Genre, als klar umgrenzte, quasi-kreatürliche Gattung verfügt sie über eine ihr eigene Form (»its own proper form«), eine ihr eigene Terminologie und ihr eigene Beobachtungen. Wäre die Autobiographie Kreatur, ohne die Gefahr sich im nächsten Moment in Luft aufzulösen, wäre sie in einen Gleichschritt zu bringen, so gäbe es also auch für das Reden über sie eine eigene Terminologie und ihr zugehörige Beobachtungen. Olneys Frage lautet: Gibt es eine Autobiographie-Forschung, wenn es keine Autobiographie gibt? Die Gefahr besteht für ihn nicht nur darin, daß die Autobiographie nicht zu einem Gattungswesen, nicht zu einer Kreatur wird, sondern daß auch die Forschung in die Flüchtigkeit ihres Gegenstandes hineingezogen wird. Die Einheit des Themas, die Einheit der Autobiographie, so wird in Olneys Ausführungen weiter klar, ist abhängig von der Identität des Subjekts. Das »subject«, das zu entgleiten droht, und die Kreatur, die es vielleicht niemals wirklich gegeben hat, bezeichnen bei Olney zwar die Autobiographie als Thema und Gegenstand des Sammelbandes, werden aber auch lesbar als das Subjekt, die Kreatur, die der Gegenstand der Autobiographie sind. Gilt das Subjekt nicht mehr als »authorizing author«, verliert nach Olney auch die Autobiographie an Distinktion. Die Autobiographie droht sich in Luft aufzulösen, weil das Selbst schon aufgelöst ist: »Having dissolved the self into a text and then out of the text into thin air, several critics […] have announced the end of autobiography.«9 Braucht die ›Gattung‹ Autobiographie lebendiges Fleisch? Einen Autor, der sie autorisiert und nicht ein Selbst, das sich im Text auflöst und dieser sich dann in Luft? Das ist, so Olney, die Bedingung, die erfüllt sein muß, damit ein Text im Unterschied zu anderen Autobiographie genannt werden kann, damit die Autobiographie nicht an ihr Ende kommt. Obwohl Olneys Sammelband als »milestone in the progress of autobiography studies toward critical maturity«10 gilt, beginnt er mit der Beschwörung einer gefährlichen Verflüchtigung. Zur gleichen Zeit ist ein

9 Olney: Autobiography and the Cultural Moment (Anm. 7), 22. 10 John Paul Eakin: Foreword. In: Philippe Lejeune: On Autobiography. Hg. v. John Paul Eakin. Minneapolis 1989, vii-xxviii, hier vii.

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rapider Anstieg von Veröffentlichungen zum Thema festzustellen.11 Ebenfalls 1980 sieht William C. Spengemann einen direkten Bezug zwischen der proliferierenden kritischen Beschäftigung und der Auflösung der Autobiographie: »The more the genre gets written about, the less agreement there seems to be on what it properly includes.«12 Weit davon entfernt, die Rede über Autobiographie zu gefährden, ist ihr unklarer Status eher ein produktiver Anlaß für immer weitere Diskussionen.13 Das Ereignis, das Olneys Text mit der Formulierung vom ›Ende der Autobiographie‹ evoziert, wird – mit und ohne dessen bedrohliches Szenario – von diversen Arbeiten zur Autobiographie geteilt. Das ›Ende‹ setzt sich bis heute fort: Autobiographisches Schreiben nach dem Ende der Autobiographie nennt Almuth Fink ihre 1999 erschienene Studie. Offen bleibt die Frage, wo und wann dieses Ende zu situieren ist. Unterschiedliche Vorschläge stehen im Raum: Geht es um eine bestimmte Form der Autobiographie, die literaturhistorisch nicht mehr zu finden ist? Oder liegt es an veränderten theoretischen Prämissen, an den »French critics«, wie Olney vorschlägt, »(for example, Jacques Derrida, Michel Foucault, Roland Barthes, Jacques Lacan, and American adherents like Jeffrey Mehlman and Michael Ryan who have been quick to learn the lesson)«?14

11 Eine Liste der um 1980 entstandenen Monographien findet sich bei Domna C. Stanton: Autogynography: Is the Subject Different? In: Smith, Watson (Hg.): Women, Autobiography, Theory (Anm. 4), 131-144. Ein eindrücklicher Beleg für das andauernde Erstarken der Auseinandersetzung findet sich bei Günther Niggl. In der 1998 erschienenen Neuauflage seiner Aufsatzsammlung Die Autobiographie, dessen Untertitel Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung das verspricht, was Olney in Gefahr sieht, spricht Niggl von einer »sich intensivierende[n] Beschäftigung mit der Gattung« in den letzten Jahren (Günter Niggl: Nachwort zur Neuausgabe. In: Ders. (Hg.): Die Autobiographie (Anm. 5), 593-602, hier 593). Ablesbar wird diese Intensivierung an der für die Neuausgabe erstellten Bibliographie, die – obwohl sie nur einen Zeitraum von etwa 10 Jahren umfaßt – annähernd so viele Einträge enthält (nämlich 294) wie die Bibliographie zur Erstausgabe 1989 (367), »die die Literatur vom Anfang des Jahrhunderts bis etwa 1985 überblickt« (ebd.). 12 William C. Spengemann: The Forms of Autobiography. Episodes in the History of a Literary Genre. New Haven, London 1980, xi. 13 Hornung schlägt daher rückblickend folgendes Etikett für die US-amerikanische Literaturwissenschaft der 1980er Jahre vor: »the decade of the autobiographical turn« (Hornung: American Autobiographies (Anm. 5), 371). 14 Olney: Autobiography and the Cultural Moment (Anm. 7), 22; Jeffrey Mehlmann: A Structural Study of Autobiography: Proust, Leiris, Sartre, LéviStrauss. Ithaca 1974; Michael Ryan: Self Evidence. In: Diacritics 10.2 (1980), 2-16; Ders.: Self-De(con)struction. In: Diacritics 6.1 (1976), 34-45. Olney übernimmt die Liste französischer Kritiker aus Michael Sprinkers Aufsatz in dem von Olney herausgegebenen Band. Dort finden sich zu der Kette von Namen auch eine Reihe von Literaturangaben (Vgl. Michael Sprinker: Fictions of the Self. The End of Autobiography. In: Olney (Hg.): Autobiography (Anm. 6), 321-342, vgl. besonders 322-326).

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AM RAND DER AUTOBIOGRAPHIE

Während bei Olney die Frage des Endes als reiner Willensakt der neuen Kritik persifliert wird,15 haben literarhistorische Untersuchungen seit den 1970er Jahren auf Modifikationen autobiographischen Schreibens hingewiesen, die von sich aus nahelegen, von einem Ende der Autobiographie in ihrer traditionellen Form zu sprechen. 1970 konstatierte Bernd Neumann: »Mit ihrem Gegenstand, dem Bürger als psychologischem und ökonomischem Subjekt, wird auch die Autobiographie in ihrer hochbürgerlichen Form schwinden.«16 Die Form sich selbst gewisser bürgerlicher Innerlichkeit, die für die Autobiographie konstitutiv sei, so argumentiert Neumann, habe sich im Prozeß der Dialektik der Aufklärung an die Äußerlichkeit der Rolle verloren.17 1986 konstatiert Manfred Schneider einen Wandel autobiographischen Schreibens im 20. Jahrhundert. Der Autor gebe nicht mehr vor, »ein natur- oder wahrheitsgetreues Porträt von sich« zu geben, vielmehr werde »das Schreiben selbst zum Ersatz für das unerreichbare Objekt – Körper und Erfahrung des schreibenden Subjekts«.18 Was Neumann als eine Verfallsgeschichte der Innerlichkeit erzählt, ist für Schneider die Fortschrittsgeschichte einer zunehmenden Ablösung von einem polizeilichen Protokoll der inneren Herzensschrift. Weniger schematisch sieht Michaela Holdenried schon in der »klassische[n] Autobiographik«, daß »das zu Selbstbewußtsein gelangte bürgerliche Individuum« durch »Dezentralisierungsbewegungen« gekennzeichnet war. Neben die historische Kategorie ›bürgerliches Individuum‹ setzt sie die literaturwissenschaftliche Kategorie der Fiktionalität. »Ein einheitlich gedachtes Modell verbindlicher Lebensbeschreibung war von je15 »Has criticism of autobiography thus come full circle? Did it will itself and its subject into existence twenty-odd years ago through a belief in the reality of the self, and has it now willed itself and its subject out of existence again upon discerning that there is no more than, as Michael Sprinker puts it, ›fictions of the self‹?« (Olney: Autobiography and the Cultural Moment (Anm. 7), 22.) Olney spielt auf Sprinkers gleichnamigen Text an, vgl. Sprinker: Fictions of the Self (Anm. 14). 16 Bernd Neumann: Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie. Frankfurt/M. 1970, 187. 17 »Solches Fehlen der ›kontinuierlichen Psychologie‹ macht die Autobiographie als Geschichte der Entwicklung einer Individualität unmöglich. Denkbar ist stattdessen eine Art psychischen Protokolls, das, fern jeder Entwicklungsidee, Reize der Außenwelt und Reaktionen der Innenwelt notiert. Ob eine solche Form freilich noch ›autobiographisch‹ zu nennen wäre, steht dahin.« (Ebd., 189.) Ein späterer Aufsatz Neumanns nimmt diese These wieder auf und führt sie pointiert vor: Bernd Neumann: Paradigmenwechsel. Vom Erzählen über die Identitäts-Findung zum Finden der Identität durch das Erzählen: Goethe (1822), Thomas Mann (1910) und Bernhard Blume (1985). In: EddaHefte 2 (1991), 99-108. 18 Manfred Schneider: Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert. München, Wien 1986, 14. Vgl. auch ders.: Das Geschenk der Lebensgeschichte: die Norm. Der autobiographische Text/Test um Neunzehnhundert. In: Michael Wetzel (Hg.): Ethik der Gabe. Denken nach Jacques Derrida. Berlin 1993, 249-265.

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AUTOBIOGRAPHIE

her nur als fiktives zu beschreiben.«19 Historischer Wandel wird in den drei genannten Ansätzen jeweils unterschiedlich konzeptualisiert. Neumann beschreibt Auswirkungen sozialgeschichtlicher Prozesse auf Subjektivitätsformen, Schneider geht es um ein medieninduziertes Selbstverständnis im historischen Wandel und Holdenried um eine zunehmende Fragmentarisierung des Subjekts, die letztlich jedoch einen a-historischen Kern hat, insofern sie vom Problem der Fiktionalität immer schon berührt wird. Alle drei AutorInnen gehen, positiv darauf bezugnehmend oder sich negativ davon abgrenzend, mehr oder minder explizit von einer ›Klassik‹ der Autobiographie im 18. Jahrhundert aus, in der die ›eigentliche‹ oder ursprüngliche Form autobiographischen Schreibens situiert wird. Die in den Blick genommenen Unterschiede zu späteren Texten werden dann als Abweichung von dieser Kern-Form, als Auflösungserscheinung beschreibbar. Von diesem Punkt aus erhält die Rede vom ›Ende‹ ihren Sinn. Dennoch ist in den Überlegungen Holdenrieds eine weitere Begründung des Endes enthalten. Wenn die Vorstellung bürgerlicher Identität, die mit einer ›klassischen Form‹ verbunden war, »nur« fiktiv war, wie Holdenried nahelegt, so wird die Fiktionalität gegen eine womöglich unerreichbare Authentizität in Stellung gebracht. Implizit ist Fiktionalität damit als ein Gegenargument gegen ein »einheitlich gedachtes Modell« des Lebens gesetzt, wird das Fiktive als Gegenbewegung zur Wahrheit des Individuums konzipiert. Eine solche Gegenüberstellung läßt sich jedoch gerade für die »klassische Autobiographik« nicht durchgängig aufrechterhalten. Während zu Beginn des 18. Jahrhunderts ›Wahrheit‹ lediglich als historische Faktenwahrheit gedacht wird,20 kommt es im Laufe des Jahrhunderts zu signifikanten Verschiebungen. So unterscheidet z.B. Christoph Martin Wieland nicht zwischen dem »historischen oder gefabelten Namen« eines Protagonisten, »wenn er nur wahres Leben atmet, nur durchaus würklicher Mensch ist«.21 Wichtiger als die historische Wahrheit ist die Stringenz der Erzählung. Eine gelungene »Abschilderung eines Individual-Characters« bemißt sich danach, ob plausibilisiert werden kann, »wie es zuging, daß er, durch eine Reihe natürlicher Verwandlungen oder Entwicklungen, endlich der Mann wurde und werden 19 Holdenried: Autobiographie (Anm. 5), 53. 20 »In den Poetiken des 17. und frühen 18. Jahrhunderts bis zu Gottscheds Critischer Dichtkunst (1730) wird die nach dem Kriterium der Fiktionalität getroffene aristotelische Unterscheidung von poetischer und historischer Erzählung noch sehr streng bis in den stilistischen Bereich hinein ausgelegt.« (Günter Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert. Theoretische Grundlegung und literarische Entfaltung. Stuttgart 1977, 36f.) 21 Christoph Martin Wieland: Unterredungen zwischen W** und dem Pfarrer zu ***. In: Ders.: Werke, Bd. 3. Hg. v. Fritz Martini u. Hans Werner Seiffert. München 1967, 295-349, hier 340.

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mußte, der er am Ende ist«.22 Die Vorstellung der individuellen Wahrheit des Menschen grenzt sich nicht grundsätzlich von Fiktionalität ab. Vielmehr wird eine je spezifische Individualität erst im Modus des Fiktiven formulierbar. Prominentestes Beispiel dieser Anschauung und Superlativ der Klassik der Autobiographie ist Johann Wolfgang von Goethes Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Goethe begegnet einem möglichen Publikumszweifel an der »Wahrhaftigkeit« seiner Autobiographie, indem er den vermeintlichen Gegenbegriff »Dichtung« in den Titel gleich mit aufnimmt. »Dichtung« sei jedoch von »Erdichtung« zu unterscheiden, sie bezeichne die für die Darstellung notwendige »Rückerinnerung und also die Einbildungskraft« sowie »alles, was dem Erzählenden und der Erzählung angehört«. Nur mit dieser »Art von Fiktion« sei es möglich, »das eigentliche Grundwahre« des eigenen Lebens auszudrükken.23 Fiktionalität im Sinne von Narrativität und poetischer Formgebung, nicht jedoch im Sinne von Erfindung, ist somit für Goethe notwendiger Bestandteil der Schilderung der Wahrheit, die nicht als Faktenwahrheit, sondern als nachträgliche Deutung verstanden wird. Sie ist der gelungenen Individualität nicht entgegengesetzt, sondern diese wird erst durch sie sichtbar. Hinsichtlich des proklamierten Endes der Autobiographie wäre also eher zu fragen, ab wann24 in der Gattungstheorie Einigkeit darüber herrscht, daß Fiktionalität die anvisierte Einheit der Gattung bedroht.25 Den Argumentationen, die wie Holdenried, Schneider und Neumann ein Ende der Autobiographie literarhistorisch herleiten und begründen, steht eine Reihe von Positionen gegenüber, die ausgehend von literatur22 Ebd. 23 Alle Zitate aus: Erich Trunz: Anmerkungen des Herausgebers. In: Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Goethes Werke IX. Hg. v. Erich Trunz. Textkritisch durchges. v. Lieselotte Blumenthal. Hamburg 1964, 599-760, hier 632f. 24 So geht z.B. Georges Gusdorf 1956 noch davon aus, daß die »Wahrheit der Fakten gegenüber der Wahrheit des Menschen« untergeordnet ist. (Georges Gusdorf: Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie. Übers. v. Ursula Christmann. In: Niggl (Hg.): Die Autobiographie (Anm. 5), 121-147, hier 140.) 25 Vgl. Roy Pascal: Design and Truth in Autobiography. London 1960; KlausDetlef Müller: Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit. Tübingen 1976; Paul de Man: Autobiography as DeFacement. In: Ders.: The Rhetoric of Romanticism. New York 1984, 67-81; Sprinker: Fictions of the Self (Anm. 14); John Paul Eakin: Fictions in Autobiography. Studies in the Art of Self-Invention. Princeton 1985; H. Porter Abbott: Autobiography, Autography, Fiction: Groundwork for a Taxonomy of Textual Categories. In: New Literary History 19.3 (1988), 597-615; Ruth Klüger: Zum Wahrheitsbegriff in der Autobiographie. In: Magdalene Heuser (Hg.): Autobiographien von Frauen. Beiträge zu ihrer Geschichte. Tübingen 1996, 405-410; Heidy Margrit Müller (Hg.): Das erdichtete ich – eine echte Erfindung. Studien zur autobiographischen Literatur von Schriftstellerinnen. Aarau u.a. 1998; Carola Hilmes: Das inventarische und das inventorische Ich. Grenzfälle des Autobiographischen. Heidelberg 2000.

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theoretischen Überlegungen ein solches Ende nahelegen. Dieses Ende ist nicht mehr an das Datum eines literarisches Textes gebunden, sondern findet sich in einer veränderten, immer wieder zu aktualisierenden Lektürepraxis, die einen neuen Blick auf die Literaturgeschichte wirft. So legt Candace Lang dar, daß die theoretischen Überlegungen Roland Barthes’ zum Tod des Autors26 in dieser Weise die Einschätzung der Literaturgeschichte beeinflussen. Gegen William C. Spengemann, der Augustinus’ Confessiones als »formal paradigm«27 autobiographischen Schreibens einsetzt, argumentiert sie: »Like those who, upon hearing that ›God is dead,‹ took it to mean that until just recently he had been alive and well, the author of Forms [Spengemann] does not point out that, if the transcendent subject is an illusion, then not only is autobiography ›in the Augustinian sense‹ no longer possible, it never was. Such a deduction constitutes not a disproof of the existence of autobiographies from Augustine to this moment but a reminder that, in this critical age of suspicion, we can no longer read them as before.«28 An die Stelle der Frage nach der Existenz und dem Wesen der Autobiographie tritt die Frage nach ihrer Lektüre. So kann ein verfügbares Wissen über Augustinus’ Bekenntnisse nicht selbstverständlich vorausgesetzt werden, denn dieses Wissen ist das Ergebnis einer kanonisierten Lektüre, die genau wie die Bekenntnisse selbst einer Re-Lektüre zu unterziehen ist.29 Gegen eine historisch eindeutige Datierung betont Lang die »retroactive force«30 der theoretischen Überlegungen Barthes’. Während auf der einen Seite historische Arbeiten zur Autobiographie deren Ende als Form-Abweichung konzeptualisieren und auf der anderen Seite das Ende als Effekt eines bestimmten theoretischen Datums, z.B. dem Erscheinen von Barthes’ Aufsatz, gefaßt wird, das auf die Literaturgeschichtsschreibung zurückwirkt, verstrickt sich der in Frage stehende Tod des Autors selbst in ein Wechselspiel von historischen und theoreti26 Roland Barthes: Der Tod des Autors. Übers. v. Matias Martinez. In: Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez, Simone Winko (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000, 185-197. Barthes’ Aufsatz ist zuerst in englischer Übersetzung und dem Titel The Death of the Author im Aspen Magazine 5-6 (1967) erschienen. 27 Spengemann hebt an Augustinus den Formenreichtum hervor: »[T]his seminal document employs in succession all three of the forms – historical, philosophical, and poetic – that autobiography would assume in the course of its development over the next fifteen hundred years« (Spengemann: The Forms of Autobiography (Anm. 12), xiv). 28 Candace Lang: Autobiography in the Aftermath of Romanticism. In: Diacritics 12.4 (1982), 2-16, hier 5. 29 Zum Verhältnis von Kanon, Lektüre und Autorität vgl. David Martyn: Die Autorität des Unlesbaren. Zum Stellenwert des Kanons in der Philologie Paul de Mans. In: Karl Heinz Bohrer (Hg.): Ästhetik und Rhetorik. Lektüren zu Paul de Man. Frankfurt/M. 1993, 13-33. 30 Lang: Autobiography (Anm. 28), 5.

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schen Thesen. Die Rede vom ›Ende der Autobiographie‹, die sich auf den Tod des Autors stützt, hat daher nicht nur das Problem, wo sie dieses Ende situiert, in der Geschichte der Literatur oder der Literaturwissenschaft, sondern steht auch vor der Schwierigkeit, es zu datieren. Die Frage, wo und wann ein solches Ende stattgefunden hat, ist unmöglich zu beantworten, weil sich historische und systematische Überlegungen permanent – und nicht nur im Text von Barthes – überkreuzen. Einerseits nimmt dieser ausdrücklich auf ein »heute« Bezug31 und gibt darüber hinaus explizite literarhistorische Datierungen vor. Barthes’ Text ist nicht nur Stephane Mallarmé gewidmet, sondern verbindet mit diesem Namen auch ein spezifisches literarisches Ereignis: »In Frankreich hat wohl als Erster Mallarmé in vollem Maße die Notwendigkeit gesehen und vorausgesehen, die Sprache [langage] an die Stelle dessen zu setzen, der bislang als ihr Eigentümer galt.«32 Indem Mallarmé die Rolle des »Ersten« zugesprochen wird, siedelt Barthes seine theoretischen Überlegungen nicht nur auf einer historischen Achse an, sondern trifft auch eine literaturhistorische Aussage. »Der Text wird von nun an so gemacht und gelesen, daß der Autor in jeder Hinsicht verschwindet.«33 Barthes stellt dem alten Autorkonzept den »moderne[n] Schreiber« entgegen, mit dessen Erscheinen auch die Kritik zugunsten des Lesers verschwinden wird.34 Barthes’ Aufsatz läßt sich daher auch nicht auf eine historische Aussage reduzieren. Der ›Tod des Autors‹ findet eine weitere Begründung in der Ursprungslosigkeit der Schrift gegenüber der Stimme. »Die Schrift 31 32 33 34

Barthes: Der Tod des Autors (Anm. 26), 189f. Ebd., 187. Ebd., 189. Gegen Barthes’ historische These hat Paul de Man Einwände erhoben: »When, for example […], you speak of writing since Mallarmé and of the new novel, etc., and you oppose them to what happens in the romantic novel or story or autobiography – you are simply wrong. In the romantic autobiography, or well before that, in the seventeenth-century story, this same complication of the ego (moi) is found, not only unconsciously, but explicitly and thematically treated, in a much more complex way than in the contemporary novel.« (Paul de Man, Diskussionbeitrag in: Barthes-Todorov Discussion. In: Eugenio Donato, Richard Macksey (Hg.): The Languages of Criticism and the Sciences of Man. The Structuralist Controversy. Baltimore, London 1970, 145-156, hier 150.) De Mans Redebeitrag in der Diskussion bezieht sich auf einen in demselben Sammelband erschienenen Vortrag Barthes’, der in vielen Punkten an die Überlegungen von Der Tod des Autors anschließt (To Write: An Intransitive Verb? In: Ebd., 134-145). Entgegen der von Barthes implizierten und von Paul de Man kritisierten »extremely optimistic possibilities for the history of thought« sieht dieser in Barthes Überlegungen nicht den radikalen Bruch, sondern eine Wiederaufnahme formalistischer Thesen. Die Überschneidung, bzw. Nicht-Trennbarkeit von Literaturgeschichte und Literaturtheorie ist Teil der Antwort, die Barthes gibt: »I never succeed in defining literary history independently of what time has added to it. In other words, I always give it a mythical dimension. For me, Romanticism includes everything that has been said about Romanticism.« (Ebd., 150.) Zur ›mythischen Dimension‹ vgl. ders.: Mythen des Alltags. Übers. v. Helmut Scheffel. Frankfurt/M. 1964.

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ist der unbestimmte, uneinheitliche, unfixierbare Ort, wohin unser Subjekt entflieht, das Schwarzweiß, in dem sich jede Identität aufzulösen beginnt, angefangen mit derjenigen des schreibenden Körpers.«35 Dieses Verhältnis von Schrift und Stimme ist nicht an ein bestimmtes historisches Datum gebunden, sondern an eine bestimmte Erzählweise (für die an dieser Stelle Balzacs Sarrasine einsteht):36 »Das ist sicherlich schon immer so gewesen: Sobald ein Ereignis ohne weitere Absichten erzählt wird […], vollzieht sich diese Ablösung, verliert die Stimme ihren Ursprung, stirbt der Autor, beginnt die Schrift.«37 Der ›Tod des Autors‹ in diesem Sinn ist der Tod des sprechenden Subjekts, der Tod der als ›lebendig‹ figurierten Stimme und der Beginn der Schrift.38 Diese zweite Todes-These steht relativ unverfugt neben der historischen Behauptung – relativ, weil es eine Andeutung gibt, wie beide zueinander in Beziehung zu setzen wären: »Allerdings ist dieses Phänomen unterschiedlich aufgefaßt worden.«39 Demnach gäbe es das a-historische Phänomen, den Tod des sprechenden Subjekts in der und durch die Schrift, auf der einen Seite und dessen historisch abweichende Auffassungen auf der anderen, bis hin zum datierbaren Einsetzen einer Konzeption von Autorschaft. Aus dieser Perspektive der erneuten Differenzierung von Phänomen und Auffassung, bzw. von Literatur und Theorie, läßt sich neben Olneys Verdacht gegen die Todes-Erklärungen seitens der »French critics« die Überlegung Almut Fincks stellen, daß die Theorie gegenüber den von ihr untersuchten Texten ein Nachzügler ist. »Eine Relektüre kanonischer Schriften wie der Augustinus’, Rousseaus oder Goethes vermag zu zeigen, daß die autobiographische Praxis schon immer von einem ausge-

35 Barthes: Der Tod des Autors (Anm. 26), 185. 36 Vgl. dazu auch folgende Stelle aus S/Z: »Es war das Weib mit seinen plötzlichen Ängsten, den unerklärlichen Launen, den instinkthaften Verwirrungen, dem grundlosen Wagemut, den Prahlereien und der köstlichen Feinheit des Gefühls. * SEM. Weiblichkeit. Die Herkunft des Satzes ist nicht auszumachen. Wer spricht? Sarrasine? Der Erzähler? Der Autor? Der Autor Balzac? Balzac als Mann? Die Romantik? Die universelle Weisheit? Das Sichkreuzen aller dieser Ursprünge bildet das Schreiben.« (Roland Barthes: S/Z. Übers. v. Jürgen Hoch. Frankfurt/M. 1987, 172.) 37 Ebd., Hervorhebung durch Kursivierung von mir, H.V. 38 Michel Foucault, der in der zur Debatte stehenden Todes-Erklärung des Autors mit Barthes oft in einem Atemzug bzw. Satz genannt wird, hat hingegen davor gewarnt, »die empirischen Charakterzüge des Autors in eine transzendentale Anonymität« zu übertragen: »Ich meine also, daß ein solcher Gebrauch des Begriffs Schreiben Gefahr läuft, die Privilegien des Autors im Schutz des a priori zu bewahren: er läßt im grauen Licht von Neutralisierungen die Vorstellungen fortbestehen, die ein bestimmtes Autorbild geschaffen haben. Das Verschwinden des Autors, ein Ereignis, das seit Mallarmé anhält, wird einer transzendentalen Blockierung unterworfen.« (Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: Ders.: Schriften zur Literatur. Übers. v. Karin von Hofer. Frankfurt/M. 1988, 7-31, hier 14.) 39 Ebd.

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prägten Problembewußtsein hinsichtlich der klasssischen Konzepte von Sprache und Subjektivität gekennzeichnet ist. Die Praxis des Schreibens war ihrer Theorie weit voraus.«40 Bezieht man diese These auf die Frage des Endes der Autobiographie, müßte man wohl davon ausgehen, daß deren Geschichte bereits mit ihrem Ende angefangen hat, bzw. an ihrem Anfang bereits beendet war. »The fragmentation of the self is not an aspect of Modernism but an aspect of language, and Montaigne’s Essais record that fragmentation just as surely as Roland Barthes.«41 Auch stellt sich die Frage, ob in der Gegenüberstellung Fincks die Theorie jemals auf der Höhe der Praxis, d.h. des autobiographischen oder literarischen Textes, sein kann. Die Rede vom Tod oder Ende impliziert den einen, alles abschließenden Bruch – deren stetige Wiederholung im Fall der Autobiographie weist jedoch immer wieder die Unabschließbarkeit dieses Prozesses aus. Es ist also nicht so, daß es gegen die Rede vom Ende der Autobiographie »spricht, daß das vielfach totgesagte Genre gegenwärtig Hochkonjunktur hat«,42 vielmehr scheinen Ende und Hochkonjunktur der Autobiographie in einem komplexeren Verhältnis zu stehen als dem der gegenseitigen Ausschließung. Es spricht daher einiges dafür, das ›Ende der Autobiographie‹ bzw. den ›Tod des Autors‹ in ihr nicht als einmaliges Ereignis zu werten, sondern als unabschließbare Bewegung der ›Gattung‹. So ließe sich auch erklären, warum die Formeln vom Ende und vom Tod immer wiederkehren. »How can something so long-standingly moribund continue to have so robustly unwelcome a life?«43 ließe sich mit Barbara Johnson fragen. Was bedeutet es, eine Gattung wie ein lebendiges We-

40 Almut Finck: Subjektbegriff und Autorschaft: Zur Theorie und Geschichte der Autobiographie. In: Miltos Pechlivanos, Stefan Rieger, Wolfgang Struck, Michael Wetz (Hg.): Einführung in die Literaturwissenschaft. Stuttgart, Weimar 1995, 283-294, hier 290. 41 Jane Marie Todd (Rezension): Being in the Text: Self-Representation from Wordsworth to Roland Barthes. By Paul Jay. Ithaca and London: Cornell University Press, 1984. 191 p. In: Comparative Literature 38.3 (1986), 298f., hier 299. 42 Almut Finck: Autobiographisches Schreiben nach dem Ende der Autobiographie. Berlin 1999, 11. Ähnlich argumentiert auch Sandra Frieden: »Vielleicht könnte man mit Recht sagen, nicht die Autobiographie sei am Ende, wohl aber gewisse Theorien darüber, wie sie zu schreiben, zu lesen und zu erkennen sei. Denn tatsächlich erkennen wir sie – wenn auch zuweilen mit Schwierigkeiten – nach wie vor, wo immer wir ihr begegnen.« Die Forschung habe sich bis zu einem gewissen Grade »erschöpft«, »die Gattung aber existiert weiter und entwickelt sich« (Sandra Frieden: »Falls es strafbar ist, die Grenzen zu verwischen«: Autobiographie, Biographie und Christa Wolf. In: Reinhold Grimm, Jost Hermand (Hg.): Vom Anderen und vom Selbst. Beiträge zu Fragen der Biographie und Autobiographie. Königstein/Ts. 1982, 153-165, hier 154). 43 Barbara Johnson: Double Mourning and the Public Sphere. In: Dies.: The Wake of Deconstruction. Cambridge, Oxford 1994, 16-51, hier 18.

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sen, als Kreatur zu behandeln? Besteht eine Verbindung zwischen der Personifikation der Autobiographie und der Rede von ihrer Auflösung, ihrer Verflüchtigung?44 Warum kann die Autobiographie nur in dem Maße personifiziert werden, in dem ihr die Gestalt wieder abgesprochen und sie zu einer Erscheinung herabgewürdigt wird? Ist vielleicht das Ende der Autobiographie als stetig wiederkehrendes unausweichlich, weil die Autobiographie es verunmöglicht, sich zu ihrer eigenen ›Rettung‹ auf ein einfaches Konzept des Lebens und der Identität zu berufen?45 Diese Spur hat Paul de Man in seinem Aufsatz Autobiography as DeFacement 1979, kurz vor dem Erscheinen des Olney-Sammelbandes, gelegt.46 Obwohl er die Gattungsproblematik explizit verabschiedet, taucht de Man weder in Sprinkers noch in Olneys Liste der ›Totsager‹ auf. Das kann seinen Grund einerseits darin haben, daß der Aufsatz zu kurzfristig erschienen ist, um noch berücksichtigt werden zu können. Andererseits läßt sich de Mans Position auch nicht auf den Nenner der Totsagung bringen. Der Versuch, der Autobiographie den Status einer literarischen Gattung zuzusprechen und sie damit aufzuwerten, bringe, so de Man, eine Reihe von hausgemachten Problemen mit sich. Insofern eine Gattung sowohl eine historische47 als auch ästhetische Kategorie sei, werfe die Gattungsfrage immer wieder die gleichen Probleme auf: »Attempts at generic definition seem to founder in questions that are both pointless and unanswerable. Can there be autobiography before the eighteenth century or is it a specifically preromantic and romantic phenomenon? […] Can autobiography be written in verse?«48 Anhand weniger Beispiele, die bestehenden Definitionen widersprechen, weist de Man nach, daß »each specific instance« eine »exception to the norm« zu sein scheine – »the works themselves always seem to shade off into neighbouring or even incompatible genres«.49 Ihr allmähliches Übergehen in andere Gattungen, die Vergeblichkeit, sie dingfest machen zu können, resultiere, so de Man, aus dem Bestreben, sie überhaupt als Gattung definieren zu wollen.

44 »What does it mean to treat a theory as an animate being? More precisely, what does it mean to personify deconstruction as animate only by treating it as dead, giving it life only in the act of taking that life away? What is the connection between personification and death?« (Ebd., 17.) 45 »[P]erhaps the death of deconstruction is inescapable because deconstruction makes it impossible to ground thinking in any simple concept of ›life‹« (ebd., 19). 46 De Man: Autobiography (Anm. 25); de Mans Text ist zuerst erschienen in: Modern Language Notes 94 (1979), 919-930. 47 Vgl. dazu: Wilhelm Voßkamp: Gattungen als literarisch-soziale Institutionen. In: Walter Hinck (Hg.): Textsortenlehre – Gattungsgeschichte. Heidelberg 1977, 27-44. 48 De Man: Autobiography (Anm. 25), 68. 49 Ebd.

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Auch die Bemühungen, die Autobiographie als referentiellen Text von der Fiktion abzugrenzen, sind in den Augen de Mans nur bedingt erfolgreich. »We assume life produces the autobiography as an act produces its consequences, but can we not suggest, with equal justice, that the autobiographical project may itself produce and determine the life and that whatever the writer does is in fact governed by the technical demands of self-portraiture and thus determined, in all its aspects, by the resources of his medium?«50 Anstatt die Autobiographie als Niederschrift des Lebens zu verstehen, bringt de Man die gegensätzliche Überlegung ins Spiel: Was wäre, wenn die Autobiographie nicht dem Leben nachgebildet wäre, sondern das Leben als solches sich erst im autobiographischen Text konstituierte? Damit wäre ein Konzept des Lebens, das als Lebensweg einer Person dessen autobiographischem Text voranginge, in Frage gestellt. Das Leben ergäbe sich als Effekt eines Mediums der Autobiographie und seiner technischen Anforderungen. De Man bleibt jedoch nicht bei dieser These stehen, sondern läßt die Kategorie des Mediums im weiteren Verlauf des Textes wieder fallen.51 Er schlägt stattdessen vor, Autobiographie als eine »figure of reading or understanding« zu fassen, die potentiell und in unterschiedlicher Ausprägung in allen Texten auftauchen könne. »The autobiographical moment happens as an alignment between the two subjects involved in the process of reading in which they determine each other by mutual reflexive substitution. The structure implies differentiation as well as similarity, since both depend on a substitutive exchange that constitutes the subject. This specular structure is interiorized in a text in which the author declared himself the subject of his own understanding, but this merely makes explicit the wider claim to authorship that takes place whenever a text is stated to be by someone and assumed to be understandable to the extent that this is the case. Which amounts to saying that any book with a readable title page is, to some extent, autobiographical.«52 Mit der gleichen Sicherheit, mit der behauptet werden könne, jeder Text sei autobiographisch, gilt aber umgekehrt auch »none of them is or can be«.53 De Man führt diese Bestimmungs-Unsicherheit zurück auf die von ihm der Autobiographie als Lektüre- und Verstehens-Figur zugrundegelegte Trope der Prosopopöie. »Prosopopeia is the trope of autobiography.«54 Etymologisch herge50 Ebd., 69. 51 Es wäre zu fragen, ob nicht das ›Medium‹ in ähnliche Erklärungsnotstände führen würde wie die ›Gattung‹. Wenn jede Autobiographie eine Ausnahme von der Regel wäre, wie oben behauptet wurde, dann wären womöglich auch die technischen Anforderungen des Mediums variabel und würden sich mit jedem neuen Text neu stellen. 52 De Man: Autobiography (Anm. 25), 70. 53 Ebd. 54 Ebd., 76.

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leitet von prosopon poien, »to confer a mask or a face«, sei die Prosopopöie als »the fiction of an apostrophe to an absent, deceased, or voiceless entity, which posits the possibility of the latter’s reply and confers upon it the power of speech« definiert.55 Mit dieser Definition aber schiebt de Man der Autobiographie den Tod unter:56 Insofern die Prosopopöie dem Verstorbenen eine Stimme gibt, wird die Autobiographie zum Text eines Toten, der den Effekt des Lebens evoziert. Insofern die Prosopopöie von de Man als »fiction of the voice-from-beyond-thegrave« gedacht wird, wird der autobiographische Diskurs als »epitaphic discourse« beschreibbar.57 Die Autobiographie kann dieses in Gesicht und Stimme als Effekt der Prosopopöie produzierte Leben zwar immer wieder herstellen, allerdings wird der Produktionsprozeß selbst im Text lesbar bleiben und so immer wieder den Tod in das Leben eintragen. »Die Prosopopoiia ist Figur, die das Gesicht der Rede (erst) ›gibt‹, das nachträglich ›immer schon‹ gegeben zu sein scheint, weil sie in der Halluzination ›lebendigen Sprechens‹ ihr Funktionieren als rhetorische Figur und ihre Voraussetzungen: Gesichtslosigkeit, Stummheit, Tod vergißt« – kommentiert Bettine Menke.58 »Ein ›vollständiges Vergessen‹ aber – wir wissen es – gibt es nicht. Prosopon-poein ›sagt‹ als rhetorische Operation des Verleihens einer persona oder prosopon ja zugleich auch, daß ein solches ›Gesicht‹ des Sprechens ursprünglich fehlte oder nie da war.«59 Die Widersprüche, die sich in der Diskussion um die Autobiographie als literarische Gattung ergeben haben, die schwierige Frage ihres Endes im Zusammenhang mit dem ›Tod des Autors‹ führt de Man auf die Trope der Prosopopöie im autobiographischen Text selbst zurück. Demnach kann die Diskussion um die Autobiographie nicht zur Ruhe kommen, sondern wird auch weiterhin ungefragt von der End- und Todesproblematik heimgesucht werden, weil der autobiographische Diskurs selbst, dessen rhetorische Figur, nicht zur Ruhe kommen, nicht stillgestellt wer55 Ebd., 75f. Inka Mülder-Bach hat darauf hingewiesen, daß de Mans Übersetzung des poiein zu kurz greift. »De Man nimmt das Verb nicht in der üblichen Bedeutung von ›schaffen‹, ›herstellen‹ oder ›hervorbringen‹, sondern übersetzt es als ›posit‹ und ›confer‹. Damit akzentuiert er es auf ein Moment von Instantaneität und Willkür hin, das für seinen Begriff des ›defacing‹ von zentraler Bedeutung ist.« (Inka Mülder-Bach: Exkurs: Prosopopöie. In: Dies.: Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der ›Darstellung‹ im 18. Jahrhundert. München 1998, 217-221, hier 219.) 56 Für eine Kritik dieser Bewegung vgl. Inka Mülder-Bach: Autobiographie und Poesie. Rousseaus Pygmalion und Goethes Prometheus. In: Mathias Mayer, Gerhard Neumann (Hg.): Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur. Freiburg i. Br. 1997, 271-298, besonders 297f. 57 De Man: Autobiography (Anm. 25), 77. 58 Bettine Menke: Wer spricht? Die Figur des sprechenden Gesichts in der Geschichte der Rhetorik. In: Dies.: Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka. München 2000, 137-216, hier 157. 59 Ebd., 170.

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den kann.60 »›Autobiographie‹ benennt, als Prosopopoiia, die sie ist, eben diese Unabschließbarkeit.«61 Der autobiographische Text bleibt totlebendig, lebendig-tot – ein »Oxymoron«62. De Man hat die Autobiographie nicht totgesagt, nicht vom Ende der Autobiographie gesprochen, sondern die Spannung des Tot-lebendigen als ihr Strukturmerkmal herausgearbeitet. Dies ist ein weiterer, diesmal inhaltlicher Grund, weshalb de Man in Olneys und Sprinkers Liste der ›Totsager‹ nicht auftauchen kann. De Man geht es nicht (in erster Linie) darum, einen ›Autor‹ oder ›ein autobiographisches Subjekt‹ sterben zu lassen. Sein Text vollzieht keine große Geste der Verabschiedung. De Man beschreibt vielmehr die Autobiographie als einen Text, der die Lebendigkeit und den Tod des Autors als Effekte figürlicher Rede zu lesen gibt. Daraus ergibt sich eine nicht stillstellbare Unruhe, die die Autobiographie und das Reden über sie heimsucht wie ein Gespenst. Das Gespenst, das Olney evoziert, ohne es zu benennen, das er aber zu bannen wünscht, findet bei de Man seine theoretische Ausformulierung.

2. Das Subjekt der Autobiographie Mit Olneys Polemik gegen das ›Ende‹ der Autobiographie und de Mans Auflösung der Gattung sind zwei Extrempunkte markiert, zwischen denen sich die theoretischen Arbeiten zur Autobiographie seither bewegen. Immer wieder dreht sich die Diskussion um die gleichen Fragen: Gibt es ein Selbst außerhalb des Textes? Geht es dem Text voraus? Wie ist dieses Selbst zu denken? Muß es sich dabei notwendig um eine bestimmte Form bürgerlicher Subjektivität handeln? Oder unterliegt diese schon während ihrer Entstehung den gleichen Problemen, die erst in Autobiographien des 20. Jahrhunderts explizit thematisch werden? Olney hat die Vorgängigkeit eines Selbst zur Bedingung der Autobiographie erklärt, deren Identität damit unauflösbar an die Identität eines Selbst gekoppelt ist. De Mans Essay hat vorgeführt, inwiefern dieses Selbst als nachträglicher Effekt des autobiographischen Diskurses durch die Figur der Prosopopöie hergestellt wird, dabei aber zugleich diesen Herstellungsprozeß zu lesen gibt. Damit ist eine Position gesetzt, die in eine lineare Erzäh60 Aus einer etwas anderen Perspektive kommt Philippe Lacoue-Labarthe zu einem ähnlichen Schluß: »There is no writing, or even any discourse, that is simply in the first-person – ever. Because every enunciation is abyssal. And because I cannot say my dying – even less my being already dead. If all autobiography is autothanatography, autobiography as such is, rigorously speaking, impossible.« (Philippe Lacoue-Labarthe: Typography. Mimesis, Philosophy, Politics. Stanford 1989, 193.) 61 Menke: Wer spricht? (Anm. 58), 194. 62 Ebd., 161.

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lung einer sich zu neuen Erkenntnissen durchringenden Autobiographieforschung nicht mehr ohne weiteres einzuordnen ist. Auch wenn sie nicht die Rhetorik vom ›Ende der Autobiographie‹ teilen, weisen die in den letzten Jahren zahlreich erschienenen Forschungsüberblicke die mit den 1980er Jahren einsetzenden Debatten als einen Umbruch innerhalb der theoretischen Auseinandersetzung mit der Autobiographie aus. Günter Niggl spricht in diesem Zusammenhang von einer »deutliche[n] Akzentverschiebung«,63 Robert Smith von einem »fairly neat divide within [autobiography criticism and theory] over this question of the self or subject«64 und Wagner-Egelhaaf von einem Ablösungsprozeß: »Der vormalige emphatische Subjektbegriff wird abgelöst zugunsten einer die sprachliche Verfaßtheit von Subjektivität und Individualität beobachtenden Beschreibungsperspektive.«65 Läßt sich die vorangehende Forschung noch von Niggl als Wechsel von »geistesgeschichtlichen, kultur- und sozialhistorischen Interessen« zu »formorientierte[n] Perspektiven«66 zusammenfassen, so wird mit der Subjektkritik ein Thema in den Mittelpunkt gerückt, das die Autobiographie in grundsätzlicher Weise betrifft: »Die mit der Niederschrift der Autobiographie notwendig gegebene literarische Verfremdung ihrer Gegenstände wird jetzt nicht selten als Konstruktion und Neuschreiben des Ich, als Erfindung der autobiographischen Wahrheit durch Erinnerung und Erzählung gedeutet, und dafür werden die früher unbezweifelbare Bindung des autobiographischen Erzählers an empirische Gegebenheiten und sein damit verbundener Authentizitätsanspruch in Frage gestellt.«67 Ähnlich wie Olney bleibt Niggl gegenüber der Auflösung der Realitätsbindung sowie der Aufgabe des Authentizitätsanspruches skeptisch. Er beharrt »gegen dieses Verschwinden des Subjekts« auf der »repräsentierenden Funktion der Autobiographie, […] ihrem grundsätzlichen Referenzcharakter«.68 Worin genau äußert sich für Niggl das »Verschwinden des Subjekts«? Es geht ihm nicht, wie etwa Neumann, um eine historisch auf das 20. Jahrhundert zu datierende, fragmentarisierte Subjektivität, die sich »aus dem Zweifel an der eigenen Identität, aus dem Gefühl einer Diskontinuität des Lebens, des Zerfalls der Person in mehrere unzusammenhängende Ich«69 speise. Es gehe nicht darum, am Ideal der gelungenen Persönlichkeitsentwicklung festzuhalten. Denn auch in der »avantgardistische[n] Autobiographie« sieht Niggl das für ihn zentrale Verhältnis von Text und 63 64 65 66

Niggl: Nachwort zur Neuausgabe (Anm. 11), 593-602, hier 594. Smith: Worstward Ho (Anm. 5), 58. Wagner-Egelhaaf: Autobiographie (Anm. 5), 11. Günter Niggl: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Die Autobiographie (Anm. 5), 1-17, hier 16. 67 Niggl: Nachwort zur Neuausgabe (Anm. 11), 593f. 68 Ebd., 595. 69 Ebd., 596.

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Subjekt gewahrt: fragmentierte, assoziative, brüchige Texte stellen für ihn »adäquate Spiegelungen des neuen Ich- und Lebensgefühls«70 dar. Niggl weist damit auf eine entscheidende Differenz hin – mit ›Identität‹ wird nicht immer dasselbe bezeichnet.71 Eine Auflösung der Identität des Subjekts z.B. impliziert noch lange nicht eine Auflösung des Verhältnisses Text-Leben als Abbildung oder Ausdruck. Niggl plädiert für ein Festhalten an der »Mimesis« und am »Referenzcharakter der Schrift«,72 die durch neue Formen der Subjektivität keineswegs gefährdet seien: »Selbst mit der ›Nouvelle Autobiographie‹ wird also der herkömmliche Gattungsbegriff noch nicht gesprengt, wohl aber sehr stark erweitert.«73 Die ›Sprengung‹ findet demnach erst dann statt, wenn die Referentialität der Autobiographie und mit ihr die Identität von Autor und Protagonist zur Disposition steht.74 Nach Niggl ist es diese Identität, die für die ›Gattung‹ Autobiographie unerläßlich ist. So überzeugend und wichtig Niggls Differenzierung zwischen verschiedenen Begründungen der Subjektauflösung ist, so sehr zeigt sich bei näherem Hinsehen ihre Problematik. Lange Zeit galt die Autobiographie als selber transparentes Medium von Subjektivität. »Die Geschichte der Autobiographie ist in einem gewissen Sinne eine Geschichte des menschlichen Selbstbewußtseins«75 – so Georg Misch. Auch für die spätere Forschung hält Robert Smith fest, daß »autobiography and subjectivity are treated as commensurate«.76 Smith verhält sich gegenüber dieser Vermischung zweier unterschiedlicher Gegenstände kritisch, er will stattdessen 70 Ebd., 597. 71 Gegen eine Verwischung der Differenz von sozialpsychologischen und philosophischen Identitätstheorien hat sich Dieter Henrich ausgesprochen. Psychologisch könne von einer ›Identitätskrise‹ oder von einem Erreichen von Identität im Sinne einer entwickelten Persönlichkeit gesprochen werden, innerhalb der Philosophie sei dies nicht möglich: »Ist etwas ein Einzelnes, so ist ihm Identität zuzusprechen. Es hat keinen Sinn zu sagen, daß es Identität erwirbt oder verliert.« (Dieter Henrich: ›Identität‹ – Begriffe, Probleme, Grenzen. In: Odo Marquard, Karlheinz Stierle (Hg.): Identität. München 1979, 133-186, hier 135.) 72 Niggl: Nachwort zur Neuausgabe (Anm. 11), 597. Mimesis und Referenz werden von Niggl etwas ungenau ineinsgesetzt. 73 Ebd., 598. Niggl bezieht sich an dieser Stelle auf Doris Grüter: Autobiographie und Nouveau Roman. Ein Beitrag zur literarischen Diskussion der Postmoderne. München, Hamburg 1994. 74 Wollte man die von Niggl getroffene Unterscheidung mit Hilfe der Überlegungen Henrichs reformulieren, ließe sich sagen, daß die sozialpsychologisch erlangte Identität für die Gattung Autobiographie nicht konstitutiv ist, während demgegenüber gesichert sein muß, daß Autor und Protagonist ein Einzelnes sind und nicht womöglich zwei. 75 Georg Misch: Begriff und Ursprung der Autobiographie. In: Niggl (Hg.): Die Autobiographie (Anm. 5), 33-54, hier 42. Auch Ralph-Rainer Wuthenow sieht die Autobiographie als einen »Begleittext« zur »Geschichte des Selbsbewußtseins«. (Ralph Rainer Wuthenow: Das erinnerte Ich. Europäische Autobiographie und Selbstdarstellung im 18. Jahrhundert. München 1974, 10.) 76 Smith: Worstward Ho (Anm. 5), 57.

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das Autobiographische als innere Falte der Philsosophie beschreibbar machen,77 und interessiert sich dabei mehr für »the problematics of a narrative of the subject« als für »fantasies of a serene history of the self«.78 Aus seiner Perspektive wird genau diese Differenz jedoch wieder fragwürdig: »Indeed, the process by which the subject represents itself has become indistinguishable from its capacity for self-constitution.«79 Indem der Sprache nicht mehr nur die Rolle zugesprochen wird, die vorgängige Identität oder Nicht-Identität des Subjekts zu re-präsentieren, rückt ihre Beteiligung am Prozeß der Subjektkonstitution in den Blick. »[I]n order to constitute itself«, heißt es weiter, »the autobiographical subject needs a means of representation, a language in short. And as soon as language becomes an issue for autobiographical theory, any last footing ›the autobiographical subject‹ may have had gives way. The ›I‹ ends up not only as a political and philosophical delusion but as a linguistic one too.«80 Bevor sich das ›ich‹ zu einer autobiographischen Identität bilden kann, muß es sich selbst die eigene Geschichte erzählen. Vor jeder Identität steht so ein Moment der Selbstdistanzierung. »Autobiography takes the form of self-closure, but it can do so only if it has first effected a minimal distancing of the self in order to address it.«81 Überraschenderweise findet sich dieses in Anlehnung an Jacques Derrida formulierte Moment der Selbstdistanzierung bereits zu Beginn der theoretischen Auseinandersetzung mit der Autobiographie, es findet sich schon bei Wilhelm Dilthey. Hier ist die Diskussion um die Gattung in einer hermeneutischen Position verankert, deren Zentralbegriffe »›Zusammenhang‹, ›Geist‹, ›Subjekt‹ und ›Bedeutung‹«82 für eine Definition der »Selbstbiographie«83 den unerläßlichen Rahmen bieten. Für Dilthey ist die Selbstgegenwärtigkeit des Subjekts Voraussetzung, und die Autobiographie »ist nur die zu schriftstellerischem Ausdruck gebrachte Selbstbesinnung des Menschen über seinen Lebensverlauf«.84 Autobio77 »Instead, the autobiographical detour which pure reason cannot but take and continue taking through the realm of the literary and the contingent, through the realm of what by compression will be called writing later on, suspends the autobiographical and the rational together in a synthesis both special and general, in a strange state chronically unsuited to rhetorical or philosophical classification.« (Robert Smith: Incipit. In: Ders.: Derrida and Autobiography (Anm. 5), 3-12, hier 6.) 78 Smith: Worstward Ho (Anm. 5), 57. 79 Ebd. 80 Ebd., 58. 81 Ebd., 63. 82 Wagner-Egelhaaf: Autobiographie (Anm. 5), 20. 83 Zur Wortgeschichte vgl. Eva Meyer: Die Autobiographie des Weiblichen. In: Dies.: Autobiographie der Schrift. Basel, Frankfurt/M. 1989, 83-95, besonders 84f.; Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie (Anm. 20), 103. 84 Wilhelm Dilthey: Das Erleben und die Selbstbiographie. In: Ders.: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1906-11). Gesammel-

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graphie übersetzt sich hier in seine Bestandteile als Auto: Selbstbesinnung des Menschen, Bio: sein Lebensverlauf und Graphie: zu schriftstellerischem Ausdruck gebracht. Diltheys Ausführungen selbst wenden sich jedoch gegen eine allzu einfache Vorstellung der Repräsentation als Beschreibungsmodell der Autobiographie. Selbstbiographie ist für Dilthey dezidiert kein Abbild, sondern das Ergebnis eines verstehenden Verhältnisses zu sich selbst. Verstehen aber ist nach Diltheys Definition »ein Wiederfinden des Ich im Du«.85 Für die Selbstbiographie muß er betonen, was sich nicht von selbst versteht, daß nämlich Verstehender und Verstandener identisch sein müssen: »Und zwar ist der, welcher diesen Lebenslauf versteht, identisch mit dem, der ihn hervorgebracht hat.« Erst vor diesem Hintergrund gilt: »Die Selbstbiographie ist die höchste und am meisten instruktive Form, in welcher uns das Verstehen des Lebens entgegentritt.«86 Hervorbringender und Verstehender werden als identisch gesetzt und doch ist durch den Akt des Verstehens die Notwendigkeit entstanden, sich in dieser Identität allererst »wiederzufinden« – wie sich das ›Ich‹ im ›Du‹ zu finden sucht: »Wir verhalten uns gegenüber dem Leben, dem eigenen so gut als dem fremden, verstehend.«87 Die Identitätsbehauptung, auf der der Text beharrt und von der er die besondere Form des Verstehens in der Selbstbiographie ableitet, wird notwendig erst vor dem Hintergrund der im Verstehen postulierten »Wiederfindung«. In der »Selbstbesinnung« wird das Leben rückblickend zu einer Einheit. Das Leben, das in der Gegenwart seinen »Wert« erfährt, sich zukünftig auf einen »Zweck« hin orientiert, kann diese einzelnen »Erlebnisse« schließlich in der Erinnerung zu einer »gemeinsame[n] Bedeutung«88 verdichten und diese dann ohne Schwierigkeiten zur Darstellung bringen: »[E]in Zusammenhang ist im Leben selber gebildet worden, von verschiedenen Standorten desselben aus, in beständigen Verschiebungen.

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te Schriften VII. Hg. v. Bernhard Groethuysen. Stuttgart, Göttingen 1979, 191-204, hier 200. Ebd., 191. Ebd., 199. Weil die Autobiographie auf diese Weise zum Paradigma des Verstehens werden kann, wird sie für Dilthey zur Bedingung der Geschichtsschreibung: »Die Macht und Breite des eigenen Lebens, die Energie der Besinnung über dasselbe ist die Grundlage des geschichtlichen Sehens. Sie allein ermöglicht, den blutlosen Schatten der Vergangenheit ein zweites Leben zu geben.« (Ebd., 201.) Ebd., 196. »Indem wir zurückblicken in der Erinnerung, erfassen wir den Zusammenhang der abgelaufenen Glieder des Lebensverlaufs unter der Kategorie der Bedeutung. Wenn wir in der Gegenwart leben, die von Realitäten erfüllt ist, erfahren wir im Gefühl ihren positiven oder negativen Wert, und wie wir uns der Zukunft entgegenstrecken, entsteht aus diesem Verhalten die Kategorie des Zweckes. […] Keine dieser Kategorien kann der andern untergeordnet werden, da jede von einem andern Gesichtspunkt aus das Ganze des Lebens dem Verstehen zugänglich macht.« (Ebd., 201.)

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Da ist also das Geschäft historischer Darstellung schon durch das Leben selber halb getan.«89 Die Darstellung des Lebens und sein tatsächlicher Zusammenhang werden von Dilthey auf eine Weise enggeführt, die es unmöglich macht, zwischen der Ausbildung einer bestimmten Form von Subjektivität und ihrer schriftlichen Fixierung zu trennen. Abgebildet wird jedoch nicht der Lebensverlauf selbst, sondern allenfalls seine Bedeutung, die in einem Akt des Verstehens hergestellt werden muß: »Und zwischen diesen Gliedern ist ein Zusammenhang gesehen, der freilich nicht ein einfaches Abbild des realen Lebensverlaufs so vieler Jahre sein kann, der es auch nicht sein will, weil es sich eben um ein Verstehen handelt«.90 Die Identität, deren Verständnis ›abgebildet‹ werden kann, muß erst als Bedeutung hergestellt werden. So ist bereits in den Beginn des theoretischen Nachdenkens über Autobiographie eine Dualität eingetragen, die fortan in unterschiedlicher Ausprägung ein Element jeder Autobiographiedefinition sein wird. Obwohl die gattungstheoretischen Überlegungen zur Autobiographie den Autor als Identität ins Zentrum rücken, sind sie gezwungen, seine Aufspaltung oder Vervielfältigung zu beschreiben. In kürzester Form findet sich diese Struktur in Mischs etymologischer Begriffsbestimmung: »Sie [die Autobiographie] läßt sich kaum näher bestimmen als durch Erläuterung dessen, was der Ausdruck besagt: die Beschreibung (graphia) des Lebens (bios) eines Einzelnen durch diesen selbst (auto).«91 Hier kommt es zu einer Verdopplung des ›auto‹ der Autobiographie, insofern es in den »Einzelnen« und das schreibende »Selbst« aufgespalten wird. Mit Philippe Lejeunes Arbeit Der autobiographische Pakt92 wird diese Dualität als ein Problem der Referentialität ausformuliert. Lejeune definiert die Autobiographie als »[r]ückblickende Prosaerzählung einer tatsächlichen Person über ihre eigene Existenz, wenn sie den Nachdruck auf ihr persönliches Leben und insbesondere auf die Geschichte ihrer Persönlichkeit legt.«93 In der Erläuterung seiner Definition weist Lejeune darauf hin, daß sie sich aus Elementen verschiedener Kategorien zusammensetzt, die der Reihe nach aufgeführt werden: 89 Ebd., 200. 90 Ebd. Es ist also zumindest fragwürdig, ob »schon Dilthey formuliert hat«, »[d]aß die Autobiographie lediglich Abbildfunktion besitze« – wie Finck behauptet (Finck: Autobiographisches Schreiben (Anm. 42), 25). 91 Misch: Begriff und Ursprung (Anm. 75), 38. Ganz ähnlich klingt auch die Definition Starobinskis: »Die Biographie einer Person, von dieser selbst erstellt: diese Definition der Autobiographie bestimmt den Eigencharakter der Aufgabe und legt so die allgemeinen (oder generischen) Bedingungen des autobiographischen Schrifttums fest.« (Jean Starobinski: Der Stil der Autobiographie. In: Niggl (Hg.): Die Autobiographie (Anm. 5), 200-213, hier 200.) 92 Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt. Übers. v. Wolfram Bayer u. Dieter Hornig. Frankfurt/M. 1994. 93 Ebd., 14.

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»1. Sprachliche Form: a) Erzählung b) in Prosa 2. Behandeltes Thema: individuelles Leben, Geschichte einer Persönlickeit. 3. Situation des Autors: Identität zwischen dem Autor (dessen Name auf eine tatsächliche Person verweist) und dem Erzähler. 4. Position des Erzählers: a) Identität zwischen dem Erzähler und der Hauptfigur b) rückblickende Erzählperspektive.«94 Ist eine der genannten Bedingungen nicht erfüllt, so handelt es sich bei einem Text nicht um eine Autobiographie im strengen Sinn sondern um eine der Nachbargattungen wie Memoiren, Biographie, Tagebuch o.ä. Allerdings können einzelne Merkmale nur »zum Großteil«95 erfüllt sein, ohne daß damit ein Text aufhören würde, als Autobiographie zu gelten. Es gibt jedoch zwei Bedingungen, die für die Autobiographie unabdingbar sind: »Damit es sich um eine Autobiographie (oder allgemeiner, intime Literatur) handelt, muß Identität zwischen dem Autor, dem Erzähler und dem Protagonisten bestehen.«96 Die Identität von Autor, Erzähler und Protagonist ist also eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung der Autobiographie. Texte, die dieses Merkmal erfüllen, können auch Memoiren oder Tagebücher sein, aber damit ein Text als autobiographischer rubriziert werden kann, muß er diese Identität aufweisen. »Dieses Verfahren deckt sich wortwörtlich mit der Grundbedeutung des Wortes Autobiographie, das ja nichts anderes meint als: Biographie, vom Betroffenen selbst verfaßt, aber wie eine einfache Biographie.«97 Obwohl Lejeune mit seiner Aufspaltung des autobiographischen Subjekts in Autor, Protagonist und Erzähler die Dualität zu einer Dreierkonstellation erweitert, findet sich die definitionsbedingte Dualität auch bei ihm – als Betroffener und Verfasser.98 Wie aber kann ein Text die eingeforderte Identität nachweisen? Wie kann er sicherstellen, daß zwischen dem Autor als wirklicher Person und dem Autornamen/Erzähler/Protagonisten eine referentielle Beziehung besteht? Lejeune versucht, dieses Problem mit der Formel des autobiographischen Paktes zu lösen, der durch die Namensgleichheit von Erzähler/Protagonist und Autor in einer Signatur besiegelt wird: »Der autobio94 95 96 97 98

Ebd. Ebd., 15. Ebd. Ebd., 16f. Was die Autobiographie von der Biographie unterscheidet, ist für Lejeune nicht so sehr eine Frage des Stoffes oder der Erzählweise, sondern in erster Linie der Kategorie: »3.a) Identität zwischen dem Erzähler und der Hauptfigur« (vgl. ebd., 14).

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graphische Pakt ist die Behauptung dieser Identität im Text, die letzlich auf den Namen des Autors auf dem Umschlag verweist.«99 Signatur und Pakt treten an, das aufgebrochene Problem der Referentialität zu lösen – ob dies funktionieren kann, wird in einer genaueren Lektüre zu klären sein. Lejeune bietet nicht zuletzt deshalb einen der interessantesten Ansätze der Gattungsdiskussion, weil er den Komplex der Referentialiät als zentrales Problem der Autobiographie benennt und gleichzeitig einen Lösungsvorschlag macht, durch den die Bestimmung der Autobiographie als Gattung, eine auf den ersten Blick eindeutige Abgrenzung der Autobiographie von ihren Nachbargattungen und eine Systematik, mit der die ›alten‹ Fragen von Fakt und Fiktion gelöst zu sein scheinen, möglich würde. Allerdings zeigt nicht nur die vielfach geäußerte Kritik an der Rigorosität seiner Klassifikation, daß Lejeune zwar gut sichtbar den Finger auf die ›wunde Stelle‹ gelegt, diese aber nicht ›geheilt‹ hat – wenn sie denn zu heilen ist oder geheilt werden sollte. Wichtiger noch als die gegen ihn formulierten Einwände ist die Tatsache, daß Lejeune aus unterschiedlichen Perspektiven einerseits als ›eher humanistische‹ Position rezipiert wird,100 während er gleichzeitig als mörderischer Anti-Humanist gilt.101 Nicht daß es diese einander widersprechenden Lesarten gibt, macht Lejeunes Position interessant, sondern daß beide in ihr angelegt sind: Insofern Lejeune an der Referentialität als Bedingung der Autobiographie festhält, wird die Möglichkeit ihrer Nicht-Einlösbarkeit zu einem Problem, das seinen Text okkupiert, auch wenn dieser vorgibt, es zu lösen. Durch Lejeune ist die Thematisierung der referentiellen Beziehung von Text und Leben zum Bestandteil jeder Auseinandersetzung mit der Autobiographie geworden. Auch eine Kritikerin Lejeunes wie Elizabeth W. Bruss102 hält an der referentiellen Identität als Kernbedingung der Autobiographie fest. Aber auch in der ersten der von ihr aufgestellten drei Regeln wird diese Identität nur als Dualität formulierbar: »Rule 1. An autobiographer undertakes a dual role. He is the source of the subject matter and the source for the structure to be found in his text.«103 Als sol99 100 101

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Ebd., 27. Smith: Worstward Ho (Anm. 5), 58. »Georges Gusdorf complained bitterly of Lejeune’s murdering to dissect, for Gusdorf viewed it as an act of critical hubris, an act of violence and arrogance, committed against the distinctive essence of autobiography – its humanness.«Diese Gesprächsäußerung Gusdorfs wird von Olney zitiert (Olney: Autobiography and the Cultural Moment (Anm. 7), 18). Bruss’ Kritik an Lejeune bezieht sich auf die Starrheit seiner Definition wie darauf, daß der Pakt als a-historisch gedacht werde. Vgl. Elizabeth W. Bruss: Die Autobiographie als literarischer Akt. Übers. v. Ursula Christmann. In: Niggl (Hg.): Die Autobiographie (Anm. 5), 258-279, hier 258. Elizabeth W. Bruss: Autobiographical Acts. The Changing Situation of a Literary Genre. Baltimore, London 1976, 10.

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chermaßen duale Quelle tritt er ein für »some shared identity« zwischen »author, narrator, and character«.104 Bruss wird noch genauer: »Moreover, the shape into which these various aspects of the act finally coalesce is by definition that of a personality, a self, an identity; it must have, as Blake might say, a ›human face,‹ whether the author or the reader is ultimately responsible for imposing it.«105 Wer gibt dem Text das Gesicht? Kann auch der Leser für die Identität verantwortlich sein, wie die letzte Formulierung nahelegt? Bruss’ weitere Ausführungen zur Regel Nummer Eins zeigen, daß letztlich der Autor in der Position des Verantwortlichen ist: »(a) The author claims responsibility for the creation and arrangement of his text. (b) The individual who is exemplified in the organization of the text is purported to share the identity of an individual to whom reference is made via the subject matter of the text. (c) The existence of this individual, independent of the text itself, is assumed to be susceptible to appropriate public verification procedures.«106 Die Regeln, die Bruss aufstellt, sollen jedoch nicht als unhintergehbare verstanden werden. Die Autobiographie könne, so Bruss, nicht als eine festumrissene Form gekennzeichnet werden, dazu seien die einzelnen Texte zu heterogen. Gegenüber dem ›Pakt‹ Lejeunes präferiert Bruss ein anderes Beschreibungsmodell – die Autobiographie als literarischen Sprechakt. Als Bedingung seines Erfolges muß dieser anhand einiger wiederkehrender Charakteristika erkennbar sein: »But there are limited generalizations to be made about the dimensions of action which are common to these autobiographies, and which seem to form the core of our notion of the functions an autobiographical text must perform.« Bruss’ Regeln geben daher nur die Rahmenbedingungen wieder, unter denen ein autobiographischer literarischer Akt ge- oder mißlingen kann. »In fact, we must have something on the order of rules which accounts for our ability to recognize that there is something wrong, paradoxical in a title like Everybody’s Autobiography.«107 Bruss’ Regeln haben vielleicht weniger die Funktion, die Irritation von Texten zu erklären, die sich nicht nahtlos einfügen lassen, als daß sie einen weiteren Versuch darstellen, das Problem der Referentialität zu lösen. Als »core of our notion of the functions of an autobiographical text« formulieren sie den Anspruch einer referentiellen Beziehung von »subject matter« und »author«, den Lejeune durch den Pakt gesichert sieht. Beide versuchen, die aufgebrochene Problematik der Aufspaltung des autobiographischen Subjekts, die der Versuch einer Definition der Autobiographie mit sich bringt, auf jeweils unterschiedliche Weise zu kitten 104 105 106 107

Ebd., 12. Ebd. Ebd., 10f. Ebd., 10.

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und die Unruhe des autobiographischen Textes zur Ruhe zu bringen, seine Ungreifbarkeit faßbar zu machen. Autobiographisches Schreiben ist jedoch vielleicht gerade durch die »dissimilarity between identity and discourse«, durch den »ever-present ontological gap between the self who is writing and the self-reflexive protagonist of the work«108 gekennzeichnet, der den Stein des Anstoßes bildet.109 Anstatt sich auf Identität gründen zu können, birgt der autobiographische Diskurs immer wieder die Unheimlichkeit eines »referential ghost«.110 Was, wenn ein anderer meine Autobiographie geschrieben hat? Mit der Thematisierung der Referentialität öffnet die Rede über Autobiographie die Möglichkeit des Ghostwriting für jeden autobiographischen Text. Das ist die eigentliche Gefahr, die gebannt werden muß, will man die Gattung etablieren. Dieses Gespenst der Nicht-Identität kehrt aber in jedem neuen Definitionsversuch wieder, durch den es ausgetrieben werden soll.

3. Das Geschlecht der Autobiographie Das Subjekt oder Selbst, dessen Status die Diskussionen um die Autobiographie in den letzten Jahren bestimmt hat, ist bisher nur im Allgemeinen thematisch geworden. Das vorherrschende Thema der Gattungsdiskussion, so faßt es Robert Smith zusammen, ist genau dieses Subjektim-Allgemeinen, seine Art des Selbstbezugs: »In general, the bone of contention is the subject or self and whether it is whole, or fragmented; self-determining, or wrought with political and conceptional barbs. It is the subject not as ›he‹ or ›she‹ which is at stake, but as the ›I‹ which takes itself to be its own object or subject, univocal and present to itself.«111 Die kritischen Auseinandersetzungen drehen sich um die Selbstgegenwärtigkeit und Unzweideutigkeit eines ›ich‹, das sich selbst zum Gegenstand und Thema wird. Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang das Geschlecht dieses ›ich‹? Smiths Behauptung, daß nicht ›er‹ 108 109

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Paul Jay: Being in the Text: Self-Representation from Wordsworth to Barthes. Ithaca 1984, 29. H. Porter Abbott hat aus einer mit Mängeln behafteten Identität des Protagonisten ein Charakteristikum der Autobiographie gemacht: »Lacking final shape, autobiography will always lack in its protagonist the kind of crisp identity one finds in characters belonging to the well-made plot. Autobiography in this sense is distinguished by its failure. The identity it seeks to express is always blurred, for the narrative can only bring the autobiographer to that continual ›passing‹ in which he writes.« (Abbott: Autobiography, Autography, Fiction (Anm. 25), 609.) Eine solche Abgrenzung wäre aber nur dann möglich, wenn man mit Abbott voraussetzt, daß literarische Figuren in anderen Erzählformen tatsächlich immer so »crisp« sind, wie er behauptet. Stanton: Autogynography (Anm. 11), 136. Smith: Worstward Ho (Anm. 5), 57.

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oder ›sie‹ auf dem Spiel stünden, sondern ›ich‹, läßt mehrere Lesarten offen: Spielt Geschlechtlichkeit überhaupt keine Rolle? Ist die Struktur der Selbstbezüglichkeit für alle Geschlechter gleich? Liegt diese Art der Selbstbezüglichkeit vor der Konstituierung des Geschlechts bzw. vor dessen Relevanz für den autobiographischen Text? Bin ›ich‹ jenseits von Geschlechtlichkeit? Von welchem ›ich‹ ist jeweils die Rede – geht es um das ›ich‹, das schreibt? Um das ›ich‹, von dem erzählt wird? Um das ›ich‹, das erzählt? Gegen Smith ließe sich fragen, ob nicht die Struktur des Selbstbezugs, die ins Zentrum der Debatten gerückt ist, als männliche (un-)markiert geblieben ist. Wird sie selbstverständlich als männlichuniversale vorausgesetzt? Verheimlicht sie ihre Geschlechtlichkeit, indem sie sich als universale Struktur entwirft? Muß oder kann das Geschlecht gewissermaßen gegen seinen Willen herausgelesen werden? Im Rückblick auf ältere Überlegungen zur Autobiographie stellt sich schnell heraus, daß das autobiographische Subjekt explizit oder implizit als männliches gesetzt wurde. Autobiographien oder »Bekenntnisse merkwürdiger Männer«, schreibt z.B. Georg Misch 1907 in der Einleitung zu seiner Geschichte der Autobiographie, seien »[d]er eigenste Kern der europäischen Selbstbesinnung […] aus dem Bewußtsein der Persönlichkeit. Dieses Bewußtsein gehört nicht zum gemeinsamen Besitz der Völker, im hellen Licht steigernder Kulturarbeit ist es allmählich erworben worden«.112 Hier wird das ›ich‹ der Autobiographie zum Gipfelpunkt einer kulturellen Entwicklung, an deren Spitze der männliche Europäer steht. Gut fünfzig Jahre später heißt es bei Georges Gusdorf: »Die Autobiographie ist eine fest etablierte Gattung […]. Viele bedeutende Männer – und selbst weniger bedeutende –, Staatsmänner oder Heerführer, Minister, Naturforscher und Männer der Wirtschaft haben die Muße ihres Alters der Abfassung von ›Erinnerungen‹ gewidmet«.113 Festigkeit und Sicherheit der Gattungsdefinition werden hier an die Männlichkeit des ›ich‹ und an ein Stufenmodell von Kultur gebunden. Auch in der seit den 1980er Jahren verstärkt geführten Gattungsdiskussion spielten autobiographische Texte von Frauen zunächst so gut wie keine Rolle.114 Selbst

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Zitiert nach: Misch: Begriff und Ursprung (Anm. 75), 33 und 51. Gusdorf: Voraussetzungen und Grenzen (Anm. 24), 121. Gusdorfs Text ist vor allem deshalb interessant, weil er nicht nur die männliche Codierung der Gattung offenlegt, sondern auch dieses männliche Subjekt der Autobiographie als imperiales, kolonialisierendes benennt. In seiner Beschreibung findet sich also offen ausgesprochen, was in den letzten Jahren unter dem Stichwort des Postkolonialismus als Kritik formuliert wurde. Bei Stanton (Autogynography (Anm. 11), 131f.) findet sich eine Liste der Veröffentlichungen aus diesem Zeitraum, die fast ausschließlich Texte männlicher Autoren berücksichtigen; 1987, drei Jahre später, kommt Sidonie Smith zu dem gleichen Ergebnis (Sidonie Smith: Autobiography Criticism and the Problematics of Gender. In: Dies.: A Poetics of Women’s

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wenn nicht explizit von der Männlichkeit eines »der europäischen Selbstbesinnung« fähigen autobiographischen Subjekts ausgegangen wird, zeigt die Diskussion, daß es eine implizite Vorentscheidung gibt, die die allgemeine Frage der Gattung fast ausschließlich an Texten männlicher Autoren diskutiert und diese damit zu Paradigmen macht, anhand derer generische Kriterien gewonnen werden.115 Die drei großen kanonischen Texte, die die Diskussion um die Definition der Gattung bestimmen, wurden von Männern geschrieben: Aurelius Augustinus’ Confessiones, Jean Jacques Rousseaus Confessions und Johann Wolfgang von Goethes Dichtung und Wahrheit. Feministische Untersuchungen haben daher immer wieder den Konnex von männlicher Subjektivität und Gattung hervorgehoben. Die Autobiographie, so Kay Goodman, »steht in engem Zusammenhang mit der Herausbildung des bürgerlichen Selbstbewußtseins«.116 Männliche Autoren des späten 18. Jahrhunderts, so argumentiert auch Elke Ramm, »haben sich dadurch nicht nur ihrer Einzigartigkeit vergewissert, sondern diese auch vor der Öffentlichkeit demonstriert, und so schreibt sich das sich seiner selbst bewußt werdende männliche Subjekt als repräsentatives Persönlichkeitsvorbild in die Gattung respektive Gattungsgeschichte ein«.117 Auch Bella Brodzki und Celeste Schenck sprechen von einer »(masculine) tradition of autobiography«, die mit Augustinus einsetze und vor allem durch ein Merkmal gekennzeichnet sei – »the mirroring capacity of the autobiographer: his universality, his representativeness, his role as spokesman for the community«.118 Tendenziell ist das ›ich‹ der Autobiographie »a marker of the universal human subject«,119 wie Ju-

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Autobiography. Marginality and the Fictions of Self-Representation. Bloomington, Indianapolis 1987, 3-19, besonders 8-12). Dieser Zusammenhang spiegelt sich in den Kapiteleinteilungen der Forschungsüberblicke von Holdenried und Wagner-Egelhaaf wider, die die allgemeine Theorie- und Literaturgeschichte unabhängig vom Geschlecht präsentieren und ein Extra-Kapitel einfügen zu »Autobiographik von Frauen – eine eigene Geschichte?« (Holdenried: Autobiographie (Anm. 5), 62) bzw. einen Abschnitt »Autobiographie, Anthropologie und kulturelle Differenz« mit den Unterkapiteln »Kulturen« und »Gender« (Wagner-Egelhaaf: Autobiographie (Anm. 5), 82, 89, 93). Kay Goodman: Weibliche Autobiographien. In: Hiltrud Gnüg, Renate Möhrmann (Hg.): Frauen – Literatur – Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Frankfurt/M. 1989, 289-299, hier 289. Elke Ramm: Autobiographische Schriften deutschsprachiger Autorinnen um 1800. »Es ist überhaupt schwer, sehr schwer, von sich selbst zu reden.« (Sophie La Roche). Olms-Weidmann u.a. 1998, 14. Brodzki, Schenck: Introduction (Anm. 6), 1. Julia Watson, Sidonie Smith: Introduction. De/Colonization and the Politics of Discourse in Women’s Autobiographical Practices. In: Dies. (Hg.): De/Colonizing the Subject. The Politics of Gender in Women’s Autobiography. Minneapolis 1992, xiii-xxxi, hier xvii.

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lia Watson und Sidonie Smith feststellen. Damit wäre das männliche Subjekt als allgemein menschliches hypostasiert.120 Innerhalb der Geschlechterforschung besteht eine gewisse Gefahr, diesen Ansatz der Gattungsdiskussion auf die autobiographischen Texte selbst zu übertragen, d.h. es besteht die Gefahr, die kanonischen, ›männlichen‹ Autobiographien für das zu nehmen, als was sie traditionell gelesen werden: als Ausdruck und Foren der Herausbildung einer spezifisch westlichen, bürgerlichen Subjektivität. In dieser Weise konstatieren auch Brodzki und Schenck eine lineare Entwicklung, die keine ist, weil sie immer dasselbe Ergebnis hat: »The masculine autobiography […] assumes the conflation of masculinity and humanity, canonizing the masculine representative self of both writer and reader.«121 Die von ihnen an ausgewählten Texten explizierte männliche Tradition ist in erster Linie dadurch gekennzeichnet, daß sich das männliche Subjekt des Textes als repräsentatives Subjekt seiner Zeit setzt122 – nicht ohne dabei die eigene Exzeptionalität, Unverletzbarkeit und Unabhängigkeit zu behaupten.123 Diesem Strang wird eine weibliche Tradition gegenübergestellt; in der Suche nach allgemeinen Charakteristika und einem Modell der typisch weiblichen Autobiographie halten Brodzki und Schenck jedoch an genau dem Mechanismus der Repräsentativität fest, den sie unterlaufen wollen. Es geht ihnen darum, eine »female specificity« zu bewahren und »female subjectivity« zu artikulieren, ohne dabei essentialistische Weiblichkeitsentwürfe zu entwickeln, aber auch ohne dabei in eine »pure textuality« zu verfallen, »that consigns woman […] to an unrecoverable absence«.124 An dieser Stelle wiederholen sich in der feministischen Debatte die Be-

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Was hier für die Autobiographie behauptet wird, läßt sich als allgemeiner Zug der kulturellen Ordnung beschreiben. Für die Philosophie hat Cornelia Klinger gezeigt, »daß sich das männliche Prinzip durch die Gleichsetzung von Mann und Mensch der direkten Opposition mit dem Weiblichen entzieht, sich durch die Anmaßung der Überordnung über die Geschlechtlichkeit immunisiert und gleichzeitig von diesem unangreifbaren Standpunkt aus das Weibliche richtet« (Cornelia Klinger: Das Bild der Frau in der Philosophie und die Reflexion von Frauen auf die Philosophie. In: Karin Hausen, Helga Nowotny (Hg.): Wie männlich ist die Wissenschaft? Frankfurt/M. 1986, 62-84, hier 68). Brodzki, Schenck: Introduction (Anm. 6), 2. »The very authority of masculine autobiography derives from the assumption held by both the author and reader that the life being written / read is an exemplary one.« (Ebd., 3.) An dieser Stelle zeigt sich besonders deutlich, wie kanonisierte Lektüre und kanonischer Text in einer Aussage unterschiedslos zusammengezogen werden. »All these representative masculine autobiographies rest upon the Western ideal of an essential and inviolable self, which […] unifies and propels the narrative.« (Ebd., 5.) Gerade in der Kopplung von Repräsentativität und Unabhängigkeit stellt sich jedoch eine Spannung her, die zu einer neuen, anderen Lektüre dieser kanonischen Texte führen könnte. Ebd., 14.

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fürchtungen, die Olney angesichts der »French critics« äußerte. Es wiederholt sich die Frage, ob durch ›Textualität‹ das Subjekt, hier: die Frau im Singular, »verschwindet«.125 Und es wiederholt sich auch die Gleichsetzung von Autobiographie mit Subjektivität.126 Gegenüber diesen Argumentationen ist jedoch festzuhalten, daß gerade das Ausweichen vor ›Textualität‹ dazu führt, die männliche Tradition als männliche unhinterfragt bestehen zu lassen. Nur ihre Bewertung kehrt sich dabei um: Das vormals freie, souveräne Subjekt wird nun zum imperialen, unterdrükkenden erklärt. Eine andere Strategie bestünde darin, die Texte im Hinblick auf ihre Subjektivitätsmodelle einer neuen Lektüre zu unterziehen – ihre kanonische Autorität als Orte allgemein menschlicher Subjektivitätsartikulation liegt vielleicht nicht so sehr in den Texten selbst, als vielmehr in ihren Lektüren begründet. Brodzkis und Schencks Beharren auf weiblicher Subjektivität richtet sich gegen den Vorschlag Domna C. Stantons, »to bracket the traditional emphasis on the narration of ›a life,‹ and that notion’s facile presumption of referentiality«.127 Die Gleichsetzung von ›Textualität‹ mit der »unwiederbringlichen Abwesenheit« von Weiblichkeit impliziert umgekehrt, daß Geschlechtlichkeit vor bzw. außerhalb von Textualität zu situieren ist. So argumentiert auch Alfred Hornung: »The concept of a culturally gendered form of autobiography implies the shift from a mere textual self to the reintroduction of real life, particularly in the case of ethnic writers.«128 Tatsächlich ist festzustellen, daß ein Großteil der GenderForschung Hornungs Einschätzung, daß die Einbeziehung der Kategorie ›Geschlecht‹ in die Autobiographie-Forschung eine Rückkehr zum 125

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In der deutschsprachigen Diskussion ist besonders diese Warnung zustimmend rezipiert worden: »Das Verschwinden des weiblichen Subjekts aus dem / in den puren Text sehen sie zu Recht als politisch äußerst bedenkliche Fortschreibung der Marginalisierung der Frau.« (Holdenried: Autobiographie (Anm. 5), 82.) »Wie ist es möglich, weibliche Spezifität und weibliche Subjektivität zu artikulieren, ohne in Essentialismus zurückzufallen, aber auch nicht in (poststrukturalistischer) Textualität zu verschwinden.« (Gisela Brinker-Gabler: Metamorphosen des Subjekts. Autobiographie, Textualität und Erinnerung. In: Magdalene Heuser (Hg.): Autobiographien von Frauen. Beiträge zu ihrer Geschichte. Tübingen 1996, 393-404, hier 399.) Gegen die Gleichsetzung von Autobiographie und Subjektivität zu argumentieren, bedeutet nicht, daß die Autobiographie nicht als eine mögliche Quelle einer Diskursanalyse zum Thema Subjektivität herangezogen werden kann, wie es beispielsweise Felicity A. Nussbaum macht (Felicity Nussbaum: The Autobiographical Subject. Gender and Ideology in EighteenthCentury England. Baltimore 1989). Es bedeutet allerdings, darauf zu beharren, daß sich autobiographische Texte nicht in dieser Funktion der Subjektivitätsbildung erschöpfen. Dies ist der Grund, weshalb Stanton das ›bio‹ des Autobiographen im Obertitel ausschneidet: Domna C. Stanton: Preface. In: Dies. (Hg.): The Female Autograph. Theory and Practice of Autobiography from the Tenth to the Twentieth Century. Chicago, London 1987, vii. Hornung: American Autobiographies (Anm. 5), 392.

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»wirklichen Leben«, d.h. zur Referentialität bedeutet, folgt. Zu fragen wäre aber, ob dies notwendig der Fall sein muß. Läßt sich der Zusammenhang von Autobiographie, Geschlecht und Ethnizität allein über die Wiedereinführung von Referenz herstellen?129 Wird nicht durch diese Argumentationsfigur das »textuelle Selbst« als männliches, weißes bestätigt und wieder eingesetzt? Diese Argumentationsfigur findet sich in vielen feministischen Arbeiten zur Autobiographie wieder.130 Der Zusammenhang von Geschlecht und Autobiographie wird über das Autoren-Geschlecht thematisiert, um von dieser vorausgesetzten Geschlechterdifferenz als entscheidender Markierung unterschiedliche Traditionen bzw. unterschiedliche Subjektivitätsmodelle abzuleiten. Dabei wird die Differenz zwischen autobiographischen Texten von Männern und Frauen aus der Behandlung unterschiedlicher Themen,131 aus einer besonderen Form der fragmentierten Subjektivität132 oder aus einer von der männlichen Autobiographie 129

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Nein. Kley z.B. begründet die Auswahl der von ihr analysierten Texte damit, »daß sie die Mechanismen einer medial erzeugten Unmittelbarkeit nicht überschreiben, sondern vielmehr inhaltlich und formal explizit thematisieren«, und leitet gerade daraus ihr Widerstandspotential ab (Kley: »Das erlesene Selbst« (Anm. 5), 375). Eva Meyer situiert in der Schrift, »die alles Eigene ausstreicht und seine Aufhebung in der einen Autobiographie vereitelt«, den »Verlust der ›Manneskraft‹«, wie ihn u.a. Melvilles Erzählung Bartleby vorführe. Die Autobiographie des Weiblichen wird von ihr u.a. anhand eines Textes entwickelt, der auf Autoren- und Figurenseite ohne Frauen auskommt (Meyer: Die Autobiographie des Weiblichen (Anm. 83), 93). Die ob ihres vermeintlichen Essentialismus vielgescholtenen Arbeiten Hélène Cixous’ führen durch ihr Schreibverfahren vor, inwiefern die sogenannte écriture féminine sich als (immer wieder) erst zu schreibende niemals in Referentialität erschöpfen kann (vgl. dazu: Heide Volkening: Heute: Hélène Cixous. In: Marcus Hahn, Susanne Klöpping, Holger Kube Ventura (Hg.): Theorie – Politik. Selbstreflexion und Politisierung kulturwissenschaftlicher Theorien. Tübingen 2002, 69-81). Für eine Übersicht über diese Positionen vgl. Smith: Autobiography Criticism (Anm. 114), 17f.; Stanton: Autogynography (Anm. 11); Brinker-Gabler: Metamorphosen des Subjekts (Anm. 125); Kley: »Das erlesene Selbst« (Anm. 5), 76-93. Estelle C. Jelinek: Women’s Autobiography: Essays in Criticism. Bloomington 1980; Dies.: The Tradition of Women’s Autobiography: From Antiquity to the Present. Boston 1986. Für eine kritische Bewertung vgl. Kley: »Das erlesene Selbst« (Anm. 5), 77f. Einen Überblick über die gesamte angloamerikanische Gender-Forschung zur Autobiographie geben Sidonie Smith, Julia Watson: Introduction: Situating Subjectivity in Women’s Autobiographical Practices. In: Dies. (Hg.): Women, Autobiography, Theory (Anm. 4), 3-52. »It would seem therefore that it was only from the vantage point of a nonharmonious concept of the ›self‹ that women were able to articulate a ›self‹ at all.« (Katherine Goodman: Dis/Closures. Women’s Autobiography in Germany between 1790 and 1914. New York 1986, 210.) Für eine Kritik dieser Position vgl. Brinker-Gabler: Metamorphosen des Subjekts (Anm. 125), 399; Stanton: Autogynography (Anm. 11), 137ff. Karl Heinz Bohrer entwickelt an Briefen von Heinrich von Kleist, Clemens Brentano und Karoline von Günderrode eine spezifisch ästhetische Subjektivität, die sich dem

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abweichenden Sprecherposition abgeleitet. Für diese letztgenannte Position steht, als eines der prominentesten und umstrittensten Beispiele, Mary G. Masons Aufsatz The Other Voice,133 der seine These bereits im Titel formuliert. In Abgrenzung zu den männlichen Paradigmen Augustinus’ und Rousseaus entwickelt Mason anhand von vier exemplarisch ausgewählten Autorinnen aus dem 15. bis 17. Jahrhundert ein »set of paradigms for life-writing by women right down to our time«.134 Die vier ausgewählten Texte werden zu »archetypes«135 einer Tradition erklärt, deren Spezifikum darin bestehe, daß das weibliche autobiographische Subjekt anders als sein männliches Pendant nicht allein auf sich selbst fixiert sei: »On the contrary, judging by our four models, the selfdiscovery of female identity seems to acknowledge the real presence and recognition of another consciousness, and the disclosure of female self is linked to the identification of some ›other‹«.136 Gegen die »Western obsession with self« setzt Mason einen Typus weiblichen autobiographischen Schreibens, der sich durch den und im Zusammenhang mit (einem) Anderen bilde. Dennoch, so Mason, sei das Schreiben aller vier von ihr untersuchten Autorinnen geprägt durch einen »strong sense of themselves as authors«.137 Auch wenn die von Mason genannten Beispiele in ihrer Autobiographie textuell ein spezifisch weibliches Subjektivitätsmodell des Selbst-im-Zusammenhang präsentieren, so wird ihnen auf der Produktionsseite ein Autorschaftsmodell zugesprochen, daß sich nicht vom (männlichen) Schöpfermodell unterscheidet. Auf diese Weise rückt Mason von einer als männlich unterstellten, ausschließlichen Selbstbezogenheit und Souveränität ab, ohne dabei den Anspruch auf eben diese Souveränität aufzugeben. Die Struktur, die sie in den vier ausgewählten Texten findet, wird extrapoliert und als Modell zur weiblichen Autobiographietradition erklärt. Die Zwei-Traditionen-These beruht auf dieser

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Konzept der Authentizität und Selbsterhaltung des modernen Subjekts gänzlich verweigere. Von der konstatierten »Differenz von ästhetischer und sozialer Moderne« ließe sich ein grundsätzliches Argument gegen die Verrechnung von Subjektivität und autobiographischem Text ableiten. Vgl. Karl Heinz Bohrer: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität. Frankfurt/M. 1989. Mary G. Mason: The Other Voice: Autobiographies of Women Writers. In: Olney (Hg.): Autobiography (Anm. 6), 207-235. Ebd., 210. Ebd., 231. Ebd., 210. Ebd., 212. Für den Sonderfall der Analphabetin Margery Kempe wird das Moment der Kontrolle und Souveränität der Autorschaft besonders betont: »Margery Kempe, though she was illiterate and was therefore obliged to dictate her story to others, nevertheless took her role as author very seriously indeed – so seriously that the composing and transcribing and the recomposing and retranscribing of her book became a major obsession.« (Ebd.)

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exemplarischen Lektüre und deren anschließender Verallgemeinerung.138 Anstelle der zu Beginn ihres Essays angekündigten Fokussierung auf eine »particular past experience« und auf ein »unique present being« mündet Masons Text – gewollt oder ungewollt – unter Ausschluß des Partikularen und Einzigartigen in einen »sterile battle of the sexes«.139 Diese Verschränkung von Allgemeinheit und Singularität, dieser zwanghafte Austausch des Partikularen durch die Verallgemeinerung, scheint sich im Nachdenken über den Zusammenhang von Geschlecht und Autobiographie immer wieder einzustellen. Es ist offensichtlich schwierig, sich der Autobiographie einer Frau zu nähern. In der Formulierung ›Autobiographie einer Frau‹, in der Kopplung des unbestimmten Artikels im Singular mit dem generischen Begriff, liegt das Problem begründet. ›Einer Frau‹, unbenannt, haftet immer das Exemplarische an: Sie ist eine von vielen, sie ist nicht die Besondere, der Einzelfall. Es geht in dieser Formulierung nicht um ihre Singularität, sondern um ihre Zugehörigkeit zu einer Gruppe, zu einem Geschlecht. Von dieser Problematik ist jeder Versuch, abstrakt über den Zusammenhang von Autobiographie und Geschlecht zu sprechen, unausweichlich betroffen. Fraglich ist, ob sie sich im Bezug auf autobiographische Texte von Frauen in besonderer Weise ausprägt. Sind Autobiographien von Frauen in spezifischer Weise durch ein als Sonderfall zu formulierendes Verhältnis von allgemeiner Struktur und Einzelfall geprägt? In ihrer Diskussion von Georg Simmels Kulturtheorie hat Inka Mülder-Bach herausgearbeitet, daß Simmel in seinen frühen Schriften die Geschlechterdifferenz als radikalen Dualismus daraus ableitet, daß sich die Beziehung von Allgemeinem und Individuellem für die Geschlechter jeweils unterschiedlich gestaltet.140 Im Rahmen einer sich differenzierenden Evolution von Kultur sind Individualität und Allgemeinheit nicht einfach als Gegenpole zu fassen, vielmehr sind »Individualisierung und Verallgemeinerung […] sich wechselseitig bedingende und verstärkende Prozesse«: »Die Ausdifferenzierung der sozialen Gruppe, die das Individuum in seiner Besonderheit und Unvergleichlichkeit aus sich heraussetzt, findet ihr Korrelat und ihre Steigerung in der Binnendifferenzierung des ›freigesetzten‹ Individuums selbst.«141 Dieser Struktur männlicher Identitätsbildung als Muster des allgemein Menschlichen steht je138

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Liz Stanley hat Masons These und Vorgehensweise zu Recht als »wishful thinking« beschrieben und Gegenbeispiele benannt. Liz Stanley: Moments of Writing: Is There a Feminist Auto/biography? In: Gender & History 2.1 (1990), 58-67, hier 58. Mason: The Other Voice (Anm. 133), 208. Inka Mülder-Bach: Kultur und Geschlecht. Georg Simmels Konstruktion der Weiblichkeit. In: Aleida Assmann, Heidrun Friese (Hg.): Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität 3. Frankfurt/M. 1998, 217-231. Ebd., 219.

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doch keine entsprechende weibliche Individualität gegenüber, da diese durch »ihre biologische Natur determiniert« sei. Ihr »Allgemeines«, so Simmel, ist nicht das des Menschen, sondern bereits das besondere Allgemeine einer »Gruppe«, der als solcher – wie in vormodernen Gesellschaften – »eine sie nach außen hin unterscheidende Eigenart zukommt«. Die Schwierigkeit weiblicher Individualität ergibt sich aus dieser Unmöglichkeit, das allgemein Menschliche zu repräsentieren – was sie repräsentieren kann, sei allenfalls das allgemein Weibliche: »Deshalb läßt sich über ›die Frauen‹ im Plural besser und zutreffender sprechen als über ›die Männer‹; und deshalb ist umgekehrt die Frau als Individuum ›schwerer zu definieren‹ als der Mann.«142 Elfriede Jelinek legt eine vergleichbare These nahe, verschiebt aber die biologische Begründung Simmels in die Sphäre der Kultur: »Eine Frau ist kein Einzelschicksal wie ein Mann,« so heißt es apodiktisch, »[e]ine Frau steht für alle Frauen. Als Vertreterin einer unterdrückten Kaste schreibt sie für alle anderen mit. Man gesteht uns nicht zu, Ich zu sagen. Und im Grunde können wir es auch nicht.«143 Eine von allen, eine für alle. Was macht diese Verbindung so stark? »Man«, schreibt Jelinek mit einem n, gesteht »uns« nicht zu, »Ich« zu sagen. Die entscheidende Frage lautet aber: Von woher kommt das »uns« in dieser Formulierung, das die eine Frau schon zu allen versammelt, bevor sie »Ich« sagen kann? Vom »man«? Oder von Jelinek? Besteht die Schwierigkeit, »Ich« zu sagen, aufgrund patriarchaler Zuschreibungen?144 Oder muß diese Zuschreibung, wie Jelinek nahelegt, zurückgewendet werden auf ›die Frau‹ – aus »eine Frau« wird ein Kollektiv: »Und im Grunde können wir es auch nicht. « Wo genau liegt das Problem? Das Problem taucht wieder auf, wenn Simone de Beauvoir im dritten Band ihrer Lebensgeschichte, Der Lauf der Dinge, von der Entstehung von Das andere Geschlecht erzählt. »Eigentlich hatte ich Lust, von mir selber zu erzählen. Mir gefiel Mannesalter von Leiris. Ich hatte eine Vorliebe für Märtyrer-Essays, in denen man sich vorbehaltlos preisgibt. Ich begann davon zu träumen, mir Notizen zu machen und sprach mit Sartre darüber.«145 Angeregt durch die Lektüre des autobiographischen Textes von Michel Leiris, plant Beauvoir, von sich selbst zu schreiben. Mannesalter – L’age d’homme:146 ein Text, der die Männlichkeit des ›ich‹ 142 143 144

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Ebd., 220f. Elfriede Jelinek, Marlene Streeruwitz: Die Begegnung. Sind schreibende Frauen Fremde in dieser Welt? In: Emma 9-10/1997, 54-63, hier 57. Vgl. Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt/M. 1979. Simone de Beauvoir: Der Lauf der Dinge. Übers. v. Paul Baudisch. Reinbek bei Hamburg 1966, 97. Michel Leiris: Mannesalter. Übers. v. Kurt Leonhard. Frankfurt/M. 1994.

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durchgängig reflektiert und bis in körperliche Details ausstellt. Der Titel jedoch spielt mit der Gleichsetzung von Mann und Mensch: Mannesalter – Zeitalter des Mannes / Zeitalter des Menschen. Das kann nicht der Ausgangspunkt einer Autobiographie Beauvoirs sein, die Frage nach dem Geschlecht stellt sich hier anders: »Ich überlegte mir, daß die erste Frage lauten müßte: Was hat es für mich bedeutet, eine Frau zu sein? Anfänglich hatte ich geglaubt, schnell damit fertig zu werden. Ich hatte nie an Minderwertigkeitskomplexen gelitten, niemand hatte zu mir gesagt: ›Sie denken so, weil sie eine Frau sind ...‹ Daß ich eine Frau bin, hat mich in keiner Weise behindert. ›Für mich‹, sagte ich zu Sartre, ›hat das sozusagen keine Rolle gespielt.‹ – ›Trotzdem sind Sie nicht so erzogen worden wie ein Junge: Das muß man genauer untersuchen.‹«147 Die ›Bedeutung der Frau‹ ist für Beauvoir zunächst nur als Minderwertigkeitskomplex und Behinderung zu verstehen, und sofern sie sich davon nicht beeinflußt glaubt, weist sie diese Bedeutung für sich ab. Für das ›ich‹ ist zunächst unbedeutend, was es bedeutet, eine Frau zu sein. Es ist bemerkenswert, daß es die Stimme eines Mannes, Sartres, ist, die Beauvoir auf den Unterschied und die Notwendigkeit einer Analyse hinweist, die sie auf die Bedeutsamkeit des Geschlechts stößt. Diese Analyse markiert den Wendepunkt in der Geschichte vom erwachenden feministischen Bewußtsein: »Ich untersuchte es genauer und machte eine Entdeckung: Diese Welt ist eine Männerwelt, meine Jugend wurde mit Mythen gespeist, die von Männern erfunden worden waren, und ich hatte keineswegs so darauf reagiert, als wenn ich ein Junge gewesen wäre. Mein Interesse war so groß, daß ich den Plan einer persönlichen Beichte fallenließ, um mich mit der Lage der Frau im allgemeinen zu befassen. Ich nahm mir vor, in der Bibliothèque Nationale die entsprechende Literatur zu lesen und die Mythen des weiblichen Geschlechts zu untersuchen.«148 Autobiographie und die Analyse dessen, was es bedeutet, eine Frau zu sein, sind eng aufeinander bezogen, die Autobiographie scheint diese Auseinandersetzung vorauszusetzen. Anstatt »schnell damit fertig‹ zu werden, wie Beauvoir anfangs vermutet, entsteht ein theoretisches und historisches Standardwerk, ein Bericht über die »Lage der Frau im allgemeinen« statt »einer persönlichen Beichte«. Es ist dieses Verhältnis von Singularität und Allgemeinheit im Zusammentreffen von Frau und Autobiographie, auf das die Frage nach dem Zusammenhang von Geschlecht und Autobiographie immer wieder stößt. Das andere Geschlecht nimmt diese Probleme wieder auf: »Wenn ich mich aber äußern will, so muß ich zunächst einmal klarstellen: ›Ich bin eine Frau‹; diese Feststellung liefert den Hintergrund, von dem jede 147 148

Beauvoir: Der Lauf der Dinge (Anm. 145), 97. Ebd., 97f.

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weitere Behauptung sich abhebt.«149 Singularität wird hier gedacht als exemplarisches Individuelles und damit als ein Individuelles, das im Abheben immer auf den Hintergrund bezogen bleibt. Als solches läuft es immer Gefahr, in seinem Grund zu verschwinden. Womöglich ist es nur hervorgehoben, um das Allgemeine zu exponieren, als »Vertreterin einer unterdrückten Kaste« – in Jelineks Formulierung – zu fungieren. Was sie sagt, wird auf diesen Hintergrund bezogen – ›das kommt von einer Frau‹ –, so daß potentiell jede Äußerung als autobiographische erscheint – auch die literarische.150 ›Die Frau‹ scheint so gleichzeitig auf ›ihre Geschichte‹ festgelegt und von ihr separiert zu sein. Die ›Autobiographie einer Frau‹ scheint notwendig immer schon die Autobiographie dessen zu sein, was es bedeutet, eine Frau zu sein. Sie ist dadurch auch die Autobiographie von Frauen im allgemeinen, von ›der Frau‹. Sie befindet sich immer am Rand der Autobiographie. Sie kann nicht einfach ihre Geschichte erzählen. Was sie schreibt, ist gerade noch oder gerade noch nicht Autobiographie – es ist fast schon eine Autobiographie oder fast schon keine mehr. Alles steht und fällt mit dem Gewicht, das man der ›Bedeutung der Frau‹, zubilligt. So kann der Blick auf herrschende Weiblichkeitsbilder und der Wunsch, sich von ihnen abzugrenzen, in eine autobiographische Praxis umschlagen, die ihrerseits ein neues Bilderreservoir bereitstellt, das sich als Vorbild präsentiert. Jutta Kolkenbrock-Netz und Marianne Schuller haben 1982 in einer Lektüre der sogenannten Verständigungs149

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Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Übers. v. Eva Rechel-Mertens u. Fritz Montfort. Reinbek bei Hamburg 1951, 10. Es ist ein gängiges Vorurteil, daß literarische Texte von Frauen autobiographisch zu lesen seien. Stanton bringt es auf den Punkt: Überall da, wo Autobiographik gegen Literarizität, Referentialität gegen eine ästhetisch elaborierte Form ausgespielt wird, wird diese Wertung genutzt »to affirm that women could not transcend, but only record, the concerns of the private self« (Stanton: Autogynography (Anm. 11), 132). Besonders prägnante Beispiele für dieses Lektüre-Verfahren werden beschrieben bei: Elke Brüns: Keine Bürgerin der Spiegelstadt? Marieluise Fleißer: Autobiographismus als Rezeptionsstrategie. In: Michaela Holdenried (Hg.): Geschriebenes Leben. Autobiographik von Frauen. Berlin 1995, 324-338; Peggy Kamuf: Writing like a Woman. In: Sally McConnell-Ginet, Ruth Borker, Nelly Furman (Hg.): Women and Language in Literature and Society. New York 1980, 284-99; Annette Keck: (Post)Moderne Lebenskünste? Von Reventlow über Jelinek ins 21. Jahrhundert. In: Peter Wiesinger (Hg.): Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000. »Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert«. Bd. 10. Bern u.a. 2003, 161-166. Aber auch auf der Seite der Gender-Forschung findet sich diese Form der Lektüre immer wieder, als ausformuliertes Paradigma einer weiblichen Ästhetik z.B. bei Christa Bürger: Leben Schreiben. Die Klassik, die Romantik und der Ort der Frauen. Stuttgart 1990. Neben Fleißer wären auch Ingeborg Bachmann oder Virginia Woolf als Autorinnen zu nennen, deren Texte lange Zeit autobiographisch (und identifikatorisch) gelesen wurden.

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texte der Neuen Frauenbewegung nachgewiesen, daß diese Autobiographien ein solches neues Paradigma ausgebildet haben. Begonnen mit dem ausdrücklichen »Verlangen nach unverstellter Artikulation ihrer authentischen Erfahrungen«,151 haben eine Reihe von Autorinnen auf die Autobiographie als ein Genre zurückgegriffen, »das traditionell dafür einsteht, die Authentizität einer subjektiv verbürgten Erfahrung kulturell zur Geltung zu bringen«.152 Zunächst erscheint die Autobiographie als ideales Medium, um ein weibliches Subjekt zu konstituieren – dessen Auflösung in der späteren Diskussion um die Autobiographie befürchtet wird. »Mit dem Genre ›Autobiographie‹ ist also die Möglichkeit gegeben, daß sich Frauen als Subjekte formulieren und daß sie dergestalt auch andere Frauen als Subjekte anrufen können.«153 In der gegenseitigen Spiegelung von Autobiographin und Leserin können sich beide, so der Wunsch, von dem Kolkenbrock-Netz und Schuller berichten, aus dem »Schattenreich«154 des Privaten befreien und zu einer gegenseitigen öffentlichen Anerkennung gelangen. In der genaueren Analyse von Anja Meulenbelts Die Scham ist vorbei155 stellt sich jedoch heraus, daß dieses weibliche Subjekt nur um den Preis einer Hierarchisierung zugunsten der Autorin zu haben ist, die der kritisierten ›männlichen Tradition‹ allzu ähnlich sieht: »Sofern die autobiographische Schreibweise traditionsgemäß fortgesetzt wird, […] entwirft sich die schreibende Frau, wie die meisten ihrer männlichen Kollegen aus dem 18. Jahrhundert, als eine machtgebietende Repräsentationsfigur, die sich selbst und ihre Leserinnen als weibliches Subjekt spiegelt, sozusagen spekuliert.«156 Die Einlösung des Schlagwortes ›Das Persönliche ist politisch‹ mißlingt in doppelter Weise, insofern das Private einerseits substantialisiert wird, ohne daß seine Durchdringung durch die Konstituenten des öffentlichen Raumes herausgestellt wird. Andererseits wird persönliche Erfahrung nur im Rahmen und vor dem Hintergrund der Frauen gedeutet: »Ihr [Meulenbelts] gesamtes Leben ist in der repräsentativen Funktion, die sie ihm zuschreibt, aufgegangen.«157 Meulenbelts Text beruht auf einer Reihe von Oppositionen, die von Kolkenbrock-Netz und Schuller für seine Wirkungslosigkeit verantwortlich gemacht werden. Die Unmittelbarkeit und

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Jutta Kolkenbrock-Netz, Marianne Schuller: Frau im Spiegel. Zum Verhältnis von autobiographischer Schreibweise und feministischer Praxis. In: Irmela von der Lühe (Hg.): Entwürfe von Frauen in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Berlin 1982, 154-174, hier 154. Ebd. Ebd., 155. Ebd., 154. Anja Meulenbelt: Die Scham ist vorbei. Eine persönliche Geschichte. München 1978. Kolkenbrock-Netz, Schuller: Frau im Spiegel (Anm. 151), 166. Ebd., 161.

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Authentizität des autobiographischen Subjekts sind an eine Sprache gekoppelt, die Mündlichkeit suggeriert und auf eine Reflexion der Schreibform verzichtet. Die »persönliche Lebenspraxis«, die sich auf diese Weise äußern können soll, wird von Meulenbelt gegen eine »feministische Theorie«158 ausgespielt, deren abstrakte Vorgaben nur scheinbar distanziert werden können. Das weibliche Subjekt, das sich schließlich teleologisch entwickelt, entspricht genau dieser Theorie.159 Das Bemühen, das weibliche Subjekt unmittelbar zu Wort kommen zu lassen, endet in der Aufrichtung einer neuen Normierung. Diese Form des repräsentativen Sprechens ist innerhalb der feministischen Theoriebildung der letzten Jahre aus unterschiedlichen Perspektiven stark kritisiert worden.160 Das Beharren auf einem »female subject par excellence«,161 das nicht in der Textualität der Autobiographie ›verschwinden‹ möge, setzt dieses in die Funktion der Repräsentantin immer wieder ein. »For the marginalized woman, autobiographical language may serve as a coinage that purchases entry into the social and discursive economy. To enter into language is to press back against total inscription in dominating structures, against the disarticulation of that spectral other«.162 »In die Sprache einzutreten« führt, dies zeigen die Überlegungen Kolkenbrock-Netz’ und Schullers, nicht notwendig zu einem Widerstand gegen die »total inscription« der Kultur – dies wäre vielmehr gar nicht möglich, wenn die Einschreibung wirklich »total« wäre. Das »spectral other«, als das »die marginalisierte Frau« hier bezeichnet wird, ist als Gespenstigkeit vielmehr an genau jenen Eintritt in die Sprache gekoppelt, der es erlösen können soll. Der Eintritt in die Sprache bringt das Gespenst erst zum Vorschein, das er austreiben soll. Die »ghostly absence«163 autobiographischer Texte von Frauen in der allgemeinen Gattungsdiskussion läßt sich nicht einfach in einer nun 158 159

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Ebd., 158. »In ihrem Versuch, das individuelle Leben mit dem Feminismus über das autobiographische Verfahren vollständig kompatibel zu machen, verfällt die Autorin, ganz gegen ihre erklärte Absicht, also notwendigerweise der Abstraktheit.« (Ebd., 161.) Vgl. z.B. Linda Alcoff: The Problem of Speaking for Others. In: Cultural Critique 20 (1991-92), 5-32; Gayatri C. Spivak: Three Women’s Texts and a Critique of Imperialism. In: Robyn R. Warhol, Diane Price Herndl (Hg.): Feminisms. An Anthology of Literary Theory and Criticism. New Brunswick 1991, 798-814; Judith Butler: »Women« as the Subject of Feminism. In: Dies.: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New York, London 1990, 1-6; Bettine Menke: Verstellt – der Ort der ›Frau‹. Ein Nachwort. In: Barbara Vinken (Hg.): Dekonstruktiver Feminismus. Literaturwissenschaft in Amerika. Frankfurt/M. 1992, 436-476. Jane Tompkins: Me and My Shadow. In: Warhol, Herndl (Hg.): Feminisms (Anm. 160), 1079-1092, hier 1089. Smith, Watson: Introduction. De/Colonization (Anm. 119), xix. Stanton: Autogynography (Anm. 11), 6.

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›weiblich‹ zu nennenden Ergänzung der Tradition materialisieren. Der Status ihrer »gespenstischen Abwesenheit« ist nicht derselbe wie der, der sich in James Olney’s Befürchtungen um das allgemein-männliche autobiographische Subjekt artikulierte. Denn die Texte der männlichen Tradition sind fest in der Gattungsdiskussion verankert und verlieren ihre diskursbestimmende Position auch dann nicht, wenn sich das »Selbst« – wie Olney befürchtet – zu verflüchtigen scheint. Im Gegenteil: Jacques Derridas Lektüre von Rousseaus Bekenntnissen164 dürfte eher dazu beigetragen haben, diesem Text seine dominante Diskursposition zu erhalten oder sie zu verstärken (wie umgekehrt Derrida durch die Lektüre von Rousseau, d.h. durch die Lektüre eines kanonisierten Autors, eine gewisse Aufmerksamkeit von vornherein gesichert ist). Im literaturwissenschaftlichen Diskurs sind Rousseaus Bekenntnisse eine sehr ›anwesende‹ Größe, auch wenn in ihnen ein Modell des supplément aufgespürt werden kann, das jede Form der Anwesenheit in eine vermittelte überführt. Umgekehrt ist die gespenstische Abwesenheit autobiographischer Texte von Frauen in der generalisierenden Gattungsdiskussion also nicht durch die Formulierung einer weiblichen Identität als Anwesenheit aufzuheben. Die Autobiographie zielt – üblicherweise – auf die Besonderheit, auf die Singularität einer Person. Die Autobiographie ›par excellence‹, Rousseaus Bekenntnisse, weist sich und ihren Gegenstand als absolut einzigartig aus: »Ich plane ein Unternehmen, das kein Vorbild hat und dessen Ausführung auch niemals einen Nachahmer finden wird. Ich will vor meinesgleichen einen Menschen in aller Wahrheit der Natur zeigen, und dieser Mensch werde ich sein. Einzig und allein ich.«165 So sehr das ›ich‹ in Rousseaus Bekenntnissen auf seiner Einzigartigkeit beharrt, in der sich das allgemein Menschliche spiegele, »vor meinesgleichen«, so sehr formuliert sich in diesem Beharren ein Strukturgesetz der Autobiographie. An anderer Stelle hat Derrida dieses Muster scheinbar übernommen, um nun selbst in der Position des »einzigen Franco-Maghrebiner[s]« einen autobiographischen Diskurs zu führen.166 Die Formulierung Derridas rückt ihn jedoch aus der Position des Einzigartigen, in dem sich die ganze Menschheit spiegeln könnte, in eine immer schon mit einer allgemeinen Bedeutung versehenen Kategorie des Franco-Maghrebinischen – die Position, die Derrida hier bezieht, ist also strukturell analog zu der Posi164

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Jacques Derrida: »Dieses gefährliche Supplement ...«. In: Ders.: Grammatologie. Übers. v. Hans-Jörg Rheinberger u. Hanns Zischler. Frankfurt/M. 1974, 244-282. Jean-Jacques Rousseau: Bekenntnisse. Übers. v. Ernst Hardt. Frankfurt/M. 1985, 37. Jacques Derrida: Die Einsprachigkeit des Anderen oder die Prothese des Ursprungs. Übers. v. Barbara Vinken. In: Anselm Haverkamp (Hg.): Die Sprache des Anderen. Frankfurt/M. 1997, 15-41, hier 18.

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tion ›der Frau‹ im autobiographischen Diskurs. Von dieser Position aus kann kein allgemein-menschlicher und auch kein allgemein-weiblicher/franco-maghrebinischer Diskurs mehr geführt werden. Eines der Themen dieses Textes von Derrida ist die Überkreuzung von Allgemeinheit und Einzigartigkeit, von Singularität und Gesetz, von Ontologie und Phänomen oder von Ereignis und Struktur – verhandelt wird es im Wechsel von formelhafter, allgemeiner Rede und autobiographischer Erzählung. Der Text selbst ist »die rätselhafte Artikulation zwischen einer universellen Struktur und seinem idiomatischen Zeugen«,167 von der er spricht. Damit ist aber bereits ein Verhältnis des Einzelnen, also Derridas, zu einer Allgemeinheit angesprochen: »Was passiert, wenn man eine angeblich einzigartige Situation – meine beispielsweise – in Termini beschreibt, deren Generalität eine irgendwie strukturelle, universelle, transzendentale, ontologische Bedeutung annimmt? Wie eine Einzigartigkeit beschreiben, bezeichnen oder bestimmen, deren Einmaligkeit gerade am Zeugnis-Ablegen hängt, an dem Faktum also, daß bestimmte Individuen in bestimmten Situationen die Züge einer universellen Struktur besser als andere bezeugen, offenbaren, anzeigen, quasi live zu lesen geben?«168 Nachdem er sich als ›den‹ exemplarischen Franco-Maghrebiner, als ›par excellence‹ heraus- und vorgestellt hat, bestreitet Derrida die Möglichkeit, von dieser Position aus Aussagen über das Franco-Maghrebinische treffen zu können. »Wenn ich sage, daß ich vielleicht der einzige Franco-Maghrebiner hier bin, dann autorisiert mich das nicht, im Namen einer franco-maghrebinischen Gemeinschaft zu sprechen, deren Identität ja gerade in Frage steht. Unsere Frage ist hier immer eine Frage nach Identität.«169 Die Identität des Franco-Maghrebinischen, für die Derrida als Repräsentant geladen sein könnte, wird – wie die Identität des weiblichen autobiographischen Subjekts – durchkreuzt von der Einsprachigkeit des Anderen: »Meine Sprache, die einzige, die ich spreche, ist die Sprache des Anderen.«170 Im besonderen Fall Derridas ist diese Einsprachigkeit zunächst das Ergebnis der kolonialen Sprachpolitik Frankreichs in Algerien, »die immer dazu tendiert, die Sprachen auf das Eine und auf die Hegemonie des Homogenen zu reduzieren«, sie ist »verordnete Einsprachigkeit«.171 In einem weiteren Sinn gilt jedoch auch: »Jedermann muß sagen können: ›Ich habe nur eine Sprache, und das ist nicht meine.‹«172 Und noch einmal: »So daß jeder sagen kann: ich habe nur eine Sprache und das ist nicht meine. Meine eigene, meine eigentli167 168 169 170 171 172

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

33. 21. 18. 22. 28. 21.

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che Sprache ist mir eine Fremdsprache.«173 Es ist diese notwendig fremde Sprache, die die »identifikatorische Modalität« bereitstellt, die die Voraussetzung autobiographischen Erzählens ist: »Daß das Ich der sogenannten auto-biographischen Anamnese je nach Sprache verschieden gesagt wird – in jeder, und nicht nur in grammatischer, logischer oder philosophischer Hinsicht –, daß es diesen Sprachen nicht voraus liegt und also von der Sprache im allgemeinen nicht unabhängig ist, das wird von denen, die von der Autobiographie im allgemeinen reden – Gattung oder keine Gattung, literarische Gattung oder keine literarische Gattung usw. –, selten berücksichtigt.«174 Ich bin identifizierbar und identifiziere mich selbst darüber, wie ich spreche, welche Wörter ich benutze oder nicht benutze, wie ich Sätze bilde, welche Kontexte durch Wörter und Sätze, die ich kultiviere, angesprochen sind und aufgerufen werden. »Ich glaube,« sagt Derrida in einem Interview, »daß bei jedem, der redet oder schreibt, natürlicherweise ein Begehren vorhanden ist, in idiomatischer, das heißt unersetzbarer Weise seine Signatur zu hinterlassen.«175 Das Idiom wäre das eingelöste Versprechen der reinen Singularität, der radikalen Autobiographie. Die Bedingung der Möglichkeit dieses Idioms impliziert aber zugleich die Möglichkeit seiner Wiederholung: »Sobald es aber eine Markierung gibt, das heißt die Möglichkeit zur Wiederholung, sobald es eine Sprache gibt, tritt auch die Allgemeingültigkeit auf, und das Idiom geht einen Kompromiß mit etwas nicht Idiomatischem ein; mit einer gemeinsamen Sprache, mit Begriffen, Gesetzen und allgemeinen Normen.« Daher gibt es kein reines Idiom und auch keine reine Singularität: »Am Ende steht eine Signatur, die nicht die vorausberechnete ist«.176 Der Andere signiert immer mit. Die Situation des Einzelnen in seiner Sprache ist daher nicht »Heimat« oder »Wohnung«.177 »Das in Frage stehende Ich hat sich zweifellos am Ort einer unauffindbaren Situation, die immer auf ein anderswo, auf etwas anderes, auf eine andere Sprache, auf den Anderen im allgemeinen verweist, geformt«.178 »Auf jeden Fall«, d.h. nicht nur im Einzelfall des exemplarischen Franco-Maghrebiners oder der exemplarischen Frau, 173 174 175

176 177 178

Ebd., 22. Ebd., 24. Jacques Derrida: »Es gibt nicht den Narzißmus« (Autobiophotographien). Übers. v. Karin Schreiner u.a. In: Ders.: Auslassungspunkte. Gespräche. Wien 1998, 209-227, hier 213. Ebd. Vgl. Derrida: Die Einsprachigkeit (Anm. 166), 33. Ebd., 24. »Whether male or female, the autobiographer is always a displaced person: to speak and write from the space marked self-referential is to inhabit, in ontological, epistemological, and discursive terms, no place.« (Bella Brodzki: Mothers, Displacement, and Language in the Autobiographies of Natalie Sarraute and Christa Wolf. In: Dies., Schenck (Hg.): Life/Lines (Anm. 6), 243-59, hier 243f.

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»[a]uf jeden Fall gab es vor dieser fremdartigen, dieser unheimlichen Situation einer nicht-nennbaren Sprache kein denkbares oder denkendes Ich.«179 Gespenstische Abwesenheit ist durch einen Eintritt in eine nur vermeintlich ›eigene‹ Sprache nicht in Anwesenheit zu überführen, weil diese als »unheimliche Situation« die Identifizierung selbst strukturiert. Von deren Unterschieden und Schwierigkeiten kann jedoch autobiographisch erzählt werden.180 Diese Erzählung selbst ist wiederum durch die Differenz von Singularität und Allgemeinheit gezeichnet. Die Möglichkeit einer allgemeinen Gattungsdefinition, die Rede von der Autobiographie im allgemeinen, löst sich auf zugunsten unterschiedlicher, singulärer Artikulationen dieser Spannung zwischen den beiden Polen.

179 180

Derrida: Die Einsprachigkeit (Anm. 166), 24. »Ich beschloß, nicht Ich zu sagen und doch persönlich zu werden. Und sogar eine Autobiographie zu schreiben, wie von jemand anders autorisiert. Denn weder hielt ich es für wichtig, meine Identität zu finden, noch sie in irgendeiner Gruppierung aufgehen zu lassen. Was ich wollte war, daß Du bist. Daß es einen ähnlichen Dritten gäbe, der mir schon mein Leben erzählen könnte, ohne es nach dem Schema Identität und Andersheit aneignen zu müssen. Einfach dadurch, daß wiedererzählt werden würde, von diesem Persönlichen, das der gleichsam natürlichen Verallgemeinerung, wie sie im Übergang zur öffentlichen Rede begriffen ist, mißtraut.« (Eva Meyer: Das Persönliche ist politisch. In: Dies.: Tischgesellschaft. Basel, Frankfurt/M. 1995, 25-39, hier 26.)

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II. GHOSTWRITING Die Autobiographie-Forschung der letzten Jahre hat sich intensiv mit dem Autor als zentralem Parameter einer möglichen Definition der Autobiographie befaßt. Dies geschah in der Rede vom Ende der Autobiographie, insofern negativ oder positiv auf die Deklaration vom ›Tod des Autors‹ Bezug genommen wurde, oder aber in den Versuchen, die Autobiographie als literarische Gattung zu bestimmen, die sich auf den Autor als Rechtssubjekt bzw. Subjekt der Lebenswelt berufen, auf das die Autobiographie referentiell verweise. Für die Definition der Gattung hat sich die Aufspaltung des ›auto‹ als wiederkehrendes Problem erwiesen. Die in der Autobiographie angestrebte Identität wird schließlich mit Lejeune nicht mehr als psychische oder personale Identität, sondern als formale Identität von Autor, Protagonist und Erzähler formulierbar. In allen Diskussionen ist jedoch eine Figur weitgehend unberücksichtigt geblieben, deren Status als unwichtige Seitenfigur immer schon gesichert zu sein scheint, die aber die Problematik einer Gattungsdefinition deutlich vor Augen führen kann: der Ghostwriter. Wenn der Ghostwriter ins Blickfeld gerät, dann um eine hochwertige, literarische Autobiographie von einer populären Form abzugrenzen, deren Subjekte prominente Sportler, Schauspieler oder Politiker sind und die in der Regel von Ghostwritern geschrieben werden. Ghostwriter verfassen, so Martina Wagner-Egelhaaf, »literarisch anspruchslose[]« und »in der Nähe des Enthüllungsjournalismus angesiedelte[] Darstellungen des Lebens von Personen aus dem Bereich der Medien- und Unterhaltungsbranche«.1 Autobiographien, die von Ghostwritern verfaßt werden, darin besteht weitgehend Einigkeit, sind leicht herzustellen und ebenso leicht konsumierbar: »Autobiography is both the simplest of literary enterprises and the commonest. Anybody who can write a sentence or even speak 1

Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. Stuttgart, Weimar 2000, 1. Ganz ähnlich heißt es bei Manfred Schneider: »Es gilt ja nicht nur für die neuere Zeit, daß neben literarischen Autobiographien eine große Zahl von Politikern, Schauspielern, Sportlern den Buchmarkt mit Lebensgeschichten aus eigener Feder oder aus dem Geist von Ghostwritern überfallen.« (Manfred Schneider: Das Geschenk der Lebensgeschichte: die Norm. Der autobiographische Text/Test um Neunzehnhundert. In: Michael Wetzel (Hg.): Ethik der Gabe. Denken nach Jacques Derrida. Berlin 1993, 249-265, hier 249.)

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into a tape recorder or to a ghostwriter can do it; yet viewed in a certain light it might fairly be seen as a very daring, even foolhardy, undertaking – a bold rush into an area where angels might well fear to tread.«2 Für die Autobiographie, die üblicherweise von Ghostwritern produziert wird, ist es nicht einmal nötig, daß der Autobiographierte schreiben kann. Laut Olney reicht bereits das Vermögen, Cassetten zu besprechen. Damit situiert Olney den Ghostwriter sehr präzise am Übergang von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit – der Ghostwriter ist das Medium, das die mündlichen Erzählungen (s)eines Subjekts in einen geschriebenen Text überführt. Olneys Aussage ist aber insofern unpräzise, als sie den Ghostwriter mit dem tape recorder gleichsetzt, denn der Ghostwriter fungiert nicht nur als ein Speichermedium, sondern erfindet für den zu schreibenden Text auch einen bestimmten Tonfall, eine Erzählperspektive und -stimme, eine narrative Struktur. Diese Arbeit des Ghostwriters, seine eigentliche Funktion, wird in der Parallelisierung mit dem Rekorder negiert. Von hier aus ließe sich jedoch genau das in den Blick nehmen, was in Olneys Beschwörung der Autobiographie als gewagtes und verwegenes Unternehmen anklingt. Im folgenden wird daher die Fragerichtung umgekehrt. Die Frage ist nicht: Was läßt sich über von Ghostwritern verfaßte Autobiographien sagen? Gefragt wird vielmehr: Was läßt sich mit Hilfe der Figur des Ghostwriters über die Gattungsprobleme der Autobiographie sagen? In der Strukur des Ghostwriting wird die Diversität des autobiographischen Subjekts augenfällig. Im Ghostwriting ist das ›Selbst‹ tatsächlich auf (mindestens) zwei Personen verteilt: Es gibt das ›auto‹ der Autobiographie als Erzähler/Protagonisten und es gibt den Ghostwriter als Verfasser.3 Er hat seinen Ort auf der prekären Schwelle zwischen Buch und Leben, Schrift und Referenz. Den Ghostwriter in die Autobiographie-Diskussion einzutragen bedeutet, den Fokus auf die Diversität des autobiographischen Subjekts zu legen. Das tut auch Lejeune, wenn er in einem in der Autobiographie-Diskussion bisher eher vernachlässigten Aufsatz festhält: »Anyone who decides to write his life story acts as if he were his own ghostwriter.«4 Für Lejeune ist der Ghostwriter implizit im 2

3

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James Olney: Autobiography and the Cultural Moment. A Thematic, Historical, and Bibliographical Introduction. In: Ders. (Hg.): Autobiography. Essays Theoretical and Critical. Princeton 1980, 3-27, hier 3. Der Ghostwriter kann der alleinige Verfasser eines Textes sein, er kann der Schreiber sein, er ist jedoch nicht dessen Autor. Zur Unterscheidung von Verfasser und Autor vgl. Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: Ders.: Schriften zur Literatur. Übers. v. Karin von Hofer. Frankfurt/M. 1988, 7-31, hier 17: »Ein anonymer Text, den man an einer Hauswand liest, wird einen Verfasser haben, aber keinen Autor.« Philippe Lejeune: The Autobiography of Those Who Do Not Write. In: Ders.: On Autobiography. Hg. v. Paul John Eakin, übers. v. Katherine Leary. Minneapolis 1989, 185-215, hier 188.

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autobiographischen Pakt mitgedacht: obwohl er dort nicht erwähnt sei, lasse er sich im Rahmen des Paktes situieren. Dagegen ist jedoch festzuhalten, daß die Figur des Ghostwriters wesentlich dadurch gekennzeichnet ist, daß sie nicht signieren kann. Mit dem Ghostwriter verliert daher der Pakt seine Signatur – Autor, Protagonist und Erzähler können nicht mehr als identische auftreten. Dieses Kapitel verfolgt die Spuren des Ghostwriters in drei Schritten. Der erste Teil, Ghostwriter, Autor und Autorin, grenzt Ghostwriting von einer Reihe benachbarter Phänomene wie Fälschung, Pseudonym, Diktat und Autorschaft ab. Er umreißt die Figur des Ghostwriters, so weit sie zu umreißen ist – zeichnet sich doch der Ghostwriter vornehmlich dadurch aus, daß er sich der Gestaltwerdung und Benennbarkeit entzieht. Der zweite Teil verfolgt den Ghostwriter dort, wo er als Rechtssubjekt greifbar geworden ist. Im literaturwissenschaftlichen Diskurs kaum berücksichtigt, ist der Ghostwriter für das Urheberrecht insofern eine wichtige Figur, als mit ihm zentrale Definitionselemente von Urheberschaft außer Kraft gesetzt sind. Der Ghostwriter trifft den neuralgischen Punkt der Zuordnung von Werk und Schöpfer, so daß sich die urheberrechtliche Diskussion notgedrungen differenziert mit der Frage der Signatur des Ghostwriters beschäftigt hat. Der abschließende Teil dieses Kapitels versucht sich an einer Relektüre des autobiographischen Pakts durch die Brille des Ghostwriting.

1. Ghostwriter, Autor und Autorin Ghostwriting ist auch außerhalb der Autobiographie-Diskussion ein in der Literaturwissenschaft stark vernachlässigtes Thema.5 Angesichts der Fülle der Publikationen zum Thema ›Autorschaft‹ und des gerade neuer-

5

Auffällig ist, daß Ghostwriting gerade dann interessant wird, wenn die betreffenden Autoren als unsterbliche Originale gelten, wie etwa Goethe und Shakespeare. Folgende Titel beziehen sich allerdings nur nebensächlich auf die Figur des Ghostwriters im engeren Sinne: George & Bernard Winchcombe: Shakespeare’s Ghost-Writer(s). Esher 1968; Marjorie Garber: Shakespeare’s Ghost Writers. Literature as Uncanny Causality. New York, London 1987; Avital Ronell: Dictations. On Haunted Writing. Lincoln, London 1993. Im Zusammenhang mit Jacques Derridas Marx’ Gespenster (Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Übers. v. Susanne Lüdemann. Frankfurt/M. 1995) sind zwei Aufsätze von Derek Attridge und Gayatri C. Spivak zu nennen, die sich für die Figur des Ghostwriters jedoch nicht interessieren: Derek Attridge: Ghost Writing. In: Anselm Haverkamp (Hg.): Deconstruction is/in America: A New Sense of the Political. New York, London 1995, 223-227; Gayatri C. Spivak: Ghostwriting. In: Diacritics 25.2 (1995), 65-84.

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dings wieder verstärkten Interesses daran6 ist dies erstaunlich, aber vermutlich nicht zufällig. Denn der Ghostwriter zeichnet sich in erster Linie dadurch aus, daß er unsichtbar bleibt. Der Lücke im literaturwissenschaftlichen Diskurs korrespondiert das hervorstechendste Merkmal des Ghostwriters, das gerade darin besteht, daß er nicht hervorsticht – daß die »Arbeit des ghostwriters eigentlich erst dann als gelungen angesehen werden kann, wenn man ihre Spuren nicht mehr sieht«.7 Die Arbeit des Ghostwriters besteht darin, sich selbst unsichtbar zu machen; der Ghostwriter ist ein Spurenlöscher, und was er vergessen macht, ist genau die Arbeit des Schreibens, die seine eigentliche Aufgabe ist. Der Ghostwriter ist ein Medium, das sich selbst zum Verschwinden bringen muß, um seine Funktion zu erfüllen. Das Historische Wörterbuch der Rhetorik definiert den Ghostwriter wie folgt: »Ein Ghostwriter ist ein Schreiber, der Texte im Auftrag eines anderen verfaßt, fremdorientiert arbeitet und dabei anonym bleibt oder zumindest seinen Anteil am Text verschweigt.«8 Ulrike Mielke greift in dieser Definition auf die in ihrer ausführlichen Studie Der Schatten und sein Autor entwickelten Überlegungen zurück.9 Der Ghostwriter schreibt im Auftrag eines Anderen, in der Regel geht die Initiative nicht von ihm aus. Im Falle autobiographischer Texte kann hier jedoch von einer Ausnahme gesprochen werden, insofern es gängige Praxis ist, daß sowohl Verlage als auch potentielle Ghostwriter an öffentlich bekannte Personen mit dem Vorschlag einer Autobiographie herantreten. Beim Schreiben ist die Person des Auftraggebers ausschlaggebend, der Ghostwriter selbst tritt möglichst vollständig in den Hintergrund.10 Dieser Aspekt des Ghostwriting läßt sich mit Mielke als »Fremdorientierung« bezeichnen, als »bewußte Zurückstellung von Individualität«: »Die Arbeit ist von vornherein inhaltlich und stilistisch auf einen Anderen hin konzipiert und muß in diesem Sinne verfaßt werden. Der Andere erscheint letztlich als Urheber des Textes.«11 Die Fremdorientierung des Ghostwriters richtet sich nicht nur auf den Inhalt, sondern auch auf die für die Autobiographie-Diskussion wichtige Kategorie des Stils – es ist der Stil des Anderen, den der Ghostwriter hervorbringen muß. Die klassischen Parameter 6

Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez, Simone Winko (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen 1999; Dies. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000. 7 Ulrike Mielke: Der Schatten und sein Autor. Eine Untersuchung zur Bedeutung des Ghostwriters. Frankfurt/M. 1995, VII. 8 U[lrike] Mielke: Ghostwriter. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 3. Darmstadt 1996, 989-993, hier 989. 9 Mielke: Der Schatten und sein Autor (Anm. 7), 17. 10 »Der personale Charakter ist für ihn [den Ghostwriter, H.V.] entscheidend; denn er verbirgt sich hinter der Identität einer Person, nicht einer Sache. Er schreibt für jemand, nicht für etwas.« (Ebd.) 11 Ebd., 18.

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des Autors, nämlich Individualität und Originalität, können für den Ghostwriter nur vermittelt gelten: Es ist die Individualität des Auftraggebers, die zum ›Ausdruck‹ kommen soll, nicht die des Schreibers, wobei fraglich ist, ob dann überhaupt noch sinnvoll von ›Ausdruck‹ geredet werden kann. In zwei seiner Hauptaufgabenbereiche, der Anfertigung von Reden und Autobiographien, ist der Ghostwriter als Schreibender im Übergang von Mündlichkeit und Schriftlichkeit situiert: Er schreibt das Redemanuskript, das im Vortrag des Sprechers als dessen authentische Rede gelten können soll; als Autobiograph überführt er die Stimme des Sprechenden in Schrift. In beiden Fällen treten Schrift und Person des Ghostwriters hinter die Mündlichkeit des Auftraggebers zurück, auch wenn diese sich im Falle der Autobiographie wieder als Text niederschlagen soll. In dem Moment, in dem das Schreiben oder womöglich der Ghostwriter selbst augenfällig wird, hat er seine Aufgabe nicht erfüllt. In einem Ratgeber für den Ghostwriter als Redenschreiber heißt es entsprechend: »Oberste Regel für den Ghostwriter: das Subjekt des Ghostwriters hat völlig im Subjekt des Repräsentanten zu verschwinden. Der Ghostwriter, der merken läßt, daß ein Ghostwriter am Werke war, ist ein schlechter Ghostwriter.«12 Wenn Armin Peter unter dem Pseudonym PITT hier vom Auftraggeber als Repräsentanten spricht, ist damit zunächst die Funktion des gewählten Politikers in der parlamentarischen, repräsentativen Demokratie angesprochen.13 Der Terminus ›Repräsentant‹ läßt sich darüber hinaus für eine allgemeine Beschreibung des Ghostwriting nutzen. Da sein Name auf dem Titelblatt gedruckt ist, läßt sich der Auftraggeber generell als Repräsentant des Textes verstehen. Er repräsentiert den Text, insofern er ihn unter seinem Namen erscheinen läßt. Umgekehrt repräsentiert der Text die Person des Auftraggebers, deren öffentliches In-Erscheinung-Treten das Ergebnis der Arbeit des Ghostwriters ist. Gegenüber dem ›Auftraggeber‹ hat der Begriff ›Repräsentant‹ den Vorteil, das er auch die Sonderfälle umfaßt, in denen der Auftrag nicht von ihm ausgeht. Von Ghostwritern wird berichtet, daß diese die Repräsentanten als »would-be storyteller« und »Mummy« bezeichnen: »In the little band of Writer-Ghosts I know, one Ghost has given this would-be storyteller a fitting title which most of us have secretly adopted. He is our Mummy! Encased within himself he carries a 12 PITT: Für den Redner schreiben. Ghostwriter’s Guide für die redselige Gesellschaft. Düsseldorf 1984, 128. 13 Als Redenschreiber für den Politiker wird der Ghostwriter gebraucht, wenn das politische System auf Kommunikation basiert, die über eine BefehlsStruktur hinausgeht. Dazu äußert sich PITT zwar ausführlich, aber nicht im Sinne einer theoretischen Beschreibung politischer Systeme (ebd., bes. 4550).

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precious jewel of a yarn, never to be brought to the light of day unless an explorer breaks in.«14 Mit der Doppeldeutigkeit von »Mummy« als Mumie und als umgangssprachliche Wendung für Mutter spielend, ist der Ghostwriter gleichzeitig derjenige, der dem Stummen die Stimme gibt und derjenige, der als Geburtshelfer der Erzählung agiert. Als deutsche Übersetzung des ›Ghostwriters‹ findet sich im Duden wie auch bei PITT der Ausdruck ›Geisterschreiber‹, im allgemeinen Sprachgebrauch hat sich jedoch der englische Ausdruck durchgesetzt.15 Im anglo-amerikanischen Kontext tritt es oft in verkürzter Form als Ghost auf, laut Oxford English Dictionary zum ersten Mal im 19. Jahrhundert.16 Die Tätigkeit des Ghostwriters wird analog als to ghost gebildet. Im Französischen wird mit deutlich negativer Konnotation neben den Synonymen écrivain public, écrivain fantome, assistant, collaborateur, co-auteur und den veralteten Begriffen teinturier, plumitif und porte-plume auch das Wort nègre verwendet, im Spanischen neben anónimos entsprechend negro,17 das mit der Konnotation ›Sklave‹ auf die Abhängigkeit und dienende Position des Ghostwriters verweist. Diese Verwendung scheint auf die Schreibwerkstätten Alexandre Dumas’ zurückzugehen, in denen mehrere Schreiber unter seinem Namen produzierten: »Il embauche des transfuges de l’intelligence, des traducteurs à gages qui se travalent à la condition de nègres travailleurs sous le fouet d’un mulâtre« – heißt es in einer zeitgenössischen Kritik.18 In dieser Beschreibung fällt ein konzeptioneller Unterschied zwischen Ghostwriter und Autor auf: Der Autor schafft – der Ghostwriter arbeitet. »Er erscheint nicht mehr mit einem Arbeitsprodukt – mit dem Buch – auf dem Markt, sondern mit seiner Arbeitskraft.«19 14 The Ghost: The Ghost talks. In: Helen Hull (Hg.): The Writer’s Book. New York 1950, 254-263, hier 256. 15 Einen Erstbeleg für das Auftauchen des Wortes im deutschen Sprachraum datiert Alfred Heberth auf den späten Zeitpunkt 1954 (Alfred Heberth: Neue Wörter. Neologismen in der deutschen Sprache. Wien 1977, 82). 16 »Ghost […] 13. One who secretly does artistic or literary work for another person, the latter taking the credit. / 1884 Pall Mall G. 23 June 8/2 Plaintiff said he had heard of the expression ›A sculptor’s ghost‹ […] a few months ago, and understood it to mean that a person who was supposed to do a work did not do it. 1889 Ibid. 12 Jan. 6/1 The only persons who make no secrecy about their ghosts are American millionaires, one of whom […] in advertising once for a private secretary stated that the chief duties of the post would be to issue all his invitations and to write all his speeches. 1886 Daily News 17. Feb. 6/3 Van Dyck was probably one of his masters ›ghosts‹.« (The Oxford English Dictionary. Second Edition. Vol. VI. Oxford 1989, 492-494, hier 492.) 17 Mielke: Der Schatten und sein Autor (Anm. 7), 26f. 18 Eugène de Mirecourt: Fabrique de romans. Maison Alexandre Dumas et Compagnie. Paris 1845, 7. Zitiert nach: Mielke: Der Schatten und sein Autor (Anm. 7), 28. 19 Roswitha Güttler: Der Ghostwriter in Geschichte und Gegenwart. In: Neue Deutsche Hefte 81 (1961), 89-103, hier 103.

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Bevor jedoch das Verhältnis von Ghostwriting und Autorschaft näher in den Blick genommen werden wird, ist der Ghostwriter von einer Reihe anderer, ihm verwandter Phänomene zu unterscheiden. Pseudonym, kollektive Autorschaft, Fälscher und Sekretär sind wie der Ghostwriter Phänomene einer irregulären Form von Autorschaft.20 Die größte Nähe zur Autorschaft besteht beim Pseudonym, das den amtlich registrierten Namen eines Verfassers durch einen anderen, selbstgewählten ersetzt. Üblicherweise ist das Schreiben unter Pseudonym nicht durch einen Auftraggeber veranlaßt, sondern kann sehr unterschiedliche Gründe haben.21 Auch ist das Pseudonym nicht nur mit dem Genie- und Originalitätsparadigma vereinbar, es übernimmt letztlich die gleichen Funktionen wie der Autorname. So argumentiert auch Lejeune: »Das Pseudonym ist ein Autorenname. […] Das Pseudonym ist eine Differenzierung, eine Verdoppelung des Namens, die keinen Wechsel der Identität bedingt.«22 Der Ghostwriter hingegen kann per definitionem keinen Autornamen haben, aber er ist nicht unbedingt namenlos. Er kann auf dem Titelblatt oder in einem Vorwort als Mitarbeiter genannt werden, aber er kann den Text, auch wenn er ihn geschrieben hat, nicht signieren. Darin unterscheidet sich Ghostwriting vom Autorenkollektiv, das gegebenenfalls die Namen der Beteiligten gleichberechtigt anführt. Hier gilt für alle beteiligten Urheber das gleiche Urheberrecht, zwischen ihnen muß nicht notwendig, so Mielke, wie im Fall des Ghostwriting ein hierarchisches Verhältnis angenommen werden: Während der Ghostwriter sich einseitig am Repräsentanten orientieren muß, besteht für das Kollektiv die Möglichkeit, individuelle Schreibstile beizubehalten. Weder Pseudonym noch Autorenkollektiv sind in der Regel durch einen Auftrag eingesetzt. Dem Fälscher23 vergleichbar ist der Ghostwriter um einen gewissen Grad an Anonymität bemüht. Die Arbeit des Ghostwriters ist nicht illegal – dies ist der Grund, weshalb die Anonymität für den Fälscher wichtiger ist als für den Ghostwriter. Die Anonymität des Ghost20 Vgl. Mielke: Der Schatten und sein Autor (Anm. 7), 20-25. 21 Eine Ausnahme bildet das Verlagspseudonym, bei dem der Verlag einen Autornamen für Serienliteratur vorgibt, die von mehreren Verfassern geschrieben wird. Hier findet sich oft das Allonym als Sonderform des Pseudonyms. 22 Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt. Übers. v. Wolfram Bayer u. Dieter Hornig. Frankfurt/M. 1994, 25. Ähnlich argumentiert auch Gerhard Söhn in seiner Untersuchung zum Pseudonym in der Literatur: »Bei dieser Sachlage muß sich die Frage erheben, welchen Sinn eigentlich das Pseudonym erfüllt, wenn es auf der einen Seite eine derartig weite Verbreitung gefunden hat, auf der anderen Seite aber die Aufdeckung der wahren Namensverhältnisse relativ einfach ist, der eigentliche Zweck des Pseudonyms also im Grunde nicht erreicht wird.« (Gerhard Söhn: Literaten hinter Masken. Eine Betrachtung über das Pseudonym in der Literatur. Berlin 1974, 14.) Mit einem Pseudonym läßt sich der Autor nicht abschütteln. 23 Vgl. dazu: Matthias Quercu: Falsch aus der Feder geflossen. Lug, Trug und Versteckspiel in der Literatur. München 1964.

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writers besteht nicht notwendig im Verzicht auf die Nennung des eigenen Namens, sondern im Verzicht auf die Signatur. Der Fälscher täuscht, insofern er vorgibt, einen Namen zu tragen, der ihm nicht eigen ist. Der Ghostwriter täuscht, insofern er vorgibt, nicht anwesend zu sein.24 Der Fälscher profitiert von dem berühmten Namen des Gefälschten, während der Auftraggeber eines Ghostwriters davon profitieren kann, daß dessen Name nicht genannt wird.25 Beider Schreiben ist in vergleichbarer Weise an einem fremden Stil orientiert – der Fälscher ahmt nach, was bereits unter dem Namen des Gefälschten erschienen ist, der Ghostwriter treibt hervor, was als persönlicher Stil gelten können soll. »Bei einer gekonnten Ghostwriter-Arbeit trägt das Werk nicht nur nicht die Züge des Ghostwriters […], sondern die des Dritten.«26 Es sind die Züge des Auftraggebers, auf deren Herausstellung sich der Ghostwriter konzentriert, die er hervorbringt.27 Hinsichtlich dieser Arbeit der Hervorbringung unterscheidet sich Ghostwriting auch vom Diktat. Zwischen dem eingangs erwähnten tape recorder und dem Ghostwriter besteht ein Unterschied, insofern der Rekorder wahllos aufnimmt und das Aufgenommene in gleicher Ordnung wiedergibt, während der Ghostwriter ordnet, Zusammenhänge herstellt, nachfragt, d.h. das Material arrangiert. »The writer […] is entrusted with all the duties of structuring, of control, of communication with the outside. […] Condensing, summarizing, eliminating the inferior parts, choosing the lines of relevance, establishing an order, a progression. But also choosing a mode of enunciation, a tone, a certain type of relationship with the reader, elaborating the authority who says ›I,‹ or who seems to write it.«28 Der Ghostwriter etabliert die Stimme, die ›ich‹ sagt, die 24 »Allerdings schreibt der Ghostwriter für eine lebende Person unter deren Namen. Der Fälscher ist nicht im Auftrag dessen tätig, der gefälscht wird. Sein Werk trägt den Namen, mit dem er sich den größten Profit erhofft.« Mielke: Der Schatten und sein Autor (Anm. 7), 24f. 25 Mielke formuliert die unterschiedliche Profitstruktur entlang der Semantik des Sprichwortes ›Du sollst Dich nicht mit fremden Federn schmücken‹: »Allerdings schmückt sich der Fälscher dabei mit fremden Federn, der Ghostwriter schmückt den anderen mit seinen eigenen.« (Ebd., 25.) Diese Formulierung ist insofern problematisch, als die »eigenen« Federn des Ghostwriters, um im Bild zu bleiben, ja gerade nicht sichtbar werden dürfen. 26 Ebd., 53. 27 Selbst wenn der Ghostwriter auf dokumentarisches Material und Notizen seines Auftraggebers zurückgreifen kann, ist er es, der aus diesem Archiv eine Person bildet – so wird z.B. Leo Janos über seine Arbeit als Ghostwriter zitiert: »Hugh Hefner, he [Janos] notes, has ›documented his life up one side and down the other,‹ in letter, scrapbooks and films. ›But the real Hefner isn’t to be found in any of that stuff. A collaborator has to go in, and chip away, and bring it forth.‹« (Joseph Barbato: Chuck Yeager’s Co-Pilot. In: Publishers Weekly (January 10, 1986), 38). Der ›wahre‹ Hefner ist das Produkt der zusammenfügenden Arbeit eines Ghostwriter-Mitarbeiters. 28 Lejeune: The Autobiography of Those Who Do Not Write (Anm. 4), 189.

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aber nicht seine eigene sein kann. Der Autor hingegen ist derjenige, von dem es heißt, daß er mit eigener Stimme spricht.29 Wenn man also, wie Goethe, seine Autobiographie spricht, d.h. wenn man sie diktiert, geht nach dieser Logik nichts von der Ursprünglichkeit des eigenen Geistes verloren, wenn es eine andere Hand ist, die schreibt.30 Dadurch wird nur eine Hand durch eine andere ersetzt. Indem das Werk im Geist verortet wird, ist der Autor zwar »ein Schreiber«, aber einer, »der sich selber diktiert«.31 Autor ist er, weil er sich diktiert – der Autor hat schon (im Geiste) gesprochen, bevor er schreibt. Folgt man dieser Logik, befindet sich der Ghostwriter in einem Zwischenstadium. Er ist weder der Geist-Autor noch die scheinbar auf mechanische Reproduktion reduzierte schreibende Hand desjenigen, dem diktiert wird. In und mit seinem Text konstituiert

29 So setzt auch Foucaults Funktionsbeschreibung des Autors mit der (Beckett zitierenden) Frage nach der Stimme ein: »›Wen kümmert’s, wer spricht?‹« (Foucault: Was ist ein Autor? (Anm. 3), 7). Vgl. auch: »Denn Autor heißt ja seit damals derjenige, der immer nur in eigenen Worten spricht.« (Friedrich A. Kittler: Autorschaft und Liebe. In: Ders. (Hg.): Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Programme des Poststrukturalismus. Paderborn u.a. 1980, 142-173, hier 158.) 30 Daß dieses Modell jedoch zu kurz greift, hat Ronell gezeigt: »Note that dictation does not take place as an activity identical to speech but introduces a complication into the itinerary separating speech from writing. Viewed from this perspective, the relationship between Goethe and Eckermann can not be restricted to an opposition between speech and writing – between Socrates and Plato – but is part of a complex writing apparatus of delayed performativity. The structure of dictation, which is always at a remove from the vitality of speech as presence, ensures that Goethe can continue to talk-write, that is, dictate to Eckermann after his death. It also assures for Goethe, the stability of the demonic force that will keep him, so to speak, on the side of speaking whereas others, of diminished strength, must write. […] For Eckermann however, speech, he wrote, was a near impossibility […]. For Eckermann to write on the side, and always only on the side of writing, of taking dictation, is already to place him second, as double and half-dead or at least presumed dead. Someone or something is dictating to him, commanding his pen; he is secondary and doubled over, someone’s telescripteur.« (Avital Ronell: Taking Dictation or How to Talk-Write and Rewind. In: Dies.: Dictations (Anm. 5), 117-123, hier 118f.) 31 Heinrich Bosse: Autorisieren. Ein Essay über Entwicklungen heute und seit dem 18. Jahrhundert. In: LiLi 42 (1981), 120-134, hier 125. Diese für den Autor zentrale Dimension des Sprechens (im Diktat) tritt bei Kittler in den Hintergrund, wenn er den Autor als denjenigen bestimmt, der »schreibt, was er las, und liest, was er schrieb«. Nach Kittler entsteht der Autor in dem Moment, wo der Dritte, »der schreibt, was andere sprechen«, verschwindet (Kittler: Autorschaft und Liebe (Anm. 29), 152). Wird dieser Dritte jedoch als neutrale Instanz, als bloße Durchgangsstation des Geistes gedacht, war er niemals wirklich da. Erst dann, wenn die Schrift selbst nicht mehr als Drittes in den Blick genommen wird, d.h. als Signifikant der Rede, die wiederum Signifikant des Geistes ist, kann es zu dem kommen, was Foucault »das Erscheinen der Literatur« nennt, die »schweigsame, vorsichtige Niederlegung des Wortes auf das Weiße eines Papiers, wo es weder Laut noch Sprecher geben kann« (Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Übers. v. Ulrich Köppen. Frankfurt/M. 1971, 365f.).

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sich eine Schreibweise, die nicht seine eigene ist, die aber auch im oder als Geist des Auftraggebers nicht vorausgesetzt werden kann. Das Trio Geist-Stimme-Autor fügt sich nahtlos in das, was Jacques Derrida als Epoche des Logo- und Phonozentrismus, als »Epoche des erfüllten Wortes«32 bezeichnet hat. Wie das von Derrida in den Blick genommene Subjekt abendländischer Philosophie affiziert sich der Autor durch das System »des Sich-im-Sprechen-Vernehmens«.33 Derrida identifiziert ein wiederkehrendes Modell der Metaphysik als zweistufige Zeichenrelation: Stimme und Sprache als Zeichen der Seele, der Vernunft, des Geistes; Schrift als Zeichen von Stimme und Sprache, d.h. als Zeichen des Zeichens. In der Terminologie Ferdinand de Saussures wäre die Schrift demnach »Signifikant des Signifikanten« – verstanden als »akzidentelle Verdopplung und abgefallene Sekundarität«.34 Dies ist der Grund, weshalb der Schrift das Attribut des Todes bzw. die Potenz zu Töten zugerechnet wird, während die Stimme als lebendige Äußerung des Inneren gilt. Zwischen dieser Art philosophischer Subjekt- und Sprachkonzeption und dem Expressivitätsmodell von Autorschaft besteht insofern eine Parallele, als beide der Seite des Intelligiblen den Vorrang – als vorgängige Instanz oder Quelle und Ursprung – einräumen. Derrida unterzieht dieses Modell einer Umwertung, nicht indem er nun die Schrift im herkömmlichen Sinn als sekundäres Zeichen gegen die Stimme als primäres ausspielt, sondern indem er den Schrift-Begriff so ausweitet, daß er das Sprechen umfaßt. Die vermeintliche Sekundarität der Schrift wird zum Modell der Sprache überhaupt: »›Signifikant des Signifikanten‹ beschreibt im Gegenteil die Bewegung der Sprache – in ihrem Ursprung […]. Das Signifikat fungiert darin seit je als ein Signifikant.«35 32 Jacques Derrida: Grammatologie. Übers. v. Hans-Jörg Rheinberger u. Hanns Zischler. Frankfurt/M. 1983, 76. 33 Ebd., 26. 34 Ebd., 17. Diese Gegenüberstellung von Sprache/Stimme und Schrift basiert auf einer Trennung von Schrift im eigentlichen Sinn, die als doppelt sekundäre abgewertet wird, und Schrift in einem metaphorischen Sinn (»Schrift der Wahrheit in der Seele, das Buch der Natur und besonders im Mittelalter, die Schrift Gottes« (ebd. 30)), die positiv gewertet wird. »Es gibt also eine gute und eine schlechte Schrift: gut und natürlich ist die in das Herz und in die Seele eingeschriebene göttliche Schrift; verdorben und künstlich ist die Technik, die in die Äußerlichkeit des Körpers verbannt ist.« (Ebd., 34.) Nur indem Derrida in der abendländischen Traditition zwischen metaphorischem und wörtlichem Gebrauch von Schrift unterscheidet, läßt sich also die Opposition von guter Stimme und schlechter Schrift durchhalten. 35 Ebd. »Wenn ›Schrift‹ Inschrift und vor allem dauerhafte Vereinbarung von Zeichen bedeutet (was den alleinigen, irreduziblen Kern des Schriftbegriffs ausmacht), dann deckt die Schrift im allgemeinen den gesamten Bereich der sprachlichen Zeichen.« (Ebd., 78.) Sigrid Weigel hat darauf hingewiesen, daß zeitgleich mit dieser Umwertung der Schrift auch eine Umwertung der Stimme stattgefunden hat, die fortan als textuelle Stimme an die Stelle der Autor-Expressivität tritt. In diesem Sinne sei die Stimme erneut »zur Pa-

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Das Signifikat als Vorstellungsinhalt und damit als intelligible Seite des Zeichens ist insofern immer schon entäußert, insofern es sich selbst in der Position des Signifkanten des Signifikanten befindet. Weder kann dann noch vom Geist (der Seele, der Vernunft) als Ursprung sinnvoll die Rede sein, noch von der akzidentellen Verdopplung der Schrift. Daraus ergeben sich weitreichende Konsequenzen für das Verhältnis von Subjekt und Schrift, die sich auf den Komplex Autor-Stimme-Geist übertragen lassen. Schrift in Derridas Sinn ist nicht mehr Medium des Geistes, vielmehr erweist sich der Geist selbst als Effekt der Schrift: »Da die Schrift das Subjekt konstituiert und zugleich disloziert, ist die Schrift etwas anderes als das Subjekt, wie immer man das auch verstehen mag. Sie wird niemals unter der Kategorie des Subjekts zu fassen sein«.36 Der Prozeß des Ghostwriting führt diese doppelte Bewegung der Konstitution und Dislozierung des Subjekts in der Schrift vor. An ihm ist ablesbar, wie sich die Stimme des Autors als Effekt der Schrift bildet. Strenggenommen ist daher auch der Autor der Ghostwriter seiner selbst.37 Die Konsequenz der Unsichtbarkeit und Zurückstellung der eigenen Person wie ihre Voraussetzung ist die Anonymität des Ghostwriters. In den letzten Jahren wird der Name von Ghostwritern insbesondere bei Autobiographien immer häufiger erwähnt. Diese Namensnennung kann die Form einer Danksagung für redaktionelle Hilfe annehmen, oder in Formulierungen wie »in Zusammenarbeit mit« oder einfach »mit« auftauchen. Ghostwriting nähert sich hier dem kollaborativen Schreiben, der Ghostwriter wird zum Mit-Schreiber.38 Am Ende ist jedoch der Auftragthosformel einer Schrift ohne Autor« geworden. (Sigrid Weigel: Die geraubte Stimme und die Wiederkehr der Geister und Phantome. Film- und Theoriegeschichtliches zur Stimme als Pathosformel. In: Der Sinn der Sinne. Hg. v. der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH. Bonn, Göttingen 1998, 190-206, hier 198.) 36 Ebd., 119. 37 Im Hinblick auf den Autor Jacques Derrida vgl. dazu: Peter Krapp: Wer zitiert sich selbst? Notizen zur Suizitation. In: Volker Pantenburg, Nils Plath (Hg.): Anführen – Vorführen – Aufführen. Texte zum Zitieren. Bielefeld 2002, 105128, bes. 125ff. 38 Diese Tendenz ist seit den 1980er Jahren zu beobachten. (Vgl. Joseph Barbato: Giving up the Ghost. Contemporary collaboration means various degrees of participation and pay, for the author, while anonymity is fast disappearing. In: Publishers Weekly. January 10, 1986, 34-38.) Barbato führt diese Entwicklung auf den Memoiren-Boom zurück, der mit dem Erfolg von Lee Iacoccas Autobiographie einsetzte – hier wurde der Schreiber, William Novak, namentlich genannt (Lee Iacocca with William Novak: Iacocca. An Autobiography. New York 1984). Einer der von Barbato interviewten Ghostwriter erklärt, warum: Niemand erwarte, daß berühmte Personen des öffentlichen Lebens selber auch das Talent zum Schreiben hätten und deshalb werde allgemein vorausgesetzt, daß diese Art Memoiren-Literatur von Ghostwritern verfaßt wird. Wird dies auf dem Titelblatt mit der Namensnennung beider zugestanden, dient es der Authentifizierung des gesamten Textes. Im Fall eines der meistverkauften Bücher der letzten Jahre, d.h. im Fall von Dieter

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geber/Repräsentant derjenige, »dessen Name über dem Text steht«.39 Er ist es, der die Verantwortung für den Text übernimmt.40 Mielke klammert in ihrer Studie die literaturwissenschaftliche Diskussion des Autors aus. Sie weist jedoch darauf hin, daß die Entstehung des Ghostwriting im Frankreich des 19. Jahrhunderts41 an die Herausbildung von Autorschaft wie an das Entstehen eines literarischen Marktes gekoppelt war. Der Ghostwriter erlebt eine erste Blütezeit in den Schreibwerkstätten französischer Feuilleton-Romanciers des späten 19. Jahrhunderts.42 Mielke diskutiert diese industriell produzierten Werke unter den Stichwörtern Massenkultur und Kulturindustrie, für die sie bereits ein vorläufiges Ende der mit einer starken Autorschaftskonzeption verbundenen Autonomieästhetik festhält. Der Ghostwriter ist jedoch ganz grundsätzlich von der Relevanz der Kategorie Autor abhängig: Ohne Autor gibt es auch keinen Ghostwriter. Erst die Verknüpfung des Autornamens mit der Idee des ›geistigen Eigentums‹ schafft den Rahmen, innerhalb dessen der Ghostwriter auftreten kann.43 Erst wenn ein literarischer Text signiert wird, erst wenn der Autorname eine Reihe von Texten zu einem Werk gruppiert, kann der Ghostwriter eine Funktion bekommen als jemand, der selber im Dunkeln bleibt, während er unter und für den Namen eines anderen schreibt. Ghostwriting ist die Kehrseite moderner Autorschaft. Der Autor bringt sein unheimliches Double, den Ghostwriter, mit sich; der Verdacht des Ghostwriting kann von nun an jedem Text gegenüber geäußert werden. In seiner Angewiesenheit auf den Autor offenbart das Ghostwriting zugleich die repräsentative Dimension von Autorschaft auch da, wo kein

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Bohlens Autobiographie, wurde der Ghostwriter als Co-Autorin sogar zu Werbezwecken Teil der öffentlichen Inszenierung, vgl.: Dieter Bohlen mit Katja Kessler: Nichts als die Wahrheit. München 2002. Katja Kessler war allerdings bereits vorher über ihre Bild-Kolumne ›Hier klatscht Katja Kessler‹ öffentlich als Autorin bekannt geworden. Mielke: Der Schatten und sein Autor (Anm. 7), 1. Anders als der Autor, übernimmt der Ghostwriter Verantwortung nur gegenüber seinem Auftraggeber, nicht gegenüber dem Publikum. Der Repräsentant steht für das ein, was er spricht, selbst wenn er es nicht geschrieben hat. Für einen kurzen Überblick über die Entstehung des Urheberrechts in Frankreich vgl. Molly Nesbitt: What was an Author? In: Yale French Studies 73 (1987), 229-257; Hans-Jörg Neuschäfer: Das Autonomiestreben und die Bedingungen des Literaturmarktes. Zur Stellung des ›freien Schriftstellers‹ im 19. Jahrhundert. In: LiLi 42 (1981), 73-92. Als die wichtigsten Schreibwerkstätten nennt Mielke die von Eugène Sue und Alexandre Dumas père (vgl. Mielke: Der Schatten und sein Autor (Anm. 7), 36-38). Auch das Pseudonym ist nur innerhalb dieses Rahmens denkbar: »Eine der Grundvoraussetzungen für die Verwendung von Pseudonymen ist das Vorhandensein eines Autorenbewußtseins, d.h. die Einsicht in die schöpferische Kraft des Individuums, das nicht mehr neutraler Mittler der Überlieferung ist, sondern ein Gestalter literarischer Form.« (Söhn: Literaten hinter Masken (Anm. 22), 29.)

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Ghostwriter am Werk war. Der Autor ist nur der Repräsentant seiner selbst. Mit dem Ghostwriter wird die prekäre Beziehung von Autorname und Werk offensichtlich: Wie kann sichergestellt sein, daß ein Autor tatsächlich geschrieben hat, was unter seinem Namen veröffentlicht wird? Michel Foucault spricht in diesem Zusammenhang von einer »komplizierten Operation«, von »Regeln der Autor-Konstruktion«,44 die dann notwendig werden, wenn das Wissen um einen identischen Verfassernamen allein nicht ausreicht, um zwei Texte demselben Autor zuzuordnen. In seiner Analyse des Autors als »klassifikatorische Funktion«45 referiert Foucault vier Kriterien, anhand derer die Einheit eines Werkes erkennbar sein soll. Der Autor wird demnach als »konstantes Wertniveau«, »als Feld eines begrifflichen und theoretischen Zusammenhanges«, »als stilistische Einheit« und als »ein bestimmter geschichtlicher Augenblick und Schnittpunkt einer Reihe von Ereignissen« definiert.46 Aus diesen vier Kriterien läßt sich auch ein Programm des Ghostwriting ableiten: Der von einem Ghostwriter verfaßte Text darf nicht offensichtlich besser oder schlechter sein als derjenige, den man dem Repräsentanten zuordnen würde; der Text darf nicht selbstwidersprüchlich mit Begriffen operieren, die außerhalb des Bezugsrahmens des Repräsentanten liegen; der Text darf drittens stilistisch nicht von bekannten Äußerungen des Repräsentanten abweichen, sondern muß vielmehr dessen Eigenheiten zeigen, und der Text darf schließlich nicht die Autobiograpie eines Toten sein, da damit die Authentizitätsfiktion durchbrochen wäre – es sei denn, man inszenierte das Auftauchen dieser Autobiographie als einen posthumen Fund. Veränderungen und Brüche in Inhalt und Stil müssen wie bei der von Foucault skizzierten Zuordnung eines Werkes zu einem Autor durch Narrationsmuster von »Entwicklung, Reifung oder Einfluß«47 erklärbar sein, da sonst die Einheit des Autors bzw. Repräsentanten in Gefahr geriete. Im Vergleich mit der »Funktion Autor« wird so zweierlei deutlich: Das scheinbar ›natürliche‹ Band zwischen Autor und Werk, das Geschriebene als Ausdruck und Stil eines individuellen Geistes, läßt sich als Programm des Ghostwriting reformulieren. Der Ghostwriter legt bloß, inwiefern der Autor keine ›natürliche‹ Größe sein kann. Wenn Ghostwriting als vermeintliche Imitation der Autorschaft den gleichen Kritierien 44 Foucault: Was ist ein Autor? (Anm. 3), 20. Diese Regeln leitet Foucault ab »von der Art, wie die christliche Tradition Texte beglaubigte (oder verwarf)«. »Mit anderen Worten, um den Autor im Werk ›aufzufinden‹, verwendet die moderne Kritik Schemata, die der christlichen Exegese sehr nahe stehen, wenn diese den Wert eines Textes durch die Heiligkeit des Autors beweisen wollte.« (Ebd.) Foucault bezieht sich an dieser Stelle auf Hieronymus’ De Viris illustribus. 45 Ebd., 17. 46 Ebd., 21. 47 Ebd.

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als präskriptiven Regeln folgt, die die Literaturwissenschaft anwendet, um Autorschaft nachträglich festzustellen, muß der Autor im gleichen Sinn wie der Auftraggeber als Repräsentant verstanden werden: Er repräsentiert sich selbst als Quelle und Ursprung des Werkes. Zweitens sind beide, Autor und Ghostwriter, auf ein Modell der biographischen Narration angewiesen, das differierende Texte dann zu einem Ganzen, zu einem Werk gruppiert, wenn ihre Unterschiede überhand zu nehmen drohen. Autorschaft und Auto(r)biographie rufen sich gegenseitig auf den Plan. Ausgesprochen findet sich die Abhängigkeit der Kategorien Autor und Werk von einer kontinuierlichen Lebensgeschichte zu Beginn von Johann Wolfgang von Goethes Dichtung und Wahrheit. Goethe stellt einen fingierten Brief seines Herausgebers »als Vorwort«48 an den Anfang, der das autobiographische Unternehmen motiviert. Anläßlich der 12-bändigen Ausgabe Goethescher Schriften bei Cotta, die soeben zusammengestellt sei, so der »Freund«, könne man »sich nicht enthalten, diese zwölf Bände, welche in einem Format vor uns stehen, als ein Ganzes zu betrachten, und man möchte sich daraus gern ein Bild des Autors und seines Talents entwerfen«.49 Die äußere Einheitlichkeit der Bücher legt zuerst eine Einheit der Werke nahe, »ein Ganzes«, von der aus dann nach dem Autor gefragt wird.50 Dabei treten jedoch Schwierigkeiten auf: »Im ganzen aber bleiben diese Produktionen immer unzusammenhängend; ja oft sollte man kaum glauben, daß sie von demselben Schriftsteller entsprungen seien.«51 Die postulierte Einheit verliert sich in der Lektüre in etwas Unzusammenhängendes, das sogar die Einheitlichkeit der Quelle und damit die Autorschaft in Frage stellt. In einem Brief an Carl Friedrich Zelter beschreibt Goethe die Bücher selbst als Lebens-Fragmente: »Die Fragmente eines ganzen Lebens nehmen sich freilich wunderlich und incohärent genug neben einander aus; deswegen die Rezensenten in einer gar eigenen Verlegenheit sind, wenn sie mit gutem oder bösem Willen das Zusammengedruckte als Zusammengehöriges betrachten wollen.«52 Der Autor erweist sich hier als Quelle des 48 Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Goethes Werke IX. Hg. v. Erich Trunz. Textkritisch durchges. v. Lieselotte Blumenthal. Hamburg 1964, 7. 49 Ebd. 50 »Gewissermaßen in einer Säkularisierung des Schöpfertitels werden gleicherweise für den Autor und seine Schöpfung, das Werk, Subjektivität und Originalität, Eigengesetzlichkeit und Selbstbestimmtheit in Anspruch genommen […]. Der enge Zusammenhang beider Kategorien erlaubt es durchaus, von der Entstehung des ›Werks‹ ›aus dem Geist der Autorschaft‹ zu sprechen.« (Wolfgang Thierse: »Das Ganze aber ist das, was Anfang, Mitte und Ende hat.« Problemgeschichtliche Beobachtungen zur Geschichte des Werkbegriffs. In: Weimarer Beiträge 36.2 (1990), 240-264, hier 252f.) 51 Goethe: Aus meinem Leben (Anm. 48), 7. 52 Goethe an Zelter, 22.6. 1808; zitiert nach: Erich Trunz: Anmerkungen des Herausgebers. In: Ebd., 599-760, hier 633.

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Heterogenen. Entgegen dem Ideal eines erkennbaren persönlichen Stils ist der Autor derjenige, dessen Stilbrüche immer wieder überraschen können. Er kann sich ein durch Heterogenität freigesetztes Überraschungspotential erlauben, das einem Ghostwriter nicht zugestanden würde. Um das Unzusammenhängende wieder in einer Gestalt zu integrieren, richtet sich der fingierte Briefschreiber in Dichtung und Wahrheit nun mit der Bitte an Goethe, neben einer Chronologie der Werke auch »die Lebens- und Gemütszustände, die den Stoff dazu hergegeben, als auch die Beispiele, welche auf Sie gewirkt, nicht weniger die theoretischen Grundsätze, denen Sie gefolgt, in einem gewissen Zusammenhange«53 anzugeben. In dem Moment, wo die Texte sich nicht zu einer Gesamtheit fügen, ergeht an den Autor die Aufforderung, deren Einheit mit seiner Lebensgeschichte zu garantieren: Der »Zusammenhang« der »Lebens- und Gemütszustände« soll das »Zusammengedruckte« als »Zusammengehöriges« erweisen können. Die Autobiographie soll das Gesamtwerk konstituieren, indem sie die Verbindung zu einer individuellen Identität herstellt, die sich aus der Lebensgeschichte – »Entwicklung, Reifung und Einfluß« – ergibt. Aus der Forderung, der Autor möge sich hinter dem Werk zu erkennen geben,54 folgt eine Anweisung an das Narrationsverfahren der Autobiographie: Sie wird auf Zusammenhang eingeschworen. Die Werk-Ausgabe stellt nebeneinander, was in der Autobiographie zu einem Ganzen verbunden werden soll. Selbst wenn der fingierte Brief nichts Anderes wäre als nur eine ironische Abgrenzung gegenüber einer ungenauen Lektüre, die einen aufweisbaren stilistischen Zusammenhang nicht erkennt, gilt: Zeitgleich mit der Entstehung des modernen Autors liegt seine Bedrohung (und tatkräftige Unterstützung) durch den Ghostwriter im Horizont des Möglichen. Damit der Autor Autor eines heterogenen Text-Corpus sein kann, muß seine Identität durch eine zusammenhängende autobiographische Narration verbürgt werden können. Die Autobiographie konstituiert den Autor. Während sich der Verdacht des Ghostwriting hinsichtlich Goethes Verfasserschaft nicht wirklich gestellt hat, sondern nur in der Gegenüberstellung von Zusammengedrucktem und Zusammengehörigem virulent wird, betrifft er eine ganze Gruppe von Autoren in expliziter Weise: die weiblichen. Daß der Status von Autorinnen im 19. Jahrhundert dem der männlichen Autoren nicht entspricht, äußert sich sogar in Wörterbucheinträgen. In Louis Nicolas Bescherelles Nouveau dictionnaire heißt es unter dem Stichwort »teinturier«, das laut Mielke und Lejeune als hi53 Ebd., 8. 54 »Ein Werk ist etwas, was von einem Individuum gemacht ist, ein individuelles ›Gesicht‹ hat, ein Werk ist Ausdruck einer Persönlichkeit.« (Thierse: »Das Ganze aber ist das, was Anfang, Mitte und Ende hat.« (Anm. 50), 254.)

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storisch vorgängiger Ausweichterminus für »nègre« fungierte: »Il n’est point de femme auteur à qui la jalousie des hommes ne suppose un teinturier.«55 Hier dreht sich das vermeintlich so eindeutige hierarchische Verhältnis von Ghostwriter und Repräsentant um: Wenn der Repräsentant eine Repräsentantin ist, offenbart sich die »Eifersucht der Männer« als Zweifel am Status weiblicher Autorschaft, indem sie hinter der Autorin einen Ghostwriter annimmt, der als der eigentliche Geist des Werkes erscheint. Der Ghostwriter gilt in diesem Fall nicht mehr als derjenige, der dem Geist des anderen folgt, der ihn nachahmt, sondern gilt selber als schöpferischer Geist, der in die Position des nicht-genannten, grundsätzlich aber auffindbaren Autors einrückt. Autorinnen sind von einem Generalverdacht des Ghostwriting betroffen, ihr Autoren-Status bleibt immer prekär. In ihrer Studie über Anonymität und weibliche Autorschaft hat Susanne Kord daraus folgenden naheliegenden Schluß gezogen: »Ein Frauenname […] ist kein Autorname, kann keiner sein.«56 Moderne Autorschaft ist männlich konnotiert, während Frauen zur gleichen Zeit in die Position der Leserin einrücken, sie werden, so Friedrich A. Kittler, zu Vermittlerinnen einer Literatur, deren Schöpfer Männer sind: »So einfach ist die Verteilung der Geschlechter aufs Aufschreibesystem um 1800. Weil die Mutter Autoren als Einheitsgründe poetischer Werke produziert, können Frauen nicht selber zu jener Einheit gelangen. Sie sind und bleiben eine Vielheit von Leserinnen um das Zentralgestirn Autor herum.«57 Diese klare Geschlechterordnung läßt sich sowohl kulturhistorisch durch einen Wandel der dominanten Geschlechterbilder als auch über die Struktur des Autornamens erklären. In dem Moment, in dem der Autor im Übergang vom 18. ins 19. Jahrhundert sein Werk als geistiges Eigentum zusammenzuhalten beginnt,58 setzt sich in der Rede vom weib55 Louis Nicolas Bescherelle: Noveau dictionnaire national au dictionnaire universel de la langue francaise. Paris² 1892-1893; zitiert nach: Mielke: Der Schatten und sein Autor (Anm. 7), 28. 56 Susanne Kord: Sich einen Namen machen. Anonymität und weibliche Autorschaft 1700-1900. Stuttgart, Weimar 1996, 18. Für eine Überblicksdarstellung der Forschungsdiskussion zu dieser Thematik vgl. Annette Keck, Manuela Günter: Weibliche Autorschaft und Literaturgeschichte: Ein Forschungsbericht. In: IASL 2/2001. 57 Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800–1900. München ³1995, 160. Vgl. auch: Ders.: Dichter Mutter Kind. München 1991; zur Diskussion von Autorschaft um 1800 vgl. auch: Ina Schabert, Barbara Schaff (Hg.): Autorschaft. Genus und Genie in der Zeit um 1800. Berlin 1994. 58 Die historische Gliederung ist hier grobschlächtig, die Formulierung »um 1800« bezeichnet einen ungenau datierten Kristallisationspunkt, an dem bereits alles entschieden ist – der Autor ist fortan »der Angelpunkt der Individualisierung in der Geistes-, Ideen- und Literaturgeschichte« mit klassifikatorischer Funktion. »Vorher« gilt: »Es gab eine Zeit, in der die Texte, die wir heute ›literarisch‹ nennen (Berichte, Erzählungen, Epen, Tragödien, Komödien) aufgenommen, verbreitet und gewertet wurden, ohne daß sich die

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lichen Geschlechtscharakter ein Geschlechtermodell durch, das die Frauen auf die bürgerliche Häuslichkeit festlegt.59 Eingezogen in die Sphäre des Privaten, wird der öffentliche Auftritt als Autorin zum Problem. Obwohl es die Autorin ist, die unter dem Generalverdacht des Ghostwriting steht, zeigen Kittler und Mielke, daß es oftmals die Frauen waren, die an den Texten ihrer schreibenden Männer mitarbeiteten, aber ihrer Position der häuslichen Zurückgezogenheit entsprechend damit gar nicht oder nur gegen ihren Willen an die Öffentlichkeit traten.60 Damit werden sie zu Ghostwritern im wörtlichen Sinn. Weiterhin ist der moderne Autor dadurch gekennzeichnet, daß er einen – und zwar nur einen eindeutig identifizierbaren – Namen braucht. »Wir sprechen von Goethe und Kafka, von Schiller und Benn. Wir sagen: die Günderrode, aber nicht der Novalis.«61 Barbara Hahn hat gezeigt, daß Frauen noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Unter falschem Namen schreiben. »Falsch« ist dieser Name nicht deshalb, weil es einen richtigen gäbe,62 sondern falsch ist er, weil er strukturell quer liegt zu einem Autorkonzept, das auf einem Namen, auf einer Signatur beruht. Der Nachname allein signalisiert den Autor, die Nennung von Nachname und weiblichem Vornamen, von Nachname plus bestimmtem Artikel femininum sowie nur des weiblichen Vornamens sind unterschiedliche Variationen, die signalisieren, daß es keine einfache, ›richtige‹ Benennung

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Autorfrage stellte« (Foucault: Was ist ein Autor? (Anm. 3), 10 und 18f.). Dazwischen liegt eine krisenhafte Diskussion, die das neue Paradigma denkbar macht und installiert – sich gegen historisierende Thesen der Durchsetzung materieller Interessen wendend beschreibt Bosse diesen Prozeß der Genese und Einsetzung in der wissenschaftstheoretischen Terminologie Thomas Kuhns; vgl. Heinrich Bosse: Geschichten von der Entstehung der Werkherrschaft. In: Ders.: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit. Paderborn u.a. 1981, 99-142. Vgl. dazu Karin Hausen: Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere« – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Werner Conze (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Suttgart 1976, 363-393; Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt/M. 1979; Ursula Geitner: Soviel wie nichts? Weiblicher Lebenslauf und weibliche Autorschaft um 1800. In: Jürgen Fohrmann (Hg.): Lebensläufe um 1800. Tübingen 1998, 29-50. Kittler: Aufschreibesysteme (Anm. 57), 159-162; Mielke: Der Schatten und sein Autor (Anm. 7), 60-65. Barbara Hahn: Unter falschem Namen. Von der schwierigen Autorschaft der Frauen. Frankfurt/M. 1991, 7. So Sigrid Nieberle: »Hahns Analyse […] impliziert die damit einhergehende Annahme eines ›richtigen‹ Namens: Nicht nur hätten Frauen ihren ›richtigen‹ Namen gewechselt (vom Geburts- zum Ehenamen, zum männlichen Pseudonym, zur bloßen Initiale), auch hätten sie als Jüdinnen und Frauen die doppelt falschen Namen für eine anerkannte Autorschaft gehabt« (Siegrid Nieberle: Rückkehr einer Scheinleiche? In: Jannidis u.a. (Hg.): Rückkehr des Autors (Anm. 6), 255-272, hier 264).

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gibt. Die Autorin läßt sich namentlich nicht bruchlos in die Funktion Autorschaft einfügen. Auch wenn sich diese Benennungspraxis im Laufe des 20. Jahrhunderts ändert, so ist dem Frauennamen in der westlichen Kultur ein potentieller Wechsel wesentlich. Er ist anders strukturiert als ein Männername. Der Geburtsname einer Frau kann nicht der ›richtige‹ Name sein, da er immer schon von seiner möglichen zukünftigen Auslöschung affiziert wird – »[m]it einem Mädchennamen spricht man eine Frau als NochNicht-Person an«.63 Der Mann hat keinen Geburtsnamen, er hat einen Namen – wobei auch hier Ausnahmen festzuhalten sind. Hahn weist auf eine Parallele zwischen jüdischen und weiblichen Namen hin,64 die gleichermaßen von einem Ausschluß betroffen sind, der sich für Jüdinnen potenziert, insofern er mindestens einen weiteren Namen einfügt. Während also der christlich-männliche Name ›sagbar‹ ist, wirft der ›falsche‹ Name immer die Frage nach seiner Lektüre auf: »Ein Name, der zu lesen aufgibt, was er bedeuten könnte.«65 Dieser Satz bezieht sich auf eine Praxis der Geschlechterforschung, die aus mehreren möglichen Namen einen Kunstnamen bildet, der so zu keinem Zeitpunkt galt (z.B. Rahel Levin Varnhagen). Er läßt sich aber generell auf alle ›falschen‹ Namen beziehen, insofern sie immer nicht nur ihre ›Falschheit‹, sondern auch die Struktur der Autorsignatur in jeweils unterschiedlicher Weise thematisieren. In dieser Operation verliert der weibliche Name aber das Potential, mit seiner Unterschrift ein Gesamtwerk zu konstituieren. Was nicht unter dem Einen Namen zu einem Korpus versammelt werden kann, so Hahn, verstreut sich in »eine Vielheit von Texten« und »unautorisierten Büchern«.66 Anstatt ein Werk im Rekurs auf eine implizite AutorBiographie abzuschließen, eröffnet die ›falsche‹ Signatur weitere Schauplätze der Lektüre. »Ihre Signatur ist ein offener, unabschließbarer Prozeß.«67 Um sich dieser Aufgabe des Lesens und einer damit einhergehenden Lesbarkeit als Frau zu entziehen, ersetzten Autorinnen des 19. Jahrhun63 Verena Mund: Mädchenname, Muttermal. In: Hanjo Berressem, Dagmar Buchwald, Heide Volkening (Hg.): Grenzüberschreibungen. »Feminismus« und »Cultural Studies«. Bielefeld 2001, 261-295, hier 271. 64 »Jemand, der Mausche mi-Dessau heißt, kann zwar Briefe an seine Braut unterzeichnen, doch für einen Autor in deutscher Sprache taugt dieser Name nicht. Erst Moses Mendelssohn wird zum anerkannten Schriftsteller, der ein Werk autorisiert.« (Hahn: Unter falschem Namen (Anm. 61), 13.) Ausführlich dazu: Dietz Bering: Der Name als Stigma. Antisemitismus im deutschen Alltag 1812-1933. Stuttgart 1987. Die erste Jahreszahl des Titels ergibt sich daraus, daß Juden in Preußen erst ab 1812 bleibende Familiennamen wählten (ebd., 23). 65 Hahn: Unter falschem Namen (Anm. 61), 13 und 18. 66 Ebd., 7 und 10. 67 Ebd., 10.

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derts ihren eigenen ›falschen‹ Namen durch einen fremden ›falschen‹ – viele schrieben unter Pseudonym. Während der Anteil der anonym oder unter Pseudonym veröffentlichten Literatur von Männern im 19. Jahrhundert in dem Maße abnimmt, in dem die Bedeutung der Autorfunktion wächst,68 verhält es sich auf der Seite schreibender Frauen genau umgekehrt, »sowohl anonyme und pseudandronyme Veröffentlichungen steigen im 19. Jahrhundert beträchtlich an«.69 Die Entscheidung, nicht unter eigenem Namen zu schreiben, ergibt sich als Konsequenz aus der geschlechtlichen Codierung von Autorschaft. Mit dem Begriff »pseudandronym« deutet Kord eine vorherrschende Tendenz an: Im 19. Jahrhundert veröffentlichten viele Frauen ihre Texte unter einem männlichen Pseudonym. »Für Frauen bestand offensichtlich ein starker Anreiz, sich per Pseudandronym an die männliche Machtgruppe anzuschließen und sich so eine ›neutrale‹ bzw. positivere Rezeption ihrer Werke zu sichern.«70 Im Unterschied zu männlichen Autoren, die unter Pseudonym schrieben, ist sie darauf bedacht, ihr Pseudonym beizubehalten und ihre Texte nicht mit ihrem Namen in Verbindung zu bringen. Aus diesem Grund hat aber auch ihr Pseudonym die Tendenz, nicht zum Autornamen zu werden, sondern sie letztlich in einer selbstgewählten Anonymität zu belassen. Die Parallele zwischen der Autorin dieser Zeit und dem Ghostwriter besteht in dieser Anonymität, in der problematischen Verbindung von Text und Name. Wenn sie ihren Namen nennt, wird dieser nicht als der rechtmäßige akzeptiert, wird ihr ein Ghostwriter unterstellt. Kürzt sie ihren Vornamen mit einem Initial ab, wird dies leicht erkennbar als das, was es ist: die Strategie einer schreibenden Frau, ihr Geschlecht zu verstecken. Der nicht ausgeschriebene Name wird als weiblicher lesbar. Es bleibt die Option, Texte anonym zu veröffentlichen. »Anonymität bot schreibenden Frauen vielleicht die einzige Möglichkeit der Vorstellung von Geschlechtsneutralität: alle anderen Veröffentlichungsmetho68 »Das Jahrhundert der Aufklärung war das Säculum der Anonymitäten. […] Erst die außerordentliche Aufwertung der literarisch-schöpferischen Persönlichkeit nach der französischen Revolution bzw. das Auftreten der Klassiker der deutschen Literatur schaffte einen grundlegenden Wandel.« (Söhn: Literaten hinter Masken (Anm. 22), 80.) 69 Kord: Sich einen Namen machen (Anm. 56), 127. 70 Ebd. »Diese männlichen, oft betont männlichen Namen (›Josef Trieb‹, ›Werner Kraft‹, ›Max Hero‹, ›Sigismund Mannsperg‹, ›Schwucht von Zinken‹) errangen der Frau männlichen Autorstatus und erfüllten damit vor allem die Funktion, sie von dem femininen Verhaltenskodex zu befreien, der fast jeder Frau, die ihre Werke unter einem weiblichen Namen in die Welt schickte, endlose Bescheidenheitsfloskeln in die Feder diktierte: sie entschuldigt ihr Werk bzw. ihre schriftstellerische Tätigkeit im Vorwort, definiert sich selbst als Gelegenheits- oder Zufallsschriftstellerin, erhält nach Möglichkeit die Prätension weiblicher Bescheidenheit und Inferiorität aufrecht, bittet um Nachsicht der (männlichen) Kritiker oder betont, sie führe die Nadel viel besser als die Feder.« (Ebd., 15.)

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den, inklusive Modi, die über das Geschlecht selbst keine Aussage treffen (z.B. Kryptonymität und abgekürzte Vornamen), implizieren aufgrund ihrer kulturellen Verwendung und Geschichte immer ein Geschlecht.«71 Damit ist die Autorin jedoch – wie der Ghostwriter – strukturell unsichtbar und ohne Autorsignatur. Sie ist es selbst in dem Fall, in dem sie ihren ›richtigen‹ Namen verwendet, da ihr hier ein Ghostwriter unterstellt wird. Autorschaft und Ghostwriting stehen in einem komplexen Verhältnis. In dem Maße, in dem sich der Ghostwriter von einem starken Autorkonzept ab- und herleitet, in dem Maße droht er es auszuhöhlen. Ghostwriting ist ein zweischneidiges Schwert. Einerseits stützt es eine starke Autorkonzeption, insofern der Ghost vollkommen hinter dem vermeintlichen Autor verschwindet. Ghostwriting ist nicht ohne Autorbegriff und Originalitätsparadigma zu denken. Andererseits unterhöhlt es genau dieses Paradigma, indem der Ghost einfach an Stelle des Anderen spricht, dem Anderen die Stimme, den Stil gibt, die bzw. der doch eigentlich seine ur-eigenste Stimme, sein ur-eigenster Stil sein sollte. Für schreibende Frauen des 19. Jahrhunderts, die nicht bruchlos als Autor durchgehen, stellt sich dieses Problem in verschärfter Form, insofern sie, wenn sie ihren Text signieren, kollektiv unter dem Verdacht stehen, nicht selber geschrieben zu haben, oder aber, wenn sie auf die Signatur in der einen oder anderen Weise verzichten, hinsichtlich der Anonymität in eine strukturelle Analogie zum Ghostwriter gebracht werden.

2. Geist, Ghost und Urheberrecht Wie eng die Genese moderner Urheberschaft mit dem Ghostwriter verbunden ist, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, daß die erste deutsche Formulierung des Urheberrechts den Urheber in Abgrenzung zum Ghostwriter definiert hat: »Das Badische Landrecht von 1810 anerkannte als erstes den Anspruch des Verfassers, indem es ihn von seinem Doppelgänger, dem Ghostwriter, unterschied: ›Jede niedergeschriebene Abhandlung ist ursprüngliches Eigenthum dessen, der sie verfaßt hat, wenn er nicht allein aus fremdem Auftrag und für fremden Vortheil sie entwarf, in welchem Falle sie Eigenthum des Bestellers wäre‹.«72 Das zwiespältige Verhältnis von Autor und Ghostwriter als Teilhabe und Widerspruch macht den Ghostwriter urheberrechtlich zu einer problematischen Figur, insofern sich das Urheberrecht an der im 18. Jahrhundert entstandenen Autor-Konzeption und ihren zentralen Elementen Geist, Schöpfertum, 71 Ebd., 123. 72 Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft (Anm. 58), 9.

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Individualität und Originalität orientiert. In seiner juristischen Untersuchung über den urheberrechtlichen Status des Ghostwriters wirft Hansjörg Stolz daher die berechtigte Frage auf, ob eine Thematisierung des Ghostwriting nicht »eine weitgehende Modifikation des Urheberrechts«73 nach sich zieht. Kann das Urheberrecht, das seinen Ausgang vom Autor nimmt, dessen unheimlichen Doppelgänger fassen? Gleich zu Beginn seiner Untersuchung zeigen sich die Verwandtschaft von Autor und Ghostwriter sowie ihre Unterschiedenheit in Stolz’ Versuch einer etymologischen Erklärung. Einerseits sei der Ghostwriter als Geist zu bezeichnen, weil er »eine geistige Tätigkeit« ausübe, andererseits bleibe er wie ein Geist »im Dunkeln«74 verborgen. Ist mit der ersten Deutung eine Nähe zum Autorschaftskonzept postuliert, so verweist die zweite auf einen Bereich des Fabulösen, Unbestimmten, Gespensterhaften, der sich vor allem daraus ergibt, daß der Ghostwriter das von ihm Geschriebene nicht mit seinem Namen belegt, daß er also nicht ins Licht der Öffentlichkeit tritt. Bei seiner semantischen Aufschlüsselung des Kompositums Ghostwriter greift Stolz also, wie er sagt, auf den »doppelten Sinn des Wortes«75 Geist als Einbildungskraft und Gespenst zurück. Philologisch ist dies eine problematische Geste, insofern die Übersetzung von ›Ghost‹ in ›Geist‹ zwar richtig, die Rückübersetzung von ›Geist‹ im Sinne des schöpferischen Vermögens in ›Ghost‹ jedoch nicht möglich ist. Der Geist des geistigen Eigentums wäre eher als ›mind‹ oder ›intellect‹ zu bezeichnen. Auch impliziert der Hinweis auf die Doppeldeutigkeit des Wortes ›Geist‹ schon eine Reduktion eines sehr breiten Bedeutungsspektrums76 – allerdings eine Reduktion auf zwei besonders herausgehobene und naheliegende Bedeutungen: »In der modernen Sprache stehen nebeneinander die Bedeutungen ›Gespenst‹ und (als Lehnbedeutung nach frz. esprit) ›Verstand, Witz‹«.77 Trotz dieser Einwände ist Stolz’ Übersetzung von Ghost in Geist78 aufschlußreich, insofern sie die Ambivalenz des ›Geistes‹ im Hinblick auf den Ghostwriter als sein Charakteristikum 73 Hansjörg Stolz: Der Ghostwriter im deutschen Recht. München 1971, 36. Zur juristischen Diskussion, u.a. mit Bezug auf Stolz, vgl. auch Ralph Osenberg: Die Unverzichtbarkeit des Urheberpersönlichkeitsrechts. München 1979; Allessandra von Planta: Ghostwriter. Bern 1998. 74 Ebd., 1. 75 Ebd. 76 Das Deutsche Wörterbuch verzeichnet 30 verschiedene Grundverwendungen, die ihrerseits noch einmal in unzählige Unterbedeutungen aufgefächert werden; vgl. Jacob Grimm, Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Vierten Bandes erste Abteilung zweiter Teil. Leipzig 1897, 2624-2741. 77 Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin, New York 1995, 308. 78 Daß es zwischen ›ghost‹ und ›mind‹ dennoch eine semantische Nähe gibt, zeigt sich im OED beim Stichwort ›ghost‹ unter Punkt 3 b: »Philos. The ghost in the machine: Gilbert Ryle’s name for the mind viewed as separate from the body.« (The Oxford English Dictionary (Anm. 16), 492.)

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betont. Wie ist diese Doppeldeutigkeit des Geistes im Ghostwriter urheberrechtlich zu fassen? Als Schutz des geistigen Eigentums fußt das Urheberrecht auf einer Konzeption des Geistes, die im deutschen Idealismus zunächst als ästhetisches Vermögen gedacht wurde. Immanuel Kant führt ›Geist‹ als Übersetzung des französischen ›génie‹ ein79 und faßt ihn in der Kritik der Urteilskraft als das »belebende Prinzip im Gemüthe«, als das »Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen«.80 Noch heute gründet sich das juristische Konzept der Urheberschaft auf einen Autor, der als Schöpfer eines Werkes verstanden wird, in dem sich sein individueller ›Geist‹ ausdrückt. In einem juristischem Lehrbuch zum Urheber- und Urhebervertragsrecht zum Stand von 2001 heißt es erläuternd: »Von den vielen Erzeugnissen menschlicher Tätigkeit kommen nur solche als urheberschutzfähig in Betracht, die einen geistigen Gehalt aufweisen. Ein handwerkliches Erzeugnis ist noch kein Werk. Zur geistigen Schöpfung wird es erst, wenn es als Ausdruck des individuellen Geistes gewollt und empfunden wird. Das Werk besitzt eine Ausstrahlung, die über seine objektive Eigenart hinausgeht; es steht etwas – genauer: Jemand – dahinter.«81 Das Urheberrecht schützt Produkte einer »persönlichen geistigen Schöpfung«,82 insofern sie Werk, d.h. »spürbarer Ausdruck einer schöpferischen Persönlichkeit« sind83 und unterscheidet mit Hilfe des Geistes zwischen Werk und Handwerk, zwischen Schöpfung und Herstellung. Geistiges Werk zu sein, impliziert den notwendigen Bezug auf eine schöpferische Persönlichkeit, die sich in diesem Werk wiederfinden lassen soll. Für das Modell der Autorschaft, das im Urheberrecht zugrundegelegt ist, ergibt sich in der testamentarischen Struktur der Autorschaft auch eine gespenstische Seite des geistigen Eigentums. Insofern das Urheberrecht das geistige Eigentum auch über den physischen Tod des Autors hinaus schützt, erhält der Geist des Autors ein Eigenleben – er 79 So Odo Marquard: Geist. In: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3. Darmstadt 1974, 154-204, hier 184. »Insgesamt beginnt die Karriere des G.-Begriffs im deutschen Idealismus jedenfalls ästhetisch«, heißt es weiter (ebd.). 80 So Immanuel Kant in § 49 Von den Vermögen des Gemüts, welche das Genie ausmachen in: Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Hg. v. Karl Vorländer. Hamburg 1974, 167. Die Karriere des Geistbegriffes in der deutschen Philosophie- und Literaturgeschichte kann hier nicht ausführlicher verfolgt werden; eine Auseinandersetzung mit dem Begriff, seinen Konsequenzen und Konnotationen findet sich in: Jacques Derrida: Vom Geist. Heidegger und die Frage. Übers. v. Alexander García Düttmann. Frankfurt/M. 1988. Zum Genie-Begriff vgl. Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945. Darmstadt 1985. 81 Heimo Schack: Urheber- und Urhebervertragsrecht. 2., neubearbeitete Auflage. Tübingen 2001, 84. 82 §2 Abs. II UrhG. 83 Schack: Urheber- und Urhebervertragsrecht (Anm. 81), 85.

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überlebt den Autor (zur Zeit um 70 Jahre) und verhilft ihm zu seinem »lebendig-toten Doppelgesicht«.84 Für das Ghostwriting als fremdorientierte Arbeit85 stellt sich hingegen die schwierige Frage, inwiefern die Tätigkeit des Ghostwriters eine geistige im Sinne des Urheberrechts sein kann, ohne daß er selbst im Werk in Erscheinung tritt. Heinrich Bosse hat gezeigt, daß für die Entstehung des Urheberrechts die »Konjunktion von Eigentum und Geist« wesentlich ist: »in dem Grade, wie die öffentliche Rede vergeistigt wird, ist sie auch eigentumsfähig«.86 Im gedruckten Buch materialisiert sich der Geist des Autors, im Buch kommt der Geist erst zur Erscheinung, im Buch bekommt »die verwehende Stimme des Autors eine Art von Dauer verliehen […], indem man sie als Geist verkauft«.87 Obwohl sich also der Terminus »geistiges Eigentum« im Zusammenhang mit der Frage der Vervielfältigung des gedruckten Wortes entwickelt und durchsetzt, zielt er auf die Stimme als primäre Äußerungsform des Geistes und auf das Buch nur als Medium dieser Stimme – der Autor ist, wie Bosse darlegt, der Erbe des Rhetors. Wie schon das Badische Landrecht von 1810 in der Unterscheidung von Autor und Ghostwriter nicht die Schrift, sondern den Geist schützte, nicht denjenigen, der schreibt, sondern denjenigen, der Geschriebenes bestellt, so setzt auch Ekkehard Gerstenberg 1968 in einer Erläuterung des Urheberrechts den Geist als Ur-Werk: »Wenn man die geistige Idee, die Vorstellung des Künstlers von seinem Werk als den eigentlichen, dem Urheber allein vertrauten geistigen Urzustand des Werkes annimmt, so ist die gegenständliche Ausführung des Werkes, das sichtbare Original, bereits die erste Vervielfältigung.«88 Das eigentliche Werk befände sich demnach im Geist des Autors, die »gegenständliche Ausführung« fügte dem nichts hinzu, nähme nichts hinweg, wäre nur mechanische Vervielfältigung. Wenn nun die Funktion des Ghostwriters wesentlich darin besteht, Gesprochenes in Schrift zu überführen, so ist er auf der Seite der Vervielfältigung, nicht auf der Seite des Originals zu situieren. Allerdings läßt sich Ghostwriting nicht bruchlos einer der beiden 84 Bosse: Autorisieren (Anm. 31), 124. 85 In der Sprache des Urheberrechts wird dieser Aspekt der Fremdorientierung als »Drittzuordnung des Werkes« formuliert, »das heißt, nicht der Autor, sondern ein Dritter erscheint als der Urheber der Arbeit« (Stolz: Der Ghostwriter (Anm. 73), 16). 86 Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft (Anm. 58), 26. Bosses Titel, Autorschaft ist Werkherrschaft, setzt mit ›Werkherrschaft‹ auf einen Begriff, der innerhalb des juristischen Diskurses Anfang der 1960er Jahre ins Spiel gebracht wurde, um das ›geistige Eigentum‹ abzulösen – allerdings vergeblich (vgl. Schack: Urheber- und Urhebervertragsrecht (Anm. 81), 10f.). 87 Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft (Anm. 58), 48. 88 Ekkehard Gerstenberg: Die Urheberrechte an Werken der Kunst, der Architektur und der Photographie. Erläutert für Urheber und Juristen. München 1968, 60. Zitiert nach: Bosse: Autorisieren (Anm. 31), 126, Fußnote 20.

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Seiten zurechnen, vielmehr stellt es den durch sie formulierten Dualismus in Frage: Wäre der Ghostwriter nur in der Position der Vervielfältigung, wäre ihm jeder ›geistige‹ Anteil seiner Arbeit abzusprechen, und er würde gar nicht unter das Urheberrecht fallen. Mit dem Ghostwriter wird auch das als natürlich vorausgesetzte Band zwischen Autor und Werk brüchig. Damit die geistige Arbeit des Ghostwriters ›fremdorientiert‹ sein kann, muß die Verbindung von Autor-Individualität und Werk arbiträr sein. Um das Ghostwriting im Rahmen des geltenden Urheberrechts verhandeln zu können, relativiert daher Stolz in seiner Untersuchung das Verhältnis zwischen Autor und Werk: »Noch nie wurde untersucht ob das Werk auch das individuelle Gepräge seines Verfassers besitzt.«89 Weil eine solche Beweisführung nicht möglich sei, streicht Stolz das ehemals zentrale Moment der Urheberschaftskonzeption aus. Die enge Verbindung von Werk und Schöpfer, auf der das Modell des geistigen Eigentums fußt, wird aus der Definition des Werkes ausgeklammert: »Demnach läßt sich feststellen, daß das Definitionselement der individuellen Beziehung in der Subsumption eine Leerstelle ist und somit ohne Schaden aus der Definition des Werkes eliminiert werden kann.«90 Die Untersuchung des prekären juristischen Status’ des Ghostwriters bringt damit zugleich das spiegelbildliche Verhältnis von und das unzerreißbare Band zwischen Schöpfer-Autor und Werk im juristischen Diskurs ins Wanken. Die Fremdorientierung als spezifisches Merkmal des Ghostwriting muß demnach juristisch auch für den Autor gelten (können): »So gesehen ist Fremdorientiertheit nicht nur ein mögliches, sondern immer schon im geistigen Schaffen latent vorhandenes Merkmal«.91 Die urheberrechtliche Untersuchung des Ghostwriting führt also zur Auflösung eines der Kernelemente der Definition des geistigen Eigentums. Um nun nicht das Kind mit dem Bade, d.h. den Autor mit dem Ghostwriter, auszuschütten, muß Stolz erneut eine Differenzierung vornehmen. Er hält daran fest, daß der Unterschied hinsichtlich der ideellen Interessen92 zwischen Autor und Ghostwriter genau in dessen Orientierung auf einen Dritten hin zu finden ist. Das zuvor beiseite gelegte Defi89 Stolz: Der Ghostwriter (Anm. 73), 37f. 90 Ebd., 38. Anders Schack, für den »an der Individualität des Werkes im Ergebnis unbedingt festgehalten werden muß« (Schack: Urheber- und Urhebervertragsrecht (Anm. 81), 82). 91 Stolz: Der Ghostwriter (Anm. 73), 34. 92 Das Urheberrecht enthält entgegen der üblichen Trennung von Vermögensrecht und Persönlichkeitsrecht beide Dimensionen – persönlichkeitsrechtlich schützt es die ideellen Interessen des Autors, seine ›Ehre‹, nutzungsrechtlich die materiellen, seinen Verdienst. Diese Zwitterhaftigkeit spiegelt sich in dem paradoxen Begriff des ›geistigen Eigentums‹, an dessen Verbindung von ›Geist‹ (als Immaterialiät) und ›Eigentum‹ (als materiellem Gut) sich im ausgehenden 18. Jahrhundert zahlreiche Debatten entzündeten.

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nitionselement wird in einem zweiten Schritt wieder eingeführt, um eine Abgrenzung von Autorschaft und Ghostwriting gewährleisten zu können. Stolz stützt sich erneut auf die »Vorstellung des Gesetzgebers«, daß »das Werk die individuellen Züge seines Schöpfers trägt«,93 die er zuvor selbst zu einem unwesentlichen Aspekt des Urheberrechts deklariert hat. »Ist es das Kennzeichen des Schöpfers, in einem persönlichen Verhältnis zu seinem Werk zu stehen, so zeichnet sich die Arbeit des Ghostwriters gerade durch das Gegenteil, durch ihre Zuordnung auf einen Dritten hin, aus.«94 Diese Orientierung situiert den Ghostwriter zwischen der schöpferischen und handwerklichen Tätigkeit, macht ihn zu einem Zwitterwesen: »Seine ideellen Interessen liegen gewissermaßen zwischen denen eines ›Schöpfers‹ und denen eines Handwerkers oder eines Arbeitnehmers, der körperliche Arbeit leistet.«95 Damit Ghostwriting im Rahmen des geltenden Urheberrechts verhandelbar bleibt, muß Stolz zunächst das ausklammern, was für die Unterscheidung von Ghostwriting und Autorschaft ein notwendiges Kriterium ist, und es anschließend wieder einführen, damit deren Differenz erhalten bleiben kann. Dieses argumentative Manöver zeigt, daß der Ghostwriter geeignet ist, die Grundannahme des Urheberrechts da zu erschüttern, wo es ein wechselseitiges Verhältnis der Erkennbarkeit zwischen Autor und Werk voraussetzt, so daß Autor und Ghostwriter zusammenzufallen drohen. Der Ghostwriter bedroht den Geist des Autors hinsichtlich der ihm zugesprochenen expressiven Individualität. Auch in dieser Perspektive erscheint der Autor als Ghostwriter seiner selbst, so daß die Unzulänglichkeit bzw. Idealisierung des GeistStimme-Autor-Modells offensichtlich wird. Das gespenstische, fabulöse Moment, das Stolz als zweite Bedeutung des Wortes ›Geist‹ dem Ghostwriter zuspricht, bezieht sich darauf, daß dessen Arbeit bzw. der Anteil, den er oder sie an dem veröffentlichten Buch, der fertigen Rede hat, im Nachhinein nicht in die Öffentlichkeit dringt. Der Ghostwriter arbeitet, so formuliert auch PITT, im »Schattenreich der Geister«.96 Während der Repräsentant öffentlich in Erscheinung tritt, indem er als Redner auftritt oder auf dem Titelblatt des Buches namentlich genannt oder hervorgehoben wird, bleibt der Ghostwriter verborgen. Der Ghostwriter ist ein Schreiber, der nicht zum Erscheinen gebracht werden kann. Die Nennung des Autornamens ermöglicht die »wechselseitige Identifizierung«97 von Autor und Werk – das Urheberrecht besteht wesentlich aus diesem Recht auf Namensnennung, mit dem der Autor die Verantwortung für sein Werk übernimmt und sich damit 93 94 95 96 97

Stolz: Der Ghostwriter (Anm. 73), 53. Ebd. Ebd., 54. PITT: Für den Redner schreiben (Anm. 12), 41. Stolz: Der Ghostwriter (Anm. 73), 67.

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als Adressaten von Ruhm und Ehre wie von potentieller Bestrafung einsetzt. Dabei unterscheidet man juristisch zwischem dem Recht auf Anerkennung und dem Signierungsrecht. »Das Recht auf Anerkennung der Urheberschaft bedeutet in seiner positiven Seite, daß sich der Urheber jederzeit auf seine Urheberschaft berufen kann, und in seiner negativen Seite, daß er sich gegen jedes Bestreiten seiner Urheberschaft und gegen jede Urheberschaftsanmaßung wehren kann. Das Signierungsrecht bedeutet die Entscheidung darüber, ob das Werk unter einem Namen und wenn ja, unter welchem Namen es erscheinen soll.«98 Der Name auf dem Titelblatt als Name, unter dem das Buch erscheint, ist gleichbedeutend mit dem ausgeübten Signierungsrecht des Autors. Urheberrechtlich ist also der Name auf dem Titelblatt die Signatur des Autors. Dies ist ein zentraler Punkt für die Gattungsdiskussion der Autobiographie, die um die Frage kreist, wo denn die von Lejeune geforderte Signatur zu situieren ist. Die urheberrechtliche Diskussion des Ghostwriters soll deshalb im folgenden kurz skizziert werden, weil sie – trotz der literaturwissenschaftlich inzwischen problematisch gewordenen Kategorie emphatischer Autorschaft – differenzierte Beschreibungsmodelle für dieses Problem entwickelt. Zudem bedient sich Lejeunes Fassung der AutobiographieDefinition selbst mit der Formulierung des ›Pakts‹ und dem Rückgriff auf die ›Signatur‹ juridischer Kategorien. Die Fragen, die sich im Fall des Ghostwriting stellen, lauten: Wie kann dieses Recht der Signatur auf einen Dritten übertragen werden? In welchen rechtlichen Kategorien wird beschreibbar, was der Ghostwriter tut, wenn er sein ›Werk‹ erstens nicht unterschreibt, und zweitens diese Unterschrift jemand anderem überläßt? Stolz diskutiert vier Möglichkeiten: 1. Die Übertragung der Befugnisse, d.h. des Signierungsrechts, vom Ghostwriter auf den Auftraggeber, 2. der Verzicht auf diese Befugnisse, 3. die Ausübung der Befugnisse als Zuordnung zu einem Dritten und schließlich 4. »die schuldrechtliche Gestattung gegenüber dem Auftraggeber, wodurch dieser berechtigt wird, das Werk unter seinem Namen zu veröffentlichen.«99 Gegen die erste Option spricht im Fall des Autors, daß eine Übertragung der Befugnisse den Kern des Urheberrechts verletzen würde, da es der Intention des Gesetzgebers widerspricht, wonach der Autor immer in der Lage sein muß, das von ihm Verfaßte als solches auszuweisen. Nach einer Übertragung wäre diese Möglichkeit jedoch nicht mehr gegeben. Eine Übertragung des Signierungsrechts des Autors ist daher rechtlich ausgeschlossen. Im Fall des Ghostwriting spricht gegen die Übertragung, daß sie nicht gänzlich vollzogen werden kann, da der Ghostwriter gegenüber einer eingeschränkten Öffentlichkeit seine 98 Ebd., 59. 99 Ebd.

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Urheberschaft zugeben können muß, z.B. um weitere Aufträge zu bekommen. Würde das Namensrecht am ›Werk‹ vom Ghostwriter auf den Auftraggeber übertragen, könnte dieser dann rechtlich gegen den Ghostwriter vorgehen, sollte er behaupten, der wahre Urheber zu sein. Stolz’ Fazit lautet daher: »Das Namensrecht in der Hand eines Dritten widerspricht dem Recht auf Anerkennung der Urheberschaft in der Hand des Urhebers.«100 Der Verzicht auf das Signierungsrecht als zweite Möglichkeit ist »der erste Schritt, das Werk dem Namen nach auf den Auftraggeber überzuleiten«.101 Während das Recht auf Anerkennung der Urheberschaft nicht nur unübertragbar, sondern auch unverzichtbar ist, kann auf die Nennung des Namens verzichtet werden. Rechtlich wird zwischen der Anerkennung der Urheberschaft und der Nennung des Namens als Signatur dieser Urheberschaft unterschieden. Der Ghostwriter verzichtet lediglich auf sein Recht auf Namensnennung, nicht auf das Recht der Anerkennung. Damit wäre aber nur erklärt, warum der Name des Ghostwriters nicht auf dem Titelblatt steht. Ungeklärt ist hingegen weiterhin, warum der Name des Auftraggebers dort erscheint. Die dritte von Stolz diskutierte Möglichkeit, die Ausübung des Signierungsrechts im Sinne einer Drittzuordnung, führt zu einem besonders kuriosen Fall. Der Terminus ›Drittzuordnung‹ besagt hier, daß es der Ghostwriter ist, der einen Namen wählt, unter dem der geschriebene Text erscheint. Diese freie Namenswahl fällt aber selbst dann unter die Praxis des Pseudonyms, wenn der gewählte Name identisch mit dem des Auftraggebers ist: »Denn der in Ausübung des Signierungsrechts gewählte Name ist juristisch nur ein Pseudonym für die Person des Ghostwriters. Es ist somit der Name des Ghostwriters, über den dieser zu verfügen vermag, und nicht der des Auftraggebers, der auf dem Werk steht. Daß das Werk gleichwohl als das des Auftraggebers erscheint, ist nur das Ergebnis einer, wenngleich bewußt herbeigeführten, Verwechslung.«102 Rechtlich macht die Namensgleichheit auf dem Titelblatt aus dem Auftraggeber noch nicht den Signierenden. Selbst wenn es ›sein Name‹ ist, der dort erscheint, kann er juristisch als Pseudonym, als Name des Ghostwriters verstanden werden. Wer ihn für den Namen des Auftraggebers und im Falle der Autobiographie für den Namen des Subjekts der Autobiographie hält, verwechselt dessen Namen mit dem Pseudonym des Ghostwriters. Damit fällt aber auch diese juristische Erklärung aus: »Der Ghostwriter und sein Auftraggeber wollen aber nicht, daß das Werk ein Pseudonym des Ghostwriters trägt, sondern es soll den Namen des Auf100 101 102

Ebd., 60. Ebd., 61. Ebd., 62.

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traggebers tragen. Ansonsten könnte der Ghostwriter auch den Schleier seines Pseudonyms durchstoßen und sich als die Person zu erkennen geben, die hinter dem Pseudonym steht.«103 Für die Diskussion der Signatur im Zusammenhang mit der Autobiographie ist dieser Punkt von besonderem Interesse, weil er die Aufmerksamkeit auf ein paradox scheinendes Phänomen richtet. Einerseits gilt der Name auf dem Titelblatt als Signatur des Autors. Andererseits gibt dieser Name keinen eindeutigen Aufschluß darüber, wer tatsächlich signiert hat. Da der Autor den Namen auf dem Titel frei wählen kann, kann er den Namen einer anderen realen Person einsetzen und dennoch derjenige sein, der signiert hat. Die vierte Möglichkeit der juristischen Erklärung, die schuldrechtliche Gestattungsabrede, bildet schließlich den zweiten Schritt der Überleitung, der notwendig ist, nachdem der Ghostwriter auf sein Namensrecht verzichtet hat. Grundsätzlich ist es jedoch »zweifelhaft, ob eine solche Abrede zulässig ist«.104 Stolz nennt eine ganze Reihe rechtlicher Einwände, die gegen die Abrede sprechen, findet aber in der Rechtsprechung drei Ausnahmefälle, in denen sie möglich wird: bei Miturheberschaft, bei Werken eines Amtes oder einer Körperschaft und bei Verlagspseudonymen. Das gemeinsame Merkmal aller drei Fälle, so Stolz, »ist der Wille der Miturheber zu einem gemeinsamen Schaffen am gemeinsamen, einheitlichen Werk«.105 Wo dieser Wille festgestellt werden kann und wo in der Folge das Band zwischen Autor und Werk gelockert ist, ihr Verhältnis ein distanziertes ist, kann die Namensabrede juristisch gültig sein. Dies ist der Fall, »wenn der Urheber sich in einem Werk nicht selbst verwirklicht, sondern an fremde Vorstellungen gebunden ist, der Namensträger seinerseits eine gewisse Nähe zum Werk hat«.106 Für den Autor im traditionellen Verständnis ist diese Regelung nicht möglich, da die Rechtsprechung hier von einem »naturwüchsigen Eltern-Kind-Verhältnis«107 zwischen Schöpfer und Werk ausgeht. Die 103 104 105 106 107

Ebd. Ebd. Ebd., 66. Ebd. Ebd., 67. Diese Metaphorik ist innerhalb des Urheberrechts dominant, der Autor gilt als »Vater seines geistigen Kindes« (Schack: Urheber- und Vertragsrecht (Anm. 81), 20), der Anspruch des Autors auf seinen Text wird mit der Formel »droit de la paternité« gefaßt. In dieser Metaphorik ist das »natürliche« Band zwischen Schöpfer und Geschöpf jedoch immer schon – zumindest der Möglichkeit nach – ein vermitteltes und als solches fragwürdig, wie an einem Aufsatztitel von Hortense Spiller schlagartig deutlich wird: Mama’s Baby, Papa’s Maybe: An American Grammar Book. In: Diacritics 17.2 (1987), 65-81. Vielleicht ergibt sich daraus auch die Dominanz der Schwangerschaftsmetaphorik in der Selbstreflexion des poetischen Prozesses bei männlichen Schreibern (vgl. dazu: Sigrid Weigel: Die Verdopplung des männlichen Blicks und der Ausschluß von Frauen aus der Literaturwissenschaft. In: Karin Hausen, Helga Nowotny (Hg.): Wie männlich ist die

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Tätigkeit des Ghostwriting führt daher zu einer neuen Form der unbiologischen Vaterschaft, einer Form der Adoption, in der das adoptierte Kind seinem Adoptiv-Vater ähnelt: »Die zwei Merkmale, die beim Schöpfer, wie ihn der Gesetzgeber sich vorstellt, in der Person des Schöpfers zusammenfallen: erstens, daß er das Werk geschaffen hat, und zweitens, daß das Werk die Züge des Schöpfers trägt, sind bei der Arbeit des Ghostwriters auf zwei Personen verteilt. Der Ghostwriter hat das Werk geschaffen, dieses trägt aber die Züge des Dritten.«108 Die Ähnlichkeit zwischen Autor und Werk, die in der Vater-Metaphorik angenommen wird, erweist sich als hergestellte, die durch den Akt der Namensnennung besiegelt wird: In der Signatur erkennt der Autor-Vater sein WerkKind an. Der Prozeß der Schöpfung zeigt sich als zweigeteilter. Für die namentliche Identifizierung des Werkes wäre demnach davon auszugehen, daß »die Arbeit des Ghostwriters zwei Namen tragen«109 müßte. Daß dennoch nur ein Name auf dem Titelblatt steht, wird durch den Verzicht des Ghostwriters ermöglicht. Stolz hat in der Kombination von Verzicht und Abrede einen Weg gefunden, Ghostwriting innerhalb der Bestimmungen des Urheberrechts zu situieren. Die Namensabrede ist juristisch möglich. Zusätzlich muß jedoch geprüft werden, ob es sich dabei womöglich um einen ›Verstoß gegen die guten Sitten‹ handelt.110 Stolz diskutiert drei potentielle Gründe für das Vorhandensein von Sittenwidrigkeit, von denen in unserem Zusammenhang nur der letzte von Interesse ist: die Täuschung der Öffentlichkeit.111 Der Tatbestand der Täuschung wäre aber nur dann erfüllt, wenn dem Käufer durch den Kauf des Werkes ein Schaden entstünde, der durch den ›falschen‹ Autornamen verursacht würde. Stolz erläutert diesen Fall u.a. am Beispiel der Autobiographie. Welche Bedingungen

108 109 110

111

Wissenschaft? Frankfurt/M. 1990, 43-61). Über die Frage des Urheberrechts hinaus ist mit dem ›Vater‹ eine allgemeine Struktur der Sprache bezeichnet, wie Peggy Kamuf feststellt: »Using language – whether as poet or critic – we are all, more or less, in the position of a father, the parent of mediation.« (Peggy Kamuf: Writing like a Woman. In: Sally McConnellGinet, Ruth Borker, Nelly Furman (Hg.): Women and Language in Literature and Society. New York 1980, 284-299, hier 284.) Stolz: Der Ghostwriter (Anm. 73), 67. Ebd., 68. »Sittenwidrigkeit und Gesetzesverstoß sind unabhängige Wertungen, so daß der Schluß vom Gesetzesverstoß auf die Sittenwidrigkeit ebenso wenig gerechtfertigt ist wie der umgekehrte Schluß.« (Ebd., 69.) Der erste Grund, die Namensabrede als Entfremdung des Werkes von seinem Urheber, entfällt aufgrund der gleichen Begründung, die diese Namensabrede im Fall des Ghostwriting zu einer legalen machte; der zweite Grund, die eventuelle Ausbeutung von mittellosen Schriftstellern als Ghostwriter, wäre als Mißbrauch zu werten und somit nicht geeignet, den Regelfall illegitim werden zu lassen.

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müssen erfüllt sein, damit die von einem Ghostwriter verfaßte Autobiographie juristisch nicht als Täuschung zu werten ist? Die Erwartung des Käufers richtet sich bei einer Autobiographie darauf, so Stolz, daß sie »die Erinnerungen, Gedanken und Vorstellungen des Namensträgers enthält«.112 Dies sei auch dann gewährleistet, wenn die »Gestaltung« von einem Ghostwriter vorgenommen wurde. Hinsichtlich der Autobiographie erweist sich somit die Trennung von ›Gehalt‹ und ›Gestalt‹ als eine unverzichtbare Voraussetzung der rechtlichen Abgesichertheit des Ghostwriters. Hier droht der Ghostwriter erneut in die Position des tape recorders zu rutschen, insofern die ›Gestalt‹ des Textes zur Nebensache erklärt wird. Die Etablierung einer Schreibweise fällt rechtlich nicht ins Gewicht, weil es um das geht, was die Autobiographie ›enthält‹. Die notwendige Bedingung, die laut Stolz erfüllt sein muß, damit der Käufer in seiner Erwartung nicht getäuscht wird, ist die »Authentizität« der Autobiographie, die er nur dann gewährleistet sieht, wenn sie »aus einem Gespräch zwischen Ghostwriter und Autobiographiertem entstanden ist« und sich nicht »allein aus zusammengetragene[m] Material«113 zusammensetzt. Der Geist des Auftraggebers muß sich also im Gespräch mitgeteilt haben, damit der vom Ghostwriter verfaßte Text als authentischer gelten kann. Hat dieses Gespräch nicht stattgefunden, so kann sogar aus einem Verstoß gegen die guten Sitten ein Betrug werden, da die dem Käufer versprochene Authentizität nicht erfüllt wurde.114 Das Kriterium der ›Authentizität‹ ist weiterhin an den Geist und die Stimme des Autors gekoppelt: »Der Vorzug einer Autobiographie liegt in der Authentizität, also in der Unmittelbarkeit der Eindrücke des Namensträgers, demgegenüber kommt es nicht auf die Frage an, aus wessen Feder das Werk stammt.«115 Authentizität, verstanden als Unmittelbarkeit, wird von Stolz als justitiable Größe eingeführt, die dann erfüllt ist, wenn der Ghostwriter tatsächlich mit dem Repräsentanten oder Auftraggeber gesprochen hat.116 Authentizität ist hier kein Textmerkmal oder Stilkriterium, sondern eine produktionsästhetische Kategorie. 112 113 114

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Ebd., 71. Ebd. »Von dieser Auslegung her wird ein Schaden bei dem Käufer zu bejahen sein, der eine Autobiographie erwirbt, die nicht das Merkmal der Authentizität besitzt, sondern die allein vom Ghostwriter ohne Zusammenwirken mit dem Namensträger geschaffen wurde. Da auf der anderen Seite eine Vorteilsabsicht bei Ghostwriter und Verleger gegeben ist, liegt ein Betrug vor, der zur Schadensersatzpflicht aus § 823 Abs. II BGB führt.« (Ebd., 73.) Ebd., 76. Es ist vielleicht kein Zufall, daß hier mit der Feder ein Schreibgerät des 18. Jahrhunderts erwähnt wird, ist doch das Autorschaftsmodell, von dem das Urheberrecht ausgeht, in dieser Zeit angesiedelt. »Unter Authentizität ist dabei die Summe der Vorzüge zu verstehen, die eine Autobiographie in den Augen der Käufer gegenüber sonstigen Biographien hat. Die Vorzüge einer Autobiographie dürften sein, daß Material verarbeitet ist, das aus allgemeinen Quellen nicht zugänglich ist, und wei-

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Aus der Perspektive des Ghostwriters stellt sich dieser Zusammenhang jedoch anders dar. Grundsätzlich ist die Geheimhaltung des Ghostwriters dadurch motiviert, daß der im Text erzeugte Effekt, die aufgebaute Illusion der authentischen Rede, aufrechterhalten bleiben soll. Redner und Autobiograph sollen als Urheber ihres Diskurses auftreten können: »Wirkung, Verbindlichkeit, Verpflichtung – das alles scheint mit der existentiellen Ursprünglichkeit eines Vortrages der Einheit von Person und Äußerung zu stehen und zu fallen. Das Publikum erwartet, daß die redende oder sich schriftlich äußernde Persönlichkeit mehr ist als die per-sona, die tragische oder komödiantische Maske, durch die etwas hindurchströmt.«117 Dieser Effekt kann auch dann erreicht werden, wenn der Ghostwriter nie mit seinem Repräsentanten gesprochen hat – d.h., wenn im juristischen Sinn von einer Fälschung gesprochen werden muß. PITT erwähnt das Beispiel von Clifford Irving und Richard Suskind, die 1971 für ihre Autobiographie von Howard Hughes vom US-amerikanischen McGraw Hill Verlag die Summe von 750.000 Dollar aushandelten, obwohl sie nie mit Hughes gesprochen hatten. Dieses Manöver flog jedoch auf und wurde als Betrug geahndet. Der Authentizität ihrer Darstellung tut dies jedoch keinen Abbruch: »Die nicht autorisierten Autoren wurden mit Gefängnis bestraft, wahrscheinlich zu Unrecht: Sie haben das Genre, das Ghostwriting im Starkult, zu solcher Perfektion entwickelt, daß man besser daran getan hätte, den Schwindel nicht aus juristischer Sicht zu beurteilen, sondern nach inhärenten künstlerischen Maßstäben. Die Fälschung, die nur durch die Fähigkeit zu meisterhafter Nachempfindung und durch die genaue Kenntnis der kollektiven Wunsch- und Traumseele ermöglicht wurde, trug ihren Echtheitsbeweis in sich. Die echte Unterschrift des Howard Hughes hätte ihr nichts Wesentliches hinzugefügt.«118 Authentizität und Unmittelbarkeit sind als Effekte der Darstellung weder an die Signatur eines Autors noch an die persönliche Begegnung zwischen Repräsentant und Ghostwriter gebunden, als die sie justitiabel werden. Lejeune bezeichnet Authentizität vielmehr als einen »Binnenbezug« des (autobiographischen) Textes, »der für jede Verwendung der ersten Person in der personalen Erzählung typisch ist«.119 Demgegenüber ist die für den Pakt konstitutive Identität von Autor, Protagonist und Erzähler an den in allen drei Fällen identischen Eigennamen gebunden.

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ter, daß die Autobiographie von einer unmittelbaren Subjektivität gezeichnet ist. Die beiden Vorzüge kann eine Ghostwriter-Autobiographie nur haben, wenn der Ghostwriter durch die Interview-Technik die Vorstellungen des Namensträgers ermittelte.« (Ebd., 82.) PITT: Für den Redner schreiben (Anm. 12), 43. Ebd., 61. Lejeune: Der autobiographische Pakt (Anm. 22), 44.

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Außerhalb des juristischen Diskurses wird Authentizität als ein Textmerkmal, das durch die Schreib- und Erzählverfahren eines Textes konstituiert wird, gefaßt. Juristisch bleibt sie an die Autorsignatur gebunden, insofern der ›Geist‹ des Repräsentanten mit dem Ghostwriter in Kontakt getreten sein muß – auch wenn dieser ihn erst in der Erzählung hervorbringt. Das ausgeübte Signierungsrecht des Autors hat sich insofern als eine problematische Größe erwiesen, als es keine definitive Aussage darüber trifft, welche reale Person signiert hat. Setzt der Urheber eines Textes einen anderen als seinen amtlich registrierten Namen ein, ist von einer Fälschung dann zu reden, wenn dieser Name an anderer Stelle als Autorsignatur bereits eingeführt ist. Es handelt sich um ein Pseudonym, wenn es ein erfundener Name ist – grundsätzlich besteht aber die Möglichkeit, daß das gewählte Pseudonym der amtliche Name einer anderen Person ist. Die urheberrechtliche Auseinandersetzung mit dem Ghostwriter erlaubt es, seine Unsichtbarkeit und Namenlosigkeit noch einmal genauer zu bestimmen. Der Ghostwriter kann deshalb nicht wie der Geist des Autors im Werk in Erscheinung treten, weil er wesentlich dadurch charakterisiert ist, daß er nicht signiert. Wo der Name des Ghostwriters genannt wird, übernimmt dieser Name nicht die Funktion einer Autorsignatur.

3. Der autobiographische Spuk Lejeunes Definition des autobiographischen Paktes reagiert auf ein spezifisches Problem des schriftlichen Diskurses – die Frage seiner Referenzialisierbarkeit. Die Grundannahme, von der seine Überlegungen ausgehen, ist die Parallelisierung von Text und Äußerung. Der literarische Text wird als ein Akt der Kommunikation mit den Lesern in den Blick genommen: »Die Ebene, auf der die Analyse erfolgt, ist also die Beziehung Publikation / Publiziertes, die in einem gedruckten Text der Beziehung Äußerung / Aussage in der mündlichen Kommunikation entspricht.«120 Zur Erläuterung der Autobiographie greift Lejeune daher auf Émile Benvenistes sprachwissenschaftliche Untersuchungen zurück. Da sich Lejeune auf den Regelfall der Autobiographie in der ersten Person konzentriert,121 sind im besonderen Benvenistes Überlegungen zur ersten Person Singular für ihn von Interesse. Definiert werde die erste Person, so Lejeune Benveniste referierend, durch eine bestimmte Verbindung 120 121

Ebd., 50. Für den Sonderfall der dritten Person vgl. Philippe Lejeune: Autobiography in the Third Person. In: New Literary History 9.1 (1977), 27-50.

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von Referenz und Aussage. Das ›ich‹ in der mündlichen Rede referiert nicht auf einen Begriff, dem Pronomen entspricht kein Begriff,122 sondern es referiert auf den jeweiligen Sprecher im Sprechakt. ›Ich‹ ist ein »mobiles Zeichen«, schreibt Benveniste, »das von jedem Sprecher angenommen werden kann, unter der Bedingung, daß es jedesmal nur auf die Instanz seiner eigenen Rede verweist«. Insofern ›ich‹ »keine materielle Referenz« besitzt, artikuliert es eine »spezifische Einzigkeit«.123 Nach Benveniste konstituiert sich das Subjekt aufgrund dieser personalen Struktur des Pronomens – Subjektivität wird gefaßt als »Grundeigenschaft der Sprache«.124 Im Falle der ersten Person äußert sie sich auf besondere Weise: »›Ich‹ bezeichnet den, der spricht und impliziert zugleich eine Aussage von ›mir‹: wenn ich ›ich‹ sage, kann ich nicht umhin, von mir zu sprechen.«125 Hier findet sich also bereits im Akt der mündlichen Äußerung eine Aufspaltung, die jedoch – so Lejeune – als »Identität zwischem dem Subjekt der Äußerung und dem Subjekt der Aussage«126 gefaßt wird. Identität wird von Lejeune also nicht als psychische Identität verstanden, sondern als gemeinsame Referenz von Äußerung und Ausgesagtem, von sujet d’énonciation und sujet d’énoncé. Diese Identität als Merkmal des mündlichen Diskurses in der ersten Person Singular wird von Lejeune auf den schriftlichen der Autobiographie übertragen. Während im Gespräch das ›ich‹-sagende Gegenüber sofort identifizierbar und die Äußerung daher referentialisierbar sei, gelte dies nicht für den schriftlichen Diskurs. Wenn also der Autobiograph frage: »›Wer bin ich?‹«, so frage die Autobiographieforschung: »Wer sagt ›Wer bin ich?‹«.127 Das ›ich‹ der Autobiographie sei daher mit denjenigen Situationen mündlicher Rede vergleichbar, die Lejeune als Ausnahmesituationen markiert: das Zitat und die mündliche Rede aus der Distanz. Im Zitat und Re-Zitieren auf der Bühne sei es ein fiktiver Charakter, der als Sprecher eingesetzt werde.128 Als mündliche Rede aus Di122

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»Es gibt keinen Begriff des ›ich‹, der alle ich umfaßte, die in jedem Augenblick auf den Lippen aller Sprecher entstehen, in dem Sinne, in dem ein Begriff ›Baum‹ existiert, auf den sich alle individuellen Anwendungen von Baum zurückführen lassen.« (Émile Benveniste: Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft. Übers. v. Wilhelm Bolle. München 1974, 291.) Ebd., 283f. und 257. Das gilt auch für »du«, das von Benveniste als weiteres personales Pronomen eingeführt wird. Beide Pronomen sind aufeinander angewiesen und nur als dialogische denkbar: »Ich benutze ich nur dann, wenn ich mich an jemanden wende, der in meiner Anrede ein du sein wird.« (Ebd. 289.) Ebd., 289. Ebd., 254. Lejeune: Der autobiographische Pakt (Anm. 22), 20. Ebd., 19. An dieser Stelle kommt Lejeune auf die von Benveniste bereits festgestellte Abhängigkeit der Subjektivität von der Sprache zu sprechen: »Hier allerdings müssen wir langsam den Boden unter den Füßen verlieren, denn

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stanz faßt Lejeune »jedes beliebige Gespräch durch eine Tür hindurch, im Dunkel oder per Telephon«. Anstatt durch das Gesicht in der face-toface-Kommunikation, kann das angesprochene Du den Sprecher in diesen Situationen nur über seine Stimme identifizieren. Die Kommunikation folgt daher einer Art festem Schema, das zur Feststellung der sprechenden Person führen kann: »Wer ist da? – ich – wer ich?«129 In schriftlicher Kommunikation werde die Identität des »Sprechers« durch seinen Namen angegeben, den Lejeune, Benveniste ergänzend, als »Erkennungszeichen« des Individuums bezeichnet. Der Eigenname verhindere, daß das sprechende ›ich‹ »in der Anonymität untergeht«, er ermöglicht dem Subjekt, »das Irreduzible an ihm zu äußern, in dem er seinen Namen nennt«.130 Name und ›ich‹ erfüllen für Lejeune die gleiche Funktion, beide verweisen auf den Sprecher. Indem er den Sprecher mit einem Namen identifiziert, droht Lejeune jedoch eine für Benveniste zentrale Unterscheidung zu verwischen, denn das ›ich‹ der Äußerung bezieht sich bei Benveniste nicht auf die Person des Sprechers: »Wäre dies der Fall, so stünden wir vor einem permanenten, von der Sprache zugelassenen Widerspruch und vor der Anarchie in der Praxis: wie könnte derselbe Begriff sich undifferenziert auf jede beliebige Person beziehen und gleichzeitig es [sic!] in seiner Besonderheit identifizieren?«131 Die »Einzigkeit«, auf die sich das ›ich‹ bezieht, ist für Benveniste nicht die Identität der Person, sondern der »Vorgang der individuellen Rede, in der es ausgesprochen wird«; sie ist »ausschließlich sprachlich« und bezeichnet nur »eine aktuelle Referenz«, denjenigen, der »hier und jetzt« spricht.132 ›Ich‹ bezeichnet den Sprecher im Augenblick des Sprechens, so daß eine analogisierende Übertragung von Benvenistes Analyse auf die Autobiographie schon deshalb nicht unproblematisch ist, weil es in der Autobiographie gerade nicht um die Instantanität des ›ich‹ geht, sondern um das ›ich‹ als Konstante bzw. im Wechsel der Zeit. Indem Lejeune den Eigennamen als Referenz des Sprechers einführt, entkoppelt er das ›ich‹ vom Akt der Äußerung und weist ihm gerade die paradoxe

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selbst den Naivsten befällt dabei der Gedanke, daß nicht die Person das ›ich‹ definiert, sondern das ›ich‹ die Person – das heißt, daß die Person nur in der Rede existiert.« (Ebd., 21.) Ebd. Die Feststellung schützt jedoch nicht vor weiteren Verwicklungen: »›Ich bins.‹ – ›Wer?‹ entgegnete Charlotte, die den Ton nicht unterscheiden konnte. Ihr stand des Hauptmanns Gestalt vor der Tür. Etwas lauter klang es ihr entgegen: ›Eduard!‹« (Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. In: Goethes Werke. Bd. VI. Hg. v. Benno v. Wiese u. Erich Trunz. Textkritisch durchges. v. Erich Trunz. Hamburg 1951, 320.) Lejeune: Der autobiographische Pakt (Anm. 22), 22. Benveniste: Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft (Anm. 122), 291. Ebd., 291 und 282.

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Aufgabe zu, die Benveniste umgehen wollte. Für den autobiographischen Pakt erweist sich dies jedoch als unhintergehbar. Die Identifizierung einer Person durch ihren Eigennamen vollzieht sich, so argumentiert Lejeune, in mündlicher Rede als persönliche Vorstellung, ›Mein Name ist…‹, in schriftlicher Kommunikation als Unterschrift. Für Lejeune ist es also der Name, der eine Identitätsbeziehung zwischen Erzähler, Protagonist und Autor herstellen kann: »Das tiefe Thema der Autobiographie ist der Eigenname.«133 Für den gedruckten Text übernimmt der Autorname die Funktion, die Quelle der Äußerung zu bezeichnen. Der Status dieser Quelle wird von Lejeune jedoch unterschiedlich beschrieben. Einerseits heißt es, der Autorname auf dem Umschlag des Buches sei »die einzige unzweifelhaft außertextuelle Markierung, die auf eine tatsächliche Person verweist«. Diese Person übernehme »die Verantwortung für die Äußerung des gesamten Textes«. Ihre Existenz müsse daher »amtlich nachgewiesen und nachprüfbar« sein.134 Andererseits betont Lejeune: »Ein Autor ist keine Person. Eine Person schreibt und publiziert. Er steht auf der Kippe zwischen NichtText und Text und ist die Verbindungslinie zwischen beiden. Der Autor ist gleichzeitig als die tatsächlich existierende und sozial verantwortliche Person definiert und als Produzent eines Diskurses.«135 Wie jeder Name verweist also der Autorname nach Lejeune auf eine reale Person. Als gedruckter Name auf dem Titelblatt markiert er zudem den Rand des Textes, d.h. die Stelle, an der der Text in Nicht-Text umkippt und umgekehrt – für die Autobiographie ließe sich reformulieren: die Stelle, an der das bios in graphie umschlägt. Der Status des Autornamens in Lejeunes Analyse ist daher ambivalent, da er sowohl zum Text gehört als auch die Funktion übernimmt, den Text auf eine reale Person zurückzuführen. Diese Funktion ist die für die Autobiographie entscheidende – die Titelseite wird deshalb von Lejeune in die Gattungsdefinition einbezogen. Die »einbekannte Identität auf der Ebene der Äußerung«, das heißt, die durch Benennung in der Publikation signalisierte »Namensidentität« von Autor, Erzähler und Protagonist konstituiert den Vertrag: »Der autobiographische Pakt ist die Behauptung dieser Identität im Text, die letztlich auf den Namen des Autors auf dem Umschlag verweist. Die Formen des autobiographischen Pakts sind vielfältig: Sie zeugen jedoch alle von der Absicht, dieser Signatur gerecht zu werden.«136 Was in der mündlichen Rede vermeintlich unmittelbar sicht133 134 135

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Lejeune: Der autobiographische Pakt (Anm. 22), 36. Ebd., 23f. Ebd., 24. »[D]er Text selbst bietet an seinem äußersten Rand jenes letzte Element, den zugleich textuellen und unzweifelhaft referentiellen Eigennamen des Autors.« (Ebd., 38.) Ebd., 26f.

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bar wird, muß auf der Ebene der Schrift durch ein System von Verweisen hergestellt werden, das durch den Namen des Autors auf dem Titelblatt als Signatur abgeschlossen wird: »Für den Leser ist die Autobiographie in erster Linie durch einen Identitätsvertrag definiert, der durch den Eigennamen besiegelt wird. Und dies gilt auch für den Verfasser des Textes.«137 Dieses Konzept des Vertrages ermöglicht es Lejeune sowohl, eine Unterscheidung von Biographie und Autobiographie einzuführen, als auch die Autobiographie vom Roman abzugrenzen, in dem der Name des Autors nicht mit dem Namen des Protagonisten übereinstimme.138 Die Biographie sei in erster Linie durch den Bezug auf ein außertextuelles Modell gekennzeichnet, zu dem der Protagonist eine möglichst große Ähnlichkeit aufweisen solle; die Identitätsbeziehung zwischen Protagonist und Autor in der Autobiographie werde jedoch einfach gesetzt und sei damit eine »unmittelbar erfaßte Tatsache«.139 Auch wenn in der Lektüre der Autobiographie nach der Ähnlichkeit zwischen Protagonist und Autor gefragt werde, geschehe dies vor dem Hintergrund der zuvor etablierten Identität. Bei näherer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, daß sich die vermeintliche Unmittelbarkeit der Identität einem System von Vermittlungen verdankt, die stillschweigend vorausgesetzt werden. Lejeunes Ineinssetzung von Autorname und Signatur wurde in der Autobiographie-Diskussion mehrfach kritisch kommentiert.140 Gérard Genette hat die durch Lejeune eingeführte Position der »Kippe« und des »Randes« in seinem Konzept des ›Paratextes‹ ausgearbeitet.141 Als »Beiwerk« des Buches habe er die Funktion, den Text zu »präsentieren: ihn präsent zu machen, und damit seine ›Rezeption‹ und seinen Konsum in, zumindest heutzutage, der Gestalt eines Buches zu ermöglichen«.142 Er sei weniger eine klare Trennungslinie oder Grenze als vielmehr eine 137 138

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Ebd., 36. Was passiert, ließe sich als Frage an Lejeune formulieren, wenn der Protagonist zwar den gleichen Namen wie der Autor trägt, aber den Text von der Autobiographie abgrenzt? Vgl. Christopher Isherwood: The author’s introductory to the first edition of ›Goodbye to Berlin‹. In: Ders.: Goodbye to Berlin [1939]. London 1977, 9: »Because I have given my own name to the ›I‹ of this narrative, readers are certainly not entitled to assume that its pages are purely autobiographical, or that its characters are libellously exact portraits of living persons. ›Christopher Isherwood‹ is a convenient ventriloquist’s dummy, nothing more.« Vgl. auch die in der deutschen Übersetzung von Roland Barthes par Roland Barthes in handschriftlicher Form als Motto abgedruckte Aufforderung: »Tout ceci doit être consideré comme dit par un personnage de roman.« (Roland Barthes: Über mich selbst. Übers. v. Jürgen Hoch. München 1978, 5.) Lejeune: Der autobiographische Pakt (Anm. 22), 39. Vgl. Paul de Man: Autobiography as De-Facement. In: Ders.: The Rhetoric of Romanticism. New York 1984, 67-81, hier 71f. Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Übers. v. Dieter Hornig. Frankfurt/M., New York, Paris 1989. Ebd., 9.

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»Schwelle«, »nicht bloß eine Zone des Übergangs, sondern der Transaktion«.143 Der Autorname auf dem Titelblatt ist Teil des von Genette als Peritext bezeichneten Paratextes, d.h. des Paratextes, der im unmittelbaren Umfeld des Textes erscheint »wie der Titel oder das Vorwort, mitunter in den Zwischenräumen des Textes, wie die Kapitelüberschriften oder manche Anmerkungen«.144 Der Paratext, so Genette, enspricht »definitionsgemäß der Absicht des Autors« und wird »von ihm verantwortet«.145 Dem Autornamen auf dem Titelblatt widmet Genette ein Kapitel seiner Untersuchung, in dem immer wieder auf Lejeunes Der autobiographische Pakt Bezug genommen wird. Ohne ihn so zu benennen, habe Lejeune schon eine Bestimmung des Paratextes vorgenommen. Abgelöst von der Autobiographie reformuliert Genette dessen Vertragskonzept als allgemeines Gattungskonzept: »Der Gattungsvertrag entsteht, mehr oder minder kohärent, durch die Gesamtheit des Paratextes und, umfassender, durch die Beziehung zwischen Text und Paratext.«146 Gegenüber der Gleichsetzung von Autorname und Signatur verhält sich Genette insofern kritisch, als der Autorname nicht in der eigentlichen Position einer Signatur am Ende eines Schriftstückes zu finden sei, »was bedeutet, daß es nicht üblich ist, ein Werk wie einen Brief oder einen Vertrag zu signieren«.147 Der Autorname werde nicht vom Autor eingefügt, was ihn in die Nähe einer Signatur rücken würde, er sei vielmehr eine Präsentation des Autors durch den Verleger: »Der Autor (auctor) ist zwar der Bürge des Textes, aber dieser Bürge hat selbst wieder einen Bürgen, den Verleger, der ihn ›einführt‹ und benennt.«148 Wir haben bereits gesehen, daß das Urheberrecht diesen Zusammenhang anders beschreibt: Der Autorname auf dem Titelblatt gilt urheberrechtlich als Signatur des Autors, der damit den Text für sich beansprucht und für ihn die Verantwortung übernimmt.149 Insofern der Text – in Umkehrung der Plazierung der handschriftlichen Signatur – unter einem Namen erscheint, ist dieser Text durch den genannten Namen signiert. Obwohl grundsätzlich vorstellbar, erscheint es doch unwahrscheinlich, daß der Name des Autors auf einem Titelblatt gegen seinen Willen dort erscheint. Auch Genette weist im weiteren Verlauf seines

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Ebd., 10. Ebd., 12. Paratexte, die das Erscheinen des Textes in weiterer Entfernung begleiten wie Interviews, Briefwechsel u.ä. bezeichnet Genette als Epitext (ebd., 12f.). Ebd., 11. Diese Aussage ist insofern problematisch, als die Verlage insbesondere bei der Titelblattgestaltung eingreifen und zuweilen auch die Bezeichnung eines Textes als »Roman« o.ä. vorgeben. Ebd., 45. Ebd., 42. Ebd., 50. Vgl. Kapitel II.2 dieser Arbeit.

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Textes darauf hin, daß bereits die Nennung des ›richtigen‹ Autornamens nicht zufällig geschieht: »Das Signieren eines Werkes mit seinem richtigen Namen ist immerhin auch eine Entscheidung, die keineswegs als belanglos anzusehen ist.«150 Wie an dieser Stelle spricht Genette im Kapitel über den Namen des Autors weiterhin durchgängig von der Signatur – an manchen Stellen mit, an anderen ohne Anführungszeichen –, um so das Moment der Übernahme der Verantwortung zu kennzeichnen. Obwohl es also keine handgeschriebene Unterschrift am Ende des Textes gibt, erfüllt der Autorname auf dem Titelblatt die Funktion einer Signatur, die darin besteht, sich für das Geschriebene zu verantworten und den eigenen Anspruch an ihm anzumelden. Die Signatur auf dem Titelblatt verweist jedoch nicht auf den Autor als amtliche Person, so wäre, Lejeune ergänzend, hinzuzufügen, sondern auf einen weiteren Vertrag, der tatsächlich handschriftlich signiert werden muß: den Vertrag zwischen Autor und Verlag. Damit ist jedoch die Möglichkeit eröffnet, daß die Unterschrift unter diesem Vertrag nicht die gleiche ist wie die auf dem Titelblatt, bzw. daß es mehr als eine Unterschrift gibt. Lejeune setzt die Signatur für die Autobiographie ein, um die unmittelbare Tatsache der Identifizierung des Sprechers im Sprechakt seitens eines ›du‹ durch ein System von Verweisen zu ersetzen, das es nun dem Leser in gleicher Weise erlauben soll, das ›ich‹ des autobiographischen Diskurses mit dem Autor zu identifizieren. Daß sich die mündliche Äußerung zu ihrem Sprecher so verhalte wie die schriftliche zu ihrer Signatur, ist eine gängige Feststellung, die in ähnlicher Weise auch John L. Austin in seiner Theorie der Sprechakte formuliert hat. Wie bei Lejeune wird bei Austin die Signatur eingesetzt, um den durch die Schrift distanzierten ›Ursprung‹ der Äußerung, der im Sprecher anwesend sei, zu kennzeichnen.151 In einer prominent gewordenen kritischen Lektüre Austins hat Jacques Derrida in einer doppelten Strategie einerseits gezeigt, inwiefern 150 151

Ebd., 43. Genette bezeichnet diese Art der ›richtigen‹ Namensnennung in Analogie zur ›falschen‹ der Pseudonymität als Onymität (ebd., 43f.). Auch Austins Überlegungen knüpfen an das ›ich‹ an: »Wo die sprachliche Formulierung der Äußerung auf den Sprecher und damit den Handelnden nicht mit Hilfe des Pronomens ›ich‹ (oder mit seinem Eigennamen) hinweist, da wird diese Beziehung durch eines der beiden folgenden Mittel hergestellt: (a) In mündlichen Äußerungen dadurch, daß er der Sprecher ist – wir können das den Äußerungs-Ursprung nennen, der in jedem Koordinatensystem benutzt wird, welches festlegt, worüber mündliche Äußerungen gehen. (b) In schriftlichen Äußerungen (›Inschriften‹) dadurch, daß er unterzeichnet. (Tun muß man das natürlich deshalb, weil schriftliche Äußerungen nicht so an ihren Ursprung gebunden sind wie mündliche.)« (John L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte (How to do Things with Words). Übers. v. Eike von Savigny. Stuttgart 1972, 81.) Zu Parallelen zwischen Austin und Benveniste vgl. Benveniste: Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft (Anm. 122), 299-318.

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die Schrift in wesentlicher Weise durch die Abwesenheit des Unterzeichners gekennzeichnet ist, und wie andererseits auch die mündliche Rede durch diese Form der Abwesenheit affiziert wird.152 Derridas Kritik an Austin ist zu einem der wichtigsten Ausgangspunkte geworden, von dem aus in den 1990er Jahren neue Theorien des Geschlechts153 und der kulturellen Differenz154 formuliert wurden. Für die Diskussion von Lejeunes Konzept des autobiographischen Pakts ist Derridas Text deshalb zentral, weil er an genau jenem prekären Übergang von Mündlichkeit und Schriftlichkeit ansetzt, von dem auch Lejeunes Studie in der Analogisierung von mündlicher Äußerung und schriftlicher Publikation, von Sprecher und Autorsignatur, ihren Ausgang nimmt, ihm aber eine entscheidende Wendung gibt. Darin Lejeune zunächst nicht unähnlich, geht Derrida davon aus, daß schriftliche Kommunikation durch die radikale Abwesenheit von Sender und Empfänger gekennzeichnet ist. Schrift funktioniert unabhängig davon, ob Sender oder Empfänger anwesend sind – deshalb können Briefe geschickt werden. Schrift ist Schrift, so Derrida, unter der Voraussetzung des zukünftigen Verschwindens von Adressant und Adressat. Dieses Verschwinden betrifft auch die Intention, das »Sagen-Wollen« des Senders, an dessen Stelle die Lesbarkeit der Schrift tritt: »Damit ein Schriftstück lesbar ist, muß es fortfahren, zu ›handeln‹ und selbst dann lesbar sein, wenn der sogenannte Autor des Schriftstücks nicht mehr für das, was er geschrieben und anscheinend unterschrieben hat, einsteht, sei er nun vorläufig abwesend, sei er tot, oder sei es, daß er das scheinbar ›in seinem Namen‹ Geschriebene ganz allgemein nicht mit seiner absolut aktuellen und anwesenden Intention oder Aufmerksamkeit, mit der Fülle

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Jacques Derrida: Signatur Ereignis Kontext. In: Ders.: Limited Inc. Übers. v. Werner Rappl u. Dagmar Travner. Wien 2001, 15-45. Judith Butler hat ausdrücklich auf diesen Text Derridas als eine der Grundlagen für ihre Konzeption performativer Geschlechtlichkeit hingewiesen; vgl. Judith Butler: Für ein sorgfältiges Lesen. In: Seyla Benhabib, Judith Butler, Drucilla Cornell, Nancy Fraser: Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart. Frankfurt/M. 1993, 122-132, hier 123f. Zur Karriere der Kategorie Performativität in der Literatur- und Kulturwissenschaft der letzten Jahre vgl. Eckhard Schumacher: Performativität und Performance. In: Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt/M. 2002, 383-402. Homi Bhabha unterscheidet zwischen »cultural diversity«, die ein festgefügtes Set von Merkmalen bereitstellt, um eine Kultur als epistemologisches Objekt zu definieren, und »cultural difference« als einen Prozeß der Signifikation, der kulturelle Bedeutungen im gleichen Maße stiftet wie unterläuft, aufrichtet und verschiebt: »The reason a cultural text or system of meaning cannot be sufficient unto itself is that the act of cultural enunciation – the place of utterance – is crossed by the différance of writing.« (Homi Bhabha: The Commitment to Theory. In: Ders.: The Location of Culture. London, New York 1994, 19-39, hier 34 und 36.)

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seines Sagen-Wollens unterstützt.«155 Die Schrift ist »verwaist und seit ihrer Geburt vom Beistand des Vaters getrennt«156 – man könnte sagen, sie ist potentiell immer schon freigegeben zur Adoption. Diese Abwesenheit des Ursprungs in der Schrift, die Auflösung einer ›natürlichen‹ Verbindung zwischen ›Schöpfer‹ und ›Werk‹, konstituiert die Bedingung der Möglichkeit von Ghostwriting. Dieses Modell von Schrift läßt sich als eine allgemeine Struktur des Ghostwriting formulieren, in der der Schreiber nicht als Autor-Person oder Autor-Intention anwesend ist, sondern als deren Abwesenheit, als nurmehr schemenhaftes, ungreifbares Gespenst. Die Unterschrift ist ein Versuch der unmöglichen Rückgewinnung des Geschriebenen, das, weil es nicht von sich aus dem Schreiber angehört, ihm von Gesetzes wegen, d.h. vom Urheberrecht, zugesprochen werden muß. Schrift, so Derrida, ist wesentlich durch ihre Iterierbarkeit gekennzeichnet – sie ist unabhängig von der Anwesenheit von Empfänger und Sender wiederholbar und aus ihrem Kontext ablösbar.157 Die »Kraft zum Bruch«158 mit dem ursprünglichen Kontext resultiert aus der Verräumlichung des Zeichens. Diese Charakterisierung, die er in einer Zuspitzung des »klassischen Schriftbegriffs« gewinnt, überträgt Derrida auf die gesprochene Sprache: Wie das geschriebene Zeichen muß das gesprochene, um erkennbar und wiederholbar zu sein, eine »signifikante[] Form« annehmen, eine »Selbstidentität«, die durch unterschiedliche Tonfälle, Stimmlagen oder Akzente hindurch wiedererkennbar ist.159 Nach Derrida impliziert diese Identität des sprachlichen Zeichens in der mündlichen Rede aber gleichzeitig ihre »Spaltung oder Ablösung von sich selbst«: »Weil nämlich diese Einheit der signifikanten Form nur durch ihre Iterabilität konstituiert 155 156

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Derrida: Signatur Ereignis Kontext (Anm. 152), 26. Ebd. Daß die Schrift ihrem »Vater« nicht gehört, daß sie adoptiert werden kann, bezeichnet gleichzeitig die Grenze der Werkherrschaft: »Gerade dann, als Autorschaft im Sinne des ›Copyright‹ beginnt, zerstört die Philologie in Gestalt der Textkritik jede Autorisation, verzeitlicht sie, bricht ihre klassizistischen Gestalten (Ausgabe letzter Hand) auf. Keine editorische ›Autorisierung‹ eines Textes, die ein Autor in den letzten 250 Jahren behauptet hat und noch behaupten wird, wird von der Philologie anerkannt. […] Moderne Philologie hieß: Autorschaft ist Werkherrschaft ist keine Werkherrschaft.« (Erhard Schüttpelz: Sartor Resartus bzw. Sartor Resartus: Zitierfähigkeit. Ein philologisches Kompendium. In: Volker Pantenburg, Nils Plath (Hg.): Anführen – Vorführen – Aufführen. Texte zum Zitieren. Bielefeld 2002, 90-104, hier 99.) Im Wort »Iterabilität«, so Derrida im Rückgriff auf seine Wurzel »itara, anders« (Derrida: Signatur Ereignis Kontext (Anm. 152), 24), werden Wiederholung und Andersheit verknüpft. Iterabilität ist, so Schumacher, durch drei Elemente gekennzeichnet: »Ereignishaftigkeit (in der Akualität des Sprechakts), Wiederholung (eines Musters) und Differenz (in der Wiederholung)« (Schumacher: Performativität und Performance (Anm. 153), 386). Derrida: Signatur Ereignis Kontext (Anm. 152), 27. Ebd., 27f.

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wird, durch die Möglichkeit, in Abwesenheit nicht nur ihres ›Referenten‹ […] wiederholt zu werden, sondern auch in Abwesenheit eines bestimmten Signifikats oder der aktuellen Bedeutungsintention […], wie jeder anwesenden Kommunikationsintention.«160 Insofern es daher wie das Schriftzeichen immer aus seinem Kontext gelöst und in einen neuen eingefügt werden kann, ist es genausowenig durch seinen ›ursprünglichen‹ Kontext festgelegt wie die Schrift – das »›ursprüngliche[]‹ Sagen-Wollen«161 ist kein Kontext, der die Bedeutung eingrenzen und festhalten kann. Daher verliert die Sprecher-Intention ihre dominante Position, es gibt, so Derrida, »nur Kontexte ohne absolutes Verankerungszentrum«.162 Indem er das von ihm entdeckte wesentliche Merkmal des klassischen Schriftbegriffs, die Iterabilität, nun auch in mündlicher Rede lokalisiert, wird dieser die gleiche Struktur anwesender Abwesenheit eingeschrieben, die im klassischen Schriftbegriff in Abgrenzung zur erfüllten Rede formuliert war. Diese graphematische Struktur mündlicher Rede wird von Derrida nicht (nur) als Krise oder Versagen der Sprache gefaßt, sondern (auch) als Bedingung ihrer Möglichkeit. Eine beispielhafte Äußerung, die Derrida in einem anderen Kontext erwähnt, führt die gespenstische Dimension der Abwesenheit des Sprechers im Sprechakt vor Augen: »I believe that the condition for a true act of language is my being able to say ›I am dead.‹ […] ›I am dead‹ has a meaning if it is obviously false. ›I am dead‹ is an intelligible sentence. Therefore, ›I am dead‹ is not only a possible proposition for one who is known to be living, but the very condition for the living person to speak is for him to be able to say, significantly, ›I am dead.‹«163 Der von Derrida herausgearbeiteten Iterabilität sprachlicher Zeichen unterliegen auch performative Sprechakte, deren Ereignis-Charakter dadurch immer schon gedoppelt und gespalten ist: »Könnte eine performative Aussage gelingen, wenn ihre Formulierung nicht eine ›codierte‹ oder iterierbare Aussage wiederholen würde, mit anderen Worten wenn die Formel, die ich ausspreche, um eine Sitzung zu eröffnen, ein Schiff oder eine Ehe vom Stapel laufen zu lassen, nicht als einem iterierbaren Muster konform identifizierbar wäre, wenn sie also nicht in gewisser Weise als ›Zitat‹ identifiziert werden könnte?«164 Die allgemeine Zitathaftigkeit 160 161 162 163

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Ebd., 28f. Ebd., 32. Ebd. Jacques Derrida, zitiert nach: Barthes-Todorov Discussion. In: Eugenio Donato, Richard Macksey (Hg.): The Languages of Criticism and the Sciences of Man. The Structuralist Controversy. Baltimore, London 1970, 145-156, hier 156. Derrida: Signatur Ereignis Kontext (Anm. 152), 40. Derridas Argumentation richtet sich gegen Austins Unterscheidung eines unernsten Gebrauchs performativer Sprechakte (im Zitat, auf der Bühne) von einem gewöhnlichen

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löst den (performativen) Sprechakt von seinem Sprecher als Ursprung, wie sie in gleicher Weise die Signatur vom Unterzeichner löst. Grundsätzlich erfüllt die Signatur die Funktion, den Unterzeichner zu vertreten: »Eine geschriebene Signatur impliziert per definitionem die aktuelle oder empirische Nicht-Anwesenheit des Unterzeichners.«165 Gleichzeitig übernimmt sie in ihrer Funktion der Stellvertretung die Aufgabe, die zurückliegende Anwesenheit des Unterzeichners in einem bestimmten, singulären Moment der Unterschrift zu bezeugen. »Damit die Anbindung an die Quelle hergestellt wird, muß daher die absolute Einmaligkeit eines Unterzeichnungsereignisses und einer Unterschriftsform festgehalten werden: die reine Reproduzierbarkeit eines reinen Ereignisses.«166 Damit ist auch die Aufgabe der Signatur präzise bezeichnet, die Lejeune ihr im autobiographischen Pakt zuschreibt: Mit der (in diesem Fall: gedruckten) Signatur auf dem Titelblatt ist die Quelle des autobiographischen Textes als eine amtlich nachprüfbare Person, als Anwesenheit, angegeben. Der gedruckte Autorname, unter dem ein Buch erscheint, verweist auf den Moment der Vertragsunterzeichnung mit dem Verlag, in dem der Autor (als Person) anwesend war. Der Autobiograph war da und bezeugt dieses Da-Gewesen-Sein, indem er den Text unter seinem Namen erscheinen läßt.167 In der Signatur zeigt sich diese Anwesenheit des Autors jedoch, wie Peggy Kamuf schreibt, als seine Abwesenheit: »My signature is a ghostly trace of my absence«.168 In Derridas Lesart unterliegt auch das Ereignis der Signatur der Notwendigkeit einer generellen Iterierbarkeit, wie sie für das gesprochene und schriftliche Zeichen festgehalten wurde: »Um zu funktionieren, das heißt um lesbar zu sein, muß eine Signatur eine wiederholbare, imitierbare Form haben; sie muß sich von der gegenwärtigen und einmaligen Intention ihrer Produktion loslösen können. Ihre Selbigkeit […] ist es, die, indem sie ihre Identität und Einmaligkeit verändert, das Siegel spal-

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Gebrauch (im Gericht, im Standesamt, etc.). Wo Austin im zitierten, d.h. nicht geglückten Performativ, nur eine parasitäre Aushöhlung performativer Sprechakte sieht, die deren normalem Gebrauch äußerlich bleibt, zeigt Derrida, daß das Mißlingen konstitutive Bedingung auch für die geglückten Sprechakte ist. Ebd., 43. Ebd. Vgl. dazu auch Derrida: »[T]he conventions of literary biography presuppose at least one certainty – the one concerning the signature, the link between the text and the proper name of the person who retains the copyright. Literary biography begins after the contract, if one may put it like this, after the event of signature«. (Jacques Derrida: Signéponge, zitiert nach: Robert Smith: Derrida and Autobiograhy. Cambrigde, New York, Melbourne 1995, 70.) Peggy Kamuf: Signature Pieces. On the Institution of Authorship. Ithaca, London 1988, 77.

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tet.«169 Damit wird die Signatur nicht unmöglich oder krisenhaft, sondern allererst möglich. Zugleich wird ihre Differenz zum Eigennamen deutlich. »A signature is not a name; at most it is a piece of a name, its citation according to certain rules.«170 Ihre Wiederholbarkeit ermöglicht die Signatur in dem Maße, wie sie ihre Einmaligkeit aushöhlt. Iterabilität läßt sich, nimmt man Derrida beim Wort, nicht nur für die Signatur feststellen, sondern betrifft schon den Moment der Äußerung, in der das ›ich‹ der Aussage auf den Sprecher referiert. Das ›ich‹ als mobiles Zeichen, das nach Benveniste als allgemeine Form bereitsteht, um den Sprecher im aktuellen Moment des Sprechaktes als Einzigen zu bezeichnen, kann diese Funktion nur erfüllen, weil es zitierbar ist – weil es als allgemeines Pronomen »im Vorgang des Bezeichnens die eigene Einzigartigkeit ausstreicht und in die allgemeinste und ganz allgemein zugängliche Äußerlichkeit fallen läßt«, damit aber zugleich »den Selbstbezug einer Innerlichkeit« bedeuten kann.171 Diese Struktur der IchReferenz in gesprochener Sprache, die in gleicher Weise für die Signatur gilt, ermöglicht letztlich auch das Phänomen des Ghostwriting. Iterabilität impliziert die grundsätzliche Ablösbarkeit des ›ich‹ vom Sprecher und vom Autor. So wie der lebende Derrida »ich bin tot« sagen und schreiben kann, ist es dem Ghostwriter möglich, im Namen eines anderen ›ich‹ zu schreiben. Sprecher und Autor sind der gleichen Beweglichkeit der IchReferenz unterworfen, die im Ghostwriting virulent wird. Ghostwriting in diesem Sinne ist kein sekundäres Phänomen mehr, keine falsche, »unernste« Abweichung von der regulären Form der Autorschaft, es erweist sich vielmehr als die Bedingung der Möglichkeit von Autorschaft. Die Figur des Ghostwriters, als nicht-anwesender oder anwesend-abwesender Schreiber, nimmt die Stelle der Autorsignatur ein. Diese markiert den Platz, den die Intention in Derridas Analyse der Iterabilität einnimmt, ein Platz, der »nicht mehr die ganze Szene und das ganze System der Äußerung« steuern kann, aber auch nicht verschwinden wird.172 Das »hier und jetzt« der Äußerung, auf das Benveniste hinweist,173 wird ergänzt und ersetzt durch ein ›hier und jetzt‹ der Lektüre, die Intention als »Verankerungszentrum« wird abgelöst durch die unabschließbaren Kontexte, in denen die Äußerung, der Text oder das Zeichen zitiert werden können. Damit verschiebt sich die Frage der Signatur vom Sprecher-Autor auf den Hörer-Leser – »it is the ear of the other that signs. The ear of the 169 170 171 172 173

Derrida: Signatur Ereignis Kontext (Anm. 152), 43f. Kamuf: Signature Pieces (Anm. 168), 12. Jacques Derrida: Mémoires. Für Paul de Man. Übers. v. Hans-Dieter Gondek. Wien 1988, 71. Derrida: Signatur Ereignis Kontext (Anm. 152), 40. Benveniste: Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft (Anm. 122), 282.

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other says me to me and constitutes the autos of my autobiography. […] A text is signed only much later by the other.«174 Mit dem Ghostwriter ist das Moment der temporalen Verdopplung der Signatur bereits Teil des Schreibprozesses geworden. Der Ghostwriter ist derjenige, der mit seinem Ohr mit-signiert und damit die Signatur von der Autorschaft abkoppelt. Vor diesem Hintergrund wird Lejeunes Autobiographie-Definition als ein Versuch der Stabilisierung der ersten Person Singular lesbar – der autobiographische Text und der Eigenname sollen lösen, was schon in der mündlichen Rede zum »Problem« wird. Die Frage, die sich angesichts der Analogisierung von mündlicher Kommunikation und schriftlichem Diskurs stellt, ist, ob auf der Seite des Textes eine dem Sprechen durch »eine Tür hindurch, im Dunkeln oder per Telephon« vergleichbare Konstellation besteht. Was passiert, wenn der Autor eines als Autobiographie gekennzeichneten Textes im Dunkeln bleibt? Für Lejeune kann dieser Fall »naturgemäß« ausgeschlossen werden, »da der Autor einer Autobiographie nicht anonym sein kann«.175 Der Ausschluß von Anonymität verdankt sich Lejeunes Rückführung der Autobiographie auf den Namen, der – wie bereits erwähnt – als ihr »tiefes Thema« bestimmt wurde. Lejeune setzt den Namen des Autors als Signatur des Pakts ein, angesichts der Überlegungen Derridas erscheint seine Definition jedoch als ein Versuch, den Namen in und mit der Autobiographie allererst zu erlangen. So formuliert sich Lejeunes Definition in produktionsästhetischer Perspektive als ein Begehren nach diesem Namen: »Der autobiographische Drang und die Liebe zur Anonymität können unmöglich im selben Menschen koexistieren.«176 Lejeunes anthropologische Aussage reagiert auf die Gefahr, »daß der autobiographische Diskurs nicht, wie gemeinhin geglaubt wird, auf ein ›Ich‹ verweist«, sondern daß er »ein entfremdeter Diskurs wäre, eine mythologische Stimme, von der jeder besessen wäre«. Die Mobilität des ›Ich‹ äußert sich bei ihm, auch darauf wurde bereits hingewiesen, als »Gefahr [der] Unbestimmtheit der ersten Person«, die man »zu bannen versucht, indem man sie am Eigennamen festmacht«.177 ›Ich‹ als shifter ist eine leere Form, die jeder/m zur Verfügung steht. Deshalb droht – in Lejeunes Darstellung – von diesem ›ich‹ aus die Gefahr, daß es »in der Anonymität untergeht«.178 Da Lejeune vorgibt zu glauben, daß 174

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Jacques Derrida, Diskussionsbeitrag in: Roundtable on Autobiography. In: Christie McDonald (Hg.): The Ear of the Other. Texts and Discussions with Jacques Derrida. Übers. v. Peggy Kamuf. Lincoln, London 1988, 39-89, hier 51. Lejeune: Der autobiographische Pakt (Anm. 22), 35. Ebd., 36. Ebd., 37. Ebd., 22.

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es »nahezu genauso viele Eigennamen wie Individuen« gebe, hält er den Eigennamen für eine geeignete Größe, um »das Irreduzible […] zu äußern«, d.h. um die Singularität des Sprechers oder Schreibers zu bezeichnen.179 Der Übergang vom ›ich‹ zum Namen füllt jedoch diese Form, indem sie das ›ich‹ über den Nachnamen in eine Genealogie eingliedert – ›Name des Vaters‹ – und es mit dem Vornamen geschlechtlich markiert. Der Eigenname kann daher niemals geeignet sein, die irreduzible Singularität einer Person zu benennen, weil diese Person durch ihren Namen immer schon als Teil einer kulturellen Ordnung gekennzeichnet ist. Die Namensgebung ist ein gesetzlich geregelter Akt, der kulturell und historisch unterschiedliche Namensstrukturen zuläßt und bis in die Auswahl des Namens hinein durch ein amtliches Namensregister eingreift. Die Identifizierung seines Namens als ›eigener‹, die Identifizierung mit dem ›eigenen‹ Namen ermöglicht es allerdings – zumindest einem Namen wie ›Philippe Lejeune‹ – sich in dieser kulturellen Ordnung als anerkanntes Mitglied und als Autor zu situieren. Für andere Namen sieht diese Möglichkeit von vornherein anders aus: »Der Mädchenname hat und hatte als Name nie eine Gegenwart.«180 Denn, so Verena Mund, insofern er »Mädchenname« ist, benennt er die Frau als Tochter eines Vaters, insofern er durch den Namen des Ehemannes abgelöst wird, benennt er sie als Ehefrau – mit anderen Worten: Der Mädchenname erschwert es, sich mit ihm als eigenem Namen zu identifizieren. Das unterscheidet ihn von ›Philippe Lejeune‹: »Für den Mann [für den Männernamen müßte man vielleicht präzisieren, wenn es diese Kategorie gäbe, H.V] kommt nur der ›eindeutige‹ Rückbezug auf den Vater in Frage, und dieser Rückbezug bietet zugleich die Möglichkeit, sich in eine Tradition einzureihen, den Namen weiterzugeben.«181 So ist es nicht überraschend, daß Lejeune nicht nur die Autobiographie seines Ur-Großvaters veröffentlicht hat, sondern auch seine eigene – Moi aussi.182 Einerseits scheinen sich also Lejeunes Pakt und seine jahrelange Beschäftigung mit der Autobiographie darauf zu konzentrieren, den eigenen Namen zu gewinnen, sich mit ihm zu identifizieren. Andererseits ist im Hinblick auf ›Lejeune‹ Vorsicht geboten. Schon Der autobiographische Pakt deutet an, daß das letzte Wort in puncto Autobiographie noch nicht gesprochen ist: »Letzten Endes erscheint mir diese Untersuchung selbst wieder eher als eine Studienvorlage – (Versuch eines Lesers aus dem 179 180 181

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Ebd. Mund: Mädchenname, Muttermal (Anm. 63), 279. Ebd., 271. Es ist mit Mund darauf hinzuweisen, daß diese Namensstruktur für einen beschränkten Kulturkreis gilt. Für andere Namenspraktiken vgl. ebd., 284ff. Xavier-Edouard Lejeune: Calicot. Hg. v. Michel u. Philippe Lejeune. Paris 1984; Philippe Lejeune: Moi aussi. Paris 1986.

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zwanzigsten Jahrhundert, seine Lektüremaßstäbe zu rationalisieren und zu erläutern) – denn als ein ›wissenschaftlicher‹ Text: als ein Dokument, das sich in das Dossier einer historischen Wissenschaft der literarischen Kommunikationsweisen eingliedern läßt.«183 Lejeune markiert mit dieser Formulierung nicht nur die Vorläufigkeit, die Historizität seiner Thesen, sondern markiert zugleich das ›ich‹ seines Textes als historisches Subjekt, das auf den Namen ›Philippe Lejeune‹ verweist. Schon zu Beginn von Der autobiographische Pakt hat Lejeune auf eigene, frühere Studien hingewiesen184 und dadurch das ›ich‹ des Textes gewissermaßen als autobiographisches markiert.185 So wie seine Autobiographie Moi aussi die Grenzen zwischen autobiographischem Schreiben und theoretischen Reflexionen über die Autobiographie gezielt verwischt, trägt auch Der autobiographische Pakt Züge einer Autobiographie – der Text wird lesbar als autobiographische Bestimmung der Autobiographie. In Lejeunes Thematisierung des Ghostwriters verschieben sich die im Pakt festgelegten Definitionselemente. Von Ghostwritern geschriebene Autobiographien, so Lejeune, »compete with books really written by the people who sign them. And they compete with them only because they are based on the same methods and perform the same function. They suddenly get the people who write to see their own practice in a distorting mirror: or rather the other side of their practice, its unthinkable side.« Von Ghostwritern verfaßte Autobiographien sind Imitationen der Autobiographie, aber: »[T]he imitation reveals the secrets of fabrication and functioning of the ›natural‹ product«.186 Die Imitation tritt in »Konkurrenz« zu dem Original, so Lejeune, insofern sie dessen eigene Produktionsbedingungen offenlegt. Die Identität, die durch die Autorsignatur gewährleistet sein soll, erscheint vor dem Hintergrund des Ghostwriting als eine Täuschung, als eine Verwechslung: »The device of the autobiographical contract results in facilitating a confusion between the author, the narrator, and the ›model‹ and in neutralizing the perception of the writing, in rendering it transparent. This fusion takes place in the autobiographical signature, at the level of the name on the title page of the book.«187 Sich der Autobiographie über die Figur des Ghostwriters

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Lejeune: Der autobiographische Pakt (Anm. 22), 50. »Läßt sich die Autobiographie definieren? / Ich habe in L’Autobiographie en France diesen Versuch unternommen, um dadurch ein kohärentes Korpus erstellen zu können.« (Ebd., 13.) Vgl. Philippe Lejeune: L’autobiographie en France. Paris 1971. Der Name des Autors kann zur Etablierung des Paktes in einer Autobiographie »wortwörtlich angegeben oder […] stillschweigend eingeführt werden, indem sich der Erzähler die Werke des Autors zuschreibt« (Lejeune: Der autobiographische Pakt (Anm. 22), 33). Lejeune: The Autobiography of Those Who Do Not Write (Anm. 4), 186. Ebd., 187.

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anzunähern, lenkt die Aufmerksamkeit auf die Schrift, die nicht mehr länger »transparent« bleiben kann.188 Der Ghostwriter interveniert unter der Bedingung, daß seine Intervention unsichtbar bleibt: Während die Vertragsunterzeichnung, der Name des Repräsentanten auf dem Titelblatt, als Betrug erscheinen könnte, wird die Illusion der Einheit des autobiographischen Subjekts, »the effect of unity inherent in the genre«, respektiert. Diese Möglichkeit der Intervention ist aber nur gegeben, darauf weist Lejeune ausdrücklich hin, weil sie auch für die selbstverfaßte Autobiographie vorausgesetzt werden kann: »We can divide the work in this way only because it is in fact always divided in this way, even when the people who are writing fail to recognize this, because they assume the different roles themselves. Anyone who decides to write his life story acts as if he were his own ghostwriter.«189 Damit ist der Pakt in seiner strengen Form jedoch aufgelöst. Der Autor ist nicht mehr die Figur, die als Rand oder Kippe des Textes die Referentialisierbarkeit herstellt und damit die Identität etabliert, sondern selber »a result of the contract«,190 der damit seine bindende Kraft verloren hat. ›Für Lejeune‹, ›nach Lejeune‹ oder ›so Lejeune‹ – Formulierungen, die ihrerseits eine Verbindung von Autorname und Aussage herstellen, die suggerieren, daß in den referierten und zitierten Textpassagen eine Position ausgemacht werden kann, die sich mit der Intention eines Autors, mit der Intention ›Lejeunes‹ deckt, als hätte die Signatur stattgefunden. Es wurde allerdings darauf hingewiesen, daß sich unter diesem Namen konträre Positionen versammeln, die ›von Lejeune‹ auf einer historischen Entwicklungslinie angeordnet werden. Ist also der spätere Aufsatz eine Korrektur der früheren, in Der autobiographische Pakt formulierten Position? Handelt es sich hierbei um eine Weiterentwicklung, die in der Lektüre dessen, was unter dem Namen ›Lejeune‹ veröffentlicht wurde, als abschließende oder ergänzende Überlegung gewertet werden muß?

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»The division of labour between two people (at least) reveals the multiplicity of authorities implied in the work of autobiographical writing, as in all writing. Far from imitating the unity of the authentic autobiography, it emphasizes its indirect and calculated character.« (Ebd., 188.) Diese Arbeitsteilung impliziert eine hierarchische Struktur, die sich unterschiedlich formiert. Lejeune beschreibt ausführlich, wie der Protagonist als ›Held‹ – es ließe sich reformulieren: als bereits berühmter Name – automatisch auch als ›Autor‹ auf dem Titelblatt eingesetzt wird. Anders verhält es sich bei den Protagonisten, die selber noch nicht als ›Helden‹ in Erscheinung getreten sind – hier findet sich eine Form des Ghostwriting, die sich mit Vorgehensweisen der Ethnologie und der Oral History deckt, in denen die vormals namenlosen Protagonisten durch den Schreiber, dessen Name in dominierender Position genannt wird, zur Sprache kommen. Ebd. Ebd.

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So falsch es ist, ›Lejeune‹ auf die formalistische Argumentation des Pakts zu reduzieren, so problematisch ist es, ihn mit der Auflösung des Pakts durch den Ghostwriter zu identifizieren. In der Spannung zwischen diesen beiden Positionen, zwischen der Herstellung von Identität über die Signatur und der Infragestellung der Signatur durch Textualität, wird die Iterabilität der Signatur virulent, die den Akt des Signierens ermöglicht und ihn in seiner identitätsstiftenden Funktion gleichzeitig aushöhlt. Gibt es also eine Position, die von ›Philippe Lejeune‹ signiert ist? In einer in einem Kapitel seiner Autobiographie formulierten Antwort auf die Kritiker, die ihm vorwerfen, Identität als Effekt der Autobiographie fälschlicherweise als Ursache genommen zu haben, entscheidet sich ›Lejeune‹ dagegen, zu seiner Verteidigung die eigenen späteren Thesen zu referieren. Stattdessen legt er ein ironisches Geständnis ab: »It’s better to get on with the confessions: yes, I have been fooled. I believe that we can promise to tell the truth; I believe in the transparency of language, and in the existence of a complete subject who expresses himself through it; I believe that my proper name guarantees my autonomy and my singularity (even though I have crossed several Philippe Lejeunes in my life); I believe that when I say ›I,‹ it is I who am speaking: I believe in the Holy Ghost of the first person.«191 Ironisch ist dieses Geständnis deshalb, weil es gerahmt wird durch verschiedene Hinweise auf den Illusionscharakter seiner Aussagen: »Telling the truth about the self, constituting the self as complete subject – it is a fantasy.«192 Damit das »Geständnis« möglich ist, damit es signiert ist, muß es voraussetzen, was es aussagt. Dieses Ausgesagte wird jedoch gleichzeitig widerrufen. Damit ähnelt Lejeunes Geständnis der Geste Derridas, der seinen Text Signatur, Ereignis, Kontext am Ende signiert, obwohl (oder gerade weil) darin die Unmöglichkeit der Signatur als Bedingung ihrer Möglichkeit formuliert worden ist. Das ›ich‹ in dem durch ›Lejeune‹ signierten Text weist darauf hin, daß es mit seinem Geständnis die Strategie des Autobiographischen Pakts wiederholt, die eigenen Aussagen dadurch zu relativieren, daß man sie als autobiographische, als vorläufige Überlegungen eines Lesers aus dem 20. Jahrhundert, markiert. Anstatt die ihm vorgeworfenen Fehler in eine verbesserte, umfassendere oder gar vollständige Definition der Autobiographie zu überführen, bestreitet ›Lejeune‹, daß dies in einem strengen Sinn möglich ist: »Undoubtedly self-criticism, like autobiography, is

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Philippe Lejeune: The Autobiographical Pact (bis). In: Ders.: On Autobiography (Anm. 4), 119-137, hier 131; der Text ist das erste Kapitel von Lejeunes Autobiographie Moi aussi, vgl. Lejeune: Moi aussi (Anm. 182), 1335. Lejeune: The Autobiographical Pact (bis) (Anm. 191), 131.

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an impossible undertaking. …«193 Die drei Punkte nach diesem Satz signalisieren die Unabschließbarkeit eines solchen Unternehmens. Mit dieser Geste der ›eigenen‹ Autobiographie überläßt ›Lejeune‹ den Akt der Signatur, die Bestimmung der Position wie ihre Lektüre, dem Leser: »I offer myself, to the scholar who criticized me perhaps, as a new object of science. Look at me: autobiography, it is I! As a result, my mistakes become facts to be studied: even if it’s on another level, you can’t get around what I have written. […] I allege a fundamental competence. I am one of the family; it is my native language.«194 Die Preisgabe der Kontrolle des Textes führt zu einer weiteren Signatur, die sich unweigerlich in den Reaktionen der Leser und Kritiker konstituiert. Wie die von ›Lejeune‹ signierte Autobiographie Moi aussi als Versuch der Namensgewinnung und -sicherung lesbar wird, so führt die Lektüre von und die Auseinandersetzung mit den wissenschaftlichen Positionen von ›Philippe Lejeune‹ zur Etablierung einer Signatur, die nicht mehr von ›Lejeune‹ selbst gesetzt wird. Indem er auf diesen doppelten Prozeß hinweist, indem er ihn in Szene setzt, hat sich ›Lejeune‹ bzw. das sprechende ›ich‹ seines Textes mit der Autobiographie identifiziert: »Look at me: autobiography, it is I!« Mit der zitierenden Abwandlung von Flauberts »Mme. Bovary – c’est moi!« weist sich ›Lejeune‹ als sein eigener Ghostwriter aus – denn der Ghostwriter »finds himself, like Flaubert facing Madame Bovary, in a sort of state of lyrical depersonalization.«195 Diese Depersonalisierung ist aber weder durch ›Philippe Lejeune‹ noch durch das ›ich‹ wieder einzuholen.

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Ebd., 134. Ebd. Lejeune: The Autobiography of Those Who Do Not Write (Anm. 4), 191.

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III. WESSEN AUTOBIOGRAPHIE? A L I C E B . TO K L A S / GE R T R U D E S T E I N Im Herbst 1932 arbeitete Gertrude Stein an zwei Büchern, von denen ihr eines schon ein Jahr später internationalen Ruhm einbringen sollte, während das andere erst zehn Jahre nach ihrem Tod veröffentlicht wurde. Bei diesen Büchern handelt es sich um The Autobiography of Alice B. Toklas und Stanzas in Meditation. In den Augen Steins waren die Stanzas das literarisch anspruchsvollere Projekt, an dem sie bereits seit 1929 geschrieben hatte und das auch 1932 noch nicht beendet war. Die Autobiography hingegen, so behauptete jedenfalls Stein, wurde als ein »joke«1 angefangen und in nur sechs Wochen fertiggestellt.2 Auch wenn sich inzwischen herausgestellt hat, daß der Zeitrahmen falsch angegeben ist, so bleibt doch festzuhalten, daß die Fertigstellung der Autobiography wesentlich weniger Zeit in Anspruch genommen hat als die der Stanzas.3 Steins irreführende Datierung ist ein weiteres Indiz für ihre unterschiedliche Bewertung der beiden Texte.4 Es war jedoch die Autobiography, die 1

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Gertrude Stein, Robert Bartlett Haas: A Transatlantic Interview 1946. In: Robert Bartlett Haas (Hg.): A Primer for the Gradual Understanding of Gertrude Stein. Los Angeles 1971, 13-35, hier 19. »If there had not been a beautiful and unusually dry October at Bilignin in France in nineteen thirty-two followed by an unusually dry and beautiful first two weeks of November would The Autobiography of Alice B. Toklas have been written. Possibly but probably not then.« (Gertrude Stein: Everybody’s Autobiography. Cambridge 1993, 9.) Während der Abschluß der Arbeit an der Autobiography anhand der Briefe an ihren Verleger auf den November datiert werden kann, ist eine genaue Datierung des Beginns bisher nicht möglich gewesen. Einigkeit herrscht allerdings darüber, daß dieser Zeitpunkt vor Oktober liegt: »Internal evidence in Stanzas suggests that Stein may have begun work on the Autobiography before October, perhaps as early as the spring of 1932.« (Ulla E. Dydo: Stanzas in Meditation: The Other Autobiography. In: Richard Kostelanetz (Hg.): Gertrude Stein Advanced. An Anthology of Criticism. Jefferson, London 1990, 112-127, hier 127.) »From various materials in the Yale archives, it is clear that Stein actually began The Autobiography of Alice B. Toklas in the early summer. Her reference to those six weeks in the fall is a smooth concealing maneuver.« (Gertrude Stein, Carl Van Vechten: The Letters of Gertrude Stein and Carl Van Vechten 1913-1946. Hg. v. Edward Burns. 2 Bde. New York 1986, 852.) Vgl. dazu ausführlich Dydo: Stanzas (Anm. 3); Richard Bridgman: Gertrude Stein in Pieces. New York 1970, 213-217.

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Gertrude Stein zu einer international bekannten Autorin machte.5 »The irony is that were it not for the attractiveness of the compromised Autobiography […] Stanzas in Meditation would never have been read.«6 Von Beginn an, schon vor der ersten Veröffentlichung, sind die Reaktionen auf die Autobiography auf die eine oder andere Weise durch die Frage nach ihrer Autorschaft irritiert. »I did a tour de force with the Autobiography of Alice B. Toklas,« erzählt Stein in einem Interview, »and when I sent the first half to the agent, they sent back a telegram to see which one of us had written it!«7 Noch Jahrzehnte später, lange nachdem die Anonymität der Erstausgabe aufgehoben und längst nachdem Gertrude Steins Name als Autorname auf dem Titelblatt zu finden war, haben unterschiedliche Lektüren der Autobiography das Problem der Autorschaft immer wieder adressiert. Dieses Thema insistiert im literarischen und literaturwissenschaftlichen Diskurs als Frage danach, wer die Autobiography ›wirklich‹ geschrieben hat, als Frage nach einer möglichen Zusammenarbeit von Gertrude Stein und Alice B. Toklas und als Frage nach dem Verhältnis von Autorin und Erzählstimme. Der erste Teil des vorliegenden Kapitels, Erzählen schreiben: Wer schreibt? Wer spricht?, wird diese Debatten verfolgen. 1974 erschien im Lost Generation Journal ein kurzer Artikel von George Wickes, der den obsessiven Charakter dieses Insistierens mit der Frage: Who really wrote ›The Autobiography of Alice B. Toklas‹? auf die Spitze trieb.8 In der Forschungsliteratur blieb dieser Text nahezu vollständig unberücksichtigt und das, obwohl er eine Aussage von Alice B. Toklas’ zitiert, die einer »Enthüllung«9 gleichzukommen scheint: »›You see,‹ she said, ›I wrote the Autobiography in the first place.‹«10 Erst aufgrund der Schwierigkeiten, die sie mit dem Schreiben gehabt habe, so erzählt Toklas in Wickes Text, sei Stein in die Arbeit miteingestiegen: »She [Alice] knew what she wanted to put in the book all right, but it 5

Für Stein mag dies wenig überraschend gewesen sein, unterschied sie doch unter den Begriffen »Identität« und »Entität« zwei Formen des Schreibens, von denen das erste als »Audience Writing« und das zweite als »Really Writing« eingeordnet wurde (Haas: A Primer for the Gradual Understanding (Anm. 1), 111-123). Die Autobiography zählte sie in die erste, die Stanzas in die zweite Kategorie. 6 Bridgman: Gertrude Stein (Anm. 4), 217. 7 Stein, Haas: A Transatlantic Interview (Anm. 1), 19. 8 George Wickes: Who really wrote The Autobiography of Alice B. Toklas? In: Lost Generation Journal 2 (1974), 36-37. 9 Monika Hoffmann ist eine der wenigen, die auf Wickes hinweist und ihn zitiert, allerdings ohne die Glaubwürdigkeit seiner Behauptungen zu diskutieren. Ihre Beschreibung des Textes als »Enthüllung« ist jedoch ein Indiz dafür, daß sie sie für glaubwürdig hält. Vgl. Monika Hoffmann: Gertrude Steins Autobiographien. The Autobiography of Alice B. Toklas und Everybody’s Autobiography. Frankfurt/M. u.a. 1992, 149. 10 Wickes: Who really wrote (Anm. 8), 37.

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was the writing that gave her trouble. Gertrude helped her as much as she could, at first revising what Alice had written, at last taking down Alice’s words and revising them as she went along. For that reason Alice said the book should be called The Autobiography of Alice B. Toklas by Gertrude Stein.«11 Die Autorenangabe »by Gertrude Stein« gehört in dieser Erzählung zum Namen des Buches (»should be called«), sie gehört zu seinem Titel, so daß man an dieser Stelle eigentlich hätte kursivieren müssen: The Autobiography of Alice B. Toklas by Gertrude Stein. Gertrude Stein ist nicht nur nicht die einzige Autorin des Buches, so die Behauptung des Textes, es wurde vielmehr von Toklas begonnen und dann in Kooperation mit Stein fortgesetzt, die eine korrigierende Funktion innehatte. Daß sich aus der Veröffentlichung dieses Bekenntnisses kein literarischer Skandal entwickelte, liegt schon darin begründet, daß Spekulationen über Toklas’ (Mit-)Autorschaft das Buch von Anfang an begleiteten. Daß aber fast niemand auf Wickes’ Artikel Bezug nahm, daß die darin enthaltenen Aufdeckungen nicht nur nicht für Wirbel sorgten, sondern einfach nicht zur Kenntnis genommen wurden, scheint erklärungsbedürftig. Und eine Erklärung ist schnell zu finden: Wickes’ Artikel setzt eine Reihe von Signalen, die den Status der in ihm getroffenen Aussagen zweifelhaft werden lassen, die ihn als Parodie einer Enthüllung ausweisen. So wartet Wickes, obwohl Toklas ihre ›Enthüllung‹ schon 1958 preisgegeben hat, bis 1974, um sie zu veröffentlichen, er äußert sich in diesem sehr kurzen Text ausführlich zum Küssen seiner bärtigen, nach Alter riechenden Großtanten, er weist gleich drei Mal auf das schlechte Gedächtnis von Toklas hin,12 er zitiert in ›Alice’s‹ Rede aus der Autobiography13 und nimmt auch Steins Behauptung wieder auf, das Buch sei als ein »joke« begonnen worden,14 er publiziert Toklas’ Eingeständnis in einer plaudernden, anekdotenhaften und amüsanten Zeitungsglosse im Lost 11 Ebd. 12 »Besides, she said, her memory wasn’t as good as it has been. […] I noticed during those visits that her memory was indeed fallible. […] ›The difficulty this time,‹ [beim Schreiben von What is remembered, H.V.] she said, ›was not the writing. It was remembering.‹« (Ebd.) 13 »She went on to explain that Gertrude Stein had been after her to write a book of memoirs to be called ›My 25 Years with Gertrude Stein.‹ Alice had raised all kinds of objections. ›I am fond of needlepoint and cooking,‹ she said. ›At the very most I was willing to do a cookbook.‹« (Ebd.) »Alice« erzählt in dieser Passage nichts, was nicht schon der Autobiography zu entnehmen wäre. Wickes schiebt die Verantwortung für dieses Manöver jedoch »Alice« zu: »She used to repeat some of the anecdotes that are in The Autobiography of Alice B. Toklas, not only forgetting that they had already appeared in print, but sometimes getting them wrong.« (Ebd.) Das Kochbuch hat Toklas tatsächlich geschrieben: Alice B. Toklas: The Alice B. Toklas Cook Book. New York 1954. 14 »At first this was just a little joke between them« (Wickes: Who really wrote (Anm. 8), 37). Der Witz bezieht sich hier jedoch auf den Titel »The Autobiography of Alice B. Toklas by Gertrude Stein« (ebd.).

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Generation Journal15 und nicht in seiner fünf Jahre zuvor erschienenen Studie Americans in Paris, die Gertrude Stein ein ganzes Kapitel widmet.16 Und schließlich übernimmt Wickes die Praxis der Autobiography, direkte Figuren-Rede durch die inquit-Formel einzuleiten. Er parodiert auf diese Weise zwei Erzählverfahren der Autobiography, d.h. die Erzählverfahren eines Textes, von dem er selbst sagt, er sei »more interested in telling a good story than telling the truth«.17 Es sind nicht zuletzt diese Erzählverfahren, die eine autoritativ gestützte Autorschaft der Autobiography immer wieder in Frage stellen, wie der zweite Teil des vorliegenden Kapitels, Erzählen erzählen: Toklas als Augen- und Ohrenzeugin, darlegen wird. Wickes Text liefert in seiner parodistischen Form jedoch eine Spur, die zu verfolgen für die Autorschaftsfrage der Autobiography vielversprechend erscheint: »Finally Gertrude offered to ghost-write the book, but Alice said no, it was to bear her name, she’d write it.«18 Der Ghostwriter als eine Figur, die ihren Namen zwar nennen, aber nicht als Autorsignatur etablieren kann,19 ermöglicht es, das Rätsel der Autorschaft, das die Lektüren der Autobiography immer wieder beschäftigt hat, neu in den Blick zu nehmen. Der dritte Teil dieses Kapitels, The UnMaking of Autorschaft: Ghostwriting Autobiography, beschreibt, wie sich Gertrude Stein in der Autobiography als Autorin (anderer Texte) konstituiert, dabei aber gleichzeitig die Frage der Signatur der Autobiography selbst offengehalten wird.

15 »This is not the most scholarly journal, but it does provide some flavorful reading that potentially could stimulate research ideas« – heißt es auf einer Homepage, die Material zur »Lost Generation« versammelt: http://www.ils.unc.edu/~kaisn/pathfind.html#journals (15.1.2003). 16 Das Kapitel Gertrude Stein, the Mother of Us All enthält drei Teile, von denen der eine mit dem Titel The Autobiography of Gertrude Stein and Alice B. Toklas überschrieben ist. Dort bemerkt Wickes lediglich: »[T]here is no doubt that she [Toklas, H.V.] contributed her share to the store of anecdotes and epigramms«. (George Wickes: Americans in Paris. Garden City 1969, 57.) Das Merkmal der Anekdotenhaftigkeit, das seinen eigenen Zeitungsartikel kennzeichnet, konstatiert Wickes als typisches Verfahren der Autobiography: »The Autobiography is simply a succession of anecdotes and remarks, moving by free association the way gossip moves, from one person or episode to another.« (Ebd., 56.) 17 Ebd., 53. 18 Wickes: Who really wrote (Anm. 8), 37. 19 Vgl. dazu Kapitel II.3.

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1. Erzählen schreiben: Wer schreibt? Wer spricht? Als The Autobiography of Alice B. Toklas nach einem Vorabdruck in Atlantic Monthly 1933 zum ersten Mal vollständig erschien,20 war weder auf dem Buchrücken noch auf der Titelseite im Inneren des Buches noch im ›Impressum‹ eine Autoren-Angabe zu finden. Der grau-blaue Leineneinband zeigt auf der Vorderseite eine hellgraue Schrift, in der der Satz »ROSE IS A ROSE IS A ROSE IS A ROSE.« in Form eines Ringes eingeprägt ist. Schlägt man das Buch auf, so findet sich nach dem Vorsatzblatt auf der linken Seite ein Foto mit der Unterzeile – »Alice B. Toklas at the door, photograph by Man Ray«. Auf der gegenüberliegenden Seite ist das eigentliche Titelblatt, das neben dem Titel auf die Bebilderung des Bandes hinweist, »ILLUSTRATED«, und Verlag und Erscheinungsort nennt, »Harcourt, Brace and Company / New York« (Abb. 1). Im Buch finden sich sechzehn Photographien von Personen, Räumen, Bildern und auf der letzten Seite eine Photographie der ersten Seite des handschriftlichen Manuskriptes der Autobiography (Abb. 2).21 Spätere Ausgaben der Autobiography weichen von dieser Veröffentlichungsform stark ab. Sie verzichten auf die illustrierenden Photos, wählen andere Photos als Titelbild und nennen Gertrude Stein als Autorin.22 Auch wenn deshalb inzwischen üblicherweise und allem Anschein nach auch richtigerweise davon ausgegangen wird, daß Gertrude Stein die Autorin der Erstausgabe ist, stößt man hin und wieder auf anders lautende Behauptungen. So gibt es immer wieder Antiquariate, die Alice B. Toklas als Autorin verzeichnen23 und auch der Katalog der Universitätsbibliothek München nennt Alice B. Toklas als Autorin der Autobiography.24 20 The Autobiography of Alice B. Toklas. New York 1933. (Im folgenden im Text zitiert als A und Seitenangabe.) Auszüge sind vorab erschienen in: Atlantic Monthly 151.5 (1933), 513-527. 21 Für eine detaillierte Analyse der Photos vgl. Paul K. Alkon: Visual Rhetoric in The Autobiography of Alice B. Toklas. In: Critical Inquiry 1.4 (1975), 849-881. 22 Gertrude Stein: The Autobiography of Alice B. Toklas. Harmondsworth 1966. (Im folgenden im Text zitiert als AS und Seitenangabe.) Das Titelphoto dieser Taschenbuch-Ausgabe ist ein Photo von Cecil Beaton, das Gertrude Stein und Alice B. Toklas zu einem späteren Zeitpunkt zeigt. 23 Walter Markov in Bonn hatte folgendes Buch im Angebot: »Toklas, Alice B.: The Autobiography of Alice B. Toklas. New York, Harcourt, 1933, 1. Aufl., 311 S., 16 Fotos; OLn., sehr guter Zustand [Bestll-Nr 13143]. Alice Toklas gehörte zum engsten Kreis um Gertrude Stein und die amerikanische Schriftstellergemeinde in Paris. Die Fotos stammen z.T. von Man Ray.« Das Buch wurde über das Zentrale Verzeichnis Antiquarischer Bücher (http://www.zvab.de) angeboten, inzwischen ist es verkauft. 24 Autor/Hrsg.: Toklas, Alice B. Titel-Stichwort: The autobiography of Alice B. Toklas Schlagwort (dt.): Stein, Gertrude / The autobiography of Alice B. Toklas Vgl. den Eintrag unter http://www.ub.uni-muenchen.de

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Zusammengenommen ergeben sich drei zu findende Varianten der Autornennung: The Autobiography of Alice B. Toklas mit Alice B. Toklas als Autorin, mit Gertrude Stein als Autorin und ohne Autorennennung. Nun kann man mit guten Gründen vermuten, daß es sich bei den Einträgen des Antiquariats und der Universitätsbibliothek um Fehler handelt, daß die Autorinnen-Angabe falsch ist, daß Gertrude Stein statt Alice B. Toklas hätte genannt werden müssen. Die Fehler lassen sich jedoch als Effekte des autobiographischen Pakts verstehen, wie ihn Philippe Lejeune als Gattungsdefinition der Autobiographie vorgeschlagen hat.25 In der Terminologie Lejeunes weist der Titel The Autobiography of Alice B. Toklas das Buch implizit als von Alice B. Toklas geschriebenes aus. Nach Lejeune läßt sich die »Namensidentität zwischen Autor, Erzähler und Protagonist« auf zwei Arten herstellen: Einerseits über eine explizite Selbstbenennung des Ich-Erzählers, andererseits implizit »auf der Ebene der Verbindung Autor-Erzähler«. Der Erzähler kann in einer Vorrede den Ich-Erzähler so einführen, daß seine Identität mit dem Autor deutlich wird, auch wenn er nicht benannt wird. Die zweite implizite Möglichkeit, die Identitätsforderung ohne Namensnennung zu erfüllen, besteht darin, ein Buch schon auf dem Titel als Autobiographie zu kennzeichnen: »[D]ie Verwendung von Titeln läßt keinen Zweifel darüber, daß die erste Person auf den Namen des Autors verweist (Geschichte meines Lebens, Autobiographie usw.)«.26 Indem also der Titel behauptet, die Autobiographie von Alice B. Toklas27 zu sein, wird dieses »von« im Rahmen des autobiographischen Pakts und der durch ihn bewirkten Erwartungshaltung28 in doppelter Weise lesbar – als Autobiographie, die

25 Vgl. dazu ausführlich Kapitel I.2 und II.3. 26 Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt. Frankfurt/M. 1994, 28. 27 So lautet der Titel der deutschen Übersetzung. Gertrude Stein: Autobiographie von Alice B. Toklas. München 1993. 28 Gerade weil der autobiographische Pakt dem Leser die Identität von Autor, Protagonist und Erzähler vertraglich zusichert, eröffnet er einen Raum der Spekulationen über die tatsächliche Wahrhaftigkeit des Erzählten: »Die Bedeutung des Vertrags geht auch daraus hervor, daß er tatsächlich die Haltung des Lesers bestimmt: Wird die Identität nicht behauptet (im Fall der Fiktion), so wird der Leser gegen den Willen des Autors versuchen, Ähnlichkeiten herzustellen; wird sie behauptet (Fall der Autobiographie), so wird er eher nach Unterschieden (Irrtümern, Entstellungen usw.) suchen wollen.« (Lejeune: Der autobiographische Pakt (Anm. 26), 28.) Daher kann die Autobiographie – anders als die Fiktion – lügen. Daß sie eine ganze Reihe von Lügen, Ungenauigkeiten und Fehlern enthält, wurde der Autobiography of Alice B. Toklas immer wieder und von verschiedenen Seiten vorgeworfen. Eugene und Maria Jolas sammelten Beiträge von Matisse, Braque, André Salmon und Tristan Tzara für ein Testimony against Gertrude Stein: Eugene Jolas u.a.: Testimony against Gertrude Stein. In: Transition Pamphlet 1 (1935). Auch Gertrude Steins Bruder Leo hat sich vehement dazu geäußert: Leo Stein: Journey into the Self. Hg. v. Edmund Fuller. New York 1950, 134. Zum Verhältnis von Autobiographie und Lüge vgl. Timothy Dow Adams: Gertrude Stein. »She Will

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von Alice B. Toklas handelt, und als Autobiographie, die von Alice B. Toklas geschrieben wurde. Bei Lejeune erfüllt sich der Pakt durch die Kombination von Autorname und Titel (Autobiography). Im vorliegenden Fall scheint das Auftauchen des Namens Alice B. Toklas im Titel in Verbindung mit der Gattungsbezeichnung auszureichen, um auf Toklas als Autorin rückschließen zu können. Der Gattungskonvention entsprechend müßte die Ich-Erzählerin mit der Autorin identisch sein. Wird keine Autorin genannt, so ergibt sich folgerichtig, daß Alice B. Toklas die Autorin ihrer Autobiographie sein muß, damit diese ihren Titel zu Recht, d.h. den Pakt erfüllend, trägt. In diesem Sinne bestätigen die fehlerhaften Autorinnen-Nennungen nur die Macht des Pakts, der auch dann Geltung beansprucht – hier in der Frage: Wer hat geschrieben? –, wenn er offensichtlich, wie sich bei genauerer Lektüre der Autobiography zeigt, gebrochen wird. Im Sinne des Pakts aber wäre Alice B. Toklas die richtige Autorin. In der Rezeptionsgeschichte der Autobiography hat sich diese Problemkonstellation in einer Reihe von Fragen niedergeschlagen, die auf die eine oder andere Weise um die Person Alice B. Toklas und den schwierigen Status der Autorschaft kreisen. Die Unklarheit der Autorschaft zog sogar die Frage nach sich, ob es sich bei ›Alice B. Toklas‹ womöglich nur um eine literarische Figur handelt. »When a portion of the autobiography was printed in the Atlantic Monthly without any comment from the editors about the actual author, some readers assumed that Alice Toklas was a totally fictional person, including a New York Times reporter who, visiting the rue de Fleurus, was happy to find Alice Toklas ›a very real and efficient personality‹«.29 Nachdem einmal festgestellt werden konnte, daß es Toklas tatsächlich gab, drängte sich die Frage auf, welchen Anteil sie an der Autobiographie hatte. Tatsächlich haben sich zeitgenössische Leser diese Frage gestellt,30 da der Stil der Autobiography beträchtlich abweicht von den Texten, die bisher unter dem Namen Gertrude Stein erschienen waren. Nicht nur klingt die Autobiography nicht nach Gertrude Stein, vielmehr scheint in ihr der besondere Sprachstil von Alice B. Toklas exakt getroffen: »So closely did Gertrude capture Alice’s style that friends could almost hear her gritty voice de-

Be Me When This You See«. In: Ders.: Telling LIES in Modern American Autobiography. Chapel Hill, London 1990, 17-38. 29 Ebd., 23. Anders gesagt: »If Alice B. Toklas had not existed, it would have been necessary to invent her.« (Wickes: Americans in Paris (Anm. 8), 57.) 30 Manche gingen ganz selbstverständlich davon aus, daß Toklas die Autorin sein müsse, wie Linda Simon in ihrer Biographie von Toklas bemerkt: »One offended reader [Thomas Beer, H.V.] retaliated in an article dedicated specifically to Alice.« (Linda Simon: The Biography of Alice B. Toklas. Garden City 1977, 152.)

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liver gossip with mischievous pleasure.«31 Diese Ähnlichkeit zwischen der Person Alice B. Toklas und der Ich-Erzählerin der Autobiographie wurde immer wieder als Indiz einer Beteiligung von Toklas am Schreiben Steins herangezogen.32 Wurde Toklas mit diesem Verdacht konfrontiert, wies sie ihn jedoch weit von sich: »One way to rile Miss Toklas […] is to tell her you suspect her touch in the Stein genius, though it is of course a quite natural suspicion for which Miss Toklas should blame, not her admirers, but Miss Stein herself, author of the Toklas Autobiography; and for that matter, the better you knew them, the more you wondered whose light was being hidden under whose bushel.«33 Toklas hat jede Unterstellung der Mitarbeit bestritten; auch in einem Interview von 1952, sechs Jahre nach Steins Tod, gibt sie nur zu, ein bißchen Erinnerungshilfe für die Autobiography geleistet zu haben: »No, the only things I helped her with were the two incidents which she should have mentioned... and which she had forgotten really«.34 Eine Möglichkeit, dem Verdacht der Mit-Autorschaft von Toklas nachzugehen, ist dessen positivistische Überprüfung anhand der Manuskripte der Autobiography, wie sie Richard Bridgman in Gertrude Stein in Pieces unternommen hat. »The extent to which Alice Toklas participated in Gertrude Stein’s compositions can only be settled after thorough study of all the manuscripts held at Yale.«35 Für Ada kommt Bridgman zu dem Schluß, daß es sich hier wahrscheinlich um einen »collaborative

31 Ebd., 150. 32 Auch die Ähnlichkeit zwischen der Autobiography und Alice B. Toklas »eigener« Autobiographie What is remembered (San Francisco 1985) und The Alice B. Toklas Cookbook (Anm. 13) wurde als Argument ins Spiel gebracht: »The tart economy of the Autobiography can be found only in one other book – Alice Toklas’s own memoirs, What is remembered.« (Bridgman: Gertrude Stein (Anm. 4), 213.) In einer detaillierten Stilanalyse dieser beiden Bücher im Vergleich zur Autobiography hat Monika Hoffmann jedoch inzwischen gezeigt, daß diese Ähnlichkeit nur als ein sehr vorläufiger Lektüreeindruck entstehen kann, der sich bei genauerem Hinsehen auflöst (vgl. Hoffmann: Gertrude Steins Autobiographien (Anm. 9), 179-188). Aber selbst aus einer potentiell bestehenden Ähnlichkeit ist ein Argument für Toklas’ Autorschaft hinsichtlich der Autobiography nicht zu gewinnen. Insofern diese beiden Texte historisch nach der Autobiography erschienen sind, könnte die Ähnlichkeit das Ergebnis einer versuchten Annäherung an die einmal etablierte Stimme sein. 33 W.G. Rogers: When this you see remember me. Gertrude Stein in Person. Westport ²1971, 33. 34 Roland E. Duncan: An Interview with Alice Toklas in Paris on 28-29 November 1952. Bancroft Library, University of California, Berkeley. Eight tapes and a transcript, 85. Zitiert nach: Bridgmann: Gertrude Stein (Anm. 4), 210. 35 Ebd. Für eine ausführliche, auf Fragen der Produktionsästhetik konzentrierte Analyse der Notizen Steins vgl. Ulla Dydo with William Rice: Gertrude Stein: The Language That Rises. 1923-34. Evanston 2003. Hinsichtlich der Autorschaft der Autobiography kommt Dydo zu dem gleichen Ergebnis wie Bridgman.

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effort«36 handelt, dessen Ausmaß jedoch in der Autobiography verschwiegen wird: »In the story Ada in Geography and Plays Gertrude Stein has given a very good description of me as I was at that time.« (A 4, AS 8)37 Bridgman sieht die Doppel-Autorschaft in diesem Fall allerdings nicht dadurch motiviert, daß es sich bei Ada um ein Toklas-Porträt handelt, sondern gibt eine biographisch-psychologische Erklärung: »She had already typed hundreds of pages of Gertrude Stein’s work by this time, and was now perhaps being rewarded with the opportunity of trying her own hand at creation.« Die Notizen, die im Manuskript von Toklas’ Hand stammen, zeigen, so Bridgman, daß sie »clearly an apt mimic« war: »In effect, after Alice sketched her life in a version of Gertrude Stein’s style, then Gertrude Stein entered to praise this Ada who had been telling charming stories to ›some one‹.«38 Im Gegensatz zu Ada jedoch sind Bridgmans Ergebnisse für die Autobiography dürftig: »The physical evidence indicates that The Autobiography of Alice B. Toklas was written by Gertrude Stein alone, with few hesitations or changes.«39 Die Anmerkungen, die im Manuskript der Autobiography von Toklas mit rotem Bleistift gemacht wurden, beschränken sich auf unlesbare Stellen und die historische Exaktheit des Beschriebenen in einigen wenigen Einzelfällen. Eine dieser Korrekturen betrifft Gertrude Steins Schreiben: Toklas kommentiert Steins Aussage, sie habe die Fahnen von The Making of Americans alleine geprüft, mit der Notiz »Never« am Rand. Die allzu euphorische Einschätzung, sie, Toklas, habe jede Minute des Abtippens dieses Manuskripts genossen, streicht sie aus. Stein hat jedoch mit Ausnahme einer scheinbar beiläufigen Kleinigkeit keine dieser Änderungsvorschläge oder Anmerkungen übernommen. Korrigiert wurde auf Toklas’ Vorschlag hin nur »the cost of Fernande Olivier’s perfume«.40 Daß die Richtigstellungen für den Druck nicht berücksichtigt wurden, zeigt auch, daß es der Autobiography nicht in erster Linie um historische Wahrheit geht. Bridgmans positivistische Bestimmung von Toklas’ Anteil an der Autobiography stößt jedoch an Grenzen. In einem anderen Fall, A Novel of Thank You, hatte er die Möglichkeit erwogen, daß die von ihm gefundenen Notizen in Toklas’ Handschrift vielleicht kein ausreichender Beweis seien, um Toklas als Autorin dieser Sätze auszuweisen. Es bestehe auch die Möglichkeit, so Bridgman, daß Toklas an diesen Stellen das 36 Ebd. 37 In der Autobiography werden Titelnennungen in der Regel durch Großbuchstaben zu Beginn des Titels vom restlichen Text ohne weitere Hervorhebungen abgesetzt. 38 Alle Zitate ebd., 211. 39 Ebd., 212. 40 Ebd.

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Diktat Steins aufgenommen habe.41 Wenn nun aber die Tatsache, daß sich im Manuskript von Ada und A Novel of Thank You längere Passagen in Toklas’ Handschrift finden, heißen kann, daß Stein diktierte, warum sollte man im Fall der Autobiography nicht den Verdacht äußern können, daß auch die Handschrift von Stein eventuell die Notation eines Diktats von Toklas sein könnte? Dieser Gedanke wird zumindest als LektüreEffekt hervorgerufen: »The stories were written as though Alice dictated them, with her deadpan humor and acerbic comments.«42 Selbst wenn die Option, daß Toklas tatsächlich diktiert hat, ausgeschlossen werden kann, blieb für die zeitgenössischen Leser, die sie kannten, der Eindruck »als ob«.43 Dieser Eindruck scheint bewußt herbeigeführt worden zu sein. Bridgman findet neben dem Manuskript der Autobiography ein paar ihm vorangehende Notizbücher Gertrude Steins, in denen er verschiedene »falsche« Anfänge der Autobiographie entdeckt. »They are false, that is, if compared to Alice Toklas who appears in the book. Otherwise they are altogether characteristic of Gertrude Stein«.44 Im Manuskript sind diese Stellen nicht mehr zu finden. Ob zwischen Notizbuch und Manuskript weitere Arbeitsstadien liegen, kann nicht mehr festgestellt werden. ›Falsch‹ oder nicht, so ist doch auffällig, wie sehr die frühen Notizen von der Endfassung abweichen: »I myself have no liking for violence«, heißt es im Notizheft wie auch zu Beginn des dritten Abschnitts der publizierten Autobiography. Doch während die Notizen eine repetitive Struktur von have/had prozessieren – »I have had that I have what I have and I always have as I always will had to have that which I have«45 –, mithin der Ich-Erzählerin die Stimme zur Schrift gerät, nutzt die Autobiography 41 »A Novel of Thank You, it may be remembered, was a book-length work of 1925, which gratefully celebrated the return of a strayed partner to the domestic fold. It contains some nine lengthy passages in the hand of Alice Toklas. While it is possible that she was merely taking dictation from Gertrude Stein, it is more reasonable to conclude that she actually participated in creating this account of a reconciliation.« (Ebd., 211.) Wie an dieser Stelle, bleibt die Argumentation Bridgmans manche Begründungen schuldig – warum ist es einsichtiger, daß Toklas selbst geschrieben hat? 42 Simon: The Biography (Anm. 30), 150. Vgl. auch Wickes: »Gertrude Stein is doing the writing, but Alice Toklas is narrating; one even feels at times that she is dictating and that Gertrude Stein is her amanuensis.« (Wickes: Americans in Paris (Anm. 16), 57.) 43 Für Julia Watson ist gerade dieser Effekt ein Argument gegen eine mögliche Autorschaft Toklas’: »Too, it is a work of voices. One has only to read the first page to discover the cadences of Alice’s voice – the sentences either clipped or in rolling periods, the syntax precisely relational, the definiteness of naming – to realize that The Autobiography of Alice B. Toklas has to be a work of otherness; that is, no one could write of herself with such consciousness of her own unself-consciousness.« (Julia Watson: Shadowed Presence: Modern Women Writer’s Autobiographies and the Other. In: James Olney (Hg.): Studies in Autobiography. New York 1988, 180-189, hier 185.) 44 Bridgman: Gertrude Stein (Anm. 4), 212. 45 Zitiert nach Dydo: Stanzas (Anm. 3), 123.

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den ersten Teil des Satzes, um von dort aus eine erste Charakteristik der Erzählerin zu entwerfen: »I myself have had no liking for violence and have always enjoyed the pleasures of needlework and gardening. I am fond of paintings, furniture, tapestry, houses and flowers even vegetables and fruit-trees. I like a view but I like to sit with my back turned to it.« (A 3, AS 7). Festzuhalten bleibt, daß die Autobiography darauf zielt, so zu klingen, als spräche Toklas. So wie sie als Erzählerin der Autobiography figuriert, gilt Toklas auch als die Geschichtenerzählerin in der Rue de Fleurus: »Every story in it is told as if Alice herself had always told it.« So Virgil Thomson, der zwei entgegengesetzte Erzählökonomien ausmacht: Das Prinzip der Stein’schen Erzählungen sei »expansion through repetition«,46 Toklas’ Prinzip hingegen »condensation«, »brevity« und »compactness«.47 Während Stein – nicht ohne Grund – immer drohe, den Faden zu verlieren, indem sie »first repetitive and then uncertain« werde, sei es Toklas’ Eingreifen, das aus dem Erzählten eine Geschichte forme: »Alice would look up […] and say, ›I’m sorry, Lovey; it wasn’t like that at all.‹ ›All right, Pussy,‹ Gertrude would say. ›You tell it.‹ Every story that ever came into the house eventually got told in Alice’s way.«48 Ohne die Autorschaft Steins zu problematisieren, kommt Thomson daher dennoch zu dem Schluß, daß die Autobiography Toklas zuzuschreiben ist: 46 Vgl. dazu auch: Eckhard Lobsien: Gertrude Steins Poetik der Wiederholung. In: Carola Hilmes, Dietrich Mathy (Hg.): Dasselbe noch einmal. Die Ästhetik der Wiederholung. Opladen, Wiesbaden 1998, 121-134. 47 Virgil Thomson: Virgil Thomson. London 1967, 176. Als Beispiel für Toklas’ charakteristische Weise des Erzählens nennt Thomson paradoxerweise eine Stelle aus Ada, in der er Toklas’ Mündlichkeit nachgeahmt sieht: »He had a happy life while he was living and after he was dead his wife and children remembered him.« (Gertrude Stein: Ada. In: Dies.: Geography and Plays. Madison 1993, 14-16, hier 14.) Die Tatsache, daß das Beispiel ausgerechnet aus Ada entnommen ist, eröffnet jedoch die Möglichkeit, daß Thomsons Charakterisierung von Toklas als Geschichten-Erzählerin ihrerseits literarisch induziert ist – denn schließlich wird Ada als jemand porträtiert, die es liebt, Geschichten zu hören und zu erzählen. Die Liebesbeziehung zwischen Ada und »some one« wird als Relation von Erzählen und Zuhören gezeigt: »She was telling some one, who was loving every story that was charming. Some one who was living was almost always listening. Some one who was loving was almost always listening. That one who was loving was almost always listening.« (Ebd. 16.) In Ada wird die Struktur von Erzählen/Zuhören variiert, d.h. die Zuhörerin wird zur Erzählerin und damit das mono-direktionale SenderEmpfänger-Modell aufgelöst. Die Zuhörerin wird zur Erzählerin und umgekehrt: »That one who was loving was telling about being one then listening. That one being loving was then telling stories having a beginning and a middle and an ending. That one was then one always completely listening. Ada was then one and all her living then one completely telling stories that were charming, completely listening to stories having a beginning and a middle and an ending. Trembling was all living, living was all loving, some one was then the other one.« (Ebd.) 48 Thomson: Virgil Thomson (Anm. 47), 177.

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»In every way except actual authorship the Autobiography was Alice Toklas’ book; it reflects her mind, her language, her private view of Gertrude, also her unique narrative powers.«49 Diese Einschätzung teilt auch Ulla Dydo: »The Autobiography of Alice B. Toklas is Alice’s book, written in her voice, her style, and her name«.50 Das Verhältnis von Alice B. Toklas und Gertrude Stein als Opposition von Stimme versus Schrift gestaltet sich jedoch zunehmend komplizierter, wenn man weitere Zeitzeugen heranzieht. »It has been said that the writing takes on very much Miss Toklas’s conversational style, and while this is true the style is still a variant of Miss Stein’s conversational style, for she had about the same way with an anecdote or a sly observation in talking as Miss Toklas has. She usually insisted that writing is an entirely different thing from talking, and it is part of the miracle of this little scheme of objectification that she could by way of imitating Miss Toklas put in writing something of her beautiful conversation.«51 Während also ein Teil der Leser Toklas mit Stimme bzw. Mündlichkeit identifiziert und Stein mit Schrift, wird hier eine Differenz zwischen der Sprech- und Schreibweise Steins markiert. Das, was andere Leser als typisches Kennzeichen von Toklas ausmachen zu können glauben, erscheint in der Einschätzung Donald Sutherlands nur als typisch für die Redeweise beider Frauen im Gegensatz zur Schreibweise Steins. Laut Sutherland ergibt sich für Stein durch die Übertragung der Stimme auf Toklas allerdings die Möglichkeit, ihre eigene Maxime, »that writing is an entirely different thing from talking«, zu umgehen und in der IchErzählerin »a figure of her self, […] a twin, a Doppelgänger« zu inszenieren.52 Wichtiger aber als dieser Versuch des Abgleichens von Ähnlichkeiten zwischen Text und Person, ist der daraus zu entnehmende Hinweis auf die Schrift als Medium, in der sich die Form Mündlichkeit bildet. Die Mündlichkeit der Autobiography, die Toklas und/oder Stein erkennbar zu machen scheint, ist zu allererst ein Effekt der Schreibwei-

49 Ebd., 176. Gerade daß Stein im Zentrum der Autobiography steht, macht sie für S.C. Neumann zu einer ›authentischen‹ Autobiographie von Toklas: »This focus of Toklas’s [auf Stein, H.V.] defines both the appropriateness and the limitations of her ostensible authorship. Because she made Stein so entirely the centre of her life, the autobiography is, in a real psychological sense, Alice’s. If Alice Toklas had written the book, we would expect much the same focus.« (S.C. Neumann: Gertrude Stein. Autobiography and the Problem of Narration. Victoria 1979, 29.) 50 Dydo: Stanzas (Anm. 3), 122. 51 Donald Sutherland: Gertrude Stein: A Biography of her Work. New Haven 1951, 148f. Zitiert nach Adams: Telling LIES (Anm. 28), 23. 52 Ebd.

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se53 – einer Schreibweise, die sich zudem an der Tradition der Salonliteratur orientiert.54 Offenbar gelingt es dem geschriebenen Text der Autobiography, eine Form der Mündlichkeit zu inszenieren, deren Vergleichbarkeit mit der Person Alice B. Toklas immer wieder zu Spekulationen Anlaß gegeben hat, die das Problem der Autorschaft betreffen. Autorschaft wurde hier im Rückgriff auf eine angenommene Relation der Ähnlichkeit zwischen der literarischen Figur als Erzählerin und der realen Person abgeleitet. Gespräch bzw. Autobiographie wären diesem Modell nach nur zwei Ausdrucksformen der einen Person Alice B. Toklas. Es ist jedoch genau dieses Modell von Autorschaft als Ausdruck, das in seiner für die traditionelle Autobiographie-Diskussion konstitutiven Funktion von der Autobiography permanent distanziert wird. Anstatt eine gesicherte Autorschaft zu etablieren, wird die Frage nach der Signatur der Autobiography immer wieder aufgeworfen, um sie letztlich nicht zu beantworten. An die Stelle einer oder auch zweier Autorinnen, an die Stelle einer Signatur, die einen autobiographischen Pakt im Sinne Lejeunes besiegeln würde, tritt ein Ghostwriter, der die Stimme einer Ich-Erzählerin etabliert, ohne den Text zu signieren. Die angeführten Diskussionen haben mit der Gegenüberstellung von Schrift und Stimme bereits ein zentrales Merkmal des Ghostwriting ins Spiel gebracht. Die Autobiography of Alice B. Toklas führt performativ vor, wie sich eine Autobiographie als Ghostwriting konstituiert. Die Spekulationen um die ›wahre‹ Autorschaft sind die Reaktion darauf, daß der Text in wesentlicher Weise nicht signiert wird. Die Erstausgabe der Autobiography of Alice B. Toklas trägt dem Rechnung, insofern sie auf eine Autorenangabe verzichtet. Strenggenommen handelt es sich hier um einen anderen Text: The Autobiography of Alice B. Toklas ist nicht das gleiche Buch wie Gertrude Steins The Autobiography of Alice B. Toklas. Der Verzicht auf die Autorennennung in der ersten Ausgabe ist wesentlicher Bestandteil der Autobiography – als Spiel mit den Erwartungen der Leser. Allerdings hat auch die Namensnennung bei den späteren Ausgaben nicht dazu geführt, daß die Frage der Autorschaft zur Ruhe gekommen ist, wie die langjährige Diskussion zeigt. Wer geschrie-

53 »Moreover, the book’s style blends the domestic particularity, whimsical humor, and ironic precision of Toklas with some of the leading features of Stein’s writing – e.g., stylized repetition, digression, a language that continually points up to its own artifice. The reader is not certain who it is he is listening to; nor is he meant to be.« (James E. Breslin: Gertrude Stein and the Problems of Autobiography. In: Michael J. Hoffmann (Hg.) : Critical Essays on Gertrude Stein. Boston 1986, 149-159, hier 152.) 54 Vgl. dazu: Ulla Haselstein: »She Will Be Me When This You See«. Gertrude Stein und Alice B. Toklas. In: Annegret Heitmann, Sigrid Nieberle, Barbara Schaff, Sabine Schülting (Hg.): Bi-Textualität. Inszenierungen des Paares. Ein Buch für Ina Schabert. Berlin 2001, 77-91, hier 86f.

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ben hat, bleibt im Dunkeln, während der Text zur Bühne einer IchErzählerin wird, deren Stimme sich als eine spezifische Schreibweise des Mündlichen generiert. Neben der regelmäßig wiederkehrenden Thematisierung der Problematik der Autorschaft läßt sich in der Forschungsliteratur ein weiteres Thema ausmachen, dessen auffälliges Insistieren von der AutorinnenFrage nicht zu trennen ist: Es handelt sich um die These, daß die Autobiography lediglich ein Kunstgriff Steins sei, sich selbst durch das Einsetzen von Toklas als Erzählerin unverdächtig als Genie zu beschreiben. Diese ›Trick‹-Argumentation begleitet die Lektüren der Autobiography von Anfang an, sie findet sich mit leichten Abweichungen in vielen Untersuchungen und ist damit selbst in gewisser Weise autorlos geworden. Ein paar Beispiele: In Adams’ Formulierung heißt es: »If she were to name herself a genius directly, she would be an egomaniac; however for ›Gertrude Stein,‹ a literary character, to call herself a genius through the persona of ›Alice B. Toklas,‹ another literary character, is apparently egomania twice removed.«55 Philippe Lejeune sieht in der Autobiography eine »self-hagiography«, die auf humorvolle Weise erlaubt, sich selbst ein Loblied zu singen, das es den Lesern nicht ermöglicht »to accuse you of obvious pride«.56 Sidonie Smith hält die Perspektivierung durch Alice B. Toklas für eine Möglichkeit, sich selbst als Genie zu preisen, ohne gegen die Norm weiblicher Bescheidenheit zu verstoßen.57 Ähnlich argumentiert Franziska Gygax: »Moreover, through Toklas as fictive autobiographer Stein can describe herself as a genius without seeming selfcentered or arrogant.«58 Diese Argumentationen gehen ganz selbstverständlich davon aus, daß Gertrude Stein die Autobiography geschrieben und den Umweg über Toklas als Erzählerin nur genommen hat, um sich nicht selbst als Genie beschreiben zu müssen. Ein solches Täuschungsmanöver würde aber als Täuschung paradoxerweise nur dann funktionieren, wenn die Autorschaft tatsächlich in der Schwebe gehalten würde – ansonsten ist die Täuschung allzu offensichtlich als solche erkennbar. Das Ziel, nicht arrogant zu erscheinen, kann nicht erreicht werden, wenn klar ist, daß der Ich-

55 Adams: Telling LIES (Anm. 28), 20. 56 Philippe Lejeune: Autobiography in the Third Person. In: New Literary History 9.1 (1977), 27-50, hier 43. 57 »Through this disembodiment, she can simultaneously present herself as genius and protect herself from the reader’s expectation that women should avoid egotistical self-display and self-assertion.« (Sidonie Smith: »Stein« is an »Alice« is a »Gertrude Stein«. In: Dies.: Subjectivity, Identity, and the Body. Women’s Autobiographical Practices in the Twentieth Century. Bloomington, Indianapolis 1993, 64-82, hier 77.) 58 Franziska Gygax: Gender and Genre in Gertrude Stein. Westport, London 1998, 67.

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Erzählerin die Worte von Stein in den Mund gelegt wurden. Das signifikant häufige Auftauchen der ›Trick‹-Argumentation widerspricht der in ihr formulierten These: Wenn der Autobiography die Täuschung wirklich gelänge, wenn sie wirklich erreichen würde, was Stein als Intention zugeschrieben wird, warum hört die Kritik dann nicht auf, darauf hinzuweisen, daß sie dieses Manöver durchschaut hat? Der Bescheidenheitsgestus, den die Lektüren gerne unterstellen möchten, ist die Barriere, die sie gegenüber der Anmaßung, die der Text offensichtlich doch darstellt, immer wieder aufrichten. Implizit verlängern sie so den Vorwurf der Unbescheidenheit, den sie eigentlich widerlegen möchten. In der Autobiography ist diese Vorwurfs-Struktur jedoch bereits vorweggenommen: »The young often when they have learnt all they can learn accuse her of an inordinate pride. She says yes of course. She realizes that in english literature in her time she is the only one. She has always known it and now she says it.« (AS 85) Ohne die Frage seiner eigenen Autorschaft an dieser Stelle zu thematisieren, legt der Text offen dar, daß Gertrude Stein sich selbst für die maßgebliche Autorin ihrer Zeit hält. Anstatt Bescheidenheit vorzutäuschen, präfiguriert die Autobiography die ihr – implizit – vorgeworfene Unbescheidenheit in der Reaktion »[of] the young« und affirmiert sie ganz selbstverständlich: »Yes of course«. Anstatt also dem angeblich übermäßigen Selbstlob in der Verlagerung auf eine andere Stimme ein angemessenes Maß zu geben, läßt die Ich-Erzählerin ›Gertrude Stein‹ in genau diesem Punkt selbst zu Wort kommen, verstärkt die direkte Rede, »yes of course«, durch indirekte, »that in english literature...«, und weist noch einmal nachdrücklich auf Stein als Quelle dieser Äußerungen hin: »She has always known it and now she says it.«59 Das »now« dieses Satzes ist dabei nicht nur auf den 59 »Imagine the difference in effect if the [passage] contained ›I’s‹ instead of ›she’s‹«, sagt Smith im Hinblick auf die zitierten Sätze (Smith: »Stein« is an »Alice« (Anm. 57), 77). Dies wäre das Ergebnis: ›I realize that in english literature in my time I am the only one. I have always known it and now I say it.‹ Auch wenn sich der Tonfall dann verschärft, gewissermaßen verhärtet, bleibt doch der Akt der Anmaßung derselbe. Der vielleicht bekannteste Text, der in der ersten Person Singular seinen Autor preist, lobt und feiert, ist Friedrich Nietzsches Ecce homo mit Kapiteltiteln wie Warum ich so weise bin, Warum ich so klug bin, Warum ich so gute Bücher schreibe und Warum ich ein Schicksal bin (Friedrich Nietzsche: Ecce homo. Wie man wird, was man ist. In: Ders.: Kritische Studienausgabe. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzina Montinari. Bd. 6. München 1988, 255-374). Mir ist jedoch nicht bekannt, daß gegenwärtige Lektüren von Ecce homo in gleicher Weise um die Frage der Arroganz oder Unbescheidenheit kreisen, wie das bei der Autobiography der Fall ist. Liegt es an dem Geschlecht der Autorin? Ist Gertrude Steins Anspruch auf das Genie, weil dieses männlich codiert ist, ein viel größerer Akt der Anmaßung? Oder wird womöglich die Anmaßung durch die Übertragung der Rede auf die dritte Person Singular noch gesteigert, indem die Autorin nun nicht nur sich selbst lobt, sondern andere das Lob aussprechen läßt, d.h. indem sie ihre eigene Rezeption zu steuern scheint?

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Zeitpunkt der Äußerung zu beziehen, d.h. auf den Moment, in dem das geschilderte Gespräch stattgefunden hat – zumal das Gespräch gar nicht als einmaliges Ereignis referiert wird, sondern als sich »often« wiederholendes. Der Zeitpunkt des »now« kann daher auch auf der Ebene des discours angesiedelt werden.60 Der Ausschnitt selbst sagt, wovon er berichtet. Damit hat sich die Frage der Autorschaft zur Frage der TextStimmen verschoben. Indem die Autobiography auf der einen Seite Alice B. Toklas als Ich-Erzählerin konstituiert, auf der anderen Seite aber die Autoren-Frage offenhält, kommt es zu einer offensichtlichen Dissoziation von Stimme und Schrift. Wer die Autobiography geschrieben hat, ist nicht allein mit der Foucault’schen Frage »Wer spricht?« zu klären.61 Die Autobiography forciert die Wahrnehmung der narratologischen Unterscheidung zwischen dem Autor und der Stimme des Textes. Gérard Genette hat darauf hingewiesen, daß die Erzähltheorie durchaus ihre Schwierigkeiten hatte, die Stimme, verstanden als »Produktionsinstanz des narrativen Diskurses«,62 als eigenständige analytische Kategorie ernstzunehmen: »Die Schwierigkeiten machen sich vor allem in einem, sicherlich unbewußten, Zögern bemerkbar, die Autonomie oder auch nur die Spezifität dieser Instanz anzuerkennen und zu respektieren: Einerseits, wie wir bereits erwähnt haben, reduziert man die Fragen des narrativen Aussagevorgangs auf die des point of view; andererseits identifiziert man die narrative Instanz mit der ›Schreib‹-Instanz, den Erzähler mit dem Autor und den Adressaten der Erzählung mit dem Leser des Werks.«63 So wie die Reduktion des Erzählens auf die Perspektive nicht zwischen den Fragen »Wer sieht?« und »Wer spricht?« unterscheidet,64 trennt die Verwechslung von Autor und Erzähler nicht zwischen den Fragen »Wer schreibt?« und »Wer spricht?«. Gerade weil Autorschaft metaphorisch über die Stimme des Autors figuriert wird, gerade weil Autorschaft nach dem Modell des Diktats gebildet wird,65 liegt diese Ver60 Der Begriff discours wird hier im Anschluß an die von Émile Benveniste geprägte Begriffsopposition histoire / discours verwendet, die zur Unterscheidung des ›wie‹ des Diskurses vom ›was‹ der erzählten Geschichte vor allem durch Tzvetvan Todorov bekannt geworden ist. 61 Vgl. dazu Kapitel II.2. 62 Gérard Genette: Die Erzählung. Hg. v. Jochen Vogt. Übers. v. Andreas Knop. München ²1998, 152. 63 Ebd. 64 »Dennoch leiden die meisten theoretischen Arbeiten zu diesem Thema (die im wesentlichen Klassifikationen bieten) meines Erachtens erheblich darunter, daß sie das, was ich hier Modus und Stimme nenne, miteinander vermengen, d.h. die Frage Welche Figur liefert den Blickwinkel, der für die narrative Perspektive maßgebend ist? wird mit der ganz anderen Wer ist der Erzähler? vermengt – oder, kurz gesagt, die Frage Wer sieht? mit der Frage Wer spricht?« (Ebd., 132.) 65 Vgl. dazu Kapitel II.2.

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wechslung jedoch immer wieder nahe – auch wenn »die narrative Situation einer Fiktionserzählung natürlich nie mit ihrer Schreibsituation identisch« ist.66 Die einzigen Ausnahmen, die Genette in Erwägung zieht, sind nicht-fiktionale Texte: »Eine Vermengung, die vielleicht berechtigt ist im Fall einer historischen Erzählung oder einer wirklichen Autobiographie, nicht aber, wenn es sich um eine Fiktionserzählung handelt, in der auch der Erzähler eine fiktive Rolle ist, selbst wenn diese unmittelbar vom Autor übernommen werden sollte, und in der die zugrunde liegende Erzählsituation […] eine ganz andere sein kann als die des realen Akts des Schreibens (oder Diktierens)«.67 Diese Äußerung Genettes verdeutlicht, mit welch hohem Einsatz die Autobiography spielt. Durch den Titel als referentieller Diskurs markiert, in dem die zentralen Figuren realen Personen entsprechen (wie sich gezeigt hat), arbeitet die Autobiography mit einem Erzählverfahren, das ein typisches Kennzeichen fiktionaler Literatur ist – der nachdrücklichen Trennung von Erzählerin und Autorin.68 Die Frage, ob Alice B. Toklas ›tatsächlich‹ existiert, ist daher nicht nur eine harmlose Frage eines am Klatsch interessierten Journalisten, sondern ist durch den Text selbst provoziert, der durch sein Erzählverfahren Fiktionalität signalisiert. So ist es wenig verwunderlich, daß die Beziehung zwischen Autorinnen- und Text-Stimme immer wieder die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. »Stein speaks in Alice Toklas’s voice«,69 heißt es bei S.C. Neumann; Franziska Gygax konstatiert fast identisch »Stein’s strategy of speaking in her lover’s voice«.70 In diesen Beschreibungen droht die Unterscheidung von Erzählerin und Autorin wieder zu kollabieren, da die Ich-Erzählerin Toklas als Sprachrohr der Autorin Stein gelesen wird.71 In dieser Lesart wird Toklas zum Gefäß der Sprache bzw. des Sprechens Steins: »Quite literally, she enables Stein to speak; her voice provides the site within which it is possible for Stein’s voice to convey her own vision

66 Genette: Die Erzählung (Anm. 62), 152. 67 Ebd. 68 In einer anderen erzähltheoretischen Terminologie heißt es bei Robert Weimann: »[T]he modern novel is born in the consciousness of its narrative perspective« (Robert Weimann: Structure and Society in Literary History: Studies in the History and Theory of Historical Criticism. Charlottesville 1976, 256). 69 Neumann: Gertrude Stein (Anm. 49), 10; vgl. auch 23. 70 Gygax: Gender and Genre (Anm. 58), 66. 71 Diese Lesart hängt eng mit der Rede von der Täuschung zusammen – indem es Stein ist, die durch Toklas spricht, so die Argumentation, preist sie sich selbst: »By speaking through the voice of Alice B. Toklas, Stein pursues an art of camouflage. […] Using ›Alice‹ as a piece of camouflage, Stein can make herself the egotistical center of the text and the influential center of twentieth century modernism.« (Smith: »Stein« is an »Alice« (Anm. 57), 77.)

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of herself as if from a distance, as if from the place of the Other.«72 In seinem Aufsatz »I is another«: Autobiography and the Appropriation of Voice beschreibt Stephen Scobie einerseits sehr präzise, inwiefern die Autobiography hinsichtlich ihrer Erzählverfahren mit dem autobiographischen Pakt bricht. Dadurch, daß Autorin, Erzählerin und Protagonistin nicht identisch sind,73 führt die Autobiography das zentrale Paradox der Gattungsdiskussion74 vor, sie agiert es aus: »Thus, Stein’s use of Toklas as narrator dramatises one of the continuing paradoxes of autobiography. The narrator must always be ›the Other‹: that place of alterity from which the authorial ›I‹ can look at the protagonist and at herself.«75 Indem Scobie der Ich-Erzählerin aber nur zugesteht, das Medium der Stimme der Autorin zu sein, verschwindet die Position der Alterität und der Text tut nur noch so, als ob, »as if«, er Alterität inszeniere. Die Differenz zwischen Autorin und Erzählerin wird mit dem Hinweis auf die Liebesbeziehung wieder eingezogen: »[S]ince the Other is, after all, her lover – and, furthermore, a lover of the same sex – Stein also cancels out that difference, and in paradoxical form reunites the various ›I’s‹ of ›her‹ autobiography.«76 In letzter Konsequenz spricht für Scobie doch nur eine/r: Stein, der Autor. Denn obwohl Scobie die lesbische Liebesbeziehung als Argument für die Identifizierung von Ich-Erzählerin und Autorin nutzt, weist er an anderer Stelle darauf hin, daß Stein in der Autobiography »as a genius – in Stein’s own terms, as a writer, and as a man« auftritt.77 In Scobies Argumentation läßt sich wiedererkennen, was Gilmore in einem ähnlichen Zusammenhang als »confused and confusing homophobia« beschrieben hat: »This homophobia involves a double movement in which heterosexualised readers project on to Stein the proprietary traits of the patriarch and attribute to her the act of stealing a woman’s voice«.78 Dies ist die Struktur, die Scobie erfüllt, wenn er Stein als 72 Stephen Scobie: »I is another«: Autobiography and the Appropriation of Voice. In: Jay Bochner, Justin D. Edwards (Hg.): American Modernism across the Arts. New York u.a. 1999, 124-136, hier 129. 73 »The authorial ›I‹ is still Gertrude Stein – it is her name which continues to appear on the title page, in the position of the signature – but the narratorial ›I‹ is now the voice of Alice B. Toklas: mimed, fictionalised, yet also (by all accounts) rendered with marvellous accuracy. And while the protagonist is nominally Toklas, the principal agent of the narrative is Stein.« (Ebd., 127.) 74 Vgl. dazu Kapitel I. 75 Scobie: »I is another« (Anm. 72), 129. 76 Ebd. 77 Ebd., 128. 78 Leigh Gilmore: A Signature of Lesbian Autobiography: »Gertrice/Altrude«. In: Shirley Neumann (Hg.): Autobiography and Questions of Gender. London, Portland 1991, 56-75, hier 67f. Gilmore wendet sich damit gegen feministische Positionen, wie sie z.B. von Sandra M. Gilbert und Susan Gubar vertreten worden sind: »Usurping Alice’s persona, appropriating Alice’s voice, Stein presents herself as an unappreciated, isolated pioneer, and she thereby turns collaboration into collusion […] [T]he result is a kind of cannibalism, as

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(männlichen) Autor bestimmt, der sich die Stimme von Toklas aggressiv aneignet: »We have no way of knowing whether, or in what fashion, Gertrude Stein may ever have asked Alice Toklas’s permission to appropriate her voice.« Gegen diesen Autor richtet sich die Aggression des Lesers: »[F]or what is worth, my guess would be that the question never even occurred to Stein. Their whole relationship was based on the assumption that Gertrude’s wishes were paramount.«79 Andererseits, darauf weist Scobie auch hin, impliziert der Akt der Aneignung ein Moment des Begehrens und der Identifikation, die ununterscheidbar werden läßt, wer in der Autobiographie spricht. Allerdings wird auch die Liebesbeziehung als ein Phänomen der In-Besitznahme beschrieben: »In taking on her lover’s voice, Stein may well have been usurping the place of the Other; but the other was her love, a place which she already occupied, and which already, reciprocally, occupied her.«80 Gilmores These einer »lesbian subject position« klingt ganz ähnlich: »Stein capitalizes on the instability of the I when she inhabits it as an other; that is, inhabits the other’s I.«81 Gegen die Appropriations-These, gegen die »heterosexist logic of silence/voice« setzt sie jedoch eine lesbische Ökonomie des Geschenks: »The proprietary claims on identity and narrative (the story of my life), autobiography’s deed and title, are troped here as what one gives rather than what one owns.«82 Das autobiographische Ich, so Gilmore, wird enteignet. Die Frage, um wessen Autobiographie, Toklas’ oder Steins, es sich ›eigentlich‹ handelt, ist nicht zuletzt deshalb nicht zu beantworten, weil die Annahmen, die dieser Frage vorausgehen, nämlich die Korrelation von Besitz und Autorschaft, d.i. Autorschaft als Werkherrschaft, 83 nicht mehr auf die Autobiography applizierbar sind. Ulla Haselstein hat die Erzählsituation als »Doppelstimmigkeit« im Sinne einer »diskontinuierlichen, dialogisch verfaßten Textsubjektivität« beschrieben, in der »weder die Maskerade der Autorin Stein als Alice noch die Trennung der Personen Alice und Gertrude Stein […] konsequent durchgehalten« werden. Aus dieser Doppelstimmigkeit heraus bestimmt Haselstein den Text als ein »Doppelporträt als gegenseitige Lie-

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Stein makes Alice into a character of her own devising who, in turn, certifies Stein as the genius who will usher in the twentieth century« (Sandra M. Gilbert, Susan Gubar: No Man’s Land. Bd. 2. New Haven 1988, 251). Scobie: »I is another« (Anm. 72), 134. Ebd. Gilmore: A Signature (Anm. 78), 63, 67. Ebd., 68, 66. Vgl. Heinrich Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit. Paderborn u.a. 1981. Vgl. dazu Kapitel II.2.

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besgabe«.84 Die Autorin, so argumentiert Smith, verliert ihre autoritative Stimme: »Stein enters the mouth of her lover and takes up lodging in the body of ›Alice‹ for the purposes of writing the autobiography. ›Alice‹ in turn enters the mouth of her host writer through whose body she speaks. This commingling of subjects in the text is thus an act of erotic union«. »Alice«,85 so Smith, wird durch den Text nicht nur als »hostess« vorgestellt, sondern ist darüberhinaus auch die Gastgeberin des Textes selbst und in einer anderen Bedeutung des Wortes ›host‹ auch Hostie, Opfer des Textes.86 Stein als »host writer« hat ihren Mund, hat ihre Autorenstimme »Alice« überlassen. Es kommt zu einem »commingling of subjects in the text«,87 bei dem die Verteilung von Schrift und Stimme in einer Hinsicht dennoch unangetastet bleibt: »Alice« schreibt nicht. Smith, Haselstein und Gilmore setzen das lesbische Paar an die Stelle des autobiographischen Ich. In diesem Paar verschränken sich die Stimme der Erzählerin als Text-Stimme und die Stimme der Autorin bis zur Ununterscheidbarkeit. Dennoch wird die Position der Schreibenden Gertrude Stein vorbehalten – in Julia Watsons Worten: »Stein authors Alice’s narration of Gertrude’s emergence into voice.«88

84 Haselstein: »She Will Be Me...« (Anm. 54), 87, 89. Zur Differenzierung der narrativen Stimmen des Textes vgl. auch Carolyn A. Barros: Getting Modern: The Autobiography of Alice B. Toklas. In: Biography 22.2 (1999), 177-208. 85 Smith: »Stein« is an »Alice« (Anm. 57), 80. Smith gibt keine Erklärung für ihre Praxis, den Namen Alice durchgängig in Anführungsstriche zu setzen. Meine Vermutung ist, daß Smith damit markieren möchte, daß es sich bei »Alice« um eine Figur handelt, die in der Autobiography nicht mit ihrem Vornamen bezeichnet wird, sondern fast ausschließlich in der ersten Person Singular auftaucht. 86 In der eindringlichen Beschreibung des Eintritts der Autorin in den Körper ihrer Figur, das tatsächlich auch auf deutsch eine Art Entern ist, drängt sich jedoch eine weitere Verwendung des Wortes »host« auf – die Ich-Erzählerin erscheint als Gastgeberin im Sinne des Wirts für einen Parasiten. Eine interessante Spur ließe sich hier mit Hilfe von Michel Serres aufnehmen: »L’hôte, Wirt und Gast in einem Wort, gibt und empfängt, bietet an und willigt ein, lädt zu Gast und wird geladen, ist Hausherr und Fremder, ist Reisender und Stubenhocker, Ortsfester und Beweglicher; l’hôte ist Gast und Gastwirt, Mieter und Vermieter zugleich, von hier oder anderswoher […]. L’hôte ist auch das Objekt; man sieht beim Austausch des Wortes nicht, wo die Sache ausgetauscht wird. Ein Ausdruck, der durch den Übergang der Gabe hindurch invariant bleibt. Es kann gefährlich sein, nicht zu entscheiden, wer l’hôte, wer da Gast und wer Wirt ist, wer gibt und wer empfängt, wer Parasit ist und wem die Tafel gehört, wer die Gabe und wer den Schaden hat und wo in der Gastfreundschaft, in der hospitalité, die Feindseligkeit, die hostilité, beginnt.« (Michel Serres: Der Parasit. Frankfurt/M. 1987, 31f.) Auf diese Spur soll hingewiesen werden, weil sie an die bereits thematisierte Ökonomie der Gabe anknüpft; sie wird aber nicht verfolgt, weil hier nicht die Metapher des »host« oder der »hostess« im Vordergrund steht, sondern die Verteilung von Stimme und Autorschaft in dieser Metaphorik. 87 Smith: »Stein« is an »Alice« (Anm. 57), 80. 88 Watson: Shadowed Presence (Anm. 43), 186.

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So ist die Rezeption der Autobiography einerseits durch die immer wieder gestellte Frage nach der Autorschaft gekennzeichnet. Die Frage wird auch dann nicht als beantwortet angesehen, wenn Gertrude Stein auf dem Cover als Autorin genannt wird. Andererseits konzentrieren sich vor allem die Lektüren jüngeren Datums auf das komplexe Narrationsverfahren der Autobiography und kommen zu dem Schluß, daß eine autoritative Stimme zugunsten einer Sprecher-Position aufgegeben wird, die als Doppelstimme oder Vermischung von Erzählerinnen- und Autorinnenstimme beschrieben wird. Die Autorschaft Gertrude Steins wird dabei nicht in Frage gestellt, sondern vorausgesetzt. Diese Voraussetzung erscheint zwar gesichert, die paratextuellen und narrativen Strategien des Textes laufen jedoch darauf hinaus, den Status der Autorschaft in der Schwebe zu halten. Dies gilt es ernstzunehmen und zum Ausgangspunkt einer Lektüre zu machen, die die Frage der Autorschaft nicht als geklärt voraussetzt, sondern die Autobiography daraufhin befragt, wie sie das Verhältnis von Erzähler, Protagonist und Autor konstelliert und ob sie auf andere Weise als über die Nennung des Autornamens im Paratext signiert wird. Der folgende zweite Teil dieses Kapitels analysiert die narrativen Verfahren der Autobiography im Hinblick auf die Frage, ob aus ihnen Aussagen über die Autorschaft abzuleiten sind.

2. Erzählen erzählen: Toklas als Augen- und Ohrenzeugin Wer also spricht in der Autobiography? Wer erzählt? Wie hängen TextStimme/n und Erzählverfahren zusammen? Eine Antwort auf diese Fragen kann sich nur über eine Lektüre der Autobiography erschließen, die ihr dicht auf den Fersen bleibt. Die Analyse der Verfahren sollte diese dabei nicht nur benennen, sondern auch im eigenen Text sichtbar werden lassen. Das Problem besteht nun darin, daß man sie teilweise »nur wiedergeben [kann], indem man sie abschriebe«, wie Viktor Šklovskij mit Blick auf Lawrence Sternes Tristram Shandy formuliert hat.89 Eine Lektüre, die um die Sichtbarmachung von Erzählverfahren – und nicht nur um ein Wieder-Erkennen narratologischer Konzepte – bemüht ist, kommt daher einerseits nicht darum herum, ausführlich zu zitieren, muß andererseits aber immer wieder große Sprünge im Text machen.90 Zitate und

89 Viktor Šklovskij: Der parodistische Roman. Sternes »Tristram Shandy«. In: Jurij Striedter (Hg.): Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München 1988, 246-299, hier 253. 90 Šklovskij schreibt: »Leider kann ich nicht den ganzen Sterne abschreiben und fahre daher nach einer langen Auslassung fort« (ebd.).

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Auslassungen im folgenden Text sind motiviert durch den Versuch, die Erzählverfahren der Autobiography vor Augen zu führen. Das erste Kapitel, Before I came to Paris, führt die Erzählstimme ein. Die Ich-Erzählerin gibt Auskunft über ihre Vergangenheit, über ihr Leben, bevor sie Gertrude Stein kennengelernt hat. Das erste Kapitel ist mit knapp drei Seiten das kürzeste des Buchs. Angesichts der Kürze könnte man vermuten, daß der Teil der Lebensgeschichte, der in ihm erzählt wird, für die Autobiography von geringer Bedeutung ist. Das in der Überschrift analog gebildete vierte Kapitel, Gertrude Stein before she came to Paris, erstreckt sich über siebzehn (AS) bzw. neunzehn Seiten (A). So zeigt bereits ein erster orientierender Blick auf das Inhaltsverzeichnis, daß Toklas allenfalls als Erzählerin, nicht aber als Protagonistin die zentrale Figur ihrer Autobiographie sein wird. Das erste Kapitel erfüllt vornehmlich die Funktion, Toklas als Erzählerin zu etablieren, während ihre Vorstellung als Protagonistin des Textes in den Hintergrund rückt. Mit dem ersten Satz der eigentlichen Erzählung, mit dem Beginn des ersten Kapitels, ist eine Erzählstimme gesetzt, die alle Konventionen einer Autobiographie zu erfüllen scheint – eine autodiegetische Erzählung, die rückblickend ein Leben zu erzählen ankündigt: »I was born in San Francisco, California.« (AS 7) Der Beginn der Geschichte der Autobiographie ist der Lebensbeginn der Ich-Erzählerin. Schon der nächste Satz bricht jedoch mit der Konvention, indem er eine scheinbar ganz beiläufige und nebensächliche Information an die Geburt anschließt. An die Stelle einer erwartbaren Aussage über den Geburtstag oder das Elternhaus tritt ein Satz über das Wetter: »I have in consequence always preferred living in a temperate climate but it was difficult, on the continent of Europe or even in America, to find a temperate climate and live in it.« (AS 7) Der Satz liefert keine wesentlich neuen Fakten, aber bringt durch die potentielle Mehrdeutigkeit von »temperate climate« die für den gesamten Text charakteristische Komik ins Spiel. Erst die folgenden Sätze geben weitere Informationen über die Familiengeschichte preis, sie werden also nicht vollständig zurückgehalten, sondern lediglich durch den plaudernden Einschub über das Klima aufgeschoben. Mit der Erzählerin wird damit zugleich ein bestimmter Tonfall gesetzt und ein Charakteristikum der folgenden Erzählungen exponiert – der für das Buch typische plaudernde Tonfall, ›Klatsch‹ als narrativer Effekt einer inszenierten Mündlichkeit. Was dann im weiteren an Einzelheiten über das Leben der Erzählerin erfahrbar wird, ist von wenigen Ausnahmen abgesehen ungeeignet, ein klares Bild von ihr als Person zu bekommen. Die Ich-Erzählerin präsentiert sich nicht als einzigartiges Individuum, sondern als Mitglied einer

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sozialen Gruppe: »I led in my childhood and youth the gently bred existence of my class and kind.« (AS 7) Damit bewegt sie sich von Anfang an in der vertrackten Struktur von Besonderheit und Allgemeinheit, die das Kennzeichen und spezifische Problem weiblicher Autobiographik ist.91 Implizit ist mit dieser Aussage schon ein Gendering verbunden, das in den folgenden Sätzen explizit formuliert wird. Die Ich-Erzählerin zeigt sich als zurückgezogene Person, deren Interessen im Bereich des Häuslichen liegen, die sich an »pleasures of needlework and gardening« erfreut. Sie begeistert sich für »paintings, furniture, tapestry, houses and flowers even vegetables and fruit-trees« und richtet den Blick nicht in die Welt, auch dies ein weiteres Beispiel für den Witz der Autobiography, sondern auf das Hausinnere: »I like a view but I like to sit with my back turned to it.« (AS 7) Die einzige Besonderheit, von der sie berichtet, ist ein in der Jugend geschriebener Brief an Henry James – eine Anekdote, die ihr Interesse an Literatur signalisiert. Ansonsten verläuft scheinbar alles in regulären Bahnen. Die Erzählstimme weiß, was sie über sich sagt, aber es gibt nichts Außergewöhnliches zu sagen: »From then on for about six years I was well occupied. I led a pleasant life, I had many friends, much amusement many interests, my life was reasonably full and I enjoyed it but I was not very ardent in it.« (AS 8) Anstatt sich den Konventionen der Autobiographie entsprechend in ihrer Singularität zu profilieren, trifft die Ich-Erzählerin Aussagen über sich, die so auch für fast jede/n92 gelten können: ein angenehmes Leben mit Freunden, Vergnügungen und Interessen. Die Quintessenz dieser Sätze lautet: Nichts Besonderes. Der folgende Satz bringt jedoch einen Wechsel im Tonfall, dem ein Wendepunkt im Leben korrespondiert: »This brings me to the San Francisco fire which had as a consequence that the elder brother of Gertrude Stein and his wife came back from Paris to San Francisco and this led to a complete change in my life.« (AS 8) Wurde zuvor eine regelmäßige Entwicklung, ein ruhiges Leben in einem ruhig-plaudernden Duktus erzählt, impliziert der Gedankensprung, »this brings me to... «, eine Unterbrechung im Gang der Erzählung und im erzählten Leben. In den ruhigen Erzählfluß bricht mit der Assoziation die Katastrophe des großen Erdbebens und Feuers in San Francisco im April 1906 ein – eine willkürliche Verknüpfung, die den Anlaß für einen Wechsel im Leben der IchErzählerin bildet: »As I was saying we were all living comfortably together and there had been in my mind no active desire or thought of change. The disturbance of the routine of our lives by the fire followed 91 Vgl. dazu Kapitel I.3. 92 Zu Everybody’s Autobiography vgl. Neumann: Gertrude Stein (Anm. 49), 4558.

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by the coming of Gertrude Stein’s older brother and his wife made the difference.« (AS 8f.) Mit der Naturkatastrophe kommen die Steins, und mit den Steins kommen Geschichten über Paris und Bilder von Matisse, »the first modern things to cross the Atlantic« (AS 9). Toklas entschließt sich wie viele ihrer Freunde zu einem Besuch in Paris, wo das erste Zusammentreffen mit Gertrude Stein ein neues Leben buchstäblich einläutet: »I was impressed by the coral brooch she wore and by her voice. I may say that only three times in my life have I met a genius and each time a bell within me rang and I was not mistaken, and I may say in each case it was before there was any general recognition of the quality of genius in them. The three geniuses of whom I wish to speak are Gertrude Stein, Pablo Picasso and Alfred Whitehead. I have met many important people, I have met several great people but I have only known three first class geniuses and in each case on sight within me something rang. In no one of the three cases have I been mistaken. In this way my new full life began.« (AS 9) Mit diesem Absatz, der das erste Kapitel beendet, wird der IchErzählerin nicht nur ihre Funktion als eine Art Feuermelder für Genies zugeschrieben. Mit der zweiten Geburt, »my new full life began«, positioniert sie sich als rezeptive Instanz, als Stimme des Textes, die sich, fortan beeindruckt durch die Stimme Gertrude Steins, in einer Position der Rezeptivität situiert. Toklas wird in die kulturell wirkmächtige Tradition passiver Weiblichkeit eingereiht, die unter dem Eindruck, unter dem Einfluß des aktiven (männlichen) Genies steht. Durch den humoristischen Tonfall der Erzählung wird diese Zuordnung jedoch zugleich ironisch gebrochen. Damit hat das erste Kapitel die Ich-Erzählerin als Wahrnehmungsinstanz des Textes etabliert. Die plaudernde Selbstbeschreibung weicht in den folgenden Kapiteln im gleichen Maße, wie die Erzählerin als Protagonistin aus dem Zentrum des Erzählten verschwindet. Insofern sie sich selbst auf der Seite der Rezeptivität verortet, wird sie in den beiden folgenden Kapiteln zur Augen- und Ohrenzeugin des Geschehens, von dem sie berichtet – was die Kopplung von Perspektive und Stimme zunehmend kompliziert. Mit My Arrival in Paris ist das zweite Kapitel der Autobiography überschrieben. Es schildert die ersten Treffen der Ich-Erzählerin mit Gertrude Stein, ihren ersten Besuch in der Rue de Fleurus und ihre erste Begegnung mit moderner Kunst. Der Zeitpunkt, an dem all dies stattfindet, wird nur ungenau angegeben: »THIS was the year 1907.« (AS 10) Das Kapitel beginnt mit einer Auflistung der wichtigsten Ereignisse im Leben der Personen, die im weiteren Textverlauf immer wieder im Mittelpunkt stehen werden: »Gertrude Stein was just seeing through the press Three

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Lives […]. Picasso had just finished his porträt of her […], Matisse had just finished his Bonheur de Vivre […].« Das Jahr 1907 erhält durch das im Text erwähnte retrospektive Urteil Max Jacobs den Rang eines historischen Datums: »It was the moment Max Jacob has since called the heroic age of cubism.« (AS 10) Diese Diagnose eines künstlerisch bedeutsamen Jahres wird noch einmal in den Erinnerungen der Figuren der Autobiography gespiegelt. Die Ich-Erzählerin erinnert sich an ein erst kürzlich stattgefundenes Gespräch zwischen Stein und Picasso, das das Jahr der Ankunft Toklas’ in Paris als ereignisreiches Jahr markiert: »I remember not long ago hearing Picasso and Gertrude Stein talking about various things that had happened at that time, one of them said but all that could not have happened in that one year, oh said the other, my dear you forget we were young then and we did a great deal in a year.« (AS 10) Tatsächlich ist die Zeitangabe 1907, obwohl einen weiten Zeitraum umfassend, nicht weit genug, um alle Ereignisse in ihm unterzubringen, von denen der Eingangsabsatz berichtet. Picassos Stein-Porträt entstand schon 1906, genau wie Matisses Bonheur de Vivre. Das ebenfalls erwähnte »complicated picture of three women« (AS 10), die Drei Frauen, wurde 1908/09 gemalt, und auch Three Lives wurde erst 1909 veröffentlicht, so daß es unwahrscheinlich ist, daß die Druckfahnen bereits zwei Jahre vorher vorlagen. Die Zeitangaben sind also mindestens ungenau, wenn es z.B. heißt, ein Bild sei »just finished«, z.T. aber einfach falsch: All das ist nicht in einem Jahr passiert. Weniger ein Ergebnis ungenauer Erinnerung als vielmehr ein Hinweis auf den Aspekt des Fabulösen im Erzählten, hat die falsche Datierung am Anfang dieses Kapitels eine narrative Funktion. Diese besteht einerseits darin, erzählerisch den roten Teppich für Alice B. Toklas’ Ankunft in Paris auszulegen,93 andererseits – und das ist die wichtigere Seite – eine Ereignisfülle zu suggerieren, deren Schilderung damit implizit angekündigt wird. Datum und Ort sind entscheidend, nicht Toklas als Person. Der Absatz übernimmt die Funktion einer Exposition, einer Auffächerung eines möglichen Themenspektrums. Eine möglicherweise geweckte Erwartungshaltung, die mit der Kurzauflistung auf eine ausführliche Schilderung vorzubereiten scheint, wird jedoch in der Konstituierung der Erzählerinnenstimme im nächsten Absatz zurückgenommen bzw. umgeleitet. Während der erste Absatz im protokollarischen Stil die wichtigsten Ereignisse ohne subjektive Färbung der Erzählerin wiedergibt, während sie selbst nur als Zeugin eines 93 »To bring Alice B. Toklas on at a climactic moment, the events of three or four years are concentrated into one.« (Wickes: Americans in Paris (Anm. 16), 53.)

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Gesprächs auftritt, das sie ungefiltert wiederzugeben scheint, rückt die Erzählerin nun als Text-Instanz ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Der Text verschiebt den Fokus von der Ereignishaftigkeit des Erzählten auf das Ereignis des Erzählens und den Akt des Beschreibens: »There are a great many things to tell of what was happening then and what had happened before, which led up to then, but now I must describe what I saw when I came.« (AS 10) Der Satz erhält eine inhaltliche Ankündigung: Es gibt viel zu erzählen, über das, was damals passiert ist, und das, was dahin geführt hat. Ergänzt man in dieser Reihung ›und was danach passierte‹, so hat man im wesentlichen eine abstrakte Beschreibung der histoire der Autobiography: Was passierte, als ich nach Paris kam, was vorher passiert war und was dann passierte. Auf der Ebene des discours findet sich hier, wie schon im ersten Kapitel, ein Erzählprinzip, das insbesondere dieses zweite Kapitel rhythmisiert, – die Selbstreflexion der Ich-Erzählerin: »but now I must describe... «. Die Unterbrechung der Erzählung durch die Selbstreflexion expliziert die interne Fokalisierung durch ›Toklas‹ und setzt die stolpernde Mündlichkeit der Autobiography in Szene. Die Ich-Erzählerin springt von einer Person zur nächsten, unterbricht eine Geschichte, um eine neue anzufangen oder anzukündigen, was noch erzählt werden wird. Die einmal angefangenen Geschichten werden wieder aufgenommen, wo sie unterbrochen wurden, z.T. um noch einmal unterbrochen zu werden. Der Text setzt immer wieder neu ein, die Geschichten beginnen immer wieder neu.94 Erzählen wird auf diese Weise als ausschweifende Mündlichkeit inszeniert, während gleichzeitig die Artifizialität des Erzählens in den Vordergrund rückt: »I must tell a little about Hélène« (AS 11), »[b]ut to come back to 1907. Before I tell about the guests I must tell what I saw. As I said […]« (AS 12), »[b]ut to return to the pictures« (AS 13), »[b]ut to return to the pictures« (AS 13), »[B]ut this time I am really going to tell about the pictures« (AS 14), »all these pictures had a history and I will soon tell them« (AS 15), »[b]ut to return to that first evening.« (AS 15) Innerhalb dieses Erzählens im Aufschub kommt es immer wieder zu einer Verschränkung von Erzählzeit und erzählter Zeit.95 In der Ankün94 »Beginning again and again is a natural thing even when there is a series. / Beginning again and again and again explaining composition and time is a natural thing.« (Gertrude Stein: Composition as Explanation. In: Gertrude Stein: Writings 1903-1932. New York 1998, 520-529, hier 522.) 95 Neumann spricht in diesem Zusammenhang von »layering of narrative« (Neumann: Gertrude Stein (Anm. 49), 25). Neumann beschreibt die Schichtung des Erzählens als »spatial, not a temporal, configuration« (ebd.). Der Ausschluß der zeitlichen Dimension läßt aber außer Acht, daß die Schichtung des Erzählens immer mit einer Thematisierung von unterschiedlichen Zeitebenen bzw. mit einer Thematisierung von Erzählzeit und erzählter Zeit verbunden ist.

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digung späterer Geschichten heißt es z.B.: »[L]ater on I will tell the story of the pictures, their painters and their followers« (AS 20). »Later« bezieht sich hier auf einen Moment des Erzählens, der in der erzählerischen Zukunft liegt. Er wird gerahmt durch eine Reihe von Sätzen, in denen »later« einen Zeitpunkt im Erzählten benennt. In dem Satz: »Later on once in Montmartre she [Fernande, H.V.] and I were walking together« (AS 19) und in: »Later I was near Picasso« oder: »Later I often teased her« (AS 20) beziehen sich die Zeitangaben auf die erzählte Zeit, d.h. sie haben eine proleptische Funktion. Diesem Spiel korrespondiert die Reflexion der Ich-Erzählerin auf ihr ›damaliges‹ Unwissen: »Later I often teased her […] But at this my first evening I knew nothing of all this and so I was polite and that was all. And now the evening was drawing to a close. […] And so this, one of the most important evenings of my life, came to an end.« (AS 20) Die Erzählerin unterscheidet zwei mögliche Zeitpunkte, von denen aus sie erzählen könnte und tatsächlich auch erzählt: Den Moment des ersten Abends, der geschildert wird, d.h. der Zeitpunkt, an dem Alice B. Toklas gerade in Paris angekommen ist, und den Moment, an dem sie die Geschichten erzählt. Diese beiden Optionen unterscheiden sich vor allem hinsichtlich des Wissensstandes der Erzählerin. Wird also die Perspektive des ersten Abends eingenommen, so kann erst später Wißbares auch erst später erzählt werden. Darauf weist die Erzählung nachdrücklich hin: »At that time of course I knew nothing about Marie Laurencin and Guillaume Apollinaire but there is a lot to tell about them later.« (AS 22) Die beiden Zeitebenen werden aber nicht immer sauber voneinander getrennt. Während die Erzählerin einerseits darum bemüht scheint, nur das zu erzählen, was sie zum damaligen Zeitpunkt wissen konnte, eröffnen andererseits die proleptischen Abschweifungen in zukünftige Ereignisse einen anderen Zeithorizont. Diese Überlagerung von Erzählzeit und erzählter Zeit spitzt sich in einem Satz zu: »I tell the whole story as I afterwards learnt it but now I must find Fernande and propose to her to take french lessons from her.« (AS 24) Im »now« kommen beide zusammen: ›Ich‹ kann die ganze Geschichte, wie sie sie erst später erfahren hat, ›jetzt‹ nicht erzählen, weil sie ›jetzt‹ zuerst Fernande suchen muß. Das ›jetzt‹ als Moment in der Suche nach Fernande liegt als dringlicher Augenblick einer vergangenen Gegenwart bereits weit zurück gegenüber dem ›jetzt‹ als Zeitpunkt des Erzählens. Der Satz verschaltet histoire und discours und gewinnt aus dieser Überkreuzung seinen komischen Effekt.96 96 In dem eingangs zitierten Text beschreibt Šklovskij diese Struktur der Verknüpfung von histoire und discours – in anderen Begriffen – als ein dominantes Verfahren von Tristram Shandy und übernimmt es in seinen eigenen Ausführungen, wenn er Sternes Romanfiguren auftreten läßt: »Ich will nicht meine Arbeit durch paralleles Zitieren entfalten, um so mehr, als uns die

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Die Verschränkung verschiedener Zeitebenen ist ein zentrales Erzählverfahren des zweiten Kapitels. Scheinbar bemüht sich die Erzählerin, die Zeitebenen nicht zu verwechseln, sondern macht das, »what I saw« (AS 12), das, was sie bei den ersten Begegnungen mit Gertrude Stein wirklich gesehen und gehört hat, zum Maßstab der Erzählung, ohne das nachträgliche Verständnis dieser Situationen schon einzubeziehen. Vorgeblich geht es ihr um eine Schilderung der Wahrnehmung ohne deren Kontextualisierung. Die Ich-Erzählerin setzt sich als Augenzeugin ein, sie beschreibt, was sie gesehen hat. In dieser Hinsicht versucht die Autobiography Authentizitätskriterien konventioneller Autobiographien zu erfüllen: »[A]utobiography makes its appeal to the special authority and authenticity of the participant: an eye-witness, and even more, an Iwitness. I know, the author tells you; I was there; I am in a unique position to tell you The Truth.«97 Stephen Scobies Formulierung »I-witness« wird dabei doppelt lesbar – als Analogie-Bildung zur Augenzeugin, die Ich-Zeugin, und als performativer Akt: »Ich bezeuge«. Toklas nimmt diese Position jedoch als Erzählerin ein, nicht als Autorin. Hinsichtlich des Festhaltens am Augenblick des Erzählten scheitert diese Operation allerdings permanent. Die Erzählerin bewegt sich zwischen ganz unterschiedlichen Zeitebenen hin und her, bleibt nicht beim Thema und damit auch nie in der anvisierten Gegenwart der Vergangenheit. Ein signifikantes Beispiel für diese Struktur findet sich in der Beschreibung der ersten Reaktion der Ich-Erzählerin auf die damals noch nahezu unbekannten Gemälde der Stein-Sammlung. »It is very difficult now that everybody is accustomed to everything to give some idea of the kind of uneasiness one felt when one first looked at all these pictures on these walls.« (AS 14) Die Ich-Erzählerin wird als beispielhafte Figur genutzt, um zu schildern, wie groß die Irritation bei den Betrachtern war, die der Kunst der Moderne zum ersten Mal gegenüberstanden.98 Der Witwe Waldmann erwartet.« (Šklovskij: Der parodistische Roman (Anm. 89), 287.) Die Autobiography nimmt einige Erzählverfahren dieses Romans wieder auf, z.B. die »zeitliche Verschiebung« (ebd., 249), die »Abschweifungen« (ebd., 255) und die »Bloßlegung des Verfahrens« (ebd., 246). 97 Scobie: »I is another« (Anm. 72), 126. 98 Die Begegnung mit der modernen Malerei ist nicht nur ein Phänomen der Irritation der Wahrnehmung, sondern auch eine Irritation der Wertmaßstäbe. In der Geschichte von Toklas’ erstem Besuch der »vernissage of the independent« wird diese Verunsicherung des eigenen Urteilsvermögens ausgesprochen: »We went from one room to another and quite frankly we had no idea which of the pictures the Saturday evening crowd would have thought art and which were just the attempts of what in France are known as the Sunday painters, workingmen, hairdressers and veterinaries and visionaries who only paint once a week when they do not have to work. I say we do not know but yes perhaps we did know. But not about the Rousseau […].« (AS 21f.) Dieses unsichere Wissen wird konterkariert, wenn Toklas und ihre Freundin die MatisseBilder der Ausstellung sehen: »Then we went on and saw a Matisse. Ah there

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Eindruck der Überwältigung zeigt sich im Text in einer Auflistung: »At that time there was a great deal of Matisse, Picasso, Renoir, Cézanne but there were also a great many other things. There were two Gaugins, there were Manguins, there was a big nude by Valloton […], there was a Toulouse Lautrec. […] There was a portrait of Gertrude Stein by Valloton […], there was a Maurice Denis, a little Daumier, many Cézanne water colours, there was in short everything, there was even a little Delacroix and a moderate sized Greco. There were enourmous Picassos of the Harlequin period, there were two rows of Matisses, there was a big portrait of a woman by Cézanne and some little Cézannes, all these pictures had a history and I will soon tell them. Now I was confused and I looked and I looked and I was confused.« (AS 14f.) Die Erzählung wird zum ersten unmittelbaren Eindruck der Bilder hingeführt, der Schock des Neuen manifestiert sich in einer ungeordneten, durch Wiederholungen gekennzeichneten Liste großer Namen. Ihre Eindringlichkeit ergibt sich nicht allein durch die aufgezählten Namen, sondern auch durch das intermittierende »there was« und »there were«. Die Überwältigung der IchErzählerin angesichts der Bilder äußert sich in einer Aufreihung, die zu atemlos ist, um das Gesehene genauer zu beschreiben. Die Geschichten, die sich zu den Bildern erzählen ließen, werden auf später verschoben, während die Erzählerin in der Gegenwart des Erzählten, »now«, als Augenzeugin vor den Bildern von der Verwirrung zum Betrachten und vom Betrachten zur Verwirrung pendelt. Reflexiv eingeholt wird diese Augenblicksschilderung durch Passagen, in denen die Neuheit explizit zur Sprache kommt: »[A]t that time these pictures had no value and there was no social privilege attached to knowing any one there, only those came who really were interested« (AS 17). Die Überlagerung unterschiedlicher Zeitebenen ist häufig gekoppelt an einen Wechsel der Erzählstimme – so etwa in der Geschichte von Hélène, der Köchin. Toklas’ erster Besuch in der Rue de Fleurus beginnt nicht nur mit der Schilderung der Köchin, die Erzählung wird von der Ich-Erzählerin in die Küche geführt. Damit wird zugleich die Gegenwart des Abends des ersten Besuchs von Toklas sofort verlassen: »I had been invited to dine on Saturday evening which was the evening when everybody came, and indeed everybody did come. I went to dinner. The dinner was cooked by Hélène. I must tell a little about Hélène.« (AS 10f.) Dies ist die erste Abschweifung in einer Erzählung, die ihren roten Faden imwe were beginning to feel at home. We knew a Matisse when we saw it, knew at once and enjoyed it and knew it was great art and beautiful.« (AS 22) Die Augenzeugin muß erst lernen zu sehen: »You have seated yourself admirably, she [Stein, H.V.] said. But why, we asked. Because right here in front of you is the whole story. We looked but we saw nothing except two big pictures that looked quite alike but not altogether alike.« (AS 23)

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mer wieder verlieren wird, bis er selbst nur noch eine Verflechtung von Abschweifungen und Aufschüben ist – ein roter Faden, der aus unzähligen kleinen Fädchen besteht. Der folgende Satz markiert den Zeit- und Perspektivenwechsel vom Samstagabend der Einladung auf den Zeitpunkt der Erzählung, zu dem die Ich-Erzählerin die Geschichte von Hélène erzählen kann: »Hélène had already been two years with Gertrude Stein.« (AS 11) Es folgt eine Schilderung der Person, ihrer Sparsamkeit, ihrer Fähigkeiten als Köchin, an die generelle Überlegungen über die finanzielle Situation der Gesellschaft, die sich in dieser Zeit bei den Steins traf, angeschlossen werden. Hélène wird als eigenwillige Person skizziert, eine Person mit dezidierten Anschauungen über die Gäste, die entsprechend behandelt werden: »Hélène had her opinions, she did not for instance like Matisse. She said a frenchman should not stay unexpectedly to a meal particularly if he asked the servant beforehand what there was for dinner. […] So when Miss Stein said to her, Monsieur Matisse is staying for dinner this evening, she would say, in that case I will not make an omelette but fry the eggs. It takes the same number of eggs and the same amount of butter but it shows less respect, and he will understand.« (Ebd.) Der Künstler Matisse wird von der Küche aus in den Blick genommen und präsentiert – Kunst aus der Küchenperspektive. ›Lächerlich‹ gemacht wird nicht nur Hélène, die Köchin – »had her opinions« –, sondern auch Matisse, der Künstler, der nicht mit seinen Arbeiten vorgestellt wird, sondern hinsichtlich seiner erschlichenen Einladung zum Abendessen. Damit ist vor der Schilderung der Gespräche im Atelier die Küche als zentraler Ort gesetzt, von dem aus der Blick auf die Phänomene des Abends, des Jahres 1907 und der Jahre davor und danach geworfen wird. Die Erzählung bleibt bei Hélène, es folgt eine Kurzschilderung ihres Lebens und Wirkens im Stein’schen Haushalt, ihres Weggangs und ihrer späteren Rückkehr. Zu diesem Zeitpunkt – wir haben den Abend des ersten Besuchs von Toklas längst verlassen – sind die ehemals unbekannten Künstler zu großen Namen geworden, von denen nun auch die Köchin in der Zeitung liest: »She said isn’t it extra, all that people whom I know when they were nobody are now always mentioned on the newspapers, and the other night over the radio they mentioned the name of Monsieur Picasso. Why they even speak in the newspapers of Monsieur Braque, who used to hold up the big pictures to hang because he was the strongest, while the janitor drove the nails, and they are putting into the Louvre, just imagine it, into the Louvre, a picture by that little poor Monsieur Rousseau, who was so timid he did not even have courage enough to knock at the door.« (AS 12) Aber auch Hélène wird durch die Autobiography zur »legend« (AS 12) erklärt.

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Mit dem Wechsel der Zeitebene der Erzählung geht ein Wechsel der Erzählerstimme einher. Dies ist die erste Stelle in der Autobiography, an der eine andere Stimme als die der Ich-Erzählerin das Erzählen übernimmt, an der die Position der Ich-Erzählerin nicht von Alice B. Toklas eingenommen wird. Die direkte Rede Hélènes – wie auch andere Diskurse in der ersten Person Singular im weiteren Verlauf des Textes – wird nicht durch Anführungszeichen gerahmt, sondern mit der inquit-Formel, ›she said‹, eingeleitet. Einerseits ist so zwar markiert, daß es nicht die Ich-Erzählerin ist, die spricht, andererseits arbeitet der Verzicht auf Anführungszeichen einer Verwechslung der Stimmen zu. Dies wird vor allem im dritten Kapitel der Autobiography zu beobachten sein. Im Fall der oben zitierten Rede von Hélène ist der Wechsel der Stimmen jedoch dadurch deutlich akzentuiert, daß ihre Aussagen eine Reihe von umgangssprachlichen Wendungen oder falschen Präpositionen enthält: »isn’t it extra«, »all that people«, »on the newspapers« und »over the radio«. Diese Form einer idiomatischen Erzählstimme ist für die Autobiography insgesamt eher untypisch. Ein weiteres Erzählverfahren des zweiten Kapitels ist die Überlagerung von Zeitsprüngen und topographischen Strukturen. Ein markantes Beispiel dafür ist die Geschichte von Toklas’ erstem Besuch in Picassos Atelier am Montmartre: »Picasso now never likes to go to Montmartre […]. / But at this time he was in and of Montmarte and lived in the rue Ravignan.« (AS 25f.) Der Weg zum Atelier wird ausführlich geschildert als Aufeinanderfolge steiler Straßenzüge, die mit ihren damaligen und späteren Namen genannt werden. Die Raumsemantik entfaltet sich als Zeitstruktur: Erzählt wird, was damals da war und was heute noch so ist, wie es damals war. Im Gebäude angekommen, spitzt sich dieses erzählerische Prinzip zu und schafft in einer dichten Beschreibung einen Raum, der immer schon durch das gezeichnet ist, was erst noch passieren wird oder bereits in der Vergangenheit passiert ist: »We went up the couple of steps and through the open door passing on our left the studio in which later Juan Gris was to live out his martyrdom but where then lived a certain Vaillant, a nondescript painter who was to lend his studio as a ladies dressing room at the famous banquet for Rousseau, and then we passed a steep flight of steps leading down where Max Jacob had a studio a little later, and we passed another steep little stairway which led to the studio where not long before a young fellow had committed suicide, Picasso painted one of the most wonderful of his early pictures of the friends gathered round the coffin, we passed all this to a larger door where Gertrude Stein knocked and Picasso opened the door and we went in.« (AS 26f., Hervorhebungen H.V.) Die Beschreibung evoziert Unmittelbarkeit – die Lektüre geht mit den Figuren mit, wird wie die Ich-

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Erzählerin von Stein durch die Straßen und das Gebäude geführt. Die Gegenwärtigkeit dieses Gangs wird jedoch von einem zurückliegenden Ereignis unterbrochen, dem Selbstmord des »young fellow« bzw. von Ereignissen, von denen weder Gertrude Stein noch Alice Toklas zum Zeitpunkt der erzählten Gegenwart wissen können.99 Zukünftige Ereignisse werden in den Gang eingeschoben, der dadurch nicht an Unmittelbarkeit verliert, sondern den Effekt der Unmittelbarkeit eher noch verstärkt. Die Ankunft vor der richtigen Tür, das Klopfen Steins, das Öffnen Picassos und der Eintritt beider Frauen werden dadurch besonders plastisch, daß der Ort mit verschiedenen zeitlichen Indizes versehen wurde, die den Augenblick der erzählten Gegenwart hervortreten lassen, indem er in den Strudel der erzählten Zeiten einbricht. Die Erzählerin, die um die Schilderung ihres ersten Eindrucks bemüht ist, fügt das erst retrospektiv Wißbare ein und konturiert damit das Erlebnis des ersten Besuchs. Hier wird die Erzählung nicht unterbrochen und aufgeschoben, sie wird umwegig. Sie nimmt den typischen Weg, der sich ergibt, wenn man sich redend im Raum bewegt und der Raum immer wieder Anlässe für erzählerische Ausschweifungen – hier: Ausschweifungen in der Zeit – bietet. Indem zeitliche und räumliche Dimension des Erzählens ineinandergeblendet werden, tritt das Augenblickliche des Bezeugten hervor. Mit diesen Zeitsprüngen, den Aufschüben und Umwegen, mit der Überkreuzung von Erzählzeit und erzählter Zeit durchbricht die Autobiography konventionelle autobiographische Muster der linear-chronologischen Erzählung. Dieser Bruch mit der Konvention wird in pointierter Form explizit anhand des Stein-Porträts von Picasso ausgeführt. Bei ihrem ersten Besuch spricht die Ich-Erzählerin Picasso auf das Bild an: »After a little while I murmured to Picasso that I liked his portrait of Gertrude Stein. Yes, he said, everybody says that she does not look like it but that does not make any difference, she will, he said.« (AS 16) In der Antwort Picassos wird die Ähnlichkeitsrelation als konstitutive Relation von Porträt und Porträtiertem, die auch für die Relation von Autobiographie und Modell gilt, verschoben: Nicht das ›Abbild‹ ähnelt dem ›Vorbild‹, vielmehr verliert das Vorbild seinen vorgängigen Status zugunsten einer künstlerischen bzw. textuellen Realität. Implizit ist damit auch das Erzählverfahren der Autobiography angesprochen.100 99

100

Mit Blick auf The Making of Americans hat Stein von einem »sense of movement of time included in a given space« gesprochen (Gertrude Stein: Lectures in America. New York 1975, 224). Diese Formulierung charakterisiert präzise das Erzählverfahren der oben zitierten Schilderung. Zum Status des Porträts im Zusammenhang von Genie- und Autordiskurs vgl. Ulrike Bergermann: Das Bild von Gertrude Stein von Pablo Picasso. Picassos Porträt und Steins Frage nach der Autorschaft. In: Kathrin Hoffmann-Curtius, Silke Wenk (Hg.): Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit im 20. Jahrhundert: Beiträge der 6. Kunsthistorikerinnen-Tagung Tübingen.

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Zurück zu Toklas’ erstem Besuch in der Rue de Fleurus. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß die Schilderung Hélènes die versammelte Gesellschaft aus der Küche perspektiviert. Diese Perspektivierung wird beibehalten, denn auch die Ich-Erzählerin wird symbolisch in der Küche plaziert. Obwohl sie am ersten Abend auch mit Picasso spricht, wird sie in einen anderen Kontext gestellt. In der Schilderung des Abends ergibt sich eine räumliche Trennung entlang der Geschlechterachse, die sich zu einer weiteren Aufteilung der Gäste in die Kategorien ›Genies‹ und ›Frauen von Genies‹ zuspitzt. Nachdem Stein bereits auf den ersten Seiten als Genie vorgestellt wurde, rückt Toklas nun strukturell in die Position der Ehefrau eines Genies. Der Text markiert diese Position als Ergebnis einer Aufforderung Steins: »Miss Stein told me to sit with Fernande.« (AS 18) Indem Toklas ein Ort zugewiesen wird, wird auch die Ich-Erzählerin und mit ihr die Autobiography positioniert, und zwar in einer Tradition der Biographien berühmter Männer, die von ihren Frauen geschrieben wurden.101 Der Sitzordnung entspricht die Erzählordnung, die an dieser Stelle auch als Schreibordnung vorgeführt wird: »Before I decided to write this book my twenty-five years with Gertrude Stein, I had often said that I would write, The wives of geniuses I have sat with. I have sat with so many. I have sat with wives who were not wives, of geniuses who were real geniuses. I have sat with real wives of geniuses who were not real geniuses. I have sat with wives of geniuses, of near geniuses, of would be geniuses, in short I have sat very often and very long with many wives and wives of many geniuses.« (AS 18) Von welchem Buch ist hier die Rede? »Before I decided to write this book« legt nahe, daß es sich bei diesem Buch um das vorliegende, d.h. die Autobiography handelt. Dagegen spricht, daß die Formulierung »my twenty-five years with Gertrude Stein« den Titel ›dieses Buchs‹ anzugeben scheint. Bekommt die Autobiography also einen anderen Namen? Mit der Umbenennung wäre sie nicht mehr als Autobiographie der Ich-Erzählerin einzuordnen, sondern als eine Biographie ihrer zentralen Protagonistin: Gertrude Stein. Allerdings kann auch nicht gesichert davon ausgegangen werden, daß »my twenty-five years with Gertrude Stein« eine Titelangabe sein soll. Semantisch scheint dies zwar die einzige Option – denn was sollte der Einschub an dieser Stelle sonst bedeuten? Andererseits werden Titel literarischer Texte in der Autobiography üblicherweise zwar nicht kursiviert oder in Anführungsstriche gesetzt, sie beginnen aber immer mit einem Großbuchstaben, wie z.B. auch »The wives of geniuses I have sat with«.

101

Marburg 1997, 116-129; Neil Schmitz: Portrait, Patriarchy, Mythos: The Revenge of Gertrude Stein. In: Salmagundi 40 (Winter 1978), 69-91. Vgl. dazu Smith: »Stein« is an »Alice« (Anm. 57), 76.

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My Twenty-Five Years wird als Titel nahegelegt, aber nicht als solcher markiert. Diese Stelle ist in ihrer irritierenden Struktur von zentraler Bedeutung, weil sie die Ich-Erzählerin als Autorin einführt – »before I decided to write this book«. Handelt es sich dabei um die Autobiography? Oder ist es ein Buch, das gar nicht existiert? Ist es ein gefaketes Buch, so wie auch die Ehefrauen z.T. Fake-Wives und die Genies Fake-Genies sind? Es gibt »wives«, die nicht wirklich Ehefrauen sind, sagt der Text – z.B. Frauen, die mit den Männern, die sie begleiten, nicht verheiratet sind, die nur symbolisch die Position von Ehefrauen einnehmen. Mit Fernande ist eine weitere mögliche Bedeutung von »wives that were not wives« angesprochen, die sich mit der vorauseilenden und zurückweisenden zeitlichen Struktur des Textes in Verbindung bringen läßt: Ehefrauen, die nicht Ehefrauen bleiben werden.102 Die Formulierung »wives who were not wives« enthält zudem einen impliziten Hinweis auf »wives«, die wie Toklas nicht nur nicht verheiratet, sondern auch nicht die Frauen von Männern sind. Sie enthält einen impliziten Hinweis auf die lesbische Beziehung zwischen Toklas und Stein, auf die in der Verteilung beider auf die Positionen von »genius« und »wife« angespielt wird. Aber nicht nur die Ehefrauen sind nicht immer »real«, auch einige der Genies sind von zweifelhaftem Status – »near geniuses« und »would be geniuses«. Der Genie-Diskurs, der mit großem Glockengeläut in den ersten Seiten der Autobiography eingeführt wird, verliert seine Bedeutsamkeit in der Proliferation von Ehefrauen, falschen Ehefrauen, Genies, Fast-Genies und Möchtegern-Genies.103 Kontextualisiert wird die Typologie der Ehefrauen und Genies durch eine weitere Typologie, die dieser vorangeht. Ein Gespräch Toklas’ mit »Miss Mars« dreht sich um »a subject then entirely new«: »how to make up your face« (AS 18). Wie man ein Gesicht zurecht macht, wie man sich ein Gesicht macht – diesen Prozeß führt die Ich-Erzählerin als Anfertigung einer (literarischen) Maske, als Anfertigung einer Erzählerinnen-Figur vor. Das Gespräch stellt eine Typologie von Frauen auf, die 102

103

Fernande und Picassos Trennungen werden nicht ausführlich geschildert, anhand ihrer Folgen – der Geldnot Fernandes – aber thematisiert. In späteren Kapiteln heißt es dann lapidar: »[T]he Picassos were once more together« (AS 98), »Pablo had gone off with Eve« (AS 122) oder: »During our absence Eve had died« (AS 183). »Das fortgesetzte Doppelspiel macht eigene Identität und Originalität in ihrer Abwesenheit offenkundig und ausverkauft, was unter ›Genie‹ zu verstehen ist. Jede Autobiographie eines Genies, die so verfährt, ist genialisch. Genie: Personifikation der Zeugungskraft folgt als Adjektiv: genialisch formal dem lat. genialis, dessen Bedeutung ›erfreulich, heiter‹ es in dieser Autobiographie gleich zweier Frauen endlich wiedergewinnt.« (Eva Meyer: Die Autobiographie des Weiblichen. In: Dies.: Autobiographie der Schrift. Basel, Frankfurt/M. 1989, 83-96, hier 94.)

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drei Kategorien umfaßt: »femme décorative, femme d’intérieur and femme intrigante« (ebd.), und verteilt die anwesenden Gesprächspartnerinnen auf die erwähnten Frauen-Typen. Fernande Picasso wird als »femme décorative« eingeordnet, Madame Matisse als »femme d’intérieur«. Offen bleibt, welche Position Toklas einnimmt. Fällt sie in die übriggebliebene dritte Kategorie der »femme intrigante«? Oder steht sie außerhalb der Typologie? Der distanzierte Tonfall, mit dem sie auf ihre (unfreiwillige) Positionierung als »wife« hinweist, könnte ein Indiz dafür sein, daß Toklas nicht bruchlos in die Typologie der Frauen einzuordnen ist: »Fernande was the first wife of a genius I sat with and she was not the least amusing.« (AS 19) In diesem Kontext der falschen Ehefrauen und Genies bezeichnet sich die Ich-Erzählerin als Autorin eines Buches, dessen eventueller Titel keinem real erschienenen Buch entspricht, »my twenty-five years with Gertrude Stein«. Dies ist die einzige Stelle der Autobiography, an der sich die Ich-Erzählerin als Autorin ausweist und so die Möglichkeit eröffnet, die für die Gattung Autobiographie konstitutive Identitätsbedingung von Erzählerin und Autorin zu erfüllen. Über die unauflösbare Mehrdeutigkeit dieser Passage wird die Option eingeführt, daß Toklas nicht nur die Erzählerin, sondern auch die Autorin der Autobiography ist. Für diesen Fall möchte man gerne glauben, was Wickes aus seinem Gespräch mit Toklas kolportiert und in seiner Studie Americans in Paris wiederholt, daß nämlich »›My 25 Years with Gertrude Stein‹«104 eine Art Arbeitstitel der Autobiography gewesen ist. Wickes Erzählungen sind jedoch mit der gleichen Vorsicht zu genießen wie die von Toklas. Aber auch wenn die Autorschaft Toklas’ in der Autobiography im gleichen Maß, wie sie etabliert wird, ins Wanken gerät, so wird sie doch ins Spiel gebracht. Die »wife«/»genius«-Polarisierung des Textes ist in den letzten Jahren vor allem als Strategie einer lesbischen butch/femme-Stilisierung diskutiert worden. Mit Bezug auf Judith Butlers These der Komödienhaftigkeit von Heterosexualität105 und der Performativität nicht nur der Inszenierung von butch/femme-Konstellationen, sondern auch der Geschlechterdifferenz,106 hat Sidonie Smith gezeigt, daß die Autobiography 104 105

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Wickes: Who really wrote (Anm. 8), 37; Wickes: Americans in Paris (Anm. 16), 57. »[H]eterosexuality offers normative sexual positions that are intrinsically impossible to embody, and the persistent failure to identify fully and without incoherence with these positions reveals heterosexuality itself not only as a compulsory law, but as an inevitable comedy. Indeed, I would offer this insight into heterosexuality as both compulsory system and an intrinsic comedy, a constant parody of itself, as an alternative gay/lesbian perspective.« (Judith Butler: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New York 1990, 122.) »The ›presence‹ of so-called heterosexual conventions within homosexual contexts as well as the proliferation of specifically gay discourses of sexual

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die Positionen von »wife« und »genius« in Butlers Sinne als parodistische Identitäten ein- und vorführt.107 Der parodistische Zug des Textes zeigt sich nicht zuletzt darin, daß die Zuordnung Stein/Genie und Toklas/Ehefrau108 aufgrund der sie begleitenden Typologie von Frauen z.T. wieder durchbrochen wird. Toklas nimmt immer wieder eine distanzierte Erzählhaltung gegenüber den »wives« ein, so als gehöre sie nicht wirklich dazu. Zusätzlich erscheint das Genie Stein im Laufe des Textes als mögliche Kandidatin für den bislang nicht vergebenen dritten Typus der femme intrigante: »Gertrude Stein admits that she is good gossip, fond of intrigue«, schreibt Wickes.109 Sie tut dies explizit an mindestens vier Stellen der Autobiography: Als Matisse seine Kunstschule gründet und es unter den Studenten und auch mit ihm zu starken Spannungen kommt, in einer Situation also, als es wirklich »very difficult« wird, beschreibt Toklas die Reaktion Steins wie folgt: »Gertrude Stein enjoyed all these complications immensely.« (AS 75) Als sie sich in ihrem Medizinstudium langweilt, bieten die Intrigen unter den Studierenden eine willkommene Ablenkung: »There was a good deal of intrigue and struggle among the students, that she liked« (AS 90). Nachdem sie von Mrs. Van Vechten pikante Details aus deren kompliziertem Eheleben erfahren hat, spielt sie ihr Wissen gegenüber dem Ehemann aus: »Gertrude Stein began to tease Carl Van Vechten by dropping a word here and there of intimate knowledge of his past life. He was naturally bewildered.« (AS 150) Nachdem er ein Porträt Steins gemalt hat, taucht der Künstler Jacques Lipchitz nicht mehr bei Gertrude Stein auf. »He said he did not come before because he had been told by someone to whom she [Stein] had said

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difference, as in the case of ›butch‹ and ›femme‹ as historical identities of sexual style, cannot be explained as chimerical representations of originally heterosexual identities. And neither can they be understood as the pernicious insistence of heterosexist constructs within gay sexuality and identity. The repetition of heterosexual constructs within sexual cultures both gay and straight may well be the inevitable site of the denaturalization and mobilization of gender categories. The replication of heterosexual constructs in non-heterosexual frames brings into relief the utterly constructed status of the so-called heterosexual original. Thus, gay is to straight not as copy is to original, but, rather, as copy is to copy.« (Ebd. 31.) Sidonie Smith: Performativity, Autobiographical Practice, Resistance. In: Dies., Julia Watson (Hg.): Women, Autobiography, Theory. A Reader. Madison 1998, 108-115. Vgl. Smith: »Stein« is an »Alice« (Anm. 57); Gilmore: A Signature (Anm. 78). Hingewiesen sei aber auch auf die Bedeutung, die Otto Weiningers Hypothesen zur Männlichkeit des Genies und zur Männlichkeit der Lesbierin für Stein hatten. Vgl. Hoffmann: Gertrude Steins Autobiographien (Anm. 9), 87-90. Wiederaufgenommen wird diese Struktur zu Beginn des fünften Kapitels: »The geniuses came and talked to Gertrude Stein and the wives sat with me.« (AS 95) Wickes: Americans in Paris (Anm. 16), 56.

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it, that she was bored sitting for him. Oh hell, she said, listen I am fairly well known for saying things about anyone and anything, I say them about people, I say them to people, I say them when I please and how I please but as mostly I say what I think, the least that you or anybody else can do is to rest content with what I say to you.« (AS 219f.) Darüber hinaus nimmt Stein an mindestens einer Stelle der Autobiography die Position ein, die als Position der Ich-Erzählerin markiert ist – in ihren Sitzungen für das Porträt, das Picasso von ihr malt, sitzt sie mit Fernande, die ihr LaFontaines Fabeln vorliest. Mit dieser angedeuteten Auflösung der festumrissenen Rollen von »wife« und »genius« zeigt sich, daß die Autobiography auf ein kulturelles Muster zurückgreift, um es einer Umwertung zu unterziehen.110 Nicht nur verliert das Künstler-Genie an Autorität, wenn es von der Küche aus in den Blick genommen wird, die Küche wird gleichzeitig als ein Ort etabliert, vom dem aus Relevantes über die künstlerische Bohème mitgeteilt werden kann.111 So wie die Ich-Erzählerin zu Beginn des zweiten Kapitels Hélène die Stimme überläßt, kommen im weiteren Verlauf neben ihren Männern mindestens genauso ausführlich und oft Madame Matisse und Fernande Picasso zu Wort. »Stein’s aesthetic project of a composition of modern art in which every part is as important as every other part requires her (in also retrieving the perspective of the wife) to transform the effacement of wives into a refacement that is different from their portraiture in the works of genius.«112 Wie man sein Gesicht zurecht 110

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Zur Kontextualisierung der Autobiography hinsichtlich anderer KünstlerMemoiren, Künstler-Autobiographien und -Biographien und hinsichtlich künstlerischer Praktiken von Frauen vgl. Margot Norris: The »Wife« and the »Genius«. Domesticating Modern Art in Stein’s Autobiography of Alice B. Toklas. In: Lisa Rado (Hg.): Modernism, Gender, and Culture. A Cultural Studies Approach. New York, London 1997, 79-99. Gleichzeitig bietet die Küche ein Vokabular, das auch jenseits des Herdes Verwendung finden kann: »Domesticity becomes, in the wife’s voice, both a critical tool (like the fried egg Hélène uses to critize Matisse) and an intellectual rhetoric – ›I do inevitably take my comparisons from the kitchen because I like food and cooking and know something about it‹« (ebd., 90f.; Zitat im Zitat: AS 46). Norris leitet aus der Küchenperspektive der Autobiography eine neue Lektüreposition ab, die nicht den Fehler anderer Leser begeht, die Küche zu unterschätzen: »Indeed, the ideal reader of The Autobiography is constituted as an essentially new gender: the intellectual wife.« (Ebd., 91.) Ebd., 86. In der Maxime, daß »every part is as important as every other part«, konvergieren, so Norris, moderne Ästhetik und radikal-demokratischer Anspruch Steins. Sie läßt sich auf zweierlei zurückführen: 1. auf die künstlerische Programmatik Cézannes, wie Stein im Transatlantic Interview ausgeführt hat: »Cézanne conceived the idea that in composition one thing was as important as another thing. Each part is as important as the whole, and that impressed me enormously« (Stein, Haas: A Transatlantic Interview (Anm. 1), 15), und 2. auf die demokratische Grundhaltung Steins, die in der Autobiography explizit thematisiert wird: »[S]he was good humoured, she was democratic, one person was as good as another« (AS 189).

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macht, »how to make up your face«, fragt vor diesem Hintergrund auch danach, wie die Ehefrauen im Text selbst zu Wort kommen können.113 Die Lektüren der feministischen Literaturwissenschaft, die diesen Einsatz der Autobiography übersehen, drohen mit ihrem an Stein adressierten Vorwurf der Hierarchisierung ihrer Beziehung zu Toklas an eine patriarchale Struktur anzuknüpfen, die vom Text selbst disloziert wird: »Feminism and misogyny curiously converge on the estimation of the wife, who is the bête noire of second-generation feminism«.114 Wenn man der Autobiography ein geschlechterbewußtes Projekt unterstellen will, wie Norris es tut, so liegt seine Absicht nicht in der Aufwertung der Ehefrauen zum Genie, sondern in der Umwertung und Verschiebung der dualistischen Machtbeziehung. Es ginge nicht darum, die Frauen aus der Küche zu holen, sondern darum, die Semantik der Küche zu verändern. Narrativ umgesetzt bedeutet das: Alice B. Toklas als Gastgeberin schafft in ihrer Erzählung einen Raum, in der Stimmen anderer »wives« (und auch die ihrer Genies) auftreten können. Insofern diese Stimmen in direkter Rede auftauchen, übernehmen sie für einen Moment die Position der Ich-Erzählerin und bewirken eine Annäherung der Narration an den Darstellungsmodus des Dramatischen: Die Autobiography wird zur Bühne. Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß das zweite Kapitel die Ich-Erzählerin Alice B. Toklas als Augenzeugin etabliert, die scheinbar immer nur zu berichten versucht, was sie tatsächlich gesehen hat. Unmittelbarkeit ist das Ziel ihrer Schilderung, das allerdings genau dadurch erreicht wird, daß unterschiedliche Zeitebenen eingezogen werden, die zwischen den Ebenen von histoire und discours hin- und herschalten bzw. beide ineinander kollabieren lassen und auf diese Weise eine paradoxe Zeitstruktur ohne Realitätsindex etablieren. Der Effekt der Mündlichkeit, als eine Form der Unmittelbarkeit, wird als Stolpern und Umwegigkeit des Textes, als Merkmal der Unordnung mündlicher Erzählung inszeniert. Die Artifizialität dieser Mündlichkeit ist bei genauerem Hinsehen jedoch offensichtlich. Toklas wird als »wife« positioniert, die der Hierarchisierung von »wife« und »genius« entgegenarbeitet, indem sie nicht nur schreibt und erzählt, was das Genie Stein macht, sondern auch andere Stimmen sprechen läßt. Toklas wird als Ich-Erzählerin zur Stimme des Textes, deren Sprecher-Position jedoch immer wieder von anderen Stimmen eingenommen wird.

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Norris’ Gegenüberstellung von »effacement« im gemalten Porträt und »refacement« in der Autobiography greift für die Seite der modernen Kunst jedoch zu kurz. Vgl. dazu Sylvia Eiblmayr: Die Frau als Bild. Der weibliche Körper in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Berlin 1993. Norris: The »Wife« and the »Genius«. (Anm. 110), 84.

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Das folgende Kapitel, Gertrude Stein in Paris, 1903-1907, führt diese Verfahren fort und bricht gleichzeitig mit ihnen. Das Stolpern der Erzählung, ihr permanenter Aufschub, bleibt ein signifikantes Strukturprinzip: »But to return to those old days« (AS 64), »[t]his brings the story to...« (AS 65). Neben Zeitsprüngen in der Erzählung, »[b]ut all that was very much later and now go back again to the beginning« (AS 68), treten vage Zeitangaben, die keine exakten Datierungen vornehmen: »this year« (AS 54), »the winter went on« (AS 58), »spring was coming« (AS 59), »during this summer« (AS 63). Auch thematisch wird an den ersten Teil angeknüpft, so wird Toklas’ erster Besuch der »vernissage of the independent« wieder aufgenommen: »And this […] brings me to the independent where my friend and I sat« (AS 72). Insofern das Kapitel aber in eine Zeit zurückgeht, in der Toklas Stein noch nicht kennengelernt hatte, kann das Kriterium »what I saw« nicht mehr der Maßstab des Erzählbaren sein, zumindest dann nicht, wenn die Möglichkeit, daß die Erzählerin auch die Autorin des Buches ist, aufrechterhalten werden soll. Toklas verläßt ihren Posten als Augenzeugin. Sie erzählt nicht mehr, was sie selbst mit eigenen Augen gesehen haben könnte, sondern gibt wieder, was ihr erzählt wurde. Toklas wird zu einer Erzählerin, deren Erzählung wesentlich Wieder-Erzählung oder Weiter-Erzählung ist, eine Erzählung aus zweiter Hand, eine Erzählung zweiter Ordnung. Die Ich-Erzählerin tritt weitgehend in den Hintergrund. Der deutlichste Hinweis hierfür ist das quantitativ geringere Auftauchen der Ersten Person Singular, an deren Stelle der Name ›Gertrude Stein‹ tritt – insgesamt achthundertdreimal, wie Hoffmann gezählt hat.115 Diese neue Position, die im zweiten Kapitel an den Stellen bereits aufgetaucht ist, die in die Vergangenheit des Erzählten zurückgegriffen und damit die zukünftige Erzählung vorweggenommen haben, wird im dritten Kapitel bereits durch die Überschrift Gertrude Stein in Paris. 1903-1907 signalisiert. Der Zeitraum, von dem das dritte Kapitel handelt, liegt historisch vor Toklas’ Ankunft in Frankreich. Was erzählt wird, kann daher nicht mehr der Bericht einer Augenzeugin sein. Gleichzeitig rückt Gertrude Stein noch deutlicher als zuvor ins Zentrum der Erzählung, sie ist die Protagonistin dieses und aller folgenden Kapitel. Berichtet wird von ihren ersten Jahren in Paris, von ihren ersten Begegnungen mit der zeitgenössischen Kunstszene, von der Entstehung ihrer und ihres Bruders Kunstsammlung. Leo Stein, obwohl für diese Jahre außerordentlich prägend, wird namentlich kein einziges Mal erwähnt. Er taucht nur als »Gertrude Stein’s brother« (AS 48ff.) auf. Der anekdotische Stil, der das zweite Kapitel dominiert hat, findet sich jetzt an einzelnen Stellen wieder. Der Effekt der Mündlichkeit, der 115

Hoffmann: Gertrude Steins Autobiographien (Anm. 9), 176.

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zuvor durch die direkte Rede der Ich-Erzählerin evoziert worden ist, entsteht nun in erster Linie als Effekt der direkten Figurenrede. Insofern Toklas dennoch in der Position der Erzählerin bleibt, vollzieht sich die direkte Figurenrede im Modus des Zitats. Ein Beispiel für diese Erzählweise ist die Schilderung des ersten Besuchs von Gertrude Stein und ihrem Bruder in der Galerie von Ambroise Vollard: »The first visit to Vollard has left an indelible impression on Gertrude Stein. It was an incredible place. It did not look like a picture gallery.« (AS 34) Während der erste Satz von der Erzählerin aus gesprochen scheint, hat sich dieser Standpunkt in den darauffolgenden Sätzen verschoben. Der Satz: »It was an incredible place« gibt ohne zusätzliche Markierung der Redeinstanz, ohne den Einschub der inquit-Formel, den ersten Eindruck und wahrscheinlich auch eine Äußerung Gertrude Steins wieder. Erzählung aus zweiter Hand heißt hier: Erzählung im Zitat der Augenzeugin Stein. Von hier aus nimmt die Anekdote Gestalt an – sie entwickelt sich als eine Bühneninszenierung, die weitere Stimmen ins Spiel bringt. Stein und ihr Bruder haben Vollard aufgesucht, um sich dort Landschaftsbilder von Cézanne anzusehen. »Oh yes, said Vollard looking quite cheerful and he began moving about the room, finally he disappeared behind a partition in the back and was heard heavily mounting steps.« (AS 35) Der Raum der Galerie wird als Bühne präsentiert, auf dem sich das folgende Geschehen abspielt. Durch die Verben der Wahrnehmung, »looking quite cheerful« und »was heard heavily mounting steps«, wird die Perspektive der Augenzeugenschaft, bzw. die Fokalisierung des Textes durch Stein betont. Im gleichen Duktus fährt die Schilderung fort: »After a quite long wait he came down again and had in his hand a tiny picture of an apple with most of the canvas unpainted. They all looked at this thoroughly, then they said, yes but you see what we wanted to see was a landscape. Ah yes, sighed Vollard and he looked even more cheerful, after a moment he again disappeared and this time came back with a painting of a back, it was a beautiful painting there is no doubt about that but the brother and sister were not yet up to a full appreciation of Cézanne nudes and so they returned to the attack. They wanted to see a landscape. This time after even a longer wait he came back with a very large canvas and a very little fragment of a landscape painted on it. Yes that was it, they said, a landscape but what they wanted was a smaller canvas but one all covered. They said, they thought they would like to see one like that. By this time the early winter evening of Paris was closing in and just at this moment a very aged charwoman came down the same back stairs, mumbled, bon soir monsieur et madame, and quietly went out of the door, after a moment another old charwoman came down the same stairs, murmered, bon soir messieurs et

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mesdames and went quietly out of the door. Gertrude Stein began to laugh and said to her brother, it is all nonsense, there is no Cézanne. Vollard goes upstairs and tells these old women what to paint and he does not understand us and they do not understand him and they paint something and he brings it down and it is a Cézanne. They both began to laugh uncontrollably.« (AS 35f.) Die Geschichte, die hier via Stein ausgebreitet wird, bestätigt sich zumindest im Hinblick auf die vermutete Unverständlichkeit durch den Bericht Vollards: »Later on Vollard explained to every one that he had been visited by two crazy Americans and they laughed and he had been much annoyed but gradually he found out that when they laughed most they usually bought something so of course he waited for them to laugh.« (AS 36) Das Ereignis des ersten Bilderkaufs wird zu einer anekdotischen, kunstvollen Geschichte ausgebaut. Die Ich-Erzählerin tritt hinter die direkte Rede der an der Geschichte beteiligten Personen zurück. Insofern die Figuren, Gertrude Stein und ihr Bruder, als Augenzeugen – Formulierungen wie »they all looked«, »he looked even more cheerful« sowie die bildhafte Beschreibung der charwomen markieren diese Position – eingesetzt werden, deren Geschichte und deren Erzählen im folgenden erzählt wird, wird die Autobiography selbst zu einer Bühne, auf der andere Stimmen auftreten: der für Autobiographien eher typische narrative Modus kippt immer wieder in einen dramatischen. Der Erzähler/innenKommentar »it was a beautiful painting there is no doubt«, der aus dem Duktus der Passage herausfällt, konstituiert eine zweite Stimme, die wohl Stein zugeordnet werden kann. Gleichzeitig erzählt die Geschichte von einer Bühne, konstituiert sie eine zweite Bühne: den Raum der Galerie als Hauptszene mit einem Hintergrund (»partition« und »back stairs«). Protagonisten des Spiels sind Gertrude Stein, Leo Stein, Ambroise Vollard und die zwei »charwomen«. Alle Darsteller haben Sprecher-Rollen, sie äußern sich in direkter Rede. Die Bewegung der Körper im Raum wird in den Auf- und Abgängen Vollards und dem unerwarteten Auftauchen der beiden Putzfrauen plastisch geschildert. Der dreifache Abgang Vollards wird als Mittel der Verzögerung und Steigerung eingesetzt. Als retardierendes Moment – Vollard verschwindet nicht nur drei Mal von der Szene, er bleibt auch jedes Mal ein bißchen länger verschwunden – verstärkt es den Effekt des Komischen nicht zuletzt dadurch, daß keinerlei Erklärungen für das scheinbare Mißverständnis und Vollards seltsam verlängertes Verschwinden angeführt werden. Am Ende dieser mehrfach gestaffelten Erzählung wird das Geschilderte in verkürzter Form noch einmal, nun aber aus der Perspektive und mit den Worten Vollards präsentiert. Warum Vollard auf die Nachfrage nach einer Landschaft den Interessenten andere Motive Bilder präsen-

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tiert, wird jedoch auch in dieser Geschichte nicht aufgeklärt. Anstatt die Rätselhaftigkeiten der ersten Erzählung aufzulösen, präsentiert die zweite sie nur aus der umgekehrten Blickrichtung. Was in der Kommunikation zwischen den Geschwistern Stein und dem Galeristen falsch läuft, interessiert die Autobiography weniger, als die Tatsache, daß in voneinander abweichenden Geschichten davon erzählt wird. Erneut betont der Text auf diese Weise seine eigene narrative Verfaßtheit. Das Prinzip der kontrastiven Schilderung einer Begebenheit anhand der Erzählungen mehrerer Figuren wird im weiteren Verlauf des Textes beibehalten.116 Gertrude Stein ist die wichtigste Quelle – was sie erzählt, geht den anderen Erzählungen oftmals voran. Ein weiteres Beispiel ist die Geschichte über Leo und Gertrude Steins Kauf von Matisses La Femme au Chapeau. Auch hier folgt auf die Schilderung der Preisverhandlung durch Stein eine anders perspektivierte Geschichte: »And so this was the story of the buying of La Femme au Chapeau by the buyers and now for the story from the sellers point of view as told some months after by Monsieur and Madame Matisse.« (AS 40) Es sind diese erzählten Geschichten, die den Maßstab abgeben, und nicht die historische Wahrheit. Bestimmte Einzelheiten des Kaufs sind vergessen worden, etwa der Preis für ein Bild, an dem Steins Bruder interessiert war, oder ob Matisse oder Stein im Anschluß den ersten Schritt zum gegenseitigen Kennenlernen unternommen haben. Der Versuch, diese historischen Details zu rekonstruieren, tritt in den Hintergrund. Vordergründig erwähnenswert bleibt aber die mangelnde Erinnerung: »Whether Matisse wrote and asked or whether they wrote and asked Gertrude Stein does not remember.« (Ebd.) Der Hinweis auf die Erinnerungslosigkeit Steins ist doppelt lesbar: einerseits als Anspielung auf eine Kategorie der poetologischen Schriften Gertrude Steins, auf das »continuous present« als Gegenmodell zu »past present and future«,117 als »recreating instead of remembering«;118 ande116

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»They told exactly the same story only it was different, very different.« (AS 134) Dies gilt auch für historisch bedeutsame Ereignisse: »The first description that any one we knew received in England of the battle of the Marne came in a letter to Gertrude Stein from Mildred Aldrich. […] Later when we returned to Paris we had two other descriptions of the battle of the Marne. […] Nellie described the battle of the Marne to us. […] Another description of the battle of the Marne when we first came back to Paris was from Alfy Maurer.« (AS 162-164) Stein: Composition as Explanation (Anm. 94), 524. Neumann: Gertrude Stein (Anm. 49), 27. Neumann hält die Autobiography nicht wie viele andere für einen absoluten Ausnahmetext, der hinter den poetologischen Ansprüchen Steins zurückbleibt, sondern sieht in ihm z.B. die Maxime des ›continuous present‹ erfüllt, während er aber gleichzeitig einen chronologischen Aufbau beibehalte. Neumanns Studie bietet eine ausführliche Analyse des Zusammenhangs zwischen den autobiographischen Texten Gertrude Steins und ihren poetologischen und philosophischen

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rerseits als Delegieren der Erinnerung in der Autobiography an eine Person: Alice ist diejenige, die sich erinnert. Die Autobiography ist mit der Formel »I remember« durchsetzt. Die Ich-Erzählerin erinnert sich, was Stein und andere erzählt haben, ›ich‹ erinnert sich noch an deren NichtErinnern. Damit wird deren Status als Quelle des Erzählten verstärkt – erzählt wird, was die jeweiligen Zeitzeugen erzählen, erzählt wird das, was sie in ihren Geschichten wiederholen. Toklas wird dadurch als Erzählerin zweiter Ordnung bekräftigt. Aus der Tatsache, daß Toklas’ Erzählung einen Zeitraum betrifft, in dem sie weder in Paris gewesen ist, noch Gertrude Stein gekannt hat, ist daher kein Argument gegen eine mögliche Autorschaft abzuleiten. Dadurch, daß sie zu einer Instanz wird, die Erzähltes wieder-erzählt, eröffnet der Text im Gegenteil die Möglichkeit, daß sie auch diejenige ist, die das Buch schreibt. Weder als Autorin noch als Erzählerin müßte sie bei den geschilderten Ereignissen anwesend sein – es reicht, daß sie da gewesen ist, als Geschichten erzählt worden sind. Als Erzählerin des Erzählten, als Figuration der Wiederholung, reicht es, daß sie zugehört hat. Die sich daraus ergebende Autorschaft funktioniert jedoch nicht mehr nach dem Modell der Stimme, die diktiert, was geschrieben werden soll.119 Anstatt zu reden, was geschrieben werden soll, wäre Toklas als Autorin der Autobiography diejenige, die hört, was geschrieben werden soll, bzw. diejenige, die schreibt, was geredet worden ist. Damit wäre aber die Struktur des Diktats nicht umgekehrt, sie wäre einfach nicht mehr modellbildend. Die Anekdoten, die erzählt werden, und ihr Arrangement, ihre Einbettung in die inszenierte Form stolpernder Mündlichkeit, sind alles andere als unmittelbare Notationen. Was heißt das aber für die Stimme des Textes? Wer spricht, wenn die Ich-Erzählerin Erzählen erzählt? »Matisse used to love to tell the story. I have often heard him tell it.« (AS 44) »This is the way Mme. Matisse used to tell the story.« (AS 45) Selbst wenn sie als Erzählerin immer wieder bestätigt wird, ist damit die Frage nach der Stimme des Textes noch nicht beantwortet. Und so, erzählt uns Toklas, hat Madame Matisse die Geschichte des Bilderkaufs erzählt: »Matisse was painting Madame Matisse as a gypsy holding a guitar. This guitar had already had a history. Madame Matisse was very fond of telling the story. She had a great deal to do and she posed beside, and she was very healthy and sleepy. One day she was posing, he was painting, she began to nod and as she nodded the guitar made noises. Stop it, said Matisse, wake up. She woke up, he painted, she nodded and the guitar made noises. Stop it, said Ma-

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Überlegungen. Was in der Autobiography noch nicht vollständig gelungen ist, sieht sie in den späteren autobiographischen Texten eingelöst. Vgl. dazu Kapitel II.2.

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tisse, wake up. She woke up and then in a little while she nodded again the guitar made even more noises. Matisse furious seized the guitar and broke it. And added Madame Matisse ruefully, we were very hard up then and we had to have it mended so he could go on with the picture. She was holding this same mended guitar and posing when the note from the secretary of the autumn salon came [mit dem Angebot für das Bild, H.V.]. Matisse was joyful, of course I will accept, said Matisse. Oh no, said Madame Matisse, if those people (des gens) are interested enough to make an offer they are interested enough to pay the price you asked, and she added, the difference would make winter clothes for Margot [ihre Tochter, H.V.]. Matisse hesitated but was finally convinced and they sent a note saying he wanted his price. Nothing happened and Matisse was in a terrible state and very reproachful and then in a day or two when Madame Matisse was once more posing with the guitar and Matisse was painting, Margot brought them a little blue telegram. Matisse opened it and he made a grimace. Madame Matisse was terrified, she thought the worst had happened. The guitar fell. What is it, she said. They have bought it, he said. Why do you make such a face of agony and frighten me so and perhaps break the guitar, she said. I was winking at you, he said, to tell you, because I was so moved I could not speak. / And so, Madame Matisse used to end up the story triumphantly, you see it was I, and I was right to insist upon the original price, and Mademoiselle Gertrude, who insisted upon buying it, who arranged the whole matter.« (AS 45f.) In dieser Sequenz agiert »Madame Matisse« als Figur der Geschichte und als ihre Erzählerin – sie übernimmt die Erzählstimme. Signalisiert wird diese Doppel-Position durch die zweifache Verwendung von »added«, das jeweils eine andere Redesituation konturiert. In »[a]nd added Madame Matisse ruefully, we were very hard up then and we had to have it mended« bezieht sich das »added« auf Madame Matisses Erzählhaltung gegenüber Toklas, es markiert direkte Rede und damit den Auftritt einer neuen Erzählstimme, die das vergangene Erzählte in die Gegenwart des Erzählens transponiert. In »and she added, the difference would make winter clothes for Margot« ist »added« auf die Kommunikation zwischen Madame und Monsieur Matisse bezogen, d.h. auf die Rede der Figur in der Geschichte. In dieser Dopplung spiegelt sich das Erzählverfahren der Ich-Erzählerin – wie in den Erzählungen Toklas’ findet sich auch in den Erzählungen der Figuren das Umspringen vom Erzählen auf das Erzählte, die Verschränkung von histoire und discours. Trotz kleinerer Differenzen ähneln sich die Geschichten, die von Toklas selbst erzählt werden, und die, die sie in direkter oder indirekter Rede in ihrem Text auftreten läßt, hinsichtlich ihres Aufbaus, der in ihnen

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erzeugten Komik, der Pointierung durch Verknappung. Es geht also nicht um die Art und Weise, in der Madame Matisse die Geschichte erzählt, um die Färbung, den Tonfall oder den Stil als Ausdrucksqualitäten der unterschiedlichen Erzähler. Es geht vielmehr darum, ein Ereignis aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu fokussieren, d.h. anstelle des Ereignisses zwei oder mehr Geschichten dieses Ereignisses zu präsentieren. Auf diese Weise wird die referentielle Beziehung zwischen Geschehen und Geschichte gelöst, und die Geschichte selbst, das Erzählen als vermeintliche Wiedergabe, wird gegenüber dem Ereignis selbst aufgewertet. Andererseits geht es auch darum, die Ich-Erzählerin, Toklas, als diejenige zu etablieren, die die Geschichten aus der Zeit kolportiert, in der sie selbst noch nicht in Paris gewesen ist. Innerhalb der Erzählsituation, die die Autobiography aufbaut, ist Toklas diejenige, die Geschichten sammelt und wiedergibt. Sie ist, um die Formulierung Genettes wieder aufzunehmen, die Produktionsinstanz des Diskurses – sie figuriert jedoch auch als Instanz der Reproduktion des Diskurses. Diese Erzählposition zweiter Ordnung wird im Text immer wieder durch die inquit-Formel markiert. Auch im Anschluß an die Erzählung von Madame Matisse tritt Toklas als exponierte Erzählerin wieder auf und nimmt die im zweiten Kapitel eingeführte Küchenposition wieder ein. Sie beschreibt Matisses Maltechniken: »He used his distorted drawing as a dissonance is used in music or as vinegar or lemons are used in cooking or egg shells in coffee to clarify.« (AS 46) Der Vergleich wird auf die Figur Toklas zurückgeführt: »I do inevitably take my comparisons from the kitchen because I like food and cooking and know something about it.« (Ebd.) Dieses Exponieren der Ich-Erzählerin ist Teil der rhetorischen Strategie des Textes, die zu Anfang eingesetzte Erzählsituation aufrechtzuerhalten und in Erinnerung zu rufen. Denn obwohl das ›I‹ der Ich-Erzählerin immer seltener auftritt, obwohl ›she‹, d.h. Gertrude Stein in der dritten Person Singular, zum häufigsten Personalpronomen wird, kommt es nicht zu einer Ersetzung oder Auflösung der zu Beginn etablierten Erzählstimme. Nicht zuletzt deshalb ist es problematisch, die Autobiography als Autobiography in the Third Person einzuordnen, wie Lejeune es tut. Diese Form der Autobiographie ersetzt das gängige ›ich‹ der Autobiographie, das für die Identität von Autor, Erzähler und Protagonist einsteht, durch die dritte Person oder einen fiktiven Erzähler. Toklas, so Lejeune, werde von Stein als fiktive Zeugin eingesetzt. Andererseits, und das verkompliziert den Sachverhalt, war Toklas »not an imaginary character but the very real companion of Gertrude Stein«.120 Deshalb besteht grundsätzlich 120

Lejeune: Autobiography in the Third Person (Anm. 56), 43. Als Autobiographie in der dritten Person müßte der Text in jedem Fall The Autobiography of Gertrude Stein heißen. Die Dissoziation von Ich-Erzählerin und Protagonistin fiele dann stärker ins Gewicht. Unter dem Titel The Autobiography

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die Möglichkeit, daß The Autobiography of Alice B. Toklas im Sinne des autobiographischen Pakts tatsächlich die Autobiographie von Alice B. Toklas ist. Mit den ersten drei Kapiteln sind die wesentlichen Erzählverfahren, Stimmen und Perspektiven lanciert, die für den Text charakteristisch bleiben. Das erste Kapitel führt Toklas als Ich-Erzählerin ein, markiert sie als rezeptive Instanz und setzt den für die Autobiography typischen Tonfall. Bereits in den ersten Sätzen spielt es mit den Konventionen autobiographischer Literatur und lenkt so den Blick auf seine eigenen Erzählverfahren. Im zweiten Kapitel wird die Ich-Erzählerin als Augenzeugin profiliert: Ihre stolpernden Erzählungen und umwegigen Berichte über die ersten Tage in Paris erzeugen einen Effekt von Unmittelbarkeit, der jedoch durch die komplexen Zeitstrukturen des Textes hervorgerufen wird, die diese Unmittelbarkeit konterkarieren. Im dritten Kapitel verschiebt sich der Akzent von der Augenzeugenschaft auf das, was als Erzählen aus zweiter Hand beschreibbar ist. Temporär nehmen andere Figurenstimmen in direkter und indirekter Rede die Position der Erzählerin ein. Diese Erzählverfahren werden in den folgenden Kapiteln der Autobiography beibehalten – Toklas kommt z.B. dann wieder als Augenzeugin ins Spiel, wenn die erzählte Zeit im fünften Kapitel, 1907-1914, wieder im Jahr 1907 bei Toklas und mit Toklas in Paris ankommt: »AND so life in Paris began and as all roads lead to Paris, all of us are now there, and I can begin to tell what happened when I was of it.« (AS 95) Auf thematischer Ebene finden allerdings Verschiebungen statt, so rückt Gertrude Stein zunehmend als Autorin in den Blick. Daß die Autobiography dennoch keine abschließende Autorsignatur erhält, zeigt der folgende dritte Teil. Toklas’ Wandel von der Augen- zur Ohrenzeugin ist eine narrative Strategie, um die einmal etablierte Erzählfiktion aufrechtzuerhalten. Die Möglichkeit, daß Toklas nicht nur die Erzählerin, sondern auch die Autorin der Autobiography sein könnte, bleibt bestehen. Aus den Erzählverfahren kann keine definitive Aussage über die Autorschaft abgeleitet werden – sie kann weder Gertrude Stein zugeschrieben noch Alice B. Toklas abgesprochen werden.

of Alice B. Toklas kann es sich aber nicht um eine Autobiographie Gertrude Steins in der dritten Person handeln.

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3. The UnMaking of Authorship: Ghostwriting Autobiography In den folgenden Kapiteln der Autobiography of Alice B. Toklas läßt sich trotz der beibehaltenen Umwege und Aufschübe der Erzählung ein durchgängiger thematischer Strang ausmachen: Sie schildern, wie Gertrude Stein zur Autorin wird. Erzählt wird, was sie schreibt, in welchen Situationen sie schreibt, welche Rolle die englische Sprache für sie spielt und wie sich ihre poetischen Konzepte verändern.121 Fokussiert werden dabei jedoch nicht nur diese produktionsästhetischen Fragen. Fast genauso ausführlich berichtet die Ich-Erzählerin von den Arbeiten und Anstrengungen, die sie selbst unternimmt, um das von Stein Geschriebene zu publizieren. Berichtet wird von Toklas als Sekretärin, Herausgeberin, Abschreiberin, Korrekturleserin und Agentin. Die Autobiography demonstriert, wie ein/e Autor/in gemacht wird. Auf der Ebene der histoire erhält sie den Charakter einer Dokumentation im Sinne eines Making of, ohne jedoch die skizzierten Erzählverfahren wesentlich zu variieren. In dieser Geschichte der Autor-Herstellung ist auch der Text selbst zu situieren – er ist ein Teil dieses Prozesses. Die literarische Produktion Gertrude Steins wird in der Autobiography von Beginn an thematisiert. Das vierte Kapitel, Gertrude Stein before she came to Paris, markiert jedoch mit seiner Zitation der ersten Kapitel-Überschrift, Before I came to Paris, einen Neu-Anfang. Indem sie konventionelle Topoi von Autoren-Auto/Biographien aufruft, nimmt Toklas’ Erzählung selbst die Form einer solchen Biographie an: Erzählt wird von der Familiengeschichte Steins, von ihrem Bildungsgang, von möglichen Einflüssen und ihren ersten Schreibversuchen. In gewisser Weise realisiert dieses Kapitel, was in der Autobiography bereits angekündigt worden ist: »One day Gertrude Stein was saying something about herself and Roché said good good excellent that is very important for your biography. She was terribly touched, it was the first time that she really realized that some time she would have a biography.« (AS 51) Das vierte Kapitel verläßt Paris und geht noch weiter in der Zeit zurück. Wie der erste beginnt auch dieser zweite Anfang mit einer Geburt – es kommt zur zweiten Geburt der Autobiography. Dabei wechselt die Ich-Erzählerin von der konventionellen Form der Autobiographie, »I was born...«, zu der der Biographie: »Gertrude Stein was born in Alleghany, Pennsylvania.« (AS 77) Die Ich-Erzählerin gibt sich jedoch gleich als po121

Eine ausführliche Darstellung dieser ästhetischen Überlegungen bis 1932 findet sich bei Marianne DeKoven: A Different Language. Gertrude Stein’s Experimental Writing. Madison 1983. Für die später entstandenen Texte vgl. Dagmar Buchwald: Jenseits von Aktion und Passion. Die späten modularen Romane der Gertrude Stein. München 1995.

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tentiell unzuverlässige Erzählerin zu erkennen: »As I am an ardent Californian and as she spent her youth there I have often begged her to be born in California but she has always remained firmly born in Alleghany, Pennsylvania. […] She used to say if she had been really born in California as I wanted her to have been she would never have had the pleasure of seeing the various french officials try to write Alleghany, Pennsylvania.« (Ebd.) Dem Geburtsort, das stellt der Text aus, kommt keine wesentliche Bedeutung zu. Man kann ihn einfach in der Erzählung ändern, man kann aber auch an ihm festhalten, weil es ein Vergnügen ist, französische Staatsangestellte zu beobachten, während sie versuchen, »Alleghany, Pennsylvania« zu schreiben. Der Geburtsort interessiert nicht als signifikantes Faktum, sondern in seiner Abhängigkeit von der Erzählung.122 Steins beharrliches Festhalten an Alleghany insistiert in der Autobiography als Wiederholung: »She was born in Alleghany, Pennsylvania, of a respectable middle class family.« (AS 78) »She was born in Alleghany, Pennsylvania, in a house, a twin house.« (Ebd.)123 Der letzte Teil dieser zweiten Wiederholung, »a house, a twin house«, überträgt das Prinzip der Wiederholung in den Satz selbst und gibt ihm einen Namen: »twin«.

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Außer auf dem Papier ist er nicht einmal mehr existent: »She left it when she was six months old and has never seen it again and now it no longer exists being all of it Pittsburg.« (AS 77) Der Hinweis auf das »twin house« ruft – gewollt oder nicht – den Anfang einer anderen Auto(r)biographie in Erinnerung, in der der Autor in »einem alten Hause wohnte[], welches eigentlich aus zwei durchgebrochenen Häusern bestand«. Es handelt sich um Goethes Dichtung und Wahrheit: »Am 28. August 1749, mittags mit dem Glockenschlage zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt.« (Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Goethes Werke IX. Hg. v. Erich Trunz. Textkritisch durchges. v. Lieselotte Blumenthal. Hamburg 1964, 11 und 10.) Goethes Autobiographie ergänzt den Geburtsort durch das Geburtsdatum und gibt damit die beiden Daten an, die neben dem Eigennamen Individualität verbürgen und diese in offiziellen Papieren als Identität bestätigen. Auf den folgenden Seiten bewegt sich der Text von einer detaillierten Beschreibung des Geburtshauses zu einem ausführlichen Bericht darüber, wie das Kind Johann Wolfgang die es umgebende Stadt Frankfurt wahrgenommen hat. Ergänzt wird diese Darstellung durch historische und geographische Detailinformationen über die Stadt und Hinweise auf die wichtige Rolle, die seine Familie in ihr gespielt hat. Diese Autorbiographie hat ihre Wurzel in einem situierbaren Herkunftsort, der sich auf das Leben des Protagonisten als Geschichte auswirkt: »Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet, und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt.« (Ebd. 9.) Mit dieser Art der genetischen Schilderung bricht die in der Autobiography entworfene Autor-Biographie Steins.

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Mit dem Prinzip der Wiederholung wird ein impliziter Hinweis auf Steins The Making of Americans124 gegeben, das gleichzeitig immer wieder als eine alternative Familiengeschichte benannt wird: »Gertrude Stein’s mother as she describes her in The Making of Americans, a gentle pleasant little woman with a quick temper« (AS 78). »The family went west to California after a short stay in Baltimore at the home of her grandfather, the religious old man she describes in The Making of Americans« (AS 81). »But all this and much more, all the physical life of these days, she has described in the life of the Hersland family in her Making of Americans.« (AS 82). In der Kopplung von Familiengeschichte und Literaturproduktion erzählt das vierte Kapitel von der Geburt, Kindheit und Jugend einer Autorin. Toklas ist als Erzählerin diejenige, die aus den Erinnerungen Gertrude Steins125 eine lücken- und sprunghafte, aber chronologische Geschichte konstituiert. Berichtet werden einzelne Anekdoten aus der Kindheit in Wien, Paris und San Francisco, aus der Studienzeit am Radcliffe College und von der Begegnung mit William James, vom Beginn und Ende ihres Medizinstudiums an der Johns Hopkins Universität, von den Sommerurlauben in Europa, vom Umzug nach London und der Rückkehr in die USA. Die Chronologie der Ereignisse wird jedoch nicht zu einer psychologischen Bildungsgeschichte126 zusammengefügt, vielmehr entsteht ein eher statischer Eindruck von Stein. Was Breslin für den gesamten Text beobachtet hat, gilt auch für die Autor-Biographie im vierten Kapitel: »Stein is not created as a realistic, psychologically complex character; she is, rather, an abstraction, a deliberate simplification – a mythical figure whose peaceful self-sufficiency allows her to transcend external circumstances.«127 Die einzelnen Stationen werden nicht im Hinblick darauf geschildert, ob oder inwiefern sie Steins Schreiben beeinflußt haben.128 Institutionen, 124 125

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Gertrude Stein: The Making of Americans. Being a History of a Family’s Progress. London 1968. Die Erstausgabe erschien 1925 in Paris. An dieser Stelle der Autobiography ist es Stein, die sich erinnert: »All she remembers […]. Also she remembers […]. Here Gertrude Stein has more lively memories. She remembers […]. She also remembers […] and she also remembers […]. She also remembers […]. She also remembers […]«. (AS 79f.) Die Erinnerung wird hier nicht an Toklas delegiert, so daß plausibel bleibt, was sie erzählt. »Gertrude Stein never had subconscious reactions« (AS 87). Breslin: Gertrude Stein (Anm. 53), 155. Während es vor allem in der älteren Forschungsliteratur Versuche gab, Steins Schreibverfahren aus den in ihrer Studienzeit bei Hugo Münsterberg mit Leon Solomon durchgeführten (Selbst-)Experimenten zum automatischen Schreiben abzuleiten (vgl. B.L. Reid: Art by Subtraction: A Dissenting Opinion of Gertrude Stein. Norman 1958), gesteht die Autobiography zwar ein, daß diese Versuche »a definitve mark on her life« hinterlassen hätten, behauptet aber ein paar Zeilen weiter, daß die von ihr damals publizierte Studie deshalb interessant sei, »because the method of writing to be afterwards developed in Three Lives and Making of Americans already shows

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Lehrer und andere Studierende scheinen auf eine »Gertrude Stein« zu treffen, die in gewisser Weise immer schon fertig ist und sich als solche zu ihrem Gegenüber positiv129 oder negativ130 verhält. Ihr Lektüreprogramm folgt seit dem achten Lebensjahr der gleichen Regel: »She read anything that was printed that came her way and a great deal came her way.« (AS 82) Sie liest alle Bücher der heimischen Bibliothek, »[s]he read them all and many times« (ebd.), und der öffentlichen Bibliotheken. »From her eighth year when she absorbed Shakespeare to her fifteenth year when she read Clarissa Harlowe, Fielding, Smollett etcetera and used to worry lest in a few years more she have read everything and there would be nothing unread to read, she lived continuously with the english language. […] In fact she was as she still is always reading. She reads anything and everything and even now hates to be disturbed and above all however often she has read a book and however foolish the book may be no one must make fun of it or tell her how it goes on. It is still as it always was real to her.« (AS 82f.) Neben den parodistischen Anspielungen auf die Topoi des genialen Kindes, das im Alter von acht Jahren den gesamten Shakespeare liest, und des unkontrollierbaren, wahllosen weiblichen Lesehungers, enthält diese Passage zwei weitere wichtige Informationen: Die Leserin Stein »lived continuously with the english language« und »she was as she still is (always reading)«. Der Lektüreprozeß wird nicht als Bildungsprogramm vorgeführt, sondern als kontinuierlicher Aufenthalt in der englischen Sprache. Lesen läuft an dieser Stelle nicht auf eine Ansammlung von Wissen oder die Ausbildung eines Geschmacksurteils hinaus.131 Lesen konzentriert sich als wiederholtes Lesen auf die englische Sprache, in der Stein »lebt«.

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itself« (AS 86). Die Methode des Schreibens zeigt sich schon, sie ist schon da gewesen. Nur eine Seite weiter wird bestritten, daß Stein ein geeignetes »subject for automatic writing« (AS 87) gewesen sei. (Vgl. Gertrude Stein: Cultivated Motor Automatism: A Study of Character and its Relation to Attention. In: Psychological Review 5 (1898), 295-306; zu den Experimenten vgl. Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800 – 1900. München ³1995, 283-288). »William James delighted her. His personality and his teaching and his way of amusing himself with himself and his students all pleased her.« (AS 87) Als sie sich in ihrem Medizinstudium zu langweilen beginnt, hört Stein auf, für die Prüfungen zu lernen, und droht so, ihren Abschluß zu gefährden. »Her very close friend Marion Walker pleaded with her, she said, but Gertrude Gertrude remember the cause of women, and Gertrude Stein said, you don’t know what it is to be bored.« (AS 91) Potentiell werden alle Bücher mehr als einmal gelesen, »she read them all and many times« / »however often she has read a book and however foolish the book may be«. Damit unterscheidet Stein in der Auswahl ihrer Lektüre nicht zwischen Büchern, die nur einmal gelesen werden müssen, und Büchern, die es wert sind, zweimal gelesen zu werden. Ihre Lektüre ist dezidiert anti-kanonisch (vgl. Georg Stanitzek: »0/1«, »einmal/zweimal« – der Kanon in der Kommunikation. In: Bernhard J. Dotzler (Hg.): Technopatho-

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Eingeführt durch eine erstaunte Frage der Ich-Erzählerin, warum Stein weder französische Zeitungen noch Bücher lese, wird schon im zweiten Absatz des vierten Kapitels auf die große Bedeutung der englischen Sprache als Lektüre- und Schreibsprache hingewiesen. Die Sprache, die Stein schreibt, ist die Sprache, die sie liest, ihre geschriebene Sprache ist eine gesehene: »I don’t hear a language, I hear tones of voice and rhythms, but with my eyes I see words and sentences and there is for me only one language and that is english. One of the things that I have liked all these years is to be surrounded by people who know no english.« (AS 77) Nicht von Englischsprechenden umgeben zu sein, bedeutet, alleine zu sein »with my eyes and my english« (AS 78). Steins Literatur-Sprache ist diese gesehene, gelesene Sprache. Diese Konzentration ist besonders dann gegeben, wenn die Schreibende noch nicht zur Autorin geworden ist, d.h. wenn sie selbst noch nicht gelesen wird: »And they none of them could read a word I wrote, most of them did not even know that I did write. No, I like living with so very many people and being all alone with english and myself.« (AS 78) Als Toklas in Paris ankommt, trifft sie auf eine Schriftstellerin ohne Publikationen und ohne Publikum. Ihre Ankunft in Paris wird jedoch als Beginn eines Prozesses markiert, an dessen Ende Gertrude Stein (sich selbst) zur Autorin geworden ist: »ONCE more I have come to Paris and now I am one of the habitués of the rue de Fleurus. Gertrude Stein was writing The Making of Americans and she had just commenced correcting the proofs of Three Lives. I helped her correct them.« (AS 77) Die Beziehung beider Frauen wird als ein Arbeitsverhältnis skizziert, als ein Verhältnis von Autorin und Assistentin.132 Toklas wird symbolisch als erste Leserin eingeführt – Stein ist nun nicht mehr »alone with myself

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logien. München 1992, 111-134). Obwohl Stein an anderer Stelle sehr wohl Kriterien für die Bewertung von Kunstwerken und Büchern formuliert hat (vgl. etwa Gertrude Stein: What are Masterpieces? New York u.a. 1970), hat sich an dieser Lesehaltung nichts geändert: »You only add books you never subtract or divide them and any book that is printed is a book. […] [I]t is like the man who said about automobiles when some one asked him is that mark a good one, all automobiles are good, some might go better than others but they all go« (Gertrude Stein: My Debt to Books. In: Haas (Hg): A Primer for the Gradual Understanding (Anm. 1), 113f., hier 113). Der dezente Hinweis auf die Liebesbeziehung zwischen Toklas und Stein, »now I am one of the habitués«, dient auch der Beglaubigung der Erzählerin. Das, worauf sich die Neugier der am Küchenklatsch interessierten Lektüre richtet, der Beginn der Liebesbeziehung zwischen beiden Frauen, wird so jedoch ausgespart und in äußerster Verknappung erzählt. Eine Parallelstelle findet sich zu Beginn des fünften Kapitels, 1907-1914, wo dieser Einzug ähnlich unspektakulär eingereiht in eine Liste von Wohnungswechseln referiert wird: »When I first came to Paris a friend and myself stayed in a little hotel in the Boulevard Saint Michel, then we took a small apartment in the rue Notre Dame des Champs and then my friend went back to California and I joined Gertrude Stein in the rue de Fleurus.« (AS 95)

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and my english«. Tatsächlich war Three Lives als erstes Buch Steins längst veröffentlicht,133 als Toklas im Dezember 1910 in Gertrude und Leo Steins Wohnung einzog. Die narrative Verdichtung von Einzug, Schreiben und Korrigieren verknüpft Toklas’ Ankunft mit der Autorschaftsthematik. Im gleichen Moment, in dem Toklas als helfende Leserin auftritt, profiliert sich Stein als Autorin – sie ist Quelle nicht nur eines Textes, dessen Druckfahnen sie korrigiert, sondern auch eines zweiten. Damit erfüllt sie eine Grundbedingung von Autorschaft: »Ein wirklicher Autor ist man vielleicht erst ab einem zweiten Buch, wenn der Eigenname auf dem Umschlag zum ›gemeinsamen Faktor‹ mindestens zweier verschiedener Texte wird und somit die Vorstellung einer Person weckt, die sich auf keinen ihrer Texte im einzelnen einschränken läßt, sondern noch andere hervorbringen kann und über allen ihren Texten steht.«134 Nach diesem Kriterium Lejeunes ist Stein erst nach der Veröffentlichung von Tender Buttons (1914) als eine wirkliche Autorin zu bezeichnen. Auf der Ebene des Erzählten wird sie jedoch mit dem Auftauchen der Leserin Toklas als Autorin bestätigt, die mit den Druckfahnen von Three Lives und den Anfängen von The Making of Americans135 zeigt, daß sie mehr als ein Buch schreiben kann.136 Während die Ausführungen über das kontinuierliche Lesen der englischen Sprache als Andeutung später ausformulierter poetologischer Kategorien gelesen werden können,137 setzen andere Passagen des vierten Kapitels den humoristisch-spöttelnden Tonfall fort: »Once when she was about eight and she tried to write a Shakespearean drama in which she got as far as a stage direction, the courtiers made witty remarks. And then as she could not think of any witty re-

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Gertrude Stein: Three Lives. New York 1909. Lejeune: Der autobiographische Pakt (Anm. 25), 24. Auf die Fertigstellung und Publikation von The Making of Americans wird im Laufe dieses Kapitels mehrfach hingewiesen. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Autobiography ist sie natürlich auch öffentlich schon mehrfach als Autorin aufgetreten. Als erste Leserin von Three Lives wird Sara Stein, die Frau ihres Bruders Michael, angegeben: »Gertrude Stein asked her sister-in-law to come and read it. She did and was deeply moved. This pleased Gertrude Stein immensely, she did not believe that any one could read anything she wrote and be interested.« (AS 58) Die Anerkennung, die der Autor als Schriftsteller erfährt, so Stein, konstituiert ihn als human nature, d.h. als eine Identität. Für den kreativen Prozeß, muß der Schriftsteller jedoch als human mind, als Entität agieren, d.h. als »thing in itself and not in relation«: »And so always it is true that the master-piece has nothing to do with human nature or with identity, it has to do with the human mind and the entity that is with a thing in itself and not in relation. The moment it is in relation it is common knowledge and anybody can feel and know it and it is not a master-piece.« (Stein: What are Masterpieces? (Anm. 131), 88.) Für eine ausführliche Analyse des Zusammenhangs zwischen Gertrude Steins ästhetischen Schriften und den Autobiographien vgl. Neumann: Gertrude Stein (Anm. 49).

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marks gave it up.« (AS 83f.) Der schon einmal angeführte WunderkindTopos wird erneut bemüht – von einem Wunderkind kann jedoch nicht die Rede sein. Das erste ›Werk‹ ist ein Satz, ist nur eine Regieanweisung: »The courtiers made witty remarks.« Die Bedeutsamkeit, die den ersten Schriften von Autoren in der biographischen Literatur eingeräumt wird, wird hier parodiert und ad absurdum geführt. In diesem Kontext wird auch eine vielbeachtete Bemerkung Steins gegenüber Hemingway zitiert – nur eine Seite weiter heißt es: »Once when Hemingway wrote in one of his stories that Gertrude Stein always knew what was good in Cézanne, she looked at him and said, Hemingway, remarks are not literature.« (AS 85) Obwohl als durchaus ernstzunehmende Kritik formuliert,138 ist sie tongue in cheek gesprochen und auch an die Achtjährige adressiert, die an den »witty remarks« scheitert, von denen es in der Autobiography nur so wimmelt. Das vierte Kapitel, das die Vorgeschichte Steins erzählt, parodiert genetische Erzählmuster von Autor-Biographien, während es gleichzeitig in dem wiederkehrenden Hinweis auf The Making of Americans die Ernsthaftigkeit der Autorin unterstreicht. Damit ist Stein als Autorin ins Zentrum der Geschichte gerückt; aus der Chronologie ihrer Texte ergibt sich nun ein thematischer roter Faden, der durch gelegentliche Abschweifungen oder Zeitsprünge zwar unterbrochen, aber nicht mehr durchtrennt wird. Die Autobiography erwähnt nicht nur alle größeren Projekte, an denen Stein nach 1907 arbeitet,139 sie nennt darüberhinaus auch kleinere Arbeiten,140 stellt ganze Überblickslisten her141 und nimmt Erläuterungen 138

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Diese Bemerkung über Bemerkungen wird an späterer Stelle noch einmal aufgenommen und dadurch aus dem parodistischen Kontext, in dem sie das erste Mal auftaucht, gelöst. Sie erhält zudem einen anderen Anlaß: »He had added to his stories a little story of meditations and in these he said that The Enormous Room was the greatest book he had ever read. It was then that Gertrude Stein said, Hemingway, remarks are not literature.« (AS 237) »The Making of Americans« (AS 124), »Tender Buttons« (AS 130), »Geography and Plays« (AS 206) und »Stanzas of [sic!] Meditation« (AS 243). Genannt werden z.B. »A Long Gay Book«, »Many Many Women« und »Ada« als Beginn des Poträtschreibens, das »in all manners and all styles« fortgesetzt worden sei (AS 124); mehr oder minder ausführlich werden auch thematisiert: »Useful Knowledge« (AS 196, 261), »Accents in Alsace and other political plays« (AS 206), »a portrait of T.S. Elliot […] called […] the fifteenth of November« (AS 217), »Elucidation« (AS 226), »A Novel« (AS 242, 261), »Phenomena of Nature« (AS 242), »Before the Flowers of Friendship faded Friendship faded« (AS 249), »Composition as Explanation« (AS 252), »Four Saints« (AS 260), »Lucy Church Amiably« (AS 261) u.a. »Mildred’s Thoughts, published in The American Caravan, was one of these experiments she thought most successful. The Birthplace of Bonnes, published in The Little Review, was another one. Moral Tales of 1920-21, American Biography, and One Hundred Prominent Men, when as she said she created out of her imagination one hundred men equally men and all

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aus Steins poetologischen Schriften zitierend oder paraphrasierend auf.142 Es werden die äußeren Umstände oder Anlässe geschildert, in denen die Texte entstanden sind und die den Rhythmus dieser Texte beeinflußt haben.143 Ergänzt werden diese produktionsästhetischen Informationen durch Erzählungen über erste Publikumsreaktionen. Dabei sind im wesentlichen drei Kategorien von Publikum zu unterscheiden: Es gibt das große, ›öffentliche‹ Publikum, das sich über Stein lustig macht,144 sie aber zitiert.145 Es gibt Bewunderer, die ihr gegenüber lobende Worte finden, sie aber weder zitieren noch öffentlich von ihrer Begeisterung berichten.146 Und es gibt drittens diejenigen, die sie lesen, begeistert sind und

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equally prominent were written then. These two were later printed in Useful Knowledge.« (AS 223) An anderer Stelle heißt es: »It was this summer that Gertrude Stein […] wrote the Completed Portrait of Picasso, the Second Portrait of Carl Van Vechten, and The Book Concluding With As A Wife Has A Cow A Love Story this afterwards beautifully illustrated by Juan Gris.« (AS 240) Für eine weitere fast halbseitige Auflistung vgl. AS 226. »She says hitherto she had been interested only in the insides of people, their character and what went on inside them, it was during that summer that she first felt a desire to express the rhythm of the visible world.« (AS 130) Es finden sich auch Äußerungen zu poetologischen Konzepten, etwa zum Begriff »exactitude« vgl. AS 228. »During this long poses and these long walks Gertrude Stein meditated and made sentences.« (AS 56) »She was particularly fond in these days of working in the automobile while it stood in the crowded streets. […] She was much influenced by the sound of the streets and the movement of the automobiles. She also liked then to set a sentence for herself as a sort of tuning fork and metronome and then write to that time and tune.« (AS 223) Einige Porträts entstehen analog zum »movement of the tiny waves on the Antibes shore« (AS 240). Composition As Explanation wird geschrieben, während sie in einer Werkstatt zusieht, wie ihr Auto auseinandergenommen und wieder zusammengebaut wird (vgl. AS 251f.). Die Geräusche, die ihr Pudel Basket beim Wassertrinken macht, »made her recognize the difference between sentences and paragraphs« (AS 268). »It was Henry McBride who used to keep Gertrude Stein’s name before the public all those tormented years. Laugh if you like, he used to say to her detractors, but laugh with her and not at her, in that way you will enjoy it all much better.« (AS 133) Vgl. auch AS 78, 186, 263. »They always say, she says, that my writing is appalling but they always quote it and what is more, they quote it correctly […]. This at some of her most bitter moments has been a consolation. My sentences do get under their skin, only they do not know that they do, she has often said.« (AS 78) Ein erstes Beispiel für die Verwirrung, die ihre Texte auslösen, ist die Reaktion des Grafton-Verlages, der Three Lives publiziert. Eines Tages, so erzählt Toklas, kam ein junger Vertreter des Verlages, um sich zu erkundigen, ob Stein der englischen Sprache auch wirklich mächtig sei (AS 76). In der Erzählung verkehrt sich die unverständige Reaktion des Verlags in eine der typischen humoresken Anekdoten. »[T]hose they say they admire they do not quote« (ebd.). Vgl. auch AS 213 und AS 263: »There are many writers who write her letters of admiration but even when they are in a position to do so they do not write themselves down in book reviews.«

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es publik machen.147 In diesen Geschichten ist mehrfach von Steins Bitterkeit und Entmutigung die Rede bzw. vom »great comfort« (AS 123), den die positiven öffentlichen Reaktionen bedeuten. Einerseits wird an einigen der angeführten Stellen die existentielle Abhängigkeit der Autorin von der Anerkennung durch ihr Publikum deutlich. Andererseits reihen sich die Geschichten der ablehnenden, ironisierenden Kommentare ein in eine Kette früherer Schilderungen, in denen die Heftigkeit der Publikumsreaktion ein Indiz für die Modernität des Künstlers gewesen ist.148 Und so besteht auch die Gegenreaktion Steins nicht im Rückzug. »Stirred by the publication of Tender Buttons many newspapers had taken up the amusement of imitating Gertrude Stein’s work and making fun of it. Life began a series that were called after Gertrude Stein.« (AS 186) Gemäß ihrem Glauben an ein »larger public« (AS 270) reagiert Stein auf die Serie im Life Magazine, indem sie dem Herausgeber einen Brief schreibt und fragt: »[W]hy did they not print the original«. »Mr Mason«, der »more courage than most« (AS 186) hat, druckt die von ihr eingesandten Texte. Mit dieser Anekdote ist eine weitere Dimension von Autorschaft angeschnitten, die in der Autobiography zunehmend thematisiert wird, nämlich die Frage der Publikationsmöglichkeiten. »One writes for oneself and strangers,« heißt es – The Making of Americans zitierend149 –, »but with no adventurous publishers how can one come in contact with those same strangers.« (AS 259) Das Problem der Publikation wird als konstitutive Bedingung für Autorschaft vorgeführt: Three Lives erschien 1909 – »printed privately and by a perfectly unknown person« (AS 123). Obwohl es für Aufsehen sorgt, wird Stein auch Jahre später noch große Schwierigkeiten haben, ihre Texte zu veröffentlichen: »Gertrude Stein was in those days a little bitter, all her unpublished manuscripts, and no 147

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Als positive Statements werden explizit folgende genannt: eine anonyme Rezension zu Three Lives im Kansas City Star (AS 123), ein Essay von Sherwood Anderson ohne Quellenangabe (AS 213), zwei Besprechungen von Edith Sitwell zu Geography and Plays im Athenaum und in der britischen Vogue (AS 250), ein Artikel von Bernard Faÿ in der Revue Européenne (AS 269) und diverse Kritiken von Marcel Brion in Les Nouvelles Littéraires (ebd.). »This first autumn salon was a step in official recognition of the outlaws of the independent salon. […] There were a number of attractive pictures but there was one that was not attractive. It infuriated the public, they tried to scratch off the paint.« (AS 39) Bei diesem Bild handelt es sich um Matisses La Femme au Chapeau, das Stein und ihr Bruder kaufen. Eine Verbindung zwischen der Publikumsreaktion auf Matisse und Stein wird explizit hergestellt: »She then went back to look at it and it upset her to see them all mocking at it. It bothered her and angered her because she did not understand why because to her it was so alright, just as later she did not understand why since the writing was all so clear and natural they mocked at and were enraged by her work.« (AS 40) Stein: The Making of Americans (Anm. 124), 289.

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hope of publication or serious recognition.« (AS 213). 1913 reisen Stein und Toklas nach England, um einen Verlag für »all those unpublished manuscripts« (AS 138) zu finden. Die Reise führt erst ein Jahr später zu einem ersten »contract« mit John Lane bei Bodley Head (AS 159). Erzählt wird auführlich, wie Stein vergeblich versucht, ihre Texte im Atlantic Monthly (AS 210f.) und im Criterion (AS 217f.) unterzubringen; erzählt wird auch, daß andere Zeitschriften und Magazine ihre Texte drukken150 – so erscheint The Making of Americans, abgetippt von Hemingway und Toklas, als Fortsetzung im Transatlantic Review (1924).151 Die Schilderung der Korrekturarbeiten, die ein Jahr später bei der ersten Buchausgabe anfallen, betont die Mühsamkeit, die eine solche Aufgabe bedeutet: »The Making of Americans is a book one thousand pages long, closely printed on large pages. Daranière has told me it has five hundred and sixty-five thousand words. It was written in nineteen hundred and six to nineteen hundred and eight, except for the sections printed in Transatlantic it was all still in manuscript. / The sentences as the book goes on get longer and longer, they are sometimes pages long and the compositors were french, and when they made mistakes and left out a line the effort of getting it back again was terrific. / […] [A]ll day we struggled with the errors of French compositors. Proof had to be corrected most of it four times and finally I broke my glasses, my eyes gave out, and Gertrude Stein finished alone.« (AS 241)152 Die Autobiography führt die sekundären redaktionellen und editorischen Arbeiten, die nach der Fertigstellung eines Manuskripts anfallen, eindrücklich vor Augen. In den Berichten über die Publikumsreaktionen, die Bemühungen um einen Verlag und andere Publikationsorte sowie die Arbeit des Publizierens zeigt die Autobiography den Prozeß der Herstellung einer Autorin. Einen nicht geringen Anteil an diesem Prozeß übernimmt Toklas.153 Sie fungiert nicht nur als (Korrektur-)Leserin und als 150

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»Elucidation, printed in transition in nineteen twenty-seven« (AS 226), »The Little Review had printed the Birthplace of Bonnes and The Valentine to Sherwood Anderson« (AS 238), »Left to Right […] which was printed in the London Harper’s Bazaar« (AS 250). Dieser Moment wird als Beginn der Moderne tituliert: »So for the first time a piece of the monumental work which was the beginning, really the beginning of modern writing, was printed, and we were very happy.« (AS 233) The Making of Americans zerbricht nicht nur die Brille und erschöpft die Augen der Korrekturleserin, sondern auch die Schreibmaschine der Kopistin: »The little badly made french portable was not strong enough to type this big book and so we bought a large and imposing Smith Premier which at first looked very much out of place in the atelier but soon we were all used to it and it remained until I had an american portable, in short until after the war.« (AS 95) Unabhängig von der Autobiography hält Catharine R. Stimpson für die Beziehung der beiden Frauen fest: »Stein created Stein the writer. Toklas helped immeasurably, and in the process created Toklas too.« (Catharine

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diejenige, die den Großteil der Manuskripte abtippt, sie übernimmt auch Teile der Korrespondenz und damit die Aufgaben einer Sekretärin.154 Als Three Lives 1909 publiziert wird, ist es Toklas, die über »Romeike’s clippings bureau« (AS 123) die erscheinenden Rezensionen anfordert. Diese sekundären Arbeiten werden nicht nur alle erwähnt, in ihrer Schilderung gibt es zwei Beispiele, die implizit andeuten, daß das Sekundäre in den Schreibprozeß eingreift: »I always say that you can not tell what a picture really is or what an object really is until you dust it every day and you cannot tell what a book is until you type it or proof-read it. It then does something to you that only reading never can do.« (AS 124) Im Rückgriff auf den hausfraulichen Vergleich des Abstaubens wird sowohl dem Abtippen der Manuskripte als auch dem Korrekturlesen der Druckfahnen eine besondere Lektürequalität zugesprochen, die über das normale Maß hinausgeht – es ist nicht mehr »only reading«. Folgt man der eingespielten Spur des Abstaubens, stößt man auf folgende Stelle: »Gertrude Stein is awfully patient over the breaking of even the most cherished objects, it is I, I am sorry to say who usually break them. Neither she nor the servant nor the dog do, but then the servant never touches them, it is I who dust them and alas sometimes accidentally break them.« (AS 96)155 Den Text lernt man beim Korrigieren und Tippen kennen wie die »breakable objects« beim Abstauben. Die Parallele von Abstauben und Abtippen/Korrigieren wird in der zerbrochenen Brille zusammengeführt: Was entspricht dem Zerbrechen der Objekte auf der Seite des Textes? Sind Korrekturen und getippte Kopien möglicherweise Ein-brüche in den Text? Ein weiteres Beispiel scheint diesen Verdacht zu bestätigen: »As a matter of fact her handwriting has always been illegible and I am very often able to read it when she is not.« (AS 84) Stein wird als Autorin vorgestellt, die nicht lesen kann, was sie schreibt. Hier ist Stein buchstäblich diejenige, die Schrift sieht und nicht liest. Autorschaft verteilt sich auf zwei Personen, und, indem Toklas liest, was Stein nicht mehr lesen kann, wird sie zu der Instanz, in der sich der Text Gertrude Steins allererst konstituiert. Wer schreibt, wenn die Autorin ihr Geschriebenes nicht lesen kann? Wer kann die Kopie überprüfen? »Here Alice is authorized as the primary reader – if not writer – of her own life«.156 Auch wenn man wohl

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R. Stimpson: Gertrice/Altrude. Stein, Toklas, and the Paradox of the Happy Marriage. In: Ruth Perry, Martine Watson Brownley (Hg.): Mothering the Mind. Twelve Studies of Writers and their Silent Partners. New York, London 1984, 122-139, hier 135.) Vgl. AS 217. Über die Reaktion Steins heißt es: »She says she likes what she has and she likes the adventure of a new one« – denn »like books there are always more to find« (AS 97). Gilmore: A Signature (Anm 78), 69.

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nicht davon sprechen kann, daß Toklas hier als Autorin autorisiert wird, so weisen die zitierten Stellen doch auf die ›werk‹-konstitutive Funktion hin, die die vermeintlich sekundären Arbeiten haben. Eine der wichtigsten Aufgaben, die Toklas ab 1930 übernimmt, ist die Veröffentlichung von Steins Schriften in der von ihr gegründeten Plain Edition. »All that I knew about what I would have to do was that I would have to get the book printed and then to get it distributed, that is sold. / I talked to everybody about how these two things were to be accomplished.« (AS 262) Druck und Vertrieb sind neben Werbung157 die Aufgaben eines Verlags, die hier in vorgeblicher Naivität ins Spiel gebracht werden. Zehn Seiten vor dem Ende der Autobiography erzählt Toklas auf vier Seiten von den Schwierigkeiten der Verlagsgründung als Abfolge von zu bewältigenden Aufgaben und rückt damit als Ich-Erzählerin noch einmal ins Zentrum. ›Ich‹ muß einen französischen Drucker finden, der das Buch nicht nur preisgünstig druckt, sondern auch zu binden weiß. Für den Vertrieb hat man dem ›ich‹ geraten, sich an die Buchhändler zu halten. »Excellent advice but how to get to the booksellers.« (AS 262) Anhand einer, wie sich ein Jahr später herausstellt, veralteten Liste von Buchhandlungen verschickt ›ich‹ ihre Rundschreiben, und es gelingt auf diese Weise auch, Bestellungen aus Amerika zu bekommen. Trotz zunehmender Erfahrung bleibt das Problem des Druckens und Bindens bestehen,158 bis ›ich‹ schließlich in Maurice Darantière einen vertrauensvollen Drucker findet: »It was he who had printed The Making of Americans and he was always justly proud of it as a book and as a book making.« (AS 264) Mit Darantière kommt die Geschichte vom BücherMachen schließlich an ihr glückliches Ende.159 Bis in die Frage der Papierwahl hinein erzählt sie von der materiellen und bis in die Preisplanung hinein von der institutionellen Seite des Büchermachens.160 Vor dem Erscheinen der Autobiography, in den drei ersten Jahren ihres Verlags, publiziert Toklas vier Bücher Gertrude Steins.161 In der Erzählung 157 158 159

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»I was also told that I should have reviews.« (AS 263) »It is practically impossible to get a decent commercial binding in France, french publishers only cover their books in paper.« (AS 264) »Maurice Darantière has been as good as his word. […] Now I have an up to date list of booksellers and I am once more on my way.« (AS 265) Die anfängliche Naivität ist hier dem wissenden Kommentar gewichen. Darantière hatte folgendes Vorgehen vorgeschlagen: »We will have your book set by monotype which is comparatively cheap, I will see to that, then I will handpull your books on good but not too expensive paper and they will be beautifully printed and instead of any covers I will have them bound in heavy paper like The Making of Americans, paper just like that, and I will have made little boxes and there you are. And will I be able to sell them at a reasonable price. Yes you will see, he said.« (AS 264f.) Lucy Church Amiably (1930), Before the Flowers of Friendship faded Friendship faded (1931), How to Write (1932) und Matisse Picasso and Gertrude Stein with Two Shorter Stories (1933).

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der Autobiography ist es diese Arbeit Toklas’, die Stein nun auch die Selbstanerkennung als Autorin erlaubt: »The distribution in Paris was at once easier and more difficult. It was easy to get the book put in the window of all the book stores in Paris that sold english books. This event gave Gertrude Stein a childish delight amounting almost to ecstasy. She had never seen a book of hers in a bookstore window before, except a french translation of The Ten Portraits, and she spent all her time in her wanderings about Paris looking at the copies of Lucy Church Amiably in the windows and coming back and telling me about it.« (AS 262f.)162 Gleichzeitig erzählt der Satz aber auch von der Anerkennung Toklas’: Es ist nicht nur von den Wanderungen Steins durch Paris die Rede, sondern auch davon, daß sie Toklas davon erzählt. In den Schaufenstern wird beider Arbeit sichtbar. Einsetzend mit der parodistischen Autor-Biographie im vierten Kapitel erzählt die Autobiography von dem Prozeß und den Arbeiten, die Stein zur Autorin machen. Poetologische und produktionsästhetische Momente werden dabei in gleichem Maße berücksichtigt wie Fragen und Probleme der Rezeption und Publikation. Im letzten Kapitel, After the War, 1919-1932, hat sich Stein als Autorin einen Namen gemacht – wie der zu Beginn des Kapitels erwähnte Eintrag im Who’s Who zeigt: »Gertrude Stein’s name was never in Who’s Who in America. […] This troubled Mildred [Aldrich, H.V.] very much. I hate to look at Who’s Who in America, she said to me, when I see all those insignificant people and Gertrude’s name not in. […] And now just this year for reasons best known to themselves Who’s Who has added Gertrude Stein’s name to their list. The Atlantic Monthly needless to say has not.« (AS 210) Mit der Vorab-Publikation einiger Auszüge aus der Autobiography hat dann auch der Atlantic Monthly Gertrude Stein in seine Autorenliste aufgenommen. Dort wird unter dem Titel Ernest Hemingway and the Post-War Decade und dem Untertitel Autobiography of Alice B. Toklas. IV jedoch etwas anderes behauptet: »Gertrude Stein’s name was never in Who’s Who in America. […] This troubled Mildred very much. ›I hate to look at Who’s Who in America,‹ she said to me, ›when I see all those insignificant people and Gertrude’s name not in.‹ […] And now just this year, for reasons best known to themselves, Who’s Who has added 162

In Steins window-shopping spiegelt sich eine von ihr im zweiten Kapitel erzählte Geschichte über ein Essen, das sie für die befreundeten Künstler gegeben hat: »We had just hung all the pictures and we asked all the painters. You know how painters are, I wanted to make them happy so I placed each one opposite his own picture, and they were happy so happy that we had to send out twice for more bread, when you know France you will know that that means that they were happy, because they cannot eat and drink without bread and we had to send out twice for bread so they were very happy.« (AS 19)

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Gertrude Stein’s name to their list. The Atlantic Monthly, needless to say, has not.«163 Dieser kurze Ausschnitt aus dem letzten der vier von Mai bis August im Atlantic Monthly gedruckten Auszüge164 aus der Autobiography zeigt bereits, daß es sich bei diesem Vorabdruck nicht um ein »Vorab« im strengen Sinne handelt, sondern um eine ganz andere Fassung des Textes. Obwohl der Text der zitierten Stelle – im Gegensatz zu an anderer Stelle auftretenden Abweichungen – derselbe ist, wird im Atlantic Monthly-Zitat die direkte Figurenrede in Anführungsstriche gesetzt, Kommas werden hinzugefügt und die erwähnten Titel werden kursiviert. Die stark gekürzten Auszüge tragen andere Überschriften als die Kapitel der Autobiography und sind jeweils in sich noch einmal in durchnummerierte Unterkapitel aufgeteilt. Als Autorin wird Gertrude Stein genannt.165 Die Redaktion des Atlantic Monthly fühlte sich durch den Widerspruch zwischen Autorinnenname und Titel in einer Vorankündigung zu einem spöttischen Kommentar verleitet: »Gertrude Stein is one of God’s originals, and if she wants to call her life ›The Autobiography of Alice B. Toklas,‹ who are we to cavil at her?«166 Denn das – ihr Leben –, so hält die Redaktion abschließend fest, sei der Text: »At all events, that is what it is«.167 Am Ende des letzten Kapitels, in dem sich die Thematisierung von Autorschaft immer stärker verdichtet und immer weniger Raum für andere Geschichten läßt, kommt es scheinbar auch zu einer Auflösung der Autorschaftsfrage der Autobiography. In Form einer weiteren Anekdote thematisiert sie ihre eigene Entstehung: »For some time now many people, and publishers, have been asking Gertrude Stein to write her autobiography and she had always replied, not possibly. She began to tease me and say that I should write my autobiography. Just think, she would say, what a lot of money you would make. She then 163

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Gertrude Stein: Ernest Hemingway and the Post-War Decade. Autobiography of Alice B. Toklas. IV. In: The Atlantic Monthly 151.8 (1933), 197-208, hier 197f. Gertrude Stein: The Autobiography of Alice B. Toklas. I. In: The Atlantic Monthly 151.5 (1933), 513-527; Dies.: When We Were Very Young. Autobiography of Alice B. Toklas. II. In: The Atlantic Monthly 151.6 (1933), 677688; Dies.: The War and Gertrude Stein. Autobiography of Alice B. Toklas. III. In: The Atlantic Monthly 151.7 (1933), 56-69. Eine Tatsache, die in George Wickes’ Artikel über die wahre Autorschaft der Autobiography eine einfache Erklärung findet: »[T]he book was still going to be published as ›My 25 Years with Gertude Stein.‹ But when Harcourt Brace accepted the book and the Atlantic Monthly decided to publish an excerpt, this was too much for Gertrude Stein to resist. It had been her lifelong ambition to be published in the Atlantic. Alice said she didn’t mind« (Wickes: Who really wrote (Anm. 8), 37). The Atlantic announces for May. In: The Atlantic Monthly 151.4 (1933), 2. Ebd.

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began to invent titles for my autobiography. My Life With The Great, Wives of Geniuses I Have Sat With, My Twenty-five Years With Gertrude Stein. Then she began to get serious and say, but really seriously you ought to write your autobiography. Finally I promised that if during the summer I could find time I would write my autobiography. When Ford Madox Ford was editing the Transatlantic Review he once said to Gertrude Stein, I am a pretty good writer and a pretty good editor and a pretty good business man but I find it very difficult to be all these at once. I am a pretty good housekeeper and a pretty good gardener and a pretty good needlewoman and a pretty good secretary and a pretty good editor and a pretty good vet for dogs and I have to do them all at once and I find it difficult to add being a pretty good author. About six weeks ago Gertrude Stein said, it does not look to me as if you were ever going to write that autobiography. You know what I am going to do. I am going to write it for you. I am going to write it as simply as Defoe did the autobiography of Robinson Crusoe. And she has and this is it.« (AS 271f.) Mit dieser abschließenden Formel, die wie ein verstelltes Zitat der Vorankündigung im Atlantic Monthly – »that is what it is« – klingt, ist scheinbar alles gesagt. »This is it« heißt: Da haben Sie die Autobiographie, hier und jetzt halten Sie sie in der Hand, sie ist fertig. Es heißt auch: Damit ist die Autorschaft geklärt, hier ist die Signatur. Indem sie von der »teasing« Stein zur »serious« Stein wechselt, scheint die zitierte Passage in der Formulierung »this is it« auf einen Abschluß des Buchs zuzulaufen: Jetzt mal ernsthaft. Bei genauerem Hinsehen löst sich dieser gesetzte Schlußpunkt jedoch wieder auf. Die gleiche Passage, so wird zu zeigen sein, verweist die Lektüre mehrfach zurück an den Anfang des Textes, so daß sich der Aussagesatz, wie die in ihm behauptete Signatur, immer wieder als Frage reformuliert: Is this it? Dieses Spiel von Setzung und Zurücknahme einer abschließenden Autorsignatur, die wiederholte Modifikation der Aussage ›this is it‹ in die Frage ›is this it?‹ verwandelt die angekündigte Autorsignatur immer wieder in die offene Signatur eines Ghostwriters. Die Schlußgeschichte der Autobiography beginnt mit einer Rechtfertigungsformel, wie sie üblicherweise am Anfang von Autobiographien zu finden ist: »For some time now many people, and publishers, have been asking Gertrude Stein to write her autobiography...«. Die Umstellung dieser konventionellen Eröffnung an das Ende, so Hoffmann, weist bereits darauf hin, »daß der Schluß gleichzeitig als Anfang fungiert«.168 Mit 168

Hoffmann: Gertrude Steins Autobiographien (Anm. 9), 147.

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den folgenden Sätzen wird die Schlußgeschichte jedoch nicht nur zu einem zweiten Anfang der Autobiography, die Lektüre wird auch auf eine bestimmte Stelle in den Text zurückgelenkt: »She then began to invent titles for my autobiography. My Life With The Great, Wives of Geniuses I Have Sat With, My Twenty-five Years With Gertrude Stein.« Damit sind all die Titel zitiert, die Toklas im zweiten Kapitel bereits ins Spiel gebracht hat. Allerdings wird dort die Geschichte – wie so oft – anders erzählt: »Before I decided to write this book my twenty-five years with Gertrude Stein, I had often said that I would write, The wives of geniuses I have sat with.« (AS 18) Hier ist es Toklas, die den Titel gibt. Indem diese Stelle am Ende der Autobiography noch einmal aufgerufen wird, wird vor der »Enthüllung« der Autorschaft noch einmal die Möglichkeit ins Spiel gebracht, daß Toklas selbst die Autorin sein könnte. Die Aufdeckung der ›wahren‹ Autorschaft am Ende der Schlußgeschichte wird somit eingeleitet durch eine Passage, die eine andere potentielle Autorin benennt. Der Hinweis auf diese frühere Stelle ruft also die einzige Stelle im Text in Erinnerung, die Toklas als Autorin thematisiert. Dort wird eine Behauptung der Autorschaft gesetzt, die zugleich dadurch wieder ausgesetzt wird, daß die Titel, die genannt werden, nicht dem Titel der Autobiography entsprechen.169 Der Schluß der Autobiography wiederholt dieses Spiel von Setzung und Aussetzung einer Autorsignatur nun an der Protagonistin Gertrude Stein. Der Titel »My Twenty-five Years With Gertrude Stein« weist nicht nur zurück ins zweite Kapitel, sondern auch vor auf den Robinson Crusoe-Vergleich am Ende des Textes. »My Twenty-Five Years With Gertrude Stein« übernimmt die Funktion einer ironischen Replik auf den vollen Titel von Defoes Roman: The Life and strange surprising Adventures of Robinson Crusoe, of York, Mariner: Who lived Eight and Twenty Years, all alone in an un-inhabited Island on the Coast of America, near the Mouth of the Great River of Oroonoque; Having been cast on Shore by Shipwreck, wherein all the Men perished but himself. With an Account how he was so strangely deliver’d by Pyrates.170 An die Stelle der »Eight and Twenty Years«, die Robinson »all alone« verbringt, treten »My Twenty-five Years with Gertrude Stein.« – Silberhochzeit. Diese letzte Geschichte in einem Buch voller Geschichten, die sich immer wieder dadurch auszeichnen, daß sie eine Lüge in Kauf nehmen, wenn dadurch eine gute Pointe erzielt werden kann, ist bei allen Irritationen über die Frage nach der ›wirklichen‹ Autorin immer wieder für bare Münze genommen worden: »Gertrude Stein makes clear that she is the 169 170

Vgl. dazu die Auflistung weiter oben. Daniel Defoe: Robinson Crusoe. Hg. v. J. Donald Crowley. Oxford, New York 1972.

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author of her secretary’s autobiography«, schreibt Lejeune.171 »Only now«, so Bridgman, sei der Leser im Besitz der Information, »that Gertrude Stein has written Alice Toklas’s autobiography for her«.172 Die vermeintlich klare Aussage über die Autorschaft der Autobiography, die einer Autorsignatur gleichkäme, wird jedoch von einer Figur des Textes zitiert, die nicht nur als Ich-Erzählerin fungiert, sondern durch den Titel The Autobiography of Alice B. Toklas auch selbst als Autorin ins Spiel gebracht wird. »Not even this sentence is very simple; it is one written by the (likely) actual author, Stein, imputed to the fictive author, Toklas, who is reporting something said by the character Stein to the character / author Toklas; the sentence, moreover, compares the autobiography of a fictional character (Robinson Crusoe) with that of a character who was real, at least until Stein started writing the autobiography for her.«173 Der Hinweis auf Defoe und Robinson Crusoe ist ein klares Fiktionalitätssignal, bei dem jedoch nicht sicher ist, worauf es sich bezieht – auf den gesamten Text der Autobiography oder auf die Behauptung der Autorschaft. So hat sich auch Bridgman angesichts der zitierten Auflösung der Problematik, die genauso erhellend wie verwirrend ist, nicht davon abhalten lassen, sich bei den in Yale archivierten Manuskripten noch einmal zu vergewissern, ob Toklas nicht vielleicht doch am Schreiben der Autobiography beteiligt war. Für Robinson Crusoe ist dies nicht nur als Möglichkeit in Aussicht gestellt, sondern in einem Titelzusatz explizit behauptet worden: The Life and strange surprising Adventures of Robinson Crusoe, of York […]. Written by himself. Der Titel benennt den Protagonisten des Romans als Autor. Zeitgenössische Leser haben den Text daher nicht als fiktive Erzählung wahrgenommen, sondern als einen Tatsachenbericht, dessen Wahrheit sie angezweifelt haben. Daniel Defoe hat diese Lektüre dadurch forciert, daß er von sich in einem Vorwort behauptet, lediglich der Herausgeber der Schriften Robinson Crusoes zu sein, der keinerlei Zweifel an der Faktizität der erzählten Geschichte habe: »The Editor believes the thing to be a just History of Fact; neither is there any Appearance of Fiction in it«.174 Die Herausgeberfiktion wird gestützt durch den Anfang des Romans, dessen erster Satz – in Verbindung mit dem Vorwort – einen referentiellen autobiographischen Diskurs signalisiert: »I was born in the Year 1632, in the City of York, of a good Family«.175 Der Hinweis auf Robinson Crusoe am Ende der Autobiography ist somit auch ein Rückverweis auf ihren eigenen Anfang: »I was born« (AS 7), der in bei171 172 173 174 175

Lejeune: Autobiography in the Third Person (Anm. 56), 42. Bridgman: Gertrude Stein (Anm. 4), 219. Breslin: Gertrude Stein (Anm. 53), 157. Defoe: Robinson Crusoe (Anm. 170), 1. Ebd., 3.

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den Fällen die Funktion eines genrespezifischen Formulars übernimmt.176 »Her comparison of the autobiography to Robinson Crusoe is one of the most significant clues offered to the nature of her autobiography«, folgert daher Adams. »In calling Robinson Crusoe simple, Stein assumes a fauxnaïf mask, for Defoe’s book is one of the most complex in English literature in its use of disguised narration.«177 Stein setzt diese Komplexität am Ende der Autobiography gezielt ein, wie eine Stelle aus Narration zeigt: »Think of Defoe, he tried to write Robinson Crusoe as if it were exactly what did happen and yet after all he is Robinson Crusoe and Robinson Crusoe is Defoe and therefore after all it is not what is happening to him Robinson Crusoe that makes what is exciting every one.«178 Wo liegt dann aber der Vergleichspunkt zur Autobiography, wenn die IchErzählerin hier den Namen einer realen Person trägt, die nicht mit Stein identisch ist? Täuscht die Protagonistin ›Stein‹ Autorschaft vor, so wie Defoe vorgibt, nicht Autor, sondern nur Herausgeber zu sein? Ist es die Autorin Stein, die hier die Schreibsituation enthüllt? Oder legt die IchErzählerin Toklas der Protagonistin ›Gertrude Stein‹ die Worte in den Mund, die sie zur Quelle des Textes erklären und die von Toklas anschließend-abschließend bestätigt werden? Die aufgeworfenen Fragen zeigen, daß die Autobiography mit dem vermeintlichen Geständnis noch keinen Abschluß gefunden hat: »Der Leser kann nicht mit der letzten Seite das Lesen abschließen, weil ihm die Irreführung zu denken gibt.«179 Die Lektüre wird nicht zuletzt durch die Anspielung auf Robinson Crusoe wieder auf den Anfang verwiesen und so zu einem zweiten Durchgang aufgefordert. Fangen wir also wieder von vorne an: In der Erstausgabe ist der Schlußsatz: »And she has and this is it« (A 310) tatsächlich nicht das letzte Wort des Textes. Auf der gegenüberliegenden Seite ist eine Photographie der ersten Seite des handschriftlichen Manuskripts der Autobio176

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Der realistische Effekt Robinson Crusoes wird durch eingefügte TagebuchPassagen verstärkt. Zu Fehlern in der detailreichen, um Authentizität bemühten Darstellung vgl. J. Donald Crowley: Introduction. In: Daniel Defoe: Robinson Crusoe (Anm. 170), vii-xxii. Adams: Telling LIES (Anm. 28), 34. Adams weist außerdem darauf hin, daß sich Defoe in der Antwort auf einen seiner Kritiker als Robinson Crusoe ausgegeben hat und auch sonst mit z.T. beachtlichem Erfolg weitere Lebensgeschichten und Identitäten für sich erfunden hat (vgl. ebd. 35f.). Gertrude Stein: Narration. Four Lectures by Gertrude Stein. With an Introduction by Thornton Wilder. New York 1969, 45. Hoffmann: Gertrude Steins Autobiographien (Anm. 9), 147. Hoffmann unterscheidet zwischen erster und zweiter Lektüre, die durch einen unterschiedlichen Erwartungshorizont gekennzeichnet seien: »Das erste Lesen fußt auf der ideologischen Erwartung, daß in der Autobiographie Lebensfakten enthüllt werden; das zweite Lesen läßt den Subtext mit der ideologischen Aussage hervortreten, daß die Autobiographie ein Faktum des Lebens der Autorin ist.« (Ebd.)

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graphy abgedruckt (vgl. Abb. 2). Es trägt die Unterzeile: »First page of manuscript of this book.«180 »Like a serpent with its tail in its mouth«181 beginnt die Autobiography an dieser Stelle noch einmal von vorn. Einerseits wird mit der nun auch sicht- und lesbaren Anfangsformel »I was born« noch einmal nachdrücklich auf die Differenz zwischen IchErzählerin und vermeintlicher Autorin hingewiesen – oder, ganz im Gegenteil, noch einmal die Möglichkeit eröffnet, daß das »I« in der Handschrift, das hier von seiner Geburt spricht, auch geschrieben haben könnte. Andererseits ist die Photographie einer Manuskriptseite nicht einfach mit dem Wieder-Einsetzen des Textanfangs zu verwechseln: Es ist eben keine Druckschrift, die hier in herausgehobener Position präsentiert wird. Die Abbildung vollzieht eine ambivalente Geste. Als letzte Illustration eingereiht in eine Kette von Photographien, die die Figuren der Autobiography zunehmend in künstlerischer Distanzierung zeigen,182 kann die mechanische Reproduktion der Handschrift nicht die Funktion der Authentifizierung erfüllen, die einer Handschrift üblicherweise zugeordnet wird. Andererseits wird die Verbindung von Handschrift und Signatur assoziativ hervorgerufen und damit scheinbar eine Aussage über die Autorschaft in Aussicht gestellt. Die Bildunterschrift liefert jedoch keine Informationen darüber, wem diese Handschrift gehört. Im Laufe der Autobiography wird Toklas das Schreiben an der Maschine, Stein dagegen das Schreiben mit der Hand zugeordnet. Daraus kann jedoch nicht der Umkehrschluß gezogen werden, daß die Handschrift eindeutig Stein zuzusprechen ist.183 Das Photo sagt nicht viel mehr als: Es wurde geschrieben. Die zirkuläre Struktur der Lektüre wird emblematisch in der Einprägung auf dem Buchumschlag dargestellt: »ROSE IS A ROSE IS A ROSE IS A ROSE.« Nicht nur wiederholt sich der Satz in sich selbst, durch die ringförmige Anordnung beginnt er auch immer wieder von vorn. Er wird durch einen Punkt beendet, der als Scheitelpunkt des Kreises zugleich Anfang und Ende markiert. Wie kein anderer Satz ist dieses Diktum geeignet, auf Gertrude Stein hinzuweisen. Es ist so bekannt, daß es ihren Namen vertreten und die Stelle ihrer Signatur einnehmen kann.

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Die Photographien sind nicht in die Seitenzählung einbezogen, daher gibt es an dieser Stelle keine Seitenangabe. Bridgman: Gertrude Stein (Anm. 4), 219. Vgl. Alkon: Visual Rhetoric (Anm. 21), 880. Vgl. auch: »When Stein ended The Autobiography of Alice B. Toklas with a photograph of the first page of its manuscript she insisted on the self-containment of art as opposed to the progressiveness of the case-study.« (Neumann: Gertrude Stein (Anm. 49), 31.) Es geht mir an dieser Stelle nicht darum, festzustellen, wem die Handschrift tatsächlich gehört, sondern nur darum, aufzuzeigen, daß die Autobiography selbst darüber keine Auskunft gibt.

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In der Autobiography wird jedoch erzählt, daß es diese Funktion erst dem Eingreifen von Toklas verdankt: »Speaking of the device of rose is a rose is a rose is a rose, it was I who found it in one of Gertrude Stein’s manuscripts and insisted upon putting it as a device on the letter paper, on the table linen and anywhere that she would permit that I would put it. I am very pleased with myself for having done so.« (AS 151) Im Kontext der Autobiography kann das »device« daher allenfalls als Doppel-Signatur lesbar184 sein, da es Toklas ist, die es aus dem Manuskript herausbricht, um damit alles, was sich bedrucken oder besticken läßt, zu verzieren. Strenggenommen ist es weniger eine Signatur als vielmehr ein Markenzeichen, ein Logo, das auch an anderen Stellen wieder auftauchen kann, ohne den Effekt der Signatur hervorzurufen: »It was he [Carl Van Vechten] who in one of his early books printed as a motto the device on Gertrude Stein’s note-paper, a rose is a rose is a rose is a rose.« (AS 150)185 Wie der Wahlspruch auf dem Buchumschlag kommt auch das erste Photo der Autobiography, das mit der Bildunterschrift: Alice B. Toklas at the door, photograph by Man Ray versehen ist, als möglicher Platzhalter der Signatur in Frage. Die Hypothese, daß das Bild die Funktion der Autorsignatur übernimmt, ist weit verbreitet: »Thus the photograph reveals the authorship that the title page refuses to name«,186 heißt es bei Smith. Breslin formuliert vorsichtiger: »The photograph with its obscure foreground and distinct background, has no clear primary subject – like the book that follows; the seated Stein, however, is writing, and the possibility is raised that she may be the author of the book«.187 Adams ist davon überzeugt, daß das Photo in Verbindung mit einem Satz aus Tender But-

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Vgl. Smith: »Stein« is an »Alice« (Anm. 57), 65 und 80. Gertrude Stein hat »Rose« und »Autobiography« noch einmal in einem anderen Text zusammengebracht: The Autobiography of Rose (Gertrude Stein: The Autobiography of Rose. In: Dies.: How Writing is Written. Vol. II of the Previously Uncollected Writings of Gertrude Stein. Hg. v. Robert Bartlett Haas. Los Angeles 1974, 39-42). Dieser experimentelle Text ist in zehn Abschnitte unterteilt, die alle den gleichen Titel tragen: The Autobiography of Rose, auch hier setzt die Autobiographie immer wieder neu an. Die erste Autobiography of Rose beginnt mit der Frage nach dem Namen »Rose«: »How does she know her name is Rose. She knows her name is Rose because they call her Rose. If they did not call her Rose would her name be Rose. Oh yes she knows her name is Rose. That is the autobiography of Rose.« (Ebd. 39.) Damit ist ein berühmtes Literaturzitat angespielt, das von dem Eigennamen einer Person zu einer Paarkonstellation übergeht: »What’s in a name? That which we call a rose / By any other word would smell as sweet. / So Romeo would, were he not Romeo called, / Retain that dear perfection which he owes / Without that title. Romeo, doff thy name; / And for thy name, which is no part of thee, / Take all myself.« (William Shakespeare: Romeo and Juliet / Romeo und Julia. Übers. v. Herbert Geisen. Stuttgart 1994, 62, Act II, Scene II.) Smith: »Stein« is an »Alice« (Anm. 57), 66. Breslin: Gertrude Stein (Anm. 53), 152.

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tons eine klare Aussage über die Autorschaft trifft: »If the title The Autobiography of Alice B. Toklas, printed without a byline, is too misleading, readers can hardly miss the implications of the frontispiece, camptioned ›Alice B. Toklas at the door,‹ that depicts Gertrude Stein writing at a table in the background, a pictorial representation of the hint in Stein’s Tender Buttons that ›the author of all that is in there behind the door‹.«188 In seiner Bildbeschreibung irrt Adams jedoch an einem entscheidenden Punkt: Stein sitzt nicht im Hintergrund des Bildes, sondern in dessen Vordergrund (vgl. Abb. 1). Die Frage, wer von beiden sich »behind the door« befindet, läßt sich daher unterschiedlich beantworten. Aus der Perspektive des Bildbetrachters ist es Toklas, die sich – die Klinke noch in der Hand – durch die Tür in den Raum hineinzubewegen scheint. Sie kommt von ›hinter der Tür‹. Aus der Perspektive von Toklas ist es Stein, die hinter der Tür, die in den Raum geöffnet wird, am Schreibtisch sitzt. Toklas blickt an Stein vorbei aus dem Bild auf den Betrachter, während Stein mit dem Stift in der Hand auf das vor ihr liegende Papier sieht. Das Photo wird somit auch lesbar als eine photographische Darstellung der Augenzeugin Toklas, die sich an den Betrachter/Leser wendet, als würde sie ihn adressieren. Man Rays Photo setzt auch die Erzählsituation der Autobiography ins Bild und zeigt dabei gleichzeitig ihre zentrale Protagonistin: Gertrude Stein als Autorin (anderer Bücher). Für diese Lesart spricht, daß das Photo – ob zufällig oder willentlich, muß hier offenbleiben – auf eine Zeichnung anspielt, in der eine ähnliche räumliche Aufteilung zweier Personen als wife/husband-Konstellation gezeigt wird – die Konstellation, als die die Erzählsituation der Autobiography markiert wurde. Die Zeichnung findet sich im Abdruck des ersten ›Auszugs‹ der Autobiography im Atlantic Monthly auf der Seite, die der ersten Textseite gegenüber liegt (Abb. 3). Sie zeigt im Vordergrund einen Mann mit Anzug und Hut, der sich zu einer Frau zurückwendet, die ihm im Hintergrund des Bildes auf der Türschwelle stehend, mit der Hand am Türblatt, zuwinkt. Die Zeichnung ist Teil einer Werbeanzeige der American Telephone and Telegraph Company, die im beigefügten Text die Situation folgendermaßen kommentiert: »A HUSBAND bids his wife good-bye as he leaves in the morning. ›I’ll call you up,‹ he says reassuringly.«189 Man Rays Photo Alice B. Toklas at the door – ein Titel, der den Fokus auf Toklas legt – ist der ironische Kommentar der Autobiography auf diese Werbeanzeige und die in ihr dargestellte heterosexuelle Paarkonstellation und gleichzeitig auch eine bildliche Darstellung der Ich-Erzählerin als »wife«. 188 189

Adams: Telling LIES (Anm. 28), 31f. »I’ll call you up!« – Werbeanzeige der American Telephone and Telegraph Company. In: The Atlantic Monthly 151.5 (1933), 126.

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ALICE B. TOKLAS / GERTRUDE STEIN

Abbildung 3 Der letzte gedruckte Satz der Autobiography scheint eine eindeutige Setzung vorzunehmen. Der Kontext, in dem diese Setzung steht, stellt jedoch nicht nur ihre Eindeutigkeit in Frage, sondern weist gleichzeitig auch noch auf mögliche andere Substitute hin, die diese Stelle einnehmen könnten. Die Autorsignatur wird so nicht ein-, sondern ausgesetzt – sie findet nicht statt, die Autobiography wird nicht signiert. Dieses Spiel setzt sich noch über die zirkuläre Struktur der Autobiography hinaus in ihrem »sequel«190 fort. Am Beginn von Everybody’s Autobiography wird die Autorschaftsproblematik der Autobiography wieder aufgenommen: »Alice B. Toklas did hers and now anybody will do theirs.«191 Auch diese Aussage trägt die Signatur nicht nach oder nachträglich ein, da noch zwei weitere unterschiedliche Optionen in Aussicht gestellt werden: »Anyway I have done something and anyway I did write The Autobiography of Alice B. Toklas and since then a great many things happened and the first thing that happened was that we came back to Paris, we generally almost always do do that.«192 Zurück in Paris eröffnet sich eine weitere Möglichkeit: »And Picasso came with his wife when we came back to Paris after having written The Autobiography of Alice B. Tok190 191 192

Publisher’s Note. In: Stein: Everybody’s Autobiography (Anm. 2), vii-x, hier vii. Stein: Everybody’s Autobiography (Anm. 2), 1. Ebd., 10.

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las.«193 Auch in ihrer Fortsetzung findet also die Frage der Signatur keine Antwort – die Stelle des Autors wird nicht eindeutig besetzt. Die Figur, die die Position des Autors einnimmt, die Figur, die an die Stelle des Autors tritt, ist der Ghostwriter. »Damit es sich um eine Autobiographie […] handelt,« so hat Lejeune die unhintergehbare Bedingung des autobiographischen Pakts formuliert, »muß Identität zwischen dem Autor, dem Erzähler und dem Protagonisten bestehen.«194 Die Autobiography of Alice B. Toklas entwirft jedoch eine Konstellation, in der die Protagonistin (Stein) mit der Ich-Erzählerin (Toklas) nicht identisch ist und in der die Stelle des Autors nicht besetzt wird. Dabei ist vielleicht weniger interessant, wer die Autobiography nun wirklich geschrieben hat, als vielmehr wie diese Frage immer wieder ins Spiel gebracht, aber innerhalb des Textes nicht beantwortet wird. Der Paratext der Erstausgabe gibt hier keinen Aufschluß. Die Aufspaltung des autobiographischen Subjekts, die Aufspaltung des auto-, von der jede Autobiographie betroffen ist, wird bis zu dem Punkt getrieben, an dem die Instanz, um deren Identität es gehen soll, d.h. die Instanz des Autors, durch einen Ghostwriter ersetzt wird. Deshalb kann man nur sagen »Stein is also a ghost writer«,195 wenn man gleichzeitig hinzufügt: Toklas ist auch ein Ghostwriter. Die Autobiography ist nicht zu Ende, sie kommt an kein Ende, sie findet keinen Abschluß. »The end of the book closes off and frames a life at the same time that it breaks out of its frame, its artificial closure,« heißt es bei Breslin.196 Der immer wieder einsetzende Neubeginn der Autobiography führt dazu, daß sich der Paratext als Randzone des Textes ausweitet, bis er in den Text übergeht. Die Signatur als eine Schwelle197 des Textes verlagert sich in die Autobiography und verliert damit ihre signierende Funktion – vor der Tür ist hinter der Tür. Anstatt den Platz der Signatur einzunehmen, proliferiert der Name ›Gertrude Stein‹ in den Erzählungen des Textes. Ohne an Autorität zu verlieren, schließt er die Autobiography nicht autoritativ ab.

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Ebd., 14. Lejeune: Der autobiographische Pakt (Anm. 25), 15. Gilmore: A Signature (Anm. 78), 62. Breslin: Gertrude Stein (Anm. 53), 159. Vgl. Gérard Genette: Seuils. Paris 1987. Auf deutsch erschienen als: Ders.: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Übers. v. Dieter Hornig. Frankfurt/M., New York, Paris 1989. Zu Paratext und Signatur vgl. auch Kapitel II.2.

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IV. »›WELCHE GESCHICHTE!‹« R A H E L V A R N H A G E N / HA N N A H A R E N D T Anfang der 1930er Jahre, nur kurze Zeit vor der Entstehung der Autobiography of Alice B. Toklas, schreibt Hannah Arendt in Deutschland an Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin in der Romantik, das erst knapp dreißig Jahre später zum ersten Mal veröffentlicht werden wird.1 Auf den ersten Blick könnte die Differenz zwischen Gertrude Stein und Hannah Arendt kaum größer sein: Auf der einen Seite eine Autorin der Moderne, deren experimentelle Schreibverfahren von ihr selbst als Beginn des 20. Jahrhunderts in der Literaturgeschichte gewertet wurden. Auf der anderen Seite die politische Theoretikerin2 Hannah Arendt als Kritikerin und Analytikerin der Moderne, die im Rekurs auf die antike Philosophie einen Verfall des Politischen3 in der Gegenwart diagnostiziert. Der Punkt, an dem sich beide dennoch etwa zur gleichen Zeit treffen, ist die Arbeit an biographischer Literatur, deren Ergebnisse sich als eine Auseinandersetzung mit der Gattung der Autobiographie lesen lassen. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht darin, daß sich beide gegenüber den in diesem Zusammenhang verfaßten Texten distanziert bis kritisch geäußert haben. In einem Brief an Karl Jaspers aus dem Jahr 1952 hat Arendt ihr Buch Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik selbst für irrelevant erklärt: »Was immer ich an einfachen historischen Einsichten für relevant noch hielt, steht kürzer und ohne alle ›Psychologie‹ in dem ersten Teil des Totalitarianism-

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Hannah Arendt: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. München 1959. Im fortlaufenden Text wird das Buch als (RV Seitenzahl) nach der Neuausgabe München 1981 zitiert. »Ich gehöre nicht in den Kreis der Philosophen. Mein Beruf – wenn man davon überhaupt sprechen kann – ist politische Theorie. […] Ich habe meiner Meinung nach der Philosophie doch endgültig Valet gesagt. Ich habe Philosophie studiert, wie Sie wissen, aber das besagt ja noch nicht, daß ich dabei geblieben bin.« (Hannah Arendt in einem Fernsehgespräch mit Günter Gaus (Oktober 1964). In: Dies.: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk. Hg. v. Ursula Ludz. München ²1997, 44-70, hier 44.) Vgl. Monika Boll: Zur Kritik des naturalistischen Humanismus. Der Verfall des Politischen bei Hannah Arendt. Wien 1997.

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Buches. Und damit mag es dann auch sein Bewenden haben.«4 Auch wenn die Lebensgeschichte später als Ausgangspunkt einer Einführung in ihr politisches Denken genutzt wurde,5 hat Arendt selbst ausdrücklich erklärt, daß ihr der Text »nicht mehr wichtig« sei.6 Rahel Varnhagen taucht in der Totalitarismus-Studie nur noch an drei Stellen auf, eingeordnet in den Zusammenhang einer Schilderung der Ausnahmejuden um 1800.7 Sie ist nur noch eine von vielen Figuren einer historischen Schilderung, die zugleich eine theoretische Erklärung der Entstehungsbedingungen des Totalitarismus gibt. Im Kontext der vorliegenden Arbeit ist Rahel Varnhagen deshalb von Interesse, weil mit der Kategorie der Lebensgeschichte nicht einfach die Textsorte ›Biographie‹ angesprochen ist. In der Vita Activa hat Arendt vielmehr ein Konzept des bios erarbeitet, das wesentlich durch seine Erzählbarkeit gekennzeichnet ist. Das Besondere dieser Erzählung – so versucht der zweite Teil dieses Kapitels, Dämon hinter dem Rücken: Die Autobiographie der Anderen, zu zeigen – besteht darin, daß sie ihrer Protagonistin wesentlich unzugänglich ist. Jede Lebensgeschichte, so Arendt, ergibt sich aus den Handlungen eines Menschen, der durch seine Geburt als ein Einzigartiger in der Welt einen Anfang setzen kann. Die sich aus diesen Handlungen ergebende Geschichte ist wiederum erst nach seinem Tod erzählbar, d.h. sie bleibt ihrem Protagonisten wesentlich unverfügbar.8 Autobiographie, so läßt sich aus Arendts Überlegungen ableiten, ist nur möglich als Autobiographie der Anderen. Damit ist die Biographin Rahel Varnhagens als Ghostwriter der Autobiographie ihrer Protagonistin eingesetzt. Diese Schreibposition wird im Vorwort der Lebensgeschichte ausdrücklich affirmiert, wie Teil 1 dieses Kapitels, Nicht »über die Rahel«: Grenzfall der Biographie?, darlegt. Arendt erläutert ihr Darstellungsverfahren als eines, das sich auf die Perspektive der Porträtierten beschränken und über diese nicht hinausgehen will. Hier formuliert sich ein Mo4

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Hannah Arendt an Karl Jaspers, 7.9.1952. In: Hannah Arendt, Karl Jaspers: Briefwechsel 1926-1969. Hg. v. Lotte Köhler u. Hans Saner. München 31993, 237. Ingeborg Nordmann: Hannah Arendt. Frankfurt/M., New York 1994. Hannah Arendt an Karl Jaspers, 7.9.1952. In: Arendt, Jaspers: Briefwechsel (Anm. 4), 237. Vgl. das Kapitel Die Ausnahmejuden in: Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. München 2000, 147ff., 151f., 166. Das Modell der Geschichte, auf das Arendt sich hier bezieht, ist das klassische aristotelische Modell einer Fabel »mit Anfang, Mitte und Ende«, die »in ihrer Einheit und Ganzheit einem Lebewesen vergleichbar« ist (Aristoteles: Poetik. 1459a. Übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1994, 77, Paragraph 23). Vgl. dazu und zum Verhältnis Arendts zur ›klassischen‹ Moderne Julia Kristeva: Das weibliche Genie. Hannah Arendt. Übers. v. Vincent von Wroblewsky. Berlin, Wien 2001, 118-164.

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dell biographischen Schreibens, das an das konventionelle Verschwinden eines Ghostwriters hinter seinem Repräsentanten erinnert. Arendts Projekt, wie es im Vorwort entworfen wird, besteht darin, nicht als wertende oder eingreifende Instanz aufzutreten, sondern Rahel Varnhagens Selbstwahrnehmung zur Darstellung zu bringen. Zwischen der Absichtserklärung der Lebensgeschichte und dem Konzept der Lebensgeschichte in der Vita Activa entsteht eine Spannung, die aus der Unvereinbarkeit beider Modelle resultiert. Dies wird im dritten Teil, Ghostwriting als Lektüre: Zitieren und Erzählen, erläutert und in einer Analyse der Zitier- und Erzählverfahren der Lebensgeschichte verfolgt. Die paradoxale Anforderung an die Verfasserin der Lebensgeschichte, die sich aus der Verbindung der beiden vorgestellten konzeptionellen Entwürfe ergibt, verdichtet sich in der Anfangspassage in einem Zitat Rahel Varnhagens, das zugleich die Erzählung einsetzt wie die Bedingung ihrer Möglichkeit, ihre Kopplung an die Geburt, negiert.

1 . N i c h t »ü b e r d i e R a h e l « : Grenzfall der Biographie? 1929 beginnt Hannah Arendt die Arbeit an einem Buch, das bei seiner ersten deutschsprachigen Veröffentlichung 1959 unter dem Titel Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik publiziert wurde. Zwei Jahre zuvor war es, angeregt und gefördert durch das Leo Baeck Institut in New York, zuerst auf englisch als Rahel Varnhagen. The Life of a Jewess9 erschienen. Den Genre-Konventionen biographischer Literatur entsprechend trägt das Buch den Namen der Person, von der es erzählt, es heißt wie seine Heldin: Rahel Varnhagen. Der Eigenname wird zu einem Titel, der anzeigt, daß es sich bei dem vorliegenden Buch um einen biographischen Text handelt. Dies gilt insofern, als der Name selbst als Name einer realen Person erkennbar bzw. überprüfbar sein muß. 1957/58 war Rahel Varnhagen noch nicht die prominente Figur, die sie seit ihrer »Wiederentdeckung« durch die deutsch-

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Hannah Arendt: Rahel Varnhagen. The Life of a Jewess. Jerusalem, London, New York 1957. Die von Ursula Ludz zusammengestellte Bibliographie mit Schriften Hannah Arendts gibt dagegen als Ersterscheinungsdatum des englischen Titels 1958 an. Vgl. Ursula Ludz: Bibliographie. In: Arendt: Ich will verstehen (Anm. 2), 255-326, hier 286. Die Angaben zur Erstausgabe der Rahel Varnhagen variieren zwischen 1957 und 1958, weil das Buch zwar erst im Januar 1958 erschien, aber das Copyright Datum mit 1957 angegeben ist. Vgl. dazu Liliane Weissberg: Introduction. Hannah Arendt, Rahel Varnhagen, and the Writing of (Auto)biography. In: Hannah Arendt: Rahel Varnhagen. The Life of a Jewess. First complete Edition. Hg. v. Liliane Weissberg. Übers. v. Richard u. Clara Winston. Baltimore, London 1997, 3-69, hier 54.

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sprachige feministische Literaturwissenschaft inzwischen geworden ist.10 Sie war aber auch nicht mehr die bekannte Romantikerin, die sie durch einige ihr gewidmeter Einzelstudien zu Beginn des 20. Jahrhunderts, vor dem Nationalsozialismus, gewesen war. Als Arendt ihr Projekt über Rahel Varnhagen Ende der 1920er Jahre begann, widmete sie sich einem populären Thema, insbesondere weiblicher Akademikerinnen ihrer und der vorangegangenen Generation,11 stellte aber mit Rahel Varnhagens Judentum einen neuen Aspekt ins Zentrum. Als sie das Buch Ende der 1950er Jahre veröffentlichen konnte, hatte sie nicht nur ihr eigenes Leben vor der Verfolgung durch das nationalsozialistische Regime gerettet, sondern auch die Lebensgeschichte einer anderen deutschen Jüdin. Bekannt geworden war Rahel Varnhagen vor allem im Zusammenhang der deutschen Romantik durch das von ihrem Ehemann nach ihrem Tod herausgegebene Buch Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde12, das eine Auswahl ihrer Briefe enthielt. Karl August Varnhagens Archiv, das eine Vielzahl weiterer Briefe nicht nur von Rahel Varnhagen umfaßt, galt zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Arendts Buch als verschollen. Es wurde erst gegen Ende der 1970er Jahre in Krakau in der Jagellonischen Bibliothek wiederentdeckt.13 Ein Untertitel wie Lebensgeschichte oder the life of weist den Eigennamen des Obertitels nachdrücklich als Namen einer realen Person aus. Gleichzeitig gibt der Untertitel an, wovon das Buch handelt, nämlich vom Leben dieser »Rahel Varnhagen« genannten Person. Er gibt an, daß das Buch in den Bereich der biographischen Literatur gehört, daß es eine Lebensgeschichte erzählen wird. In diesem besonderen Fall sind jedoch zwei Dinge weniger selbstverständlich, als sie auf den ersten Blick scheinen mögen: Zum Einen ist der Name ›Rahel Varnhagen‹ nicht der einzig mögliche, sondern gewissermaßen ein nachträglich eingesetzter. Die Biographie ›Rahel Varnhagens‹ ließe sich entlang einer Kette von Namen schildern, deren Ausgangspunkt ›Rahel Levin‹ und deren Endpunkt ›Antonie Friederike Varnhagen 10 Vgl. Barbara Hahn, Ursula Isselstein (Hg.): Rahel Levin Varnhagen. Die Wiederentdeckung einer Schriftstellerin. Göttingen 1987 (Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Beiheft 14). 11 Vgl. dazu Heide Volkening: Die Philologin, Rahel Varnhagen und das allgemein Menschliche. Varnhagen-Studien im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. In: Miriam Kauko, Sylvia Mieszkowski, Alexandra Tischel (Hg.): Gendered Academia. Wissenschaft und Geschlechterdifferenz 1890-1945. Göttingen 2005, 237-253. 12 Karl August Varnhagen von Ense: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Berlin 1834. 13 Vgl. dazu: Deborah Hertz: The Varnhagen Collection is in Krakau. In: The American Archivist 44.3 (1981), 223-228; Barbara Hahn: »Suche alle meine Briefe«. Eine Überlieferungsgeschichte. In: Dies.: »Antworten Sie mir!« Rahel Levin Varnhagens Briefwechsel. Basel, Frankfurt/M. 1990, 11-27.

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von Ense‹ wäre, dazwischen liegt der christliche Taufname Friederike Robert. Als die Porträtierte in den 1980er Jahren zum Gegenstand feministischer Forschung wird, geschieht dies zumeist unter Hinzufügung eines weiteren Namens: ›Rahel Varnhagen‹ wird zu ›Rahel Levin Varnhagen‹ – das Jüdin-Sein, das Arendt im Untertitel erwähnt, wird im Nachnamen noch einmal aufgenommen und deutlich markiert.14 Arendt nennt die Protagonistin der Lebensgeschichte bei ihrem ersten Vornamen, ›Rahel‹, und begründet dieses Vorgehen mit deren eigener Identifizierung mit diesem Namen: »Rahel Levin ist sie losgeworden, aber Friederike Varnhagen, geborene Robert, möchte sie auch nicht werden. Jene wurde nicht akzeptiert, diese will sich nicht zu einer lügenhaften Selbstidentifizierung entschließen. Denn ›ich hielt mich zeitlebens für Rahel; und sonst nichts‹.« (RV 197) Arendts Festhalten am Vornamen »Rahel« kann einerseits als Fortsetzung einer gängigen Praxis verstanden werden, weibliche Autorinnen des 18. und 19. Jahrhunderts – vor allem, wenn es sich dabei um Briefautorinnen handelt – in scheinbar intimer Vertrautheit beim Vornamen zu nennen. Andererseits wird es als eine bewußte Entscheidung lesbar, die sich durch die Selbstbezeichnung motiviert. Der Komplexität des Namens ›Rahel Antonie Friederike Varnhagen von Ense geb. Robert geb. Levin‹ ist in keiner Abkürzung beizukommen. Wo es in dieser Arbeit eher um die Protagonistin in Arendts Lebensgeschichte geht, wurde daher – zitierend – am Namen »Rahel« festgehalten, ansonsten aber der inzwischen etablierte Name ›Rahel Varnhagen‹ bevorzugt. Eine klare Trennung zwischen beiden ist jedoch – das liegt in der Sache des Problems – nicht immer möglich. Zum Anderen kann die Lebensgeschichte nicht bruchlos mit einer Biographie gleichgesetzt werden. Eine solche Zuordnung wird von Hannah Arendt selbst in dem in den 1950er Jahren hinzugefügten Vorwort vorsichtig distanziert. Das Vorwort enthält fast keine vorgreifenden Hinweise auf die tatsächlichen Inhalte der Lebensgeschichte als vielmehr kurze Bemerkungen zur Entstehung des Buches und ausführliche Anmerkungen zum Blickpunkt, den die ›Biographin‹ darin einnimmt, d.h. zur Art und Weise seiner »Darstellung« (RV 8,9,10) und zu seiner »Methode« (RV 12). Arendt nutzt das Vorwort, um ihre Absicht zu erklären, um zu erläutern, welcher Entwurf, welches Projekt der Rahel Varnhagen zugrunde liegt. In wenigen Sätzen skizziert Arendt ihr Vorhaben als ein von der üblichen Biographie abweichendes. Das vorliegende Kapitel folgt Arendts Beschreibung der Intention, folgt der genannten Abweichung und ihrer Rezeption. Untersucht wird, wie sich das Projekt Le14 Vgl. dazu Barbara Hahn: Esther Rahel Rebekka Sara. Namenloses Schreiben um 1800. In: Dies.: Unter falschem Namen. Von der schwierigen Autorschaft der Frauen. Frankfurt/M. 1991, 20-46; Dies.: Die Jüdin Pallas Athene. Auch eine Theorie der Moderne. Berlin 2002.

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bensgeschichte zur Gattungsdiskussion um Autobiographie und Biographie verhält. Zu diesem Zweck bewegt sich die Lektüre innerhalb des von Arendt aufgespannten Rahmens, d.h. sie konzentriert sich auf das Vorwort und andere, ihre Absicht schildernde Paratexte und stellt dabei zunächst die Frage hinten an, ob die von Arendt entworfene Art der Darstellung im Buch realisiert wird oder überhaupt realisiert werden kann. Zuvor jedoch ein paar Anmerkungen zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte. Die Lebensgeschichte, 1929 kurz nach Fertigstellung der Dissertation15 Arendts begonnen, »war bis auf die letzten beiden Kapitel fertig, als ich Deutschland 1933 verließ« (RV 7), heißt es im ersten Satz. Das Vorwort erzählt nicht viel mehr, weitere Angaben können aber aus Briefen Arendts an Karl Jaspers rekonstruiert werden. Hier berichtet Arendt, daß die letzten beiden Kapitel nur auf Drängen Heinrich Blüchers und Walter Benjamins 1938 »schon ärgerlich« zu Ende geschrieben worden seien. Da Arendt das Buch, wie sie 1952 schreibt, schon »sehr fern« und »nicht mehr wichtig« gewesen sei,16 steht sie, auch aufgrund von Vorbehalten, die Jaspers ihr gegenüber geäußert hat, einer Veröffentlichung skeptisch gegenüber. Jaspers gab zu bedenken, daß die Lebensgeschichte Stoff für Antisemiten liefern könne, da die innere Not Rahel Varnhagens auf ihr Judentum zurückgeführt werde. Arendt antwortet darauf dezidiert: »Sie haben völlig recht, wenn Sie meinen, daß dies Buch ›die Stimmung erweckt, als ob ein Mensch als Jude eigentlich nicht recht leben könne‹. Und dies ist natürlich zentral. Ich bin auch heute noch der Meinung, daß Juden unter den Bedingungen der Assimilation und staatlichen Emanzipation nicht ›leben‹ konnten. Rahels Leben scheint mir dafür ein Beweis, gerade weil sie mit außerordentlicher Schonungslosigkeit und einem völligen Mangel an Verlogenheit alles an sich selbst ausprobierte.«17 Wo Jaspers das Judesein Rahel Varnhagens in den Hintergrund rücken und sie als Mensch zeigen würde, insistiert Arendt auf der Relevanz der Differenz von ›Mensch‹ und ›Jude‹ um 1800. Als sie sich wenige Jahre später doch noch zur Veröffentlichung entschließt, geschieht es ihrem eigenen Bericht nach vor allem deshalb, weil sie vom Leo Baeck Institut »unter dauernden Druck«18 gesetzt wird. Erst nach erneuter Überarbeitung, mit der Ergänzung durch einen Anhang und dem 1956 geschriebenen Preface, kommt das Buch schließlich heraus, erst 1971 wird der Lebensgeschichte ihr wissenschaftlicher Status

15 Hannah Arendt: Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation. Berlin 1929. 16 Hannah Arendt an Karl Jaspers, 7.9.1952. In: Arendt, Jaspers: Briefwechsel (Anm. 4), 233 und 237. 17 Ebd., 234. 18 Hannah Arendt an Karl Jaspers, 7.9.1956. In: Ebd., 332.

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als Habilitation in einer von Arendt angestrengten Wiedergutmachungsklage in letzter Instanz anerkannt.19 Das Preface und das bis auf den letzten Absatz identische Vorwort weisen nachdrücklich darauf hin, daß es sich bei der gewählten Perspektive um eine Darstellung handelt, die »aus einem in der Biographien-Literatur ungewohnten Aspekt entstanden und geschrieben ist« (RV 9). Indem es auf diesen Bruch mit der Biographie hinweist, rechtfertigt das Vorwort nicht nur, daß Arendt der Lebensgeschichte »einige erläuternde Bemerkungen« (ebd.) voranstellt, d.h. im Vorwort das Vorwort begründet,20 sondern auch die Veröffentlichung der Lebensgeschichte als Ganze.21 Der »ungewohnte Aspekt«, aus dem heraus das Buch geschrieben ist, der es aus der Gewohnheit der »Biographien-Literatur« abhebt, wird an dieser exponierten Stelle, an der Schwelle zur Lebensgeschichte folgendermaßen erläutert: »Ich hatte niemals die Absicht, ein Buch über die Rahel zu schreiben, über ihre Persönlichkeit, die man psychologisch und in Kategorien, die der Autor von außen mitbringt, so oder anders interpretieren und verstehen kann; oder über ihre Stellung in der Romantik und die Wirkung des von ihr eigentlich inaugurierten Goethe-Kultes in Berlin; oder über die Bedeutung ihres Salons in der Gesellschaftsgeschichte der Zeit; oder über ihre Gedankenwelt und ihre ›Weltanschauung‹, sofern sich eine solche aus ihren Briefen konstruieren lassen sollte. Was mich interessierte, war lediglich, Rahels Lebensgeschichte so nachzuerzählen, wie sie selbst sie hätte erzählen können.« (RV 9f.) Alle genannten Aspekte, d.h. Persönlichkeit, Romantik, Goethekult und Salon, werden im Buch verhandelt, es geht also nicht um einen vollständigen Verzicht auf diese Themen,22 die hier, bevor die Biographie beginnt, indirekt be19 Zur Publikationsgeschichte der Lebensgeschichte vgl. ausführlich Claudia Christophersen: »… es ist mit dem Leben etwas gemeint«. Hannah Arendt über Rahel Varnhagen. Königstein/Ts. 2002, 7-76 und 239-280, zum Prozeß um die Anerkennung als Habilitation ebd., 11-16 und Weissberg: Introduction (Anm. 9), 38ff. 20 »Es hat immer etwas Mißliches, wenn ein Autor über sein eigenes Buch spricht, auch wenn seine Entstehung schon ein halbes Menschenleben zurückliegt.« (RV 9) 21 Arendt schloß sich der kritisch abwägenden Haltung Jaspers’ an, nicht aus »Angst vor Antisemiten; die benutzen ohnehin alles und können Disraeli oder Rathenau immer noch besser gebrauchen als mich« (Arendt an Jaspers, 7.9. 1952. In: Arendt, Jaspers: Briefwechsel (Anm. 4), 233), sondern weil sie, wie sie schrieb, »befürchte, daß gutwillige Leute zwischen diesen Dingen und der Ausrottung der Juden einen Zusammenhang sehen werden, der de facto nicht besteht« (ebd.). Zur Selbst-Rechtfertigung erfordert das Buch ein Vorwort, einen Übergangsraum, der den 1929-32 und 1938 geschriebenen Text in der Gegenwart der späten 1950er Jahre situiert. 22 Diesen Verzicht unterstellt Konrad Feilchenfeldt, wenn er behauptet, in der zitierten Passage erteile Arendt eine »Absage an eine geistes- oder sozialgeschichtliche Würdigung«, so daß »Rahels« »Epochenzugehörigkeit« »nur in ei-

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reits zur Charakterisierung herangezogen werden, sondern es geht um den Modus des Erzählens. Nicht »über die Rahel« habe sie schreiben wollen, wie die Kursivierung betont, nicht über diesen oder über jenen Zusammenhang, in dem »Rahel« stand. Vielmehr orientiert sich die Art der Darstellung der Lebensgeschichte an einer potentiellen Erzählung, die die Porträtierte selber hätte geben können. Die Kursivierung des ersten »über« und dessen mehrfache Wiederholung weisen aus, was es zu vermeiden gilt: »Rahel« zum Objekt einer Produktion des Wissens zu machen, die sich Erkenntnissen verdankt, die Arendt »von außen mitbringt«. Die Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik ist häufig als »eine sehr autobiographische Biographie«23 gelesen worden. Sie gilt in diesen Fällen jedoch als Autobiographie der Autorin, als Autobiographie Arendts. Seyla Benhabib spricht von einem Spiegeleffekt, insofern Arendts eigene Entwicklung hinsichtlich ihres Verhältnisses zum Judentum mit Rahel Varnhagens Entwicklung vom Parvenu zur Paria parallel verlaufe: »In telling Rahel’s story, Hannah Arendt was bearing testimony to a political and spiritual transformation that she herself was undergoing. There is thus a mirror effect in the narrative. The one narrated about, becomes the mirror in which the narrator also portrays herself.«24 Ganz ähnlich argumentiert Dorothea Dornhof, wenn sie schreibt: »Die Biographie wird so partiell zur Autobiographie, in der sich Hannah Arendt spiegelt und wiederholt.«25 Auch Eva Meyer verbindet Rahel Varnhagen und Hannah Arendt in einer »Assimilationsgeschichte des deutschen Judentums«,26 deren historische Unterschiede und Gemeinsamkeiten die Lebensgeschichte zur Autobiographie Arendts werden lassen: »Daher kann auch Hannah Arendts Biographie von Rahel Varnhagen, die es unternimmt, ›Rahels Lebensgeschichte so nachzuerzählen, wie sie selbst sie hätte erzählen können‹, zu Arendts Autobiographie ge-

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nem Nebensatz« erwähnt werde. Arendts ausdrückliche Auseinandersetzungen mit Aufklärung und Romantik, mit Moses Mendelssohn, Friedrich Schlegel, Friedrich Schleiermacher, Wilhelm von Humboldt u.a. bleiben dabei unberücksichtigt (Konrad Feilchenfeldt: Rahel-Philologie im Zeichen der antisemitischen Gefahr. In: Hahn, Isselstein: Wiederentdeckung (Anm. 10), 187-195, hier 188). Elisabeth Young-Bruehl: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit. Frankfurt/M. 1996, 79. Seyla Benhabib: The Pariah and her Shadow: Hannah Arendt’s Biography of Rahel Varnhagen. In: Bonnie Honig (Hg.): Feminist Interpretations of Hannah Arendt. University Park 1995, 83-104, hier 90. Dorothea Dornhof: Paria und Parvenu. In: Inge Stephan, Sabine Schilling, Sigrid Weigel (Hg.): Jüdische Kultur und Weiblichkeit in der Moderne. Köln, Weimar, Wien 1994, 187-197, hier 192. Eva Meyer: Was heißt biographisches Denken? In: Dies.: Autobiographie der Schrift. Basel, Frankfurt/M. 1989, 41-65, hier 42.

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raten, wie sie selbst sie erzählt. Weil sie das Erbe Rahels antritt, soweit sie ihre Briefe empfängt.«27 Konrad Feilchenfeldt zieht aus Arendts Darstellungsprinzip der »Identifikation«28 die Folgerung, daß Arendt sich »die Biographie Rahel Varnhagens verfügbar macht«.29 Die Identifikation, so Feilchenfeldt, führe zu einer Art autobiographischem Rollenspiel, deren Vorlage Rahel Varnhagen sei. Bei allen Unterschieden ist diesen Überlegungen die Analogisierung von Rahel Varnhagens und Hannah Arendts Leben gemeinsam, die in dem einen oder anderen Punkt, vornehmlich dem Jüdisch-Sein und dem dazu eingenommenen Verhältnis, auf einer Ähnlichkeitsrelation beruhe. Ausgeführt oder eher noch vorgeführt hat dies deutlicher als alle anderen Elisabeth Young-Bruehl, die ein ganzes Kapitel ihrer Hannah-ArendtBiographie unter den Titel Biographie als Autobiographie gestellt hat. Young-Bruehl spricht an zwei Stellen explizit von Ähnlichkeit: Einmal hinsichtlich der Ähnlichkeit zwischen Arendts Formulierungen in ihrer autobiographischen Skizze Schatten von 192530 und bestimmten Briefstellen Rahel Varnhagens. Ausschlaggebender jedoch ist, daß YoungBruehl eine Ähnlichkeit auch zwischen Schatten und Arendts Beschreibungen »Rahels« in der Lebensgeschichte feststellt: »Hannah Arendts Beschreibung von Rahel Varnhagens früher Art der Reflexion ähnelt ihrer Beschreibung der eigenen jugendlichen Eingenommenheit von sich selbst in ›Die Schatten‹ sehr stark. […] In Rahel Varnhagen ist die Beschreibung technisch genauer und sprachlich weniger phantasievoll, aber die gleiche«.31 Immer wieder stellt Young-Bruehl vergleichende, analogisierende Verbindungen zwischen Briefzitaten Rahel Varnhagens bzw.

27 Eva Meyer: Die Autobiographie der Schrift. Selbstthematisierung und AntiRepräsentation. In: Karin Fischer, Eveline Kilian, Jutta Schönberg (Hg.): Bildersturm im Elfenbeinturm. Ansätze feministischer Literaturwissenschaft. Tübingen 1992, 161-173, hier 165. 28 »Die Darstellung selbst vollzieht sich bei Hannah Arendt als Identifikationsprozeß mit ihrer Heldin« (Feilchenfeldt: Rahel-Philologie (Anm. 22), hier 192). Ähnlich argumentiert auch Julia Kristeva, wenn sie davon spricht, daß Arendts Schilderung »Rahels« Züge eines Geständnisses trägt (vgl. Kristeva: Das weibliche Genie (Anm. 8), 48). 29 Feilchenfeldt: Rahel-Philologie (Anm. 22), hier 193. 30 Hannah Arendt: Schatten. In: Hannah Arendt, Martin Heidegger: Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse. Aus den Nachlässen hg. v. Ursula Ludz. Frankfurt/M. 1998, 21-25. Dieser Text Arendts entstand in der Zeit ihrer ›Liebesgeschichte‹ mit Martin Heidegger, die ihrerseits zu sehr unterschiedlichen biographischen und literarischen Verarbeitungen Anlaß gegeben hat: Elfriede Jelinek: Totenauberg. Frankfurt/M. 1991; Elzbieta Ettinger: Hannah Arendt – Martin Heidegger. Eine Geschichte. München, Zürich 1995; Catherine Clément: Martin und Hannah. Berlin 2000. 31 Young-Bruehl: Hannah Arendt (Anm. 23), 102.

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Beschreibungen in der Lebensgeschichte und dem Leben Arendts her.32 Vor allem in den Kapiteln, die die 1930er Jahre, also die Zeit der Emigration betreffen, nutzt Young-Bruehl Arendts Charakterisierungen »Rahels«, um damit Arendt selbst zu beschreiben. Die festgestellte Ähnlichkeit zwischen »Rahel« und Arendt wird für die eigene Darstellung verwendet, die Biographin Arendts verwendet Textelemente aus der von dieser verfaßten Rahel Varnhagen, um die Biographie Hannah Arendts zu schreiben. So augenfällig diese Parallelen und Ähnlichkeiten sind oder sein mögen, so sehr stellt sich jedoch auch die Frage, was sie für das Verhältnis der Lebensgeschichte zur (Auto-)Biographie implizieren. Helmut Scheuer hat in seinen Überlegungen zu einer Gattungsbeschreibung33 in jeder Biographie ein autobiographisches Moment ausgemacht. Dieses spiegele sich wider im Streit darum, ob die Biographie eine künstlerisch-literarische oder historisch-wissenschaftliche Gattung sei. Das versteckt Autobiographische, das für diesen Streit die Ursache bilde, sei die Subjektivität des Biographen. »Einerseits fühlt dieser sich einem Wahrheits- und Objektivitätsanspruch verpflichtet, andererseits ist meist schon die Wahl des ›Helden‹ aus einer sehr subjektiven Einstellung erfolgt. Biographie des historischen Subjekts und Autobiographie des Beschreibenden treten in eine enge Wechselwirkung. In dieser Ambivalenz von Subjektivität und Wahrheitsanspruch wird auch jene sich seit der Antike behauptende Diskrepanz von Geschichtsschreibung und Dichtung sichtbar.«34 Das von Benhabib, Dornhof, Meyer, Feilchenfeldt und Young-Bruehl konstatierte autobiographische Moment der Rahel Varnhagen geht über diesen bloßen Einschluß des Autobiographischen als Subjektivität der Biographin weit hinaus. Die Spiegelungs- und Ähnlichkeitsbehauptungen suggerieren, daß sich Arendt in »Rahel« selbst porträtiert habe, dabei offen lassend, ob dies absichtlich oder unabsichtlich geschah.

32 Das eine bestimmte Situation im Leben Arendts ›wie‹ eine Situation im Leben Rahel Varnhagens sei, wird mehrfach behauptet. Vgl. ebd., 103, 158, 202, 414. 33 Helmut Scheuer: Biographie. Überlegungen zu einer Gattungsbeschreibung. In: Reinhold Grimm, Jost Hermand (Hg.): Vom Anderen und vom Selbst. Beiträge zu Fragen der Biographie und Autobiographie. Königstein/Ts. 1982, 929. Vgl. dazu auch: Ders.: Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Stuttgart 1979; ders.: Artikel »Biographie«. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller u. Jan-Dirk Müller hg. von Klaus Weimar. Bd. 1. Berlin, New York 1997, 233-236; Neva Šlibar: Biographie, Autobiographie – Annäherungen, Abgrenzungen. In: Michaela Holdenried (Hg.): Geschriebenes Leben. Autobiographik von Frauen. Berlin 1995, 390-401. 34 Scheuer: Biographie (Anm. 33), 11.

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Folgt man Philippe Lejeunes Klassifikationssystem, so bewegt man sich mit der Kategorie der Ähnlichkeit jedoch nicht im Register der Autobiographie. Die notwendige Bedingung für die Autobiographie sei, so Lejeune, die Identität von Protagonist, Erzähler und Autor. Sie werde in einem autobiographischen Pakt mit dem Leser, der Leserin besiegelt und unterschrieben.35 Ähnlichkeit hingegen, so Lejeune, sei vielmehr die wichtigste Bezugsgröße der Biographie. Die Abgrenzung der Autobiographie von der Biographie beginnt für Lejeune mit genau dem Merkmal, das für Young-Bruehl und die anderen genannten AutorInnen der Ausgangspunkt ist, der es ihnen ermöglicht, die Lebensgeschichte Rahel Varnhagens als Autobiographie Hannah Arendts zu bezeichnen: Ähnlichkeit. Im Rekurs auf die Identität als Grundvoraussetzung der Autobiographie behauptet dagegen Lejeune: »Identität hat mit Ähnlichkeit nichts zu tun.«36 Lejeune konturiert Ähnlichkeit und Identität als Gegenpole, um nicht in den Fehler zu verfallen, wie er sagt, die Autobiographie von der Biographie abzuleiten. Zwar handele es sich bei beiden um referentielle Gattungen, in der Autobiographie sei die Identität jedoch eine Tatsache, während die Ähnlichkeit, auf die sich die Biographie berufen müsse, sich »endlos diskutieren und nuancieren«37 lasse. Die Biographie bringe außer Autor, Erzähler und Protagonist noch eine vierte Größe ins Spiel: das Modell, d.h. eine »Wirklichkeit, der die Aussage zu gleichen behauptet«: »Im Fall der Biographie ist das Modell also das Leben eines Menschen, ›so wie es gewesen ist‹«.38 Die grundsätzliche Frage, »wie […] ein Text dem Leben ›gleichen‹« könne,39 die sich für die Biographie stelle, werde dabei von den Biographen selten überhaupt in Betracht gezogen. Zwischen Autor und Erzähler der Biographie bestehe in den meisten Fällen Identität, dies sei aber keine notwendige Bedingung. Die Biographie gilt als heterodiegetische Erzählung, d.h. als eine Erzählung, in der »der Erzähler in der Geschichte, die er erzählt, nicht vorkommt, abwesend ist«,40 oder als Erzählung in der dritten Person. Wenn auch für die Biographie die Identität von Protagonist und Modell behauptet werde, so sei doch die Ähnlichkeit vorrangig. Unterscheiden lasse sich die Autobiographie von der Biographie, so Lejeune, hinsichtlich der Rangfolge von Identität und Ähnlichkeit: »Hier wird bereits ersichtlich, wodurch Biographie und Autobiographie einander grundlegend gegenüberstehen, 35 Vgl. dazu Kapitel I.2 und II.3. 36 Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt. Übers. v. Wolfram Bayer u. Dieter Hornig. Frankfurt/M. 1994, 39. 37 Ebd. 38 Ebd., 41. 39 Ebd. 40 Gérard Genette: Die Erzählung. Übers. v. Andreas Knop. Hg. v. Jochen Vogt. München 1998, 175.

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nämlich die Rangordnung der Ähnlichkeits- und Identitätsbeziehungen; in der Biographie muß die Ähnlichkeit die Identität begründen, in der Autobiographie begründet die Identität die Ähnlichkeit. Die Identität ist der reale Ausgangspunkt der Autobiographie; die Ähnlichkeit der unmögliche Horizont der Biographie. Daraus erklärt sich die unterschiedliche Funktion der Ähnlichkeit in den beiden Systemen.«41 Wenn also Ähnlichkeit auch in der Autobiographie eine Rolle spielt, so nur als nachgeordnetes, zweitrangiges Moment. Entscheidend ist nicht, ob der Protagonist dem Autor ähnelt oder gleicht, entscheidend ist, ob Identität vorliegt oder nicht.42 Identität ist für Lejeune eine Frage des Entweder/Oder. Der prinzipiell unabschließbaren Diskussion (»unmöglicher Horizont«) über die Ähnlichkeit in der Biographie steht die »faktische« Identität von Autor, Protagonist und Erzähler gegenüber, die Spekulationen gar nicht erst aufkommen lasse. »Die Autobiographie ist kein Rätselraten, vielmehr das genaue Gegenteil.«43 Akzeptiert man die von Lejeune getroffene Unterscheidung, so stellt sich im Bezug auf das ›autobiographische‹ Moment in der Rahel Varnhagen die Frage, was Benhabib, Dornhof, Meyer, Feilchenfeldt und Young-Bruehl beobachten, wenn sie die Ähnlichkeitsbeziehung zwischen »Rahel« und »Hannah Arendt« ins Auge fassen. Keine der genannten AutorInnen versucht zu beweisen, daß die Lebensgeschichte die Autobiographie Hannah Arendts sei – alle stellen diese Behauptung eher beiläufig auf. Dennoch ist ihr Impetus auf die Feststellung von Ähnlichkeit ausgerichtet und somit zunächst auf die Biographie. Auf der Folie der Differenzierung Lejeunes gelesen, wird die Lebensgeschichte allenfalls als Biographie Arendts lesbar. Lejeunes rigide Trennung von Autobiographie und Biographie qua Gegenüberstellung von Identität und Ähnlichkeit kann jedoch nicht erklären, wie es zu dem Effekt des Autobiographischen in den Lektüren der Lebensgeschichte kommen kann. Denn im Fall der in Serie behaupteten, unterschiedlich pointierten Ähnlichkeiten ist weniger interessant, ob sie zutreffend sind oder nicht, d.h. ob sie auf eine Biographie Arendts hinauslaufen oder nicht. Interessant ist vielmehr die Überlegung, daß die Lebensgeschichte offenbar in einer Weise von der biographischen Literatur abweicht, die sie für solche autobiographischen Lesarten prädestiniert. Arendts Text scheint dazu einzuladen, die Frage nach der Autobiographie aufzuwerfen. 41 Lejeune: Der autobiographische Pakt (Anm. 36), 42. 42 »Da die Autobiographie eine referentielle Gattung ist, ist sie natürlich gleichzeitig dem Imperativ der Ähnlichkeit auf der Ebene des Modells unterworfen, aber dies ist bloß ein sekundärer Aspekt. Die Tatsache, daß wir urteilen, daß die Ähnlichkeit nicht erreicht worden ist, ist nebensächlich, sobald wir sicher sind, daß sie angestrebt war.« (Ebd., 44.) 43 Ebd., 27.

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Die von Arendt proklamierte Absicht, die Geschichte »Rahels« so zu erzählen, wie diese selbst sie hätte erzählen können, d.h. die Absicht, sich als Autorin hinter die Protagonistin zurückzuziehen, führt zu einem Grad an Unmittelbarkeit, die in der Lektüre der Rahel Varnhagen als Autobiographie Arendts aber nicht auf die Protagonistin, sondern auf die Erzählerin und Autorin, nicht auf »Rahel«, sondern auf Arendt zurückgeführt worden ist. Die im Text erzeugte Unmittelbarkeit wird als Ähnlichkeit von Protagonistin und Autorin wahrgenommen und zur Grundlage der Feststellung, die Lebensgeschichte sei die Autobiographie Arendts.44 Ob man die Lebensgeschichte der Autobiographie oder Biographie zuschlägt, ist in hohem Grade abhängig von den Unterscheidungen, die die Gattungsdiskussion selber trifft. Arendts Anmerkung, die Geschichte sei aus einem in der Biographie-Literatur ungewöhnlichen Aspekt geschrieben, weist bereits darauf hin, daß eine Zurechnung nur schwer möglich ist, daß sich die Lebensgeschichte gegenüber bestehenden Klassifikationen sperrt. In einem Überblicksartikel zu Gemeinsamkeiten und Differenzen von Autobiographie und Biographie faßt Neva Šlibar in wenigen Sätzen zusammen, welche Unterschiede die »traditionelle Forschung«45 gesehen habe. Sie kommt dabei auf drei »disjunktive Kriterien«, die für die Lebensgeschichte zu überraschenden Einsichten führen. Das erste Kriterium betrifft die »Blickrichtung« – »Biographie: von außen nach innen, Autobiographie: von innen nach außen«.46 Während die Biographie sich ihrem Modell von außen nähert, so Šlibar, entwickelt sich die Autobiographie aus der Sicht ihrer Protagonistin. Diese Charakterisierung gilt der Intention nach jedoch auch für die Rahel Varnhagen. Das Verhältnis »Rahels« zur Außenwelt und ihren Personen soll, so Arendt im Vorwort, von »Rahel« aus geschildert werden. Die Innenperspektive ist für Arendt als Darstellungsmodus verbindlich: »Ähnliches gilt für die behandelten Personen und die Literatur der Zeit. Sie ist durchgängig aus ihrem [»Rahels«] Aspekt gesehen, und es wird kaum ein Autor erwähnt, von dem es nicht sicher oder zumindest wahrscheinlich ist, daß sie ihn gekannt und daß das, was er geschrieben hat, von Bedeutung für ihre eigene Reflexion geworden ist.« (RV 11)

44 Sybille Bedford rezensierte das Buch kurz nach seinem Erscheinen 1958 und wies darauf hin, daß sich die Unmittelbarkeit noch auf die Leserin übertrage: »[B]eim Lesen fühlt man sich, als säße man ohne Uhr im Treibhaus. Man ist gezwungen, die Hauptfigur nachzuempfinden, die wartende, verwirrte Frau« (Sybille Bedford: Emancipation and Destiny. In: The Reconstructionist 12.12.1958, 22-26. Hier zitiert nach: Young-Bruehl: Hannah Arendt (Anm. 23), 140). 45 Šlibar: Biographie (Anm. 33), 393. 46 Ebd.

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Wie das erste, so spricht auch das zweite Kriterium, das Šlibar in Anschlag bringt, gegen eine Einordnung der Lebensgeschichte als Biographie: Der Autobiographie gehe es um eine »intendiert subjektive«, der Biographie um eine »intendiert ›objektive‹ […] Gestaltung und Faktenpräsentation«,47 schreibt Šlibar. Der Intention nach geht es Arendt gerade um die Wiederholung der Weltsicht ihrer Protagonistin. Arendt weist nachdrücklich darauf hin, daß dies ihre Absicht sei, selbst wenn es dem Leser, der Leserin nicht so erscheinen mag: »Ich kann hier natürlich nur davon sprechen, was ich beabsichtigte; wo immer mir dies Beabsichtigte nicht geglückt ist, mag es dann so aussehen, als ob von irgendeiner höheren Warte über Rahel geurteilt würde; dann ist mir eben das, was ich eigentlich wollte, mißlungen.« (RV 11) Das dritte disjunktive Merkmal, das von Šlibar diskutiert wird, knüpft an die Opposition von Subjektivität und Objektivität an. Während die »traditionelle Biographie« bemüht sei, sich »an die historischen Tatsächlichkeiten« zu halten, erlaube die Autobiographie die »Einbeziehung von Lebensentwürfen und -möglichkeiten«.48 Genau diese Entwürfe und Möglichkeiten, ihr Zusammentreffen mit »Welt« und »Wirklichkeit«, stehen im Zentrum der Rahel Varnhagen. Arendt beginnt den eigentlichen Text der Lebensgeschichte mit einer Situierung »Rahels« in der Romantik. Dabei konzentriert sie sich auf den Aspekt der Umdeutung der Welt und des Wirklichen in der Reflexion, auf die Versuche, dem Faktum gegebenenfalls mit einer Lüge zu entgehen. Nachprüfbare Daten sind für Arendts Art der Darstellung weniger interessant als »Rahels« Verhältnis zu und ihr Umgang mit ihnen. Dem Kriterienkatalog Šlibars zufolge wäre Arendts Rahel-Buch in allen drei Punkten der Autobiographie zuzuordnen. Dabei handelte es sich in diesem Fall um die Autobiographie Rahel Varnhagens. Ein solcher Befund kann einerseits darauf hinweisen, daß die Differenzierungsleistungen der von Šlibar als »traditionell« bezeichneten Forschung nicht komplex genug sind, um die von ihr untersuchten Gegenstandsbereiche zu beobachten. Im Vergleich dazu wird die Trennschärfe von Lejeunes Definition, die sich aus der Weigerung ergibt, die Autobiographie von der Biographie aus zu definieren, besonders augenfällig. In seiner Klassifikation kann die Lebensgeschichte keine Autobiographie Rahel Varnhagens sein, da der Autorname auf dem Titelblatt, »Hannah Arendt«, nicht mit dem Namen der Protagonistin, »Rahel«, identisch ist. Andererseits zeigt der Vergleich der Lebensgeschichte mit den von Šlibar der traditionellen Forschung zugesprochenen Unterscheidungskriterien jedoch, wie weit sich Arendt formal von einer Biographie distanziert. Die Lebens47 Ebd. 48 Ebd.

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geschichte wird lesbar als eine Autobiographie, in der Autorin, Erzählerin und Protagonistin nicht identisch sind. »Arendt’s biography as inner biography is only possible when it stages itself as autobiography, as fictitious act seemingly necessary if one wants to come close to a life.«49 Arendt wird zum Ghostwriter der Autobiographie »Rahels«. Zwar weist Hannah Arendt im Vorwort – für die von Ghostwritern verfaßte Literatur äußerst unüblich – ausdrücklich auf ihre Darstellungsabsichten hin. Aber genau diese Absicht sieht wiederum vor, Arendt als Ghostwriter hinter der Protagonistin verschwinden zu lassen. Darin der allgemein üblichen Praxis des Ghostwriting entsprechend, entscheidet sich Arendt gegen eine über-geordnete Perspektive – als Verfasserin zieht sie sich, zumindest der Intention nach, hinter die Innenperspektive der Protagonistin zurück. Wie wäre nun diese Art des Ghostwriting näher zu beschreiben? Wodurch ist es motiviert und wovon setzt es sich ab? Mit ihrem dezidierten Verzicht auf das »Über« und der damit verbundenen Perspektivierung schließt sich Arendt in einigen Punkten einer Lektürepraxis an, die sie an anderer Stelle als besonderen Umgang Martin Heideggers mit der Philosophie beschrieben hat. Auch hier steht das »über« an zentraler Stelle in Arendts Charakterisierung: »Technisch entscheidend war, daß zum Beispiel nicht über Plato gesprochen und seine Ideenlehre dargestellt wurde, sondern daß ein Dialog durch ein ganzes Semester Schritt für Schritt verfolgt und abgefragt wurde«.50 Durch dieses Vorgehen habe sich Heidegger von seinem universitären Umfeld unterschieden51 und eine besondere Position in der Philosophie eingenommen. Seine Vorlesungen und Seminare seien »etwas ursprünglich Philosophisches inmitten des akademischen Geredes über Philosophie«52 ge49 Liliane Weissberg hält an dieser Stelle allerdings offen, um wessen Autobiographie es sich handelt: »Whose life, however is at stake in this performance? Ironically, Arendt’s writing seems to obliterate the difference between the author and her subject, while at the same time insisting on the subject’s distinct personality.« (Weissberg: Introduction (Anm. 9), 6.) Vgl. auch den ersten Leseeindruck, den Richard Winston als Übersetzer des Manuskripts in einem bisher unveröffentlichten Brief an Arendt formuliert hat: »It is the most extraordinary kind of biography, so complete in its psychological and philosophical identification that it comes awesomely close to Rahel’s autobiography.« (Richard Winston an Hannah Arendt, 7. 7.1956. Zitiert nach: Christophersen: »… es ist mit dem Leben etwas gemeint« (Anm. 19), 47.) 50 Hannah Arendt: Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt. In: Dies.: Menschen in finsteren Zeiten. Hg. v. Ursula Ludz. München ²1989, 172-184, hier 174. 51 »Heute klingt uns das vermutlich ganz vertraut, weil so viele es jetzt so machen; vor Heidegger hat es niemand gemacht.« (Ebd.) 52 Ebd. Ein betontes »über« findet sich im Heidegger-Text noch ein drittes Mal: »Dies Denken hat eine nur ihm eigene bohrende Qualität, die, wollte man sie sprachlich fassen und nachweisen, in dem transitiven Gebrauch des Verbums ›denken‹ liegt. Heidegger denkt nie ›über‹ etwas; er denkt etwas.« (Ebd., 175.)

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wesen. Hier steht das »über« unter dem Verdacht, »Gerede« zu sein, das sich von den philosophischen Texten zu weit entfernt hat, um selber noch als »ursprünglich philosophisch« gelten zu können. Gegen die Rede »über« die Philosophie wird eine Lektüre ins Spiel gebracht, die den zu besprechenden Dialog »Schritt für Schritt verfolgt« und »abfragt«. In der metaphorischen Beschreibung Arendts führt dieses Verfahren dazu, den gelesenen Text als eine lebendige Stimme wahrzunehmen. Das Denken selbst scheint gegen das »Gerede über« anzusprechen: »Das Denken ist wieder lebendig geworden, die totgeglaubten Bildungsschätze der Vergangenheit werden zum Sprechen gebracht, wobei sich herausstellt, daß sie ganz andere Dinge vorbringen, als man mißtrauisch vermutet hat.«53 In Arendts Beschreibung, und nur um die geht es hier,54 verbindet sich das Unerwartete und Überraschende der Tradition mit einer Metaphorik der Lebendigkeit. Beides ist das Resultat einer eng am Text orientierten Lektüre – Schritt für Schritt, Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe.55 Das Versprechen, das mit dem Verzicht auf das »über« einhergeht, ist die Verlebendigung des Toten. In der nachträglichen Absichtserklärung, nicht »über die Rahel« geschrieben haben zu wollen, findet sich Arendts Skizze der Lektürepraxis Heideggers wieder. Allerdings handelt es sich bei der Protagonistin der Lebensgeschichte nicht um eine Philosophin – dann wäre sie als Objekt für einen biographischen Text vielleicht gar nicht in Frage gekommen. Durchaus sympathisierend zitiert Arendt Heideggers Absage an die Konvention, sich philosophischen Texten unter Zuhilfenahme der Biographie der betreffenden Philosophen zu nähern. In der Formel des »leidenschaftlichen Denkens« faßt sie die Verschmelzung von »Denken und Lebendigsein«, die eine weitere Beschäftigung mit den Lebensdaten und -geschichten des oder der Denkenden überflüssig erscheinen läßt: »Heidegger selbst hat einmal dieses Einswerden – einer gut bezeugten Anekdote zufolge – in einem einzigen lapidaren Satz ausgedrückt, als er zu Beginn einer Aristoteles-Vorlesung statt der üblichen biographischen Einleitung 53 Ebd., 174. 54 Zum Verhältnis der Lebensgeschichte und Heideggers Philosophie vgl. Ingeborg Nordmann: Die Lebenszeugnisse [sic!] einer Jüdin als Antwort auf Heideggers Sein und Zeit. In: Dies.: Hannah Arendt (Anm. 5), 26-33. 55 Arendt konnte sich bei der Erstellung des Buches nicht auf einen vollständig edierten Briefwechsel stützen, sondern las in den Originalbriefen und Transkripten im Archiv. Die Lektüre ist dadurch von vornherein gezwungen, besonders aufmerksam vorzugehen, insofern sie nur als »[m]ühsames Buchstabieren« vorwärts kommt, und Lesen hier letztlich nichts anderes bedeutet als eine »anhaltende Irritation« – wie Barbara Hahn bemerkt (Hahn: »Suche alle meine Briefe« (Anm. 13), 14f.). »Das fliegende Lesen, das sofort auf den Sinn schließt, wird in seinem Lauf gestoppt, denn ein handschriftlicher Text zerfällt nicht nur in einzelne Worte, sondern in Buchstaben und oft sogar zunächst in rätselhafte Linien« (ebd., 14).

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sagte: ›Aristoteles wurde geboren, arbeitete und starb.‹«56 In einer biographischen Skizze Rosa Luxemburgs in Men in Dark Times erläutert Arendt ihre Ansicht: Die englische Biographie sei als Genre der Historiographie in erster Linie für das Leben von »great statesmen« geeignet, aber »rather unsuitable for those in which the main interest lies in the life story, or for the lives of artists, writers, and, generally, men and women whose genius forced them to keep the world at a certain distance and whose significance lies chiefly in their works, the artifacts they added to the world, not in the role they played in it«.57 Arendt unterscheidet also zwischen »Leben« und »Welt« auf der einen und »Werk« und »Artefakt« auf der anderen Seite. Für die Biographie interessant sind diejenigen Personen, die sich die Welt nicht auf Distanz halten, die für die »Rolle, die sie in ihr spielten« und für ihr Leben eher als für ihr »Werk« bekannt sind.58 Rahel Varnhagen ist deshalb ein möglicher Gegenstand für eine Lebensgeschichte, da das »Werk«, das sie hinterlassen hat, nicht in gleicher Weise in Distanz zum Leben steht, sondern als Briefkorpus vom »Leben« nicht zu trennen ist.59 Darüber hinaus hat sich Rahel Varnhagen selbst mit der Aufgabe des »Lebens« betraut gesehen, wie sie in einem Brief an David Veit schreibt, in dem sie sich mit dem größten »Künstler, Philosoph oder Dichter« in eine Reihe stellt, mit einem Unterschied: »Mir aber war das Leben angewiesen.«60 Arendt nimmt diese Selbstbeschreibung in ihrer ganzen Tragweite auf, wenn sie 1930 in einem Brief an Karl Jaspers davon spricht, daß sich 56 Arendt: Martin Heidegger (Anm. 50), 177. 57 Hannah Arendt: Rosa Luxemburg. 1871-1919. In: Dies.: Men in Dark Times. New York 1968, 33. Die deutsche Ausgabe (Hannah Arendt: Rosa Luxemburg. 1871-1919. In: Dies.: Menschen in finsteren Zeiten (Anm. 50), 49-74) enthält diesen Passus nicht. 58 Die biographischen Essays in Menschen in finsteren Zeiten sind größtenteils Denk-Biographien. 59 Daß Briefe kein »Werk« sind, weiß das Urheberrecht noch heute: »Die innere Form ist also Ausdruck des individuellen Geistes und gehört daher dem Urheber. Einem alltäglichen Brief dagegen fehlt in der Regel die innere Form. Er ist in wahlloser Gedankenfolge niedergeschrieben; daher kommt ihm keine Werkeigenschaft zu.« (Manfred Rehbinder: Urheberrecht. München 101998, 29. Für den Hinweis auf diese Stelle danke ich Nils Plath.) Zur Situierung des Briefes zwischen Leben und Literatur, zwischen Leben und Text vgl. Marianne Schuller: Im Unterschied. Lesen – Korrespondieren – Adressieren. Frankfurt/M. 1990; Barbara Becker-Cantarino: Leben als Text. Briefe als Ausdrucks- und Verständigungsmittel in der Briefkultur und Literatur des 18. Jahrhunderts. In: Hiltrud Gnüg, Renate Möhrmann (Hg.): Frauen – Literatur – Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Frankfurt/M. 1989, 83-103; Barbara Hahn: Brief und Werk. Zur Konstitution von Autorschaft um 1800. In: Ina Schabert, Barbara Schaff (Hg.): Autorschaft. Genus und Genie in der Zeit um 1800. Berlin 1994, 145-156. 60 Rahel Varnhagen an David Veit, 16.2.1805. In: Rahel Varnhagen: Briefwechsel. Bd. III. Hg. v. Friedhelm Kemp. Zweite, durchges. u. um e. Nachtrag verm. Ausgabe. München 1979 , 83.

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in manchen Personen das Leben selbst manifestiere: »Es scheint als seien bestimmte Personen in ihrem eigenen Leben (und nur in diesem, nicht etwa als Personen!) derart exponiert, daß sie gleichsam Knotenpunkte und konkrete Objektivationen ›des‹ Lebens werden.«61 Sie hält an dieser Einschätzung auch fast 30 Jahre später im Vorwort noch fest, wenn sie Rahel Varnhagens Selbstbeschreibung für eine erste Charakterisierung heranzieht: »Worauf es ihr ankam, war, sich dem Leben so zu exponieren, daß es sie treffen konnte ›wie Wetter ohne Schirm‹ (›Was machen Sie? Nichts. Ich lasse das Leben auf mich regnen.‹).« (RV 10) Arendt macht die Empfänglichkeit für das Leben davon abhängig, daß sich die Empfindende der »Wahl« und des »Handelns« enthalten müsse, weil diese »bereits dem Leben zuvorkommen«. Wahl und Handlung stünden so dem Ziel »Rahel«, zum »›Sprachrohr‹ des Geschehenen zu werden« (ebd.), im Weg. Diese Stelle im Vorwort ist gleichzeitig die erste Stelle, an der deutlich wird, wie sich Arendts Absicht in ein bestimmtes Schreibverfahren übersetzt: Die Verschränkung der eigenen Darstellung mit Sätzen und einzelnen Wörtern aus Briefen Rahel Varnhagens läßt tendenziell ununterscheidbar werden, wer hier spricht. Die Lebensgeschichte ist somit nicht nur die Geschichte einer Person, ist nicht nur die Geschichte »Rahels«, sondern darüber hinaus eine Geschichte »des« Lebens, eine (Auto-)Biographie »des« Lebens und damit eine Reflexion dessen, was (auto-)biographische Literatur zum Gegenstand hat. Aber auch diese Bestimmung muß noch präzisiert werden, denn im Falle von Rahel Varnhagen trifft Arendt auf einen »Gegenstand«, der sich das Leben selbst schon zum Objekt gemacht hat: »Bei der Rahel liegt meiner Objektivation schon eine Selbstobjektivation zu Grunde, die nicht eine reflektierende, also nachträgliche ist, sondern von vornherein der ihr eigentümliche Modus des ›Erlebens‹, der Erfahrung.«62 In der Lebensgeschichte geht es weder darum, etwas »Totgeglaubtes« zum Leben zu erwecken, wie Heidegger es mit der philosophischen Tradition in Arendts Darstellung getan hatte, noch darum, über das Leben der Protagonistin von einem ihr fernen Blickpunkt aus zu berichten. Indem »Rahel« selbst sich zum »Sprachrohr« des Lebens gemacht hat, ist Arendts Text bereits nicht mehr nur eine Darstellung des Lebens, sondern eine Darstellung der Darstellung, nicht nur eine Reflexion des Gegenstands (auto-)biographischer Literatur, sondern auch eine Reflexion ihrer Verfaßtheit. »Rahel« habe die eigene Geschichte immer wieder »sich selbst und anderen vor- und nacherzählt« (RV 10), schreibt Arendt und rückt diese stetige Erzählung an die Stelle des Modells. In der Le61 Hannah Arendt an Karl Jaspers, 24.3.1930. In: Arendt, Jaspers: Briefwechsel (Anm. 7), 48. 62 Ebd.

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bensgeschichte soll »Rahels« narratives Verhältnis zu sich selbst, zu ihrem eigenen Leben nachgezeichnet werden. »Gerade deshalb will ich auch eine Biographie schreiben. Interpretation hat hier eigentlich den Sinn der Wiederholung.«63 Was bedeutet es, die Interpretation auf »den Sinn der Wiederholung« festzulegen? Dient die Interpretation üblicherweise der Explikation, dem Aufspüren eines unterstellten Sinns, so läuft der Sinn der Wiederholung demgegenüber ins Leere. Die Wiederholung wiederholt ohne Hinzufügung oder Aufweis von Sinn. Wenn die Interpretation als Wiederholung konzipiert wird, weist sie gerade nicht mehr auf den Sinn – sie verliert den Sinn der Interpretation. Das Vorwort von 1956 hält an der 1929 im Brief an Jaspers geäußerten Absicht der Wiederholung fest, weist sie aber nun als »Nacherzählung« aus. Damit ist aber zugleich ein fundamentales Problem dieser Absicht benannt. Es sei ihr nicht darum gegangen, so Arendt im Vorwort, »Rahel« »so oder anders [zu] interpretieren und [zu] verstehen«, sondern geplant war, ihre »Lebensgeschichte so nachzuerzählen, wie sie selbst sie hätte erzählen können« (RV 9f.). Die Schwierigkeit der Erfüllung dieser Darstellungsabsicht liegt in der paradoxen Konstruktion einer Nacherzählung ohne vorgängige Erzählung. Der Konjunktiv »hätte erzählen können« zeigt deutlich an, daß es eine erste Erzählung, die in der Form mit der Nacherzählung vergleichbar wäre, nicht gegeben hat. Die »Nacherzählung« konstituiert erst im Nachhinein, was als erste Erzählung hätte gelten können. Die im Brief an Jaspers angesprochene Wiederholung betrifft Rahel Varnhagens Selbstverhältnis, den ihr eigenen »Modus des ›Erlebens‹«, aber die Nacherzählung konstituiert eine Form der Geschichte, die sich von der brieflichen Form der Äußerungen Rahel Varnhagens – trotz ihres narrativen Verhältnisses zu sich selbst – unterscheidet. Barbara Breysach hat auf die Differenz von Arendts »biographischem Denken« und »Rahels brieflicher Schreibweise« hingewiesen.64 Sie wirft Arendt vor, die Briefe nur in eine bestimmte historische Konstellation der deutschen Juden eingeordnet zu haben, »ohne sie einer hermeneutischen Würdigung zuzuführen« und »ohne sie zu interpretieren«, d.h. ohne sie auf »ihre Literarizität hin zu lesen«.65 Zwischen »hermeneutischer Würdigung« und »Interpretation« auf der einen und »Literarizität« auf der anderen Seite besteht jedoch eine Differenz, von der Arendts biographische Methode ihren Ausgang nimmt. Der proklamierte Verzicht auf die Interpretation resultiert gerade aus dem Versuch Rahel Varnhagens, sich mittels der Briefe das Leben 63 Ebd. 64 Barbara Breysach: Hannah Arendts Rahel-Biographie. In: Dies.: »Die Persönlichkeit ist uns nur geliehen.« Zu Briefwechseln Rahel Varnhagens, Würzburg 1989, 65-73, hier 67. 65 Ebd., 65 und 66.

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vor- und nachzuerzählen, den auch Breysach in ihnen angelegt sieht: »Die Briefe markieren einen Ausweg aus dem biographischen Anspruch, bleiben aber auf beunruhigende Weise auf diesen ungeschriebenen Text bezogen, dessen Stelle sie einnehmen, ihre grundlegende Differenz bewahrend.«66 In dieser Perspektive bilden die Briefe einen gegen das Ordnungsmodell der (Auto-)Biographie ins Spiel gebrachten Erzählmodus. Wie nun einerseits die Korrespondenz Rahel Varnhagens und auch das Buch des Andenkens durchaus einen zu differenzierenden Einsatz gegen eine in sich geschlossene, Kontinuität herstellende (Auto-)Biographie wagen, und also ein deutlicher Unterschied zwischen (Auto-)Biographie und Brief anzusetzen ist, so ist andererseits genauso fraglich, ob es sich bei der Lebensgeschichte um den »linear strukturierten Text« handelt, den Breysach im Fall einer Biographie für unausweichlich hält.67 In ihrer Kritik unterläßt es Breysach nun ihrerseits, die Lebensgeschichte auf ihre Literarizität hin zu lesen, indem sie von der Kategorisierung als »Biographie« auf Linearität schließt und dabei überliest, wie sich der Text in einer Spannung von Wiederholung und Narration, von Zitat und Nacherzählung selbst unterbricht. Damit wird die Lebensgeschichte nicht zu einem Brief oder einer Briefsammlung, sie wird aber genauso wenig zu einer Biographie im klassischen Sinn.68 Zwischen Wiederholung und Nacherzählung entsteht ein Spannungsverhältnis, das den gesamten Text durchzieht. Von der Beziehung zwischen Brief und Lebensgeschichte, zwischen Selbstverhältnis, Wiederholung und Nacherzählung sind all jene AutorInnen betroffen, die Arendts Lebensgeschichte für eine verfehlte oder verfälschende Biographie Rahel Varnhagens halten, die einzelne Details oder grundsätzliche Züge monieren. Sie alle vergleichen die Nacherzählung, die Wiederholung mit einer ersten Geschichte, die aber immer nur in der Wiederholung, in der Nacherzählung zu haben sein wird. Dabei ließe sich einwenden, daß es bestimmte Fakten gibt, die Arendt mögli66 Ebd., 67. 67 »Levin Varnhagens Biographie zu schreiben, würde bedeuten, die lebensgeschichtlichen Versatzstücke der Briefe zu einem linear strukturierten Text zusammenzufügen. Die Authentizität aber einer solchen Biographie verdankte sich gerade nicht der Tatsache, daß Rahel sie so selbst hätte erzählen können. Sie beruhte im Gegenteil auf einer von der Autorin gerade nicht erreichten Form auktorialer Selbstdarstellung und kann sich folglich nur mittelbar auf die Briefe als authentische Zeugnisse beziehen.« (Ebd., 68.) 68 Ingeborg Nordmann hat sie mehrfach als dialogisches Schreiben charakterisiert und so auf eine Parallele zum Brief hingewiesen. Vgl. Ingeborg Nordmann: »Fremdsein ist gut.« Hannah Arendt über Rahel Varnhagen. In: Hahn, Isselstein: Wiederentdeckung (Anm. 10), 196-207; Dies.: Geschichte von zweien, die sich träumten. In: Konkursbuch 10 (o.J.), 109-123. Ähnlich argumentiert Eva Meyer, die Hannah Arendt zur Empfängerin der Briefe Rahel Varnhagens macht (Meyer: Was heißt biographisches Denken (Anm. 26); dies.: Die Autobiographie (Anm. 27)).

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cherweise falsch wiedergibt, tatsächlich sind es aber nicht die äußeren Daten, die die Art der »Wirklichkeit« ausmachen, von der Arendt eine Geschichte zu erzählen plant.69 Indem sie selbst als Autorin der Lebensgeschichte zu verschwinden beabsichtigt, indem sie sich auf die Wiederholung verpflichtet, situiert sich Arendt als Ghostwriter einer nur als Nach-Erzählung lesbaren Autobiographie »Rahels«. Damit unterscheidet sie sich von der Position einer Biographin, die das Leben der Porträtierten überblickt und in der »Interpretation« als wertende Instanz über diese hinausgeht. »Die Darstellung folgt […] mit größtmöglicher Genauigkeit den Reflexionen der Rahel und tritt auch dann nicht aus deren Rahmen, wenn anscheinend so etwas wie Kritik an Rahel geübt wird. Die Kritik entspricht der Rahelschen Selbstkritik«. (RV 10f.)70 Arendt entscheidet sich gegen eine Position, die sie über der Anderen ansiedelt, entscheidet sich gegen den Überblick. Im Netzwerk der Varnhagenschen Korrespondenz situiert sie sich auf der Position der Protagonistin, indem sie zunächst zu deren genauen Leserin wird. Sie liest, was an »Rahel« adressiert wird und was diese selbst schreibt, und beabsichtigt, dies als Ausgangspunkt zu nutzen. Damit bleibt das Buch in besonderer Weise den überlieferten Selbstbeschreibungen Rahel Varnhagens verpflichtet, es orientiert sich an ihnen im Ton und in der Gestaltung. Als Ghostwriter läßt sich Arendt von Rahel Varnhagen in bruchstückhafter Form erzählen, was in der Lebensgeschichte den Text einer Autobiographie konstituieren wird. Die Nachdrücklichkeit, mit der Arendt ihre Darstellungsabsicht ausführt, speist sich nicht zuletzt auf zunächst paradoxe Weise aus der zwiespältigen Haltung, die sie gegenüber der Durchdringung des öffentlichen Raumes durch die Intimität einnimmt. Aufgrund ihrer »Methode« verzichte sie, so Arendt, auf »bestimmte Beobachtungen psychologischer Art« (RV 12), sowie auf eine Einlassung auf das »Frauenproblem«. Beide rekurrierten auf eine außerhalb der Selbstobjektivation »Rahels« liegende Sphäre – im einen Fall auf den »pseudowissenschaftlichen Apparat von

69 Zum Verhältnis von Wirklichkeit und Geschichte vgl. Kapitel IV.2. 70 Vier Jahre zuvor hieß es in einem Brief an Jaspers: »Sie werfen mir vor, daß ich mit Rahel ›moralisiere‹. Das kann natürlich passiert sein und hätte nicht passieren dürfen. Was ich meine oder zu tun meinte, war, mit ihr so weiter zu raisonnieren, wie sie es selbst tat, und zwar durchaus innerhalb der Kategorien, die ihr selbst zur Verfügung standen und die sie irgendwie als gültig akzeptierte.« (Arendt an Jaspers, 7.9. 1952. In: Arendt, Jaspers: Briefwechsel (Anm. 4), 236.) Im Gegensatz zum Vorwort werden die »Kategorien« hier jedoch bereits inhaltlich gefüllt: »Mit anderen Worten, ich versuchte, das Parvenu dauernd mit den Maßstäben des Paria zu messen und zu korrigieren, weil ich der Meinung war, daß sie so im Grunde selbst verfuhr, wenn auch vielleicht oft, ohne es zu wissen.« (Ebd.)

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Tiefenpsychologie, Psychoanalyse, Graphologie usw.«,71 im anderen auf eine Analyse der »Diskrepanz zwischen dem, was Männer von Frauen ›überhaupt‹ erwarteten und dem, was sie geben konnte oder ihrerseits erwartete« (ebd.). Insofern sich beide Herangehensweisen einer Außenperspektive verdanken, sind sie ein Teil der »modernen Indiskretion, die versucht, dem anderen auf die Schliche zu kommen«, die »mehr zu wissen wünscht oder zu durchschauen meint, als er selbst von sich gewußt hat oder preiszugeben gewillt war« (ebd.). Verwirrend sind diese Erklärungen deshalb, weil »Rahel« selbst für Arendt als »eine typisch ›romantische‹ Existenz« (RV 12) zur Entwicklung eines Diskurses der Innerlichkeit beigetragen hat, der in letzter Konsequenz zu der von ihr scharf kritisierten Vermischung der Sphären des Privaten und Politischen, zur Dominanz des Sozialen führt.72 Die »Schamlosigkeit« (RV 31), mit der z.B. Friedrich Schlegel in der Lucinde das Private dem Publikum vor Augen führe, sei das Kennzeichen dieser Generation, »deren gesellschaftliche Tradition gelockert war«.73 »Alles Intime bekommt so den Charakter der Öffentlichkeit, alles Öffentliche wird intim. (Wir nennen heute noch die damals berühmt gewordenen Frauen, die Rahel, die Bettina, die Caroline halb öffentlich und halb privat bei ihren Vornamen.)«.74 Dennoch fokussiert Arendt mit dem »Rahel’schen« Selbstverhältnis eine Dimension des Innerlichen und hält auch an der »intimen« Gepflogenheit der Vornamen fest – sie spricht durchgehend von »Rahel«. Auf alle darüber hinausgehenden Indiskretionen verzichtet sie jedoch ausdrücklich, das von »Rahel« in Briefen Geäußerte wird zum Kriterium dafür, ob et71 1932 veröffentlichte Arendt eine kurze Skizze der Berliner Salonkultur im Deutschen Almanach (Hannah Arendt: Berliner Salon. In: Deutscher Almanach für das Jahr 1932. Leipzig 1932, 173-184), die den Salon Rahel Varnhagens in den Mittelpunkt stellt. In der gleichen Nummer erschien Heinz Flanders beißende Kritik einer psychologischen Goethe-Biographie, die sich mit Arendts negativer Einschätzung deckt. Flander schreibt zur Einleitung seiner Kritik: »Das folgende Kapriccio wendet sich nicht grundsätzlich gegen die Psychoanalyse, sondern lediglich gegen ihre Übergriffe, wie sie sich etwa das Buch von Felix A. Theilhaber, ›Goethe. Sexus und Eros‹ (Berlin 1929, Horenverlag) leistet. (Das Titelblatt kündet marktschreierisch an: ›Das Rätsel seiner – nämlich der Goethischen – Persönlichkeit gelöst‹.)« (Heinz Flander: Goethe und die Psychoanalyse. Auch eine Buchkritik. In: Ebd., 135-139, hier 135.) 72 Vgl. dazu Boll: Kritik des naturalistischen Humanismus (Anm. 3); zum Effekt der Psychologisierung und Individualisierung der »Judenfrage« besonders das dritte Kapitel: »Die Entpolitisierung der Judenfrage« (73-105); im Hinblick auf die »Frauenfrage« vgl. Seyla Benhabib: Der empörende Unterschied. In: Du. Die Zeitschrift der Kultur 710 (Oktober 2000), 40-41; ausführlicher dies.: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne. Hamburg 1998. Benhabib unternimmt den Versuch, die rigide Trennung von öffentlichem Raum und privatem Bereich ausgehend von eher marginalen Themen und Kategorien Arendt’scher politischer Theorie (wie z.B. den Salon oder die Frage der Geschlechterdifferenz) mit Arendt gegen Arendt zu wenden. 73 Arendt: Berliner Salon (Anm. 71), 177. Vgl. RV 30ff. 74 Arendt: Berliner Salon (Anm. 71), 178.

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was ausgesprochen werden darf oder nicht. »Meine Darstellung […] konnte auf all dies keine Rücksicht nehmen, da es sich gerade darum handelte, nicht mehr wissen zu wollen, als was Rahel selbst gewußt hat, und ihr kein andres Schicksal aus vermeintlich überlegenen Beobachtungen anzudichten, als sie bewußt gehabt und erlebt hat.« (RV 12) Ein zweiter Strang, der die Perspektive der Lebensgeschichte motiviert, entwickelt sich aus einem gegen Karl August Varnhagen von Ense geäußerten Verdacht bzw. aus einem gegen ihn vorgebrachten Anklagepunkt: »Die große Eigenmächtigkeit Varnhagens in der Veröffentlichung oder Vorbereitung des Rahelschen Nachlasses, die in manchen, nicht häufigen Fällen auch vor Interpolationen und Vernichtung oder Verstümmelung von Briefen nicht zurückscheute, durchgängig korrigierte, wesentliche Abschnitte ausließ und Personennamen so verschlüsselte, daß der Leser absichtlich irre geführt wurde, ist bekannt genug. Das hat nicht hindern können, daß sich Varnhagens Auffassung der Rahel, seine Platt- und Schönmalerei wie seine absichtlichen Verfälschungen ihres Lebens nahezu unumstritten durchgesetzt haben.« (RV 8f.) Arendts Vorhaben, in »Rahels« Namen zu sprechen, speist sich aus der Kritik an den »Interpolationen«, »Verstümmelungen«, der »Platt- und Schönmalerei« des ihre Texte posthum herausgebenden Ehemannes.75 Arendts Projekt ist wesentlich das einer Rück-Gewinnung des Namens – des jüdischen Namens gegen den Namen des deutschen Adligen. »Rahel« selbst sprechen zu lassen und als Autorin nicht aufzutreten, dient der (Re-)Konstitution einer Person, die so noch nicht in der Öffentlichkeit aufgetaucht war. Mit »Rahel« kann so eine ganze Kette jüdischer Namen auftreten, 75 Ursula Isselstein hat, Arendt kritisierend, darauf hingewiesen, daß sich die Position in dieser Schärfe nicht halten lasse. Rahel Levin Varnhagen sei an der ersten Ausgabe des Buch des Andenkens beteiligt gewesen, Karl August Varnhagen habe zwar an einigen Stellen glättend gewirkt, das beträfe aber eher Rahel Varnhagens eigenes, problematisches Verhältnis zum Judentum, ihre provokanten Ansichten über das Geschlechterverhältnis und vor allem ihre eigene Rolle bei der Herausgabe der Texte, die weitgehend verschleiert worden sei. Ihr Mann sei »ein für seine Zeit sogar ungewöhnlich gewissenhafter Archivar und Editor« gewesen, dessen vertrauenswürdige Arbeit es Rahel Varnhagen erlaubt habe, die für sie so wichtige Fiktion, nicht Autorin zu sein, nicht für den Druck zu schreiben, aufrechtzuerhalten (Ursula Isselstein: Der Text aus meinem beleidigten Herzen. Studien zu Rahel Levin Varnhagen. Torino 1993, 188; vgl. auch 160ff. u. 187ff.). In einem Brief an Karl Jaspers stellt Arendt selbst eine Beteiligung Rahel Varnhagens an der ›Schönfärberei‹ als Möglichkeit in Aussicht, nicht ohne zugleich festzustellen, daß diese Möglichkeit niemals realisiert worden wäre: »Nun ist das Schlimme bei dieser Fälschung dies: Sie ist im Grunde so erfolgt, wie Rahel selbst gerne gefälscht hätte. Und natürlich doch nie gefälscht hätte« (Hannah Arendt an Karl Jaspers, 23. 8. 1952. In: Arendt, Jaspers: Briefwechsel (Anm. 4), 234). Christophersen hat darauf hingewiesen, daß sich Arendt zudem bei der Korrektur der »Fälschung« nicht nur auf Karl August Varnhagens Abschriften, sondern auch auf dessen eigene Korrekturen und Ergänzungen gestützt hat (Christophersen: »… es ist mit dem Leben etwas gemeint« (Anm. 19), 118-145).

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die der Ehemann unterschlagen hat. Was die »Verfälschungen« betreffe, so Arendt, sei für »uns«, d.h. die Öffentlichkeit von 1933, 1938, 1956 und 1958, »vor allem von Belang, daß die Auslassungen und irreführenden Verschlüsselungen von Namen in nahezu allen Fällen dazu dienen sollten, Rahels Umgang und Freundeskreis weniger jüdisch und mehr aristokratisch zu machen und Rahel selber in einem konventionelleren und dem Geschmack der Zeit genehmeren Licht erscheinen zu lassen. Für das erstere ist charakteristisch, daß Henriette Herz immer als ›Frau von B.‹ oder ›Frau von Bl.‹ erscheint, auch an den Stellen, wo Rahel sich nicht weiter ungünstig über sie äußert; daß Rebecca Friedländer, die sich als Schriftstellerin Regina Frohberg nannte, stets mit der Chiffre Frau von Fr. bezeichnet ist; für das letztere, daß die wenigen Briefe und Briefauszüge an Pauline Wiesel als Tagebuchnotizen frisiert oder an eine Frau von V. gerichtet erscheinen, so daß die Rolle, die diese Freundschaft in Rahels Leben spielte, aus den Dokumenten herausredigiert ist.« (RV 9) Sich als Ghostwriter zu positionieren, hat nicht zuletzt zum Ziel, die jüdischen Namen in »Rahels« Umfeld zum Vorschein zu bringen, sie wieder einzusetzen.

2. Dämon hinter dem Rücken: Die Autobiographie der Anderen »›Und ich wandte mich an mich selbst und sprach zu mir: Du, wer bist Du? (tu, quis es?)‹«76 Augustinus’ Frage beschreibt präzise die Operation jeder Autobiographie, die in einer fortan unhintergehbaren Aufspaltung resultiert: ›ich‹ an sich selbst gewandt wird zum ›du‹ – an die Stelle des unbefragten ›ich‹ tritt die Doppelheit von Fragendem und Gefragtem, von demjenigen, der die Frage an ein ›du‹ adressiert und demjenigen, an den die Frage adressiert wird. Augustinus’ Antwort bleibt inhaltlich unbestimmt, sie ordnet das Du einem Gattungswesen zu: »›Und ich antwortete: Ein Mensch‹.« (VA 318) Eine Antwort, die eine zweite Frage gleich nach sich zieht: Wer ist der Mensch? In Vita Activa versucht sich Arendt nicht so sehr an einer Antwort, sondern sie untersucht die Rahmenbedingungen, unter denen sich diese »sog. anthropologische Frage« (ebd.) immer wieder neu stellt und gestellt hat. Sie selbst versteht ihren Text als »eine Art Besinnung auf die Bedingungen, unter denen, soviel wir wissen, Menschen bisher gelebt haben« (VA 12). Dabei steht ein Bereich

76 Augustinus: Confessiones, X, 6. Zitiert nach: Hannah Arendt: Vita Activa oder Vom tätigen Leben. München 1967, 318 (es handelt sich dabei vermutlich um Arendts eigene Übersetzung). Im folgenden wird aus Vita Activa im Text als (VA Seitenzahl) nach der Neuausgabe von 1981 zitiert.

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des menschlichen Lebens im Mittelpunkt ihres Interesse: Es geht um die Lebensweise als bios politikos und dessen lateinische Übersetzung als vita activa. Indem Arendt die mittelalterliche Übersetzung als Titel wählt, deutet sich bereits an, daß es sich bei ihrer Untersuchung um eine historisch kontrastierende Darstellung politischen Denkens, um die Beobachtung einer Transformation handelt. Obwohl im Wort ›Politik‹, so Arendt, die antike Tradition noch mitklingt, setzt im Mittelalter ein Prozeß ein, der den Bereich des Politischen entscheidend neu denkt. Neu ist für Arendt die Verwischung der Grenze von Öffentlichkeit und Privatheit sowie das damit verbundene Auftauchen des Sozialen im davon eigentlich geschiedenen Bereich des Politischen; so ist »das Mißverständnis, das das Politische dem Sozialen gleichstellt, so alt […] wie die Übersetzung griechischer Begriffe ins Lateinische« (VA 31). Mit der Übersetzung des bios politikos in vita activa vollzieht sich eine Umwertung und Umwandlung des politischen Raumes, die Arendt bis in die Neuzeit und Moderne, bis hin zur Entstehung des Phänomens der modernen Gesellschaft verfolgt. Ihre Rückwendung zur Antike dient nicht allein der Rekonstruktion der Ursprünge politischen Denkens, sie geschieht »nicht aus Gelehrsamkeit und nicht einmal um der Kontinuität unserer Tradition willen«.77 Vielmehr soll sie helfen »einer Erfahrung habhaft zu werden«,78 die einen distanzierten Blick auf die Gegenwart und die Tradition politischen Denkens erlaubt. Die von Arendt untersuchten, historisch jeweils unterschiedlich ausfallenden Bestimmungen des Politischen stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der eingangs zitierten Frage des Augustinus. Arendt zeigt, daß erst in der Neuzeit die Vernunft zum Kriterium einer von allen geteilten Menschlichkeit wird. Den »gesunde[n] Menschenverstand«, der jeden zwei mal zwei als vier ausrechnen läßt,79 und damit eine »in jedem Einzelexemplar sich wiederholende Selbigkeit bestimmter Eigenschaften« (VA 301) annimmt,80 kontrastiert Arendt mit der unbestimmten Plu77 Hannah Arendt: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. München 1994, 217. 78 Ebd. 79 »Die gemeine Tatsache, daß wir alle auf Grund unserer Verstandesstruktur gezwungen sind, zu sagen, daß zwei mal zwei gleich vier ist, wird von nun an das Schulbeispiel für das ›Denken‹ des gesunden Menschenverstandes.« (VA 276) 80 »Es ist das Werk dieser höheren Vernunft, daß die Chinesen in der Geometrie fast auf dieselben Lehrsätze gekommen sind, wie die Europäer, da sie doch so weit von einander entfernt, einander unbekannt geblieben sind. Ihr Werk ist es, daß in Japan, wie in Frankreich, zweymal zwey vier macht, und man keine Ursache hat zu fürchten, daß die Völker hierein je ihre Überzeugung ändern werden« – schreibt Fénelon 1731 in seinen Oeuvres philosophiques, ou demonstration de l’existence de Dieu (Amsterdam 1731. Zitiert nach: Johann Michael Sailer: Die Weisheit auf der Gasse oder Sinn und Geist deutscher Sprichwörter. Frankfurt/M. 1996, 24). Weitere Belege für Arendts The-

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ralität der Menschen, wie sie sie in der Philosophie der Antike und bei Augustinus findet. Eine auf »Selbigkeit« hinauslaufende Bestimmung des Menschen unterschlägt, so Arendt, seine »differentia specifica«, die »ja gerade darin liegt, daß der Mensch ein Jemand ist, und daß wir dies Jemand-Sein nicht definieren können« (VA 172). Arendt untersucht, wie eine mögliche Antwort auf die Augustinische Frage aussehen, in welcher Form sie gegeben werden könnte. Im Zentrum dieser »sog. anthropologischen« Fundierung ihrer politiktheoretischen Darlegungen – die, wie im folgenden zu zeigen sein wird, strenggenommen alles andere sind als fundierend – trifft man daher auf Überlegungen, die die Fragen autobiographischer Darstellung zentral betreffen. Auch wenn Arendt selbst nicht explizit über Autobiographie schreibt, thematisieren ihre Überlegungen zur Darstellbarkeit von Einzigartigkeit implizit die Grenzen eines Konzeptes von Autobiographie, das sich von der Möglichkeit der Selbsterkennung und -gegenwärtigkeit herleitet. Hinsichtlich des Menschen unterscheidet Arendt zwischen zwei Verwendungen des Wortes »Leben«. Auf die Natur bezogen, vollzieht sich das Leben in einem immer wiederkehrenden Kreislauf biologischer Prozesse. Allein im Bezug auf die Welt erhält menschliches Leben aufgrund der Tatsache der »Gebürtlichkeit« (VA 167) und »Sterblichkeit«, der Natalität und Mortalität, einen Anfang und ein Ende. Implizit greift Arendt damit zurück auf die griechische Unterscheidung von zoe und bios, d.h. auf die Tatsache, daß die griechische Antike zwei Wörter für das Wort Leben kannte, die unterschiedlich gebraucht wurden. Zoe »meinte die einfache Tatsache des Lebens, die allen Lebewesen gemein ist (Tieren, Menschen und Göttern)« und bios »bezeichnete die Form oder Art und Weise des Lebens, die einem einzelnen oder einer Gruppe eigen ist«.81 Der Ausschluß des zoe oder des »nackten Lebens«, wie Giorgio Agamben übersetzt, ist die Grundlage der Politik – die polis ist der Bereich, aus dem die Belange des reinen Lebens ausgeschlossen sind, sie bezieht ihre Kraft daraus, daß sie die für das kreatürliche Leben notwendigen Vollzüge von sich abgetrennt hat. In Vita Activa setzt Arendt diese Konzeption des Politischen gegen den modernen Einschluß des kreatürlichen Lebens, se finden sich bei Gerald Hühner: »Zwei mal Zwei ist Vier?« Mutmaßungen über Selbstverständliches. Stuttgart 1994: »Eine Kulturgeschichte von ›2 x 2 = 4‹? Als eine Geschichte der Entfaltung abendländischer Formen des Wissens? Die Leserin und der Leser werden vielleicht Augen machen.« (Ebd. 1.) 81 Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Übers. v. Hubert Thüring. Frankfurt/M. 2002, 11. P. Hardot trennt weniger scharf, hält jedoch für bios fest: »Immer wird dieses Wort benutzt, um die Biographie zu bezeichnen, die ›Vita‹ des Philosophen.« (P. Hardot: Leben. In: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 5. Darmstadt 1980, 52-56, hier 52.)

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gegen »das Eintreten der zoe in die Sphäre der polis«, das auch für Agamben das »entscheidende Ereignis der Moderne« darstellt.82 Arendts Trennung von Leben als natürlichem Kreislauf und Leben als Prozeß mit Anfang und Ende nimmt ihren Ausgang von der griechischen Wortunterscheidung, die mit der Übersetzung ins Lateinische »vita« verschwindet, ist jedoch darüber hinaus angeregt von Augustinus. Im Rückgang auf ihn leitet Arendt aus der Natalität die menschliche Möglichkeit des Anfangens ab, die den Kreislauf der Natur zu unterbrechen in der Lage ist: »Weil jeder Mensch auf Grund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen. (Initium) ergo ut esset, creatus est homo, ante quem nullus fuit – ›damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen, vor dem es niemand gab‹ – in den Worten Augustins« (VA 166).83 Durch die Geburt wird »niemand« zu »jemand«.84 Die Mortalität wiederum begrenzt das Leben des einzelnen Menschen im Unterschied zur »Todlosigkeit der Gattung« (VA 112). Anfangen und Sterben werden in der Welt erst möglich, erst in der Welt unterscheidet sich menschliches Leben vom ewigen 82 Agamben: Homo Sacer (Anm. 81), 14. An Arendt anknüpfend kehrt Agamben in seiner Untersuchung die Fragerichtung um: Es sei »notwendig, sich zu fragen, warum die abendländische Politik sich vor allem über eine Ausschließung (die im selben Zug eine Einbeziehung ist) des nackten Lebens begründet. Welcher Art ist die Beziehung von Politik und Leben, wenn sich das Leben als das darbietet, was durch eine Ausschließung eingeschlossen werden muß« (ebd. 17). 83 Zitat im Zitat: Augustinus: De Civitate Dei XII, 20. 84 Diese Lesart von Augustinus und die daraus gezogenen Folgerungen verstoßen sehr bewußt gegen die Regeln der »Schulphilosophie« – so Hans Saner: »Hannah Arendt greift einen Satz auf, der einen Mythos interpretiert. Sie macht aus ihm eine Metaphysik des Anfangs und des Anfangens. Diese verknüpft sie mit einem ontischen Geschehen, dem Geborenwerden, und aus ihm erschließt sie eine ontologische Struktur, die Natalität, auf die sie eine Metapher, die zweite Geburt als politisches Handeln, pfropft. All dies wird zur scheinbar homogenen Grundlage einer neuen politischen Theorie.« (Hans Saner: Die politische Bedeutung der Natalität bei Hannah Arendt. In: Daniel Ganzfried, Sebastian Hefti (Hg.): Hannah Arendt – Nach dem Totalitarismus. Hamburg 1997, 103-119, hier 109.) Anstatt nun aber – wie Ralf Dahrendorf – diese Art der auch von Saner als »halsbrecherisch« (ebd.) charakterisierten Auslegung mit dem »Desaster der koreanischen Passagiermaschine« zu identifizieren, »die am Anfang nur um einen Grad vom Kurs abgewichen war, am Ende aber im sowjetischen Luftraum über streng verbotenem Gelände abgeschossen wurde« (Ralf Dahrendorf: Europäisches Tagebuch. Hg. v. Kurt Scheel. Göttingen 1995, 148.), versteht Saner Arendts Vorgehen mit ihr als konzeptionelle Reaktion auf ein Problem, das sich der Logik entzieht und daher notwendig eine andere Form der Argumentation annehmen muß: »Ihre letzte Gründung, nicht etwa Be-Gründung des Politischen, hat selber einen Charakter des ›péithein‹, des politischen Redens, des Überzeugens und Überredens also, das weiß, daß es nicht zwingen kann, und es übrigens auch gar nicht möchte. Aber sie will, so scheint mir, das Erlebnis der Evidenz vermitteln, die in ihr aufgeleuchtet ist, als sie den Satz des Augustinus las.« (Saner: Die politische Bedeutung (Anm. 84), 109.)

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Kreislauf der Natur und kann so zu einer Geschichte werden: »Das Hauptmerkmal des menschlichen Lebens, dessen Erscheinen und Verschwinden weltliche Ereignisse sind, besteht darin, daß es selbst aus Ereignissen sich gleichsam zusammensetzt, die am Ende als eine Geschichte erzählt werden können, die Lebensgeschichte, die jedem menschlichen Leben zukommt, und die, wenn sie aufgezeichnet, also in eine Biographie verdinglicht wird, als ein Weltding weiter bestehen kann.« (VA 89f.) Menschliches Leben zeichnet sich also im Unterschied zum tierischen Leben für Arendt dadurch aus, daß es sich von seinem Ende her, vom Tod her in einer linearen Geschichte erzählen läßt. Diese Geschichte ist für die Definition des Lebens unerläßlich. Unabhängig vom Zufall oder von einzelnen Ereignissen weisen die menschlichen Fähigkeiten des Handelns und Sprechens am Ende immer »genug Kohärenz auf […], um erzählt werden zu können« (VA 90). Überträgt man Arendts Unterscheidung von bios und zoe auf die Gattungsdiskussion der Autobiographie, so ist das ›Leben‹, von dem in der (Auto-)Biographie die Rede ist, nicht genau genug oder erschöpfend bestimmt, wenn man es als Gegenteil des Todes faßt. Der narrative Charakter biographischer Literatur ließe sich aus Arendts Bestimmung des bios ableiten: Das bios der Autobiographie und Biographie ist diese Geschichte, die erzählt werden kann. Die Lebensgeschichte eines Menschen in einer »Bio-graphie« zu erzählen, ist in dieser Konzeption immer an das Erzählen vom Ende her gebunden. Diese Erzählbarkeit ist nicht identisch mit der tatsächlichen Erzählung, die selber wieder – zumindest in schriftlicher Form – ein Ding in der Welt wäre und sie mitkonstituierte. Sowohl die Geburt des Jemand wie auch sein Tod als Individuum, so Arendt, sind auf die Welt bezogen und nur in diesem Bezug denkbar; nur in die Welt wird man geboren und nur aus ihr wird man sterben: »Geburt und Tod setzen die Welt voraus, nämlich etwas, das nicht in stetiger Bewegung ist, etwas dessen Dauerhaftigkeit und relative Beständigkeit Ankunft und Aufbruch ermöglichen, das also jeweils schon da war und nach jedem jeweiligen Verschwinden fortbestehen wird« (VA 89). Welt wird hier verstanden als Welt des objektiv Gegenständlichen und der hergestellten Dinge, die einen gewissen Anspruch auf Dauerhaftigkeit haben. Als mehrere Generationen überdauernde (VA 54) bietet die Welt dem Menschen eine »Behausung« (VA 154), eine »Heimat auf der Erde« (VA 156), aufgrund ihrer »Beständigkeit«, die »der Stabilität von Strukturen geschuldet ist« (VA 65), ermöglicht sie dem Menschen, in sie geboren zu werden und aus ihr zu sterben. Sie ist der Raum, in dem sich Menschen durch »schützende Mauern« von der Natur abgeschirmt (VA 115) bewegen können. Sie ist unnatürlich, insofern sie gegen die Natur allererst gewonnen und gebildet werden muß. Der grundsätzliche Unter-

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schied von Welt und Natur, so Arendt, ist der zwischen einer relativen Dauerhaftigkeit und Beständigkeit der Welt auf der einen – den »zyklischen Naturprozessen« und dem »biologischen Kreislauf« (ebd.), dem der Mensch auch unterworfen ist, auf der anderen Seite.85 Arendt differenziert zwischen »drei menschliche[n] Grundtätigkeiten« (VA 14), mit denen die Kapitel vier bis sechs in Vita Activa überschrieben sind: Arbeit, Herstellen und Handeln. Die Arbeit gehört in den Bereich des natürlichen Kreislaufs des Lebens, des Stoffwechsels, den sie mit dem »Lebensnotwendigen« versorgt. Sie kennt daher weder Anfang noch Ende, nur den zwischenzeitlichen Zustand der »Erschöpfung« (VA 130), ihre »Grundbedingung […] ist das Leben selbst« (VA 14). Das Herstellen, »das Widernatürliche«, ist die Tätigkeit, die die gegenständliche Welt als »eine künstliche Welt von Dingen« schafft, die »der Natur bis zu einem gewissen Grade widerstehen« (ebd.). Als Homo faber produziert der Mensch die Welt als Heimat, als »Gegenständlichkeit und Objektivität« (ebd.), auf die angewiesen zu sein die Grundbedingung des Herstellens ist. Herstellen ist »wesentlich von der Zweck-Mittel-Kategorie bestimmt« (VA 130), insofern es auf ein Endprodukt zielt, zu dessen Zweck die Tätigkeit aufgenommen wurde. Der Prozeß des Herstellens also ist durch einen Anfangs- und Endpunkt gekennzeichnet. Der öffentliche Raum des Homo faber ist, so Arendt, der »Tauschmarkt«, »der ihm ermöglicht, das Werk seiner Hände zur Schau zu stellen und die ihm gebührende Achtung und Hochschätzung zu empfangen« (VA 147). Das Handeln, als dritte menschliche Grundtätigkeit, unterscheidet sich von beiden anderen insofern, als sich nur das Handeln »ohne die Vermittlung von Materie, Material und Dingen direkt zwischen Menschen abspielt« (VA 14). Als zum Handeln Befähigter unterscheidet sich der Mensch sowohl vom Tier als auch von Gott, Handeln ist die eigentlich politische Tätigkeit des Menschen. Als solche vollzieht sie sich, so Arendt, vornehmlich »durch Sprechen« (VA 29). Handeln und Sprechen werden von Arendt in einen engen Zusammenhang gestellt, und wo sie Sprache in den Blick nimmt, geschieht dies meist in deren handelnder Dimension. So konstatiert Arendt, daß »das Finden des rechten Wortes im rechten Augenblick, ganz unabhängig von seinem Informations- oder Kommunikationsgehalt an andere Menschen, bereits Handeln ist« (ebd.). Die Grundbedingung des Handelns ist die Pluralität, die Vielheit der 85 Diese Unterscheidung findet sich wieder in Arendts Überlegungen zur Kultur und zum Kultur-Begriff. Im Gegensatz zum »unersättlichen«, »verzehrenden« Vergnügen als Lebensphänomen ist Kultur als Kunst für Arendt ein Weltphänomen; geeignet, das Beständige der Welt und ihre Ablösung vom Lebensprozeß vor Augen zu führen, insofern Kunstwerke »keinerlei Funktion in dem Lebensprozeß der Menschengesellschaft haben« und daher »nur für die Welt hergestellt werden« (Hannah Arendt: Kultur und Politik. In: Merkur 12 (1958), 1122-1145, hier 1133).

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Menschen auf der Erde, die damit gleichzeitig die Bedingung der Politik ist. Politik, die polis als öffentlicher Raum entsteht nur aufgrund der Pluralität der Menschen, »sie ist nicht nur die conditio sine qua non, sondern die conditio per quam« (VA 15). Während der Haushalt, der oikos, als Raum der arbeitenden Sklaven und Frauen der Aufrechterhaltung des Lebens dient, so Arendt, ist die polis dadurch definiert, daß sie die Notwendigkeit der Lebenserhaltung und alle damit zusammenhängenden Belange aus sich ausschließt – sie konstituiert sich über diesen Ausschluß. Die Verwischung dieser Grenzziehung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, zwischen polis und oikos in den modernen Phänomenen des Sozialen oder der Gesellschaft ist es, der Arendt ihre Lesart antiker Traditionen entgegenstellt.86 Bei aller Genauigkeit in der Zuschreibung menschlicher Grundtätigkeiten bestreitet Arendt jede Definition des Menschen an sich: »Jede wie immer geartete ›Idee vom Menschen überhaupt‹ begreift die menschliche Pluralität als Resultat einer unendlichen Reproduktion eines Urmodells und bestreitet damit von vornherein und implicite die Möglichkeit des Handelns.« (VA 15) Arendt faßt mit dem Begriff der Pluralität »Gleichheit« und »Verschiedenheit« der Menschen, die sprachliche Verständigung und Mitteilung zugleich ermöglichen und erfordern.87 Pluralität ist in der Möglichkeit, einen Anfang zu setzen, begründet. Sie ist nicht inhaltlich gefüllt, sondern unterstellt allgemein die Einzigartigkeit jedes Menschen: »[M]enschliche Pluralität ist eine Vielheit, die die paradoxe Eigenschaft hat, daß jedes ihrer Glieder in seiner Art einzigartig ist« (VA 165). Einzigartigkeit konstituiert sich nicht über besondere Eigenschaften einer Person, sondern über dessen Möglichkeit, neu anzufangen, wobei jeder Anfang »im Widerspruch zu statistisch erfaßbaren Wahrscheinlichkeiten« steht, immer »das unendlich Unwahrscheinliche« markiert (VA 86 Damit besteht natürlich ein genuines Spannungsverhältnis zwischen Arendts Politik-Auffassung und den sozialen Bewegungen der 1960er, -70er Jahre wie z.B. der Frauenbewegung. Ihr Schlagwort ›das Persönliche ist politisch‹ bezeichnet präzise den Gegenpol zu Arendts Position. Vgl. dazu das Kapitel Die Kunst, Unterschiede zu machen und aufzuheben: Mit Arendt gegen Arendt in Benhabib: Hannah Arendt (Anm. 72), 199-271; zur Frauenbewegung und der US-amerikanischen feministischen Diskussion vgl. Mary G. Dietz: Hannah Arendt and Feminist Politics. In: Mary Lyndon Shanley, Carole Pateman (Hg.): Feminist Interpretations and Political Theory. Cambridge 1991, 232-252. 87 Gleichheit und Verschiedenheit werden zur Grundlage von Arendts Sprachauffassung: »Ohne Gleichartigkeit gäbe es keine Verständigung unter Lebenden, kein Verstehen der Toten und kein Planen für eine Welt, die nicht mehr von uns, aber doch immer noch von unseresgleichen bevölkert sein wird. Ohne Verschiedenheit, das absolute Unterschiedensein jeder Person von jeder anderen, die ist, war oder sein wird, bedürfte es weder der Sprache noch des Handelns für eine Verständigung; eine Zeichen- und Lautsprache wäre hinreichend, um einander im Notfall die allen gleichen, immer identisch bleibenden Bedürfnisse und Notdürfte anzuzeigen.« (VA 164)

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167). Obwohl der Anfang, »das schlechthin Unvorhersehbare«, sich »aller Absehbarkeit und Berechenbarkeit entzieht« (ebd.), untersteht er doch der allgemeinen Regel, daß »das Unwahrscheinliche selbst noch eine gewisse Wahrscheinlichkeit hat« (ebd.). Durch das Handeln entsteht in der gegenständlichen Welt eine zweite Welt, ein öffentlicher Raum, den die in der Pluralität Handelnden teilen. Es entsteht die Welt als »Zwischenraum«, in dem die Menschen nach ihren Interessen handeln. »Diese Interessen sind im ursprünglichen Wortsinne das, was ›inter-est‹, was dazwischen liegt und die Bezüge herstellt, die Menschen miteinander verbinden und zugleich voneinander scheiden.« (VA 173) Im Handeln entsteht eine geteilte Welt, ein »Miteinandersein« (ebd.) in der Pluralität. Das Besondere an den Handlungen der Menschen ist nach Arendt, daß sie im Verfolgen ihrer Ziele zugleich ihre »Verschiedenheit aktiv zum Ausdruck bringen […] und damit schließlich der Welt nicht nur etwas mitzuteilen [haben] – Hunger und Durst, Zuneigung oder Abneigung oder Furcht –, sondern in all dem auch immer zugleich sich selbst« (VA 165). Das Wort »aktiv« ist an dieser Stelle irreführend, weil die Handelnden diesen »Ausdruck« nicht gestalten oder auch nur gestalten könnten. Das »In-Erscheinung-Treten eines grundsätzlich einzigartigen Wesens« ist aber dennoch aktiv zu nennen, weil sich der Mensch im Anfangen wie in einer »zweite[n] Geburt« in die Welt einschaltet und damit »Verantwortung« (ebd.) übernimmt. Daß sich dabei die Person »enthüllt«,88 ist jedoch nicht beeinflußbar. Einzigartigkeit zeigt sich im Handeln und Sprechen des Menschen, ohne daß dieses Zeigen jemals durch den Sich-Zeigenden berechenbar wäre, denn »das eigentlich personale Wer-jemand-jeweilig-ist [ist] unserer Kontrolle darum entzogen, weil es sich unwillkürlich in allem mitoffenbart, was wir sagen oder tun« (VA 169). Als genuin menschliche Tätigkeiten89 geben Han88 Die Enthüllung der Person im Handeln und Sprechen ist der Titel des Kapitels, in dem es um diese Zusammenhänge geht. Offenbarung, Enthüllung, Zum-Vorschein-Bringen, Erscheinen – so lauten die Beschreibungen für das Ereignis der Personalität. Arendt weist in einer Fußnote selbst auf den Zusammenhang mit Heideggers Lesart der aletheia, der Wahrheit als »Unverborgenheit«, hin und gibt – »wie Heidegger sagt« – »Entbergen« als Synonym für »Enthüllen« an (VA 353, Fn. 4). Sigrid Weigel (Jenseits der Systeme. Denkbewegungen Hannah Arendts. In: Ganzfried; Hefti (Hg.): Hannah Arendt (Anm. 84), 13-20) hat auf diesen Punkt aufmerksam gemacht – gegen eine Lesart, die, wie etwa die Seyla Benhabibs, den Bezug zwischen Arendts Theorie der Öffentlichkeit und Heideggers Philosophie unterbewerte (Seyla Benhabib: Der öffentliche Raum – bei Martin Heidegger und Hannah Arendt. In: Mittelweg 36.6, 1994, 74-80.). 89 »Handeln als Neuanfang entspricht der Geburt des Jemand, es realisiert in jedem Einzelnen die Tatsache des Geborenseins; Sprechen wiederum entspricht der in dieser Geburt vorgegebenen absoluten Verschiedenheit, es realisiert die spezifisch menschliche Pluralität, die darin besteht, daß Wesen von einzigartiger Verschiedenheit sich von Anfang bis Ende immer in einer Umgebung von ihresgleichen befinden.« (VA 167)

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deln und Sprechen Auskunft über die Einzigartigkeit bzw. bringen diese zum Vorschein. Dabei kommt der Sprache die entscheidendere Rolle zu: »Handeln und Sprechen sind so nahe miteinander verwandt, weil das Handeln der spezifisch menschlichen Lage, sich in einer Vielheit einzigartiger Wesen als unter seinesgleichen zu bewegen, nur entsprechen kann, wenn es eine Antwort auf die Frage bereit hält, die unwillkürlich jedem Neuankömmling vorgelegt wird, auf die Frage: Wer bist Du? Aufschluß darüber, wer jemand ist, geben implizite Worte wie Taten; aber so wie der Zusammenhang zwischen Handeln und Beginnen enger ist als der zwischen Sprechen und Beginnen, so sind Worte offenbar besser geeignet, Aufschluß über das Wer-einer-ist zu verschaffen, als Taten.« (VA 167) Arendt nimmt an dieser Stelle die Frage des Augustinus wieder auf, löst sie aber aus ihrem Kontext, insofern sie sie nicht als die an sich selbst gerichtete Frage in den Blick nimmt, sondern als Frage, »die unwillkürlich jedem Neuankömmling vorgelegt wird«. Zuallererst wird der Mensch, das Neugeborene zur Frage. Auf diese Frage sollen nun Handeln und Sprechen eine Antwort bereithalten, die jedoch nicht in einer prädikativen Aussage besteht. Daß die Tat ohne Worte nur als »unverständlich« verstanden, für Arendt als Sabotage der Verständigung gewertet werden kann,90 heißt nicht, daß die Sprache, wo sie zur Verständigung über die Tat beiträgt, deren Sinn angibt. »Erst durch das gesprochene Wort fügt sich die Tat in einen Bedeutungszusammenhang, wobei aber die Funktion des Sprechens nicht etwa die ist, zu erklären, was getan wurde, sondern das Wort vielmehr den Täter identifiziert und verkündet, daß er es ist, der handelt, nämlich jemand, der sich auf andere Taten und Entschlüsse berufen kann und sagen, was er weiterhin zu tun beabsichtigt.« (VA 168) Arendt geht es an dieser Stelle nicht um die Funktion der Sprache als »durchaus adäquates Mittel für Informationszwecke« (ebd.). Vielmehr als die Funktion oder Funktionalisierbarkeit steht hier dasjenige im Zentrum, was sich dem Funktionieren entzieht bzw. was über die Funktion hinausschießt wie über das Ziel. Es handelt sich darum, daß die Sprache gemessen an der Zweck-Mittel-Relation zu umständlich ist: »Der Umstand, der sie so umständlich macht, ist die Person, die in ihr mitspricht.« (ebd.) So kommt die Einzigartigkeit ins Spiel, indem die Sprache einen Täter identifiziert, ohne ihn zu benennen. Diese Art der Identifizierung vollzieht sich aktiv, aber nicht intentional gesteuert. »Eigenschaften, Gaben, Talente[], Defekte[]« können verborgen werden, das eigentlich personale »Wer-jemand-jeweilig-ist« jedoch nicht: »Nur vollkommenes Schweigen und vollständige Passivität können dieses Wer vielleicht zudecken, den Ohren und Augen der Mit90 Zur Semantisierung von und zum Umgang mit Unverständlichkeit vgl. Eckhard Schumacher: Die Ironie der Unverständlichkeit. Frankfurt/M. 2000.

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welt entziehen, aber keine Absicht der Welt kann über es frei verfügen, ist es erst einmal in Erscheinung getreten.« (VA 169) Von mir unkontrollierbar, sind es die anderen, ihre »Augen und Ohren«, die sehen und hören, wer ich bin. In Jacques Derridas Worten: »The ear of the other says me to me and constitutes the autos of my autobiography.«91 Es tritt in Erscheinung, kommt zum Vorschein im Blick und in den Ohren der anderen. Als Erscheinung führt es ein Eigenleben, manifestiert sich, wird zum daimon: Wer jemand ist, stellt sich seiner Mitwelt in einer »ungreifbar flüchtigen und doch unverwechselbar einzigartigen Manifestation« (VA 178) dar – »als sei es jener daimon der Griechen, der den Menschen zwar sein Leben lang begleitet, ihm aber immer nur von hinten über die Schulter blickt und daher nur denen sichtbar wird, denen der Betreffende begegnet, niemals ihm selbst« (ebd.). Arendts daimon greift weder auf die in der Antike einsetzende Tradition zurück, die ihn als Mittler zwischen Göttern und Menschen versteht,92 noch geht es um eine Konzeption des Dämonischen als Genie, wie sie mit der Rezeption von Johann Georg Hamanns Sokrates-Figur einsetzt.93 Auch das sokratische daimonion als Führer und Zeichengeber spielt in ihren Überlegungen keine entscheidende Rolle.94 Wichtig sind vor allem zwei Komponenten, die Arendt der Tradition entnimmt: »die ausdrückliche Beschränkung der Gültigkeit von Orakel und daimonion auf den Bereich des Handelns« (VA 353) einerseits, sowie andererseits die Vorstellung, daß der daimon »die Menschen jeweils durchs Leben geleitet und ihre eindeutige Identität für andere

91 Jacques Derrida, Diskussionsbeitrag in: Roundtable on Autobiography. In: Christie McDonald (Hg.): The Ear of the Other: Otobiography, Transference, Translation: Texts and Discussions with Jacques Derrida. Übers. v. Peggy Kamuf. Lincoln, London 1988, 41-89, hier 51. 92 »Was also sprach ich, wäre der Eros? […] Ein großer Dämon, o Sokrates, denn alles Dämonische ist mitten zwischen Gott und Sterbling. – Welche Kraft hat es? fragte ich. – Zu verkünden und zu überbringen Göttern, was von Menschen, und Menschen, was von Göttern kommt.« (Platon: Das Gastmahl. 202 D-E. Übers. v. Kurt Hildebrandt. Stuttgart 1979, 74.) Sokrates, der hier spricht, tritt selbst als Überbringer der Rede Diotimas auf. 93 Johann Georg Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten. In: Ders.: Sokratische Denkwürdigkeiten – Aesthetica in nuce. Stuttgart 1968, 3-73, hier 55 und 57. Hamann selbst gebraucht den Begriff »Genius« noch nicht im Sinne der späteren Genie-Ästhetik, aber dennoch bilden die Denkwürdigkeiten einen Bezugspunkt für die Gleichsetzung von Dämon und Genie im Sturm und Drang: »Zu dieser Zeit, in der die Lehre vom Genie ausgebildet wird, wird ›dämonisch‹ zu einem äquivalenten Ausdruck für genial.« (Chr. Axelos: Dämonisch, das Dämonische. In: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2. Darmstadt 1972, 2f.) 94 Xenophon: Erinnerungen an Sokrates. Griechisch-deutsch. Hg. v. Peter Jaerisch. München, Zürich 1987, I, 2-9. Eine kommentierte Stellensammlung findet sich bei Olof Gigon: Sokrates und das Daimonion. In: Ders.: Sokrates. Sein Bild in Dichtung und Geschichte. Bern 1947, 163-178.

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ausmacht, aber von ihnen selbst gerade nicht erblickt wird« (VA 185).95 Der daimon, den Arendt entwirft, ist also nicht nur nicht verfügbar, er entzieht sich auch dem Verständnis gerade desjenigen, dem er zukommt. »Das was im Selbstverständnis nicht aufgeht, erweckt Hannah Arendts Aufmerksamkeit«,96 kommmentiert Ingeborg Nordmann. Was im Selbstverständnis nicht aufgeht, wird für Arendt zum Angelpunkt der politischen Theorie. Im Kontext der Gattungsdiskussion über die Autobiographie wird es gleichermaßen lesbar als Absage an eine traditionell verstandene Autobiographie: der daimon, der dem Selbst nicht sichtbar ist, wird zum Auto- der Autobiographie – der daimon verstanden als unkontrollierbarer Effekt der Sprache, als Umstand, der sich jedesmal aufs Neue mitspricht. Das ›Auto-‹ der Autobiographie ist dem Betroffenen selbst wesentlich unverfügbar. Was das Sprechen aber im Vollzug zur Erscheinung bringt, kann gerade nicht durch die Sprache gefaßt werden – festzustellen ist ein »Versagen der Sprache vor dem lebendigen Wesen der Person« (VA 172). Das Versagen der Sprache ist das Versagen der Denotation, das Versagen der Benennung. »Es schließt nämlich prinzipiell die Möglichkeit aus, diese Angelegenheiten so zu handhaben wie Sachen, die uns wesentlich zur Verfügung stehen, und über die wir dadurch verfügen, daß wir sie benennen.« (ebd.) Wer jemand ist, wer ich bin, hat keinen Namen. Die »Eindeutigkeit des Dieser-und-niemand-anders-Seins« (VA 171) zeigt sich als ebenso unzuverlässig und vieldeutig wie das delphische Orakel – diesen Vergleich stellt Arendt explizit her. Genau diese Unzuverlässigkeit wird als Einzigartigkeit und Pluralität zur Bedingung der Möglichkeit von Politik. »Daß das Wer sich in solch vieldeutiger und unnennbarer Ungewißheit zeigt, bedingt die Ungewißheit nicht nur aller Politik, sondern aller Angelegenheiten, die sich direkt im Miteinander der Menschen vollziehen« (VA 172). In der objektiv-gegenständlichen Welt, in dem Zwischenraum, der sich durch nach ihren Interessen handelnde Personen bildet, entsteht, so Arendt, das »Bezugsgewebe menschlicher An95 In einer Fußnote zu dieser Stelle weist sie auf Sophokles’ König Ödipus hin: »Wir vermögen uns vielleicht von diesen Dingen noch am ehesten eine Vorstellung zu machen, wenn wir Sophokles’ König Oedipus lesen, vor allem die Zeilen 1186ff.: [Denn welcher, welcher Mann trägt / mehr des Glücks (eudaimonia) davon / als Schein / und nach dem Schein den Untergang;] wie es um uns selbst bestellt ist, wissen wir nur von dem, was uns erscheint, und die Perspektive, in der wir es sehen, bedeutet immer eine Verzerrung, eine Abweichung. Gegen diese Verzerrung behauptet der Chor sein besseres Wissen; er repräsentiert die Anderen, die Oedipus sehen, wie er sich selbst nicht sehen kann, seinen daimon. Die Blindheit für den eigenen daimon ist das Elend und die Verblendung der Sterblichen.« (VA 355, Fn. 18; deutsche Übersetzung von Sophokles zitiert nach: Sophokles: König Ödipus. Übers. v. Kurt Steinmann. Stuttgart 1989.) Ödipus allerdings hat sich in der dieser Szene unmittelbar vorangegangenen erkannt. 96 Nordmann: »Fremdsein ist gut.« (Anm. 68), 201.

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gelegenheiten«, in dem wir »auch noch Aufschluß darüber geben, wer wir, die Sprechenden, sind« (VA 173). Diese Dimension des Miteinander ist nicht zu vernachlässigen, denn ihr kommt eine eigene Wirklichkeit zu: »Dennoch bildet diese unwillkürlich-zusätzliche Enthüllung des Wer des Handelns und Sprechens einen so integrierenden Bestandteil allen, auch des ›objektivsten‹, Miteinanderseins, daß es ist, als sei der objektive Zwischenraum in allem Miteinander, mitsamt der ihm inhärenten Interessen gleichsam, von einem ganz und gar verschiedenen Zwischen durchwachsen und überwuchert, dem Bezugssystem nämlich, das aus den Taten und Worten selbst, aus dem lebendig Handeln und Sprechen entsteht, in dem Menschen sich direkt, über die Sachen, welche den jeweiligen Gegenstand bilden, hinweg aneinander richten und sich gegenseitig ansprechen.« (Ebd.) Für Arendt wird diese Dimension menschlichen Handelns und Sprechens zum Ausgangspunkt ihrer Kritik an jeder Form der Geschichtsphilosophie. So wirft sie z.B. Karl Marx vor, das Bezugsgewebe auf den Überbau zu reduzieren und damit der »Wirklichkeit, so wie sie ist, nicht Rechnung [zu] tragen« (VA 174).97 Die Kritik betrifft aber nicht nur Marx: »Der Grundirrtum aller Versuche, den Bereich des Politischen materialistisch zu verstehen […] liegt darin, daß der allem Sprechen und Handeln inhärente, die Person enthüllende Faktor einfach übersehen wird, nämlich die einfache Tatsache, daß Menschen, auch wenn sie nur ihre Interessen verfolgen und bestimmte weltliche Ziele im Auge haben, gar nicht anders können, als sich selbst in ihrer personalen Einmaligkeit zum Vorschein und mit ins Spiel zu bringen.« (VA 173f.) Nahezu die gesamte Tradition politischer Theorie setzt die Menschheit als »›Held‹« ein und begeht so den Fehler, ihr die »Eigenschaft der Personalität« (VA 175) zuzusprechen. Ihr Griff zur »Metapher eines hinter dem Rücken der Menschen handelnden Unbekannten […] – als göttliche Vorsehung, als Adam Smith’ ›unsichtbare Hand‹ im ökonomischen Handeln, als Natur, als Weltgeist und schließlich als das Marxsche Klasseninteresse« (VA 176) bevölkert, so Arendt, die Geschichtsphilosophie mit »Gespenstern« (VA 175).98 Die daimonischen Manifestationen, die das Bezugsgewebe 97

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Neben der Parallelisierung von Nationalsozialismus und Stalinismus in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft ist dies ein weiterer Grund für das nicht unproblematische Verhältnis zwischen Arendt und der Linken. Vgl. dazu: Ernst Vollrath: Hannah Arendt bei den Linken. In: Antonie Grunenberg, Lothar Probst (Hg.): Einschnitte. Hannah Arendts politisches Denken heute. Bremen 1995, 9-22. Einen Gesamtüberblick über die deutsche Arendt-Rezeption nach 1945 gibt: Wolfgang Heuer: Ein schwieriger Dialog. Die Hannah Arendt-Rezeption im deutschsprachigen Raum. In: Ganzfried, Hefti (Hg.): Hannah Arendt (Anm. 84), 21-30. Die Gespenstermetaphorik ist nicht zufällig und vielleicht nicht einmal auschließlich »metaphorisch«. In einer Lektüre, die Adam Smith’ invisible hand wörtlich nimmt, stellt Stefan Andriopoulos überraschende Parallelen zwischen der narrativen Struktur der gothic novel und dem übernatürlichen

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wirken, werden Arendt zum Argument gegen den Gespensterglauben der Tradition, der die Aporien des Handelns nicht aushalten kann. Hinter dem Rücken der Geschichte einen gespenstischen »Drahtzieher« (VA 177) anzunehmen, heißt für Arendt, der Pluralität der Menschen nicht Rechnung zu tragen. Das Gespenst kommt als daimon hinter dem Rükken, als Einzigartigkeit der Personalität nur dem einzelnen Menschen zu.99 Arendts Widerspruch gegen die Geschichtsphilosophie resultiert aus dem Bezugsgewebe, aus der Tatsache, daß der Einzelne handelnd und sprechend auf andere Handelnde und Sprechende trifft. »Da Menschen nicht von ungefähr in die Welt geworfen werden, sondern von Menschen in eine schon bestehende Menschenwelt geboren werden, geht das Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten allem einzelnen Handeln und Sprechen voraus, so daß sowohl die Enthüllung des Neuankömmlings durch das Sprechen wie der Neuanfang, den das Handeln setzt, wie Fäden sind, die in ein bereits vorgewebtes Muster geschlagen werden und das Gewebe so verändern, wie sie ihrerseits alle Lebensfäden, mit denen sie innerhalb des Gewebes in Berührung kommen, auf einmalige Weise affizieren.« (VA 174) Dadurch, daß jedes Handeln auf ein bereits bestehendes Gewebe trifft, wird Handeln unabhängig von der ›eigentlichen‹ Personalität unwägbar.100 Der Mensch kann anfangen zu handeln und zu sprechen, vollenden oder abschließen kann er seine Handlung nicht.101

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Eingreifen der invisible hand bei Adam Smith fest, das sich nur den Anschein des Natürlichen gibt. (Stefan Andriopoulos: The Invisible Hand. Supernatural Agency in Political Economy and the Gothic Novel. In: ELH 66 (1999), 739-758.) Zu Marx vgl. Jacques Derrida: Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Übers. v. Susanne Lüdemann. Frankfurt/M. 1995. Es sieht so aus, als verlagere Arendt an dieser Stelle die Geschichtsphilosophie auf die Person, hinter der nun ein gespenstischer Drahtzieher als sein Wesen angenommen werden kann. Als könne der Einzelne sein Leben notwendig und folgerichtig so entwickeln, wie die philosophische Tradition angenommen hat, daß sich die Geschichte nach einem ihr inhärenten Gesetz entwickle. Allerdings ist auch der daimon einem Verdacht auszusetzen: »Du bist immer derselbe,« beschwert sich Antisthenes bei Sokrates, »bald gebrauchst Du das Daimonion als Ausrede, wenn du nicht mit mir reden willst, und bald bist du mit irgendwelchen anderen Leuten beschäftigt.« (Xenophon: Symposium 8,5. Zitiert nach: Gigon: Sokrates (Anm. 94), 171.) »Derselbe« ist Sokrates nicht, weil sein Gesprächspartner hier hinter dessen Rücken auf sein Wesen, seine Einzigartigkeit sieht, »derselbe« ist Sokrates für Antisthenes, weil er einem Muster folgt, das das daimonion zur Ausrede heranzieht, wenn es die Situation erfordert. An einer anderen Stelle heißt es: »Weil dies Bezugsgewebe mit den zahllosen, einander widerstrebenden Absichten und Zwecken, die in ihm zur Geltung kommen, immer schon da war, bevor das Handeln überhaupt zum Zug kommt, kann der Handelnde so gut wie niemals die Ziele, die ihm ursprünglich vorschwebten, in Reinheit verwirklichen« (VA 174). Arendt erinnert daran, daß Latein und Griechisch für »handeln« zwei Wörter zur Verfügung haben: »archein (anfangen, anführen und schließlich be-

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»Daß dies nicht möglich ist, hat man immer gewußt. Gewußt, daß kein Mensch, wenn er handelt, wirklich weiß, was er tut« (VA 228). Dieses Nichtwissen hat für den Handelnden und den Erscheinungsraum gravierende Folgen, die Arendt mit der Formel »Aporien des Handelns« zusammenfaßt: der Handelnde ist immer schuldig; was er tut, wird »niemals unzweideutig sein eigen sein« (VA 229); der »Sinn« seiner Handlung erschließt sich »nur dem rückwärts gerichteten Blick dessen, der schließlich die Geschichte erzählt«, so daß der Handelnde schließlich »eher das Opfer und der Erleider seiner eigenen Tat zu sein scheint, als Schöpfer und Täter« (ebd.). Man kann nun nicht sagen, daß die von Arendt so verstandene Handlungsfähigkeit des Menschen dennoch zur Grundlage der Freiheit wird. Gerade weil das Bezugsgewebe jeder einzelnen Handlung vorausgeht und sie affiziert, wie es umgekehrt durch sie affiziert wird, gerade deshalb spricht Arendt von Freiheit. Freiheit und Handeln sind nicht mit Souveränität gleichzusetzen,102 sondern stehen ihr entgegen: »Kein Mensch ist souverän, weil Menschen, und nicht der Mensch, die Erde bewohnen« (VA 229). Hier läßt sich nicht mit Michel Foucault sagen: »Im politischen Denken und in der politischen Analyse

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fehlen und herrschen) und prattein (mit etwas zu Ende kommen, etwas ausrichten, es vollenden) entsprechen die beiden lateinischen Verben agere (in Bewegung setzen und anführen) und gerere (dessen Grundbedeutung tragen dann, wie das prattein, die Bedeutungen von ausführen, betreiben, vollziehen annimmt)« (VA 180f.). Arendt nutzt die Etymologie zur terminologischen Unterscheidung von anfangen und beenden. Arendts »Handlungsfähigkeit« ist daher nicht zu verwechseln mit der Position Seyla Benhabibs, die den von ihr so genannten postmodernen Theoretikerinnen Judith Butler und Jane Flax vorwirft, deren Subjekttheorie bringe die Frauenbewegung um die »Ich-Identität, Handlungsfähigkeit und Autonomie« (Seyla Benhabib: Feminismus und Postmoderne. Ein prekäres Bündnis. In: Dies., Judith Butler, Drucilla Cornell, Nancy Fraser: Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart. Frankfurt/M. 1993, 9-30, hier 15). Für Arendt ist Autonomie als Souveränität eher ein Gegenbegriff zur Freiheit. Wonach Benhabib sucht, ist in Arendts Terminologie nicht Freiheit als Möglichkeit des Anfangens, sondern Souveränität als Möglichkeit der Kontrolle des Ausgangs von Handlungen. Der Wunsch nach einer planbaren, autorisierten Emanzipation ist – mit Arendt – letztlich ein tyrannischer: »Was innerhalb dieses Problemzusammenhanges so außerordentlich schwer zu verstehen ist, ist die einfache Tatsache, daß es menschlicher Existenz eigentümlich ist, daß ihr Freiheit nur unter der Bedingung der Nicht-Souveränität geschenkt ist; und daß es ebenso unrealistisch ist, um dieser Nicht-Souveränität willen die Freiheit zu leugnen, wie es verderblich ist zu glauben, daß man nur dann frei sei – als einzelner oder als organisierte Gruppe –, wenn man souverän ist. Auch die Souveränität eines politischen Körpers ist immer nur Schein, der zudem niemals anders als mit den Mitteln der Gewalt aufrechterhalten werden kann.« (Hannah Arendt: Freiheit und Politik: Ein Vortrag. In: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft: Übungen im politischen Denken I. Hg. v. Ursula Ludz. München, Zürich 1994, 201-226, hier 214.)

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ist der Kopf des Königs immer noch nicht gerollt.«103 In Arendts Konzeption kann es keinen König geben, kein regulatives Gespenst, niemanden, der für die »Geschichte verantwortlich zeichnet« (VA 177). Geschichte in diesem Sinn wäre die Abwesenheit der Signatur. Erst im Nachhinein wird von der politischen Philosophie ein Autor unterstellt, der sich aber gerade dadurch auszeichnet, daß er nicht signieren kann, daß er gespenstisch bleibt. In der polis sieht Arendt einen Versuch der Griechen, auf die Aporien menschlichen Handelns mit einer regelgeleiteten Institution zu reagieren. In ihr wird durch die Grenze und das Gesetz ein Raum hergestellt, in dem fortan die eigentlich politische Tätigkeit, zu der die Akte der Grenzziehung und Gesetzgebung selbst nicht zu rechnen sind, statthaben und erinnert werden kann.104 Sie ist der gesicherte Raum, in dem die »Zerbrechlichkeit menschlicher Angelegenheiten« (VA 180) soweit auf Dauer gestellt ist, daß die Namen der handelnden Personen auftauchen und bestehen bleiben können. Zwischen der Stabilität der polis und der darin geschaffenen Möglichkeit des Handelns und Sprechens entsteht jedoch ein Spannungsverhältnis, das nicht lösbar ist, wie Alan Keenan zeigt: »Caught within, and produced out of, a dialectic of freedom and foundation that leaves neither term intact, the political can only be found within

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Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1. Übers. v. Ulrich Raulff u. Walter Seitter. Frankfurt/M. 1991, 110. Zwischen Arendts und Foucaults Machtbegriff ergeben sich signifikante Parallelen; beide denken Macht als Potentialität und nicht als Besitz oder Verfügbarkeit, für beide ist Macht wesentlich Macht-Relation. Während Foucault jedoch davon ausgeht, daß Machtbeziehungen als machterzeugende zwar »intentional« aber »nicht-subjektiv« (ebd., 116) sind, daß also Macht von einem »Kalkül« durchzogen ist, daß sie sich in einer »Reihe von Absichten und Zielsetzungen entfaltet« (ebd.), die nicht auf Individuen zurückführbar sind, geht Arendt von individuellen Intentionen aus, die allerdings von der unfreiwilligen, nicht-intentionalen Enthüllung der Person durchzogen sind. Für einen Vergleich von Arendt und Foucault vgl. Hauke Brunkhorst: Brot und Spiele? Hannah Arendts zweideutiger Begriff der Öffentlichkeit. In: Ursula Kubes-Hofmann (Hg.): Sagen, was ist. Zur Aktualität Hannah Arendts. Wien 1994, 153-167, hier 158f. Zu Arendts Auffassung der Macht als Machtpotential vgl. das Kapitel Der Erscheinungsraum und das Phänomen der Macht (VA 193-202). Jürgen Habermas unterschätzt die prekäre Dimension der Arendtschen Machtkonzeption, die aus der Unwägbarkeit menschlichen Handelns und Sprechens resultiert, wenn er ihre Machtanalyse vorschnell als kommunikativ erzeugte rationale Willensbildung paraphrasiert. Vgl. Jürgen Habermas: Hannah Arendts Begriff der Macht. In: Adalbert Reif (Hg.): Hannah Arendt. Materialien zu ihrem Werk. Wien, München, Zürich 1979, 287-305. Zur Rezeptionsgeschichte vgl. Roland W. Schindler: Geglückte Zeit – gestundete Zeit. Hannah Arendts Kritik der Moderne. Frankfurt/M., New York 1995, besonders 252-267. Vgl. VA 61f., 183 und 187-193. Zur Rolle der Grenzziehung vgl. Margaret Canovan: Verstehen oder Mißverstehen. Hannah Arendt, Totalitarismus und Politik. In: Ganzfried, Hefti (Hg.): Hannah Arendt (Anm. 84), 54-67, besonders 59-62.

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and through its constitutive loss, within and through its fall into the nonpolitical.«105 An die Stelle einer Begründung oder Grundlegung des Politischen rückt Arendt immer wieder »den Abgrund des Nichts, der sich vor jeder Tat öffnet«.106 Der Unmöglichkeit der Signatur in der Geschichte korrespondiert die Unmöglichkeit des Jemand, seine Geschichte wie ein Autor zu verfassen. Daß das Ergebnis von Handeln und Sprechen nicht vorhersehbar ist, führt dazu, daß der Mensch sich dem eigenen Leben gegenüber nicht wie ein Autor verhält: »Kein Mensch kann sein Leben ›gestalten‹ oder seine Lebensgeschichte hervorbringen, obwohl er sie selbst begann, als er sprechend und handelnd sich in die Menschenwelt einschaltete.« (VA 175) Die Lebensgeschichte als das eigentliche Produkt menschlichen Handelns ist als solche nicht planbar, nicht herstellbar, darin gerade unterscheiden sich Handeln und Herstellen fundamental.107 Als »Faden«, der in das Bezugsgewebe geschlagen wird, ist das menschliche Leben, die Spanne zwischen Geburt und Tod, erst nach seinem Ende, im Nachhinein erzählbar: »Sind die Fäden erst zu Ende gesponnen, so ergeben sie wieder klar erkennbare Muster, bzw. sind als Lebensgeschichten erzählbar.« (VA 174) Erst in der Erzählung stellt sich ein Effekt der Kohärenz her, der dazu führt, daß der Anschein entsteht, jemand habe die Geschichte willentlich hervorgebracht oder ausgedacht. Für Arendt bietet »jede Abfolge von Geschehnissen, wenn sie nur zeitlich verbunden ist und ganz gleich, wie zufällig und disparat die Veranlassungen jeweils gewesen sein mögen, immer noch genug Zusammenhang […], um erzählbar zu sein und in dem Erzähltwerden einen Sinnzusammenhang zu ergeben. Auf die Frage aber, wer diesen Sinn wohl ersonnen hat, wird die Antwort immer ›Niemand‹ lauten, denn auch der Held der Geschichte […] kann unter keinen Umständen in dem gleichen Sinn als Autor der Geschichte und ihres Sinns angesprochen werden wie etwa der Verfasser einer Novelle.« (VA 176) Wie die Geschichte als Historie ist auch die Lebensgeschichte von »Niemand« verfaßt worden, auch wenn sie in der 105

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Alan Keenan: Promises, Promises. The Abyss of Freedom and the Loss of the Political in the Work of Hannah Arendt. In: Political Theory 22.2 (1994), 297-322, hier 316. Keenans Analyse bezieht sich weniger auf Fragen der Umgrenzung und Gesetzgebung, sondern geht aus von Arendts These, daß das Versprechen die Macht hat, »das Zukünftige zu sichern« (VA 239), ohne es im Vorhinein festzulegen. Hannah Arendt: Vom Leben des Geistes. München 1998, 433. »Das ursprüngliche Produkt des Handelns ist nicht die Realisierung vorgefaßter Ziele und Zwecke, sondern die von ihm ursprünglich gar nicht intendierten Geschichten, die sich ergeben, wenn bestimmte Ziele verfolgt werden, und die sich für den Handelnden selbst erst einmal wie nebensächliche Nebenprodukte seines Tuns darstellen mögen. Das, was vom Handeln schließlich in der Welt verbleibt, sind nicht die Impulse, die ihn selbst in Bewegung setzten, sondern die Geschichten, die er verursachte« (VA 174).

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nachträglichen Erzählung zu einem kohärenten Sinn findet. Auch die Lebensgeschichte bleibt ohne Signatur: »Die wirkliche Geschichte, in die uns das Leben verstrickt108 und der wir nicht entkommen, solange wir am Leben sind, weist weder auf einen sichtbaren noch einen unsichtbaren Verfasser hin, weil sie überhaupt nicht verfaßt ist.« (VA 178) Wenn sich der Mensch zu seinem eigenen Leben so verhält, wie der Held einer Geschichte, die von jemand anderem im Nachhinein erzählt wird, stellt sich die Frage, wie Autobiographie überhaupt noch denkbar ist, da sie ja »ex post facto« (VA 178), von jenseits des Todes erzählt werden muß.109 Der Tod selbst und die Unabsehbarkeit, die sich aus ihm ergibt, wird für Arendt zu einem Grund, der einen möglichen »Lebensüberdruß« verhindert: »Der Grund, warum die Spannung des Lebens, gleichsam der Elan des mit der Geburt gegebenen Anfangs, anhalten kann bis zum Tode, liegt darin, daß die Bedeutung einer jeden Geschichte sich voll erst dann enthüllt, wenn die Geschichte an ihr Ende gekommen ist, daß wir also zeit unseres Lebens in eine Geschichte verstrickt sind, die wir nicht kennen.« (VA 184) Nicht nur ist der Mensch nicht in der Lage, seine Lebensgeschichte zu erfinden, er kann sie auch nicht kennen, da sie erst mit seinem Tod zu Ende ist, den er selber nicht mehr überblickt – »es ist nicht der Handelnde, der die von ihm verursachte Geschichte als Geschichte erkennt und erzählt, sondern der am Handeln ganz unbeteiligte Erzähler« (VA 185). Der Erzähler ist also als derjenige definiert, der den Protagonisten der Geschichte überlebt, als derjenige, der weiterlebt, wenn das Leben des Erzählten an sein Ende gekommen ist. Nicht nur ist das Auto- einer potentiellen Autobiographie ein Dämon hinter dem Rücken des Selbst, das nur von Anderen erblickt werden kann, auch die Geschichte, die sich aus der Reihe von Lebensereignissen 108

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In Geschichten verstrickt lautet der Titel eines Buches des Philosophen Wilhelm Schapp. Zwischen Arendts Bezugsgewebe und dem darin »Verstricktsein« des Einzelnen und den Überlegungen Schapps lassen sich deutliche Parallelen erkennen. Auch für Schapp ist der Einzelne nur über seine Geschichte greifbar: »Die Geschichte steht für den Mann. Wir meinen damit, daß wir den letztmöglichen Zugang zu dem Menschen über Geschichten von ihm haben.« (Wilhelm Schapp: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding. Hamburg 1953, 103.) Im Gegensatz zu Arendt verschwinden allerdings für Schapp Anfang und Ende der Geschichte im Dunkeln (ebd., 88-95), sie ist daher auch nicht linear erzählbar. Hier scheint das Verstricktsein in Geschichten eher einer allgemeinen Textualität zu ähneln, die nicht nur Menschen, sondern auch Tiere und Dinge betrifft. Für den Hinweis auf Schapp danke ich Jürgen Frese. »This of course is a fundamental fact of all autobiography, and its paradox: the author who would write his own life – his entire life – cannot record the moment when he comes to face death, when he experiences it. Strictly speaking, no autobiography can be an autobiography unless it records both what the author lives to experience, and the passage to what is no longer life.« (Allan Stoekl: Politics, Writing, Mutilation. The Cases of Bataille, Blanchot, Roussel, Leiris, and Ponge. Minneapolis 1985, 65.)

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ergibt, ist diesem Selbst nicht zugänglich. Erst nach seinem Tod kann sie von einem Erzähler berichtet werden. Dieser Erzähler muß für Arendt wesentlich Erzähler und nicht Autor oder Verfasser sein, weil bereits vorgefallen und abgeschlossen ist, wovon er berichtet. Wovon er berichtet ist wesentlich das Leben eines Toten, der Held seiner Geschichte ist wesentlich Gespenst. Wie der Ghostwriter im traditionellen Sinn ist Arendts Geschichtenerzähler auf das bereits Vorgefallene angewiesen, mit dem Unterschied, daß er nicht den Lebenden mit einer vermeintlich authentischen Stimme sprechen läßt, sondern die Geschichte eines Toten erzählt. Eine Antwort auf die mir selbst gestellte Frage »Wer bist Du?« kann in dieser Konzeption niemals von dem Fragendem/Befragtem selbst gegeben werden. Eine mögliche Form der Antwort, die sich aus Arendts Text herauslesen läßt, ist die Geschichte, die nur ein späterer, ein überlebender Erzähler erzählen kann. Erst in und durch die nachträgliche Geschichte konstituiert sich das Wer der Person als ihr Wesen: »Das Wesen einer Person – nicht die Natur des Menschen (die es für uns jedenfalls nicht gibt) und auch nicht die Endsumme individueller Vorzüge und Nachteile, sondern das Wesen dessen Wer-einer-ist – kann überhaupt erst entstehen und zu dauern beginnen, wenn das Leben geschwunden ist und nichts hinterlassen hat als eine Geschichte.«110 (VA 186) Wie aus einem Einschub Arendts ersichtlich wird, ist ihr Erzähler jedoch nicht notwendig an das Medium des Mündlichen gebunden,111 er ist auch nicht notwendig der Erzähler in einem narratologischen Sinn, er kann vielmehr »Dichter und Sänger« oder »Geschichtsschreiber« (VA 187) sein. Insofern er als Biograph112 die Geschichte eines Lebens erzählt 110

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Die einzige Ausnahme, die Arendt an dieser Stelle erwähnt, ist Achill, der sich dazu entschlossen hat, »in einem äußersten Einsatz in absoluter Einmaligkeit die Gesamtheit der Lebensspanne so zusammmenzuraffen, daß das Ende des Einsatzes und das Ende des Lebens zusammenfallen« (VA 187). Auch wenn Achill wie alle anderen auf einen Erzähler angewiesen bleibt, um dieser Geschichte Dauerhaftigkeit zu verleihen, so ist er für Arendt doch »der einzige ›Held‹, bei dem es ist, als hätte er die volle Bedeutung des Gehandelten dem Erzähler selbst in die Hände gegeben, als sei er nicht nur der Täter seiner Tat, sondern auch der Verfasser der sich aus ihr ergebenden Geschichte. Es ist, als hätte er gewagt, sich selbst über die Schulter zu schauen und seines daimon ansichtig zu werden, und was er sah, war der personifizierte Mut« (VA 187). Sowohl in der Bezogenheit auf die Erfahrung wie auch in der Autorisierung durch den Tod weist Arendts Erzähler Ähnlichkeit mit dem Erzähler Walter Benjamins auf, der jedoch entschiedener auf der Rolle der Mündlichkeit beharrt: »Erfahrung, die von Mund zu Mund geht, ist die Quelle, aus der alle Erzähler geschöpft haben.« (Walter Benjamin: Der Erzähler. In: Ders.: Gesammelte Schriften Bd. II.2. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M. 1991, 438-465.) »Wer jemand ist oder war, können wir nur erfahren, wenn wir die Geschichte hören, deren Held er selbst ist, also seine Biographie; was immer

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und aufschreibt, ist er der Ghostwriter der Autobiographie: Ghostwriter des Selbst, des Auto, verstanden als der durch den Tod zum Gespenst gewordene daimon des Lebenden, der in einer Geschichte des Lebens, des bios, zu etwas Geschriebenen, zur Graphie transformiert, festgehalten wird. Strenggenommen ist dies gleichzeitig die einzig mögliche Form der Autobiographie, da nach Arendt »das Wesen dessen, wer einer ist, sich aller Verdinglichung und Vergegenständlichung durch ihn selbst entzieht« (VA 206). Auch die literarische Geschichte, die »eine Dimension personaler Einzigartigkeit« (ebd.) zwar durchscheinen läßt, stellt diese Dimension gewissermaßen in den Schatten der Kunst: »Wo dieses Wesen sich ›objektiv‹ manifestiert – etwa in dem künstlerischen Stil oder auch einfach in der Handschrift –, gibt sich die Identität der Person kund, und solche Manifestationen dienen denn auch vorzüglich dazu, Autorschaft zu identifizieren. Aber an sich sagen sie gar nichts aus, im Gegensatz zum Werk selbst bleiben diese personalen Stilelemente stumm und versagen, sobald man versucht, in ihnen das Spiegelbild einer lebendigen Person zu sehen.« (ebd.)113 Ähnlich wie in der Gattungsdiskussion der Autobiographie stellt Arendt einen Zusammenhang zwischen der »Handschrift«,114 dem »künstlerische[m] Stil«115 und der »Identität einer Person« (VA 206) her, leugnet jedoch nicht nur dessen Aussagekraft für die Frage nach dem Wer,116 sondern damit implizit auch ihren Einfluß auf

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wir sonst von ihm wissen mögen und von den Werken, deren Verfasser er ist, kann uns höchstens darüber belehren, was er ist oder war.« (VA 178) Diese Überlegungen Arendts stehen im Zusammenhang mit einer kurzen Diskussion der neuzeitlichen Genie-Verehrung, die an die Frage der Einzigartigkeit der Person gekoppelt ist: »Die förmliche Besessenheit, mit der die Neuzeit hinter der Original-Signatur des Künstlers, ganz unabhängig von der Bedeutung des einzelnen Werkes, her ist, die historisch beispiellose Sensibilität für Fragen des Stils bis in das letzte Detail der Gestik, die das Hervorbringen geleitet hat, zeigt, daß das eigentliche Interesse denjenigen künstlerischen Aspekten gilt, in denen der Künstler die ihm eigene Meisterschaft in der gleichen Weise transzendiert, in der die Einzigartigkeit der Person die Gesamtsumme der Eigenschaften des Individuums jeweils übersteigt.« (VA 206) Dennoch bleibt für Arendt in der Wertschätzung des Werkes der Geniekult in der »Warenwelt« des Homo faber verwurzelt. Er ist nur eine besondere Ausprägung der »Degradierung der Person« (ebd.). So faßt z.B. Martina Wagner-Egelhaaf Ingrid Aichingers Überlegungen zur Autobiographie (Ingrid Aichinger: Probleme der Autobiographie als Sprachkunstwerk. In: Günter Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt ²1998, 170-199) folgendermaßen zusammen: »Der autobiographische Text trägt nicht nur, er ist die Handschrift seines Autors oder seiner Autorin.« (Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. Stuttgart, Weimar 2000, 45.) »Der Stil ist […] das Merkmal der Beziehung zwischen dem Schreiber und seiner eigenen Vergangenheit.« (Jean Starobinski: Der Stil der Autobiographie. In: Niggl: Die Autobiographie (Anm. 114), 200-213, hier 202.) Damit steht Arendt quer zu einem Topos der Autobiographie-Diskussion, der auch den literarischen Text als Ausdrucksmedium der Person liest. »Every novel is an autobiography by intermediary«, schreibt z.B. Georges

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eine Lektüre des »Werkes«.117 Die Autobiographie kann nur als Geschichte geschrieben werden, die eine Überlebende erzählt. Die einzige andere Möglichkeit neben dieser autobiographischen Form des Ghostwriting als Erzählen einer Geschichte des Toten, die einzige andere Möglichkeit, sich dem Wer einer Person zu nähern, ist die Wiederherstellung des Lebendigen in der dramatischen Wiederholung, in der Mimesis. Noch besser als die erzählte Geschichte ist das Drama geeignet, die Person zum Vorschein zu bringen: »Indessen ist die dem Handeln und Sprechen eigene Enthüllung des Wer so unlösbar an den lebendigen Fluß des Vorganges selbst gebunden, daß sie nur in einer Art Wiederholung des ursprünglichen Vorgangs dargestellt und ›verdinglicht‹ werden kann, in der Nachahmung oder mimesis, von der Aristoteles zwar annahm, daß sie eine Grundvoraussetzung aller Künste sei, die er aber selbst in der Tat nur im drama vorfand, dessen Name […] bereits anzeigt, daß es die dem Handeln entsprechende Kunstgattung ist und das für ihn stellvertretend für alle Kunstgattungen wurde.« (VA 179) In Aristoteles’ Poetik heißt es: »Die Nachahmenden ahmen handelnde Menschen nach.«118 In dieser Hinsicht ist der vom Schauspieler gesprochene Text für Arendt besser geeignet, das Wer der Person zu enthüllen. Dies liegt nicht zuletzt an der grundsätzlichen Ähnlichkeit zwischen der Welt als öffentlichem Raum und der auf der Bühne hergestellten Öffentlichkeit als Zurschaustellung: »Die Bühne des Theaters ahmt in der Tat die Bühne der Welt nach, und die Schauspielkunst ist die Kunst ›handelnder Personen‹.« (VA 179) »In der Tat« ahmt die Theaterbühne die Welt nach, insofern sich die Welt als »Zwischenraum« durch Handlungen, durch Taten konstituiert. Um diese Dimension markant vor Augen zu führen, bedarf es der Aufführung des geschriebenen Stückes, das als sol-

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Gusdorf. »We might say then that there are two guises or two versions of autobiography: on the one hand, that which is properly called confession; on the other hand, the artist’s entire work, which takes up the same material in complete freedom and under the protection of a hidden identity.« (Georges Gusdorf: Conditions and Limits of Autobiography. In: James Olney (Hg.): Autobiography: Essays Theoretical and Critical. Princeton 1980, 2848, hier 46.) Ähnlich argumentiert auch James Olney: »[T]he final work, whether it be history or poetry, psychology or theology, political economy or natural science, whether it takes the form of personal essay or controversial tract, of lyric poem or scientific treatise, will express and reflect its maker and will do so at every stage of his development in articulating the whole work« (James Olney: Metaphors of Self. The Meaning of Autobiography. Princeton 1972, 1). Das nur darauf hinweist, »daß ›hinter‹ ihm sich ein Jemand befindet« (VA 178) – ›hinter‹, aber nicht ›in‹ der Geschichte: »In diesem Sinne aber gehört der Verfasser keineswegs in die Geschichte, die er selbst erfand; die Geschichte selbst gibt keinerlei Auskunft über ihn, was immer sonst sie uns zu erzählen hat; nur ihre schiere Existenz als ein Erfundenes weist hin auf den Autor, der sie erfand.« (Ebd.) Aristoteles: Poetik. 1448a (Anm. 8), 7.

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ches aber schon von der projektierten Inszenierung erfaßt wird. »Was sich in der Aufführung zur Geltung bringt, ist dabei nicht so sehr der Gang der Handlung, der sich auch im reinen Erzählen wiedergeben ließe, als das So-und-nicht-anders-Sein der handelnden Personen, die der Schauspieler unmittelbar in ihrem eigensten Medium darstellt.« (Ebd.) Während der Sinn der Handlung durch den Chor »ausgesagt wird, der nichts nachahmt«, kann »die ungreifbare Identität der die Handlung darstellenden Personen nur durch ein Nachahmen des wirklichen Handelns vorgeführt werden […], da sie gerade sich aller Verallgemeinerung und demzufolge auch aller Verdinglichung und Transfigurierung in ein anderes Medium entzieht« (VA 178f.).119 Arendt unterscheidet also zwischen 119

Hier befindet sich Arendt dann allerdings im latenten Widerspruch zu Aristoteles, der die Dichtung insgesamt nicht mit der Aufgabe betraut, das wirklich Geschehene darzustellen. Hierin sieht er den Unterschied zur Geschichtsschreibung; für ihn ist es die Dichtung, die auf das Allgemeine – und damit gerade nicht auf die Einzigartigkeit der Person – zielt, so daß die Benennung von Personen sich vor allem deshalb an wirklichen Personen orientiert, weil so das Gezeigte an Wahrscheinlichkeit gewinnt: »Aus dem Gesagten ergibt sich auch, daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d.h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche. Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich […] dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit. Das Allgemeine besteht darin, daß ein Mensch von bestimmter Beschaffenheit nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit bestimmte Dinge sagt und tut – eben hierauf zielt die Dichtung, obwohl sie den Personen Eigennamen gibt. Das Besondere besteht in Fragen wie: was hat Alkibiades getan oder was ist ihm zugestoßen. / Bei der Komödie hat sich das schon deutlich herausgestellt. Denn die Dichter fügen die Fabel nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit zusammen und geben den Personen erst dann irgendwelche Namen […]« (Aristoteles: Poetik. 1451a-b (Anm. 8), 29 und 31). Im Anhang kommentiert Manfred Fuhrmann das Wort »Eigennamen«: »Obwohl sie [die Dichtung] durch diese Individualnamen äußerlich der Geschichtsschreibung gleicht – ihre Figuren sind gleichwohl Typen von symbolischer Bedeutung, ihre Handlungen allgemeingültige Modelle.« (Ebd., 113, Anm. 3.) Während die Komödie also »Typen« lächerlich macht, ergeben sich auch in Aristoteles’ Argumentation Schwierigkeiten hinsichtlich der Tragödie, die für Arendts abweichende Betrachtung des Dramas sprechen könnten, von Aristoteles jedoch entkräftet werden: »Bei der Tragödie halten sich die Dichter an die Namen von Personen, die wirklich gelebt haben. Der Grund ist, daß das Mögliche auch glaubwürdig ist; nun glauben wir von dem, was nicht wirklich geschehen ist, nicht ohne weiteres, daß es möglich sei, während im Falle des wirklich Geschehenen offenkundig ist, daß es möglich ist […]. Immerhin verhält es sich auch bei den Tragödien so, daß in einigen nur ein oder zwei Namen zu den bekannten gehören, während die übrigen erfunden sind, in anderen sogar kein einziger Name bekannt ist, wie im ›Antheus‹ des Agathon. In diesem Stück sind nämlich die Namen in derselben Weise frei erfunden wie die Geschehnisse, und es bereitet gleichwohl Vergnügen. Demzufolge muß man nicht unbedingt bestrebt sein, sich an die überlieferten Stoffe, auf denen die Tragödien beruhen, zu

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der »unmittelbaren« Darstellung des Handelns, die gleichwohl medial ist, in dessen eigenem Medium, das das Sprechen und die Handlungen des Schauspielers zu sein scheint, und der Transformation des Handelnden in ein »anderes Medium« – das Medium der Erzählung, der Schrift. Die Nähe zwischen Schauspieler und Handelndem ergibt sich dabei nicht nur aus der medialen Kongruenz. Ganz allgemein besitzt das »Wirkliche« des Menschen für Arendt eine Affinität zum Auftritt: »Menschlich und politisch gesprochen, sind Wirklichkeit und Erscheinung dasselbe« (VA 193).120 Die Ferne zwischen verdinglichter Geschichte und Handelndem, der Wechsel zu einem »anderen Medium«, den sie betont, ergibt sich aus Arendts Schriftverständnis und dem darin eingeschriebenen Dualismus von gesprochener Sprache als lebendiger Äußerung und Schrift als toter Verdinglichung: »Die verwandelnde Vergegenständlichung ist der Preis, den das Lebendige zahlt, um nur überhaupt in der Welt bleiben zu dürfen; und der Preis ist sehr hoch, da immer ein ›toter Buchstabe‹ an die Stelle dessen tritt, was einen flüchtigen Augenblick lang wirklich ›lebendiger Geist‹ war.« (VA 88) Als würde sie die der christlichen Tradition entnommenen Formeln vom »toten Buchstaben« und »lebendigem Geist«121 nur zitieren, setzt Arendt sie in doppelte Anführungsstriche.

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halten.« (Ebd., 31.) ›Gegen‹ Arendt argumentiert Aristoteles, daß die Personen-Namen nicht die Einzigartigkeit der Person aufrufen, sondern nur die Wahrscheinlichkeit des Geschehens verstärken. Selbst in dem Fall, in dem der Name einer Tragödien-Figur dem einer wirklichen Person entspricht und auch deren Geschichte gleich ist, steht demnach nicht die Person als solche im Mittelpunkt sondern das Allgemeine an ihr. Man könnte sich auch von Aristoteles den Verdacht einflüstern lassen, daß Arendt gerade das »Typische« der Figuren zum »Einzigartigen« erklärt (wie etwa den Mut des Achilles, vgl. Anm. 110). In der Fortsetzung des Zitats wird noch einmal deutlich, wie Wirklichkeit erst in der Pluralität entsteht: »ein Leben, das sich außerhalb des Raumes, in dem allein es in Erscheinung treten kann, vollzieht, ermangelt nicht des Lebensgefühls, wohl aber des Wirklichkeitsgefühls, das dem Menschen nur dort ersteht, wo die Wirklichkeit der Welt durch die Gegenwart einer Mitwelt garantiert ist, in der eine und dieselbe Welt in den verschiedensten Perspektiven erscheint.« (VA 193) Die Opposition selbst hat eine lange und ganz unterschiedlich interpretierte Tradition. Geist als Pneuma (Hauch, Atem) wird in der Antike durchaus als Stofflichkeit gedacht, ist also hier nicht einfach der Verdinglichung gegenüber zu stellen. Im Alten Testament ist diese Tradition noch präsent, wenn Pneuma / ruah als Lebensatem verstanden wird. (Vgl. den Artikel »Geist (Heiliger Geist)« von H. Crouzel in: Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt. Bd. IX. Stuttgart 1976, 490-545.) Innerhalb des Neuen Testamentes ist vor allem die Paulinische Gegenüberstellung prominent geworden: »Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.« (2 Kor 3,6. Zitiert nach: Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Stuttgart 1985). Während christliche Lexika betonen, daß es bei dieser Unterscheidung nicht um eine hermeneutische, sondern um eine heilsökonomische geht (P. Bläser: Artikel »Buchstabe und Geist«. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 2. Freiburg 1958, 750f.; G. Ebeling: Geist und

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Das wiederholte Auftauchen dieses Dualismus und eine spätere Einlassung auf dieses Problem an anderer Stelle, an der nur noch einmal Anführungsstriche auftauchen,122 zeigen jedoch, daß Arendt von dieser Opposition ausgeht: »Zwar kann auch der tote Buchstabe immer wieder zum Leben erweckt werden, nämlich sobald er wieder mit einem Lebendigen in Berührung kommt, das vermöge des eigenen Lebens den lebendigen Geist spürt, welchen der tote Buchstabe gleichsam verewigt hat; aber auch diese Auferstehung von den Toten teilt das Los aller lebendigen Dinge, aufs neue dem Tod zu verfallen.« (VA 157) So kann zwar die Einzigartigkeit der Person erst im Moment ihres Todes als »Wesen« erkannt und erzählt werden, die Erzählung selbst aber hat teil an der Tötung des Lebenden. Das Lebende zeichnet sich jedoch seinerseits dadurch aus, daß es tot sein wird. Zu fragen wäre, ob dieser von Arendt konstatierte Tod als Ende der Geschichte nicht doch durch die Möglichkeit des Anfangens wieder unterbrochen werden kann, die selbst vielleicht nicht die Qualität des Lebendig-Seins hat, sondern als wiederkehrender Einspruch des Gespensts in die »Verdinglichung« durch die Geschichte einbricht – dazu mehr im folgenden Teil dieses Kapitels. Zu fragen wäre auch, wie sich dieses Verhältnis von tot und lebendig zum daimon der Menschen in Beziehung setzt. Der daimon äußert sich – sichtbar nur für die Mitmenschen – »ungreifbar« (VA 186) in jeder Handlung, kann aber als »Wesen einer Person« (ebd.) erst entstehen, wenn diese tot ist – die »Lebensgeschichte liegt vollendet und damit potentiell wie ein Ding unter Dingen erst vor, wenn sie an ihr Ende gekommen und ihr Träger tot ist« (ebd.). Indem Arendt dem Menschen den daimon als ihm allein zukommendes Wesen attestiert, vollzieht sie auf personaler Ebene genau das, was sie den »Geschichts-« und materialistischen Philosophen als Spuk unterstellt. So wie

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Buchstabe. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Bd. 2. Tübingen 1958, 1290-1296), zeigt Daniel Boyarin aus einer dezidiert jüdischen Perspektive, daß der Unterscheidung von Hermeneutik und Heilsökonomie selbst wiederum eine allegorische Sprachauffassung zugrunde liegt (Daniel Boyarin: The Subversion of the Jews: Moses’s Veil and the Hermeneutics of Supersession. In: Diacritics 23.2 (1993), 16-35). Für eine medientheoretische Analyse von Geist / Buchstabe und ihrer Beziehung zur antiken Rhetorik wie zum Verhältnis Christentum / Judentum vgl. David Martyn: Der Geist, der Buchstabe und der Löwe. Zur Medialität des Lesens bei Paulus und Mendelssohn. In: Ludwig Jäger, Georg Stanitzek (Hg.): Transkribieren. Medien / Lektüre. München 2002, 43-72. »Wir erwähnten bereits in einem anderen Zusammenhang […] den hohen Preis, den das Denken und Sinnen, wie das Sprechen und Handeln, dafür zahlen, daß sie durch das herstellende Vergegenständlichen als greifbar wirkliche Dinge in die Dingwelt eingehen; der Preis ist das Leben selbst, da immer nur ein ›toter Buchstabe‹ überdauern kann, was einen flüchtigen Augenblick lang lebendigster Geist war.« (VA 157)

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diese nicht darauf verzichten können, der sich in der Erzählung kohärent ergebenden Geschichte einen »Drahtzieher« als Verfasser zu unterstellen, kommt auch Arendt nicht umhin, dem Einzelnen ein Wesen in den Rücken zu stellen, das für die Kohärenz bürgt, indem es den Helden gibt. Der Unterschied liegt darin, daß Arendt diesen Helden nicht als Verfasser der Geschichte einsetzt, sondern als Quelle einer Kette von Handlungen und sprachlichen Äußerungen, die erst im nachhinein von einer Überlebenden rekonstruiert werden kann.

3. Ghostwriting als Lektüre: Zitieren und Erzählen Mit dem Vorwort der Rahel Varnhagen und Arendts Überlegungen zur Kategorie des Lebens und seiner Darstellbarkeit in der Vita Activa wurden zwei Modelle des Ghostwriting vorgestellt, deren Verbindung eine paradoxe Anforderung an die Autobiographin stellen. Einerseits formuliert Arendt einen dezidierten Verzicht auf eine übergeordnete Position und verpflichtet sich auf die Innenperspektive »Rahels«. Die Erzählung des Lebens wird hier als eine Nach-Erzählung konzipiert, die sich auf eine Wiederholung beschränkt. Andererseits entwickelt Arendt in der Vita Activa eine Konzeption von Leben, das sich nur von seinem Ende, vom Tod her überhaupt erzählen läßt. Da der Lebende die Effekte seiner Handlungen nicht übersieht, kann – so wurde herausgearbeitet – eine Autobiographie immer nur von einem Dritten erzählt werden, der in die Position des Ghostwriters rückt. Arendt wird daher zu einem Ghostwriter im doppelten Sinn – sowohl in der Angewiesenheit auf die Eigenperspektive Rahels, als auch in der Orientierung an jenem daimon, der sich genau dieser Eigenperspektive widersetzt. Arendt befindet sich in der paradoxen Situation, einerseits nur schreiben zu wollen, was »Rahel« selbst hätte erzählen können, andererseits aber davon ausgehen zu müssen, daß das eigentlich Persönliche nur über das Erzählen einer Geschichte zu haben ist, die mehr weiß als die Person, von der sie handelt. Das Vorwort verpflichtet Arendt auf eine Lektüre, die sich in der Rahel Varnhagen in ein Zitierverfahren übersetzt. Die aus der Vita Activa abgeleiteten Überlegungen zur Autobiographie hingegen setzen Arendt als Erzählerin der Lebensgeschichte ein. Dieses Paradox mag als das Ergebnis einer forcierten Verschränkung von Rahel Varnhagen und Vita Activa erscheinen, das nach der Hauptarbeit an der Rahel Varnhagen veröffentlicht wurde. Ergibt sich also die paradoxale Anforderung an die Autobiographin als Ghostwriter aufgrund einer nachträglich vorgenommenen Eintragung der Vita Activa in Rahel

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Varnhagen? Arendts Studium der griechischen Philosophie wie auch ihre Auseinandersetzung mit Augustinus, d.h. die Beschäftigung mit den wichtigsten Bezugsgrößen der Vita Activa, liegen vor der Arbeit an Rahel Varnhagen, die zudem selbst nicht nur ein Entstehungs-Datum hat: Wie bereits erwähnt, entstand der Großteil des Textes Anfang der 1930er Jahre, die letzten beiden Kapitel wurden 1938 geschrieben, das Preface der Erstausgabe ist auf »Summer, 1956«123 und das Vorwort auf den »Herbst 1958« (RV 13) datiert, d.h. auf das Erscheinungsjahr der Vita Activa. Was im Vorwort wie eine nurmehr retrospektive Formulierung einer zurückliegenden Absicht präsentiert wird, ist jedoch unweigerlich bereits das Ergebnis einer davon nicht trennbaren Aktualisierung. Das stärkste Argument für die Verbindung der Rahel Varnhagen mit der Vita Activa ist jedoch das Schreibverfahren der Rahel Varnhagen selbst, das sich nämlich genau durch die Spannung von Zitieren und Erzählen auszeichnet, die sich aus der Kopplung beider (Auto-)Biographie-Modelle ergibt. Rahel Varnhagen bietet sich als Objekt einer Lebensgeschichte im Arendtschen Sinn besonders an, weil sie strenggenommen kein »Werk« hinterlassen hat, dessen »Autor« sie wäre. Vielmehr sind die Briefe, die sie adressiert und die an sie adressiert sind, als eine Materialisierung des von Arendt in Vita Activa beschriebenen »Bezugsgewebes« lesbar, das hier seine Flüchtigkeit und Ungreifbarkeit dadurch verloren (oder: stabilisiert) hat, daß es sich nicht aus mündlicher Kommunikation bzw. aus Sprechen und Handeln zusammensetzt, sondern aus Briefen und Notizen.124 Die Entscheidung »nicht über« die »Rahel« zu schreiben, zeigt sich im Text als Lektüre- und Zitierverfahren. Dabei geht Arendt davon aus, daß es sich bei Rahel Varnhagens Briefen nicht in erster Linie um Dokumente des Lebens, um direkte Selbstäußerungen handelt, sondern bereits um ein narratives Verhältnis zu sich selbst, um eine »Selbstobjekti-

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Arendt: Rahel Varnhagen. Life of a Jewess (Anm. 9), xiv. Nicht zufällig greifen Barbara Hahn und Marianne Schuller die Metapher des Netzes auf, um Rahel Varnhagens Nachlaß zu beschreiben: »Im Unterschied zu einer Überlieferungsform, die sich um den Autor und dessen Namen als zentrale Kategorie gruppiert, findet man in Rahel Levins Nachlaß ein Schreiben, daß von einer Gruppe weitgehend Namenloser gemeinsam praktiziert wird. Betrachtet man aus dieser Perspektive Rahel Levins Nachlaß, das Kernstück der Sammlung Varnhagen, dann stellt sich die Frage, wie dieses komplexe Netz aus Korrespondenzen, Tagebüchern und Druckvorlagen angemessen präsentiert werden kann. […] Jede Ausgabe, und sei sie noch so vollständig, zerreißt dieses Netz und bildet ein Zentrum heraus, das die Sammlung selbst in dieser Form nicht aufweist« (Barbara Hahn, Marianne Schuller: Kann man einen Nachlaß edieren? Zum Konzept der Edition Rahel Varnhagen, in: Editio 7 (1993), 235-241, hier 235).

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vation«,125 deren Gegenstand »das Leben« ist. Arendt liest die Briefe und Tagebuchnotizen insgesamt als einen Versuch »Rahels«, in dem sie »sich selbst und anderen die eigene Geschichte immer wieder vor- und nacherzählt« (RV 10). Diese Erzählungen beschreibt Arendt wiederum als gespenstische: »So erkennt Rahel in der drohenden, schmerzhaften, gespenstischen Unheimlichkeit die Stücke ihres Lebens deutlicher, sie sieht es vor sich von außen, so verspielt, als hätte sie selbst nie dies Leben gelebt. Gerade in der doppelten Unheimlichkeit der spielerischen Distanz und der verzweifelten Isoliertheit sieht sie die Kontur ihres Lebens so klar und so undeutbar zugleich, daß sie es nur in aller Nacktheit referieren kann. Ihr Leben wird ihr zu einer Erzählung.« (RV 104)126 Voraussetzung und Grundbedingung dieser Erzählungen ist es, daß »Rahel« sich selbst »dem Leben« aussetzt: »Worauf es ihr ankam, war, sich dem Leben so zu exponieren, daß es sie treffen konnte, ›wie Wetter ohne Schirm‹ (›Was machen Sie? Nichts. Ich lasse das Leben auf mich regnen.‹) und weder Eigenschaften noch Meinungen […] dazu zu benutzen, sich selbst einigermaßen zu schützen« (RV 10). Arendt räumt den Äußerungen Rahel Varnhagens in ihrem Text eine entscheidende Bedeutung ein, indem sie sie zitiert. Im Anhang veröffentlicht sie zudem eine Reihe von Briefen, die bis dato unveröffentlicht oder in anderer Form, nicht wortgetreu, veröffentlicht waren.127 Die Lebensgeschichte ist von Zitaten durchzogen, sie bilden ganze Absätze oder fließen in Bruchstücken in die Erzählung ein. Nicht immer werden einzelne Wendungen »Rahels« ausdrücklich als solche markiert. So nimmt das erste Kapitel die Zitate des Vorworts ohne Anführungszeichen in der Erzähler-Rede wieder auf: »Aber einprägsamer wird Geschichte, wenn sie als individuelles Schicksal einmal – wie selten – rein sich auswirken kann; wenn sie auf einen Menschen trifft, der sich nicht hinter Eigenschaften und Talenten verkriechen, nicht unter Sitten und Konvention verbergen kann wie unter einem Schirm bei schlechtem Wetter« (RV 15). Arendt übernimmt Formulierungen aus den Briefen Rahel Varnhagens und verschränkt auf diese Weise die Sprache der Erzählstimme mit der der Protagonistin. Die Beschränkung auf die Perspektive der Protagonistin zeigt sich auf der Sprach-Ebene der Rahel Varnhagen in diesen Übernahmen von Formulierungen aus den Briefen in die Erzählung, die weniger konkrete Ereig125 126 127

Hannah Arendt an Karl Jaspers, 1.5.1930, in: Arendt, Jaspers: Briefwechsel (Anm. 4), 48. Anstatt aber eine »erzählbare Geschichte« zu erzeugen, ergibt sich so nur ein »Gespenstertreiben der Zusammenhanglosigkeit« (RV 105, 108). Diese Feststellung gilt jedoch nur mit Einschränkungen, da Arendt einige abgelegene Publikationen von Rahel Varnhagens Briefen übersehen hat. Dies hat in einer akribischen philologischen Detailarbeit Christophersen gezeigt; vgl. Christophersen: »… es ist mit dem Leben etwas gemeint« (Anm. 19), 77-146.

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nisse, als vielmehr »Rahels« erzählerisches Selbstverhältnis zum Gegenstand hat. Die gekennzeichneten und ungekennzeichneten Zitate autorisieren den Text der Rahel Varnhagen als eine authentische Lebensgeschichte. Zum Zeitpunkt ihrer ersten Veröffentlichung 1958 stellt Arendt damit außerdem Texte bereit, von deren Verlust ausgegangen werden mußte.128 Daß ein Teil des zuvor unveröffentlichten Materials, das Arendt verwendet, zu diesem Zeitpunkt überhaupt zitierfähig ist und im Anhang publiziert werden kann, verdankt sich Arendts archivarischer Arbeit, den »alten Exzerpten, Fotokopien und Abschriften« (RV 7). Arendt konnte sich bei der Erstellung des Buches nicht auf einen vollständig edierten Briefwechsel stützen, sondern las in den Originalbriefen, vorwiegend aber in den von Karl August Varnhagen von Ense angefertigten Transkripten im Archiv. »Arendts Versuch, ein von [Karl August] Varnhagen losgelöstes Bild zu entfalten, muß bereits bei diesem Punkt zumindest in Frage gestellt werden.«129 Die Korrekturen Arendts stützen sich also auf Korrekturen, die derjenige schon vorgenommen hat, 130 den sie korrigieren will. Arendts eigene Abschriften dienen ihrerseits als verläßliche Quelle, als zitierfähiges, weiterverwendbares Material, das wiederum zur Korrektur bestehender Rahel-Varnhagen-Ausgaben geführt hat.131 Arendts und Karl 128 129

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Vgl. dazu Kapitel IV.1. »Das in New York befindliche Material Hannah Arendts ist im Grund mit der Technik, die Varnhagen für seine Editionsvorbereitungen getroffen hatte, vergleichbar, und zwar vor allem, weil es sich bei den Vorlagen der von Arendt angefertigten Fotokopien nicht um Originalhandschriften von Rahel handelt, sondern um Abschriften von Karl August Varnhagen. Daraus ist zunächst zu schließen, daß – wie viele Rahel-Forscher vor ihr – auch Hannah Arendt mit dem Entziffern der Handschrift Varnhagens weniger Schwierigkeiten hatte, als mit der nur schwer lesbaren Handschrift Rahels.« (Christophersen: »… es ist mit dem Leben etwas gemeint« (Anm. 19), 118-145, hier 120.) »Varnhagen bereitete unmittelbar nach dem Erscheinen des ›Buch des Andenkens‹ eine Neuauflage für seine Nichte Ludmilla Assing vor.« (Ebd.) »Mit freundlicher Genehmigung von Frau Lotte Köhler, New York, wurden an einigen Stellen Hannah Arendts Korrekturen nach den Originalhandschriften übernommen« (Friedhelm Kemp: Zur Textgestaltung. In: Varnhagen: Briefwechsel (Anm. 60), Bd. IV, 397-398, hier 398). Ähnlich den Aufgaben, die Karl August Varnhagen für Rahel Varnhagen übernahm, ist Lotte Köhler als ehemalige Assistentin Arendts nicht nur mit der Erstellung eines maschinell-geschriebenen Typoskripts von Arendts Notizen beauftragt worden (vgl. Christophersen: »… es ist mit dem Leben etwas gemeint« (Anm. 19), 120), sondern wird im Vorwort als die Instanz eingeführt, die die Authentizität der Zitate noch einmal bestätigt: »Sie hat die Zitate in meinem Text fast alle nochmals kontrolliert. Sie hat auch aus meinen alten Notizen die Bibliographie, so gut es gehen wollte, zusammengestellt und die Zeittafel hinzugefügt. […] Schließlich hat sie mit mir zusammen die Auswahl der Rahel-Briefe in dem zweiten Teil des Buches besorgt und all die Briefe, welche nur in der Varnhagenschen Redaktion vorlagen, also in dem dreibändigen Buch des Andenkens von 1834, nach meinen Notizen aus dem Varnhagen-Archiv korrigiert.« (RV 13)

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August Varnhagens Korrekturen haben beide zu der Konstituierung eines neuen Text-Corpus’ von Rahel Varnhagen beigetragen. Mit diesem Verfahren der zitierenden-zitierten Lektüre weicht Arendt aber nicht nur vom Genre der Biographie ab, sondern auch von einer starken Position der Autorschaft. Die Orientierung an der Innenperspektive »Rahels« als Maßstab der Darstellung und ihre Umsetzung im Zitat bringen Arendt strukturell in die Position der (biographischen) Erzählerin, in der sie auf das angewiesen ist, was bereits vorgefallen ist. Von einem Ghostwriter im üblichen Sinn unterscheidet sie sich dadurch, daß sie tatsächlich wörtlich zitiert, und nicht die Lebensgeschichte insgesamt in Form eines fiktiven Zitats erzählt, was dann als gelungen gilt, wenn es klingt, als spräche die Porträtierte ununterbrochen selbst. Das Ziel der konventionellen Form des Ghostwriting ist es ja gerade, eine Identität von Erzähler und Protagonist zu etablieren, deren homogene Einstimmigkeit die Illusion herstellt, daß der Sprecher des Textes auch sein Autor ist. Das Zitat in der Rahel Varnhagen unterbricht aber eine Autobiographie, die so geschrieben wäre, wie sie die Protagonistin selbst erzählt hätte, und stellt so immer wieder aus, daß es nicht »Rahel« ist, die hier erzählt. Das Zitat läßt mehr als eine Stimme vernehmbar werden, hörbar werden immer (mindestens) zwei. Arendt selbst hat im Vorwort darauf hingewiesen, daß sich ihre Darstellung »naturgemäß einer anderen Sprache bedient und nicht nur in Variationen von Zitaten besteht« (RV 10). Auch unterscheidet sich die Lebensgeschichte von der »Montage aus narrativen, philosophischen, politischen und historischen Diskursen«, die Nordmann in ihr sieht.132 Zitat, Narration, philosophische und andere Diskurse stehen nicht einfach als verschiedene Modi nebeneinander. Es ist vielmehr die Narration, eine Geschichte mit Anfang und Ende, die das Buch rahmt. Im folgenden soll dem Spannungsverhältnis von rahmender Narration und die Linearität durchbrechendem Zitieren nachgegangen werden. Beide Momente verschränken sich auf exemplarische Weise in der Anfangspassage der Lebensgeschichte. Arendt beginnt ihre Geschichte von Rahel von deren Ende her, in einer Abschlußbewegung, die sie vor allem als Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin lesbar macht. Die ersten Worte der Biographie sind nahezu die letzten Worte »Rahels«, wie sie als Worte vom Totenbett durch ihren Ehemann Karl August überliefert sind: »›Welche Geschichte! – Eine aus Äypten und Palästina Geflüchtete bin ich hier und finde Hilfe, Liebe und Pflege von Euch! … Mit erhabenem Entzücken denk’ ich an diesen meinen Ursprung und diesen ganzen Zusammenhang des Geschickes, durch welches die ältesten Erinnerungen des Menschengeschlechts mit der 132

Nordmann: Hannah Arendt (Anm. 5), 33.

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neuesten Lage der Dinge, die weitesten Zeit- und Raumfernen verbunden sind. Was so lange Zeit meines Lebens mir die größte Schmach, das herbste Leid und Unglück war, eine Jüdin geboren zu sein, um keinen Preis möcht’ ich das jetzt missen‹« (RV 15). Obwohl Arendt so einerseits die Geschichte »Rahels« – scheinbar – von deren Ende her erzählt, scheint sie dennoch nicht darauf verzichten zu müssen, nicht mehr wissen zu wollen, als Rahel selbst gewußt haben kann – sie setzt das gewissermaßen letztmögliche ›Zitat‹ an den Anfang ihrer Geschichte. Der Ausgangspunkt der Geschichte, die Arendt erzählt, ergibt sich daraus, daß Rahel selbst ihr Jüdisch-Sein als Schicksal beschreibt, dem sie entkommen will: »›[I]ch kann Ihnen jedes Übel, jedes Unheil, jeden Verdruß, da herleiten‹« (RV 18). Der Anfangspunkt dieser Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik ergibt sich, dem Modell des Lebens als Geschichte entsprechend, aus der »›Schande‹« der »›infame[n] Geburt‹« (RV 205). Mit diesem Anfang ist der Beginn einer Geschichte gesetzt, die »Rahel« selbst nicht mehr verändern kann: »Man wird kein zweites Mal geboren.« (RV 204) Damit ist aber bereits eine Ausgangskonstellation für die zu erzählende, zu erlebende Geschichte vorausgesetzt, die durch keine Handlung »Rahels«, durch kein von ihr gesetztes Beginnen mehr eingeholt werden kann. Die Geburt, von der Arendt »Rahel« im Eingangszitat berichten läßt, entspricht gerade nicht der über die Kategorie der Natalität gewonnenen Einzigartigkeit, sondern situiert die Protagonistin in einer allgemeinen Geschichte des Judentums: »Eine aus Ägypten und Palästina Geflüchtete bin ich hier und finde Hilfe, Liebe und Pflege von Euch! … Mit erhabenem Entzücken denk’ ich an diesen meinen Ursprung«. Der Beginn der Lebensgeschichte Rahel Varnhagens ist nicht auf den 17. Mai 1771, auf ihr Geburtsdatum, zu datieren, sondern beginnt, wie Arendt wiederholt wiederholend festhält, »1700 Jahre vor ihrer Geburt« (RV 15). »Schwer mag es sein, seine eigene Geschichte zu kennen, wenn man 1771 in Berlin geboren wird und diese Geschichte schon 1700 Jahre früher in Jerusalem beginnt.« (Ebd.) »Rahel« ist Teil einer allgemeinen Geschichte, die immer wieder ihre Versuche, »eine Bestimmte zu werden« (RV 54), sich als singuläre Person zu konstituieren, unterläuft. Damit ist auch ein narratives Muster vorgegeben, das die antagonistische Spannung von Allgemeinheit (Judentum) und Besonderheit (»Rahel«? »Ich«?) in unterschiedlichen Szenarien durchspielt. Was Arendt im Hinblick auf die Liebesbeziehung zu Karl Finck von Finckenstein formuliert, erweist sich als wiederkehrende Struktur der gesamten Erzählung: »Ihr Leben drohte einen Augenblick einzumünden in ein persönlich differenziertes Geschick; Welt und Leben drohten bestimmt zu werden; sie schien eine kurze Zeit nicht mehr dem Allgemeinen ausgesetzt – um gleich wieder zurückzufallen auf die Stelle,

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an der ihr Leben nur der Schauplatz des Lebens ist und ihre Geschichte nur das, was mit ihr passiert.« (RV 55) Daß »Rahel« dieser Allgemeinheit existentiell ausgesetzt ist, verhindert die autobiographische Schilderung einer Einzigartigkeit, die sprechend und handelnd einen NeuAnfang setzen könnte. Ihre Geschichte fügt sich daher aus dem zusammen, »was mit ihr passiert«, ist die Geschichte einer Jüdin, die als solche immer auch exemplarischen Charakter hat. Als Gegenbeispiel zu dieser Art der Verstrickung ins Allgemeine führt Arendt einen Ausspruch Goethes an: »›Als ich achtzehn war, war Deutschland auch erst achtzehn.‹« (RV 16) Auch »Goethe« ist nicht ohne Bezug auf die ihn umgebende Geschichte, dieser Bezug äußert sich jedoch nicht als Beispielhaftigkeit. Goethe ist die allgemeine Geschichte seiner Zeit – die Goethezeit: »Ein einziges Mal durfte Entwicklung, natürlichste Entwicklung, einen das Leben tragenden Sinn, eine die Geschichte erhellende Bedeutung bekommen; einmal durften ›Werke‹ nichts sein als ›Bruchstücke einer großen Konfession‹, weil ihre Geschichte einmal und nie wieder zur Geschichte der deutschen Literatur wurde.« (RV 16) Goethe, in seiner absoluten Singularität, »einmal und nie wieder«, ist exemplarisch allenfalls für sich selbst – sein eigenes, einziges Beispiel und damit kein Beispiel mehr. Daher ist es nicht zufällig, daß »Rahel« als leidenschaftliche GoetheLeserin und -Verehrerin auf ihn zurückgreift, wenn es darum geht, aus den eigenen sich wiederholenden Zusammenstößen mit der Welt eine kohärente Geschichte zu formen: »Goethe verdankt sie es, wenn sie über die bloßen Resultate hinaus etwas Erzählbares in der Hand behält, was sich ihr sonst nur in Lebensweisheiten zersplittert hätte. Ohne ihn sähe sie ihr Leben nur von außen, in seiner gespenstischen Kontur. Sie könnte es nie in Zusammenhang bringen mit der Welt, der sie es erzählen muß.« (RV 112) Weil Goethe in der »Allgemeinheit des Dichterischen« (RV 113) ermöglicht, daß »Rahel« darin wiedererkennt, »was ihr im einzelnen begegnet« (RV 112), wird er der Maßstab der eigenen Individualität. Denn das Allgemeine in Goethe ist gerade nicht die Festlegung auf das Judentum, sondern die Öffnung auf das allgemein Menschliche. Aus »Rahels« spezifischer Konstellation ergibt sich eine Geschichte, die auf den allgemeinen Hintergrund des Jüdin-Seins immer wieder zurückverweist. Die historische Situation, die nach Arendt nicht die Möglichkeit bereit hält, sich als Jüdin in der Welt zu bewegen, läßt ihr nur die Möglichkeit, sich taufen zu lassen und einen Christen zu heiraten. Das Zusammentreffen von Welt und Rahel gestaltet sich in diesem besonderen Fall so, daß Rahel in der Welt nicht vorkommt. »Wenn man von der Welt so wenig vorgesehen ist wie Rahel, ist man nichts, weil man von

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außen gar nicht begrenzt ist« (RV 25). Die Geschichte, die Arendt nacherzählt, ist die Geschichte eines Versuchs, Teil der Welt zu werden. Arendt erzählt »Rahels« Leben in seiner chronologischen Reihenfolge in dreizehn Kapiteln, von denen jedes im Untertitel den Zeitraum angibt, den es umfaßt. Der jeweils behandelte Zeitabschnitt variiert zwischen 25 Jahren (Jüdin und Schlemihl. 1771-1795) und einem Jahr (z.B. Vorbei. Wie kann man weiterleben? 1799-1800). Eine zusammenfassende Paraphrase dieser Kapitel ist nahezu unmöglich – die Überschriften suggerieren die Schilderung eines Lebensablaufs; diese bildet aber nur das Gerüst der einzelnen Kapitel. Was tatsächlich passiert, wird zwar in einer chronologischen Abfolge erzählt, aber immer wieder durch Einschübe unterschiedlicher Art unterbrochen. Trotz seiner Orientierung an einer erzählbaren Geschichte schildert das Buch, so Nordmann, mehr und anderes als eine »Folge vergeblicher Assimilationsversuche«,133 weil sich zwar die Reihenfolge der Kapitel an die Chronologie des Lebens anschließt, die sich in einer Geschichte erzählen ließe, aber nicht in ihr aufgeht.134 Die wichtigen Lebensfakten werden eher lapidar, in äußerster Verkürzung erwähnt: »Rahel stammt aus dem Haus eines reich gewordenen Juwelenhändlers. […] Leider bleibt sie nicht reich.« (RV 17)135 Diese Fakten bilden nur den (mitgelieferten) Hintergrund, vor dem die Selbstreflexionen der Protagonistin einsetzen, auf die die Erzählung den Fokus richtet.136 Ausführlicher als die Familiengeschichte werden geistesgeschichtliche Zusammenhänge dann berücksichtigt, wenn sie die Frage jüdischer Assimilation betreffen. Das zweite Kapitel stellt eine ganze 133 134

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Ebd. Das einzige Kapitel, das bereits auf den ersten Blick aus der Orientierung an der Linearität der Lebensgeschichte herausfällt, ist das Kapitel Tag und Nacht. Im Gegensatz zu allen anderen ist es nicht datiert. Es ist nicht auf einen Zeitraum und ein Ereignis im Leben Rahels beschränkt, sondern thematisiert die widersprüchlichen Zeitordnungen von Traum und Wirklichkeit als Spannung von Wiederholung und Weiter: »Die Wiederholung, die sie aus ihrem Leben schon verbannt glaubte, als es ihr zur Geschichte wurde, treibt in der Nacht das alte Spiel« (RV 135). »Arendt beschreibt in diesem ersten Kapitel Rahels Leben zwischen 1771 und 1796. Sie gibt einen kurzen Einblick in Rahels Familienleben und ihre Kindheit«, schreibt Christophersen (»… es ist mit dem Leben etwas gemeint« (Anm. 19), 81) und erklärt damit zum Zentrum der Erzählung, was nur nebenbei gestreift oder gar nicht erwähnt wird. Von der Kindheit »Rahels« erfährt man tatsächlich so gut wie nichts. Für ihren weitgehenden Verzicht auf erläuternde Kontextualisierungen ist Arendt z.B. von Hermann Broch kritisiert worden: »Ich will nicht nur wissen, wer mit wem geschlafen hat, sondern will auch Adresse und Datum wissen. […] Man weiß nicht einmal, wie alt die Akteure (im wahrsten Wortsinn Akteure) sind, da Sie konsequent alle Jahreszahlen verschweigen.« (Hermann Broch an Hannah Arendt, 14.12.1947. In: Hannah Arendt, Hermann Broch: Briefwechsel 1946-1951. Hg. v. Paul Michael Lützeler. Frankfurt/M. 1996, 66.)

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Reihe solcher Assimilationsbestrebungen anhand einzelner Figuren vor: Moses Mendelssohn (RV 36), David Friedländer (RV 37), Henriette Herz (RV 39), Dorothea Schlegel (RV 40), Marianne und Sarah Meier (RV 40f.).137 Das Gemeinsame dieser Versuche, das Arendt als typisches Merkmal dieser Generation herausstellt, liegt in dem Mißverständnis, Assimilation als individuelles Problem zu fassen.138 Darin ist »Rahel« eine typische Vertreterin ihrer Generation. Ergänzt werden diese Kurzporträts durch im Text mit eigenen Überschriften gekennzeichnete Porträts von Friedrich Schleiermacher (RV 64f.), Friedrich Schlegel (RV 65ff.) und Wilhelm von Humboldt (RV 67ff.), die in die Geschichte eingefügt werden und sie dabei nahezu auflösen. Die integrierten Personen-Skizzen haben nicht nur die Funktion, den historischen Hintergrund zu präsentieren – Arendts Beschreibungen gehen in ihrer massiven Bewertung der geschilderten Personen darüber weit hinaus. »Rahel« wird durch ihre Funktion als Gastgeberin in der »Dachstube«, im Salon139 zu einem Knotenpunkt deutscher Geistesgeschichte, und dieser Knoten überträgt sich in die Erzählung, die sich an einzelnen Stellen auf eine Weise verdichtet, daß sich der rote Faden der Ereignisse verliert. In den späteren Kapiteln tritt dieses Verfahren in den Hintergrund und wird zunehmend durch ausführliche Zitate Rahel Varnhagens ersetzt, die auch schon in den ersten Kapiteln zu finden sind. Die Geschichte wird so zwar weiter entlang der Chronologie geschildert, aber immer wieder mit Rahels eigenen nachträglichen Erzählungen der Erlebnisse, mit Auszügen aus ihren Briefen kommentiert und durchbrochen. Die chronologische Ordnung, die die Kapitelüberschriften suggerieren, wird durch die Zitate, durch die Vor- und Nacherzählungen Rahels, immer schon durchkreuzt, zumal diese oftmals nicht nach dem Kriterium der Chronologie ausgewählt sind, sondern zum Teil späteren Briefen oder Notizen entnommen wurden. Jedes Kapitel ist mit Zitaten durchsetzt, die das Erlebte nacherzählen. Damit realisiert sich in den Zitierverfahren der Rahel Varnhagen eine a-chronistische Struktur des Zitats, die Arendt in einem Porträt Walter Benjamins ausführlich beschrieben hat: Die wörtliche Wiederholung im Zitat steht durch seine »gespenstische Kraft, sich

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Vgl. Hahn: Die Jüdin Pallas Athene (Anm. 14). »Was an die Stelle der persönlichen Waffen und Unternehmungen treten könnte, ein politischer Kampf um gleiche Rechte, ist dieser Generation […] völlig unbekannt. Juden wollen nicht einmal als Gesamtheit emanzipiert werden, nur aus dem Judentum heraus; wenn es irgend geht als einzelne, heimlich und verschwiegen das lösen, was sie für ein persönliches Problem, ein persönliches Unglück halten.« (RV 18) Für eine kritische Analyse des »idyllische[n], fast biedermeierliche[n] Bildes« des jüdischen Salons und einen ebenso kritischen Forschungsüberblick vgl. Barbara Hahn: Der Mythos vom Salon. In: Dies.: Die Jüdin Pallas Athene (Anm. 14), 75-98.

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stückweise in der Gegenwart anzusiedeln«,140 der Wiederholung einer ganzen, vollständigen und abgeschlossenen Geschichte immer wieder im Weg. Das Zitat trägt gespenstische Züge, als Wiederholung ist es Wiedergänger, Revenant, Gespenst.141 Insofern es in der Autobiographie der Anderen auf das Gespenstische des Zitats setzt, verhindert diese Art des Ghostwriting, daß sich die Lebensgeschichte zu einer Geschichte mit Anfang und Ende schließt. Das kann man mit Jaspers als Stilfehler bemängeln: »Diese Darstellung läßt Rahel einerseits in zerstreute Erlebnisse sich aufteilen, andererseits alles unter den einen Punkt des Judeseins zwingen.«142 Man kann es aber auch mit Meyer zu einem Ansatzpunkt einer Autobiographie der Schrift machen, in der die Autobiographie »nicht aus sich selbst heraus besteht, sondern alle Zusammenhänge aufrechtzuerhalten sucht, die sie aber nicht einschließen können, wenn sie sich der Vielfalt der Möglichkeiten verschreibt«.143 Ohne einen vorangestellten, einführenden Kommentar beginnt Arendt die Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik unter der Überschrift Jüdin und Schlemihl mit einem Zitat, das den Rahmen der Geschichte absteckt, die im folgenden zu erzählen sein wird. Indem Arendt ihre Erzählung mit den Worten »Rahels« beginnen läßt, markiert sie noch einmal ihren Anspruch, Rahel sprechen zu lassen, bevor der eigene Text, die erzählte Geschichte einsetzt. Sie läßt sich von Rahel diktieren, unter welches Motto die Lebensgeschichte gestellt wird, um welche Geschichte es dabei geht, nämlich um die Geschichte einer Jüdin: »›Welche Geschichte! – Eine aus Ägypten und Palästina Geflüchtete bin ich hier […]‹« (RV 15). Am Anfang der Rahel Varnhagen steht damit jedoch ein Zitat, dessen Quelle fragwürdig ist. Karl August Varnhagen berichtet von diesen Worten seiner Frau, die sie kurz vor ihrem Tod geäußert haben soll. Fünf Tage vor ihrem Tod notiert Karl August »unmit-

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Hannah Arendt: Walter Benjamin, in: Dies.: Menschen in finsteren Zeiten (Anm. 50), 185-242, hier 229. Aus dem Kontext gerissen fällt das obige Zitat selbst unter die Beschreibung, die es liefert. Zum Kontext, aus dem es stammt, vgl. ebd. und Bettine Menke: Das Nach-Leben im Zitat. Benjamins Gedächtnis der Texte. In: Anselm Haverkamp, Renate Lachmann (Hg.): Gedächtniskunst: Raum – Bild – Schrift. Studien zur Mnemotechnik. Frankfurt/M. 1991, 74-110. Vgl. auch Julian Wolfreys: Der Spuk der Zitate: »…eine Serie von Kontiguitäten …«. In: Volker Pantenburg, Nils Plath (Hg.): Anführen – Vorführen – Aufführen. Texte zum Zitieren. Bielefeld 2002, 163-175. Karl Jaspers an Hannah Arendt, 23.8. 1952. In: Arendt, Jaspers: Briefwechsel (Anm. 4), 230. Jaspers sieht die Spannung, die das Buch aufmacht, rät aber zu ihrer Auflösung zugunsten der Geschichte: »Äußerlich ist, wie mir scheint, ein Mangel, daß viel Wiederholung ist. Das Ganze könnte zugunsten des schon durchgeführten dramatischen Aufbaus verdichtet werden« (ebd., 228). Eva Meyer: Was heißt biographisches Denken (Anm. 26), 44f.

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telbar und genau, wie sie von Rahel gesprochen waren,«144 die Sätze, die Arendt an den Beginn ihrer Lebensgeschichte stellt. Viel dringlicher als zu klären, ob es sich dabei um ein »Bekenntnis« zum Judentum handelt,145 ist hier allerdings die Frage, ob diese Sätze überhaupt zitierfähig sind. Sind sie signiert? Von wem? Wer autorisiert diese Äußerung? »Gibt es mündliche Autorschaft?« fragt etwa Erhard Schüttpelz/Sartor Resartus: »Bis heute wird sie dem Verschriftlicher, dem Herausgeber zugesprochen, oder sie wird bei Einverständnis der Verschriftlichung geteilt, z.B. im Interview.«146 Der Ghostwriter hat sich als ein Verfasser gezeigt, auf dessen Kosten ein Fall mündlicher Autorschaft, d.h. die Autorschaft des Repräsentanten, möglich wird. Trifft man an dieser Stelle in Gestalt von Karl August Varnhagen auf einen Ghostwriter? Oder hat er nur das Diktat aufgenommen? Der unsichere Status dieses einen Zitats markiert die versteckte Problematik aller Zitate und stellt die Frage nach ihrer Autorschaft; auf die Unzuverlässigkeit der Quelle, die sich im wesentlichen als Abschrift gezeigt hat, wurde bereits hingewiesen. Von dem Generalverdacht der Verfälschung, den Arendt gegen Karl August Varnhagen äußert, sind grundsätzlich alle Zitate »Rahels« betroffen, auch wenn sie in der Lebensgeschichte gewissermaßen mit dem Zusatz der Autorisierung durch Arendts Archiv-Lektüre versehen werden. Der permanente Rückgriff auf die Zitate zeigt sich als ein Versuch, den eigenen Text durch »Rahel« autorisieren zu lassen, sie letztlich als Signierende einzusetzen oder die eigene Erzählung gegenzeichnen zu lassen. Aus der Fokussierung auf die Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin ergibt sich eine Auswahl der Zitate, die immer wieder um das Problem der Assimilierung kreisen. Der Text Arendts schneidet aus, wählt aus dem ungeheuren Umfang des Ar144 145

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August Varnhagen: Rahels letzte Jahre. In: Varnhagen: Briefwechsel (Anm. 60), Bd. IV, 363-380, hier 375. An den Stellen, an denen die Äußerung als Zitat Rahel Varnhagens rezipiert wurde, ist sie im Hinblick auf die Frage eines Bekenntnisses verhandelt worden. Feilchenfeldt wertet es als »Bekenntnis zum Judentum« (Konrad Feilchenfeldt: Rahel Varnhagens Ruhm und Nachruhm. In: Rahel Varnhagen: Gesammelte Werke. Bd. X. Hg. v. dems., Uwe Schweikert, Rahel E. Steiner. München 1983, 128-178, hier 154.); Heinrich Schnee wendet es polemisch gegen Arendt als »Bekenntnis« zum Christentum (»Buchbesprechung«, in: Historisches Jahrbuch 80 (1961), 458-459, hier 459). Die Uneinigkeit spiegelt die Ambivalenz der Äußerung, insofern diese zwar im weiteren Verlauf von christlicher Metaphorik durchzogen ist, aber nicht von »Christus« sondern ausschließlich von »Jesus« spricht (vgl. Varnhagen: Rahels letzte Jahre (Anm. 144), 375f.). Fraglich scheint jedoch vor allem das gemeinsame Interesse beider Interpreten, Rahel auf ein abschließendes Bekenntnis festzulegen, zumal das Glaubensbekenntnis eine christliche Institution ist. Erhard Schüttpelz: Sartor Resartus. / Sartor Resartus: Zitierfähigkeit. Ein philologisches Kompendium. In: Pantenburg, Plath (Hg.): Anführen – Vorführen – Aufführen. (Anm. 141), 89-104, hier 96.

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chivs nach bestimmten Kriterien aus und stellt eine Konzentration her, die in der Figur der »Rahel« als Paria mündet. Zitieren heißt in diesem Fall – wie immer: nicht alles abschreiben. Der Verdacht, den Arendt gegen Karl August Varnhagen richtet, betrifft daher auch die eigene Arbeit. Die Innenperspektive, die Arendts Text vermeintlich einnimmt, ersetzt nur ein bestehendes »Rahel«-Bild durch ein anderes, erzählt eine anders zugeschnittene Geschichte. Durch Arendts Zitier- und Erzählverfahren werden verschiedene Formen des Ghostwriting distanziert. Dies gilt sowohl für das traditionelle Konzept des Ghostwriting, das allein schon durch die Einfügung von Zitaten diskreditiert wird. Arendts Darstellung unterläuft die Rhetorik der einheitlichen Stimme, des einheitlichen Stils, indem sie den ›eigenen‹ Text durch Zitate unterbrechen läßt. Dies gilt aber auch für die spezifische Form des dämonischen Ghostwriting, in dem die Autobiographie einer Person, das ›Wer‹ dieser Person nur im Nachhinein von jemand anderem erzählt werden kann. Es sind eben die zitierten Sätze selbst, in denen sich – unfreiwillig, d.h. unabhängig von der Zitierenden147 und der Zitierten – die Person ausspricht, aber damit genau die kohärente Geschichte auseinanderfällt, die vorgeblich zu erzählen ist. Im Vorwort entwickelt Arendt das Projekt eines Ghostwriting, das einen Anspruch auf eine mögliche Authentizität formuliert: »Rahel« soll als Signierende eingesetzt werden. Der Text der Rahel Varnhagen gibt jedoch zu lesen, daß diese Signatur unmöglich eingelöst werden kann. Aufgrund seiner Verfahrensweise läßt sich aber auch Arendt nicht mehr als Signierende einsetzen, d.h. als diejenige, die den Text abschließen kann. Weder geht es darum, hinter Rahels Rücken für sie, an ihrer Stelle, zu signieren, noch darum, die Fiktion zu inszenieren, sie spräche ununterbrochen selbst. Die Signatur bleibt gespenstisch. Die Stärke des Textes besteht darin, daß er sich – ohne das Paradox aufzulösen – an einer unmöglichen Aufgabe versucht, und dabei am Ende keine Signatur etabliert, aber die Besonderheit dieser Un-Möglichkeit ausstellt. Diese Besonderheit ist an den jüdischen Namen gekoppelt, den zum Vorschein zu bringen das erklärte Ziel der Rahel Varnhagen ist. Eine Jüdin zu sein, äußert sich in der Namenlosigkeit, die von Arendt pointiert herausgestellt wird. Die Unmöglichkeit der persönlichen Signatur unterscheidet den Versuch einer Autobiographie »Rahels« von derjenigen Goethes. Im Falle Goethes erzählt sich ein ›wer‹ in der Autobiogra-

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Dieses Verfahren erlaubt dann auch, mit den Zitaten aus Rahels Briefen, die in der Erzählung Arendts auftauchen, gegen Arendt zu argumentieren (vgl. Deborah Hertz: Hannah Arendt’s Rahel Varnhagen. In: John C. Fout (Hg.): German Women in the Nineteenth Century. A Social History. New York, London 1984, 72-87, hier 87).

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phie einer einzigartigen Person seine eigene Signatur, die fortan bemüht wird, ein ganzes Werk zusammenzuhalten. Dieser Schachzug ist für den jüdischen Namen unmöglich: An dieser Stelle setzt Ghostwriting ein, als ein Phänomen, in der die eigene, singuläre Signatur immer schon auf einen allgemeinen – hier: jüdischen – Kontext verweist. »Ich darf in diesem Zusammenhang nicht verschweigen, daß ich lange Jahre hindurch auf die Frage: Wer bist du? die Antwort: Ein Jude, für die einzig adäquate gehalten habe, nämlich für die einzige, die der Realität des Verfolgtseins Rechnung trug. Ich hätte sicher eine Haltung, die im Sinne – nicht im Wortlaut – des Nathan auf die Aufforderung: ›Tritt näher, Jude!‹ mit einem: Ich bin ein Mensch, antwortet, für ein groteskes und gefährliches Ausweichen vor der Wirklichkeit gehalten.«148 Damit, so stellt Arendt nachdrücklich fest, ist keine »geschichtlich belastete oder ausgezeichnete Realität« festgestellt, keine Aussage über eine Wesenheit des Jüdisch-Seins getroffen, sondern »nichts als die schlichte Anerkennung einer politischen Gegenwart« formuliert. Eine Gegenwart, »die eine Zugehörigkeit diktiert hatte, in welcher gerade die Frage der personalen Identität im Sinne des Anonymen, des Namenlosen mitentschieden war«.149 Von diesem Diktat, das die eigene Signatur in den Sog der Namenlosigkeit zieht, sind all diejenigen betroffen, die auf die Frage »Wer bist Du?« nicht unumwunden mit »ein Mensch« antworten können, d.h. alle diejenigen, deren »Zugehörigkeit zu dieser [oder jener – möchte man ergänzen, H.V.] Gruppe alle anderen Fragen der personalen Identität überlagert[]«.150 Die »Zugehörigkeit zu einer Gruppe« formiert sich nicht als Identität oder Identifizierung, sondern als Anerkennung der Tatsache, daß es eine »Wirklichkeit« gibt, daß es Andere gibt, die gegen-zeichnen und so die Einzigartigkeit der ›eigenen‹ Signatur von der Signierenden ablösen. Arendt selbst hat sich aus diesem Grund dafür entschieden, als Autorin an ihrem Mädchennamen festzuhalten. Dies hat sie in einem Brief an Karl Jaspers begründet: »Den Namen können wir gern beim alten lassen; das ist hier in Amerika durchaus üblich, wenn die Frau selbst arbeitet, und ich habe mich aus Konservatismus (und auch weil ich im Namen als

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Hannah Arendt: Gedanken zu Lessing. Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten. In: Dies.: Menschen in finsteren Zeiten (Anm. 50), 17-48, hier 33. Ebd., 34. Dieser Zusatz erläutert in der englischen Fassung von Men in Dark Times die Kategorie der Namenlosigkeit (zitiert nach: Arendt: Menschen in finsteren Zeiten (Anm. 50), 342), die auf das Problem weiblicher Individualität verweist. »Sie« kann sich nicht als Repräsentantin des allgemein Menschlichen einsetzen, sondern nur für das besondere Allgemeine einer »Gruppe« stehen (vgl. Kapitel I.3).

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Jüdin erkenntlich bleiben wollte) gerne an diesen Brauch gehalten.«151 »Rahels« Entscheidung zum Namenswechsel, d.h. die Taufe,152 beschreibt Arendt als Ergebnis einer anderen historischen Konstellation, einer anderen historischen Wirklichkeit, aufgrund derer er anders zu bewerten sei: »Sich taufen zu lassen und zu sagen, man hätte lieber silberne Löffel gestohlen, das war erheblich mehr, als sich nicht taufen zu lassen. Das war wirklich vorurteilsfrei, souverän, das einzig Mögliche.«153 Für die Frage, unter welchem Namen man spricht, in wessen Namen man sich äußert, gibt es keine allgemeine Lösung, weil der Name nie nur ein singulärer sein kann. Anstatt die Lebensgeschichte in einer abschließenden Signatur zu einem Ende zu bringen, zeigt ihr Darstellungsverfahren, warum in diesem besonderen Fall nicht signiert werden kann.

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153

Hannah Arendt an Karl Jaspers, 29.1.1946. In: Arendt, Jaspers: Briefwechsel (Anm. 4), 65. »Sie entschließt sich, dem Beispiel ihres Bruders Ludwig zu folgen und sich Rahel Robert zu nennen. (Den gleichen Namen nehmen alle ihre Brüder an, als sie sich taufen lassen.) Das ist im Jahr 1810, vier Jahre, bevor sie sich zur Taufe entschließt und ihren Vornamen dem Brauch der Zeit gemäß in Friederike umtauscht. Nicht Rahel Levin, Friederike Robert – wie ein Zauberwort wird der neue Name ihr helfen, ein Mensch unter Menschen zu werden.« (RV 117) Hannah Arendt an Kurt Blumenfeld, 10.8.1959. Zitiert nach: Christophersen: »… es ist mit dem Leben etwas gemeint« (Anm. 19), 148.

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SCHLUSSBEMER KUNGEN Bei dem Versuch, die Autobiographie als eine literarische Gattung zu definieren, hat sich die literaturwissenschaftliche Diskussion immer wieder mit der Auflösung ihres Gegenstandes auseinandersetzen müssen. Die Autobiographie scheint vor allem als ein ambivalentes Genre beschreibbar, das zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Erinnerung und Erfindung, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Leben und Text changiert. Das vorliegende Buch hat seinen Fokus auf die Aufspaltung des autobiographischen Subjekts in den Schreibenden und den Beschriebenen gerichtet und mit der Figur des ›Ghostwriters‹ ein Modell entwikkelt, mit dem die Frage der Referentialität des autobiographischen Texts über eine zeichentheoretische Problemstellung hinaus literaturtheoretisch, urheberrechtlich und narratologisch reformulierbar wird. In den vier Kapiteln wurde der genannte Komplex in unterschiedlichen Texten und Hinsichten verfolgt. Das erste Kapitel entwickelt die Fragestellung des Buches in der Lektüre prominenter Texte der autobiographischen Forschungsliteratur. Überraschenderweise setzt eine neue Konjunktur des Themas ›Autobiographie‹ gleichzeitig mit der Rede von ihrem ›Ende‹ ein. Das Ende der Autobiographie steht daher am Anfang dieses Buches – ein immer wieder angekündigtes, sich wiederholendes Ende, das offenbar zu keinem Schluß kommen kann. Je nach theoretischer oder literaturhistorischer Begründung eines ›Endes‹ der Autobiographie äußert es sich als Warnung vor einer drohenden Gefahr oder als Abgesang auf eine Hochzeit bürgerlicher Individualität, mit deren Verlust auch die Autobiographie ihr Fundament verliere. Nicht zufällig greift die wissenschaftliche Diskussion in diesem Zusammenhang auf die Figur des Gespenstes oder des TotLebendigen zurück, um die konstatierte Auflösung, Aufspaltung, den Verlust oder das Ende metaphorisch zu fassen. Mit Paul de Man werden diese Versuche als rhetorische Funktionsweise der Autobiographie selbst lesbar, als Effekte der Prosopopöie, ihrer basalen Trope. Autobiographie ist demnach nicht mehr positiv zu bestimmen als eine Gattung, wie es James Olney fordert, aber auch nicht negativ als der Ort, an dem das

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Subjekt oder der Autor gestorben ist. Wenn die Autobiographie eine ›Figur des Lesens oder Verstehens‹ (de Man) sein soll, ist die in der Forschung formulierte Problematik der Aufspaltung des Selbst die konstitutive Operation des Autobiographischen – aber auch deren nicht stillstellbare Unruhe. Das Subjekt der Autobiographie ist somit ein (mindestens) doppeltes. Gegen die gängige Einordnung von Philippe Lejeunes Konzept des ›autobiographischen Pakts‹ als Gegenposition zu de Man spricht ihr gemeinsamer Ansatzpunkt: Beide, de Man wie Lejeune, analysieren die Autobiographie ausgehend von der Lektüre, die einmal als figürliche Operation (de Man), einmal als vertragliche Vereinbarung (Lejeune) gefaßt wird. Während de Man den Lektüreprozess im Kern der Autobiographie als Selbstverhältnis des Autors situiert, zielt Lejeunes Entwurf mit dem Pakt auf die Stillstellung, Fixierung und referentielle Absicherung des Textes durch die paratextuelle Signatur im Gegenüber von Autor und Leser. Seine Reformulierung der autobiographischen Aporie als referentielle Struktur eröffnet zugleich die Möglichkeit, mit der Signatur die Stelle präzise zu bezeichnen, an der diese Absicherung mißlingen kann: am Rand der Autobiographie, auf ihrer Titelseite, befindet sie sich zugleich innerhalb wie außerhalb des Textes. Am Rand des Textes ist die Signatur ein Teil des Textes, den sie signiert, in ihrer referentiellen Funktion verweist sie aber zugleich auf ein außerhalb, auf die ›Wirklichkeit‹. Sie ist weniger Grenzlinie als Übergangszone zwischen Leben und Text, zwischen innen und außen, zwischen dem Autornamen und dem Namen des Protagonisten. Die Signatur der Autobiographie, so ließ sich mit und gegen Lejeune zeigen, kann immer falsch sein, die Referenz fehlschlagen. Der Schreiber des Textes ist nicht notwendig die auf dem Titelblatt genannte Person, sondern potentiell immer Ghostwriter. Mit der Signatur als Namensnennung etabliert Lejeune ein Kriterium der Gattungsdefinition, das ein bestimmtes Geschlecht der Autobiographie präfiguriert – insofern zumindest in der westlichen Tradition nur der Name eines Mannes in der Lage ist, die Spanne eines gesamten Lebens zu umfassen. In der literaturwissenschaftlichen Diskussion um eine allgemeine Definition der ›Gattung‹ Autobiographie tauchen exemplarische Lektüren von Texten von Autorinnen nur als Ausnahme auf. Die Aporie der Aufspaltung formulierte sich als Aufspaltung in der ersten Person, für die das Geschlecht zumindest forschungsgeschichtlich keine Rolle zu spielen schien. Als Autorin mit einem ›Mädchennamen‹ ist sie strukturell in der Position des Ghostwriters. Ihre Abwesenheit vom Forschungskanon läßt sich daher nicht einfach in die Anwesenheit einer ›weiblichen Tradition‹ umwandeln.

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Das zweite Kapitel konturiert die Figur des Ghostwriters in Auseinandersetzung mit literaturwissenschaftlichen Diskussionen und urheberrechtlichen Untersuchungen. Bisherige Forschungen zum Thema Ghostwriter haben erste Abgrenzungen der Figur zu benachbarten Phänomenen wie Pseudonym, Fälscher, Autorenkollektiv und Diktat vorgenommen, den engen Zusammenhang von Autorschaft und Ghostwriting jedoch vernachlässigt. Die vorliegende Studie konzipiert den Ghostwriter als unheimlichen Doppelgänger des Autors und zeigt, daß er ohne Bezug auf den Autor weder historisch noch systematisch zu verstehen ist. Historisch dient der Ghostwriter in der frühen Formulierung des Urheberrechts als Negativ-Folie für die Definition des Autors: Autor, und damit Besitzer geistigen Eigentums, ist, wer nicht im Auftrag eines Anderen gegen Bezahlung schreibt. Der Ghostwriter ist am Übergang von Mündlichkeit und Schriftlichkeit situiert, insofern sich in seiner Schreibweise die Stimme eines Anderen, die Stimme eines Repräsentanten oder Auftraggebers konstituiert. Der Ghostwriter etabliert eine Stimme, die ›ich‹ sagt, Autor hingegen ist derjenige, dem unterstellt und auferlegt wird, mit eigener Stimme zu sprechen. Der Ghostwriter bleibt unsichtbar, der Autor tritt in Erscheinung. Der Autor signiert ein Werk, der Ghostwriter verzichtet auf seine Signatur zugunsten eines anderen. Die ›Regeln der Autor-Konstruktion‹ (Michel Foucault) erfüllt der Ghostwriter, indem er einer Authentizitätsfiktion zuarbeitet, die die Spuren seiner Arbeit verschwinden läßt. Im Falle weiblicher Autorschaft läßt sich historisch eine Annäherung von Autorin und Ghostwriter beobachten, die sich im literarischen Diskurs wiederholt als Aberkennung weiblicher Autorschaft und auf der Seite der Autorinnen als Praxis einer anonymisierenden Pseudonymität ausgeprägt hat. Insofern er an einen anderen gebunden ist und unter dessen Namen schreibt, stellt der Ghostwriter Grundannahmen des Urheberrechts in Frage: Mit ihm trennt sich die enge Verbindung von Schöpfer und Werk, Geist und Schrift, denn es ist der ›Geist‹ eines anderen, den er als unsichtbarer ›Ghost‹ zur Erscheinung bringen soll. Zielt das Urheberrecht auf den Schutz des Eigentums am Geist und sichert ihn durch das Signierungsrecht des Autors, so verzichtet der Ghostwriter auf die Nennung seines Namens und ermöglicht mit der Gestattungsabrede die Belegung seines ›Werks‹ durch einen anderen. Das ›Werk‹ erscheint so nicht mehr als natürliches ›Kind‹ eines Vaters, das natürliche Band zwischen Schöpfer und Geschöpf löst sich auf – und damit auch die Basisannahme des Urheberrechts. Der Ghostwriter ist nicht nur das Medium einer Aufzeichnung, vielmehr erzeugt er eine autorlose Textstimme – hier liegt die Verbindung zur Aufspaltung des autobiographischen Subjekts. Lejeunes Einsetzen

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der Signatur als Garantin der Idenität reagiert auf die Unsicherheit der ›Ich‹-Referentialität im schriftlichen Diskurs. Unsicher ist sie aber bereits in der Rede, in der Aufspaltung in das sujet d’énonciation und das sujet d’énoncé. Sie kann auch durch eine Signatur nicht abgesichert werden, deren Iterabilität die grundsätzliche Ablösbarkeit des ›ich von Sprecher und Autor impliziert. Ghostwriting ist daher nicht mehr als abweichende Form der Autorschaft zu verstehen, vielmehr erscheint die Autorsignatur als ein Versuch der Rückgewinnung der immer schon verlorenen Autorität über das eigene Sprechen und Schreiben. Darin besteht der autobiographische Spuk, der im Ghostwriting virulent wird. Im Gegensatz zu weiten Teilen der Forschungsliteratur hat die moderne Autobiographik den ›Spuk‹ zum Ausgangspunkt ihrer Texte gemacht. The Autobiography of Alice B. Toklas inszeniert ihn als Spiel mit den Fragen Wer schreibt? und Wer spricht? Statt an der Identifizierung und Identitätssicherung eines autobiographischen Subjekts arbeitet sie an dessen Verdopplung. Die Autobiography erzählt eine zweifache Autobiographie, eine Autobiographie des Paares, die sie narrativ als Doppelstimme inszeniert. Insbesondere die frühe Rezeptionsgeschichte ist von der Frage des Verhältnisses von Autor- und Erzählstimme irritiert – provoziert durch den Verzicht auf die Autornennung in der ersten Buchausgabe der Autobiography. Die inszenierte Mündlichkeit des Textes, die sich als Erzählen im Aufschub beschreiben läßt, das die Zeitlichkeit von histoire und discours ineinanderblendet, spielt mit der Differenz von Schreib- und narrativer Instanz. Eine Identifizierung von Autorin und Erzählerin wird so gleichzeitig nahegelegt und verhindert. Damit arbeitet der Text zugleich an der Differenz von faktualem und fiktionalem Diskurs. Die Erzählerin Alice B. Toklas tritt im Text als Augen- und Ohrenzeugin auf, als Augenzeugin berichtet sie von ihren Erlebnissen, als Ohrenzeugin wird sie zu einer Erzählerin aus zweiter Hand. Der Text wird so zur Bühne weiterer Erzählstimmen, die Autobiography entwickelt einen Modus des Erzählens zweiter Ordnung – Erzählung als Wiederholung. Damit bleibt die Möglichkeit erhalten, daß es sich bei Alice B. Toklas auch um die Autorin des Textes handeln könnte. Die Autobiography bringt diese Möglichkeit explizit ins Spiel. Aus seinen narrativen Verfahren, so wurde gezeigt, kann jedoch keine Aussage über die Autorschaft des Textes abgeleitet werden. Autorschaft wird jedoch ausführlich auf der Ebene der histoire verhandelt, der Text zeigt die Herstellung der Autorin Gertrude Stein – angefangen mit einer ironischen Zitation konventioneller Muster der Autorbiographie in den ihr gewidmeten Kapiteln bis zur Präsentation der

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ersten von Toklas im Selbstverlag publizierten Bücher in Pariser Schaufenstern. Diese Beschäftigung mit der Autorschaft kulminiert auf den letzten Seiten der Autobiography, die eine abschließende Antwort auf die Autorschaftsfrage des Buches zu geben scheinen. In einem close reading hat sich jedoch auch diese Antwort als eine weitere narrative Finte erwiesen, die den Leser zurück an den Anfang des Textes verweist. Die behauptete Signatur am Ende des Textes entzieht sich in einem Changieren zwischen Setzung und Aussetzung, so daß beide, Alice B. Toklas und Gertrude Stein, als Ghostwriter in Betracht kommen. Hannah Arendt hat mit und in der Lebensgeschichte ein anderes Projekt autobiographischen Erzählens entworfen. Die Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik ist gleichermaßen von der Darstellung der Identitätsproblematik Rahel Varnhagens wie von der Frage der Darstellbarkeit eines Lebens geprägt. Arendt macht Rahel Varnhagens Perspektive und Stimme, ihr Selbstverhältnis, das sich in ihren Briefen als unausgesetzte Selbstbeobachtung zeigt, zum Maßstab der eigenen Darstellung und situiert sich so als Ghostwriter einer ungeschriebenen Autobiographie Rahel Varnhagens – das Projekt zielt zunächst auf die Verlebendigung der Toten. Es nutzt das Zitat als Möglichkeit der Autorisierung der eigenen Rede. Die Lebensgeschichte beinhaltet aber zugleich eine Meta-Reflexion, insofern ihr Gegenstand nicht nur die Person, sondern auch deren Selbstbeschreibung zu ihrem Gegenstand erklärt. Dieses Projekt wird jedoch von einem anderen narrativen Modell überlagert: In den anthropologischen Grundlagen der politischen Theorie der Vita Activa ist eine Theorie biographischen Erzählens mitformuliert, die mit dem Programm der Lebensgeschichte konfligiert. Die Autobiographie, so läßt sich aus der Vita Activa ableiten, ist dem Betroffenen wesentlich unverfügbar. Eine Antwort auf die augustinische Frage ›Wer bist Du?‹ gibt nicht die gefragte Person, eine Antwort äußert sich vielmehr in deren Sprechen und Handeln unwillkürlich mit. Diese spezifische Einzigartigkeit des Menschen verbirgt sich als daimon hinter dessen Rücken. Die Lebensgeschichte, so Arendt in der Vita Activa, ist daher dem Betroffenen selbst unverfügbar, sie kann erst im Nachhinein durch einen Dritten erzählt werden, der die Geschichte als kohärentes Muster überblickt. Als diesen Dritten setzt sich Arendt selbst ein, unter der letztlich unerfüllbaren Bedingung, die lebende Rahel Varnhagen als Tote zum Sprechen zu bringen. Die paradoxe Voraussetzung, aus Rahel Varnhagens Perspektive erzählen zu wollen, und dabei gleichzeitig die Lebensgeschichte so zu erzählen, wie diese sie gerade nicht hätte erzählen können, setzt sich im Text in ein spannungsreiches Verfahren um, das Zitieren und Erzählen

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kombiniert, aber nicht integriert: Die chronologische Ordnung der Geschichte wird durch die A-Chronie des Zitats gestört. Darin weicht die Lebensgeschichte von einer konventionellen Form des Ghostwriting ab, das auf eine homogene Einstimmigkeit zielt. Die Lebensgeschichte Rahel Varnhagens mit deren überlieferten ›letzten Worten‹ zu eröffnen, wird als Versuch erkennbar, den Konflikt von Zitieren und Erzählen aufzulösen. Das Scheitern dieser Lösung führt die Aporien autobiographischen Erzählens vor Augen. Das dritte und vierte Kapitel nutzen die zuvor gewonnenen Einsichten für die Lektüre der Autobiography of Alice B. Toklas und der Rahel Varnhagen. Dabei geht es nicht um die Anwendung theoretischer Modelle, sondern um die Adressierung der generierten Fragen an (auto-)biographische Texte. Das Konzept des Ghostwriting wird als Ausgangspunkt genutzt, um die Texte auf ihre narrativen Verfahren und das in ihnen enthaltene Wissen um die Autorschafts- und Identitätsthematik hin zu beobachten. Autobiography und Lebensgeschichte unter dem Blickwinkel des Ghostwriting zu lesen, bedeutet, einen Aspekt in den Vordergrund zu stellen, den sie selbst nicht durchgängig privilegieren, den sie aber verhandeln und ausagieren. Wenn die Texte auf diese Weise als Beiträge zu einer Problemstellung gelesen werden, produziert die Lektüre eine Antwort, die nicht eine Rekonstruktion der Intention der ›Autorinnen‹ sein kann oder will. In der Autobiography wie in der Lebensgeschichte kommt es gegenüber den eher theoretisch ausgerichteten Texten zu Verschiebungen und Neu-Inszenierungen des Verhältnisses von Ghostwriting und Autobiographie. Die spielerische Inszenierung der varriierenden Erzählstimmen in der Autobiography lotet die narratologische Unterscheidung von Erzähler und Autor aus und karikiert ihre Funktion für die Gattung der Autobiographie, indem sie die ›wife/genius‹-Konstellation ironisch zitiert. Die Autobiography verzichtet auf eine abschließende Signatur, die die Nicht-Identität von Autorin, Erzählerin und Protagonistin explizieren würde – am Ende offenbart sich keine Autorin, sondern verbergen sich Ghostwriter. In der Lebensgeschichte setzt sich Arendt als ein Ghostwriter ein, der auf den Horizont der Person und auf die erst nach dem Tod erzählbare Geschichte verpflichtet wird. Der Problemhorizont der Lebensgeschichte ist weniger literarischer Natur, als durch die schwierige Identitätsbildung einer deutschen Jüdin in der Romantik zwischen Assimilation und Antisemitismus bestimmt. Schon die Geschichte der Protagonistin wird nicht durch einen Namen zusammengehalten, sie zeigt sich als eine Abfolge von Namenswechseln, die bei ›Rahel Levin‹ beginnen und bei ›Antonie Friederike Varnhagen von Ense‹ enden. Namensidenti-

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tät ist hier schon auf der Ebene von Modell und Protagonistin zum Problem geworden, nicht erst im Abgleich mit der Signatur. Ghostwriting sollte daher als eine variable Konstellation verstanden werden, als Schreib- und Lektüremodus, der das Verhältnis von Stimme und Schrift, Erzählen und Zitieren, Verfasser und Figur, Name und Signatur, Leben und Tod in (auto-)biographischen Texten inszeniert und befragt.

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A NMERKUNGEN

ZUR

Z ITIERWEISE

Soweit nicht anders vermerkt, sind alle Hervorhebungen in Zitaten von den Autoren übernommen; meine eigenen Hervorhebungen werden als solche markiert. Griechische Begriffe bzw. griechische Zitate, die in Arendts Texten nicht übersetzt werden, werden in lateinischer Umschrift bzw. in deutscher Übersetzung zitiert. Die Quellen der Übersetzung sind jeweils angegeben. Für die Texte von Hannah Arendt und Gertrude Stein werden folgende Siglen verwendet: A AS RV VA

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AM RAND DER AUTOBIOGRAPHIE

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mel. In: Der Sinn der Sinne. Hg. v. der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH. Bonn, Göttingen 1998, 190206. — Die Verdopplung des männlichen Blicks und der Ausschluß von Frauen aus der Literaturwissenschaft. In: Karin Hausen, Helga Nowotny (Hg.): Wie männlich ist die Wissenschaft? Frankfurt/M. 1990, 43-61. — Jenseits der Systeme. Denkbewegungen Hannah Arendts. In: Daniel Ganzfried, Sebastian Hefti (Hg.): Hannah Arendt – Nach dem Totalitarismus. Hamburg 1997, 13-20. Weimann, Robert: Structure and Society in Literary History: Studies in the History and Theory of Historical Criticism. Charlottesville 1976. Weissberg, Liliane: Introduction. Hannah Arendt, Rahel Varnhagen, and the Writing of (Auto)biography. In: Hannah Arendt: Rahel Varnhagen. The Life of a Jewess. First complete Edition. Hg. v. Liliane Weissberg. Übers. v. Richard u. Clara Winston. Baltimore, London 1997, 3-69. Wickes, George: Americans in Paris. Garden City 1969. — Who really wrote The Autobiography of Alice B. Toklas? In: Lost Generation Journal 2 (1974), 36-37. Wieland, Christoph Martin: Unterredungen zwischen W** und dem Pfarrer zu ***. In: Ders.: Werke, Bd. 3. Hg. v. Fritz Martini u. Hans Werner Seiffert. München 1967, 295-349. Wilde, Oscar: The Canterville Ghost. A Hylo-Idealistic Romance. In: Ders.: Complete Works of Oscar Wilde. London, Glasgow 1976, 193-214. Winchcombe, George u. Bernard Winchcombe: Shakespeare’s GhostWriter(s). Esher 1968. Wolfreys, Julian: Der Spuk der Zitate: »…eine Serie von Kontiguitäten …«. In: Volker Pantenburg, Nils Plath (Hg.): Anführen – Vorführen – Aufführen. Texte zum Zitieren. Bielefeld 2002, 163-175. Wuthenow, Ralph Rainer: Das erinnerte Ich. Europäische Autobiographie und Selbstdarstellung im 18. Jahrhundert. München 1974. Xenophon: Erinnerungen an Sokrates. Griechisch-deutsch. Hg. v. Peter Jaerisch. München, Zürich 1987. Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit. Frankfurt/M. 1996.

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DANK

A N:

Vera Bachmann, Hanjo Berressem, Karl Heinz Bohrer, Patrick Eiden, Dea Erwig, Erika Greber, Evi Grillmeier, Ulla Haselstein, Gabriele Hobe, Annette Keck, Stephanie Kratz, Lothar van Laak, Katrin Lehnen, David Martyn, Sylvia Mieszkowski, Maren Möhring, Inka Mülder-Bach, Helen Müller, Verena Mund, Dieter Volkening, Gisela Volkening, Heike Westram und Eckhard Schumacher.

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Die Neuerscheinungen dieser Reihe: Ralf Adelmann, Jan-Otmar Hesse, Judith Keilbach, Markus Stauff, Matthias Thiele (Hg.) Ökonomien des Medialen Tausch, Wert und Zirkulation in den Medien- und Kulturwissenschaften

Jens Schröter, Gregor Schwering, Urs Stäheli (Hg.) Media Marx Ein Handbuch

Juni 2006, ca. 300 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN: 3-89942-499-9

Michael Leicht Wie Katie Tingle sich weigerte, ordentlich zu posieren und Walker Evans darüber nicht grollte Eine kritische Bildbetrachtung sozialdokumentarischer Fotografie

Annett Zinsmeister (Hg.) welt[stadt]raum mediale inszenierungen Juni 2006, ca. 130 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 16,80 €, ISBN: 3-89942-419-0

Simone Dietz, Timo Skrandies (Hg.) Mediale Markierungen Studien zur Anatomie medienkultureller Praktiken Juni 2006, 270 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-482-4

Helga Lutz, Jan-Friedrich Mißfelder, Tilo Renz (Hg.) Äpfel und Birnen Illegitimes Vergleichen in den Kulturwissenschaften Juni 2006, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-498-0

Barbara Becker, Josef Wehner (Hg.) Kulturindustrie reviewed Ansätze zur kritischen Reflexion der Mediengesellschaft Mai 2006, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-430-1

Mai 2006, 408 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 3-89942-481-6

Mai 2006, ca. 180 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 22,80 €, ISBN: 3-89942-436-0

Birgit Käufer Die Obsession der Puppe in der Fotografie Hans Bellmer, Pierre Molinier, Cindy Sherman Mai 2006, 230 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-501-4

Markus Fellner »psycho movie« Zur Konstruktion psychischer Störung im Spielfilm Mai 2006, ca. 500 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 3-89942-471-9

Petra Gropp Szenen der Schrift Medienästhetische Reflexionen in der literarischen Avantgarde nach 1945 Mai 2006, ca. 420 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN: 3-89942-404-2

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Die Neuerscheinungen dieser Reihe: Heide Volkening Am Rand der Autobiographie Ghostwriting – Signatur – Geschlecht

Volker Pantenburg Film als Theorie Bildforschung bei Harun Farocki und Jean-Luc Godard

April 2006, 262 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-375-5

März 2006, 324 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-440-9

Achim Geisenhanslüke, Christian Steltz (Hg.) Unfinished Business Quentin Tarantinos »Kill Bill« und die offenen Rechnungen der Kulturwissenschaften

Annette Runte Über die Grenze Zur Kulturpoetik der Geschlechter in Literatur und Kunst

April 2006, 188 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 3-89942-437-9

Sebastian Gießmann Netze und Netzwerke Archäologie einer Kulturtechnik, 1740–1840 April 2006, 118 Seiten, kart., 13,80 €, ISBN: 3-89942-438-7

Meike Becker-Adden Nahtstellen Strukturelle Analogien der »Kreisleriana« von E.T.A. Hoffmann und Robert Schumann März 2006, 288 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-472-7

Martin Heller, Lutz Liffers, Ulrike Osten Bremer Weltspiel Stadt und Kultur. Ein Modell März 2006, 248 Seiten, geb., durchgängig farbig mit zahlr. Abb., 22,80 €, ISBN: 3-89942-485-9

März 2006, 384 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-422-0

Jürgen Straub, Doris Weidemann, Carlos Kölbl, Barbara Zielke (eds.) Pursuit of Meaning Advances in Cultural and Cross-Cultural Psychology März 2006, 518 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 3-89942-234-1

Peter Glotz, Stefan Bertschi, Chris Locke (Hg.) Daumenkultur Das Mobiltelefon in der Gesellschaft März 2006, 348 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-473-5

Andi Schoon Die Ordnung der Klänge Das Wechselspiel der Künste vom Bauhaus zum Black Mountain College März 2006, 216 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-450-6

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Die Neuerscheinungen dieser Reihe: Arne Höcker, Jeannie Moser, Philippe Weber (Hg.) Wissen. Erzählen. Narrative der Humanwissenschaften März 2006, 226 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-446-8

Bernard Robben Der Computer als Medium Eine transdisziplinäre Theorie Januar 2006, 316 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-429-8

Sibylle Peters, Martin Jörg Schäfer (Hg.) »Intellektuelle Anschauung« Figurationen von Evidenz zwischen Kunst und Wissen

Christina Bartz, Jens Ruchatz (Hg.) Mit Telemann durch die deutsche Fernsehgeschichte Kommentare und Glossen des Fernsehkritikers Martin Morlock

März 2006, 362 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN: 3-89942-354-2

Januar 2006, 260 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-327-5

Ulf Schmidt Platons Schauspiel der Ideen Das »geistige Auge« im Medien-Streit zwischen Schrift und Theater Februar 2006, 446 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 3-89942-461-1

Heike Piehler (Hg.) Weißes Rauschen 1. Ästhetik-Festival der Universität Bielefeld. Eine Dokumentation Januar 2006, 110 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 15,80 €, ISBN: 3-89942-462-X

Andreas Jahn-Sudmann Der Widerspenstigen Zähmung? Zur Politik der Repräsentation im gegenwärtigen US-amerikanischen Independent-Film Januar 2006, 400 Seiten, kart., zahlr. Abb., 31,80 €, ISBN: 3-89942-401-8

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de