Alt oder neu?: Fortschritt und Modernität aus interkultureller und interreligiöser Perspektive [1 ed.] 9783737012379, 9783847112372

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Alt oder neu?: Fortschritt und Modernität aus interkultureller und interreligiöser Perspektive [1 ed.]
 9783737012379, 9783847112372

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Kirche – Konfession – Religion

Band 79

Herausgegeben vom Konfessionskundlichen Institut des Evangelischen Bundes unter Mitarbeit der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen von Dagmar Heller und Kai Funkschmidt in Verbindung mit Andreas Feldtkeller, Miriam Rose und Gury Schneider-Ludorff

Gury Schneider-Ludorff / Alessandro Capone / Markus Mülke (Hg.)

Alt oder neu? Fortschritt und Modernität aus interkultureller und interreligiöser Perspektive

Mit 3 Abbildungen

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Gedruckt mit finanzieller Unterstützung durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD). © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Giorgio da Castelfranco („Giorgione“), I tre filosofi (1508–1509). Dem Kunsthistorischen Museum Wien (KHM-Museumsverband) danken wir für die Nutzungsbewilligung. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-1507 ISBN 978-3-7370-1237-9

Inhalt

Gury Schneider-Ludorff / Alessandro Capone / Markus Mülke Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Carlo A. Augieri Germi dell’antico nel nuovo: religiosità e nascita della coscienza come dialogia di riconoscimento . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Markus Mülke „Und das Leben des Menschen, weil es kurz ist“ (Protagoras): Warum habe ich keine Einsicht über Götter? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Patrizio Missere Johannesapokalypse und christliche Erneuerung der Weltgeschichte. Bibeltheologische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Klaus Neumann Der „Neue Bund“ – ein alter Hut? Ioudaismós, „Judentum“, „Christentum“ und „Dekalogismus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Alessandro Capone Tempo privato e tempo sociale nei cristianesimi dei primi secoli

. . . . . 115

Giulio Navarra Unde malum? Die „Frage nach dem Bösen“ in der falsafa, in der arabischen Patristik und in der islamischen Theologie . . . . . . . . . . . 135 Fabrizio Lelli Humanists and the Bible: between Intellectual Renovation and Search of the Original Sources . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

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Inhalt

Ingo Klitzsch „… dis alte Schrekbild, Neuerung, Neologen, Gefar der christlichen Religion“. Beobachtungen zur Neuinterpretation des Verhältnisses von Religionen und Konfessionen in der protestantischen Aufklärungstheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Gury Schneider-Ludorff Eine mittelalterliche Heilige reformatorisch gewendet – Zur Neudeutung der Heiligen Elisabeth in der Reformationszeit . . . . . . . . . . . . . . . 195 Fulvio Ferrario Kern und Schale. Die Unterscheidung zwischen Wesen und Ausformung als hermeneutisches Grundmodell der Moderne . . . . . . . . . . . . . . 209 Markus Buntfuß Neuzeitliche Säkularisierung und postmoderne Resakralisierung. Probleme und Herausforderungen an die religiöse Option in einer säkularen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

Gury Schneider-Ludorff / Alessandro Capone / Markus Mülke

Vorwort

Die Debatte darüber, ob es in Religion und Theologie Entwicklung geben kann, lässt sich von der Antike über das Mittelalter bis in die Neuzeit verfolgen: Sokrates wurde von den Athenern zum Tode verurteilt, weil er nicht die Götter der Polis anerkannt, sondern allerlei neues Göttliche eingeführt habe. Ob Jesu Wirkens und Predigens erschraken die Menschen in Kaphernaum, und einer fragte den andern: „Was ist das? Eine neue Lehre mit Vollmacht …“ Die Reformatoren des 16. Jahrhunderts hielten dafür, dass ihre Theologie in Wahrheit eine Rückkehr zu den Quellen des Evangeliums und der frühen Kirche sei. Diese alte Debatte gewinnt in der Gegenwart – nicht selten unreflektiert – eine dringliche Aktualität, etwa bei der Suche nach Antworten auf die vieldiskutierte „Glaubenskrise“ der christlichen Kirchen oder bei der Forderung nach einem „modernen“ Islam. Die Bestimmung des Verhältnisses, in dem das Göttliche zur Geschichte, verstanden als die Einbettung von Mensch und Kultur in den Verlauf der innerweltlichen Zeit, steht, beschäftigt die Religionen der Welt seit ihren Ursprüngen. Unauflöslich damit verbunden ist die Frage nach der Zeitlichkeit sowohl der Religionen selbst als auch ihrer theologischen Erkenntnis. Dabei ist diese Frage ihrerseits zum einen historisch bedingt, pflegt aber andererseits gerade dort aufzukommen, wo ihre Beantwortung ein Argument in der Auseinandersetzung mit anderen Religionen liefern soll. So sind durch die Antike und das Mittelalter hindurch die „Autorität aus Alter“, der sogenannte Altersbeweis, und die grundsätzliche Ablehnung religiöser „Neuerung“ vielerprobte rhetorische Kampfmittel – bekanntlich nicht bloß gegen fremde Religionen, sondern auch innerhalb der eigenen. Wer umgekehrt Veränderung und Entwicklung als „Reformation“ rechtfertigt, bedient sich derselben Legitimation. Der von der Augustana-Hochschule (Neuendettelsau) und dem Dipartimento di Studi Umanistici der Università del Salento (Lecce/Italien) vom 4. bis zum 6. September 2019 veranstaltete italienisch-deutsche Hochschulkongress: „Alt oder neu? Fortschritt und Modernität im interkulturellen und interreligiösen

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Dialog“ nahm vor diesem Hintergrund seinen Ausgang von einer überaus aktuellen Kontroverse: Während die großen christlichen Kirchen Italiens und Deutschlands in der öffentlichen Diskussion für sich reklamieren, unter der Wirkung der Aufklärung und der folgenden Säkularisierung sich selbst in Religion und Theologie entwickelt, mithin „modernisiert“ zu haben, und aus diesem Selbstverständnis heraus Geltungsansprüche innerhalb der sie umgebenden heutigen Gesellschaften erheben, unterwerfen eben diese Gesellschaften – und in ihnen dieselben christlichen Kirchen – die Weltreligion Islam demselben Postulat: Nicht nur von jenen Muslimen, die sich dauerhaft und in wachsender Zahl in westlichen Ländern ansiedeln, sondern auch von jenen im Vorderen und Mittleren Osten wird ein „moderner“, ein „aufgeklärter“ Islam gefordert. Im Einklang damit erheben auch Muslime selbst ähnliche Postulate. Abdel HakimOurghi, Leiter des Fachbereichs Islamische Theologie und Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg im Breisgau, schrieb am 10. Januar 2017 in der Zeitschrift Cicero: „Nur ein moderner und humanistischer Islam ist mit den säkularen Gesetzen des demokratischen Rechtsstaates und den Menschenrechten vereinbar …“ Und soeben hat Lamya Kaddor ein vieldiskutiertes, umstrittenes Buch herausgegeben, das den Titel trägt: Muslimisch und liberal! Was einen zeitgemäßen Islam ausmacht (Verlag Piper, München 2020). Dabei wird das rhetorische Argument der zeitgemäßen Modernität, das in aufschlussreicher Übereinstimmung Politiker des gesamten Meinungsspektrums, Medien, Kulturschaffende, Bildungsverantwortliche und eben kirchenleitende Personen eint, im derzeitigen interreligiösen Gespräch beiderseits der Alpen auffallend unbestimmt gelassen, und dies, obschon jene Frage nach der Zeitlichkeit von Religion und Theologie seit der Antike überaus intensiv erforscht worden ist und das entsprechende Feld theologischer und geisteswissenschaftlicher Forschung eigentlich reich bestellt erscheinen könnte. Ziel des Kongresses sollte daher sein – anders als in zahlreichen bisherigen Forschungsprojekten zum Thema –, methodisch eher einen systematisch-kritischen Zugang zu wählen als einen historisch-kasuistischen. Im Mittelpunkt der gemeinsamen Überlegungen sollte also gerade nicht die Frage stehen, ob ein bestimmtes religions-, kirchen- oder theologiegeschichtliches Phänomen aus der heutigen Rückschau tatsächlich als etwas Neues, als ein Fortschritt, als eine Modernisierung angesehen werden könnte. Vielmehr sollte danach gefragt werden, wo und in welchen Kontexten das Argument des Alten/Neuen eingesetzt wird, mit welcher sprachlich-rhetorischen Strategie, vor welchem ideologischen Hintergrund. Wie werden Modernität und Fortschritt überhaupt definiert? Und wie verhält sich eine Terminologie, die Veränderung der Religion und Theologie in der Zeit suggeriert, zur so wirkmächtigen Annahme, die offenbarte Wahrheit Gottes sei nur eine, unveränderliche?

Vorwort

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In Lecce war dann vor allem die vielfältige Komplexität der vorgetragenen und diskutierten Gegenstände eindrücklich: Vom antiken Griechenland und der biblisch-frühchristlichen Zeit spannte sich über das Mittelalter und die frühe Neuzeit bis hin zur heutigen Gegenwart ein weiter chronologischer Bogen. Unterschiedliche Kulturräume kamen mit ihren Religionen und Theologien in den Blick, natürlich derjenige des christlich geprägten, „italienisch-deutschen“ Europa, aber auch der jüdisch-hellenistische des Neuen Testaments, jener des arabischen Islam, die jüdische Renaissance oder die säkulare Gesellschaft der heutigen westlichen Welt. Kann also im Verhältnis von griechisch-römischen Kulten, Judentum, Christentum und Islam von „alten“ und „neuen“ Religionen gesprochen werden? Desweiteren erlaubte der Zugriff aus verschiedenen Perspektiven die Wahrnehmung aufschlussreicher Unterschiede in jüdischen, islamischen, biblisch-frühchristlichen, katholischen und protestantischen Ausformulierungen des Themas, weil am Austausch nicht nur die verschiedenen theologischen Disziplinen (Judaistik, Islamwissenschaft und Arabistik, katholische und evangelische Theologie), sondern neben der Klassischen Philologie nicht zuletzt auch die Philosophie beteiligt war, deren weitere Perspektive der enger geführten Wahrnehmung einzelner „Theologien“ ein wichtiges Gegengewicht darstellte. Der Wert, dieses Thema grenzüberschreitend zu behandeln, lag dabei offen zutage: Vergleichende Studien, welche es in internationalem, interreligiösem, interkulturellem Kontext erörtern, liegen bis heute kaum vor – ein Desiderat moderner Theologien und Geisteswissenschaften, das, wie oben schon angedeutet, als solches auf diesem Kongress mit seiner innovativen Perspektive als dringlich wahrgenommen wurde. Bei aller Komplexität offenbarte das Thema freilich eine erstaunliche Kontinuität und Einheitlichkeit durch die Zeiten, Kulturen, Sprachen und religiöstheologischen Kontexte hindurch. Die Frage nach „Alt oder neu?“ wohnt historischen wie auch zeitgenössischen Religionen und Theologien von ihrem Anbeginn, also von ihrem Eintreten in die historische Zeit, an inne: einerseits im Verhältnis zu anderen Religionen und Theologien, nicht zuletzt bei der Suche nach Priorität, die als Vorrang zu deuten sich nahelegen könnte; andererseits aber auch innerhalb der eigenen Gruppe, um in der zeitlichen Entwicklung von Gottesvorstellung, Kult, Glaube, um nur einiges zu nennen, Ordnung zu schaffen und gegebenenfalls, bei Auftreten sich widerstrebender Kräfte, Wertungen und Geltungsansprüche argumentativ begründen zu können. Die Suche nach einem überzeitlichen „Kern“ – „Wahrheit“? – tritt dabei immer wieder ins Verhältnis zu historisch begriffenen, sich wandelnden und auch differierenden „Schalen“, die eben diesen im Laufe der Zeit umgäben. Intensiv und kontrovers debattiert wurden dabei die Rolle der Rhetorik/Sprache in der argumentativen, wertenden Konstitution von „alt“ und „neu“ ebenso wie die heute, unter dem Eindruck des gemeinhin günstig wirkenden Fortschritttheorems weithin positiv konnotierte

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Gury Schneider-Ludorff / Alessandro Capone / Markus Mülke

(und zuweilen ubiquitär in Anspruch genommene) Terminologie der „Reformation“, die freilich doch zu häufig ungeklärt lasse, was denn eigentlich zu reformieren sei. Den italienischen Gastgebern in Lecce, insbesondere Prof. Dr. Alessandro Capone, gebührt großer Dank für die perfekte Organisation des Kongresses vor Ort. Besonders bleibt die offene, herzliche, eher als freundschaftlich denn als kollegial zu kennzeichnende Gastfreundschaft des ganzen Dipartimento di Studi Umanistici auf allen Ebenen in Erinnerung, die sich schon daran zeigte, dass das gesamte Programm von zahlreichen Kolleginnen und Kollegen aus Lecce wahrgenommen wurde und darüberhinaus auch italienische und deutsche Studierende an der Tagung teilnahmen. Doch erwies sich zugleich als fruchtbar, dass nicht nur unter den Vortragenden, sondern auch im Publikum auswärtige Gäste vertreten waren. Aus dem fachwissenschaftlichen Kongress zweier international verbundener Hochschulen wurde dadurch eine Veranstaltung, an der Studierende wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ganz unterschiedlicher Disziplinen und Fakultäten ebenso teilnahmen wie interessierte Gäste aus der weiteren Öffentlichkeit, etwa aus Bildungseinrichtungen freier Träger sowie kirchlichen Institutionen Lecces und Apuliens. Monsignore Luigi Manca, Direktor des Istituto Superiore di Scienze Religiose Metropolitano „Don Tonino Bello“ (Lecce) eröffnete den Kongress mit einem herzlichen Grußwort, zudem waren besonders erfreulich sowohl die Präsenz des Rektors der Università del Salento, Prof. Dr. Fabio Pollice, und des Prorektors, Prof. Dr. Domenico Fazio, am ersten Kongresstag als auch die Anwesenheit der Assessorin für Menschenrechte, Jugend und Erziehung der Stadt Lecce, Frau Silvia Miglietta, welche einen wichtigen Aspekt des Tagungsthemas – den interreligiösen Dialog – aufgriff, in Beziehung setzte zu den derzeitigen religions-, bildungs- und gesellschaftspolitischen Herausforderungen der Stadt mit ihren zahlreichen Religionsgemeinschaften und Bürgern unterschiedlichster kultureller Herkunft und es nachdrücklich begrüßte, dass diese Tagung gerade in Lecce und gerade in einer Zeit stattfinde, in welcher die örtliche Kommunalpolitik ein neues Programm zur interkulturellen und interreligiösen Verständigung verabschiedet habe. Ein wichtiges Anliegen der Tagungsleitung lag zudem darin, den Kongress, soweit bei einer akademischen Fachveranstaltung überhaupt möglich, auch in die breitere Öffentlichkeit der Stadt Lecce hineinwirken zu lassen, und zwar durch die Kongressteilnahme sowie einen öffentlichen Abendvortrag von Prof. Dr. Alberto Melloni (Bologna), der vor allem durch seine Erforschung des Zweiten Vatikanischen Konzils international hohe Anerkennung genießt, durch die Leitung der Fondazione per le Scienze Religiose (Bologna) und durch die Begründung der Accademia Europea delle Religioni große internationale Institutionen ge-

Vorwort

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schaffen hat und durch sein religions- und bildungspolitisches Engagement in Italien und Europa weithin bekannt ist. Ein kurzer Überblick über die hier versammelten Beiträge möge die inhaltliche Orientierung erleichtern: Carlo Augieri (Lecce) sucht in seinem Beitrag die Dichotomie zwischen „alt“ und „neu“ zu überwinden durch das Modell einer ricomposizione – oder: riscrittura – des „Alten“ im „Neuen“, gemäß einem hermeneutischen Prozess der Kultur als einer Lektüre von Texten: aktive Lektüre, Matrix vielfältiger Interpretationen, welche durch den Lauf der Zeit hindurch neue Texte hervorbringen und damit wieder Grundlage werden für andere, neue Lektüren. Die metaphorologische Analyse der christlich-religiösen Textualität bietet dabei ein herausforderndes Forschungsfeld, indem die Dynamik des hermeneutischen Prozesses zwischen „alt“ und „neu“ greifbar wird: Langlebige Metaphern dauern durch die Zeit fort, obschon sich ihre Träger verändern, tragen zur Bereicherung einunddesselben Themas bei. Das symbolische Bild von Gott als logos etwa wird, durch die Jahrhunderte, Keimzelle von einander verwandten Metaphern, welche die verkündigende Aktion Gottes als des göttlichen Subjekts vertiefen und erweitern – Gottes, der den Menschen inspiriert (als den, der das biblische Wort schreibt), der sich dem Menschen monologisch enthüllt (gegenüber dem stummen Abraham), der den Menschen trifft und mit ihm in einen Dialog eintritt: zum Beispiel mit Moses und, im besonderen, mit Hiob. Im Anschluss weist Markus Mülke (Neuendettelsau) an dem frühen Beispiel des Sophisten Protagoras (fünftes Jahrhundert vor Christus) auf die enge Verbindung zwischen theologischem Agnostizismus und der Einsicht in die Kürze menschlichen Lebens hin. Die Skepsis des Sophisten verdient heute auch deshalb noch Aufmerksamkeit, weil sie zwar jeden theologischen Fortschritt ausschließt, religiösen aber nicht unbedingt. Patrizio Missere (Lecce) behandelt danach die Offenbarung des Johannes von Patmos als ein Buch der Hoffnung, in dem die Erneuerung der Weltgeschichte verkündigt wird. Die literarische Gattung der Offenbarung mit ihren zahlreichen Bildern und Symbolen dient als Mittel, um die ersten Adressaten (und die Leser) an der christlichen Botschaft der Auferstehung Christi (das „System Christi“) als des sicheren Siegs gegen die weltlichen Mächte (das „System des Dämonischen“) zu beteiligen. Der Beitrag versucht diese ursprüngliche intentio auctoris wie ein bibeltheologisches Muster zu interpretieren. Das letzte Buch des Kanons gilt darum nicht bloß als Trost für die Christen zu der Zeit der Herrschaft Domitians; vielmehr werden hier den Gläubigen theologische Denk- oder Interpretationsmuster zur Verfügung gestellt, um die Weltgeschichte mit ihren andauernd wiederholten Eigenschaften zu deuten. Die Verwendung von Symbolen ermög-

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licht in diesem Sinne einen Verallgemeinerungsprozess, durch den man diese Muster auf die ganze Weltgeschichte bis zur Endzeit beziehen kann. Klaus Neumann (Neuendettelsau/Geslau) vertritt im folgenden die These, die Rede vom „Neuen Bund“ sei im Christentum oft verbunden (gewesen) mit einer Abgrenzungs- und Überbietungsrhetorik gegenüber dem Judentum. Der „alte Bund“, das Judentum als „Religion“, sei danach obsolet geworden und habe keine Daseinsberechtigung mehr. Doch werde seit geraumer Zeit hinterfragt, ob die neutestamentliche Rede vom „Neuen Bund“ wirklich in dieser Weise als Begründung einer neuen „Religion“ zu verstehen sei. Neumann arbeitet heraus, dass die jüdische „Bundestheologie“ schon immer in sich dynamisch gewesen sei und in Reaktion auf menschliches „Versagen“ auf fortwährende Erneuerung und Aktualisierung des Bundes gedrängt habe. Gleichzeitig sei der „Bund“ mit Israel eingebettet in einen universalistischen Glauben an Gott als Schöpfer der Welt. Die universalen Gebote fänden ihren Niederschlag im Dekalog. Im „Dekalogismus“ als einer (erst noch umfassend zu rekonstruierenden) Spielart der jüdischen Theologie sei das spätere „Christentum“ als universale Religion im Wesentlichen schon vorgedacht. Anschließend behandelt Alessandro Capone (Lecce) jene Stellen aus den neutestamentlichen Evangelien, in denen Jesu „private Zeit“ zur Sprache kommt. Im Mittelpunkt steht dabei insbesondere der Vers 4, 34 aus dem Markusevangelium und seine Auslegung bei zwei Autoren – Tertullian und Origenes –, die innerhalb eines halben Jahrhunderts in unterschiedlichen Kontexten (Karthago und Alexandria-Caesarea) wirkten, sich aber doch vor ähnliche Herausforderungen gestellt sahen. Die Untersuchung zeigt, welche Schwierigkeiten die Deutung des Verses und der „privaten Zeit“ Jesu den beiden Autoren gerade auch in dem Umfeld, in dem sie wirkten, aufwarf. Die Positionen, zu denen Tertullian und Origenes, bestimmt auch von polemischen Notwendigkeiten, in ihrer Exegese gelangten, stimmen dabei weder untereinander überein noch mit der allgemeinen Lehre der Kirche. Giulio Navarra (Lecce/Köln) zeichnet danach anhand der „Frage nach dem Bösen“ die Kontinuitäten („alt“?) und die Eigentümlichkeiten („neu“?) im philosophischen und theologischen Denken arabischer Sprache zwischen dem 9. und dem 10. Jahrhundert nach. Untersucht werden die Ursprünge der drei kulturellen Hauptbewegungen abassidischer Zeit, also der griechisch-arabischen Tradition mit der entstehenden falsafa, der christlichen Patristik und des muslimischen kala¯m, und zwar im Licht dreier Reflexionen: erstens des Traktats über die himmlischen Sphären, der aus dem berühmten Kreis von al-Kindı¯ stammt und dem antiken Aristoteleskommentator Alexander von Aphrodisias (2./3. Jahrhundert nach Christus) zugeschrieben wurde; zweitens des Traktats Über die Freiheit des melkitischen Bischofs von Harra¯n, Theodor Abu¯ Qurrah, ˙ und, drittens, des weithin bekannten „Dilemmas der drei Brüder“ des Theologen

Vorwort

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Abu¯ l-Hasan al-Asˇʿarı¯, aus seinem Buch der Darlegung über die Grundlagen der ˙ Religion. Fabrizio Lelli (Lecce) hebt hervor, wie im 15. und 16. Jahrhundert das Studium der biblischen Sprachen, insbesondere des Hebräischen, zu einem vordringlichen Anliegen auf der intellektuellen Agenda der italienischen – jüdischen wir christlichen – Humanisten wurde. Das Hebräische als Ursprache der Schrift galt als Fundament, um die Ursprünge des Christentums korrekt interpretieren zu können, obschon sie auch eine Kultur, die jüdische, widerspiegelte, welche oft als feindliche identifiziert wurde. Zugleich avancierte die hebräische Bibel zum Prüfstein zeitgenössischer wissenschaftlicher Entdeckungen. Ausgehend von den Werken zweier Gelehrter der italienischen Renaissance, des Christen Giovanni Pico della Mirandola und des Juden Abraham ben Mordechai Farissol, einige der zahlreichen Gründe zur Sprache, welche die Humanisten motivierten, unter Nutzung des biblischen Hebräischen mit der Schrift jede Form von Wissen in Verbindung zu bringen und insgesamt die Bibel in den Mittelpunkt ihrer intellektuellen Forschungen zu stellen. Den Vertretern der Aufklärungstheologie widmet sich anschließend Ingo Klitzsch (Neuendettelsau). Dass diese sich verstärkt mit einem negativ konnotierten Neuheitsvorwurf konfrontiert sahen, zeigen exemplarisch die scharfen Reaktionen auf das sogenannte „Marburger Neologentreffen“ vom Juni 1770. Von drei der Teilnehmer, nämlich von Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709–1789), Johann Joachim Spalding (1714–1804) und Johann Salomo Semler (1725–1791), sind Schriften überliefert, in denen es zu einer Neuinterpretation des Verhältnisses von Religionen und Konfessionen kommt. In diesen greifen die „Neologen“ nun selbst auf die Argumentationsfigur „alt/neu“ zurück. Die vergleichende Darstellung der jeweiligen Positionen lässt trotz des gemeinsamen theologischen Grundbestandes unterschiedliche Akzentsetzungen erkennen. Implizit wird zudem die Vorgeschichte der Unionen sowie der Religionstheologie des 19. Jahrhunderts erhellt. Im folgenden zeigt Gury Schneider-Ludorff (Neuendettelsau) am Beispiel der Reformationsmaßnahmen in der Landgrafschaft Hessen im 16. Jahrhundert, wie die Heilige Elisabeth – eine der prominentesten Heiligen des europäischen Mittelalters – eine Transformation im Sinne der neuen reformatorischen Lehre erfährt und an die Veränderungen des neuzeitlichen Territorialstaates angepasst wird. Die vielfältige mittelalterliche Rezeption der Elisabeth wird nun auf einen Aspekt reduziert: Die Fürstin, die Wohltäterin, die sich um die Armen und Kranken kümmert. Sie ist Vorbild und Legitimationsfigur, doch eben eine Figur der Vergangenheit, die durch den neuen reformatorischen Regenten, Philipp von Hessen, überboten und schließlich in ihrem Vorbildcharakter sowie als Schutzherrin der Dynastie und als Patronin des Landes beerbt wird.

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Aus systematisch-theologischer Perspektive analysiert Fulvio Ferrario (Rom) jenes hermeneutische Modell, das von der Unterscheidung eines inhaltlichen Kerns („Wesen“) und seiner Ausdrucksform(en) ausgeht, und zieht dabei insbesondere Texte Harnacks, Bultmanns und Bonhoeffers in Betracht. Das Modell erweist sich einerseits als notwendig, um das Evangelium in verschiedenen kulturellen Kontexten verkündigen zu können. Andererseits erhellt gerade aus Bonhoeffer, dass die die genannte Unterscheidung nicht immer streng durchgehalten werden kann. Der Beitrag schließt mit der Beobachtung, wie die Rückgewinnung der narrativen Dimension biblischer Traditionen helfen könnte, die dem hermeneutischen Modell innewohnenden Schwierigkeiten zu überwinden. Markus Buntfuß (Neuendettelsau) schließlich diskutiert die Frage der Säkularität der westlichen Gesellschaften von der klassischen Säkularisierungsthese über die moderne Individualisierungsthese bis zu den neueren Revitalisierungs(„Wiederkehr der Religion“) und Globalisierungsthesen („Christianity moves South“) mit dem Ergebnis, dass sie alle einen begrenzten Erklärungswert behalten, wenn sie keinen Alleingeltungsanspruch erheben. Das religiöse Feld sei unter globalen Bedingungen vielfältiger und heterogener geworden. Die Vielgestaltigkeit der Christentümer und der großen religiösen Traditionen werde die religiöse Zukunft in Europa zunehmend bestimmen. Buntfuß plädiert deshalb für eine theologische Heuristik, die keine einfachen Modernisierungslogiken unterstellt, sondern mit Ungleichzeitigkeiten und Gegenläufigkeiten des religiösen Wandels rechnet. Abschließend sei dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) und dem Istituto Superiore di Scienze Religiose Metropolitano „Don Tonino Bello“ (Lecce) für ihre großzügige Förderung, ohne die weder der Kongress in Lecce noch die Publikation des vorliegenden Buchs hätten verwirklicht werden können, ebenso herzlich gedankt wie dem Dipartimento di Studi Umanistici der Università del Salento und der Augustana-Hochschule für die anteilige Finanzierung der Publikationskosten.

Carlo A. Augieri

Germi dell’antico nel nuovo: religiosità e nascita della coscienza come dialogia di riconoscimento

Abstract The contribution tries to blur the dichotomy between old and new, in favour of a recomposition or rewriting of the old into the new, according to a hermeneutic procedure of culture as reading of texts: active reading, matrix of multiple interpretations, which become, along the course of time, issuers of new writings, in turn responsible for other readings. A metaphorological analysis of Christian religious textuality offers an interesting field of investigation, in being able to grasp the dynamics of the hermeneutic process between old and new, in the sense that long-lasting metaphors persist over time, albeit with the variations of the same vectors that lead to the enrichment of the same theme. The symbolic image, for example, of God as logos becomes, over the centuries, germinating of neighboring, contiguous metaphors, which deepen the enunciative action of God as divine Subject, who inspires man (the biblical writer), reveals himself to man monologically (God speaks with the mute Abraham), he encounters man, dialoguing with him: with Moses, for example, and, in particular, with Job.

In relazione allo studio metaforologico delle culture, in cui è da comprendere la significatività storica delle metafore e pure la storia dei concetti, originati, secondo la Mitologia bianca di Derrida, dallo sfregamento “arrotino”, compiuto dal tempo, del sensibile metaforico in favore del generale e dell’astratto, a partire dalle immagini di lunga, lunghissima durata, costitutive del codice semantico delle culture, non si può parlare di dicotomia tra antico e nuovo, bensì di ricomposizione degli elementi strutturali, costitutivi dell’antico, che diventano significanti, germi di una nuova significatività in una loro ridistribuzione retoricamente variante, secondo l’idea lévistraussiana di “bricolage”, tra differenti campi semantici, dai quali provengono altri semi lessicali, responsabili di inedite connessioni proposizionali, pertanto di significazioni allargate e diversamente conseguenti. Il nuovo senso, concettuale ed immaginale, contiene, in conclusione, antichi significati dai quali non si può prescindere, che agiscono come significanti che strutturano, condizionano e, dunque, orientano in un certo modo, già in parte prefigurato, il processo inedito lungo il quale viene a prendere

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Carlo A. Augieri

forma il moderno, in relazione al percorso tra differenti vie ed aperture fino ai recenti crocicchi della storia. A proposito del linguaggio religioso, ad esempio, c’è differenza tra cercare Dio nella natura, ossia metaforizzarlo con il campo semantico della natura, promossa ad area segnica di tracce e di impronte, allusive del ‘passaggio’ della Presenza di Dio nelle e tra le cose, e perseguirlo nella scrittura di un libro promosso a testo sacro, da cui deriva la metaforizzazione di Dio come logos, linguaggio ‘in atto’ come discorso, da cui conseguirà in seguito pure l’allargamento della metafora logocentrica alla natura stessa, determinando un mutamento pure dell’essenza del divino, Essere non più presente soltanto nella scrittura ispirata, bensì anche nella natura creata. Si pensi a Spinoza del Deus sive natura, a Galilei, con cui si ha un rafforzamento della metafora del libro della natura, scritto in lingua matematica da un Dio geometrizzante, al quale attribuire un’autorità veritativa di gran lunga superiore ai libri sulla fisica di Aristotele e degli aristotelici. La metafora di Dio come Logos, che crea la natura parlando, anzi “comandando” con la parola agli enti ai quali dona un nome, perché siano chiamati, e siano pure “separati” nel senso dell’esistere teleologico (“Dio vide che era cosa buona” – Gen. 1, 10), e che ispira gli uomini motivandoli alla scrittura, ha contributo notevolmente a significare Dio come autore e non come plasmatore ed ordinatore demiurgico di una massa materiale caotica e magari preesistente (si pensi al demiurgo di Platone, ad esempio, che non parla, limitandosi a stabilire nel visibile, per imitazione, le immagini archetipe fissate da sempre nel mondo delle idee, da percepire e non da interpretare), con conseguenze logiche ed antropologiche notevoli. Ebbene, l’immagine di Dio come autore, sviluppata dalla cultura religiosa degli Ebrei, un popolo che non ha lasciato nella storia monumenti, come gli Egizi con le piramidi, ad esempio, o imperi organizzati, come i Romani, ma solo scritture in seguito riunite in un libro canonico, la Bibbia, è simbolo di lunghissima durata che continua sin nel nostro tempo con varianti significative, riguardanti l’articolazione significante del suo nucleo semico e pure la sua estensione semantica, nel senso che da Dio autore che parla all’uomo con un tipo di parola monologico ed imperativo si passa nel tempo ad un Dio autore, che parla con l’uomo dialogicamente. La dialogia rimane nel tempo antico e nel tempo successivo, con una differenza profonda per quanto riguarda la situazione cronotopica in cui essa avviene: in effetti, se Dio parla ad Abramo da un’eterotopia distante, non però delimitabile, il dialogo con Mosè accade in una situazione più vicina, accostandosi il personaggio biblico al roveto da dove proviene la voce. La vicinanza cresce con Gesù che parla convivendo in dialogo con gli Apostoli, fino a farsi il rapporto dialogico intimo da S. Agostino a tutta la letteratura religiosa e mistica della modernità anche contemporanea, enunciando la voce di Dio come autore nel profondo delle “stanze del cuore”.

Germi dell’antico nel nuovo

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La metafora della natura come effetto creaturale del linguaggio divino presuppone non il movimento di atomi che causalmente si incontrano e formano il cosmo (si pensi all’atomismo classico da Leucippo a Democrito, Epicuro, fino a Lucrezio), bensì il raggruppamento significante ed intelligibile delle lettere dell’alfabeto, che approdano alla rivelazione storica e simbolica di Dio scritta in un libro, le cui parole si compiono anche storicamente con l’Incarnazione: si pensi al rotolo di Isaia letto nella sinagoga da Gesù, secondo cui le scritture in esso contenute sono compiute in Lui, con la Sua venuta nel tempo della storia. Passare dall’atomo all’alfabeto e dalla natura alla scrittura del libro, a cui è da aggiungere il linguaggio ispirato da Dio e direttamente rivelato da Gesù, uomo e Dio, in seguito scritto da uomini nel ruolo di testimoni, rende il mondo comprensibile ed interpretabile, secondo un’esigenza logica che si richiama alla familiarizzazione del senso, al suo appaesamento esperienziale, dunque alla compiutezza ed alla conclusività del voler sapere, a cui segue, di conseguenza, la totalità del comprendere, insita nell’unità strutturale della scrittura, in cui si connettono le molteplici parti tra loro, anche quelle paradigmatiche, così come ricomposte sintagmaticamente lungo la linearità dell’ordine del discorso dall’inizio alla fine; così scrive H. Blumenberg: … tanta più forza devono avere avuto gli stimoli che hanno prodotto questo collegamento di libro e natura. Forse sono soltanto due. Innanzi tutto, la competizione con il Libro, la sua autorità, la sua esclusività, il suo insistere sull’ispirazione. D’altro canto, il fascino della potenza che il libo riassume in sé in quanto produttore di totalità. La forza di comprendere come unità cose disparate, lontane, contraddittorie, estranee o familiari, o perlomeno la forza di darlo a intendere, è un elemento essenziale del libro, quale che sia la materia sulla quale esso proietta questa unità. È grazie a tale fascino che le grandi seduzioni della totalità, che sono esistite solo nell’età moderna, hanno potuto prendere dai libri il loro avvio – soprattutto quelle che, senza conoscenza diretta d’alcuna realtà, erano già solo i prodotti di grandi biblioteche1.

Ebbene, come ci insegnano G. Bachelard e N. Frye, un’immagine non è mai isolata in sé, ma si combina con altre configurazioni immaginative, contingue e similari, formando un “grappolo” complesso di imagery: così per quanto riguarda il campo metaforico della creazione come effetto verbale di Dio-Logos e del rapporto intimamente verbale con l’uomo, realizzato come relazione semantica formata da parole ispirate e parole rivelate, che si richiama alle metafore dell’ascolto e della lettura, le quali esigono non un’interpretazione univoca e statica, ma plurima, molteplice, in intesa dialogica con la coscienza di chi ascolta e di chi legge, con la conseguenza che il mondo non può essere retto dalla necessità, né dalla predestinazione del destino, ma dall’intenzione volitiva di un Autore. Il quale viene a patto con l’uomo, dialoga con lui, creando insieme un’alleanza, 1 Blumenberg (1984) 11–12.

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secondo un’intesa talmente verbale e ‘scritta’ che Egli giudica gli uomini, subito dopo la loro morte, in base al libro della loro vita, in cui sono registrate le azioni buone e cattive di ognuno. In effetti, la metafora del libro si è allargata e distesa nel campo del simbolismo religioso, annettendo nel suo ambito semantico anche la vita di ciascun uomo, il cui libro viene aperto, al momento della sua morte, davanti a Dio giudice, che vi legge le azioni di lui, in base alla cui rendicontazione viene l’anima del morto condannata oppure salvata. Il Dio Logos crea, comandando con la parola; ispira la coscienza dell’uomo con la parola rivelatrice; pattuisce con l’uomo-personaggio tramite la parola dialogica: nella connotazione del Dio parlante è da cogliere la potenza di Dio, che comanda alla natura secondo la relazione valutativa del bello e del buono; la Sua giustizia, nel giudicare la vita di ognuno registrata nel libro da Lui prestabilito; la Sua Sapienza dialogica, in quanto Egli rivela e chiarisce alla limitata coscienza dell’uomo la Sua azione creatrice (si pensi, ad esempio, al dialogo tra Dio e Giobbe). Se le prime due forme di vissuto di parola, creatrice l’una ed ispirativa l’altra, sono a carattere monologico, non rispondendo la natura al comando creante di Dio, né a Lui rispondendo l’uomo in reverente e silenzioso ascolto della Sua parola suggeritrice, la terza forma di parola parlata riguarda il dialogo di Dio con l’uomo, con una profonda conseguenza per quanto riguarda la ‘nascita’ della coscienza umana, da cui deriva una diversa, conseguente idea relazionale con Dio. In effetti, nella monologia delle prime due forme di parola l’uomo è un fruitore della natura, che si limita a dare i nomi agli animali selvatici ed agli uccelli del cielo, che “Dio condusse all’uomo, per vedere come li avrebbe chiamati” (Gen. 2, 19), e pure un credente fedele, silenzioso, che si limita a recepire e ad eseguire la parola ricevuta dalla luce rivelatrice di Dio, mentre con la parola dialogica entra in campo la soggettività di Dio e, di conseguenza, quella dell’uomo nella tipologia della relazione io-tu reversibile tra loro, secondo che sia Dio a rivolgersi al Suo tu, l’uomo, opporre l’io dell’uomo al Tu di Dio. Per comprendere in profondità quello che accade sul piano del senso nel campo semantico del simbolismo religioso, è necessario aprire una breve parentesi teorica, in cui fare cenno alla linguistica enunciativa, attenta al linguaggio nel mentre si fa discorso, di É. Benveniste, alla quale unisco la semiologia narrativa di M. Bachtin. Per Benveniste nel discorso, che è “linguaggio messo in atto”, linguaggio “attualizzato”, predisposto a “garantire la funzione comunicativa”, grazie alla quale un uomo parla a un altro uomo, il “linguaggio detta la definizione stessa di uomo”, sì che: è nel linguaggio e mediante il linguaggio che l’uomo si costituisce in quanto soggetto, perché solo il linguaggio fonda nella realtà, nella sua realtà che è quella dell’essere, il concetto di ‘ego’. La soggettività … è la capacità del parlante di porsi come ‘soggetto’ … è

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‘ego’ che dice ‘ego’. Ecco il fondamento della ‘soggettività’, che si determina attraverso lo status linguistico della persona. La coscienza di sé è possibile solo per contrasto. Io non sono io se non rivolgendomi a qualcuno, che nella mia allocuzione è un tu. Questa condizione di dialogo è costitutiva della persona, perché implica che io diventi tu nell’allocuzione di chi a sua volta si designa con io, e viceversa. È un principio dal quale, secondo noi, si sviluppano conseguenze volte in tutte le direzioni. Il linguaggio è possibile solo per il fatto che il parlante si pone come soggetto, riferendosi a se stesso come io nel suo discorso. Per lo stesso motivo, io pone un’altra persona, che, per quanto completamene esterna a ‘me’, diventa la mia eco a cui io dico tu e che mi dice tu … ‘ego’ ha sempre una posizione trascendente rispetto a tu e tuttavia nessun dei due termini può essere concepito senza l’altro; sono complementari, ma secondo un’opposizione ‘interno/esterno’, e allo stesso tempo reversibili. Si cerci pure una situazione analoga; non si troverà. La condizione dell’uomo nel linguaggio è unica2.

La questione linguistica della parola dialogica comprende vari ambiti del sapere, coinvolgendo la sociologia della comunicazione, la mentalità, la coscienza del soggetto, l’antropologia culturale e, in particolare, la composizione narrativa del discorso. In effetti, il dialogo presenta una varia fenomenologia d’espressione secondo le situazioni di vissuto narrativo nelle quali sono coinvolti i soggetti dialogici: i dialoghi mutano se due soggetti parlano tra loro d’amore come argomento discussivo a loro esterno, ad esempio, oppure se da innamorati gli stessi personaggi dialogano del loro amore in crisi; le parole mutano se i due dialogano con amore dopo il superamento della crisi, promettendosi di continuare ad amarsi, ecc. Per quanto riguarda, in particolare, il sentimento religioso, in cui la metafora della parola creatrice, ispirata e ‘parlante’ dalla scrittura del libro, connota Dio con l’immagine conseguente dell’essere autore, si avvera un tipo particolare di condizione soggettiva, conseguente alla situazione linguistica del dialogo: l’io umano si costituisce come personaggio di una storia, all’interno della cui fabula egli ascolta e si rivolge al Tu di Dio, considerato in qualità di autore di senso valoriale e, di conseguenza, ispiratore dei contenuti della coscienza incarnata nel personaggio stesso. In effetti, nell’esperienza del vissuto religioso del senso l’esistenza di sé e del mondo, come l’esistere di sé nel mondo, si rapporta ad un evento particolare di significazione, che consiste nel tipo di senso valoriale offerto da un autore che funge da soggetto valutatore di verità originaria, principio di visione totalizzante, che completa e compie il senso del vivere di un eroe-personaggio in riferimento al suo agire in una storia narrativa. Il rapporto dell’autore con l’eroe costituisce, per M. Bachtin, il principio narrativo del senso, con il quale si traduce un “principio produttivo, costruttivo”3, basato su valori intorno ai quali valutare l’eroe, ogni “sua particolarità, ogni suo 2 Benveniste (1990) 112–113. 3 Bachtin (1988) 6.

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tratto, ogni evento della sua vita, ogni suo atto, compresi i suoi pensieri e sentimenti”4: l’autore divino è sentito e considerato come l’unica energia attiva formatrice, data non in una coscienza concepita psicologicamente, ma in un prodotto culturale dotato di stabile significato, e la sua reazione attiva è data nella struttura che tale energia condiziona, di una visione attiva dell’eroe in quanto totalità, nella struttura della sua immagine, nel ritmo del suo manifestarsi, nella struttura intonativa e nella scelta dei momenti dotati di senso5.

Nel sentimento religioso della pratica dialogica, finalizzata a dare-ricevere valori assoluti, compiuti di senso, in modo che “vivere significa occupare una posizione di valore in ogni momento della vita, collocarsi in un’ottica di valore”, riconosciuta dall’autore divino, si pone una profonda differenza d’identità tra l’iopersonaggio e l’altro-autore, che muta lungo il percorso storico della maturazione della coscienza del soggetto umano all’interno della storia narrativa del suo rapporto con Dio. In una prima fase, almeno fino ad Abramo, a cui si chiede di sacrificare Isacco, ed a Mosé, a cui Dio presta la parola, la presenzialità di valore dell’autore è autorità unica in quanto solo l’enunciazione di Dio è garante del dare forma compiente nello spazio, nel tempo e nel senso al personaggio-uomo sottomesso, obbediente, timoroso, al quale Dio parla-comanda da una posizione di transgredienza, esotopia assoluta, esterna, sì che la Sua parola può caratterizzarsi come monologica rispetto al silenzio rispettoso dell’uditore umano. In questa fase religiosa antica, remota, che definirei di abbandono da parte del personaggio oltre che di sottomissione cosciente in favore dell’onnipotenza di Dio, l’autore autoritario è datore della benedizione, concessa come riconoscimento di fedeltà al soggetto umano, svigorito e privo di autonomia alcuna, dunque prostrato, essendo quasi annullato nel volere dall’autorità, meglio dall’onnipotenza, dell’autore monologico. Dio parla monologicamente dall’extralocalità più lontana e non posizionabile nei confronti dell’hic et nunc del personaggio silenzioso e duttile, che non risponde o, se risponde, chiede di prendere in prestito la parola dall’Onnipotente, pregandolo di parlare in Sua vece: esempi significativi di questa fase remota e lirica del sentimento religioso sono Abramo e Mosè. Al comando autoritario di “offrire in olocausto”, di sacrificare, suo figlio Isacco, Abramo non replica con alcun cenno di reticenza: “si alzò di buon mattino, sellò l’asino, prese con sé due servi e il figlio Isacco, spaccò la legna per l’olocausto e si mise in viaggio verso il luogo che Dio gli aveva indicato” (Gen. 22, 1–3).

4 Bachtin (1988) 5. 5 Bachtin (1988) 8.

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In precedenza, nel ricevere l’ordine di partire verso la terra di Canaan, Abramo non risponde, ma, obbedendo muto, parte, come gli aveva comandato il Signore: “Il Signore disse ad Abram: ‘Vattene dalla tua terra, | dalla tua parentela | e dalla casa di tuo padre, | verso la terra che io ti indicherò’…” (Gen. 12, 1). Il testo non informa del motivo per cui Dio dona questo comandamento ad Abramo, che pur quando lo riceve ha 75 anni: il personaggio, senza alcuna parola interiore di disappunto o di reazione, in giustificato riferimento alla naturale stanchezza del suo corpo anziano, arrivò effettivamente alla terra di Canaan, dove il Signore gli apparve e gli disse: ‘Alla tua discendenza io darò questa terra’. Allora Abram costruì in quel luogo un altare al Signore che gli era apparso. Di là passò sulle montagne a oriente di Betel e piantò la tenda, avendo Betel ad occidente e Ai ad oriente. Lì costruì un altare al Signore e invocò il nome del Signore (Gen. 12, 7–9).

Anche Mosè, in risposta al comando di Dio, ricevuto sul monte Oreb, di andare dal faraone per far uscire dall’Egitto gli Israeliti (“Perciò va! Io ti mando dal faraone. Fa’ uscire dall’Egitto il mio popolo, gli Israeliti” – Esod. 3, 10), risponde dubbioso a Dio non riguardo alle parole indicative del progetto divino, ma lamentandosi del fatto che egli è incapace a portare a termine la volontà di Lui, in quanto “impacciato di lingua”: “Perdona, Signore, io non sono un buon parlatore; non lo sono stato né ieri né ieri l’altro e neppure da quando tu hai cominciato a parlare al tuo servo, ma sono impacciato di bocca e di lingua” (Esod. 4, 10). Allora Dio gli risponde con tono sostenuto, così replicando: “Chi ha dato una bocca all’uomo o chi lo rende muto o sordo, veggente o cieco? Non sono forse io, il Signore? Ora và! Io sarò con la tua bocca e ti insegnerò quello che dovrai dire” (Esod. 4, 11–12). Dalla parola monologica (in quanto autoritaria ed onnipotente) di Dio scaturisce come riconoscimento la benedizione, con cui si entra nelle grazie del Signore sì da godere del miracolo, dell’impossibile, con cui oltrepassare la condizione di insufficienza, ottenendo buon esito anche per quanto riguarda eventi comuni, di cui il personaggio è privato: la promessa di Dio di benedire Sara, ad esempio, per poter partorire un bambino, sì che “nazioni e re di popoli nasceranno da lei” (Gen. 17, 15). L’accettazione della promessa, da parte dell’illocutore umano, viene dall’Onnipotente premiata con in dono la coscienza di sé non come soggetto, ma come popolo, nazione, relazione d’amicizia con gli altri popoli: “Il Signore disse ad Abramo : ‘… Farò di te una grande nazione | e ti benedirò, | renderò grande il tuo nome/e possa tu essere una benedizione’” (Gen. 12, 2). Al di là del dono di riconoscenza, all’Onnipotente monologico interessa la sottomissione, da parte del personaggio, e la sua dichiarazione di fedeltà all’alleanza con Lui: in cambio il personaggio viene premiato con la promessa di

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diventare soggetto comunitario, capostipite “molto numeroso” (Gen. 17, 2) di molteplici generazioni: Subito Abram si prostrò con il viso a terra e Dio parlò con lui: ‘Quanto me, ecco, la mia alleanza è con te: | diventerai padre di una moltitudine di nazioni. | Non ti chiamerai pù Abram, | ma ti chiamerai Abramo, | perché padre di una moltitudine di nazioni ti renderò’. || E ti renderò molto, molto fecondo; ti farò diventare nazioni da te usciranno dei re … La terra dove sei forestiero, tutta la terra di Canaan, la darò in possesso per sempre a te e alla tua discendenza dopo di te; sarò il loro Dio’ (Gen. 17, 2–8).

Un cenno di coscienza autonoma del personaggio, pur nella fase monologica del Dio onnipotente, a cui corrisponde lo stato di prostrazione del soggetto-uomo, è rappresentato dal riso di Abramo e di Sara in risposta alla notizia della nascita prossima del loro figlio Isacco: alla promessa che Sara, di novant’anni, darà un figlio a suo marito, di 100 anni, Abramo sì “si prostrò con la faccia a terra”, ma nello stesso tempo rise e pensò, mettendo in dubbio la parola di Dio: “A uno di cento anni può nascere un figlio? E Sara all’età di novant’anni potrà partorire?” (Gen. 17, 17); rise anche Sara, secondo quanto si legge nel testo biblico: Abramo aveva cento anni quando gli nacque il figlio Isacco. Allora Sara disse: ‘Motivo di lieto riso mi ha dato Dio: chiunque lo saprà riderà lietamente di me!’. Poi disse: ‘Chi avrebbe mai detto ad Abramo che Sara avrebbe allattato un figlio? Eppure gli ho partorito un figlio nella sua vecchiaia’ (Gen. 21, 5–6).

Sottomissione o abbandono, da parte del personaggio? Onnipotenza oppure eccedenza competono a Dio? Abbandono del personaggio in favore del riconoscimento di sé come benedetto, da parte dell’Onnipotente : la benedizione è collegata alla promessa, di cui Dio non solo è onnipotente nel realizzarla, ma pure autore nell’enunciarla e nel farla riconoscere come possibile. La promessa è ‘benedetta’ come riconoscimento corale, come identità di nazione, legata al riconoscimento di Dio come autore dal senso onnipotente eppure nel rapporto d’alleanza, che viene riconosciuto nei confini di una terra donata come luogo di ospitalità di lunga durata, garantita alla discendenza: da stranieri ad abitanti di una terra propria, da Dio concessa “in possesso per sempre a te ed alla tua discendenza” (Gen. 17, 8). Il vissuto della terra ‘in possesso’ come dono del Dio dei padri rappresenta un motivo costante, invariante dell’antico fino alla post-modernità, dunque senza tempo limitato, che arriva fino ad oggi, ravvisabile e riconoscibile sin nelle moderne lotte tra Israele e Palestina, così come anche è identificabile come di lunga durata, dall’antico al moderno, l’archetipo del ritorno, iniziato con Giacobbe e Mosè. Si può affermare che con l’introduzione del motivo della terra donata da Dio, la sua onnipotenza autoriale, che realizza l’impossibile deficitario ed il futuro come promessa, si configura come garanzia di identità, sancita dalla dichiarazione stessa di Dio nel parlare all’uomo, quando si autodichiara “Dio dei padri”:

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parlando a Giacobbe in sogno, in effetti, nelle cui sequenze oniriche appare su una scala attraversata in su e giù dagli angeli, secondo un’elevazione verticale con i piedi poggiati sulla terra, mentre la sua cima raggiunge il cielo, Dio così afferma : “Io sono il Signore, il Dio di Abramo, tuo padre, e il Dio di Isacco. A te e alla tua discendenza darò la terra sulla quale sei coricato. La tua discendenza sarà innumerevole come la polvere della terra …” (Gen. 28, 13–14). Giacobbe, a sua volta, giustifica la sua partenza dalla terra di Làbano per Canaan con queste parole: “L’angelo di Dio mi disse in sogno: ‘Giacobbe!’. Risposi: ‘Eccomi’. Riprese: ‘… Io sono il Dio di Betel, dove ti hai unto una stele e dove mi hai fatto un voto. Ora alzati, parti da questa terra e torna nella terra della tua famiglia’” (Gen. 31, 11–13). Così, per quanto riguarda Mosé: sul monte Oreb, dove stava pascolando il gregge di suo suocero, egli sente Dio parlargli dal roveto ardente con queste parole: “Io sono il Dio di tuo padre, il Dio di Abramo, il Dio di Isacco, il Dio di Giacobbe” (Esod. 3, 6); poi il Signore prosegue, suggerendo a Mosè di dire, nel presentare agli Israeliti la sua missione di far uscire dall’Egitto il popolo di Dio: “Dirai agli Israeliti: ‘Il Signore, Dio dei vostri Padri, Dio di Abramo, Dio di Isacco, Dio di Giacobbe, mi ha mandato a voi’” (Esod. 3, 15). La missione consiste nel consentire il ritorno degli Ebrei nella terra dei loro padri dopo l’uscita liberatoria dall’Egitto: si tratta della terra del Canneo, che è un’area “bella e spaziosa, dove scorrono latte e miele” (Esod. 3, 8). Dio come autore del senso identitario guida la liberazione del popolo ebraico, permettendo il ritorno nella terra dei padri: in questa sequenza di scrittura religiosa l’onnipotenza di Dio è motivata come legittimazione autoriale di identità, in conseguenza della quale il Signore enuncia una parola intimamente condivisibile di riconoscimento entro il mondo della tradizione, verso dove Egli stesso guida il personaggio-eroe, incarnazione dell’archetipo del ritorno in compagnia del popolo intero. Nel racconto dell’Esodo è presente nel dialogo tra Dio e Mosè un motivo interessante, che reputo germe semanticamente figurativo in cui intravedere il futuro narrativo del principio significante del Dio-autore: la sua parola eccedente dal ‘di dentro’ del personaggio, il quale si lamenta, come già si è notato, della sua insufficienza riguardo al potere-saper dire. In effetti, Dio non solo promette a Mosé di essere, quando parlerà al faraone ed agli Israeliti, “con la tua bocca e ti insegnerò quello che dovrai dire”, ma pure ribadisce, ripetendo in modo più convincente la promessa, di accompagnare lui e suo fratello Aronne nell’atto dell’enunciazione, così che quando parleranno insieme Tu gli parlerai e porrai le parole sulla sua bocca e io sarò con la tua e la sua bocca e vi insegnerò quello che dovrete fare. Parlerà lui al popolo per te: egli sarà la tua bocca e tu farai per lui le veci di Dio. Terrai in mano questo bastone: con esso tu compirai i segni (Esod. 4, 10–17).

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“Io sarò con la tua bocca e ti insegnerò quello che dovrai dire” e “io sarò con la tua e la sua bocca e vi insegnerò quello che dovrete fare”: Dio autore suggerisce, ispira, insegna a dire e, dunque, a fare; mentre il bastone, con cui si compiono i segni dimostrativi dell’onnipotenza miracolistica, è lasciato a Mosè con importanza minore: in effetti, sebbene in possesso del bastone, a cui Dio diede il potere di trasformarsi in serpente e poi di nuovo in bastone, secondo il suo volere, Mosè si sente insufficiente comunque, perché non “buono parlatore” e perché “impacciato di bocca e di lingua”. La persuasione tramite il miracolo è considerata di second’ordine rispetto all’energia comunicativa e dialogica della parola; ne consegue che per la prima volta nella scrittura biblica la parola comunicata e persuasiva ha più potere dell’onnipotenza dei segni e dell’agire impossibile che diventa possibile tramite l’onnipotenza: Dio non è chi fa, ma chi enuncia ‘con la bocca’ del personaggio una parola capace di essere ascoltata, di guidare e persuadere in nome del richiamo al ritorno nella terra dei padri ed alle ragioni legate all’identità della tradizione parlante ‘con la bocca’ del presente. Ebbene, Dio ‘presente’ nella bocca con la Sua parola, ispirando ed insegnando quello che si deve dire e fare, rappresenta il germe narrativo della Sua Presenza come autore, che parla ‘da dentro’ (ispira ed insegna) ed enuncia con la bocca del personaggio: in questa fase della figurazione di Dio nella scrittura religiosa cambia il modo retorico dell’eccedenza cronotopica e, dunque, della stessa natura della Presenza. I germi che matureranno un tipo di significazione religiosa in senso interiore fino alla religiosità mistica (definirei questa fase come lirica, anzi narrativamente lirica) sono la finitezza del personaggio (il limite verbale di Mosé) ed il suo abbandono fusivo in Dio, sì da far parlare Lui ‘in vece’ del proprio io: accade che l’Autore penetra nel profondo dell’intimità del personaggio, significandolo interamente, ossia inondandolo della Sua attività ermeneutica. Dio autore, che parla dall’interiorità del personaggio, lascia l’extralocalità cronotopica del cielo e del ‘fuori’ esteriormente spaziale, per affinarsi, spiritualizzarsi nell’intratopia del cuore del personaggio, mantenendo però la sua eccedenza di visione, espressiva di una significanza di valori altrimenti esterna rispetto alla visione interiore dell’io del personaggio, a cui vengono conferiti forma e compimento. Il pentimento, il sentimento di colpa, l’implorazione, la confessione e la preghiera avvengono all’interno di sé come momenti di invasamento liricamente ermeneutico, richiesto quale intervento eccedente dell’autore interiore nei confronti del compimento dell’eroe, di una sua convalida oggettiva dal punto di vista trasgrediente dei valori. Eppure, anche in questa fase di eccedenza intratopica l’Autore è il garante dei valori identitari, condivisi nella comunità religiosa (il popolo di Dio, la città di Dio), di cui fa parte il personaggio: l’autorità dell’Autore, che, pur giungendo dal di fuori organizza la vita interiore del personaggio, coincide con l’autorità della comunità, ricevendo da essa, il personaggio, una

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legittimazione e un sostegno, pure una convalida dal di fuori, sul piano del senso d’esistenza. L’Autore divino interiorizzato incarna l’identità dei padri-Patriarchi, così come raccontati nella Scrittura, secondo la cultura della tradizione: come per Giacobbe e Mosè, pure per Abramo ed Isacco, il Dio dei padri ritorna dalla terra promessa dell’antico della tradizione, incarnandosi nuovamente nello sguardo lirico e nella voce emotiva dell’altro, entro cui sentirsi altro, con cui compenetrarsi come altro e del quale sentirsi impregnato in quanto altro. Testo emblematico ed iniziatore di questa fase lirica del sentire Dio come autore corale di senso, interiorizzato nell’intratopia delle “stanze del cuore”, sono le Confessioni di Sant’Agostino, in cui l’onnipotenza di Dio si fa per il personaggio-scrivente eccedenza del conoscere e del conoscersi interiormente più di sé stesso, e si fa pure eccedenza autoriale del senso da ritrovare nella lettura dei Testi sacri. Le Confessioni agostiniane non sono un semplice autorendiconto oggettivato, ma l’insieme biografico degli atti con cui si vuol avere coscienza di sé, coscienza interrogante che cerca di conoscere con la parola dell’Autore divino i motivi che la spingono ad agire ed i fini per i quali essa opera, elementi che trascendono nel personaggio la propria determinatezza storico-biografica di presenza agente con un proprio carattere operante in un preciso cronotopo. Eppure, l’atto presuppone una propria teleologia che rinvia a momenti ed a valori transgredienti, grazie ai quali legittimare e giustificare le proprie azioni di personaggio, in riferimento ad una posizione di valore compiente, per la quale sentire compimento e acquietamento nella e con la parola valoriale, eccedente, di Dio-autore: Potrebbe mai qualcuno essere autore della propria creazione? O fra i rigagnoli da cui fluisce a noi l’essere e il vivere, qualcuno deriva mai da fonte diversa dalla tua creazione, Signore? Per te essere e vivere non sono due atti distinti, poiché essere in sommo grado e vivere in sommo grado sono la medesima cosa. Tu, essere massimo, non muti, la giornata odierna non si consuma in te, sebbene in te si compia, poiché anche tutte le cose di questo mondo sono in te; non avrebbero vie per cui passare se tu non le contenessi6.

Nella fase lirica della scrittura religiosa, all’interno della propria interiorità il personaggio non può trovare un punto di vista esteticamente significante; nessuna riflessione autobiografica su di sé può compierlo interamente, in quanto la parola che egli dice dalla propria individuale coscienza non può, per principio, essere l’ultima parola che completa e compie la sua stessa esistenza valoriale sul piano del senso. In effetti, il personaggio delle Confessioni, come il personaggio biblico nella fase onnipotente di Dio, è un uomo insufficiente, insoddisfatto, non sul piano del poter fare, ma su quello del senso intimo ed esistenziale, in quanto soggetto 6 Citato da: Agostino, Le confessioni, introduzione di Maria Bettetini, traduzione di Carlo Carena, Milano 2008, 77.

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implorante ed orante, bisognoso di perdono, di redenzione, alla ricerca pure di una grazia e di una clemenza che appartengono a un mondo trascendente di valori oltre i confini del proprio sé e dell’individuale autorendiconto, sulla soglia dei quali l’animo inquieto e sofferente incontra la parola di Dio autore, al cui ascolto è rivolta la sua preghiera, la sua parola incompiuta ed insufficiente di personaggio ‘in cerca d’autore’. Il puro autoriconoscimento solitario è impossibile; nel pentimento e nell’oltrepassameto di sé è evidente e fondamentale il riferimento a Dio-autore, soprattutto quando si vive in un periodo storico caratterizzato da un assoluto vuoto di valori, condizione esistenziale in cui, scrive con molta profondità riflessiva M. Bachtin: È impossibile ogni enunciazione, è impossibile la coscienza stessa. Fuori di Dio, fuori della fiducia nell’assoluta alterità è impossibile prendere coscienza di sé ed enunciare sé … La fiducia in Dio è il momento costitutivo immanente della pura presa di coscienza di sé ed espressione di sé. (Là dove si supera in sé l’autosufficienza di valore dell’esistenza-presenzialità, si supera ciò che nascondeva Dio, e là dove io assolutamente non coincido con me stesso, si apre il posto destinato a Dio). Un certo grado di calore è necessario nell’atmosfera dei valori che mi circondano perché l’autocoscienza e l’autoenunciazione possano attuarsi in essa e perché la vita cominci7.

L’alterità autrice è trascendente l’autocoscienza; essa ha un ruolo organizzatore della coscienza intima nel passaggio esistenziale dalla contrizione, dal pentimento alla fiducia, alla speranza, alla fede, nella cui struttura di senso io divento non sufficiente a me stesso, ma altro da me, riconoscendomi nel Dio autore, nelle cui parole enunciative ritrovo l’acquietamento agostiniano della pienezza: Eppure l’uomo, una particella del tuo creato, vuole lodarti. Sei tu che lo stimoli a dilettarsi delle tue lodi, perché ci hai fatti per te, e il nostro cuore non ha posa finché riposa in te. Concedimi, Signore, di conoscere e capire se si deve prima invocarti o lodarti, prima conoscere oppure invocare. Ma come potrebbe invocarti chi non ti conosce? Per ignoranza potrebbe invocare questo per quello. Dunque ti si deve piuttosto invocare per conoscere? … T’invoca, Signore, la mia fede, che mi hai dato e ispirato mediante il tuo Figlio fatto uomo, mediante l’opera del tuo annunziatore8.

Nell’affidare a Dio la forza organizzatrice del proprio io, la propria parola è sostituita da quella che si legge nella Scrittura, ispirata dal Dio autore: il verbo leggere nelle Confessioni ha un significato ‘d’intreccio’ fondamentale, a cominciare dal momento della conversione, avvenuto come risposta ad una voce di “fanciullo o fanciulla” che invita Agostino a leggere:

7 Bachtin (1988) 130. 8 Citato da: Agostino, Le confessioni, introduzione di Maria Bettetini, traduzione di Carlo Carena, Milano 2008, 71.

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A un tratto dalla casa vicina mi giunge una voce, come di fanciullo o fanciulla, non so, che diceva cantando e ripetendo più volte: ‘Prendi e leggi, prendi e leggi’ … L’unica interpretazione possibile era per me che si trattasse di un comando divino ad aprire il libro e a leggere il primo verso che vi avrei trovato9.

L’esempio di Agostino assume il ruolo emblematico di inizio della fase lirica del sentimento religioso, seguito in seguito e fin nella modernità da altre personalità illustri della scrittura religiosa, quali, ad esempio, Bernardo di Chiaravalle, Caterina da Siena, Teresa d’Avila, Giovanni della Croce,Teresa di Lisieux, ecc. Sono scrittori di confessione-autobiografia religiosa, raccontata dalla posizione di extralocalità di valore, che trovano in Dio autore un motivo simbolico invariante dall’antico al nuovo, ispiratore della scrittura religiosa in relazione al senso d’esistenza: senza la parola enunciata da Dio, autore esotopico, Abramo non sarebbe ritornato nella terra promessa, diventata terra paterna, identitaria, dunque terra di riconoscimento, per Giacobbe, Mosé e per gli Israeliti in cerca della libertà dalla schiavitù dell’Egitto. Allo stesso modo Agostino, insieme con gli altri scrittori mistici prima citati, non sarebbe ritornato a riconoscersi come coscienza compiuta in un valore significante, senza il suo autoriconoscersi nella parola scritta ed orale di Dio autore. Senza un centro organizzatore valoriale di lunga, lunghissima durata, parlante in modo esotopico fino all’introtopia del cuore, come in Agostino, e da momenti comunque transgredienti perché provenienti da un ‘fuori’ temporale (passato e/o futuro), da cui dare compimento al presente ‘dialogico’ della vita del personaggio, la vita sarebbe un misto di materiale grezzo, non bastante a se stessa, perché mancherebbe di un valore organizzatore, compositivo, in assenza del quale il personaggio, confondendosi come autore, non arrecherebbe nessuna messa in forma a sé stesso: forma significante che appartiene alla ragione ermeneutica e poetica del narrare e del comporre, che la scrittura religiosa arricchisce di motivi ed in profondità, non restandone, pertanto, del tutto esclusa ed estranea. Ebbene, il nuovo contemporaneo sembra interrompere questo simbolo invariante proveniente dall’antico con la dichiarazione della morte dell’autore e della funzione d’autore nei processi di significazione, tutt’una con la proclamazione della “morte di Dio”, a proposito della critica nietzschiana alla grammatica della lingua sancita e praticata dalla ragione logocentrica insita nella metafisica occidentale, e con l’accenno al tradimento dell’atomista Democrito, avversario degli Eleati, i quali connotarono il linguaggio nel senso dell’essere, della ragione come luce e della verità, contribuendo così a far diventare “il mondo vero una favola”:

9 Citato da: Agostino, Le confessioni, introduzione di Maria Bettetini, traduzione di Carlo Carena, Milano 2008, 276.

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In realtà, nulla fino a oggi ha posseduto una più ingenua forza di persuasione che l’errore dell’essere, come fu formulato, ad esempio, dagli Eleati: esso ha anzi a suo favore ogni parola, ogni frase che noi pronunciamo! – Anche gli avversari degli Eleati soggiacquero alla seduzione del loro concetto dell’essere: tra gli altri Democrito, quando escogitò il suo atomo … La ‘ragione’ nel linguaggio: ah, quale vecchia donnacola truffatrice! Temo che non ci sbarazzeremo di Dio perché crediamo ancora nella grammatica10.

La morte dell’autore, correlativa alla morte di Dio come autore, ha come conseguenza la crisi dell’esotopia compiente, della transgredienza comprensiva, perché ogni aspetto della vita diventa significativo dall’interno, là dove l’io vive per sé, chiuso nel rapporto con se stesso, secondo la categoria di valore del mio io per me. Crisi della trascendenza, disgregazione autoriale del senso, relativizzazione di ogni valore in quanto nessuna enunciazione rivelatrice proviene dal di fuori: l’immanenza del sacro e la psicologizzazione del bisogno del sacro segnano la mancanza della tensione di eccedenza di visione e di significazione verso cui tendere ed a cui ispirarsi. Senza la quale il senso stesso diventa limitatezza nella normalità e stranezza d’eccesso come fuga dall’abitudine del pensiero ordinariamente ‘geometrico’ (nel senso pascaliano): si tratta, nel complesso, di un pensiero accorto e pure scontato, neppure del tutto consapevole, nemmeno capace di offrire la tranquillità dell’aquietamento, conseguente al senso di pienezza che la fiducia nei valori dell’esistenza può raccogliere per essere fruita in modo anche creativo e pure responsabilmente significativo. Ecco perché, concludendo con Bachtin: Una specifica responsabilità è necessaria (nella sfera culturale autonoma): non si può creare in maniera immediata nel mondo di Dio; ma questa specificazione della responsabilità può basarsi soltanto su una profonda fiducia in un’istanza suprema che dà la sua benedizione alla cultura, sulla fiducia che della mia specifica responsabilità risponde un altro, al di sopra di me, e che io non agisco in un vuoto di valori. Fuori di questa fiducia è possibile soltanto una vuota pretesa11.

Bibliografia Agostino, Le confessioni, introduzione di Maria Bettetini, traduzione di Carlo Carena, Milano 2008. Bachtin, Michail M., L’autore e l’eroe. Teoria letteraria e scienze umane, Torino 1988. Benveniste, Émile, Problemi di linguistica generale, Milano 1990. Blumenberg, Hans, La leggibilità del mondo. Il libro come metafora della natura, Bologna 1984. 10 Citato da: Friedrich Nietzsche, Crepuscolo degli idoli ovvero come si filosofa col martello, nota introduttiva di Mazzino Montinari, traduzione di Ferruccio Masini, Milano 2007, 44. 11 Bachtin (1988) 185–186.

Markus Mülke

„Und das Leben des Menschen, weil es kurz ist“ (Protagoras): Warum habe ich keine Einsicht über Götter? αι᾿εὶ δ’ ὁπλοτέρων ἀνδρῶν φρένες ἠερέθονται· οἷς δ’ ὁ γέρων μετέῃσιν, ἅμα πρόσσω καὶ ὀπίσσω λεύσσει, ὅπως ὄχ’ ἄριστα μετ’ ἀμφοτέροισι γένηται. (Homer Ilias 3, 108–110)

Abstract The early example of the sophist Protagoras (fifth century BC) points out the close connection between theological agnosticism and the insight into the brevity of human life. The sophist’s skepticism still deserves attention today because it excludes any theological progress, but not necessarily religious progress.

1.

Einleitung

Eine der bekanntesten theologischen Aussagen der griechischen Philosophie lautet (ed. Diels – Kranz 2, 80, B 4, S. 265)1: περὶ μὲν θεῶν οὐκ ἔχω ει᾿δέναι, οὔθ’ ὡς ει᾿σὶν οὔθ’ ὡς οὐκ ει᾿σὶν οὔθ’ ὁποῖοί τινες ᾿ιδέαν· πολλὰ γὰρ τὰ κωλύοντα ει᾿δέναι ἥ τ’ ἀδηλότης καὶ βραχὺς ὢν ὁ βίος τοῦ ἀνθρώπου.

Diese als Fragment auf uns gekommene Aussage eröffnete der Überlieferung nach die sonst nicht erhaltene Schrift Περὶ θεῶν des – neben Gorgias von Leontinoi – berühmtesten Sophisten des fünften vorchristlichen Jahrhunderts, Protagoras von Abdera. Zusammen mit dem nicht minder wirkungsmächtigen Homo-mensura-Satz desselben Protagoras gilt sie, bis heute viel und kontrovers diskutiert, als besonders charakteristisch für die im fünften Jahrhundert so einflußreiche geistige Bewegung der Sophistik und zugleich als in der Geschichte der griechischen Philosophie frühestes Zeugnis eines expliziten und argumentativ begründeten Agnostizismus2. Angesichts der eingehenden Beschäftigung, welche die Philosophie und die Klassische Philologie dem Fragment gewidmet haben, muß es verwundern, daß

1 Zur unsicheren Überlieferung des Texts vgl. auch Zeller (1920) 1406; Dietz (1976) 132–137; Barnes (2002) 19 und Corradi (2017) 444–446. 2 Vgl. dazu Dietz (1976) 138–140; Thrams (1986) 71 und Meister (2010) 123. 146.

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die letzten Wörter der Aussage kaum einmal gebührende Beachtung gefunden haben: … βραχὺς ὢν ὁ βίος τοῦ ἀνθρώπου. Und doch legt die Tatsache, daß der Autor eben diese Wörter an die betonte Endstelle des Satzes rückt, den Schluß nahe, daß gerade ihnen besondere Bedeutung zuzumessen ist.

2.

Formale Beobachtungen

Die Aussage hebt an mit einer gewissen formal-inhaltlichen Spannung: Während das Prädikat in der ersten Person Singular – gleich am Anfang der ganzen Schrift! – den Subjektivitätscharakter der Feststellung hervorhebt3, relativiert sich der Ausdruck des starken Subjekts umgehend in der Negation der Verbalhandlung selbst, die ein Unvermögen des „Ich“ zur Sprache bringt: οὐκ ἔχω ει᾿δέναι. Im hinteren Teil der Aussage wird die Negation aufgegriffen durch das αprivativum in ἀδηλότης. Jenem verbalen Auftakt – Hauptsatz mit Prädikat und Infinitiv, drei Nebensätze mit zwei expliziten Prädikaten und einem implizit mitverstandenen – korrespondiert ein langer Schlußsatz, der nominal formuliert ist: substantiviertes Partizip als Subjekt (mit unterdrücktem Prädikat), Apposition sowohl eines abstrakten Substantivs, das vor Protagoras in der griechischen Literatur nicht belegt ist4, als auch einer zweiten Substantivgruppe, die ihrerseits von einem adverbialen Partizip mit Prädikatsnomen ergänzt wird. Abgesehen davon, daß damit eine prägnante Ponderierung der gesamten Aussage erreicht wird, verstärkt Protagoras so die Wirkung der Opposition, welche zwischen dem handelnden, das heißt: nicht erkennenden, „Ich“ einerseits, andererseits zwei gleichsam objektiven, in einer anthropologischen Bedingung und in dem äußeren Gegenstand selbst zuständlich-gegebenen Hindernissen bestehe, eine Opposition, die zugleich durch die beiden an den Tonstellen des Anfangs und des Endes positionierten Ausdrücke περὶ θεῶν (im Plural!) … τοῦ ἀνθρώπου (im Singular!)5 weiter geschärft wird. Das „Ich“ des Fragments und damit der ganzen Schrift ist nicht allein als individuelles zu verstehen, das aus nicht verallgemeinerungsfähiger Subjektivität spräche, sondern tritt, dabei immer noch individuelles Subjekt, mit seiner Feststellung in die Vertretung des Menschen allgemein ein6. 3 Vgl. treffend Guthrie (1969) 234. Daß die erste Person in dem Einleitungssatz einer vorsokratischen Schrift „typisch“ (Müller [1967] 1453) ist, nimmt der Aussage nichts. 4 Vgl. Dietz (1976) 137. 5 Vgl. Manuwald (1999) 188 (zu Plat. Prot. 321c5). 192 (zu Plat. Prot. 322a3–4). 6 Vgl. Müller (1967) 1455: „… die Worte τοῦ ἀνθρώπου am Ende des Satzes weisen das persönliche Nichtkönnen als ein allgemein menschliches Unvermögen aus“; Mansfeld (1981) 52: „concerned with personal knowledge … reference to human life in general“ und Corradi (2017) 446. Hier wäre also die zum Homo-mensura-Satz vieldiskutierte Frage, ob „Mensch“ sich auf ein

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Daß Protagoras auf den ersten Infinitiv ει᾿δέναι drei Nebensätze folgen läßt, ist erklärungsbedürftig, zumal da im zweiten Teil der Aussage das allgemein-zusammenfassende Subjekt πολλὰ [!] τὰ κωλύοντα7 überraschend in die Apposition mit nur zwei einzelne Angaben aufgefächert wird8, die aber ihrerseits durch τε … καί … zu einer festen Einheit zusammengeschlossen werden. Es liegt nahe, die ersten beiden οὔτε-Sätze als eine komplementäre Formulierung aufzufassen: Das „Ich“ erklärt sich außer Stande, über die Existenz von Göttern überhaupt irgendetwas zu wissen9. Der dritte οὔτε-Satz fügt dann einen neuen Aspekt hinzu, denjenigen der sinnlich wahrnehmbaren, i. e. sichtbaren Beschaffenheit der Götter10. Dadurch also, daß das erste und das dritte Element der οὔτε-Reihe auf die Existenz von Göttern rekurrieren, scheint Protagoras ihrer Annahme gegenüber jener der Nicht-Existenz ein gewisses Gewicht zu geben. Vor diesem Hintergrund konkretisiert sich die Semantik des Infinitivs ει᾿δέναι. „Wissen“ ist hier von Protagoras genau in dem Sinn verstanden, der durch die eigentliche Bedeutung des Verbs οἶδα als des Perfekts der Wortwurzel -(ϝ)ιδfestgelegt ist: als das in der Gegenwart vorhandene Resultat eines in der Vergangenheit erfolgten „Sehens“, also einer bestimmten11, vorgängigen12 sinnlichen

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Individuum oder auf die Gattung (?) bezieht (vgl. dazu Thrams [1986] 70; Woodruff [2001] 276 und Meister [2010] 47), zu dichotomisch gestellt. Vgl. dazu Parallelen aus der frühgriechischen Literatur bei Mansfeld (1981) 406. Zu prüfen wäre noch, ob Protagoras hier nicht absichtsvoll eine Argumentationsform ([oft verneinte] These mit anschließender, gern durch πολλά eingeleitete Reihung von Gründen) anklingen läßt, die in der frühgriechischen Elegie wiederholt begegnet (vgl. z. B. Mimnermos 2, 9–16 West; Theognis 133–142 West). Vgl. Graeser (1983) 26–27; Gigon (1985) 438; Woodruff (2001) 269: „Die Kunst, einander entgegengesetzte Reden vorzutragen – Argumente für beide Seiten eines Problems zu unterbreiten – wurde von Protagoras und von anderen Sophisten gelehrt“; Kerferd – Flashar (1998) 38; Denyer (2008) 2 und Meister (2010) 149. Diog. Laert. 9, 51 (ed. Diels – Kranz 2, 80, A 1, S. 253) erkennt in beiden Aussagen das seiner Darstellung nach von Protagoras begründete Prinzip der δύο λόγοι περὶ παντὸς πράγματος ἀντικείμενοι ἀλλήλοις. Die Annahme (vgl. Untersteiner [1996] 18–19 [18]. 43 [38]), mit den Ausführungen Περὶ θεῶν habe Protagoras seine Schrift Ἀντιλογίαι eröffnet, wird heute kaum noch diskutiert. Vgl. schon Jaeger (1953) 215: „Es ist aber doch klar, daß die beiden Hauptfragen, welche die vorsokratische Philosophie beschäftigt hatten, die der Existenz und der Gestalt des Göttlichen, gemeint sind“. Vgl. mit älterer Literatur bereits Untersteiner (1996) 5537 [39]. Schon Heraklit verwies bekanntlich auf die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung aus Sehen und Hören, also auf die Beobachtung als notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung der Erkenntnis; die Augen scheint er für „genauere Zeugen“ gehalten zu haben als die Ohren (vgl. Röd [1976] 102–105, zu zwei Fragmenten [ed. Diels – Kranz 1, 22, B 55 und 101a, S. 162 und 173]). Die Suggestion des platonischen Theaitetos (151e), Protagoras habe behauptet: „… also scheint, wer etwas erkennt, dasjenige wahrzunehmen, was er erkennt, und wie es … jetzt erscheint, ist Erkenntnis nichts anderes als Wahrnehmung“ (vgl. auch Kratylos 386a–d) trifft also auf diese Aussage gerade nicht zu. Vgl. ebenso unscharf z. B. Woodruff (2001) 280: „Allgemein begrenzt Protagoras das, was wir wissen, auf das, was wir wahrnehmen … strenger Empirismus …“ und Giorgini (2019) 107: „Protagoras maintains that our knowledge

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Wahrnehmung13. Daß Protagoras als Substantiv für die äußere Erscheinung von Göttern ι᾿δέα wählt14 und als erstes der vielen Hindernisse eines solchen Wissens gerade die ἀδηλότης, mithin die „Unklarheit“ des Gegenstands selbst, identifiziert, fügt sich in diesen semantischen Zusammenhang15. Die Bedeutung von ὡς entzieht sich einer simplifizierenden, mithin modernem Eindeutigkeitsbedürfnis entsprechenden Festlegung. Wie wohl auch im Homo-mensura-Satz16 bedeutet ὡς auch hier „wie, auf welche Weise“17. Weder vor Augen zu haben, „wie“ Götter existieren, noch, „wie“ sie nicht existieren, umfaßt zwar den Gedanken, die Existenz selbst weder bejahen noch verneinen zu können, schließt aber anderes noch ein. Ein Blick in die frühgriechische Philosophie und ihre kontroversen Debatten über Götter, Gott, Göttliches erschließt, daß damit nicht nur die äußere Erscheinung gemeint sein muß und daher auch keine tautologische Dopplung mit dem letzten Glied der protagoreischen οὔτε-Reihe vorliegt: Werden Götter geboren? Sterben Götter18? Bewegen sich sich? Wie ist ihr Verhalten zu beurteilen? Nach dem Prinzip des θεοπρεπές19? Wie stehen sie zueinander? Sehen sie Menschliches20? Der Katalog solcher Fragen könnte fortgesetzt werden.

3.

Unklarheit und Lebenskürze

Protagoras setzt mit seiner Aussage die Theologie, verstanden als die Rede von Gott oder Göttern, nicht außer Kraft. Sie eröffnet vielmehr eine Schrift Περὶ θεῶν! Gleichwohl wüßte man gern, wie er im Anschluß an diese Feststellung eigenen

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is limited to the phenomenal realm“. Hier wie übrigens wiederholt auch in der langen, ab 163a beginnenden Diskussion des Arguments begegnet das Verb ἐπίστασθαι, gerade nicht ει᾿δέναι (vgl. aber etwa 163d). Das Prädikat ἔχω, hier mit Infinitiv im Sinn von „imstande sein, können“ benutzt, bewahrt dabei durchaus noch die Konnotation „haben, halten“, nämlich eben das Resultat des im Infinitiv ει᾿δέναι ausgedrückten Verbalvorgangs. Und nicht solche, die konkreter auf „Körperliches“ weisen, wie etwa δέμας bei Xenophanes (ed. Diels – Kranz 1, 21, B 23, S. 135); vgl. schon Untersteiner (1996) 5639 [39]. Die schon in der frühgriechischen Literatur verbreitete Haltung, das Denken und der Wille der Götter seien dem Menschen nicht offenbar (vgl. etwa Solon Fragment 17 West), zielt also auf anderes. Vgl. Untersteiner (1996) 5538 [39] und Schirren – Zinsmaier (2003) 33 (mit Literatur). Zu behaupten, nicht imstande zu sein, über Götter gesehen zu haben, „daß“ sie nicht sind, wäre ohne jede Pointe: Nichtseiendes kann nicht gesehen werden. Vgl. etwa Schäfer (1996) 149–150; Broadie (2001) 191–192 zu Xenophanes (ed. Diels – Kranz 1, 21, A 12, S. 115, und B 26, S. 135). 195 zu Heraklit (ed. Diels – Kranz 1, 22, B 62, S. 164); Gemelli Marciano (2007) 281 sowie Schirren (2013) 355. Vgl. Schäfer (1996) 111. 148–149 zu diesem Leitwort bei Xenophanes. Vgl. etwa Xenophanes Fragment B 24 (ed. Diels – Kranz 1, 21, S. 135) und den Sophisten Thrasymachos (ed. Diels – Kranz 2, 85, B 8, S. 326).

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Unwissens bezüglich der Existenz von Göttern seine Argumentation fortsetzte21. Das Fragment selbst räumt mit der Vorstellung auf, die Götter seien dem Menschen sinnlich so wahrnehmbar, daß sich eine aus der Wahrnehmung resultierende Vorstellung, eine Ansicht von ihnen, etwa eine anthropomorphe, ergeben könnte, und zwar nicht nur hinsichtlich ihrer Existenz, sondern auch hinsichtlich ihrer eigenen Beschaffenheit22. Oder anders gesagt: An visuelle Wahrnehmungen, welche Götter betreffen könnten, kann ich mich unmöglich so erinnern, daß sie sich zu einer Ansicht über Götter, ihre (Nicht)Existenz und ihre Erscheinung gleichsam vereinigten23. Diese Feststellung betrifft, über die epistemologische Grenzziehung hinaus, unmittelbar die Grundfesten der überkommenen griechischen Religion, welche von der Sichtbarkeit der Götter und ihres Eingreifens in die Geschichte, in das Leben der Menschen ausging. Insofern impliziert der Satz in negativer Form durchaus eine Annahme über Götter selbst, indem ihnen zum einen abgesprochen wird, sie ließen sich intentional von dem Menschen so sehen, daß er infolge dieser Wahrnehmung eine Einsicht über sie gewönne, zum anderen, menschliche Einsicht in ihre Existenz und ihr Wesen könne für sie selbst von Bedeutung sein. Ebensowenig aber formuliert das Fragment den Optimismus, das Göttliche sei intelligibel, also durch den Geist allein erkennbar. Der Plural θεῶν ist bedeutsam: Einerseits umfaßt die Pluralform sowohl die vielen „Götter“ des griechischen Nomos, also der durch den alten Mythos geprägten Kultreligion der Polis24, als auch das θεῖον oder den einen θεὀς, über welchen die frühgriechische Philosophie, insbesondere die vorsokratischen Naturphilosophen, so intensiv nachgedacht 21 Die Forschung hat nicht selten der Versuchung nachgegeben, über den Inhalt der Schrift weitreichende Spekulationen anzustellen (vgl. zu älteren Hypothesen etwa Sciacca [1958] 40– 41 und Untersteiner [1996] 5747 [41]), etwa im Anschluß an die antithetische Aussage über die (Nicht)Existenz der Götter, die im folgenden, in zwei Abschnitten, expliziert worden sei. 22 Kritischen Vorbehalten, „der anthropomorphe Irrtum“ der homerischen Götter sei „moralisch verderblich und frevelhaft“ (Broadie [2001] 191 zu Xenophanes [ed. Diels – Kranz 1, 21, B 11. 15–16, S. 132–133]. 193. 194: „Xenophanes hatte es für ein Sakrileg erklärt, die Götter mit Streit und Hinterlist in Verbindung zu bringen“; vgl. auch Röd [1976] 77–78; Schäfer [1996] 111. 112–113. 146–148 zum Postulat göttlicher Vollkommenheit; Mansfeld [1983] 205; Drechsler – Kattel [2004] 116; Gemelli Marciano [2007] 282 sowie Schirren [2013] 354–355; zu Herodot 2, 53 vgl. unten Anm. 34), ist bei Protagoras der epistemologische Boden nicht minder entzogen als gegenläufigen Annahmen wie etwa jener, Götter garantierten irdische Gerechtigkeit (vgl. dazu Gigon [1985] 441). 23 Vgl. Müller (1967) 145–146 und Untersteiner (1996) 43 [38–39]: „Protagora nega la possibilità di un’esperienza sensibile riguardo l’esistere degli dèi o il loro non esistere“. Daß solcher Gedankengang den Zeitgenossen bedenkenswert erscheinen konnte, erhellt aus einer – inmitten der kritischen Interpretation des protagoreischen Homo-mensura-Satzes eingebetteten – Passage des platonischen Theaitetos (163a–165e). 24 Was Thales über die Welt gesagt haben soll: πάντα πλήρη θεῶν (ed. Diels – Kranz 1, 11, A 22, S. 79 aus Aristoteles De anima 411a7) galt im fünften Jahrhundert für die Kultreligion der griechischen Polis um nichts weniger.

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hatten25. Der grundsätzliche Anspruch, den das protagoreische „Ich“ erhebt, wird damit gleichsam in alle Richtungen erhoben26. Freilich spricht Protagoras weder den Göttern die Existenz ab27 noch schätzt er des Menschen Unfähigkeit, aus Eindrücken des Sehvermögens etwas über Götter zu wissen, schlicht gering. Aus Sehen zu einer „Ansicht“, einer „Einsicht“ über Götter zu gelangen ist vielmehr nicht von vornherein undenkbar28: Sie werde „gehindert“. Der Begriff der „Unklarheit“/„Undeutlichkeit“29 suggeriert etwas anderes als totale Unerkennbarkeit30, die von vornherein jedes Streben nach jenem Wissen unmöglich und

25 Vgl. aufschlußreich etwa Xenophanes (ed. Diels – Kranz 1, 21, B 23, S. 135) und dazu Mansfeld (1983) 210. Die Abgrenzung zu den frühgriechischen Naturlehren, die den Begriff Götter/ Gott/Göttliches nutzen (vgl. dazu Broadie [2001] 187–188 und zum „epistemologischen Optimismus“ der frühgriechischen „Denker“ Lesher [2001] 208), wird hier besonders deutlich: Nach Protagoras ist so verstandenes Wissen über Götter/Gott/Göttliches als die Grundprinzipien des Kosmos und der Natur dem menschlichen Individuum nicht möglich. Wenn etwa für Xenophanes, den der Sophist intensiv rezipiert, gilt: „Sein Gottesbegriff ist … tief“ (Broadie [2001] 189), dann tilgt der Eingangssatz von Περὶ θεῶν die ganze Kategorie, auf welcher solches Urteil ruht. 26 Zu dieser Abgrenzung vgl. etwa Röd (1976) 144: „Allen Eleaten ist die Betonung der Einzigkeit des wahrhaft Seienden mit deren Folgebestimmungen der Ewigkeit, Unveränderlichkeit, Unbeweglichkeit und Unteilbarkeit gemeinsam. Wegen der Unvereinbarkeit dieser Attribute mit den empirischen Bestimmungen der Erfahrungswirklichkeit sahen sie sich veranlaßt, die Erfahrung als Quelle des Scheins vom Denken als der Quelle der Wahrheit zu unterscheiden“. 27 Vgl. Sciacca (1958) 15. 30–32; Kerferd (1981) 165; Graeser (1983) 30; Zilioli (2007) 85; Dreßler (2014) 297–307 und Corradi (2017) 457. Damit gehen auch Annahmen wie: „rejection of the importance of the divine in human affairs“ oder „the gods are silent“ oder „the gods abandon the city, they don’t care about human beings“ (Giorgini [2019] 105–106. 110) an Protagoras vorbei. 28 In dieser Hinsicht ist aufschlußreich, daß schon der mit pythagoreischer Lehre vertraute Mediziner Alkmaion von Kroton (geboren um 540 vor Christus) zwischen Wahrnehmen (αι᾿σθάνομαι), das etwa auch den Tieren gegeben sei, und dem nur den Menschen möglichen Begreifen (ξυνίημι) unterschieden hatte; rechtes Erkennen setzt für ihn beides voraus. Gleichwohl spricht er dem Menschen – „Göttern“ nicht! – die Evidenz des Verborgenen ab, nur aus „Zeichen“ (vgl. dazu bei Xenophanes auch unten Anm. 51) eben desselben könne er auf es schließen: περὶ ἀφανέων, περὶ τῶν θνητῶν σαφήνειαν μὲν θεοὶ ἔχοντι, ὡς δὲ ἀνθρώποις τεκμαίρεσθαι καὶ τὰ ἑξῆς (ed. Diels – Kranz 1, 24, B 1, S. 214; vgl. dazu Röd [1976] 72–73 und zu τεκμήρια bei Herodot Schäfer [1996] 118–119). Protagoras spricht gerade nicht von „Zeichen“ und etwaigen Rückschlüssen aus diesen, entwirft also kein Mittleres zwischen Sehen und Wissen (als einem Gesehenhaben, Ansicht, Einsicht). 29 Vgl. Sciacca (1958) 41–42, der im Anschluß an Untersteiner (1996) 43 [38] mit „l’impossibilità di una esperienza (sensibile)“ übersetzt. 30 Oder „Nichtwahrnehmbarkeit“ (so Graeser [1983] 29; Thrams [1986] 70; Dreher [1999] 215; Woodruff [2001] 280; Scholten [2003] 49. 62 und Moser [2004] 208); besser: „Ungewißheit“ (Jaeger [1953] 215); „Dunkelheit“ (Fahr [1969] 93; Kerferd – Flashar [1998] 38; Meister [2010] 123; Heit [2011] 91 und Corradi [2017] 453–454 [mit Literatur]); „Nichtoffenbarsein“ (Müller [1967] 146); „obscurity“ (Guthrie [1969] 234; vgl. Kerferd [1981] 165; Schiappa [2003] 143: „… can also imply uncertainty, to be in the dark about …“) und „Undeutlichkeit“ (Schirren – Zinsmaier [2003] 37).

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sinnlos machte31. Protagoras leugnet ja nicht, daß etwas gesehen werden könne, das die (Nicht)Existenz und die wahrnehmbare Erscheinung von Göttern beträfe32. Insofern vollzieht die Aussage durchaus prinzipielle Definitionen: Es geht nur um visuelle Sinneseindrücke und nur um solche, welche für das religiöstheologische Kriterium „Götter“ überhaupt als relevant gelten könnten. Eine solche Konsequenz, mit der das protagoreische „Ich“ stellvertretend für „den Menschen“ Ernst damit macht, keine Einsicht33 in die Existenz von Göttern und ihre Erscheinung haben zu können, findet sich in der älteren griechischen Dichtung und Philosophie nicht34: „Protagoras bezeichnet einen großen, ent31 Vgl. treffend Mansfeld (1981) 40: „… the reference to the obstacles is concerned … with actual and independent factors which preclude that something occurs which normally would have occurred had there been no impediment“. Die Verse der (nur fragmentarisch auf uns gekommenen) satirischen Silloi (um 260 vor Christus), in denen der spätere Dichter Timon von Phleius (ca. 325 bis 235 vor Christus), Schüler Pyrrhons und Anhänger der pyrrhonischen Skepsis, auf Protagoras zu sprechen kommt, sind hier aufschlußreich (ed. Supplementum Hellenisticum 779, aus Sext. Emp. adv. math. 9, 57): Offenbar Xenophanes (!) führt einen scharfen Rundumschlag gegen frühere Philosophen (etwa Aristoteles, Zenon und Epikur) und deren Anmaßungen, scheint aber, neben nur wenigen anderen (etwa Demokrit), den Sophisten Protagoras – seinerseits weder ἀλιγύγλωσσος noch ἄσκοπος noch ἀκύλιστος – mit seiner Aussage über Götter auszusparen (vgl. dazu die zurückhaltenden Überlegungen bei Bett [2000] 151–152 und Warren [2002] 14–15 [mit Literatur, auch zu Timons möglichem Protagorastext]). Die Athener wollten dessen Schriften verbrennen, weil er geschrieben habe: θεοὺς … οὔτ’ ει᾿δέναι οὔτε δύνασθαι | ὁπποῖοί τινές ει᾿σι καὶ οἵ τινες ἀθρήσασθαι. Timon hält also ausdrücklich dafür, daß Protagoras, wie ein Vorläufer pyrrhonischer Skepsis (vgl. Long – Sedley [2000] 27 und Clayman [2009] 89), die Existenz von Göttern gerade nicht bestritt, ja daß seine Aussage den Maßstab der „Angemessenheit, Billigkeit“ (ἐπιείκεια) voll und ganz geachtet habe (vgl. dazu Clayman [2009] 88–89). Zudem: Das Verb ἀθρέω, hier absichtsvoll ins indirekte Medium gerückt, bedeutet nicht „sehen, erblicken“, sondern „ansehen, beobachten, betrachten“ (vgl. auch unten S. 42–43 bei Empedokles), zunächst, etwa bei Homer, mittels des Sehsinns, später, schon bei Pindar, aber auch geistig. 32 Vgl. Kerferd (1981) 166: „Whether Protagoras would have gone quite so far as to say that no one had seen a god might be doubted“. 33 Vgl. Snell (1978) 29–30 mit dem Begriff der „Vorstellung“. 34 Vgl. Bremer (2013) 950–951. Solch grundsätzlich skeptische Aussage unterscheidet sich also von der in diesem Zusammenhang vielzitierten Äußerung Herodots (2, 53; vgl. dazu mit Literatur Corradi [2017] 456–457), daß erstens die Griechen (und Pelasger) gleichsam „bis gestern“ nicht wußten (οὐκ ἠπιστέατο), woher „jeder einzelne der Götter geworden sei“ oder ob sie alle schon „immer existierten“ (vgl. auch hier ἦσαν als Form von εἶναι!) und: ὁκοῖοί τέ τινες τὰ εἴδεα, zweitens erst Hesiod und Homer, die nur etwa vierhundert Jahre vor ihm selbst gelebt hätten (wichtig die erste Person Singular in δοκέω), den Hellenen „die Theogonie gedichtet“ (ποιήσαντες), den Göttern die Namen gegeben, ihnen jeweils bestimmte „Ämter“ und Fertigkeiten zugewiesen hätten sowie εἴδεα αὐτῶν σημήναντες. Herodot scheint hier tatsächlich auf Protagoras bis in die Wortwahl hinein zu rekurrieren (vgl. dazu Burkert [1985] 131 mit Hinweis auf die skeptisch anmutenden, an Xenophanes gemahnenden Passagen 2, 23 und 7, 129); und doch ist sein Satz, wenn er denn überhaupt irgendeinen epistemologischen Anspruch erhebt, eingebettet in den Ägyptenlogos des zweiten Buchs, mithin in die Darstellung der (älteren) ägyptischen Religion in ihrem Verhältnis zur ( jüngeren) griechischen (vgl. dazu Burkert [1985] 131–132: „Allerdings folgt Herodot einem Xenophanes eben nicht

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scheidenden Wendepunkt in der Geschichte der griechischen Philosophie“35. Der Dichter der Ilias ruft – vor dem langen Katalog der griechischen Schiffe, die nach Troja segelten – die Musen an (2, 484–486): ἔσπετε νῦν μοι, Μοῦσαι Ὀλύμπια δώματ’ ἔχουσαι – ὑμεῖς γὰρ θεαί ἐστε, πάρεστέ τε, ἴστέ τε πάντα, ἡμεῖς δὲ κλέος οἶον ἀκούομεν οὐδέ τι ἴδμεν.

Daß er ihnen umfassendes, „das nüchternste Wissen über die schwer übersehbare Fülle der Details“36 als Ergebnis von Gesehenem37, über welches er selbst nicht verfügt, und die Erinnerung daran zuspricht, darf wohl als Andeutung eines prinzipiellen Abstands zwischen den Göttinnen und dem Menschen, für den stellvertretend der Dichter hier in der 1. Person Plural singt, verstanden werden38. Und doch: Inspiriert von den Musen kann er dieses Wissen in den Versen seiner Poesie ebenso verkünden wie die Erscheinung und die Taten der Götter, für welche eben gelte: … χαλεποὶ δὲ θεοὶ φαίνεσθαι ἐναργεῖς (20, 131)39! So zeichnet sich auch der alte Seher Kalchas gerade dadurch aus, daß er: … ᾔδη τά τ’ ἐόντα τά τ’ ἐσσόμενα πρό τ’ ἐόντα (1, 70)40. Und der vorsokratische Naturphilosoph Xenophanes von Kolophon, dessen Werk Protagoras gut kannte, entlarvt zwar die anthropomorphen Götter der Religion als falsche, grundsätzlich relative Ob-

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auf dem Weg zur schnellfertigen Polemik; sein Anliegen ist, erst einmal zur Kenntnis zu nehmen, was die anderen zu sagen haben … Religion ist eine kulturelle Tradition, die sich geschichtlich entfaltet“). Es spricht nicht ein Philosoph oder Theologe, sondern ein mit persönlichem Deutungsanspruch auftretender und manchen nachgerade modern anmutender Historiker, der hier freilich kein fundamentales agnostisches Bekenntnis ablegt. Lange (1974) 31. Snell (1978) 27. Vgl. Snell (1978) 28: „Das aoristische … ι᾿δεῖν führt zu einem ‚Resultat‘, das das Griechische durch das Perfekt bezeichnet: ει᾿δέναι. Die Fülle des punktuell Erfahrenen schließt sich zusammen im Wissen um Seiendes“. 30: „Bei Homer verbinden sich also die verschiedenen Modi der Wissenserwerbung … zu einer Einheit, in der das Gesehen-Haben und Erkennen gewissermaßen dominiert. Die Einheit des Gewußten liegt im Gedächtnis …“. Die Annahme, Protagoras nehme mit seiner Aussage kontrastierend auf den epischen Musenanruf Bezug (vgl. Corradi [2017] 456–457 [mit Literatur]), übersieht, daß der epische Dichter, auch Mensch, das Wissen der Musen eben nicht hat und daher ihrer Inspiration bedarf. Die elegische Suspension menschlicher Einsicht, die Theognis dichtet (141–142 West), hat eher gnomisches Gepräge: ἄνθρωποι δὲ μάταια νομίζομεν ει᾿δότες οὐδέν· | θεοὶ δὲ κατὰ σφέτερον πάντα τελοῦσι νόον (vgl. schon 135 West). Vgl. in der Odyssee: οὐ γάρ πως πάντεσσι θεοὶ φαίνονται ἐναργεῖς (16, 161), auch 10, 573–574: … τίς ἂν θεὸν οὐκ ἐθέλοντα | ὀφθαλμοῖσιν ἴδοιτ’ ἢ ἔνθ’ ἢ ἔνθα κιόντα; und 7, 201–205. Vgl. auch Lesher (2001) 206, dessen Liste von Belegen, an denen in der frühgriechischen Dichtung die Grenzen menschlichen Wissens und ihrer Erinnerung beklagt werden (z. B. Homer Odyssee 18, 130–137), freilich nicht in engerem Sinn epistemologisches Vergleichsmaterial zu Protagoras bietet.

„Und das Leben des Menschen, weil es kurz ist“ (Protagoras)

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jektivationen, welche die Menschen aus eigenen Sinneswahrnehmungen ableiteten41, und leugnet eindringlich (ed. Diels – Kranz 1, 21, B 34, S. 137): καὶ τὸ μὲν οὖν σαφὲς οὔτις ἀνὴρ ἴδεν οὐδέ τις ἔσται ει᾿δὼς42 ἀμφὶ θεῶν τε καὶ ἄσσα λέγω περὶ πάντων· ει᾿ γὰρ καὶ τὰ μάλιστα τύχοι τετελεσμένον ει᾿πών, αὐτὸς ὅμως οὐκ οἶδε· δόκος δ’ ἐπὶ πᾶσι τέτυκται43,

um dann aber seinerseits nur umso profilierter die eigene Anschauung vom Göttlichen in hexametrischer Poesie zu formulieren44. Gerade im Vergleich mit 41 Vgl. Schäfer (1996) 106–107. 148–151 zu den Fragmenten B 14: ἀλλ’ οἱ βροτοὶ δοκέουσι γεννᾶσθαι θεούς, | τὴν σφετερὴν δ’ ἐσθῆτα ἔχειν φωνήν τε δέμας τε. und B 16: Αι᾿θιοπές τε σιμοὺς μέλανάς τε | Θρῆικές τε γλαυκοὺς καὶ πυρρούς φασι πέλεσθαι und B 15: ἀλλ’ ει᾿ χεῖρας ἔχον βόες ἵπποι τ’ ἠὲ λέοντες | ἢ γράψαι χείρεσσι καὶ ἔργα τελεῖν ἅπερ ἄνδρες, | ἵπποι μέν θ’ ἵπποισι βόες δέ τε βουσὶν ὅμοίας | καί θεῶν ι᾿δέας ἔγραφον καὶ σώματ’ ἐποίουν | τοιαῦθ’ οἷόν περ καὐτοὶ δέμας εἶχον ἕκαστοι (ed. Diels – Kranz 1, 21, S. 132 und S. 133 und S. 132–133). Zu konstatieren ist in dieser Hinsicht, daß Protagoras seinerseits gerade nicht die (auch kulturell begründeten) Widersprüche menschlicher Objektivationen als Grund seines Agnostizismus ins Feld führt. 42 Es ist nicht ausgeschlossen, daß Protagoras mit seinem Infinitiv Perfekt ει᾿δέναι genau auf dieses Partizip Perfekt ει᾿δώς bei Xenophanes Bezug nimmt; vgl. Snell (1975) 127, über „Wissen als Gesehenhaben“ und diese schon bei Homer identifizierbare Semantik des Perfekts von -(ϝ)ιδ-: „Die Menschen haben wenig gesehen und wissen darum wenig“. 129. 221–222; Gemelli Marciano (2007) 279: „Das Verb hat seine ursprüngliche Bedeutung ‚sehen‘ und nicht ‚wissen‘“ sowie treffend Schirren (2013) 364. Die Behauptung, kein Mensch habe das Evidente (τὸ σαφές) über Götter je gesehen, hätte Protagoras sich allerdings nicht gestatten können, während er den folgenden Versen seines Vorgängers wohl wieder zugestimmt hätte: ει᾿ γὰρ καὶ τὰ μάλιστα τύχοι τετελεσμένον ει᾿πών, | αὐτὸς ὅμως οὐκ οἶδε. 43 Vgl. Mansfeld (1983) 205: „Die Vorstellung, die natürlichen Phänomene seien Manifestationen einer göttlichen Präsenz, sei gleichfalls abzulehnen“ und 211 mit gewisser Einschränkung: „Xenophanes trug seine neue Theologie und andere Auffassungen nicht als absolut sicher vor, was als Argument für eine gewisse Toleranz gegenüber dem reformierten Althergebrachten angesehen werden darf“ (so auch Röd [1976] 79–80 [zur Unterscheidung von Wissen und Meinung]; vgl. Kerferd [1981] 163–164 und Gemelli Marciano [2007] 266– 267). 44 Die These, Xenophanes ordne sich hier unterschiedslos unter die anderen Menschen ein (vgl. Broadie [2001] 193 und Schirren [2013] 363), überzeugt nicht. Vgl. dagegen Röd (1976) 76: „Xenophanes … war primär Theologe. Ihm ging es … um eine angemessene Idee des Göttlichen … Das tat er mit einer zu seiner Zeit erstaunlichen Kraft kritischen, vor allem aber theologisch konstruktiven Denkens“. 78: „Gottesbegriff doch nicht völlig unanschaulich“. 80; Mansfeld (1981) 39 und (1983) 209: „Xenophanes lehnte also die alten Götter zwar ab, aber das Göttliche selbst verbannte er nicht aus der Welt. Im Gegenteil: zur Recht verdankt er seinen Ruhm der Einführung eines neuen, sublimierten Gottesbegriffs“. 211–212: „Xenophanes behauptet keineswegs, dasselbe Maß an Unsicherheit hafte allem an; er sagt nur, daß keine absolute Sicherheit zu finden ist“; ausführlich Schäfer (1996) 114–128. 163–202 („Ansätze einer positiven Gotteslehre“); Lesher (2001) 209–211 mit berechtigter Kritik an der verbreiteten Lesart, Xenophanes sei „ein Pionier der Skepsis“, und Belegen dafür, daß er durchaus nicht „die Gültigkeit aller Sinneserfahrung entwertet“ habe (vgl. etwa Diels – Kranz 1, 21, B 1, S. 126–127; B 28, S. 135, und B 31, S. 136); Drechsler – Kattel (2004) 122–123: „Wir haben hier also das Gegenteil eines epistemologischen Nihilismus“. 128–129 sowie Gemelli Marciano

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Xenophanes erweist sich im übrigen, daß bei Protagoras die oben schon angesprochene ausdrückliche Gegenüberstellung der beiden Alternativen … οὔθ’ ὡς ει᾿σὶν οὔθ’ ὡς οὐκ ει᾿σίν … nicht müßig ist45: Xenophanes hatte seine Kritik an überkommenen Vorstellungen von den Göttern wie eine negative Theologie formuliert, also argumentiert, wie Götter nicht existierten46, ähnlich wie auch im fünften Jahrhundert Melissos von Samos, von dem Diogenes Laertios (9, 24) – leider ohne jeden Kontext – die Aussage überliefert, man dürfe sich über Götter nicht äußern (ἀποφαίνεσθαι), denn es gebe keine Kenntnis von ihnen (μὴ … εἶναι γνῶσιν αὐτῶν)47. In diesem Zusammenhang erweist sich nun, daß „der Hinweis auf die Kürze des Lebens bei näherer Betrachtung“ keineswegs „wenig Sinn macht“48: Nicht das Leben des Menschen allgemein ist hinderlich, sondern das Leben des Menschen „als kurz seiendes“, das heißt: weil es kurz ist. Die natürliche Existenz ausdrücklich unter dem Kriterium der zeitlichen Kürze als hinderlich anzusehen impliziert notwendig die Annahme, daß das Leben des Menschen dann, wenn dieses Kriterium aufgehoben wäre, es also länger dauerte, kein Hindernis darstellte. Protagoras deutet damit an, daß die zeitliche Ausdehnung des Lebens durchaus eine Entwicklung, einen Fortschritt auf das Resultat hin49, aus der

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(2007) 264–267. 280–281. Ob seine Schlußfolgerung zutrifft, Xenophanes habe postuliert, „daß kein sterbliches Wesen die Fähigkeit hat, eine gottgleiche synoptische Ansicht von ‚allem‘ zu besitzen“, kann hier nicht diskutiert werden. Von den Zeitgenossen beurteilen etwa Anaxagoras (ed. Diels – Kranz 2, 59, B. 21a, S. 43) und Euripides (Fragment 910 mit Fragment 913) die Möglichkeit, durch die Erscheinungen das Nichtwahrnehmbare zu erkennen, optimistischer. Vgl. Buchheim (2019) 27–28: „Protagoras war auch sonst ein Virtuose der Verneinung … Mit Bezug auf die Götter wird sogar die ganze Alternative von Bejahung und Verneinung des Seins noch einmal ausdrücklich verneint … denn wir haben nach Protagoras gar nicht die Statur, um unsere Mess-Alternative von Sein und Nichtsein in Anschlag zu bringen“. Vgl. dazu gut Röd (1976) 77: „Anthropomorphe Göttervorstellungen sind abzulehnen, nicht weil es kein Göttliches gäbe, sondern weil das Göttliche in seiner Vollkommenheit nicht in anthropomorpher Weise gedacht werden darf“; Mansfeld (1983) 209–210; Gigon (1985) 443; Schäfer (1996) 160 und Gemelli Marciano (2007) 281. Ob dieses Zeugnis wirklich „im Einklang steht“ mit Protagoras (Gemelli Marciano [2010] 220; kritischer schon Untersteiner [1996] 5536 [mit älterer Literatur]), bleibe hier dahingestellt. Was Herodot (1, 131) über die religiösen Bräuche der Perser überliefert, nämlich daß sie, anders als die Griechen, anerkannten, die Götter seien nicht ἀνθρωποφυέες, und ihnen deswegen weder Bildnisse noch Tempel noch Altäre errichteten, stimmt mit Protagoras tatsächlich nicht überein. Denn an derselben Stelle vermerkt der Historiker, die Perser nennten „den ganzen Kreis des Himmels“ Zeus und opferten der Sonne, dem Mond, der Erde, dem Feuer, dem Wasser und den Winden. Die späte Nachricht, die Philostrat in den Vitae Sophistarum überliefert, der junge Protagoras sei in Abdera von persischen Magi unterwiesen worden, ist in ihrem Zeugniswert fragwürdig (vgl. Schirren – Zinsmaier [2003] 32 und Scholten [2003] 36–37; zuversichtlicher Gigon [1985] 429–430). So Müller (2007) 6132. Vgl. unsicher Taureck (1995) 100: „Die Götter sind und bleiben verborgen, jedenfalls reicht kein Menschenleben aus, um etwas über sie zu wissen. Aufgrund ihrer Verborgenheit und der

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sinnlichen Wahrnehmung des Sehens zu einer deduktiven Einsicht über Götter zu gelangen, ermöglichen könnte50, freilich unter der Einschränkung, die biologisch begründete Lebensdauer begrenze den Menschen so eng, daß er das Resultat eines solchen Wissens tatsächlich nicht erreichen könne. Der Zuversicht, auf das „Suchen“ könne ein „Herausfinden“ folgen, verfällt Protagoras also gerade nicht51. Innerhalb seines kurzen Lebens ist dem Menschen also nicht jedwede Entwicklung auf jenes Resultat hin ausgeschlossen. Nur unter dieser Voraussetzung hat die ganze Aussage überhaupt Sinn: Das „Ich“ bezieht sich ja offenbar auf Sinneseindrücke, die es selbst einem Urteil hinsichtlich des ει᾿δέναι unterwirft, einem zwar nur agnostischen Urteil, aber zugleich einem kritisch gegen falsches „Wissen“ anderer über Götter, deren Existenz und deren äußere Erscheinung gerichteten52. Dieser Aspekt ist von hoher Bedeutung: Gegen die Sinneswahr-

durchschnittlichen Kürze unseres Lebens treten sie nicht in unseren Horizont“ und Woodruff (2001) 280: „Protagoras meint vermutlich, daß wir keine klaren Blickpunkte auf die Götter haben, wie wir sie haben könnten, wenn wir lange genug gelebt hätten …“. Was mit „Blickpunkten“ gemeint sein könnte, wird hier nicht recht klar (vgl. im folgenden ebenso unklar: „… um Zeugen von Ereignissen geworden zu sein, bei denen man sagt, daß die Götter eingegriffen hätten“). 50 Vgl. schon Gomperz (1910) 132 und Lesher (2001) 207. Im platonischen Protagoras (s. dazu unten S. 48) wird dem Sophisten von Sokrates ausdrücklich nachgesagt, er sei „erfahren in vielem geworden, habe viel gelernt [sc. von anderen], anderes aber auch selbst herausgefunden“ (320b: ἐξηυρηκέναι); vgl. auch Manuwald (1999) 176 (zu der Aszendenztheorie im Mythos des platonischen Protagoras). 193 (zu Plat. Prot. 322a8: ηὕρετο [sc. der Mensch]). 51 Xenophanes, welcher der Überlieferung nach Greisenalter erreicht haben soll (vgl. dazu Röd [1976] 75 und Buchheim [1994] 232), hatte postuliert (ed. Diels – Kranz 1, 21, B 18, S. 133): οὔτοι ἀπ’ ἀρχῆς πάντα θεοὶ θνητοῖσ’ ὑπέδειξαν, | ἀλλὰ χρόνῳ ζητοῦντες ἐφευρίσκουσιν ἄμεινον, bezog dies aber wohl nicht vorbehaltlos auf die menschliche Erkenntnis des Göttlichen. Daß er die empirisch voranschreitende „Erweiterung unseres Erfahrungshorizonts“ (Schäfer [1996] 108–109. 116. 123–128; vgl. auch Schirren [2013] 355–356. 366–367), etwa durch Falsifikation oder das Kriterium der Angemessenheit, für möglich hielt, ist allerdings kaum bestreitbar (vgl. etwa Diels – Kranz 1, 21, B 38, S. 138): „Die Tekmerien-Methode, im wesentlichen ein Schließen vom bereitliegenden Indiz, dem Zeichen, auf das Wesen, fördert nach Xenophanes einen Erkenntnisprozeß und die Dynamik des Denkens, die zu einem Zugewinn an Wissen führt, der sich im Verlauf der Geschichte bemerkbar macht“ (Schäfer [1996] 123); vgl. Mansfeld (1983) 205 und Schäfer (1996) 112–113. 52 Zumal da einerseits die Wahrnehmungen intentional auf einen bestimmten Sachzusammenhang, die Götter, hin taxiert werden, andererseits das „Ich“ selbstreflexiv die Wahrnehmungen ebenso wie die Möglichkeit eigenen Wissens beurteilt (vgl. dazu auch Emsbach [1980] 115). Vgl. auch Mansfeld (1981) 42 über die Lebenskürze als „constituting a definite obstacle to a decision which would be epistemologically justifiable as entailing that the only criterion which would enable him to accept that there are gods would consist in a clear and distinct personal experience confirming that what is asserted to be the case is, indeed, the case … it does not make sense to wait for a confirming personal experience“ (mit der These, sowohl bei Platon Kratylos 384b als auch bei Xenophon mem. 4, 3, 13 referiere Sokrates auf Protagoras). Übrigens geht die verbreitete Auffassung, Protagoras meine das gemessen an der

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nehmungen eines individuellen Subjekts ließe sich kein objektiver Widerspruch formulieren53, gegen die Konstruktion eines aus diesen resultierenden Wissens über Götter aber eben durchaus54. Die starke Spannung zu einem Grundsatz des Zeitgenossen Anaxagoras aus Ionien (ed. Mansfeld, S. 223): ὄψις γὰρ τῶν ἀδήλων [!] τὰ φαινόμενα, wird hier besonders deutlich. Zugleich tritt Protagoras mit diesem im Eingangssatz seiner Schrift Περὶ θεῶν geäußerten Urteil als Autor an die Öffentlichkeit und erhebt den Anspruch, mit ihm eine neue Einsicht zu vertreten; Aufklärung setzt sich selbst doch immer als Entwicklungsschritt: „Bei Protagoras wird der Mensch aus der Abwegigkeit der Wahrheitssuche befreit …

Unsterblichkeit der Götter kurze Leben der Menschen, natürlich fehl – darüber, wie die Götter sind oder nicht sind, hat er ja nach eigenem Bekunden keine Ansicht. 53 Vgl. Woodruff (2001) 276 (zu sophistischem Relativismus und Widerspruchsfreiheit). Nach Sextus Empiricus (ed. Diels – Kranz 2, 80, A 14, S. 258) vertrat Protagoras (insbesondere im Homo-mensura-Satz), daß sich die Wahrnehmungen (αι᾿σθήσεις) „umordneten und veränderten“ (μετακοσμεῖσθαί τε καὶ ἀλλοιοῦσθαι) je nach den Lebensaltern und den „anderen“ Einrichungen der Körper (παρά τε τὰς ἡλικίας καὶ παρὰ τὰς ἄλλας κατασκευὰς τῶν σωμάτων). Der Anteil, den die Menschen bald an diesem, bald an jenem nähmen (ἀντιλαμβάνεσθαι), hänge stets von ihren jeweils unterschiedlichen eigenen Verfassungen (διαθέσεις) ab – darunter das Lebensalter ebenso wie das Schlafen oder Wachen. Der vieldiskutierte protagoreische Relativismus (vgl. dazu Mansfeld [1981] passim; Graeser [1983] 24–25; Thrams [1986] 73; Woodruff [2001] 274–275 [über die vergleichende Beobachtung religiöser Vorstellungen in unterschiedlichen, auch außergriechischen Kulturen]; Zilioli [2007] 36–37. 49–50 und Meister (2010) 48–49) wäre unter diesen Voraussetzungen also gerade nicht total: Einerseits schriebe Protagoras dem einzelnen Individuum und dessen Sinnen eigene, allein subjektive αι᾿σθήσεις zu, andererseits ordnete er die αι᾿σθήσεις im Bereich eben des Individuums definierbaren, seiner natürlichen Disposition korrespondierenden Kategorien unter, etwa den ἡλικίαι (plural!), welche durch die fortschreitende Lebenszeit hindurch die Wahrnehmungen in bestimmter Weise konditionieren (vgl. Taureck [1995] 103 [über die dann eben doch den Erscheinungen vorgängige Existenz der Materie]. 107–108 [über Relativismus und Bedingungen der Wahrnehmung] sowie Meister [2010] 49–50). Die Einordnung subjektiver Wahrnehmungen in objektive oder zumindest intersubjektiv mitteil- und diskutierbare Kategorien eröffneten dann den Weg zu ihrer Beurteilung. Wissen über Götter läge damit zwar nicht vor, aber doch eine gewisse Systematisierung subjektiver Wahrnehmungen, die so auch zum Gegenstand von Bewertung werden könnten, etwa nach dem für die protagoreische Ethik so wichtigen Maßstab der εὐβουλία (vgl. dazu unten S. 52). Die Annahme, der Mensch erreiche in seinem kurzen Leben zwar kein Wissen über Götter, schreite aber, wie oben vermutet, eben während dieser Ausdehnung auf ein solches hin fort, scheint dabei die Kategorie der ἡλικίαι ihrerseits als ein inneres Differenzierungskriterium auszuweisen. Es wäre zu prüfen, ob nicht auch schon der platonische Theaitetos (166b–168c) darauf hindeutet, daß Protagoras dem Alter und der Entwicklung des Menschen im Altern besondere Aufmerksamkeit schenkte. 54 Nähme man an, der protagoreische Homo-mensura-Satz meinte, „daß meine Urteile für mich und deine für dich jederzeit wahr sind“ (vgl. Woodruff [2001] 275 zu Plat. Theaet. 152a; dazu auch Plat. Kratylos 385e–386c sowie Bremer [2013] 953), dann wäre der Eingang von Περὶ θεῶν damit nicht leicht zu vereinbaren (vgl. Kerferd [1981] 166). Wichtig die Überlegungen Buchheims (2019) 26–28 dazu, daß Protagoras im Homo-mensura-Satz das Messen auch auf das Nichtseiende anwandte.

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durch die Abschaffung der ‚wahren Welt‘ zugleich der Schein als ‚bloßer Schein‘ abgeschafft“55.

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Lebenskürze und theologische Einsicht

Die Überlieferung besagt, daß Protagoras – der selbst höheres Alter erreicht haben soll56 – dem Verlauf menschlichen Lebens in der Zeit besondere Aufmerksamkeit widmete. Damit steht er als Denker des fünften vorchristlichen Jahrhunderts nicht allein da. Freilich neigen die frühgriechischen Autoren dort, wo sie nicht Altersklage57 anstimmen oder allgemein die Kürze des menschlichen Lebens bedauern, sondern hohe Wertschätzung des Alters zum Ausdruck bringen, dazu, gerade den Vorsprung des Alters an Einsicht, Weisheit und Erkenntnis gegenüber der Jugend hervorzuheben58. Selten ist demgegenüber die nicht minder bedenkenswerte Auffassung, die zeitliche Ausdehnung des Lebens bringe dem Menschen gerade keinen Zugewinn an Erkenntnis ein, sondern, im Gegenteil, fortschreitende Verdunkelung und Unklarheit. So heißt es bei dem attischen Tragiker Sophokles, einem Zeitgenossen des Sophisten Protagoras, einmal (Aias 646–647): ἅπανθ’ ὁ μακρὸς κἀναρίθμητος χρόνος | φύει τ’ ἄδηλα καὶ φανέντα κρύπτεται (der Protagonist spricht), und bei dem Lateiner Cicero (nat. 1, 60) findet sich eine sicher auf ältere griechische Quellen zurückgehende Anekdote über den Elegiker, Epigrammatiker und Lyriker Simonides von Keos (gestorben 468/467 vor Christus): roges me [sc. den Akademiker Cotta], quid aut quale sit deus: auctore utar Simonide, de quo cum quaesivisset hoc idem tyrannus Hiero, deliberandi sibi unum diem postulavit; 55 Bremer (2013) 953–954 (vgl. schon 949 zur Sophistik als aufklärerische Kraft). Gerade in einer Aussage, die Einsicht über Götter für unmöglich erklärt, auf die biologisch begrenzte Lebenszeit des Menschen zu sprechen zu kommen ist in der griechischen Umwelt „voll von Göttern“ positionell: Populärer Mythos erzählte von Klotho, Laches und Atropos, den drei Moiren und Töchtern des Zeus und der Themis, die jedem Menschen seine Lebenszeit und sein Schicksal zuteilten. 56 Vgl. Graeser (1983) 20; Manuwald (1999) 96 und Meister (2010) 141. 57 Vgl. dazu Brandt (2002) 29–38 mit schönen Belegen aus der Lyrik. 58 Vgl. Gnilka (1983) 1004 zu Homers Nestor (Ilias 4, 313–316. 320–325; dazu auch Brandt [2002] 19). 1007 zu Solons Lebensalterelegie (Fragment 27 West). 1009 zum sophokleischen Ödipus auf Kolonos. Im spanischen Gades soll Γῆρας kultisch verehrt worden sein, „weil es das Lebensalter repräsentierte, das viel gelernt hat“ (Gnilka [1983] 1005). Als Vers des athenischen Politikers Solon wird überliefert (Fragment 18 West): γηράσκω δ’ αι᾿εὶ πολλὰ διδασκόμενος. Bemerkenswert, daß schon Demokrit, der anderswo „die Geisteskraft als den eigentlichen Vorzug des Alters“ (Brandt [2002] 50) wertschätzt, Zweifel äußerte, ob fortschreitendes Lebensalter Gewinn an Einsicht begründe (ed. Diels – Kranz 2, 68, B 183, S. 182): χρόνος γὰρ οὐ διδάσκει φρονεῖν, ἀλλ’ ὡραίη τροφὴ καὶ φύσις. Zu ähnlichen Denkanstößen in der griechischen Consolatio und Panegyrik vgl. Gnilka (1983) 1028–1029.

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cum idem ex eo postridie quaereret, biduum petivit; cum saepius duplicaret numerum dierum admiransque Hiero requireret, cur ita faceret, „Quia, quanto diutius considero,“ inquit „tanto mihi spes videtur obscurior“. sed Simoniden arbitror (non enim poeta solum suavis, verum etiam ceteroqui doctus sapiensque traditur), quia multa venirent in mentem acuta atque subtilia, dubitantem, quid eorum esset verissimum, desperasse omnem veritatem59.

Schaut man über die griechische Kultur, Religion und Philosophie hinaus, drängt sich der Blick in die hebräische Bibel auf, in welcher der Pentateuch von den hochbetagten Patriarchen erzählt60 und zugleich langes Leben als Gottes Lohn für besondere Frömmigkeit, Gottesfurcht und Gehorsam preist: „Zur göttlichen Belohnung gehörte die Lebenslänge, das hohe und glückliche Greisenalter.“61, und Gott spricht zu Salomon (1 Kön. 3, 14): „Und wenn du in meinen Wegen wandeln wirst, daß du hältst meine Satzungen und Gebote, wie dein Vater David gewandelt ist, so will ich dir ein langes Leben geben.“ Bezeichnend ist freilich die Reihenfolge, welche sich in der späteren Weisheitsliteratur findet: „Die Weisheit, deren Anfang Gottesfurcht ist, bringt langes Leben und Wohlergehen.“62 Für das Urteil des Sophisten Protagoras, gerade auch die Kürze des menschlichen Lebens begründe agnostische Skepsis, wird man somit weder innergriechische Bezüge noch interkulturell-interreligiöse Parallelen älterer oder zeitgenössischer Autoren finden63. Empedokles64, der zuweilen angeführt wird, dichtet im Prooemium seines hexametrischen Werks Περὶ φύσεως (V. 1–9 [ed. Mansfeld, S. 70–71])65: 59 Vgl. Corradi (2017) 453, allerdings mit der falschen Vermutung, die Episode rezipiere möglicherweise Protagoras – tatsächlich vertritt der Sophist etwas anderes. 60 Vgl. dazu Neumann-Gorsolke (2012) 260–261: „Verbundenheit der ersten Menschen mit der göttlichen Sphäre“. 263: „besonderer Segen Gottes“. 61 Gnilka (1983) 1043; vgl. auch Klopfenstein (1996) 263 und Neumann-Gorsolke (2012) 260. 263–264. 62 Gnilka (1983) 1045 (zu Prov. 9, 10–11); vgl. auch Klopfenstein (1996) 268–269 „Eine ganz besondere Würde der alten Generation besteht darin, daß sie der jüngeren Generation die zentralen Glaubensinhalte weitervermitteln darf“ (mit Hinweis auf Dtn. 6, 20–21 und Ps. 92, 15–16). Ähnliche Vorbehalte wie bei Demokrit (s. oben Anm. 58) finden sich etwa im Buch Hiob (12, 12–13): „Bei den Großvätern nur soll Weisheit sein und Verstand nur bei den Alten? Bei Gott ist Weisheit und Gewalt, sein ist Rat und Verstand.“ (dazu auch Ernst [2011] 90–91. 94–100. 212 und Neumann-Gorsolke [2012] 269) und (32, 8–9): „Wahrlich, es ist der Geist im Menschen und der Odem des Allmächtigen, der sie verständig macht. Die Betagten sind nicht die Weisesten, und die Alten verstehen nicht, was das Rechte ist“ sowie im Buch Sirach (25, 3): „Wenn du in der Jugend nicht sammelst, wie kannst du im Alter etwas finden?“ 63 Ob Euripides in den Versen 395–397 seiner Bacchen auf Protagoras Bezug nimmt (so Di Benedetto [2004] 8–9), kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Die Vermutung (vgl. Corradi [2017] 466102) weiter zu verfolgen, später antworte auf ihn Platon zu Beginn des zehnten Buchs der Nomoi, mithin in der Wende gegen die ( jungen) Gottesleugner, wäre lohnenswert, insbesondere im Hinblick auf die Stelle nom. 888b–c, an der es heißt: … φράζοιμ’ ἄν, τὸ μηδένα πώποτε λαβόντα ἐκ νέου ταύτην τὴν δόξαν περὶ θεῶν, ὡς οὐκ ει᾿σίν, διατελέσαι πρὸς γῆρας μείναντα ἐν ταύτῃ τῇ διανοήσει … Daß Platon in den Nomoi Protagoras kritisch in den Blick nimmt, und zwar in Kombination des Homo-mensura-Satzes mit der

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στεινωποὶ μὲν γὰρ παλάμαι κατὰ γυῖα κέχυνται· πολλὰ δὲ δείλ’ ἔμπαια, τά τ’ ἀμβλύνουσι μέριμνας· παῦρον δὲ ζωῇσι ὅλου μέρος ἀθρήσαντες ὠκύμοροι καπνοῖο δίκην ἀρθέντες ἀπέπταν, αὐτὸ μόνον πεισθέντες, ὅτῳ προσέκυρσεν ἕκαστος πάντοσ’ ἐλαυνόμενοι· τὸ δ’ ὅλον εὔχεται εὑρεῖν; οὕτως οὔτ’ ἐπιδερκτὰ τάδ’ ἀνδράσιν οὔτ’ ἐπακουστὰ οὔτ’ νόῳ περιληπτὰ. σὺ δ’ οὖν, ἐπεὶ ὧδ’ ἐλιάσθῃς, πεύσεαι, οὐ πλεῖόν γε βροτείη μῆτις ὄρωρεν,

unterwirft also sich selbst eben nicht der Suspension eigenen Urteils, sondern nimmt in Anspruch, die wahre Einsicht in Natur und das Göttliche in seiner Poesie zu verkünden66. Dadurch, daß Protagoras seine Skepsis gegenüber Wissen von Göttern mit der Kürze menschlichen Lebens begründet, bezieht er Distanz auch gegenüber einer weiteren, im zeitgenössischen Griechenland vielbeachteten Lehrmeinung, nämlich jener von der Metempsychosis, der Seelenwanderung. Schon im fünften Jahrhundert nahm man (vielleicht zu Unrecht67) an, diese Lehre stamme nicht aus Griechenland selbst, sondern sei von außen, etwa aus Ägypten, dorthin eingeführt worden. Als Begründer und prominentester Vertreter der bereits in der noch älteren Orphik nachweisbaren Annahme, die Seele sei unsterblich und gehe nach dem Tod des von ihr beseelten Lebewesens in ein anderes ein, galt unter den Griechen nichtsdestotrotz schon früh Pythagoras von Samos (etwa 570 bis 480 vor Christus), wobei dieser Wanderung nicht nur von Mensch in Mensch, sondern auch in Tier oder Pflanze für möglich hielt68. Es ist kein Zufall, daß die Seelenlehre des „ersten Philosophen“, der für seine Gelehrsamkeit und Weisheit als πολυμαθής in der ganzen griechischen Welt bekannt – und umstritten – war,

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Schrift Περὶ θεῶν, erhellt unabweisbar aus den Worten des Atheners schon im vierten Buch (nom. 716c; vgl. dazu auch Dreßler [2014] 300437). Vgl. Mansfeld (1981) 41; Schiappa (2003) 142–143 und Corradi (2017) 454, der noch andere Stellen aus der frühgriechischen Literatur (etwa Simonides) anführt, an denen die Klage über die Kürze menschlichen Lebens und ephemeres Dasein anklingt – die aber mit Protagoras und seinem theologischen Anliegen im engeren Sinn nichts zu tun haben. Daß die Zeit und mit ihr der Tod eine stets begrenzende und bedrohende Gefahr menschlichen Lebens in seiner Dauer bedeuteten, ist ein Hauptgedanke frühgriechischer Literatur. In dem auch er die sinnliche Wahrnehmbarkeit von Göttern abweist (ed. Mansfeld, S. 138): οὐκ ἔστιν πελάσασθαι ἐν ὀφθαλμοῖσιν ἐφικτὸν | ἡμετέροις ἢ χερσὶ λαβεῖν, ᾗπέρ τε μεγίστη | πειθοῦς ἀνθρώποισιν ἁμαξιτὸς ει᾿ς φρένα πίπτει. Vgl. Röd (1976) 146: „religiöser Prophet und Heilslehrer“. 149: „göttlicher Ursprung der Lehre, der ihre Wahrheit verbürgt“. 158 (zur Spannung zwischen Erkenntnis/Wissen und „Glauben“); Mansfeld (1981) 41; Broadie (2001) 199; Lesher (2001) 220–224,; Dalfen (2004) 7 und Gemelli Marciano (2009) 325. Vgl. Burkert (1962) 102–109. 112; Mansfeld (1983) 115. 173 (zu Herodot 2, 123) sowie Riedweg (2002) 87 (zu möglichen griechischen Vorläufern wie Orphiker oder Pherekydes von Syros). Vgl. Jaeger (1953) 105; Burkert (1962) 99; Riedweg (2002) 87 und Zhmud (2013) 386–387.

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epistemologischen Charakter hatte69, sich implizit gegen die allgemein menschliche Annahme richtete, das Wissen eines Menschen werde zeitlich durch die Dauer seines Lebens beschränkt, und damit die biologische Begrenzung menschlichen Wissens durch „Einheit von Lebensseele und Bewußtsein“70 transzendierte, ja aufhob71. Pythagoras selbst soll behauptet haben (Porphyrios Vita Pyth. 18 [ed. Mansfeld, S. 172]): … ἀθάνατον εἶναι … τὴν ψυχήν, εἶτα μεταβάλλουσαν ει᾿ς ἄλλα γένη ζῴων, und zwei der frühesten Zeugnisse für die Rezeption pythagoreischer Philosophie überhaupt rücken die Seelenwanderungslehre mit ihrem epistemologischen Argument in den Mittelpunkt. Xenophanes von Kolophon dichtet über Pythagoras (aus Diog. Laert. 8, 36 [ed. Diels – Kranz 1, 21, B 7, S. 258]) 72: καί ποτέ μιν στυφελιζομένου σκύλακος παριόντα φασὶν ἐποικτῖραι καὶ τόδε φάσθαι ἔπος· „παῦσαι μηδὲ ῥάπιζ’, ἐπεὶ ἦ φίλου ἀνέρος ἐστίν ψυχή, τὴν ἔγνων φθεγξαμένης ἀίων“.

In den Καθαρμοί des oben schon genannten Empedokles heißt es hingegen (aus Porphyrios Vita Pyth. 30 [ed. Mansfeld, S. 174]): ἦν δέ τις ἐν κείνοισιν ἀνὴρ περιώσια ει᾿δώς, παντοίων τε μάλιστα σοφῶν ἐπιήρανος ἔργων, ὃς δὴ μήκιστον πραπίδων ἐκτήσατο πλοῦτον· ὁππότε γὰρ πάσῃσιν ὀρέξαιτο πραπίδεσσιν, ῥεῖ’ ὅ γε τῶν ὄντων πάντων λεύσσεσκεν ἕκαστον καί τε δέκ’ ἀνθρώπων καί τ’ εἴκοσιν αι᾿ώνεσσιν73. 69 Vgl. Snell (1978) 31: „Wenn Wissen Erinnerung an Gesehenes ist, aber mehr umfaßt, als ein einzelner hat sehen können, muß das Erinnern zurückreichen in die Zeit vor der Geburt“ und Mansfeld (1983) 115: „Es wird überliefert, daß Pythagoras ihre Gültigkeit bewies, indem er sich und andere an frühere Inkarnationen der eigenen Seele erinnerte.“ 70 Jaeger (1953) 100; dazu Burkert (1962) 110. 71 Vgl. Burkert (1962) 112–113: „… eine Lehre wird verkündet, die in unmittelbarer Beziehung auf den Menschen und im wörtlichen Verstande auf Wahrheit Anspruch macht … Es geht um … Vergangenheit und Gegenwart, Präexistenz und Leben nach dem Tode sind in einem Gedanken umfaßt, und insofern Tiere und Pflanzen mit einbezogen werden, tritt die Einheitlichkeit und Homogenität der Welt heraus … ein Versuch zu konsequentem Denken … eine Präfiguration der Ontologie des Parmenides. Eine Lehre, die menschliche Erfahrung und damit das normale menschliche Wissen in der Weise übersteigt wie die Seelenwanderung, kann ihre Legitimation nur aus einer göttlichen oder quasigöttlichen Sphäre empfangen“. 72 Vgl. Burkert (1962) 98; Giangiulio (2000) 69: „La testimonianza … si qualifica pertanto come la più antica a nostra disposizione“; Gemelli Marciano (2007) 270 und Schirren (2013) 366– 367. Der gewiß nicht apologetische, eher spöttische Ton der Verse (vgl. auch Riedweg [2002] 87) bezeugt die schon früh kontroverse Aufnahme der pythagoreischen Seelenwanderungslehre (vgl. auch Herodot 2, 123). 73 Vgl. Burkert (1962) 100. 109–110. 113–114; Giangiulio (2000) 70: „La sua sapienza è menzionata in un contesto che fa riferimento a un prodigioso potere di controllo psichico della dimensione temporale, cui si associa la capacità di ‚vedere‘ nelle generazioni umane prece-

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Es ist communis opinio der neueren Forschung, daß sich Empedokles selbst diese Lehre von Pythagoras aneignete74, bevor ihr epistemologisches Postulat prominent in der wirkungsmächtigen Anamnesislehre Platons schöpferisch verarbeitet werden sollte75. Sich von dieser offenbar weit umlaufenden Seelenwanderungslehre abzusetzen dürfte sich für Protagoras, der in den griechischen Poleis als Lehrer der praxisbezogenen „Wohlberatenheit“ (εὐβουλία) 76 in häuslichen wie öffentlichen Angelegenheiten auftrat und für seinen Unterricht hohe Honorare erhob, empfohlen haben77, weil – wie Walter Burkert in seiner bis heute unüberholten Studie Weisheit und Wissenschaft aufzeigte – Pythagoras für sein „vieles Wissen“, das „die Welt der Menschen und vor allem der göttlichen Wesen, das Diesseits und das Jenseits“78 umspannte, berühmt war, zugleich aber eben dieses religiös fundierte, beispielsweise von Heraklit auch scharf kritisierte Wissen79 als das eines quasi göttlichen Menschen galt80 und detaillierte Regeln

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denti“ und Gemelli Marciano (2009) 438. Vgl. aus späterer Zeit: Gell. noct. Att. 4, 11, 14 (aus Dikaiarch); Iamblichos Vita Pyth. 63 (bei Mansfeld [1983] 172) und theolog. arith. 52, 8 De Falco – Klei (aus Neanthes; vgl. dazu Giangiulio [2000] 24–25). Herakleides aus Pontos, Schüler Platons und dann selbst Aristoteliker, berichtet (bei Diog. Laert. 8, 4–5 [vgl. Burkert [1962] 114–115 und Mansfeld [1983] 174]), Pythagoras habe postuliert, einst als Aithalides geboren und als Sohn des Gottes Hermes angesehen worden zu sein. Hermes habe ihm freigestellt, sich alles zu wünschen außer Unsterblichkeit: αι᾿τήσασθαι οὖν ζῶντα καὶ τελευτῶντα μνήμην ἔχειν τῶν συμβαινόντων. ἐν μὲν οὖν τῇ ζωῇ πάντων διαμνημονεῦσαι, ἐπεὶ δὲ ἀποθάνοι τηρῆσαι τὴν αὐτὴν μνήμην, bevor seine Seele der Reihe nach in weitere Menschen eingegangen, er am Ende als Pythagoras geboren worden sei und sich an alles erinnert habe. Vgl. vor allem Diog. Laert. 8, 77 und Röd (1976) 146. 159; Mansfeld (1983) 176–177; Buchheim (1994) 145. 173; Graham (2001) 148; Gemelli Marciano (2009) 356–361 sowie Primavesi (2013) 714–715. Vgl. dazu, auch über die entscheidenden Unterschiede zwischen Pythagoras und Platon, Burkert (1962) 145–147. Im platonischen Menon (ab 80d) wird die Lehre von der Wiedererinnerung der unsterblichen Seele ausdrücklich auf vorsokratische Priesterinnen und Priester sowie Autoren wie Pindar und andere Dichter zurückgeführt. Ob es ein Zufall ist, daß Platon im Theaitetos (151e) die Diskussion über den Homo-mensura-Satz unmittelbar nach der ausführlichen Darstellung der sokratischen Hebammenkunst, welche die Anamnesislehre vorausssetzt, beginnen läßt? Vgl. dazu Plat. Prot. 318e–319a, mit Manuwald (1999) 149; Denyer (2008) 94–95 und Woodruff (2013) passim. Insbesondere dann, wenn die von Diogenes Laertios (9, 54) überlieferte Information, die Schrift Περὶ θεῶν habe Protagoras als ersten seiner Logoi öffentlich vorgetragen, Historizität beanspruchen dürfte (günstig etwa Sciacca [1958] 15; Gigon [1985] 429; Untersteiner (1996) 18–19 [18]; Kerferd – Flashar [1998] 30 und Dreßler [2014] 298). Die Angabe verdient Aufmerksamkeit nicht zuletzt deswegen, weil sie zu der Tradition, Protagoras sei wegen des ersten Satzes der Schrift in Athen auf Asebie angeklagt worden und kurz darauf verstorben (s. dazu auch unten Anm. 52), in einer gewissen Spannung steht und die Frage aufwirkt, wie die Entwicklung der athenischen Verhältnisse die Einschätzung der protagoreischen Position beeinflußte. Burkert (1962) 143; vgl. Zhmud (2013) 397. Vgl. etwa Röd (1976) 54 darüber, daß „Unsterblichkeit ein Attribut des Göttlichen ist, so daß mit der Lehre der Unsterblichkeit der Seele zugleich die Auffassung durchdringt, daß die

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zur Lebensführung, etwa eine fein differenzierte Reinigungslehre, begründete: „Der weitreichende Grundgedanke ist … die in allen Zeiten so mächtige religiöse Idee der Gott-Verähnlichung, ja der Vergöttlichung der in ihrem Ursprung für göttlich gehaltenen menschlichen Seele“81.

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Schlußüberlegung

Nach heutiger Überlieferungslage war Protagoras der erste Grieche überhaupt, der eine Schrift mit dem Titel Περὶ θεῶν veröffentlichte82. Der Sophist verstand sein Werk also ausdrücklich als ein theologisches, als eines, in dem „Über Götter“ gesprochen werde. Mit Recht wird er daher noch in erheblich späteren Katalogen aufgeführt, welche berühmte Theologen griechischer Zeit und ihre Lehren zusammenstellen (etwa Cic. nat. 1, 18–43 [in der Rede des Epikureers Velleius]). Schon früh gilt er allerdings weithin als Atheist83, nicht allein den Athenern, die ihn auf Asebie verklagt haben sollen84. Der Ruf, die Existenz von Göttern als erster überhaupt bestritten zu haben, ist freilich dort, wo er kritischen Widerspruch auslöst, ebenso unbegründet wie bei jenen, die Protagoras als Ahnherrn

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Seele der Region des Göttlichen angehöre, der sie entstamme und in die zurückzukehren sie bestimmt sei“. Vgl. Burkert (1962) 144 mit dem Hinweis auf die Schrift Über die heilige Krankheit aus dem Corpus Hippocraticum (6, 354), in welcher wandernde Heiler, die mit magischen Riten Kranke behandelten, angegangen werden: προσποιέονται … πλέον τι ει᾿δέναι, und dem Kommentar: „Der Anspruch, ‚mehr‘ zu wissen, über die dem normalen Menschen gesetzten Grenzen hinaus, ist Charakteristikum des ‚Schamanen‘“; Röd (1976) 56 sowie Zhmud (2013) 386. 397. Es ist vielsagend, daß sich auch in der Medizin epistemologische Skepsis verbindet mit dem Bestreben, überkommenem Wunderglauben und Magie durch rationale Erklärung von Krankheiten zu begegnen (vgl. auch unten S. 51). Röd (1976) 55. Die nicht nur theologische, sondern auch religiöse Tragweite des protagoreischen Agnostizismus erhellt daraus, daß vielleicht schon auf Pythagoras selbst die Lehre zurückging, die Seele des Menschen erfahre nach dem Tod und in der Wiedereinkehr in einen neuen Leib Retribution für das vorangegangene Leben (vgl. dazu Ion von Chios, Zeitgenossen des Sophisten, Fragment 30 West). Die im Pythagoreismus fortschreitend ausdifferenzierten Maßgaben sittlicher Lebensführung gingen gerade auf diese Überzeugung zurück (vgl. dazu Burkert [1962] 100 und Riedweg [2002] 88). Jedwede Vor-bild-lichkeit von Göttern ist für Protagoras ausgeschlossen. Vgl. dazu Gigon (1985) 434–435; skeptisch Barnes (2002) 18. Vgl. mit Belegen Dietz (1976) 138–139; Kerferd (1981) 164–165; Barnes (2002) passim und Schiappa (2003) 143–144. Dem Prozeß soll sich Protagoras durch Flucht entzogen haben und auf der folgenden Überfahrt nach Sizillien ertrunken sein. Zur Historizität dieser Ereignisse Zeller (1920) 1301– 1302; Kerferd (1981) 164–165; Graeser (1983) 20–21. 30; Gigon (1985) 430–434; Kerferd – Flashar (1998) 25; Denyer (2008) 101 und Meister (2010) 141–142; skeptisch z. B. Müller (1967) 148–158; Manuwald (1999) 97; Schiappa (2003) 144–146 und Corradi (2017) passim (mit neuerer Literatur).

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ihrer eigenen Kritik an Religion und Theologie für sich vereinnahmen. Ludwig Feuerbach etwa, der ihn gut kennt und verarbeitet, entwirft in seinem Wesen der Religion doch etwas ganz Unprotagoreisches. Vielversprechend könnte es sein, die wenigen Zeugnisse nocheinmal genauer zu untersuchen, an denen eine differenziertere Rezeption des protagoreischen Agnostizismus aufscheint. So rückt in Ciceros De natura deorum der Akademiker (!) Cotta den Sophisten explizit ab von den in unmittelbarem Kontext durchdeklinierten Atheisten85, ohne ihm freilich jeden Vorwurf zu ersparen (1, 63)86: quid Diagoras, atheos qui dictus est, posteaque Theodorus nonne aperte deorum naturam sustulerunt? nam Abderites quidem Protagoras, cuius a te modo mentio facta est, sophistes temporibus illis vel maximus, cum in principio libri sic posuisset „de divis neque, ut sint neque ut non sint, habeo dicere“, Atheniensium iussu urbe atque agro est exterminatus librique eius in contione combusti; ex quo equidem existimo tardioris ad hanc sententiam profitendam multos esse factos, quippe cum poenam ne dubitatio [!] quidem effugere potuisset. quid de sacrilegis, quid de impiis periurisque dicemus?

und, gegen die Epikureer gerichtet (1, 117): quid est autem, quod deos veneremur propter admirationem eius naturae [sc. der Götter], in qua egregium nihil videmus? nam superstitione, quod gloriari soletis, facile est liberare, cum sustuleris omnem vim deorum. nisi forte Diagoram aut Theodorum, qui omnino deos esse negabant, censes superstitiosos esse potuisse; ego ne Protagoram quidem, cui neutrum licuerit, nec esse deos nec non esse. horum enim sententiae omnium non modo superstitionem tollunt, in qua inest timor inanis deorum, sed etiam religionem, quae deorum cultu pio continetur.

In Hinsicht auf das Rahmenthema des vorliegenden Sammelbands ist wertvoll eine Stelle bei dem frühchristlichen Apologeten Minucius Felix (um 200 nach Christus), der Ciceros De natura deorum nutzt, zugleich aber auf die neue Auseinandersetzung zwischen den sich im zweiten Jahrhundert im Imperium Romanum ausbreitenden Christen und der alten Religion hin in Anspruch nimmt. Im Octavius verteidigt Caecilius gegenüber dem Christen Octavius, in einer langen Apologie, die überkommene Religion des römischen Reichs. Dabei 85 Vgl. dazu Gigon (1985) 423. 86 Vgl. schon Cicero selbst im Prooemium des ersten Buchs (1, 1–2): quid est enim temeritate turpius aut quid tam temerarium tamque indignum sapientis gravitate atque constantia quam aut falsum sentire aut, quod non satis explorate perceptum sit et cognitum, sine ulla dubitatione defendere? velut in hac quaestione plerique, quod maxime veri simile est et quo omnes duce natura venimus, deos esse dixerunt, dubitare se Protagoras, nullos esse omnino Diagoras Melius et Theodorus Cyrenaicus putaverunt. qui vero deos esse dixerunt, tanta sunt in varietate et dissensione, ut eorum infinitum sit enumerare sententias und dann den Epikureer Velleius (1, 29): nec vero Protagoras, qui sese negat omnino de deis habere, quod liqueat, sint, non sint qualesve sint, quicquam videtur de natura deorum suspicari.

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verwirft er scharf die Atheisten wie Diagoras oder Theodorus, die mit ihrer inreligiosa prudentia bestrebt gewesen seien, die alte, nützliche und heilbringende religio mit ihrer Ehrfurcht und Verehrung der Götter (timor/veneratio) aufzulösen oder doch zu schwächen. Ganz anders beurteilt er Protagoras (8, 3) – als einen, der „wohlberaten“ (!) über das Göttliche Überlegungen angestellt habe, und damit ganz anders auch als die ungebildeten Massen der neuen Religion, die in nächtlichen Versammlungen und Kultfesten mit Inbrunst auf die Lehren vertrauten jener studiorum rudes, litterarum profanos, expertes artium etiam sordidarum, die es wagten certum aliquid de summa rerum ac maiestate decernere (5, 4)87: cum Abderiten Protagoram Athenienses viri consulte potius quam profane de divinitate disputantem et expulerint suis finibus et in contione eius scripta deusserint, quid homines – sustinebitis enim me impetum susceptae actionis liberius exserentem – homines, inquam, deploratae, inlicitae ac desperatae factionis grassari in deos non ingemescendum est?

Darüber, ob und gegebenenfalls wie schon Platon in seinem Dialog Protagoras zu der Schrift Περὶ θεῶν Position bezieht, führt die philologische und philosophische Forschung bis heute kontroverse Debatten, nicht zuletzt deshalb, weil nach wie vor keine Einigkeit erzielt werden kann zu dem Problem, ob Platon in seiner Darstellung überhaupt authentische protagoreische Lehre wiedergibt oder den Sophisten ganz aus eigener Sicht präsentiert88. Communis opinio dürfte zumin-

87 Bezeichnend, daß Caecilius am Schluß seiner Rede, mithin an einer besonderen Tonstelle, ein Bekenntnis zur akademischen Skepsis ablegt und aus Cicero die Simonidesanekdote nutzt (13, 4–5): Simonidis Melici nonne admiranda omnibus et sectanda cunctatio? qui Simonides, cum de eo, quid et quales arbitraretur deos, ab Hierone tyranno quaereretur, primo deliberationi diem petiit, postridie biduum prorogavit, mox alterum tantum admonitus adiunxit. postremo, cum causas tantae morae tyrannus inquireret, respondit ille „quod sibi, quanto inquisitio tardior pergeret, tanto veritas fieret obscurior.“ mea quoque opinione quae sunt dubia, ut sunt, relinquenda sunt, nec, tot ac tantis viris deliberantibus, temere et audaciter in alteram partem ferenda sententia est, ne aut anilis inducatur superstitio aut omnis religio destruatur. Octavius – in die Schrift eingeführt als ein Mann bester Jahre, mit Kindern unschuldigen Alters und unbeholfener Sprache (2, 1–2) – antwortet darauf ebenfalls am Ende seiner Apologie und damit kurz vor dem Ausgang der gesamten Schrift (38, 5–7). In dieser Antwort deutet sich an, wie die neue Religion das Verhältnis von Lebensalter und Gotteserkenntnis transzendierte (vgl. dazu Gnilka [1983] 1052–1093): … Simonides etiam in perpetuum conperendinet … nos non habitu sapientiam, sed mente praeferimus, non eloquimur magna, sed vivimus, gloriamur nos consecutos, quod illi [sc. die Philosophen] summa intentione quaesiverunt nec invenire potuerunt. quid ingrati sumus, quid nobis invidemus, si veritas divinitatis nostri temporis aetate maturuit [!]? fruamur bono nostro et recti sententiam temperemus: cohibeatur superstitio, impietas expietur, vera religio reservetur. 88 Vgl. die unterschiedlichen Positionen bei Manuwald (1999) 168–175, der selbst günstig urteilt: „… aus dessen Geist heraus verfaßt … Natürlich mußte er [sc. Platon] bestrebt sein, die Gedanken [sc. nicht den Wortlaut!] für Leser, die noch Zugang zu den Schriften des Prota-

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dest in einem Punkt bestehen: Wenn Protagoras in seiner großen Rede (ab 320d) festhält, Götter hätten schon, bevor sie die sterblichen Wesen im Erdinnern formten, existiert89, vom „gemeinsamen Haus von Athena und Hephaist“ erzählt und in den historischen Fortschritt der Menschen als entscheidende Protagonisten Zeus und Hermes eingreifen läßt, dann läge darin ebensowenig ein Selbstwiderspruch des Sophisten zum ersten Satz von Περὶ θεῶν wie in der Feststellung: ἐπειδὴ δὲ ὁ ἄνθρωπος θείας μετέσχε μοίρας, πρῶτον μὲν διὰ τὴν τοῦ θεοῦ συγγένειαν ζῴων μόνον θεοὺς ἐνόμισεν, καὶ ἐπεχείρει βωμούς τε ἱδρύεσθαι καὶ ἀγάλματα θεῶν (322a)90. Denn ausdrücklich kennzeichnet Protagoras – direkt davor und direkt danach (320c und 324d; vgl. auch 328c) – diese Geschichte als μῦθος, im Unterschied zu einer detaillierten Darstellung in einem λόγος (λόγῳ διεξελθών)91. Nimmt man diese Stelle als platonisches Zeugnis des historischen Protagoras ernst, dann wäre sie ein wichtiger Beleg dafür, daß der Sophist die „mythische“ Rede gleichsam allegorisch für eigene Zwecke nutzte und zur uneigentlichen Auslegung bestimmte92, mithin an ihrer sprachlichen Oberfläche sagte, was er in kritisch-reflektierender Erörterung anders sagte und auch in Frage stellte. Im Anschluß an die oben vorgestellte Interpretation von Περὶ θεῶν seien hier noch zwei weitere Beobachtungen zum platonischen Dialog angebracht: Zum einen: Platon stellt Protagoras, historisch doch wohl verläßlich, als weithin bekannten Sophisten vor, der mit dem Anspruch auftritt, andere Menschen als Lehrer erziehen (317a) zu können. Ein Hauptthema des ganzen Dialogs

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goras hatten, als protagoreisch erscheinen zu lassen; die Auseinandersetzung mit Protagoras wäre sonst ohne Witz“; (2003) 40–41 sowie (2013) passim. Wie die sterblichen Wesen (etwa die Menschen: 321c) seien auch die Götter zu einer festgesetzten (εἱμαρμένος … χρόνος), aber eben früheren Zeit entstanden (320d); vgl. dazu Manuwald (1999) 183 und Denyer (2008) 101. Vgl. dazu etwa Kerferd (1981) 167–169; Graeser (1983) 30; Manuwald (1999) 176: „kein Widerspruch zum theologischen Agnostizismus des Protagoras“. 191–192; Zilioli (2007) 9619; Denyer (2008) 106 (mit Parallelen aus der frühgriechischen Poesie) und Meister (2010) 123. Auch andere Sophisten wie Gorgias und Prodikos bedienten sich der mythischen Rede (vgl. dazu Manuwald [1999] 171). Vgl. Goldberg (1983) 35–36; Manuwald (1999) 25: „… indem ich Punkt für Punkt eine Erörterung anstelle“ und (2003) 42 sowie Reale (2004) 138. Vgl. dazu auch unten Anm. 110 sowie Denyer (2008) 100. 106: „By using a μῦθος … to present his explanation of anthropomorphism, Protagoras can safely hint that perhaps a λόγος would give the more subversive explanation instead“. 107–108. In welchem Verhältnis dazu seine eigenen Ausführungen stehen (316c–317c), er selbst gebe offen zu, ein Sophist zu sein, während doch die sophistische τέχνη, andere durch Lehre und gemeinsamen Umgang besser zu machen, alt, von den Alten aber, wie z. B. den Dichtern Homer, Hesiod und Simonides, aus Angst vor Anfeindung und Verfolgung unter Vorwand und Deckmantel verborgen worden sei (vgl. 316d die Verben πρόσχημα ποιεῖσθαι und προκαλύπτεσθαι), kann hier nicht ausführlich geprüft werden. Das Verbergen und Verrätseln tatsächlicher Lehre in poetischer Form war schon früh eine Grundannahme etwa der Homerallegorese (vgl. dazu Mülke [2018] 75–81 und Register unter „Allegorie“).

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ist ja die Frage, ob ὰρετή lehrbar sei. In diesem Zusammenhang fällt auf, wie nachdrücklich Protagoras für sich in Anspruch nimmt, seine Schüler „besser zu machen“ (vgl. schon 316c)93, und zwar über die Zeit des Unterrichts hinweg an jedem einzelnen Tag besser als am Tag zuvor (318a, vgl. 318d). Dieser Anspruch setzt voraus, daß der Mensch sich entwickeln, also im Fortgang seiner Lebenszeit besser werden könne94. Zum anderen: Protagoras versieht die Differenzierung von Mythos und Logos mit einer Typisierung, die in den gelehrten Kommentaren zur Stelle regelmäßig unerklärt bleibt: ὡς πρεσβύτερος νεωτέροις μῦθον λέγων (320c). Ob der Sophist, der im Dialoggeschehen dem jungen Hippokrates als erfahrener Lehrer fortgeschrittenen Alters gegenübertritt (vgl. 317c. 318b)95, damit andeutet, der Mensch vollziehe mit fortschreitender Lebenszeit auch Fortschritt an Einsicht und in der sprachlichen Darstellung eben dieser Einsicht96? Jedenfalls scheint Protagoras doch zu postulieren, der Ältere könne dem Jüngeren den Logos in anderer, eben mythischer, also diesem und seinen Verständnisbedingungen angemessenen – und das heißt hier ausdrücklich auch: „reizvolleren“ (320c: χαριέστερον) – Form vermitteln97.

93 Vgl. Manuwald (1999) 146: „Die Verbindung zwischen dem allgemein geübten Erziehen und der spezifischen Tätigkeit eines Sophisten besteht für Protagoras (nach Platons Darstellung) darin, daß jegliche Erziehung letztlich einem ethisch-politischen Ziel diene … und er – der Sophist – sich dadurch auszeichne, daß er dieses Geschäft etwas besser verstehe als andere“. 94 Die Frage menschlicher Entwicklung und Konstanz spielt im hinteren Teil des Protagoras (ab 339a), in der strittigen Auslegung simonideischer Poesie, eine wichtige Rolle. Vgl. auch Mansfeld (1981) 46–47 und Leppin (1999) 46. 95 Vgl. Plat. Menon 91e und Manuwald (1999) 82. 96 Mythische Rede wird hier also als pädagogisch-didaktische verstanden; vgl. Goldberg (1983) 36: „it mediates between his superiority (he is ‚older‘) and the inferiority of the audience (they are ‚younger‘)“. Zum Vergleich wäre fruchtbar die (allerdings erst spät von Iamblichos [Vita Pyth. 87] überlieferte) Nachricht, Pythagoras habe seine mündliche Unterweisung differenziert auch nach dem Alter seiner Anhänger: Zu den älteren – den später sogenannten „Akousmatikern“ –, die durch politische Tätigkeit in Beschlag genommen waren und deshalb keine Muße hatten, habe er ohne mathematische (?) „Kenntnisse“ (μαθήματα) und „Beweisführungen“ (ἀποδείξεις), vielmehr „schlicht“ (ψιλῶς) gesprochen, um ihnen Einsicht „ohne Begründung“ (ἄνευ τῆς αι᾿τίας) zu vermitteln und dadurch wie ein Arzt, dessen Wissenschaft sich die Patienten regelmäßig ja auch nicht erklären könnten, zu nützen; die jüngeren hingegen – den später sogenannten „Mathematiker“ –, die in der Lage waren, „sich abzumühen“ (πονεῖν) und zu „studieren“ (μανθάνειν), habe er mit „Beweis“ und (mathematischen?) „Kenntnissen“ unterwiesen. Vgl. dazu Riedweg (2002) 140–141, zu den Quellen der Nachricht, die bei Isokrates (panath. 27) eine auffällige Parallele zu finden scheint, vgl. Gemelli Marciano (2007) 206 (mit Literatur). 97 Die These, Protagoras weise hier prinzipiell Mythos und Logos als frei wählbare, gleichsam willkürlich austauschbare Redeweisen aus (vgl. Manuwald [1999] 171. 214; [2003] 42 [mit Hinweis auf Plat. polit. 268d8–e6] und [2013] 171 sowie Denyer [2008] 100), unterschlägt diese Einschränkung.

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Alt oder neu, Fortschritt und Modernität kann es nach Protagoras theologisch nicht geben. Wenn dem Menschen in seinem kurzen Leben als Ergebnis von SehErfahrungen weder die Einsicht, Götter existierten, noch die Einsicht, sie existierten nicht, noch irgendeine Ansicht von ihnen erreichbar ist, dann kann es ebensowenig eine die Lebensspanne des einzelnen Menschen gleichsam transzendierende Akkumulierung von Seh-Erfahrungen zu einer überindividuellen Einsicht geben: Nicht-Einsicht des einen plus Nicht-Einsicht des anderen ergibt immer nur Nicht-Einsicht. Damit ist auch jede theologische (Lehr)Tradition, jede ars theologica, die durch die sprachliche Vermittlung vorgängiger subjektiver Seh-Erfahrungen an spätere eine Einsicht begründete, ausgeschlossen. Das Leitwort ὁ βίος βραχύς, das sich prominent auch der aufklärerische Zeitgenosse98 und berühmte Arzt Hippokrates auf die Fahnen schrieb, paart sich also bei Protagoras in theologicis gerade nicht mit dem Postulat einer „langen“ τέχνη99. Auf die jungen Leuten, die der Sophist in seinem Unterricht als Schüler lehrte, konnte eine solche Position nicht ohne Wirkung bleiben. Und doch kann die agnostische Position des Sophisten Veränderung auslösen, indem er überkommene, aber fragwürdige Vorstellungen von Göttern skeptischem Zweifel unterwirft, ohne dabei in den Widerspruch zu geraten, selbst entweder an die Stelle des in Zweifel Gezogenen eine eigene Vorstellung zu setzen oder auf die atheistische Verneinung von Göttern zu verfallen100. Die theologische Erkenntnis fällt mit der Selbsterkenntnis des Menschen zusammen101, daß ihn an der Einsicht über Götter sowohl die Unklarheit des Gegenstands als auch die Grenzen der eigenen Existenz hindern, und bewirkt, wie bereits angesprochen, Distanz zu theologischen Ansprüchen von Magie und, wie Cotta bei Cicero mit

98 Vgl. dazu schon oben Anm. 80. 99 Vgl. den ersten Aphorismus des Corpus Hippocraticum, der wahrscheinlich dem Hippokrates selbst zugeschrieben werden darf: Ὁ μὲν βίος βραχύς, ἡ δὲ τέχνη μακρά und zur (nach Hans Blumenberg) „hippokratischen Zeitschere“ die Überlegungen bei Weinrich (2005) 15– 20 (mit Literatur), der treffend auf den späteren griechischen Mediziner und Hippokrateskommentator Galen (zweites Jahrhundert nach Christus) hinweist: „Ganz ausgeschlossen ist nämlich nach seiner Überzeugung, daß sich ein einzelner Mensch in seiner kurzen Lebenszeit eine ‚lange‘ Kunst, wie es die Heilkunst ist, erschöpfend aneignen kann“. Ein früher literarischer Beleg für den Arzt von Kos findet sich übrigens im platonischen Protagoras (311a–d), und in derselben Schrift betont der Sophist ausdrücklich, die sophistische τέχνη sei schon uralt (vgl. dazu oben Anm. 40), er selbst sei schon alt und übe jene schon viele Jahre aus (317c; vgl. auch Plat. Menon 91e); vgl. auch Denyer (2008) 90–91. Zum Einfluß, den Protagoras auf die hippokratische Literatur ausgeübt haben könnte, vgl. Mansfeld (1981) 49–50. 100 Müller (2007) 61 urteilt wohl vorschnell: „Obwohl dieser Agnostizimus die Existenz der Götter strikt genommen nicht leugnet, schließt er jede theoretische Beschäftigung theologischer Art als vergeblich aus.“ 101 Vgl. Sciacca (1958) 18.

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Recht festhält, Aberglauben102. Die oben nur mit wenigen Hinweisen skizzierte Rezeption seines Buchs Περὶ θεῶν legt von dieser Wirkung beredtes Zeugnis ab. Zugleich deutet sich schon bei Protagoras im fünften Jahrhundert eine überaus modern anmutende Differenzierung an, nämlich diejenige zwischen Theologie und Religion103. Daß der Sophist die in der Polis geltende religiöse Verehrung der anerkannten Götter jemals offen in Frage gestellt hätte, überliefert keine einzige Quelle104; und die vielstimmige Tradition, in Athen habe ihm der erste Satz (!) von Περὶ θεῶν die Anklage auf Asebie eingetragen, könnte nicht bloß darauf hindeuten, daß späteren Zeiten der Rest der Schrift nicht mehr vorlag, sondern auch darauf, daß es weder in diesem Rest noch im sonstigen öffentlichen Wirken des Sophisten einen religiösen Anstoß gegeben hatte. Vielmehr: Aus späteren Zeugnissen wie den oben zitierten aus Ciceros De natura deorum und aus Minucius Felix erhellt, wie kontrovers die Debatte geführt wurde, ob die protagoreische dubitatio die Aufhebung aller frommen kultischen Verehrung von Göttern nach sich ziehe oder nicht tatsächlich consulte [sc. εὐβούλως] potius quam profane erörtere. Manche, zugegebenermaßen indirekte, Indizien sprechen dafür, daß diese Debatte schon im Wirken des Sophisten selbst ihren Ursprung hatte: So wird an der persönlichen Bekanntschaft zwischen Protagoras und dem in seiner Zeit führenden Staatsmann Athens, Perikles, heute ebensowenig noch gezweifelt wie an der Historizität des Vorgangs, daß derselbe Perikles den Sophisten in die unteritalische Stadt Thurioi entsandt habe, um dort als Gesetzgeber eine demokratische Verfassung einzurichten105. Solche Initiative hätte er wohl kaum gewagt, wenn Protagoras in Athen als Aufheber der kultischen Polisreligion angesehen worden wäre. Vielmehr könnte das Bekenntnis, das schon zeitgenössische Überlieferung dem Perikles in den Mund legt, gerade jene Annahme stützen, dieser sei mit Protagoras gut bekannt gewesen: … τοὺς ἐν Σάμῳ τεθνηκότας ἐγκωμιάζων ἐπὶ τοῦ βήματος ἀθανάτους ἔλεγε [sc. Perikles] γεγονέναι καθάπερ τοὺς θεούς· „οὐδὲ γὰρ ἐκείνους αὐτοὺς ὁρῶμεν, ἀλλὰ ταῖς τιμαῖς, ἃς ἔχουσι, καὶ τοῖς ἀγαθοῖς, ἃ παρέχουσιν, ἀθανάτους εἶναι τεκμαιρόμεθα.“106 ταῦτ᾽ οὖν ὑπάρχειν καὶ τοῖς 102 Nach wie vor lesenswert das Urteil George Grotes (1854) 594–595: „Daß aber moderne Schriftsteller über Geschichte der Philosophie, welche die heidnischen Götter für Erdichtung betrachten und die Religion für jeden verständigen Geist abstoßend, darin beipflichten, den Protagoras … als einen verdorbenen Menschen anzuklagen, ist mir weniger begreiflich … Auch ist nicht leicht einzusehen, was ein höherstehender Mann thun sollte, der seinen Glaubensmaßstab für solche Erdichtungen nicht einrichten konnte“. 103 Vgl. anders Jaeger (1944) 382 (Trennung von Religion und Kultur). 104 Daß Protagoras sich von der „Volksreligion“ abgegrenzt habe (so Moser [2004] 208) läßt sich nicht belegen (vgl. Untersteiner [1996] 5849 [42]). 105 Vgl. Untersteiner (1996) 5–6 [11]; Dreher (1999) 209; Leppin (1999) 43; Scholten (2003) 39– 43; Zilioli (2007) 20; Denyer (2008) 1 und Lehmann (2008) 174–176. 106 Vgl. Kerferd (1981) 166 und treffend Lehmann (2008) 191: „Was die Erkenntnis des Göttlichen angeht, ist Perikles mit der erkenntnistheoretischen Problematik durchaus vertraut.

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ὑπὲρ τῆς πατρίδος ἀποθανοῦσιν (Plutarch, Perikles 8, nach Stesimbrotos, dem Sophisten und Schriftsteller des fünften Jahrhunderts)107.

Überdies: Platon kannte den ersten Satz von Περὶ θεῶν. Gleichwohl sagt er Protagoras im Protagoras nicht nach, die Verehrung von Göttern in der Polis aufgehoben zu haben. Zwar behauptet auch der protagoreische Mythos bei Platon an keiner Stelle ausdrücklich, daß die Menschen von sich aus die Götter sehen und erkennen könnten108; doch wird umgekehrt ihre religiöse Verehrung nirgends in Frage gestellt. Vielmehr gebraucht Protagoras an der oben zitierten Stelle (322a) genau das Verb, das die Anerkennung der Götter in der Polis öffentlich dokumentiert: νομίζειν. Im weiteren Verlauf verurteilt er dann Ungerechtigkeit und Gottlosigkeit als schlechte Eigenschaften, welche der πολιτικὴ ἀρετή des Bürgers zuwiderliefen, zählt freilich die diesen entgegengesetzten guten Eigenschaften, also auch Gerechtigkeit und fromme Götterverehrung109, zu solchen Eigenschaften, die den Menschen durch Bemühung, Übung und Lehre (323d: ἐξ ἐπιμελείας καὶ ἀσκήσεως καὶ διδαχῆς) zueigen würden – nicht von Natur aus oder „von selbst“ (323c: οὐ φύσει … οὐδ’ ἀπὸ τοῦ αὐτομάτου; vgl. 323d: φύσει ἢ τύχῃ)110. Vielleicht erweist Platon hier dem Sophisten die Reverenz, theologische Einsicht eben nicht als erreichbar, gar offenbart, und auch nicht als lehrbar bestimmt, Religion als kultische Verehrung von Göttern – ihre bildliche Vorstellung und Darstellung eingeschlossen! – aber durchaus als Gegenstand der

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Seine Position ist daher von naiver Gläubigkeit weit entfernt, andererseits unterscheidet sie sich doch auch von dem dezidierten Agnostizismus, den Protagoras … vertreten hat“. Vgl. auch den Rest des Plutarchkapitels über die Art und Wirkung der perikleischen Rede. Weder für die Zeit, in der die Menschen die Kenntnisse, die für das physische Überleben nötig waren, erhielten, noch für die spätere, in der sie auch über diejenigen für die Entwicklung einer Polis verfügten (vgl. 321d: … τὴν μὲν … περὶ τὸν βίον σοφίαν … τὴν δὲ πολιτικήν …,) wird dies vermerkt. Corradi (2017) 461 weist darauf hin, daß in diesem Mythos die Menschen schon in einem frühen Stadium der Kulturentwicklung – das heißt: bevor es die πολιτικὴ τέχνη und Poleis gab – Götter anerkannten und „Hand anlegten“, Altäre und Götterbilder zu verfertigen (vgl. auch Manuwald [1999] 178–179. 215), all dies sie aber nicht vor Zerstreuung und vor der Vernichtung durch die wilden Tiere schützte. Vgl. explizit 324e–325a: δικαιοσύνη καὶ σωφροσύνη καὶ τὸ ὅσιον εἶναι – daran müßten alle Bürger, durch Belehrung und auch durch Bestrafung, Anteil bekommen! Zu der schwierigen Frage, ob zwischen der Auswertung des Mythos ein (ungeklärter) Widerspruch zum Mythos selbst (322a) besteht, vgl. Manuwald (1999) 174. Dort wird das menschliche Verhalten gegenüber den Göttern freilich nicht mit den hier verwendeten Begriffen charakterisiert, während hier „soziale Phänomene (der Götterglaube äußert sich im Kult)“ (Manuwald [1999] 192) angesprochen sind. Vgl. Manuwald (1999) 179 („mythische Form“ gegenüber „einer nicht mythisch verhüllten ‚Realität‘“). 198–199. 203–205 (zur „entmythologisierten“ Deutung des protagoreischen Mythos) sowie Denyer (2008) 111. Obschon Protagoras erst 324d ausdrücklich ankündigt, im folgenden nicht mehr Mythos, sondern Logos zu reden, beendet er schon 322d seine im engeren Sinn mythische Rede, um sie unmittelbar im Anschluß selbst auszulegen (vgl. Manuwald [1999] 173–174: „An den Mythos angeschlossen ist seine Auswertung“). 214. Der Sophist tritt als Exeget seiner eigenen allegorischen Rede auf.

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empirischen Erfahrung menschlich-sozialer Lebenswelt111, der Einübung wie auch der lehrhaften Unterweisung ausgewiesen zu haben112. Der platonische Protagoras beschreibt im übrigen anschaulich (325d), wie schon das kleine Kind von der Amme, der Mutter, den Paidagogoi und dem Vater gelehrt werde, was gerecht und ungerecht sei, was schändlich, was „gottgefällig“ (ὅσιον) sei und was nicht (ἀνόσιον). Die rechte Art, Götter zu verehren, auch ohne jede ontologische Ansicht über sie, wäre dann eine σοφία ohne positive Theologie, in einer Gemeinschaft wie der Polis aber gemäß jener indivuellen Fähigkeit der εὐβουλία und dem öffentlichen Maßstab der πολιτικὴ ἀρετή immer neu auszuhandeln (323a. 327b. 327e)113: ὅταν δὲ ει᾿ς συμβουλὴν πολιτικῆς ἀρετῆς ἴωσιν [sc. die Bürger], ἣν δεῖ διὰ δικαιοσύνης πᾶσαν ᾿ιέναι καὶ σωφροσύνης, ει᾿κότως ἅπαντος ἀνδρὸς ἀνέχονται, ὡς παντὶ προσῆκον ταύτης γε

111 Vgl. dazu Jaeger (1953) 200–203 (zum platonischen Protagoras). 215–216: „… schien sich ein möglicher Standpunkt zu ergeben, der volle Schärfe in der Frage der objektiven Gewißheit mit der persönlichen Anerkennung der positiven Tatsache der Religion und ihrer unleugbaren Bedeutung für den Menschen als soziales Wesen verband“; Sciacca (1958) 32; Müller (1967) 143–144. 146–147: „Nichts spricht gegen die Vermutung, daß Protagoras in seiner Schrift περὶ θεῶν, nach Ablehnung eines sicheren Wissens von der Existenz (bzw. der Nichtexistenz) und wahren Beschaffenheit der Götter … diese als Gegenstand des menschlichen Glaubens behandelt … hat“; Fahr (1969) 95–97: „Die Existenz der Götter ist damit in das Ermessen der Menschen gestellt“; Guthrie (1969) 235: „… it [sc. die Schrift insgesamt] upheld religious worship and cult according to the ancestral nomoi“; Dietz (1976) 140–142; Thrams (1986) 74–76; Dreher (1999) 215 und Woodruff (2001) 265; zur Einschränkung des protagoreischen Relativismus treffend Heit (2011) 101–102: „Gut begründet ist eine Aussage dann, wenn sie sich bezogen auf die Erfahrungswelt, die Bedürfnisse und Ziele der Menschen als nützlich und erfolgreich erweist“. 105; Schiappa (2003) 148: „Religion was understood by Protagoras as a social practice that furthers the goals of civilized people“ und Giorgini (2019) 109, dessen Feststellung (110): „Religion has no role in making human being sociable“ aber vielleicht zu apodiktisch ist. 112 Wie Rede hier einerseits entmächtigt wird – als unfähig, die Existenz von Göttern zu sagen –, andererseits als gleichsam „anthropologische“ ermächtigt (vgl. Bremer [2013] 950. 952), wäre noch weiter zu untersuchen, ist doch die narrativ-epische, insbesondere poetische Überlieferung für die frühgriechische Religion und ihre Vorstellungen von Göttern von höchster Bedeutung. Auch wenn das Fragment keine weitreichenden Vermutungen über den weiteren Inhalt von Περὶ θεῶν erlaubt, könnte ja auffallen, daß Protagoras feststellt: περὶ μὲν θεῶν οὐκ ἔχω ει᾿δέναι … – eben nicht: περὶ μὲν θεῶν οὐκ ἔχω λέγειν/ει᾿πεῖν … (wie Cotta bei Cicero nat. 1, 63 suggeriert). Sein Agnostizismus ist auch deshalb etwas anderes als beispielsweise die Kritik, die Hekataios von Milet an den vielen λόγοι der Griechen über Götter und Helden übt (vgl. dazu Mülke [2011] passim). Sciacca (1958) 51–52, träfe den Punkt nicht genau: „La religione nasce nel singolo e nel singolo stesso realizza le sue forme di fede e di culto. E questo appunto mi pare che Protagora abbia compreso ed à cercato di farci comprendere con il suo discorso …“ 113 Vgl. dazu auch Plat. Menon 91a und, besonders wichtig, die lange, sokratische Protagorasrede im Theaitetos (166b–168c; dazu auch Leppin [1999] 46). Mit dem Begriff des „ethischen Relativimus“ wäre dieses Anliegen recht ungünstig beschrieben (vgl. dazu Zilioli [2007] 89–112).

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μετέχειν τῆς ἀρετῆς ἢ μὴ εἶναι πόλεις … λυσιτελεῖ γὰρ οἶμαι ἡμῖν ἡ ἀλλήλων δικαιοσύνη καὶ ἀρετή … πάντες διδάσκαλοί ει᾿σιν ἀρετῆς καθ’ ὅσον δύνανται ἕκαστος.

In der Theologie gäbe es auch dann keine theologische Bildung als ontologische Einsicht über Götter, keinen Fortschritt, kein Altes oder Neues, nichts Modernes – in der Religion114 allerdings sehr wohl, und das Ziel, jeden Tag „besser zu werden“, könnte dann auch religiöse Entwicklung miteinschließen. Protagoras postuliert ja im Eingangssatz von Περὶ θεῶν, daß ich eine Seh-Wahrnehmung auf das beziehen könnte, was ich „Götter“ nenne, zugleich zu der Einsicht nicht gelangen kann, wie Götter nicht sind115. Der Befund, daß Platon sich immer wieder, nicht allein im Protagoras, sondern etwa auch im Theaitetos, im Sophistes, im Kratylos oder in den Nomoi, mit Protagoras kritisch beschäftigt, offenbart dabei, wie tief er Sokrates und wohl auch sich selbst den Thesen dieses Sophisten verpflichtet und zugleich durch sie herausgefordert empfand. Noch aus jener Stelle des Sophistes, an welcher er, nach der angemessenen Definition des Terminus σοφιστής suchend, ausdrücklich auf Protagoras zu sprechen kommt, klingen dessen Argumente aus Περὶ θεῶν heraus (234d–e)116: τοὺς πολλοὺς οὖν, ὦ Θεαίτητε, τῶν τότε ἀκουόντων117 ἆρ’ οὐκ ἀνάγκη χρόνου τε ἐπελθόντος αὐτοῖς ἱκανοῦ καὶ προιούσης ἡλικίας τοῖς τε οὖσι προσπίπτοντας ἐγγύθεν καὶ διὰ παθημάτων ἀναγκαζομένους ἐναργῶς ἐφάπτεσθαι τῶν ὄντων μεταβάλλειν τὰς τότε γενομένας δόξας, ὥστε σμικρὰ μὲν φαίνεσθαι τὰ μεγάλα, χαλεπὰ δὲ τὰ ῥᾴδια, καὶ πάντα πάντῃ ἀνατετράφθαι τὰ ἐν τοῖς λόγοις φαντάσματα ὑπὸ τῶν ἐν ταῖς πράξεσιν ἔργων παραγενομένων118;

114 Die dann auch etwas anderes wäre als „Gottesfurcht“ (so Gemelli Marciano [2010] 220). 115 Ob man eine solche Verbindung von offen bekanntem Agnostizismus und Religion als Illusion tragisch nennen könnte, kann hier nur gefragt werden; vgl. die Überlegungen Nietzsches (1994) 134–135 in Zwischen Wissenschaft und Kunst. 116 Der Mentalitätsgeschichte wäre aufgegeben, genauer zu erforschen, warum im Griechenland des fünften Jahrhunderts die innere Abhängigkeit von Einsicht und Erkenntnis einerseits, Lebensdauer andererseits so intensiv und auch neu diskutiert wurde. 117 Gemeint sind die jungen Leute (οἱ νέοι), an die sich – darauf insistiert Platon im Sophistes mit auffälligem Nachdruck – der Unterricht der Sophisten vorrangig richtete. 118 Wie sich in der Philosophie- und Theologiegeschichte epistemologische Skepsis mit dem Argument der Lebenszeit/kürze verknüpft, bliebe noch zu prüfen (manche Anregung dazu bei Weinrich [2005] 23–24 [zu Theophrast]. 153 [zu Rabelais]. 159–165 [zu Blumenberg sowie zu Odo Marquards „Skepsis als Endlichkeitsphilosophie“] u. ö.). Nietzsche dichtet in Die fröhliche Wissenschaft (Nr. 61) unter der Überschrift Der Skeptiker spricht: „Halb ist dein Leben um, | Der Zeiger rückt, die Seele schaudert dir! | Lang schweift sie schon herum | und sucht und fand nicht – und sie zaudert hier? | Halb ist dein Leben um: | Schmerz war’s und Irrthum, Stund’ um Stund’ dahier! | Was suchst du noch? W a r u m ? – – | Dies eben such’ ich – Grund um Grund dafür!“

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Markus Mülke

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Patrizio Missere

Johannesapokalypse und christliche Erneuerung der Weltgeschichte. Bibeltheologische Überlegungen

Abstract The Revelation of John from Patmos is in truth a book of hope in which the renewal of world history is proclaimed. The literary genre of Revelation with its numerous images and symbols serves as a means to involve the first addressees (and the readers) in the Christian message of the resurrection („the system of Christ“) as a sure victory against the powers of the world („the system of the demoniac“). The present contribution tries to interpret this original intentio auctoris as biblical theological pattern. As a consequence, the last book of the canon might be interpreted not only as a mere consolation for the Christians at the time of Domitian the Emperor as to give their own testimony, but as a whole of theological patterns of thought and hermeneutics due to consider attentively world history with its constantly repeated proprieties. In this sense the use of symbols enables a generalization process, whereby one can relate these patterns to the whole of world history until the eschatological fulfillment.

1.

Christliche Erneuerung und neutestamentliche Literatur

Es steht außer Zweifel, dass für eine richtige Auffassung der neutestamentlichen Literatur der Glaube an die Auferstehung Christi eine entscheidende Rolle spielt: Die ursprünglichen Autoren und Adressaten der Evangelien, der Episteln und der Apokalypse sind fest davon überzeugt, dass Jesus der einzige Χριστός (der „Gesalbte“, der „Messias“) und der Κύριος (in der LXX übliche Übertragung des heiligen Namens Jhwh ins Griechische) sei, weil sich durch seinen Sieg das wahre göttliche, ursprüngliche Leben – die ζωή und nicht bloß der βίος – verwirklicht habe. Auf die Auferstehung konzentriert sich schließlich die erste christliche Verkündigung (das sogenannte κήρυγμα), die dann durch die apostolische Tradition zur Abfassung des Neuen Testaments führt, in dem sowohl die „evangelische“ als auch die briefliche und apokalyptische literarische Gattung verwendet werden. Bei der Auslegung wäre es daher eine klare Missachtung der intentio auctoris, den Glauben des Verfassers und der Adressaten außer Betracht zu lassen. Zwar sind Historiker, Philologen und Ausleger legitimiert, die göttliche

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Patrizio Missere

Inspiration von Texten, die (leider) gewöhnlich in Literatur zweiten Ranges eingeordnet werden, nicht zu berücksichtigen; trotzdem sind sie methodisch dazu angehalten, die Gründe und die Absichten ihrer Urheber nicht zu vernachlässigen. Die Auferstehung mit ihrem von der nachösterlichen Gemeinde ad hoc erfundenen „Christus des Glaubens“ bleibt für viele Forscher bloß ein Mythos, entstanden aus der Enttäuschung von dem gescheiterten und zum Tode verurteilten „historischen Jesus“1, der im besten Fall in der Lage sei, nur noch die Rolle zu spielen, die Verbrüderung aller Menschen zu verkünden. Hier soll keine apologetische Haltung eingenommen werden, aber die entscheidende Wirkung des österlichen Glaubens der urchristlichen Gemeinde ist doch im Hinblick sowohl auf den Inhalt als auch auf die Formulierung der Texte des neutestamentlichen Kanons hervorzuheben. Dies gilt vor allem hinsichtlich der Eigenart der Gattung Evangelium, in der das Historische oder das Biografische ganz dem „Katechetischen“, also der Verkündigung des christlichen κήρυγμα und der Bestätigung des Glaubens an die Auferstehung des Gekreuzigten, untersteht2. Dasselbe gilt auch für die Paulusbriefe und für die anderen Briefe, in denen das κήρυγμα den Umständen der einzelnen Gemeinden bzw. der ganzen Kirche angepasst wird. In der Apokalypse des Johannes steht die sich stets auf die Auferstehung beziehende Erneuerung im engen Zusammenhang mit dem Plan Gottes, 1 Die sogenannte „Leben-Jesu-Forschung“ (oder „historisch-kritische Jesusforschung“) entstand um 1740 im Zeitalter der Aufklärung. Als Bahnbrecher galt Hermann Samuel Reimarus (1694–1768), der 1762 nur für seine Freunde eine Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes schrieb. Er wagte es nicht, diese zu seinen Lebzeiten zu veröffentlichen. Zwischen 1774 und 1778 publizierte aber Gotthold Ephraim Lessing sieben Fragmente der ihm zugänglichen Passagen aus der Apologie unter dem Titel: Fragmente eines Ungenannten. In seinen Thesen versucht Reimarus historisch-kritisch vorzugehen auf der Suche nach dem „historischen Jesus“ ohne die „Fälschungen“ oder die „Missverständnisse“ des von der urchristlichen Gemeinde entworfenen „Christus des Glaubens“. Durch David Friedrich Strauß, Der Christus des Glaubens und der Jesus der Geschichte. Eine Kritik des Schleiermacher’schen Lebens Jesu, 1856, vertieft sich der Graben zwischen „Jesus“ und „Christus“ vor allem in Hinsicht auf die Auferstehung, die durch die theoria fraudis sogar zu einem von den Aposteln erfundenen „Mythos“ wird, nachdem sie die Leiche des gekreuzigten und gescheiterten Verkünders der Verbrüderung aller Menschen entwendet hätten. Die „Leben-JesuForschung“ hat sich als Strömung des theologischen Liberalismus in der protestantischen Exegese der Tübinger Schule (mit drei unterschiedlichen Perioden: Old Quest, New Quest, Third Quest) durchgesetzt. Als wichtigste und bekannteste Vertreter sind Albert Schweitzer und Rudolf Bultmann zu nennen. 2 Becker (2006) 51–52 und Aune (1987) 77–153 betrachten die Evangelien als erstes Beispiel eines christlichen Geschichtswerks, vor allem im Vergleich zu den Römischen Altertümern des Dionysios von Halikarnassos und den Jüdischen Altertümern des Flavius Josephus. Nach Frieckenschmied (1997); Burridge (2004) und Aletti (2016) sind die Evangelien vielmehr der biographischen Gattung zuzuordnen (vgl. dazu etwa die Zusammenstellung über Leben und Lehren der Philosophen des Diogenes Laertios, die Schrift De vita Caesarum Suetons oder die Vitae Parallelae Plutarchs).

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der durch Christus endgültig offenbart wird: Er ist das Lamm, also der Auferstandene, und gleichzeitig immer noch der Gekreuzigte (vgl. 5, 6: „ich sah … ein Lamm … stehen wie geschlachtet“), dank dem sich ein solcher in der Transzendenz verborgener Plan ein für alle Mal in der Weltgeschichte verwirklicht hat. Die dramatische Auseinandersetzung mit denjenigen, die Gott an der Verwirklichung seines Heilsplans hindern, führt in der bildhaften Sprache der Apokalypse zu einem universalen Kampf zwischen dem „System Christi (und der Seinen)“ und dem „System des Dämonischen (und der Seinen)“. In diesem Sinne ist hier eine echte ἀποκάλυψις, eben eine „Offenbarung“ (aus dem Griechischen ἀπο/ καλύπτω, eigentlich: „Ent-hüllung“), zu erwarten.

2.

Apokalyptische Gattung und andere apokalyptische Schriften

Der Begriff „Apokalyptik“ (oder „apokalyptisch“), heutzutage bloß Synonym für „Katastrophe“ (oder „katastrophal“), bezeichnet entweder eine literarische Gattung oder eine bestimmte theologische Auffassung, durch die sich eine Anhängerschaft anregen lässt. Das erste Wort des homonymen neutestamentlichen Buches dient als „Schirmbegriff“ um kanonische (Buch Daniel, Jes. 24–27 und 55–66 [teilweise], Sach. 1–2, Buch Joel), jüdisch-extrakanonische (etwa 250 vor Christus bis 100 nach Christus), christliche (Apokalypse des Johannes, Stellen der Synoptiker wie Mk. 13, 1–2, Hirte des Hermas, Offenbarung des Petrus, Apokryphon des Johannes, Visio Sancti Pauli), gnostische und hellenistische Texte zu bezeichnen. Neben den jüdischen Texten wie dem Zweiten Baruch (2 Bar.), dem Vierten Esra (4 Esr.) und einigen Fragmenten aus den Qumranschriften3 (etwa 70 nach Christus) ist insbesondere noch der Äthiopische Henoch (1 Hen. oder äthHen.) zu nennen: Dieses für die apokalyptische Literatur bedeutendste Werk umfasst fünf Bände und der erste, das sogenannte Gigantenbuch, dürfte sogar auf die Zeit um 400 vor Christus zurückgehen. Nach Koch, Collins und Hellholm4 ist die Apokalyptik in literarischer Hinsicht ein „Makrogenus“, d. h. eine Gesamtgattung, die andere (Mikro)Gattungen umfasst (Berichte von Visionen, Träumen und überirdischen Reisen, sowie Metaphern, das Motiv vom im Jenseits gefundenen Buch und andere Motive). Auffallend ist der klare Hinweis auf Gottes Offenbarung, die durch einen himmlischen Vermittler, den sogenannten „Deutengel“ (angelus inter3 Die essenische Gemeinde von Qumran hat keine eigenen apokalyptischen Werke abgefasst; die weit verbreitetsten wurden aufgenommen und kopiert (1 Hen. und Dan.) und Teile der sektarischen Schriften (Gemeinderegel, Kriegsrolle) apokalyptisch geprägt. 4 Vgl. Koch (1970) und Collins (1979) mit den Ergebnissen einer Studiengruppe der Society of Biblical Literature. Hellholm (1986) untersucht die „tröstliche“ Wirkung der Gattung auf die Adressaten.

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pres), eintrifft; empfangen wird sie von einem Menschen, der immer einen berühmten Namen trägt (Pseudonym), z. B. Henoch, Baruch, Elija, Abraham, also von Persönlichkeiten der biblischen Tradition, mit denen der Autor sich im Einklang fühlt und sich damit den Lesern gegenüber oft Geltung verschafft. Hinsichtlich der beschriebenen geschichtlichen Abläufe wird eine Kurzfassung der vergangenen Geschehnisse, die immer die Urgeschichte (Protologie) mit einschließen, einer umfassenderen Schilderung der eschatologischen, in naher Zukunft zu erwartenden Ereignisse vorangestellt: Diese Zukunft vollzieht sich als „radikale Wendung“, die zum jüngsten Gericht (universales Gericht) führt, in dem sich Heil und Verdammnis des Einzelnen (persönliches Gericht) ereignen. Die himmlische, während der überirdischen Reise betrachtete Welt und der Kosmos gehören dann zur Darstellung der räumlichen Dimension. Alles zielt schließlich auf die Deutung der Gegenwart ab, um in sie das göttliche Licht der zukünftigen Welt und des Trostes zu bringen: Die schwierige Lage der Adressaten steht damit im Zeichen der Hoffnung auf Gottes endgültige Wiederkunft. Dieser Begriffsbestimmung fehlt nach Paolo Sacchi5 jeder Hinweis auf die wichtige Frage nach dem Ursprung des Bösen und der Sünde in der Welt, was etwa im genannten Gigantenbuch auf außermenschliche Ursachen zurückgeführt wird, beispielsweise auf die „Vorgänge“ zu der Zeit, als die Giganten (oder die Wächter) mit Frauen verkehrten (vgl. auch Gen. 6, 1–3). Da sich dieses Thema im ältesten überlieferten Text der Gattung findet, ist Sacchi der Meinung, dass es in der apokalyptischen Literatur eine entscheidende Rolle spielte. Die oben referierte Definition des Stichworts „Apokalyptik“ (oder „apokalyptisch“) berücksichtige also dieses Thema nicht und dürfe daher auf die überlieferten apokalyptischen Texte nicht umfassend angewandt werden; Sacchi kommt zu dem Schluss, es handele sich „bloß um einen konventionellen Begriff, der zwar aus der Johannesapokalypse stammt, mit dieser aber gar nichts zu tun hat“6. In diese kontroverse Begriffsbestimmung wird also auch die Johannesoffenbarung einbezogen, in der sich wohl apokalyptische Züge (Visionen, Engel, Buch des Lebens, überirdische Reise, Wendung, Gericht und Heil) finden, jedoch wichtige Elemente fehlen. Der ganz gewöhnliche Name „Johannes“ gilt z. B. nicht als Pseudonym, um dem Werk Geltung zu verschaffen, da andere wichtige Bezeichnungen wie „Apostel“, „Evangelist“, „Lieblingsjünger“ oder ähnliche nicht begegnen. Und nicht nur den Feinden wird hier – wie erwartet – gedroht, sondern auch denjenigen, die zur „kirchlichen“ Gruppe des Verfassers zählen (vgl. die ernsten Vorwürfe, die der Auferstandene gegen einige Gemeinden in Apk. 2–3 erhebt). Anderseits werden dieselben Feinde, die sogenannten „Bewohner der 5 Vgl. Sacchi (1990). 6 Sacchi (1995) 20–21.

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Erde“, nicht zur Vernichtung verurteilt, sondern ständig zur Bekehrung ermahnt. Der briefliche Rahmen der Apokalypse (1, 4–5 und 22, 21) und ihre wiederholte Bezeichnung als Buch der „Prophetie“ (1, 3; 22, 10. 18. 19) lassen darüber hinaus an eine „Mischung“ von Gattungen oder, vielleicht besser, an ein besonderes schöpferisches Anliegen des Autors denken7. Im Verhältnis zu seinem „tröstlichen“ Charakter kann dieses Buch auch unter anderen Gesichtspunkten betrachtet werden. Erstens steht es im Zusammenhang mit der Entstehung der Apokalyptik als einer selbstständigen Weiterentwicklung der prophetischen Eschatologie, als Folge der geänderten sozialen, politischen und religiösen Umstände nach der babylonischen Gefangenschaft (seit 586 vor Christus). Nach dem Aufbruch aus Babylonien und der Rückkehr nach Judäa sind die im Deuterojesaja (40–55) gegebenen Verheißungen eines erneuerten Jerusalem – alle Kinder Israels werden aus der Diaspora zusammengerufen werden – doch nicht in Erfüllung gegangen. Darum greift der Gedanke an einen endgültigen Eingriff Gottes „jenseits“ der Weltgeschichte Raum, wenn „ein neuer Himmel und eine neue Erde“ (vgl. außerdem die kosmische Eschatologie Jes. 24– 27) erschaffen werden. Das bringt mit sich eine nachdrückliche Hervorhebung der göttlichen Transzendenz, indem die Vermittlungsfunktion der Engel immer mehr in den Vordergrund rückt (vgl. Sach. 1–2), möglicherweise unter Einwirkung sowohl der persischen Religion des Zarathustra (Kampf zwischen Gutem und Bösem, Angelologie, persönliches Gericht und persönliche Auferstehung) als auch der Weisheitsliteratur8. Zweitens stellt sich die Frage, unter welchen konkreten Umständen Johannes von Patmos die Apokalypse niedergelegt hat9. Seinen Adressaten stellt er sich gleich als „euer Bruder und Gefährte in der Bedrängnis, in der Königsherrschaft und im standhaften Ausharren in Jesus“ (1, 9) vor. Dazu kommt noch die Erwähnung der Märtyrer (6, 9–11, bei der Öffnung des fünften Siegels), der aus der „großen Bedrängnis“ kommenden Schar von Leuten, „die ihre Gewänder gewaschen und im Blut des Lammes weiß gemacht haben“ (7, 14), sowie der Frau (Babylon-Rom), „die trunken war vom Blut der Heiligen und vom Blut der Zeugen Jesu“ (17, 5; vgl. 18, 24). Ist die Johannesoffenbarung tatsächlich als Manifest des christlichen Märtyrertums anzusehen, wie die Erzählungen der passiones martyrum belegen? Jüngsten Forschungen zufolge wurden die Gemeinden in Kleinasien, also die ersten Adressaten des Texts, zur Abfassungszeit 7 Mit der allgemein angenommenen „Apokalyptizät“ dieses Buches hat sich Doglio (1995) auseinandergesetzt. 8 Vgl. von der Osten-Sacken (1969) 63–64. 9 Für eine gründliche Abhandlung der 1857 durch Adolf Hilgenfeld (nach dessen Ansicht die Apokalyptik sogar zur Vorgeschichte des Christentums gehört) begonnenen Diskussion über das Verhältnis der Apokalyptik zu den restlichen neutestamentlichen Schriften vgl. Biguzzi (2013) 73–76.

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der Apokalypse eigentlich nicht verfolgt, sie wurden eher zu Opfern allgemeinen Ärgernisses, weil sie sich in den Munizipien den Sitten und Gebräuchen der paganen Umwelt nicht anpassten. In dieser Hinsicht hatten die ergriffenen Maßnahmen nur einen lokalen innerstädtischen Charakter und sind als einfache Gewährleistung der öffentlichen Ordnung einzuschätzen10. Alles drehte sich um das Problem der Kaiserverehrung, die in dieser Region des römischen Reichs, um Ephesus, besonders populär wurde. Vergötterung des Kaisers als universal anerkannten „Wohltäters“ hieß vor allem zwischen 80 und 90 nach Christus: Errichtung von Standbildern und Tempeln. Irenäus von Lyon11 (etwa 130 bis 200 nach Christus) etwa bezieht die Vorfälle, auf welche die Apokalypse anspielt, auf die letzten Regierungsjahre des Kaisers Domitian (51 bis 96 nach Christus)12. Dieser Kontext könnte erklären, weswegen Johannes auf die kleine Sporadeninsel Patmos – wahrscheinlich auch der Abfassungsort seines Buchs, – „um des Wortes Gottes willen und des Zeugnisses für Jesus“ (1, 9) verbannt wurde, anscheinend aufgrund der Anordnung gegen einen vagus oder vagabundus, für welche grundsätzlich die Behörden der Provinz oder des Munizipiums zuständig waren.13 Bei Johannes von Patmos dürfte es sich dann um einen an den sieben Gemeinden Kleinasiens gebundenen Wanderpropheten gehandelt haben14, und nicht ohne Grund stellt er sich in seinem Buch wiederholt selbst als Überbringer einer „Prophezeiung“, die gleichzeitig den Stoff der Apokalypse bildet, vor.

3.

Wer war Johannes von Patmos?

Johannes von Patmos war sicherlich ein Judenchrist zweiter oder dritter Generation. Zwar sprach er ziemlich gut Griechisch (trotz vieler Abweichungen von den Grammatikregeln, den sogenannten Solözismen, wahrscheinlich um die Tiefe und die Größe seiner Botschaft irgendwie in die Enge einer menschlichen Sprache zu lenken), aber seine Denkweise und Weltanschauung waren aramäisch-semitisch geprägt. Er gehörte zur johanneischen Tradition (auch „Johannesschule“ genannt), die auf den Apostel und Evangelisten zurückzuführen ist15. Dessen Gemeinde war in Kleinasien, nach der Eroberung von Jerusalem (70 nach 10 Das ergibt sich beispielsweise aus der Studie von Slater (2009). 11 Vgl. Iren. haer. 5, 30, 3: „vor nicht langer Zeit … gegen das Ende der Regierung Domitians …“. 12 Vgl. Cukrowski (2003). Ob zur Zeit Domitians keine „echte“ bzw. blutige Verfolgung stattgefunden hat, wird besonders von Riemer (2000) geprüft. 13 Seine Verbannung auf die Insel Patmos ist darum weder als vorläufige relegatio ad insulam noch als permanente deportatio und schon gar nicht als damnatio ad metalla (d. h. Zwangsarbeit in Gruben, die unter anderem auf der Insel nicht vorhanden waren) anzunehmen. Hinsichtlich der Bezeichnung als vagus vgl. Biguzzi (2004). 14 Vgl. Aune (1981) 27 und (2006). 15 Vgl. Frey (1993).

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Christus) durch Titus, ansässig geworden. In seinem Werk sind auch noch Einflüsse der paulinischen Tradition zu berücksichtigen16. Die Empfänger der Apokalypse waren dennoch größtenteils Heidenchristen17. Die in dem Buch beschriebenen Visionen sind ein Konzentrat aus persönlichen Gedanken, Erkenntnissen und Überlegungen des christlichen κήρυγμα, des Evangeliums, also der frohen Botschaft, die zu Symbolen verarbeitet wurden, was auch Gebet, charismatische und missionarische Erfahrungen noch voraussetzt. In ihrer gläubigen Sicht sind der Verfasser und die ersten Adressaten ganz davon überzeugt, dass die im Text vorliegende Nachricht direkt von Gott und von seinem Geist inspiriert wurde (vgl. 1, 1–3). Demensprechend beginnt jede Vision mit dem Satz: „Ich wurde vom Geist ergriffen“ (1, 10; 4, 2 etc.), der nicht selten, mit einschränkender Absicht, als Ektase gedeutet wurde. Weit davon entfernt, die Visionen als mystische Erfahrung anzunehmen18, stellt der Autor seinen Lesern doch klar, dass sich bei seiner Wahrnehmung der Tatsachen ein Eingriff des Geistes des Auferstandenen vollzogen habe, um ihm einen erneuerten, weiten Blick auf die kirchliche Gemeinde, auf die Weltgeschichte zu verleihen und durch Christus, das Lamm, den Plan Gottes zu offenbaren.

4.

Christliche Erneuerung der Weltgeschichte in der Apokalypse

Die Apokalypse des Johannes besteht aus zwei unterschiedlichen Abschnitten: 1–3 und 4–22:

16 Vgl. Käsemann (1968) 242: „Die Johannesapokalypse trägt keine Spuren dessen, dass Kleinasien dem Apostel Dank schuldet“. Dieses fragliche „Schweigen“ wurde von Taeger (2006) und Müller-Fieberg (2009), die nur wenige Ähnlichkeiten feststellen konnten, geprüft. Das bedeutet aber nicht, dass in der Apokalypse „ein Zeugnis für die judaistische Reaktion gegen das paulinische Christenthum“ (Baur [1860] 81) zu sehen sei, und schon gar nicht, dass das für Kleinasien geplante Werk des Heidenapostels „in der breiten Flut frühchristlicher Mission untergegangen ist, in welcher auch die eigenwillige Stimme seiner Theologie verhallte“ (Käsemann [1968] 242; diese Flut gilt für ihn als „frühkatholisch“). Heute ist vorzugsweise „anzunehmen, dass der Verfasser der Apokalypse eingebunden war in ein Netz koexistierender (und rivalisierender!) theologischer Zirkel, zwischen denen gleichwohl Austausch- und Verschmelzungsprozesse stattfanden.“ (Müller-Fieberg [2009] 87). 17 Die vorausgesetzte pagane Herkunft der Adressaten hat die Ausleger auf die hellenistische und römische Umwelt der Apokalypse aufmerksam gemacht. Bei der ersten Erscheinung des Auferstandenen (1, 10–20) hat sich z. B. der Verfasser nicht nur von der jüdisch-alttestamentlichen Tradition (Hezechiel, Daniel u. a.) inspirieren lassen, sondern auch von der nichtjüdischen Tradition, also der griechisch-römischen Religionsgeschichte, wie der Erscheinung von Isis in den Metamorphosen des Apuleius (11, 1–7. 12); vgl. dazu in seinem neuen Kommentar Karrer (2017) 236–238. 18 Vgl. Vanni (2018) 76–77.

68 a)

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Erster Abschnitt (1–3): die Gemeinde des Auferstandenen

In den ersten Versen (1, 1–3) wird unmittelbar der göttliche, transzendente Ursprung der verkündigten Botschaft betont. Diese wird den Vermittlern – Christus, dem Engel und dem Knecht Johannes – anvertraut. Der Seher wird dementsprechend beauftragt eine „Prophezeiung“ niederzuschreiben und sie den im folgenden genannten Gemeinden zu senden (vgl. 1, 11. 19). Die Adressaten dieses Sendschreibens werden als „Leser“ und „Hörer“ bezeichnet und als „selig“ gepriesen. Die liturgische Bestimmung der Johannesapokalypse, die der „am Tag des Herrn“ (1, 10) versammelten Gemeinde vorgelesen werden muss, bestätigt sich durch den liturgischen Anfangsdialog (1, 4–8). In diesem wird feierlich behauptet, dass Gott dem Vater, der seit jeher die Weltgeschichte führe (vgl. 1, 4: „… von Ihm, der ist und der war und der kommt [besser: kommen wird]“), dem Geist, der immer in der Lage ist, sich den Umständen des einzelnen Gläubigen anzupassen (vgl. im Plural: „von den sieben Geistern“), und dem toten und auferstandenen Christus (vgl. 1, 5a: „dem Erstgeborenen der Toten“), „dem [den Verheißungen] treuen Zeugen“, „dem Herrscher über die Könige der Erde“, die „Gnade“ und der „Frieden“ entspringen. In alledem erkennt die Gemeinde ihrerseits die ewige Liebe des gekreuzigten Auferstandenen (vgl. 1, 5b), wodurch die Hindernisse auf dem Weg zur Erfüllung des göttlichen Plans beseitigt wurden („der uns von unseren Sünden erlöst hat durch sein Blut“) sowie sie selbst befähigt wurde, an Christi Herrschaft mitzuwirken („der uns zu einem Königreich gemacht hat“) und die daraus folgende Vermittlungskraft auszuüben („der uns zu Priestern [eigentlich: einem Reich von Priestern] vor Gott, seinem Vater, gemacht hat“). In seiner ersten Erscheinung (vgl. 1, 9–20) trägt der Auferstandene die typischen Züge (weißer Kopf und weißes Haar) des „Menschensohnes“ aus Dan. 7, 14, einer messianischen Figur himmlischer Herkunft, die am Jüngsten Tag eine entscheidende Rolle spielen wird, und des Hohepriesters, der als einziger Vermittler des Plans Gottes gilt und als solcher am langen Gewand und am „Gürtel aus Gold um die Brust“ zu erkennen ist (1, 13). Am Leben der Kirche nimmt er ständig Anteil vor allem während der Liturgie: darum erscheint er (nach 1, 12) „mitten unter sieben goldenen“, für den liturgischen Gebrauch bestimmten „Leuchtern“, die auf die sieben Gemeinden (vgl. 1, 11) als Adressaten der darauffolgenden Sendschreiben und auf die überall verbreitete Kirche aller Zeiten (vgl. das Zahlsymbol „sieben“) hindeuten. Erreicht wird sie von seiner Wahrheit (vgl. 1, 14–15: „seine Augen wie Feuerflammen; seine Beine glänzten wie Golderz, das im Schmelzofen glüht …“), die sein Wort völlig durchdringt (vgl. 1, 16: „aus seinem Mund kam ein scharfes, zweischneidiges Schwert“). Die sieben Sterne in seiner rechten Hand sind wahrscheinlich auf die Leitfiguren der Gemeinde oder auf die himmlische Berufung der ganzen Kirche zu beziehen (vgl. 1, 16. 20).

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In den Sendschreiben an die sieben Gemeinden (2–3) sieht es so aus, als ob der Auferstandene sich mit ihnen sozusagen unter vier Augen unterhalten wolle: Er lobt sie, er macht ihnen Vorwürfe und droht ihnen sogar, um sie durch eine Art Läuterungsprozess auf die apokalyptische Visionen des zweiten Abschnitts des Buches vorzubereiten. Er lobt besonders die ihm bewahrte Treue, die in der paganen, immer noch sehr anziehend wirkenden Umwelt oder wegen der Anwürfe der Juden19 auf eine harte Probe gestellt wird (vgl. 2, 9; 3, 9). Diesbezüglich wirft er z. B. der Gemeinde in Ephesus vor, ihr anfänglicher Eifer sei verlorengegangen (vgl. 2, 4: „Du hast deine erste Liebe verlassen“), den Gemeinden in Pergamon und Thyatira, sie seien immer noch in pagane Bräuche verwickelt (wie den Verzehr von Opferfleisch oder die Unzucht: vgl. 2, 14. 20), und der Gemeinde in Laodikia, sie sei in Mittelmaß geraten (vgl. 3, 15: „Du bist weder kalt noch heiß“). Die Drohungen sind in einigen Fällen sehr hart (vgl. etwa 3, 16: „Daher, weil du lau bist, weder heiß noch kalt, will ich dich aus meinem Mund ausspeien“) und zielen – ausschließlich aufgrund der Liebe – auf den Lebenswandel bzw. auf die Bekehrung der Empfänger ab: „Wen ich liebe, den weise ich zurecht und nehme ihn in Zucht. Mach also Ernst und kehr um!“ (3, 19). Dem Sieger, kraft seines standhaften Ausharren, wird die vollkommene Gemeinschaft mit ihm und Gott, dem Vater, im neuen Jerusalem versprochen, die durch oft sehr ergreifende Metaphern beschrieben wird, wie z. B. durch die eines weißen Steins (also der Auferstehung), welcher der Geliebten aushändigt wird, und „auf dem Stein steht ein neuer Name geschrieben, den nur der kennt, der ihn empfängt“ (2, 17).

b)

Zweiter Abschnitt (4–22): die Gemeinde des Auferstandenen und die Weltgeschichte

Am Ende ihres Läuterungsprozesses ist die Gemeinde in der Lage, den Plan Gottes zu entdecken, zu verstehen und in die Tat umzusetzen (4–22). Zu diesem Zweck wird dem Seher einleitend (4–5) nahegelegt, seine Perspektive zu ändern, indem ihm zuerst befohlen wird: „Komm herauf, und ich werde dir zeigen, was dann geschehen muss“ (4, 1). Am Himmel steht eine offene (nach dem griechischen Partizip Perfekt heißt es: „eine andauernd offene“) Tür, die auf den ewigen Vermittler zwischen Himmel und Erde, Gott, den Vater und den Menschen, anspielt: den gekreuzigten, auferstandenen und zum Himmel zurückgekehrten Christus. Durch Johannes von Patmos wird hier eine Auffassung der Weltge19 Vgl. diesbezüglich die Ausdrücke: „die sagen, sie seien Juden, und sind’s nicht“ und „Synagoge des Satans“, die schwer zu deuten sind. Ist damit gemeint, dass nun die Christen die einzigen „wahren Juden“ seien? Oder dass es Christen gebe, die sich als Juden ausgäben, um sich der Gewalt der Verfolger zu entziehen?

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schichte aus einer „theo-logischen“, i. e. einer ausschließlich auf Gott ausgerichteten, Perspektive beigebracht. Mit einer allgemeinen Vorhersage der Geschehnisse (vgl. 4, 1: „…was dann geschehen muss“) hat das überhaupt nichts zu tun, vielmehr werden hier den Gläubigen theologische Denk- oder Interpretationsmuster zu Verfügung gestellt, um die Weltgeschichte mit ihren andauernd wiederholten Eigenschaften, mit ihren Konstanten, zu deuten20. Die Verwendung von Symbolen ermöglicht in diesem Sinne einen Verallgemeinerungsprozess, durch den man diese Muster auf die ganze Weltgeschichte beziehen kann und nicht bloß auf die Epoche des Verfassers. Zum ersten allgemeinen Muster gehört der ewige und immer positiv wirkende Einfluss Gottes auf die menschliche Geschichte (vgl. die geheimnisvolle, auf dem himmlischen Thron sitzende Figur in 4, 2–3). An diesem positiven Einfluss werden auch 24 thronsitzende „Älteste“ (vgl. 4, 4: πρεσβύτεροι) beteiligt: hier gelten sie als Bild derjenigen, die in der gesamten Heilsgeschichte das Volk auf Gottes Wege geführt haben und immer noch führen (vgl. die zwölf Stämme Israels und die zwölf Aposteln, auf die das Zahlsymbol 24 hindeutet). Darüber hinaus steht diese Mitwirkung im engen Zusammenhang mit dem Heiligen Geist (vgl. 4, 6–7: „die vier Lebewesen voller Augen vorn und hinten“), indem dessen Wirkungskraft in seiner Eigenart als Stärke (Löwe), Fruchtbarkeit (Stier) und Antriebskraft (fliegender Adler) sich überall (wie die „vier“ Himmelsrichtungen) verbreitet und sich in die Lage jedes Menschen hineinversetzt (vgl. sein Antlitz wie das eines Menschen). All das lässt sich erzielen durch einen ständigen (vgl. 4, 8: „Sie ruhen nicht, bei Tag und Nacht“) Austausch zwischen Transzendenz und vorübergehender Menschengeschichte (sechs Flügel voller Augen), der vor allem in der Liturgie stattfindet (vgl. das Gebet in 4, 8–9 und das sich Niederwerfen der Ältesten vor dem Thronenden in 4, 10). Der Thronende hat „auf der rechten Hand eine ‚Buchrolle‘“ (5, 1: βιβλίον), also Gottes Plan, der sich in der Weltgeschichte weit ausgreifend verwirklichen sollte („sie war innen und auf der Rückseite beschrieben“). Diese Buchrolle ist aber mit sieben Sigeln versiegelt: Gottes Entwürfe, die das Schicksal der Menschheit erleuchten sollten, bleiben vorläufig verborgen und unerreichbar. Der Seher macht sich ernsthaft Sorgen darüber: Sein Weinen, weil „niemand im Himmel, auf der Erde und unter der Erde das Buch öffnen und hineinsehen konnte“, dürfte als das oft unwirksame Bemühen der Menschen auf der Suche nach dem Sinn des Lebens und der gesamten Weltgeschichte zu interpretieren sein. Plötzlich wird aber der Sieg „des Löwen aus dem Stamm Juda, des Sprosses aus der Wurzel Davids“ feierlich verkündet. Anstelle des erwarteten und im Alten Testament (vor allem im Buch Jesaja) angekündigten Messias aus dem Haus Davids erscheint hier unerwartet ein Lamm. Das ist der gekreuzigte Auferstandene Christus (5, 5: „zwischen dem 20 Vgl. Vanni (2009) 22–24.

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Thron und den vier Lebewesen und mitten unter den Ältesten ‚stand‘ ein Lamm; es sah aus wie ‚geschlachtet‘“), der gewissermaßen auf das Passahlamm in Buch Exodus Bezug nimmt (vgl. Exod. 12, 1–12): Er ist „würdig“, die Buchrolle aus der Hand des Thronenden zu nehmen und sie zu entsiegeln (vgl. 5, 7. 9–10), denn er besitzt die Fülle des Geistes (vgl. „sieben Augen“ als „sieben Geister“ in 5, 5) und der messianischen Kraft („sieben Hörner“), um alle Gegner der Offenbarung und der Verwirklichung des Plans Gottes, dessen Mittelpunkt das österliche Ereignis darstellt, ein für alle Mal zu besiegen. In den Freudenausbruch der Ältesten und der Lebewesen sowie der Engel, deren Zahl nun auf „zehntausend mal zehntausend und tausend mal tausend“ (5, 11) gestiegen ist, fühlen sich die irdische Gemeinde sowie jedes Geschöpf unwiderstehlich miteinbezogen. Die anderen Interpretationsmuster bzw. Symbole sind aus den einzelnen geöffneten Siegeln zu entnehmen (6–7). Zuerst kommt die Auferstehung, welche die ganze Weltgeschichte durchquert, aber sich immer mit der mörderischen Gewalt, der sozialen Ungerechtigkeit und zuletzt der menschlichen Vergänglichkeit messen muss. Diese gegensätzlichen Kräfte der Menschengeschichte werden auf das chromatische Tiersymbol eines weißen, roten, schwarzen und grünen Pferdes (vgl. 6, 2–8.) übertragen. Bei der Öffnung des fünften Siegels (6, 9–11) wird die Gemeinde eingeladen, die Märtyrer zu betrachten: Diese befinden sich unter einem Altar, und mit ihrem eindringenden Gebet üben sie beinahe Druck auf Gott aus und flehen ihn an, er solle ihnen und ihren „Mitknechten und Brüdern“, die auf der Erde noch schweren Bedrängnissen ausgesetzt seien, Gerechtigkeit widerfahren lassen. Die Antwort lautet: Sie müssen noch kurze Zeit ruhen, bis sich die eschatologischen Geschehnisse vollziehen, inzwischen wird ihnen ein weißes Gewand ausgehändigt, also die persönliche Auferstehung, die für die irdische Gemeinde als tröstliches Zeichen sicherer Hoffnung steht. Dasselbe Bild kommt wieder in der Vision der großen Schar der Erlösten (7, 9–10) vor: „Sie standen vor dem Thron und vor dem Lamm, gekleidet in ‚weiße Gewänder‘, und trugen Palmzweige in den Händen“ (vgl. 7, 9). Dieselben „sind jene, die aus der großen Bedrängnis kommen; sie haben ihre ‚Gewänder‘ gewaschen und sie im Blut des Lammes weiß gemacht“ (7, 14): Für die gläubigen Empfänger bedeutet das, dass sie sich mit den Märtyrern, also den Christen schlechthin, identifizieren sollten. Darum bezeichnet der griechische Begriff μάρτυς von jetzt an nicht bloß einen „Zeugen“, sondern auch einen „Märtyrer“ im wahren Sinne des Wortes. Die bei der Öffnung des sechsten Siegels geschilderten Welterschütterungen (6, 12–17) werden als zukünftige – vor den Augen des Sehers Johannes aber gegenwärtige – Zerstörung der „gesamten“ bewohnbaren Welt dargestellt. Im siebten durch den Schall der (sieben) Posaunen ersetzen Siegel (8–9) werden sie zu dramatischen Ereignissen, die nur „teilweise“ (vgl. die Bruchzahlen) auf der Erde stattfinden. Diese Welterschütterungen sind keineswegs als historische

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Geschehnisse anzunehmen; es handelt sich eher um einen symbolisierten Zusammenprall zwischen Gottes Plan und dem irdischen, in sich geschlossenen, sich nur auf sich selbst verlassenden „System des Dämonischen“. Sie machen den vollzogenen Sieg Gottes so anschaulich klar, wie es auch kaum unbemerkt bliebe, wenn es keinen Sonnenaufgang mehr gäbe, der Himmel wie eine Buchrolle verschwände oder alle Berge und Inseln von ihrer Stelle wegrückten (vgl. 6, 14). Daraus ergibt sich, dass das irdische System schon geschwächt ist: Und das kann man an einigen klaren Veränderungen der Schöpfung feststellen, die ausschließlich auf falsch getroffene Entscheidungen der Menschen, hier auf eine selbstgenügsame Negation der göttlichen Transzendenz, zurückzuführen sind (vgl. 8, 10–11, wo ein großer Stern vom Himmel fällt [= Negation der Transzendenz] und ein Drittel der Gewässer mit Absinth vergiftet). Die Zerstörung (vgl. 8, 7–8) eines Drittels der Obstbäume, die Verschmutzung eines Drittels der Flüsse und Wasserquellen, also des Trinkwassers, die der Gesundheit der Menschen schadet, dienen zur Mahnung des irdischen Systems, damit es drastisch den Kurs wechseln möge, um nicht in die totale Selbstvernichtung (und nicht bloß die eines Drittels) zu geraten21. Dass man sich einer so großen Gefahr aussetzt, wird daraufhin durch die Verdunkelung des Gestirnes beim vierten Posaunenschall (vgl. 8, 12) und den bis zum Zenit fliegenden Adler (vgl. 8, 13) noch deutlicher herausgehoben. Der Flug des Adlers bis zum höchsten Punkt des Himmels, ganz in die Nähe der göttlichen Transzendenz, bedeutet, dass hier eine wichtige Botschaft vorliegt, die sich irgendwie in einem Grenzgebiet befindet, indem sie auf den Menschen teils rätselhaft, teils verständlich wirkt. Diese Botschaft drückt sich durch den dreifachen Wehruf (vgl. 8, 13) aus: In einem nicht mehr übertragenen Sinn tritt hier Gottes große Sorge um die Menschheit in den Vordergrund, als ob von ihm diese Worte wiederholt zu hören kämen: „Ihr irrt euch, ihr irrt euch, ihr irrt euch, wenn ihr euch selbst so etwas immer wieder antut!“. Das Ende dieses Abschnittes (9) spielt auf die unter den Menschen verübte Gewalt an. Das dramatische Symbol des nicht tödlichen, aber schmerzhaften Skorpionstichs (vgl. 9, 3. 5. 10) gilt für die „Bewohner der Erde“ (d. h. für ein eingeschränktes auf sich selbst verlassenes System), die der Bekehrung den Tod vorziehen, als letzte, bildhafte Mahnung. Nach diesen entsetzlichen Visionen sieht es so aus, als ob nur der letze Todesstoß zu erwarten wäre (also der siebte und endgültige Schall der Posaune), aber plötzlich herrscht überall Stille (vgl. 10, 1–2): Ein gewaltiger Engel mit einem wie die Sonne strahlenden Gesicht kommt vom Himmel herab und „setzt seinen rechten Fuß auf das Meer, den linken auf das Land“ (10, 2) als Zeichen seiner weltweiten Herrschaft und Macht. Er ist der wiedererschienene Christus (vgl. 1, 10–20, insbesondere 1, 16), der dieses Mal in der Hand ein offenes kleines Buch 21 Darum spricht Vanni (2009) 101–105 von einer „ökologischen Symbolik“.

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hält. Der Seher wird eingeladen, das Büchlein zu nehmen und es zu essen: Im Magen schmeckt es bitter, im Mund aber süß wie Honig. Alles deutet darauf hin, dass die Prophezeiung, süß beim Empfang, aber bitter bei ihrem Zusammenstoß mit der Wirklichkeit der Weltgeschichte, trotz aller Hindernisse weiter verkündet werden müsse. Diese Aufgabe führen die darauffolgenden „zwei Zeugen“ aus (vgl. 11–12): Sowohl das gewöhnliche Zeugnis als auch das prophetisch bis auf das Märtyrertum außergewöhnliche abgelegte Zeugnis der Gläubigen gehört zu dieser unverzichtbaren Aufgabe der Gemeinde. Die beiden werden dann umgebracht und ihre Leichen bleiben 1260 Tage lang – also dreieinhalb Jahre, die Hälfte von Sieben, eine einschränkte und vorübergehende Zeit eben – auf den Straßen der großen Stadt liegen: „Diese Stadt heißt, geistlich verstanden: Sodom und Ägypten; dort wurde auch ihr Herr gekreuzigt [das „irdische Jerusalem“]“ (11, 8), allesamt Namen, die auf ein bloß menschliches, Gott ausschließendes Zusammenwohnen hindeuten. Aber nach dreieinhalb Jahren ruft Gottes Geist die Zeugen wieder ins Leben, vor den Augen ihrer Feinde steigen sie zum Himmel hinauf. Darin ist keine Auferstehung im engeren Sinne zu sehen, vielmehr, dass den Gläubigen ihr Zeugnis als Märtyrer für immer am Leben bleiben wird22. Dem letzen Teil der Johannesapokalypse, welche die endgültige Vernichtung des irdischen Systems durch die definitive Ersetzung des himmlischen und von Gott erfüllten Systems ankündigt, ist eine Vision von „drei großen Zeichen“ vorangestellt (12–16). Zuerst erscheint am Himmel „eine Frau, mit der Sonne bekleidet; der Mond war unter ihren Füßen und ein Kranz von zwölf Sternen auf ihrem Haupt“ (12, 1): Das ist die Kirche23 in ihrem auf die Zukunft orientierten und transzendenten Zustand (Mond unter den Füßen), deren Identität vom auferstandenen Christus (vgl. 1, 16: mit der Sonne bekleidet) und vom verborgenen, doch andauernden Zeugnis der zwölf Apostel (zwölf Sterne auf dem Haupt) abhängt. In der Weltgeschichte legt die Kirche ihrerseits das Zeugnis ab, indem sie Christus unter Wehen, also durch das Märtyrertum, gebärt und die frohe Botschaft des Evangeliums verkündet. Da stehen ihr aber immer noch Hindernisse im Wege: Hier verkörpert sich das Dämonische in der gewalttätigen Figur des roten Drachens (vgl. 12, 3, das zweite Zeichen), der „alten Schlange, die Teufel oder Satan heißt und die ganze Welt verführt“ (12, 8). Sein einziges Ziel ist, das Kind zu verschlingen, „den Sohn, den die Frau gebar“ und „der alle Völker mit eisernem Zepter weiden wird“ (12, 5). Aber eben dieses wird zu Gott und zu 22 Hier kommen die Worte eines Märtyrers der heutigen Zeit, Oscar Romero, in den Sinn: „Werden sie mich umbringen? Ich werde in den Herzen der Salvadorianer erneut leben!“ 23 Die ausschließlich auf Maria beschränkte Deutung ist auf Quodvultdeus (aus Karthago, um 454 gestorben), einen Schüler Augustins von Hippo, zurückzuführen. Insbesondere im Zusammenhang mit den Verkündigungen der marianischen Dogmen (1854 und 1950) aber kann man ein Aufblühen von Monografien über das 12. Kapitel der Apokalpyse feststellen, die durch philologische und theologische Haarspalterei diese Deutung zu verteidigen suchen.

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seinem Thron entrückt, denn Christus hat das Dämonische durch seine Auferstehung ein für alle Mal besiegt. Michael und seine Engel, die mit ihm und seinen Engeln kämpfen (vgl. 12, 7–12), stürzen indessen den Drachen auf die Erde: Das Bild drückt hier ein „andauerndes“ Stürzen aus, um zu erläutern, dass das Dämonische mit der göttlichen Transzendenz absolut immer inkompatibel bleibt. Der Dämon verfolgt also die Frau, die aber die Flucht in die Wüste ergreift, wo sie für eine begrenzte und vergängliche, kurze Frist (1260 Tage lang) weilt (vgl. 12, 6). Hier landet sie, da ihr noch die Flügel des großen Adlers gegeben wurden, „eine Zeit und zwei Zeiten und eine halbe Zeit lang“ (12, 14) wird sie von Gott ernährt, fern vom Angesicht der Schlange. Es ist aber auch die Zeit der Versuchung: Der dämonische Betrüger lässt sie glauben, sie habe ihr Ziel erreicht, indem er die Wüste zu Eden verwandelt. Die Schlange speit einen Strom von Wasser aus ihrem Rachen hinter der Frau her, damit sie „von den Fluten fortgerissen werde“ (12, 15)24. Aber Gottes sofortiges Eingreifen stellt die Wirklichkeit der Wüste wieder her (vgl. 12, 16). Die Kirche ist immer noch auf dem Wege zu Gott und in diesem fortdauernden Unterwegssein hat sie, kraft des österlichen Sieges, nichts zu fürchten; doch muss sie davon überzeugt sein, dass das Ziel nicht in dieser Welt zu finden ist. Nach alledem geht der Drache fort um „Krieg zu führen mit ihren übrigen Nachkommen, die die Gebote Gottes bewahren und an dem Zeugnis für Jesus festhalten“ (12, 17). Darum denkt er sich einen Plan aus: Er benutzt die bestehende Gewalt, die sich in dem aus dem Meer steigende Tier verkörpert, dem Staat, der die Christen verfolgt (13, 1–3). Das Tier aus dem Meer (d. h. aus dem „Behälter“ des Bösen) besitzt eine große Lebenskraft (sieben Köpfe) und ungeheure Stärke (die eines Panthers, eines Bären, eines Löwen). Seine Macht ist aber begrenzt, denn die den Hörnern entsprechende Zahl ist bloß die „Zehn“, ein Divisor der Zahl „Tausend“, die dagegen ausschließlich die reichliche und weitverbreitete Macht Christi bedeutet. Seine Wirkung übt es offensichtlich durch die Machthaber der Erde aus (vgl. die zehn Diademe auf den Hörnern), und seine Stärke besteht nur darin, sich Gott immer wieder entgegenzusetzen; darum „trägt es auf den Köpfen Namen, die eine Gotteslästerung sind“ (13, 1; vgl. 13, 5–6). Plötzlich wird einer seiner Köpfe tödlich verletzt, und zum Staunen aller Menschen wird die Wunde geheilt (vgl. 13, 3): Versucht es, Christi Auferstehung nachzuäffen? Oder sollte es bedeuten, dass seine Verfolgungsgewalt in der Geschichte immer wieder zu neuem Leben erwacht? Eins steht klar vor Augen: Das Tier aus dem Meer verfolgt nur die Absicht, sich an die Stelle Gottes zu setzen, darum verwendet es die Propaganda, den „falschen Propheten“ (vgl. 20, 10), der von einem zweiten aus der Erde heraufsteigenden Tier dargestellt wird. Es bringt die Macht 24 Genauer wäre das Griechische dieser Stelle wiederzugeben: „(von den Fluten) schwebend getragen wird“.

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des ersten Tiers und des Drachens in die weite Öffentlichkeit, genauso wie ein totalitärer Staat seine breite Propaganda entfaltet. Im Mittelpunkt seiner Kommutationsstrategie steht die Verwirrung der Bewohner der Erde durch Wunderzeichen. Diese Bewohner sind gezwungen, sich auf ihre Hand und auf ihre Stirn, also auf ihr Handeln und ihr Denken, ein Kennzeichen anbringen zu lassen (vgl. 13, 16) und dem ersten Tier ein Standbild, das plötzlich sprechen kann, zu errichten und es anzubeten (vgl. 13, 15). Wer sich weigert, wird getötet. Das ist ein klarer Hinweis auf den Kaiserkult, den die Christen nicht akzeptieren konnten. Darum ist es wichtig, fährt der Verfasser fort, zu beachten: „Hier ist die Weisheit. Wer Verstand hat, berechne den Zahlenwert des Tieres. Denn es ist die Zahl eines Menschennamens; seine Zahl ist 666“ (12, 18). Das Dämonische, das sich in der Form der bestehenden Gewalt des vergötterten Staates verkörpert, ist an seiner Zahl, die den hebräischen Buchstaben nrn ksr entspricht, zu erkennen. In der Weltgeschichte wird es immer einen „Nero-Cäsar“, den Verfolger der Christen schlechthin, geben (vgl. die Rede vom Nero redux oder redivivus)25: Sind die Gläubigen in der Lage, dies durch die vom Heiligen Geist hervorgehende Weisheit ohne Zweifel festzustellen und können sie sich darauf verlassen, dass Gott ein für alle Mal dieses perverse System besiegen wird? Das anfängliche Zeichen dieses Sieges wird vom Autor durch das Symbol der 144.000 (14, 1–2, vgl. 7, 1–8) repräsentiert. Sie stehen auf dem Berg Zion, dem Ort der Erlösung schlechthin (vgl. Jes. 2), sind in die Wahrheit des Auferstandenen (x 1000) vollkommen einbezogen (vgl. 7, 4: Unbeflecktheit) und folgen dem Lamm, wohin es geht. Sie sind diejenigen, die sich in der ganzen Heilsgeschichte (12 x 12 = 144), im Angesicht der Gemeinde, in die Rolle des „Rests Israels“ versetzen und in diesem Sinn den Zustand der zukünftigen Welt vorwegnehmen. Der letzte Teil der Johannesapokalypse konzentriert sich zuerst auf das Negative der Weltgeschichte (16–18), das sich im Symbol der Stadt Babylon (17, 1– 2), also in einem strukturierten, sündhaften, die Transzendenz ausschließenden Zusammenleben, im höchsten Grade widerspiegelt. Sie ist wie eine Frau, eine Hure (πόρνη), die auf dem ersten scharlachroten Tier sitzt. Es besteht eine enge Verbindung zwischen diesem negativen Zusammenleben der Menschen und der vergötterten, in diesem Fall vom Konsum beherrschten Gewaltauffassung des Staates. Hier wirkt die Auseinandersetzung mit dem römischen Reich und dem Kaiserkult (vgl. 17, 9: „Die sieben Köpfe bedeuten sieben Berge, auf denen die Frau sitzt. Sie bedeuten auch sieben Könige“) noch deutlicher. Durch die bildhafte Sprache der Apokalypse kommt in Babylon die Ideologisierung der 25 Für eine detaillierte Bibliographie über die Auslegung der Zahl des Tieres vgl. Biguzzi (2013) 264–271. Hinsichtlich der Sage des ersten Nero Redux vgl. Tacitus, hist. 2, 8–9, des zweiten dann Cassius Dio, hist. 66, 19, 3–4 und des dritten Sueton, Nero 57, 2 sowie Tacitus, hist. 1, 2, 1. Der Sache geht vor allem Klauck (2001) nach.

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Staatsgewalt zum Ausdruck, die hiernach vor allem auf die Ökonomie den Hebel ansetzt. Deswegen sind es die Kaufleute, die nach ihrem Untergang über sie weinen werden, weil niemand ihre Ware mehr kaufen wird (vgl. 18, 11. 15 etc.). Der Untergang Babylons und seiner Anhänger, die durch den Handel mit dieser Stadt reich geworden sind (Kauf- und Seeleute, Händler), ist aufgrund ihrer endogenen Schwäche als Selbstzerstörung zu verstehen. Dasselbe gilt für die vollkommene, endzeitliche Vernichtung des mehrmals genannten irdischen Systems, wenn Gottes Zorn, als Offenbarung seiner absoluten Unvereinbarkeit mit dem Bösen verstanden, seinen Gipfel erreichen wird (19, 11–12; 20, 11). Aus 20, 1–10 ist die Schilderung des bekannten „tausendjährigen Reichs Christi“ zu entnehmen, das von vielen als realistischer Hinweis auf ein konkretes Zeitalter interpretiert wurde. Seit den Anfängen des Christentums hat diese nicht übertragene Auslegung der apokalyptischen Stelle mehrere Theologen – darunter Papias von Hierapolis, Irenäus von Lyon, Montanus, Tertullian – zum sogenannten „Millenarismus“ oder „Chiliasmus“ inspiriert. Im Laufe des tausendjährigen Reichs wird also der Teufel gefesselt, in den Abgrund geworfen, dort eingesperrt, und der auferstandene Christus wird mit den Seinen ungestört herrschen. In erster Linie handelt es sich definitiv um eine Vorverlegung des Sieges des Guten, der in der Endzeit endgültig stattfinden wird, nach dem letzten Kampf mit dem Dämonischen. Nach tausend Jahren gelangt der Teufel für kurze Zeit in Freiheit (vgl. 20, 7), bevor er, der Verführer der Menschheit, „in den See von brennendem Schwefel“ geworfen wird, „wo auch das Tier und der falsche Prophet sind und Tag und Nacht gequält werden, in alle Ewigkeit“ (20, 11). Der durch Joachim von Fiore (1130–1202), den Spiritualismus des Spätmittelalters und manche geistlichen Strömungen der protestantischen Reformation fortgeschriebene Millenarismus veranlasste eine zeitgeschichtliche Auslegung der Apokalypse, indem sie auf zeitgenössische – kirchliche wie weltliche – Geschehnisse angewandt wurde. Um sich Bonifaz VIII. zu widersetzen, erfuhr eines der Tiere der Apokalypse die Interpretation als Symbol des Papstes26, was der Deutung sowohl der Wickleffiten und der Hussiten als auch von Protestanten und Anglikanern den Weg durch den konfessionellen Religionsstreit ebnete27. Diese Auslegungen förderten ein verbreitetes Aufblühen des Millenarismus, obwohl er von der Confessio Augustana (1530) sowie von den Neununddreißig Artikeln (1553) des anglikanischen Glaubensbekenntnisses und von der Confessio Helvetica (1566) explizit verworfen wurde. Aber auch die Katholiken haben 26 Hier sind Petrus Johannis Olivi (1298 gestorben) und Ubertinus de Casale (1328 gestorben) gemeint. 27 Heute inspiriert der Millenarismus immer noch viele religiöse Strömungen, wie die Siebenten-Tags-Adventisten (William Miller, 1842), die Mormonen (Joseph Smith jr., 1830) und die Zeugen Jehovas (Charles Taze Russel, 1879). Über die Angelegenheit des Chiliasmus im Zusammenhang mit der Apokalypse vgl. Böcher (1981).

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ihrerseits die Auslegung der Apokalypse gegen die Reformation instrumentalisiert. Der Millenarismus ist auch der Grund dafür, dass die Johannesoffenbarung nur mit großer Mühe als kanonischer Text anerkannt wurde, und hat deswegen die Debatte über ihre richtige Auslegung kennzeichnet: Zeitgeschichtlich? Endzeitgeschichtlich? Kirchengeschichtlich? Oder in Bezug auf einen zeitlosen Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen? Wenn man aber auf die ganze Handlung der Apokalypse achtet, ergibt sich, dass das „tausendjährige Reich“ eigentlich, als eine übertragene Darstellung, die weitverbreitete Gegenwart Christi in der Welt bezeichnet, die sich manchmal deutlich, sofern von den Christen offen bezeugt (vgl. den gefesselten und eingesperrten Teufel), manchmal weniger deutlich (vgl. den freigelassenen Teufel) erweist. Aber letztendlich bleibt Gottes Sieg unbestritten und vollkommen, wie es im positiven Abschnitt der letzten Kapitel (19–22) erläutert wird. Hier ist „die Braut des Lammes“ (19, 7; 21, 2) die wichtigste Figur, die in den Vordergrund rückt: Sie ist die kirchliche Gemeinde, also die „Verlobte“, die sich „mit den gerechten Taten“ (vgl. das Leinen des Hochzeitkleides) der „Heiligen“, d. h. der Erlösten, der Christen, zur Hochzeit bereit gemacht hat (erster Aufruf in 19, 7–8). Die Hochzeit repräsentiert das paritätische und vollkommene Verhältnis zwischen Gott (stets durch Christus, das Lamm) und der gesamten Menschheit in der Endzeit. Das aus dem Himmel herabkommende Jerusalem, die heilige Stadt, die zur neuen Schöpfung (21, 1) gehört, ist dieselbe Braut von vorher. Im Gegensatz zur Hure Babylon ist das Zusammenwohnen des neuem Jerusalems Gott gegenüber ganz aufgeschlossen. Hier ist alles von Gottes Gegenwart geprägt, und das Lamm ist sein Licht und sein Tempel (vgl. 21, 22; 22, 5). Die Bibel endet mit der Vision einer ganz erneuerten Schöpfung, die die erste ersetzt. Die Geschichte wird im toten und auferstandenen Christus rekapituliert: Seine Gottheit und Menschheit sind ewig im einzigen Tempel, in perfekter Gemeinschaft mit den Menschen und mit Gott, dem Vater, verherrlicht (vgl. 22, 3: Thron). Der Tempel ist das Lamm selbst. Die Gläubigen sind heute noch auf dem Weg, der zu diesem Ziel ihrer Hoffnung führt. Der irdischen Gemeinde, der „Verlobten“, bleibt, nachdem sie durch die Botschaft der Apokalypse diese fast zum Schwindeln bringende Erfahrung gemacht hat, nichts anderes übrig, als in der Liturgie, durch die Stimme des Heiligen Geistes, die Wiederkunft des Bräutigams zu fordern: „Maranatha!“, „Komm, Herr Jesus!“ (22, 17. 20). Und seine Antwort lautet wie ein unmissverständliches, intimes Versprechen, mit dem dieses anspruchsvolle, doch sehr faszinierende Buch endet: : „Ja, ich komme bald!“

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Klaus Neumann

Der „Neue Bund“ – ein alter Hut? Ioudaismós, „Judentum“, „Christentum“ und „Dekalogismus“

Abstract Within Christianity, speaking of the „New Covenant“ was and is often related to a rhetoric of demarcation and outdoing in regard of Judaism. The „old Covenant“, namely Judaism as a religion, has become obsolete and has no more right to exist. But for quite some time, it is queried whether the New Testament expression „New Covenant“ really was meant in that way, as the foundation of a new „religion“. In this essay it shall be shown that the Jewish theology of covenant had always been dynamic in itself and had urged to perpetual renewal and actualization of the covenant as a reaction to human failure. At the same time the „covenant“ with Israel is embedded in an universalistic belief in God as the creator of the world. The universal commandements are embodied in the Decalogue. Within the „Decalogism“ as a kind of Jewish theology (which is to be reconstructed fully in the future only) the later Christianity as a universal religion is essentially and largely anticipated.

1.

Das „Alte Testament“ mit und ohne „ENDE“

Im Vorfeld des Reformationsjahres 2017 brachte der Zirndorfer Spielzeughersteller Playmobil im Auftrag der Evangelischen Kirche Deutschlands und der Congress- und Tourismuszentrale Nürnberg eine Lutherfigur auf den Markt, die zur meistverkauften Playmobilfigur aller Zeiten wurde (Abbildung 1)1. Angelehnt war der „Playmobil-Luther“ an das 1821 am Reformationstag eingeweihte Lutherdenkmal von Johann Gottfried Schadow auf dem Marktplatz in Wittenberg (Abbildung 2)2.

1 Die Figur war im Verkauf seit Februar 2015. Zu den Einzelheiten vgl. https://de.wikipedia.org /wiki/Playmobil-Luther (letzter Abruf am 19. Juni 2019). Der Playmobil-Luther wurde mit mehr als einer Million verkauften Exemplaren „die erfolgreichste Einzelfigur in der Geschichte von Playmobil“. 2 Vgl. den eben genannten Link sowie: https://de.wikipedia.org/wiki/Lutherdenkmal_(Luther stadt_Wittenberg), letzter Abruf am 19. Juni 2019; vgl. außerdem Schadow (1890) 138–140.

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Abbildung 1

Abbildung 2

Klaus Neumann

Der „Neue Bund“ – ein alter Hut?

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In der Hand halten beide Luthers die Bibel, „die ganze Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments“3. Um das anzuzeigen, ist in der Bibel der Übergang vom „Alten“ zum „Neuen“ Testament aufgeschlagen: „Das Neue Testament verdeutscht von Doktor Martin Luther“ liest man auf der (vom Betrachter aus gesehen) rechten Buchseite, „Der Bücher des Alten Testaments ENDE“ auf der linken. Eine solche (Doppel-)Seite enthält und enthielt die „reale“ Lutherbibel freilich nicht. Allerdings haben die Bücher des „Alten Testaments“ (ich stütze mich auf die sogenannte „Ausgabe letzter Hand“, Wittenberg 15454) jeweils eine subscriptio, die das Ende des betreffenden Buches anzeigt (z. B. „Ende des Ersten Buchs Mose“ oder „Ende des Propheten Maleachi“), und es gibt tatsächlich auch eine Gesamt-subscriptio: „Ende der Bücher des alten Testaments.“ Diese schließt das letzte Buch der Apokryphen ab, nämlich das Gebet Manasses, das keine eigene subscriptio hat. Bei den Büchern des Neuen Testaments hingegen fehlen diese subscriptiones (Ausnahme: „Ende der Apostel Geschichte“), dafür stehen bei den Schriften des Corpus Paulinum Angaben zur vermeintlichen Abfassungssituation5. Eine Erklärung für diese unterschiedliche Behandlung der altund neutestamentlichen Bücher habe ich bisher nicht finden können. Ich kann mir aber vorstellen, dass es theologische Gründe waren, die Luther davon abhielten, die Bücher des Neuen Testaments mit dem Wort „Ende“ zusammenzubringen, zumal die Evangelien mit den Worten Jesu, von denen es heißt „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen“ (Mk. 13, 31 parr.)6.

3 Dieser geläufige Untertitel hat sich erst nach Luther etabliert, die Ausgabe Wittenberg 1545 ist nur betitelt: Biblia: Das ist: Die gantze Heilige Schrifft / Deudsch / Auffs new zugericht (Faksimile-Ausgabe: Biblia Germanica 1545: Biblia; das ist die gantze Heilige Schrifft deudsch auffs new zugericht. D. Mart. Luth., Stuttgart 1983). Die früheste Ausgabe mit dieser Titulatur, die ich gefunden habe, ist die von Sigmund Feyerabend (Biblia. Das ist: Die gantze / heylige Schrifft / deß alten vñ neuwen / Testaments / durch Doct. Mart. Luth. verteutscht …, Frankfurt 1569). Schon 1529 trägt die Ausgabe von Peter Schöffer d. J., die aber noch nicht auf die Übersetzung der ganzen Bibel durch Luther zurückgreifen kann, den Titel Biblia beyder Alt und Newen Testaments (vgl. Volz [1978] 204. 226). 4 Faksimile-Ausgabe von 1983, vgl. oben Anm. 3. Text auch online verfügbar: http://www.zeno. org/Literatur/M/Luther,+Martin/Luther-Bibel+1545 (letzter Abruf am 20. Juni 2019). 5 Z. B.: „An die Römer. Gesand von Corintho / durch Pheben / die am Dienst war der gemeine zu Kenchrea“. Eine derartige Notiz haben die Paulusbriefe und der Hebräerbrief, nicht aber die katholischen Briefe (Petrus- und Johannesbriefe, Jakobusbrief, Judasbrief) und die Offenbarung. Die erste vollständige Übersetzung (Wittenberg 1534, Faksimile-Ausgabe: Martin Luther: Biblia / das ist / die Heilige Schrifft Deudsch, 2 Bände., Frankfurt am Main 1983 [= RöderbergTaschenbuch 115/116], [Reproduktion der Faksimile-Ausgabe Leipzig 1935]) vermerkte außerdem immerhin ganz am Schluss (der Offenbarung) auch das „Ende des Newen Testaments“. 6 Mt. 24, 35; Mk. 13, 31; Lk. 21, 33; vgl. auch das Christus-Wort „Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende“ (Offenbarung 1, 8; 21, 6; 22, 13).

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Um den „Playmobil-Luther“ entwickelte sich alsbald ein Streit, weil man das von ihm angezeigte „ENDE“ des Alten Testaments vor dem Hintergrund der Diskussion über das Verhältnis Luthers zum Judentum als Ausdruck des theologischen Antijudaismus deutete und als Erbe einer unheilvollen Vergangenheit und Verstrickung betrachtete7. Eine Neuausgabe der Figur, die im März 2017 auf den Markt kam und noch immer lieferbar ist, wurde dann ohne das „ENDE“ ausgeliefert. Links steht also nur noch: „Bücher des Alten Testaments“ (Abbildung 3)8.

Abbildung 3

Nehmen wir den Playmobil-Luther als Symbol für das Thema, das ich bedenken möchte, nämlich die Frage nach dem „Neuen“ im Neuen Testament in seinem 7 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Playmobil-Luther, Abschnitt „Antisemitismus-Vorwurf“, letzter Abruf am 18. Juni 2019; dazu auch z. B. die Artikel des Evangelischen Pressediensts: „Streit um Playmobil-Luther“ (2. Dezember 2016: https://www.evangelisch.de/inhalte/14057 2/02-12-2016/streit-um-playmobil-luther-ist-er-antijudaistisch, letzter Abruf am 19. Juni 2019) und: „Luther ohne ‚ENDE‘: Neue Playmobil-Figur kommt“ (9. Dezember 2016: http s://www.evangelisch.de/inhalte/140704/09-12-2016/luther-ohne-ende-neue-playmobil-figurkommt, letzter Abruf am 19. Juni 2019). 8 Beim Hersteller ist die Figur anscheinend nicht mehr verfügbar, bei vielen kirchlichen Verlagen und antiquarisch kann sie aber noch bestellt werden, entsprechend finden sich leicht Bilder. Die Figur mit der Sortiment-Nr. 9325 ist die „neue“ Figur, die Nr. 6099 die „alte“ Version mit dem „ENDE“.

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Verhältnis zum „Alten“. Luther stand ganz selbstverständlich in einer langen christlichen Tradition, das „neue“ gegen das „alte“ Testament auszuspielen: Danach setzt der „neue Bund“ den „alten“ außer Kraft, so dass das Judentum als Religion eigentlich keine Berechtigung mehr hat. Die neutestamentlichen Belegstellen für das Syntagma „Neuer Bund“ finden sich vor allem im 2. Korintherund im Hebräerbrief (2 Kor. 3, 6; Hebr. 8, 8. 13; 9, 15; 12, 24)9, außerdem noch in den Abendmahlsworten, wie sie Lukas und Paulus überliefern (Lk. 22, 20; 1 Kor. 11, 25: „Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut“10). Daneben wäre noch z. B. Röm. 10, 4 (τέλος γὰρ νόμου Χριστός) zu nennen, wo es in Luthers Übersetzung heißt: „Christus ist des Gesetzes Ende“. Man kann aber τέλος ja auch ganz anders übersetzen, z. B. „Christus ist das Ziel des Gesetzes“. Genau dies freilich, dass der „Neue Bund“ im Neuen Testament den „Alten Bund“ mit Israel aufhebt und „beendet“, wird seit geraumer Zeit in der Exegese hinterfragt: Steht das in den Texten wirklich so? Oder zumindest: Ab wann und in welchen Texten? Und darüber hinaus: Ist das eine legitime thelogische Aussage für uns? Ohne die exegetische Diskussion darüber hier im Einzelnen zu entfalten, sei dazu nur kurz so viel gesagt: Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass es kein solch frühes „Auseinandergehen der Wege“ (Parting of the Ways) von „Judentum“ und „Christentum“ als getrennten „Religionen“ gab, jedenfalls noch nicht in neutestamentlicher Zeit, vielleicht sogar erst ganz erheblich später11. Das Bewusstsein, eine eigene und andere „Religion“ zu sein als das „Judentum“, entsteht erst später (wobei die Verwendung des Begriffs „Religion“ für die antiken Formationen Ioudaismós und Christianismós noch eigens problematisiert werden müsste, ich bleibe hier aber bei diesem vielleicht anachronistischen Begriff). Die Verfasser der Schriften des Neuen Testaments betrachten die „Christen“ oder „Christianer“, die aus dem jüdischen Volk stammen, in „religiöser“ Hinsicht nicht als „Nicht-Juden“. Ein Christianós (Apg. 11, 26; 26, 28; 1 Pt. 4, 16) ist ein „Anhänger des Messias/Christus“, wie ein „Cäsarianer“ ein Parteigänger Caesars 9 2 Kor. 3, 6: „[Gott,] der uns auch tüchtig gemacht hat zu Dienern des neuen Bundes, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.“ – Hebr. 8, 8: „Denn er [Gott] tadelt sie und sagt [Jer. 31, 31–34]: ‚Siehe, es kommen Tage, spricht der Herr, da will ich mit dem Haus Israel und mit dem Haus Juda einen neuen Bund schließen …‘“ – Hebr: 8, 13: „Indem er sagt: ‚einen neuen Bund‘, hat er den ersten zu einem alten gemacht. Was aber alt wird und betagt ist, das ist dem Ende nahe.“ – Hebr. 9, 15: „Und darum ist er [Jesus] auch der Mittler des neuen Bundes, auf dass durch seinen Tod, der geschehen ist zur Erlösung von den Übertretungen unter dem ersten Bund, die Berufenen das verheißene ewige Erbe empfangen.“ – Hebr. 12, 24: „[Ihr seid gekommen] zu dem Mittler des neuen Bundes, Jesus, und zu dem Blut der Besprengung, das besser redet als Abels Blut.“ (Alle Übersetzungen nach der Lutherbibel 2017). 10 Hingegen heißt es in Mk. 14, 24 und Mt. 26, 28 nur: „Das ist mein Blut des Bundes“ (Übersetzung nach der Lutherbibel 2017). 11 Vgl. nur Becker – Reed (2003).

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ist und ein „Herodianer“ (Mk. 3, 6; 12, 13; Mt. 22, 16) zur Klientel des Herodes gehört. Als „Christianer“ trat man ebensowenig „aus dem Judentum aus“ wie als Herodianer. Man vollzog (als geborener „Jude“ oder „Judäer“12) keine Bekehrung vom „Judentum“ zum „Christentum“, sondern höchstens eine „Bekehrung“ („Hinwendung“) zu einem neuen „Patron“, nämlich zu dem Messias Jesus, der zuerst unter den „judäischen Männern“ (ἄνδρες Ἰουδαῖοι, Apg. 2, 14) bzw. den „Männern Israels“ (Ἄνδρες Ἰσραηλῖται, Apg. 2, 22 u. ö.) seine Anhänger gewinnen will. Allerdings konnte man sich zu diesem Patron, dem „Gesalbten“, auch hinwenden oder „bekehren“ (ἐπιστρέφω κτλ., vgl. 1 Thess. 1, 9; Apg. 15, 3. 19; μετάνοια, vgl. Apg. 11, 18), wenn man kein geborener Ioudaîos war und ohne den Ioudaismós, die „jüdische Lebensweise“, (gänzlich) zu übernehmen – so jedenfalls nach Meinung des Paulus (vgl. Gal. 2, 14–16), während die Anhänger des Jakobus (Gal. 2, 12) bzw. die „zum Glauben gekommenen Pharisäer“ (Apg. 15, 5) dies anderes sahen13. Die als Ioudaîoi geborenen „Messianer“ glauben an das „Evangelium der Beschneidung“, die „gute Nachricht für die Beschnittenen“ (Gal. 2, 7), das die Fortdauer des Bundes mit Israel, dessen Zeichen die Beschneidung ist, voraussetzt. Die Menschen aus den „Völkern“, zu denen sich Paulus als „Apostel der Unbeschnittenheit“ mit dem „Evangelium der Unbeschnittenheit“ gesandt weiß (Gal. 2, 7–9), kommen zu den „Judäern“ bzw. zu „Israel“ hinzu, wobei „im Messias“ der Unterschied zwischen „Judäern“ und „Hellenen“ zwar nicht mehr heilsrelevant ist und alle unterschiedslos die eine Taufe „auf Christus“ oder „in Christus hinein“ empfangen (Gal. 3, 27–28, vgl. auch Eph. 4, 5: „ein Herr, ein Glaube, eine Taufe“). Aber dieser Unterschied ist dennoch in dem noch andauernden Leben in „diesem (vergehenden) Kosmos“ (1 Kor. 7, 31) nicht einfach hinfällig – wie auch die Unterschiede zwischen Männern und Frauen und zwischen Sklaven und Freien. Vielmehr soll jeder bleiben, was und wie er „berufen“ worden ist (1 Kor. 7, 17–22). In Übereinstimmung damit berichtet Lukas, dass Paulus zwar den Timotheus, als Sohn einer jüdischen Mutter, beschnitten habe (Apg. 16, 1–3), während Paulus selbst erklärt, dass die Beschneidung des „Griechen“ Titus niemals zur Diskussion gestanden habe (Gal. 2, 3).

12 Auch die Übersetzung und Bedeutung von Ioudaîos wäre noch zu disktutieren. 13 Vgl. die ähnlich gelagerte Erzählung von der Bekehrung des Herrscherhauses von Adiabene zum Judentum bei Josephus (ant. 20, 17–53), in der ebenfalls die Frage auftaucht, ob die Beschneidung unerlässlich sei. Während zunächst der Kaufmann Ananias, der erste „Missionar“, der die Bekehrung zum Judentum bewirkt, die Beschneidung nicht für wesentlich hält, denn man „könne Gott auch ohne Beschneidung verehren, wenn man nur die gottesdienstlichen Gebräuche der Juden befolge, die viel wichtiger als die Beschneidung seien“ (20, 41), besteht der aus Galiläa hinzugkommende Eleazar, „der für besonders gesetzeskundig galt“, auf der Notwendigkeit der Beschneidung (20, 44–45) (Übersetzung Heinrich Clementz).

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2.

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Die Frage nach dem „(neuen) Bund“ im „Alten Testament“

Der „neue Bund“ ist vor diesem Hintergrund nicht in dem Sinne „neu“, dass er den „alten“ oder „ersten Bund“ (ἡ παλαιά διαθήκη, 2 Kor. 3, 14; vgl. auch Hebr. 8, 13; ἡ πρώτη διαθήκη, vgl. Hebr. 8, 7. 13; 9, 1. 15. 18) abrogiert, sondern er ist der erneuerte Bund, der den ersten Bund, das „Gesetz“, an sein „Ziel“ führt (Röm. 10, 4, vgl. oben). Auf diese Weise „bestätigt“ Christus als „Diener der Beschneidung“ die „Verheißungen an die Väter“ (Röm. 15, 8). Konkret geht es dabei um die Verheißung des „neuen Bundes“, die ja bereits im „Alten Testament“ selbst ausgesprochen wird (Jer. 31, 31–34). Diese Jeremia-Stelle wird in Hebr. 8, 8–12 in voller Länge zitiert und ist grundlegend für die Rede vom „neuen Bund“ im „Neuen Testament“. Dieser neue Bund ist das „Gesetz“, das (nicht mehr auf steinere Tafeln, sondern) „in die Herzen“ geschrieben ist (Jer. 31, 33). Paulus assoziiert ganz ähnlich den „neuen Bund“ mit dem „Geist“ im Gegensatz zum „Buchstaben“ (2 Kor. 3, 6; vgl. auch in Röm. 8, 2 die Rede vom „Gesetz des Geistes des Lebens in Christus Jesus“). So eröffnet der „neue Bund“ für die „Völker“ zwar in der Tat einen gänzlich neuen Zugangsweg zum Heil und ist für diese neu im Sinne von „neu erschienen“, „noch nie dagewesen“, „zuvor nicht existent“ (καινός): Christus ist für die Völker der Stifter eines neuen Bundes, wie einst Gott mit Abraham und seinen Nachkommen einen Bund schloss (Gen. 17), der zuvor nicht bestand. Das Bundesverhältnis ist dabei eines der gegenseitigen „Loyalität“ (πίστις, Röm. 4). Durch Christus und seine Auferstehung von den Toten wird der Eintritt in dieses Verhältnis der Loyalität zwischen Patron und Klient auch den Menschen aus den „Völkern“ angeboten (Apg. 17, 31). Für die „Judäer“ aber ist der Bund nicht in demselben Sinne „neu“. Gottes πίστις für „Israel“ ist und bleibt dieselbe, die er schon Abraham erwiesen hat, auch wenn es die Menschen, konkret die zum Bund berufenen „Judäer“, an solcher πίστις Gott gegenüber haben fehlen lassen (Röm. 3, 3, vgl. auch 2 Tim. 2, 13). Gott ist und bleibt „wahrhaftig“, auch wenn die Menschen sich als „Lügner“ erweisen (Röm. 3, 4, vgl. auch 2 Tim. 2, 13: Gott bleibt „treu“ [πιστός], auch wenn die Menschen „treulos sind“ [ἀπιστέω]). Der „neue Bund“ bedeutet hier einzig und allein die Möglichkeit einer neuen menschlichen „Treue“ (oder eines neuen „Glaubens“) und „Wahrhaftigkeit“. Dies ermöglicht allein der Geist, durch den die Glaubenden die „Begierden des Fleisches“ überwinden und so in die „Freiheit“ geführt werden (Gal. 5, 1. 13–18). Was den konkreten Inhalt des („ersten“) „Bundes“ mit Israel und den Zeitpunkt seiner Stiftung angeht, gibt es im Alten Testament mehrere theologische Konzeptionen, die sich im Endtext des Pentateuchs durchdringen, vermischen und gegenseitig ergänzen, interpretieren und begrenzen, so dass es, ausgehend von diesen grundlegenden Konzeptionen, im Raum des Judentums eine Mehr-

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zahl von möglichen Lesarten und Bedeutungen der Bibel Israels gibt, je nachdem, auf welche Texte man das Hauptgewicht legt. In der Priesterschrift bzw. „priesterlichen Theologie“ ist der Bund ein „Gnadenbund“, der vonseiten des Menschen letztlich gar nicht „gebrochen“ werden kann. Gott hat diesen Bund schon mit Abraham geschlossen (Gen. 17). Sein Inhalt besteht in den Verheißungen, die Gott Abraham gegeben hat (Nachkommenschaft und Besitz des Landes). Aufseiten der Menschen ist lediglich gefordert, dass sie sich durch die Beschneidung als Bundeszeichen zu diesem Bund bekennen. Am Sinai wird hingegen in der Priesterschrift kein „Bund“ geschlossen, sondern der Kult etabliert: Die Geschehnisse am Sinai zielen auf die „Einwohnung Gottes inmitten seines Volkes in der Wüste im Zelt der Begegnung“ (Exod. 29; 40, 34–38)14. Demgegenüber ist in der deuteronomi(sti)schen Theologie der Dekalog die zentrale Bundesurkunde des Sinai- oder Horebbundes (Dtn. 4, 13–1415). Er wird von den „Geboten und Rechtsvorschriften“ in Dtn. 12–26 ausgelegt16. Dieser Bund ist insofern stets prekär, als Israel ihn durch Nichterfüllung „brechen“ und verfehlen kann und dann dem „Fluch“ und dem „Tod“ verfällt (vgl. Dtn. 30, 15–20 und insgesamt Dtn. 29–30). Die „Verstockung“ der Wüstengeneration, die dadurch die Verheißung verspielte, soll dem „Volk seiner Weide“ daher stets warnend vor Augen stehen (Ps. 95, 7–11). Eine besondere Bedeutung hat der Bericht vom Bundesschluss in der „vorderen Sinaiperikope“ (Exod. 19–24). Dieser Bericht steht in Exod. 24, 3–8, einem wahrscheinlich späten Text, dessen genaue Herkunft unklar ist, jedenfalls gehört er nicht zur „Priesterschrift“, vielleicht ist er von deuteronomistischer Theologie beeinflusst17. Hier erfolgt zum einen die Verpflichtung des Volkes auf „alle

14 OTTO (2012) 250. Zur priester(schrift)lichen Theologie insgesamt vgl. z. B. Gertz (2019) 237– 248; Zenger – Frevel – Fabry – Braulik – Hentschel (2012) 189–214 (darin Zenger – Frevel [2012] 192: „Am Siniai übergibt JHWH dem Mose nicht die Tafeln mit den Zehn Geboten, sondern er zeigt ihm das Modell des Heiligtums, das die Israeliten als ‚mitwandernden Sinai‘ errichten sollen.“). Vgl. auch die Rede von den „(zwei steinernen) Tafeln des Bundes“ in Dtn. 9, 9. 11. 15 Lutherbibel 2017: „Und er verkündigte euch seinen Bund, den er euch gebot zu halten, nämlich die Zehn Worte, und schrieb sie auf zwei steinerne Tafeln. Und der Herr gebot mir zur selben Zeit, euch Gebote und Rechte zu lehren, dass ihr danach tun sollt in dem Lande, in das ihr zieht, es einzunehmen.“ 16 Dazu vgl. Braulik (1988) 232. 17 Zur Herkunft vgl. z. B. Macchi (2013) 239: „Innerhalb der Sinai-Perikope lassen sich die Kapitel über den Bau des Heiligtums und den Kult (Ex 25–31 und 35–40) problemlos von nichtpriesterlichen Passagen (19,3–24,14 und 32–34) abheben.“. 244: „Somit ist ein Großteil der jüdischen Riten mit dem Exodus-Geschehen verknüpft. [Abs.] Neben dieser hauptsächlich kultischen Perspektive ist aber auch zu beachten, dass die Kapitel Ex 19–24 eine ganze Reihe von sozialethischen Vorschriften enthalten. Insofern kann man den Bund Gottes mit seinem Volk eher im Sinne einer auf Gesetzesgehorsam ausgerichteten Beziehung verstehen (Ex 24,3) und weniger in rituellem Sinn. Dieses theologische Profil erinnert wiederum

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Worte, die der Herr gesagt hat“ (V. 3b), die dann in dem „Buch des Bundes“ aufgezeichnet und „vor den Ohren des Volkes“ verlesen werden (V. 7)18. Diese Verpflichtung wird durch ein Opfer auf dem Altar und die Besprengung des Volkes mit dem „Blut des Bundes“ (V. 8) besiegelt19. Die Bereitschaft dazu hatte das Volk bereits in Exod. 19, 7–8 bekundet, nachdem Gott durch Mose das entsprechende Angebot unterbreitet hatte (19, 3–6). Zwischen diesen beiden Texten stehen der Dekalog (Exod. 20, 2–17) und das sogenannte „Bundesbuch“ (Exod. 20, 22–23, 19) als Urkunden, die dokumentieren, welches die Worte sind, „die der Herr gesagt hat“, und denen zu gehorchen sich Israel verpflichtet hat. Dies alles ist noch verschränkt mit mehreren Theophanieschilderungen, so dass der genaue Ablauf des ganzen Geschehens in Exod. 19–24 vom Leser aus den Texten heraus kaum eindeutig rekonstruiert werden kann. So stehen im Endtext des Pentateuch insgesamt und in den Berichten vom Bundesschluss am Sinai/Horeb im Besonderen eine Vielzahl von Bünden und Bundesschlüssen nebeneinander und sind miteinander verwoben. Verstärken sie sich oder heben sie sich teilweise gegenseitig auch wieder auf ? Man kann es so und so lesen. Nicht nur muss der Leser den Sinai-/Horebbund und die Bundesschlüsse mit Noah (Gen. 9, 8–17) und Abraham (Gen. 17, bzw. „mit Abraham, Isaak und Jakob“, Exod. 2, 24) synthetisieren (außerhalb des Pentateuchs kommen noch weitere Bundesschlüsse hinzu, so der Sichem-Bund in Jos. 24, 25–

an das des Buches Deuteronomium.“ Und Kaiser (2003) 18 sagt zu Exod. 24, 3–8: „Der spätdtr Text korrespondiert mit dem Adlerwort in Ex 19, 4–8“. 18 „Alle Worte, die der Herr gesagt hat“, (V. 3b) bzw. „alle Worte des Herrn und alle Rechtsordnungen“ (V. 3a), sind an dieser Stelle im Gang der Erzählung konkret der Dekalog (Exod. 20, 2–17) und das sogenannte „Bundesbuch“ (Exod. 20, 22–23, 19). Die Stelle korrespondiert Exod. 19, 5 (vgl. oben Anm. 17): „Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern“. Die Ausfertigung und Übergabe der „Tafeln des Gesetzes“ erfolgt erst im Anschluss an diesen Bundesschluss (Exod. 24, 12: „Und der Herr sprach zu Mose: Komm herauf zu mir auf den Berg und bleib daselbst, dass ich dir gebe die steinernen Tafeln, Gesetz und Gebot, die ich geschrieben habe, um sie zu unterweisen.“ – Exod. 31, 18: „Und als der Herr mit Mose zu Ende geredet hatte auf dem Berg Sinai, gab er ihm die beiden Tafeln des Gesetzes; die waren aus Stein und beschrieben vom Finger Gottes.“). Nach dem Vorfall mit dem „Goldenen Kalb“ (Exod. 32–33) und dem Zerbrechen der „Tafeln des Gesetzes“ (Exod. 32, 19) wird von der nochmaligen Anfertigung von Tafeln und einem erneuten Bundesschluss (Exod. 34, 10) berichtet, wobei neben den identischen Worten, „die auf der ersten Tafeln standen, welche du zerbrochen hast“ (Exod. 34, 1), eine neue Reihe von Geboten, der sogenannte „kultische Dekalog“ (Exod. 34, 10–26), verkündet und seine Verschriftung befohlen wird (Exod. 34, 27–28: „Und der Herr sprach zu Mose: Schreib dir diese Worte auf; denn aufgrund dieser Worte schließe ich mit dir einen Bund und mit Israel … Und er [Mose? Gott?] schrieb auf die Tafeln die Worte des Bundes, die Zehn Worte“). (Übersetzungen nach der Lutherbibel 2017). 19 Ein ganz ähnliches Opfer findet statt im Zusammenhang mit der Weihe von Aaron und seinen Söhnen zu Priestern und der Einweihung des Altars (Exod. 29), hier wird das Blut auf die zu Weihenden gesprengt (Exod. 29, 21) bzw. an den Fuß des Altars geschüttet (Exod. 29, 12).

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2620, der Jojada-Bund in 2 Kön. 11, 1721, der Josia-Bund in 2 Kön. 23, 2–322), sondern er muss auch die beiden Großerzählungen von den Geschehnissen am Sinai bzw. Horeb in den Büchern Exodus bis Numeri und im Buch Deuteronium sinnvoll aufeinander beziehen. Darüber hinaus muss er auch die Vielzahl von Erzählungen und theologischen Konzeptionen, die schon allein im Buch Exodus verarbeitet worden sind, irgendwie sinnvoll „zusammenlesen“ und dabei auch noch die Mehrzahl von „Geboten“ und „Gesetzen“ (Dekalog, Bundesbuch, „kultischer Dekalog“ sowie die langen Anweisungen zum Bau des Heiligtums und zum Kult), auf die Israel verpflichtet worden ist bzw. sich selbst verpflichtet hat, im Auge behalten. Eine, aber nicht die einzige Möglichkeit ist dabei die Annahme, dass der (von Gott selbst verschriftete) Dekalog der „Grundtext“ ist, der von den anderen Satzungen und Geboten „ausgelegt“ wird. Auch die Frage, welche Bedeutung die Opfer- und Blutriten haben, die an verschiedenen Stellen vorkommen bzw. installiert werden, muss sich der Leser beantworten. Das Gleiche gilt von den „Bundeszeichen“ Beschneidung (Gen. 17) und Sabbat (Exod. 31, 16–17). Liest man den Großtext „Tora“ und nimmt dazu noch die Gründungserzählungen in den „vorderen Propheten“ und die Verheißungen in den (hinteren) „Propheten“ hinzu, so ergibt sich das schillernde Bild „des (einen) Bundes“ in einer Vielzahl von Realisierungen und Anläufen und in einer Vielzahl von einander überlagernden Erzählungen (ähnlich wie sich im Neuen Testament das „eine Evangelium“ in einer Mehrzahl von Evangelienerzählungen konkretisiert und vom „kanonischen Leser“ als eigenständige Syntheseleistung zu [re-]konstruieren ist): Der Bund, der in Exod. 24 geschlossen wurde, wird in Exod. 32 offensichtlich schon wieder gebrochen. Doch war er überhaupt schon endgültig „ratifiziert“ und in Kraft, oder wäre er das erst mit der Übergabe der „Tafeln des Bundes“ gewesen? Wurde er also doch noch nicht gebrochen, weil er noch nicht

20 Lutherbibel 2017: „So schloss Josua an diesem Tag einen Bund für das Volk und legte ihm Gesetze und Rechte vor in Sichem. Und Josua schrieb dies alles in das Buch des Gesetzes Gottes und nahm einen großen Stein und richtete ihn dort auf unter einer Eiche, die bei dem Heiligtum des Herrn war.“ 21 Lutherbibel 2017: „Und Jojada schloss einen Bund zwischen dem Herrn und dem König und dem Volk, dass sie des Herrn Volk sein sollten; desgleichen auch zwischen dem König und dem Volk.“ 22 Lutherbibel 2017: „Und der König ging hinauf ins Haus des Herrn und alle Männer Judas und alle Einwohner von Jerusalem mit ihm, Priester und Propheten und alles Volk, Klein und Groß. Und man las vor ihren Ohren alle Worte aus dem Buch des Bundes, das im Hause des Herrn gefunden war. Und der König trat an die Säule und schloss einen Bund vor dem Herrn, dass sie dem Herrn nachwandeln sollten und seine Gebote, Zeugnisse und Rechte halten von ganzem Herzen und von ganzer Seele und aufrichten die Worte dieses Bundes, die geschrieben stehen in diesem Buch. Und alles Volk trat in den Bund.“

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bestand23? Wird in Exod. 34 dann dieser Bund (noch einmal oder nun erst endgültig?) geschlossen? Oder ist es jetzt ein anderer oder veränderter Bund, mit einem anderen oder erweiterten „Bundestext“ (dem „kultischen Dekalog“ in Exod. 34, 10–36)? Hat Gott wegen der Untreue Israels in Exod. 32 andere Gebote gegeben oder hinzugefügt, etwa solche, die den Kult betreffen und bestimmte Rituale obligatorisch machen, die vorher zwar möglich, aber nicht geboten waren, und somit Israel zur Strafe ein hartes „Joch“ auferlegt24? Und worauf bezieht sich die singuläre Stelle Ez. 20, 25, die davon spricht, dass Gott Israel Gebote gegeben hat, die „nicht gut“ und nicht lebensdienlich waren? Weil Israel die Gebote Gottes, „durch die der Mensch lebt“ (Ez. 20, 21, vgl. Lev. 18, 5), nicht befolgte, gab Gott ihnen diese anderen Gebote. Aber welche sind das und gelten sie „jetzt“ noch? Alles in allem gibt die Bibel Israels im Blick auf den Bund viel zu denken und eröffnet einen weiten Möglichkeitsraum des Verständnisses25. Es besteht offenbar ein „Bund“ mit Israel, aber dieser scheint noch „verbesserungsfähig“ bzw. durch die Schuld Israels irgendwie defizitär zu sein, zumal vor

23 In diese Sinne erklärt das rabbinische „Gleichnis von der aufgelösten Verlobung“ (ARN A 2 / ARN B 2) die Stelle: Mose zerbrach die Tafeln am Sinai. Dies gleicht einem Boten, der die Verlobungs- bzw. Heiratsurkunde zerriss und sie nicht übergab, als er die Braut mit einem anderen Mann antraf, so dass die Ehe zu diesem Zeitpunkt nicht zustande kam, denn dann wäre die Braut als Ehebrecherin dem Tod verfallen gewesen. Dazu vgl. Stemberger (2016) 182– 183. 24 Diese Theorie findet sich in der Didaskalia (Kapitel 2 und 26) und in den darauf beruhenden Apostolischen Konstitutionen, wo die gesamte Gesetzgebung, die nach dem Vorfall mit dem „Goldenen Kalb“ erfolgte, als zur Strafe auferlegte „zweite Gesetzgebung“ (δευτέρωσις) abqualifiziert (Const. apost. 1, 6, 8 u. ö.) und dem „natürlichen Gesetz“ (νόμος φυσικός) entgegengesetzt wird, das im Dekalog (aber auch noch im „Bundesbuch“) seinen Niederschlag gefunden hat (Const. apost. 1, 6, 9). Diese Schriften sind zwar erst christlich und gehören wohl ins 3./4. Jahrhundert nach Christus (in eine Zeit, in der freilich nach dem oben Gesagten das „Auseinandergehen“ von „Judentum“, „jüdischem Christentum“ und „messianischem/ christianischem Judentum“ noch gar nicht so eindeutig vollzogen war), aber bestimmte hermeneutische Argumente, die für die Theorie der Deutero¯sis (der griechische Begriff entspricht wohl dem hebräischen „Mischna“) angeführt werden, stehen in einem innerjüdischen Diskussions- und Auslegungszusammenhang; vgl. Poorthuis (2014). 25 Insofern glaube ich nicht, dass der von Sanders rekonstruierte „Bundesnomismus“ tatsächlich „die“ gemeinsame Religionsstruktur des antiken Judentums ist, sondern nur eine, wenngleich sicher weit verbreitete Lesart der Tora und nur eine Weise, die unterschiedlichen Aussagen zu synthetisieren. Vgl. Sanders (1985) 400: „1) Gott hat Israel erwählt und 2) das Gesetz gegeben. Das Gesetz beinhaltet zweierlei: 3) Gottes Verheißung, an der Erwählung festzuhalten, und 4) die Forderung, gehorsam zu sein. 5) Gott belohnt Gehorsam und bestraft Übertretungen. 6) Das Gesetz sieht Sühnemittel vor, und die Sühnung führt 7) zur Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung des Bundesverhältnisses. 8) All jene, die durch Gehorsam, Sühnung und Gottes Barmherzigkeit innerhalb des Bundes gehalten werden, gehören zur Gruppe derer, die gerettet werden. Eine wichtige Interpretation des ersten und des letzten Punktes besteht darin, daß Erwählung und letztendlich Errettung nicht als menschliches Werk, sondern als Tat der Barmherzigkeit Gottes verstanden werden.“

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dem Hintergrund des in Aussicht gestellten „neuen Bundes“ in Jer. 31 und des „(ewigen) Bundes des Friedens“ in Ez. 34, 25; 37, 26. Da also „der“ Bund Gottes mit Israel wegen dessen Ungehorsam, Unglaube und Verstockung (oder weil er einfach in Vergessenheit geraten war bzw. weil die „Tafeln“ in der Lade unzugänglich waren26) schon in der biblischen Großerzählung immer wieder neu auf die Füße gestellt werden muss und immer wieder neu geschlossen wird, kann es nicht verwundern, dass ein analoges Szenarium eines „neuen Bundes“ bzw. „erneu(er)ten Bundesschlusses“ zum Erwartungsrepertoire jüdischer „Erneuerungs-“ oder „Restaurationsbewegungen“ gehörte, so in den Qumranschriften (das Syntagma „neuer Bund“ begegnet in der Damaskusschrift [CD 8, 21; 19, 35; vgl. auch CD 9, 3; 19, 14; 20, 12. 17] und im Habakuk-Pescher [1 QpHab 2, 3], vgl. auch 1 QS 1, 16 vom Eintritt in den „Bund vor Gott“) und eben im „Neuen Testament“. Damit verbindet sich jeweils ein „Update“, das auf die alten Texte und Inhalte aufgespielt wird. Freilich lässt sich die Frage, ob und inwieweit die defizitäre „Verformung“ des Bundes auch den Inhalt des Bundes, also die „Gesetze und Gebote“ betrifft, oder ob es nur um die menschliche Fähigkeit zur Erfüllung dieser „Gesetze und Gebote“ geht, unterschiedlich beantworten. Wenn der „neue Bund“ aber mit „neuen Geboten“ (vgl. Joh. 13, 34; 1 Joh. 7–8; 2 Joh. 5) verbunden wird, können diese sowohl auf mehr „Heiligkeit“ zielen (wie die verschärften „Ritualgesetze“ in Qumran) wie auch auf eine Abschaffung von Ritualforderungen wie in Apg. 15, 10 mit dem Bild vom „schweren Joch“ und nachfolgend mit dem „Aposteldekret“. Ebenfalls ist zu klären, wie sich etwaige neue „Bundeszeichen“ wie der langdauernde Initiationsritus in die Qumrangemeinschaft (vgl. 1 QS 6, 13–23, vgl. auch die Schilderung der Aufnahmefeier bzw. der jährlichen Feier der Bundeserneuerung in 1 QS 1–3) oder die Taufe zu den „alten“ Bundeszeichen Beschneidung und Sabbat verhalten.

3.

Der „neue Bund“ im Hebräerbrief

Im „Neuen Testament“ ist der Hebräerbrief die Schrift, in der am häufigsten vom „Neuen Bund“ die Rede ist. Dieses Thema (das Stichwort „[besserer] Bund“ fällt erstmals Hebr. 7, 22, vom „neuen Bund“ ist erstmals in Hebr. 8, 6 in dem Zitat von Jer. 31, 31 die Rede) wird darin eingeleitet und vorbereitet durch eine Homilie über den oben erwähnten Abschnitt Ps. 95, 7–11 (die Verstockung der Wüstengeneration als Warnung für die „heute“ Lebenden) in Hebr. 3, 7–4,1 3, in der vor Ungehorsam und „Unglauben“ gewarnt (Hebr. 3, 18–19; 4, 6. 11) und zum 26 So die Erklärung in CD 5, 4–5, warum David das Königsgesetz in Dtn. 17, speziell das Verbot aus Dtn. 17, 17, „viele“ Frauen zu nehmen, nicht kennen und befolgen konnte.

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„Glauben“ gerufen wird (Hebr. 4, 2–3), womit zum einen konkret der Glaube an Christus gemeint ist (vgl. Hebr. 3, 14), zum anderen davor gewarnt wird, „von dem lebendigen Gott abzufallen“ (Hebr. 3, 12) und die verheißene „Ruhe“ durch „Zurückbleiben“ zu verfehlen (Hebr. 4, 1). Letzteres könnte den angeredeten „Kindern Abrahams“ (Hebr. 2, 16) jederzeit genauso im Rahmen des „Ersten Bundes“ gesagt worden sein. Was der „himmlische Hohenpriester“ (Hebr. 3, 1; 4, 14–15 und passim) denen, die an ihn glauben, vermittelt, ist die Heilung der menschlichen „Schwachheit“ (Hebr. 4, 15; 5, 2). Dazu war das „zuvor ergangene Gebot“ (προαγούση ἐντολή) nämlich seinerseits zu „schwach“ und darum „nutzlos“, weswegen es jetzt „aufgehoben“ ist (ἀθέτησις γίνεται), jenes „Gesetz“, das nicht zur Vollendung führte“ (οὐδὲν γὰρ ἐτελείωσεν ὁ νόμος; Hebr. 7, 18–19). Darum musste ein „besserer Bund“ durch Jesus „verbürgt“ werden (κρείττονος διαθήκης γέγονεν ἔγγυος Ἰησοῦς, Hebr. 7, 22). In dieser Argumentation spielt offensichtlich das deuteronomi(sti)sche Konzept eines Bundes, der durch „Ungehorsam“ und „Unglaube“ übertreten und verspielt werden kann, eine zentrale Rolle (Hebr. 8, 9: „sie sind nicht geblieben in meinem Bund“, vgl. auch 9, 4: „die Tafeln des Bundes“). Allerdings ist das Wortfeld (erster) „Bund“ (διαθήκη) im Hebr. vorwiegend mit ausführlichen Beschreibungen des sühnewirkenden Kultes verbunden (Hebr. 8, 7; 9, 1. 18. 20), verweist also auf die priester(schrift)liche Sinai-Theologie, derzufolge es gerade keinen „Bund“ am Sinai gibt. Während die kultischen „Satzungen für den Gottesdienst“ (δικαιώματα λατρείας, Hebr. 9, 1) des „ersten Bundes“ und die „irdischen Satzungen“ (δικαιώματα σαρκός, Hebr. 9, 10) über Speisen, Getränke und Waschungen für obsolet erklärt werden, weil sie nur ein „Abbild und Schatten“ und „Gleichnis“ (Hebr. 8, 5; 9, 9. 24; 10, 1) des Himmlischen sind, gilt das für den Dekalog keineswegs, wie der Rekurs auf das sechste Gebot in Hebr. 13, 4 beweist. So wird im Hebräerbrief eine „alttestamentliche“ Bundeskonzeption gegen eine andere ausgespielt und stark gemacht, nämlich die deuteronomistische Konzeption des dekalogzentrierten und gehorsamsbedingten Horebbundes gegen die priesterschriftliche, auf den Kult zentrierte Darstellung der Ereignisse am Sinai. Der „Bund“ im Sinne der ersten Auffassung wird durch Christus gemäß der Verheißung in Jer. 31 als „neuer Bund“ aktualisiert, während der am Sinai installierte Kult, den der Schreiber des Hebräerbriefs als „ersten Bund“ bezeichnet, als nur vorläufig und zeitlich befristet relativiert und als „veraltet“ abrogiert wird (Hebr. 8, 13). Das einmalige „blutige“ Opfer Christi (Hebr 9, 10) wird dabei im Verstehensrahmens der Blutriten interpretiert, die mit dem Bund zu tun haben (bzw. ist das himmlische Urbild aller dieser Riten): Wie das reinigende „Blut des Bundes“ in Exod. 24, 8 (in Hebr. 9, 20 zitiert) den „ersten Bund“ verbürgte, so realisiert sich der „neue Bund“ im „Blut des Bundes“ (Hebr. 10, 29; 13, 20, vgl.

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auch Hebr. 12, 24 das „Blut der Besprenung“), das Christus vergossen hat27. Der „neue Bund“ bedeutet also keineswegs die Abrogation des ganzen „Gesetzes“, welches Gott vielmehr entsprechend der in voller Länge zitierten Verheißung aus Jer 31 „in ihren Sinn geben“ und „in ihr Herz schreiben“ wird (Hebr. 8, 10). So geht es nicht um die Ersetzung einer (der jüdischen) „Religion“ durch eine andere und „neue Religion“ (das Christentum) oder um die Ersetzung des „Gesetzes“ durch das „Evangelium“, sondern um eine Erneuerung des Bundes durch Christus, die um der menschlichen „Schwachheit“ und Herzenshärtigkeit willen nötig ist. Diese Erneuerung ist für den Schreiber des Hebräerbriefes zugleich eine Rückkehr zum Uranfang, denn Christus ist ja auch der Schöpfungsmittler (Hebr. 1, 2–3). Der Glaube an einen solchen Messias (eine solche „Christologie“) wie auch der Glaube an dessen „einmaliges“ sühnendes Opfer (vgl. Hebr. 7, 27; 9, 12. 26–28; 10, 10) war im Raum des Judentums (zumal nach der Zerstörung des Tempels und dem Ende des Tempelkultes) eine durchaus mögliche und praktikable Option28.

4.

Das Judentum auf dem Weg zur „universalistischen Religion“: Der „Dekalogismus“ und sein Potenzial

Das „Christentum“ führt also längst nicht so weit vom „Judentum“ weg, wie es die Rede von Jesus (oder Paulus) als „Religionsstifter“ suggeriert. Und der „Neue Bund“ zeigt keineswegs das ENDE des „Alten Testament“ an, wie es der „alte“ Playmobil-Luther tat. In dieser Hinsicht besteht weitgehend Konsens in der neueren Exegese. Dem möchte ich nun ergänzend die These zur Seite stellen, dass das „Alte Testament“ und das „Judentum“ schon viel weiter auf dem Weg zum „Christentum“ (oder zu dem, was später so heißen sollte) fortgeschritten waren, als gemeinhin angenommen wird. Denn ich glaube, dass auch das, was in und am „Neuen Testament“ am „neuesten“ zu sein scheint, was das „Christentum“ am stärksten vom „Judentum“ zu unterscheiden scheint, im „alten“ Testament und seiner jüdischen Rezeption mindestens vorgedacht und als Möglichkeit angelegt ist: Dass nämlich die Bibel Israels die Grundlage einer „universalen“ Religion sein könnte, die allen Menschen den Zugang zum Heil ermöglicht. Nicht selten wird der „christliche Universalismus“ dem „jüdischen Partikularismus“ gegenüber-

27 Die Notwendigkeit des Blutvergießens erklärt der Schreiber auch damit, dass ein „Testament“, was das griech. διαθήκη ja auch bedeutet, erst nach dem Tod des Testators in Kraft tritt (Hebr. 9, 15–16). 28 Als Schöpfungsmittlerin fungiert bekanntlich auch die „Weisheit“ in Sprüche 8, 22–31; der Tod der Märtyrer vermag Sühne zu wirken, vgl. 2 Makk. 7, 38. Zur Vorstellung eines „Sohnes Gottes“ und „zweiten Gottes“ im antiken Judentum vgl. auch Schäfer (2017).

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gestellt und die beiden Religionen so voneinander abgegrenzt29. Ich meine aber, dass alle Bausteine für eine „universalistische“ Religion schon im „alten“ Testament bereitlagen und alles schon angelegt war, was im „Christianismus“ dann entfaltet wurde. Konkret wächst die „universalistische“ Interpretation aus der „dekalogischen“ Interpretation der Tora heraus. Ich will daher zunächst kurz skizzieren, was ich unter „Dekalogismus“ verstehe und die Bausteine nennen, die im Rahmen des Dekalogismus den „Universalismus“ ermöglichten und anbahnten. Die Frage, ob diese Theologie und diese Art von „Judentum“ wirklich irgendwo vollständig realisiert wurde und welche Träger eventuell dafür infrage kommen, kann hier nicht beantwortet werden und bedürfte ausgiebigen Quellenstudiums. Als „Dekalogismus“ möchte ich eine Variante des Deuteronomismus bezeichnen, die durch zwei Elemente konstituiert wird: Zum einen überwiegt die deuteronom(ist)ische Konzeption des „bedingten Bundes“ gegenüber dem (priesterschriftlichen) Glauben an eine vorgängige und unwiderrufliche Erwählung der „Nachkommen Abrahams“. Vonseiten Gottes ist zwar immer die „Umkehr“ des Sünders möglich, doch wenn diese verweigert wird und Menschen so „am Bund scheitern“, gibt es keine Rettung und keine Gnade mehr30. Zum anderen gibt es die Vorstellung einer „Zusammenfassung“ aller anderen Gesetze durch den Dekalog. Der Dekalog ist in diesem Konzept die entscheidende „Bundesurkunde“, von deren Einhaltung das „Leben“ abhängt. Die genaue Herkunft des Dekalogs ist in der Forschung nicht geklärt. Man weiß nicht sicher, ob er ein „deuteronomi(sti)scher“ Text ist oder einen anderen Ursprung hat und erst sekundär ins Dtn. eingefügt wurde. Zu einem hypothetisch anzunehmenden „Urdeuteronomium“ dürfte er nicht gehört haben, nach seine Aufnahme ins Dtn. wuchs ihm jedoch eine wichtige Rolle zu. a) Der „Tod“ beim Übertreten des Bundes ist und bleibt eine reale Möglichkeit. Die Mahnungen „Heute, wenn ihr seine Stimme hören werdet, so verstockt eure Herzen nicht!“ (Ps. 95, 7–8; Hebr. 3, 15) und „Kehrt um!“ (Mk. 1, 15, vgl. Dtn. 30, 2 u. a.) bleiben stets dringlich und die Wahl zwischen Leben und Tod (Dtn. 11, 26– 28; 30, 19) bzw. zwischen den „zwei Wegen“ (Mt. 7, 13–14) muss immer wieder neu getroffen werden. Die Gebote, von deren Einhaltung Tod und Leben abhängt, sind dabei vor allem die ethischen und sozialen Gebote sowie natürlich die Alleinverehrung Gottes, also die „beiden Tafeln“ des Dekalogs bzw. das, was Jesus durch den Verweis auf Dtn. 6, 4–5 und Lev. 19, 18 im „Doppelgebot der Liebe“ 29 So z. B. James Dunn mit seiner These, das „Gesetz“ sei primär ein jüdischer identity marker und boundary marker gewesen; zu ihm vgl. zusammenfassend Strecker (1996) 11–13. Auch für Theißen, (2003) 286–314 („Die judaistische Krise im ersten Jahrhundert“) ist der Gegensatz partikularistisches und exklusivistisches Judentum vs. paulinischem Universalismus grundlegend. 30 Auf dieser Linie liegt auch die Ablehnung der „zweiten Buße“ in Hebr. 6, 4–6; 10, 26–31.

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zusammenfasst. Der Kult ist in dieser dekalogischen Theologie zwar nicht bedeutungslos, aber er ist auf der Linie der Sozial- und Kultkritik von Propheten wie Amos (Am. 5, 21–24) und Jeremia (Jer. 7) auf jeden Fall der „Gerechtigkeit“ nachgeordnet: Der Kult kann seine heilvolle Wirkung nur entfalten, wenn Recht und Gerechtigkeit „strömen“ (Am. 5, 24; vgl. auch Hos. 6, 6; Mt. 9, 13; 12, 7). Das Konzept eines solchen bedingten Bundes und die Vorordnung der „Gerechtigkeit“ führt automatisch und notwendig zu einer gewissen Relativierung der Vorstellung vom „erwählten Volk“ (vgl. Exod. 19, 5–6; Dtn. 7, 6; 14, 2; Ps. 33, 12; Röm. 11, 2): Das menschliche Tun muss der „Erwählung“ entsprechen (Exod. 19, 5–6), ansonsten droht auch den „Erwählten“ die „Verwerfung“. Und umgekehrt ist „Gerechtigkeit“ etwas, was auch bei den Menschen aus den „Völkern“ gefunden werden kann (vgl. Apg. 10, 34–35; Röm. 2, 5–16). Das Konzept des „erwählten Volkes“ beinhaltet in dieser Perspektive vor allem, dass Gott seinem Volk besondere Wege und Möglichkeiten zur Verwirklichung der Gerechtigkeit eröffnet hat, nämlich durch sein Leben wirkendes Gesetz, das zugleich die ultimative Manifestation der „Weisheit“ ist (vgl. Dtn. 4, 6–8; Ps. 147, 19–20; Sir. 17, 11–12; 24, 1–34; 45, 5; Röm. 3, 1–2; 7, 12; 9, 4). Doch der bloße Besitz dieses Gesetzes rettet nicht; man kann sich darauf auch berufen, ohne dem damit verbundenen Anspruch gerecht zu werden (Jer. 8, 8). Der bloße Besitz nützt ebenso wenig wie im Fall des Tempels (Jer. 7, 4) oder das bloße Hören der Worte Jesu (Mt. 7, 21–27; Jak. 1, 22–25). Umgekehrt kann das „Alte Testament“ den Perserkönig Kyros als „Gesalbten“ als Werkzeug Gottes bezeichnen und damit die Erwartung verbinden, dass er den Gott Israels erkennen werde (Jes. 45, 1–7). Auch weiß das „Alte Testament“ von etlichen Frommen und Gottesmännern, die nicht zum Volk Israel gehören (Hiob und seine Freunde; Melchisedek, Gen. 14, 18–20, vgl. Hebr. 7; Bileam, Num. 22–24; im Neuen Testament vgl. analog Lk. 17, 18; Mt. 8, 10 parr.; Lk. 7, 9; Mt. 8, 11(–12) parr.; Lk. 13, 29; Apg. 10, 22; Hebr. 11, 31). Die rabbinische Theologie kennt dann die Vorstellung von den „Gerechten aus den Völkern“: In der Tosefta wird im Traktat Sanhedrin in Kapitel 13 diskutiert, wer Anteil an der „kommenden Welt“ haben wird und wer nicht31. Dabei werden verschiedene Meinungen erkennbar, zum einen diese: „Alle Nichtjuden haben keinen Anteil an der kommenden Welt.“ Aber auch die Gegenposition wird vertreten: „[Es gibt] Gerechte unter den Völkern, welche Anteil an der zukünftigen Welt haben“ (t San 14, 2)32. Ebenso wird erwogen, ob es Israeliten gibt, die keinen Anteil an der künftigen Welt haben. Dem in der Mischna überlieferten Satz „Ganz Israel hat Anteil an der zukünftigen Welt“ (m San 10, 1; vgl. Röm. 11, 26) steht die Meinung gegenüber, dass nicht ganz Israel gerettet werden 31 Die entsprechende Stelle in der Mischna (San. 10) enthält die Passagen, auf die hier ankommt, nicht oder nur zum Teil. 32 Deutsche Übersetzung: Salomonsen (1976) 203–204. – Dazu vgl. auch Müller (1998) 80–86.

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wird, z. B.: „Das Geschlecht der Wüste[nwanderung] hat keinen Anteil an der zukünftigen Welt“ (m San 10, 3; t San 14, 1033) oder „Die zehn Stämme haben keinen Anteil an der zukünftigen Welt“ (t San 14, 1234, vgl. m San 10, 4). b) Das zweite Element des „Dekalogismus“, die Idee, dass die Einzelgebote der Tora im Dekalog zusammengefasst sind, findet sich in der erhaltenen antiken Literatur zum ersten Mal bei Philon von Alexandrien explizit formuliert und wird von ihm in den beiden Schriften über den Dekalog (De decalogo) und über die Einzelgesetze (De specialibus legis) durchbuchstabiert. Philon nennt die Gebote des Dekalogs die „Überschriften“ (κεφάλαια, decal. 19)35 der „Kapitel“, zu denen sich die verstreuten Gebote der Tora systematisierend zusammenfassen lassen36. Die Vorstellung, dass der von Gott selbst gesprochene bzw. geschriebene Dekalog sich nicht auf derselbe Ebene wie die anderen Texten der Tora befindet, ist aber in weiteren frühjüdischen Schriften und an verschiedenen Stellen im rabbinischen Schrifttum impliziert, wobei sich die Rabbinen mit dieser Auffassung überwiegend kritisch oder ablehnend auseinandersetzen. Auch wird die zugehörige „Theorie des Dekalogs“ hier mehr vorausgesetzt als referiert oder entfaltet37. Die Idee, dass die Dekaloggebote so etwas wie „Überschriften“ sind, ist nicht nur von außen an die biblischen Texte herangetragen, sondern hat die Komposition des Pentateuchs im Ganzen wie auch einzelner Bücher oder Buchabschnitte tatsächlich beeinflusst. Das wurde von der Exegese des Alten Testaments 33 Deutsche Übersetzung: Salomonsen (1976) 212. 34 Deutsche Übersetzung: Salomonsen (1976) 214. 35 Zum Dekalog als „‚Hauptinbegriff‘ aller Gesetze“ (κεφάλαια und andere Begriffe) bei Philon vgl. De Vos (2016) 92–96. Vgl. auch die verwandte Terminologie in Röm. 13, 9, wonach durch das Gebot der Nächstenliebe die Gebote (des Dekalogs) „zusammenfasst werden“ (ἀνακεφαλαιοῦται). 36 Vgl. seine grundsätzliche Verhältnisbestimmung in decal. 18–19 (Übersetzung Leopold Treitel: „… notwendig habe ich vorauszuschicken, dass den einen Teil der Gesetze Gott selber, ohne einen Mittler zu gebrauchen, ganz allein zu offenbaren für gut fand, den andern durch den Propheten Moses, den er vor allen Menschen bevorzugte und als den zum Prophetenamt geeignesten auserwählte. Die von Gott selbst geoffenbarten Gesetze sind zugleich Gesetze und Grundprinzipien der Einzelgesetze, und die durch die Propheten gegebenen lassen sich sämtlich auf jene zurückführen [τοὺς μὲν οὖν αὐτοπροσώπως θεσπισθέντας δι᾽ αὐτοῦ μόνου συμβέβηκε καὶ νόμους εἶναι καὶ νόμων τῶν ἐν μέρει κεφάλαια, τοὺς δὲ διὰ τοῦ προφήτου πάντας ἐπ᾽ ἐκείνους ἀναφέρεσθαι].“) sowie in decal. 154 (Übersetzung Leopold Treitel: „Man muss aber auch wissen, dass die zehn Gottesworte den Hauptinbegriff der Einzelgesetze bilden, die an verschiedenen Stellen der Gesamtgesetzgebung der heil.[igen] Schriften verzeichnet sind [ὅτι οἱ δέκα λόγοι κεφάλαια νόμων ει᾿σὶ τῶν ἐν εἴδει παρ᾽ ὅλην τὴν νομοθεσίαν ἐν ταῖς ἱεραῖς βίβλοις ἀναγραφέντων].“). Ähnliche Aussagen über die Bedeutung des Dekalogs finden sich auch in Her. 173 und praem. 1–2. 37 Zur Rolle des Dekalogs in der rabbinischen Literatur vgl. Peter-SpörndlI (2012). Die bekannteste Stelle dürfte y Ber 1, 8/5. 8, 3c sein (die Zurückweisung der Ansicht der Minim, nur der Dekalog allein sei Mose am Sinai übergeben worden [und nicht auch die übrige Tora], weshalb er im Morgengebet nicht mehr rezitiert werde).

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in den letzten Jahrzehnten zunehmend erkannt und vertreten. Zwar war eine solche Auffassung von einzelnen Auslegern auch früher schon immer wieder einmal vertreten worden und ist in der christlichen Katechetik fest verankert (das Modell der Entfaltung der Ethik anhand der Dekaloggebote). Dies im Einzelnen auszuführen, würde freilich den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen38. Es war dann vor allem Georg Braulik, der mit seinen Arbeiten zur Struktur des Deuteronomiums seit Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts zunächst die Idee einer „Dekalogstrukturierung“ der Gesetze des Deuteronomiums in die Diskussion einbrachte39. Die Idee einer solchen Dekalogstrukturierung wurde in der Folgezeit auch auf andere Gesetzescorpora im Pentateuch und das gesetzliche Material im Pentateuch insgesamt ausgedehnt und hat inzwischen Aufnahme in den gängigen Lehrbücher gefunden40. Auf welcher redaktionellen Ebene eine solche 38 Exemplarisch genannt seien nur Luthers Vorlesung über das Deuteronomium von 1523–1524 (im Druck erschienen 1525: WA 14, 489–744; W2 3, 1370–1639), wo er das Deuteronomium als Auslegung des Dekalogs entfaltet, sowie Johannes Calvins Kommentar zu den Büchern Exodus bis Deuteronomium, in dem die alttestamentlichen Gesetze umfassend anhand der Gebote des Dekalogs systematisiert werden (vgl. Calvin [1907] und [1917]). Im 19. Jahrhundert vertrat Schultz (1859) die Idee eines Bezugs der deuteronomischen Gesetze zum Dekalog. Seine Arbeit fand aber kaum ein Echo. 39 Erstmals in Braulik (1988). Zuvor hatte schon Kaufman (1978–1979) das deuteronomische Gesetz als dekalogisch strukturiert analysiert. Diese Arbeit fand aber, wie vorher schon das Werk von Schultz (vgl. oben Anm. 38), zunächst nur geringe Resonanz. 40 Vgl. etwa Zenger – Frevel (2012) 83–84: „Mit seinem Nach- und Nebeneinander unterschiedlicher Anweisungen und Gesetze ermöglicht und fordert der Pentateuch … einen Diskurs über die Applikation und Konkretion der von ihm dargestellten Rechtswelt. So lassen sich viele Rechtstexte auf der Ebene des Pentateuch als Auslegung anderer vorgegebener Texte lesen. Die herausgehobene Stellung des Dekalogs, der in unbedingter Geltung von JHWH direkt gesprochen ist, wird sowohl durch das Bundesbuch als auch in der Moserede des Deuteronomiums ausgelegt.“ (Hervorhebung im Original); Gertz (2019) 223: „Die Reihe der Rechtstexte am Sinai (Ex 20-Num 8) bzw. Horeb (Dtn 5; 12–27) wird jeweil mit dem Dekalog eröffnet (Ex 20, 1–27 par. Dtn 5, 6–21), was dessen grundlegende Bedeutung für das Verständnis des alttestamentlichen ‚Gesetzes‘ unterstreicht. Innerhalb der Sinaiperikope wird dies noch dadurch verstärkt, dass allein der Dekalog als direktes Gotteswort an das Volk ergeht. Zumindest die jeweils unmittelbar folgenden Gesetzeskorpora, das Bundesbuch und das dtn Gesetz, wollen dann auch in der Letztgestalt der Überlieferung als Explikation der Gebote des Dekalogs gelesen sein. Umgkehrt soll der Dekalog als Zusammenfassung der Tora verstanden werden.“ und 234: „Ihre sachliche Mitte findet die Tora, die sich ja aus sehr unterschiedlichen rechtlichen Materialien speist, im Dekalog ….“ (Hervorhebung im Original); Schmid (2008) 138: „Was die Doppelüberlieferung [des Dekalogs] als solche betrifft, so ist jedenfalls bemerkenswert, dass die beiden großen Gesetzesbekanntmachungen am Sinai und im Ostjordanland beide durch den Dekalog eingeleitet werden und so ihre sachliche Gleichsinnigkeit hervorgehoben werden soll. Auf der redaktionellen Ebene der Zuordnung von Sinaioffenbarung und deren durch Mose reformulierten Promulgation im Deuteronomium … ist deutlich, dass die Tora ‚dekalogisch‘ charakterisiert und zusammenfassbar ist.“; Artus (2013) 174: „Wenn man den Text von einem synchronen Standpunkt aus betrachtet, lässt die Anordnung der Gesetze in der Tora eine Hierarchie der Autorität erkennen. Im Tetrateuch steht der Dekalog von Ex 20, 2–17 (Rede Jhwhs in der ersten Person) vor allen

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Idee wirksam wurde, kann hier dahingestellt bleiben. Im Endtext jedenfalls lässt sie sich, wenn man sie einmal als Hypothese zugrundelegt, an vielen Stellen unschwer nachvollziehen. Braulik zufolge ist dabei der Dekalog im Deuteronomium auf der Ebene des Endtextes so etwas wie ein universal gültiges Grundgesetz41, während die in Dtn. 12–26 zu findenden „Gesetze und Rechtsvorschriften“ (‫ֻח ִקּים וִּמ ְשׁ ָפִּטים‬, vgl. Dtn. 4, 5. 14; 5, 1. 31; 11, 32; 12, 1; 26, 16) als „Interpretation des Dekalogs, etwa wie Durchführungsbestimmungen für eine konkrete Situation, zu sehen [sind]. Der Dekalog verpflichtet immer und überall, die Gesetze aber gelten nur in Israels eigenem Land (4, 5; 12, 1).“42 Damit bekommt der Dekalog für das Leben von Juden und Jüdinnen in der Diaspora, die viele Gesetze, die an das Land Israel gebunden sind, gar nicht befolgen können, eine besondere Bedeutung. Von einer solchen dekalogischen Hermeneutik der Tora lässt sich dann leicht eine Brücke schlagen zur Vorstellung vom „Naturrecht“ oder „Naturgesetz“ (vgl. Röm. 2, 14– 15. 21–23)43. Eine solche Theologie ist in hohem Maße anschlussfähig an die antike Philosophie, zumal an die Stoa. Weitere Bezüge ließen sich aufzeigen zu einem Text wie dem 125. Kapitel des ägyptischen Totenbuchs mit seinen „negativen Konfessionen“ („Ich habe nicht … getan“, in dieser langen Liste finden sich etliche Formulierungen, die den Dekaloggeboten vergleichbar sind44), die der Verstorbene im Jenseits vor den göttlichen Richtern abzulegen hat. Dieser Text ist so etwas wie der Nomos des Jenseits, das Gesetz, das den Eingang ins „ewige Leben“ regelt (im Alten Testament ist wahrscheinlich Ijob 31 von derar-

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anderen Gesetzestexten, die sich in den Büchern Exodus bis Numeri finden, und diese können somit als Entfaltung oder Anwendung des Dekalogs gelesen werden; dieser scheint die festen, unwandelbaren Grundprinzipien der ‚wechselnden‘ Gesetze zu formuieren, welche jeweils durch die Zeit geprägt sind, in der sie entstanden … Die synchrone Struktur der Tora lenkt den Blick des Lesers so auf eine ‚Hierarchie der Autorität‘ der hier vorgestellten Gesetze, womit die Unterscheidung von ‚Normen‘ und ‚Metanormen‘ aufgenommen werden kann, die F. Crüsemann in Bezug auf das Bundesbuch entwickelt hat.“ (Hervorhebung im Original). Vgl. auch schon Schmidt (2008) 135–136.: „So hat kaum zufällig der Dekalog, in dem Geschichtsbezogenheit und Ausschließlichkeitsanspruch vereint sind ([Dtn] 5, 6f.), eine Vorrangstellung unter den Geboten. Wie in der Sinaiperikope (Ex 20) wird er … allen ‚Satzungen und Rechten‘ vorgeordnet und nicht als Moserede, sondern unmittelbar als Gotteswort eingeführt …, so daß alle folgenden Gesetze gleichsam zu Ausführungsbestimmungen, zur Erläuerung bzw. Entfaltung des Dekalogs, werden.“ (Hervorhebung im Original durch Sperrdruck, bezogen auf das Dtn). Zu dieser Bezeichnung vgl. Hossfeld (2000) und Markl (2007). Braulik (1988) 232. Zur Verbindung von Dekalog und in der Schöpfung grundgelegtem Naturgesetz z. B. bei Philon vgl. De Vos (2016) 127. 155. Z. B. Totenbuch 125, Z. 26–28. 32–33 (Zählung und Übersetzung: Hornung [1979] 234): „Ich habe nicht getötet, und ich habe (auch) nicht zu töten befohlen; niemandem habe ich ein Leid angetan … Ich habe nicht geschlechtlich verkehrt und keine Unzucht getrieben an der reinen Stätte meines Stadtgottes.“

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tigen Vorstellungen beeinflusst, wo sich u. a. in V. 6 das Motiv der „Herzenswaage“ findet, das in der ägyptischen Vorstellung vom Totengericht eine zentrale Rolle spielt; Ijob 31 lässt sich dabei als „Äquivalent“ zum Dekalog lesen). In den Evangelien antwortet Jesus auf die Frage, was der Mensch tun solle, um das „ewige Leben zu ererben“, mit dem Verweis auf die Dekaloggebote (Mk. 10, 17– 19) bzw. auf das Doppelgebot der Liebe (Lk. 10, 25–28). Des Weiteren ist der Dekalog im Hinblick auf die Verbindung von „Religion“ bzw. Gottesverehrung und „Ethik“ bzw. „Gesetz“, als die „ethische Gründungsurkunde des Gottesbundes mit Israel“, in der ganzen Antike ein einzigartiges Dokument45. Gerade diese Verbindung machte aber wahrscheinlich die Anziehungskraft des Judentums für „Nichtjudäer“ aus (während man den heidnischen Göttern ihre Unmoral vorwerfen konnte46, später dann ein beliebter Topos in der christlichen Götzenpolemik). Die Anschlussfähigkeit einer solchen „dekalogischen Theologie“ an die Philosophie wie auch die Vermittelbarkeit mit der Vorstellung von den „noachidischen Geboten“ (die entwickelt erst in rabbinischen Quellen belegt ist47), deren Beachtung für die Menschen aus den „Völkern“ zum Heil ausreichend ist, konnte ein solches Judentum einladend und attraktiv für Nichtjuden machen. Sie konnten in den Dekaloggeboten zugleich das Beste ihrer eigenen „Weisen“ wiederfinden. Darauf wird der Leser z. B. in den Sprüchen des Pseudo-Phokylides gestoßen, die mit einer Paraphrase der Dekaloggebote beginnen, die angeblich „Phokylides, weisester unter den Menschen,“

45 So das Urteil von Otto (2000) 29: „Sie [die Dekaloggebote] stammen ursprünglich aus einem dem Keilschriftrecht verwandten Rechtsmilieu, erhalten aber mit ihrer Zusammenstellung in der Exilszeit (in direkter Konfrontation mit der babylonischen Welt) einen neuen, darüber hinaus weisenden Sinn als ethische Gründungsurkunde des Gottesbundes mit Israel in der Wüste, für die es im gesamten Alten Orient keine Entsprechung gibt.“ 46 Vgl. schon Xenophanes, Fragment 26A/B (Zählung und Übersetzung Gemelli Marciano [2007] 251): „Alles haben Homer und Hesiod den Göttern zugeschoben, was bei Menschen Schande und Tadel ist: Stehlen und Ehebrechen und einander Betrügen.“ – „[Homer und Hesiod] erzählten möglichst viele frevelhafte Taten der Götter, Stehlen und Ehebrechen und einander Betrügen.“ 47 Vgl. dazu ausführlich Müller (1998). – Die sieben „noachidischen Gebote“ (Verbot von Götzendienst, Gotteslästerung, Blutvergießen, Unzucht, Raub und „Glied des Lebendigen“ sowie das Gebot der Rechtspflege) lassen sich mit den entsprechenden Dekaloggeboten korrelieren. Das Alter der Konzeption braucht hier nicht diskutiert zu werden, den Kern der Überlieferung bilden wohl die drei „Kardinalsünden“ Götzendienst, Unzucht und Blutvergießen, die mit den entsprechenden Dekaloggeboten korrespondieren; eine Zwischenstufe waren dann wahrscheinlich die fünf „Grundgebote“: Enthaltung von Raub, Unzucht, Götzendienst, Gotteslästerung, Blutvergießen. Später sind Versuche belegt, die noachidischen Gebote (wie auch die Dekaloggebote) in der Urgeschichte zu verankern bzw. Diskussionen darüber, auf welche Bibelstellen der Genesis diese Gebote zuzuführen sind. Es handelt sich so oder so um „präsinaitische“ Gebote, die für alle Menschen gelten.

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verfasst hat48. Ob diese Art von Literatur nun „Nichtjudäer“ für den Glauben Israels gewinnen sollte oder Juden angesichts der „heidnischen“ Weisheit ihres eigenen Glaubens vergewissern sollte (oder beides), ist dabei umstritten. Auf jeden Fall will sie Kulturen verbinden und überbrücken. Wenn man somit „jüdisch leben“ (ι᾿ουδαΐζειν) und denken kann (was dann dasselbe bedeutet wie nach „Gerechtigkeit“ zu streben), ohne „Judäer“ zu sein oder werden zu müssen und sich also aus der Gemeinschaft des eigenen Éthnos auszugrenzen, ist der „Judaismus“ auf dem Weg zur „Religion“, zum „Judentum“. Ein missionierendes „dekalogisches Judentum“, in dem zwischen „sinaitischen“ und „noachidischen“ oder „adamitischen“ Geboten unterschieden wird, wobei erstere nur für die Judäer verbindlich sind, für die Menschen aus den „Völkern“ aber die Beachtung der letzteren ausreicht, kann man sich daher gut vorstellen. Der Vorzug der „Judäer“, denen als Volk die „Worte Gottes anvertraut“ sind (Röm. 3, 2), läge dann nicht darin, dass nur sie allein zum Heil gelangen könnten, sondern darin, dass sie „Leiter der Blinden“, „Erzieher der Unverständigen“ und „Lehrer der Unmündigen“ (Röm. 2, 19–20) sein sollten. Die Unterweisung der „Blinden,“ „Unverständigen“ und „Unmündigen“ beginnt offenbar mit den Dekaloggeboten (vgl. Röm. 2, 21–22). Endziel kann dabei natürlich trotzdem sein, dass die „Heiden“ als weitergehende Option die „ganzen Tora“ übernehmen (einschließlich der Beschneidung), aber das wäre eine freiwillige Leistung oder ein Ausweis der „Vollkommenheit“ (vgl. in diesem Sinne Did. 6, 2–3 als Anweisung für die „Heidenchristen“), keine Heilsnotwendigkeit (wobei andere Gruppen dies offensichtlich wieder anders sahen)49. Paulus polemisiert in Röm. 2 (wie auch im Galaterbrief) offenbar gegen solche jüdischen (oder „judenchristlichen“?) Lehrer, die wahrscheinlich in Konkurrenz zu seiner eigenen beschneidungsfreien Mission stehen. Ihr Profil, wie es Paulus zeichnet, lässt bei aller Polemik doch in grundsätzlichen Fragen die Nähe dieser Theologie zur paulinischen Theologie und zum Christianismós erkennen. Die Grenzen zwischen Iudaismós, (missionierendem) „Judentum“, „Judenchristentum“ und 48 Übersetzung nach Walter (1983) 197: „1 Diese Ratschlüsse Gottes in frommen Satzungen tut kund 2 Phokylides, weisester unter den Menschen, als glückbringende Gaben. 3 Brich nicht in fremde Ehen ein, laß nicht Männerliebe aufkommen; 4 zettle nicht (heimliche) Ränke an, beflecke die Hand nicht mit Blut(schuld). 5 Bereichere dich nicht unrechtmäßig, sondern lebe von dem, was dir rechtens zukommt. 6 Begnüge dich mit dem, was dein ist, und halte dich fern vom Eigentum anderer. 7 Schwatze nicht Lügen daher, vielmehr rede in jeder Hinsicht wahrhaftig. 8 Vor allen Dinge ehre du Gott, sodann deine Eltern.“ – Ähnlich werden in den Sibyllinischen Orakeln, deren älteste Teile vorchristlich-jüdisch sind, der Prophetin Sätze in den Mund gelegt, die erkennbar Dekaloggebote, nämlich die Verehrung Gottes und die „zweite Tafel“, aufnehmen (or. Sib. 3, 762–766; 4, 24–25. 30–34) oder auch die sinaitische Gesetzgebung „vorhersehen“ (3, 254–260). 49 Vgl. die schon erwähnte Adiabene-Episode bei Josephus (vgl. oben Anm. 13), in der die beiden jüdischen „Missionare“ Ananias und Eleazar zwei unterschiedliche Meinungen im Blick auf die Notwendigkeit der Beschneidung der Nichtjudäer vertreten.

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„Christentum“ sind jedenfalls noch sehr fließend oder existieren eben in dieser Weise noch gar nicht. Sie alle sind Varianten des „Dekalogismus“, die sich erst sekundär als distinkte „Religionen“ ausdifferenzieren und voneinander abgrenzen. Eine umfassende Rekonstruktion des „jüdischen“ und „christlichen“ Dekalogismus steht freilich noch aus. Dabei müsste auch die in der Forschung zu findende Behauptung eines auffälligen „Dekalogschweigens“ in Teilen des Alten Testaments und im Frühjudentum50, noch einmal kritisch hinterfragt werden. Sie stimmt allenfalls, wenn man sich auf direkte Dekalogzitate beschränkt. Anders sieht es aus, sobald man auch „Echos“ des Dekalogs berücksichtigt51. Die These eines frühjüdisches Dekalogschweigens hat mittlerweile daher deutlichen Widerspruch erfahren52. Abschließend sei zu diesem Punkt noch festgehalten, dass es, wie sich aus dem Vorhergehenden eigentlich von selbst ergibt, „den“ Dekalogismus ebensowenig wie „das“ Judentum oder „das“ Christentum gibt. Der Dekalog als „Zusammenfassung“ der ganzen Tora kann eine doppelte Bedeutung haben bzw. kann auf zwei gegenläufige Arten gelesen werden: Zum einen kann er „exklusivistisch“ verstanden werden, insofern er die Urkunde des „Bundes“ ist, den JHWH exklusiv mit Israel am Sinai geschlossen hat53, zum anderen kann er als Ausdruck einer universal anschlussfähigen Ethik gelesen werden, die als „Naturrecht“ 50 So im Blick auf die Schriften des Frühjudentums: Kellermann (2013) 169. 226. 51 Vgl. De Vos (2013) 423. Vgl. auch De Vos (2016) 123: „Auffällig ist, dass der Dekalog in frühjüdischen Schriften äußerst wenig zitiert wird. Die Gebote des Dekalogs erscheinen in leicht abgewandelter Form, in Paraphrase oder in Anspielungen, aber fast nie als Zitat.“ Mögliche Gründe dafür diskutiert De Vos (2016) 121–126, ausgehend von der Behauptung des Josephus, es sei den Juden nicht erlaubt, den Dekalog wörtlich zu zitieren (ant. 3, 90). Er vermutet, ausschlaggebend sei vor allem gewesen, dass der Dekalog als Gottes eigene Rede (im ersten Teil als Gottesrede in 1. Person) als zu heilig galt, um sie durch das Aussprechen zu profanieren bzw. dass er nur im liturgischen Zusammenhang rezitiert werden durfte. 52 Es sei nur verwiesen auf das Forschungsprojekt „Der Dekalog als religiöser, ethischer und politischer Basis-Text“, Project A 9 im Rahmen des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ an der Universität Münster (2007–2012, Leitung: Hermut Löhr und J. Cornelis de Vos; http s://www.uni-muenster.de/Religion-und-Politik/forschung/projekte/a9.html, letzter Abruf am 22. April 2020), in dem eingangs festgestellt wird: „Die Sichtung der frühjüdischen Quellen und der hierzu erarbeitete Befund zu intertextuellen Bezügen auf den Dekalog widerlegt eindrucksvoll die in der Forschung geläufige These vom ‚Dekalogschweigen‘ in der Literatur des Zweiten Tempels. In aller Deutlichkeit zeigt sich, dass der Dekalog zum kollektiven Traditionsgut der Juden in der betreffenden Zeit gehörte.“ 53 Vgl. Peter-Spörndli (2012), die insgesamt zu dem Ergebnis kommt, dass in der rabbinischen Rezepetion nicht der Inhalt des Dekalogs seine entscheidende Besonderheit ausmacht, sondern dass seine Sonderstellung aus seiner Verbindung mit der Sinai-Offenbarung rührt; die Rabbinen verstehen den Dekalog auch (von Ausnahmen abgesehen) nicht als „Naturrecht“. Der Dekalog wird als „wertvolle[s], persönliche[s] Geschenk[], dessen Gabe für Israel eine Ehre darstellt“, betrachtet, nicht (wie im Christentum) als „Inbegriff des göttlichen Gesetzes überhaupt“ (vgl. 141–142).

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(innerbiblisch: Schöpfungsordnung) für alle Menschen Geltung und Plausibilität beanspruchen kann und insofern höchst „integrativ“ ist.

5.

Der Barnabasbrief

Um die Kontinuitäten aufzuzeigen, die bei aller Abgrenzungsrhetorik zwischen dem „Alten Testament“ und dem „Neuen Bund“ bestehen, will ich mich nun kurz einer Schrift zuwenden, die gerade nicht die Kontinuität, sondern den Bruch zwischen dem „Judentum“ und dem „Christentum“ zu belegen scheint, einer Schrift, die explizit die Fortgeltung des „Alten“ Testaments, wie es von den Juden gelesen wird, bestreitet, nämlich dem Barnabasbrief, der um 130 nach Christus verfasst sein dürfte54. Unter den „Apostolischen Vätern“ ist der Barnbasbrief diejenige Schrift, in der der Begriff „Bund“ am häufigsten vorkommt (4, 6–8; 6, 19; 9, 6; 13, 1. 6; 14, 1–3. 5. 7; ansonsten nur noch 1 Clem 15, 4; 35, 7, beide Stellen ohne Beziehung zur Thematik „neuer“ Bund). Der Brief hat im Wesentlichen zwei Teile: Kapitel 2–16 bieten eine „allegorische“ Auslegung der alttestamentlichen Schriften und Kapitel 18–20 enthalten eine ethische Unterweisung, die sogenannte „Zwei-Wege-Lehre“, zu der es eine Parallelüberlieferung in der Didache gibt (Did. 1–6). Nach der Briefeinleitung in Kapitel 1 wird in Kapitel 2 das Thema umrissen, nämlich die „Rechtsforderungen des Herrn nach der Schrift: Nicht Opfer und Fasten, sondern Gottesverehrung und Nächstenliebe“55. Dies ist „das neue Gesetz unseres Herrn Jesus Christus“ (ὁ καινὸς νόμος τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ, 2, 6)56. Das Stichwort „Bund“ fällt erstmals in Barn. 4, 6 und ist mit einer strikten Abgrenzung vom Volk des „Alten“ Bundes – oder für den Barnabasbrief vielmehr: des „Nicht-Bundes“ – verbunden: Die Leser werden vor jenen Leuten gewarnt, die sagen „Der Bund gilt ihnen [den Juden] und uns [ἡ διαθήκη ἐκείνων καὶ ἡμῶν].“57 Vielmehr (V. 7): „Uns wohl; aber jene haben ihn auf folgende Weise endgültig verloren, obwohl Mose (ihn) bereits empfangen hatte [ἀλλ᾽ ἐκεῖνοι οὕτως ει᾿ς τέλος ἀπώλεσαν αὐτὴν λαβόντος ἤδη τοῦ Μωϋσέως]“58, nämlich indem sie dem Götzendienst verfielen, während Mose auf dem Berg war (Exod. 32). Dies 54 Vgl. Lindemann – Paulsen (1992) 24. 55 Bull (2019) 152 (zu Barn. 2, 1–3, 6). 56 Text und Übersetzung: Lindemann – Paulsen (1992) 28–29: „Das hat er also abgeschafft, damit das neue Gesetz unseres Herrn Jesus Christus, das ohne Zwangsjoch ist [ὁ καινὸς νόμος τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ ἄνευ ζυγοῦ ἀνάγκης ὤν], keine von Menschen bereitete Opfergabe enthalte.“ 57 Text und Übers.: Lindemann – Paulsen (1992) 32–33. Vgl. auch Barn. 13, 1 (Lindemann – Paulsen [1992] 58–59): „Laßt uns aber sehen, ob dieses Volk [die Christen] erbt oder das erste, und der Bund für uns (Geltung hat) oder für jene [ει᾿ ἡ διαθήκη ει᾿ς ἡμᾶς ἢ ει᾿ς ἐκείνους].“ 58 Text und Übersetzung: Lindemann – Paulsen (1992) 32–33.

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führte zum Zerbrechen der Bundestafeln und damit des Bundes selbst: „Und Mose … schleuderte die zwei Tafeln aus seinen Händen; und ihr Bund zerbrach“ [V. 8: καὶ συνετρίβη αὐτῶν ἡ διαθήκη]59. Stattdessen wurde „der (Bund) des Geliebten, Jesus, in unser Herz hineingesiegelt“ [ἵνα ἡ τοῦ ἠγαπημένου Ἰησοῦ ἐνκατασφραγισθῇ ει᾿ς τὴν καρδίαν ἡμῶν]60. Es gab also nie einen gültigen Bund mit Israel, obwohl der Bund immerhin schon bis auf die „Tafeln des Bundes“ und in die Hände des Mose gelangt war (die neuen Tafeln in Exod. 34 werden mit Schweigen übergangen). Auch die Beschneidung als (schon vorsinaitisches!) Bundeszeichen wird bestritten, da auch andere Völker, mit denen Gott keinen Bund geschlossen hat, diese Sitte kennen (Barn. 9, 661). Ebenso war der Tempel niemals das „Haus Gottes“ (Barn. 16)62 und das Sabbatgesetz ist allegorisch zu deuten (Barn. 15). Überhaupt war die ganze Gesetzgebung in der Schrift allegorisch als Vorausweisung auf Christus und seinen Bund gemeint. Es wäre daher ein großer Fehler, als vermeintlich (zum „alten“ Bund) „Hinzugekommene“ (Proselyten), das „Gesetz jener“ auf sich zu nehmen, an dem schon „jene“ „gescheitert“ sind (προσρήσσω, Nebenform von προσρήγνυμι)63 und das ein „Joch des Zwanges“ ist (2, 6)64. Doch während die alttestamentlichen „Ritualgesetze“ für obsolet erklärt werden oder vielmehr bestritten wird, dass sie jemals im wörtlichen Sinn ge-

59 Text und Übersetzung: Lindemann – Paulsen (1992) 32–33. Vgl. auch Barn. 14, 1–3 (Lindemann – Paulsen [1992] 60–61): „Laßt uns jedoch sehen, ob der Bund, den dem Volk zu geben er den Vätern geschworen hatte – ob er [ihn] gegeben hat, laßt uns untersuchen. Gegeben hat er. Sie aber waren aufgrund ihrer Sünden nicht würdig, [ihn] zu empfangen [δέδωκεν· αὐτοὶ δὲ οὐκ ἐγένοντο ἄξιοι λαβεῖν διὰ τὰς ἁμαρτίας αὐτῶν] … Mose fastete auf dem Berg Sinai, um den Bund des Herrn mit dem Volk zu empfangen [τοῦ λαβεῖν τὴν διαθήκην κυρίου πρὸς τὸν λαόν] … Und Mose erkannte, daß sich sich erneut Götzenbilder gemacht hatten, und er schleuderte die Tafeln aus [seinen] Händen, und die Tafeln des Bundes des Herrn zerbrachen [καὶ συνετρίβησαν αἱ πλάκες τῆς διαθήκης κυρίου].“ 60 Vgl. auch Barn. 14, 5 (Lindemann – Paulsen [1992] 62–63), wo vom „Bund des Herrn Jesus“ (διαθήκη κυρίου Ἰησοῦ) die Rede ist. 61 Text und Übersetzung (Lindemann – Paulsen [1992] 48–49): „Aber auch jeder Syrer und Araber (ist beschnitten), ebenso alle Götzenpriester. Gehören etwa nun auch jene zu deren Bund [ἄρα οὖν κἀκεῖνοι ἐκ τῆς διαθήκης αὐτῶν ει᾿σίν]?“ 62 Text und Übersetzung (Lindemann – Paulsen [1992] 64–65): „16,1. Aber auch über den Tempel will ich noch zu euch reden, wie die Unglücklichen, irregeführt, auf das Gebäude gehofft haben, und nicht auf ihren Gott, der sie geschaffen hat, als wäre es das Haus Gottes [ὡς ὄντα οἶκον θεοῦ]. 2. Denn beinahe wie die Heiden haben sie ihn im Tempel verehrt [σχεδὸν γὰρ ὡς τὰ ἔθνη ἀφιέρωσαν αὐτὸν ἐν τῷ ναῷ].“ 63 Vgl. Barn. 3, 6 (Lindemann – Paulsen [1992] 30–31): „Dazu also, Brüder, hat der Langmütige, der vorausgesehen hat, daß das Volk, das er durch seinen Geliebten bereitet hat, in Reinheit glauben werde, uns über alles im Voraus unterrichtet, damit wir nicht als [nachträglich] Hinzugekommene am Gesetz jener Leute scheitern [ἵνα μὴ προσρησσώμεθα ὡς προσήλυτοι τῷ ἐκείνων νόμῳ].“ 64 Vgl. oben Anm. 56.

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golten haben, gilt dies von den „Zehn Worten“ (15, 165) nicht in gleicher Weise (wenngleich es hier, in Kapitel 15, darum geht, dass das Sabbatgebot nicht wörtlich zu verstehen ist), wie z. B. die Zitation des (erweiterten) sechsten und (spezifizierten) fünften Gebotes in Barn. 19, 4–5 zeigt: Du sollst nicht Unzucht treiben, du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht Knaben schänden [οὐ πορνεύσεις, οὐ μοιχεύσεις, οὐ παιδοφθορήσεις] … Du sollst kein Kind durch Abtreibung töten noch ein geborenes wieder umbringen [οὐ φονεύσεις τέκνον ἐν φθορᾷ, οὐδὲ πάλιν γεννηθὲν ἀποκτενεῖς]“66.

Dies ist Teil einer ganzen Reihe von Ge- und Verboten, die wie die Dekaloggebote nach dem Modell „du sollst (nicht) …“ geformt werden (Kapitel 19). Sie beschreiben den „Weg des Lichts“ (19, 12). Doch auch die Alternative, der „Weg des Schwarzen“ und „des ewigen Todes“ (20, 1), definiert sich durch den Bezug auf Dekaloggebote (20, 1): „Götzendienst [ει᾿δωλολατρεία], … Ehebruch, Mord, Raub [μοιχεία, φόνος, ἁρπαγή], …, Habsucht, Verachtung Gottes [πλεονεξία, ἀφοβία θεοῦ].“ Im Übrigen zielt auch schon im ersten Teil des Briefes die allegorische Auslegung bestimmter Speisegebote auf Dekaloggebote wie auf das Verbot, ein „Knabenschänder“ oder „Ehebrecher“ zu werden (10, 6–7) und generell auf die Mahnung, den „Weg der Gerechtigkeit“ zu gehen und nicht den „Weg der Finsternis“67. Außer dem Sabbatgebot gehören so alle Dekaloggebote vollgültig zum „neue[n] Gesetz unsere Herrn Jesus Christus“ (2, 6). Nach welchen Kriterien in diesem „neuen Gesetz“ Gebote aus dem „Alten Testament“ gelten oder nicht, wird nicht wirklich stringent dargelegt. Vordergründig könnte es scheinen, dass jene Gebote weitergelten, die „vor den Götzendienst Israels“ zu datieren sind, also jene Gebote, die auf den „Tafel des Bundes“ standen, den Gott mit Israel geschlossen hätte, wenn Mose die Tafeln hätte übergeben können. Aber dazu gehört natürlich auch das Sabbatgebot (wie auch das Bundeszeichen der Beschneidung schon älter ist). So sind es de facto jene Gebote und Praktiken, die als identity markers und boundary markers68 das Gottes- und Bundesvolk „Israel“ von den anderen „Völkern“ (τὰ ἔθνη, „die Völker“, „die Heiden“) abgrenzen. Hingegen gelten die ethischen und sozialen Gebote weiter, die sich zugleich als „natürliches Recht“ oder „Schöpfungsordnung“ verstehen lassen. Man kann die beiden Teile des Barnabasbriefes so aufeinander beziehen, dass im ersten Teil die (alten) Gebote, die nicht mehr gelten

65 Text und Übersetzung (Lindemann – Paulsen [1992] 62–63): „Auch über den Sabbat ist nun noch in den Zehn Worten [ἐν τοῖς δέκα λόγοις] geschrieben …“. 66 Text und Übersetzung (Lindemann – Paulsen [1992] 70–71). 67 Text und Übersetzung (Lindemann – Paulsen [1992] 36–37): „Mit Recht wird ein Mensch untergehen, der sich in Kenntnis des Weges der Gerechtigkeit [ἔχων ὁδοῦ δικαιοσύνης γνῶσιν] auf den Weg der Finsternis [ει᾿ς ὁδὸν σκότους] begibt.“ 68 Vgl. oben Anm. 29.

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oder nie gegolten haben, behandelt werden, im zweiten Teil die (eigentlich noch älteren) Gebote, die weiterhin gelten bzw. immer gegolten haben69. Der „Alte“ und „Neue Bund“ (das „neue Gesetz Christi“) realisiert sich also keineswegs in „alten“ und „neuen“ Geboten. Die Grundstruktur des „Dekalogismus“ ist völlig intakt geblieben: Es gibt die Wahl zwischen „zwei Wegen“, zwischen Leben und Tod, Licht und Finsternis. Und der „Weg des Lebens“ und der „Gerechtigkeit“ wird vor allem anderen durch die Dekaloggebote definiert. Unterschiede bestehen im Hinblick auf die „Gnadenmittel“, die dem reuigen Sünder die Umkehr ermöglichen (der Opferkult im Tempel oder das Opfer Christi), und die „Erkennungszeichen“ der Zugehörigkeit zum „Bund“ (Beschneidung etc. oder Taufe). Diese Art von „Christentum“ gibt es mit oder ohne „hohe Christologie“. Jesus kann darin als Lehrer oder Prophet verstanden werden, als „Sohn Gottes“ oder als „Gott“. Die Grundstruktur bleibt trotzdem dieselbe und verbindet das „Christentum“ mit allen „Judentümern“. Insofern ist die übliche Betrachtungsweise und Selbstwahrnehmung des „Christentums“ als „neu“ gegenüber dem „Judentum“ oder die Bezeichnung von Judentum und Christentum als „Mutter(religion)“ und „Tochter(religion)“ irreführend. Mir scheint, es sind eher zwei „Schwestern“, nämlich das Modell „Judentum“ als Religion oder auf dem Weg zur „Religion“, der man „beitreten“ kann, auch wenn man kein geborener Judäer ist, und das Modell Ioudaismós, in dem der „Bund“ auf die (leiblichen) „Nachfahren Abrahams“ beschränkt ist, was aber nicht ausschließt, dass die Menschen aus den „Völkern“ zu ihren Konditionen ebenfalls „gerettet“ werden können (als „Gerechte aus den Völkern“; der Gegensatz zwischen „Judentum“ und Ioudaismós ist also nicht der von „Universalismus“ und „Exklusivismus“, sondern eher von Uniformitätsideal und „versöhnter Verschiedenheit“). Hingegen spielen in dem „dekalogischen“ Modell des Judentums alle Menschen nach denselben Regeln der „Gerechtigkeit“ um ihr Heil. Während es im Ioudaismós keine Notwendigkeit zur Mission gibt, ist das „Judentum“ sehr offen für den Gedanken der Mission. Wie mir scheint, aber noch sehr viel gründlicher zu untersuchen wäre, gab es beide Modelle im antiken Judentum. Der historische Zufall (oder eine Reihe von historischen Kontingenzen) wollte es, dass das erste Modell heute als „Christentum“ bekannt ist. Die 69 Vgl. auch die Zusammenfassung des Briefinhaltes bei Bull (2019) 153: „Die Theologie des Barn wird durch die Voraussetzung bestimmt, dass die Schrift nur Vorausoffenbarung des christologischen Heilsgeschehens ist. Die gesamte alttestamentliche Gesetzgebung war von Anfang an nicht ‚fleischlich‘, sondern ‚geistlich‘ gemeint. Der Bund, der von Gott gegeben worden ist, hat Israel nie erreicht, sondern Empfänger des Bundes sind ausschließlich die Christen. Inhaltlich ist dieser Bund durch den Willen Gottes charakterisiert, der rechtes ethisches Verhalten verlangt. Damit ist er identisch mit dem ‚neuen Gesetz unseres Herrn Jesus Christus‘ (2,6). Die Erkenntnis, die der Autor des Barn vermitteln will, ist also die ‚Erkenntnis des Weges der Gerechtigkeit‘ (5,4). Hier liegt der innere Zusammenhang zwischen den Kap. 2–16 und 18–20.“ (Hervorhebung im Original durch Fettdruck).

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Taufe, durch die man zunächst in den durch den „Messias Jesus“ vermittelten „neuen Bund“ mit Israel aufgenommen wurde (vgl. Apg. 2, 38–39), wurde zum „Sakrament“ der Zugehörigkeit von Menschen aus allen Völkern (Mt. 28, 19) zum Retter Jesus Christus.

6.

Die Zwei-Wege-Lehre in der Didache

Wie schon erwähnt gibt es zur Zwei-Wege-Lehre in Barn. 18–20 eine Parallele in der Didache (Did. 1–6). Das genaue Verhältnis dieser beiden Stücke ist ungeklärt, eine direkte literarische Abhängigkeit in die eine oder andere Richtung besteht wohl nicht70. Vielmehr geht das in beiden Schriften verarbeitete Material wahrscheinlich auf „eine selbständige ursprünglich jüdische Quellenschrift …, die in vielfältigen Rezensionen existiert hat“71, zurück. In der Didache ist diese Lehre deutlich am Dekalog orientiert bzw. präsentiert sich als eine Art erweiterter und erläuterter Dekalog, der dabei wiederum mit dem Doppelgebot der Liebe und der (negativ formulierten) „Goldenen Regel“ kombiniert wird: 1,1 Zwei Wege gibt es, einen des Lebens und einen des Todes. Der Unterschied aber ist groß zwischen den beiden Wegen. 2. Der Weg nun des Lebens ist dieser: ‚Erstens sollst du Gott lieben, der dich geschaffen hat, zweitens deinen Nächsten wie dich selbst‘; alles aber, was du willst, daß es dir nicht geschehe, das tu du auch du nicht einem anderen72. 2,1 Das zweite Gebot der Lehre aber: 2. Du sollst nicht töten, du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht Knaben schänden, du sollst nicht huren, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht Zauberei treiben, du sollst nicht Gift mischen, du sollst nicht ein Kind durch Abtreibung morden, und du sollst das Geborene nicht töten. 3. Du solllst nicht begehren das (Eigentum) deines Nächsten, du sollst nicht falsch schwören, du sollst nicht falsches Zeugnis ablegen, du sollst nicht schmähen, du sollst Böses nicht nachtragen. 4. Du sollst nicht wankelmütig sein und nicht doppelzüngig; denn eine Schlinge des Todes ist die Doppelzüngigkeit. 5. Dein Wort soll nicht erlogen sein, nicht leer, sondern voller Tat. 6. Du sollst kein Habgieriger sein, auch kein Räuber, auch kein Heuchler, auch nicht boshaft, auch nicht hochmütig. Du sollst keinen bösen Entschluß fassen wider deinen Nächsten. 7. Du sollst keinen Menschen hassen; vielmehr sollst du die einen zurechtweisen, für die anderen sollst du beten, wieder andere sollst du lieben mehr als dein Leben73. 70 71 72 73

Vgl. Prostmeier (2009) 45. Niederwimmer (1989) 63. Übersetzung: Lindemann – Paulsen (1992) 5. Übersetzung: Lindemann – Paulsen (1992) 7. Auch der „Weg des Todes“ (5, 1) bietet wieder deutliche Dekaloganklänge (Lindemann – Paulsen (1992) 11): „Der Weg aber des Todes ist dieser: Vor allem ist er böse und voll des Fluchs: Morde, Ehebrüche, Begierden, Hurereien, Diebstähle, Zaubereien, Giftmischereien, Räubereien, falsche Zeugnisse, Heucheleien, zweideutiges Verhalten, Hinterlist, Überheblichkeit, Bosheit, Übermut, Habgier, zotige Reden,

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Daran anschließend kann man einen Komplex von Lehrüberlieferungen vermuten, die sich mehr oder weniger bruchlos miteinander verbinden lassen und die sowohl für die „religiöse“ und „universale“ Interpretation des „Judentums“ wie für das „Christentum“ stehen: – Der Dekalog, der sich nochmals verdichten kann, – nämlich in den beiden Liebesgebote (Dtn. 6, 4: Gott lieben [und das Böse hassen]; Lev. 19, 18: den Nächsten wie sich selbst) – und in der „goldenen Regel“ (Did. 1, 2, vgl. Mt. 7, 12), – die „Zwei-Wege-Lehre“ und die deuteronom(ist)ische „Umkehr-Theologie“, verbunden mit der Warnung vor der Verstockung der Wüstengeneration (Ps. 95, 7; Hebr. 3, 7. 15). – Beides, Dekalog und Zwei-Wege-Lehre, kann sich verbinden, muss es aber nicht notwendig: Während im Barnabasbrief die Zwei-Wege-Lehre keine starken Dekalogbezüge hat, ist dies in der Didache der Fall. – In der Didache gibt es außerdem noch eine Sektion (die sogenannten TeknonSprüche in Did. 3, 1–6), die sowohl an die „Antithesen“ der Bergpredigt (Mt. 5, 21–48) erinnert („nicht erst …, sondern schon …“), die ihrerseits wiederum den Dekalog aufnehmen, wie auch an die fünf „Grundgebote“74. – Die Zwei-Wege-Lehre ist verbunden mit dem Dualismus Leben-Tod, LichtFinsternis, Fluch-Segen etc. Im Barnabasbrief ist dieser Dualismus mit einem Dualismus der Mächte („Engel des Lichts“ – „Engel des Satans“, vgl. Barn. 18, 1–2) verbunden, ähnlich wie in den Qumranschriften (vgl. die Lehre über die „zwei Geister“ in 1 QS 3, 13–4, 26). – Des Weiteren gibt es eine Affinität zur Vorstellung vom „Naturgesetz“, das mit der Tora, insbesondere seiner Verdichtung im Dekalog, korrespondiert. – Darüber hinaus gibt es aber noch einige weitere Inhalte, die universale Gültigkeit beanspruchen, nämlich die Gebote Lev. 17–18 und 20, die auch für die „Fremdlinge“ in Israel gelten, nämlich das Verbot des Blutgenusses (mit Bezug auf Gen. 9) und die „Inzestverbote“ (bzw. das Verbot der „Gräuel der Völker des Landes“, Lev. 18, 26–30). Das sogenannte „Aposteldekret“ (Apg. 15, 20. 29; 21, 25: Enthaltung von Götzendienst/Götzenopfer[fleisch], Ersticktem, „Blut“ und „Unzucht“; das „Dekret“ lässt sich sowohl „rituell“ mit Bezug auf Lev. 17– 18 und 20 lesen wie als Erinnerung an den Dekalog bzw. die drei „Kardinalsünden“75 Götzendienst, Blutvergießen, Hurerei). De facto kennt auch Paulus diese Bestimmungen, denn er setzt die Geltung der Inzestgesetze auch für

Eifersucht, Frechheit, Hochmut, Prahlerei, [Mangel an Ehrfurcht].“ (eckige Klammer im Original). 74 Vgl. oben Anm. 47. 75 Vgl. oben Anm. 47.

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„Heiden“ voraus (1 Kor. 5), nur über den Blutgenuss schreibt er nichts ausdrücklich, was aber nicht bedeutet, dass er ihn für erlaubt hält76. – Ein weiteres Element ist die „allegorische“ Auslegung vieler „kultischer“ Gesetze in der Tora, wie sie zumal bei Philon belegt ist (leg. alleg. I–III, vgl. auch migr. 89–94 über die „Allegoristen“). Diese werden dabei vorzugsweise ethisch gedeutet. Das muss keineswegs heißen, dass sie deshalb nicht mehr im wörtlichen Sinne gelten oder nie gegolten haben, wie es Hebr. bzw. Barn. behaupten. Doch gibt es auch die „schwarze Legende“ von den „unguten“ Gesetzen, die nach dem „Sündenfall“ Israels in Exod. 32 gegeben wurden, die im Christentum später belegt ist77. Ob oder mit welcher Funktion es diesen Gedanken auch schon vorchristlich gab, wäre zu erwägen und zu prüfen. – Ein weiterer „kleiner“ Diskurs, den ich hier nur andeuten kann, ist meines Erachtens der Diskurs des „Lebens“, der das fünfte (kein Leben zerstören) und das sechste Gebot (Leben hervorbringen bzw. legitimer Geschlechtsverkehr nur mit dem Ziel der Zeugung) verbindet. Hierzu gehört die „Erweiterung“ des sechsten Gebots um „Hurerei“ und „Knabenschändung“ in der Zwei-WegeLehre (Did. 2, 2; Barn. 19, 4) wie auch das Verbot der (Onanie, Homosexualität, Kontrazeption,) Abtreibung und Kindstötung (Did. 2, 2; Barn. 19, 5), das das sechste und das fünfte Gebot verbindet. Ein anderer „kleiner“ Diskurs oder ein paränetisches Schema ist die Doppelsünde „Unzucht und Habgier“, die aus dem „Götzendienst“ resultieren78. – In der Didache steht am Ende der „Zwei-Wege-Lehre“ der Ausblick auf die „Vollkommenheit“, die darin besteht, „das ganze Joch des Herrn zu tragen“ (6, 2), womit wohl die Einhaltung aller oder möglichst vieler Gebote der Tora

76 Es wird oft angenommen, dass das lukanische „Aposteldekret“ der „gesetzesfreien“ paulinischen Mission widerspreche (wie auch dem Selbstverständnis Pauli als Apostel) und von Paulus deshalb ignoriert oder unterdrückt werde, er es jedenfalls in seinen Gemeinde nicht promulgiert habe. Aber vielleicht gehört Paulus ja in die Vorgeschichte des „Aposteldekrets“? Darüber wäre im Zusammenhang des Verhältnisses von Lukas und Paulus nachzudenken. – Was den Blutgenuss betrifft, so dürfte die Nichterwähnung eher darauf zurückgehen, dass dieser Punkt weder strittig noch problematisch war. Auch bei griechischen Tieropfern ließ man das Tier normalerweise ausbluten, vgl. Bremmer (2000) 1242. Das Problem bei Paulus ist daher nicht der Blutgenuss, sondern der kultische Kontext der Schlachtung; er lehnt es ab, als solches deklariertes „Götzenopferfleisch“ zu essen (1 Kor. 8, 4–13; 10, 21. 28). Es gar zwar durchaus Speisen, die mit Blut zubereitet wurden (wie die berühmte spartanische Blutsuppe), aber es war unter den Christen stets Konsens, wegen des Verbotes in Gen. 9, 4 „auf den Genuß der in der Antike außerordentlich beliebten Blutwurst … zu verzichten“ (Markschies [2006] 131–132). 77 Zur Didaskalia vgl. oben Anm. 24. Vgl. auch Iren. haer. 4, 15, 1–2, der diese Auffassung ebenfalls kennt, sowie das Argument, die Erlaubnis zur Ehescheidung sei „wegen der Herzenshärtigkeit“ gegeben worden (Mk. 10, 5; Mt. 19, 8), aber entspreche nicht dem uranfänglichen Willen Gottes. 78 Dazu vgl. Reinmuth (1985).

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gemeint ist79, speziell die Speisegeobte werden genannt (6, 3: „Betreffs der Speisen aber: Was du vermagst, das trage“80). Auf jeden Fall verbindlich ist aber die Enthaltung von Götzenopferfleisch (6, 3), d. h. die Beachtung des Aposteldekrets. Darauf folgt in Did. 7 die Anweisungen für den Vollzug der Taufe. Diese Reihenfolge lässt vermuten, dass die Zwei-Wege-Lehre ein Modell für die Taufkatechse sein soll81. Gleicherweise lässt sich aber auch als Unterweisung eines missionierenden Judentums verstehen, die darauf zielt, „Heiden“ in den „Bund“ zu integrieren: Es ist gut, wenn sie möglichst viele der „rituellen“ und „kultischen“ Gebote der Tora einhalten, aber nicht heilsnotwendig. Dazu genügt der Dekalog, dessen Beachtung allerdings über „Leben“ und „Tod“ entscheidet – für „Judäer“ wie für Menschen aus den „Völkern“. Somit wäre mein Fazit: Da alle diese Traditionen bereits jüdisch (vor)gedacht sind, kann man sagen: Das im „Christentum“ verwirklichte Modell einer universalen „Religion“ lag sozusagen fertig und bereit und musste nur aufgenommen werden.

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79 Vgl. Draper (2009) 23. 80 Übersetzung: Lindemann – Paulsen (1992) 13. 81 Vgl. Bull (2019) 150: „Die Zwei-Wege-Lehre war ursprünglich ein selbständiger jüdisch geprägter Text … Der Verfasser der Did ordnet diese Tradition durch 7, 1 in die Unterweisung der Taufbewerber (Katechumenen) ein.“

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Alessandro Capone

Tempo privato e tempo sociale nei cristianesimi dei primi secoli All progress is not necessarily forward. (Bruce Marshall)

Abstract The contribution examines the Gospel passages in which Jesus’s private time is mentioned. In particular, reference is made to Mk 4:34 as a way of better understanding the interpretation in two authors (Tertullian and Origen) working in the same fifty-year period in two different contexts (Carthage and Alexandria-Caesarea), but united by similar problems and concerns. The analysis shows how the interpretation of the verse and of the private time of Jesus appeared problematic in the eyes of the two authors and more generally in those of their communities. Each of them, driven by the controversial needs and by the context in which they operated, reached positions that cannot be identified either with that of the other or strictly speaking with those of the Great Church.

1.

Premessa*

L’argomento che mi propongo di affrontare nel presente contributo può avere un’estensione molto ampia e richiede pertanto delle precisazioni preventive di carattere cronologico, geografico e metodologico, per meglio mettere a fuoco la trattazione. Innanzitutto la cornice. Già in precedenza ho sottolineato la necessità di considerare il cristianesimo antico in una prospettiva plurale, cioè di adottare la categoria di “cristianesimi”, quando si voglia studiare in maniera complessa le polemiche cristiane dei primi secoli1. In questa sede darò per scontato tale presupposto e, dovendo affrontare l’argomento del tempo, già di per sé trasversale alle comunità antiche, intendo discostarmi dalle prospettive teologiche o sapienziali, pur attualmente condivise da alcuni2, e fare mie le parole di Emanuela Prinzivalli, la quale ha dimostrato quanto sia storicamente opportuno

* Desidero ringraziare Michel-Yves Perrin, Sever J. Voicu e Valerio Ugenti per i suggerimenti con cui mi hanno permesso di migliorare il presente contributo. 1 Vd. Capone (2019) 16–20. 2 Vd. ex. gr. Dall’Osso (2012).

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richiamare l’attenzione sulla complessità del cristianesimo delle origini, una complessità che comprendeva pratiche di vita differenti, diversi modi di intendere la venerata figura di riferimento, Gesù, diversi modi di organizzarsi in comunità e di esprimersi cultualmente, diversi modi di rapportarsi al mondo circostante, diversi modi di collocarsi all’interno del giudaismo (che si badi è anch’esso differenziato al suo interno all’epoca di Gesù) o di considerare il rapporto con il giudaismo, quando una parte consistente dei seguaci di Gesù non proverranno più da esso. Emerge dall’insistenza sul plurale l’esigenza di assecondare e comprendere le diversità che lo scorrere del tempo storico e degli ambienti propongono e lo specifico che di volta in volta permette di identificare l’identità cristiana3.

L’altro aspetto da chiarire preliminarmente è quello relativo alla nozione di tempo. Qui non ne parlerò in termini filosofici o teologici, come si è ampiamente scritto4, ma secondo un’ottica per così dire pratica5, prescindendo dunque dalle nozioni di tempo cristiano e tempo pagano, ma puntando l’attenzione su alcuni aspetti concreti dell’uso del tempo da parte dei cristiani dei primi secoli. In questo senso però occorre un’altra precisazione, relativa all’aggettivazione del titolo. Se appare pressoché ovvio parlare di tempo sociale per la cristianità antica, nel senso del tempo scandito dal calendario generale e dai calendari locali, che determinavano l’organizzazione e il ritmo di uomini e donne dell’impero romano, e quindi anche dei cristiani, appare invece più problematica la definizione di tempo privato, tanto che ci si può a buon diritto chiedere se tale nozione sia storicamente plausibile o meno, giacché per qualcuno il tempo privato, nel senso di tempo “proprio”, sarebbe il frutto della progressiva affermazione della soggettività nella società borghese6. Per provare se tale ipotesi di lavoro sia reale, occorre interrogare i testi cristiani, a partire da quelli neotestamentari, per proseguire poi attraverso le interpretazioni che di essi sono state sviluppate nei primi secoli, per mettere infine a confronto tali risultati con le evidenze storiche e trarre in ultima analisi qualche possibile considerazione finale. L’arco cronologico dello studio si chiuderà con la prima metà del terzo secolo e, per quanto possibile, cercherà di mettere in evidenza alcune differenze legate agli ambienti e ai gruppi cristiani presi in considerazione, con particolare riferimento alle comunità di Cartagine e di Alessandria/Cesarea di Palestina. Tale percorso prospettato deve tenere presente un altro presupposto: un’indagine sul tempo implica la necessità di prendere in considerazione lo spazio, le pratiche di vita, le abitudini e le relazioni in cui un singolo o un gruppo inscrivono la propria azione. 3 Prinzivalli (2012) 68–69. 4 Della vasta bibliografia mi limito qui a ricordare solo il recente volume dell’Istituto Patristico Augustinianum Tempo di Dio, tempo dell’uomo (2019). 5 Vd. in questo senso De Salvo (2002) 81–82. 6 Vd. Nowotny (1993) 13–14.

Tempo privato e tempo sociale nei cristianesimi dei primi secoli

2.

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I dati evangelici

Scorrendo la recente traduzione italiana del Nuovo Testamento (CEI 2008), si nota con non poca sorpresa come l’espressione “in privato” ricorra nei Vangeli solo due volte (Mc. 4, 34: “Senza parabole non parlava loro; ma in privato, ai suoi discepoli, spiegava ogni cosa”; Mc. 9, 28: “Entrò poi in una casa e i discepoli gli chiesero in privato: ‘Perché noi non abbiamo potuto scacciarlo?’”) e l’espressione “privatamente” una sola volta (Gal. 2, 2: “Esposi loro il vangelo che io predico tra i pagani, ma lo esposi privatamente alle persone più ragguardevoli, per non trovarmi nel rischio di correre o di aver corso invano”) 7. Davanti a questi dati può sorgere la domanda se esistesse per Gesù e il suo gruppo e per Paolo un tempo tale da potersi definire privato. L’espressione greca alla base dei tre passi testé citati è κατ’ι᾿δίαν, che nel Nuovo Testamento esprime l’idea di “separatamente”, “per sé”, “a parte”8 e che, a dispetto di quanto possa pensare un lettore italiano, è piuttosto frequente nei Vangeli e merita dunque di essere esaminata con attenzione. Di seguito l’elenco completo dei passi greci del Nuovo Testamento, con la corrispondente traduzione italiana, che contengono l’espressione κατ’ι᾿δίαν9: Mt. 14, 13 Ἀκούσας δὲ ὁ Ἰησοῦς ἀνεχώρησεν ἐκεῖθεν ἐν πλοίῳ ει᾿ς ἔρημον τόπον κατ’ι᾿δίαν·

Avendo udito questo, Gesù partì di là su una barca e si ritirò in un luogo deserto, in disparte. Mt. 14, 23 Καὶ ἀπολύσας τοὺς ὄχλους ἀνέβη ει᾿ς Congedata la folla, salì sul monte, in disτὸ ὄρος κατ’ι᾿δίαν προσεύξασθαι. parte, a pregare10.

Mt. 17, 1 Πέτρον καὶ Ἰάκωβον καὶ Ἰωάννην τὸν ἀδελφὸν αὐτοῦ, καὶ ἀναφέρει αὐτοὺς ει᾿ς ὄρος ὑψηλὸν κατ’ι᾿δίαν. Mt. 17, 19 Τότε προσελθόντες οἱ μαθηταὶ τῷ Ἰησοῦ κατ’ι᾿δίαν εἶπον, Διὰ τί ἡμεῖς οὐκ ἠδυνήθημεν ἐκβαλεῖν αὐτό;

Sei giorni dopo, Gesù prese con sé Pietro, Giacomo e Giovanni suo fratello e li condusse in disparte, su un alto monte. Allora i discepoli si avvicinarono a Gesù, in disparte, e gli chiesero: “Perché noi non siamo riusciti a scacciarlo?”

Mt. 20, 17 Καὶ ἀναβαίνων ὁ Ἰησοῦς ει᾿ς Ἱεροσόλυμα παρέλαβεν τοὺς δώδεκα [μαθητὰς] κατ’ι᾿δίαν, καὶ ἐν τῇ ὁδῷ εἶπεν αὐτοῖς … Mt. 24, 3 Καθημένου δὲ αὐτοῦ ἐπὶ τοῦ Ὄρους τῶν Ἐλαιῶν προσῆλθον αὐτῷ οἱ μαθηταὶ κατ’ι᾿δίαν λέγοντες …

Mentre saliva a Gerusalemme, Gesù prese in disparte i dodici discepoli e lungo il cammino disse loro … Al monte degli Ulivi poi, sedutosi, i discepoli gli si avvicinarono e, in disparte, gli dissero:

7 Tralascio in questa sede 2 Pt. 1, 20 (“nessuna scrittura profetica va soggetta a privata spiegazione”), poiché “privata” è da intendere in senso di “personale”. 8 Vd. Spicq (1988) 784. 9 L’avverbio ι᾿δίᾳ si trova con lo stesso significato solo in 1 Cor. 12, 11 (πάντα δὲ ταῦτα ἐνεργεῖ τὸ ἓν καὶ τὸ αὐτὸ πνεῦμα, διαιροῦν ᾿ιδίᾳ ἑκάστῳ καθὼς βούλεται). 10 Cf. CEI 1974: “Congedata la folla, salì sul monte, solo, a pregare”.

118 Mc. 4, 34 … χωρὶς δὲ παραβολῆς οὐκ ἐλάλει αὐτοῖς, κατ’ι᾿δίαν δὲ τοῖς ι᾿δίοις μαθηταῖς ἐπέλυεν πάντα11. Mc. 6, 31–32 καὶ λέγει αὐτοῖς, Δεῦτε ὑμεῖς αὐτοὶ κατ’ι᾿δίαν ει᾿ς ἔρημον τόπον καὶ ἀναπαύσασθε ὀλίγον. ἦσαν γὰρ οἱ ἐρχόμενοι καὶ οἱ ὑπάγοντες πολλοί, καὶ οὐδὲ φαγεῖν εὐκαίρουν 32. καὶ ἀπῆλθον ἐν τῷ πλοίῳ ει᾿ς ἔρημον τόπον κατ’ι᾿δίαν.

Alessandro Capone

Senza parabole non parlava loro ma, in privato, ai suoi discepoli spiegava ogni cosa. Ed egli disse loro: “Venite in disparte, voi soli, in un luogo deserto, e riposatevi un po’”. Erano infatti molti quelli che andavano e venivano e non avevano neanche il tempo di mangiare. 32. Allora andarono con la barca verso un luogo deserto, in disparte.

Mc. 7, 33 καὶ ἀπολαβόμενος αὐτὸν ἀπὸ τοῦ ὄχλου κατ’ι᾿δίαν12 ἔβαλεν τοὺς δακτύλους αὐτοῦ ει᾿ς τὰ ὦτα αὐτοῦ καὶ πτύσας ἥψατο τῆς γλώσσης αὐτοῦ … Mc. 9, 2 Καὶ μετὰ ἡμέρας ἓξ παραλαμβάνει ὁ Ἰησοῦς τὸν Πέτρον καὶ τὸν Ἰάκωβον καὶ τὸν Ἰωάννην, καὶ ἀναφέρει αὐτοὺς ει᾿ς ὄρος ὑψηλὸν κατ’ι᾿δίαν μόνους13. καὶ μετεμορφώθη ἔμπροσθεν αὐτῶν

Lo prese in disparte, lontano dalla folla, gli pose le dita negli orecchi e con la saliva gli toccò la lingua …

Mc. 9, 28 … καὶ ει᾿σελθόντος αὐτοῦ ει᾿ς οἶκον οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ κατ’ι᾿δίαν ἐπηρώτων αὐτόν, Ὅτι ἡμεῖς οὐκ ἠδυνήθημεν ἐκβαλεῖν αὐτό; Mc. 13, 3 Καὶ καθημένου αὐτοῦ ει᾿ς τὸ Ὄρος τῶν Ἐλαιῶν κατέναντι τοῦ ἱεροῦ ἐπηρώτα αὐτὸν κατ’ι᾿δίαν15 Πέτρος καὶ Ἰάκωβος καὶ Ἰωάννης καὶ Ἀνδρέας …

Entrato in casa, i suoi discepoli gli domandavano in privato: “Perché noi non siamo riusciti a scacciarlo?”. Mentre stava sul monte degli Ulivi, seduto di fronte al tempio, Pietro, Giacomo, Giovanni e Andrea lo interrogavano in disparte …

Sei giorni dopo, Gesù prese con sé Pietro, Giacomo e Giovanni e li condusse su un alto monte, in disparte, loro soli14.

Allora li prese con sé e si ritirò in disparte, Lc. 9, 10 … καὶ παραλαβὼν αὐτοὺς ὑπεχώρησεν κατ’ι᾿δίαν16 ει᾿ς πόλιν καλουμένην verso una città chiamata Betsàida. Βηθσαϊδά. Lc. 10, 23 Καὶ στραφεὶς πρὸς τοὺς μαθητὰς κατ’ι᾿δίαν εἶπεν, Μακάριοι οἱ ὀφθαλμοὶ οἱ βλέποντες ἃ βλέπετε.

E, rivolto ai discepoli, in disparte, disse: “Beati gli occhi che vedono ciò che voi vedete”.

11 Cf. Pesch (1980) 424, a proposito dell’espressione κατ’ι᾿δίαν: “L’evangelista riprende una formula preesistente, che probabilmente gli fa aggiungere anche τοῖς ι᾿δίοις μαθηταῖς (invece di τοῖς μαθηταῖς αὐτοῦ)”. 12 Secondo Schenke (1974) 270, l’espressione κατ’ι᾿δίαν deve essere attribuita all’evangelista, mentre il motivo di Gesù che si ritira dal popolo sarebbe redazionale. 13 Secondo Pesch (1980) 118, l’espressione accentua l’atmosfera di segretezza e il significato del termine “solo”. 14 Cf. CEI 1974: “Dopo sei giorni, Gesù prese con sé Pietro, Giacomo e Giovanni e li portò sopra un monte alto, in un luogo appartato, loro soli. Si trasfigurò davanti a loro”. 15 Secondo Pesch (1980) 413, l’espressione κατ’ι᾿δίαν rimanda “all’ammaestramento apocalittico e segreto al quale mira la domanda”. 16 Cf. Schürmann (1983) 804: “Anche κατ’ι᾿δίαν aiuta a creare questo spazio segreto ed esoterico; esso sarà ripreso in 9, 18, con κατὰ μόνας, il che pure serve a porre in risalto il contesto redazionale di cui s’è detto”.

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At. 23, 19 ἐπιλαβόμενος δὲ τῆς χειρὸς αὐτοῦ ὁ Il comandante lo prese per mano, lo condusse in disparte e gli chiese: “Che cosa χιλίαρχος καὶ ἀναχωρήσας κατ’ι᾿δίαν ἐπυνθάνετο, Τί ἐστιν ὃ ἔχεις hai da riferirmi?” ἀπαγγεῖλαί μοι; Gal. 2, 2 καὶ ἀνεθέμην αὐτοῖς τὸ εὐαγγέλιον ὃ Esposi loro il Vangelo che io annuncio tra le κηρύσσω ἐν τοῖς ἔθνεσιν, κατ’ι᾿δίαν δὲ τοῖς genti, ma lo esposi privatamente alle δοκοῦσιν17, μή πως ει᾿ς κενὸν τρέχω ἢ ἔδραμον. persone più autorevoli, per non correre o aver corso invano.

Si nota a prima vista come l’espressione κατ’ι᾿δίαν si trovi, tra i Vangeli, solo nei sinottici e come siano soltanto due le occorrenze negli altri scritti neotestamentari. L’assenza di attestazioni nel Vangelo di Giovanni non è casuale e rivela un’impostazione di base differente che l’evangelista ha dato alla propria narrazione. In Mc 7,33 il significato dell’espressione appare chiaramente in opposizione alla folla (ἀπὸ τοῦ ὄχλου κατ’ι᾿δίαν), con la stessa valenza che si riscontra anche in bell. Iud. 2, 199 (ταῖς δ’ ἑξῆς ἀθρόους τε τοὺς δυνατοὺς κατ’ι᾿δίαν καὶ τὸ πλῆθος ἐν κοινῷ συλλέγων), dove si dice che Petronio radunava sia persone autorevoli privatamente sia la folla pubblicamente. Vediamo nello specifico i passi evangelici in esame, per mettere a fuoco il contenuto delle azioni compiute da Gesù e dai discepoli in privato: Matteo Marco Gesù si ritira da solo lontano dalle folle (14, 13).

Luca Gesù si ritira con i discepoli lontano dalla folla (9, 10).

Sale da solo sul monte per pregare (14, 23). Gesù sale sul monte, dove avverrà la trasfigurazione, con Pietro, Giacomo e Giovanni (17, 1). Gesù è con i discepoli, che Gesù è con i discepoli, che gli gli fanno domande e con cui fanno domande e con cui parla (17, 19; 20, 17; 24, 3). parla (9, 2; 9, 28; 13, 3).

17 Cf. Mussner (1987) 184: “A chi presenta Paolo il suo vangelo in Gerusalemme? Dapprima egli dice αὐτοῖς, con cui può intendersi soltanto la comunità cristiana di Gerusalemme; ma poi aggiunge: κατ’ι᾿δίαν δὲ τοῖς δοκοῦσιν. Poiché κατ’ι᾿δίαν ha il significato di ‘a sé, separatamente, privatamente’, l’Apostolo deve aver ‘presentato’ il suo evangelo due volte: prima all’assemblea della comunità e poi in una ‘seduta straordinaria’ dei δοκοῦντες, e, come dimostra il successivo testo della lettera, naturalmente questa seconda presentazione era per lui di particolare importanza, perché, in definitiva, ciò che contava era il parere dei δοκοῦντες”.

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Matteo

Marco Luca Gesù si allontana con i discepoli dalla folla e spiega loro le parabole (4, 34; 6, 31– 32). Gesù guarisce un sordomuto (7, 33). Gesù si rivolge in particolare ai discepoli con una beatitudine (10, 23).

Da questo prospetto, che non ha pretesa alcuna di esaustività, emerge chiaramente che il privato descritto nei Vangeli è un luogo e un tempo condiviso da Gesù e dai discepoli, dedicato alla spiegazione del messaggio, a una personale rivelazione e alle domande di comprensione dei discepoli. In un caso soltanto Gesù compie una guarigione, lontano dagli altri, e in un altro caso soltanto si ritira per pregare. Appare del tutto evidente, sulla scorta di questi dati evangelici e in particolare secondo la prospettiva dei sinottici, che il privato di Gesù e dei discepoli è comunitario, cioè condiviso con altri. Il dato è ancora più rilevante se si tiene presente, com’è ovvio, che i Vangeli sono legati a comunità differenti e come tali mettono in qualche modo in luce una comune comprensione del tempo privato in relazione a quello sociale.

3.

Interpretazioni patristiche

A questo punto vorrei analizzare le interpretazioni che di questi passaggi evangelici sono state proposte nelle comunità/chiese dei primi secoli. Per seguire tale via occorre interrogare i testi e contestualizzarli nel periodo e nel luogo storico e culturale di cui sono espressione. Non mi propongo in questa sede uno studio di storia dell’esegesi patristica dei passi selezionati in precedenza, ma un’analisi, ben circoscritta, solo di Mc. 4, 34 e di qualche altro passo affine, per mettere in evidenza da un lato l’interpretazione proposta e dall’altro le eventuali conseguenze sulla vita reale delle comunità.

3.1

Cartagine

Agli inizi del III secolo a Cartagine Tertulliano, da poco convertito, si trovava ad affrontare il problema degli eretici, per usare la terminologia dello scrittore, i quali diffondevano il loro insegnamento discordante da quello della Grande Chiesa. In altri termini la questione era questa: a chi spetta la retta interpretazione

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delle Scritture? Alla Grande Chiesa o agli eterodossi? E ancora: che cos’è la tradizione e in che rapporto sta con la trasmissione orale e con le Scritture? Tutte domande di rilevante importanza per la chiesa cartaginese, e non solo, rispetto alle quali Tertulliano fa ricorso a una serie di prescrizioni, cioè di obiezioni pregiudiziali, che hanno lo scopo di negare a priori e di fatto qualsiasi facoltà agli eretici, accusati di essere ben più recenti rispetto alla Grande Chiesa. In questo contesto il Cartaginese ricorre a Mc. 4, 34 per confutare l’obiezione degli avversari, per i quali o gli apostoli non conoscevano tutto oppure sapevano tutto, ma non hanno trasmesso integralmente quanto era stato rivelato loro dal Signore: Quis igitur integrae mentis credere potest aliquid eos ignorasse quos magistros Dominus dedit, indiuiduos habens in comitatu in discipulatu in conuictu, quibus obscura quaeque seorsum disserebat, illis dicens datum esse cognoscere arcana quae populo intellegere non liceret?18

Per la propria argomentazione Tertulliano accosta Mc. 4, 34 e Lc. 8, 10: il primo, come s’è detto, riferisce che Gesù in pubblico parlava in parabole, mentre in privato spiegava tutto (πάντα) ai suoi discepoli; il secondo riporta la dichiarazione di Gesù per cui ai discepoli era dato di conoscere i misteri (τὰ μυστήρια) del Regno di Dio, mentre agli altri erano riservate le parabole19. Si noti che Tertulliano usa obscura al posto di πάντα e rende μυστήρια con arcana; in altri termini ciò che Gesù spiegava ai discepoli era qualcosa di oscuro e arcano. È stato rilevato a proposito di Lc. 8, 10 (cf. anche Mt. 13, 11) che il Cartaginese ricorre a termini classici per tradurre μυστήρια, laddove le testimonianze dell’Afra hanno in generale sacramenta o mysterium20. Ora, se da un lato tale scelta si spiega chiaramente alla luce della consuetudine di Tertulliano di usare la parola mysterium come termine tecnico esclusivamente per i culti misterici21, dall’altro tale scelta mette in evidenza come Tertulliano ricorra a una terminologia che richiama quella delle scuole di filosofia, in cui il maestro chiarisce ai discepoli le nozioni oscure e li rende in grado di conoscere ciò che ad altri è precluso. L’insegnamento che Gesù riserva ai suoi in privato diventa pertanto un ulteriore elemento per rileggere il cristianesimo come una forma di filosofia, che tuttavia agli occhi del Cartaginese appare ben differente dalle filosofie pagane e anzi

18 Tert. praes. 22, 3 (ed. Refoulé, p. 203): “Chi, dunque, che sia sano di mente, può credere che abbiano ignorato qualcosa coloro che il Signore scelse come maestri degli uomini, tenendoli inseparabili come compagni, come discepoli, come familiari, ai quali spiegava, traendoli in disparte, ogni mistero, dicendo loro che ad essi era stato dato di conoscere quei misteri che il popolo non poteva comprendere?” (traduzione italiana di Claudio Moreschini). 19 Sui due versetti vd. Viljoen (2019). 20 Vd. Loi (1966) 42. 21 Vd. Lang (2015) 221.

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nettamente migliore22. A conferma di questa interpretazione tornano a distanza di vari anni le stesse parole di Tertulliano, il quale definisce i racconti relativi all’origine dell’uomo misteriosi, perché si leggono nei libri sacri dei cristiani, sconosciuti ai pagani23. Tuttavia, per cogliere a pieno il pensiero tertullianeo, occorre tenere presente, accanto alla polemica con i pagani, che fa da sfondo al passaggio precedente, anche quella antignostica, che, come s’è detto, nel passo appena esaminato rappresenta una componente fondamentale e che può essere meglio portata alla luce in confronto a un problema esegetico che Tertulliano dovette affrontare: il Signore parlò sempre in parabole, come affermavano gli gnostici, oppure no, come dimostrano i passi in cui si rivolge ai discepoli? Prendendo in considerazione alcuni passi evangelici vicini a quelli in cui Gesù parla in privato con i discepoli24, nel De carnis resurrectione Tertulliano, ormai montanista, conclude che Gesù parlava in parabole ai giudei, ma non parlava così a tutti e non parlava sempre in parabole: Ad euangelicum nunc prouoco, hic quoque occursurus prius eidem astutiae eorum, qui proinde et dominum omnia in parabolis pronuntiasse contendunt, quia scriptum sit: Haec omnia locutus est Iesus in parabolis et sine parabola non loquebatur ad illos, scilicet ad Iudaeos. Nam et discipuli: Quare, aiunt, in parabolis loqueris illis? Et dominus: Propterea in parabolis loquor ad eos, ut uidentes non uideant et audientes non audiant, secundum Esaiam. Quodsi ad Iudaeos in parabolis, iam non ad omnes; si ad omnes in parabolis, iam non semper nec omnia parabolae, sed quaedam, cum ad quosdam, ad quosdam autem, dum ad Iudaeos: nonnumquam plane et ad discipulos25. 22 Cf. Tert. apol. 46, 2 (ed. Dekkers, p. 160): Sed dum tamen unicuique manifestatur ueritas nostra, interim incredulitas, dum de bono sectae huius obducitur, quod usu iam et de commercio innotuit, non utique diuinum negotium existimat, sed magis philosophiae genus. Eadem, inquit, et philosophi monent atque profitentur, innocentiam, iustitiam, patientiam, sobrietatem, pudicitiam; pal. 4, 10 (ed. Turcan, p. 190): Eminuero, cum hanc primum sapientiam uestit quae uanissimis superstitionibus renuit, tunc certissime pallium super omnes exuuias et peplos augusta uestis, superque omnes apices et titulos sacerdos suggestus; 6, 2 (ed. Turcan, p. 224): Gaude pallium et exsulta: melior iam te philosophia dignata est, ex quo Christianum uestire coepisti. Vd. le note ad loc. in: Capone (2012) 407. 418. 23 Cf. Tert. pal. 3, 5 (ed. Turcan, p. 128): Sed arcana ista, nec omnium nosse; vd. Capone (2011) 287–291. 24 Cf. Mt. 13, 34 (cf. Mc. 4, 33–34); Mt. 13, 10. 13 (cf. Mc. 4, 10–12; Lc. 8, 9–10). In particolare Mt. 13, 10. 13 erano spesso citati dagli gnostici a favore della loro esegesi allegorizzante, come attesta Ireneo haer. 2, 27, 2. 25 Cf. Tert. res. 33, 1–3 (ed. Borleffs, p. 963): “Ti sfido ora al documento del Vangelo, anche qui dedicandomi a parare innanzitutto quella medesima loro astuzia, secondo la quale essi vogliono che il Signore abbia pronunziato ogni cosa per parabole, perché sta scritto: Tutte queste cose il Signore le disse in parabole, e senza parabole non parlava loro [evidentemente, ai giudei]. Infatti, anche i discepoli dicevano: Perché parli loro in parabole? E il Signore: Per questo motivo parlo loro in parabole, perché, vedendo, non vedano e, udendo, non odano, come aveva detto Isaia. Ché se Cristo parlava ai giudei in parabole, dunque non parlava a tutti in parabole; se non a tutti, allora non sempre, e non tutto è parabole, ma lo sono alcune, quando

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Tale conclusione è rilevante nella polemica contro gli gnostici, per i quali tutto il testo biblico poteva essere interpretato allegoricamente e Gesù aveva rivelato ai discepoli iniziati delle dottrine segrete, mentre si era limitato a narrare delle parabole a coloro che non lo avrebbero capito. Queste premesse, che attingevano da tradizioni antiche, non consentivano solo un’interpretazione alternativa delle Scritture, ma ponevano anche le basi per una o più chiese alternative. Agli inizi del III secolo a Cartagine, infatti, oltre alla presenza pagana e alla Grande Chiesa, solo per fare qualche esempio, erano attive le chiese marcionite, che, in netta contrapposizione al giudaismo, consideravano corrotta la tradizione del cristianesimo maggioritario e con le loro condotte suscitavano un certo fascino tra i pagani26; gli gnostici, con le scuole di Valentino e di Ermogene, che esercitavano una certa attrattiva tra i cristiani intellettualmente più esigenti; il movimento montanista, che offriva un modello carismatico, cui finì per aderire lo stesso Tertulliano; infine altri personaggi eterodossi come il monarchiano Prassea, che si fregiava del titolo di confessore della fede. Si tratta di un conglomerato di uomini e dottrine che avevano molteplici punti di contatto e di contrasto e che non erano semplicemente espressione di speculazioni teologiche raffinate o sofisticate, ma rappresentavano la concretizzazione di idee differenti di Chiesa, a partire da differenti interpretazioni del testo biblico. Ora, quando si parla di polemica e di esegesi nei primi secoli dell’era cristiana, è sempre opportuno tenere presente che non si tratta di disquisizioni tra dotti o dispute accademiche, ma che ogni polemica ebbe in tutti i casi fortissimi legami con la realtà quotidiana nella quale i cristiani erano calati27. Qualche esempio può essere utile a dimostrare la profonda varietà e i punti di vista differenti tra i cristiani alla fine del II e gli inizi del III secolo. Gli gnostici si consideravano sostanzialmente superiori alla materia e al mondo, verso il quale si professavano fondamentalmente indifferenti. Questo atteggiamento produceva di conseguenza una profonda contraddizione, per esempio, tra la condanna teorica dell’idolatria e della filosofia pagana, che coincideva quindi con la posizione della Grande Chiesa, ancorché su basi teologiche e antropologiche differenti, e l’accondiscendenza nella pratica, giustificata dalla superiorità dello gnostico rispetto al mondo materiale, che a tutti gli effetti era in opposizione con la pratica presente nella Grande Chiesa, come attesta Tertulliano a Cartagine28. Ancora, gli gnostici evitavano perlopiù il martirio, quando invece il Cartaginese esortava con forza i Cristo parla ad alcuni, e quando parla ad alcuni significa: quando parla ai giudei, talvolta, evidentemente, anche quando parla ai discepoli” (traduzione di Claudio Moreschini). Sul passo si vedano le note ad loc. in: Podolak (2004) 215–216. 26 Vd. Ehrman (2005) 137–149. 27 Per una prospettiva complessa nell’approccio alle polemiche nel cristianesimo antico vd. Capone (2019). 28 Vd. Frend (1954) e Fredouille (1980).

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cristiani a versare il proprio sangue, che ai suoi occhi era un seme da cui germogliavano i cristiani29. Tuttavia tale differenza appariva tutt’altro che netta agli occhi di un pagano che viveva a Cartagine in quel torno di anni: secondo la testimonianza di Tertulliano, gnostici e marcioniti avevano l’eucarestia e erano disponibili a darla anche ai gentili30; offrivano la pace a tutti senza distinzione31; tra di essi le donne insegnavano, compivano esorcismi e forse battezzavano; ancora nelle loro comunità erano previsti ministeri e ordinazioni transitori e anche ai laici si imponevano i doveri sacerdotali32. Ancora più evidente poteva apparire la confusione di un pagano di fronte al movimento montanista, cui lo stesso Tertulliano aderì, senza per questo smettere di sentirsi cristiano: animati dall’imminente ritorno del Signore e dalla discesa della Gerusalemme celeste, i montanisti erano promotori del digiuno rigoso, della rinuncia al matrimonio e del divieto di fuggire il martirio. In questo contesto variegato, di cui si è fornito solo qualche cenno, si presenta la posizione di Tertulliano che, tra gli altri passi evangelici, ricorre anche a quelli in cui si fa riferimento a quanto Gesù faceva nel privato, e non in pubblico, per presentare se stesso come filosofo e il suo cristianesimo come una forma di filosofia. Perché però la Grande Chiesa, di cui per un certo periodo il Cartaginese è stato rappresentante, non fosse considerata solo una tra le possibili chiese cristiane, Tertulliano ricorre, sulla scorta anche di Ireneo, ai concetti di tradizione e apostolicità, in base ai quali la regula fidei, il deposito dell’insegnamento di Cristo e dell’interpretazione delle Scritture, è affidata alla Chiesa ortodossa e non a quella eretica33, che invece rivela un conflitto tra individuo e comunità, alla quale

29 Cf. Tert. apol. 50, 13 (ed. Dekkers, p. 171): Nec quicquam tamen proficit exquisitior quaeque crudelitas uestra: illecebra est magis sectae. Etiam plures efficimur, quotiens metimur a uobis: semen est sanguis Christianorum! 30 Cf. Tert. praes. 41, 2 (ed. Refoulé, p. 221): Inprimis quis catechumenus, quis fidelis incertum est, pariter adeunt, pariter audiunt, pariter orant; etiam ethnici si superuenerint, sanctum canibus et porcis margaritas, licet non ueras, iactabunt. Vd. Denzey Lewis (2017) 91. 31 Cf. Tert. praes. 41, 3 (ed. Refoulé, p. 221): Simplicitatem uolunt esse prostrationem disciplinae cuius penes nos curam lenocinium uocant. Pacem quoque passim cum omnibus miscent. Vd. Gramaglia (1984) 234. 32 Cf. Tert. praes. 41, 5–8 (ed. Refoulé, p. 221–222): Ipsae mulieres haereticae, quam procaces! quae audeant docere, contendere, exorcismos agere, curationes repromittere, fortasse an et tingere. Ordinationes eorum temerariae, leues, inconstantes. Nunc neophytos conlocant, nunc saeculo obstrictos, nunc apostatas nostros ut gloria eos obligent quia ueritate non possunt. Nusquam facilius proficitur quam in castris rebellium ubi ipsum esse illic promereri est. Itaque alius hodie episcopus, cras alius; hodie diaconus qui cras lector; hodie presbyter qui cras laicus. Nam et laicis sacerdotalia munera iniungunt. Vd. Blackman (1948) 5–6; Munier (1969); Vilela (1971) 245–246; Schmid (2007) 446–447 e Nordeval (2011) 964–965. 33 Vd. Kelly (1972) 50–58.

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Tertulliano contrappone l’organizzazione e l’ordine della Grande Chiesa: è solo l’integrazione nella comunità ecclesiastica che consente di raggiungere la verità34. Pur tenendo conto della scarsità di documentazione in nostro possesso, appare tuttavia chiaro che l’insegnamento esposto in privato da Gesù ai discepoli rappresentava per Tertulliano un dato problematico, come emerge anche dai pochi cenni a questo aspetto, e che la risposta da lui elaborata è in certo senso “concorrente” e non definitiva rispetto alle interpretazioni degli altri gruppi e delle chiese che pure si ispiravano al testo biblico. Possiamo dunque affermare che il tempo privato di Gesù, cui i Vangeli accennano, rimane un problema aperto per l’interpretazione del testo biblico e in ultima analisi per il tempo sociale dei cristiani cartaginesi agli inizi del III secolo.

3.2

Alessandria-Cesarea di Palestina

A distanza di pochi decenni dai testi tertullianei appena ricordati, Origene, ormai trasferitosi da Alessandria a Cesarea, dedica ampio spazio all’interpretazione di Mc. 4, 34 nel Commento a Matteo, composto intorno al 249. L’Alessandrino sta commentando la parabola del debitore spietato, che, una volta ottenuto il condono dei suoi debiti, si rivale su un suo compagno insolvente. Per Origene il passo non è di facile interpretazione e per questo osserva che ὡς μὲν οὖν [ἐπ’] ἀληθείας ἔχει τὰ πράγματα, ἀποφαίνομαι μηδένα διηγήσασθαι ει᾿ μὴ Ἰησοῦ, τοῦ “τοῖς ι᾿δίοις μαθηταῖς κατ’ι᾿δίαν” λύσαντος “πάντα”, ἐπιδημήσαντος αὐτοῦ τῷ ἡγεμονικῷ καὶ ἀνοίγοντος τοὺς ἐν τῇ παραβολῇ θησαυροὺς πάντας σκοτεινούς, ἀποκρύφους, ἀοράτους καὶ πληροφοροῦντος δι’ἐναργῶν ἀποδείξεων ὃν βούλεται φωτίσαι τῷ φωτὶ τῆς γνώσεως τῶν κατὰ τὴν παραβολὴν ταύτην, ἵν’ἅμα τε παραστήσῃ τίς ὁ εἷς προσαχθεὶς τῷ β α σ ι λ ε ῖ ἀ ν θ ρ ώ π ῳ ὀ φ ε ι λ έ τ η ς π ο λ λ ῶ ν τ α λ ά ν τ ω ν καὶ τὰ ἑξῆς, καὶ ὁ ὀφείλων τούτῳ τὰ ἑ κ α τ ὸ ν δ η ν ά ρ ι α ἄλλος εἷς καὶ τὰ λοιπά, εἴτε δύναται εἶναι ὁ προαποδεδομένος “ἄνθρωπος τῆς ἁμαρτίας” εἴτε καὶ ὁ διάβολος εἴτε μηδέτερος μὲν τούτων, ἄλλος δέ τις ἤτοι ἄνθρωπος ἢ τῶν ὑπὸ τὸν διάβολόν τις. ἔστι γὰρ τῆς σοφίας τοῦ θεοῦ ἔργον καὶ τὰ περὶ τῶν ᾿ιδίως ποιῶν ἤτοι πεποιωμένων κατὰ τὰς τοιάσδε ποιότητας (εἴτε ἐν ἀοράτοις δυνάμεσιν, εἴτε καὶ ἔν τισιν ἀνθρώποις) ἀπο δοῦναι προφητευόμενα ὁπωσποτοῦν ὑπὸ τοῦ θείου πνεύματος ἀναγεγραμμένα. ὡς δὲ μηδέπω διαρκῆ νοῦν ἀναλαβόντες ἡμεῖς τὸν δυνάμενον ἀνακραθῆναι τῷ Χριστοῦ νῷ ἕως τῶν τοσούτων χωροῦντα φθάνειν καὶ μετὰ τοῦ πνεύματος “πάντα” ἐρευνᾶν “καὶ τὰ βάθη τοῦ θεοῦ”, οι᾿όμεθα, ἔτι ἀορίστως περὶ τῶν κατὰ τὸν τόπον λαμβάνοντες φαντασίαν, ἐπί τινα ἕνα ἀναφέρεσθαι πονηρὸν δοῦλον διὰ τῆς παραβολῆς δηλούμενον τὸν ἐνταῦθα παριστάμενον περὶ τῆς τῶν π ο λ λ ῶ ν τ α λ ά ν τ ω ν ὀφειλῆς35. 34 Vd. Chapot (2009) 228. 35 Orig. comm. Mt. 14, 11 (ed. Klostermann, p. 302–303): “Quale dunque sia il vero senso di questi fatti, riconosco che nessuno potrebbe spiegarlo, se Gesù, che, in privato, ai suoi discepoli spiega ogni cosa, non prende dimora nella loro mente, dischiude tutti i tesori oscuri, nascosti e invisibili delle parabole e offre certezza, con chiare indicazioni, a chi vuole illuminare con la

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Il passo presenta molti punti interessanti, tra i quali, nello specifico, quello relativo all’interpretazione del primo debitore, che avrebbe potuto saldare il debito vendendo il proprio patrimonio, ma divenendo così schiavo dell’eventuale compratore: qui si pone la difficoltà dell’esegeta, che, interpretando il debitore con il diavolo, non si spiega facilmente come possa rimanere nella casa del Figlio, che è il re nella parabola36. Tuttavia proprio le ultime parole del testo origeniano aprono uno spiraglio sul contesto polemico nel quale l’interpretazione origeniana si pone: il fatto che il debitore debba essere identificato con un solo essere, lascia capire che vi era almeno un’altra interpretazione che al debitore riconduceva una pluralità di esseri demoniaci e che deve essere ricondotta all’ambito gnostico37. Tuttavia, ciò che interessa di più in questa sede, è quanto Origene afferma sulla scorta di Mc. 4, 34: non si può giungere alla vera interpretazione del passo se Gesù non prende dimora nella mente dell’esegeta e non gli dischiude i segreti presenti nelle parabole, così come aveva fatto con i discepoli. Origene qui si pone sullo stesso piano dei discepoli, ma non alla stessa altezza, cioè alla stessa profondità di comprensione del testo biblico, perché la sua mente, come dichiara egli stesso, non è ancora impregnata del pensiero di Cristo e non può pertanto che pervenire solo a un’ipotesi interpretativa. Ci troviamo pertanto di fronte alla permanenza del tempo privato, qui espresso nei termini della relazione personale con il Signore, il quale una volta ai discepoli aveva spiegato il senso vero delle parabole e ora prende la stessa iniziativa nei confronti dell’esegeta che però non è ancora pronto a cogliere completamente la rivelazione divina. Osserviamo pertanto che di fronte all’arbitrarietà dell’interpretazione gnostica, Origene non oppone i baluardi della tradizione e dell’apostolicità, così come aveva fatto Tertulliano sulla scia di Ireneo e dell’esegesi asiatica, ma presenta l’impegno nella ricerca e la propria disponibilità ad accogliere l’iniziativa della sapienza di Dio che spiega quanto è stato scritto dallo Spirito. L’esperienza privata di Origene, in quanto esegeta cristiano, è in continuità con quella di luce della conoscenza di questa parabola, per fargli capire al tempo stesso chi sia il servo condotto dal re, debitore di molti talenti, eccetera, e chi sia l’altro, debitore di cento denari, con tutto il resto, sia che quello riferito in precedenza possa essere o l’uomo iniquo, o il diavolo, o nessuno dei due, bensì qualcun altro, o essere umano o uno tra gli esseri sottomessi al diavolo. È infatti iniziativa della sapienza di Dio esporre quel che è stato profetizzato in qualsivoglia modo e scritto dallo Spirito divino riguardo alle singole qualità e agli atti compiuti a seconda di queste (sia tra potenze invisibili che tra esseri umani). Ma siccome non abbiamo ricevuto una mente idonea, capace di impregnarsi del pensiero di Cristo, di penetrare così grandi realtà, e con lo Spirito scrutare ogni cosa, anche le profondità di Dio, crediamo che sul senso di questo passo ci possiamo fare appena una vaga idea: il servo malvagio di cui parla la parabola, qui presentato per il debito di parecchi talenti, si riferisce a un solo essere” (traduzione di Rosario Scognamiglio). 36 Vd. Scognamiglio (2009) 46–48. Sull’interpretazione del re della parabola come il Figlio di Dio vd. Pennacchio (2011) 293. 37 Vd. Monaci Castagno (2000a) e Scognamiglio (2009) 51–52.

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Gesù e dei discepoli con esiti sociali che però non diventano assoluti e impositivi, come appare evidente dal prosieguo dell’interpretazione proposta dall’Alessandrino per la stessa parabola: ἁπαξαπλῶς δὲ χρὴ φρονεῖν περὶ πάσης παραβολῆς, ἧς μὴ ἀναγέγραπται ἡ διήγησις ὑπὸ τῶν εὐαγγελιστῶν, ὅτι καὶ Ἰησοῦς “τοῖς ᾿ιδίοις μαθηταῖς κατ’ι᾿δίαν ἐπέλυε πάντα” καὶ διὰ τοῦτο ἀπέκρυψαν οἱ τὰ εὐαγγέλια γράφοντες τὴν σαφήνειαν τῶν παραβολῶν, ἐπεὶ μείζονα ἦν τὰ κατ’αὐτὰς δηλούμενα τῆς τῶν γραμμάτων φύσεως, καὶ ἦν γε ἑκάστη λύσις καὶ ἡ σαφήνεια τῶν τοιούτων παραβολῶν τοιαύτη, ὡς μηδὲ αὐτὸν “τὸν κόσμον χωρεῖν τὰ γραφόμενα” ει᾿ς τὰς τοιαύτας παραβολὰς “βιβλία”. γένοιτο δ’ἀνευρεθῆναι καρδίαν ἐπιτηδείαν καὶ διὰ τὴν καθαρότητα χωροῦσαν τὰ γράμματα τῆς σαφηνείας τῶν παραβολῶν, ὥστε ἐν αὐτῇ γραφῆναι “πνεύματι θεοῦ ζῶντος”. ἀλλ’ ἐρεῖ τις ὅτι μήποτε ἀσεβοῦμεν οἱ θέλοντες (διὰ τὸ ἀπόρρητόν τινων καὶ μυστικὸν) τῶν ὑπεράνω γραμμάτων εἶναι δηλωτικὰ ταῦτα πειρώμενοι ταῦτα σαφηνίσαι, κἂν δοκῇ καθ’ὑπόθεσιν, ὅτι ἔγνωμεν ἐπιμελῶς αὐτῶν τὸ βούλημα. λεκτέον δὲ καὶ πρὸς τοῦτο ὅτι οἱ μὲν ἀκριβῶς ει᾿ληφότες αὐτὰ νοεῖν οἴδασι τὸ πρακτέον αὐτοῖς, ἡμεῖς δὲ οἱ ὁμολογοῦντες ἀπολείπεσθαι τοῦ δυνηθῆναι ἐπὶ τὸ βάθος φθάσαι τῶν δηλουμένων ἐν τούτοις, ει᾿ καί τινα βραχυτέραν περίνοιαν ἐπὶ ποσὸν λαμβάνομεν τῶν κατὰ τὸν τόπον, φήσομεν ὅτι τινὰ μὲν ὧν ἐκ πολλῆς βασάνου καὶ ζητήσεως εὑρίσκειν δοκοῦμεν, εἴτε χάριτι θεοῦ εἴτε δυνάμει τοῦ ἐν ἡμῖν νοῦ, οὐ τολμῶμεν ἐμπιστεῦσαι γράμμασι, τινὰ δὲ γυμνασίας ἡμετέρας καὶ τῆς τῶν ἐντευξομένων χάριν ἐπὶ ποσὸν ἐκτιθέμεθα. Ἀλλὰ ταῦτα μὲν ἀπολελογήσθω διὰ τὸ τῆς παραβολῆς βάθος· πρὸς δὲ τὸ πότε ἠθέλησεν ὁ τῆς παραβολῆς βασιλεὺς ἄνθρωπος συνᾶραι λόγον μετὰ τῶν δούλων αὐτοῦ, φήσομεν ὅτι ἔοικεν περὶ τὸν κεκηρυγμένον τῆς κρίσεως καιρὸν τὸ τοιοῦτο γίνεσθαι38.

È uno dei passi che ci riporta con delicatezza nel laboratorio esegetico di Origene, in cui vanno di pari passo il cammino spirituale e il progresso conoscitivo, che culminano nell’auspicio che si possa trovare un cuore idoneo e capace di accogliere la spiegazione delle parabole: il senso del mistero della parola divina rimane per Origene profondissimo e superiore alle forze umane, quale che sia il grado di 38 Orig. comm. Mt. 14, 12 (ed. Klostermann, p. 304–305): “Ma così bisogna pensare generalmente di qualsiasi parabola, la cui interpretazione non è stata riportata dagli evangelisti, che Gesù spiegava ogni cosa ai propri discepoli in disparte, e i redattori dei Vangeli tennero nascosta la chiara spiegazione delle parabole per questa ragione, perché le cose significate da esse superavano la natura delle parole, e ciascuna spiegazione e chiarificazione di tali parabole era tale che neppure il mondo avrebbe potuto contenere i libri scritti riguardo a queste parabole. Ma si potrebbe anche trovare un cuore idoneo e capace, per la sua purezza, dell’intelligenza letterale della spiegazione delle parabole, in modo che venga scritta in essa nello Spirito del Dio vivente. Qualcuno obietterà: potremo commettere un’empietà se (a motivo del carattere segreto e misterioso di alcune realtà), intendiamo che questo testo indichi cose superiori al senso letterale, e poi ci troviamo a spiegarlo, anche se, per ipotesi, ci sembrasse di averne esattamente conosciuto l’intenzione. All’obiezione è da rispondere: coloro che hanno ricevuto la capacità di capire esattamente ciò, sanno che cosa fare; quanto a noi, riconosciamo di essere ben lungi da potere giungere al senso profondo di questi testi, anche se, in certa misura, otteniamo una conoscenza globale più modesta del senso di questo passo; asseriamo che alcune di quelle cose che a mezzo di molta indagine e ricerca ci sembra di scoprire, sia per grazia di Dio sia per virtù del nostro intelletto, non osiamo consegnarle allo scritto; mentre altre le proporremo in qualche misura, per esercitazione nostra e dei nostri lettori”.

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perfezionamento spirituale e del progresso conoscitivo dell’esegeta39! Si coglie in questo passaggio la ricerca della verità che ha accompagnato Origene in tutta la sua vita e che fa i conti con le domande, con la fatica dello spirito e la coscienza che le Scritture sono oscure40. Nonostante tanta cautela, Origene tuttavia sente anche il bisogno di difendersi dall’accusa di commettere un’empietà, presumendo di aver conosciuto esattamente l’intenzione del testo evangelico. La risposta a tale obiezione è molto interessante perché da un lato Origene si considera ben lontano dal raggiungere una conoscenza profonda delle parole divine e dall’altro distingue tra ciò che non può essere messo per iscritto e ciò che viene proposto per esercitazione dell’esegeta e dei lettori. In questo senso si può apprezzare una delle caratteristiche della ratio ermeneutica origeniana che consiste nella “dimensione gymnastica”, cioè nel porre in evidenza il problema presente nel testo biblico e nel proporre una o più soluzioni aperte a mo’ di esercizio e quindi non definitive: nel caso in questione, legittimato dal silenzio di Gesù e degli evangelisti in riferimento al tempo della resa dei conti tra re e servi, Origene afferma di avere in mente una possibile soluzione interpretativa, che però ritiene opportuno non scrivere, perché correrebbe il serio rischio di essere frainteso41. Torna pertanto in questo frangente la distinzione tra tempo privato e tempo sociale che affonda le radici nell’esperienza gesuana. Qui, sull’esempio di Cristo, Origene sente ed esprime tutta la responsabilità del maestro42, che nella chiesa ha il compito di predicare, di dire ciò che la folla può udire e di essere attento a non danneggiare chi ascolta43. Ora, se questi aspetti sono ben noti e tornano con costanza nella produzione omiletica origeniana, qui però l’esegeta fa riferimento a ciò che è opportuno o meno affidare alla scrittura. Il passaggio appare più chiaro, se messo in relazione con un altro del Contro Celso, scritto pressoché contemporaneamente al Commento a Matteo, in cui Origene polemizza con l’avversario pagano, che ha citato a sostegno della propria argomentazione un passo di Platone: Ἐπεὶ δὲ καὶ ἄλλην λέξιν οὕτως ἔχουσαν ἐκτίθεται ἀπὸ τῆς Πλάτωνος ἐπιστολῆς ὁ Κέλσος· “Ει᾿ δέ μοι ἐφαίνετο γραπτέα τε ἱκανῶς εἶναι πρὸς τοὺς πολλοὺς καὶ ῥητά, τί κάλλιον ἐπέπρακτο ἂν ἡμῖν ἐν τῷ βίῳ ἢ τοῖς τε ἀνθρώποις μέγα ὄφελος γράψαι καὶ τὴν φύσιν ει᾿ς φῶς τοῖς πᾶσι προαγαγεῖν;” φέρε καὶ περὶ τούτου βραχέα διαλεχθῶμεν, πότερον μὲν εἶχέ τι Πλάτων σεμνότερον ὧν ἔγραψε καὶ θειότερον ὧν κατέλιπεν ἢ μή, καταλιπόντες ἑκάστῳ ἐξετάζειν κατὰ 39 Vd. Perrone (2011) 333, che intende diversamente: “Ma avvenga di trovare un cuore idoneo e capace, per la sua purezza, dell’intelligenza letterale della spiegazione delle parabole …”. 40 Vd. le note ad loc.: Bendinelli (2015) 108–109. 41 Cf. Bendinelli (1997) 151–152. 42 Vd. Scognamiglio (2009) 38–41. 43 Vd. Monaci Castagno (1987) 65–71.

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τὸ δυνατόν, δεικνύντες ὅτι καὶ οἱ καθ’ἡμᾶς προφῆται ἐφρόνουν τινὰ μείζονα γραμμάτων, ἅπερ οὐκ ἔγραψαν. Ὁ μὲν γὰρ Ἰεζεκιὴλ κεφαλίδα λαμβάνει “βιβλίου”, γεγραμμένην “ἔμπροσθεν” καὶ ὄπισθεν, ἐν ᾗ “θρῆνος” ἦν “καὶ μέλος καὶ οὐαί”, καὶ προστάξαντος αὐτῷ τοῦ λόγου κατεσθίει τὴν βίβλον, ἵν’αὐτὴν μὴ γράψῃ καὶ προδῷ ἀναξίοις καὶ ὁ Ἰωάννης δὲ τὸ παραπλήσιον ἀναγέγραπται ἑωρακέναι καὶ πεποιηκέναι· ἀλλὰ καὶ ὁ Παῦλος “ἤκουσεν ἄρρητα ῥήματα, ἃ οὐκ ἐξὸν ἀνθρώπῳ λαλῆσαι”. Ὁ δὲ πάντων τούτων κρείσσων Ἰησοῦς ὅτι μὲν “ἐλάλει” τὸν τοῦ θεοῦ λόγον “τοῖς μαθηταῖς” “κατ’ι᾿δίαν” καὶ μάλιστα ἐν ταῖς ἀναχωρήσεσιν εἴρηται, τίνα δ’ἦν ἃ ἔλεγεν, οὐκ ἀναγέγραπται. Οὐ γὰρ “ἐφαίνετο” αὐτοῖς “γραπτέα ἱκανῶς εἶναι” ταῦτα “πρὸς τοὺς πολλοὺς” οὐδὲ “ῥητά”. Καί, ει᾿ μὴ φορτικὸν ει᾿πεῖν περὶ τῶν τηλικούτων ἀνδρῶν τὸ ἀληθές, φημὶ ὅτι μᾶλλον Πλάτωνος οὗτοι ἑώρων ἀφ’ ὧν ἐλάμβανον χάριτι θεοῦ νοημάτων, τίνα μὲν τὰ “γραπτέα” καὶ πῶς “γραπτέα” τίνα δὲ οὐδαμῶς “γραπτέα” ει᾿ς “τοὺς πολλούς”, καὶ τίνα μὲν “ῥητὰ” τίνα δὲ οὐ τοιαῦτα. Πάλιν τε αὖ ὁ Ἰωάννης, διδάσκων ἡμᾶς γραπτέων καὶ οὐ γραπτέων διαφοράν, ἑπτὰ βροντῶν φησιν ἀκηκοέναι περί τινων διδασκουσῶν αὐτὸν καὶ ἀπαγορευουσῶν γραφῇ παραδοῦναι τοὺς λόγους αὐτῶν44.

I punti di contatto tra i due passi sono evidenti, ancorché finora mi sembra che non siano stati messi adeguatamente in collegamento. In entrambi Origine fa riferimento all’opportunità di affidare o meno alla scrittura delle conoscenze o delle interpretazioni e in entrambi cita chiaramente Mc. 4, 34. In questo senso il passaggio del Contro Celso, che deve essere inserito nella più ampia discussione apologetica sull’antichità delle Scritture rispetto ai testi della classicità pagana45, fornisce una chiave di lettura per la scelta, espressa da Origene nel Commento a Matteo, di non mettere per iscritto alcune sue interpretazioni troppo ardite e 44 Orig. Cels. 6, 6 (ed. Borret, p. 190–192): “Dal momento poi che Celso cita anche quest’altro passo tratto dalla Lettera di Platone: ‘Se mi fosse parso che queste cose si dovessero scrivere ed esprimere in maniera adatta alla massa, che cosa avremmo compiuto di più bello nella vita, se non scrivere qualcosa di molto utile per gli uomini e portarne la natura alla luce per tutti?’, discorriamo un po’ anche di questo, lasciando a ciascuno la possibilità di esaminare, per quanto possibile, se Platone possedeva o no qualcosa di più venerabile di quelle cose che ha scritto e di più divino di quelle che ha lasciato; mostriamo invece che anche i nostri profeti concepivano certi pensieri superiori ai loro scritti, che essi non hanno riportato. Infatti Ezechiele prende ‘un rotolo di un libro’, scritto ‘all’interno’ e all’esterno, nel quale si trovavano ‘lamentazioni’, ‘pianti e guai’ e, dal momento che il Logos glielo ha ordinato, egli divora il libro, per non scriverlo e tramandarlo agli indegni. Ed è stato riferito che anche Giovanni vide e fece qualcosa del genere. Ma anche Paolo ‘ascoltò parole indicibili, che a un uomo non era possibile esprimere’. Di Gesù invece, superiore a tutti questi, si dice che ‘esponeva’ la dottrina di Dio ‘ai discepoli in private’ e soprattutto nei luoghi di ritiro, ma le cose che diceva non sono state riportate per iscritto. Infatti, ‘non pareva’ loro che queste cose ‘si dovessero scrivere’, né ‘esprimere in maniera adatta alla gente’. E, se non è opportuno dire la verità su siffatti uomini, io affermo che costoro, grazie ai pensieri che ricevevano per grazia di Dio, vedevano più di Platone quali cose ‘si dovevano scrivere’ e in che modo ‘si dovevano scrivere’ e quali invece non ‘si potevano in nessun modo scrivere per le masse’, quali ‘si potevano esprimere’ e quali invece non si potevano. Ancora poi Giovanni, insegnandoci la differenza tra quello che doveva essere scritto e quello che non doveva essere scritto, dice di aver udito sette tuoni, che gli davano insegnamenti su certe cose e che gli impedivano di tramandare per iscritto le loro parole” (traduzione di Pietro Ressa). 45 Vd. Cacciari (2003) 535.

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perciò a rischio di fraintendimento, e offre anche un ventaglio di luoghi biblici, tra cui Mc. 4, 34, che dimostrano come la scelta origeniana sia del tutto in linea con la tradizione dei profeti, di Gesù, degli evangelisti e degli apostoli. Nel passo del Commento a Matteo in esame si fondono dunque una pluralità di motivi polemici: quello antipagano, che nel Contro Censo è espresso con maggiori dettagli; quello antignostico, che prende di mira l’arbitrarietà dell’esegesi degli avversari; e quello antiletteralista e antigiudaico, che contesta quanti si limitano al senso letterale delle Scritture. Ricordiamo ancora che a Cesarea Origene aveva fondato una scuola, in cui insegnava come interpretare le Scritture, e che il Contro Celso gli era stato espressamente richiesto dall’amico e patrono Ambrogio46, il quale si era convertito proprio grazie a Origene all’ortodossia dalla gnosi valentiniana. In questo contesto appare molto interessante una notizia riportata da Gerolamo, secondo il quale Origene, scrivendo a Fabiano, vescovo di Roma, si dichiara pentito di aver scritto delle pagine e accusa Ambrogio di aver diffuso scritti che erano privati47. Per quanto non siamo in grado di definire precisamente quale sia l’accusa da cui Origene tenta di difendersi rispetto a Fabiano e che cosa significhi che uno scritto privato era stato diffuso in pubblico da Ambrogio, possiamo però constatare che la reticenza che l’Alessandrino dimostra rispetto all’opportunità o meno di mettere per iscritto alcune sue interpretazioni è tutt’altro che solo retorica o filosofica, ma che è l’espressione di problemi reali, la conseguenza della pratica esegetica dell’autore, il quale, cosciente dell’innovatività della propria posizione, trova un riscontro e un’esemplificazione nella tradizione dei personaggi biblici, nella cui scia si sente profondamente inserito48. In questo senso appare evidente che la sapienza nascosta che Origene intende raggiungere, a differenza di quella degli gnostici,

46 Sui rapporti tra i due vd. Monaci Castagno (2003) 165–193. 47 Cf. Hier. epist. 84, 10: Ipse Origenes in epistula, quam scribit ad Fabianum, Romanae urbis episcopum, paenitentiam agit, cur talia scripserit, et causas temeritatis in Ambrosium refert, quod secreto edita in publicum protulerit. Vd. Nautin (1961) 250–253. 48 Cf. Orig. hom. Lev. 4, 6 (ed. Baehrens, p. 325): Ipse autem pontificum pontifex et sacerdotum sacerdos Dominus et Salvator noster, de quo dicit Apostolus quia pontifex sit futurorum bonorum, audi, quomodo primus haec fecerit et ita discipulis suis haec imitanda reliquerit. Evangelium refert de eo et dicit quia: in parabolis loquebatur ad turbas, et sine parabolis non loquebatur iis, seorsum autem solvebat ea discipulis suis. Vides quomodo ipse docuit aliis indumentis uti debere pontificem, cum procedit ad turbas, aliis, cum eruditis et perfectis ministrat in sanctis. Unde optandum nobis est et agendum, ne tales nos inveniat Iesus, ita imparatos et ita saeculi sollicitudinibus alligatos, ut cum turbis loquatur nobis in parabolis, ut videntes non videamus et audientes non audiamus; sed potius inter eos inveniri mereamur, ad quos dicit: vobis datum est nosse mysteria regni Dei. Cf. anche Orig. fragm. in Luc. 16, 9, 45 (ed. Rauer, p. 245); fragm. Ioh. 106 (ed. Preuschen, p. 562); hom. Is. 9, 1 (ed. Baehrens, p. 289).

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non consiste nella tradizione di un corpus di dottrine, ma nella condivisione di uno stile di vita, di una strumentazione culturale, di un metodo di investigazione della Scrittura, dei risultati provvisori delle proprie ricerche secondo un modello che Origene trova descritto in un passo celeberrimo dell’Ep 7 di Platone49,

ritradotto e ricompreso nella propria esperienza personale.

4.

Conclusioni provvisorie

Nelle pagine precedenti ho preso in considerazione i passi evangelici in cui si accenna al tempo privato di Gesù e ho scelto in particolare uno di questi (Mc. 4, 34) come filo conduttore per coglierne l’interpretazione in due autori (Tertulliano e Origene) operanti nello stesso cinquantennio in due contesti differenti (Cartagine e Alessandria-Cesarea), ma accomunati da problematiche e sollecitazioni non dissimili. L’analisi ha dimostrato come l’interpretazione del versetto, assunto come esempio, e del tempo privato di Gesù sia apparsa problematica agli occhi dei due autori e più in generale delle comunità in cui erano inseriti. Entrambi, spinti dalle esigenze polemiche e dal contesto nel quale operavano, sono pervenuti a posizioni che mi sembra non si possano identificare né tra loro né in senso stretto con quelle della Grande Chiesa: per Tertulliano il tempo privato di Gesù rappresenta uno dei punti di ancoraggio per definire il cristianesimo con una forma di filosofia e per ammettere un’interpretazione letterale delle Scritture, confacente con il proprio spirito rigorista; per Origene rappresenta un’esperienza personale e attuale che è strettamente legata alla propria pratica esegetica e grazie alla quale prende coscienza del fatto che non tutte le interpretazioni del testo biblico, pur verosimili, possono tuttavia essere comunicate indiscriminatamente. In entrambi è comunque assente l’idea che il privato sia il tempo in cui tenere nascoste conoscenze e dottrine riservate a pochi eletti, così come propagandato dalle scuole gnostiche. Tertulliano, Origene e i loro rispettivi luoghi di azione ci restituiscono pertanto un’interpretazione del tempo privato di matrice evangelica che non può essere facilmente uniformata, che attinge dalla tradizione, cui congiunge forti elementi di novità legati alla vita concreta delle comunità, e che nella realtà dei fatti richiedeva una risposta personale e quindi alternativa, in cui i confini tra ciò che si definisce ortodosso ed eterodosso appaiono molto labili. La nozione di tempo privato, fin qui indagata prevalentemente sotto l’aspetto esegetico, si connette di necessità nella realtà storica con la dimensione più ampiamente comunitaria ovvero cittadina nella quale i cristiani erano attivi: il cristianesimo non fu, se non tardivamente, una religione civica e, sviluppandosi 49 Monaci Castagno (2000b) 146.

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nell’ambito del privato, fece gradualmente cadere la distinzione tra tempo profano e tempo sacro su cui si basava il mondo pagano, nel senso che il tempo cristiano divenne funzionale, ma non sacro, e non determinante della società civile50. In altri termini, la collocazione in un tempo privato del culto, che, come s’è visto nelle pagine precedenti, trovava giustificazione su base scritturistica, suscitò problemi in seno alle comunità cristiane e in relazione alle città, giacché chi non partecipava al culto ufficiale e costitutivo, preferendo un culto privato con tempi e modalità proprie, veniva percepito come pericoloso e sovversivo51.

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Giulio Navarra

Unde malum? Die „Frage nach dem Bösen“ in der falsafa, in der arabischen Patristik und in der islamischen Theologie

Abstract The contribution aims to trace the elements of continuity and peculiarities on „theodicy“ in the Arabic philosophical and theological thought of the 9th and 10th centuries. The origins of the three major cultural movements of the Abbasid time, i. e. Graeco-Arabic translation movement with the nascent falsafa, Christian patristic and Islamic kala¯m, are examined in the light of three different reflections: the treatise On the Governments of the Celestial Spheres from the well-known circle of al-Kindı¯, attributed to the Aristotelian commentator Alexander of Aphrodisias (2nd – 3rd centuries AD); the treatise On Freedom of the melkite bishop of Harra¯n, Theodore Abu¯ Qurrah; and the famous „dilemma of the three brothers“ ˙ attributed to the theologian Abu¯ l-Hasan al-Asˇʿarı¯. ˙

1.

Einleitung

Dieser Beitrag1 betrifft die sogenannte „Frage nach dem Bösen“, mit der die Themen göttliches Vorwissen und menschlicher freier Wille verbunden sind. Ich stelle für diese eng vereinten Themen drei verschiedene Lösungen vor, die im Mittelalter in der arabischsprachigen Welt vorgeschlagen wurden. Die erste Lösung kommt aus dem Milieu von al-Kindı¯2, also aus der griechisch-arabischen Tradition, das heißt: aus der Rezeption übersetzter griechischer Werke in der arabisch-islamischen Welt (zwischen dem 8. und 10. Jahrhundert in Bagdad) – aus der die sogenannte falsafa entstand3. Der zweite Vorschlag wird von Abu¯ Qurra formuliert, dem größten Vertreter der christlichen arabischen Patristik. 1 Ich bedanke mich bei den Organisatoren der Veranstaltung, insbesondere bei Prof. Alessandro Capone und Prof. Alessandra Beccarisi für diese großartige Gelegenheit. Sehr dankbar bin ich Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas Speer, der den vorliegenden Text gelesen und mir einige wichtige Anregungen gegeben hat, Dr. Diana Di Segni für die Vorschläge, die sie mir gegeben hat, und Dr. Giovanni Mandolino für seine wertvollen bibliographischen Hinweise. Natürlich bin ich für alle Fehler und Ungenauigkeiten allein verantwortlich. 2 Vgl. Endreß (1997). 3 Für einen Überblick vgl. Gutas (1998); Adamson – Taylor (2005) 1–31, sowie Endreß (1992).

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Die dritte Antwort stammt aus der islamischen spekulativen Theologie und ist die von al-Aschʿarı¯, der als der größte sunnitische Systematiker gilt. Jede der vorgeschlagenen Lösungen repräsentiert eine der wichtigsten kulturellen Bewegungen des arabischen mittelalterlichen Denkens und stammt ungefähr aus der gleichen Periode, nämlich zwischen dem Ende des 9. und dem Beginn des 10. Jahrhunderts nach Christus, mithin der Mitte der Abbasidenzeit. Insbesondere fokussiert sich mein Beitrag auf: (a) die arabische Übersetzung eines kosmologischen Werkes, das dem Aristoteliker Alexander von Aphrodisias zugeschrieben wird und den Titel Über die Regierungen der himmlischen Sphären trägt (etwa aus der Mitte des 9. Jahrhunderts)4; (b) die Abhandlung des melchitischen Bischofs von Harra¯n, Theodor Abu¯ Qurra, mit dem Titel Über die ˙ Willensfreiheit (aus dem frühen 9. Jahrhundert)5 und (c) das „Dilemma der drei Brüder“, das der muslimische Theologe Abu¯ l-Hasan al-Aschʿarı¯ (Anfang des ˙ 10. Jahrhunderts) seinem Meister Abu¯ Alı¯ al-Dschubba¯ʿı¯ (9.–10. Jahrhundert) vorstellte; diesen Text werde ich in der traditionellen Version von Ta¯j al-Dı¯n alSubkı¯ (einem schafiitischen Gelehrten des 14. Jahrhunderts6) präsentieren. Mit der „Frage nach dem Bösen“ ist bekanntlich die Frage gemeint: Si Deus est, unde malum? Et si non est, unde bonum?, also: „Wenn Gott existiert, warum gibt es dann das Böse? Und wenn es Gott nicht gibt, warum existiert dann das Gute?“. So formulierten Augustinus7 (gestorben 430 nach Christus) und Boethius8 (gestorben um 525 nach Christus) in der lateinischen Welt die Frage, die sich wie folgt formulieren lässt: „Wenn Gott überaus gut und vollkommen ist, warum gibt es dann das Böse unter seinen Geschöpfen?“ Bemerkenswert bleibt, dass sich in allen Epochen der Philosophiegeschichte Denker für die Frage der „Theodizee“ (wie sie in der Moderne von Leibniz genannt wurde), also der Rechtfertigung von Gottes Wirken in der Welt, interessierten. In der arabisch-muslimischen Welt zwischen dem 8. und 10. Jahrhundert nach Christus9 waren sowohl die hellenisierten Philosophen als auch die Theologen nicht in der Lage, die Existenz Gottes, des Schöpfers, des Guten und der Quelle aller Vollkommenheit, mit der Gegenwart des Bösen in der irdischen Welt zu versöhnen; oder die Allmacht und das Vorwissen Gottes mit der Handlungsfreiheit des Menschen, und damit letztlich auch die Schwierigkeit, die Eschatologie der Offenbarung (die Verheißung des Himmels und die Drohung mit der Strafe der Hölle), mit der Prädestination in Einklang zu bringen. 4 Vgl. Alexander Aphrodisiensis [?] (1976) 33–105. 5 Vgl. Theodor Abu¯ Qurra (1910) sowie (2001). 6 Vgl. Ta¯j al-Dı¯n al-Subkı¯ (1956) 3, 356–357, und dazu die englische Übersetzung in: Klein (1940) 27. 7 Vgl. Augustinus conf. 7, 3–5 (ed. Luc Verheijen). 8 Vgl. Boethius cons. 1, 4 (ed. Claudio Moreschini). 9 Etwa im Zeitraum also von 750 bis 950 nach Christus ~ 132–338 Hidschra.

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Obwohl diese Frage in einer einfachen Weise formuliert wird, setzt sie doch bestimmte präzise kosmologische Elemente voraus: (a) die überaus gute und vollkommene Natur des Ersten Prinzips oder der Ersten Ursache; (b) einen Kosmos, der durch die Erste Ursache ins Dasein gerufen wird; (c) die klare Unterscheidung zwischen der Vollkommenheit der himmlischen und göttlichen Welt und der Unvollkommenheit der irdischen Welt, die dem Entstehen und dem Vergehen unterworfen ist; (d) die Präsenz von Materie und Bösem in der irdischen Welt. Auf den ersten Blick ist also der neuplatonische Hintergrund der Frage offensichtlich. Dabei ist es jedoch notwendig, die allgemeine Bedeutung der historiographischen Kategorie „Neuplatonismus“ zu spezifizieren, da in den hier betrachteten Texten sowohl der griechische Neuplatonismus des Proclus als auch der strengere arabische Neuplatonismus auftritt, den man eher als „arabischen Aristotelismus“ definieren sollte. Die Perspektive des Neuplatonismus ermöglicht es freilich, einige Übereinstimmungen zwischen den drei Texten in Hinblick auf die kosmologische Struktur, den Inhalt und die verwendete Begrifflichkeit zu erkennen. Nach der Hypothese, die mich bei der Lektüre der Passagen geleitet hat und die ich vorstellen werde, wäre eine philosophische, aber auch theologische Aporie vorhanden. Nach dieser Aporie wäre das Böse nicht nur als eine Beraubung des Seins in den minderwertigen Realitäten gegenüber dem Ersten Prinzip, sondern auch und vor allem als eine dem Kosmos innewohnende Notwendigkeit konzipiert. Das heißt: Das Böse wäre ohne Festigkeit, ein fortschreitender Verlust der göttlichen Kraft, aber notwendig, weil es die Beziehung jeder Entität zum Guten, dem Ersten Prinzip, das für die abrahamitischen Religionen der biblische und koranische Gott ist, aufzeigen würde. Genauer gesagt: In theologischer Hinsicht markierte diese Aporie die untrennbare Verbindung der „Frage nach dem Bösen“ mit dem freien Willen des Menschen. In philosophischer Hinsicht ist diese Aporie jedoch konstitutiv für die kosmologische Architektur des Neuplatonismus. Es scheint in der Tat so zu sein, dass das neuplatonische kosmologische Modell der „arabischen peripatetischen Tradition“ allen der drei obengenannten kulturellen Bewegungen gemeinsam ist – oder dass dadurch die drei Bewegungen in Berührung gekommen sind. Nach diesem Modell schwächt sich der Kausalzusammenhang des Einen mit der Reihe seiner Ursachen tatsächlich ab, wenn man von den höheren intellegiblen Realitäten zu den letztendlichen materiellen Realitäten hinabsteigt. Dies ist deutlich sichtbar im arabischen Traktat mit dem Titel Über das reine Gute (Kita¯b fı¯ mahd al-hayr), besser bekannt unter dem lateinischen Titel Liber de ˙˙ ˘ causis10. Dieses Aristoteles zugeschriebene Werk ist eigentlich eine Übersetzung 10 Vgl. Bardenhewer (1882); Pattin (1966); Taylor (1981), sowie D’Ancona Costa (1986) und (2003).

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und Überarbeitung einiger Aussagen aus Proclus’ Elementatio theologica (5. Jahrhundert)11, mit dem Ziel, eine Übereinstimmung des emanativen und kausalen Prozesses des Ersten Prinzips mit dem ausgeprägten islamischen Monotheismus zu suchen. In der Tat ist es heute anerkannt, dass der „arabische Aristotelismus“ die kreationistische und neuplatonische Neuinterpretation von Aristoteles und seiner Schule impliziert, die übereinstimmt mit dem Aufkommen der Philosophie in der arabischen Welt zwischen dem 8. und 10. Jahrhundert, folglich mit der Entwicklung jener griechisch-arabisch Übersetzungsbewegung der frühen Abbasidenzeit entsteht. Völlig fremde Lehren wurden so Aristoteles zugeschrieben, wie etwa der Hervorgang des Kosmos aus der Ersten Ursache oder die Schöpfung des Kosmos durch Vermittler-Lehren, die eher platonischen Autoren wie Plotin und Proclus (zwischen dem 3. und 5. Jahrhundert nach Christus) oder Pseudo-Dionysius Areopagita (circa 6. Jahrhundert) eigentümlich waren. Die aristotelische Urheberschaft dieser arabischen Zusammenstellungen wurzelt sowohl in der Suche nach Harmonie innerhalb derselben griechischen Philosophie zwischen Platon und Aristoteles, die die arabischen Philosophen aus der Spätantike geerbt und auf den lateinischen Sprachraum übertragen haben, als auch in der Suche nach einer Übereinstimmung des Aristoteles mit dem Dogma des islamischen tauh¯ıd (der absoluten Einheit Gottes). Der Ort der ˙ Übersetzungen und der Bildung dieses Korpus pseudo-aristotelischer Schriften war Bagdad in der Abbasidenzeit des 9. Jahrhunderts, genauer gesagt der Kreis der Intellektuellen, die sich um die Person Abu¯ Yu¯suf Yaʿqu¯b ibn Isha¯q al-Kindı¯ ˙ (gestorben um 860 nach Christus) versammelten. Al-Kindı¯ war Philosoph, Mathematiker, Astronom, Astrologe und Musikwissenschaftler, Lehrer des Sohnes des Kalifen al-Muʿtasim (842) und Autor zahlreicher Abhandlungen zu ver˙ schiedenen Themen. Sein Kreis war aufgrund der geographischen und religiösen Herkunft seiner Mitglieder vielfältig und war an der Übersetzung griechischhellenistischer wissenschaftlicher Werke ins Arabische beteiligt, mit der Absicht, die Enzyklopädie der Griechen in die islamischen Wissenschaften zu integrieren. Wie von Endress, D’Ancona und Adamson12 erwiesen werden konnte, fand der spätantike philosophische Lehrplan, der Aristoteles mit Platon versöhnte, seine Vollendung in der Übersetzungsarbeit dieses Kreises. Tatsächlich wurde das propädeutische System der aristotelischen Wissenschaften mit Logik, Physik und, auf seinem Höhepunkt, der Metaphysik, in die neuplatonische „Theologie“ integriert. Sie ist im arabischen Text mit dem Titel Theologie des Aristoteles (Utu¯lu¯gˇia¯ Aristu¯ta¯lı¯s) oder Die Rede über die Göttliche Herrschaft (Qawl ʿala¯ l¯ ˙ ˙ 11 Vgl. Proclus Lycius Diadochus (1963). 12 Vgl. Adamson (2002); Endreß (1973) sowie D’Ancona Costa (1995).

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rubu¯bı¯yya)13 enthalten. In diesem Werk lobt der Autor (der „virtuelle Aristoteles“14) Platon und seine Philosophie, aufgrund der Lehre der zwei Realitäten, der intelligiblen und der sinnlichen, wobei die menschliche Seele zur intelligiblen Welt gehöre, obwohl sie in dem sinnlichen Körper gefangen sei. Darüber hinaus lehre Plato, dass Gott der Eine und das reine Gute sei, dass er die Welt geschaffen habe und sie durch den Intellekt und die Seele regiere. Dies ist die kosmologische Struktur des sogenannten „arabischen Aristotelismus“.

2.

Der „Alexander Arabus“ und der Traktat Über die Regierungen der himmlischen Sphären

Das Werk, das uns in arabischer Sprache mit dem Titel Über die Regierungen der himmlischen Sphären (Fı¯ l-tadbı¯ra¯t al-falakiyya) überliefert wurde, wird Alexander von Aphrodisias, dem bedeutendsten Aristoteleskommentator der Antike, zugeschrieben. Dieser war in Athen zwischen dem 2. und 3. Jahrhundert nach Christus als Nachfolger auf dem Lehrstuhl für aristotelische Philosophie tätig. Wir besitzen von Alexander sowohl Kommentare als auch eigene Werke, deren Ziel es ist, das vielgestaltige aristotelische Wissen zu integrieren und zu systematisieren. Einige von Alexanders eigenen Werken wurden in arabischer Sprache überliefert, und unter ihnen gibt es eine Schrift De providentia, die in zwei verschiedenen Versionen vorliegt. Eine Version entstand im 10. Jahrhundert in dem aristotelischen Kreis von Bagdad und ist wegen der getreueren Übersetzungsmethode dieses Kreises die von den Wissenschaftlern vorrangig erforschte Version. Der Titel lautet Fı¯ l-ʿina¯ya, wörtlich übersetzt: Über die Vorsehung. Die andere und ältere Version stammt aus dem 9. Jahrhundert, aus dem Kreis des alKindı¯ und hat seitens der neueren Forschung geringere Aufmerksamkeit erfahren. Ihr Titel lautet: Über die Regierungen der himmlischen Sphären (Fı¯ ltadbı¯ra¯t al-falakiyya). Der Alexander Arabus ist Teil der breiten „arabischen peripatetischen Tradition“ und des Übersetzungskreises von al-Kindı¯, in welchem sich der Schüler des Aristoteles als direkter Erbe der Weisheit der Alten präsentiert. Tatsächlich hatte die pseudo-empedokleische Tradition die Lehren des Empedokles15 bereits auf den Weisen Luqma¯n (eine Figur, dessen Name die Sure 31 des Korans gibt) zurückgeführt. In der Tat wäre die Übertragungskette der göttlichen Weisheit die folgende gewesen: Luqma¯n – Empedokles – Pythagoras – Sokrates – Platon – 13 Vgl. Dieterici (1883); ʿA. Badawı¯ (1955); Lewis (2003) und Plotinus (2017). Dazu auch Aouad (1989). 14 Vgl. Endreß (1997). 15 Vgl. De Smet (1998).

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Aristoteles. Alexander von Aphrodisias wäre also als Schüler und Kommentator des Aristoteles der Erbe der göttlichen Wahrheiten gewesen, zu denen die griechischen Philosophen und insbesondere sein Meister Zugang hatten. Im Zentrum dieser Wahrheiten stand vor der Offenbarung des Korans die Einheit Gottes (tauh¯ıd). Hier liegt also der Angelpunkt der neuen Metaphysik, ˙ welche die neuplatonischen Araber vertraten: Gott (die Erste Ursache) schuf durch einen universellen Akt reiner Selbsterkenntnis die Himmel (die Himmelssphären) und schuf durch sie die sublunare Welt. Und wir sagen, die Vorsehung geschieht auf zwei Arten: die erste ist die Führung der Himmelskörper von der äußeren Sphäre zur Mondsphäre, die andere ist die Regierung der Welt, die sich unterhalb der Mondsphäre befindet. (Tatsächlich kommt die Regierung der ersten Körper aus dem ersten Motor und die Regierung der irdischen Welt aus den ersten Körpern, je nachdem, was in ihnen der ersten Macht entspricht)16.

Der kosmologische Bezugsrahmen ist die als aristotelisch angesehene Schrift De Caelo, die eine klare Trennung zwischen der himmlischen, göttlichen und vollkommenen Welt einerseits, der sublunaren, unvollkommenen und dem Entstehen und dem Vergehen unterworfenen Welt andererseits darstellt. Die erste Ursache wird hier als „Erster Beweger“ bezeichnet, und eine physikalische Beschreibung seiner den Kosmos betreffenden Vorsehung wird gegeben, die auf zwei Arten vorkommt: Die erste Ordnung ist die Regierung über den ersten Himmel („die Sphäre, die am weitesten außerhalb der Mondsphäre liegt“), die Bewegung und Vorsehung auf die nachfolgenden Himmelssphären überträgt. Die zweite Ordnung ist die Herrschaft über die sublunare Welt, die mittels der Himmelssphären stattfindet, in der die göttliche Kraft, die in jeder von diesen Sphären entsprechend ihrer Natur in der himmlischen Hierarchie vorhanden ist, versprochen wird. Die göttliche Kraft ist der Schlüssel zu Gottes Schöpfung und Vorsehung über die Welt, denn der bloße Schöpfungsakt des Kosmos durch die Erste Ursache reicht nicht aus, um die Trennung zwischen den beiden Welten oder gar die Unterschiede, die sich im Kosmos bilden, zu erklären. Und die himmlischen und erhabenen Körper gießen ihre Macht über die Körper aus, die im Wandel begriffen und dem Entstehen und dem Vergehen unterworfen sind, die also

16 Alexander Aphrodisiensis [?] (1976) 59–61, Z. 1–7 (meine Übersetzung): ‫ ﺃﺣﺪﻫﻤﺎ ﺗﺪﺑﻴﺮ ﺍﻷﺟﺮﺍﻡ ﺍﻟﺴﻤﺎﻭ ّﻳﺔ‬،‫ﻓﻨﻘﻮﻝ ﺍ ّﻥ ﺍﻟﺘﺪﺑﻴﺮ ﺿﺮﺑﺎﻥ‬ ‫ﻣﻦ ﺍﻟﻔﻠﻚ ﺍﻷﻗﺼﻰ ﺍﻟﻰ ﻓﻠﻚ ﺍﻟﻘﻤﺮ ﻭﺍﻵﺧﺮ ﺗﺪﺑﻴﺮ ﺍﻟﻌﺎﻟﻢ ﺍﻟﺬﻱ‬ ‫ )ﻓﺄ ّﻣﺎ ﺗﺪﺑﻴﺮ ﺍﻷﺟﺮﺍﻡ ﺍﻷﻭﻝ ﻳﻜﻮﻥ ﻣﻦ ﻗﺒﻞ‬.‫ﺗﺤﺖ ﻓﻠﻚ ﺍﻟﻘﻤﺮ‬ ّ ‫ ﻭﺃ ّﻣﺎ ﺗﺪﺑﻴﺮ ﺍﻟﻌﺎﻟﻢ ﺍﻷﺭ‬،‫ﺍﻟﻔﺎﻋﻞ ﺍﻷ ّﻭﻝ‬ ‫ﺽ ﻓﻴﻜﻮﻥ ﻣﻦ ﻗﺒﻞ ﺍﻷﺟﺮﺍﻡ‬ ‫ ﻓﻘﺪ ﺫﻛﺮ ﺍﻟﺤﻜﻴﻢ ﺫﻟﻚ‬.(‫ﺍﻷﻭﻝ ﻟﻤﺎ ﺻﺎﺭ ﻓﻴﻬﺎ ﻣﻦ ﺍﻟﻘ ّﻮﺓ ﺍﻷﻭﻟﻰ‬ ‫ﻓﻘﺎﻝ ﺍ ّﻥ ﺍﻻ ﻧﺴﺎﻥ ﻳﻠﺪ ﺍﻧﺴﺎﻧﺎ ﻭﺍﻟﺸﻤﺲ )ﺃﻱ ﺍ ّﻥ ﺍﻟﺸﻤﺲ ﻣﻌﻴﻨﺔ‬ .(‫ﻟﻪ ﻋﻠﻰ ﺫﻟﻚ‬

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unter der Sphäre des Mondes liegen und ihre Macht über sie ausbreiten, und dies soll sie regieren17.

Die Regierung des Kosmos, also Gottes Vorsehung, findet durch die Ausbreitung der göttlichen Kraft statt, die von dem Ersten Beweger ausgeht und alle Ebenen der ontologischen Skala erreicht, das heißt: alle Grade der Realität vom ersten Himmel über die anderen himmlischen Sphären bis hin zu den Entitäten der sublunaren Welt. An dieser Stelle ist zu beachten, dass der vom Autor (oder besser gesagt vom Kompilator) verwendete Begriff fayd lautet, den die Lateiner mit fluxus ˙ übersetzen werden. Dieses Wort zeigt den Akt des Fließens, des Flusses der göttlichen Kraft in den verschiedenen Graden der Schöpfung an, bis sie die Realitäten erreicht, die dem Entstehen und dem Vergehen unterliegen. Diese „Seinsprozession“, die ihren Ursprung eindeutig in Plotin hat, wird in kreationistischer Hinsicht neu gelesen und kündigt das kosmologische System von al-Fa¯ra¯bı¯ (gestorben 950) und Avicenna (Ibn Sı¯na¯, gestorben 1037) an. Soweit ein Einfluss wahrgenommen werden kann, beruht das von Avicenna beschriebene Modell der Kausalität, wie Olga Lizzini bemerkte, auf zwei wichtigen Axiomen: a) der Einzigartigkeit dessen, was zuerst verursacht wird (das lateinische Sprichwort: ex uno non fit nisi unum) und 2) dem Prinzip, dass, was überlegen ist, sich nicht selbst konstituiert und nicht im Hinblick auf das Niedere handelt. Dieses Prinzip bringt zwei entscheidende Konsequenzen mit sich: a) die Notwendigkeit der Ursache, das Verursachte zu produzieren; b) den Zustand der Teilhabe des Verursachten am Wesen der Ursache und die intrinsische Potenzialität, dass das Verursachte wiederum die Ursache ist18. Im Alexander Arabus hingegen befindet sich dieses Modell noch in einer anfänglichen Phase, und der Kompilator spezifiziert nur den selbstbestimmenden Charakter der Handlung der „edlen und erhabenen Körper“, also der Himmelssphären. Diese handeln nur im Hinblick auf ihr eigenes Wohl und nicht im Hinblick auf etwas anderes als sich. Durch dieses Handeln für sich selbst verbreiten die himmlischen Sphären göttliche Kraft an die einzelnen Spezies der irdischen Welt, und so handeln sie zum Wohle der sublunaren Welt. Man bemerkte hier eine Schwierigkeit, die sogar dem Liber de causis und Avicenna gemeinsam ist und die Art und Weise betrifft, in der die höheren Fürsten die individuelle und zufällige Vielheit regieren. Leider kann dieses Thema hier nicht behandelt werden. Vielmehr sei darauf hingewiesen, dass das Prinzip des Han17 Alexander Aphrodisiensis [?] (1976) 71, Z. 10–12 (meine Übersetzung): ‫ﻭﺍﻧّﻤﺎ ﺗﻔﻴﺾ ﺍﻷﺟﺮﺍﻡ ﺍﻟﺴﻤﺎﻭ ّﻳﺔ‬ ‫ﺍﻟﺸﺮﻳﻔﺔ ﻗ ّﻮﺗﻬﺎ ﻋﻠﻰ ﺍﻷﺟﺮﺍﻡ ﺍﻟﻤﺴﺘﺤﻴﻠﺔ ﺍﻟﻮﺍﻗﻌﺔ ﺗﺤﺖ ﺍﻟﻜﻮﻥ ﻭﺍﻟﻔﺴﺎﺩ‬ .‫ ﻭﻓﻴﺾ ﻗ ّﻮﺗﻬﺎ ﻋﻠﻴﻬﺎ ﻫﻲ ﺗﺪﺑﻴﺮﻫﺎ ﻟﻬﺎ‬،‫ﺍﻟﺘﻲ ﺗﺤﺖ ﻓﻠﻚ ﺍﻟﻘﻤﺮ ﻫﻜﺬﺍ‬ 18 Vgl. Lizzini (2011) 5–25.

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delns für sich selbst oder in Anbetracht seiner selbst – noch genauer: die Aufnahme der göttlichen Macht in der eigenen Weise des Empfängers – dem arabischen Kompilator einen Ausweg aus der Frage nach dem Bösen ermöglicht. Und wenn man Sie fragt: Wie ist es dann möglich, dass wir so viele Menschen sehen, die so böse sind und die nur das Böse kennen und andere Dinge in der irdischen Welt sehen, dass sie ohne Gesetz sind, keine Ordnung haben und keinen Grund dafür haben können, weil sie jenseits des himmlischen Maßes und der Vorsehung sind, so dass es so aussieht, als ob die himmlische Regierung nicht mit der Gesamtheit der Dinge zusammenhängt, liegt es vielleicht daran, dass der Irrtum die Oberhand gewinnt? Wir antworten, dass dies nicht der Vorsehung zu verdanken ist, sondern der Vorsehung aufgrund der Disposition der Angelegenheit gegenüber der Regierung19.

Das Prinzip, demgemäß die Rezeption ad modum recipientis erfolgt, erlaubt es dem Kompilator zu behaupten, dass die Existenz des Bösen in seiner grundlegenden moralischen Bedeutung, also der Unordnung und der Abwesenheit des Gesetzes, nicht direkt durch die Vorsehung verursacht werde, sondern auf die Disposition (qa¯bilat) der Materie zurückzuführen sei, die nicht die perfekte Rezeption höherer Realitäten widerspiegele. Daher wird die Gegenwart des Bösen im letzten Schritt der Skala des Seins von der Existenz der Materie bestimmt, und das Böse ist so verstanden als Entzug des Guten. Das Böse an sich hat keinen Bestand, da der Kosmos durch das der Ersten Ursache gemäße Sein und Gut, die zusammenfallen, errichtet und geordnet wird. Hier zeigt sich die neuplatonische Wurzel der Behauptung, die das aufgreift, was Proclus in seinem Werk De malorum subsistentia erhalten hat. Im dritten Buch argumentiert er, dass der Abstieg der Seele auf einen niedrigeren Grad der Skala des Seins das Vergessen und das Böse mit sich bringt. Entsprechend der Metapher des Lichts, die dem Platonismus so sehr am Herzen liegt, nimmt die Dunkelheit den Platz des Lichts ein, wenn ein materieller Körper zwischen der Quelle und dem beleuchteten Objekt steht. Auf diese Weise verlieren die Seelen, die in die niedrigeren Grade hinabsteigen, nicht ihre göttliche Kraft, aber diese wird durch die körperliche Materie verdeckt. Und je mehr sie an die Materie gebunden sind, desto mehr werden sich diese Seelen von den Guten abwenden und nicht mehr aufsteigen können20. 19 Alexander Aphrodisiensis [?] (1976) 101–103, Z. 5–10 (meine Übersetzung): ‫ﻓﺎﻥ ﻗﺎﻝ ﻗﺎﺋﻞ ﻓﻜﻴﻒ ﻧﺮﻯ ﻧﺎﺳﺎ ﻛﺜﻴﺮﺍً ﺷ ّﺮﻳﺮﻳﻦ ﻻ ﻳﻌﺮﻓﻮﻥ ﺍ ّﻻ‬ ّ ‫ﺍﻟﺸ ّﺮ ﻭﺣﺪﻩ ﻭﻧﺮﻯ ﺃﺷﻴﺎﺀ ﺃﺧﺮ ﻓﻲ ﺍﻟﻌﺎﻟﻢ ﺍﻷﺭ‬ ‫ﺽ ﻟﻴﺲ ﻟﻬﺎ‬ [C52b35–53a25]،‫ ﺷﺮﺡ ﻭﻻ ﻧﻈﺎﻡ ﻭﻻ ﻳﻘﻮﻯ ﺻﺎﺣﺐ ﺍﻟﻌﻠﻞ ﺃﻥ ﻳﻌﺘ ّﻞ ﻓﻴﻬﺎ ﺑﻌﻠّﺔ‬/ ‫ ﻓﻴﻜﻮﻥ ﺍﻟﺘﺪﺑﻴﺮ‬،‫ﻷ ّﻧﻬﺎ ﺧﺎﺭﺟﺔ ﻣﻦ ﺍﻟﻘﻴﺎﺱ ﻭﺍﻟﺘﺪﺑﻴﺮ ﺍﻟﻤﺴﺎﻭ ّﻱ‬ ‫ ﻷ ّﻧﻪ ﺭﺑّﻤﺎ ﺩﺧﻞ ﻋﻠﻴﻪ‬،‫ﺍﻟﺴﻤﺎﻭ ّﻱ ﻻ ﻳﺼﻴﺐ ﻓﻲ ﺟﻤﻴﻊ ﺍﻷﺷﻴﺎﺀ‬ ‫ ﻻﻛﻦ ﻣﻦ‬،‫ﺍﻟﺨﻄﺄ؟ ﻗﻠﻨﺎ ﺍ ّﻥ ﺫﻟﻚ ﻳﻜﻮﻥ ﻻ ﻣﻦ ﺃﺟﻞ ﺍﻟﺘﺪﺑﻴﺮ‬ .‫ﺃﺟﻞ ﺍﻟﻬﻴﻮﻟﻰ ﺍﻟﻘﺎﺑﻠﺔ ﻟﻠﺘﺪﺑﻴﺮ‬ 20 Vgl. Proclus Lycius Diadochus De malorum subsistentia 22, 1–20 (ed. H. Boese).

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3.

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Abu¯ Qurra und der Über die Willensfreiheit des Menschen

Das Thema des Bösen betrifft die theologischen Auseinandersetzungen, insbesondere in Bezug auf das Thema des freien menschlichen Willens und des göttlichen Vorwissens. Einer der wichtigsten Autoren des Christentums auf islamischem Gebiet ist Theodor (Ta¯wdu¯ru¯s) Abu¯ Qu¯rra (gestorben etwa 820 nach Christus), melkitischer21 Bischof in Harra¯n (das alte Carrhae, in Mesopotamien). ˙ Er verwaltete seine Aufgabe in einem aus religiöser Sicht komplexen Umfeld. In Harra¯n gab es Juden, Christen, Muslime und Manichäer (die zana¯diqah), zudem ˙ viele gnostische und heidnische Sekten. Abu¯ Qurra war einer der ersten christlichen Theologen, der die arabische Sprache für einige seiner Schriften verwendete und über ein großes Wissen über den Islam verfügte. Er wurde in der Philosophie des Aristoteles und in den Schriften von Johannes von Damaskus ausgebildet. Abu¯ Qurra war ein sorgfältiger Polemiker und ein profunder Kenner der aristotelischen Logik. Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass er stark die entstehende ʿilm al-kala¯m beeinflusste, das heißt: die muslimische spekulative Theologie. Zu seinen Werken in arabischer Sprache zählt die „Abhandlung“: Welches für den Menschen eine feste, ihm von Gott seiner Natur nach zukommende Willensfreiheit nachweist, und dass über die Willensfreiheit überhaupt kein Zwang in irgendwelcher Weise kommt, verfaßt von dem Lehrer Kyr Theodorus, Bischof von Charra¯n (Maymarun yuhqqiqu li l˙ insa¯n hurriyatan ta¯bitatan mina Allahi fı¯ halı¯qatihi), mit dem einfacheren Titel: ¯ ˙ ˙ Über die Willensfreiheit. In diesem Text befasst sich der Abu¯ Qurra mit der Widerlegung des Manichäismus, obwohl die anti-manichäische Kontroverse nur ein Vorwand ist, um gegen Dschabrı¯ya zu argumentieren. Diese Strömung des islamischen theologischen Denkens entstand im Rahmen der Debatte über die Prädestination und die menschliche Freiheit und fand im 9. Jahrhundert ein breites Echo. Die Dschabriten hatten ihren Hauptvertreter in Dschahm ibn Safwa¯n (gestorben 746), der eine fatalistische Interpretation einiger Koranpassagen verteidigte zur Frage des Qadar (das „Dekret“ Gottes oder die „Vorbestimmung“ menschlicher Handlungen). In der Tat gibt es in der Offenbarung des Korans mehrere Passagen, welche die Prädestination betreffen: Gott scheint das Schicksal der Seelen bereits verordnet zu haben, ohne die Möglichkeit, ihr Schicksal zu ändern. Zu beachten ist etwa Sure 8: 23: „Wenn Gott an ihnen etwas Gutes gefunden 21 Von der semitischen Wurzel m-l-k, die „Herrschaft“, „König“, „Königtum“ usw. bedeutet, leiten sich die Melkiten ab, die östlichen Christen, die dem byzantinischen Kaiser folgten und dem Konzil von Chalcedon (451 nach Christus) treu blieben, das Christus als „einzigen Sohn, wahrer Gott und wahrer Mensch“ definierte, also als eine einzige Hypostase mit zwei Naturen, der menschlichen und der göttlichen. Dies galt als die Doktrin des Byzantinischen Reiches; vgl. Bettiolo (2005).

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[wörtlich: gewusst] hätte, hätte er ihnen Gehör verliehen. Aber wenn er ihnen Gehör verliehen hätte, hätten sie (doch) den Rücken gekehrt und sich abgewandt22.“ Oder Sure 11: 118–119: [118] Und wenn dein Herr gewollt hätte, hätte er die Menschen zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Aber sie sind immer noch uneins, [119] ausgenommen diejenigen, derer dein Herr sich erbarmt hat. Dazu [d. h. damit sie uneins seien und von der Wahrheit abirren] hat er sie [d. h. die Menschen] geschaffen. Und das Wort deines Herrn ist in Erfüllung gegangen [, das besagt] Ich werde wahrlich die Hölle mit lauter Dschinn und Menschen anfüllen23.

Die Dschabrı¯ya hat diese Verse radikal interpretiert und behauptet, dass der Mensch keine Kontrolle über sein Handeln hat, sondern alles immer von Gott verordnet und diktiert worden ist. Der dschabritische Determinismus hatte mit Muʿa¯wiyya (Regierungszeit 661–680 nach Christus) eine theologische Rechtfertigung für das Aufkommen des Kalifats der Umayyaden geliefert, zeigte aber seine Widersprüchen in der Argumentation. Insbesondere stand Dschabrı¯ya im Widerspruch zur Lehre von taklı¯f, nach welcher Gott dem Menschen keine Aufgaben über seine Fähigkeiten hinaus anvertraut (vgl. z. B. Sure 2: 286)24. Mit dem dschabritischen Determinismus verlieren sowohl der Lohn Gottes als auch die Strafe für menschliche Handlungen, ob gut oder schlecht, ihren Wert. Die Arbeit von Abu¯ Qurra geht von der Unterscheidung zwischen zwei Haltungen aus: (a) Die erste ist die Haltung desjenigen, der für sich selbst ein Gesetz aufstellt, dem er göttlichen Ursprung zuschreibt. Ein solches Gesetz erlaubt ihm, sich den Leidenschaften zu unterwerfen und sie rechtmäßig zu machen (was Abu¯ Qurra mit der islamischen Offenbarung identifiziert). (b) Die zweite Haltung ist dagegen die desjenigen, der behauptet, er sei gezwungen, den Leidenschaften zu folgen. Dieser Zwang würde sich entweder (b.1) aus der ursprünglichen Unfreiheit des Menschen ergeben (das Modell von Dschabrı¯ya) oder (b.2) aus dem Erscheinen des Zwangs im menschlichen Handeln, in einem Zeitpunkt nach der Schöpfung (das manichäische Modell). Abu¯ Qurra stellt uns also den Zweck des Traktats vor: Unser Zweck ist nur, zu beweisen, dass die Willensfreiheit in der Natur des Menschen ist, und dass kein Zwang über sie kommt aus [irgend]einer Ursache, so dass sie dieser Ursache gehorsam folgen müsste. Wohlan also, so wollen wir uns mit einem jeden darüber unterhalten, was uns zu dieser Behauptung führt25. 22 Deutsche Übersetzung nach Rudi Paret. 23 Deutsche Übersetzung nach Rudi Paret. 24 Gerade der Begriff taklı¯f bedeutet „Verpflichtung“ oder „Pflicht“ und bezeichnet die Pflicht, zu glauben und zu verstehen, was man glaubt. Vgl. Al-Asˇʿarı¯, Kita¯b al-Iba¯nah ʿAn Usu¯l ad˙ Diya¯nah in Klein (1940) 111–113. 25 Ich verweise auf die deutsche Übersetzung in Theodor Abu¯ Qurra (1910) 224, für die Ausgabe des arabischen Textes Teodoro Abu¯ Qurrah (2001) 25–26:

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Das Ziel der Arbeit von Abu¯ Qurra ist der Beweis, dass Gott den Menschen frei nach der Natur erschaffen hat, ohne jede Einschränkung oder Behinderung seines Handelns. In der Reihe von Argumenten, die der Theologe im ersten Kapitel anführt, sind einige wirklich entscheidende: a) Das erste Argument besagt, dass Gottes Gerechtigkeit nicht mit der Vorherbestimmung menschlicher Handlungen übereinstimmt: Wenn es Belohnungen und Strafen für Gehorsam und Ungehorsam gegenüber seinem Gesetz gibt, dann muss der Mensch frei sein. b) Das zweite Argument deckt sich mit der bereits erwähnten Doktrin von taklı¯f, die die gegnerischen muslimischen Theologen gegen Dschabrı¯ya vorgebracht haben: Das heißt, Gott überträgt keine Aufgaben oder Pflichten, die über die tatsächlichen Fähigkeiten des Menschen hinausgehen – dies wäre ungerecht. Hier zeigen sich Abu¯s Kenntnis des Korantexts, aber auch die theologischen Debatten innerhalb des Islam, die aufgeworfenen Argumente und Widersprüche. c) Der christliche Theologe behauptet, dass die Schöpfung selbst ein Akt sei, der mit dem übereinstimmt, was Gott in seiner Weisheit vorhergesehen hat. Gerechtigkeit und Weisheit sind in Gott mit seinem schöpferischen und vorsorgenden Handeln verbunden, aber sie bestimmen nicht die menschlichen Handlungen im Voraus. d) Ein weiteres bemerkenswertes Argument ist, dass die Organisation der Gesellschaft selbst nach einem Gesetz (sˇarı¯ʿah) und die Anwesenheit von Richtern in diesem Gesetz notwendig sind, damit der Mensch seiner eigenen inneren Freiheit folgen kann, derer er sich nicht immer bewusst ist. Das Gesetz würde den Menschen also über seine freie Natur und seine Verantwortung informieren. Ich möchte mich nun auf das zweite Kapitel des Werkes konzentrieren, das der Widerlegung von Manis Lehre (3. Jahrhundert nach Christus) gewidmet ist. Der Manichäismus verleiht dem Bösen einen Status, der dem Guten entspricht. Beide sind begründet, so dass die menschliche Seele das Schlachtfeld dieser beiden gegensätzlichen Kräfte ist. Der Körper hält die Seele im Vergnügen gefangen, weswegen die Seele „die Gnosis“ braucht, um sich zu befreien und zum ursprünglichen göttlichen Plan aufzusteigen. Zu diesem Zweck gibt es eine Reihe

‫[ ﻭﺍﻧّﻤﺎ ﻏﺎﻳﺘﻨﺎ ﺃﻥ ﻧﺜﺒﺖ‬25] ‫ﺃ ّﻥ ﺍﻟﺤ ّﺮ ّﻳﺔ ﻓﻲ ﺻﺒﻐﺔ ﺍﻹﻧﺴﺎﻥ‬ ‫[ ﻭﺃ ّﻥ ﺍﻟﻘﻬﺮ ﻻ ﻳﺪﺧﻞ ﻋﻠﻴﻬﺎ ﻣﻦ ﺳﺒﺐ‬26] ‫ﺣ ّﺘﻰ ﺗﺬﻋﻦ ﻟﺬﻟﻚ ﺍﻟ ّﺴﺒﺐ ﻃﻮﻋﺎ‬

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von Reinigungs- und Einweihungsriten, welche die Seele des Einzelnen auf den Weg zurück in die himmlische Welt führen. Es ist offensichtlich, dass dem manichäischen Dualismus die „Frage nach dem Bösen“ zugrunde liegt: Die Gegenwart des Bösen in der Welt ist auf die Existenz eines bösen Gottes zurückzuführen, der sie regiert und die Seele mit den Freuden des Körpers gefangen hält. Die offensichtlichste dogmatische Schwierigkeit des Manichäismus liegt dabei in der Beschränkung der göttlichen Allmacht aufgrund der Existenz eines gleichwertigen und entgegengesetzten Prinzips. Die erste von Abu¯ Qurra vorgebrachte Widerlegung lautet wie folgt: „[116] Wir sagen dir, o Manes: Wenn der Leib die Seele überwältigt und zwingt, wie du sagst, so kann sich die Seele des Bösen nicht davon enthalten, es zu tun, [117] solange sie im Leibe ist“26. Die erste Widerlegung des Seelenkörper-Dualismus nimmt ihren Ausgang von der Beobachtung, dass, wenn man das Prinzip des Bösen mit dem Körper und das Prinzip des Guten mit der Seele verbindet, dann die Seele nicht anders kann, als Böses zu tun, solange sie im Körper gefangen ist. Daraus leitet sich ein weiteres Argument der Widerlegung ab: [167] Ich möchte doch wissen: Hast du einen Leib, Manes, oder nicht? [168] Wenn du glaubst, du habest einen Leib wie die übrigen Menschen, [169] so ist deine Seele ohne Zweifel seitens deines Leibes gezwungen, [170] das Böse zu tun, das nach deiner Anschauung das Werk des Leibes ist, [171] und du kannst gar nicht aufrichtig sein, wie du ja überhaupt in jeglicher Beziehung von Verderbtheit vollkommen bist, [172] und du bist ein Lügner … [173] Und wenn du lügnerisch bist, dann ist alles, was du sagst, falsch ohne Zweifel. [174] Und wenn du meinst, was du sagst, sei nicht falsch, so hat also dein Leib deine Seele nicht bezwungen [175] und nicht mit der Lüge belastet, die doch von seiner Natur sein soll. [176] Vielmehr ist sie von der Zunge bezwungen, welche ein Glied des Leibes ist, [177] so dass sie in Wahrheit durch diese gesprochen hat, und deine Behauptung macht sich selbst hinfällig27. 26 Theodor Abu¯ Qurra (1910) 228 (ed. Teodoro Abu¯ Qurrah [2001] 116–117): :‫ ﻳﺎ ﻣﺎﻧﻲ‬،‫[ ﻓﻨﻘﻮﻝ ﻟﻚ‬116] ،‫ﺇﻥ ﻛﺎﻥ ﺍﻟﺠﺴﺪ ﻏﺎﻟﺒﺎ ﻋﻠﻰ ﺍﻟ ّﻨﻔﺲ‬ ،‫ﻳﻘﻬﺮﻫﺎ ﻛﻘﻮﻟﻚ‬ ،‫[ ﻓﺈ ّﻥ ﺍﻟﻨّﻔﺲ ﻻ ﺗﻘﺪﺭ ﺃﻥ ﺗﻤﺘﻨﻊ ﻋﻦ ﺍﻟ ّﺸ ّﺮ‬117] .‫ ﻣﺎ ﺩﺍﻣﺖ ﻓﻲ ﺍﻟﺠﺴﺪ‬،‫ﺃﻥ ﺗﻌﻤﻠﻪ‬ 27 Theodor Abu¯ Qurra (1910) 231 (ed. Teodoro Abu¯ Qurrah [2001] 167–177): ،‫ ﺃﻛﺎﻥ ﻟﻚ ﺟﺴﺪ‬،‫[ ﻟﻴﺖ ﺷﻌﺮﻱ‬167] ‫ ﺃﻡ ﻻ؟‬،‫ﻳﺎ ﻣﺎﻧﻲ‬ ‫[ ﻓﺈﻥ ﺯﻋﻤﺖ ﺃ ّﻧﻪ ﻛﺎﻥ ﻟﻚ ﺟﺴﺪ‬168] ،‫ﻛﺴﺎﺋﺮ ﺍﻟﻨّﺎﺱ‬ ،‫[ ﻓﻘﺪ ﻛﺎﻧﺖ ﻧﻔﺴﻚ ﻣﻘﻬﻮﺭﺓ‬169] ،‫ ﻣﻦ ﺟﺴﺪﻙ‬،‫ﻻ ﻣﺤﺎﻟﺔ‬ ،‫[ ﺃﻥ ﺗﻌﻤﻞ ﺍﻟ ّﺸ ّﺮ‬170] .‫ ﺑﺰﻋﻤﻚ‬،‫ﺍﻟّﺬﻱ ﻫﻮ ﻋﻤﻞ ﺍﻟﺠﺴﺪ‬ .‫[ ﻭﻻ ﺗﺴﺘﻄﻴﻊ ﺃﻥ ﺗﻜﻮﻥ ﺻﺎﻟﺤﺎ‬171] .‫ﻛﻤﺎ ﻗﺪ ﻛﻨﺖ ﻓﻲ ﻛ ّﻞ ﻧﺤﻮ ﻣﻦ ﺍﻟﻔﺴﻖ ﺗﺎ ّﻣﺎ‬

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Mit einem Syllogismus, der sich als ad hominem-Argument darstellt, widerlegt Abu¯ Qurra das dualistische Seelenkörper-Prinzip des Mani: Wenn der Körper notwendigerweise Böses tut – und Mani hat, wie alle anderen auch, einen Körper –, dann tut auch Manis Seele Böses, da die Seele ein Akt des Körpers ist. Wenn Mani behauptet, dass sein eigener Körper nicht in Übereinstimmung mit dem handelt, was er selber über die Natur der Körper behauptet, dann wäre seine Doktrin widersprüchlich. Und selbst wenn die Zunge die Wahrheit sagen würde, würde sie als Teil des Körpers nicht dem Rest folgen, und daher gäbe es Widersprüche. Man greift hier den aristotelischen Hintergrund von Abu¯ Qurras Ausbildung, der darin seinem spirituellen Meister Johannes von Damaskus zu folgen scheint. Die syllogistische Logik und das Potenz-Akt-Schema werden zur Selbstbestätigung der zentralen These des Manichäismus verwendet. Im letzten Teil des zweiten Kapitels kehrt Abu¯ Qurra zum Thema der Absichten zurück, das bereits im ersten Abschnitt angesprochen, aber hier geklärt wird. Die Absicht (niyyah) hat ihren Sitz in der Seele, und sie kann gut oder schlecht sein. Der Körper hingegen ist das, was die Absicht tatsächlich erreicht, und nach außen hin das, was die Absicht vorschlägt. Auf dieser anthropologischen Grundlage argumentiert der melkitische Theologe, dass diejenigen, die den Zwang in den Plan der Willensfreiheit setzen und den Handlungen des Menschen einen fatalistischen Akzent geben, damit ihre bösen Taten rechtfertigen. Das abschließende Kapitel argumentiert zurückhaltender und soll philosophisch demonstrieren, dass „Gottes Vorauswissen die menschliche Freiheit nicht schwächt“ (sa¯bqu ʿilm Allah la¯ yubtilu al-hurriyata al-insı¯yyata)28: Wenn das ˙ ˙ göttliche Vorwissen betont wird, dann ist das erste Opfer des Zwangs der Handlung Gott selbst, der gezwungen wäre, das zu tun, was ihm das Vorwissen anzeigt. Bei Gott aber kann man sich keinen Zwang vorstellen, denn sein Wille ist frei. Deshalb ist das Vorwissen Gottes ohne jeden Zwang, es ist vollkommen und kennt das menschliche Handeln: „Gott sei es ferne, dass sein Wissen ihn nötigt, oder dass auf Grund seines Wissens die (menschliche) Willensfreiheit auf-

[] ‫ﻭﻛﻨﺖ ﻛﺎﺫﺑﺎ‬ ،‫[ ﻭﺇﺫ ﻛﻨﺖ ﻛﺎﺫﺑﺎ‬173] .‫ ﻻ ﻣﺤﺎﻟﺔ‬،‫ﻓﻘﻮﻟﻚ ﻛﻠّﻪ ﺑﺎﻃﻞ‬ ،‫[ ﻭﺇﻥ ﺯﻋﻤﺖ ﺃﻥ ﻗﻮﻟﻚ ﻟﻴﺲ ﺑﺒﺎﻃﻞ‬174] ،‫ﻓﺈ ّﻥ ﺟﺴﺪﻙ ﺇﺫﻥ ﻟﻢ ﻳﻘﻬﺮ ﻧﻔﺴﻚ‬ ‫[ ﻭﻟﻢ ﻳﺤﻤﻠﻬﺎ ﻋﻠﻰ ﺍﻟﻜﺬﺏ‬175] .‫ﺍﻟّﺬﻱ ﻫﻮ ﻣﻦ ﺳﻮﺳﻪ‬ ،‫[ ﺑﻞ ﻫﻲ ﻓﻬﺮﺕ ﺍﻟﻠّﺴﺎﻥ‬176] ،‫ﺍﻟّﺬﻱ ﻫﻮ ﻋﻀﻮ ﻣﻦ ﺍﻟﺠﺴﺪ‬ .‫ﺣ ّﺘﻰ ﻧﻄﻘﺖ ﺑﺎﻟﺤ ّﻖ ﻋﻠﻴﻪ‬ .‫[ ﻭﺻﺎﺭ ﻗﻮﻟﻚ ﻳﺒﻄﻞ ﻧﻔﺴﻪ‬177] 28 Vgl. Theodor Abu¯ Qurra (1910) 234 (ed. Teodoro Abu¯ Qurrah [2001] 273–274).

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gehoben werde, die er in die menschliche Natur aus Güte und Freigebigkeit seinerseits eingeprägt hat!29“ Geschaffen nach dem Bild und Gleichnis Gottes, besitzt der Mensch Freiheit und kann sie ohne Einschränkungen ausüben. Das Vorbild des schöpferischen Aktes ist die göttliche Vollkommenheit: Im Menschen prägt Gott seine Prägung ein und bestätigt seine Gegenwart durch den freien Willen. Der Mensch ist also der absolute Schiedsrichter seiner Handlungen, und das Gericht Gottes wird sich auf die menschliche Absicht stützen. Daher erfolgt die Einladung des Theologen zur Bekehrung, damit sich die Seele am Ende der Zeit nicht unvorbereitet wiederfindet. Das biblische Beispiel des Judas, dessen Handlung Jesus schon vor seiner Ausführung kannte, dient Abu¯ Qurra dazu, zu zeigen, dass Gott die bösen Taten der Menschen im Voraus kennt, aber nicht eingreift, um sie zu korrigieren oder zu erzwingen. Er ist in der Tat nicht für die Handlung verantwortlich, denn er ist nicht der Handelnde. Deshalb setzt sich Abu¯ Qurra nach der Ablehnung des dualistischen Systems der Manichäer für die Widerlegung des manichäischen Determinismus und all jener Lehren ein, die den freien Willen des Menschen einschränken, allen voran die muslimischer Dschabriten. Im Mittelpunkt der Überlegungen von Abu¯ Qurra steht die Absicht. Die Absicht des Bösen kann sich immer in die Absicht des Guten verwandeln. Sie äußert sich in der Handlung des Körpers, die von Gott gepriesen oder getadelt werden kann. Obwohl es keinen neuplatonischen kosmologischen Rahmen gibt, bietet das Werk einige Hinweise auf das vom melkitischen Bischof verteidigte Schöpfungsmodell: eine Einrichtung im Sein durch den freien Willen Gottes, der immer eine Wahl hat, immer also gegen das handeln könnte, was er vorgegeben hat, seiner eigenen Absicht jedoch folgt, um nicht gegen sein eigenes Vorwissen zu verstoßen.

4.

al-Aschʿarı¯ und die Lösung der islamischen Theologie der „Frage nach dem Bösen“

Der dritte Autor, Abu¯ l-Hasan al-Aschʿarı¯ (gestorben 936), ist der Gründer der ˙ Schule für aschʿaritischen Kala¯m, der größten theologischen Schule des sunnitischen Islam. Mit seiner umfangreichen theologischen Produktion hat alAschʿarı¯ den Kanon der Orthodoxie neu definiert; in einem seiner Hauptwerke, 29 Theodor Abu¯ Qurra (1910) 231 (ed. Teodoro Abu¯ Qurrah [2001] 278–279): ،‫[ ﻭﺣﺎﺷﺎ ﻟﻠﻪ ﺃﻥ ﻳﻜﻮﻥ ﻋﻠﻤﻪ ﻳﻘﻬﺮﻩ‬278] ،‫ﺃﻭ ﻳﺒﻄﻞ ﻋﻠﻴﻪ ﺍﻟﺤ ّﺮ ّﻳﺔ‬ ،‫[ ﺍﻟّﺘﻲ ﻃﺒﻌﻬﺎ ﻓﻲ ﺍﻟﺨﻠﻔﺔ ﺍﻹﻧﺴﻴّﺔ‬279] .‫ﻛﺮﻣﺄ ﻭﺟﻮﺩﺍ ﻣﻨﻪ‬

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dem Maqa¯lat al-Isla¯mı¯yı¯n (Die dogmatischen Lehren der Anhänger des Islam)30, werden alle theologischen Lehren des Islam des 9. und 10. Jahrhunderts überprüft, um sie zu widerlegen und die endgültigen Bezüge für die Sunniten festzulegen. Diese Arbeit ist ein grundlegendes Zeugnis der Geschichte von ʿilm alkala¯m geblieben. Als Schüler des muʿtazilitischen Theologen von Basra Abu¯ ʿAlı¯ al-Dschubba¯ʾı¯ ˙ (gestorben 916) war al-Aschʿarı¯ mit der theologischen Meisterschule in der Frage nach dem Bösen nicht einverstanden. Auch hier ging es wieder um die Themen göttlicher Gerechtigkeit, Gottes Handeln und das Handeln des Menschen. Die muʿtazilitische Schule war der Hauptgegner der aschʿaritische Schule sowohl wegen ihrer weiten Verbreitung, die sie erreichte, als auch wegen der wichtigen Rolle, die die Muʿtaziliten am Abbasiden-Hof spielten. Im Mittelpunkt der Überlegungen von al-Aschaʿrı¯ stehen zwei grundlegende Prinzipien: (a) dass Gott der Schöpfer aller Dinge ist (vgl. Sure 6: 102: haliqu kulli ˇsayʾin) und (b) dass ˘ Gottes Gerechtigkeit nicht den Parametern und der Erfahrung des Menschen entspricht. Auf der Grundlage dieser beiden Prinzipien erarbeitet er die Doktrin der freiwilligen menschlichen Handlung, die er als „von Gott geschaffen“ und „vom Menschen erworben“ definiert: Es handelt sich um die sogenannte Doktrin des kasb oder iktisa¯b (d. h. die Aneignung)31. Bereits Dira¯r ibn ʿAmr (8. Jahrhundert), ein Mitglied der muʿtazilitische ˙ Schule und später der Dschabrı¯ya-Schule, hatte argumentiert, dass menschliche Handlungen einzig und allein von Gott bestimmt sind und dass Menschen sie einfach erwerben. Daher scheinen nach Dira¯r die menschlichen Handlungen zwei ˙ Handelnde zu haben, den Menschen selbst und Gott, jedoch ist der einzig wahre Handelnde Gott als Schöpfer solcher Handlungen, während der Mensch sie einfach erwirbt. In dieser Perspektive war die Absicht von al-Aschʿarı¯, die göttliche Allmacht zu bewahren und die Rolle des menschlichen freien Willens zu begrenzen, ohne dem deterministischen Fatalismus nachzugeben. Im Gegensatz sowohl zur muʿtazilitische Schule als auch zur Dschabrı¯ya-Doktrin argumentierte al-Aschʿarı¯ auch, dass Gott der einzige Schöpfer und der wahre Urheber der menschlichen Handlung sei und dass der Mensch sie erwerbe. Er erklärte jedoch, dass diese „Aneignung“ mit der Anpassung des eigenen Willens an die von Gott festgelegte Handlung zusammenfalle, um sie zu vollenden. Die Rolle des Menschen solle daher „Macht über den Erwerb und Ohnmacht über die Schöpfung“ sein („qa¯dirʿala¯ l-kasbʿa¯gˇizʿani l-halq“)32. ˘

30 Der volle Titel lautet: al-Aschʿarı¯, Maqa¯la¯t al-isla¯mı¯yı¯n wa-htila¯f al-musallı¯n (Die dogma˙ ˘ tischen Lehren der Anhänger des Islam und der Dissens der Betenden) (2005). 31 Vgl. Montgomery Watt (1943) und (1998). 32 Al-Aschʿarı¯ (2005) 566.14.

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Es ist deutlich, dass die Gefahr besteht, die bösen Taten, die der Mensch dann erfährt und ausführt, Gott zuzuschreiben. Um jedoch die Aussage zu vermeiden, dass Gott böse sei und dass das Böse direkt von ihm komme, erklärte al-Aschʿarı¯, dass das Böse, obschon von Gott – dem einzigen Schöpfer aller menschlichen Handlungen – geschaffen, nicht zu seiner Natur gehöre: Das Böse sei „das Böse anderer“ (sˇarrun li-g˙ayrihi). Obwohl Gott die böse Tat schafft, bleibt er als Schöpfer des Guten gerecht und großzügig. Stattdessen schleicht sich das Böse in der Natur des menschlichen Individuums ein, das sich diese Handlung aneignet, seinen eigenen Willen daran ausrichtet und so böse wird. Die Frage nach dem Bösen ist seit der Gründung der Aschʿarı¯ya ein Thema, über das in der Schule nachgedacht wird. Tatsächlich wurde der Tradition zufolge die Muʿtazilitische Schule geboren, als al-Aschʿarı¯ dem Lehrer alDschubba¯ʿı¯ das „Dilemma der drei Brüder“ vorschlug: Der Schaych [al-Aschʿari], Gott sei zufrieden mit ihm, fragte Abu¯ ʿAlı¯ [al-Dschubba¯ʿı¯]: „O Schaych, was haben Sie über drei Menschen zu sagen, einen Gläubigen, einen Ungläubigen und ein Kind?“ Und er antwortete: „Der Gläubige ist unter den Menschen in den Rängen [höher im Himmel], der Ungläubige ist unter den Menschen, die zugrunde gehen, und das Kind ist unter den Menschen, die gerettet werden.“ Und der Schaych sagte: „Wenn das Kind unter den Menschen der [höheren] Ränge aufsteigen will, ist das möglich?“ Al-Dschubba¯ʿı¯ antwortete: „Nein, man wird ihm sagen, dass der Gläubige diesen Rang nur durch Gehorsam erhält, und in Ihnen ist nichts Vergleichbares.“ Dann sagte der Schaych: „Und wenn er sagt: ‚Die Unzulänglichkeit kommt nicht von mir, und wenn ihr mich am Leben gelassen hättet, dann könnte ich Gehorsam leisten, wie es der Gläubige getan hat‘.“ Al-Dschubba¯ʿı¯ antwortete: „Gott wird ihm sagen: ‚Ich wusste, wenn du am Leben bleibst, würdest du ungehorsam sein und bestraft werden, also habe ich überlegt, was richtig und das Beste für dich ist, und vereinbart, dass du vor dem Zeitalter der Erfüllung zugrunde gehen würdest‘“. Er antwortete dem Schaych: „Wenn der Ungläubige sagte: ‚Herr, du kanntest seinen Zustand so gut wie meinen, warum hast du dann nicht überlegt, was für mich das Beste ist, so wie du es bei ihm getan hast?‘“. Dann verzichtete al-Dschubba¯ʿı¯33.

Wenn wir für einen Moment die logische Schwierigkeit des von al-Aschʿarı¯ formulierten Trilemmas ignorieren, zeigt uns die Episode deutlich den kundigen 33 Das Dilemma hat zehn verschiedene Versionen. Ich wähle die Version von Ta¯j al-Dı¯n al-Subkı¯ (gestorben 1370) wegen der Vollständigkeit der Informationen, die sie liefert, obwohl die Geschichte zur Zeit von al-Subkı¯ fiktionalisiert und mit lehrhaften Elementen geladen ist. Vgl. dazu Gwynne (1985). Der Text ist zitiert nach: Ta¯j al-Dı¯n al-Subkı¯ (1956) 3, 356–357, vgl. auch Klein (1940) 27 und Gwynne (1985) 148–149: ‫ ﺍﻟﻤﺆﻣﻦ ﻣﻦ ﺃﻫﻞ ﺍﻟﺪﺭﺟﺎﺕ‬:‫ ﺃﻳﻬﺎ ﺍﻟﺸﻴﺦ ﻣﺎ ﻗﻮﻟﻚ ﻓﻲ ﺛﻼﺛﺔ ﻣﺆﻣﻦ ﻭﻛﺎﻓﺮ ﻭﺻﺒﻲ؟ ﻓﻘﺎﻝ‬:‫ﺳﺄﻝ ﺍﻟﺸﻴﺦ ﺭﺿﻲ ﺍﻟﻠﻪ ﻋﻨﻪ ﺃﺑﺎ ﻋﻠﻲ ﻓﻘﺎﻝ‬ ‫ ﻓﺈﻥ ﺍﺭﺍﺩ ﺍﻟﺼﺒﻲ ﺍﻥ ﻳﺮﻗﻰ ﺍﻟﻰ ﺃﻫﻞ ﺍﻟﺪﺭﺟﺎﺕ ﻫﻞ ﻳﻤﻜﻦ؟ ﻗﺎﻝ ﺍﻟﺠﺒﺎﺋﻲ‬:‫ ﻓﻘﺎﻝ ﺍﻟﺸﻴﺦ‬.‫ﻭﺍﻟﻜﺎﻓﺮ ﻣﻦ ﺃﻫﻞ ﺍﻟﻬﻠﻜﺎﺕ ﻭﺍﻟﺼﺒﻲ ﻣﻦ ﺃﻫﻞ ﺍﻟﻨﺠﺎﺓ‬ ‫ ﺍﻟﺘﻘﺼﻴﺮ ﻟﻴﺲ ﻣﻨﻲ ﻓﻠﻮ ﺍﺣﻴﻴﺘﻨﻲ ﻛﻨﺖ ﻋﻤﻠﺖ‬:‫ ﻓﺎﻥ ﻗﺎﻝ‬:‫ ﻗﺎﻝ ﺍﻟﺸﻴﺦ‬.‫ ﻳﻘﺎﻝ ﻟﻪ ﺇﻥ ﺍﻟﻤﺆﻣﻦ ﺍﻧﻤﺎ ﻧﺎﻝ ﻫﺬﻩ ﺍﻟﺪﺭﺟﺔ ﺑﺎﻟﻄﺎﻋﺔ ﻭﻟﻴﺲ ﻟﻚ ﻣﺜﻠﻬﺎ‬،‫ﻻ‬ ‫ ﻛﻨﺖ ﺃﻋﻠﻢ ﺍﻧﻚ ﻟﻮ ﺑﻘﻴﺖ ﻟﻌﺼﻴﺖ ﻭﻟﻌﻘﻮﺑﺔ ﻓﺮﺍﻋﻴﺖ ﻣﺼﻠﺤﺘﻚ ﻭﺍﻣ ّﺘﻚ ﻗﺒﻞ ﺍﻥ‬:‫ ﻳﻘﻮﻝ ﻟﻪ ﺍﻟﻠﻪ‬:‫ ﻗﺎﻝ ﺍﻟﺠﺒﺎﺋﻲ‬.‫ﻣﻦ ﺍﻟﻄﺎﻋﺎﺕ ﻛﻌﻤﻞ ﺍﻟﻤﺆﻣﻦ‬ ‫ ﻳﺎ ﺭﺏ ﻋﻠﻤﺖ ﺣﺎﻟﻪ ﻛﻤﺎ ﻋﻠﻤﺖ ﺣﺎﻟﻲ ﻓﻬﻼ ﺭﺍﻋﻴﺖ ﻣﺼﻠﺤﺘﻲ ﻣﺜﻠﻪ؟ ﻓﺎﻧﻘﻄﻊ‬:‫ ﻓﻠﻮ ﻗﺎﻝ ﺍﻟﻜﺎﻓﺮ‬:‫ ﻗﺎﻝ ﺍﻟﺸﻴﺦ‬.‫ﺗﻨﺘﻬﻲ ﺍﻟﻰ ﺳﻦ ﺍﻟﺘﻜﻠﻴﻒ‬ .‫ﺍﻟﺠﺒﺎﺋﻲ‬

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Einsatz der Dialektik in den Auseinandersetzungen zwischen den Mutakallimu¯n. Inzwischen ist es bekannt, dass der Kala¯m in ihrer Entstehungsphase den entscheidenden Einfluss der falsafa und der syrisch-griechisch-arabischen Übersetzungsbewegung erfahren hat. Die aristotelische Logik war das am meisten geschätzte Studiengebiet der syrischen christlichen Theologen und Mutakallimu¯n, die sie sowohl bei internen Streitigkeiten als auch bei Auseinandersetzungen mit anderen Religionsgemeinschaften einsetzten. Um auf den Inhalt des Trilemmas zurückzukommen: Es ist klar, dass es keinen Ausweg aus der von al-Aschʿarı¯ aufgeworfenen Schwierigkeit gibt. Entweder bleiben wir der Tatsache treu, dass die göttliche Gerechtigkeit den Kosmos bereits nach dem Besten bestimmt hat, wie die Muʿtazila behauptet, oder wir stellen die Allmacht Gottes in den Vordergrund, völlig losgelöst von den menschlichen Kanones der Gerechtigkeit und des Guten, wie al-Aschʿarı¯ behaupten wird. Nach der ersten These ist das Prinzip der Gerechtigkeit (und des Besten) auch Gott selbst äußerlich, der ihm notgedrungen folgt. Das Dilemma bleibt jedoch bestehen, und dann kann nur das endgültige Schweigen von alDschubba¯ʿı¯ folgen. Betrachtet man hingegen die zweite aschʿaritische These, so folgt Gott keinem extrinsischen Prinzip, weil er selber ein allmächtiges Prinzip ist. Daher ist es nach dieser These nicht erlaubt, dass sich der Mensch fragt, ob das, was Gott für den Menschen gewählt und verwirklicht hat, richtig ist oder nicht. Die aschʿaritische lehrmäßige Wahl eliminiert de facto die Frage nach dem Handeln Gottes, da der Maßstab des Urteils nicht mehr der menschliche ist. Sie findet jedoch kein gleichwertiges Maß für die menschliche Verantwortung, die in dieser Theologie nach wie vor am meisten fehlt.

5.

Schlussfolgerungen

Abschließend bleibt die Aporie, die anfangs konstatiert wurde, und der zufolge das Böse Beraubung des Seins, aber gleichzeitig notwendig ist. Diese Schwierigkeit zeigt sich im neuplatonischen Modell des Alexander Arabus, während sie für die beiden anderen Autoren erst aufgezeigt werden muss. In Abu¯ Qurra wird die Frage nach dem Bösen durch die Entscheidung, die Absichten der menschlichen Seele dem Gericht Gottes zu unterwerfen, nicht beseitigt, sondern im Sinne eines ethischen Intellektualismus neu gestellt. Für die Orthodoxie der Aschʿarı¯ya bedeutet die Sicherung der Allmacht Gottes stattdessen die Reduzierung und beinahe vollständige Aufhebung der Handlungsfähigkeit des Menschen. Tatsächlich wird in al-Aschʿarı¯ das Thema mit einem entscheidenden, aber bei weitem nicht auflösenden non possumus völlig abgelehnt.

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Fabrizio Lelli

Humanists and the Bible: between Intellectual Renovation and Search of the Original Sources

Abstract The study of biblical languages, and especially of Hebrew, became crucial for the intellectual agenda of 15th- and 16th-century Italian humanist scholars, both Christian and Jewish. The original language of the Scripture was held as a fundamental for the correct understanding of the origins of Christianity, though it also reflected a culture that was often identified as hostile; at the same time, the Hebrew Bible became the touchstone for the interpretation of contemporary scientific discoveries. Moving from the analysis of the works and thought of two Renaissance scholars, the Christian Giovanni Pico della Mirandola, and the Jewish Abraham ben Mordekhai Farissol, the article discusses some of the many reasons that induced humanists to draw upon biblical Hebrew to adapt any scientific discipline to the Scripture and to ultimately make the Bible the centre of their intellectual quest.

1.

Foreword

The profound concern of 14th-century Italian scholars with classical Greek interrupted the long-lasting monopoly of Latin language in Western Europe. The renaissance of Greek studies paved the way to the reappraisal of biblical Hebrew. Such an attitude gradually intensified from the first half of the 15th century, and especially in the Northern Italian area. Indeed, for centuries Hebrew had been deemed as the primeval language of the human kind, the perfect idiom by which God spoke to the first man, to the biblical patriarchs and prophets. This is why the original language of the Scripture was considered as the most effective device to fully comprehend the hidden meanings of pristine religious doctrines and divine revelations1. Moved by this assumption, 15th-century humanists turned to a thorough survey of the original Bible: such attitude was subsequently labelled as the quest of the Hebraica Veritas (the truth underlying the Hebrew text of the Scripture). Scholars who were approaching the ancient oriental language, both laymen and religious, were theologians and grammarians at the same time, al1 See Zinguer (1992).

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Fabrizio Lelli

though the distinction between their philological and theological fields of expertise cannot be defined in the same terms commonly used in present-day scholarship. By and large, we may maintain that 15th-century exegetes attempted to harmonise the two disciplines, although from the most varied individual perspectives and to the most diverse purposes2. Just as humanists hired Byzantine scholars for deepening their knowledge of Greek, so they favoured the encounter with Jewish exegetes to delve into the mysteries of the Hebrew Scripture. Indeed, already in previous centuries, Italian Christian scholars had debated with their Jewish colleagues on both philosophical and theological matters3. However, regardless of their respective faith, medieval intellectuals mostly saw themselves as rivals engaged in a contest that viewed the opponents as intellectual peers. On the contrary, the 15th century fascination with ancient and oriental languages placed Jewish scholars at a higher level than their interlocutors, and the relationship between them was no longer balanced, all the more so since non-Jews were “buying” the service of their counterparts. This commercial side of the encounter ultimately made the figure of the Jewish intellectual less transparent. Over a few generations, Jews, who were hired also for their astrological and magical competences, came to be endowed with a halo of holiness that turned them into some sort of exotic wizards4. It may be surprising that such an understanding of non-Christian scholars had been ultimately triggered by the humanist revival of philology. This same attitude is to be held responsible for the harsher separation between the Christian and the Jewish scholarly milieus that would still affect the relationships between the two faiths in the following centuries. While polemic and apologetic debates were still taking place in the age of the ghettoes, the Christian interest in the “occult” interpretation of the Bible, instead of fostering mutual understanding, gave rise to mixed feelings of fear and hostility against the Jews. To such climate certainly contributed the criticism on the authority of the Vulgate, which also Christian scholars no longer saw as a reliable source for the correct interpretation of the Bible. Renaissance men of science belonging to the two faiths analogously drew upon the Hebrew text to find the answers to their intellectual queries5. Significant testimonies of such an attitude are, for instance, the Portuguese-born converso physician Amatus Lusitanus (1511–1568), active in Northern Italy in the first half of the 16th century, and the Bolognese naturalist Ulisse Aldrovandi (1522–1605)6.

2 3 4 5 6

Cf. Zatelli – Lelli – Ventura Avanzinelli (1994) 160–163 and Garofalo (1947). Cf. Schiano (2014). Cf. Lelli (2011). Cf. Berns (2015) 51–54. See Berns (2015) 43.

Humanists and the Bible

2.

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Giovanni Pico della Mirandola

From what has been said follows that humanists were concerned with a multilayered knowledge of the language of the Jews: on one hand, Hebrew was fundamental for the correct understanding of the origins of Christianity; on the other hand, it reflected a culture that was identified as hostile. The first secular Christian scholars of Hebrew showed an ambiguous attitude that oscillated between reaction and attraction, between the authentic interest in the Jewish legacy and the inability to break away from a deeply rooted anti-Jewish tradition. It was this attitude that ultimately induced Christian humanists to draw upon the linguistic tools of their teachers of Hebrew to fabricate weapons that aimed to convert the people of Israel. The Florentine Giannozzo Manetti (1396–1459), for instance, proudly inscribed his Hebrew Bible7 with the personal note that on Sunday, November 11th, 1442 he successfully started reading the original text of the Scripture with the help of his Jewish mentor, Immanuel ben Abraham of San Miniato, who also tutored him in the Latin translation of the Book of Psalms; on the other hand, Manetti wrote the massive but unachieved work Adversus Judaeos et Gentes (Against the Jews and the Gentiles), in which he elaborated upon the most traditional sources of Christian anti-Jewish literature8. Towards the end of the century, the Tuscan Angelo Poliziano (1454–1494) maintained that the Hebrew text of the Scripture, with which he seems to be fairly well acquainted, was not fully reliable9. In the following generation, the Genoese Agostino Giustiniani (1470–1536), a cultured bishop who authored and sponsored the 1516 edition of a Polyglot Psalter10, was convinced that Jews had altered the sacred text of the Bible to make it unintelligible to Christians: according to him, the latter should become familiar with Aramaic translations of the Scripture, as these would provide a version of the Holy Writ closer to the divinely inspired original. Indeed, 16th-century Christian scholars were more eager than their Jewish colleagues to rediscover and publish in print Aramaic targumin11. It is against this intellectual background that the figure of Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494) should be placed and studied. In his quest of the Hebrew truth he was apparently motivated, at least at the beginning, by an authentic and profound concern with the philological rediscovery of the biblical text. Pico’s approach to the Scripture moved from the study of Hebrew grammar and the interpretation of the literal meaning of the sacred text. He was subsequently 7 8 9 10 11

Ms. Vatican City, Vatican Library, Ebr. 8, fol. 467r (see Richler [2008] 5). Cf. Manetti (2017). Cf. Poliziano, Miscellaneorum Centuria prima, chapter XIII (in Poliziano [1498] fol. H8r). Cf. Lelli (1991). Cf. Zatelli – Lelli – Ventura Avanzinelli (1994) 161.

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Fabrizio Lelli

made aware by his Jewish assistants about the huge corpus of Hebrew exegetic literature that had been composed from the late antiquity through the Middle Ages. Thus, Pico extended the horizons of his search and became familiar with the ancient Midrashim and the medieval commentaries that had merged the more traditional Rabbinic exegesis with rational trends of thought (mainly of Greek-Arabic origin) that had been borrowed by non-Jewish authors. From his Jewish mentors Pico requested the translation of entire biblical commentaries written by medieval Jewish interpreters (primarily by the 14th-century Provencal Levi ben Gershon or Gersonides), by means of which he discovered new strategies of analysis of the Scripture. Pico’s goal was that of collecting all possible evidence that would allow him to compare the exegetic tools of the Jews to contemporary humanist readings of the recently rediscovered corpora of oriental sources (allegedly attributed to ancient prophetic figures such as Hermes Trismegistus) that were especially cherished by the Florentine milieu of the philosopher Marsilio Ficino (1433–1499)12. By keeping faithful to the ancient Jewish and Christian distinction of the four interpretative layers in the Scripture, Pico followed the hermeneutic approach of the Pardes, the Hebrew word for “paradise” – but also the acronym of the words peshat, remez, derash, sod, i. e. “literal, moral, allegoric, and anagogic meaning”. Profoundly attracted by this intellectual exegesis, Pico gradually and quickly moved from the analysis of the first three levels to the last and loftiest of all, the hidden meaning, by drawing upon the texts that were made available to him by his Jewish assistants. The latter disclosed to him an interpretation that came to be known as “Kabbalistic”, by which man may find in the Scripture the most secret meanings of the divine Godhead and His creation13. In his own exegesis of the Holy Writ, Pico gave his accurate analysis of the Hebrew truth, by quoting literally the biblical text and comparing it to its Aramaic, Greek, and Latin versions. However, he also used the Bible as a touchstone for better comprehending disciplines that were not apparently included in the Scripture. For instance, in his Commentary on Psalm 17 (18, according to Christian numbering), Pico comments on verses 22–23: “For I have kept the ways of the Lord; I am not guilty of turning from my God. / All His laws are before me; I have not turned away from His decrees” as follows: On this Jerome comments: “… according to purity and not impiously have I acted far from my God, since all His laws are in front of me, and I have not turned away from His precepts”. Hoch [in Hebrew] literally means decree; but justice differs from the law, since the latter has the rationale of its statutes. Hec [in Hebrew] means instead a decree that does not have a rationale, as in “Do not wear clothing woven of two kinds of 12 Cf. Lelli (2000). 13 Cf. Zatelli – Lelli – Ventura Avanzinelli (1994) 162 and Lelli (2014).

Humanists and the Bible

159

material” [Lev. 19, 19]. “For I have kept the ways of the Lord”: this refers to the moral positive precepts14.

Pico seems to adhere to classical Rabbinic exegesis, according to which each word of a biblical verse can be compared to other occurrences of the same term in different sections of the Scripture. Such interpretation aims to show the universality of the Bible, as well as the interconnectedness of all sections of the Holy Writ. The notion of “positive precepts” is introduced by Pico on the basis of the traditional distinction in Jewish ethics between positive and negative commandments. Further on, dealing with the Hebrew term tamim in verse 24 of Psalm 17, Pico states: In the Hebrew text we find the word tamim, that the Septuagint renders “immaculate” and later on we find “innocent” and further on “incontaminate”… However, Jews explain this as “simple-hearted”: “and I will be simple-hearted to Him, i. e. with God, and they say that those men that do not look for the rationale of God’s judgments are simple-hearted to God…”15.

In this case the comparison of different versions of the Scripture is corroborated by the authority of one of the most widely quoted medieval Jewish commentators of the Psalter, the French David Kimchi (1160–1235). Later on Pico comments: “… this is the opinion of the Midrash and the most recent interpreter Solomon …”16. The latter is none else than Solomon ben Isaac from Troyes (aka by his acronym Rashi, 1040–1105). Subsequently, the opinion of the Iberian Abraham ibn Ezra (1092–1167) and of the late 3rd-century Amorite Samuel ben Nahmani are mentioned. At the end of his commentary, Pico adds: “These and similar subjects, even though expressed with different words, have been dealt with by Hesiod and Plato …”17. From this short excerpt we may understand the extent of Pico’s knowledge of the Bible, Rabbinic literature and medieval Jewish exegesis, as well as his attempt to compare these Hebrew corpora with Greco-Latin authorities. Pico’s renown is mainly associated with his specific interest in Jewish Kabbalah. His long 1489 treatise Heptaplus (Seven-fold [Commentary]), a multilayered interpretation of the first chapter of the Book of Genesis, testimonies the author’s ability to adapt non-Jewish speculative systems to the hermeneutic models of Jewish Kabbalah. Pico was the first scholar in Western Europe that requested the Latin translation of the most circulated Hebrew Kabbalistic treatises, thus paving the way to the Christian search for Kabbalistic knowledge that 14 15 16 17

Pico (1997) 134–135. Pico (1997) 134–135. Pico (1997) 144–145. Pico (1997) 152–155.

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would become widespread in later generations all over Europe18. As a matter of fact, the Hebrew word qabbalah (literally: “reception”) alludes to any authoritative tradition that is unanimously accepted by scholars. This original connotation makes all juridical Jewish corpora handed down from antiquity the object of the thorough studies of Rabbinic academies. However, since Pico (like his Christian followers) was much more concerned with the Jewish mystical than with the juridical interpretation of the Scripture, qabbalah was ultimately referred only to the hidden meaning of the Bible. It is worth of note that this semantic shift was accepted also by Jews19. From this brief survey, Pico appears to have been a very brilliant scholar, an innovative and talented intellectual who anticipated many of the cultural trends which would become fashionable in the following generations. However, polemic expressions issued from medieval apologetic literature, such as “Synagogue of Satan” or “stiff-necked Jews”, that are interspersed in Pico’s works, invite the modern readers to be cautious about the humanist’s “modernity”. It is true that Pico’s interest in the Hebrew Bible aimed to approach the mysteries of the universe from a non-rational viewpoint. However, not unlike Manetti and Ficino, Pico openly declared that the main reason for studying Hebrew was apologetic: like most of his Christian colleagues, Pico drew upon his extensive knowledge of Judaism to stress the superiority of his own faith and, ultimately, to induce his scholarly interlocutors to convert.

3.

Abraham ben Mordekhai Farissol

Thus, in spite of the innovative methods, contents and aims of humanist biblical exegesis followed in the footsteps of the research of previous generations. We have already remarked that both Jewish and Christian early modern scholars drew upon the Hebrew Scripture to explain contemporary scientific achievements and we have referred, for instance, to the 1516 Agostino Giustiniani’s Genoese edition of a Polyglot Psalter. In it a marginal note to Psalm 19, 4: “Yet their voice goes out into all the earth, their words to the ends of the world” interprets this verse as an allusion to the discovery of America. For the first time, a short biography of a contemporary navigator, Cristopher Columbus, and a brief description of a new continent were used to comment upon a biblical text20. We have just discussed some of the most common attitudes to biblical studies among Christian humanists. In their turn, Renaissance Jewish interpreters of the 18 Cf. Lelli (2014). 19 Cf. Lelli (2008). 20 See Lelli (1991).

Humanists and the Bible

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Bible drew upon the traditional hermeneutics of the Scripture to justify contemporary scientific achievements. For instance, in his 1524 treatise Iggeret Orhot ‘Olam (“A Letter on the Ways of the World”), the Provencal-born Jew Abraham ben Mordekhay Farissol (1452-ca. 1528) describes the most recent geographic discoveries of his generation that were reshaping the borders of the medieval world and were about to transform dramatically the self-perception of the Europeans21. For the first time in the history of Jewish literature, a Hebrew work was totally consecrated to geography. For the first time a Jewish author paid tribute to the impressive deeds of his contemporaneous Christian navigators, praising “Cristopher Columbus from Genoa”22, and providing information on the American continent23. Farissol’s work was evidently inspired by contemporary books produced by Christian “cosmographers”, and especially by Francanzo (Francesco Antonio) of Montalboddo’s Paesi novamente retrovati et novo mondo da Alberico Vesputio intitulato (“Newly Discovered Countries and New World called after Alberico [i. e. Amerigo] Vespucci”)24. However, the Jewish author, by following in the footsteps of medieval Hebrew tradition, drew upon the Scripture for the title of his treatise: Orhot ‘Olam or “Ways of the World” is a quotation from the Book of Job (22, 15), where the phrase is imbued with a profoundly different meaning than what we would expect from the subject of Farissol’s treatise. In the standardised English version of the Bible the verse reads: “Will you keep to the old path that the wicked have trod?” By clearly pointing at the double meaning of the Hebrew word ‘olam (which can be used in both spatial and temporal connotations, like Latin saeculum), Farissol’s orhot ‘olam are certainly not “the paths of wickedness” (as in Job), but “the ways of the [new] world”, the itineraries a modern traveler should follow; at the same time, they are the ways of the valued tradition that should not be abandoned, even in new worlds. Despite the major changes produced by the recent geographic discoveries, men should keep faithful to the word of the Lord. Farissol’s treatise Orhot ‘Olam is evidently grounded in a long lasting interest of the author in geography and the Bible. Already in his Commentary on the Book of Job, Farissol had stressed the role of geography: the author explainsed the location of the biblical land of Utz, described the caravan routes and customs of the East, and indicated the seven climatic zones of the world; even though at the beginning he held that the lands below the equator are uninhabitable by man, he

21 22 23 24

See Ruderman (1991) 131–143. Farissol (1691) 117. Farissol (1691) 184–186. This was an Italian anthology of travel accounts, first published in Vicenza 1507.

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later added that the southern hemisphere is indeed inhabitable and referred to contemporary discoveries25. Farissol’s Commentary on Job was printed in Venice by Daniel Bomberg in 1517 in the first Biblia Rabbinica edition. Like his Mantuan teacher Judah Messer Leon (ca. 1420-ca. 1498), Farissol was lucky enough to see his manuscript work published in print while he was still alive. It is true that even in previous generations Italian Jews had often taken advantage of the innovations that had reshaped Italian culture so deeply. Judah Messer Leon had been a pioneer in the field. In his “itinerant” yeshivah, he had taught many Jewish students Aristotelian philosophy, rhetoric, and other topics that constituted the core of the Italian humanist curriculum. In his masterwork, Sefer Nofet Zufim (“The Book of the Honeycomb’s Flow”), Messer Leon highlighted the significant role played by natural sciences in Jewish education: After we have come to know all the sciences or some part of them, we study the words of the Torah, then the eyes of our understanding open to the fact that the sciences are included in the Torah’s words, and we wonder how we could have failed to realise this from the Torah itself to begin with26.

The intellectual receptivity of the Italian Jewish scholars was subject to the condition that the new literary and scientific attitudes be concordant with biblical and post-biblical traditional Jewish lore. Just as Messer Leon had rediscovered classical rhetoric in the Hebrew Scripture, so Farissol wanted to match the interest of his contemporaries in geographic discoveries with the Jewish traditional interpretation of the Bible. His goal was that of demonstrating that the Hebrew Scripture, the revealed word of the living God, was the treasured source of all possible knowledge and information. It is in such vein that in the introduction to his geographic treatise, after listing the many topics he will be dealing with, Farissol exclaims: Try now to understand how much all those scholars [i. e. non-Jewish scientists] lack the Divine Law, by noting the many places from which – when correctly interpreted – we may derive all possible information on the borders [of hitherto unknown lands], on the people of those lands, and on the natural phenomena occurring in those same places, as it is evident from the Book of Genesis, or information on the history of the generations of the people, and their borders, and their countries, as can be found in the Book of Joshua …27.

This is why modern readers should not be surprised by Farissol’s descriptions of actual places and people along with “the River Sambatyon and the Jews who lived 25 Cf. Ruderman (1991) 133–134. 26 Messer Leon (1983) 144–145. 27 Farissol (1691) 3.

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beyond it28; the boundaries of the Land of Israel … and the earthly Garden of Eden”29. Indeed, in the final chapter of the Iggeret, Farissol enumerates the possible locations of the Garden of Eden and eventually establishes its location in the Moon’s Mountains region in Africa, i. e. the mythical sources of the Nile30. Echoing Giustiniani’s commentary on Psalm 19, Farissol remarks: “Certainly, the word of the Lord has not been written in vain, but to let us know that all the inhabited worlds look like, as well as all the peculiarities of the wonders that God has bestowed on his own creation”31. The apparent rationale of Farissol – that his work should ultimately correct the errors of the cosmography of traditional authorities – seems to cope with religious polemic attitudes that were still current in Renaissance Italy, like in previous centuries. Indeed, the author hints at nonJewish authors who, even though excellent scholars, are not in a position to adapt their research to biblical sources32. This statement should not surprise us, when we think of Farissol as a talented polemist: the debate held by him in 1487 in Ferrara, at Duke Hercules I Este’s court, against the Dominican theologian Pietro Palagiano from Trani played a significant role in the local Jewish-Christian relationships. Farissol’s words in chapter 13 of his treatise clarify the intent of the author’s search: [I address] all those who give credit to the grace and glory of the Divine Law, so that they be in a position to proclaim the Word of the Lord, when they eventually give up their yearning to what constitutes a wonder for the people of our days – such as the newly discovered lands – to what seems to be a prodigy in their eyes, all the more so since the great scientist Ptolemy never mentioned those places in his works …33.

Despite Farissol’s criticism of traditional (and especially pagan) authorities, the cosmological picture of the world in the Iggeret Orhot ‘Olam was essentially based on that of Aristotle and Ptolemy. The author’s references to the location of the biblical land of Ophir, the kingdom of the mythical Prester John, and the location of Jerusalem as the center of the world, parallel standard themes shared by Christian as well as Jewish geographers throughout the Middle Ages34. The Iggeret Orhot ‘Olam is not atypical of the intellectual world of its time, deeply invested in new knowledge and yet filtering all of it through the lens of biblical exegesis and 28 Farissol is referring to the legendary Ten Lost Tribes, i. e. the tribes of Jews that were said to have been deported from the Northern Kingdom of Israel after the 8th-century BCE Assyrian conquest. Their descendants should still be living throughout the world, and they will ultimately return to the Land of Israel in messianic times. 29 Farissol (1691) 3. 30 Cf. Farissol (1691) 186–196. 31 Farissol (1691) 3. 32 Cf. Farissol (1691) 4. 33 Farissol (1691) 84–85. 34 Cf. Ruderman (1991) 136.

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traditional medieval sources: seeing new science contained in ancient texts, and messianic fulfilment on exotic shores. Faith and science merge into the intellectual agenda of Jewish and Christian authors fascinated by the major themes of the humanist search. The cases taken into account in this paper are not unique: many were the scholars who lived and worked in Renaissance Italy that cherished what in Hebrew terms was named “external sciences”, i. e. the disciplines from which traditionalists should turn away. The analysis of the collections of books belonging to Italian scholars – let us think, for instance, of those of Pietro Bembo (1470–1547) and of Elijah Menahem Halfan (ca. 1480–ca. 1551) – reveal the great concern of their owners with contemporary scientific discoveries, as well as with traditional biblical lore35. As in previous centuries, any discipline could be adopted by both Jews and Christians only if adaptable to the Scripture: this can be held by and large as the ultimate purpose of the search for Hebrew truth by Renaissance Italian scholars.

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Humanists and the Bible

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Ingo Klitzsch

„… dis alte Schrekbild, Neuerung, Neologen, Gefar der christlichen Religion“. Beobachtungen zur Neuinterpretation des Verhältnisses von Religionen und Konfessionen in der protestantischen Aufklärungstheologie

Abstract The theology of enlightenment was harshly criticized as „new“, as can be grasped by the reactions to the so-called „Marburger Neologentreffen“ in June 1770 for example. Three of the participants, Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709–1789), Johann Joachim Spalding (1714–1804) and Johann Salomo Semler (1725–1791), dealt with the relation of the different religions and denominations later on, using themselves the distinction „old/ new“. The comparison of the three thinkers reveals significant differences, in spite of their common theological background. Furthermore, some light is shed on the background of the church unions as well as of the theology of religions of the 19th century implicitly.

1.

Einleitung

„Unser Zeitalter wird besonders durch dis alte Schrekbild, Neuerung, Neologen, Gefar der christlichen Religion, gar sehr beunruhiget“1. Zu dieser Diagnose kommt der wohl bekannteste Vertreter der als „Neologie“2 bezeichneten reifen Gestalt der Aufklärungstheologie, Johann Salomo Semler, im Jahr 1787. Biographisch grundgelegt ist sie wohl im „Marburger Neologentreffen“ vom Juni 1770. Ein an sich harmloses Treffen zum gelehrten Austausch führender Theologen, u. a. dem Berliner lutherischen Propst und preußischen Oberkonsistorialrat Johann Joachim Spalding, seinem reformierten Kollegen August Friedrich Wilhelm Sack und zwei weiteren Lutheranern, dem Braunschweiger Abt Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem und dem Hallenser Universitätsprofessor Semler. Das überkonfessionelle Gespräch hat zeitgenössisch erhebliche Diskussionen und Gerüchte ausgelöst. Dass dabei der „Neuheitsvorwurf“ mitschwang, wird an 1 Semler (1787) a6r. 2 Zum Forschungsbegriff, seiner zeitgenössischen Verwendung und seinem geschichtlichen Umriss vgl. Beutel (2006) 248–251. Das von Spehr benannte Forschungsdesiderat einer „umfangreiche[n] Begriffsanalyse und differenzierte[n] Untersuchung dessen, was Aufklärungsgegner unter ‚Neuerer‘, ‚neuere Reformatoren‘, ‚Neulinge‘ oder ‚Neologen‘ verstanden“ (Spehr [2006] 102109) besteht leider weiterhin.

168

Ingo Klitzsch

Schlagworten wie „Socinianersynode“, „Verschwörung wider die Religion“, „neuer Religionsplan“ sowie „Plan zur Umstürzung des bisherigen Lehrbegriffs und Kirchensystems“ verdichtet greifbar3. Zwar erhält es seine historische Bedeutung letztlich erst durch die antiaufklärerische Propaganda, dennoch wird deutlich, wie angespannt die Situation im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts war. Im Folgenden soll nun überprüft werden, inwiefern die „Neologen“ selbst auf die Argumentationsfigur „alt/neu“ zurückgegriffen haben, und zwar fokussiert auf die Frage nach der Verhältnisbestimmung der Religionen und Konfessionen. Dies bietet sich insofern an, als von den genannten Vertretern – mit Ausnahme von Sack – entsprechende Publikationen vorliegen, erschienen zwischen 1771 und 1787, in der Blütezeit der „Neologie“.

2.

Friedrich Wilhelm Jerusalem: Ueber die Vereinigung der Römischen und Protestantischen Kirche ([1770]/1772)

Die älteste Schrift stammt von Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709–1789) und datiert Anfang der 1770er Jahre. Als lutherischer Hofprediger, Direktor des Collegium Carolinum und Abt von Marienthal und Riddagshausen sowie Vizepräsident des Konsistoriums Wolfenbüttel hat er maßgeblich dazu beigetragen, dass Braunschweig zu einem Zentrum der Aufklärung wurde4. Die von ihm als Promemoria, d. h. Denkschrift, bezeichnete Schrift Ueber die Vereinigung der Römischen und Protestantischen Kirche wurde mehrfach aufgelegt, ist der damaligen Öffentlichkeit zunächst, d. h. im Jahr 1772, jedoch nur durch gezielte Indiskretion bekannt geworden5. Ursprünglich antwortete der Lutheraner mit diesem Werk im Sommer oder Herbst 1770 privatissime auf eine nicht minder vertrauliche Anfrage zur Wiedervereinigung von Katholiken und Protestanten6. 3 Zu dieser Zusammenkunft im Kontext der Visitation des Klosters Berg und der dadurch ausgelösten Kontroverse vgl. Spehr (2006). 4 Zu Jerusalem vgl. insbesondere den Sammelband Pollmann (1991) sowie Müller (1984), bedingt auch noch Koldewey (1869). Ein kurzes Biogramm sowie weitere Literaturhinweise bieten Beutel (2006) 254–256 sowie Spehr (2005) 531. 5 Zur Editionsgeschichte bzw. den verschiedenen Drucken vgl. Spehr (2005) 57–62. Zitate erfolgen nach der vom Autor autorisierten Fassung, die im zweiten Band der „Nachgelassenen Schriften“ (1793) greifbar ist und zwar nach dem Exemplar der Münchner Staatsbibliothek (Signatur: Opp. 503–2). Von „Promemoria“ spricht Jerusalem in seinem Schreiben an den Herrn von Ohlenschlager, das dem Raubdruck von 1772 beigefügt ist (vgl. Jerusalem [1772] [1]– [5]. [3]). 6 Initiatoren waren der dänische Diplomat Friedrich Ludwig Graf von Dehn (1697–1771) und der Turiner Kardinal delle Lanze (1712–1784). Da die Hintergründe und auch die Schrift selbst vor allem von Christopher Spehr in seiner Promotionsschrift ausführlich gewürdigt worden

„… dis alte Schrekbild, Neuerung, Neologen, Gefar der christlichen Religion“

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Insofern zielt diese Schrift vor allem auf die Konfessionen. Zwar spricht auch Jerusalem immer wieder von „Religion“, bezeichnet damit aber vorrangig das Christentum. Dieses wird einerseits als perfektibel, andererseits aber als vollkommenste Stufe aller Religionen angesehen, wie in der Kirchenvereinigungsschrift zu Beginn implizit an der Rede von der „göttliche[n] Religion“ und ihrem „göttliche[n] Stifter“ deutlich wird7. Das dem unautorisierten Druck beigegebene Übermittlungsschreiben Jerusalems lässt erkennen, wie widerwillig der Braunschweiger der Bitte nach einer Stellungnahme nachgekommen war, da er von dogmatisch fundierten Vereinigungsversuchen wenig Fortschritt erwartet8. Im Hintergrund seiner dann doch übermittelten Überlegungen steht eine optimistische Gegenwartsdeutung, die sich einem aufklärerischen Neuheitsanspruch verdankt: Das Licht der wahren Philosophie fängt an mit einem schnellern Forgang, als die Welt noch je gekannt hat, über den Horizont der Christenheit sich zu verbreiten, und mit Hülfe der Geschichte und Critik auch diejenigen Gegenden zu erheitern, die von den alten Finsternissen des Scholasticismus und Enthusiasmus immer noch bedeckt gewesen9.

Damit einhergehend verweist Jerusalem auf die veränderte rechtliche Situation, nach der beide Religionsparteien voneinander nichts mehr zu befürchten haben, deren Grundlage freilich schon mit dem Westfälischen Frieden von 1648 geschaffen wurde, sich aber zeitgenössisch auch in der Toleranzgesetzgebung verschiedener Staaten niedergeschlagen hat10. Jedoch ist dieses aufklärerische „Neue“ bei Jerusalem primär umfangen von seinen theologischen Hauptkonzepten: Zum einen dem Theologumenon der „Vorsehung“, zum anderen der Vorstellung von der „Simplicität“.

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sind (vgl. Spehr [2005] 53–84, dazu auch Hornig [1990]), beschränkt sich die folgende Darstellung auf die für die Frage nach der Argumentationsfigur „alt/neu“ wesentlichen Aspekte. Jerusalem (1793) [115]. Am elaboriertesten greifbar ist das damit einhergehende entwicklungsgeschichtliche Offenbarungsschema in Jerusalems Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion. Er geht hier von der Urreligion aus, um von dort das Judentum und dann das Christentum in den Blick zu nehmen – der Islam spielt keine Rolle (vgl. hierzu Spehr [2005] 69–71; Sommer [2002] und Feil [2012] 388–392). Vgl. Jerusalem (1772) B4rv: „Ich, der ich nicht gern die wenige Zeit, die mir übrig ist, mit nochmahliger Wiederholung der schon so viel hundertmal durchgedroschenen Locorum communium verlieren möchte, da man am Ende keinen Schritt weiter gekommen, als wie man bey dem Anfange war, suchte den Antrag auf die beste Art abzulehnen …“. Ähnlich bringt es der anonyme Herausgeber in seiner Vorrede auf den Punkt (Jerusalem [1772] A4r): „Die Vereinigung zwischen der Evangelischen und Catholischen Kirche zu versuchen, ist nichts neues.“ Jerusalem (1793) 116. Vgl. Jerusalem (1793) 116–117. 131.

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Das Theologumenon von der „Vorsehung“ stellt für Jerusalem den entscheidenden „Motor“ einer Kirchenvereinigung dar11. Dieses wird von ihm in Gestalt einer Fortschrittsgeschichte historisiert, wie z. B. an seiner Eröffnung der inhaltlichen Ausführungen greifbar wird: „Die Vorsehung scheint auch selbst nach und nach den Weg zu dieser glücklichen Vereinigung zu bahnen, und die Hindernisse, die bisher alle Hoffnung dazu vergebens gemacht, immer mehr und mehr wegzuräumen“12. Im allein vollendeten ersten Band seiner Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion hat er der „Vorsehung“ die vierte Betrachtung gewidmet und fragt von hier in der fünften Betrachtung nach dem Ursprung des Bösen13. Das dort zu findende Motiv der „langsam“ wirkenden Vorsehung wird in der Denkschrift auf die „wahre“ Vereinigung übertragen. Zudem wird jegliche menschliche Möglichkeit einer Beschleunigung negiert: Dies Alles giebt uns auf die Zukunft die erfreulichste Aussicht, und kündigt uns mit vieler Zuversicht diesen glücklichen Frieden an, wornach die Welt so lange geseufzet hat. Nur scheinet die Vorsehung, die in allen ihren Wegen sehr langsam geht, und von Menschen sich nicht übertreiben läßt, noch nicht Alles dazu veranstaltet zu haben, daß diese selige Vereinigung schon jetzt zu hoffen wäre. Es sind noch Hindernisse übrig, die allen menschlichen Bemühungen widerstehen würden …14.

Diese Hauptargumentationslinie kann Jerusalem mit konkreten Inhalten akzentuieren. Zum einen in Bezug auf die noch näher darzustellenden „Zusätze“ der Katholischen Kirche. Damit die Katholiken zur Aufgabe derselben bereit wäre, bedürfe es einer „besondere[n] Veranstaltung der Vorsehung“15. Zum anderen werden die von Jerusalem geradezu als ein System angesehenen episkopalistischen bzw. konziliaristischen Einigungsbemühungen von Pierre François le Courayer (1681–1776) bzw. Febronius nicht nur als positive Ansätze gewürdigt. Vielmehr gelte, „daß dies System vorerst das Mittel werden mögte, wodurch die Vorsehung der Christenheit nach und nach die Eintracht wieder geben wolle“16. 11 Wie umfassend Jerusalem dieses Theologumenon versteht, wird in der Denkschrift auch daran greifbar, dass er die Errungenschaften der Aufklärung als dankbar anzunehmende „Wohlthaten der Vorsehung“ deutet (vgl. Jerusalem [1793] 126). Grundlegend zu Jerusalems Rede von der „Vorsehung“ vgl. Sommer (2002) 192–200 und Müller (1984) 97–99. 12 Jerusalem (1793) 116. Analog beschließt Jerusalem seine Ausführungen auch mit dieser für die Schrift als Ganzer so zentralen theologischen Denkfigur: „… die Religion wird nichts desto weniger ihren segnenden Einfluß über die Welt verbreiten, und wir werden die nähere oder vollkommenere Vereinigung der Vorsehung, und dem wachsenden Lichte der Zeit ruhig überlassen“ (Jerusalem [1793] 138). 13 Vgl. Jerusalem (2007a) 73–120. 120–232. 14 Jerusalem (1793) 117; vgl. auch Jerusalem (2007a) 205 – der entsprechende Abschnitt findet sich so auch bereits in der dritten Auflage von 1770. 15 Jerusalem (1793) 129. 16 Jerusalem (1793) 134–135.

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Doch wird diese überraschende – wenn auch nur im Potentialis formulierte – Mitwirkungsmöglichkeit sogleich relativiert: Aber Theologen können mit ihren besten Absichten für jetzt noch nichts dazu beitragen. Die Vorsehung kann es allein, und wird, wenn es ihr Werk ist, dasselbe durch weit sicherere, weisere und sanftre Mittel ausführen, als die menschliche Klugheit je ersinnen konnte17.

Mit Blick auf die vorliegende Leitfrage ist an diesem Grundkonzept Jerusalems entscheidend, dass diese vom aufklärerischen Fortschrittsdenken geprägte entwicklungsgeschichtliche Historisierung der Vorsehung nichts weniger als den Verzicht auf die traditionelle Normativierung der historischen Anfänge des Christentums bedeutet. Der Philosoph Andreas Urs Sommer sieht hier deshalb das „Neue“ der „Neo-logie“ in besonderer Weise greifbar18. Dies ist nun jedoch vom zweiten Hauptkonzept, auf das Jerusalem in der vorliegenden Denkschrift seine Argumentation stützt, weiter zu konturieren, d. h. von der Simplizität19. Hierbei handelt es sich um ein, wenn nicht das für sein Denken zentrale Konzept20. Formal zielt Jerusalem mit diesem Begriff auf Allgemeinverständlichkeit und Einfachheit: Die Sätze einer Religion, die für alle Menschen seyn soll, müssen kurz und fasslich für den schlichtesten Menschenverstand seyn, und unmittelbaren Einfluß auf die Besserung, die Beruhigung und die Wohlfahrt der Menschen haben; sie müssen an sich selbst anziehend für den Menschen seyn, die Natur muß sie ihm schon fühlbar machen, er muß ihre Wahrheit und Wohlthätigkeit gleich empfinden; dagegen muß der Denker auch die Freiheit haben, sie mit allem Scharfsinn zu untersuchen, sie mehr auszubilden, nur nicht sie andern aufzudringen21.

Die höchste Stufe dieser „Simplizität“ findet Jerusalem – seinem entwicklungsgeschichtlichen Denken gemäß – in der Religion Jesu22. In der Denkschrift rekurriert der Neologe auf dieses Konzept vor allem polemisch, d. h. zur Kritik an der Katholischen Kirche und als Verteidigungsstra17 Jerusalem (1793) 135. 18 Vgl. Sommer (2002) 197–198. 19 Grundsätzlich zur „Einfachheit“ als Grundmotiv der theologischen Aufklärung vgl. Claussen (2016) sowie Henn-Schmölders (1974). Zu Jerusalems Rekurs auf dasselbe vgl. Buntfuß (2018) – dem Verfasser sei an dieser Stelle herzlich gedankt für die freundliche Überlassung des Beitrages; Müller (1984) 76–88 und Spehr (2005) 73–74. 20 Vgl. Buntfuß (2018) 207: „Die aus der literarisch-ästhetischen Debatte in Frankreich übernommene simplicité fungiert bei ihm als Terminus für ein religionstheologisches Modernisierungsprogramm, das die allgemeine Bestimmung von Religion, die Wesensbestimmung des Christentums, die daraus abgeleitete Umformung eines aktuellen Verständnisses von Christentum und Theologie sowie die entsprechenden pastoraltheologischen, homiletischen, liturgischen und sogar ökumenischen Konsequenzen umfasst.“ 21 Jerusalem (2007b) 80. 22 Vgl. Müller (1984) 76–78.

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tegie gegen den von den Initiatoren als Motivator einer ökumenischen Verständigung angeführten Deismus. In diesem Argumentationskontext und vor dem Hintergrund seines Rekurses auf die Vorsehung bindet Jerusalem das Konzept wohl bewusst nicht an eine ursprüngliche Simplizität der Religion Jesu zurück23. Vielmehr führt er die „Simplicität des biblischen Vortrages“ als Grundlage einer potentiellen punktuellen Einigung in einzelnen „Lehrbegriffen“ an und wählt so einen genuin protestantisch konturierten Zugang24. Zudem korreliert der Simplizität die Rede von den „Zusätzen“ der römischen Kirche. Jerusalem bestimmt diese näher als die vielen menschlichen Bestimmungen, und die damit wiederum verbundnen, überhäuften, kostbaren Gebräuche, die nach und nach in den finstern Zeiten hinzugekommen, und ein solches Ansehen bekommen hatten, daß die wesentlichsten Lehren der Religion darüber fast vergessen wurden …25.

Insofern entspricht Jerusalems positiv konnotiertem, entwicklungsgeschichtlichem Fortschrittsdenken mit Blick auf die römische Ausprägung des Christentums eine Depravationsgeschichte, die in der Reformation zum Bruch führte26. Damit dekonstruiert Jerusalem das katholische Narrativ von den abtrünnigen Ketzern, die „Neues“ gelehrt hätten. Das „Neue“ waren für Jerusalem die „Zusätze“, und die Reformatoren hätten deren Widerspruch gegen die „Recht[e] der Vernunft und der göttlichen Simplicität und Würde der christlichen Religion“27 erkannt. Doch kommt ein Weiteres hinzu: Dem Perfektibilitätsgedanken folgend ist die von der „Simplicität der Schrift“ her zu gewinnende „Simplicität“ der aktuellen protestantischen Lehre (und der Gebräuche) in Jerusalems Gegenwart weiter voranzutreiben, da die Reformatoren „nicht alles gethan, auch nicht mehr gesehen, als sie nach dem Lichte der damaligen Zeiten, das nur Dämmerung war, sehen konnten …“28. Insofern wird mittels dem Konzept der „Simplizität“ das im 16. Jahrhundert erkannte reformatorische sola scriptura-Prinzip unter aufklärerischen Vorzeichen für die Gegenwart aktualisiert und zugleich gegen die römische Kirche in Stellung gebracht, aber nicht nur gegen diese. Dies wird am subtilsten an Jerusalems Ausführungen zur Transsubstantiationslehre deutlich. Er positioniert sich hier zugleich in einem von August Wilhelm Sack und Gotthold Ephraim Lessing als exemplarische Protagonisten aufge-

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Vgl. hierzu Buntfuß (2018) 210–211. Jerusalem (1793) 119. Jerusalem (1793) 124. Vgl. Jerusalem (1793) 124. Jerusalem (1793) 124. Jerusalem (1793) 125–127.

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spannten Diskurs29. Der reformierte Berliner Oberkonsistorialrat Sack hatte posthum eine Schrift des Göttinger Theologieprofessors Christoph August Heumann publiziert, in der die Priorität des reformierten Abendmahlsverständnisses postuliert wurde, was zu einer regen Debatte führte. Lessing entfaltet seine Gegenposition auf Grundlage eines bisher unbekannten Textes von Berengar von Tours, den der sich als „Liebhaber der Theologie“ bezeichnende Dichter an seiner neuen Wirkungsstätte, der Wolfenbütteler Bibliothek, gefunden hatte. Dadurch wurde die Sicht auf den sogenannten „Zweiten Abendmahlsstreit“ des 11. Jahrhunderts – der zurückgebunden war an den „ersten Abendmahlsstreit“ im 9. Jahrhundert – deutlich verändert. Entscheidend ist nun, dass Lessing in Konsequenz Berengar nicht mehr als Zeuge einer Priorität der reformierten Position, sondern als Zeuge einer Priorität der lutherischen Position ansah und dass Jerusalem Lessing darin in seiner Denkschrift explizit folgte: Und unsere Väter wählten ihn [d. h. den Ausdruck praesentia realis], um sich so nahe als möglich, an die Römische Kirche zu halten, und dann noch besonders, um dadurch zugleich dazuthun, daß sie in ihrem Glauben hierüber, nach dem Bekenntniß Berengars, mit der ganzen ältern Kirche einstimmig wären, der sich hierauf auch berief, und in seiner vollständigen Beantwortung des Adelmanns, die erst kürzlich durch unsern vortrefflichen Hrn. Lessing in der Wolfenbüttlschen Bibliothek entdeckt ist …30.

Mit diesen Ausführungen und insbesondere dem Hinweis auf die „Übereinstimmung mit der ganzen ältern Kirche“ wies Jerusalem zum einen nach, dass die katholische Transsubstantionslehre zu den „Neuerungen“ respektive „Zusätzen“ gehörte und positionierte sich zugleich im zeitgenössischen innerprotestantischen Diskurs. Zentraler Gesprächspartnerin blieb dennoch die römische Kirche. Und trotz allem engagierten Plädoyer für die Simplicität verliert der Neologe den Toleranzgedanken nicht aus dem Blick. Er möchte die „Zusätze“ nicht als „Hindernisse der Seligkeit“ für aufrichtige Glieder der römischen Kirche verstehen31. Ebensowenig kann er aber eine Übernahme dieser „Neuerungen“ – zumal als „heilsnotwendige“ – in die evangelische Kirche gutheißen. Deshalb müsse jegliche Annäherung von römischer Seite ausgehen, d. h. diese müsse sich der „Simplizität“ annähern32. Weiterhin ist es für Jerusalem eine die Unterschiede

29 Vgl. zu Lessing und seiner Positionierung Leppin (2011) 100–102. 30 Vgl. Jerusalem (1793) 122. 31 Vgl. Jerusalem (1793) 127–128. Entsprechend kann Jerusalem auch einzelne Personen, auch Päpste, positiv hervorheben (vgl. Jerusalem [1793] 116. 133–134). 32 Vgl. Jerusalem (1793) 128–129.

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unter vorgehaltener Hand relativierende Deutung der „Zusätze“ seitens der römischen Kirche als vernachlässigbar undenkbar33. Im Hintergrund steht die fundamentale Überzeugung, dass nur eine der Simplicität verpflichtete und damit von „Zusätzen“ freie Religion sich angemessen gegen die Attacken des Deismus zu wehren vermöge bzw. diesen die Grundlage entziehe: Und von dieser Notwendigkeit werden wir täglich noch mehr überführet, da der Deismus jetzt mit solchen Waffen die Religion angreift, gegen die sie sich in ihrer Simplicität allein nun schützen kann; und da es dessen vornehmster Kunstgriff ist, eben diese Zusätze mit Fleiß für wesentlich auszugeben; um die Religion alsdann von dieser Seite mit so viel besserm Erfolg angreifen, und die Philosophie und Politik zugleich dagegen aufbringen zu können34.

Insgesamt erweist sich Jerusalem so als ein Theologe, der sich positiv auf das „Neue“ der Aufklärung einlässt. Sein Konzept der Vorsehung verbindet er mit dem Perfektibilitätsgedanken. Das positiv bewertete „Neue“ wird so zu einer sich notwendigerweise immer verändernden Größe. Eine Normierung des historischen Anfangs des Christentums ist nicht möglich. Daneben tritt – nicht ganz spannungsfrei – das Konzept der Simplicität. In der Denkschrift wird es vornehmlich formal gefüllt mit der Rückbindung an die Schrift. Zugleich geht damit eine gewisse Rückbindung an normative Ursprünge einher, auch wenn Jerusalem wohl bewusst nicht auf die stärker inhaltlich zu füllende ursprüngliche Simplicität der Religion Jesu rekurriert. Insofern schwingt auch beim Neologen weiterhin die traditionelle Vorstellung von der Dignität des „Alten“ mit. Jerusalems Schwerpunkt liegt aber auf dem „Neuen“. Im nächsten Schritt wird nun zu zeigen sein, welche Akzente Spalding demgegenüber, trotz gemeinsamer „neologischer“ Grundeinsichten, setzt.

3.

Johann Joachim Spalding: Von der Einigkeit in der Religion (1786)

Johann Joachim Spalding (1714–1804) ist als lutherischer Propst und Oberkonsistorialrat sowie erster Pfarrer an der Berliner Nicolai- und Marienkirche wohl die zentrale Gestalt der Berliner Aufklärungstheologie35. Seine Schrift Von der 33 Vgl. Jerusalem (1793) 130–131. 34 Jerusalem (1793) 127. 136. 35 Dass Spalding in den letzten Jahren stärker in den Fokus der Forschung geraten ist, verdankt sich insbesondere der von Albrecht Beutel verantworteten kritischen Ausgabe seiner Werke. Gleichsam als Parergon erschien von ihm auch die jüngste Spaldingbiographie (vgl. Beutel [2014]; siehe auch: Beutel [2003]); vgl. darüber hinaus die Einzelfragen gewidmete Studien: Beutel (2000); (2007a); (2007b); (2007c); (2007d) und (2013). Zudem fand vor allem Spaldings

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Einigkeit in der Religion geht auf eine Predigt zurück36. Überliefert ist nur die Druckfassung, datiert ins Jahr 1786. Da am 17. August dieses Jahres Friedrich der Große verstirbt und mit dem Regierungswechsel eine Änderung des religionspolitischen Klimas in Richtung kirchenpolitischer Reaktion einhergeht, dessen Kulminationspunkt das berühmte sogenannte „Woellernsche Religionsedikt“ vom Juli 1788 darstellt, ist die Frage der genaueren Datierung nicht unerheblich37. Leider bieten weder Spaldings autobiographische Lebensbeschreibung noch die überlieferten Briefe weitere Hinweise38. Dennoch liegt die Vermutung nahe, dass die ursprüngliche Predigt noch zu Lebzeiten Friedrich II. gehalten worden ist. Darauf deutet zumindest der Predigttext Joh. 10, 16 hin, der prinzipiell dem sogenannten Hirtensonntag (Misericordias Domini) zugeordnet ist. Falls Spalding sich – wie damals in der Regel üblich39 – an Luthers Postillen orientiert hätte, datierte die Predigt vom 30. April 1786. Gänzlich offen bleiben muss, unter welchem Regenten und damit religionspolitischen Klima die Überarbeitung für den Druck erfolgt ist40. Mit der Religionsthematik als solcher hat sich Spalding im Kontext der Abfassung der Predigt ganz grundsätzlich in theologischer Perspektive beschäftigt. Seine Vertrauten Briefe, die Religion betreffend erschienen erstmals 1784, in Zweitauflage 1785 und in Drittauflage 178841. Ausgehend von Spaldings einflussreichem Frühwerk Die Bestimmung des Menschen kann festgehalten werden, dass er „einen dezidiert anthropologischen, das empirische Selbstbewußtsein … thematisierenden Ansatz“42 wählt. Vor allem in späteren Schriften bringt Spalding die Religion mit dem Gefühl in Verbindung und weist in dieser Hinsicht auf

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Frühwerk Die Bestimmung des Menschen neuerdings verstärkt Beachtung (vgl. Tippmann [2011] und Raatz [2012]). An älteren Werken sei verweisen auf Schollmeier (1967). Vgl. hierzu den Titel der Druckfassung Von der Einigkeit in der Religion. Eine erweiterte Predigt bzw. Spaldings Erläuterungen im dortigen Vorwort (vgl. Spalding [2008] 81, 1–8. 10– 24. Zu diesen Entwicklungen vgl. Spaldings eigenhändige Schilderung: Spalding (2002b) 178, 12– 190, 14 sowie Beutel (2014) 259–271. Zum „Woellnerschen Religionsedikt“ im Besonderen vgl. Wiggermann (2012). Vgl. Spalding (2002b) bzw. Spalding (2002a) und (2016). Für diesen Hinweis danke ich herzlich Prof. Dr. Klaus Raschzok, Neuendettelsau. Auch die Rezension in Friedrich Nicolais Allgemeiner Deutschen Bibliothek verhilft hier zu keiner Gewissheit. Die Predigt ist dort im letzten Teilband von 6 Bänden, die im Jahr 1786 erschienen waren, rezensiert worden. Leider ist auch hier der exakte Erscheinungsmonat nicht zu eruieren (vgl. Allgemeine Deutsche Bibliothek 70 [1786] 424–435). In der modernen kritischen Edition wird die Predigt – ohne weitere Begründung – nach der Gedächtnißpredigt auf Friedrich den Zweyten eingeordnet (vgl. Spalding [2013] XI–XII). Vgl. Spalding (2004). Beutel (2007d) 281. Zum Religionsveständnis Spaldings vgl. exemplarisch Raatz (2012) 392– 416. 481–490. Stärker fokussiert auf das Verhältnis von Moral und Religion bei Spalding ist Tippmann (2011) 77–92.

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Schleiermacher voraus43. Entsprechend kann er in der Predigt dann Religion ihrer „Natur und Abzweckung nach“ definieren als „die aus eigener Erkenntniß und Empfindung entstehende herzliche Ergebung an Gott“44. Zugleich teilt Spalding mit anderen Neologen die Unterscheidung von Theologie und Religion, die vornehmlich von Semler her bekannt ist. Hinzu kommt ein enger Zusammenhang von Religion und Moral. Beide stehen nicht in einem Begründungsverhältnis, doch gilt ihm die Moralität des Menschen als „Hilfsmittel“ und „Stütze“ der Religion45. All dies führt mit Blick auf die vorliegende Fragestellung zur Konsequenz einer Relativierung der jeweiligen konfessionellen Bekenntnisse bzw. dogmatischen Lehren. Zudem eignet dem Denken Spaldings, programmatisch greifbar in seinem äußerst erfolgreichen Erstlingswerk, eine starke populartheologische Ausrichtung, die auf alle Menschen zielt und nicht ausschließlich die Christen im Besonderen46. Diese prinzipielle Offenheit bedeutet nicht, dass Spalding die Vorstellung der Priorität des Christentums aufgegeben hätte. Doch wird diese ebenso zumindest relativiert wie die konfessionelle Bekenntnisgrundlage47. Über diese grundsätzliche Anbindung an Spaldings „theoretische“ Überlegungen hat die Predigt zur Frage der „Einigkeit in der Religion“ ähnlich wie Jerusalems Denkschrift zudem einen konkreten historischen Anhalt. Schon seit 1784 wird in der Berlinischen Monatszeitschrift die Frage nach der Grenze religiöser Toleranz äußerst kontrovers diskutiert48. Auslöser war, dass einzelne protestantische Gemeinden ihre Kirchen für katholische Gottesdienste zur Verfügung stellten, was als schleichende Unterwanderung gedeutet wird, zumal angesichts der in Anschlag gebrachten zahlreichen Geheimgesellschaften, die unter dem Vorwand der Reunion eine Rekatholisierung betreiben würden49. Hinzu kommt, dass Preußen parallel mit einem Reunionsplan konfrontiert ist, forciert von Johann Baptist von Salis-Soglio und Gottfried Lebrecht Masius. 43 Vgl. hierzu Beutel (2007d) und (2013) 177–178, zudem die differenzierenden Ausführungen bei Feil (2012) 399–412 sowie die kritische Anfrage von Raatz (2012) 20–21. 44 Spalding (2008) 108, 27–30. 45 Vgl. Beutel (2007d) 287–290. 46 Vgl. Beutel (2003) 232. 47 Dies zeigt etwa ein Schreiben an Johann Andreas Cramer vom 3. Juli 1752: Spalding (2016) 102–104 (Nr. 39). Einerseits hält Spalding in diesem fest, dass das Christentum a priori bessere Menschen machen müsse als die bloße Vernunft und andere Religionen. Andererseits fragt er nachdrücklich, ob das auch in der Realität stimme. 48 Zur Bedeutung dieser Zeitschrift und den Mittwochstreffen des inneren Kreises ihrer Beiträger vgl. Beutel (2014) 202–204. Spalding selbst war in den Jahren 1783–1786 Mitglied der Berliner Mittwochsgesellschaft. 49 Vgl. hierzu Schwartz (1908) 67–73 bzw. den unter dem Pseudonym „Akatholikus Tolerans“ verfassten Artikel: Falsche Toleranz einiger Märkischen und Pommerschen Städte in Ansehung der Einräumung der prostestantischen Kirchen zum katholischen Gottesdienst, in: Berlinische Monatszeitschrift 1 (1784) 180–192.

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Anvisiert ist die Gründung einer „apostolischen“ Unionskirche50. Insofern geht es nicht um schlichte Kirchenvereinigung, sondern um Ergänzung bzw. prospektiv Ersetzung der Konfessionen durch eine neue überkonfessionelle Freiwilligkeitskirche51. Um ihr Ziel zu erreichen, nimmt Masius im Februar 1785 mit Friedrich II. Kontakt auf und appelliert an seine Toleranz und wirtschaftspolitische Klugheit52. Die daraus resultierende Korrespondenz mit der preußischen Regierung dauerte bis 1788 an. Im Kontext der ausweichenden offiziellen Antwort der Regierung wird dann auch Spalding – neben Teller und Diterich – als protestantischer Diskussionspartner ins Spiel gebracht53. Der freundliche offizielle Negativbescheid und wohl auch die diesen flankierende anonym in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek erschienene scharfe öffentliche Abrechnung mit dem Projekt, veranlassen Masius zu einer regelrechten publizistischen Offensive, inklusive der Auslobung einer hoch dotierten Preisausgabe54. In den Jahren 1785/1786 erscheinen von ihm vier Monographien, in denen er das Projekt weiter erklärt bzw. sich direkt an „katholische Glaubensgenossen“, „an alle Protestanten“ sowie an „alle Orthodoxen in allen christlichen Kirchen“ richtet55. Der neue König, Friedrich Wilhelm II., forderte anscheinend noch 1786 und damit relativ kurz nach seinem Amtsantritt von den Berliner Theologen Gutachten ein, so dass Spalding im Jahr der Publikation seiner Predigt offiziell mit dem Projekt befasst gewesen wäre56. Doch hat er schon länger ein kritisches Interesse an den Unionsbemühungen von Salis-Soglio. Darauf deutet zumindest ein Schreiben an seinen Braunschweiger Kollegen Jerusalem vom April 1773, d. h. mehr als zehn Jahre vor der Initiative in Preußen, hin57. Vor diesem theologischen wie historischen Hintergrund ist nun Spaldings Von der Einigkeit in der Religion selbst in den Blick zu nehmen. Der Fokus liegt 50 Vgl. Schäufele (2003) 240–251; dazu auch Schwartz (1908) sowie die punktuellen Hinweise bei Spehr (2005) 244–245. 342. 51 Schäufele (2003) 241–242. 52 Zum Wortlaut vgl. Schwartz (1908) 74. Beigefügt sind dem Schreiben ein Memoriale, ein Religionsbekenntnis sowie ein Sendschreiben der vereinigten Religionslehrer (vgl. Schwartz [1908] 75–80 bzw. Schäufele [2003] 247–248). 53 Vgl. Schwartz (1908) 86. 54 Vgl. Schwartz (1908) 87–88 bzw. Allgemeine Deutsche Bibliothek 64 (1785) 598–611. Zur Preisausgabe vgl. Masius (1786) 30–34. 55 Vgl. Schäufele (2003) 249. 56 Vgl. Masius’ Schreiben vom April 1787: „Im Anfang ließ der jetzige König ein Schreiben bei allen Geistlichen in Berlin herumgehen und forderte ihr Gutachten um meine Sache …“ (zitiert nach Schwartz [1908] 90). Zudem wurden im März 1788 von den Mitgliedern des Oberkonsistoriums aufgrund einer Anfrage von Salis-Soglio, die insbesondere auf finanzielle Unterstützung zielte, Gutachten erbeten. Masius selbst hat sich Ende 1787 aus dem Projekt zurückgezogen – zu Spaldings Gutachten von 1788 vgl. Schwartz (1908) 93–94. 57 Spalding berichtet über Unionsbemühungen von Johann Baptist von Salis-Soglio in Wien – vgl. den Brief an Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem vom 23. April 1773 (Spalding [2016] 221–223 [Nr. 119]).

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primär auf der Denkfigur „alt/neu“. Da die Predigt jedoch bisher in der Forschung eher wenig Beachtung fand, ist dazu deren argumentative Struktur ausführlicher darzustellen58. Im Unterschied zu Jerusalem zielt Spalding mit diesem Werk nicht auf eine umfassende Abhandlung. Vielmehr betont der Berliner Neologe den konkreten Adressatenbezug, d. h. seine „Gemeine“ und seinen „nächsten Leser“. Dennoch wird man angesichts der hohen Wertschätzung, die Spalding – nicht nur als Prediger – weit über Berlin hinaus genoss, den Kreis der Rezipienten nicht zu eng fassen dürfen59. Zudem benennt Spalding die „gegenwärtigen Zeitumständ[e]“ und die „Nützlichkeit“ als weitere Kriterien und fokussiert die Abhandlung auf den „wahren christlichen Geist der Duldung der Eintracht und des Friedens“60. Diesem Fokus entsprechend findet sich im Werk keine breite Kritik an der Katholischen Kirche, wie sie Jerusalems Denkschrift durchzieht. Dass der Predigt nichtsdestotrotz – wohl gerade wegen der angespannten Diskussionslage – eine breitere Aufmerksamkeit zukam, zeigt die Besprechung in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek, dem einflussreichsten zeitgenössischen Medium der öffentlichen Meinungsbildung61. Wohl primär der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit Masius geschuldet eröffnet Spalding seine inhaltlichen Ausführungen mit dem Hinweis: „Die Klage ist alt und bekannt, daß die Verschiedenheit in der Religion und in den Glaubensmeinungen ein sehr großes Uebel sey“62. Spalding verbindet mit dieser Einordnung der „Klage“ als „alt“ aber nicht die Absicht, die kritische Anfrage als Ganze zurückzuweisen. Vielmehr räumt er im Folgenden deren Berechtigung und Schädlichkeit für die Religion ein, nimmt aber zugleich wichtige Differenzierungen vor: Aber dann gehoret auch nothwendig ernsthafte Ueberlegung dazu, um zu wissen, was wir mit dieser gewünschten Einigkeit eigentlich wollen, sie nicht da zu suchen, wo sie weder möglich noch nöthig ist, und sie nicht durch solche Mittel zu suchen die dem eigenthümlichen Zwecke der Religion entgegen und für die menschlichen Seelen gefährlich sind63.

58 Erste Grundlinien zeichnet Schollmeier (1967) 129–135 nach, jedoch unter gänzlicher Absehung vom zeitgenössischen Kommunikationskontext. In Spehrs grundlegender Dissertation zur Thematik Aufklärung und Ökumene wird die Predigt Spaldings nur kurz erwähnt (vgl. Spehr [2005] 245 mit Anm. 164). 59 Vgl. hierzu Beutel (2014) 204–206. 60 Vgl. Spalding (2008) 81, 10–82, 7. 81, 27–28. 61 Vgl. Allgemeine Deutsche Bibliothek 70 (1786) 424–435. Erste Hinweise zur Bedeutung der Rezensionszeitschrift bietet Beutel (2014) 202. 62 Spalding (2008) 82, 8–10. 63 Spalding (2008) 82, 33–83, 5.

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Dem entsprechen die beiden im Anschluss an exegetische Ausführungen zum Predigttext64 formulierten Leitfragen Spaldings. Mit Blick auf die Denkfigur „alt/ neu“ ist insbesondere die zweite aufzugreifen65. Mit dieser zielt Spalding auf die Mitwirkung der Menschen. Er grenzt sich hier zunächst ab von einem religiösen „Indifferentismus“66 und zugleich – entgegen des gängigen Vorurteils gegenüber der Neologie – von einer einseitigen Konzentration auf die Moral67. Einher geht das Hauptanliegen der Predigt aufgreifend ein Plädoyer für eine richtig verstandene Toleranz, die der Berliner dem zeitgenössischen Sprachgebrauch gemäß als „Duldung“ und zugleich ergänzend theologisch als „Liebe“ umschreibt68. Dies lässt ihn eine kritische Position gegenüber denen einnehmen, die als radikalere Vertreter der Aufklärung beschrieben werden könnten: Sehet es also, m. Z., immer als ein übles Zeichen der Gemüthsart an, wenn Jemand, bey seinen vermeinten bessern und aufgeklärtern Einsichten, diejenigen mit Verachtung und Spott behandelt, die in seinen Augen blinde Anhänger veralterter ungegründeter Vorurtheile heißen69.

Spalding macht sich hier also die Argumentation mit dem negativ konnotierten „Alten“ nicht zu eigen. Vielmehr kritisiert er diese im Folgenden aus theologischen Gründen. Er rekurriert dazu auf Jak. 3, 17 und 1 Kor. 8, 1. Mit dem ersten Bibelzitat macht er deutlich, dass die Weisheit die aus Gott kommt „friedsam und gelinde“ sei und deshalb unterschiedliche – im ersten Antwortgang bereits breit 64 Spalding weist dem exegetischen Anspruch der Zeit entsprechend darauf hin, dass Joh. 10, 16 auf die neue Einheit von ehemaligen Heiden und Juden unter dem einen Hirten Christus bezogen sei und nicht auf innerchristliche „Ökumene“ (vgl. Spalding [2008] 83, 10–84, 25). 65 Mit der ersten Leitfrage bezieht Spalding sich auf die Möglichkeit und die Erstrebenswürdigkeit der „wahren Einigkeit in der Religion“ und differenziert hier zwischen der Übereinstimmung in Meinung und Verstand und der Übereinstimmung der Gesinnungen und des Herzens (Spalding [2008] 84, 25–85, 7). Während der erste Unterpunkt Spaldings aufklärerische Prägung aufscheinen lässt (vgl. Spalding [2008] 85, 8–88, 14), weist der zweite auf seine Rückbindung der Religion an die Dimension des Gefühls und stellt den Zielpunkt seiner Argumentation dar (vgl. Spalding [2008] 88, 15–91, 22). 66 Eine ähnliche Kritik an einer Toleranz, die zu religiöser Gleichgültigkeit führt, äußert Spalding in seiner Gedächtnispredigt auf Friedrich II. (vgl. Spalding [2013] 72, 12–16; dazu auch Beutel [2013] 176). 67 Vgl. Spalding (2008) 91, 23–94, 15. Er unterscheidet hier zudem zwischen notwendigen und „nicht so nothwendigen Lehrmeinungen“. Zu ersteren zählt er „… den·überzeugten Glauben von der weisen wohlthätigen Regierung einer allmächtigen Gottheit über die Welt und über unsere Schicksale, von einem besseren, alles ersetzenden Leben in der Ewigkeit, und von der Hoffnung der noch wieder zu erlangenden göttlichen Gnade und Seeligkeit, auch nach unsern Versündigungen; einer Hoffnung, welche der Sohn Gottes denen, die mit Aufrichtigkeit zur Tugend umkehren, so heilig versichert und, gleich jenen übrigen Lehren seiner Religion, so wichtig gemacht und mit der Aufopferung seines eigenen Lebens bestätiget hat“ (Spalding [2008] 93, 5–15). 68 Vgl. Spalding (2008) 94, 16–95, 41. 69 Spalding (2008) 94, 23–27.

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entfaltete – Unterschiede der Erkenntnis nicht zu Verurteilung führen dürften70. Mit dem Paulus-Zitat kritisiert er Wissen, das „aufblähet“ und stellt dem die „Liebe“ gegenüber, die in seiner Argumentation von Anfang ein Kriterium wahrer Toleranz darstellte71. Wenn Spalding diesen „radikaleren Aufklärern“ zudem „Neuerungssucht“ unterstellt, wird – über die distanzierte Beschreibung hinaus – zugleich die klassische theologische Deutung des „Neuen“ als des „Schlechten“ greifbar72. Dennoch findet er im zweiten Abschnitt zur „neutralen“ Beschreibung zurück. Hier argumentiert der Neologe vornehmlich mit der „Toleranz“ als probatem Mittel der wahren Religionseinheit und kann Zuwiderhandlung als „äußerste Schändung und Verunehrung“ des Christentums und ihres Stifters bezeichnen73. In diesem Kontext unterscheidet Spalding drei Motive, aus denen unter Hintanstellung der Toleranz bzw. christlichen Liebe bei anderen die Wahrheitssuche als defizitär behauptet wird: 1. Gleichgültigkeit und Leichtsinn; 2. Eitelkeit und Neuerungssucht; 3. böser Wille74. Damit wird deutlich, dass er selbst den Vorwurf der „Neuerungssucht“ vor dem Hintergrund der Toleranz als unangemessen versteht, er sich diesen entgegen des Eindrucks vom ersten Zitat, nicht absolut zu eigen macht. Zugleich führt sein Plädoyer für ein tolerantes Christentum, in dem plurale Überzeugungen – sofern sie nicht die Moralität untergraben – nicht zu feindseligen Spaltungen führen müssen zu einem weiteren Rekurs auf die Denkfigur „alt/neu“: Ein allzu vehementer Einsatz für die vermeintliche Rechtgläubigkeit wird von Spalding als Versuch gedeutet, bei Gott durch intolerantes Verhalten Vergebung für eigene „Untugenden“ zu erlangen. Dies qualifiziert er als „neue Sünde“ und als „der unseligste Selbstbetrug, dessen je eine Menschenseele fähig ist“75. Einher mit dieser differenzierten Positionierung geht nun jedoch eine – gerade im Vergleich mit Jerusalem – sehr viel klassischer anmutende endgültige Lösung 70 Vgl. Spalding (2008) 94, 28–95, 3. 71 Vgl. Spalding (2008) 95, 3–18. 72 Vgl. Spalding (2008) 95, 18–27: „Wie manche schädliche Trennung und Absonderung in der Religion, deren schlimme Früchte sich hernach noch auf lange Zeiten ausgebreitet haben, würden unterblieben seyn, wenn auch hier das von dem Apostel empfohlne Zurechthelfen mit sanftmüthigem Geiste mehr beobachtet wäre, und wenn nicht zu allen Zeiten neuerungssüchtige, eitele und von ihrer eigenen Weisheit eingenommene Menschen ihre Entscheidungen, gleichsam als untrügliche Göttersprüche, ihren Brüdern hätten auf dringen wollen.“ 73 Vgl. Spalding (2008) 100, 12–105, 18 (das Zitat: Spalding [2008] 101, 14–15). 74 Vgl. Spalding (2008) 102, 5–18. 75 Vgl. Spalding (2008) 104, 13–22: „Und wie sehr hat man nicht oft Ursache zu fürchten daß ihrer nicht wenige eben mit diesem falschen menschenfeindlichen Eifer für eine vermeinte Rechtgläubigkeit alIein ihre eigenen Untugenden, die ihrem Gewissen, und zum Theil auch der Welt, offenbar genug sind, völlig bey Gott wieder gut zu machen und zu bedecken glauben. Das hieße, Vergebung seiner Sünden durch eine neue Sünde von dem heiligsten Wesen verdienen wollen; der unseligste Selbstbetrug, dessen je eine Menschenseele fähig ist!“

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der Frage der Einigkeit in der Religion. Dies gilt, obwohl Spalding mit dem Braunschweiger den Gedanken der Perfektibilität der Wahrheit teilt76. Im Unterschied zu Jerusalem rekurriert er nicht auf eine entwicklungsgeschichtlich historisierte „Vorsehung“, sondern formuliert eine eschatologische Hoffnungsaussage und erwartet damit das „Neue“ nicht innerweltlich: Und welche frohe Hoffnung ist es, daß einmal in jenem hellem Reiche des Lichts und der Wahrheit, vielleicht hie und da mit einiger Beschämung wegen unserer vorigen härteren Urtheile, aber doch im Grunde zur großen überwiegenden Erhöhung so unserer himmlischen Glückseligkeit, diese Vereinigung mit der Menge aller hier zerstreuten, unbekannten oder verkannten guten Menschen, ohne weitere Unterscheidung und Trennung, noch so viel allgemeiner, inniger und vollkommener seyn wird! Darnach wollen wir streben; und Gott gebe, daß uns Allen dieß Glück zu Theil werde77!

Dass mit Spaldings dargestellter Positionierung ebenso eine dezidierte Ablehnung von aktuellen Vereinigungsversuchen, wie insbesondere dem Projekt von Masius und Salis-Soglio einhergeht, ist nur konsequent78. So findet sich z. B. eine Anspielung auf das von diesen 1785 publizierte symbolische Buch mit dem Titel Das Buch der Vereinigung oder Anweisung zur Glückseligkeit für alle Menschen79. Ähnlich deutlich sind der Hinweis auf die „unzuverläßigen Stimmen fehlbarer Menschen“80 oder der Ausruf: „Gott behüte uns also vor Religionsvereinigungen, die man auf diesen Grund bauen will“81. Zu verweisen ist zudem auf Spaldings Auseinandersetzung mit christlichen „Partheynamen“ und seiner Deutung von Ketzerei, die zeitgenössisch nur als gegen den neuen Namen der „Apostolischen Kirche“ gerichtet verstanden werden konnten82. Bilanzierend sei festgehalten: Trotz der wenig innovativen eschatologischen „Lösung“ der Religionsfrage weist Spaldings Text nicht unerhebliche Impulse auf. Sein Rekurs auf die Denkfigur „alt/neu“ kann dem klassischen Wertungsschema verpflichtet sein, dieses wird aber durch die übergeordnete Argumentation mit der Toleranz letztlich aufgehoben. Zudem eignet der Predigt in Spitzenaussagen eine interkonfessionelle und zum Teil geradezu im heutigen Sinne interreligiöse Offenheit. Erinnert sei noch einmal an die Definition von Religion als „die aus eigener Erkenntniß und Empfindung entstehende herzliche Erge-

76 Vgl. Spalding (2008) 107, 10–12: „… und der Wahrheit, die ordentlicher Weise nur nach und nach in ihrem immer reineren Lichte entdeckt wird …“. 77 Spalding (2008) 112, 1–11. 78 Zur Auseinandersetzung mit Masius vgl. besonders Spalding (2008) 105, 19–110, 33. 79 Vgl. Spalding (2008) 106, 15–19 bzw. Masius (1785). 80 Spalding (2008) 107, 31–32. 81 Spalding (2008) 109, 8–9. 82 Vgl. Spalding (2008) 95, 28–99, 10. Hervorgehoben sei in diesem Zusammenhang die Rede von aktuellen „Friedensstörern“ (97, 31) sowie „geheime[n] Verbindunge[n]“ (98, 12).

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bung an Gott“83 wie die eschatologische Lösung der Religionsfrage, in der von „Vereinigung mit der Menge aller hier zerstreuten, unbekannten oder verkannten guten Menschen, ohne weitere Unterscheidung und Trennung“84 die Rede ist, ohne expliziten Bezug auf eine christliche Konfession im Besonderen oder das Christentum im Allgemeinen85. Die interkonfessionelle Offenheit hat in der „konfessionsverbindenden“ Ehe seiner Tochter Johanna Wilhelmina mit dem reformierten Theologen Friedrich Samuel Gottfried Sack einen biographischen Anhalt86. Die interreligiöse Offenheit wiederum stellt gewiss noch keine grundsätzliche Relativierung des Absolutheitsanspruches des Christentums dar87, doch eignet den Ausführungen gerade im Vergleich mit Jerusalems ausführlicher Kritik an der Katholischen Kirche ein ganz anderer und implizit „neuer“ Ton. Doch wird dessen Status innerhalb der Neologie erst vor dem Hintergrund der Ausführungen zum dritten neologischen Denker angemessener zu würdigen sein.

4.

Johann Salomo Semler: Des Kardinals Nicolaus von Cusa Dialogus von der Uebereinstimmung oder Einheit des Glaubens (1787)

Im Unterschied zu den bisher behandelten Personen steht Johann Salomo Semler (1725–1791) nicht im kirchlichen Dienst, sondern gehört zu den akademischen Vertretern der Neologie, sein Wirkungsort war ab 1753 die Universität Halle88. In aktuelle Debatten greift er offensiv ein, mehrfach auch in die über interkonfessionelle Einigungsbestrebungen. Im Folgenden soll der Fokus auf Semlers letzten Beitrag zu dieser Frage liegen, da er hier die Thematik ganz grundsätzlich aufgreift und zugleich weitet. Der Titel der 1787 publizierten Schrift lautet: Des

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Spalding (2008) 108, 27–30. Spalding (2008) 112, 6–9. Vgl. in dieser Hinsicht auch Spalding (2008) 99, 10–30. Zu dieser konfessionsverbindenden Ehe mit dem Sohn des 1786 ebenfalls in Berlin wirkenden August Friedrich Wilhelm Sack im Jahr 1770 vgl. Spehr (2006) 94–95. Die von Spalding selbst gehaltene Traupredigt (vgl. Spalding [2002a] 17–20) thematisiert diese Thematik jedoch nicht, nur das für diesen Anlass verfasste Gedicht von Anna Louisa Karschin (vgl. Spalding [2002a] 21–22). 87 Vgl. in dieser Hinsicht auch Spaldings Antwort aus dem Jahr 1778 auf die anonyme Anfrage, inwiefern der dogmatische Zusammenhang von Kreuz und Versöhnung auch für die Bewohner anderer Planeten bestehe (vgl. Beutel [2014] 205–206). 88 Zu Semler s. insbesondere die Arbeiten Gottfried Hornigs (1961); (1996) und (2000) sowie die folgenden Studien: Hess (1974); Schulz (1988) und Schröter (2012). Zum umfangreichen, auch „Außertheologisches“ umfassenden Werk Semlers vgl. die Bibliographie in Hornig (1996) 313–338; dort werden knapp 300 Titel angeführt.

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Kardinals Nicolaus von Cusa Dialogus von der Uebereinstimmung oder Einheit des Glaubens89. Bereits dem Werk an sich eignet ein spannendes Beziehungsgefüge von „alt/ neu“. Es stellt eine kommentierte Übersetzung der 1453 entstandenen Schrift De pace fidei von Nikolaus von Kues (1401–1464) dar90. In Reaktion auf den Fall Konstantinopels im Jahr 1453 entwarf der kreative Denker der Renaissance und des Humanismus ein großes Szenario in Form eines Visionsberichtes. Geschildert wird eine mehrteilige himmlische Versammlung, zunächst der Völkerengel unter Gottes Vorsitz, dann gelehrter Vertreter verschiedener Völker bzw. Glaubensgruppen. Am Ende der von Christus bzw. Petrus und schließlich Paulus geleiteten Gesprächsgänge über dogmatische Themen, Riten und Sakramente steht der Beschluss der concordia religionum. Dass Semler dieses Werk nach gut 300 Jahren übersetzen lässt und kommentiert, begründet er mit der großen Analogie zwischen der „damaligen Lage der teutschen Kirchen“91 und seiner Gegenwart. Zudem erhofft er sich von hier Impulse für den gegenwärtigen Diskurs: … für unsre Zeitgenossen scheint er insbesondre sehr erheblich und wichtig zu seyn, welche es ganz recht für eine höchstwünschenswerte Sache halten, daß doch immer mehr billige und gelinde Urtheile unter die sogenanten Christen, die von einander in Formeln abgehen, sich ausbreiten möchten: statt der so übereilten Verdammungen und gehässigen Klagen wider alle andre Menschen, die nicht zu einer und derselben Kirchengeselschaft gehören; übrigens aber alle Grundsäze der wirklich einzigen, practischen moralischen Religion, so weit sie solche kennen, von Herzen bejahen und gegen Gott und Menschen wirklich ausüben92.

Damit ist angedeutet, dass Semler Cusanus primär durch eine „neologische“ Brille liest. Und tatsächlich sind seine ausführliche Vorrede und die kapitelweise Kommentierung des Werkes mit Endnoten im erheblichen Maße durch seine theologischen Grundentscheidungen geprägt, formelhaft greifbar in der bekannten Unterscheidung von „privater“ und „öffentlicher Religion“, aber auch im Rekurs auf den Perfektibilitätsgedanken bzw. in der Forderung von Toleranz. Dies soll im Folgenden in Hinblick auf die damit einhergehende Interpretation des Verhältnisses der Religionen und Konfessionen sowie mit Fokus auf die Argumentationsfigur „alt/neu“ entfaltet werden.

89 Ausführlicher zu diesem Werk und seinem historischen Kontext vgl. Klitzsch (2021); zu Semlers Beitrag zu den zeitgenössischen Debatten s. insbesondere auch Spehr (2005) 338–373, der sich vornehmlich auf Semlers Freimuetige Briefe von 1783 konzentriert. 90 Die unvollständige Paginierung der Vorrede Semlers wird im folgenden ergänzt. Die Übersetzung, inklusive der Kommentare, wird unter Angabe der – durchgängig vorhanden – arabischen Seitenzahlen zitiert. 91 Semler (1787) Vorrede, a2r. 92 Semler (1787) Vorrede, a3v–a4r; vgl. auch Semler (1786) 206.

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Zu erinnern ist als Ausgangspunkt an Semlers Diagnose, nach der „Neuerung“ bzw. „Neologen“ zeitgenössisch als „Schrekbild“ gölten93. Den Gegenpol stellten die „alte reine Religion“ bzw. der Grundsatz von der „Unveränderlichkeit der reinen Lehre“ dar94. Während dieser in der Reformation noch gegen die Protestanten verwendet worden wäre, hätte er inzwischen entgegen der Überzeugung Luthers, Melanchthons und anderer später auch Eingang in die protestantische Kirche gefunden. In Konsequenz werde die Einheit der Konfessionen falsch interpretiert, wie Semler unter Rekurs auf die neologische Grundunterscheidung der „öffentlichen“ von der „privaten Religion“ ausführt: … nun verwechseln ungeistliche, eigennüzige oder anmassende Menschen … diese stets localen, einzelnen, partikulären Verordnungen, Anstalten und Einrichtungen zu der äußerlichen localen Verbindung der besonderen Parteien, mit der moralischen, algemeinen, grossen, unendlichen Absicht der christlichen Religionswahrheiten welche durchaus keine gleichförmige Bestimmung, Entscheidung, Erklärung für alle Christen, durch fremde äußerliche Verordnung bekommen können, ohne das freie Gewissen aller Christen an das alleinige Gewissen, oder gar an den Willen einiger wenigen Christen, zu unterwerfen95.

Im Hintergrund dieser Kritik an der falschen äußerlichen Einheit, die der Entfaltung der Privatreligion entgegensteht, scheint auch bei Semler der Perfektibilitätsgedanke auf. So gilt z. B. für die Privatreligion: „… und ihre tägliche Ausbesserung und wachsende Volkommenheit, sol und mus in den einzelen Christen in stets ungleichen Stufen entstehen und fortdauern“96. Doch hat Semler nicht nur die Einzelperson im Blick. Für ihn ist die „äusserliche geselschaftliche Verbindung … nur die jezt [!] beste oder beliebte öffentliche Anleitung und Ordnung für alle einzelne verbundene Kirchen oder Gemeinen …“97. Somit ist der Perfektibilitätsgedanke ebenso bei Semler auf das Christentum bzw. die christliche Religion als Ganze bezogen98. Ähnlich wie bei Jerusalem werden folglich die Geltungsansprüche der Konfessionen relativiert. Wie es keine Normativität einer äußeren Religionsform geben kann, gibt es auch keine Normativität der Frühphase des Christentums im Sinne einer vollkommenen Urgestalt. Es geht um die perfektible Privatreligion respektive die Moral und Wohlfahrt im weiten neologischen Sinne, nicht um in einem bestimmten historischen Kontext festgelegte „alte“ Kirchensprache und Dogmatik99. 93 94 95 96 97 98 99

Vgl. Semler (1787) Vorrede, a6r (oben S. 167 zitiert). Semler (1787) Vorrede, a6r–v. Semler (1787) Vorrede, a6v–a7r. Semler (1787) Vorrede, b3r. Semler (1787) Vorrede, b3r. Vgl. Hornig (1996) 196. Vgl. Semler (1787) 21 [Anm. 13]; vgl. auch Semler (1787) 87 [Anm. 1]. 208 [Anm. 4]. 214 [Anm. 4]. 224 [Anm. 4] (sic!).

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Entsprechend eignet dem Adjektiv „alt“ im Dialogus nicht selten eine negative Konnotierung. Z. B. wenn vom „alten“ Aberglauben und „alter“ Ordnung gesprochen wird, die den christlichen Gebräuchen eine gleichsam magische „geheime physische Wirkung“ zuschreibt. Das positive Gegenstück stellt die freie Untersuchung dar100. Hinzu kommt oftmals ein expliziter antikatholischen Impetus, der insbesondere auf das politisch-weltliche Agieren der römischen Kirche zielt101. In Konsequenz findet sich punktuell – analog zu Jerusalems Argument der „Zusätze“ – zudem ein negativ konnotierter Neuheitsvorwurf. Semler zielt damit auf neue „Vorrechte“ bzw. dogmatische Reglementierungen, die sich die Kirche bereits in der Frühzeit über Christus und den Aposteln hinausgehend angemaßt und in der Folgezeit durch immer „neue“ Verordnungen abgesichert habe102; der Hallenser kann in diesem Zusammenhang auch von „neue[n] Sakramente[n]“ sprechen103. Doch ist vor dem zeitgenössischen Kommunikationskontext von Semlers Konturierung des Perfektibilitätsgedankens ein weiterer Aspekt hervorzuheben: Semler nähert sich so unionistischen und konfessionsauflösenden Positionen an, denkt im Unterschied zu diesen aber weder dogmatisch fokussiert noch parteiisch konfessionell, sondern prozessual, d. h. im über Jerusalem hinausgehenden Sinne einer Auflösung konfessioneller Lehrgegensätze und einer Weiterentwicklung zu einer alle Menschen umfassenden „Universalreligion“104: Die christliche kirchliche Religion ist stets local; kan also nie die Religion aller Menschen werden; nie hatte sie Gott dazu bestimt. Ihr Inhalt war nie einer und derselbe, er kan es auch nicht bleiben; er kan sich aber ins Unendliche entwickeln, und alsdenn kan er alle einzele historische Religionen in sich auflösen; aber keine historische Religion kan allgemein werden105.

Somit verlässt Semler sehr viel deutlicher als seine kirchlich sozialisierten neologischen Mitstreiter den Rahmen innerchristlicher interkonfessioneller Einigungsbestrebungen. Im Hintergrund scheint zudem ein anders akzentuiertes Verständnis von Toleranz auf. Prinzipiell gilt, dass Semler den Begriff „Toleranz“ nicht nur in staatlichrechtlicher Hinsicht, sondern ähnlich wie Spalding als christliche Grundhaltung versteht. Deshalb zielt der Hallenser Neologe mit der Publikation der kommen100 Vgl Semler (1787) 25 [Anm. 16]. Siehe auch Semlers Kritik an den „alten kirchlichen Teufelsideen“ (Semler [1787] 68–70 [Anm. 2 und 3]. 69) oder am „alten, katholischen Lehrbegrif von beiden Naturen“ (Semler [1787] 147 [Anm. 1]). 101 Vgl. Semler (1787) 22 [Anm. 14]; 56 [Anm. 1]; 127 [Anm. 8]; 195 [Anm. 5]. Zur Deutungsoffenheit dieser Kritik vgl. Klitzsch (2021). 102 Vgl. Semler (1787) Vorrede, a8v–b1r. 222 [Anm. 4] (sic!). 103 Semler (1787) Vorrede, b2v. 104 Vgl. Hornig (1996) 203–204; dazu auch 134–135. 105 Semler (1784) 211.

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tierten Übersetzung von De pace fidei vornehmlich auf eine Förderung der Toleranz zwischen den verschiedenen „Kirchengesellschaften“ und stellt insbesondere der römischen Kirche die „freie“, „unparteiische“ Herangehensweise des Kardinals als nachahmenswert vor Augen106. Doch geht Semler auch über Cusanus hinaus, wenn er – für die Unendlichkeit und notwendige Pluralität der privaten Religion eintretend – jegliche äußerliche Einheit und damit einhergehende Verurteilungen von Andersdenkenden oder Zwangsmaßnahmen ablehnt107. In Konsequenz kann er den berühmten Formeln des Cusaners nur bedingt zustimmen. Das una religio in rituum varietate108 kommentiert der Neologe einschränkend: „Wenn dieser Saz richtig verstanden wird von der innern Religion, ihrem unendlichen Grund, Endzweck und ungleicher Anwendung zu eigener moralischen Wohlfart: so ist er ganz richtig“109. Zudem habe der politischmonarchische Anspruch der römischen Kirche und des Papstes dazu geführt, dass diese Einsicht weitestgehend vergessen worden sei110. Ähnlich kritisch deutet Semler das nicht minder berühmte vnus latriae cultus des Cusaners111. Es gelte, dass die Menschen wohl nur schwerlich die Überzeugung aufgeben würden, dass die eigenen – gleichsam magisch aufgeladenen – Gebräuche die wirksamsten seien. Demgegenüber betont Semler, ausgehend von Gottes Unendlichkeit und vor dem Hintergrund der Pluralität der Privatreligion, die Pluralität der Verehrung, wie seine Korrektur der Formel zeigt: „… wie du unendlich bist, so müsten auch Menschen erkennen, daß deine Anbetung unendliche mal Anbetung seyn kann“112. Insofern zeigt sich erneut, dass Semler den Rahmen innerchristlicher interkonfessioneller Einigungsbestrebungen sehr viel deutlicher weitet. Deshalb sollen nun – vor dem Hintergrund des Perfektibilitätswie des Toleranzgedankens – seine punktuellen Äußerungen zu den beiden anderen großen monotheistischen Religionen in den Blick genommen werden. Dass Semler im Dialogus das Christentum als „neue“ Religion dem „altem“ Judentum vorordnet113, ist wenig überraschend. Dazu kann er z. B. auf das klassische Motiv des „alten“ und „neuen Bundes“ zurückgreifen114. Überra106 Vgl. Semler (1787) Vorrede, a4r. Siehe auch Semler (1787) 195 [Anm. 5], wo Semler darauf verweist, dass die Päpste die Reformation ganz anders beurteilt hätten, hätten sie sich an Cusanus orientiert. 107 Vgl. Semler (1787) Vorrede, a5r–b6r. 108 Cusanus (1565) 863. 109 Semler (1787) 22 [Anm. 15], auch 61 [Anm. 1]. 110 Semler führt hier insbesondere nichtchristliche, weltliche Herrscher an, verweist aber auch auf Gersons Schrift De auferibilitate papae (vgl. Semler [1787] 22–23 [Anm. 15]). 111 Semler (1787) 7 bzw. Cusanus (1565) 863. 112 Semler (1787) 25 [Anm. 16]. 113 Vgl. Semler (1787) 145 [Anm. 1]. 180 [Anm. 1]. 193 [Anm. 3]; auch Semler (1787) Vorrede, a7v. c2v. c3r. 114 Vgl. z. B. Semler (1787) Vorrede, c1r. 40 [Anm. 1]. 190 [Anm. 1].

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schend ist aber der immer wieder greifbare scharfe Ton, in dem er das Judentum qualifiziert bzw. disqualifiziert, z. B. mit der Rede vom „alte[n], todte[n] Judentum“115. Weder Jerusalem noch Spalding teilen diesen expliziten antijudaistischen Tenor. Dennoch schlägt sich im Dialogus der Toleranzgedanke punktuell auch in Bezug auf die Religionen nieder, selbst mit Blick auf das Judentum. In der Anmerkung zum Dialog zwischen dem „Juden“ und dem „Logos“ über die Trinitätslehre (Kapitel 9) bemängelt Semler zum Beispiel, dass der Jude zu wenig zu Wort käme und relativiert die Bedeutung der „localen kirchlichen Beschreibung von Trinitas“ für die „moralische Wohlfart aller Menschen“ bzw. „aller Juden“116. Bei Cusanus’ Ausführungen zu den Jenseitsvorstellungen (Kapitel 16) führt der Hallenser an, dass die Position der Juden zu wenig differenziert dargestellt worden sei117. Zudem kritisiert Semler – im Kontext der Messiasfrage (Kapitel 13) – das Verhalten der römischen Kirche den Juden gegenüber als „falsch“118. Analoge positive Äußerungen finden sich über den Islam, der von Cusanus differenziert in den Gestalten eines Persers, Arabers und Türken aufgegriffen worden ist119. Bereits in der ersten Anmerkung relativiert Semler die Grausamkeit der Muslime bei der Eroberung Konstantinopels: Zum einen mit dem Hinweis, dass Christen nicht als Christen verfolgt worden wären, wie die ansonsten geübte muslimische Duldungspraxis zeige, zum anderen mit dem Verweis auf die nicht minder grausame römisch-katholische Inquisition120. In Konsequenz kann er muslimische Herrscher sogar als positive Gegengröße zu christlichen, der römischen Kirche verbundenen respektive hörigen Regenten anführen121. Das Problem, dass der Islam zeitlich nach dem Christentum aufgekommen ist, wird von Semler nicht in negativer Perspektive aufgegriffen, also nicht in dem Sinne, dass er eine dieser Religion eignende Inferiorität gegenüber dem Christentum explizit zur Sprache brächte. Semlers Perspektive ist die der lokalen Kirchensprache. Beim Dialog zwischen Petrus und dem Perser kommentiert er: 115 Semler (1787) Vorrede, a6v; vgl. auch Semler (1787) 25. 208. 209 sowie 155–156 [Anm. 2] exemplarisch die Ausführungen zur Christologie. 116 Vgl. Semler (1787) 85–88. 86. 117 Vgl. Semler (1787) 162 [Anm. 1]. 118 Vgl. Semler (1787) 138–142 [Anm. 4]. 138: „Die römische Kirche hat gemeiniglich sich gegen Juden gar sehr vielen Vorzug schon angemasset, und bey ihnen also die wirkliche ernstliche Vergleichung oder Untersuchung des Inhalts dieser Aufgabe sehr gehindert, anstatt sie liebreich und in moralischer Grösse zu befördern.“ 119 Cusanus lässt den „Araber“ bei der Frage nach der „Einheit Gottes“ (Kapitel 6), den Perser bei der Frage der „Zweinaturenlehre“ (Kapitel 12) und den „Türken“ bei der Frage nach dem Kreuzestod Christi (Kapitel 15) auftreten. Dennoch geht Semler die Differenzierung nicht weit genug, wenn er anmerkt, dass die Perser stärker in ihrer Eigenheit gegenüber den anderen Muslimen hätten gewürdigt werden können (vgl. Semler [1787] 117 [Anm. 1]). 120 Vgl. Semler (1787) 7–9 [Anm. 1]. 121 Vgl. Semler (1787) 23–24 [Anm. 15].

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… die Muhammedaner hingegen entstunden erst hinter diesen Christen, in einem besonderen neuen Staate, der es wirklich schon voraussetzte, Muhammedaner sollten keine solche Christen werden, also auch nicht eine Christensprache selbst reden und fortsezen122.

In Konsequenz betont Semler, dass mit der Konversion vom Islam zum Christentum wie – nota bene – auch umgekehrt ein Wechsel des „bürgerlichen Staates“ einhergeht123. Im Kontext der Frage nach den Jenseitsvorstellungen wirft Semler dann die Frage auf, inwiefern der Koran vornehmlich auf moralische Besserung oder – wie die katholische Kirche – auf einen „neuen Staate“ ziele124. Zugleich betont er abschließend von den unendlichen Stufen der Privatreligion her, die Notwendigkeit einer „nationalen“ Färbung der Beschreibungen der Seligkeit nach dem Tod125, wie er auch eingangs betonen kann, dass sich – analog zur christlichen Theologie – auch auf muslimischer Seite „gelerte, ernstliche, mystische Ausleger des Coran“ finden126. Diese positiven Bezugnahmen auf Juden und Muslime sind nicht absolut zu setzen. Es handelt sich um Spitzenaussagen und der eigentliche Fokus Semlers liegt auf den christlichen interkonfessionellen Einigungsbestrebungen, auch bei der Kommentierung der Kapitel, die muslimische Gesprächspartner aufweisen, nicht minder beim fiktiven Dialog zwischen Christus und dem Juden. Dass zeitgenössisch noch mehr religionsdialogische Offenheit denkbar war, zeigt Lessings berühmtes Drama Nathan der Weise, erschienen 1779127. Die Lessingsche Ringparabel ist wohl nur schwerlich mit Cusanus in Deckung zu bringen128, und dennoch findet sich der „Wettstreit-Gedanke“ andeutungsweise in De pace fidei. Die entsprechende Passage lautet in der von Semler publizierten Übersetzung: Vielleicht wird auch, selbst bey aller Verschiedenheit der Gebräuche und auf Veranlassung derselben die Andacht und der Eifer noch vermehret werden; wenn nämlich eine jegliche Nation sich mit Anwendung alles Fleisses dahin bemühen wird, diese und jene ihrer Religionsgebräuche ansehnlicher, prächtiger und glänzender zu machen, um andere Religionsparteien darinn zu übertreffen, und sich solchergestalt dadurch bey Gott ein größeres Verdienst zu verschaffen und in der Welt einen vorzüglichen Ruhm zu erwerben129.

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Semler (1787) 117–118 [Anm. 2]. Vgl. Semler (1787) 118 [Anm. 2]. Vgl. Semler (1787) 163 [Anm. 1]. Vgl. Semler (1787) 162 [Anm. 1]. Vgl. Semler (1787) 162–163 (Kapitel 16). Lessing strebte im Jahr 1787 ebenfalls eine Übersetzung der Schrift an, konnte das Vorhaben aber nicht mehr zu Ende bringen (vgl. Klibansky [1984] 122–124). 128 Vgl. Klibansky (1984) 124–125. 129 Semler (1787) 197.

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Unabhängig von der Frage nach der Angemessenheit der Übersetzung ist Semlers Stellungnahme kurz und vernichtend: „Die lezte Äusserung … ist so sehr von Pauli grossen algemeinen Begriffen und Grundsäzen entfernet, daß es gleichsam eine öffentliche Beschimpfung dieses Apostels ist“130. Neben dieses biblischtheologische Argument tritt, dass dieser „Wettstreit“ nach Semler dem „Wesen der christlichen moralischen Religion zuwider“ sei und die „Rechte“ der Obrigkeit tangiere131. Damit wird zugleich deutlich, dass Semlers Toleranzverständnis im Zusammenspiel mit dem Perfektibilitätsgedanken sowie seinem Verständnis von privater und öffentlicher Religion sich grundlegend vom Lessingschen Ideal unterscheidet132. Semler kann nicht wie Lessing davon ausgehen, dass unbekannt ist, welcher Ring der wahre ist. Vielmehr gibt es die eine „innere“, „moralische“ Wahrheit und klar hierarchisch abgestufte und zugleich verbesserliche Repräsentanten der öffentlichen Religion. Nur im Ergebnis, dass keine Religion bzw. Konfession absolut gesetzt werden kann, stimmen beide überein. Und dennoch eignet den Äußerungen Semlers im Vergleich mit seinen neologischen Mitstreitern ein neuer Ton. Zumindest potentiell erfolgt eine Öffnung hin zum Dialog zwischen den monotheistischen Religionen. Entsprechend konnte er wenige Jahre vor der Kommentierung des Dialogus die folgende Kritik am auf eine Reunion zielenden sog. Piderit-Böhm-Plan äußern: Sie wollen ja auf diese Weise nicht Christen mit Christen in der Hauptsache vereinigen, (denn das sind alle wahre Christen schon; sie sind es auch hierin mit moralischen guten Menschen in der ganzen Welt, Juden, Muhamedanern, Heiden [!] – bis zur Liebe und Freude an diesem Lichte, so klein es ihnen ist;) sondern sie wollen Menschen mit Menschen, um menschlicher Absichten willen, äusserlich vereinigen133.

5.

Vorläufige Zwischenbilanz

Im Vorangehenden wurden exemplarisch drei zentrale Neologen in den Blick genommen. Unter besonderer Berücksichtigung der Argumentationsfigur „alt/ neu“ wurde nach dem Verhältnis von Religionen und Konfessionen gefragt. Das Spektrum der Texte reicht von der ursprünglich nur den Initiatoren eines Eini130 Semler (1787) 202 [Anm. 2]. 131 Vgl. Semler (1787) 203 [Anm. 2]. Noch schärfer weist Reichard selbst den Gedanken zurück: „Kann wol irgend ein Gedanke ungegründeter und elender seyn, als dieser? Latet anguius in herba. Anm. des Ueb“ (Semler [1787] 197). 132 Zum Lessingschen Toleranzverständnis vgl. Guthke (2003); dazu auch Schultze (1969). Erste Hinweise zur von Lessing und dem Staatsrat Christian Wilhelm Dohm beförderten öffentlichen Debatte über die Judenemanzipation bietet Kirn (2018) 242–246. 133 Semler (1784) 149. Zum sogenannten „Piderit-Böhm-Plan“ vgl. Spehr (2005) 208–232 sowie Schäufele (2003) 224–239.

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gungsprojektes zugedachten Denkschrift Jerusalems, über Spaldings erweiterte Predigt für seine Berliner Hörer und darüber hinausgehende Leser vor dem Hintergrund von Masius Engagement in Preußen hin zu Semlers für einen breiten Rezipientenkreis verfassten, die Einigungsbestrebungen in ganz grundsätzlicher Weise thematiserenden Kommentar zu einer Cusanusschrift. Unter dem Vorbehalt der unterschiedlichen Gattungen und den damit korrelierenden unterschiedlichen Adressaten und Kommunikationskontexten kann festgehalten werden: Zwar teilen die Neologen in weiten Teilen einen theologischen Grundbestand, doch setzen sie unterschiedliche Akzente. Der aufklärerische Perfektibilitätsgedanke wird bei allen auch auf die Religion übertragen. Bei Jerusalem wird er zurückgebunden an das Theologumenon der Vorsehung, ergänzt durch sein Leitmotiv der Simplicität. Der Toleranzgedanke tritt hier in den Hintergrund, hinzu kommt deutliche Kritik an der Katholischen Kirche. Ganz anders bei Spalding und Semler. Beim Berliner Neologen steht die Toleranzfrage im Zentrum der Ausführungen. Daneben tritt eine Relativierung der konfessionellen Bekenntnisse und dogmatischen Lehren, mit der eine gewisse Deutungsoffenheit in Richtung interreligiösen Dialog einhergeht. Anders als Jerusalem und wohl auch Semler erwartet Spalding eine Aufhebung der konfessionellen Spaltungen erst im Eschaton. Beim Hallenser Neologen wird die erwähnte Deutungsoffenheit noch weiter geführt. Im Hintergrund steht jedoch vor allem seine Unterscheidung von privater und öffentlicher Religion und ein jegliche historische Religion transzendierender Perfektibilitätsgedanke. Hinzu kommt ein Toleranzverständnis, das weniger auf „Duldung“ und „Liebe“ rekurriert als die Freiheit der Privatreligion im Blick hat. Eine unmittelbare Wirkung war diesen Ansätzen einer Neuinterpretation des Verhältnisses von Religionen und Konfessionen nicht beschieden. Jedoch sind die Unionen des 19. Jahrhunderts wie auch die Anfänge einer Religionstheologie in ihrem Denken grundgelegt. Als „Schrekbild“ einer Neuerung ist die Neologie heute kaum zu verstehen, aber ebenso wenig als mit dem 19. Jahrhundert schlichtweg „veraltete“ Position respektive theologische „Sackgasse“.

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Gury Schneider-Ludorff

Eine mittelalterliche Heilige reformatorisch gewendet – Zur Neudeutung der Heiligen Elisabeth in der Reformationszeit

Abstract Using the example of the Reformation measures in the County of Hesse during the 16th century, the article shows how Saint Elizabeth – one of the most prominent saints of the European Middle Ages – experiences a transformation in the sense of the new Reformation doctrine and is adapted to the changes in the modern territorial state. The diverse mediaeval reception of Elisabeth is now reduced to one aspect: the princess, the benefactress, who cares for the poor and sick. She is a role model and legitimation figure, but a figure of the past, which is surpassed by the new Reformation regent, Philip of Hesse, and is ultimately inherited in her role model, as well as patroness of the dynasty and patroness of the country.

1.

Einleitung

Die Frage nach „Alt oder Neu – Transformation und Modernität“ von antiken und mittelalterlichen Traditionen, die mit der Reformationszeit einhergehen, lässt sich auch an einem Beispiel des Umgangs mit den Heiligen in jenen Territorien aufzeigen, die sich früh der Reformation anschlossen. Martin Luther hatte bekanntlich den Heiligen lediglich eine Vorbildfunktion in der Christusnachfolge für die Glaubenden zuerkannt und jegliche Mittlerfunktion abgesprochen. Entsprechend war es schon zu Beginn der 1520er Jahre in den evangelischen Territorien zur Entfernung der Heiligenbilder und Heiligenfiguren aus den Kirchen und dem öffentlichen Raum gekommen. Das reformatorische Bildprogramm konzentrierte sich nun auf die Darstellung von Szenen des Alten und Neuen Testaments. Und auf Christusdarstellungen. Dass die Heilige Elisabeth – eine der prominentesten Heiligen des europäischen Mittelalters – dennoch einen besonderen Platz in der reformatorischen Erinnerungskultur erhalten hat, ist ihrer Doppelfunktion geschuldet, die sie über mehrere Jahrhunderte in der Landgrafschaft Hessen eingenommen hat. Diese erfuhr nun, im Zuge der Entstehung des frühneuzeitlichen Territorialstaats und

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Gury Schneider-Ludorff

seiner religiösen Umgestaltung als ein reformatorisches Territorium, eine beachtenswerte Transformation und Neudeutung1. In einem spektakulären Auftritt ließ Landgraf Philipp von Hessen am 18. Mai 1539 den Schrein der Heiligen Elisabeth öffnen, die Gebeine herausnehmen und an einen geheimen Ort bringen. Der Bericht des Deutschen Ordens, dem die Obhut der Gebeine in der Elisabeth-Kirche in Marburg seit Jahrhunderten aufgetragen war, spiegelt das Entsetzen darüber, wie der Landgraf sich erlaubt hatte, mit den Gebeinen jener prominenten Heiligen des europäischen Mittelalters umzugehen, die zudem seit über dreihundert Jahre als Patronin des Landes Hessen firmierte: Nach einem feierlichen Gottesdienst in der Marburger Elisabeth-Kirche habe der Landgraf befohlen, die Sakristei zu öffnen. Er sei in Begleitung von über hundert Personen gewesen, unter ihnen einige Professoren und Vertreter der neu gegründeten Universität Marburg, so auch der Rektor und Professor des Zivilrechts, Johannes Eisermann, der Hoftheologe Adam Krafft sowie zahlreiche hessische Adelige und Vertreter des Bürgertums. Trotz der wiederholten inständigen Bitten des Landkomturs des Deutschen Ordens, die Totenruhe der Heiligen nicht zu stören, habe der Landgraf auf die Öffnung des Schreins gedrungen2.

Auch wenn die in dem Bericht mit Empörung ausführlich beschriebenen Szenen einer gewissen Situationskomik nicht entbehren, die sich im Hin und Her zwischen Weigerung der Schlüsselherausgabe durch die Vertreter des Deutschen Ordens und den spöttischen Bemerkungen des Landgrafen ergaben, zeigt sich doch das Anliegen des Berichtes, das Verhalten der Ordensleute gegenüber dem Landgrafen als rechtmäßig darzulegen. Verhindern konnten sie dessen Vorgehen freilich nicht. In einem Gewaltakt wurde der goldene Schrein schließlich aufgebrochen. Der Landgraf ließ die Gebeine und das prächtige Kopfreliquiar aufs Schloss bringen und es alsbald ohne den Schädel dem Orden wieder zustellen3. Mag bei dieser spektakulären Symbolhandlung der schon seit langem gehegte Wunsch des Landgrafen, die Sonderstellung des Ordens abzubauen, eine entscheidende Rolle gespielt haben4, handelt es sich doch bei der Beseitigung der Elisabethreliquien um einen tiefen Eingriff in die überkommene Frömmigkeit der Zeit und einen radikalen Bruch mit der landgräflichen Familientradition und Herrschaftslegitimation5. Dies musste begründet werden. Und so ist ein weiterer Augenzeugenbericht des hessischen Hoftheologen Adam Krafft überliefert, samt

1 2 3 4 5

Vgl. dazu und zum Folgenden Schneider-Ludorff′(2006). Franz (1957) Nr. 388 A. Vgl. Franz (1957) Nr. 388 C. Vgl. dazu Schaal (1996). Zum Umgang mit den Elisabethreliquien vgl. instruktiv Franke (1981) 167–170. Zur Familientradition vgl. Demandt (1967).

Eine mittelalterliche Heilige reformatorisch gewendet

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einer theologischen Deutung und Rechtfertigung6. Das Agieren des Landgrafen wird mit dessen Glauben begründet. An der Heiligen Schrift orientiert und aufgrund der Aussagen von Dtn. 6, 13 lehne der Landgraf die Heiligenverehrung ab, da nur Gott allein zu verehren und ihm allein zu dienen sei. Zweitens sei die Beseitigung der Reliquien zur Ehre Jesu Christi geschehen als des einzigen Vermittlers der Menschen. Als dritten Grund wird das Verhindern des Wiederauflebens des Heiligenkultes angegeben, der als „eine Form des Aberglaubens“ nicht wiedererstehen solle. Adam Krafft lieferte also eine genuin reformatorische Deutung des Geschehens, die die Beseitigung der Reliquien mit der Ablehnung der überkommenen kirchlichen Tradition zugunsten der Heiligen Schrift (sola scriptura) und dem Glauben an Christus allein (solus christus) begründete. Damit wurde der Reliquienkult als Aberglaube markiert, den ein frommer Landesherr, der sich für die religiösen Belange der Untertanen vor Gott verantwortlich wusste, zu unterbinden, ja abzuschaffen hatte. Wurden mit dieser Aktion zwar die Gebeine der Elisabeth an einen anderen Ort verbracht und damit der Heiligenverehrung nun endgültig ein Riegel vorgeschoben, nachdem der Landgraf bereits 1528 die Versiegelung der Sakristei erzwungen hatte, bedeutete dies jedoch nicht, dass Elisabeth dem Vergessen anheimgestellt wurde. Im Gegenteil. Der Beitrag wird zeigen, dass die mittelalterliche Heilige eine Transformation erlebte, die bestimmte Attribute akzentuierte und reformatorisch umdeutete. Um dies zu veranschaulichen, soll zunächst die Rolle der Elisabeth in der Tradition des hessischen Landgrafenhauses skizziert werden. In einem zweiten Schritt wird den Veränderungen unter Philipp von Hessen nachgegangen, um dann in einem dritten Schritt zusammenfassend die Transformationen zu benennen.

2.

Die Vieldeutigkeit der mittelalterlichen Heiligen

a)

Elisabeth als königliche und wundertätige Heilige des Deutschen Ordens

Vielfältig sind die Legenden um Elisabeth, die als Tochter des Königs von Ungarn in früher Kindheit am Thüringer Hof auf der Wartburg aufwuchs und somit an einem der bedeutendsten Höfe jener Zeit7. Nach dem Tod ihres Mannes Ludwig gab sie jedoch alles auf, was ihr ihre Herkunft, ihre Ehe und die Stellung bei Hofe an Lebensstandard garantiert hatte. Sie wählte stattdessen ein Leben des Ver6 Vgl. Franz (1957) Nr. 388 C. 7 Vgl. dazu Schwind (1981). Zur heiligen Elisabeth vgl. auch Maurer (1953–1954); (1970a) und (1970b) sowie Schilling (2003).

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zichts, der Armut und der völligen Hingabe an die Armen und Elenden, die sie in ihrem Marburger Hospital selbst versorgte, bis sie nach wenigen Jahren entkräftet zusammenbrach und im Alter von erst 24 Jahren verstarb. Eine Fürstin, die sich von ihren ständischen Verpflichtungen abwandte, um in der konsequenten Nachfolge Christi den Armen und Elenden zu dienen, beeindruckte die Zeitgenossen so sehr, dass Elisabeth bereits nach kurzer Zeit heilig gesprochen wurde8. Das Hospital, das sie gegründet hatte, wurde dem Deutschen Orden in Marburg in Obhut gegeben, ebenso ihre Gebeine, die rasch zum Ziel von Heiligenverehrung und Wallfahrt wurden9. Mit den Elisabethreliquien wurde der Deutsche Orden zu einer wichtigen Ordensniederlassung in Marburg. Im 14. Jahrhundert nahm allerdings durch die Konkurrenz neuer Wallfahrtsstätten in Europa die Elisabethwallfahrt für die breiten Bevölkerungsschichten an Bedeutung ab10. Nicht jedoch für den Adel – und hier ist eine deutliche ständische Verschiebung der Elisabethverehrung zu konstatieren: Gerade seitens des hessischen Adels und der Landgrafenfamilie avancierte die Heilige zur wichtigsten Legitimationsfigur, die zentral wurde auch für eine dynastische Frömmigkeitskultur.

b)

Elisabeth als königliche Heilige und Schutzpatronin der hessischen Landgrafenfamilie

Dies kam jedoch nicht von ungefähr. Schon die Tochter Elisabeths, Sophie von Brabant, hatte nach dem Aussterben des thüringischen Landgrafenhauses 1247 die Erbansprüche auf dessen Gebiet für ihren Sohn Heinrich durchsetzen wollen und sich dabei auf die Tatsache berufen, dass sie die Tochter der Heiligen sei11. Sie rief damit eine Elisabeth-Verehrung des Hessischen Landgrafenhauses ins Leben, die sich in den Titulaturen der Hessischen Landgrafen zeigte, die sich bis etwa 1377 als Enkel und Urenkel der Heiligen bezeichneten. Weiterhin finden sich Hinweise und Abbildungen der Elisabeth in den fürstlichen Siegeln. Programmatisch war aber auch, dass in jeder Generation eine Tochter des Landgrafenhauses den Namen der Heiligen trug. Damit wurde die Heilige als Hauptfrau des Landgrafenhauses vereinnahmt12. 8 Vgl. Leinweber (1981). 9 Vgl. dazu Bookmann (1981) sowie Franke (1981) 167–168. 10 Vgl. dazu und zum Folgenden Demandt (1972) 138. Neben die alten Großwallfahrtstätten des Abendlandes Rom und Santiago de Compostela in Spanien traten neue Wallfahrten. Diese verdrängten die alten Ziele zunehmend. So stellt in Hessen die Bluthostie in Gottsbüren im 14. Jahrhundert für einige Jahrzehnte lang die Elisabethwallfahrt völlig in den Schatten. 11 Vgl. dazu Vogt (1909) 322–324. 12 Vgl. Demandt (1972) 140–141.

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Just in jener Zeit sind frömmigkeitsgeschichtlich auch aus der Genderperspektive bemerkenswerte Formen der Verehrung der Elisabeth seitens der Landgrafendynastie zu beobachten. Zum Beispiel die Verwendung der Mantelreliquie der Heiligen, die in der Sakristei der Deutschen Ordenskirche verwahrt wurde. Diesen Mantel lieh man den Fürstinnen aus, wenn eine Entbindung bevorstand13. Denn man sagte diesem Mantel der Heiligen die wundertätige Erleichterung der Geburt nach. Solche Übersendungen des Mantels der Heiligen Elisabeth sind im 15. Jahrhundert mehrfach belegt und sie erfolgten nur an gräfliche oder fürstliche Häuser, allerdings nicht an die Wettinerinnen, immer nur an die Frauen des Hessischen Landgrafenhauses, des Hauses Brabant14. Es zeigt sich jedoch auch, dass gerade die hessischen Landgrafen sich mit den wundertätigen Reliquien der Heiligen zum Erhalt ihrer Dynastie nicht zufriedengaben, sondern Elisabeth selbst mit der eigenen Dynastie und ihrer aufstrebenden Territorialherrschaft identifizieren sollten; sie avancierte schließlich zur Staatspatronin. Dies lässt sich in den Münzprägungen des Hessischen Landgrafen seit Ende des 14. Jahrhunderts erkennen15. So zeigt die älteste Darstellung auf Münzen den Kopf der Heiligen mit dem Witwenschleier und der Krone. Unter Landgraf Wilhelm I. (1471–1493) erscheint dann nur noch das gekrönte Haupt der Heiligen. Auf einer Talerprägung von 1502 des Landgrafen Wilhelm II. (1493–1509) erscheint Elisabeth dann in der Rolle der Staatspatronin des Landes: Elisabeth wird mit Krone und Kirche dargestellt. Diese Deutung hält sich bis zur Reformation.

3.

Philipp von Hessen und die Deutung Elisabeths in der hessischen Reformation

Zunächst ist auffällig, dass Philipp von Hessen offenbar dem bisherigen Interpretationsmuster seines Herrscherhauses, was Elisabeth betraf, nicht einfach folgte. Es findet sich in seiner Regierungszeit kein Siegel, aber auch keine Münze, die die Heilige zeigen, so dass hier ein Abbruch zumindest in der Deutung Elisabeths als Patronin Hessens konstatiert werden muss, wenn man nicht sogar von einer Substitution sprechen kann, denn die hessischen Münzen schmückten von nun an das Brustbild des Landgrafen selbst und umseitig dessen Wappen16.

13 Vgl. Demandt (1972) 140–141. Zur Mantelreliquie vgl. Küch (1934) sowie Krüger (2000) 75– 108. 14 Vgl. dazu Koch (1981) und Moeller (1982). 15 Vgl. dazu Demandt (1972) 129–131. 16 Vgl. Schwab (1904).

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Was den Umgang mit den Heiligen betraf, war der Vorbildcharakter der Nachfolge Christi durchaus anzuerkennen. Damit konnte sich der hessische Landgraf auch auf die Position Luthers gegenüber Elisabeth berufen, der diese stets mit Achtung erwähnt hatte17. Der Vorbildcharakter der Elisabeth, der selbstverständlich an die Taten und Niedrigkeit Christi nicht heranreichte, wurde immerhin gewürdigt und zur Nachahmung anempfohlen, wenngleich mit deutlicher Ablehnung der Verehrung18. Ähnlich argumentierte auch die Schwester Philipps von Hessen, Herzogin Elisabeth von Sachsen-Rochlitz, als sie im Jahre 1536 ihren Bruder bat, die kürzlich geborene Tochter auf den Namen Elisabeth zu taufen19. Diesem Wunsch der Schwester nach Fortführung der Familientradition kam er jedoch erst drei Jahr später bei der Geburt der nächsten Tochter nach, weniger wohl, wie das Zögern deutlich macht, aus dynastischer Überzeugung als vielmehr aufgrund der Argumentation des christlichen Vorbildcharakters. Damit knüpfte er implizit an die überkommenen dynastischen Gepflogenheiten an, deutete sie aber reformatorisch um. Die neue Profilierung der Ahnherrin vollzog sich in den folgenden Jahren im Rahmen der Legitimierung jener zentralen Institution der territorialen Reformpolitik, mit der Philipp von Hessen seinem Reformprogramm mit der Stiftung der vier Landeshospitäler Haina und Merxhausen, Gronau und Hofheim ein weiteres Element hinzufügte. Hier sollte Elisabeth eine zentrale Rolle spielen bei der Begründung des Gemeinen Nutzens und bei der Legitimierung der Landeshospitäler und eines christlichen Wohlfahrtsstaates20. Luther hatte in seiner Schrift Der 82. Psalm ausgelegt von 1530 das soziale Handeln der heiligen Elisabeth gerade den Fürsten als vorbildlich vorgestellt21. Auch wenn Philipp nicht daran dachte, selbst in dieser Weise tätig zu werden, war er doch bereit, die implizite Vorbildfunktion zu übernehmen. Zudem bot sich hier ein hervorragendes Legitimationsmodell für seine bislang kritisch beäugten Reformmaßnahmen, die intensiver Überzeugungs- und Legitimationsmaßnahmen theologischer und juristischer Art bedurften22. Dies nicht zuletzt, weil sich der Landesfürst weiterhin dem Vorwurf ausgesetzt sah, die Klostergüter zur

17 Vgl. WA 17/II, 101, 32–35. 18 Weitere Beispiele zu Luthers Umgang mit Elisabeth in seinen Schriften behandelt Leppin (2006). 19 Vgl. Heinemeyer (1954) 466 (Nr. 2842). 20 Vgl. Schneider-Ludorff (2006) 99–126. 21 Vgl. WA 31/I, 201, 5–9. 22 Zur juristischen Diskussion und Auseinandersetzung über die Verwendung des Klosterbesitzes auf den Reichstagen und vor dem Reichskammergericht vgl. Kratsch (1990) und Friedrich (2004).

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Schuldentilgung und eigenen Bereicherung – also zum eigenen Nutzen – zu verwenden23. Der Legitimationsversuch geschah auf zwei Ebenen: einmal durch die Schrift des Juristen Johannes Ferrarius, der in diesem Rahmen ein theologisches Programm des Gemeinen Nutzen entwarf 24. Eine populäre Umsetzung fand die theologische Grundlegung einige Jahre später in einem Bildprogramm: dem Hainaer Philippstein von 154225. In verdichteter Form stellt der Stein seine Theologie an vier Gestalten dar: einem Fabelwesen, der Harpyie als Identifikation des Mönchtums, ihr gegenüber Elisabeth, die einen vor ihr sitzenden Armen mit einem Huhn und Wasser versorgt. Auf der anderen Seite, den Dreien gegenübergestellt: Landgraf Philipp samt seinem überdimensionierten Familienwappen. Weiterhin finden sich diverse Spruchtafeln. Der Stein dokumentiert die scharfe reformatorische Mönchs- und Klerikerkritik. Diejenigen, die im höchstem Maße gegen das Prinzip des Gemeinen Nutzens verstoßen, weil sie nur den Eigenen Nutzen leben, sind in der Figur der Harpyie dargestellt und werden mit dem Mönchtum identifiziert26. Das Mönchtum sieht die reformatorische Kritik daher als obsolet an. Damit wird auch die Zuständigkeit der Klöster für die Armenfürsorge infrage gestellt. Denn mit dem Rechtfertigungsgedanken erhielt auch die Armenversorgung eine neue Fundierung. Sie war nun nicht mehr als gutes Werk vor Gott nötig, um das Seelenheil zu erlangen und gegebenenfalls die Zeit im Fegefeuer zu verkürzen – oder einen Ablass für die begangenen Sünden zu erwirken; die Nächstenliebe sollte nun Frucht des Glaubens sein: Dank für die Gnade Gottes und seine Zuwendung zum sündigen und zugleich gerechtfertigten Menschen, Ausdruck des gläubigen Christen, der durch Gottes bedingungslose Anerkennung seiner selbst zur Nächstenliebe befähigt und verpflichtet ist. Die Kritik am Mönchtum implizierte weiterhin die Ablehnung der Heiligen als Fürsprecherinnen und Fürsprecher vor Gott, als Wunder vollbringende Gestal23 Vgl. dazu die unter dem Namen des Ferrarius erschienene Legitimationsschrift Was der Durchleuchtig hoch geporn Fürst vnnd Herr / Herr Philips Landtgraffe zu Hessen / Graffe zu Katzen-Elnbogen / zu Dietz / zu zigenheyn vnd zu Nidda / als eyn Christlicher Fürst mit den Closterpersonen / Pfarrherrn / vnd Abgöttischen Bildnussen in seyner gnaden Fürstenthumbe auß Göttlicher geschrifft fürgenommen hat, die mehrfach den Hinweis gibt, dass der Landgraf sich den Vorwurf gefallen lassen musste, die Reformmaßnahmen würden zu seinem eigenen Nutzen durchgeführt. Am Beispiel Hainas lässt sich zugleich zeigen, dass dies in der Tat der Fall war. So war nur etwa ein Fünftel des ehemaligen Zisterzienservermögens zur Versorgung des Hospitals vorgesehen; der Großteil floss in die landgräfliche Schatulle; vgl. dazu Franz (1983) 30. 24 Vgl. dazu und zum Folgenden: Schneider-Ludorff (2006) 118–126. 25 Abbildungen von Gils in: Schneider-Ludorff (2006) 1 und Heinemeyer – Pünder (1954) 1. Zur Entstehung und den Deutungsmöglichkeiten des Bildprogramms des Philippsteins vgl. auch Demandt (1967). 26 Vgl. dazu Goertz (1995) und Cohn (1979).

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ten, als Schutz der Gläubigen. Und hier ist auffällig, dass sich auf dem Stein überlebensgroß auch die Figur der Elisabeth befindet. Man fragt sich nun also: Was hat die Heilige Elisabeth – die prominente mittelalterliche Heilige – auf einer ehemaligen Altarplatte in einer explizit sich als reformatorisch verstehenden Hospitalskirche in Haina zu suchen27? Es ist offensichtlich: Elisabeth tritt hier in neuer Gestalt auf. Sie ist eingewoben in ein neues reformatorisches Konzept vom Gemeinen Nutzen im Sinne landesfürstlicher Armenfürsorge. Sie ist dem eigennützigen Gebaren der Mönche im Bildprogramm entgegengesetzt als Vorbild der aus dem christlichen Glauben heraus handelnden Dienerin der Armen. Damit ist und bleibt sie Inbegriff der tätigen Barmherzigkeit – aber nicht als Heilige, sondern als Mensch aus Fleisch und Blut und damit als Vorbild für alle Gläubigen; auch für den Landesfürsten. Zugleich stellt jedoch die Armenfürsorge der Elisabeth ein Modell dar, das für die Erfordernisse des Territoriums als überholt angesehen werden musste: Die von Einzelnen willkürlich und unsystematisch zugewandte Fürsorge konnte kein zukunftsträchtiges Konzept für den Umgang mit Bedürftigen im Territorium darstellen und musste somit den Gemeinen Nutzen als Ziel des christlichen Gemeinwesens verfehlen. Seine Herstellung war nur durch eine territorial strukturierte Fürsorge und gerechte Gesetze möglich und nur durch den Landesfürsten zu garantieren. So stellt der sog. Philippstein Elisabeth und den Landgrafen in ein wechselseitiges Beziehungsgefüge. Sie gilt als Ahnherrin der Dynastie und zugleich als eine dem Volk zugewandte barmherzige Fürstin und Patronin. Sie ist nicht als Heilige dargestellt, sondern – im reformatorischen Sinne – als barmherzige, königliche Fürstin mit Witwenschleier und Krone. Und sie übernimmt eine weitere Rolle: die der Fürstin und Landesmutter über die Zeiten hinweg. Denn wie zu sehen ist, fehlt dem Landgrafen die Gattin an seiner Seite. Nun war aber auch den Zeitgenossen allzu gut bekannt, dass der Landgraf zur Zeit der Errichtung des Philippsteins mit zwei Frauen gleichzeitig verheiratet war: seit 1524 mit Christine von Sachsen und seit 1540 zugleich mit Margarethe von der Saale, der Frau, die er nach ausführlicher Konsultation mit Luther, Melanchthon und Bucer geheiratet hatte28. Und gegen alle Absprachen war die zweite Ehe natürlich nicht geheim geblieben. Es fehlte also dem Landgrafen eine Fürstin, die die Aufgaben im Blick auf die frühneuzeitliche Repräsentanz der Staatssymbolik übernehmen konnte29 – und zugleich dem Fürsten über seine moralisch wie rechtlich verwerfliche Situation hinweghalf.

27 Vgl. Demandt (1972) 114. 28 Vgl. dazu Lenz (1880–1881) und Walker Rockwell (1904). 29 Die Bedeutung der Fürstin in der frühneuzeitlichen Staatssymbolik behandelt ausdrücklich Rudersdorf (1997) 163–167. Auf die Ähnlichkeit der Elisabeth mit der ersten Gattin des Landgrafen, Christine von Sachsen, hat Demandt (1983) hingewiesen.

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In seiner Ahnin Elisabeth hatte der Landgraf diese mächtige Legitimationsfigur: Zum einen als weibliches Gegenüber, das ebenso die Fortführung der Dynastie repräsentierte wie eine legitime fürstliche Ehefrau, ja sogar noch auf eine genuine eigene Tradition als Mutter des Herrscherhauses verweisen konnte. Und zum anderen legitimierte der Verweis auf Elisabeth die reformatorischen Maßnahmen des Landgrafen: Philipp konnte an die der Fürstin und Königstochter zugeschriebene Tradition der fürsorgenden Landesmutter anknüpfen und sich zugleich als weltliche Obrigkeit darstellen, die – sowohl nach humanistischem wie reformatorischem Verständnis von Röm. 13 – von Gott eingesetzt ist, für das sittliche und religiöse Wohl der Untertanen zu sorgen, und durch gerechte Gesetze. Es ist jedoch offensichtlich, dass hier eine Spannung herrscht, die bereits auf mehreren Ebenen die Transformation der Heiligen deutlich macht: Denn Philipp stellte sich zum einen in gewisser Weise in die Tradition seiner Ahnherrin, zum anderen überbot er, ja ersetzte er sie; er setzte das konsequenter und planmäßiger um, wofür Elisabeth nur mit ihren begrenzten Mitteln hatte kämpfen können – und er überführte die Armenfürsorge in ein neues Modell: Durch die Auflösung der Klöster erfolgte eine strukturelle Veränderung der Armenfürsorge, die im Territorium den Gemeinen Nutzen befördern und, wie der Fürstenspruch erklärte, zum Erhalt der Ehre Gottes dienen sollte.

4.

Die Transformation der Heiligen

Zusammenfassend lassen sich vier Entwicklungen im Umgang mit der heiligen Elisabeth in der hessischen Reformation aufzeigen:

a)

Reduktion der Vieldeutigkeit

Im Rahmen der Reformbemühungen Philipps von Hessen, die sich im Verbot der Heiligenbilder und der Einschränkung des Reliquienkultes bis hin zur gewaltsamen Entfernung der Gebeine äußerte, vollzieht sich im Blick auf die mittelalterliche Heilige eine Reduktion der bisher wesentlichen Zuständigkeitsbereiche. Sie ist nicht mehr die wundertätige Heilige und Mittlerin zwischen Menschen und Gott. Sie ist damit auch für den wundertätigen Erhalt der Dynastie und damit als Hausheilige obsolet. Weder Mantelreliquie noch Elisabethglas wird man im protestantischen Bereich bei den landgräflichen Geburten bemühen, da auch hier eine Wundertätigkeit ausgeschlossen ist. Allein der Name wird in den folgenden Jahrhunderten die Landgräfinnen an die Ahnin erinnern. Aber nicht als Heilige, sondern als Vorbild. Auf diesen

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Vorbildcharakter verweist auch der Philippstein. Mit der Darstellung der Elisabeth auf dem Philippstein, der in der Hainaer Kirche seinen Platz findet, wird die Heilige des Mittelalters eingebettet in einen reformatorischen Kontext. Sie erfährt damit eine neue Aneignung und Deutung: Nicht aufgrund ihrer Werke ist sie heilig, sondern als verantwortungsbewusste gläubige Fürstin ist und bleibt sie Vorbild für christliches Leben.

b)

Enthierarchisierung des Beziehungsgefüges

Weiterhin lässt sich gerade im Beziehungsgefüge zwischen der Heiligen und den Repräsentanten der fürstlichen Familie eine deutliche Veränderung feststellen: Es handelt sich um eine Enthierarchisierung. Waren auf Münzen und Siegeln der Vorfahren Philipps die Heilige als segnende und, neben ihr knieend, die Angehörigen des Landgrafenhauses dargestellt, so ist dieser Unterschied nun nivelliert. Der Philippstein stellt den Landgrafen und die Heilige auf die gleiche Ebene. Zugleich drängt er sie in die eine Ecke ab; sie muss sich ihr Drittel des Bildes mit der Harpyie, dem Leprösen und etlichen Spruchtafeln teilen, wird also nur noch in ihrem Vorbildcharakter erinnert. Sie ist damit faktisch eine Person der Geschichte und damit einer vergangenen Zeit.

c)

Historisierung

Hier zeigt sich eine implizite Thematisierung der Epochenwahrnehmung. Bekannt ist Elisabeth als Wunder wirkende Heilige und barmherzige Fürstin. Als Ahnherrin des Landgrafen legitimiert sie damit sein Handeln, wenn er sich gleichermaßen um das Wohl seiner Untertanen bemüht. Er stellt sich in eine bewährte und anerkannte Tradition seines Hauses. Allerdings tut er es auf eine Weise, die der neuen Zeit, der Reformation, angemessen ist: Ist die eher zufällige Versorgung einzelner Armer Modell einer vergangenen Zeit, so bietet die Einrichtung der Hospitäler die neue, in die Zeit passende Form struktureller und staatlich organisierter Form der Wohltätigkeit. Elisabeth steht für das Vergangene, das zwar bekannt ist und respektiert wird, aber nun zugunsten des Neuen Raum greift. Es ist die Akzentuierung des Neuen, die Transformation vom Kloster zum Hospital und von der auf Einzelne bezogenen Fürsorge zur staatlichen Fürsorge, die zum Inbegriff des Gemeinen Nutzens wird. Die Transformation dessen, was gewesen und – im Sinne der heiligen Elisabeth – auch gut gewesen ist, wird zum Zeichen einer wahren Re-formatio, indem das Bisherige auf einer neuen Ebene fortgeführt und die Maßnahmen der

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205

Reformation in einen größeren Horizont der Geschichte eingezeichnet werden, in der der Landgraf eine Führungsrolle beansprucht.

d)

Substitution

Die Forschung hat Elisabeth auf der Tafel der Landeshospitäler als „Rückholaktion“ bezeichnet30. Es stellt sich jedoch die Frage, ob es sich hier nicht eher um eine Substitution handelt. Des Heiligenscheins beraubt, auf gleicher Stufe gestellt wie ihr reformatorischer Nachfahre und zudem als Figur der Vergangenheit deklariert, wird sie faktisch auf fast allen Ebenen durch den Landesherrn ersetzt: Zum einen wird ihre Rolle als Beschützerin der Armen und als heilige Beschützerin aller gläubigen Untertanen auf die Person des Landgrafen übertragen. Dies gilt zum zweiten auch für das Attribut der Heiligkeit, denn zugleich bleibt Elisabeth im Gedächtnis des Volkes implizit eine Heilige. Dies bot drittens eine Legitimation der Dynastie, wie sie kaum größer sein konnte, und zugleich eine Legitimation der Erbmonarchie. Denn auch darum geht es: Fast zwei Drittel des Bildes nimmt die Figur des Landgrafen und die seines überdimensionierten Wappens ein31. Damit wurde zwar an die mittelalterliche Interpretation der Schutzherrin des Landgrafenhause angeknüpft, faktisch aber überbot der Landgraf auch hier seine Ahnherrin. Denn sie war eine Gestalt der Geschichte, während er nun als der lebende Repräsentant der Dynastie allen vor Augen war. Damit ist die Vereinnahmung der mittelalterlichen Heiligen vollzogen. Es zeigt sich also, dass in Hessen besonders durch die Tradition des Herrscherhauses ein eigenständiger Umgang mit Elisabeth und ihrer Tradition ausgebildet wurde, der die vielseitige mittelalterliche Rezeption der Elisabeth in einen Aspekt fokussiert: die Fürstin, die Wohltäterin, die sich um die Armen und die Kranken kümmert. Sie ist Vorbild und Legitimationsfigur, doch eben eine Figur der Vergangenheit, die durch den neuen reformatorischen Regenten, Philipp von Hessen, überboten und schließlich in ihrem Vorbildcharakter, sowie als Schutzherrin der Dynastie und als Patronin des Landes beerbt wird.

30 Vgl. Demandt (1972). 31 Zur Repräsentation von Herrschaft und der zentralen Bedeutung der eigenen Dynastie für Philipp von Hessen vgl. Rudersdorf (2002).

206

Gury Schneider-Ludorff

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Eine mittelalterliche Heilige reformatorisch gewendet

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Gury Schneider-Ludorff

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Fulvio Ferrario

Kern und Schale. Die Unterscheidung zwischen Wesen und Ausformung als hermeneutisches Grundmodell der Moderne

Abstract The contribution analyzes, from a theological point of view, the classic hermeneutical model based on the distinction between core of the message („essence“) and the expressive form, reading texts of Harnack, Bultmann and Bonhoeffer. The distinction appears, on the one hand, necessary in order to proclaim the Gospel in different cultural contexts; on the other hand, Bonhoeffer shows that the distinction cannot always be maintained rigorously. The conclusions note that a recovery of the narrative dimension of biblical traditions can help to overcome the problems connected to the model.

1.

Einleitung

An sich ist das Thema nicht neu und nicht spezifisch modern, sondern begleitet den christlichen Glauben von seinen Ursprüngen an. Im Neuen Testament begegnet man ihm, wenn Ausdrücke verwendet werden, welche die Botschaft als solche bezeichnen: „Wort“ (sei es ohne jegliche Spezifizierung oder: von Gott; vom Kreuz; vom Leben), „Evangelium“, in den Pastoralbriefen „kostbares Gut“. Später wird das Bedürfnis, den Kern des Glaubens zu identifizieren, durch die Glaubenssymbole erfüllt. Die Reformation macht sich zwar die symbolische Tradition der alten Kirche zu eigen, zeigt aber die Tendenz, den Kern der kirchlichen Verkündigung mit dem neutestamentlichen Zeugnis zu identifizieren. Luther ist sich jedoch der Schwierigkeit dieser eher formalen Lösung des Problems (sola scriptura) bewusst und verwendet ein direkt inhaltliches Kriterium: Wirklich kanonisch in der Schrift und daher mit dem konstitutiven Moment der Botschaft verbunden ist das, was „Christum treibet“, mit der ganzen nicht nur rein hermeneutischen Problematik, die eine solche These mit sich bringt. Im berühmten Artikel VII der Augustana behauptet Melanchton, dass für das Geschehen der Kirche ein Konsens über den Inhalt der Verkündigung und die Feier der Sakramente „lauts des Evangelii“ satis est: Diese beide Elementen werden als Kriterium vorgeschlagen und damit zum Zentrum des kirchlichen

210

Fulvio Ferrario

Lebens erklärt. Die Dialektik zwischen Kern und Schale wird gelegentlich mit dem der Authentizität, des „wahren“ Christentums (in Gegensatz zur Häresie), verwoben oder auch verwechselt. Die sprachliche Konstellation des „Wesens“ als solche erscheint zunächst im Pietismus1, genau in diesem Sinne. Schließlich ist die Hegelsche Tradition mit dieser Verwendung des Begriffs in einer bestimmten Form verbunden: Das Wesen des Christentums fällt mit seiner Transkription in die philosophische Sprache zusammen, die von den verschiedenen Autoren auf unterschiedlichen Weisen vorgenommen wird; Feuerbach selbst fügt sich in diese Linie ein, indem er das Thema des Wesens sozusagen sub contraria specie interpretiert und das „wahre Christentum“, gereinigt von der projektiven und daher fabelhaften Dimension, anthropologisch umdeutet. In der Aufklärung sowie in dem romantischen und liberalen Zeitalter ist stattdessen eine Deklination des Wesensthemas zu beobachten, die durch die Wahrnehmung der Geschichtlichkeit des christlichen Glaubens und seiner sprachlichen Kristallisationen bestimmt wird2. Die Frage dreht sich um die theoretische Rolle dieser Geschichtlichkeit: Bedeutet sie, dass die christliche Botschaft, grob gesagt, als Produkt der Geschichte betrachtet und in diesem Sinne relativiert werden soll? Oder sind die verschiedenen historischen Formen als Erscheinungen eines ewigen, überzeitlichen Kerns zu betrachten? Und wenn dies der Fall ist: Woraus genau besteht ein solcher Kern, und mit welchen Denkmitteln lässt er sich erforschen? Wenn Adolf von Harnack sich die einfache Frage stellt: „Was ist Christentum?“3, dann spricht er diese Verflechtung der Problematik an. Im Folgenden werde ich die Überlegungen zu diesem Punkt von drei klassischen Autoren des letzten Jahrhunderts darstellen. Die Begriffe, in denen sie die Fragestellung beschreiben, sind nicht vollkommen symmetrisch: Sie stellen jedoch in den Augen der Nachwelt viel substanziellere Analogien dar, als die drei Theologen selbst damals meinten, und leisten deswegen einen Beitrag dazu, die zentrale Bedeutung des Themas zu erfassen. Abschließend werde ich versuchen, einerseits den unausweichlichen Charakter der Frage nach dem Kern bzw. dem Wesen zu zeigen, gleichzeitig aber eine theologische Deutung ihrer Aporie vorzuschlagen, wobei ich in der narrativen Dimension der christlichen Verkündigung und Theologie eine Möglichkeit sehe, dieser Aporie zu begegnen.

1 Vgl. Schäfer (1968) 336 und Schäfer (1971). 2 Für die Geschichte des Begriffes von „Wesen des Christentums“ vor Harnack vgl., neben den erwähnten Arbeiten von Schäfer, Wagenhammer (1973) und Courth (1977). 3 Harnack (2005) 11. Für eine Orientierung in der Literatur vgl. insbesondere das Nachwort von Claus-Dieter Osthövener in Harnack (2005) 255–287; Forni (1987); Rieske-Braun (1980); Osthövener (2002); Wenz (2001), 18–22, sowie Menke (2005).

Kern und Schale

2.

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Harnack und Das Wesen des Christentums

„Die Suche nach dem Wesen halte ich für eine nicht weniger unmögliche Leistung und nicht weniger vergebliche Anstrengung, wenn sie die nahen und elementaren Substanzen betrifft, als wenn sie sich den sehr entfernten und himmlischen widmet“4: Galileo Galileis Misstrauen gegenüber abstraktem Denken und allgemeinen Definitionen wird von Harnack in vielerlei Hinsicht geteilt. Sie erstreckt sich jedoch nicht auf die Möglichkeit, das Wesen des Christentums zu erkennen: Letzteres ist „etwas so einfaches und kraftvoll zu uns sprechendes … daß man es nicht leicht verfehlen kann“5; und es kann genau durch die Fähigkeit identifiziert werden, „Kern und Schale zu unterscheiden“6, wobei Ersteres in einer eher herausfordernden und, man muss sagen, nicht so eindeutigen Weise charakterisiert ist: „ewiges Leben mitten in der Zeit, in der Kraft und vor den Augen Gottes“7. Vom methodischen Standpunkt aus gesehen ist die Absicht Harnacks bekannt: Dieses im Herzen eines historischen Ereignisses enthaltene und an sich übergeschichtliche Zentrum kann und muss „mit den Mitteln der Geschichtlichen Wissenschaft“ entdeckt werden; es ist jedoch zu betonen, dass sofort hinzugefügt wird: „und mit der Lebenserfahrung, die uns aus erlebter Geschichte erworben ist“8. Es ist ein Werk der „kritischen Reduktion“, strukturell analog zu dem der Reformation9. Bevor das Projekt der historiographischen Erfassung eines Gegenstandes diskutiert wird, der aus den erklärten Gründen keine rein 4 Terza lettera del Signor Galileo Galilei al Signor Marco Velseri [Markus Welser] sulle macchie solari, 1 dicembre 1612, in: Galilei, Galileo, Opere, Edizione Nazionale Barbera, 1929–1936, volume V, 187, online abrufbar unter: https://www.liberliber.it/mediateca/libri/g/galilei/lettere /html/lett08c.htm, letzter Abruf am 31. März 2020 (Übersetzung von mir). 5 Harnack (2005) 17. Bultmann gibt zu, dass „an manchen einzelnen Punkten nicht ganz leicht sein“ kann, „Bleibendes und Vergängliches, Prinzipielles und bloß Historisches zu unterscheiden – es soll uns nicht so gehen wie jenem Kinde, welches, nach dem Kerne suchend, einen Wurzelstock so lange entblätterte, bis nichts mehr in der Hand hatte und einsehen mußte, daß eben die Blätter der Kern selbst waren“. Aber diese Bemühungen verschwinden gegenüber den anderen, „durch welche uns eingeredet werden sollte, hier gäbe es weder Kern noch Schale, weder Wachstum noch absterben, sondern alles sei gleich wertvoll und alles bleibendes“ (Harnack [2005] 17–18). 6 Harnack (2005) 16. Es gab bekanntlich viele Diskussionen und Kontroversen über die Tatsache, dass dieses Harnack’sche Wesen des Christentums sein christologisches Element nicht besonders plastisch formuliert: „Nicht der Sohn, sondern allein der Vater gehört in das Evangelium, wie es Jesus verkündigt hat, hinein“ (Harnack [2005] 85). Bultmann (1950) 13 stellt jedoch mit Recht fest, dass die Einschränkung: „so wie es Jesus verkündigt hat“ von Kritikern oft ignoriert wird ebenso wie die Harnack’sche Betonung der Figur Jesu als Personifizierung seiner Botschaft. Die ganze Jesusforschung im 20. und 21. Jahrhundert hat dann den „nicht-christologischen“ Charakter der Verkündigung Jesu als solchen bestätigt. Damit ist noch nichts über die dogmatische Relevanz von Harnacks Identifizierung des Wesens gesagt. 7 Harnack (2005) 12. 8 Harnack (2005) 11–12. 9 Harnack (2005) 152.

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historische Größe darstellt, muss man erwähnen, dass Harnack sich bei der Darstellung seines Forschungszieles von zwei anderen methodischen Möglichkeiten distanziert, nämlich der philosophisch-religiösen und der apologetischen. Mit der ersten ist ein spekulativer Ansatz Hegelschen Typs gemeint, der seine Ergebnisse durch den Übergang von einem Konzept zum anderen erzielt. Es ist nicht überraschend, dass hier der Historiker den Kopf schüttelt und nüchtern kommentiert: „Latet dolus in generalibus!“10. Die Ablehnung der Apologetik verdient eine breitere Reflexion. Harnack erkennt zwar an, dass eine solche Disziplin in der Religionsphilosophie „ihren notwendigen Platz“ hat, und zwar einen würdigen. Aber er charakterisiert die Apologetik in ihrem tatsächlichen Zustand als einen sehr dürftigen Versuch, ihr Thema als „Ramschware oder Universalmittel für alle Gebrechen der Gesellschaft“ zu empfehlen; zu diesem Zweck „greift [die Apologetik] immer wieder nach allerlei Tand, um die Religion aufzuputzen“11. In Wirklichkeit scheint es nicht notwendig, die Apologetik so in malam partem zu charakterisieren: Man könnte sie zum Beispiel als einen Versuch beschreiben, die Relevanz der christlichen Botschaft in einem bestimmten kulturellen Kontext zu zeigen, indem man, um einen großen Apologet des letzten Jahrhunderts zu zitieren, „Korrelationen“ zwischen Evangelien und Kultur, Evangelium und Gesellschaft, Evangelium und weit verbreiteten säkularen Erwartungen herstellt. In diesem Sinne ist gerade Harnacks Buch in hohem Maße apologetisch. In der Tat zeigt sich hier paradigmatisch ein charakteristisches Element unseres Themas: In der Geschichte der christlichen argumentativen Strategien wird die Unterscheidung zwischen „Kern und Schale“ immer im Kontext der apologetischen Verteidigung, die Relevanz der christlichen Botschaft aufzuweisen, vorgenommen. In einer Konstellation nämlich, in der – zu Recht oder auch nicht – davon ausgegangen wird, dass die „Schale“ ihre Aktualität verloren hat, wird der „Kern“ als vom Inhalt her über seine historische Konkretion hinausgehend und als noch aktuell erfasst, wenn er nur in einer anderen Form zum Ausdruck gebracht würde. Dieses Element wird von Troeltsch präzis beschrieben, wenn er feststellt, dass der Begriff des Wesens nicht einfach das Ergebnis eines abstrakten Prozesses ist, sondern eine sachkritische Haltung voraussetzt12. Auf der deskriptiven Ebene stimmt Troeltsch mit Loisy überein und betont, dass Harnack mit einem protestantischen Wesensbegriff operiert: Er 10 Harnack (2005) 13. 11 Harnack (2005) 12. 12 Troeltsch (1913) 407: Der Begriff des Wesens „ist nicht bloß Abstraktion aus den Erscheinungen, sondern zugleich Kritik an den Erscheinungen, und diese Kritik ist nicht bloß Messung des noch Unfertigen an dem in ihm treibenden Ideal, sondern Scheidung des dem Wesen Entsprechenden und dem Wesenswidrigen“ (Hervorhebungen im Text). Für eine Analyse vom Troeltschs Aufsatz, der heute noch wesentlich für eine kritische Interpretation der Harnack’schen Werkes ist, vgl. Forni (1987) 57–70.

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wird auf der analytischen Ebene gewonnen, ohne jedoch die theologische Sachkritik beiseite zu lassen; der erworbene Wesensbegriff funktioniert dann als kritisches Kriterium, das eine Relektüre ermöglicht, die dann auch apologetisch in Anspruch genommen wird. Konkret: Die kirchlich-dogmatische Ausformung des Christentums ist für Harnack völlig unzureichend, sowohl was die geistlichen Herausforderungen der Zeit als auch die insbesondere in der Geschichtswissenschaft erworbenen kritischen Kenntnisse betrifft. Die Bestimmung des Wesens steht also im Dienste einer umfassenden Neuinterpretation der Botschaft. Der Ausgangspunkt kann nur die Verkündigung Jesu selbst sein, wobei der Genitiv streng subjektiv ist: In der Tat sind es gerade die Unterscheidung und Spannung zwischen der Botschaft Jesu und der kirchlichen Predigt über ihn, die für Harnack den Hauptweg zum Wesen darstellen. Dies bedeutet nicht, dass die Verkündigung Jesu als solche mit dem gesuchten Kern identifizierbar ist: „auf wenigen, aber großen Stufen“ führe sie uns in eine Höhe … auf welcher ihr Zusammenhang mit dem Judentum nur noch als locker erscheint und aus der die meisten Fäden, die in die Zeitgeschichte zurückführen, unbedeutend werden … Ich zweifle nicht, daß schon der Stifter den Menschen ins Auge gafaßt hat …, der im Grunde stets derselbe bleibt … mag er im Reichtum sitzen oder in Armut, mag er stark oder schwach sein im Geiste13.

Auf diesen Höhen lebt die entscheidende Beziehung: „Gott und die Seele, die Seele und ihr Gott“14. Diese Formulierung kann, so Harnack, das Evangelium als solches, den ewigen Kern im Fluss der Geschichte, verzeichnen. Für Harnack, wie für die gesamte Tradition, der er angehört, kann und muss bekräftigt werden, dass dieses Evangelium „keine positive Religion ist wie die anderen, daß es nichts Statutarisches und Partikularistisches hat, daß es also die Religion selbst ist“15. Es gab Zeiten, in denen es leicht schien, all dies ironisch zu betrachten: Ein evangelischer Theologe, dem die Rolle des Pontifex Maximus der intellektuellen Welt des wilhelminischen Deutschlands zugewiesen ist (das für ihn, implizit, aber eindeutig, das Vaterland der Kultur als solche verkörpert), destilliert nichts anderes als das Wesen des Christentums. Er tut dies im Stil der Geschichtswissenschaft, Tochter dieser Kultur, „und mit der Lebenserfahrung, die uns aus erlebter Geschichte erworben ist“, das heißt: mit den ideologischen Voraussetzungen, die der Gesellschaft einen Christus und ein Christentum nach ihrem 13 Harnack (2005) 18–19. Wie Bultmann (1950) 9 hervorhebt, wird der historisch-religiöse Ansatz von Harnack vernachlässigt: eine wenig sympathetische Haltung, die in all seinen Arbeiten zu beobachten bleibt. Was die Äußerungen zum Judentum betrifft, urteilt die jüngste Kritik sehr scharf (etwa Jaffé [2017]). Bekanntlich geht aber das Problem weit über Harnack hinaus. 14 Harnack (2005) 28. 15 Harnack (2005) 43. Hervorhebung im Text.

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Maß anbietet. So sehr diese Ironie verständlich sein mag, wäre es zumindest anachronistisch, die prophetischen Töne der von Barth inspirierten Kritik heute wieder aufzugreifen; ebenso eine Verteidigung Harnacks sozusagen ex officio, die dazu führen sollte, in einem hundert Jahren alten Streit direkt Stellung zu beziehen16. Wie auch immer man über Harnacks Methode und den Verdienst seiner Antworten nachdenkt, bleibt das Problem, das er mit beneidenswerter Klarheit aufwirft: Entweder wird das „Wesen des Christentums“ und damit das Evangelium, d. h. die Offenbarung als solche, mit dem Verlauf der Geschichte identifiziert, oder man muss sich die Frage stellen, die Harnacks kleines großes Buch durch die Kategorie des „Wesens“ formuliert. Die erste Möglichkeit wurde von Loisy unterstützt, und Harnack selbst hält sie für typisch für den römischen Katholizismus. Heute könnte man vielleicht behaupten, dass die katholische Lehre der „Hierarchie der Wahrheiten“ versucht, diese Sakralisierung des (selbstverständlich total idealisierten und damit ideologisierten) historischen Werdens des Christentums und der Strukturen der Kirche zumindest zu nuancieren. Auch wenn die Kategorie des Wesens tatsächlich die Schwierigkeiten erzeugt, die schon Troeltsch gesehen hat, verliert die durch sie gestellte Frage keineswegs an Bedeutung. Im Gegenteil: Wenn es stimmt, wie Harnack, Troeltsch und auf der gegenüberliegenden Seite Loisy sagen, dass der Harnack’sche Wesensbegriff und sein kritischer Gebrauch eine unzweifelhafte und gut erkennbare protestantische Matrix haben, dann stimmt es auch, dass heute die darin enthaltene Frage eine offensichtliche ökumenische Tragweite aufweist.

3.

Bultmann und die Entmythologisierung

In dem berühmten Frankfurter und Alpirsbacher Vortrag von 1941, der später zum Manifest der Entmythologisierung wurde, identifiziert Bultmann wichtige Elemente der Kontinuität mit Harnacks theologischem Projekt und distanziert sich gleichzeitig ausdrücklich von dem großen Historiker. Die Notwendigkeit, so 16 Vgl. Osthövener im Nachwort (Harnack [2005] 261): „Mit den destabilisierenden Krisenrufen der nachwachsenden Theologengeneration konnte er [Harnack] daher schlechterdings nichts anfangen und versuchte – wenngleich vergeblich – diese selbsternannte Verächter der Wissenschaft zur theologischen Räson zu rufen“. Wer oder was „destabilisierend“ wirkt oder nicht, kann hier offen bleiben; nur, die „Verächter der wissenschaftlichen Theologie“ sind eigentlich nicht „selbsternannt“, sondern eben als solche von Harnack selbst, mit einer nicht unsympathischen Anspielung auf Schleiermacher, in der von Osthövener angedeuteten Schrift qualifiziert: Barth (2001) 59. Schon 1920 war Harnack beim Tambacher Vortrag von Barth anwesend. So Barth: „Ich erinnere mich sehr deutlich des Entsetzens, mit dem er sich in der Diskussion nach meinem Vortrag äußerte … aber auch der großen Vornehmheit, in der er dem so viel jüngeren und unbekannten Landpfarrer gegenüber Stellung nahm“ (zitiert in Busch [1986] 127).

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etwas wie eine Entmythologisierung durchzuführen, wurde schon im 19. Jahrhundert eindeutig erkannt: Die intellektuelle Redlichkeit und sogar der einfache gesunde Menschenverstand hindern uns daran, sic et simpliciter eine Weltanschauung zu akzeptieren, die längst überholt ist; die theologische und seelsorgerliche Aufgabe besteht daher darin, die Möglichkeit zu prüfen, diese veraltete Weltsicht von der evangelischen Botschaft als solcher zu unterscheiden. Nur wenn eine solche Unterscheidung möglich ist, wird die christliche Predigt eine Gegenwart und eine Zukunft haben. Das liberale Programm wird jedoch in einer Weise durchgeführt, die der Marburger Theologe für problematisch hält: Für die Epoche der älteren ‚liberalen‘ Theologie ist charakteristisch, daß die mythologischen Vorstellungen als zeitgeschichtlich beschränkte Gedanken einfach als unwesentlich eliminiert und für das Wesentliche die größen religiösen und sittlichen Grundgedanken erklärt werden. Man unterschied Schale und Kern … Das Kerygma wird hier auf bestimmte religiöse und sittliche Grundgedanken reduziert, auf eine religiös motivierte idealistische Ethik. Aber damit ist in Wahrheit das Kerygma als Kerygma eliminiert17.

Bultmann hatte bereits deutlich gemacht, dass eine erneute Interpretation des Neuen Testaments nicht „durch Auswahl oder Abstriche“18 erfolgen kann, indem diese oder jene mythologische Darstellung beseitigt und andere, angeblich nicht mythologische, beibehalten werden. Bultmanns Kritik an der liberalen Perspektive konzentriert sich daher auf zwei Punkte. Der erste betrifft gerade die Unterscheidung zwischen Kern und Schale: Die Perspektive des „Wesens“ geht genau durch „Auswahl und Abstriche“ vor. Zweitens wird das, was bleibt, in Form eines ethischen Wertesystems dargestellt: Damit wird aber nach Bultmann das Neue Testament grundsätzlich missverstanden, da dieses keine begriffliche Konstellation, sondern ein Ereignis in seinem Zentrum hat, nämlich die Person Jesu als Geschehen der Offenbarung und nicht als Vektor irgendeiner Ethik19. Für Bultmann begegnet man der Person Jesu bekanntlich in Form des Kerygma, also der Verkündigung der heilbringenden Bedeutung Jesu selbst. Diese Verkündigung kann natürlich die Umrisse einer objektivierenden (historischen, biographischen, dogmatischen) Sprache annehmen: der dieser Sprache eigene Inhalt ist jedoch eine Verkündigung, das heißt eine Anrede, zu der der Mensch Stellung zu beziehen hat. Die Debatte über die Struktur der Bultmann’schen Christologie wird an diesem Punkt eröffnet: Nach Ansicht vieler Kritiker20 und ebenso vieler Befürworter21 handelt es sich um eine Variation des lutherischen und melanch17 18 19 20 21

Bultmann (1985) 25–26. Bultmann (1985) 21. Bultmann (1985) 26. Vgl. klassisch Barth (1952). Vgl. etwa Hammann (2017) 147–157.

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thonischen Motivs der Koinzidenz zwischen Christologie und Soteriologie22. Unsere Aufmerksamkeit richtet sich jetzt jedoch nicht auf den Inhalt von Bultmanns Christologie, sondern auf sein hermeneutisches Modell. Man kann sich fragen, ob Bultmann Harnack tatsächlich gerecht wird, indem er seine Hermeneutik als Kürzungen und Streichungen bestimmter Punkte interpretiert. In Wirklichkeit handelt es sich auch für Harnack um eine umfassende Neudeutung des Neuen Testaments und der christlichen Tradition, die aufgrund der gleichen intellektuellen und theologisch-seelsorgerlichen Bedürfnissen, die dem Marburger Theologen am Herzen liegen, durchgeführt wird und die darauf ausgerichtet ist, unter kontingenten und überholten historischen Formen einen permanenten Kern zu identifizieren. Auch Bultmann behauptet seinerseits, dass eine allgemeine Neuinterpretation der christlichen Botschaft notwendig sei. Es sei wichtig, den authentischen Inhalt der Botschaft des Neuen Testaments zu befreien, damit sie angemessen in heutigen Kategorien übersetzt werden kann. Der Theologe hat die Kritik, nach der die Botschaft des Neuen Testaments heimlich dem Zeitgeist angepasst und damit ihres „skandalösen“ Charakters beraubt würde, überzeugend zurückgewiesen. Das genaue Gegenteil ist der Fall: Gerade damit das Paradox der Offenbarung Gottes am Kreuz Jesu in seiner skandalösen Tragweite verkündigt wird, ist es unerlässlich, das falsche Skandalon zu beseitigen, was das voraussetzt, was dem Gläubigen als ein sacrificium intellectus zugemutet würde, nämlich: sich die Weltvorstellung des ersten Jahrhunderts nach Christus zu eigen machen zu müssen23. Jedenfalls betont Bultmann mit großem Nachdruck, dass die sogenannte Entmythologisierung nur der negative und vorläufige Teil dessen ist, was ihm wirklich am Herzen liegt, nämlich die existentiale Interpretation der neutestamentlichen Botschaft. Aus der Sicht Bultmanns sollte diese Interpretation nicht als Verabsolutierung des Heidegger’schen Denkens verstanden werden: Letzterer wäre nur der raffinierteste Interpret einer im 20. Jahrhundert verbreiteten Wirklichkeitssicht24. Viele Kritiker25 beklagen ein hypertrophes und irreführendes Interesse des Marburger Theologen an der Dimension der Sprache: Sie behaupten, dass es entscheidend darauf ankomme, „was“ der Text aussagt, und erst später sei die Frage ange22 Immer wieder zitiert wird die von Wilhelm Herrmann geerbte Liebe Bultmanns für den bekannten Ausdruck aus dem Loci Communes: Christum cognoscere hoc est: beneficia eius cognoscere, non eius naturas et modus incarnationis intueri (so zitiert von Bultmann [1952] 184–185; Melanchthon [1952] 7 hat: hoc est Christum cognoscere beneficia eius cognoscere, non, quod isti docent, eius naturas, modus incarnationis contueri). 23 Vgl. Bultmann (1965) 156–157. 24 So z. B. in Bultmanns Antwort an Barth (vgl. [1971] 171–172), wo die existentiale Interpretation mit dem Werk von Camus und Sartre in Frankreich, Anouilh und Girardoux in Deutschland, Eliot, Th. Wilder, Graham Greene, Hemingway und Faulkner in angelsächsischen Raum assoziiert ist. 25 Auch hier paradigmatisch Barth (1952) 36–37.

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messen, „wie man es unseren Zeitgenossen sagt“. Diese theoretische Haltung, so Bultmann, missversteht seine Intention radikal: Entmythologisierung und existentiale Deutung sind kein rein didaktisches oder kommunikatives Mittel, sondern fallen mit dem Akt des Verstehens als solchem zusammen, dem eine konstitutive theologische Rolle zugeschrieben werden muss26. Strukturell gesehen ist das Bultmann-Projekt daher dem von Harnack ähnlich (wenn auch nicht identisch): Es geht darum, einen permanenten Kern unter der mythologischen „Decke“27 zu identifizieren und zu übersetzen. Der Unterschied besteht darin, dass, während für Harnack das „Wesen“ eine wie auch immer (nicht metaphysisch, sondern ethisch) geartete Lehre als Inhalt hat, Bultmanns Kerygma als Anrede charakterisiert ist – was direkt mit dem zu tun hat, was der Theologe als eine gewisse „Wahlverwandtschaft“ der Existenzphilosophie mit der christlichen Verkündigung betrachtet. Es ist daher kein Zufall, dass Bultmann, wiederum aus formaler Sicht, in der gleichen Weise kritisiert wurde wie Harnack: a) bei ihm sei ein Reduktionismus zu finden, der die biblische Botschaft entleere; b) die hermeneutische Unternehmung sei Gefangene einer bestimmten, modernen Weltanschauung; c) das anthropologische Moment (ethisch bei Harnack, existential bei Bultmann) nehme eine unangemessene Bedeutung an; d) die Interpretation der Botschaft sei von einem subtilen und impliziten Doketismus durchdrungen, der die biblische Verkündigung in abstrakten Vorstellungen (wieder: ethisch bzw. existential) auflöst. Bultmann musste sich dann, wahrscheinlich mehr als Harnack, auch Kritik sozusagen „von links“, von Philosophen wie Karl Jaspers28 und Theologen wie Fritz Buri, gefallen lassen. Sie behaupteten im wesentlichen, dass Bultmanns Entmythologisierung vor dem letzten mythologischen Totem aufhöre, eben der Begriff des Kerygma selbst, der sich auf die Idee Gottes beziehe, die als unvereinbar mit den rationalen Prämissen des entmythologisierenden Projekts angesehen werde29. 26 Vgl. Barth – Bultmann (1971) 174: „Die Übersetzung beantwortet nicht die Frage: ‚Wie sage ich’s meinem Kinde?‘, sondern steht in der Frage: ‚Wie höre ich selbst?‘“. 27 Vgl. Bultmann (1965) 146: Die Bultmann’sche „Decke“ und die Harnack’sche „Schale“ können als gleichbedeutend betrachtet werden. 28 Vgl. etwa Großmann (2017). 29 Das Extreme Beispiel wird von Albert (1968) 108–110 repräsentiert. Nach Albert verkörpert Bultmann den für die Theologie typischen Mangel an intellektueller Redlichkeit, die zwar kritisch sein möchte, sich aber als unfähig erweist, die Konsequenzen aus den eigenen Prämissen zu ziehen, d. h. die Unvermeidbarkeit des Atheismus zu akzeptieren. Einer solchen „kritischen“ Theologie sei die römisch-katholische lehramtliche Orthodoxie vorzuziehen, die zumindest nicht vorgibt (so zumindest glaubt Albert zu wissen), sich auf Formen der „Vernunft“ zu beziehen. Der große Prophet einer solchen Haltung zu dem Punkt Glaube/ Vernunft ist natürlich Nietzsche, der im Gesetz gegen das Christentum, das der Antichrist schließt, schreibt: „Man soll härter gegen Protestanten als gegen Katholiken sein, härter gegen liberale Protestanten als gegen strenggläubige. Das Verbrecherische im Christsein nimmt in

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Über die destruktive Kritik hinaus, hat die Debatte um Bultmann, der die theologische Szene über Jahrzehnte dominierte, alle Aspekte seines Denkens betroffen: vom Mythosbegriff bis zum Kerygma, von der Christologie bis zum Individualismus, der ihn angeblich charakterisiert, von der Bewertung der Moderne bis zur skeptischen Haltung gegenüber dem wissenschaftlichen Denken, die auch mit der Suffizienz und dem substantiellen Missverständnis verbunden sein dürfte, mit denen sich Heidegger auf diese Dimension bezieht30. Zu jedem dieser großen Themen wurden relevante Beobachtungen gemacht und nicht nur einzelne Thesen relativiert. Das gesamte Bultmann-Projekt erscheint heute in einem anderen Licht als die fast einzige theologische Herausforderung, die zwischen den 1950er und 1970er Jahren jedem Interessierten durch ein Ja oder Nein eine Stellungnahme zu erzwingen schien. Es bleibt jedenfalls wahr, dass Bultmann einen point of no return darstellt, auch und gerade weil er bei allen Unterschieden im Vergleich zu Harnack die kirchliche Forderung eines missionarischen Charakters und die wissenschaftliche nach Wahrhaftigkeit aufgreift.

4.

Dietrich Bonhoeffer

Bultmanns Aufsatz zur Entmythologisierung, der mitten im Krieg 1941 erscheint, löst in der Bekennenden Kirche eine heftige Debatte aus: Die empörten Reaktionen betreffen auch Ernst Wolf, Barths Freund und Schüler, der in seiner Verantwortung in der Gesellschaft für Evangelische Theologie, trotz des kriegsbedingten Papiermangels, für die Publikation gesorgt hat31. Bonhoeffers Reaktion auf die Kritik ist irritiert:

dem Masse zu, als man sich der Wissenschaft nähert“. Man dürfte aber annehmen, dass Albert die Schlussfolgerung Nietzsches nicht schätzen würde: „Der Verbrecher der Verbrecher ist folglich der Philosoph“ (Nietzsche [1988] 254; zur Albert’schen Theologiekritik vgl. Ferrario [2012] 264–270). 30 Eberhard Jüngel erzählt: „Ich fuhr alle vier Wochen [aus Basel, wo er mit Barth studierte] nach Freiburg im Breisgau, wo Heidegger seine berühmten Vorlesungen über das Wesen der Sprache hielt … Ich werde nie vergessen wie er, sich mit Gottfried Benns Phrase von der ‚Schwächung der schöpferischen Transformation‘ auseinandersetzend – damals war der erste Sputnik von den Russen in den Himmel geschossen worden – in Staccato sagte: ‚Eine schöpferische Transformation ist der Sputnik, aber der Sputnik ist kein Gedicht‘“ (Jüngel [2009] 22). 31 Vgl. Bethge (2004) 798–801, und Hammann (2017) 313–319. Riesner (2015) präsentiert auch andere kritische Stimmen aus der Nachkriegszeit. In der Absicht, die Aktualität einer Kritik an Bultmanns Anliegen neu zu formulieren, verbindet der Artikel jedoch prinzipielle Einwände, die mehr oder weniger in Kontinuität mit den gegen den Marburger Theologen erhobenen Ketzereivorwürfen, mit anderen, auch radikalen, die aber auf dem Niveau der normalen, wenn auch harschen, theologischen Debatte stehen.

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Große Freude habe ich an dem neuen Bultmannheft. Mich beeindruckt die intellektuelle Redlichkeit seiner Arbeiten immer wieder. Hier soll kürzlich Dilschneider auf dem Berliner Konvent in ziemlich blöder Weise über Bultmann und Sie [Wolf] hergezogen sein und der Konvent hätte, wie ich höre, um ein Haar einen Protest gegen Bultmann’s Theologie an Sie geschickt … Ich möchte wissen, ob einer von denen den Johannes-Kommentar [von Bultmann] durchgearbeitet hat. Diese Dunkelhaftigkeit, die hier floriert – ich glaube unter dem Einfluß einiger Wichtigtuer – ist für die Bekennende Kirche eine wirkliche Schande32.

In seiner Antwort33 teilt Wolf Bonhoeffer mit, dass der Protest tatsächlich von Hans Asmussen (der die Theologische Erklärung vor der Barmer Synode 1934 immerhin illustriert hatte) verfasst wurde: Wolf fügt eine Kopie bei, damit der Gesprächspartner das Niveau des Textes erkennen kann. Es ist ein rabiater Schrei, in dem Bultmann als Ketzer gebrandmarkt wird, im Wesentlichen mit den Deutschen Christen vergleichbar. Die Welt des christlichen Glaubens wird mit der dämonischen Welt „mit Radio Telefon Flugzeug“ (sic!) kontrastiert. „Wir beneiden niemanden, dem das erfahrene Säkulum übermächtig geworden ist. Wir wollen auch nicht mit ihm streiten. Aber er kann und wird nicht zu einem Gesprächspartner intra muros werden“34. Bonhoeffer verzeichnet all dies als „Glaubenspharisäismus“, während es Bultmann auch unabhängig davon, ob man mit ihm übereinstimmen kann oder nicht, klar zum Ausdruck gebracht hat, was viele verdrängen35. 32 Bonhoeffer an Ernst Wolf, 24. März 1942 (zitiert aus: Bonhoeffer [1996] 248). Ebeling (1960) 112 bemerkt mit Recht, dass die Kategorie der intellektuellen Redlichkeit – auf die wir noch zurückkommen werden und die notorisch eine zentrale Rolle in den Gefängnisbriefen spielt – auch aus spiritueller Sicht entscheidend ist: „Der Mangel an intellektueller Redlichkeit in Sachen des Glaubens ist Symptom heimlichen Unglaubens, der den Glauben meint von der Wirklichkeit absperren zu müssen“. Wir stellen nebenbei fest, dass dieser Ebeling-Artikel in der Regel von der heutigen Bonhoeffer-Forschung als überholt betrachtet wird, vor allem wegen der stark systematisierenden Interpretation von Bonhoeffers Leitgedanken im Lichte der lutherischen Dialektik zwischen Gesetz und Evangelium. In der Tat wagt Ebeling eine theoretisch großangelegte Auslegung, die so konstruiert ist, dass sie auf der Ebene der Exegese von Bonhoeffers Texten ein wenig abenteuerlich bleibt. Die Studie ist jedoch voll von äußerst tiefgreifenden Beobachtungen; und selbst die zugrundeliegende These könnte, bevor sie verworfen wird, als ein sehr interessanter Versuch angesehen werden, die so dichten wie schwer auf eine Synthese zurückzuführenden Formulierungen Bonhoeffers zu erklären. 33 Vgl. Ernst Wolf an Bonhoeffer, 28. März 1942 (in: Bonhoeffer [1996] 249–250). 34 Der Text ist abgedruckt in Konukiewitz (1985) 236. Wolf kommentiert, im oben erwähnten Brief, die Formulierung intra muros so: „Welch eine Kategorie!“ (Bonhoeffer [1996] 250). 35 Bonhoeffer an Winfried Krause, 25. Juli 1942 (zitiert nach: Bonhoeffer [1996] 344–345). Auch hier drückt sich die Bewunderung für Bultmanns „intellektuelle Redlichkeit“ aus, die Bonhoeffer mit der Harnacks verbindet, die er 1930 anlässlich des Todes des großen Meisters als „unbeirrbares Streben nach Wahrheit und Klarheit“ bezeichnete (Bonhoeffer [1991] 347; vgl. Kaltenborn [1973] 139–142; Rumscheidt [2008] 218–220, und Frick [2008] 232 [Fricks Aufsatz gehört zu den wenigen, die das Verhältnis Bultmann-Bonhoeffer auch in Beziehung auf Akt und Sein erforschen]). Noch in einem Brief an Wolf vom 13. September 1942 [in: Bonhoeffer

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Bonhoeffer spricht Bultmanns Überlegungen in seinem Brief vom 5. Mai 1944 aus dem Gefängnis an und tut dies als Teil seiner Suche nach einem „nicht religiösen“ Christentum. Er schreibt: Meine Meinung dazu würde heute die sein, daß er [Bultmann] nicht ‚zu weit‘, wie die meisten meinen, sondern zu wenig weit gegangen ist. Nicht nur ‚mythologische‘ Begriffe wie Wunder, Himmelfahrt etc. (die sich ja doch nicht prinzipiell von den Begriffe Gott, Glauben etc. trennen lassen!), sondern die ‚religiösen‘ Begriffe schlechthin sind problematisch. Man kann nicht Gott und Wunder voneinander trennen (wie Bultmann meint), aber man muß beide ‚nicht-religiös‘ interpretieren und verkündigen können. Bultmanns Ansatz ist eben im Grunde noch liberal (d. h. das Evangelium verkürzend), während ich theologisch denken will36.

Diese Analyse wird im Brief vom 6. August 1944 wiederholt, noch einmal im Zusammenhang mit einer Deutung der neueren Theologiegeschichte. Der von Barth eingeschlagene Weg erscheint Bonhoeffer in seinen Intentionen (Unterscheidung zwischen Glaube und Religion) vielversprechend, aber dann in einer Weise durchgeführt, dass er in eine faktische Restauration einmündet, die der deutsche Theologe mit der umstrittenen Formulierung: „Offenbarungspositivismus“37 bezeichnet. Nachdem er die Idee einer Analogie zwischen der Bultmann-Perspektive und der liberalen aufgegriffen hat, bemerkt Bonhoeffer: „Das N.[eue] T.[estament] ist nicht eine mythologische Einkleidung einer allgemeinen Wahrheit! – sondern diese Mythologie (Auferstehung etc.) ist die Sache selbst!“. Es geht ihm darum, das gesamte Neue Testament in einer Weise zu interpretieren, „die nicht die Religion als Bedingung des Glaubens (vgl. die περιτομή bei Paulus) voraussetzt“38. Bevor wir das Bonhoeffer’sche Projekt diskutieren, wollen wir diese Aussagen näher betrachten. Gerhard Ebeling hat Recht, wenn er darauf hinweist, dass die Bonhoeffer’sche Bemerkung zur liberalen Struktur des Entmythologisierungsprojekts „die ausdrückliche Intention Bultmanns verkennt“39: Wenn jedoch die obige Analyse

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[1996] 356) kritisiert Bonhoeffer die „theologischen Pharisäer und Werkgerechten“, die Bultmann billig verketzern. Er geht so weit zu sagen, dass, wenn Bultmann wirklich, wie einige spekulieren, von der Bekennenden Kirche ausgeschlossen würde, auch er, Bonhoeffer, austreten wolle; nicht, weil er mit dem Marburger Theologen übereinstimmte, sondern weil ihm die Haltung seiner Gegner weitaus gefährlicher erscheine als die angebliche „Ketzerei“. Vom Gefängnis aus schließlich schreibt Bonhoeffer, es gehöre zur intellektuellen Redlichkeit, diese Arbeitshypothese, nämlich Gott als „Lückenbüßer“, fallen zu lassen (vgl. Bonhoeffer [1998] 532–533). Bonhoeffer (1998) 414. Vgl. für eine Darstellung des Themas und der Literatur Ferrario (2005). Bonhoeffer (1998) 482. Interessanterweise ist die Kritik Bonhoeffers an Bultmann irgendwie parallel zur Kritik Bultmanns an Harnack (vgl. oben S. 215). Vgl. Ebeling (1960) 51. Harbsmeier (1990) positioniert sich in der Linie Bonhoeffers; eine stark „Bultmmann’sche“ Deutung Bonhoeffers schlägt hingegen Krause (1964) vor.

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korrekt ist und wenn, wie es scheint, die Decke-Metapher eine Parallele zu der Harnack’schen der Schale darstellt, dann wird die Intention des BultmannProgramms nicht genau in ihrer Durchführung verwirklicht. Es stimmt, dass Harnack im Vergleich zu Bultmann eine explizitere „subtraktive“ Hermeneutik verwendet: Das Wesentliche ist das, was bleibt, wenn das angebliche Un-wesentliche eliminiert wird. Aber auch Harnack will nur eine Gesamtinterpretation der kirchlichen Verkündigung anbieten, die dem Geist seiner Zeit entspricht; und was Bultmann betrifft, so ist es kein Zufall, dass die Begrifflichkeit der „Decke“ bestimmend bleibt. Die Tatsache, dass die Entmythologisierung eine Interpretation des Mythos und nicht seine bloße Auslöschung ist, wird von Bultmann klar zum Ausdruck gebracht, aber, wie Bonhoeffer bemerkt, beseitigt sie nicht die zugrunde liegende hermeneutische Struktur. Aber was passiert mit Bonhoeffer selbst? Sein Problem besteht darin zu verstehen, „was das Christentum oder auch wer Christus heute für uns eigentlich ist“40. Unmittelbar nach den Beobachtungen zu Bultmann vom 5. Mai 1944 expliziert der Häftling aus Tegel die Koordinaten dessen, was er als „religiös“ bezeichnet: einerseits „metaphysisch“ und andererseits „individualistisch“41 reden. Es ist hier nicht relevant, den Bonhoeffer’schen Religionsbegriff zu bewerten oder seine soziokulturelle Diagnose des Aufkommens eines „nicht-religiösen“ common sense, sondern vielmehr die Hermeneutik hervorzuheben, die seinen Versuch leitet. Es geht darum, sich von dem zu distanzieren, was im Christentum „uneigentlich“ ist: Es geht aber gerade nicht darum, diesen oder jenen Teil zu amputieren, sondern das Ganze neu zu lesen, in einer „nicht-religiösen“ Perspektive. Dazu ist es jedoch notwendig, das Verhältnis zwischen dem, was „eigentlich“ und dem was „uneigentlich“ ist, zu ermitteln. In dem Brief vom 30. April wird Religion als „Gewand“42 des Christentums definiert. Es ist klar, dass der Ausdruck nicht in eine systematische oder dogmengeschichtliche Perspektive (etwa als eine Art Doketismus) gezwungen werden darf. Viel einfacher, zeigt sie die Denkstruktur auf, die wir bereits bei den beiden anderen Autoren identifiziert haben: Es geht darum, von Gott zu reden, aber auch von Kirche, Gemeinde, Predigt, Liturgie, christlichem Leben43, und zwar auf nicht-religiöse Weise, so wie Harnack von Gott auf nicht-metaphysische Weise und Bultmann auf nicht-mythologische Weise sprechen wollten. Auch in diesem Zusammenhang ist die Frage unvermeidlich: Ist dies schlicht möglich? Oder muss man zum Schluss kommen, dass „Christentum“ und „Religion“ untrennbar miteinander verbunden sind und daher, wenn das eine überwunden 40 Bonhoeffer (1998) 402 (vom 30. April 1944). 41 Bonhoeffer (1998) 415. 42 Bonhoeffer (1998) 404. Kurz vorher wird von der „westlichen Gestalt“ des Christentums gehandelt. 43 Vgl. Bonhoeffer (1998) 405.

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ist, das andere aufgegeben werden muss? Bonhoeffer spricht das Problem an, wie wir bereits gesehen haben, durch die Analogie der Beschneidung, um zu behaupten: „Die Freiheit von περιτομή ist auch Freiheit von der Religion“44. Daher ist für ihn die Unterscheidung prinzipiell möglich und verfolgt die beiden Ziele, die wir bereits bei den anderen beiden Theologen identifiziert haben: das missionarisch-apologetische (die Verkündigung verständlich machen) und das der kritischen Selbstreflexion der kirchlichen Botschaft, befreit von einer Solidarität mit der „Religion“, die, wenn sie zum „Kanon“ wird, Gefahr läuft, das Evangelium selbst nicht nur irrelevant, sondern auch unverständlich zu machen. Es scheint daher eine wesentliche Analogie zwischen den drei untersuchten Autoren zu bestehen, auch wenn die Interpretation im Fall Bonhoeffer aus den bekannten und tragischen Gründen nicht die tatsächliche Umsetzung des dargelegten Programms einbeziehen kann. Die Terminologie des „Wesens des Christentums“ ist heute veraltet und von einem Heiligenschein der Belle Epoque umgeben, trotz der liberalen Wiederbelebung, die im heutigen theologischen Panorama zu beobachten ist: Das Problem, das mit dieser Terminologie angesprochen wurde, bleibt jedoch in seiner Dringlichkeit erhalten, da es mit der Geschichtlichkeit der Verkündigung zusammenhängt. Man muss anerkennen, dass diese Terminologie, am Anfang des 21. Jahrhunderts, weiterhin die grundlegenden Fragen stellt, die die Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts begleitet haben: Was genau ist der „Kern“, und wie unterscheidet er sich von der „Schale“? Angenommen, eine solche Operation sei überhaupt möglich, welche sind dann die Kriterien für eine „Transkription“ oder „Übersetzung“ des Kerns in eine andere Sprache?

5.

Schlussüberlegungen

Am Ende des 20. Jahrhunderts unternimmt George Lindbeck den vielleicht energischsten Versuch, das Kern und Schale-Schema in Frage zu stellen: Um ihn versammelt sich die sogenannte „post-liberale“ Schule, die sich vor allem in den Vereinigten Staaten entwickelt. Es handelt sich um ziemlich unterschiedliche Autoren protestantischen Ursprungs, von William C. Placher bis Robert W. Jenson, vor allem geeint durch die erklärte Verpflichtung gegenüber dem Denken des deutsch-amerikanischen Theologen Hans W. Frei. In seinem Hauptwerk The Eclipse of Biblical Narrative: A Study in Eighteen and Nineteen Century Hermeneutics45 interessiert sich Frei für die Wiedergewinnung der theologischen Relevanz der biblischen Narrative, die in ihrer inneren Dynamik und Autonomie 44 Bonhoeffer (1998) 406. 45 Vgl. Frei (1977).

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durch eine Hermeneutik beleuchtet wird, die die historisch-kritische Exegese nicht im Mittelpunkt hat. Die Problematik der durch die Denkvoraussetzungen der Aufklärung bedingten Theologie besteht laut Frei gerade in dem Willen, diese Erzählung auf ein anderes Register zu übertragen (das der „modernen“ Geschichtsanschauung), also in einer Art „Anpassung“ an das säkulare Denken. Bei diesem von Lindbeck kritisierten Vorgang spielt das „Kern-Schale“ Schema eine entscheidende Rolle. Lindbeck unterscheidet drei Arten von Annäherungen an die kirchliche (und überhaupt religiöse) Lehre: a) das „propositionale“ Modell, das theologische Formulierungen so betrachtet, als seien sie beschreibende Aussagen über die Wirklichkeit Gottes und des Göttlichen: Dies ist die traditionelle Perspektive, die sich besonders in den verschiedenen Formen der Orthodoxie zeigt; b) das „existenziell-expressive“ Modell, in dem religiöse Behauptungen als kulturell bedingter Ausdruck eines Erfahrungskerns betrachtet werden, der der Menschheit in ihrer Beziehung zum Absoluten grundsätzlich gemeinsam ist; c) das „sprachlich-kulturelle“ Modell, das von Lindbeck selbst vorgeschlagen wird und das theologische Behauptungen als maßgebliche Regeln der Syntax der Sprache innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft betrachtet46. Das Christentum, wie auch die Religion im Allgemeinen, wird als eine Textwelt gedeutet, die letztlich nur von innen heraus interpretierbar und angemessen verständlich ist. In dieser Perspektive stellt sich das Problem der „Übersetzung“ kaum mehr. Die kommunikative Fähigkeit der Botschaft zeigt sich nicht in ihrer Offenheit für die Übersetzung in andere „Sprachen“ als diejenigen, die aus den klassischen Epochen ihrer Entwicklung stammen. Nach Lindbeck manifestiert die echte und biblisch ernährte christliche Narrative ihre Fähigkeit, die Welt zu „absorbieren“: Es ist die Welt, die in den christlichen Kategorien „übersetzt“ wird (und nicht umgekehrt), in einer hermeneutischen Dynamik, die die „post-liberalen“, als „intratextuellen“ Ansatz bezeichnen47. Es versteht sich von selbst, dass der amerikanische Theologe Idealtypen formuliert, die eine Analyse der Wirklichkeit ermöglichen, sie aber nicht unbedingt wiedergeben. Streng genommen, entspricht das „Kern und Schale“-Schema nicht genau dem Modell b), da bei den von uns untersuchten Autoren der „Kern“ nicht ausschließlich oder gar hauptsächlich auf die Erfahrungsebene gestellt werden kann: Offenbar denkt Lindbeck mehr über die Art von Liberalismus nach, die von Schleiermacher bis Tillich und David Tracy48 reicht, als über die Harnack’sche 46 Vgl. das Manifest der Postliberal Theology George A. Lindbecks: The Nature of Doctrine. Religion and Theology in a Postliberal Age (insbesondere Lindbeck [1984] 30–45). Für einen Überblick über die Debatte vgl. meine Einführung in die italienische Ausgabe (Ferrario [2004]). 47 Vgl. Lindbeck (1984) 113–124. 48 Die „Schule von Chicago“, in dem Erbe Tillichs verwurzelt, verkörpert die „liberale“ Orientierung, die von Lindbeck und seinen Schülern kritisiert wird.

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und historisch-kritische Tradition. Ausgehend von der Annahme, dass das „propositionale“ Modell im Wesentlichen von der kritischen Moderne49 überholt wird, steht Lindbecks Vorschlag jedenfalls im Wesentlichen dem „experienceexpressivist“-Modell entgegen. Dieser wird als die große Figur des theologischen Projekts der Moderne verstanden, das gerade darauf abzielt, den Kern des Evangeliums in die Pluralität der Sprachen zu „übersetzen“. Das Kern-SchaleSchema teilt in dieser Perspektive diese Dynamik: Es stellt die Notwendigkeit der Unterscheidung der beiden Elemente in der christlichen Textwelt in den Vordergrund, wodurch der „intratextuelle“ Horizont zerrissen und im Gegensatz eine intertextuelle Perspektive eröffnet wird, die nicht auf die Aufnahme der Welt in die christliche Erzählung, sondern auf den Dialog zwischen verschiedenen Erzählungen abzielt. So diagnostiziert Lindbeck. Dies ist nicht der Ort, um die Debatte über die postliberale Theologie zu vertiefen. Es muss jedoch festgestellt werden, dass sie, insbesondere in Lindbecks Version50, sicherlich suggestiv, aber auch äußerst starr erscheint. Die Idee einer „biblisch-christlichen“ Textwelt, die in Analogie zur Sprachspieltheorie des zweiten Wittgenstein konzipiert wird, führt unweigerlich zu einem stark identitätsorientierten Christentum und einer kommunitaristischen politischen Vision. Andererseits bietet die post-liberale Kritik, auch für diejenigen, die sich in einem anderen Horizont bewegen, zwei kritische Hinweise, die mir wichtig erscheinen. Zunächst einmal heben, wie gesagt, die Postliberalen hervor, welche Schwierigkeiten die Idee des Wesens (und der Analoga) aufwirft, sowie die methodischen Probleme bei deren Identifizierung. Das sind bei genauerem Hinsehen Kritiken, die sich mit denen decken, die wir bereits in Troeltsch gehört haben, der offensichtlich von ganz anderen Prämissen ausgeht und von ganz anderen Absichten beseelt ist. Die lange Geschichte des Kern-Schale- Schemas zeigt, dass: a) die theologischen Gründe, die es zum Ausdruck bringt, nicht beseitigt werden können; b) der Versuch, ihnen gerecht zu werden, jedoch in seinen vielen Varianten problematisch bleibt. Das zweite Element, das von den Postliberalen sehr stark betont wird (im übrigen nicht nur von ihnen, das Thema taucht in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehrfach auf), ist der im wesentlichen narrative Charakter der christlichen Botschaft. Harnack, Bultmann und Bonhoeffer haben in ihren 49 Festzustellen ist freilich, dass im heutigen angelsächsischen theologischen Panorama, Denkmodelle wie die der sogenannten „Radical Orthodoxy“ (John Milbank, Graham Ward) eine solche Voraussetzung energisch in Frage stellen. 50 Es gibt jedenfalls postliberale Vorschläge, die weniger extrem als die Lindbecks sind. Besonders interessant ist William C. Plachers Unapologetic Theology. A Christian Voice in the Pluralistic Conversation (1989). Der vorzeitige Tod Plachers (2008, im Alter von 60 Jahren) trug dazu bei, sein Denken in den Hintergrund zu drängen; in Europa wird es in der Tat praktisch ignoriert. Für eine kurze Darstellung seines Denkens vgl. Cathey (2009) 37–158.

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Vorschlägen offensichtlich versucht, jeder auf seine Weise, die Zentralität Jesu (als Botschafter des Reiches des Vaters, als Inhalt eines existentiell verstandenen Kerygmas, als „Mensch-für-andere“) zum Ausdruck zu bringen, d. h. in ihm den „Kern“ der Botschaft zu identifizieren, den es zu „übersetzen“ gelte. Sie tun dies mit rein begrifflichen Instrumenten, d. h. das Wesen wird in Form von argumentativem Denken wiedergegeben. Dies bestimmt das, was wir als „das Paradox des Wesens“ bezeichnen könnten: Es wird gesucht, indem die Veralterung bestimmter Begriffskategorien betont wird, aber dann in Begriffen neu ausgedrückt, die einerseits selbst kulturell bedingt sind (und es wäre auch nicht anders möglich), andererseits aber unvermeidlich mit denen verbunden bleiben, die sie überwinden möchten. In Wirklichkeit liegt jeder erneuten Lektüre eine Erzählung zugrunde, jene des Neuen Testaments über Jesus. Diese Erzählung ist der einzige Zugang der Glaubensgemeinschaft zur Inkarnation; gerade die Versuche, historisch-kritisch zu identifizieren, was „hinter“ der Erzählung steht, sind meines Erachtens notwendig51, aber ihre theologische Bedeutung liegt in dem geleisteten Beitrag zum Verständnis der Erzählung als solcher, jener Erzählung, auf die sich Predigt, Katechese und Theologie beziehen. Jede Theologie steht im wesentlichen im Dienst einer neuen Erzählung dieser ersten Erzählung, in der Jesus, der den Inhalt und in diesem Sinne den „Kern“ des Glaubens ausmacht, zu uns kommt. Ist also das „Wesen des Christentums“ eine solche Erzählung? Statt mit einem Ja oder Nein zu antworten, greife ich auf eine dichterischen Neuformulierung zurück, die sich meiner Meinung nach gut auf das theologische Abenteuer, das wir vorgestellt haben, und auf die kirchliche Leidenschaft, die es motiviert und vorangetrieben hat, anwenden lässt: Und also erzählen wir weiter von ihm die geschichten seiner rebellischen liebe die uns auferwecken vom täglichen tod – und vor uns bleibt: was möglich wär’ noch52.

51 Die Skepsis gegenüber der kritischen Jesusforschung und allgemein gegenüber der auf die Bibel angewandten historischen Kritik (etwa in der Linie: Kähler-Barth-Bonhoeffer der 1930er Jahre, später die Postliberal Theology; in einer gewissen – und paradoxen – Weise könnte aber auch Bultmann dazu gehören) hat ein relatives Recht, denn sie warnt vor der absurden positivistischen Versuchung, die den neutestamentlichen Christus als Zentrum des Glaubens durch den historisch rekonstruierten Jesus ersetzen möchte. Wenn diese Skepsis jedoch zu einer Aufhebung des Prinzips der theologischen Relevanz historischer Kritik wird, führt sie die Theologie in die Sackgasse, sich von intellektueller Redlichkeit abzukehren, und, klassisch-theologisch gesprochen, zu doketischer Häresie. 52 Kurt Marti, jesus (zitiert aus: Marti [1980] 45–46). Vgl. Barth (1952) 46.

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Markus Buntfuß

Neuzeitliche Säkularisierung und postmoderne Resakralisierung. Probleme und Herausforderungen an die religiöse Option in einer säkularen Gesellschaft

Abstract The author discusses the question of the secularity of Western societies from the classical secularization thesis via the modern individualization thesis to the more recent revitalization (return of religion) and globalization theses (Christianity moves South) with the result that they all retain a limited explanatory value if they do not claim to be unique. The religious field had become more diverse and heterogeneous under global conditions. The diversity of Christianity and the great religious traditions will increasingly determine the religious future in Europe. The author therefore pleads for a theological heuristic that does not assume simple modernization logics but reckons with non-simultaneousness and counteracting tendencies of religious change.

1.

Wie säkular ist die Gesellschaft?

Wer die Gegenwart verstehen will, muss sich orientieren und seinen Standpunkt ermitteln. Zu den Grundvollzügen jeder Selbstverständigung gehört die geistige Standortbestimmung: Wo stehen wir heute? Ein wichtiges Hilfsmittel zur Selbstverortung ist die Herkunftserzählung: Wo kommen wir her? Wollen wir unsere Gegenwart verstehen, müssen wir eine Geschichte erzählen – die Geschichte, wie wir wurden, was wir sind. Im Medium genealogischer Erzählungen wird das eigene Gewordensein erklärt und die gegenwärtige Lage begründet. Mein Interesse in den folgenden Überlegungen gilt der gegenwärtigen Situation des christlichen Glaubens in einer Gesellschaft, die sich – so die unterstellte These – vom Glauben mehr oder weniger entfremdet hat, weshalb sie als säkular bezeichnet wird. Die Geschichte, die damit erzählt werden muss, ist die Geschichte der europäischen Neuzeit. Für alle großen Neuzeitnarrative aber ist das Motiv eines fundamentalen Wandels charakteristisch. Eines Wandels, der alle Verhältnisse von Grund auf revolutioniert. Davon bleiben auch der Glaube, das Christentum, die Kirchen und die Theologie nicht unberührt. Vielmehr scheint sich in der Stellung zum Glauben die Dynamik der neuzeitlichen Geistesgeschichte gleichsam zu verdichten. Das kommt besonders in dem vorherrschen-

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den Säkularisierungsnarrativ zum Ausdruck. Der gegenwärtig bedeutendste Erzähler dieses Narrativs ist der kanadische Philosoph Charles Taylor. Er fragt in seiner großen Meistererzählung A Secular Age: Wie ist es gekommen, daß wir von einem Zustand, in dem die Menschen der christlichen Welt naiv im Rahmen einer theistischen Deutung lebten, zu einem Zustand übergegangen sind, in dem wir uns alle zwischen zwei Haltungen hin- und herbewegen, in dem die Deutung eines jeden als Deutung in Erscheinung tritt und in dem die Irreligiosität überdies für viele zur wichtigsten vorgegebenen Option geworden ist1?

Dort, wo die Neuzeit wie bei Taylor als Prozess der Säkularisierung beschrieben wird, fungiert die gesellschaftliche Bedeutung von Religion geradezu als Definitionsmerkmal der Neuzeit. Die Neuzeit wird über die schwindende Bedeutung des Glaubens bestimmt. Aber auch dann, wenn der neuzeitliche Wandel weniger dramatisch als Transformation beschrieben wird, verbindet sich damit das Bewusstsein einer Differenz zur Vergangenheit und eines unwiederbringlichen Verlustes. So schreibt der im Nationalsozialismus ideologisch schwer belastete, aber gleichwohl überaus scharfsinnige evangelische Theologe Emanuel Hirsch in seinem Lesebuch Die Umformung des christlichen Denkens in der Neuzeit aus dem Jahr 1938: Das Tor zur christlichen Vergangenheit ist uns allen zugeschlagen … nur in den Formen der Sehnsucht und des Selbstbetrugs ist für den, an dem die Reflexion der letzten Jahrhunderte ihr Werk getan hat, noch ein Verhältnis zur alten Gestalt christlichen Glaubens und Denkens möglich2.

Was also hat es mit der großen Erzählung von einem alles umfassenden Wandel, der aus Sicht des Glaubens eine Geschichte des unwiederbringlichen Verlustes darstellt und auf den Namen ‚Säkularisierung‘ hört, auf sich? Bei der Suche nach Antworten auf die Frage nach einer theologischen Standortbestimmung spielen die klassischen Neuzeitdeutungen auch nach dem ausgerufenen ‚Ende der großen Erzählungen‘ (Jean-François Lyotard) eine wichtige Rolle. Trotzdem wird die gegenwärtige Erforschung des modernen Gestaltwandels von Religion auch von der Entzauberung eindimensionaler Entzauberungsgeschichten und von der Aufklärung über allzu schlichte Aufklärungslegenden bestimmt. Das schlägt sich in einer differenzierteren Verwendung von eingeübten Großbegriffen wie Rationalisierung, Ausdifferenzierung und Säkularisierung nieder. Außerdem bemüht man sich inzwischen auch darum, den gegenläufigen Motiven also dem unglücklichen Bewusstsein in der Moderne, der Dialektik der Aufklärung, sowie anderen Ambivalenzerfahrungen gerecht zu werden, von der bleibenden Attraktivität des Geheimnisvollen, Mystischen und Irrationalen ganz zu schweigen. 1 Taylor (2009) 34. 2 Hirsch (1938) V.

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Geht man schließlich dem Säkularisierungsnarrativ genauer auf den Grund, so nimmt man überrascht zur Kenntnis, dass dieses selbst einem erheblichen Wandel unterliegt. Weit davon entfernt, die Neuzeit abschließend auf den Begriff zu bringen, ist Säkularisierung eines von mehreren unterschiedlichen Motiven, mit denen versucht wird, die Neuzeit zu verstehen. Entstanden ist der Begriff ‚Säkularisierung‘ bekanntlich aus einer Übertragung des Vorgangs der Säkularisation auf die moderne Kultur insgesamt. Im Unterschied zur staatlichen Enteignung kirchlicher Besitztümer (Säkularisation) meint Säkularisierung einen umfassenden Prozess der Verweltlichung auf allen Feldern des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. Aus dieser Vorstellung speist sich die klassische Säkularisierungsthese etwa bei dem Volksökonomen und Soziologen Max Weber, wonach die gesellschaftliche Modernisierung gleichbedeutend sei mit einer alle Lebensbereiche erfassenden Rationalisierung und damit einhergehend auch der Säkularisierung. Diese ältere Säkularisierungsthese geriet ins Wanken als die neuere Religionssoziologie erkannte, dass die Welt keineswegs immer rationaler und säkularer wird, sondern, dass sich nur die Formen des Religiösen in der Moderne so verändern, dass sie durch eingeschliffene Wahrnehmungsraster und überkommene Begriffsdefinitionen rutschen. Es sei zwar richtig, dass die gesellschaftliche Bedeutung der institutionalisierten Kirchen und die mit ihnen verbundene öffentliche und explizite Religionspraxis im Schwinden begriffen seien. Dafür verlagere sich das religiöse Leben zunehmend in den Bereich der individuellen und privaten Lebensführung, was zu einer folgenreichen Individualisierung und Pluralisierung der Religion, aber nicht zu ihrem Absterben führe. An die Stelle der Säkularisierungsthese war damit die Individualisierungsthese getreten. Sie bestimmte die religionstheologische Diskussion ab den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts und schärfte das Bewusstsein dafür, dass Entkirchlichung keineswegs gleichbedeutend sei mit Entchristlichung. Vielmehr gehöre es zur religiösen Signatur der Neuzeit, dass es auch ein Christentum außerhalb der Kirchen gebe. Etwa in Gestalt eines öffentlichen Christentums in Politik und Rechtsprechung, sowie in Parteien und Verbänden. Und eines privaten bzw. persönlichen Christentums in den Bereichen Familie und Freizeit, sowie Kunst und Bildung. Die dreifache Gestalt des neuzeitlichen Christentums als kirchliches, öffentliches und privates Christentum war ein zentrales theologisches Konzept der protestantischen Theologie der 80er und 90er Jahre3. Religionstheologisch war diese Zeit durch das Stichwort Thomas Luckmanns von der „Invisible Religion“ geprägt4. Religiöse Vollzüge waren demzufolge keineswegs auf den öffentlichen Kirchgang und die aktive Teilnahme an kirchengemeindli3 Vgl. dazu Rössler (1994). 4 Vgl. dazu Luckmann (1967).

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chen Angeboten zu beschränken, sondern konnten sich auch im Fußballstadion, im Autosalon oder in der Kunsthalle ereignen. Es gibt aus diesen Jahrzehnten ganze Bibliotheken über Religion in der Werbung, Religion im Kino, Religion im Fernsehen, Religion in der Literatur und in der Musik. Doch auch die These einer modernen Entwicklung von der organisierten zur unsichtbaren Religion hatte ihre Zeit und verlor ihren allumfassenden Erklärungswert in dem Maße, wie die weltweite Situation des Christentums bzw. der außereuropäischen Christentümer ins Blickfeld rückte. Denn die globale Perspektive führte überraschenderweise ein durchaus modernes, lebendiges und wachsendes, sowie sozial organisiertes und deutlich sichtbares Christentum vor Augen, das weder den Rückzug ins Private einschlug noch sich um das wissenschaftliche Weltbild oder das moderne Wirklichkeitsverständnis bekümmerte. Der hispano-amerikanische Religionssoziologe José Casanova führte den kontinentalen Religionsforschern ihre Provinzialität vor Augen und weckte das Bewusstsein für die nordwesteuropäische Ausnahmesituation5. Gesellschaftliche Modernisierung im weltweiten Maßstab war demnach weder mit Säkularisierung gleichzusetzen, noch musste sie zwangsläufig zur Individualisierung und Privatisierung der Religion führen, sondern konnte genauso gut mit neuen Formen eines vergesellschafteten Christentums sowie mit vormodern anmutenden religiösen Vorstellungen einhergehen. So zumindest die Schlussfolgerungen, die man aus dem weltweiten Boom von pfingstlerischen, charismatischen und evangelikalen Bewegungen ziehen konnte. Das vorerst letzte Leitmotiv der akademischen Debatten wurde von dem amerikanischen Religionsforscher Philip Jenkins intoniert, es lautet: „Christianity Moves South“6. Mit der quantitativen Schwerpunktverlagerung der globalen Zentren des Christentums würde, so Jenkins, auch eine qualitative Transformation des Christlichen einhergehen. Die kommende Christenheit werde anders als das liberal-aufklärerische Konzept von der ‚Umformung des christlichen Denkens‘ meinte, „biblizistisch, charismatisch, wertkonservativ, supranaturalistisch und apokalyptisch“ geprägt sein. Dagegen sei das westliche Christentum auf dem besten Wege sich selbst aufzulösen. Jenkins schreibt: „Das Zeitalter des westlich geprägten Christentums wird noch zu unseren Lebzeiten zu Ende gehen und das neue Zeitalter des ‚südlichen Christentums‘ bricht an.“7 Unabhängig davon, ob diese Naherwartung wirklich einen prognostischen Wert oder nur eine alarmistische Funktion hat, markiert Jenkins mit seinem Buch die gewandelte akademische Lage gegenüber der älteren nordatlantischen Religionssoziologie, die sich auf die Gesellschaften Westeuropas und Nordamerikas beschränkt hatte. 5 Vgl. dazu Casanova (1994). 6 Vgl. dazu Jenkins (2002). 7 Jenkins (2002) 13–14.

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Neben einer veränderten Debattenlage seit der Jahrtausendwende waren natürlich auch die Ereignisse vom 11. September 2001 dazu geeignet, die Rede vom Ende der Religion in der Moderne als abwegig zu erweisen, führten sie doch in erschütternder Weise nicht nur die öffentliche Bedeutung sondern auch eine neue Politisierung und Radikalisierung von Religion in der Moderne vor Augen. In der Folge neuer Erkenntnisse also und einer neuen medialen Aufmerksamkeit für das Thema Religion sprachen die Religionsforscher nun mit Peter L. Berger von „Desecularization“ oder auch von einer „postsäkularen Gesellschaft“ (Jürgen Habermas), wenn sie nicht gleich die „Rückkehr der Religion“, bzw. die „Wiederkehr der Götter“8 diagnostizierten. Man könnte also leicht zu der Überzeugung gelangen, die Säkularisierungsthese sei inzwischen hoffnungslos veraltet und definitiv widerlegt. Aber man darf auch keine überzogenen Schlussfolgerungen aus der berechtigten Relativierung der Säkularisierungsthese ziehen. Denn zum einen hat sie ihre partielle Erklärungskraft für die religiöse Lage in Westeuropa nicht verloren, sondern erfasst nach wie vor eine charakteristische Tendenz in diesem Kulturraum. Wir leben in unseren Breiten tatsächlich – vielleicht noch – in weitgehend säkularen Gesellschaften. Die Tatsache, dass die Christentümer des globalen Südens und fernen Ostens sich teilweise anders entwickeln als bei uns, spricht nicht gegen den Weg, den das neuzeitliche Christentum in den Ländern der diversen Reformationen und Aufklärungen genommen hat, selbst dann, wenn es sich global gesehen als ein Sonderweg erweisen sollte. Zum anderen ist die viel beschworene Wiederkehr der Religion hauptsächlich ein mediales Geschehen, bei dem es um ein neu erwachtes Interesse und eine neue mediale Aufmerksamkeit für religiöse Fragen geht, aber keineswegs um eine allgemein gestiegene Bereitschaft breiter Bevölkerungsschichten zur persönlichen Aneignung christlicher Glaubensinhalte oder zu einer intensivierten religiösen Lebensführung. Vielmehr haben wir es in unseren nordatlantisch-westeuropäischen Gesellschaften nach wie vor mit einem allmählichen Verschwinden christlich-religiöser Symbole und Semantiken aus dem öffentlichen Raum und einem schleichenden Rückgang des öffentlich praktizierten Glaubens sowie des kirchlich organisierten Christentums zu tun. Die Situation könnte sich freilich auch hierzulande bald ändern, bzw. sie ändert sich schon seit geraumer Zeit. Denn wir leben nicht in hermetisch abgeschlossenen nationalen Kulturräumen, sondern erleben einen globalen Strom von Gütern, Ideen und Praktiken, sowie eine weltweite Bewegung von Menschen mit ihren je eigene Überzeugungen und Wertvorstellungen. Aufgrund von Migration, Mission und medialer Kommunikation existieren die unterschiedlichen Ausprägungen des Christlichen nicht auf Dauer getrennt voneinander, sondern begegnen sich unter globalisierten Bedingungen immer häufiger und treten 8 Vgl. dazu Graf (2004).

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überall miteinander in Austausch, Kontakt und Konkurrenz. Vor allem in den urbanen Zentren könnte es in absehbarer Zukunft ein vielfältiges religiöses Leben geben, das sich aus ganz unterschiedlichen religiösen Herkünften und kulturellen Stilen speist. Das Christentum der Zukunft wird jedenfalls auch hier zulande vermehrt Pfingstler und Charismatiker aus allen Teilen der Welt ebenso wie liberale Volkskirchler und konfessionelle Traditionalisten in sich vereinen, von anderen Religionen und individuellen Hybridbildungen sowie cross-over Religionen ganz zu schweigen. Zuwanderung und Kulturtransfer werden zu einer Amalgamierung von westlichen, aufgeklärten, individualisierten und distanzierten Glaubensweisen mit südlichen, charismatischen und biblizistischen Glaubensweisen führen. Dadurch wird es vermehrt zu intrareligiösen Begegnungen und Konflikten kommen, die nicht weniger herausfordernd sein dürften, als die uns heute vor allem beschäftigenden Fragen des interreligiösen Zusammenlebens etwa mit Muslimen. Der Bamberger Religionspädagoge Henrik Simojoki etwa untersucht die schon heute erfahrbare Vielgestaltigkeit des Christentums in unserem Alltag und kommt zu der Einsicht, dass religiöse Bildungsprozesse in der Schule heute vor ganz neue intrareligiöse Herausforderungen gestellt sind9. Ich formuliere ein Zwischenergebnis. Die Rede von der säkularen Gesellschaft bedarf zwar der Differenzierung, aber sie ist keineswegs in Gänze überholt, sondern bezeichnet in dem Kontext, in dem sie entstanden ist, nach wie vor ein charakteristisches Moment der religiösen Lage. Auch die These von der Individualisierung der Religion wird durch die gegenwärtigen Entwicklungen nicht einfach widerlegt, sondern behält insbesondere für bestimmte Milieus mit höherem Bildungsgrad und beruflichem Erfolg ihren Erklärungswert. Sie darf jedoch ebenso wie die Säkularisierungsthese keinen Alleingeltungsanspruch mehr erheben. Denn das religiöse Feld ist unter globalen Bedingungen vielfältiger und heterogener geworden. Die Vielgestaltigkeit der globalen Christentümer und der großen religiösen Traditionen wird die religiöse Zukunft in Europa zunehmend mitbestimmen. Es braucht deshalb heute eine religionstheologische Heuristik, die keine einfachen Modernisierungslogiken mehr unterstellt, sondern auch mit Ungleichzeitigkeiten und Gegenläufigkeiten des religiösen Wandels rechnet. Doch das Thema Glauben in säkularer Gesellschaft erfordert nicht nur eine Klärung der Frage, ob und wenn, wie säkular die Gesellschaft ist, sondern auch, was überhaupt unter Glauben im Sinne des Christentums verstanden werden soll. Ich setze deshalb noch einmal neu an und frage, was Glaube in christlich-reformatorischer Tradition bedeutet und wie kompatibel dieses Glaubensverständnis mit der säkularen Gesellschaft und den religiösen Bedürfnissen der Zeitgenossen ist. 9 Vgl. dazu Simojoki (2012).

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Wieviel Glaube braucht die Gesellschaft?

Glaube in reformatorischer Tradition heißt nicht nur die Zugehörigkeit zu einer verfassten Kirche, verlangt nicht nur die Teilnahme an gottesdienstlichen Handlungen und bedeutet nicht nur zu glauben, was die Kirche glaubt, sondern zielt auf die eigene, innere und tiefste Überzeugung der ganzen Person. Dass der einzelne Mensch in Belangen seines Heils unvertretbar vor Gott steht und dabei keiner vermittelnden Instanz bedarf, war eine grundstürzende Entdeckung der europäischen Reformationen. Der theologische Grund für diese Fokussierung auf den Einzelnen coram deo lag in der Überzeugung von der unbedingten Inanspruchnahme des Menschen durch Gott. Das Gottesverhältnis war für die Reformatoren kein distanziertes Tauschverhältnis, das sich an eine Institution und ihr kultisches Personal delegieren lässt, sondern ein unmittelbares Beziehungsgeschehen zwischen homo peccator und deus salvator. Im reformatorischen Glauben begegnet der Mensch als Einzelner der unbedingten Forderung Gottes und kann sich dieser Forderung gegenüber nur in das unbedingte Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit retten. Der religiösen Unmittelbarkeit des Gottesverhältnisses entspricht der unbedingte Ernst des Glaubens als einer Totalbestimmung des Menschen in allen Lebensvollzügen. Reformatorischer Glaube fordert den ganzen Menschen und reformatorischer Glaube fordert den Menschen ganz. Im Unterschied zu einem Leitkonzept im Katholizismus basiert der Protestantismus nicht auf einer Repräsentation des Göttlichen durch den geweihten Priester bzw. durch die Kirche, sondern auf der persönlichen Kommunikation des Einzelnen mit Gott und der vorbehaltlosen Identifikation mit der eigenen, innersten und tiefsten Glaubensüberzeugung. Glaube in reformatorischer Tradition zielt deshalb auf das individuell angeeignete und persönlich verantwortete Bekenntnis. Dem umfassenden katholischen Religionssystem steht die individuelle protestantische Religionsperson gegenüber. Im Kontrast zur religiösen Versorgung durch eine Kirche, die sich selbst als die alleinseligmachende Heilsanstalt versteht, erkannte man darin die neu gewonnene Freiheit eines Christenmenschen. Eine Freiheit freilich, die sich auf die unbedingte Forderung Gottes gründet, der wiederum nur in unvertretbarer Verantwortung des Einzelnen entsprochen werden kann. Die Überzeugung von der unbedingten Inanspruchnahme des Menschen durch Gott und dem unbedingten Ernst des Glaubens ist aber nicht nur eine theologische Eigenart der Reformatoren, sondern bestimmt auch die großen Entwürfe in der neueren evangelischen Theologie von Friedrich Schleiermacher über Paul Tillich bis hin zu Karl Barth. Ich kann das hier nicht im Einzelnen ausführen, sondern nur andeuten. In dem Maße etwa, wie Friedrich Schleiermacher die religiöse Zentralstellung Jesu von Nazareth für den christlichen Glauben mit der stetigen Kräftigkeit seines Gottesbewusstseins begründet, hat er

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dazu beigetragen, dass der christliche Glaube an dem Ideal permanenter Intensität gemessen wird. Eben weil überall das irreligiöse Prinzip ist und wirkt, und weil alles Wirkliche zugleich als unheilig erscheint, ist eine unendliche Heiligkeit das Ziel des Christenthums … Jede Unterbrechung der Religion ist Irreligion10.

Schleiermacher zufolge muss evangelischer Glaube immer gleich stark sein. Dass er vorübergehend ausbleibt oder an Intensität abnimmt, wird als ein Zeichen der Sünde bzw. des Sündenbewusstseins qua gehemmtes Gottesbewusstsein verstanden. Oder wenn Paul Tillich den Glauben als das bestimmt, was uns unbedingt angeht, bestätigt auch er den existentiellen Ernst des evangelischen Glaubens als Totalbestimmung des ganzen Menschen. Das religiöse Betroffensein ist unbedingt und total, es macht alle anderen Arten von Betroffensein vorläufig. Das, was uns unbedingt angeht, ist von allen zufälligen Bedingungen der menschlichen Existenz unabhängig. Es ist total, kein Teil unser selbst und unserer Welt ist davon ausgeschlossen. Hier gibt es kein Ausweichen. Was uns unbedingt angeht, läßt keinen Augenblick der Gleichgültigkeit und des Vergessens zu11.

Karl Barths Konzeption des Glaubens als Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes schließlich führt ebenfalls zu einem Glaubensverständnis, das den ganzen Menschen in allen Momenten seines bewussten Lebens vorbehaltlos in die Pflicht nimmt. Soviel nur in aller Kürze und ohne die erforderliche Arbeit an den Quellen. Was nur deutlich werden soll, ist, dass die protestantische Konzeption des Glaubens als unbedingte Inanspruchnahme seit der Reformation zu einem Allgemeingut der evangelischen Theologie und Kirche geworden ist und die kirchliche sowie theologische Erwartungshaltung im Hinblick auf eine Vollgestalt des evangelischen Glaubens hintergründig steuert. Genau dieses reformatorische Glaubensverständnis unbedingter Inanspruchnahme und unbedingter Hingabe bedeutet jedoch ein erhebliches religiöses Rezeptionshindernis. Denn die Forderung des Glaubens, die hier an den Einzelnen ergeht und weder delegiert noch relativiert werden kann, wird leicht als religiöse Überforderung empfunden und kann sich als überzogene Erwartungshaltung auf kirchliches und pastorales Handeln auswirken. Insbesondere dann, wenn Glaubensfragen nicht dauernd und mit gleichbleibender Intensität im Lebensmittelpunkt stehen, sondern eher sporadisch und von Fall zu Fall auftauchen, z. B. angesichts von Lebenskrisen oder biographischen Schwellensituationen, entsteht seitens der professionell mit Religion Befassten leicht der Eindruck von religiöser Uneigentlichkeit.

10 Schleiermacher (1999) 186–187. 11 Tillich (1987) 1, 19.

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Unter den Bedingungen säkularisierter Lebensverhältnisse dagegen entspricht der hochgespannte Erwartungshorizont des protestantischen Glaubensverständnisses kaum mehr den religiösen Fragen und Bedürfnissen der Zeitgenossen. Denn in ihrem Leben tauchen religiöse Fragen eher selten und am Rande auf und haben in den wenigsten Fällen den Charakter einer felsenfesten Überzeugung oder eines persönlich verantworteten Bekenntnisses. Sie sind vielmehr meist unbestimmt und vage sowie sprachlich kaum artikuliert. Ihre Beantwortung bzw. Erfüllung wird deshalb oft auch gar nicht von der eigenen religiösen Praxis, sondern stellvertretend erwartet. Glaube bzw. Religiosität nimmt dann den Charakter der „Hintergrundserfüllung“ (Arnold Gehlen) an. Das bedeutet, dass man die Befriedigung seiner religiösen Bedürfnisse von den dafür zuständigen Institutionen erwartet. Es ist gut, dass es die Pfarrerin gibt, aber deshalb geht man nicht persönlich zu ihr, um sich mit ihr ausdrücklich über religiöse Fragen zu besprechen, oder eine kirchliche Amtshandlung in Anspruch zu nehmen. Dafür leisten bereits die Präsenz der Kirche am Ort und die exemplarische Lebensführung ihrer Amtsinhaber eine gewisse Befriedigung des religiösen Bedürfnisses. Einer Abschaffung der Kirche würde man auf keinen Fall zustimmen. Die Pfarrerin am Ort thematisiert und realisiert vielmehr stellvertretend, was man im eigenen Leben nur am Rande ahnt und eher unthematisch im Hintergrund belässt. Umso wichtiger ist freilich, dass die zuständige Geistliche glaubwürdig ist und ihren Glauben auch öffentlich authentisch lebt. Unter den Vorgaben einer evangelischen Lehre vom Glauben erscheint das nicht nur als defizitär, sondern geradezu als haarsträubend und für studierte Theologen und religiös Professionelle ist das oft schwer zu ertragen, aber es kennzeichnet einen charakteristischen Zug der heutigen religiösen Lage. Und nicht nur das. Vielleicht verbirgt sich dahinter auch eine Dimension dessen, was wir inzwischen als Religiosität bzw. Spiritualität zu identifizieren gelernt haben. Ist es nicht berechtigt, zu fragen, ob religiöse Vorstellungen und Erfahrungen wirklich am besten in schriftlich fixierten Bekenntnissen zum Ausdruck kommen und immer die Form von festen Überzeugungen und letzten Gewissheiten annehmen müssen? Vielleicht geht es bei der Religion und beim Glauben eher um einen schwer bestimmbaren Grund und eine unergründliche Quelle des Lebens oder eine Ahnung von geistiger und geistlicher Heimat. Vielleicht speist sich der Glaube eher aus einem systematisch wenig geordneten Fundus von gemischten Gefühlen, elementaren Bildern und lebendigen Gleichnissen, die sich nicht klar und deutlich explizieren lassen, sondern durch eine schwebende Unbestimmtheit gekennzeichnet sind, die nur in Gefühlen, Bildern und Gleichnissen zum Ausdruck kommen kann. Ja, vielleicht ist die Religion überhaupt etwas, das sich verflüchtigt, wenn man den Vorhang beiseite zieht und versucht, sie an das helle Tageslicht zu zerren, um ihr ein klares und eindeutiges Bekenntnis abzunötigen.

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Wie dem auch sei, bzw. wie immer man das vor dem Hintergrund ihrer eigenen Überzeugung beurteilen mag, Tatsache ist jedenfalls, dass eine wesentliche Funktion von Religion heute darin besteht, einem immer stärker empfundenen Gegenweltbedarf zu entsprechen, will sagen, für eine andere Wirklichkeit zu stehen, als die, die wir als gesellschaftliche und politische, als ökonomische und kulturelle Realität wahrnehmen. Und Tatsache ist auch, dass heute viele Menschen eher auf einen Gott ansprechbar sind, der als ‚Geheimnis der Welt‘ nicht bis zur Unkenntlichkeit besprochen, gelehrt, gepredigt, verkündigt und von seinen restlos überzeugten Anhängern für die eigene Glaubensüberzeugung verbucht, genau gekannt und bei jeder Gelegenheit bekannt wird. Ich komme zum Schluss und halte fest, dass es sowohl im Hinblick auf die Frage nach der Säkularität der Gesellschaft als auch hinsichtlich der Frage nach einer neuen Bedeutung des Glaubens unter gegenwärtigen Bedingungen auf eine flexible Religions- und Christentumsheuristik ankommt. Ich meine damit eine Kunst der Wahrnehmung, die offen und sensibel ist für die heterogene Gemengelage von unterschiedlichen religiösen Fragen und Bedürfnissen in einer immer vielfältigeren Gesellschaft. Für Protestantinnen und Protestanten kommt es dabei vor allem darauf an, nicht nur auf die Posaunen der Bekenner, sondern auch auf die leisen Töne der Suchenden und Zweifelnden, sowie der religiös Sprachlosen zu hören. Vielleicht brauchen wir dazu heute so etwas wie eine individuelle Glaubens- und Religionsberatung. Eine Religionsberatung, die den Menschen als ‚Kind Gottes‘ anspricht und mit seinen individuellen Fragen und Bedürfnissen Ernst nimmt, ohne ihn sofort mit der Forderung nach unbedingter Hingabe zu konfrontieren. Denn als Erben und Sachwalter der Reformation obliegt es uns doch, die Freiheit eines Christenmenschen nicht mehr unter den Bedingungen des 16. Jahrhunderts sondern des 21. Jahrhunderts auszubuchstabieren.

Bibliographie Casanova, José, Public Religions in the Modern World, Chicago 1994. Graf, Friedrich Wilhelm, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004. Hirsch, Emanuel, Die Umformung des christlichen Denkens in der Neuzeit, Tübingen 1938. Jenkins, Philip, The Next Christendom. The Coming of Global Christianity, Oxford 2002. Luckmann, Thomas, The Invisible Religion, New York 1967. Rössler, Dietrich, Grundriß der praktischen Theologie, 2. erweiterte Auflage, Berlin-New York 1994. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), herausgegeben von Günter Meckenstock, Berlin-New York 1999.

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Simojoki, Henrik, Globalisierte Religion. Ausgangspunkte, Maßstäbe und Perspektiven religiöser Bildung in der Weltgesellschaft, Tübingen 2012 (= Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart 12). Taylor, Charles, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt am Main 2009. Tillich, Paul, Systematische Theologie, Berlin-New York 1987.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Carlo A. Augieri ([email protected]) ist Lehrstuhlinhaber für Literaturkritik und vergleichende Literaturwissenschaft im Dipartimento di Studi Umanistici der Università del Salento (Lecce). Prof. Dr. Markus Buntfuß ([email protected]), geboren 1964, Promotion 1996, Habilitation 2003, ist seit 2006 Inhaber des Lehrstuhls für Systematische Theologie an Augustana-Hochschule (Neuendettelsau). Prof. Dr. Alessandro Capone ([email protected]), Klassischer Philologe und Patristiker, lehrt seit 2008 antike christliche Literatur an der Università del Salento (Lecce). Schwerpunkte seiner Forschungen sind die handschriftliche Überlieferung und Textkritik griechischer und lateinischer Autoren, die pagane wie christliche polemische Literatur der Spätantike, die Bibelexegese der Kirchenväter sowie die kirchen- und dogmengeschichtliche Bedeutung des Apollinarismus. Prof. Dr. Fulvio Ferrario ([email protected]), geboren in Mailand 1958, Pfarrer der Waldenserkirche, ist seit 2002 Inhaber des Lehrstuhls für Systematische Theologie an der Facoltà Valdese di Teologia (Rom). Dr. Ingo Klitzsch ([email protected]), seit 2019 Privatdozent im Fach Kirchengeschichte an der Eberhard Karls Universität Tübingen, vertritt zur Zeit den Lehrstuhl für Alte Kirchengeschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Prof. Dr. Fabrizio Lelli ([email protected]) lehrt Hebräisch an der Università del Salento (Lecce). Schwerpunkt seiner Forschungen ist insbesondere die philosophische und mystische Literatur jüdischer Autoren Italiens im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit.

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Dr. Patrizio Missere ([email protected]) lehrt Altes und Neues Testament an der Facoltà Teologica Pugliese (Bari, Lecce und Taranto). Dr. Markus Mülke ([email protected]), Klassischer Philologe, ist seit 2004 Hochschuldozent für Klassische Philologie an der Augustana-Hochschule (Neuendettelsau), zudem seit 2016 Privatdozent an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Giulio Navarra ([email protected]) ist zur Zeit Stipendiat des internationalen Doktorandenkollegs „Filosofia: Forme e Storia dei Saperi Filosofici“ der Università del Salento (Lecce), in einem Cotutelle-Projekt mit der Universität Köln (Thomas-Institut). Im Mittelpunkt seiner Forschung steht die arabische Tradition Alexanders von Aphrodisias, des einflussreichsten Aristoteleskommentators der Antike (2./3. Jahrhundert nach Christus). Dr. Klaus Neumann ([email protected]), geboren 1964, Promotion 1999, wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl Neues Testament der Augustana-Hochschule (Neuendettelsau) 2004 bis 2014, ebendort Habilitation 2017 und seitdem Privatdozent, ist seit 2016 evangelischer Pfarrer in Geslau/Bayern. Prof. Dr. Gury Schneider-Ludorff ([email protected]) ist seit 2005 Lehrstuhlinhaberin für Kirchen- und Dogmengeschichte an der AugustanaHochschule (Neuendettelsau).